Das Joch des Schlafs: Der Schlafdiskurs im bürgerlichen Zeitalter 9783412214197, 9783412207168

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Das Joch des Schlafs: Der Schlafdiskurs im bürgerlichen Zeitalter
 9783412214197, 9783412207168

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Kulturgeschichte der Medizin Band 1

Herausgegeben von Florian Steger MitHerausgebergremium Wolfgang U. Eckart, Karl-Heinz Leven, Ortrun Riha und Iris Ritzmann

DAS JOCH DES SCHLAFS Der Schlafdiskurs im bürgerlichen Zeitalter

SONJA KINZLER

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ludwig Sievers Stiftung sowie der Prof. Dr. Walter Artelt und Prof. Dr. E. Heischkel-Artelt-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Lavater schlafend, um 1780. © akg-images © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: General Druckerei GmbH, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20716-8

Inhalt Einleitung ...............................................................................................

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1. Schlafkonzepte in Aufklärung und romantischer Medizin .................. 29 1. 1. Wiederherstellung der Kräfte. Schlaftheorien des 18. Jahrhunderts und ihre wissenschaftliche Verortung .............. 29 Der Schlaf und die Säfte. Grundlagen von Schlafhygiene und -theorien aus der antiken Medizin ................................ 31 Der Erhalt der menschlichen Maschine. Schlaf im mechanistischen Menschenbild ........................................... 39 Das Individuum und seine Umwelt. Reizsteuerung des Schlafs ........................................................................... 49 1.2. Schlaf, Mäßigung und Lebenskraft. Schlafhygiene in der Aufklärung ................................................................................ 58 1. 3. Schlaf als Naturgesetz. Schlaf in der ganzheitlichen Anthropologie der Romantik ..................................................... 74 Schlaftheorien zwischen Erfahrung und Experiment. Kriterien der Wissenschaftlichkeit zwischen 1750 und 1850 ............................................................................ 89 1. 4. Schlaf – ein bürgerlicher Diskurs ............................................... 100 1. 5. Resümee: Erklärung und Bedeutung des Schlafs zwischen 1750 und 1850.......................................................................... 115 2. Schlafphysiologie in der Industrialisierung ......................................... 2. 1. Problematisierung des Schlafs in der Gesellschaft der Industrialisierung....................................................................... Arbeiten, Leben und Schlafen unter dem Joch einer neuen Zeitökonomie. Zur Sozialgeschichte des Schlafs in der Industrialisierung .......................................................... Norbert Elias und die Geschichte der Bettstatt. Zur Alltagsgeschichte des Schlafens ............................................ Wissenschaftliche und staatliche Wohnungshygiene im Kaiserreich .......................................................................... 2. 2. Experimentelle Schlafforschung ................................................. Forschungen zur Schlaftiefe 1860–1930. Von den Weckschwellentests bis zu den Hirnstrommessungen .......... Die Suche nach Schlafstoffen im 19. Jahrhundert................ Ermüdungsforschung und Arbeitsphysiologie. Schlaf als Fortschrittshindernis im späten 19. Jahrhundert..................

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Inhalt

2. 3. Resümee: Ein neues Schlafverständnis der industrialisierten Gesellschaft? .............................................................................. 169 3. Das Joch der Schlaflosigkeit im nervösen Zeitalter ............................. 3.1. Kulturkritik im Schlafdiskurs seit der Aufklärung ...................... 3. 2. Die nervöse Schlaflosigkeit. Kulturkritik im nervösen Zeitalter..... 3. 3. Künstlicher Schlaf für alle? Die Geschichte der synthetischen Schlafmittel ............................................................................... 3. 4. Natürlicher Schlaf für alle? Das Fortbestehen der Schlafdiätetik.... 3. 5. Resümee: Schlaflosigkeit – ein bürgerlicher Diskurs...................

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Schluss .................................................................................................. 225 Quellen- und Literaturverzeichnis ........................................................... 229 Abbildungsnachweis ................................................................................ 262

Danksagung Dieses Buch beruht auf meiner 2005 an der International University Bremen eingereichten Doktorarbeit. Seine Entstehung wurde von vielen Seiten unterstützt. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Johannes Paulmann. Für Beratung und Beurteilung des Projekts danke ich zudem stellvertretend Professor Dr. Martina Kessel und Dr. Bernhard Rieger. Für die Finanzierung der Studie danke ich der International University Bremen. Für die Unterstützung der Drucklegung danke ich der Ludwig Sievers Stiftung und der Prof. Dr. Walter Artelt und Prof. Dr. Edith Heischkel-ArteltStiftung. Für die Aufnahme des Buchs in die neue Reihe „Kulturgeschichte der Medizin“ danke ich PD Dr. Florian Steger und dem Böhlau Verlag, für die redaktionelle Betreuung Dorothee Rheker-Wunsch. Auch meinem Münchner Korrekturleser, Dr. Stefan Jordan, danke ich – mit Revanche. Meine Familie in München und meine Familie in Bremen wissen, wofür ich danke.

Einleitung Die Problematisierung des Schlafs

Dieses Buch handelt vom Schlaf. Es soll dazu beitragen, eine überraschende Lücke in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu schließen. Man weiß heute nämlich trotz einer ständig wachsenden Zahl von Veröffentlichungen zur Geschichte der Gesundheit und des Körpers vergleichsweise wenig darüber, wie Menschen in den vergangenen Jahrhunderten damit umgegangen sind, dass etwa ein Drittel des Tages, ein Drittel des gesamten Lebens, dem Schlaf zusteht. Nicht in erster Linie das wohlverdiente Lob des Schlafs, der, so ein Konsens über die Jahrhunderte, die Kräfte für den Tag wiederherstellen soll, findet sich als Argument dafür, sich über das eigene tägliche Schlafen hinaus damit zu befassen. Gerade die Feststellung, dass sich der Schlaf unabwendbar und periodisch des Menschen bemächtigt, hat seit der Aufklärung trotz einiger Berührungsängste mit der im Grunde unheimlichen, dem Tod verwandten Nachtseite1 des Lebens immer wieder zur wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen geführt. Schlaf war und ist vor allem dann Thema in der Öffentlichkeit, wenn er Probleme macht – auch und gerade Wissenschaftlern, die ihn nicht verstehen, erklären, messen oder steuern können. Auf der gesellschaftlichen Ebene wurden insbesondere die gesundheitlichen und moralischen Aspekte des maßvollen Schlafens und das Phänomen der Schlaflosigkeit problematisiert. Schlaflosigkeit gilt schon seit Jahrhunderten als Begleiterscheinung des modernen Lebens – seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gibt es für solche gesellschaftlich mitbestimmten Diagnosen den Begriff der „Zivilisationskrankheit“.2 Ein gesellschaftlich-ökonomisches Problem wurde der Schlaf zudem als Fortschrittshindernis in der industrialisierten Welt, als die umfassende Mechanisierung von Produktionsabläufen im 19. Jahrhundert den von der (menschlichen) Natur vorgegebenen Tagesrhythmus in Frage stellte. Die periodische Notwendigkeit des – störungsanfälligen – Schlafs hat

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Aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive nähern sich der Nacht und der Thematisierung ihrer unheimlichen Seiten Elisabeth Bronfen (Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, München: Hanser 2008) und, überwiegend für den angelsächsischen Sprachraum in der Frühen Neuzeit: A. Roger Ekirch (At day´s close. A history of nighttime, New York/London: Norton 2005). Ekirch arbeitet u.a. die nächtlichen Gefahren und die entsprechenden individuellen und gesellschaftlichen Schutzmaßnahmen heraus. Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790–1914), Frankfurt am Main/New York: Campus 1999, 12.

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darüber hinaus auch als Verkaufsargument gedient, sei es für Schlafmittel, Bettmaterialien oder Ratgeberliteratur. „Das Joch des Schlafs“ ist der Titel dieses Buchs, das sich der Geschichte der wissenschaftlichen Problematisierung des Schlafs und der Schlaflosigkeit von der Aufklärung bis ins frühe 20. Jahrhundert widmet. Die Metapher des Jochs zieht sich als roter Faden durch die Analyse der Studie, denn eine ihrer zentralen Ausgangspunkte ist der Umstand, dass der Schlaf bis heute nicht endgültig erklärt werden konnte, geschweige denn ersetzbar geworden ist, dass sich der Mensch also allen (wissenschaftlichen) Anstrengungen zum Trotz von der Bürde des Schlafenmüssens nicht befreien konnte. Die Metapher des Schlafs als Joch findet sich in einer aussagekräftigen frühen Publikation zum Schlaf, im „Versuch einer pragmatischen Geschichte des Schlafs“ des Theologen Adolph Bogislav Grulich, der 1768 die Frage formulierte, „warum wir Menschen unter dem Joche des Schlafes zu seufzen Ursache haben“. Grulich erklärte den Schlaf als „Gegensatz zur paradiesischen Unsterblichkeit des Körpers“ und die Ermüdung als „Strafe nach dem Sündenfall“.3 Die Erbsünde, mit der Adam und Eva der Menschheit Scham, Mühsal und Tod gebracht haben – aber auch die Erkenntnis, wie die Aufklärer hervorhoben – wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein als letztgültige Erklärung des Schlafs betrachtet. Daran zeigt sich deutlich, dass Fragen nach dem Schlaf schon immer an existenzielle Fragen der Menschheit rührten und somit den Blick auf Veränderungen, aber auch Kontinuitäten in den vorherrschenden Menschenbildern freigeben können. Der Schlaf ist also einerseits ahistorisch, eine überzeitliche, anthropologische Konstante; zugleich aber, und das wird diese Untersuchung ausführlich begründen, in seiner Interpretation und den Zugangsweisen sehr wohl zeitgebunden. Auch dieses grundsätzliche Spannungsverhältnis wird sich durch das ganze Buch ziehen, das den Schlaf ein Stück weit historisiert und ihn zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beziehungsweise zwischen Natur und Kultur verortet. Damit wird, was nicht zuletzt dem speziellen Charakter des Untersuchungsgegenstands geschuldet ist, einer programmatischen Forderung aus der Wissenschaftsgeschichtsschreibung nach einer engeren Verbindung von wissenschaftshistorischen Gegenständen und kulturgeschichtlichen Fragestellungen entsprochen. Der Ansatz steht im Kontext eines in den letzten Jahren deutlich erkennbaren „Historisierungsschubs“ in der Wissenschaftsgeschichte,

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Adolph Bogislav Grulich [alias Corbinianus Garrey]: Versuch einer pragmatischen Geschichte des Schlafes, Köln: Peter Hammer 1768, 9, 56 und 19. Der Autor bezieht sich auf Genesis 2–3.

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deren Interesse an den kulturellen Entstehungszusammenhängen von Wissen zugenommen hat.4 Der gegenwärtige Stand der Schlafforschung, die heute vor allem neurowissenschaftlich geprägt ist, soll dafür explizit nicht den Fluchtpunkt darstellen.5 Den Schlaf zu historisieren bedeutet also auch, nicht von der Gegenwart in die Geschichte der Schlafforschung zu blicken, um eine Geschichte ihrer wissenschaftlichen Erfolge – gar noch unter Aussparung der Niederlagen – teleologisch auf die Entwicklung der heutigen Schlaflabors auszurichten. Wie noch zu kommentieren sein wird, gehen manche medizinhistorischen Arbeiten genauso vor, indem sie die Methode der Enzephalographie, also des Messens und Aufschreibens von Hirnwellen im Schlaf, die seit etwa 1930 bekannt ist, als eigentlichen Beginn der „modernen“ oder „wissenschaftlichen“ Schlafforschung festsetzen und ohne oder mit nur geringfügiger gesellschaftlicher Kontextualisierung frühere Schlaftheorien und deren Protagonisten als Vorgeschichte referieren. Im Gegensatz dazu soll hier nun gerade die weitere gesellschaftliche Kontextualisierung von Zugängen zum Schlaf in ihrer jeweiligen Zeit erkenntnisleitend sein. Veränderungen und Kontinuitäten in der Problematisierung des Schlafs aus unterschiedlichen Perspektiven – von der Aufklärungsphilosophie bis zur naturwissenschaftlich geprägten Physiologie nach 1850 – werden dabei 4

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Michael Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, in: Ders. (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main: Fischer 2001, 7–39. Aus spezifisch wissenschaftshistorischer Perspektive ist mit der Historisierung eine verstärkte Kontextualisierung wissenschaftsinterner Entwicklungen gemeint, etwa gezielt die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der konkreten Forschung im Labor in den Blick zu nehmen. Vgl. auch Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt am Main: suhrkamp 32002, 361–379 (Kapitel Wissenschaftsgeschichte); zur Definition der Wissenschaftsgeschichte siehe auch: Lorraine Daston: History of science, in: Smelser, Baltes (Hgg.): International encyclopedia of the social & behavioral sciences, 6842–6848; Volker Hess: Zwischen Historismus und Postmoderne. Wissenschaftsgeschichte in Deutschland, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), 207–228. Für einen Einblick in die Themen und Thesen der Schlafforschung im 20. Jahrhundert siehe: Joachim Röschke, Klaus Mann: Schlaf und Schlafstörungen (Beck´sche Reihe 2089), München: C. H. Beck 1998 (hier werden Hans Bergers Forschungen typischerweise als „Durchbruch“ bezeichnet, die Entdeckung des REM-Schlafs 1953 als „Meilenstein“, 12; vgl. auch Kapitel 2.2.); Carskadon (Hg.): Encyclopedia of sleep and dreaming; Thorpy, Yager (Hgg.): The encyclopedia of sleep and sleep disorders; J. Allan Hobson: Sleep and dreaming, in: Andrew M. Colman (Hg.): Companion Encyclopedia of Psychology, Bd. 1., London u.a.: Routledge 1994, 109–132; John M. Shneerson (Hg.): Handbook of Sleep Medicine, Oxford u.a.: Blackwell Science, 2000, 1–15; Sonja Kinzler: Schlaf, in: Stefan Jordan, Gunna Wendt (Hgg.): Lexikon Psychologie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart: reclam 2005, 278–280; Dies.: Schlaf, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stuttgart u.a.: Metzler 2010, 761–763.

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als wissenschafts- und gesellschaftsrelevant zunächst in ihrer Zeit und dann für die weitere Entwicklung verstanden. Die Fragestellung

Ein Überblick über die Geschichte des Schlafs vom 18. bis ins 20. Jahrhundert muss sich von Forschungsfragen leiten lassen und Schwerpunkte setzen, also auch Entscheidungen gegen manche Zugangsmöglichkeiten zum Thema treffen. Es wird in diesem Buch darum gehen, wie der Schlaf und die Schlaflosigkeit in Wissenschaft und Gesellschaft seit der Zeit der Aufklärung, überwiegend im deutschen Sprachraum, erklärt wurden und welche Möglichkeiten, damit umzugehen, angeboten und angeraten waren. Daraus ergeben sich weitere Fragen: In welchen Kontexten fanden wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse über den Schlaf statt? Wirkten sie auf diese zurück? Welche Formen der Kontrolle und des Umgangs mit Schlaf und Schlaflosigkeit schienen möglich? Wessen Stimmen sind überliefert, wer hatte Deutungsmacht über den Schlaf? Welche Menschenbilder zeichnen sich anhand der Vorstellungen vom Schlaf ab, und was sagen diese über die Gesellschaft aus? In welchen Zusammenhängen spielte der Schlaf, der für sich genommen nur selten ein zentrales Forschungs- oder Konversationsthema war, in Wissenschaft und Gesellschaft eine besondere Rolle und wo liegen Begründungen dafür? Die Geschichte der alltäglichen Erfahrung des Schlafens als Alltags- oder Mentalitätsgeschichte spielt hier nur dann eine Rolle, wenn auf Sekundärliteratur etwa zur Sachkulturforschung oder Arbeiter- und Bürgertumsforschung zurückgegriffen werden kann. Auch wird der populären Rezeption wissenschaftlicher Theorien nicht näher nachgegangen; sie kommt nur dann zur Sprache, wenn sie in der populären Ratgeberliteratur durchscheint. Ego-Dokumente oder Patientenakten, zwei wichtige Quellengruppen, die für Untersuchungen der Rezeption, aber auch der Wahrnehmungs- und Erfahrungsebene des Schlafens ertragreich wären, finden in diesem Buch also keine nähere Berücksichtigung. Auch wird dem Themenfeld des Traums nur am Rande Aufmerksamkeit geschenkt – die Untersuchung befasst sich schwerpunktmäßig mit der Physiologie und Diätetik des Schlafs.6 Wie noch ausführlicher dargestellt wird, besteht die Quellengrundlage überwiegend aus wissenschaftlichen Fachpublikationen und populärer Ratgeberliteratur. Es stehen also die theoretischen Auseinander-

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Die Abschnitte 1.1 und 1.3. gehen auf den Traum und entsprechende Forschungsliteratur kurz ein.

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setzungen mit dem Phänomen Schlaf und die Entwicklung der Schlafdiätetik im Vordergrund. Der Schlaf berührt als Gegenstand dieser Untersuchung viele weitere große Themenfelder von der Sozialen Frage in den Großstädten der Industrialisierungszeit bis zum Aufkommen der Pharmaindustrie in Deutschland, um zwei relativ beliebige Beispiele zu nennen; es ist dem Überblickscharakter des Buches geschuldet, dass in manchen Fällen die betreffenden Forschungsdebatten nur wenig Berücksichtigung finden können; der Fußnotenapparat bemüht sich aber darum, Hilfestellung zur Beantwortung weiterführender Fragen zu geben. Der Forschungsstand und die Positionierung der Studie

Die Geschichte des Schlafs ist noch wenig erforscht; einige Arbeiten zur Schlafforschung und zu Schlafpraktiken, auf denen dieses Buch teilweise aufbauen kann, gibt es aber bereits. Zudem ist das Thema Schlaf in Forschungen zu benachbarten oder übergeordneten Themen wie der Diätetik eingebettet. Publikationen, die explizit die Geschichte des Schlafs im Titel tragen, sind in der Medizingeschichte7 entstanden, hier liegt insbesondere eine kleinere Anzahl an Qualifizierungsarbeiten vor. Darüber hinaus stammen vereinzelte dezidierte oder randliche Thematisierungen des Schlafens und des Schlafs aus Arbeiten zur Sozial-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte sowie der Sachkulturforschung. Die historische Anthropologie und die Körpergeschichtsschreibung geben zudem methodische Impulse. In den 1970er bis 1990er Jahren erschienen eine medizinhistorische Habilitationsschrift, zwei Dissertationen, zwei eigenständige Publikationen und zwei Aufsätze aus derselben Disziplin zum Thema Schlaf.8 Die größeren Arbeiten 7

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Norbert Paul, Thomas Schlich (Hgg.): Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main/New York: Campus 1998; Volker Roelcke: Die Entwicklung der Medizingeschichte seit 1945, in: nmt. Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 4.2 (1994), 193–216 und Wolfgang U. Eckart, Robert Jütte: Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln u.a.: Böhlau 2007. Renate Wittern: Der Schlaf als medizinisches Problem am Beginn der Neuzeit, Habil. München 1978; Hans R. Mächler: Die Anfänge moderner Schlafforschung (Zürcher medizingeschichtliche Abhandlungen/258 Diss. Zürich), Diaetikon: Juris 1994; Karl Schöpf: Der Schlaf aus medizinischer Sicht im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Diss. München 1987; Franz-Josef Kuhlen: Zur Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel in Mittelalter und Früher Neuzeit (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie 19), Stuttgart: Deutscher Apotheker Verlag 1983; Elisabeth Wittmer-Butsch: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter (Medium Aevum Quotidianum Sonderband 1), Krems 1990.

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beruhen zumeist auf einer Fülle von medizinhistorischen Theorietexten, stellen diese aber nicht in einen gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhang, da die Fragestellung auf die fachinterne theoretische Entwicklung abzielt. Die meist recht kurz skizzierten Schlaftheorien aus verschiedenen Epochen werden also nur wenig kontextualisiert, aber doch immerhin referiert und damit für weitere Forschungen greifbarer.9 Zwei Aufsätze zur Schlafdiätetik in Mittelalter (1998) und Renaissancemedizin (1986) bieten jeweils einen Einstieg in die spezielle Thematik.10 Die Darstellungen, die sich mit der Geschichte der Schlafforschung im 20. Jahrhundert befassen, erwähnen nur sehr knapp die Vorgeschichte. Die seit den 1980er Jahren häufig als Überblickswerk über die Entwicklung der Schlafforschung herangezogene populärwissenschaftlich angelegte Publikation des ungarisch-schweizerischen Schlafforschers Alexander Borbély beispielsweise geht auf die Geschichte des Schlafs kurz ein, leistet selbst aber keine historische Forschung. Borbély widmet in „Das Geheimnis des Schlafs“ jeweils rund eine Seite dem Schlafbegriff, der Mythologie und der Soziologie; die Schlafforschung vor der Entdeckung des EEG macht nur zwei Buchseiten aus.11 Die medizinhistorischen Publikationen können also allenfalls den Einstieg in eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte des Schlafs erleichtern. Ein deutlicheres Gewicht auf die Wissenschaftsgeschichte legt eine größer angelegte kanadische Publikation von 2007 zur Geschichte der Schlafforschung.12 Für den Autor beginnt die wissenschaftliche Schlafforschung zwar auch erst im Labor, er geht aber immerhin bis zu den Ermüdungsforschungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück, die mit der späteren Hirnforschung bereits die Visualisierung von Ergebnissen in Form von Kurven gemein hatte.13 Einigen von Krokers Thesen muss widersprochen werden: So ist es nicht zutreffend, dass vor 1900 Funktion und Definition des Schlafs nicht von Interesse gewesen seien und dass zeitgenössische Psychiater und Psychologen sich nur wegen des Traumphänomens mit dem Schlaf befasst hätten.14 Für einen Überblick 9 Schöpf (Der Schlaf aus medizinischer Sicht) ist detaillierter und analytischer, betrachtet dabei aber eine relativ kleine Auswahl an Quellen in Hinblick auf wissenschaftsintern relevante Kriterien. 10 Hans H. Lauer: Schlafdiätetik im Mittelalter, in: Somnologie 2 (1998), 151–162; Karl H. Dannenfeldt: Sleep. Theory and practice in the late Renaissance, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 41 (1986), 415–441. 11 Alexander Borbély: Das Geheimnis des Schlafs. Neue Wege und Erkenntnisse der Forschung, München: dtv 1984. 12 Kenton Kroker: The sleep of others and the transformation of sleep research, Toronto u.a.: University of Toronto Press 2007. 13 Mit der Ermüdungsforschung befasst sich Kapitel 2. 2. dieses Buchs. 14 Kroker: The sleep of others, 6–8.

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über die Schlafforschung des 20. Jahrhunderts, zu der der Autor einiges an Forschungsliteratur anführt, kann man „The sleep of others“ aber heranziehen. Nicht nur die Medizin- und Wissenschaftshistoriographie, auch die Alltagsund Mentalitätsgeschichte, die Sachkulturforschung und die Sozialgeschichte ermöglichen Einblicke in die Geschichte des Schlafs, mehr noch: des Schlafens. Einige der in den letzten Jahrzehnten erschienenen Studien werden im Verlauf dieses Buchs als Sekundärliteratur herangezogen. So sind etwa die Geschichte des Schlafzimmers und des Betts unter kultur- und alltagshistorischen Fragestellungen wiederholt thematisiert worden.15 Die Mehrzahl dieser Forschungen ist deutlich von der französischen Alltagsgeschichte beeinflusst, für die exemplarisch der Name von Philippe Ariès steht, und orientiert sich meist an der Privatisierungsthese von Norbert Elias, auf die im 2. Kapitel dieses Buchs näher eingegangen wird.16 Einige Publikationen aus dem volkskundlich-musealen Kontext befassen sich explizit mit regionaler Schlafkultur; auch speziell zur Geschichte der Bettund Nachtwäsche ist in kleinerem Umfang geforscht worden.17 Für die 1990er Jahre, in denen mehrere volkskundlich orientierte Ausstellungen entstanden, 15 Nina Hennig, Heinrich Mehl (Hgg.): Bettgeschichte(n). Zur Kulturgeschichte des Bettes und des Schlafens (Arbeit und Leben auf dem Lande. Eine kulturwissenschaftliche Studienreihe hg. von den Museen des Ausstellungsverbundes Niedersächsisches Freilichtmuseum – Museumsdorf Cloppenburg, Deutsches Landwirtschaftsmuseum Hohenheim/ Stuttgart, Freilichtmuseum am Kiekeberg – Landkreis Harburg, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum – Volkskundliche Sammlungen, Fränkisches Freilandmuseum Bad Windsheim 5), Schleswig: Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum 1997; Katharina Eder Matt: Wie sie sich betten. Eine Ausstellung zur Kulturgeschichte des Schlafens. Ausstellung Schweizerisches Museum für Volkskunde 1994/1995, Basel 1994; Pascal Dibie: Wie man sich bettet. Die Kulturgeschichte des Schlafzimmers, Stuttgart: Klett-Cotta 1989 (franz. Original 1987); Gottfried Korff: Einige Bemerkungen zum Wandel des Bettes, in: Zeitschrift für Volkskunde 77, 1–16 (1981). 16 Philippe Ariès (Hg.): Histoire de la vie privée, 5 Bde., Paris: Ed. Du Seuil 1985–1987. 17 Kurt Dröge: Das ländliche Bett. Zur Geschichte des Schlafmöbels in Westfalen, Detmold: Landschaftsverband Westfalen-Lippe 1999; Franz-Josef Dubbi: Himmelbett, Schlafbank, Strohschütte. Ländliche Schlafkultur im Westfälischen Freilichtmuseum Detmold, Detmold: Landschaftsverband Westfalen-Lippe 1991; Hermann Heidrich: Das Bett. Notizen zur Geschichte des Schlafens. (Kleine Schriften des Fränkischen Freilichtmuseums 9), Fränkisches Freilichtmuseum Bad Windsheim 1988; Thomas Schürmann: Die Inventare des Landes Hadeln. Wirtschaft und Haushalte einer Marschlandschaft im Spiegel überlieferter Nachlassverzeichnisse (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 23/Kranichhaus-Schriften 5), Stade und Otterndorf 2005; Nicole Kuprian: Buntkariert und blütenweiß. Vom Umgang mit Bettwäsche (Westfälische Volkskunde in Bildern 8), Münster-Hiltrup: Landwirtschaftsverlag, 1999. Exemplarisch für weitere kleine und kleinste Publikationen zur Sachkulturforschung, die das Thema Schlafen zum Gegenstand haben: Franziska Zschäck: Gute Nacht. Von Schlafmützen,

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kann sogar von einer gewissen Konjunktur der Schlafkulturforschung gesprochen werden. Sozialgeschichtliche Arbeiten haben sich mit den Wohn- und damit auch den Schlafverhältnissen der Arbeiterschicht, der Landbevölkerung und des Bürgertums befasst und dabei Schlafbedingungen und -praktiken auch im Zusammenhang mit sozialer Abgrenzung diskutiert, was ebenfalls im 2. Kapitel ein wichtiges Thema sein wird.18 Gesonderte Erwähnung verdienen zwei Aufsätze zur Geschichte des Schlafs: Zum einen eine kleinere volkskundliche Studie von 1994, die Sachkulturforschung mit historischen Schlafgewohnheiten, Begriffsgeschichte und der Frage nach diätetischen Vorgaben zusammenbringt.19 2003 erschien ein Aufsatz aus der sozialgeschichtlichen Frühneuzeitforschung, der Schlafdauer und -zeit in Hinblick auf eine gescheiterte Disziplinierung untersucht und das Distinktionspotential von Schlafverhalten thematisiert.20 Vergleichsweise exotisch in der deutschsprachigen Forschungslandschaft zur Schlafkultur sind die Publikationen von Brigitte Steger, die sich aus soziologisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Schlaf in Japan befasst hat.21 Zwei weitere historiographische Bereiche, in denen man die Thematisierung des Schlafs eigentlich erwarten würde, sind die historische Anthropologie und, damit verbunden, die Körpergeschichtsschreibung. Unter anderem zur Geschichte des Todes, der Lebensalter, der Sexualität oder der Ernährung wird seit den 1980er Jahren kulturgeschichtlich-anthropologisch und diskurs-

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Wärmflaschen und Mitternachtsvasen (Hohenfelder Blätter 39), Hohenfelden: Kreis Weimarer Land – Thüringer Freilichtmuseum Hohenfelden 2002. Peter Reinhart Gleichmann: Einige soziale Wandlungen des Schlafens, in: Zeitschrift für Soziologie 9.3 (1980), 236–250; Ders.: Schlafen und Schlafräume, in: Journal für Geschichte 2.1 (1980), 14–19; Lutz Niethammer (Hg.): Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft, Wuppertal: Peter Hammer 1979; Jürgen Reulecke (Hg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918. Das bürgerliche Zeitalter, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1997. Ruth-E. Mohrmann: „in der freywilligen Nachlassung der willkührlichen Bewegungen“. Anmerkungen zur Geschichte des Schlafens, in: Burkhard Pöttler (Hg.): Innovation und Wandel. Festschrift für Oskar Moser zum 80. Geburtstag, Graz: Österreichischer Fachverband für Volkskunde 1994, 261–278. Birgit Emich: Zwischen Disziplinierung und Distinktion. Der Schlaf in der Frühen Neuzeit, in: WerkstattGeschichte 34 (2003), 53-75. Auf Emichs These, das Bürgertum habe sich im Schlafverhalten stark am Adel orientiert, wird im Abschnitt 1.4. kritisch eingegangen. Brigitte Steger: (Keine) Zeit zum Schlafen? Kulturhistorische und sozialanthropologische Erkundungen japanischer Schlafgewohnheiten (Ethnologie 4), Münster: Lit 2004 und Dies. (Hg.): Night-time and sleep in Asia and the West. Exploring the dark side of life, London u.a.: RoutledgeCurzon 2003 (v.a. Gegenüberstellungen zeitgenössischen Schlafverhaltens).

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geschichtlich geforscht. Eher aus der medizingeschichtlichen Richtung kamen bis vor wenigen Jahren zudem Publikationen zur Geschichte der Diätetik, also der Gesunderhaltung des Körpers, zu der ebenfalls Themen wie die Ernährung gehören.22 Dass der Schlaf aber bei der Erforschung der Geschichte des Menschen, seines Körpers und seiner Gesundheit und Gesunderhaltung nicht nennenswert berücksichtigt worden ist, zeigt etwa ein Blick in Wolfgang Reinhards „Lebensformen Europas“23 von 2004: Die historisch-kulturanthropologische Überblicksdarstellung ist unterteilt in die Kapitel Körper, Mitmenschen und Umwelten. Das erste Kapitel zum Thema Körper behandelt die Themen Geschlecht, Sinne, Emotionen, Kleidung, Sauberkeit, Ernährung, Gesundheit, Lebensalter und Tod – der Schlaf fehlt also. Die neueren medizinhistorischen Einführungen ergeben dasselbe Bild: Die historisch-anthropologischen Forschungsthemen, die die Einführung von Wolfgang Uwe Eckart und Robert Jütte (2007) anführen kann, sind in erster Linie Geburt, Kindheit, Jugend, Alter, Geschlechterverhältnisse, Familie, Sexualität, Körper, Ernährung, Mensch und Umwelt.24 Der Schlaf mag historisch Forschenden weniger greifbar scheinen als beispielsweise die Ernährung oder die Sexualität – nicht nur, aber auch deshalb, weil zu den anderen Themen bereits Forschungsergebnisse vorliegen. Er unterliegt zudem generell in vergleichsweise geringerem Maß den Einflussmöglichkeiten des Menschen und erscheint damit weniger kulturell oder historisch beeinflussbar. Dieses Buch hat sich zur Aufgabe gemacht, den Schlaf in der Geschichte zu fassen, indem es in erster Linie die historischen Versuche verfolgt, den Schlaf zu greifen und greifbar zu machen. Der Körper ist also einer der Untersuchungsgegenstände der historischen Anthropologie, die sich vor allem auf das Verhalten der Menschen in ihrem kulturellen und natürlichen Umfeld über lange Zeiträume konzentriert. Der Zugang der historischen Anthropologie ist zumeist ein ethnologisch-alltagshistorischer Blick – unter anderem auf den Körper.25 Andere Fragen und an22 Einen Überblick über die Diätetikgeschichte bietet etwa Klaus Bergdolt: Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens, München: C. H. Beck 1999; eine wegweisende Diskursgeschichte des Körpers bzw. der Diätetik liegt vor mit Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt am Main: suhrkamp 2001. Auf die Grundlagen der Diätetik, in die der Schlaf wie Essen oder Luft im Kontext der sex res non naturales, der beeinflussbaren Faktoren der Gesunderhaltung, eingebettet ist, geht das Kapitel 1 gleich zu Beginn ausführlich ein. 23 Hier zitiert: Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München: C. H. Beck 22006. 24 Eckart, Jütte: Medizingeschichte, 175–77. In beiden Darstellungen wird der Schlaf auch nicht innerhalb eines der genannten Kapitel abgehandelt. 25 Reinhard: Lebensformen Europas; Jakob Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg: Junius 2004.

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dere Zugänge haben darüber hinaus seit etwa 1990 entstandene Publikationen, die unter den Begriff der Körpergeschichtsschreibung zusammengefasst werden können und von der Annahme einer grundlegenden Historizität des Körpers und der kulturellen Konstruiertheit der körperbezogenen Vorstellungen, Wahrnehmungen und Behandlungen ausgehen.26 Die Ansätze für solche körpergeschichtlichen Untersuchungen sind häufig – wenigstens tendenziell – konstruktivistisch oder diskurstheoretisch orientiert. Eine zentrale These, die dies unmittelbar veranschaulicht, ist die wegweisende Unterscheidung zwischen sex und gender, also zwischen dem biologischen und dem sozialen (sozial konstruierten) Geschlecht.27 Im Zusammenhang mit diskurstheoretischen Ansätzen konzentrieren sich neuere Körpergeschichten darauf, wie Deutungsmacht über den Körper hergestellt und wie – historisch bedingte und veränderliche – Selbstund Fremdwahrnehmung von Krankheit miteinander konkurrieren.28 Insbesondere die Körpererfahrung hat seither große Aufmerksamkeit erfahren.29 In Absetzung von der beziehungsweise in Erweiterung der Medikalisierungsthese geht es dabei inzwischen immer mehr auch um die Handlungsspielräume, um die Interessen und Motivationen, die Resistenzen und Alternativen der Patienten als der eigentlich Betroffenen.30 Die Medikalisierung fasst begrifflich „all jene Prozesse und Strukturen“, die seit der Aufklärung „Individuen, Schichten und Klassen in ein Netz staatlich gelenkter medizinischer Versorgung einban26 Theoretisch dazu: Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte (Historische Einführungen 4), Tübingen: edition diskord 2000; Elisabeth List: Der Körper (in) der Geschichte. Theoretische Fragen an einen Paradigmenwechsel, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1997), 167–185; Roy Porter: History of the Body, in: Peter Burke (Hg.): New perspectives on historical writing, Cambridge: Polity Press 1991, 206–232. 27 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: suhrkamp 1991 (amerikan. Original 1991). 28 Impulsgebend war hier die Studie: Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart: Klett-Cotta 1987. 29 Dazu von diskurstheoretischer Seite: Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit und: Jakob Tanner: Der Körper als Sensation. Populäres Wissen über den menschlichen Leib vom 18. bis 20. Jahrhundert, in: Ingrid Tomkowiak (Hg.): Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens, Zürich: Chronos-Verlag 2002, 253–270 sowie Philipp Sarasin: „Mapping the body“. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und „Erfahrung“, in: Ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main: suhrkamp 2003, 100–121. 30 Einschlägig dafür sind auch Francisca Loetz: Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750 – 1850 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 2), Stuttgart: Steiner 1993 und Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln u.a.: Böhlau 2003.

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den und der Kontrolle staatlich ausgebildeter, geprüfter medizinischer Experten unterwarfen“;31 damit verbunden war der Aufstieg der naturwissenschaftlichen Medizin. Einige der Fragen, die die Forschungen rund um das Thema Körper aufgeworfen haben, spielen in diesem Buch eine Rolle. Sie können dazu dienen, die besondere Position des Schlafs als anthropologische Konstante herauszuarbeiten, die zugleich einem definitorischen und vereinnahmenden Diskurs unterlag. Es wird zu zeigen sein, dass unter anderem insofern von einer Medikalisierung des Schlafs gesprochen werden kann, als der Schlaf (scheinbar?) stärker unter wissenschaftliche Kontrolle gebracht werden konnte – eine wichtige Entwicklung ist etwa die der synthetischen Schlafmittel. Zugleich waren und blieben Grenzen der Erklärung und Therapie des Schlafs deutlich. Schlaflosigkeit wurde zwar zur Krankheit, womit Ärzte in der Behandlung an Autorität gewannen. Selbstdiagnosen und alternative Heilmethoden spielten aber weiterhin eine wichtige Rolle. Der Umgang mit dem Schlaf ist ein historischer Gegenstand, der über die Körpergeschichte hinausweist und den Blick auf anthropologische Grundfragen richtet. Diese Studie verbindet die Darstellung von Wissenschaftsgeschichte mit kulturhistorischen Kontextualisierungen und Interpretationen sowie mit Fragen nach der Konstruktion des Diskurses über den Schlaf. Als Diskurs kann man in einer allgemeinen Definition eine bestimmte Auswahl von Texten, eine „Abfolge von Aussagen“ verstehen, die sich auf ein Thema beziehen und gewissen Regeln folgen. Diskursanalyse ist der Versuch, für spezifische historische Situationen Regeln zu ermitteln, nach denen Aussagen hervorgebracht werden. Diskursgeschichte verfolgt Veränderungen einzelner Diskurse über längere Zeiträume hinweg.32

Als Schlafdiskurs wird hier im stark erweiterten Sinn auch der Quellenkorpus verstanden, in dem Erklärung und Bedeutung des Schlafs verhandelt wurden.33 31 Ute Frevert, zitiert nach Cornelia Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914) (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 4), Stuttgart: Steiner 1995, 12¸ siehe auch: Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten, das Beispiel Preußens (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 68), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985 und Eckart Jütte: Medikalisierung, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Stuttgart u.a.: Metzler 2008, 243–249. Zur Medikalisierung siehe auch den Abschnitt zur Aufklärungsmedizin in Kapitel 1.2. 32 Willibald Steinmetz: Diskurs, in: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2002, 56–60, hier 56–57. 33 Vgl. Franz X. Eder: Historische Diskurse und ihre Analyse. Eine Einleitung, in: Ders. (Hg.): Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden: Ver-

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Dabei lehnt sich dieses Buch an Fragestellungen der historischen Diskursanalyse an, die von der Beobachtung ausgeht, dass zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt nur eine begrenzte Menge von Aussagen zu einem bestimmten Thema gemacht werden kann […]. Es ist der Diskurs, der die Möglichkeiten von Aussagen zu einem bestimmten Gegenstand regelt, der das Sagbare und das Denkbare organisiert. Vor diesem Hintergrund will die historische Diskursanalyse die Regeln und Regelmäßigkeiten des Diskurses, seiner Möglichkeiten zur Wirklichkeitskonstruktion, seine gesellschaftliche Verankerung und seine historischen Veränderungen zum Inhalt der Untersuchung machen.34

Diskurse definieren, wie zuerst die Studien Michel Foucaults herausgestellt haben, was als Wahrheit gilt und üben daher gesellschaftliche Macht aus.35 Vor diesem Hintergrund spielen in diesem Buch immer wieder Fragen nach vorausgesetztem Wissen, nach Wertehierarchien und, damit verbunden, nach Urteilen über Wissenschaftlichkeit von Aussagen, teils auch nach sprachlichen Mitteln eine Rolle.36 In den wenigsten Fällen werden hier jedoch die individuellen Hintergründe der Autoren beleuchtet, auch wird nicht auf linguistische Analysen abgehoben. Vielmehr wird zu zeigen sein, dass Erklärung und Umgang mit dem Schlaf Verhandlungssache sind; die Studie konzentriert sich – das zeigt auch die Quellenauswahl – nicht auf das Schlafen in der Geschichte, sondern auf das Reden über den Schlaf. Dieses fand in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen statt, deren Zusammenhänge, Reibungsflächen, Grenzen, Entwicklungen, Kontinuitäten und Brüche analysiert werden. Die in der Fragestellung formulierten Forschungsfragen knüpfen hier direkt an. Mit dem Diskursbegriff zu arbeiten, bedeutet für dieses Buch nicht die Übernahme einer bestimmten Methodik, die entschieden über die historische Hermeneutik hinausginge, vielmehr eine Perspektivierung der Fragestellungen.37

lag für Sozialwissenschaften 2006, 9–23, hier 13. 34 Achim Landwehr: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse (Historische Einführungen 8), Tübingen: edition diskord 2001,7. Zum Begriff des „Sagbaren“: Willibald Steinmetz: Das Sagbare und das Machbare (Sprache und Geschichte 21), Stuttgart: Klett-Cotta 1993; vgl. auch Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main: suhrkamp 2003. 35 Landwehr: Geschichte des Sagbaren, 8. Zu Foucault: Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit, 35– 38; auf die Diskursanalyse und den angewendeten Diskursbegriff geht auch das Kapitel 1.4. ein. 36 Vgl. Landwehr: Geschichte des Sagbaren, 171. 37 Vgl. Eder (Historische Diskurse und ihre Analyse, 13), der konstatiert, dass die Diskursanalyse keine bestimmte Wissenschaftsmethode, sondern ein disziplinenübergreifendes Forschungsprogramm sei.

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Die Quellenbasis

Die Grundlage für die Untersuchung des Schlafdiskurses in Wissenschaft und Gesellschaft von der Aufklärung bis ins frühe 20. Jahrhundert sind in erster Linie medizinische und hygienisch-diätetische Abhandlungen. Dabei handelt es sich zum einen um Schlaftraktate und Physiologien aus dem philosophischmedizinischen Kontext, seit Mitte der 1850er Jahre vor allem um Forschungsberichte aus der von Physik und Chemie geprägten Physiologie. Rund 90 Texte, die sich mehr oder weniger speziell mit dem Schlaf befassen, wurden dafür herangezogen. Zum anderen wird systematisch die zeitgenössische Hygieneliteratur herangezogen, also Ratgeberliteratur, die sich der individuellen Krankheitsprävention und „Lebensverlängerung“ widmete. Hier besteht die Basis aus rund 80 Texten. Die Autoren, die zum Schlafdiskurs beigetragen haben, stammen also aus unterschiedlichsten Disziplinen; es wird zu analysieren sein, welche Disziplinen in den einzelnen Untersuchungszeiträumen besonders stark vertreten waren. Auch unbekanntere Gelegenheitsautoren finden Berücksichtigung, so sie sich der Schlafphysiologie oder -hygiene gewidmet haben.38 Es stellt sich heraus, dass wissenschaftliche und Ratgeberliteratur keineswegs für klar trennbare Diskurse im Sinne einer Unterscheidung in einen wissenschaftlichen gegenüber einem populären Diskurs über den Schlaf stehen; aufgrund der Verwurzelung des Themas in der traditionellen Diätetik blieb der Diskurs zum größten Teil in einem Zwischenbereich angesiedelt. Wenn es um die Therapie ging, hatten Ratgeberautoren nicht weniger Einfluss als Laborforscher.39 „Popularisierung als Absicht“ (im Unterschied zu „Popularität in der Wirkung und in der Wahrnehmung“)40 im Sinne von breiter Vermittlung natur38 Dies entspricht jüngeren Forschungsansätzen in der Geschichtsschreibung von Mentalitäten, Körper und Hygiene, vgl. Martina Kessel: (Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein Verlag 2000, 14): „Das Quellenmaterial [...] ist zwangsläufig heterogen. Man muß unbedeutende Traktatschreiber ebenso wie kulturell kanonisierte Texte heranziehen.“; Sarasin: Reizbare Maschinen, 158; Gerd Göckenjan: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main: suhrkamp 1985, 17. 39 Zur Wissenschaftspopularisierung: Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, München: Oldenbourg 22002; Angela Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland am Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914) (WSVG Beihefte 153), Stuttgart: Franz Steiner 1999; siehe auch: Beatrix Mesmer (Hg.): Die Verwissenschaftlichung des Alltags. Anweisungen zum richtigen Umgang mit dem Körper in der schweizerischen Popularpresse, Zürich: Chronos 1997. 40 Daum: Wissenschaftspopularisierung, 464.

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wissenschaftlichen Wissens spielt im Schlafdiskurs keine wesentliche Rolle; vielmehr steht seit der Aufklärung die Erziehung zur gesunden und moralischen Lebensführung im Vordergrund. Fragestellungen aus der Forschung zur Wissenschaftspopularisierung sind speziell vor diesem Hintergrund wenig anwendbar. Insgesamt hat die Wissenschaftspopularisierung in der Forschung gut herausgearbeitet, welchen gesellschaftlichen Stellenwert die (Natur-) Wissenschaften im langen 19. Jahrhundert hatten. Insbesondere die Feststellung, dass sie im 19. Jahrhundert sowohl als Ursache als auch als Abhilfe gegen die Verunsicherungen in der modernen – bürgerlichen – Welt galten, bestätigt sich auch durch eine Untersuchung des Schlafdiskurses.41 Der Fragestellung entsprechend werden keine Ego-Dokumente oder Patientenakten, auch keine Verwaltungsakten, etwa zu Stadtassanierungsprojekten, herangezogen. Auch spielen trotz des gezielten Blicks auf die Bürgerlichkeit des Schlafdiskurses Benimmbücher keine Rolle; die Forschung hat herausgestellt, dass „Ausdrucksformen und Körperregionen, die sexuell konnotiert sind, die mit ‚natürlichen Bedürfnissen‘ zu tun haben oder mit schwerer Arbeit in Verbindung stehen“, in diesem Genre ausgespart blieben.42 Diese Ausgrenzung betraf auch den Schlaf. Zur Darstellung der Entwicklung der synthetischen Schlafmittel wurden vereinzelt Unternehmensarchive konsultiert. Der Blick auf die Entwicklung der Schlafdefinitionen legte außerdem die Integration normativer Quellen, insbesondere von Lexika, nahe. Der Untersuchungszeitraum

Mit der „Sattelzeit“43 begannen in der Mitte des 18. Jahrhunderts die technologischen und gesellschaftlichen Umbruchprozesse der Moderne44, wie sie 41 Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt, 27. 42 Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert (Historische Studien 13), Frankfurt/New York: Campus 1994, 71. 43 Reinhard Koselleck: Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze, Ders. (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart: Klett-Cotta 1972, XV. 44 Zur Moderne/Modernisierung: Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Moderne, Modernität, in: Brunner u.a. (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4 (1978), 93–131; Thomas Mergel: Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: Ders., Thomas Welskopp (Hgg.): Kultur zwischen Geschichte und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München: C. H. Beck 1997, 203–232. Vgl. dazu beispielsweise: Christoph Cornelißen: Ein ständiges Ärgernis? Die moderne in der (west-) deutschen Geschichtsschreibung, in: Ute Schneider (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2008, 235–

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sich in Deutschland im Verlauf des 19. Jahrhunderts durchsetzten.45 Die Sattelzeit steht wissenschaftsgeschichtlich für die Entwicklung des aufklärerischen Rationalismus in Europa und für die Säkularisierung der Wissenschaften; damit war auch die Entstehung der neuen Wissenschaften vom Menschen beziehungsweise der Anthropologie verbunden.46 Wenngleich in der Schlafforschung durch den Einzug von Methoden der neuen Naturwissenschaften um 1850 ein deutlicher Umbruch festzustellen ist, muss doch den Impulsen, die das Denken über den Schlaf des Menschen in der Zeit von Aufklärung und Romantik erhalten hatten, größere Bedeutung zugemessen werden.47 Wesentlich für die Moderne als zeitgenössisches „Deutungsmuster der Gegenwart und ihres historischen Wandels“ war ein gewisses Maß an „Selbstreflexion und Selbstdistanz“: Die Modernekritik, die zeitgleich mit und als Gegenstück zur rationalistischen Moderne entstand, ist daher ein konstitutives Merkmal der Moderne selbst.48 Die Problemgeschichte des Schlafs verweist genau auf die Ambivalenzen der Moderne, indem sie von der Diskrepanz, gegenseitigen Bedingtheit und Verflechtung des rationalistischen Wissenschaftsdiskurses und seines modernekritischen Gegendiskurses Zeugnis gibt. Sie sieht sich zugleich in einem Trend der historischen Forschung, der ausgehend von alltagsgeschichtlichen und anthropologischen Ansätzen in den 1980er Jahren inzwischen auch in der Wissenschafts- und Medizingeschichte starke Resonanz findet und von der Darstellung historischer Gegenstände als Fortschrittsgeschichte zugunsten prozessualer Interpretationen abrückt. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die mit dem Begriff der Modernisierung verbunden sind, stellt die Untersuchung die Frage, inwiefern sich Interpretation und Bedeutung des Schlafs im Zeichen der Technisierung der Lebenswelt und einer neuen, rationalisierten Zeitökonomie veränderten. Das Ende des Untersuchungszeitraums in den 1920er Jahren markiert zum einen der qualitative Umbruch der wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden des Schlafs mit der Einführung der Messung von elektrischen Gehirnströmen. Untersucht wird in wissenschaftshis-

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248, hier 242–243; Hans-Ulrich Seeber: Modernisierung und Modernisierungstheorien, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, 469–470. Friedrich Jaeger: Moderne, in: Ders. (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, 651–564. Tanner: Historische Anthropologie, 36–52; Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Mensch und das Weib 1750–1850, München: dtv 1996. Nicht nur die Umbrüche, auch die Kontinuitäten spielen also eine wichtige Rolle. Auch Seeber fasst die beiden Epochenabschnitte zusammen: Seeber: Modernisierung und Modernisierungstheorien. Jaeger: Moderne, 52.

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torischer Hinsicht das, was die Schlafforschung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lediglich als Vorgeschichte einer eigentlichen, „modernen“, institutionalisierten Schlafforschung im Labor beurteilt, ohne dass die Schlafforschung des 20. Jahrhunderts dabei den teleologischen Referenzpunkt darstellt im Sinne einer Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts hin zur Entdeckung der elektrischen Hirnaktivität im Schlaf. Zum anderen wurde das Ende des Untersuchungszeitraums mit dem Ende des „langen 19. Jahrhunderts“49 nach dem Ersten Weltkrieg gewählt, weil mit dieser anerkannten Epochenschwelle zugleich das Ende des bürgerlichen Zeitalters angegeben wird.50 Indem der Titel dieses Buches nicht auf eine der immer teleologisch ausgerichteten Meistererzählungen wie die Säkularisierung oder die Modernisierung, sondern auf das Zeitalter der Bürgerlichkeit (das im 18. Jahrhundert beginnt) verweist51, nimmt er bereits eines der zentralen Ergebnisse vorweg: Der Schlafdiskurs, wie er sich in den untersuchten Quellen darstellt, war von seinen Autoren und den von ihnen vertretenen Werten zutiefst bürgerlich geprägt. So wie beispielsweise um 1800 bürgerliche Aufklärer die Arbeitsleistung in den Vordergrund stellten, verständigten sich in der Krisenzeit des Bürgertums um 1900 Ärzte über die von der modernen Gesellschaft verursachten Schlafprobleme ihrer Schicht. Indem dieses Buch aus seiner speziellen Perspektive kulturelle Werte, Lebensformen (einer freilich nicht ganz klar umrissenen Schicht) und deren Konstruktionskontexte analysiert, leistet es auch einen Beitrag zur Bürgertumsforschung.

49 Das „lange 19. Jahrhundert“ ist ein fest etablierter historiographischer Begriff, vgl. Nils Freytag, Dominik Petzold (Hgg.): Das lange 19. Jahrhundert. Alte Fragen und neue Perspektiven (Münchner Kontaktstudium Geschichte 10), München: Utz 2007, Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (Handbuch der deutschen Geschichte 13), Stuttgart. Klett-Cotta 102001 oder Franz J. Bauer: Das „lange“ 19. Jahrhundert (1789–1917). Profil einer Epoche, Stuttgart: Reclam 2004. 50 Den Begriff des „bürgerlichen Zeitalters“ verwenden u.a. Guy Palmade (Hg.): Das bürgerliche Zeitalter (Fischer Weltgeschichte 27: Vom Absolutismus zum bürgerlichen Zeitalter, Bd. 3), Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 141999 (Original 1975), Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, Dieter Langewiesche (Hg.): Bürgertum im „langen 19. Jahrhundert“ (Geschichte und Gesellschaft 25.1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. Schulz spricht unter Bezugnahme auf Karl Marx vom 19. Jahrhundert als dem „bürgerlichen Jahrhundert“: Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 75), München: Oldenbourg 2005, 1. 51 Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815) (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 127), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, v.a. 21 und 382–405.

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Die geographische Eingrenzung der Untersuchung

Diese Studie beschränkt sich auf den Schlafdiskurs des deutschen Sprachraums, von dem immer wieder wichtige Impulse auch für andere Sprach- und Kulturräume ausgingen. Zugleich war das Reden über den Schlaf seit der Aufklärung immer in europäische beziehungsweise internationale Forschungsdebatten eingebettet, so dass diese in der Untersuchung direkt oder indirekt Berücksichtigung finden.52 Auch wenn im Konzept der Untersuchung die Internationalität von wissenschaftlicher Forschung und Forschungskommunikation genauso wenig im Vordergrund steht wie lokale oder nationale Hintergründe einzelner Forschungsergebnisse, lohnt sich an dieser Stelle eine schlaglichtartige Zusammenfassung internationaler Verschränkungen und deutscher Eigenheiten der wissenschaftlichen Entwicklung.53 Das Reden über den Schlaf im deutschen Sprachraum wies bereits während der Aufklärung epochentypisch europäische, vor allem französische, aber auch englische Einflüsse auf. Ein wichtiges Beispiel ist das cartesianische, säkularisierte Menschenbild, auf das im ersten Kapitel ausführlich einzugehen sein wird. Dagegen gilt die Romantik als ein spezifisch deutsches Phänomen – dessen geistesgeschichtliche Bedeutung bekanntermaßen weit über die Wissenschafts- und Medizingeschichte hinausgeht.54 Zugleich war der ursprünglich schottische Brownianismus, ein mit der zeitgenössischen Naturphilosophie korrespondierendes, ganzheitliches Körperkonzept, zu dieser Zeit gerade im deutschsprachigen medizinisch-gesellschaftlichen Diskurs sehr erfolgreich. Die physiologisch-chemische Ermüdungsforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, ein spezieller, zeittypischer Zugang zum Phänomen Schlaf im Zeichen der Vernaturwissenschaftlichung der Medizin und als wissenschaftlichgesellschaftliche Folgeerscheinung der Industrialisierung, auf die das Kapitel 2 ausführlich eingeht, war ein europäisches Phänomen, das stark von deutschen Wissenschaftlern geprägt wurde. In der Entwicklung synthetischer Schlafmittel 52 Ekirch arbeitet in seiner Geschichte der Nacht, die v.a. auf englischsprachigem Material beruht, Tendenzen des Umgangs mit dem Schlaf heraus. Diese unterstützen die These, dass der Schlaf in der Literatur der Frühen Neuzeit europaweit ähnlich behandelt wurde. Bei der Frage nach lokalen Bräuchen, die nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind, stellt sich die Lage sicher anders dar. 53 Die Dimension ist hier, um das noch einmal hervorzuheben, weder ein politscher Staats-, noch ein Nationsbegriff, vielmehr geht es um den deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs über den Schlaf. 54 Die Romantik gilt in der Forschung als „primär deutsche Angelegenheit“, siehe etwa die Frage nach der europäischen Dimension dieser Epoche bei Gerhard Schulz: Romantik. Geschichte und Begriff, München: Beck 1996, 43–50.

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und ihrer pharmaindustriellen Vermarktung hatten deutsche Forscher und Unternehmen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine Vorreiterrolle inne. Die Lebensreformbewegung und die Fin de siècle-Stimmung in den Jahren um 1900 hatten im Deutschen Reich besondere Ausprägungen. Im nervösen Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg kam es hier zu einer europaweit einzigartig intensiven Rezeption der unter anderem mit Schlaflosigkeit einhergehenden amerikanischen Modekrankheit Neurasthenie, wie in Kapitel 3 dargestellt wird.55 Die ersten Messungen von Hirnströmen im Schlaf schließlich wurden 1929 von Hans Berger, einem Psychiater und Neurologen in Jena, in Form des „Elektrenkephalogramm“ dargestellt, eine Entdeckung, die in den frühen 1950er Jahren in den USA aufgegriffen wurde und zu den heutigen EEG-basierten Schlaflabors führte.56 Auch für alltags- und sozialgeschichtliche Aspekte des Schlafs, die in der Untersuchung berücksichtigt werden, geht es vor allem um den deutschen Sprachraum; es wird vor allem deutschsprachige Sekundärliteratur von der Bürgertumsforschung über die Sachkulturforschung bis zur Sozialgeschichte der Industriearbeiter herangezogen. Dies weist schon auf eine weitere geographische – und zugleich gesellschaftliche – Eingrenzung der Untersuchung hin: Die städtischen Lebensformen und die bürgerlichen Diskurse des deutschsprachigen Raums stehen im Vordergrund. Der Aufbau des Buchs

Die Studie folgt in ihrem Aufbau sowohl der chronologischen Entwicklung als auch inhaltlichen Kriterien, indem sie drei Verdichtungen des Schlafdiskurses identifiziert: Zunächst untersucht sie die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Schlafkonzepte in Aufklärung und Romantik und damit die Grundlagen für die naturwissenschaftlichen Forschungen und die Mensch-Maschine-Metaphorik der Industrialisierung sowie das Nervenparadigma als Grundlage des Schlaf55 Der Begriff des nervösen Zeitalters geht zurück auf Joachim Radkau: Ders.: Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter und Ders.: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien: Hanser 1998. 56 Zur Entdeckung des EEG, das im 2. Kapitel ausführlicher behandelt wird, sei hier verwiesen auf: Hans Berger: Über das Elektrenkephalogramm des Menschen, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 87 (1929), 527–570; Cornelius Borck: Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie, Göttingen: Wallstein 2001. Zur USamerikanischen Entwicklung: Nathaniel Kleitmann: Sleep and Wakefulness. Chicago: The University of Chicago Press 1939, 21963.

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losigkeitsdiskurses. Dieser Abschnitt basiert auf medizinisch-philosophischer Literatur (vor allem aus Physiologie und „Seelenkunde“) und den ersten eigenständigen deutschen Schlafabhandlungen; dazu kommen medizinisch-diätetische Aufklärungsschriften. Der zweite Schwerpunkt liegt auf der Problematisierung des Schlafs als Fortschrittshindernis im Zeitalter der Industrialisierung. Hier finden sozialund alltagshistorische Themen genauso Beachtung wie Experimente aus den entstehenden Arbeitswissenschaften oder die chemische Schlafstoffforschung, mit deren Hilfe es möglich schien, das utopische Ideal zu verwirklichen, das Joch des Schlafs endlich abzuschütteln. Im zweiten Schwerpunkt kann neben wissenschaftlichen Publikationen und Ratgeberliteratur auf mehr Sekundärliteratur, etwa zur Geschichte des städtischen Wohnens, zurückgegriffen werden. Im dritten Kapitel wird die Schlaflosigkeit thematisiert, die sich seit dem späteren 19. Jahrhundert als psychologisch-gesellschaftliches Problem darstellte, dem synthetische Schlafmittel, aber auch traditionelle Schlafdiätetik entgegengesetzt wurden. Die Grundlage für die Geschichte der Schlaflosigkeit bieten vor allem Ratgeber, aber auch Fachpublikationen zu Schlafproblemen und Schlafmitteln. Die mit der Schlaflosigkeit verbundene Modernekritik schlägt als Konstante im Schlafdiskurs den Bogen zurück zu Aufklärung und Romantik.

1. Schlafkonzepte in Aufklärung und romantischer Medizin Die naturwissenschaftliche Handbuchliteratur sieht den Beginn der Schlafforschung zumeist in der ersten Messung von Gehirnströmen im Schlaf und ihrer Darstellung im „Elektrenkephalogramm“ (später Elektroenzephalogramm, kurz EEG, genannt) durch den Jenaer Psychiater Hans Berger 1929.57 Die Geschichte der wissenschaftlichen Problematisierung des Schlafs reicht aber deutlich weiter zurück als bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie verschiedene medizinhistorische Untersuchungen dargestellt haben, gab es schon seit der Antike immer wieder Bestrebungen, Ursache und Zweck dieser anthropologischen Konstante zu erklären.58 Eine kulturhistorisch ausgerichtete Studie über den Schlafdiskurs in der Moderne, deren Interesse sich nicht auf die Entwicklung der Schlaftheorien im Sinne einer traditionellen Wissenschaftsgeschichte beschränkt, sollte im 18. Jahrhundert einsetzen: Im 18. Jahrhundert als dem Jahrhundert der Aufklärung lässt sich nämlich vor dem Hintergrund neuer Körperkonzepte und Menschenbilder die beginnende Säkularisierung und Verwissenschaftlichung des Schlafverständnisses festmachen. Damit trat der Schlafdiskurs in die Moderne ein. Zugleich blieb der Schlaf über das 18. Jahrhundert hinaus weiterhin verbunden mit unbeantworteten Fragen, die weit über den engeren Bereich der medizinischen Wissenschaft hinausreichen. Dazu gehören insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele und der in der Romantik um 1800 verstärkt in das Blickfeld gerückte Zusammenhang von Mensch und Natur. 1. 1. Wiederherstellung der Kräfte. Schlaftheorien des 18. Jahrhunderts und ihre wissenschaftliche Verortung Schlaf [...]. Man benennt so das Aufgehobenseyn der Thätigkeit, welches gezwungen von Intervallen zu Intervallen in den animalischen Verrichtungen eintritt, momentan 57 Vgl. etwa Annelie Scharfenstein: Schlaf, in: Uwe Tewes, Klaus Wildgrube (Hgg.): Psychologie-Lexikon, München/Wien: Oldenbourg 21999, 328–333, hier 328. Zur Entdeckung des EEG, das im 2. Kapitel Thema ist, sei hier verwiesen auf: Berger: Über das Elektrenkephalogramm des Menschen; Cornelius Borck: Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie, Göttingen: Wallstein 2001. 58 Einen Überblick bietet: Wittern: Der Schlaf als medizinisches Problem; auch: Kuhlen: Zur Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel; Mächler: Die Anfänge moderner Schlafforschung; außerdem: Schöpf: Der Schlaf aus medizinischer Sicht im 18. und frühen 19. Jahrhundert.

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das Thier des Bewußtseyns seines Ichs, seiner Spontaneität, seines Willens beraubt, und während dessen Dauer das Nervensystem [...] und die Organe dieser Verrichtungen ihre Verluste wieder ersetzen und ihre Fähigkeit, thätig zu seyn, wieder erlangen.59

Friedrich Ludwig Meißners „Encyclopädie der medicinischen Wissenschaften“ (1833) zufolge werden im Schlaf das Nervensystem und die Kräfte der tagsüber beanspruchten Organe wiederhergestellt; der Arzt Heinrich Nudow hatte in seiner grundlegenden Abhandlung „Versuch einer Theorie des Schlafs“ (1791) für den Nutzen des Schlafes die Formulierungen der „Läuterung, Wiederordnung und Vorbereitung“ gewählt und nannte den „Wiederersatz der Kräfte“, insbesondere des „Nervensaftes“, die „letzte Wirkung des Schlafes“.60 In der „Erfahrungs-Seelenlehre“ (1771) des Philosophen Ludwig Heinrich Jakob stehen dagegen die „Seelenkräfte“ im Vordergrund, und der Hygieniker Christoph Wilhelm Hufeland konzentrierte sich in galenisch-hippokratischer Tradition auf die „Stärkung der Lebenskraft“ als Zweck des Schlafes (1797).61 Als der kleinste gemeinsame Nenner ziehen sich durch den historischen Schlafdiskurs die teilweise sich ablösenden, teilweise synchron bestehenden mehr oder weniger veränderlichen Vorstellungen der Reproduktion von verschieden gefassten Kräften, also die Erholung. Dass der Mensch „seine Nahrung, seine Kraft, neues Leben durch den Schlaf“62 empfange, ist auch noch im 20. Jahrhundert (hier 1918) ein Gemeinplatz im Schlafdiskurs, auch wenn sich die Schlaferklärungen im 19. Jahrhundert stark ausdifferenzierten und nicht nur die generelle Erholung und Wiederherstellung der Arbeitskraft, sondern auch chemische Veränderungen auf der biochemischen Mikroebene untersucht wurden, beispielsweise der Abbau von mutmaßlichen „Schlafgiften“ im Blut. Im 18. Jahrhundert verbanden sich aus der Antike überlieferte medizintheoretische und praktisch-diätetische Elemente, um die auch die populäre Hygieneliteratur ihre Argumente weiterhin organisierte, und zeitgenössische Erfahrungswerte zusammen mit den jeweils vorherrschenden physiologischen Theorien zu einem Diskurs über den Schlaf, der sich in verschiedenen Diskussionsfeldern zeitweilig verdichtete: Der cartesianische Materialismus und Du59 Nicolas Philibert Adelon: Schlaf, in: Friedrich Ludwig Meißner, Carl Christian Schmidt (Hgg.): Encyclopädie der medicinischen Wissenschaften nach dem Dictionnaire de Médecine, 13 Bde., Leipzig: Fest, 1830–1835, Bd. 11 (1833), 1–9, hier 1. 60 Heinrich Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs, Königsberg: Friedrich Nicolovius 1791, 66–67. 61 Ludwig Heinrich Jakob: Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre, Halle: Hemmerde und Schwetschke 1791, 287; Christoph Wilhelm Hufeland: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, Jena: Akademische Buchhandlung 1797, beispielsweise 79. 62 W. Fischer-Defoy: Schlafen und Träumen (Kosmos-Bändchen 71), Stuttgart: Franckh´sche Verlagsbuchhandlung 1918, 5.

Wiederherstellung der Kräfte

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alismus (ab Mitte des 17. Jahrhunderts), die Erklärung von Körperfunktionen mit der Reizbarkeit von Muskeln und Nerven (ab Mitte des 18. Jahrhunderts) und aufklärerische Forderungen nach vernünftiger, selbstbestimmter Lebensführung – also wissenschaftliche genauso wie gesellschaftliche Entwicklungen – formten das Verständnis vom Schlaf und seiner physiologisch-psychologischen Bedeutung. Der Schlaf und die Säfte. Grundlagen von Schlafhygiene und -theorien aus der antiken Medizin

Die europäische Heilkunde blieb bis lange über die Frühe Neuzeit hinaus geprägt von den Grundlagen der antiken Medizin, die im Hochmittelalter durch lateinische Neuübersetzungen arabischer Autoren im Westen reaktiviert und in der Renaissance intensiv rezipiert wurde. Daher stellte weiterhin die Humoralpathologie die grundlegende Theorie der Verfassungen des menschlichen Körpers dar. Nachdem sie über Jahrhunderte hinweg während und trotz verschiedener anatomischer und physiologischer Entdeckungen wie etwa der des Blutkreislaufs (1628)63 nur unwesentliche Veränderungen und Erweiterungen erfahren hatte, wurde die Humorallehre seit dem 17. und 18. Jahrhundert von naturwissenschaftlicher Forschung schließlich doch überholt: Ihre traditionelle ganzheitliche Denkweise wich allmählich einem „modernen“ positivistischen Wissenschaftsverständnis, aber auch neuen Großtheorien wie der Reiztheorie (18. Jahrhundert). Grundannahmen der Humoralpathologie hielten sich jedoch bis ins 19. Jahrhundert – im Hintergrund der neuen Theorien, insbesondere aber auch in populärwissenschaftlichen, praxisorientierten Hygieneschriften. Das zeigt sich speziell im Schlafdiskurs. Mit den Versuchen, den Schlaf physiologisch-naturwissenschaftlich zu erklären, rückte man seit dem 18. Jahrhundert zwar vom Blick auf den ganzen Menschen ab. Gleichzeitig aber konnten physiologische Schlaftheorien den Leib-Seele-Dualismus, der das Reden über den Schlaf im Zeitalter der Aufklärung prägte, letztlich nicht überwinden. Ratgeber für Schlaflose erhielten bis in das 20. Jahrhundert zumindest in Ansätzen das holistische Menschenbild aus der humoralpathologischen Medizin aufrecht. Mit der Humoralpathologie, auch Säfte- oder Krasenlehre genannt, wurde im fünften vorchristlichen Jahrhundert von Hippokrates – beziehungsweise in einem größeren Zeitraum im Corpus Hippocraticum, den Schriften, die über63 Zur Entdeckung des Blutkreislaufs und William Harveys „Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis“ siehe: Karl E. Rothschuh: Geschichte der Physiologie, Berlin: Springer 1953, 49–55.

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wiegend Hippokrates zugeschrieben wurden – eine naturphilosophisch-rationalistische Lehre von der Natur des Menschen entwickelt. In dieser theoretischen Erfassung von Gesundheit und Krankheit steht die Rolle der Körpersäfte (lat. humores) als den menschlichen Grundelementen im Vordergrund. Die richtige Mischung (Eukrasie, von griech. εκρασα, gute Mischung) von vier (Körper-) Säften, aber auch ihre Qualitäten (feucht-trocken; warm-kalt) bestimmen die körperliche Verfassung, also ob und inwieweit der ganze Mensch gesund oder krank ist (Dyskrasie: Ungleichgewicht der Säfte). Der für die „vormoderne“ Medizin bezeichnende Aderlass ist ein Beispiel für eine auf der Humoralpathologie fußenden Therapie zur Wiederherstellung der Eukrasie.64 Das humoralpathologische Viererschema unterscheidet nach den jeweils dominanten Säften, denen Primärqualitäten, ein zugehöriges Organ, ein Element (seit Aristoteles)65 und eine Jahreszeit sowie das Lebensalter zugeordnet werden. Weitere Zuordnungen, die später angefügt wurden, sind in erster Linie die Temperamente. Des Weiteren kamen dazu: die Tageszeiten, Planeten und Sternbilder, aber auch Apostel oder Tonarten. Man unterschied in der Frühen Neuzeit, zusammengefasst, die folgenden vier Temperamente: 1. Sanguiniker: Blut (warm-feucht), Herz, Luft, Frühling; 2. Choleriker: gelbe Galle (warm-trocken), Leber, Feuer, Sommer; 3. Melancholiker: schwarze Galle (kalt-trocken), Milz und Hoden, Erde, Herbst; 4. Phlegmatiker: Schleim (kalt-feucht), Gehirn, Wasser, Winter. Die antike Lehre hatte noch nicht so sehr auf Charaktertypen (Temperamente) abgehoben, sondern war allgemeiner von einer Natur des Individuums ausgegangen, von „somatischen Konstitutionstypen“66, die, abhängig von Jahreszeit, Lebensalter, Umwelteinflüssen, Gewohnheiten etc., von den vorherrschenden Säften bestimmt werden. Dieser Determinismus hielt sich im Hygiene- und Schlafdiskurs länger als die Säftelehre im engeren Sinne, aber auch als das VierTemperamente-Schema. Dies zeigt sich in der oft hervorgehobenen Abhängigkeit der Hygiene- und Verhaltensratschläge von der „Lebensführung“ des jeweils betroffenen Individuums oder seiner Alters- oder gesellschaftlichen Gruppe. 64 Zum Aderlass im Diätetikkontext: Séverine Pilloud, Micheline Louis-Courvoisier: The intimate experience of the body in the eighteenth century. Between interiority and exteriority, in: Medical History 47 (2003), 451–472, hier 466–467. Zur Geschichte der Humoralpathologie: Ursula Weisser: Hippokrates; Galen, in: Dietrich von Engelhart, Fritz Hartmann (Hgg.): Klassiker der Medizin, Bd. 1: Von Hippokrates bis Hufeland, München: Beck 1991, 13–29 und Karl E. Rothschuh: Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart: Hippokrates Verlag 1978, 185–223. 65 Rothschuh: Konzepte der Medizin, 187. 66 Weisser: Hippokrates: Galen, 14.

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Nicht nur die Säfte-, sondern gerade auch die Konstitutionstheorie stellte bereits Galen im 2. Jahrhundert in den Vordergrund seines synthetisierenden humoralpathologisch-physiologischen Systems. Seine res non naturales galten mit Einschränkungen bis ins 19. Jahrhundert als der klassische Kanon der Hygiene oder Diätetik. Hygiene bezeichnet dabei die Lehre von der Gesunderhaltung, der Diätetikbegriff steht für Regeln zur Gesunderhaltung oder für gesunde Lebensführung; γεια heißt wörtlich Gesundheit und δαιτα Lebensweise. Die beiden Begriffe der Hygiene und der Diätetik verschwammen in der neuzeitlichen Rezeption;67 im frühen 19. Jahrhundert galt entsprechend als Diätetikdefinition beispielsweise: Man versteht darunter die Branche der Medicin, die sich mit den Regeln, die man beim Gebrauche der hygieinischen Materien zu befolgen hat, beschäftigt. Gegenwärtig bedient man sich gewöhnlich des Wortes Hygieine, welches die nämliche Bedeutung hat.68

Die Begriffsunschärfe wurde allgemein bemerkt und akzeptiert, so etwa auch in Consbruchs diätetischem Taschenbuch (1803): Bei der Hygieine kömmt der ganze Umfang der Gesundheit mir allen ihren Bestimmungen und Verhältnissen in Betracht, bey der Diätetik aber nur gewisse Verhältnisse der Gesundheit gegen die Aussendinge. Gewöhnlich werden jedoch nach dem eingeführten Sprachgebrauche beyde Begriffe mit einander verwechselt.69 67 Dies stellen auch fest: Andrew Wear: The history of personal hygiene, in: William F. Bynum, Roy Porter (Hgg.): Companion encyclopedia of the history of medicine, London/ New York: Routledge 1997, 1283–1308, insbesondere 1287 und Sarasin: Reizbare Maschinen, 32–33. Weitere wenig erhellende Beiträge zur begrifflichen Abgrenzung von Hygiene: Im Zedler ist „Hygieine“ die medizinische Lehre von der Erhaltung der Gesundheit und zerfällt in „Prophylactica“ und „Diaetetica“, „Diaetetica“ ist derjenige „Theil der Artzney-Kunst, welcher die Erkänntnis und Gebrauch derer sechs nicht natürlichen Dinge lehret“ (Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bisshero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Halle/Leipzig: Zedler 64, IV Bde., 1732–54, hier Bd. 13 [1735], 1417 und Bd. 7 [1734], 733–734). Im Brockhaus ist Diätetik 1833 gleichbedeutend mit Lebensordnungslehre und Gesundheitspflege; Hygieine wird ihr untergeordnet als derjenige Bereich, der den gesunden Menschen betrifft, dazu kommen die Prophylaxe und die „Diaetotherapia“ (Th. Schreger: Diätetik, in: Johann Samuel Ersch, Johannes Gottfried Gruber (Hgg.): Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftsteller, Bd. 1.24, Leipzig: Gleditsch 1833, 431–433). 68 Meißner, Schmidt (Hgg.): Encyclopädie der medicinischen Wissenschaften, Bd. 3 (1830), Artikel „Diätetik“ (Autor: Léon Rostan), 363. 69 Georg Wilhelm Christoph Consbruch: Diätetisches Taschenbuch für Ärzte und Nichtärzte, Leipzig: Barth, 1803, 2.

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Das Brockhaus-Konversationslexikon von 1866 orientiert sich stärker an der ursprünglichen Bedeutung: Es versteht Diätetik als die „Lehre oder Kunst, gesundheitsgemäß zu leben“. Hygiene wird definiert als Gesundheitslehre und Gesundheitskunde.70 Im Schlafdiskurs sind die Begriffe weitgehend synonym, wobei „Hygiene“ über den gesamten Zeitraum betrachtet insgesamt öfter Verwendung findet. Wie im dritten Kapitel ausführlich dargestellt wird, sollte sich im späteren 19. Jahrhundert die Hygiene in Kliniken, Universitäten und im staatlichen Gesundheitswesen im Zusammenhang mit der sozialen Frage als „öffentliche Hygiene“ im Gegensatz zur privaten Gesundheitspflege des Bürgertums institutionalisieren. Das hippokratisch-galenische Medizinkonzept, die Grundlage der privaten wie öffentlichen Hygiene der Neuzeit, unterteilt sich in drei res contra naturam, sieben res naturales, und sechs res non naturales. 1. Die res contra naturam bestehen aus den Krankheiten sowie ihren Ursachen und Symptomen. 2. Die res naturales, die von der Konstitution bestimmt werden, beschreiben den gesunden Menschen: die Elemente (Feuer, Wasser, Luft, Erde), die Qualitäten (warm, kalt, trocken, feucht), die Säfte (Blut, Schleim, gelbe Galle, schwarze Galle), die Körperteile (nach den Funktionen in Gruppen gegliedert), die Vermögen der Organe und den Lebensäther (spiritus naturalis, vitalis und animalis, zu verstehen als Seelenfunktionen) sowie die Handlungen (Hunger, Verdauung, Ausscheiden/Zurückhaltung). 3. Die sex res non naturales sind (Licht und) Luft (aer), Essen und Trinken (cibus et potus), Bewegung und Ruhe (motus et quies), Schlafen und Wachen (somnus et vigilia), Ausscheidungen (excreta et secreta) und Gemütsbewegungen (animi affectus).71 Auf den letzten genannten Bereich der res non naturales rekurrierte, in veränderlichen Begrifflichkeiten, der Hygiene- oder Diätetikdiskurs, die res contra naturam entsprechen der späteren Pathologie, und die res naturales der Anatomie und Physiologie.72 Die Hygiene ist deshalb das Kernstück der galenischen Medizin, weil die Therapie bei den non naturales ansetzt, da diese veränderlich 70 Conversations-Lexicon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, 15 Bde., Leipzig: Brockhaus 1864–1873: Bd. 5 (1865), 339 und Bd. 8 (1866), 186. 71 Zu den res naturales und ihrer Tradition ins 19. Jahrhundert: Antoinette Emch-Dériaz: The non-naturals made easy, in: Roy Porter (Hg.): The popularization of medicine 1650–1850, London/New York: Routledge 1992, 134–159; Sarasin: Reizbare Maschinen, hier 36; L. J. Rather: The „six things non natural”, in: Clio Medica 3 (1968), 337–47. 72 Dietrich von Engelhardt: Krankheit, Schmerz und Lebenskunst. Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung, München: Beck 1999, 141; Klaus Bergdolt: Einführung, in: Alvise

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sind. Über Essen und Trinken beispielsweise kann der Mensch – unter der richtigen Anleitung und unter den entsprechenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – selbst bestimmen, während es nicht in seiner Macht steht, kosmische Einflüsse oder den menschlichen Körperbau zu verändern. In einem etwas geringeren Maß als auf Nahrungsmittel trifft das nun auch auf den Schlaf zu, der unvermeidlich ist, aber dessen Quantität und Qualität über die Veränderung bestimmter Umstände beeinflussbar sind.73 In diesem galenisch-humoralpathologischen Denken also war der Schlafdiskurs bis in das 18. Jahrhundert fest verankert. Dies bedeutet aber nicht, dass es zuvor nicht schon physiologische Erklärungsansätze gegeben hätte, die den Schlaf nicht nur als etwas Gegebenes (als res) hinnahmen, sondern seine Ursache und seinen Zweck innerhalb der Körper- und Lebensfunktionen untersuchten. Die erste umfassende Schlaftheorie der Antike geht auf Aristoteles zurück, der in De somno et vigilia, so die in der Frühen Neuzeit gängige lateinische Übersetzung des griechischen Originals, Ursache und Wirkung des Schlafs darlegte. Demnach ist der Schlaf physiologisch zu erklären: Das Herz ist das zentrale Organ, und damit Sitz der Wahrnehmung (von Körper und Seele). Weil nun Wachsein gekennzeichnet ist von Wahrnehmung und Denken, und Schlaf das Gegenteil von Wachsein ist, muss auch der Schlaf letztlich im Herzen zu verorten sein. Er dient der Wiederherstellung der Wahrnehmungskraft und allgemeiner der Erhaltung der Lebewesen, weshalb er mit der Verdauung einhergeht: Die Nahrung wird in den Adern zu Blut umgewandelt, dabei entstehen Dämpfe, die von der Lebenswärme, dessen Quelle das Herz ist, in den Kopf getrieben werden. Das Gehirn kühlt diese ab, wodurch der Kopf schwer wird. Die erkalteten Dämpfe sinken und entziehen dem Herzen Wärme. Dieser Vorgang hemmt die Wahrnehmung, und das Lebewesen schläft, bis das Blut sich von den schwereren, unreineren Stoffen gereinigt hat, die Verdauung beendet ist und die Wahrnehmung wieder zur Tätigkeit drängt.74

Cornaro: Vom maßvollen Leben oder Die Kunst, gesund alt zu werden, hg. von Klaus Berdgolt, Heidelberg: Manutius 21997 (Original 1558), 7–32, hier 8. 73 Zur hippokratischen und galenischen Diätetik und ihrer Rezeption siehe auch: Florian Steger: Antike Diätetik – Lebensweise und Medizin, in: ntm. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 12 (2004), 146–160. 74 David Gallop (Hg.): Aristotle on sleep and dreams. A text and translation with introduction, Peterborough, Ontario: Broadview Press 1990; Zusammenfassungen auch bei Wittern: Der Schlaf als medizinisches Problem, 10–13; Franz-Josef Kuhlen: Zur Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel in Mittelalter und Früher Neuzeit (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie 19), Stuttgart: Deutscher Apotheker Verlag 1983, 16–17.

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Im aristotelischen System wird demnach das Phänomen des Schlafens materialistisch, also als physiologischer Ablauf und nach den physikalischen Prinzipien der Bewegung und der Wärme erklärt. Dabei steht Schlaf in direktem Zusammenhang mit der Rolle des Herzens und des Blutes sowie mit den auf Erfahrungswerte zurückgeführten Effekten der Verdauung und Erholung; er beruht damit auf der Funktion bestimmter Organe. Der Schlaf wird ex negativo als das Gegenteil des Wachens definiert. Diese Denkstrukturen – Materialismus, Funktion der Organe, definitio ex negativo, gingen als grundlegende Kategorien in den modernen Schlafdiskurs ein, auch wenn sich die Erklärungen selbst durchaus veränderten. Die zweite einflussreiche Schlaftheorie der Antike stammt wiederum von Galen, dem neben Hippokrates in der Vormoderne am intensivsten rezipierten antiken Mediziner (Abb. 1).75 Unter Rückgriff auf Aristoteles geht Galen von der Verursachung des Schlafs durch das Aufstei1 Darstellung der Schlaftheorie gen von Dämpfen im Verdauungsprozess Galens (ohne Gehirn), Werbeaus. Dabei wird der Schlaf aber nicht im material für das Schlafmittel Herz, sondern im Gehirn verortet, dessen Adalin (Bayer), o. J. Feuchtigkeit er wiederherstellt. Galens Schlafphysiologie setzt nämlich bei den spiritus als einem der Elemente seiner res naturales, als dem bewegenden Prinzip des Körpers an, womit immateriellen Kräften eine größere Rolle zugeschrie-

75 Weitere weniger einflussreiche Schlaftheorien der Antike arbeitet Kuhlen überblicksartig heraus (Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel): Theorien der griechischen Naturphilosophen: 10–15; Hellenismus und Rom: 18–23. Siehe auch: Michael J. Thorpy: History of sleep and man, in: Ders., Jan Yager (Hgg.): The encyclopedia of sleep and sleep disorders, New York: Facts On File 1991, IX–XXXIII, hier IX–XV.

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ben wird als in der artistotelischen Theorie. Die Formen des spiritus oder Lebensäthers sind:76 1. der spiritus naturalis (zur Ernährung; aus der Leber), 2. der spiritus vitalis (für die Blut- und Gemütsbewegung; im Herz) und 3. der spiritus animalis (Sinnestätigkeit und willkürliche Bewegungen; im Gehirn). Der spiritus animalis macht die Wahrnehmung und damit das Wachsein aus. Der Schlaf findet während der Wiederherstellung des spiritus statt. Unter dieser oder anderen Bezeichnungen wie insbesondere „Lebenskraft“ diente Galens spiritus animalis in der Physiologie des 17. und 18. Jahrhunderts weitgehend als Erklärung für das Funktionieren der menschlichen Maschine und gerade auch des Phänomens Schlaf. Die Definition des Wachseins über die Wahrnehmung (Aristoteles) und die willkürlichen Bewegungen erhielten ebenfalls einen festen Platz im Schlafdiskurs. Ein wichtiger Grund für den praktischen Erfolg des Galenismus besteht darin, dass mit der Qualitäten- und Säftelehre Erklärungsmuster für Erfahrungen in der ärztlichen Praxis und am eigenen Leib sowie entsprechende Handlungsmuster angeboten werden, also eine Schlafdiätetik. So erklärt er die Schweißabsonderung im Schlaf mit der Verdunstung durch die „Kochung“ der Nahrungssäfte oder die Gefahr, dass bei zu viel Schlaf ein Zuviel an schleimigen Säften (griech. ϕλγµα) entstehen.77 Dass die Therapie bei Galen eine große Rolle spielt, wird in Bezug auf den Schlaf zudem darin deutlich, dass Schlaflosigkeit als mögliches Krankheitssymptom aufgeführt wird.78 Aber auch die antike Erklärung des Schlafs über eine Lokalisierung im Herz oder Hirn wurde in der Neuzeit wiederholt aufgriffen und fortgeführt, nachdem das Mittelalter und die Renaissance keine eigenen Schlaftheorien entwickelt hatten, die den späteren theoretischen und praktischen Ansprüchen genügt hätten. Schlafphysiologie und -hygiene im Mittelalter waren geprägt von der monastischen Medizin, einer Verbindung aus der Humorallehre und religiöser Lebensführung, für die insbesondere Hildegard von Bingen steht. Diese führte den Grund für den Schlaf letztlich auf die Erbsünde zurück, die nicht nur den Tod, sondern auch das körperliche Schlafbedürfnis zusätzlich 76 Ingo Wilhelm Müller: Das Lehrgebäude der griechischen Medizin. Die Humoralmedizin des Galen, in: Heinz Schott (Hg.): Meilensteine der Medizin, Dortmund: Harenberg 1996, 100–113, hier 102. 77 Hans H. Lauer: Schlafdiätetik im Mittelalter, in: Somnologie 2 (1998), 151–162, hier 153. 78 Rothschuh: Konzepte der Medizin, 188–199. Zu Galens Schlaftheorie: Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 21–22; Wittern: Der Schlaf als medizinisches Problem, 13–15. Es liegt eine deutsche Übersetzung des Galentextes vor mit Rainer Nabielek: Die ps.-galenische Schrift „Über Schlaf und Wachsein“, Diss. Berlin 1977.

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zur Notwendigkeit der geistigen Erholung in die Welt gebracht habe. Der Umgang mit dem Schlafbedürfnis ist belegt in Ordensregeln wie der regula benedicti und in regimina sanitatis. Die regimina kann man als „populärwissenschaftliche Zusammenstellungen von Verhaltensregeln in Form von Lehrgedichten“79 bezeichnen, die sich nicht nur formal stark an Ordensregeln orientierten.80 Die Vorgaben der regimina enthalten zumeist einige Empfehlungen für pflanzliche Schlafmittel, gehen ansonsten aber kaum über die Faustregeln hinaus, mit der Hildegard von Bingen die Schlafregeln in der regula benedicti kommentiert: „Ein Mensch, der über das Maß hinaus wacht, genau so, wie der, der über das Maß hinaus schläft, wird schwach an Leib und Seele.“81 Die historischen Grundlagen der neuzeitlichen Schlafhygiene und -physiologie sind also, wie das auf so viele wissenschaftshistorische Themenfelder zutrifft, vor allem in der Antike, hier speziell in der hippokratisch-galenischen und der aristotelischen Medizin, zu finden. In der Antike, wie sie zunächst in der Renaissance rezipiert wurde, ist der Schlaf also nicht nur der mythische Bruder des Todes, sondern es werden auch die Diskursparameter für den neuzeitlichen Schlafdiskurs vorgeformt, die auch als „templates“82 der späteren Diätetik bezeichnet wurden.83 79 Bergdolt: Einführung, in: Cornaro: Vom maßvollen Leben, 7–32, hier 7. 80 Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 24–36; Lauer: Schlafdiätetik im Mittelalter, 156–158. Das einflussreiche hochmittelalterliche Lehrgedicht „Regimen sanitatis Salernitanum“ ist nachzulesen bei Ignaz Düntzer (Hg.): Regimen sanitatis Salernitanum. Lateinisch und im Versmaaße der Urschrift verdeutscht nebst Geschichte der Schule = Gesundheitsregeln der Schule von Salerno, Köln: Eisen 1841. 81 „Quoniam homo qui aut supra modum vigilat, aut supra modum dormit, debilitatem sensus et corporis incurrit.“: S. Hildegardis: Regula S. Benedicti Juxta S. Hildegardim Explicata, in: Jacques Paul Migne (Hg.): S. Hildegardis Abbatissae Opera Omnia (Patrologiae cursus completus 2, Series Latina 197), Turnhout: Brepols 1991 (Reprint der Ausgabe Paris 1855), Spalten 1055–1066, hier 1056 B. Hildegards Schlafverständnis wird dargestellt bei: Elisabeth Wittmer-Butsch: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter (Medium Aevum Quotidianum Sonderband 1), Krems 1990, 57–58 und 83; Knapp auch Lauer: Schlafdiätetik, 157 und Heinrich Schipperges: Hildegard von Bingen, München: Beck 3 1997, 86–87. Der Originaltext Hildegards entstand Mitte des 12. Jahrhunderts. 82 Wear: The history of personal hygiene, 1284, bewertet so die antike Diätetik in Bezug auf den neuzeitlichen Hygienediskurs. 83 Mann kommentiert den „Weg“ der Hygiene und des Gesundheitswesens „durch Mittelalter, Renaissance und Barock“ als „gleichmäßig, ohne scharfe Kehren und Veränderungen des Unterbodens“, allerdings stellt er parallel zum Weiterbestehen der regimina im 16./17. Jahrhundert eine Differenzierung der Adressaten mit dem Aufkommen der Hausväterliteratur fest: Gunter Mann: Gesundheitswesen und Hygiene in der Zeit des Übergangs von der Renaissance zum Barock, in: Medizinhistorisches Journal 2 (1967), 107–123, hier 122 und 121. Zum Schlaf in der Renaissance: Karl H. Dannenfeldt: Sleep. Theory and

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Der Erhalt der menschlichen Maschine. Schlaf im mechanistischen Menschenbild

Das Grundprinzip des aufgeklärten Schlafverständnisses ist eine mechanistische Vorstellung vom Ablauf des Schlafs: Der Schlaf ist zu einem zwar von psychologischen Faktoren beeinflussten, aber doch prinzipiell physiologisch erklärbaren körperlichen Vorgang geworden; seit der Aufklärung erwartet man, dass er früher oder später in allen Details erklärt sein wird. Die dahingehenden positivistisch-naturwissenschaftlichen Forschungsanstrengungen des 19. Jahrhunderts beruhten auf den physiologischen Theorien und Erkenntnissen der vergangenen beiden Jahrhunderte. Nicht nur in der romantischen Literatur, wie etwa bei E. T. A. Hoffmann, findet sich zum Aufbruch der Moderne immer wieder die Metapher des „Maschinenmenschen“, sondern genauso, und zuerst, zur Beschreibung physiologischer Abläufe. Dies gilt auch für die – überwiegend physiologisch argumentierenden – Schlaftheorien des 17. bis 19. Jahrhunderts.84 Das Bild des Menschen als Maschine lässt sich als Zuspitzung des Materialismus in den medizinischen Wissenschaften letztlich auf den cartesianischen Mechanizismus zurückführen.85 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts beschrieb René Descartes den menschlichen Körper als eine – nach göttlichen Gesetzen – selbstständig funktionierende Maschine. Dieser liege ein dualistisches Prinzip zugrunde: Sie werde gedanklich getrennt in Körper (res extensa) und Seele (res cogitans) beziehungsweise Materie und Geist. Der Sitz der Seele sei in der Zirbeldrüse (Epiphyse). Descartes’ Schlaftheorie, die er innerhalb einer practice in the late Renaissance, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 41 (1986), 415–441; Wittern: Der Schlaf als medizinisches Problem. Zur Mythologie: Otto Holzapfel: Lexikon der abendländischen Mythologie, Freiburg u.a.: Herder 2000, 208 (Hypnos), 278 (Morpheus), 408 (Thanatos). 84 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, in: Ders.: Nachtstücke, Frankfurt am Main: insel 1982, 9–48. Die romantische Erzählung von 1816 befasst sich mit der Nachtseite der menschlichen Seele. Im „Sandmann“ verliebt sich ein Student der Naturwissenschaften und der Poesie in einen ihm als Mensch erscheinenden Maschinenmenschen, eine Automata. Zu den Automata der Aufklärung: Simon Schaffer: Enlightened automata, in: William Clark, Jan Golinski, Simon Schaffer (Hgg.): The sciences in enlightened Europe, Chicago/London: University of Chicago Press, 1999, 126–165. Zu Hoffmanns Bezug zur Anthropologie der Romantik: Stefan Schweizer: Anthropologie der Romantik. Körper, Seele und Geist. Anthropologische Gottes-, Welt- und Menschenbilder der wissenschaftlichen Romantik, Paderborn u.a.: Schöningh 2008, 52–63. 85 Eine konzise gesellschaftliche Kontextualisierung des medizinischen Mechani(zi)smuskonzepts – beide Begriffe finden weiterhin Verwendung – bietet Jon Miller: Mechanismus, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, 201–207. Für den Materialismus leistet dies entsprechend Jörg Henrich (Materialismus, in: Jaeger [Hg.]: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, 116–119.

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Darstellung der Struktur des Gehirns darlegte, nahm sich entsprechend materialistisch aus, da ja die spiritus, die von Galen übernommen wurden, materielle Form haben: Nach Descartes’ mechanistischem Prinzip transportiert das Blut aus dem Herzen, der Wärme erzeugenden Energiequelle der menschlichen Maschine, den spiritus animalis zum Kopf, von wo aus sie die Muskeln und Sinnesorgane über Nervenröhren beeinflussen. Das Blut, mit dem der Körper ernährt wird, kehrt tagsüber immer seltener zum Herz zurück, wodurch die Bildung des spiritus abnimmt und Ermüdung entsteht.86 In dieser Theorie liest man deutlich die Handschrift Galens, bis hin zur Argumentation mit der allmählichen Austrocknung des Gehirns während des Wachens. Descartes erweiterte die überlieferte Schlaftheorie allerdings um die auf neuen Experimenten fußende Theorie, nach der die Nervenfasern und -röhren beim Verbrauch des spiritus animalis zusammenfielen, was konkret den Schlaf verursache, da so Eindrücke nicht mehr ins Gehirn gelangten. Die cartesianische Schlaftheorie ist nicht mehr wie der Schlafdiskurs der Renaissance nur als Rezeption antiker physiologischer Vorstellungen im Zusammenhang mit noch über das Mittelalter hinaus theologisch vorgeformten Denkmustern zu verstehen. Vielmehr bedeutete das cartesianische Denken den Impuls zu einer Säkularisierung des Schlafes in einem sich enttheologisierenden, also mehr und mehr materialistischen Forschungskontext.87 Mit der konzeptionellen Ansiedelung des Schlafs zwischen der Medizin und der Philosophie (oder Physik und Metaphysik), zwischen Körper und Seele, über die physiologischpsychologische Brückenkonstruktion des spiritus animalis – schrieb Descartes den Dreh- und Angelpunkt des weiteren Schlafdiskurses fest. Allerdings hatte seine schlafphysiologische Theorie nicht lange Bestand, weil der Schlaf zu den Bereichen gehörte, in denen eine mechanistische Erklärung alleine nicht befriedigen konnte: Inkonsistent wurde sein Materialismus nämlich an genau dem Punkt, wo es das Bewusstsein und die Willkür zu erklären galt. Träume waren für Descartes der Effekt von ungleichmäßiger Spiritusproduktion; aber wie erklärte sich der Erfahrungswert, dass der Mensch willkürlich sehr lange wach bleiben kann? Descartes wird nicht zuletzt deshalb zu den Vordenkern der Aufklärung gezählt, weil er dem – immateriellen – Willen in der 86 Zur Schlaftheorie: Wittern: Der Schlaf als medizinisches Problem, 126–146, Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 43; René Descartes: Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648), üs. und hg. von Karl E. Rothschuh, Heidelberg: Lambert Schneider 1969, 130–132 (d.h. im ersten Werk). 87 Klaus Bergdolt (Leib und Seele, 226) bezeichnet das cartesianische Körperbild als säkularisiert. Zur Säkularisierung des Menschenbilds vgl. auch Gerd Göckenjan: Kurieren und Staat machen. Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main: suhrkamp 1985, 65.

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Vermittlung zwischen res extensa und res cogitans eine tragende Rolle zuschrieb: Der Mensch verfüge über die Willensfreiheit, seine „Passionen“ zu kontrollieren, also insbesondere den Schlaf hinauszuzögern.88 Für das Schlafverständnis bedeutet das eine Vorwegnahme oder Wegbereitung des aufgeklärten Menschenbildes, in dem der Schlaf von der „Macht des Gemüts“ (Immanuel Kant, 1798)89 beeinflussbar ist und die Erbsünde, als das Gegenteil von Willensfreiheit und Selbstverantwortung, aus dem Schlafdiskurs weitgehend verdrängt wird.90 Das mechanistische Menschenbild bedeutete also nicht nur generell eine Säkularisierung der Wissenschaften vom Menschen, sondern auch den ersten Schritt zu einem Abschütteln des von Gott auferlegten „Jochs“ des Schlafs. Ein überwiegend theologischer Schlafbegriff wird dann in Johann Georg Walchs „Philosophischem Lexicon“ 1775 nur noch kritisch referiert: Der Gebrauch des Schlafs kann auf zweyerley Art betrachtet werden: entweder in Ansehung der Gesundheit des Leibes [...] oder in Anlehung an die Moralität: wie weit einem der Schlaf als was sündliches könne zugerechnet werden [...]. Der Schlaf an sich ist eine natürliche Würkung und die Begierde zu schlafen ist eine natürliche Begierde, die uns Gott zu unserer Erhaltung eingepflanzet, auch im Stande der Unschuld würde gewesen seyn, wie denn Gott auf den ersten Menschen, als der das Weib aus seiner Rieben bildete, einen tiefen Schlaf fallen ließ, Genes.cap.2.v.21. Denn wir müssen uns nicht mit einigen Fanaticis den Stand der Unschuld so vorstellen, als wäre er dem Stand der Engel und der Seligen in jenem Leben gleich gewesen. Natürliche 88 Günther Pflug: Descartes und das mechanistische Menschenbild, in: Medizinhistorisches Journal 17 (1982), 3–19, insbesondere 7 und 19. Zum Dualismus kurz: Bergdolt: Leib und Seele, 22; Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 37–38. Medizinhistorisch: Karl E. Rothschuh: Physiologie im Werden. Stuttgart: Gustav Fischer 1969, 96–110. Zur Rolle Descartes im Zusammenhang mit der Aufklärung kurz: Winfried Müller: Die Aufklärung (Enzyklopädie deutscher Geschichte 61), München: Oldenbourg 2002, 10–11. 89 Immanuel Kant: Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein, in: Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik = Wilhelm Weischedel (Hg.): Kant. Werke in 6 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, Bd. 4 (1798), 371–393. Dazu mehr in Kapitel 1.2. 90 Dass der Sündenfall in dieser Epoche eine grundsätzliche Reinterpretation erfuhr und „zur Geburtstunde der bürgerlichen Lebensform [wurde], deren Werthaftigkeit auf eigener Tätigkeit beruht, nicht auf arbeitsfreiem Müßgiggang“, sei hier nur nebenbei bemerkt (Klaus Schreiner: Das verlorene Paradies – Der Sündenfall in Deutungen der Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500– 2000, Wien u.a.: Böhlau 1998, 43–71, hier 53). Zur Verbindung von Sündenfall und Geschichte des Körpers siehe auch: Ders.: „Si homo non pecasset …“ Der Sündenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfaßtheit des Menschen, in: Ders., Norbert Schnitzler (Hgg.): Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München: Fink 1992, 41–84.

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Handlungen sind nothwendig, und weil sie in keines Menschen Freiheit stehen, so haben sie keine Moralität, und können niemanden imputiret werden. Doch kann es geschehen, daß gewissen Umstände, die eine Wilkühr voraus setzen, dazu kommen, welche bey einer Handlung, die an sich natürlich ist, eine Moralität, folglich eine Imputation veranlassen können. Dieses geschieht unter anderem bey dem Schlaf. Denn schläft ein Mensch zur Unzeit, so kann hier der Umstand der Zeit machen, daß sein Schlaf sündig wird, i. E. wenn man in der Kirche schläfet, oder des Tages aus bloßer Commodität und Faulheit sich des Schlafes bedienet, und seyne nöthige Arbeit dabey versäumet.91

Der aufgeklärte Mensch hat also die Freiheit zur „Moralität“. Schlaf kann sündig sein („Sündenschlaf“)92, ist dies aber nicht a priori. Damit stellt sich Walch gegen Theologen wie Adolph Grulich, für den noch 1786 der Schlaf eine „Strafe nach dem Sündenfall“93 war: So belegte der Allmächtige unter denen Aussprüchen seiner straffenden Gerechtigkeit die Menschen mit dem Schlafe, als dem Gegensatz von der paradiesischen Unsterblichkeit des Körpers. Er verschaffte die Geheimnisvolle Ebbe und Fluth in dem allerzartesten Stof der menschlichen Lebensgeister, welches die äußerste Quelle des Schlafes und der zu erfolgenden Sterblichkeit ist. Die Allmachtshand versetzte diejenigen Gesetze, nach welchen Geist und Materie an dem ersten Keime unsers jetzigen Lebens so harmonisch arbeiten, aus der vollkommenen Stetigkeit in das periodische.94

Seine Ausgangsfrage nach der Ursache des Schlafs hatte gelautet: Sollten wir denn gleich von unserm ersten Ursprunge schlechterdings dazu bestimmt worden seyn? Gehört der Schlaf einzig und allein zur Bestimmung unserer thierischen Maschine, oder muß man ihn zugleich zu denen Merkmalen einer höhern Absicht des Menschen rechnen?95

Das Bild vom Menschen als Maschine, das hier also sogar in einem theologischen Traktat bemüht wird, hat die Moderne nachhaltig geprägt, und doch zeigt der unvermeidliche Schlaf – nicht erst in der Arbeitsphysiologie des späten 19. Jahrhunderts, sondern bereits im 18. Jahrhundert – Grenzen der rationalistischen Moderne auf. Dies bestätigen gerade auch die überraschend wenig materialistisch anmutenden Ansichten des Autors des umstrittenen Traktats 91 Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon, Artikel „Schlaf“, Leipzig: Gleditsch 41775, 709–711, hier 710. 92 Zum theologischen Begriff des Sündenschlafs, knapp: Wittmer-Butsch: Schlaf und Traum im Mittelalter, 49–50. Der Begriff bezieht sich auf eine negative Bewertung des Schlafs auf Grundlage des Tadels Christi gegen die Jünger, die am Ölberg einschlafen, statt mit ihm zu wachen (Mt. 26,40). 93 Grulich: Versuch einer pragmatischen Geschichte des Schlafes, 19. 94 Grulich: Versuch einer pragmatischen Geschichte des Schlafes, 56. 95 Grulich: Versuch einer pragmatischen Geschichte des Schlafes, 8.

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„Der Mensch eine Maschine“ („L´Homme machine“, 1747), Julien Offray de La Mettrie: Seele und Körper schlafen zusammen ein. In dem Maße, wie die Bewegung des Blutes ruhiger wird, verbreitet sich ein wohltuendes Gefühl des Friedens und der Ruhe in der ganzen Maschine. Es ist der Seele, als werde sie immer schwerer wie die Augenlider und immer schlaffer wie die Gehirnfasern: sie wird allmählich mit allen Muskeln des Körpers gleichsam gelähmt. Diese können das Gewicht des Kopfes nicht mehr tragen, und jene vermag die Last des Gedankens nicht mehr auf sich nehmen. Im Schlaf ist also die Seele gewissermaßen nicht mehr zugegen. 96

Für La Mettrie, den in Deutschland zeitgenössisch heftig diskutierten französischen Aufklärer und bis heute Inbegriff eines radikalen Materialisten, war der menschliche Körper eine Maschine, „die selbst ihre Federn aufzieht“. Er definierte die Seele als Organ und ihre Tätigkeiten als Vorstellungen, davon ausgehend, dass man „alle Teile der Seele auf die Vorstellungs- oder Einbildungskraft allein zurückführen kann, da diese sie alle hervorbringt“97. Im Grunde aber erklärte La Mettrie den Schlaf durchaus nicht materialistischer als Descartes. Der Schlaf zeigt für ihn die Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele auf: Ist der Blutkreislauf zu schnell, so kann die Seele nicht schlafen. Ist die Seele zu erregt, so kann sich das Blut nicht beruhigen; es jagt durch die Adern mit einem Geräusch, das zu hören ist: das sind die beiden wechselseitigen Ursachen der Schlaflosigkeit.98

Unabhängig von seiner Definition der Seele kann man die Erklärung der Schlaflosigkeit durch den Materialisten La Mettrie durchaus psychologisch nennen.99 Dass sich La Mettrie mehr als hundert Jahre nach Descartes mit dem LeibSeele-Dilemma befasste, verdeutlicht, dass dieses noch nicht gelöst worden war. Im Gegenteil drehten sich die Debatten um das Bild vom Menschen über das weitere 17. und das 18. Jahrhundert hinaus nach wie vor um diese Achse. Grundlegende Phänomene wie Tod, Schlaf oder Seelenkrankheiten (mit ihren Überschneidungsflächen), die explizit im Wechselspiel zwischen Körper und Seele – der philosophischen Grundfrage dieses Dualismus – angesiedelt worden

96 Julien Offray de La Mettrie: Der Mensch eine Maschine, üs. von Theodor Lücke, Nachwort von Holm Tetens, Philipp Reclam jun.: Stuttgart 2001, 24. 97 La Mettrie: Der Mensch eine Maschine, 42. 98 La Mettrie: Der Mensch eine Maschine, 24–25. 99 Zum Seelenbegriff der Aufklärung, ausgehend von Descartes, siehe: Günther Mensching: Vernunft und Selbstbehauptung. Zum Begriff der Seele in der europäischen Aufklärung, in: Gerd Jüttemann, Michael Sonntag, Christoph Wulf: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim: Psychologie Verlags Union 1991, 217–235.

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waren, sind, wenn auch unter rationalisierteren Vorzeichen, auch noch dort verblieben.100 Die Positionen der Aufklärungsphysiologen reichten von cartesianisch-mechanistischem Denken bis zum Animismus des Hallenser Pietisten Georg Ernst Stahl (und nach Stahl: „Vitalismus“), nach dessen Animatheorie die letzte Ursache der Bewegung des Körpers allein in der immateriellen Seele liege und der Schlaf der Rückzug der Seele sei.101 Für den Schlafdiskurs des 18. Jahrhunderts ist bezeichnend, dass er überwiegend eine vermittelnde Position zwischen Materialismus und Vitalismus (als überhaupt selten in Reinform vertretene Extreme) einnahm und anhand des Phänomens Schlaf Interaktionstheorien zwischen Leib und Seele darlegte. Mediziner-Philosophen leuchteten diese Schwelle aus, argumentierten dialektisch zwischen Physik und Metaphysik des Schlafs, zwischen „Arztneyverständigen“ und „Seelenkennern“, und synthetisierten wie der einflussreiche, ebenfalls in Halle lehrende Mediziner und Schriftsteller Johann August Unzer: „Ich bin auf der Seite der Metaphysickverständigen und Artzneygelehrten: aber beiden bin ich auch einigermassen entgegen.“102 Die Erklärung vom Schlafe, wenn sie nach denen Regeln der Logick eingerichtet seyn soll, muß also lauten: Der Schlaf sey ein Zustand in welchen wir weder Empfindun100 Zur philosophischen Einführung, siehe: R. Harré: Mind-Body-Dualism, in: Neil J. Smelser, Paul B. Baltes (Hgg.): International encyclopedia of the social & behavioral sciences, Amsterdam u.a.: Elsevier 2001, 9885–9889, 9885: Die Interaktion von Leib und Seele und die Verortung der Persönlichkeit sind die beiden philosophischen Grundlagen des Leib-Seele-Dualismus. 101 Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 73; Axel Bauer: Georg Ernst Stahl, in: Engelhardt, Hartmann (Hgg.): Klassiker der Medizin, Bd. 1, 190–201. Zur Schlaftheorie Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 51. Zu Stahl und dem Vitalismus, siehe: Rothschuh: Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Freiburg/München: Karl Alber, 1968, 152–163 und Rothschuh: Konzepte der Medizin, 291–310; auch Sergio Moravia: From homme machine to homme sensible. Changing eighteenth-century models of man’s image, in: Journal of the History of Ideas 39 (1978), 45–60, hier 49–53. 102 Johann August Unzer: Gedancken vom Schlafe und denen Träumen, nebst einem Schreiben an N.N., daß man ohne Kopf empfinden könne, Halle: Carl Hermann Hemmerde, 1746, Vorrede. Die Begriffe der „Arztneygelehrten“ und „Seelenkenner“: ebenda. Anonym veröffentlicht. Liegt auch im Reprint vor hg. von Tanja van Horn (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 43), St. Ingbert: Röhrig, 2004. Zu Unzers Menschenbild siehe auch: Hans-Peter Nowitzki: Johann Unzers neurophysiologische Begründung des vitalistischen Empfindungsbegriffs, in: Ders.: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2003, 87–121, zu den „Gedancken“: 102–103. Zur wissenschaftshistorischen Einordnung Unzers auch: Mary A. B. Brazier: A history of neurophysiology in the 17th and 18th centuries. From concept to experiment, New York: Raven Press 1984, 130–132.

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gen, weder andre Vorstellungen noch wilkührliche Bewegungen haben. Wenn man aber behauptet, der Schlaf sey ein Zustand dunckler Vorstellungen; so liefert man davon eine unvollständige Erklärung. Ferner so behaupte ich, daß wir nicht vollkommen schlafen: ich habe aber auch gesagt, daß dieses nicht nöthig sey. Dem allen ohngeachtet ist ein vollkommner Schlaf kein Unding; sondern er ist so wol von denen Ohnmachten und dem Tode unterschieden; als auch giebt es einen solchen würcklich in der Welt.103

Der cartesianische „vollkommene“ Schlaf, der aus Unzers Sicht empirisch ohnehin nicht belegbar war, stand also um die Mitte des 18. Jahrhunderts und zumal in Halle als einem Zentrum der Aufklärungsmedizin nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Man konzentrierte sich vielmehr zunehmend auf die „Empfindungen des Menschen als Schnittfeld seiner physischen und psychischen Natur“.104 Der Schlaf, der diskursiv genau in diesem Schnittfeld stand, eignete sich gut zur nachvollziehbaren Konkretisierung dieses philosophischen Anliegens.105 Der vollkommene Schlaf, idealiter der Schlaf der Ungeborenen, ohne Atmung und willkürliche Bewegungen,106 ist nach Unzer für die Wiederherstellung des „Nervensaftes“ nicht nötig. Darin bleibt die Argumentation strukturell galenisch-cartesianisch, da zwischen Leib und Seele wieder ein Vermittler steht, wenn auch ein anderer: An die Stelle der „thermodynamischen“ spiritus tritt der „hydraulische“ Nervensaft;107 wenn dieser verzehrt ist, treten Bewusstlosigkeit und Schlaf ein. Wenn er vollständig verzehrt ist, stirbt der Mensch.108 Die physiologische Basis für Unzers Schlafverständnis war seine Definition der menschlichen oder „thierischen“ Maschine: 103 Unzer: Gedancken vom Schlafe (1746), 39. 104 Hoorn (Hg.): Gedancken vom Schlafe (Nachwort), 56 und 59. Zur Bedeutung Halles: Norbert Hinske (Hg.): Halle. Aufklärung und Pietismus (Zentren der Aufklärung I), Heidelberg: Lambert Schneider 1989, der außerdem Göttingen, Pavia, Edinburgh, Leiden und Wien als Zentren der Aufklärungsmedizin anführt: Medizin in ihren Beziehungen zur Philosophie im Zeitalter der Aufklärung, in: Mitteilungen der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina Braunschweig 18 (1983), 59–65, hier 60. 105 Unzer befasste sich auch an anderer Stelle eingehend mit dem Leib-Seele-Dualismus, er publizierte sogar im gleichen Jahr (sowie Verlag und Ort) „Gedancken vom Einfluß der Seele in ihren Körper“. 106 Unzer: Gedancken vom Schlafe (1746), 26–38. 107 Zur wissenschaftshistorischen Entwicklung siehe: Karl E. Rothschuh: Vom Spiritus animalis zum Nervenaktionsstrom, in: CIBA-Zeitschrift 89.8 (1958), 2950–2978 (bzw. in Ders.: Physiologie im Werden, 11–138): Unzer, der als einer der Begründer der Nervenphysiologie gilt, stand damit am Übergang zwischen Humoral (Nervensaft)- und Solidarpathologie (Nervenkraft). 108 „[Der] Tod [ist] der höchste Grad des Schlafs.“ (Unzer: Gedancken vom Schlafe [1746], 23) Unzer: Gedancken vom Schlafe (1746), 22, 39 und 44.

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Die eigentlichen thierischen Maschinen in den thierischen Körpern sind das Gehirn, und die Nerven, worinn die Lebensgeister, (der Nervensaft,) erzeugt und vertheilt werden, um die thierischen Verrichtungen dieser Maschine zu vermitteln.109

Der Terminus der „duncklen Vorstellungen“ oder auch „undeutlichen Empfindungen“, der den vollkommenen Schlaf ausmachen würde, geht auf die Schlafdefinition des Philosophen Christian Wolff in dessen „Deutscher Metaphysik“ zurück, in der er sich von Descartes abgrenzt, indem er den Schlaf „in Ansehung der Seele“ betrachtet. Nach Wolff ist die Seele im Schlaf keineswegs untätig, nur weil sie keine klaren Vorstellungen hervorbringt, was sie im Traum durchaus tut, nur sind diese nicht so deutlich wie im wachen Zustand.110 Unzers Kritik daran bezog sich auf seine eigene Prämisse, dass der vollkommene Schlaf theoretisch möglich ist; die logische Deduktion stellte er über den Wolffschen Erfahrungswert.111 Die Schlaftheorien waren jetzt aber trotzdem nicht mehr nur logische Folgerungen aus physiologischen Großtheorien, sondern gingen zunehmend auch von der Erfahrung des Subjekts aus. Im von Unzer mit herausgegebenen „Hamburgischen Magazin“112 erschien wenige Jahr später ein „Versuch vom Schlafe“, der das zeitgenössische Schlafverständnis auf einem allgemeinverständlicheren Niveau zusammenfasst und die Gegensätze Bewusstsein-Unbewusstsein und willkürliche-unwillkürliche Bewegungen mit der Metapher der „doppelten Maschine“113 erklärt: Was mag also wohl in uns schlafen [...]? Wir müssen, um den Zustand des Schlafes deutlich zu erklären, eine doppelte Maschine in dem Menschen annehmen. Die ein wirket ohne Aufhören bis zum gänzlichen Untergange des Menschen. Sie begreift sich in das Herz, die Werkzeuge des Athemholens, die wurmförmigen Bewegungen der Ein109 Johann August Unzer: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, 11. 110 Hoorn (Hg.): Gedancken vom Schlafe, 58; Christian Wolff: Vernünftige Gedanken [später auch als „Deutsche Metaphysik“]. Von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Halle: Renger 1720. 111 Hoorn (Hg.): Gedancken vom Schlafe, 58. 112 Onlineedition des Hamburgischen Magazins (Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum): . 113 Das Bild der doppelten Maschine beruht auf dem cartesianischen Wesensunterschied zwischen Materie und Geist. Zum homo duplex und der zeitgenössischen Kritik dieses gedanklichen Hilfskonstrukts: Mensching: Vernunft und Selbstbehauptung, 230. Der homo duplex hat in Sarasins Darstellung (Sarasin: Reizbare Maschinen 59–60) die beiden Ebenen der Physik und der Moral, die sich auch bei Walchs Unterscheidung des Schlafdiskurses in einen der Gesundheit des Körpers und der „Moralität“ findet (Walch: Philosophisches Lexicon, 710).

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geweide, und alle Bewegungen, die von der Ausdehnung und der Zusammenziehung des Herzens herrühren. Für diese Maschine ist kein anderer Schlaf als der Tod. Die andere Maschine besteht in dem Vermögen zu thierischen Verrichtungen τσ ψχικσν µ ρσσ [der Anteil der Seele]; sie wirket bald, bald ruhet sie. Die Abwechslung macht, daß der Mensch in der einen Hälfte seines Lebens mehr eine Maschine als ein Mensch ist.114

Der Unterschied zwischen Wachen und Schlafen und das Zusammenspiel von Körper und Seele werden auf dieser Grundlage erklärt: Zum Wachen gehören nothwendig zwey Stücke: einmal eine freye und ungehinderte Fortpflanzung der von außen in die sinnlichen Werkzeuge geschehenen Eindrücke, bis zu der Seele; und dieser ihre Herrschaft über die Bewegungen des Körpers. Wo diese zwey Stücke mangeln, da entsteht der Schlaf. Die Seele bemerkt alsdenn nichts von dem, was sich außer ihr zuträgt, und kann sich ihrer Gewalt über die Maschine nicht bedienen.115

Diese Schlaftheorie, wenn auch nicht aus deutscher, sondern aus französischer Feder, fasst die zeitgenössischen Parameter des Schlafdiskurses der MedizinerPhilosophen der Aufklärung, auch im deutschsprachigen Raum, gut zusammen. Wie Unzer beruft sich der Autor auf Hermann Boerhaave, den führenden Physiologen aus Leiden, nach welchem der Schlaf charakterisiert ist von nichtwillkürlichen, also den „natürlichen Verrichtungen“, erkennbar an der „Wärme schlafender Personen“, ihrem „tiefen Atemholen“ und ihrem „starken Puls“. Der Schlaf wird wie die Seele im Gehirn lokalisiert; die Theorie der „Lebensgeister“ oder des „Nervensaftes“, der sich „wie das Oel einer Lampe“116 verzehre, wird bemüht. Das cartesianische Zusammenfallen des Gehirns wird nur noch für „unnatürlichen“ Schlaf angenommen.117 114 Jean Henri Samuel Formey: Versuch vom Schlafe, in: Hamburgisches Magazin 16 (1756), 410–448, 422. Der Text ist eine Übersetzung aus Formeys Mélanges Philosophiques, Leiden: Luzac, 1754. 115 Formey: Versuch vom Schlafe, 411. 116 Formey: Versuch vom Schlafe, 446. 117 Der Nervensaft wurde von Boerhaave in den Schlafdiskurs eingebracht. Die beginnende Durchsetzung der Nervensafttheorie, mit der dem antiken Lebensäther „ein materielles Substrat“ unterlegt wurde, verortet Rothschuh im späten 17. Jahrhundert: Rothschuh: Vom Spiritus animalis zum Nervenaktionsstrom, 2958 und 2962. Zu Boerhaaves „Institutiones medicae“ von 1708 und seiner Nervensafttheorie: Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 71–73; Formey: Versuch vom Schlafe, 416–417 und 423–425. Zur Lokalisation der Seele im Gehirn: Michael Hagner: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Neuropsychologie (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Preprint 33), Berlin 1996, v.a. 23–28; Ders.: The soul and the brain between anatomy and Naturphilosophie in the early nineteenth century, in: Medical History 36 (1992), 1–33; Ders.: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt am Main: insel 22000; Olaf Breidbach:

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Um die Mitte des 18. Jahrhunderts begann die Nerventheorie des Schlafes allmählich die Humoralpathologie mit ihren Lebensgeistern abzulösen, wenn der Schlaf auch noch nicht auf Grundlage einer eigentlichen Nervenphysiologie gefasst, sondern mit dem Nervensaft eine weitere Brückenkonstruktion zwischen Leib und Seele gedacht wurde.118 In Zedlers Universallexikon wird der Schlaf 1742 behandelt. Der Artikel steht ganz im Zeichen der Zeit: Die „Functiones vitales“ („Umlauf des Geblüts“, Atmung; die Verdauung wird ausnahmsweise nicht gesondert angeführt) bleiben im Schlaf erhalten, der definiert wird als derjenige Zustand des lebendigen Menschen, in welchem er nicht vermögend ist, weder durch die willkührlichen nach seinem Willen auszuüben, noch durch die äußerlichen Sinne zum empfinden, ob gleich die dazu gewidmeten Werckzeuge unverletzet sind.119

Der Schlaf diene der Erhaltung der Gesundheit, im Speziellen der Wiederherstellung der lebensnotwendigen Stoffe im Blut, insbesondere des Nervensaftes, der für die „Empfindungskraft“ unerlässlich sei: Bey der Ruhe wird das Blut langsam herum getrieben, die Absonderungen der guten [...] Säffte gehörig verrichtet, mithin die festen Theile geschmeidig gemacht, der Nahrungs- und Nervensafft genugsam abgesetzet, und folglich der ganze Leib in seiner Grösse, Dauer, und Geschicklichkeit zu allen Bewegungen erhalten.120

Den Ausschlag für die Ablösung der Verortung des Schlafs in spiritus- oder Nervensaftvorstellungen um die Mitte des 18. Jahrhunderts gab ein prinzipielles Dilemma der Schlaferklärung, das auch mit den nach Descartes entwickelten Schlaftheorien nicht befriedigend gelöst werden konnte. Wenn der Schlaf nämlich durch innere „Reize“ (etwa Kummer) und äußere Reize (etwa Lärm) unterbrochen werden konnte, ein Phänomen, das die Erfahrung bestätigte, bedeutete Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: suhrkamp 1997; Erhard Oeser: Geschichte der Hirnforschung. Von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002. Zu Boerhaave: Hermann Boerhaavs Phisiologie, üs. von Johann Peter Eberhard, Haller: Renger 1754, darin §§ 587–600 („Vom Wachen und Schlafen“), 916–961; Rothschuh: Geschichte der Physiologie 70–73; Richard Toellner: Hermann Boerhaave, in: Engelhardt, Hartmann (Hgg.): Klassiker der Medizin, Bd. 1, 213–230. Zur Schlaftheorie Boerhaaves: Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 49–50. 118 Für Nowitzki überbrückt Unzer mit seiner Neuropathologie den „Hiatus“ zwischen Mechanisten und Animisten (Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch, 87). Im Kontext der Geschichte der spiritus sollte allerdings betont werden, dass Unzer kein substantiell neues System einführte, sondern sehr stark in der Säftelehre verhaftet blieb. 119 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Artikel „Schlaf“, Bd. 32 (1742), 1679– 1691, hier 1679. 120 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Artikel „Schlaf“ (1742), 1683.

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das letztlich, dass die Schlafdauer sich nicht allein danach richtete, wie lange die „Maschine“ zur Wiederherstellung von Säften benötigte: Hier entsteht die Frage, ob man aus bloßer Gewohnheit, oder weil die genugsam ersetzten Lebensgeister die Nerven anschwellen möchten, erwachen würde, wenn gleich diese innern [Verschleimung, natürliche Triebe, langes Liegen] und äußern [Licht, Schall, Bewegung] Ursachen nicht wirken sollten? Ich glaube nein; und behaupte mit Herrn Boerhaaven, daß kein Thier von selbst erwachet, wenn es nämlich in dem Zustand bleibt, in welchem es war, da es einschlief, und sonst keine von den Ursachen, die wir angeführet, stattfindet. Man kann diese Muthmaßungen durch die gemeine Erfahrung, und zur Gnüge bestätigten Fälle, rechtfertigen. Man bemerket, daß das Verlangen nach dem Schlafe größer wird, je länger man schläft.121

Der Schlaf kann also, im Gegenteil, kürzer oder länger dauern als es für die jeweilige „Maschine“ vorteilhaft ist, denn diese zieht ihre sprichwörtlichen Federn gar nicht unbedingt automatisch angemessen, also gesundheitsförderlich auf. Zunehmend konnte man den Schlaf mit der Metapher der Uhr begreifen, für deren Aufziehen der Mensch selbst Verantwortung trägt.122 Die Lösung des Problems wurde in der Folge in der Anwendung eines neuen, höchst erfolgreichen wissenschaftlichen Paradigmas gesucht: der auf die „innern und äußern Ursachen“ konzentrierten Reiztheorie. Das Individuum und seine Umwelt. Reizsteuerung des Schlafs

Das Einschlafen, der Schlaf und seine Dauer sowie das Aufwachen sind in Meißners medizinischer „Encyclopädie“ aus den 1830er Jahren von vier Faktoren gekennzeichnet: dem „Charakter des vorausgegangenen Wachens“, der nicht näher 121 Formey, Versuch vom Schlafe, 426 (und 425). Zum allgemeinen wissenschaftshistorischen Hintergrund zum Umbruch vom Mechanizismus zur Reiztheorie, siehe: Moravia: From homme machine to homme sensible; Rudolf Malter: Die mechanistische Deutung des Lebens und ihre Grenzen, in: Medizinhistorisches Journal 17 (1982), 299–316. Für Davidson (Ueber den Schlaf, 7–9) stand die „Theorie des Schlafes“, mit Boerhaave gegründet auf die des „Nervengeistes“ „auf keinem festen Boden“: „Wie könnte man einen Menschen im Anfange des Schlafes aufwecken, da doch noch kein neuer Nervengeist bereitet worden ist?“ 122 „Der Schlaf ist in Rücksicht auf den thierischen Körper gerade das, was das Aufziehen für eine Uhr ist.“ D. Hildebrandt, Johann Heinrich Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf (physiologisch erklärt von Herrn D. Hildebrandt und pädagogisch benutzt von J. H. Campe), in: Braunschweigisches Journal 1.6 (1788), 141–188, hier 160. Die Metapher geht zurück auf Descartes (Markus Hermann: Schlafapnoe als Krankheitskonstrukt. Die Mechanisierung und Medikalisierung des Schlafes, Frankfurt am Main/New York: Campus 1997, 78).

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definierten „individuellen Constitution“ (anstelle der früheren Temperamente), der Gewohnheit und dem Charakter der „äussern und innern Erreger“.123 Die Ermüdung, die vom „vorausgegangenen Wachen“ geprägt ist, und individuelle Unterschiede im Schlafverhalten (hier „Constitution“,„Gewohnheit“) sind althergebrachte Elemente des Schlafdiskurses. Nicht so die „Erreger“. Von den im „Zedler“ das Individuum und seine Physiologie noch umfassend bestimmenden Säften ist dafür bei Meißner keine Rede mehr. In dem knappen Jahrhundert, das zwischen dem jeweiligen Erscheinen der beiden Lexika liegt, haben die Reize die Säfte in physiologischen Fragen ersetzt. Albrecht von Haller war als Mediziner ein Schüler Boerhaaves und wirkte als Naturforscher und Dichter in Göttingen, wo er um 1750 anhand von physiologischen Experimenten an Kleintieren die Sensibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln nachwies, also die Reaktion auf Reize; die Entdeckung der Nervenleitung und der Muskelkontraktion als Reizreaktion werden ihm zugeschrieben. Die Verbindung zwischen Muskeln und Nerven blieb für Haller der Nervensaft; allerdings wurden die Nerven für ihn nicht mehr zwangsläufig vom Gehirn aus gesteuert, da Muskeln und Nerven nachweislich selbst reizbar waren. Experimente mit Organen, die nach ihrer Entnahme aus dem Körper noch Reizbarkeit aufwiesen, etwa das Herz, ließen den Pietisten Haller ein materialistisches Wissenschaftsverständnis vertreten, einen „biologischen Mechanismus“.124 Mitte des 18. Jahrhunderts rückten die Nerven ins Zentrum der Erklärungen des menschlichen Organismus. Bis zur Jahrhundertwende verlor der humoralpathologische Nervensaft endgültig seine Rolle an die solidarpathologisch verstandenen Nerven – an die Nerven selbst und insbesondere ihre „Kraft“. Bis um 1800 begann sich die Reiztheorie auch im Schlafdiskurs als Teil des Hygienediskurses niederzuschlagen. Einen großen Anteil daran hatte in Deutschland die breite Rezeption des Brownianismus, einer Art vereinfachter 123 Adelon: Schlaf (1833), 6–8. 124 Sarasin: Reizbare Maschinen, 57. Zu Haller im medizinhistorischen Kontext siehe: Richard Toellner: Albrecht von Haller, in: Engelhardt, Hartmann (Hgg.): Klassiker der Medizin, Bd. 1, 245–261; Rothschuh: Physiologie, 134–150; Ders.: Geschichte der Physiologie, 75–80 und Urs Boschung: Neurophysiologische Grundlagenforschung: „Irritabilität“ und „Sensibilität“ bei Albrecht von Haller, in: Schott (Hg.): Meilensteine der Medizin, 242–249. Hallers Schlaftheorie: Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 53–54. Haller gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Physiologen seiner Zeit, auch aus Sicht der jüngsten Körperhistoriographie: „[Hallers] Reiz- und Sensibilitätstheorie wurde nicht nur zu einer der Grundlagen der modernen Physiologie, sie steht auch am Anfang einer Genealogie der Reizsemantik des hygienischen Diskurses: Der Reiz wird zu einer Zentralmetapher der Hygieniker werden und die Kontrolle über den Reiz zu ihrer ständigen Sorge.“ (Sarasin: Reizbare Maschinen, 54.)

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und verallgemeinerter Reiztheorie. Nach dem schottischen Arzt John Brown war das Leben generell gekennzeichnet von Erregbarkeit, sozusagen ein durch Reize aufrechterhaltener Zustand. Statt des spiritus animalis stand jetzt die Erregbarkeit für die „Lebenskraft“. Theoretische wie praktische Gesundheitsfragen erklärten sich damit weniger auf der Grundlage von physiologischen Abläufen. Das Interesse der Zeit wandte sich vom Inneren des Körpers und seinen Säften zur Rolle der externen Einflüsse auf den Körper. Gesundheit und Krankheit hingen nach Brown von Erregung und Erregbarkeit des Körpers ab, denn das Ausbleiben von Reizen führte zur „Sthenie“, einer Ansammlung von Erregbarkeit im Organismus: Ein Reizüberfluss schwächte das Erregbarkeitspotential („Asthenie“).125 Wie die „Scala der Erregung nach Brown“ (Abb. 2) verdeutlicht, ist, was den Schlaf betrifft, die Überreizung des Organismus aus zwei Gründen zu vermeiden. Zum einen weil sie schon in geringem Maße zur Schlaflosigkeit führen kann – Schlaflosigkeit wird damit zur Krankheit: einer „gelinden sthenische Krankheit“. Zum anderen wegen der damit verbundenen Herabsetzung der Erregbarkeit, also der Lebenskraft. In der Medizinhistoriographie wurde Browns „Überwindung“ der Säftelehre anerkennend bemerkt, aber kritisiert, dass das therapeutische System nur auf praktischen Erfolgen und Misserfolgen beruht habe, denn eine genauere Definition des Reizes oder der Erregbarkeit lieferte Brown nicht.126 Für den Hygienediskurs bedeutete der Brownianismus aber die Möglichkeit zur Anknüpfung an den neuesten Stand der Wissenschaften, da die Reiztheorie ideal auf das traditionelle, ganzheitliche, nicht zuletzt von Umwelteinflüssen geprägte Körperkonzept passte. An die Stelle dessen, was bei Zedler und anderen Autoren der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch explizit die „nicht natürlichen Dinge“127 125 Rothschuh: Vom Spiritus animalis zum Nervenaktionsstrom, 2966; Bergdolt: Leib und Seele, 256–257; Rothschuh: Konzepte der Medizin, Kapitel „Browns Irritabilitätsdynamismus“, 342–352. Browns „Elementa Medicinae“ erschienen 1770, rasch folgten Übersetzungen ins Französische, Deutsche und einige weitere Sprachen. Zum Brownianimsus: Berdgolt: Leib und Seele, 256; Dietrich von Engelhardt: Reizmangel und Übererregung als Weltformel der Medizin. Brownianismus und die romantische Naturphilosophie, in: Schott (Hg.): Meilensteine der Medizin, 265–269; Sarasin: Reizbare Maschinen, 63–71. Speziell zur Rezeption in Deutschland in den 1790er Jahren Hans-Uwe Lammel: Nosologische und therapeutische Konzeptionen in der romantischen Medizin (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 59), Husum: Matthiesen 1990, hier 43; Urban Wiesing: Kunst oder Wissenschaft. Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik (Medizin und Philosophie 1), Stuttgart/Bad Cannstatt: frommannholzboog 1995, 66–71. Wiesing betont für die Rezeption im deutschen Sprachraum die Verbindung von Brownianismus, kantischer und nachkantischer Philosophie (71). 126 Rothschuh: Konzepte der Medizin, 344. 127 Zedler: Artikel Schlaf (1742), 1679.

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Scala der Erregung nach Brown mit der Definition der Schlaflosigkeit als „gelinde stehnische Krankheit“

genannt worden war, also die äußeren Einflüsse auf den Menschen, traten jetzt – diskursiv – weitgehend die Reize. Die Reiztheorie als neues wissenschaftliches Paradigma überformte die Sprache, in der der Schlaf thematisiert wurde. In der Schlafhygiene waren die Reize durchaus kein neuer Bestandteil. So wurden Einschlafen, Aufwachen und Schlafqualität in den physiologischen Theorien und in der diätetisch-praktischen Literatur überwiegend mit Reizen begründet, wenn auch in anderen Begrifflichkeiten. Die tradierten und nur geringfügig diskutierten Faktoren des Schlafs waren demnach:

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die mögliche Beeinträchtigung durch Krankheit, der Grad der körperlichen und geistigen Ermüdung, die Lage des Körpers (Schlafposition, Bettstatt) und die Umgebung, der Verdauungsprozess (als Mittelpunkt der Humoralpathologie und im Zusammenhang mit konkreten Ernährungsempfehlungen), Licht und Geräusche (damit auch die Tages- und Jahreszeit), die Umgebungstemperatur (teils auch die Klimazone), die Luftqualität, verschiedene seelische und individuelle Dispositionen (Sorgen, Temperamente, Alter, „Constitution“, „Lebensart“ etc.) und spezielle Reizmittel (Tabak, Alkohol, Opium etc.).128

Diese Rahmenbedingungen des Schlafs veränderten sich im 18. Jahrhundert nicht. Neu war dagegen die Sprache einer Argumentation, die die Reize und die Nerven in den Vordergrund stellte und damit das Menschenbild seit der Wende zum 19. Jahrhundert mitbestimmte: Das Leben wurde zu einem ständigen Ausbalancieren von Reizen und einer ununterbrochenen Belastung für das Nervensystem. Mit anderen Worten: Das Leben ist ein gezwungener Zustand, d. h. es kann sich nicht aus eigenen Kräften erhalten, sondern hängt von der Einwirkung fremder Einflüsse ab. Diese Einflüsse, diese Erhaltungsmittel des Lebens, (Luft, Wärme, Licht, Bewegung, Essen und Trinken) wirken auf die Erregbarkeit des Körpers, und erhalten dadurch die gesammte Maschinerie desselben in Thätigkeit. Durch die Einwirkung der Reize aber wird die Erregbarkeit nach und nach abgestumpft, oder weniger empfindlich gemacht, so daß dieselben, wenn sie nicht in einem stärkeren Grade auf die nun weniger empfindliche Erregbarkeit wirken, nicht weiter im Stande sind, dieselbe Wirkunge hervorzubringen.129

Die Folge ist „verminderte Erregung“ und schließlich „derjenige Zustand, welchen wir Schlaf nennen“, mit dem die „Empfindlichkeit“ sukzessive wiederher128 Ein klassisches, diskursprägendes Beispiel: Christoph Wilhelm Hufeland: Der Schlaf und das Schlafzimmer in Beziehung auf die Gesundheit enthaltend eine ausführliche Belehrung für diejenigen, welche einen erquickenden und gesunden Schlaf zu haben [...] wünschen; ein nöthiger Anhang zur Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Weimar u.a.: Gerold 1803. 129 Ludwig Vogel: Diätetisches Lexikon oder theoretisch-praktischer Unterricht über Nahrungsmittel und die mannichfachen Zubereitungen derselben, über Verdauung, Ernährung, Erhaltung der Gesundheit, Entstehung und Erkenntnis der Krankheiten, Krankenpflege, Krankenspeisen, Krankengetränke [...]. Ein Familienbuch zu einem Rathgeber in allen, die Erhaltung des Lebens und der Gesundheit betreffenden Angelegenheiten, Erfurt: Georg Adam Keyser 1801, Bd. 2, Artikel „Schlaf“, 148–154, hier 149.

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gestellt wird. Der Autor nennt die einzelnen non naturales von Luft bis Trinken, hebt den Schlaf aber wegen seiner zentralen restitutiven Funktion gesondert hervor. Diese Schlafdefinition des Autors eines Gesundheitsratgebers ist Brownianismus in Reinform und stellt die non naturales explizit in ihren neuen Kontext. Der Schlaf ist nicht mehr die Konsequenz der Erschöpfung des spiritus animalis, sondern, so der Konsens der Jahrhundertwende, das „Nervensystem wird durch die tägliche Anstrengung seiner Empfindungs- und Muskelkraft [...] ermattet“.130 Genau wie der Schlaf konnte beispielsweise auch die Ernährung mit ihren stärkenden oder schwächenden Effekten reiztheoretisch erklärt werden; sogar der Tod, nämlich als endgültige Erschöpfung der Erregbarkeit. Dem Schlaf kam aber als von der Natur eingerichtetem Ausgleich zwischen Sthenie und Asthenie eine zentrale Rolle in der gesunden Lebensführung zu: Der Schlaf ist eine ökonomische Veranstaltung der Natur, bey welcher der Organismus an Lebensfonds mehr einnimmt, als er ausgiebt, indeß er im Wachen mehr ausgiebt, als er einnimmt. Er tritt regelmäßig zu Ende des Tages ein, wenn der Organismus die von früh an ausgeübten durch die Willenskraft bestimmten Thätigkeiten erschöpft ist, und nun, da seine Reizbarkeit schon beträchtlich vermindert ist, durch Entziehung des Sonnenlichtes, zum Theil auch der Sonnenwärme, sein äußerstes Incitament vermindert wird.131

Diese Formulierung stammt aus Karl Friedrich Burdachs Diätetikratgeber von 1805. Burdach war praktischer Arzt, Physiologe, Anthropologe und ein bedeutender romantischer Naturphilosoph.132 Der Brownianismus gilt in der Medizingeschichtsschreibung generell als Phänomen der romantischen Naturphilosophie: Die Reiztheorie war ganzheitlich, basierte auf einem einfachen, von polaren Gegensätzen bestimmten Grundprinzip und war nicht mehr carte-

130 Johann Friedrich Blumenbach: Anfangsgründe der Physiologie, aus dem Lateinischen üs. von Joseph Eyerel, Wien: Fridrich Wappler 1789, 201. Die Argumentation mit der „Wirkung auf das Nervensystem“ oder „Wirkung des Nervensystems“ findet sich beispielsweise genauso bei: Hildebrandt, Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf, 158. 131 Karl Friedrich Burdach: Die Diätetik für Gesunde, Leipzig: August Wichmann 1805, 188. 132 Michael Hagner: Burdach, Karl Friedrich, in: Dietrich von Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, München: K. G. Saur 2002, 96–97. Ders.: The soul and the brain, 5.

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sianisch angelegt.133 „Asthenie war die Signatur der Zeit“,134 des Übergangs von der – in der Literaturgeschichte so bezeichneten – Epoche der Empfindsamkeit zur Romantik, einer Zeit, die sich mehr für die Phänomene der sogenannten Seelen- und Einbildungskräfte als für physikalische Abläufe interessierte. Vor allem zwischen 1795 und 1815 fand Browns System großen Anklang in Europa.135 Für den Schlafdiskurs ist allerdings ein anderes (zeitliches) Verhältnis zum Brownianismus einerseits und zur Romantik andererseits anzusetzen. Der Schlafdiskurs griff die Sprache der Erregbarkeit erst gegen 1800 auf und behielt sie bis etwa 1840 bei, um sich ihrer ab etwa 1880, dem Beginn des nervösen Zeitalters, erneut zu bedienen.136 Die Romantik schlug sich im Schlafdiskurs zwar etwa zur gleichen Zeit, also im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, nieder, aber überwiegend unter anderen Vorzeichen: einem naturphilosophischen polaristisch-ganzheitlichen Denken, in dem das Thema Schlaf aufging und innerhalb dessen eine physiologische Argumentation keinen prominenten Platz mehr fand, nicht einmal in Form der Reiztheorie. Dass das Thema Schlaf sich nicht in die medizinhistorisch vorgegebene Periode der Reiztheorierezeption der Jahre um 1800 einfügte, liegt nicht zuletzt am Hygienediskurs, der durch seine Traditionsverbundenheit eine gewisse Trägheit bei der Integration neuer Theorien an den Tag legte. Der Beginn der Verankerung der Reiztheorie vor dem deutlichen Einfluss der Naturphilosophie zeigt sich klar in Wolf Davidsons „Ueber den Schlaf. Eine medizinisch-psychologische Abhandlung“ von 1796.137 Sie entstand nur wenige Jahre nach Nudows „Versuch einer Theorie des Schlafes“ (1791), die als erste

133 Engelhardt. Krankheit, Schmerz und Lebenskunst, 59; Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 80. Allerdings war der Brownianismus durchaus materialistisch. 134 Engelhardt: Reizmangel und Übererregung, 266. Leibbrand verbindet damit die Epoche der Empfindsamkeit, siehe: Werner Leibbrand: Die spekulative Medizin der Romantik, Hamburg: Claassen 1956, 115. 135 Rothschuh: Konzepte der Medizin, 342; Sarasin (Reizbare Maschinen, 64) siedelt, was auch auf den Schlafdiskurs besser passt, den Brownianismus im Hygienekontext des frühen 19. Jahrhunderts an. 136 Zum Begriff des nervösen Zeitalters: Kapitel 3. Im Schlafdiskurs findet sich die Sprache der Reize noch prominent bei Spitta, der über den Schlafreiz, den Aufwachreiz, die Reizschwellen der Organe etc. referiert: Heinrich Spitta: Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen Seele mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den psychischen Alienationen, Tübingen: Fues 21883. 137 Wolf Davidson: Ueber den Schlaf. Eine medizinisch-psychologische Abhandlung. Berlin: Ernst Felisch, 1796. Eine sehr knappe Biographie, die die Leistung des Berliner Arztes für „die sich formende deutsche Psychologie“ hervorhebt, verfasst von Eberhard Tiefenthaler, findet sich im Reprint von 1796 bei Antiqua in Lindau.

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eigenständige Publikation speziell über den Schlaf das Thema ebenfalls reiztheoretisch fasst.138 Davidson stellt das Aufwachen wie folgt dar: Wenn nun irgend ein aeusserer oder innerer Reiz diesen Zustand [tiefer Schlaf ] aufhebt, so ensteht das Erwachen, oder auch alsdann, wenn die Ursache, die den Schlaf erregt, zu wirken aufhört, wir erwachen durch ein Geräusch, durch den Reiz des Morgenlichts u.s.w. oder durch eine unangenehme Empfindung im Innern des Körpers, als die Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses.139

Diese Bedürfnisse können materieller Art sein oder „von Vorstellungen durch Träume entstehen“. Die Träume wiederum werden verursacht durch äußere Eindrücke, die die „Einbildungskraft“ anregen oder durch „Seelenkräfte“.140 Ebensolche Formulierungen und die Gleichzeitigkeit von physischen und psychischen Erklärungen sind bezeichnend für den Schlafdiskurs zwischen galenischer Diätetik und erklärender Wissenschaft. Gleichzeitig steht der Schlafdiskurs damit zwischen dem Materialismus mit seiner Kraftmetaphorik und physiologischer Traumerklärung und der „Erfahrungsseelenkunde“, also am Übergang zur Romantik. Physische Ursachen der Träume sind bei Davidson insbesondere ein Übermaß an Essen und Trinken, „starke Bettwärme, Fieberhitze und Vollblütigkeit, verschiedene Lagen des Körpers“ und Narkotika. Dazu kommen „Temperament, Geschlecht und Alter“: „Der sanguinische wird öfter träumen, als der phlegmatische, Kinder und das weibliche Geschlecht, werden, wegen ihrer größeren Reizbarkeit, leichter träumen.“141 Davidsons Schlafabhandlung bewegte sich, noch in Abgrenzung von der Nervensafttheorie, in den Vorstellungen der Reiztheorie und behielt gleichzeitig humoralpathologische Muster bei, wie das für Hygienethemen seiner Zeit typisch war.142 Physiologen aus der romantischen Epoche der Medizin wandten die Reiztheorie zunächst eher zögerlich auf den Schlaf an. Johann Friedrich Blumenbach, 138 Biographie: Schwarz: Nudow, Heinrich, in: Altpreußische Biographie, Bd. 2, hg. im Auftrage der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung von Christian Krollmann, Marburg an der Lahn: Elwert 1967, 475. Nudow war Platnerschüler und bewegte sich zwischen Anthropologie und Psychologie. Sein Schlaftraktat kann als erste wissenschaftlich angelegte Schlafuntersuchung beurteilt werden, die den Forschungsstand zusammenfasst, über den Materialismusstreit hinausgeht und doch keine reine Diätetik ist. Zudem enthält der Text alle zeitgenössischen Elemente des Schlafdiskurses, theoretisch wie in Bezug auf die Topoi. 139 Davidson: Ueber den Schlaf, 3. 140 V.a. 41–46. Die reiztheoretische Erklärung des Schlafs war um 1800 üblich, sie findet sich beispielsweise auch bei Consbruch: Diätetisches Taschenbuch, 293. 141 Davidson: Ueber den Schlaf, 39–48. Zum Thema Geschlecht vgl. die Abschnitte zur Bürgerlichkeit des Schlafdiskurses. 142 Zu den Konzepten der Humoralpathologie im 18. Jahrhundert: Sarasin: Reizbare Maschinen, 32–42.

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der sich als vergleichender Anatom und physischer Anthropologe verstand und in den 1780er Jahren berühmt wurde für seine Theorien zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Mensch, bewegte sich noch in Hallerschen Mustern. In seiner „Physiologie“ (1789) handelt er auch den Schlaf ab, hier speziell das Aufwachen: Wir erwachen, wenn die Kräfte hergestellt sind, gleichsam in ein neues Leben [...]. Die nächste Ursache besteht in dem wiederkehrenden lebhaften Andrang des Blutes auf das Gehirn. Zu den entfernteren Ursachen gehören, außer dem mächtigen Einfluß der Gewohnheit, alle Gattungen von Reizmitteln, wodurch entweder die äußerlichen, oder innern Sinne gereizt werden.143

Zu diesen Reizen gehören der Druck auf die Blase oder das Wirken der „Einbildungskraft“, also – physiologisch erklärte – Träume. In im engeren Sinne naturphilosophischen Traktaten dagegen wurde an der Reizbarkeit typischerweise die Polarität herausgestrichen: [Es] sind alle Berührungen der Außenwelt [...] Reitze. Zwischen diesen Reitzen, dem Negativen, und der Lebenserscheinung gilt nun dasselbe Gesetz, welches die thierischen Lebenserscheinungen überall beherrscht: der Widerstand des Negativen veranlaßt die Reaction des Positiven (das Leben wird gereizt).144

Der Naturphilosoph, Physiologe und Anthropologe August Winkelmann thematisierte den Schlaf allerdings nicht, seine „Physiologie“ von 1803 bewegte sich auf der allgemeinen Ebene der ganzheitlichen Theorie des Lebens. Erst um 1830/1840 wurden solche Abhandlungen veröffentlicht, die explizit den Schlaf zum Thema hatten, und diesen dabei in einen schon etwas aus der Mode gekommenen naturphilosophischen Kontext stellten: Tendenziell thematisierten nicht die Naturphilosophen den Schlaf, sondern Schlafabhandlungen bedienten sich naturphilosophischer Denkmuster. Das 18. Jahrhundert wurde, was den Gesundheitsdiskurs betrifft, als eine „Nervenperiode der Körpergeschichte“145 bezeichnet. Gleichzeitig war das 18. Jahrhundert aber im Wesentlichen (noch) von der Aufklärung bestimmt. Somit hatte der Beginn der Reiztheorie nicht erst in der Romantik, sondern bereits in der Aufklärung gelegen. Das Körperinteresse der Hygieniker, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Schlafdiskurs dominierten, hatte sich in diesem Zuge vom Funktionieren der einzelnen Maschine verlagert hin zu 143 Blumenbach: Anfangsgründe der Physiologie, 204. Zu Blumenbach siehe den Artikel Blumenbach, Johann Friedrich von Fritz Hartmann, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 63–64. 144 August Winckelmann: Einleitung in die dynamische Physiologie, Göttingen: Heinrich Dieterich 1803, 77. 145 Göckenjan: Kurieren und Staat machen, 72.

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einem aufklärerischen Blick auf das Individuum und auf das Individuum in seiner Gesellschaft mit ihren Einflussfaktoren, ihren „Reizen“. Der aufklärerische Schlafdiskurs verband sich mit dem der Selbstbestimmung und der Mäßigung für die Erhaltung der „Lebenskraft“. 1.2. Schlaf, Mäßigung und Lebenskraft. Schlafhygiene in der Aufklärung

Johann Carl Osterhausen eröffnete 1798 seine Hygieneschrift mit dem Titel „Ueber medicinische Aufklärung“ mit dem prägnanten, nach Kants vielzitiertem Diktum formulierten Satz: „Medicinische Aufklärung [ist] der Ausgang eines Menschen aus seiner Unmündigkeit in Sachen, welche sein physisches Wohl betreffen.“146 Die – nicht nur rhetorische – Verbindung zwischen der Aufklärung und dem Gesundheitsdiskurs des 18. Jahrhunderts, über die ein Autor wie Osterhausen zur Jahrhundertwende längst verfügte, kristallisierte sich im 18. Jahrhundert in Begriffen wie der „medicinischen Policey“ oder der „Makrobiotik“. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende Medikalisierung der Gesellschaft, verstanden als die allmähliche Einbindung von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen in ein Netz staatlich gelenkter Versorgung in Gestalt medizinischer Experten, ging mit Forderungen nach staatlicher Gesundheitsfürsorge im Sinne eines aufgeklärten Absolutismus, der „medicinischen Policey“, einher.147 Ihre Ziele waren „Bevölkerungsvermehrung, Sicherheit des Lebens und Wohlfahrt der Unterthanen“, ihr Mittel unter anderem die „Medicinalaufsicht“; Regelungen zur medizinischen Versorgung, die Bekämpfung von 146 Johann Carl Osterhausen: Ueber medicinische Aufklärung, Zürich: Geßner 1798, 8–9. Hier zitiert nach Irmtraut Sahmland: Der Gesundheitskatechismus – ein spezifisches Konzept medizinischer Volksaufklärung, in: Sudhoffs Archiv 75.1 (1991), 58–73, hier 58. 147 Die Definition der Medikalisierung geht hier zurück auf Ute Freverts Begriffsklärung aus den frühen 1980er Jahren, siehe: Wolfgang U. Eckart, Robert Jütte: Medizingeschichte, 212–213. Zur Medikalisierung und ihrer Umsetzung und zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept ist insbesondere einschlägig: Loetz: Vom Kranken zum Patienten. Loetz unterzieht in ihrer Fallstudie das mit der Medikalisierungsthese verbundene Konzept der Sozialdisziplinierung einer kritischen Prüfung. Sie setzt sich in dieser Hinsicht mit Michel Foucault auseinander (insbesondere: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, original „Naissance de la clinique“, Paris: Presses Univ. de France 1963), mit Ivan Illich und dessen Medikamentalisierungskritik (Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, Reinbek: rowohlt 1977) und verschiedenen Anwendungen der These wie Gerd Göckenjans „Kurieren und Staat machen“.

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Epidemien und die Einrichtung von Hospitälern waren zentrale Themen.148 Hygieneliteratur spielte vor allem im Bereich der – für den Schlafdiskurs bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts relevanteren – primär privaten Diätetik eine Rolle, welcher die Aufklärung während des 18. Jahrhunderts aber zu neuer gesellschaftlicher Bedeutung verhalf. Dies lag begründet in dem Versprechen der „Makrobiotik“, „das menschliche Leben zu verlängern“.149 Mittel zum Zweck des Erhalts der „Lebenskraft“ war die vernünftige, maßvolle und damit auch moralische Lebensführung. Die hygienische Volksaufklärung, nach der Aufklärung in ökonomischen Fragen ab 1760 bald der wichtigste Bereich, bediente sich der aktuellen Medien, um praktische Erkenntnisse aus der Wissenschaft zu popularisieren und „das Volk“ moralisch zu unterweisen – die Leser waren allerdings zumeist selbst Popularisierer: Ärzte, Geistliche oder höhere Beamte, auch Handwerker und Kaufleute. In Büchern, Katechismen, Bildertafeln, Lehrgedichten, Kalendern, Zeitschriften und Predigten gab es konkrete Ratschläge zum Freizeit- und Sozialverhalten, beispielsweise bei Beerdigungen, zu Erziehungsfragen, zu Schwangerschaft und Geburt oder den verschiedensten gesundheitlichen Problemen.150 Die enorme Zunahme der Veröffentlichungen von Hygieneratgebern belegt das Interesse an der Gesundheit sowohl der Autoren, deren pädagogischaufklärerischer Impetus oft ebenso deutlich wie bei Osterhausen formuliert wurde, als auch von Seiten der Leser. Die bereits und überwiegend in der ersten Jahrhunderthälfte anzusiedelnde Gesundheitskatechismen- und Hausväterliteratur verkaufte sich gerade auch in billigeren Auflagen von unbekannteren oder Gelegenheitsautoren, und viele der populären Ratgeber des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie Hufelands „Makrobiotik“ erschienen in zahlreichen Auflagen.151 Für den Schlafdiskurs war die Ratgeberliteratur das 148 Martin Dinges: Medicinische Policey zwischen Heilkundigen und „Patienten“ (1750– 1830), in: Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 129), Frankfurt am Main: Klostermann 2000, 263–295. 149 Hufelands „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ erschien auch unter dem Titel „Makrobiotik“. 150 Erdmuth Dreißigacker: Populärmedizinische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts zur hygienischen Volksaufklärung, Diss. Marburg 1970, hier v.a. 9, 17, 109–110; Anne J. Hardy: Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York: Campus 2005, 54–57. 151 Zur Konjunktur der Hygieneliteratur: Göckenjan: Kurieren und Staat machen, 66; Sarasin: Reizbare Maschinen, 51; Bergdolt: Leib und Seele, 251. Hufelands Makrobiotik wurde in den ersten Jahren mehrfach neu aufgelegt, 1860 gab es schon eine 8. Auflage, noch im 20. Jahrhundert gab es mehrere Reprints, darunter Recklinghausen: Visarius 1932 und 1975 beim Hippokrates-Verlag in Stuttgart.

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wichtigste Medium, aber auch im Grenzbereich mit der religiösen Erbauungsliteratur konnte man den Schlaf in Einzelfällen thematisiert finden, etwa in der „Predigt über Schlaf und Schlaflosigkeit“ des Züricher Pietisten, Philosophen und Aufklärers Johann Kaspar Lavater.152 Insgesamt nahm im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Zahl der Neuveröffentlichungen speziell zum Thema Schlaf erkennbar zu.153 Die Medizin erfuhr als Wissenschaft während der Aufklärung eine deutliche Aufwertung. Zum einen rückte der Mensch in den Mittelpunkt der Weltanschauung. Zum anderen war diese Weltanschauung immer weniger von theologischen Prämissen und immer mehr von wissenschaftlicher Forschung geprägt. Der Grundtenor der Wissenschaften war der Glaube an den Fortschritt: den Fortschritt des perfektiblen Menschen und den Fortschritt der rationalen Wissenschaften (vom Menschen). Die medizinhistorische Epoche der Aufklärung wird vielmehr mit diesen Kennzeichen charakterisiert statt als klar begrenzter Zeitraum definiert.154 Das Verhältnis der Aufklärung zum Schlaf war ambivalent. Einerseits war er jetzt positiver konnotiert, die Rede war nicht mehr vom Sündenschlaf, sondern von einer „ökonomischen Veranstaltung der Natur“155, und der Schlaf galt sogar als Mittel zur Lebensverlängerung. Die Verurteilung des Schlafs als Zeitverschwendung lässt sich zwar nachweisen, spielte dagegen eine deutlich geringere Rolle. Darüber hinaus schien es immer wahrscheinlicher, dass die rationalen Wissenschaften das rechte Maß des Schlafs letztlich ergründen würden und damit den aufgeklärten Menschen ein wenig weiter um das ohnehin schon sehr 152 Johann Kaspar Lavater: Predigt über Schlaf und Schlaflosigkeit. Über Johannes XI, 12– 14, Zürich: Johann Kaspar Näf, 1798. Lavater fasste den für den aufklärerischen Schlafdiskurs zentralen Begriff der Mäßigung als „Dankbarkeit gegenüber der von Gott eingerichteten Natur“. Zum Autor: Hartmut Lohmann: Lavater, Johann Kaspar, in: Friedrich Wilhelm Bautz, Traugott Bautz (Hgg.): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Hamm: Bautz, Band IV (1992), 1259–1267. 153 Karl Schöpf: Der Schlaf aus medizinischer Sicht im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Diss. München 1987, 196. 154 Michel Vovelle (Hg.): Der Mensch der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer 1998; Werner Schneiders: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München: Beck, 2001, 9–23; Engelhardt: Medizin in ihren Beziehungen zur Philosophie im Zeitalter der Aufklärung; Josef N. Neumann: Medizin im Zeitalter der Aufklärung, in: Dietrich von Engelhardt, Alfred Gierer (Hgg.): Georg Ernst Stahl (1659–1734) in wissenschaftshistorischer Sicht (Acta Historica Leopoldina 30), Heidelberg: Barth 2000, 13–31. Siehe auch: Gunter Mann: Medizin der Aufklärung. Begriff und Abgrenzung, in: Medizinhistorisches Journal 1 (1966), 63–74. Zur Medizin in der Aufklärung auch: Loetz: Vom Kranken zum Patienten, insbesondere 74–78. 155 Burdach: Diätetik für Gesunde (1805), 188.

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stark säkularisierte Joch des Schlafs würden erleichtern können. Andererseits blieb der Schlaf ein unvermeidlicher Zustand der Bewusstlosigkeit, des Verlustes von Verstand und Willen. Vor dem Hintergrund des Menschenbildes der Aufklärer betrachtet war es eine fast unvermeidliche Konsequenz, Schlaf und Traum möglichst rational, also mechanistisch, zu erklären.156 Das mechanistische Körperbild und der Brownianismus boten dafür das theoretische Fundament. Stärker als von Theoriebildung war der Schlafdiskurs der Aufklärung aber bestimmt von der Hygieneliteratur, die teilweise von den neuen Theorien relativ unberührt blieb, meist als „Neohippokratismus“157 traditionelle Diätetik mit den neuen physiologischen Theorien und mit aufklärerischen Themen verband. Die Schlafdiätetik war aber nicht nur in den überwiegend praktisch-diätetisch ausgerichteten Abhandlungen ein offenbar erwarteter Bestandteil. So geht sogar Unzer in seiner dialektischen Erörterung über den Schlaf kurz auf Diätetikfragen ein.158 Zu den dominanten Schlafdiätetikthemen gehörten insbesondere die Schlafumgebung, wo die Reiztheorie besonders gute Anbindung fand, und die Schlafdauer und -zeit, wo auch pädagogisch-aufklärerisch Vorstellungen der Mäßigung einflossen.159 Die konservativste Form der Thematisierung von Schlaf im 18. Jahrhundert stellten die sogenannten Gesundheitskatechismen dar. Diese pädagogisch aufbereiteten Lebensführungsfibeln waren an den weitverbreiteten Religionskatechismen orientiert und hatten deren zur Verwendung in „Kirchen und Schulen“160 geeigneten Aufbau des Frage- und Antwortschemas.161 Die Kate156 Zum Menschenbild der Aufklärung ausführlicher: Mensching: Vernunft und Selbstbehauptung, insbesondere 218. 157 Sarasin: Reizbare Maschinen, 33–51; James C. Riley: The medicine of the environment in eighteenth-century Germany, in: Clio Medica 18 (1983), 167–178. 158 Unzer: Gedancken vom Schlafe (1746), 50–56. 159 Zur Popularisierung der Medizin siehe: Roy Porter (Hg.): The popularization of medicine 1650–1850, London u.a.: Routledge 1992. 160 So die Formulierung im Titel von Bernhard Christoph Faust: Entwurf zu einem Gesundheits-Katechismus für die Kirchen und Schulen der Grafschaft Schaumburg-Lippe, Bückeburg: Althans 21793. 161 Zur Quellengattung: Heinrich Schipperges: Heilkunde als Gesundheitslehre. Der geisteswissenschaftliche Hintergrund, Heidelberg: Verlag für Medizin Fischer 1993, 62–64; Bergdolt: Leib und Seele, 249. Zur Gattung der (Gesundheits-) Katechismen und ihrer der zeitgenössischen Diskussion: Sahmland: Der Gesundheitskatechismus; Holger Boening: Der „gemeine Mann“ als Adressat aufklärerischen Gedankenguts. Ein Forschungsbericht zur Volksaufklärung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 12 (1988), 52–80. Bergdolt weist auf die scholastische Tradition des „quaestio-responsio-Systems“ hin: Bergdolt: Einführung, in: Cornaro: Vom maßvollen Leben, 7–32, hier 14. Zur Einordnung der Katechismen in den größeren Kontext der aufklärerischen Medizinliteratur siehe auch:

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chismen eigneten sich besonders für die Zwecke der Volksaufklärer, entsprach ihre Form doch am besten dem voraufklärerischen Leseverhalten, für das die Forschung festgestellt hat: Wenn der Bürger [...] las, so deshalb, um sich an das zu erinnern, was ohnedies sicher war. Er memorierte und befestigte Wahrheiten. Das konnte nicht zuverlässiger als dadurch geschehen, daß er sich in Formeln übte (die eben deshalb keine Formeln blieben). Was er las, ließ alle Dinge, die sein weltlich-bürgerliches Erleben betrafen, in einer schattenhaften Einförmigkeit, obwohl oder gerade weil es für alles und jedes Verhaltensregeln gab. 162

Der „Gesundheits-Katechismus“ von Bernhard Christoph Faust war die populärste Version dieser Gattung, mittels derer die medizinische Aufklärung dem „gemeinen Mann“ praktisch vermittelt wurde. Inhaltlich bedeutet das in erster Linie, wie schon früher bei den regimina sanitatis, Anweisungen zur Krankheitsverhütung, also Diätetik. Faust war Landarzt und später schaumburg-lippischer Leibarzt und setzte sich prominent für die damals neue Pockenschutzimpfung ein. Sein Gesundheitskatechismus erfuhr 11 Auflagen zwischen 1794 und 1830.163 Faust propagiert darin Moralität und Arbeitsamkeit und predigt Mäßigung, auch in allen den Schlaf betreffenden Bereichen: Die Umgebungstemperatur solle nicht zu hoch sein, der Raum nicht zu feucht oder zu stickig. Die Frage nach der angemessenen Schlafdauer wird bündig beantwortet: Ist es gut, lange oder kurze Zeit zu schlafen? Lange zu schlafen macht dumm, träge und ungesund; man muß also kurz schlafen.164

Die Verbindung der moralischen und hygienischen Ebenen der Katechismen verdeutlicht auch der Schlafabschnitt in Johann Wetzlers „Gesundheitskatechismus für den Bürger und Landmann“. Wetzler, dessen Biographie der Fausts in vielem ähnelt, war 1804 gerade Medicinalrat in Ulm geworden, als er wie Michael Stolberg: Der gesunde und saubere Körper, in: Dülmen (Hg.): Erfindung des Menschen, 305–317. 162 Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800, Stuttgart: Metzler 1974, 182. Für das Leseverhalten in Bezug auf die Diätetikliteratur galten solche Rezeptionsmuster wohl noch bis weit in das 19. Jahrhundert. Schenda thematisiert die Gesundheitskatechismen wie Haushalts- oder Erziehungsbücher als Sachbücher, die sich besonders durch ihre sprachliche und inhaltliche „Beharrungstendenz“ und ihre massenhafte Verbreitbarkeit auszeichneten (Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, Frankfurt am Main: Klostermann 3 1988, 42–50 und 321–327). 163 Faust, Berhard Christoph, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 166. 164 Faust: Gesundheits-Katechismus, 25.

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viele zeitgenössische Mediziner, offensichtlich nach Faustschem Vorbild, einen eigenen Katechismus „zum Gebrauche der Feiertagsschulen in den kurpfälzischen Staaten“ veröffentlichte.165 Frage: Was kann bey den Menschen einen gesunden, ruhigen Schlaf befördern? Antwort: Arbeitsamkeit, Mäßigkeit im Essen und Trinken, Keuschheit, gesunde Schlafzimmer, und ein gutes Gewissen. Frage: Was kann den ruhigen Schlaf stören? Antwort: Faulheit, Unmäßigkeit im Essen und Trinken, Unkeuschheit, gar zu warme Schlafzimmer und Federbetten, schreckhafte Träume, Kummer, Sorgen, Verdruß, Zorn und ein böses Gewissen.166

Wetzler empfiehlt wie Faust zudem dringend, das Bett nicht zu teilen.167 Die Federbetten, damit sind Federkissen anstelle von (Rosshaar-) Matratzen gemeint, galten nicht nur im deutschen Sprachraum zu der Zeit als ungesund und überkommen; trotzdem hielt sich der Federbett-Topos im Schlafdiskurs bis in das 20. Jahrhundert.168 Die Warnungen vor allem in den volksaufklärerischen Katechismen, wer zu viel oder zu warm liege, werde ein „Weichling“ oder riskiere „überflüßige Zärtlichkeit des Körpers“,169 zu viel Schlaf sei schädlich für „Phlegmatiker und Faullentzer“,170 zuviel Schlaf mache dumm,171 gehen überwiegend auf den Ein165 Julius Leopold Pager: Wetzler, Johann Evangelist, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften, Historische Kommission (Hg.): Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 42, Leipzig: Duncker und Humblot 1897, 263. 166 Johann E. Wetzler: Gesundheitskatechismus für den Bürger und Landmann und zum Gebrauche der Feiertagsschulen in den kurpfälzischen Staaten, Ulm: Becker 1804, 55. 167 Wetzler: Gesundheitskatechismus, 57–58; Faust: Gesundheitskatechismus, 26. 168 Etwa Christian Struve: Der Gesundheitsfreund der Jugend oder praktische Anweisung, wie man in der Jugend den Grund zu einer dauerhaften Gesundheit legen und sie bis ins späteste Alter erhalten könne, Hannover: Hahn 1803, 146 oder Johann Christian Gottfried Jörg: Zehn Gebote der Diätetik, Leipzig: Brockhaus 1847, 149; Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung, Berlin: Wilhelm Möller [1896], 36; Joseph Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen, Berlin: Deutscher Verlag 1902, 24. 169 Wetzler: Gesundheitskatechismus (1804), 56 und Zedler: Artikel „Schlaf“ (1742), 1690. 170 Zedler: Artikel „Schlaf“ (1742), 1685. 171 So warnt beispielsweise Johann Georg Zimmermann: „Allzuvieles Schlafen macht dumm, und allzuvieles Wachen führet zulezt zu Wahnwiz“, in: Ders: Von der Diät der Seele, hg. von Udo Benzenhöfer und Gisela vom Bruch, Hannover: Laurentius 1994 (Original 1764, dort 70r–70v), 119. Der Topos findet sich auch noch bei Anton Friedrich Fischer: Von der Schlaflosigkeit und deren Ursachen und Heilart. Zur Belehrung für Leidende aus gebildeten Ständen, Nürnberg: Campe 1831, 13.

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fluss von Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsprinzipien zurück, wie er sie 1762 in „Émile oder Über die Erziehung“ dargelegt hatte. Darin wird über den Schlaf bemerkt: Verweichlicht [...] Euren Zögling nicht unüberlegt durch ununterbrochenen friedlichen Schlaf. Überlaßt ihn ruhig dem Gesetz der Natur, vergeßt aber dabei nicht, daß er in der Gesellschaft über diesem Gesetz stehen muß.172

Das bedeutete, dass Kinder stufenweise an das Wachsein und an unterbrochenen Schlaf gewöhnt werden sollten sowie „an unbequemes Liegen“: „Allzu verzärtelt aufgezogene Menschen können nur noch auf Daunenbetten Schlaf finden; Menschen, die auf Brettern zu schlafen gewohnt sind, finden ihn überall“.173 Der Pädagoge und Theologe Johann Heinrich Campe, dessen Name für die deutsche Rezeption der Rousseauschen Pädagogik steht, konstatierte entsprechend, zu viel Schlaf mache „fett, phlegmatisch, träge, zuweilen auch stupide“.174 Allerdings war das Kind im Leitbild der Aufklärer zunächst unschuldig – Rousseau beschrieb die Kindheit auch als „Schlaf der Vernunft“ und die frühe Kindheit mitunter als „Lebensabschnitt, der frei vom Joch ist, das uns die Natur nicht auferlegt hat“175; die Erbsünde übertrug sich damit, so auch bei Campe, auf die Erziehenden, insbesondere die Mütter, denen damit die Verantwortung über die Erziehung zur Sittlichkeit übertragen wurde.176 Der Diskursstrang, der disziplinierenden Verzicht im Zusammenhang mit der Nachtruhe propagierte, war im Vergleich zum Lob des Schlafs als Lebensverlängerer zumindest im deutschsprachigen Kontext nicht vorherrschend, aber durchaus existent. In Titeln wie „Über den Nutzen des Frühaufstehens für die Gesundheit und die Geschäfte“ von 1835 lässt er sich in variabler

172 Jean-Jacques Rousseau: Émile oder Über die Erziehung, hg. von Martin Rang, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1963 (Original 1762), 283. 173 Rousseau: Émile (1762), 284. 174 Hildebrandt, Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf (1788), 145. Zu Campe: Zum Autor: Hanno Schmitt (Hg.): Visionäre Lebensklugheit. Johann Heinrich Campe in seiner Zeit (1746–1818) (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 74), Wiesbaden: Harrassowitz 1996; Michaela Jonach: Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter. Mädchenerziehung und Weiblichkeitsideologie bei Joachim Heinrich Campe und Jean-Jacques Rousseau (Aspekte pädagogischer Innovation 22), Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1997, 105–115. 175 Zitiert aus Rousseaus „Émile“ nach Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied u.a.: Luchterhand 1996, 37 und 41. 176 Baader: Die romantische Idee des Kindes, 27.

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Form durch das 19. Jahrhundert hindurch verfolgen.177 Gerade in der Erziehungsliteratur, die auf das Einüben der bürgerlichen Tugenden ausgerichtet war, spielen das Frühaufstehen und die üblen Folgen des Langschlafens wie Verdrießlichkeit, Konzentrationsprobleme, gesundheitliche Einbußen und beruflich-gesellschaftlicher Misserfolg eine Rolle.178 Auf das rechte Maß bedachte Stimmen überwogen allerdings. Ganz explizit positionierte sich etwa Brandis’ „Gesundheitslehre“ von 1786 gegen Rousseausche Ideale: Nicht ohne Gefahr für die ganze thierische Maschine dürfen wir dem Körper sein Recht [auf Schlaf ] zu kärglich beschränken. Alle Versuche, welche von ältern Lebensgeitzigen Philosophen gemacht wurden, den Schlaf zu verbannen, liefen fruchtlos oft selbst gefährlich ab.179

Der Autor, der zum Veröffentlichungszeitpunkt kurz vor der Beförderung vom Landarzt zum Medizinalrat stand, legte ein anderes Verständnis des Zusammenhangs von Schlaf und Aufklärung an den Tag: Er formulierte eine klare Position zugunsten staatlicher Gesundheitsfürsorge, forderte ungewöhnlicherweise sogar „Policeyanstalten für die nächtliche Ruhe“.180 Die Katechismen stellten eine sehr verbreitete, aber nicht die einzige Form der Hygieneliteratur dar. Brandis´ Hygieneschrift gehörte zu einer Vielzahl an Diätetiken für „Landsleute“, Gelehrte oder Kinder, die auf die Tradition der „Hausväterliteratur“ aufbauten und das gängige Schlafverständnis perpetuierten. Gemeinsam mit den Katechismen war diese Literatur die Brücke zu einem öffentlichen Gesundheitsdiskurs, in dem auch das individuelle Schlafen keine rein persönliche Angelegenheit mehr war.181 Der hygienische Schlafdiskurs war in der Aufklärungszeit und darüber hinaus überformt von der Rhetorik des rechten Maßes und der gesunden und 177 Carl Ritter: Stehe früh auf! Über den Nutzen des Frühaufstehens für die Gesundheit und die Geschäfte nebst Mitteln, sich das frühe Aufstehen anzugewöhnen, Quedlinburg/Leipzig: Basse, 1837. 178 Z.B. Eduard Wilhelm Heinrich Lange: Folgen des Frühaufstehens und des Langschlafens, in: Ders.: Tugend-Spiegel oder die Folgen der guten und bösen Handlungen in kleinen gemüthlichen Erzählungen für die Fassungskraft des ersten Kindesalters, Nürnberg/Leipzig: Zeh [1826], zitiert nach: Marie-Luise Könneker (Hg.): Kinderschaukel 1. Ein Lesebuch zur Geschichte der Kindheit in Deutschland 1745–1860, Darmstadt: Luchterhand 1976, 120–122. Wie zu erwarten, findet sich bei Lange auch der Ausspruch „Morgenstund hat Gold im Mund“. 179 Joachim Dietrich Brandis: Uebersicht der allgemeinem Gesundheitslehre zur Ankündigung akademischer Vorlesungen, Göttingen: Vandenhoeck, 1786, 20. 180 Brandis: Uebersicht der allgemeinem Gesundheitslehre (1786), 20; Brandis, Joachim Dietrich, in: Biographische Enzyklopädie, Bd. 1, 75. 181 Zur Hausväterliteratur: Schipperges: Heilkunde als Gesundheitslehre, 47–48 und 56.

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schicklichen Lebensart und der Lebensverlängerung.182 Die Mäßigkeit war eine wichtige Komponente des gemeinsamen Wertekanons, an dem man sich ausrichten konnte und musste, wollte man dem sich formierenden Bürgertum angehören.183 Sie folgte, so die Zeitgenossen, logisch aus dem Gebrauch der Vernunft und hatte in medizinischer Hinsicht ihre theoretischen Begründungen in den Spiritus- und Reiztheorien. Der maßvolle Umgang mit den Körpersäften und -kräften war überdies seit jeher ein Bestandteil der Diätetik (unter anderem im Essen, Trinken und Schlafen), worauf der Begriff der Synkrasie bereits verweist. Die entsprechende Warnung Hildegards von Bingen beispielsweise war gegen Schlafen und Wachen supra modum gerichtet. Burdach formulierte den Zusammenhang 1805 in Brownschem Sprachgebrauch: Man meide das Übermaaß und das Unmaaß, und lasse im Allgemeinen auf alle einzelnen Organe einen mittlern Grad von Reizen einwürken: Die wahre Mäßigkeit besteht darin, daß man soviel Reize anwendet, als nöthig sind, um zweckmäßige Thätigkeit [...] zu bewürken.184

Der Hygienediskurs hatte wie die Aufklärung überhaupt eine europäische Dimension, beispielsweise wurde Faust in mehrere europäische Sprachen übersetzt.185 Fausts Vorbilder wiederum waren vor allem Samuel André Tissot und Wiliam Buchan.186 Die am Prinzip der Mäßigung orientierte „Hausarzneykunst“ des Edinburger Mediziners Buchan war für die Hygieniker des deutschen Sprachraums ein wichtiges Referenzwerk. Unter Berufung auf Rousseau nennt Buchan „die Bewegung und die Mäßigkeit [...] die zween besten Ärzte in

182 Zur Mäßigkeit im Hygienediskurs: Louis-Courvoisier Pilloud: The intimate experience of the body, 471–472; Göckenjan: Kurieren und Staat machen, 79–81; Berdgolt: Leib und Seele, 251–264 sowie die Aufsätze zu Volksaufklärung/Gesundheitskatechismen. 183 Zur Bürgerlichkeit des Schlafdiskurses (in Aufklärung und Romantik) ausführlich Kapitel 1.4. Zur Bedeutung der bürgerlichen Werte in der Aufklärung und im 19. Jahrhundert u.a.: Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann: Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 333–359. 184 Burdach: Diätetik für Gesunde (1805), 150. 185 Adolph Carl Peter Callisen: Medicinisches Schriftsteller-Lexicon der jetzt lebenden Aerzte, Wundärzte, Geburtshelfer, Apotheker und Naturforscher aller gebildeten Völker, 33 Bde., Copenhagen: KUBE, 1830–1845, Bd. 6 (1831), 193–194. 186 Sarasin: Reizbare Maschinen, 44. Zu Tissot siehe Kapitel 1.4. Zu Buchan und seinem Kontext: C. J. Lawrence: Wilhelm Buchan. Medicine laid open, in: Medical history 20 (1975), 20–35; Charles E. Rosenberg: Medical text and social context. Explaining William Buchan‘s „Domestic Medicine”, in: Bulletin of the History of Medicine 57 (1983), 22–42.

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der ganzen Zeit“, die Mäßigung gar die „Mutter der Gesundheit“.187 Das hieß für den Schlaf: Der Schlaf muß, so gut wie die Diät, seine gehörige Ordnung haben. Allzuwenig Schlaf schwächt die Nerven, erschöpft die Lebensgeister, und verursacht Krankheiten; hingegen allzu viel Schlaf macht das Gemüthe dumm, den Körper fett, und zu Schlagflüssen, zur Schlafsucht, und dergleichen geneigt. Man sollte also eine Mittelstraße beobachten; die sich aber schwehr bestimmen laeßt.188

Die „richtige“ Schlafmenge versuchte man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts anhand der üblichen Kriterien wie Alter und Klima immer wieder festzuschreiben, aber die Buchansche „Mittelstraße“ hing doch nach allgemeiner Meinung der Hygieniker letztlich vom Individuum ab – das in dieser Hinsicht deshalb auch in ganz besonders hohem Maße Eigenverantwortung zu übernehmen hatte.189 Üblicherweise betonten die Hygieniker die Individualität des Schlafbedürfnisses, um im gleichen Zug doch absolute Zahlen zu nennen.190 Beispielsweise schrieb Burdach 1811: Ein allgemeines, absolutes Maaß von Ruhe giebt es nicht, sondern jedes Individuum muß dasselbe für sich nach seinem Gefühle und seiner Erfahrung bestimmen. So ist es z. B. mit dem Schlafe; bey manchen Menschen und zu manchen Zeiten ist eine stärkere Restauration, folglich auch ein längerer Schlaf nöthig. [...] Im Ganzen genommen ist für erwachsene Menschen ein Schlaf von sechs Stunden am zuträglichsten; er darf in der Regel weder kürzer, als fünf, noch auch länger als sieben Stunden dauern.191

Bei Zedler wird die „alte und fast jederman bekannte Regel“ bemüht: „Septem horas dormisse, sat es juvenisse senique. Sieben Stunden wären für alte und junge Leute zum Schlafen genug.“192 Je nach Alter, „Lebens-Art“ und der „übrigen Beschaffenheit eines Menschen“ könne das Schlafbedürfnis aber variieren. Gesunde Erwachsene schliefen am besten zwischen 10 Uhr abends und 5 Uhr morgens.193 Der Gesundheitsratgeberautor Georg Wilhelm Christoph Consbruch empfiehlt 6 bis 8 Stunden, je nach Alter, Arbeitsbelastung und Ge187 Wilhelm Buchans Hausarztneykunst oder Anweisung, wie man den Krankheiten durch eine schickliche Lebensart nicht nur vorbauen, sondern auch durch leichte Arztneymittel abhelfen solle. Mit einer Vorrede begleitet und aus dem Englischen üs. von Georg Heinrich Königsdörfer. Altenburg: Richter 1774, 169. 188 Wilhelm Buchans Hausarztneykunst, 161 (Abschnitt „Von dem Schlafe und der Kleidung“). 189 Zur Idee der Eigenverantwortlichkeit als Charakteristikum des Hygienediskurses: Sarasin: Reizbare Maschinen, 19. 190 Dies stellt sich auch in der Studie Ekirchs so dar (At day´s close, 264–265). 191 Burdach: Diätetik für Gesunde (21811), 195. 192 Zedler: Artikel „Schlaf“ (1742), 1686. 193 Zedler: Artikel „Schlaf“ (1742), 1687.

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sundheitszustand.194 Sogar den Mittagsschlaf verurteilt er nicht, anders als viele andere Autoren, die ihn nur bei schwachen, kranken Menschen für günstig erachten. Sogar in Meißners Enzyklopädie, wo ja die Individualität des Schlafs generell hervorgehoben wird, findet sich mit 5 bis 8 Stunden eine relativ konkrete Angabe.195 Ein Bedarf an Konkretisierung von Gesundheitsratschlägen ist im späten 18. Jahrhundert nicht zu übersehen. Es lag auch an diesem Bedarf, dass eine der „erfolgreichsten populärmedizinischen Schriften des 19. Jahrhunderts“196 nicht nur im deutschen Sprachraum ein Hygienetraktat war, nämlich Hufelands „Makrobiotik“. Christoph Wilhelm Hufeland war unter anderem Hofarzt in Weimar und erster Arzt an der Berliner Charité. Er stellte die Lebensdauer in ein direktes Verhältnis zur „schnelleren oder langsameren Comsumtion“ der „angebornen Lebenskräfte“. Nach Hufeland ist Regeneration „das Hauptmittel [...], der Consumtion das Gegengewicht zu halten.“197 Der Schlaf sei nur ein „scheinbarer Verlust“ des Lebens, tatsächlich liege in dem „passiven Zustand“, der „7  bis 8 stündigen Pause [...] das größte Mittel zur Verlängerung desselben“.198 Hufeland bot eine Synthese aus Erfahrungswissen, Humoralpathologie, Materialismus, Vitalismus, Reiztheorie und den gesellschaftlichen Vorstellungen seiner Zeit: Der gesunde Menschenverstand lege eine Schlafdauer von 6 bis 8 Stunden nahe; zu viel Schlaf führe zur Ansammlung schädlicher Säfte; der Schlaf in einer Umgebung mit wenig „äußeren sinnlichen Reizen“ lasse die Seele am besten ruhen, und Schlaf des Nachts ist gesünder und „schicklicher“199 als tagsüber.200 Ausführlich behandelt Hufeland in einem dem Schlaf gewidmeten Traktat die verschiedenen traditionellen, individuell 194 Consbruch: Diätetisches Taschenbuch (1803), 288–289. Zum Autor: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 110. 6 bis 8 Stunden gibt z.B. auch Vogel an: Diätetisches Lexikon (1801), 153. 195 Adelon: Schlaf (1833), 2. 196 Peter Schneck: Hufeland, Christoph Wilhelm, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 298; Josef N. Neumann: Christoph Wilhelm Hufeland, in: Ders., Hartmann (Hgg.): Klassiker der Medizin, Bd. 1, 338–359. Zur Biographie und medizinhistorischen Einordnung Hufelands siehe auch: Rothschuh: Konzepte der Medizin, 330–336; Wiesing: Kunst oder Wissenschaft, 75–92. 197 Hufeland: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1797), 77 und 76. Der Consumtionsbegriff wurde in der späteren makrobiotisch inspirierten Hygieneliteratur wiederholt aufgegriffen, z. B.: Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831), 14. 198 Hufeland: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1797), 83–84. 199 Die Formulierung der „schicklichen“ Schlafenszeit stammt von Consbruch: Diätetisches Taschenbuch (1803), 288. 200 Hufeland: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1797), 547–548; Hufeland: Der Schlaf und das Schlafzimmer (1803), 28–30.

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unterschiedlichen Faktoren des Schlafs und die Anforderungen an ein gesundes Schlafzimmer. Dieses muss still, dunkel, sauber, luftig, kühl und trocken sein. Am besten schläft man alleine, im Liegen, nicht zu sehr in Kleider eingeschnürt, und nicht auf Federbetten, sondern auf Matratzen aus Pferdehaar oder, preiswerter, Moos. Zu fettes Essen und anregende Getränke oder Unterhaltung vor dem Zubettgehen sind zu vermeiden. Der Einfluss Hufelands auf den Schlafdiskurs, zu dem er in diätetischer Hinsicht nicht viel Neues beitrug, lässt sich konkret an zwei Topoi festmachen. Diese wurden nach Hufeland immer wieder aufgegriffen. Sie belegen damit bereits auf der sprachlichen Ebene die Rezeption im Schlafdiskurs. Zudem haben solche Topoi die Funktion, als Gemeinplätze durch eine gemeinsame Redeweise die Zugehörigkeit des Autors zum Diskurs herauszustellen. Auch sollen sie dem Adressaten besonders unmittelbar einleuchten.201 Konkret ist das bei Hufeland zum einen der Ratschlag: „Alle Sorgen und Tageslasten müssen mit den Kleidern abgelegt werden“.202 Zum anderen ein illustrierendes Beispiel: das „Klappern der Mühle“.203 Binnen weniger Jahre wurde daraus ein gängiger Bestandteil des Schlafdiskurses:204 In seinem Schlaf(zimmer)traktat thematisiert Hufeland den Erfahrungswert, dass eintönige Geräusche schlafförderlich wirken können. Dieses Thema hatte bereits Tradition, beim Romantiker Blumenbach diente aber vor allem das „Murmeln eines Baches“ als Beispiel, Nudow nannte die „seichte Predigt“, ein „schleppendes Gedicht“, das „Gesume der Bienen“.205 Wenige Jahre bevor sich Hufeland des Schlafes ausführlicher annahm, nannte Davidson noch in seinem ausführlichen Schlaftraktat die Langweile generell und eine Kombination aus Blumenbachs und Nudows Fördermittel der „Unthätigkeit der Seele“. Dazu bemerkte er, dass Soldaten unter Kanonendonner schlafen könnten und „der Müller bey dem Geräusch

201 Vgl. Daniel Fulda: Topik, in: Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft, 285–287. 202 Hufeland: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (1797), 549. Christian Friedrich Ludwig Wildberg: Handbuch der Diätetik für Menschen im gesunden Zustande, Leipzig: C. Cnobloch 1828, 306; Hermann Klencke: Katechismus der Makrobiotik oder der Lehre, Gesund und lange zu leben, Leipzig: Weber 21868, 135. 203 Hufeland: Der Schlaf und das Schlafzimmer (1803), 124. 204 So z.B. bei Adelon: Schlaf (1833), 3–4; Karl Friedrich Burdach: Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig: Voß, 6 Bde. 1826–1840, hier Bd. 3 (1830), 457 und 461. 205 Blumenbach: Anfangsgründe der Physiologie (1798), 202 (unter „entferntere Ursachen des Schlafs“: „gleichförmige, anhaltende Rührungen der Sinne“); Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs (1791), 31–32. Die einschläfernde Wirkung der Kirchenpredigt taucht in den Hygienetexten immer wieder auf, siehe etwa: Fischer-Defoy: Schlafen und Träumen (1918), 14.

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der Mühle“: „die Macht der Gewohnheit herrscht auch hier unumschränkt“.206 Wenn auch die Romantiker gerne Naturvergleiche heranzogen,207 setzte sich doch über die Hufelandrezeption der Mühlentopos durch, weil Hufeland Nudows Bemerkung um die interessante Beobachtung erweiterte, Müller ertrügen das Geräusch nicht nur, sondern seien zum Schlafen sogar darauf angewiesen. Mehr als ein Gemeinplatz ist dagegen Kants vielzitierte Einschlafempfehlung, die Gedanken auf ein „gleichgültiges Objekt, was es auch sei (bevorzugt den viele „Nebenvorstellungen“ enthaltenden Namen Cicero) zu heften“.208 Diese idealistische Empfehlung aus Kants „Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein“ (1798) wurde häufig aufgegriffen – auch wenn nie „Nebenvorstellungen“ ausformuliert wurden – und ersetzte im Hygienediskurs wohl die Empfehlung, zu diesem Zweck ein Abendgebet zu sprechen.209 Das Beten spielte in diesem Diskursstrang keine Rolle, sogar die vereinzelte Erwähnung des Betens gegen „zu große Lebhaftigkeit des Geistes“ in Vogels „Diätetischem Lexikon“ nennt das „Vaterunser“ nur als „irgend eine [...] auswendig gelernte Formel“.210 Hinter der Vorstellung, mit 206 Davidson: Ueber den Schlaf, 23–24. Die donnernden Kanonen gehen wohl auf Haller zurück, so Friedrich G. von Jan: Der Schlaf, Diss. med. Würzburg: Becker 1836, 12 (der Autor führt auch den Wasserfall und den Müller an: 28). Zum Mühlentopos vgl.: Carl Friedrich von Gräfe (Hg.): Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, 38 Bde., Berlin: Boike bzw. Veit 1828–1849, Artikel „Schlaf“ (1843), „Schlaf“: Bd. 30 (1843), 385–441, hier 407; Spitta: Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen Seele (21883), 89 („Dass selbst das plötzliche Unterbleiben eines gewohnten Geräusches den Schlaf verscheuchen und das Erwachen herbeiführen kann, dass z.B. der Müller erwacht, wenn sein Mühlwerk mit einem Male stillsteht, ist ein Beweis der grossen Macht, welche die Gewöhnung [...] über den ganzen Menschen besitzt.“) Auch der Soldatentopos hält sich länger, u.a. ist er zu finden bei Rosch: Das Bette, der Schlaf und der Traum (1837), 5 oder Hermann Klencke: Die physische Lebenskunst oder praktische Anwendung der Naturwissenschaften auf die Förderung des persönlichen Daseins. Ein Familienbuch, Leipzig: Eduard Kummer 1864, 43 (hier auch der Mühlentopos). 207 Burdach greift als Romantiker auch auf Naturtopoi wie den rauschenden Wasserfall zurück (zuerst bei Davidson: Ueber den Schlaf [1796], 23; später auch noch bei S. Laache: Über Schlaf und Schlafstörungen. Ihre Ursachen und ihre Behandlung, Stuttgart: Ferdinand Enke 1913, 48). Dieser findet sich wiederholt in der romantischen Schlafliteratur, beispielsweise noch bei Friedrich Beneke: Aphorismen über das Verhältnis zwischen Wachen und Schlaf, in: Litterarische Annalen der gesammten Heilkunde 20 (1831), 271– 294, hier 283. 208 Kant: Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein (1798), 382–283. 209 Vogel: Diätetisches Lexikon (1801), 152. 210 Vogel: Diätetisches Lexikon (1801), 152–153. Vermutlich findet sich das Beten in anderen, nicht vorrangig wissenschaftlich argumentierenden Diskurssträngen viel deutlicher, etwa in Erbauungsschriften. Ein Beispiel dafür ist Lavater: Predigt über Schlaf und Schlaf-

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einer Verstandesübung den Schlaf der Willkür der Natur entreißen zu können, steht das Bild des selbstbestimmten, aufgeklärten Menschen. Kants Glaube an die „Macht des Gemüts“ und die Macht der Einbildungskraft ist mehr als die Beobachtung, dass Gewohnheiten und eintönige Geräusche ermüden; er ist Teil des Programms der Aufklärung, in der das Erkenntnisinteresse nicht nur auf die Umwelt des Menschen, sondern gerade auch auf den Menschen selbst und dessen Erziehung zur Selbstbestimmung gerichtet ist. In diesem Kontext ist der Schlaf zwar prinzipiell als Lebensverlängerer zu begrüßen, als Zustand der Bewusstlosigkeit aber möglichst weit unter die Kontrolle des Verstandes zu bringen. Kants Ausgangsüberlegung, auf die seine Einschlafempfehlung folgt, lautet daher: Da […] schwerlich ein Mensch wünschen wird, daß der Schlaf überhaupt gar nicht das Bedürfnis für ihn wäre, [...] so ist es geratener, fürs Gefühl als für die Vernunft, dieses genuß- und tatleere Drittel ganz auf eine Seite zu bringen, und es der unentbehrlichen Naturrestauration zu überlassen: doch mit einer genauen Abgemessenheit der Zeit, von wo an und wie lange sie dauern soll.211

Der „Schlaf als süßer Genuß im Schlummern (die Siesta der Spanier)“212 ist beispielsweise ein makrobiotischer Rechenfehler, schreibt Kant in der „Macht des Gemüts [...]“, seinem Kommentar zu Hufelands Makrobiotik.213 Bei Kant und Hufeland findet sich also eine prinzipielle Einigkeit in Bezug auf die makrobiotische Rolle des Schlafs, in der Wertung des Schlafes stimmten sie aber so wenig überein, dass man beide Autoren als Stellvertreter einerseits des negativen, zu Rousseau zurückweisenden (Kant), andererseits des späteren, schon zur Romantik weisenden positiven, dabei aber passiveren (Hufeland) Verhältnisses der Aufklärung zum Schlaf nehmen kann. Hufeland war mit seiner Lebenskraftvorstellung ein prominenter Vertreter des Schwellenparadigmas des Hygienediskurses zwischen der Aufklärung und der Romantik, dessen Dominanz die Grenzen zwischen den beiden Epochen losigkeit (1798), der bei Schlaflosigkeit das Beten, Gedanken an den schlaflosen Christus am Ölberg oder das (gedankliche) Wiederholen von Psalmen und Liedern empfiehlt (11–15). 211 Kant: Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein (1798), 380–381. 212 Kant: Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein (1798), 380. 213 Zur Auseinandersetzung Kants mit Hufelands Makrobiotik: Neumann: Medizin im Zeitalter der Aufklärung, 26–27. Kant kritisierte an der Makrobiotik vor allem die Konzentration auf die „animalische Existenz“ des Menschen, also die Reduktion der Anstrengungen der Medizin auf das Funktionieren der Maschine um ihrer selbst willen, auf Kosten der „bürgerlichen“, der Gesellschaft verpflichteten Existenz.

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auch im Schlafdiskurs stark verwischt. Wie die Reiztheorie, die gleichzeitig mit beziehungsweise auch innerhalb der aufklärerischen Diätetikliteratur bestand, medizinhistorisch eigentlich schon als romantische Theorie verstanden wird, so hielt sich die „Lebenskraft“ über die Aufklärung hinaus – nicht zuletzt, weil die Romantiker noch nicht, wie die Naturwissenschaftler und Psychologen des mittleren und späten 19. Jahrhunderts, neue Erklärungen für den Schlaf suchten. Die Lebenskraft lag nicht nur über der medizinhistorischen Epochenschwelle, sie war auch ein wissenschaftstheoretisches „Lückenparadigma“214, das zwischen den lange gültigen, vergleichsweise metaphysischen galenischen Spiritusvorstellungen und den rationalistischer dargestellten Kraft- und Energiemetaphern des späteren 19. Jahrhunderts die „bewegende Kraft“ des menschlichen Organismus benannte. Die Lebenskraft war ein Lückenparadigma, weil damit nicht mehr als eine Definitionslücke aufgezeigt werden konnte, weil die Lebenskraft sich „nicht auf die bekannten Gesetze der physischen Kräfte der nicht organisierten Natur zurückbringen“ ließ; klar bestimmen ließ sich nur, dass sie allein dem „lebenden organischen Körper eigen“ war, der seinerseits durchaus „den mechanischen, physischen und chemischen Gesetzen der todten Natur unterworfen“ war.215 Die Lebenskraft war „Grundkraft der Menschennatur, Reizbarkeit, Nervenkraft, Erregbarkeit, Thätigkeit der lebendigen Theile“216 und vieles mehr in einem universalen Begriff – und daher gerade auch im Hygienediskurs gut einsetzbar.217 Zweck und Ursache des Schlafs wurden noch das 214 Eva-Marie Engels: „Lebenskraft“ in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Stuttgart/Basel: Schwabe 1980, Bd. 5 (12 Bde., 1971–2004), 122–128, hier 123. 215 Joachim Dietrich Brandis: Versuch über die Lebenskraft, Hannover: Hahn 1795, 15 (zitiert nach Engels: Lebenskraft, 123). Consbruch: Klinisches Taschenbuch (1812), 9. 216 Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs (1791), 9. Bei Kant ist die Lebenskraft vielmehr die „Tätigkeit aller Gemütskräfte“, die das vernünftige Handeln ermöglichen, so Neumann: Medizin im Zeitalter der Aufklärung, 26. 217 Brigitte Lohff gibt einen konkreten Zeitraum an: 1774–1848: Zur Geschichte der Lehre von der Lebenskraft, in: Clio Medica 16 (1981), 101–112, hier 101; der Zusammenhang zwischen Lebenskraft und Romantik ist in der romantischen Anschauung des Lebens als das übergeordnete Prinzip zu verstehen: 106. Weiter zur Lebenskraft: Rothschuh: Physiologie, 164–177; Sarasin: Reizbare Maschinen, 63–71. Mit der Lebenskrafttheorie wird nicht in erster Linie Hufeland, sondern vor allem Johann Christian Reil in Verbindung gebracht: Von der Lebenskraft (Sudhoffs Klassiker der Medizin 2), Leipzig: Barth 1910 (Reprint der Ausgabe 1795). Reil war allerdings kein Makrobiotiker, wodurch er für den Schlafdiskurs weniger einschlägig war. Zu Reil: Lohff: Zur Geschichte der Lehre von der Lebenskraft; Sarasin: Reizbare Maschinen, 63–71 und 213–215. Der Schlafdiskurs war überwiegend entweder praxisorientierter als Reil oder, wie etwa bei Burdach, stärker reiztheoretisch ausgerichtet.

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ganze 19. Jahrhundert hindurch, also über die Romantik hinaus, immer wieder auf die Erschöpfung, Wiederherstellung und Erhaltung der „Lebenskraft“ zurückgeführt.218 Für die Definition des Schlafs scheinen die Begriffe spiritus, Nervenkraft, Reizbarkeit, Lebenskraft, später Energie,219 auf den ersten Blick nur rhetorischargumentative Variationen der immer gleichen Unbekannten zu sein. Die Anbindung der Begriffe an die jeweils zeitgenössische Gesellschaft aber, wie die Verbindung der Lebenskraft mit Mäßigkeitsvorstellungen in der Aufklärung, lassen über den Schlafdiskurs Einblicke in das diskutierte Menschenbild und die dominanten Körperkonzepte zu. Die Schlafdiätetiker der Aufklärung konnten also an eine lange, ununterbrochene Tradition der Verknüpfung von Hygiene und Selbstverantwortung anknüpfen. Die zeigt sich etwa an einem „Neuen Sittlichen Hippokrates“ von 1703. In diesem frühen Text wird deutlich, dass das Mäßigkeitsthema, die Schlafdauer und -zeit verbunden mit Moralvorstellungen, keine Erfindung der Aufklärungszeit, geschweige denn erst des bürgerlichen 19. Jahrhunderts waren: Es kommet aber eben mit dem schlaffen und wachen / wie mit der Bewegung / und Ruhe des Leibes auf ein gutes Diätmäßiges Mittelmaas an [...]: Somnus et vigilia utraque si modum excedant malum &c. 2. Aphor. Hippocr.3.220

Bei der Thematisierung von Schlafzeit und -dauer verbindet der Autor die antike Spirituslehre mit einem moralischen Appell: Die Zeit zu schlaffen lehret die Natur und Hippocr. de Diaeta: Dormire noctu oportet, vigilare autem unterdiu &c. zu Nachts=Zeit ziehen sich die sinnlichen Geister im Menschen mit der Wärme zurück zur Ruhe / die sich am Tag / nicht ohne Sympathia mit der Sonne / in dem Leib ausbreiten / zum wachen und arbeiten Anlaß und Beförderung geben. Solle also der nöthige Schlaff nach der lieben Sonn Niedergang Nachts=Zeit ordentlich gesuchet / und mit dero Auffgang wieder zur Leibs=Ubung und Arbeit geschritten / 218 Etwa bei Johann Christoph Fleck: Ueber Schlaf und Traum und die Schlaflosigkeit mit ihren Ursachen, Folgen und Heilmitteln, Weimar: B. F. Voigt, 1844; Carl W. Ideler: Die Allgemeine Diätetik für Gebildete, Halle: Schwetschke 1846; J. Poeche: Der Schlaf und das Schlafzimmer. Ein hygienisch-diätetisches Handbuch als Wegweiser zur Erlangung eines natürlichen und erquickenden Schlafes, Berlin: Eduard Beyer 1901. 219 Bzw. der Energieerhaltung, vgl. Lohff: Zur Geschichte der Lehre von der Lebenskraft. 220 Johann Friedrich Joseph Hack: Neuer Sittlicher Hippokrates. Durch rechten Gebrauch / sowohl Speiß und Trancks / als anderer zur Erhaltung des Lebens nöthigen Dingen / den rechten Weg zeigend zum gesunden Langen Leben / Besten Principijs, Diaets-Lehren / und Regulen nach Ethico-Medice gestellet / und neben vielen Curiös- und nützlichen Diaets-Anmerckungen, Erfurt: Joh. Henrich Grosch: 1703, 94 (zwischen den Abschnitten zu Essen und Trinken und zur Verdauung).

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der Tag nicht mir der Nacht / die Nacht nicht mir dem Tag verkehret werden / wie es etliche Tagscheue Nacht=Eulen unnützlicher Ding wegen öffter zu thuen pflegen.221

Die Diätetiktradition mit ihrer Orientierung an den non naturales veränderte sich im 18. Jahrhundert inhaltlich also nicht wesentlich. Mit der Aufklärung und dem Verlauf des 18. Jahrhunderts vergrößerte sich allerdings der Markt für Hygieneschriften und damit auch deren Adressatenkreis, neue physiologische Theorien wurden integriert und der selbstverantwortliche Umgang mit den Lebensressourcen, den Kräften und der Reizbarkeit, wurde für durchführbar und optimierbar gehalten. Unter den Vorzeichen einer guten, also gesunden und moralischen Lebensführung war jetzt die Unvermeidlichkeit des Schlafbedürfnisses zu reflektieren. In Konsequenz daraus sollte der Schlaf schicklich und „zweckmäßig“ bemessen werden: Nur der Mensch, welcher [...] seine Zeit zweckmäßig anzuwenden sich bemüht, darf [...] seinen Empfindungen [...] als Bedürfnis folgen, und er muß die völlige Befriedigung derselben, als zu seiner Selbsterhaltung und fernern Ausbildung nothwendig, wie Pflicht ansehen.222

1.3. Schlaf als Naturgesetz. Schlaf in der ganzheitlichen Anthropologie der Romantik

Wie sich die Vorzeichen in der Wissenschaftslandschaft mit der Romantik veränderten, zeigt sich deutlich am Beispiel Burdachs, der sich gleichermaßen naturphilosophisch in der Diätetik wie in der Physiologie bewegte. Er ging davon aus, dass das individuelle Schlafbedürfnis letztlich nur „durch die Hülfe des Instinctes auszumitteln“ sei – und argumentierte dabei nicht mehr primär moralisch-utilitaristisch.223 Dahinter steht ein romantisch-naturphilosophisches Schlafverständnis, nach dem der bereits weitgehend säkularisierte Schlaf zwar nicht mehr als von Gott auferlegtes Joch, aber trotzdem metaphysisch begriffen wurde: Er war jetzt ein „heiliges Mysterium der Natur“ oder, pragmatischer formuliert, zumindest eine „ökonomische Veranstaltung der Natur“.224 Ein zunehmend naturphilosophisch überformtes Menschenbild begann sich im Schlafdiskurs in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts durchzusetzen. Um die Jahrhundertwende, also zwischen Nudows Schlaftraktat und Burdachs Di221 222 223 224

Hack: Neuer Sittlicher Hippokrates, 97–98. Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs (1791), 284. Burdach: Diätetik für Gesunde (1805), 190. Ideler: Allgemeine Diätetik für Gebildete (1846), 168; Burdach: Diätetik für Gesunde (1805), 188.

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ätetik, verwässerte sich der ausdrücklich moralisch-aufklärerische Impetus im Schlafdiskurs. Dies liegt vor allem darin begründet, dass der Schlaf verstärkt in naturphilosophisch beeinflussten physiologischen Abhandlungen Beachtung fand und daher die Diätetikliteratur für diesen Zeitraum den Diskurs weniger stark dominierte. Aber auch in der vormals von den Prinzipien der Aufklärung eingefärbten Diätetikliteratur wurden die weiterhin relativ unveränderlichen Diätetikabschnitte schon um 1800 um die romantischen Schlafbegriffe der Philosophen-Physiologen ergänzt. In einem Diätetikhandbuch von 1828 findet sich eine typische Formulierung: Wie in allen einzelnen Theilen, Kräften und Verrichtungen des menschlichen Körpers Abwechslung von Thätigkeit und Ruhe Bedingung des Lebens ist: so ist auch in dem ganzen Menschen eine den ganzen Organismus umfassende Abwechslung von Thätigkeit und Ruhe, oder Schlaf und Wachen, Bedingung des Lebens und die naturgemäße Beschaffenheit und der naturgemäße Wechsel beyder Zustände Bedingung der Gesundheit im Leben. [...] Der Schlaf ist ein dem Wachen entgegengesetzter Zustand, in welchem das animalische Leben ruhet und das vegetative vorwaltet. In demselben höret alle Empfindung und willkührliche Bewegung auf, alle Sinne und mit ihnen auch die Thätigkeit des Gehirns ruhen, alle Verbindung mit der Sinnenwelt ist gleichsam aufgehoben, das Bewusstseyn wird verdunkelt und ausgelöscht, um ganzen Seelenleben wird Nacht, und der Mensch hört gewissermaßen so lange der Schlaf dauert auf, Mensch zu seyn.225

Für etwa ein Dritteljahrhundert ging das Thema Schlaf in der naturphilosophischen respektive romantischen Physiologie und Seelenkunde auf. Die „Medizin im Zeitalter der Romantik“ siedelt man zeitlich wie die Literaturepoche von den 1790er Jahren bis etwa 1830/40 an; 226 sie wird in der Medizingeschichte inzwischen nicht mehr als eine einheitliche Epoche verstanden. Die im engeren Sinne naturphilosophische Strömung – eingeleitet von Friedrich Wilhelm Schellings Naturphilosophie, nach der das Verständnis der Natur über dem Erklären der Natur stand – endete bereits um 1815/20. Schelling beschrieb den Aufbau der Natur in Stufen und argumentierte mit den Prinzipien der Polarität und Dualität.227 Etwa gleichzeitig bestand weiterhin eine eklektisch-traditionalistische Strömung, die antike Traditionen und neue Theorien verband 225 Wildberg: Handbuch der Diätetik (1828), 301–302. 226 Zur Periodisierung und Einführung in die literarische Epoche: Helmuth Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch, Stuttgart: Kröner 22003 (Frühromantik 1790–1801, Hochromantik 1801–1815, Spätromantik 1820–1850); Herbert Jaumann: Romantik, in: Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung, 360–361. Zur Periodisierung der romantischen Medizin: Lammel: Nosologische und therapeutische Konzeptionen in der romantischen Medizin; Brigitte Lohff: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik (Medizin in der Geschichte 17), Stuttgart/New York: Gustav Fischer 1990. 227 Bergdolt: Leib und Seele, 294.

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und deren „Leitgestalt“ Hufeland war. Eine dritte, länger vertretene Strömung (mit Schwerpunkt um 1820 bis 1835) war anthropologisch beziehungsweise psychologisch-mesmeristisch orientiert und zeichnete sich durch das Interesse an den Erfahrungen der Seele aus. Viertens war der Brownianismus die dominante physiologisch-theoretische Strömung. Dieser Komplex wurde im 19. Jahrhundert zunächst als „naturphilosophische Medizin“ zusammengefasst und galt nach deren Ablösung durch positivistische naturwissenschaftliche Forschung lange als tendenziell spekulativ, wenn nicht unwissenschaftlich. Diese Bewertung, die mit einer zögerlichen Erforschung der Epoche einherging, wird seit einigen Jahrzehnten als zu undifferenziert kritisiert.228 Neuere Studien betrachten die romantische Periode in der Wissenschaftsgeschichte nicht mehr als Irrweg oder Sackgasse, sondern heben vielmehr die Kontinuitäten zwischen den Epochen und die interdisziplinären Verbindungen der Wissenschaft etwa mit der Literatur der Zeit hervor.229 Von einer rationalistisch-positivistischen Suche nach Zweck und Ursache des Schlafs kann man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht sprechen; der Schlaf fand sich jedoch in den zentralen wissenschaftlichen Debatten der Zeit. Um 1800 stand man immer noch ratlos vor dem Phänomen, an das sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen mit allen bis dato verfügbaren Mitteln angenähert hatten und dabei wissenschaftstheoretisch doch nicht wesentlich über die Weiterentwicklung der Säfte- zur Kräfteerklärung hinausgekommen waren. Auch eine Entscheidung zwischen Materialismus und Vitalismus, also in dem Diskussionsfeld, in dem der Schlaf angesiedelt war, stand nicht in Aussicht.230 Die „Lebenskraft“ war nur eine Hilfskonstruktion, die das Dilemma überdeckte oder überbrückte. Die Konsequenz aus der allgemeinen Krise der Medizin um 1800 war das Bemühen um eine Wiedervereinigung der Medizin 228 Die Periodisierung stammt von Karl E. Rothschuh: Deutsche Medizin im Zeitalter der Romantik. Vielheit statt Einheit, in: Ludwig Hasler (Hg.): Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, Stuttgart/Bad Cannstatt: FrommannHolzboog 1981, 145–151; zu Schellings Bedeutung für die Epoche: Rothschuh: Konzepte der Medizin, 385–396; Dietrich von Engelhardt: Schellings philosophische Grundlegung der Medizin, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Naturphilosophie F. W. J. Schellings, Frankfurt am Main: suhrkamp 1984, 305–325. Zur Kritik an der frühen Romantikrezeption siehe außerdem: Lohff: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit. 229 Vgl. Schweizer: Anthropologie der Romantik. 230 Zur Krisensituation um 1800: Werner E. Gerabek: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik. Studien zu Schellings Würzburger Periode (Europäische Hochschulschriften VII B 7), Frankfurt am Main: Peter Lang 1995, 35. Bergdolt (Leib und Seele, 294) spricht von einem „geistigen Vakuum der Medizin“, das die Romantiker füllten.

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mit der Philosophie, eine „philosophische Durchdringung der Medizin“.231 Der Schlaf war Thema in den beiden großen Bereichen der zeitgenössischen Medizin: in der Physiologie und in der „Seelenkunde“. Für die naturphilosophisch arbeitenden Ärzte war der menschliche Organismus ein Abbild der Natur als Ganzes; sie bemühten sich um die Entwicklung allgemeiner Ideen, „nach denen die jeweiligen Einzelerfahrungen in den Gesamtplan einer werdenden Natur integriert werden konnten“.232 Joseph von Görres formulierte 1805 das grundlegende naturphilosophische Programm der Physiologie als „Organologie“: Die Aufgabe der Physiologie ist: die Projection des Weltbau’s in den Organism nachzuweisen, und die individuellen Lebensverhältnisse in die großen cosmischen zu übersetzen, damit die Anschauung die allgemeinen Beziehungen des Concreten auch hier ergreife, und licht und klar in den Gestirnen lese, was sich hienieden in die Dunkel des Erdenstoffes birgt.233

An die Stelle der Gesellschaft trat nach der Aufklärung auch und gerade im Schlafdiskurs der Kosmosbegriff der Naturphilosophen: Während in der Aufklärung das Menschsein noch als Aufgabe verstanden worden war, war es jetzt eine Naturgegebenheit. Neben „organologischen“ Einordnungen des Schlafs standen psychologische: Nach Philipp Franz von Walther war der Schlaf zu verstehen als die Hingebung des egoistischen Seyns in das allgemeine Leben des Naturgeistes, ein Zusammenfließen der besonderen Seele des Menschen mit der allgemeinen Naturseele.234

231 Dietrich von Engelhardt: Romantische Mediziner, in: Ders., Fritz Hartmann (Hgg.): Klassiker der Medizin, Bd. 2: Von Philippe Pinel bis Victor von Weizsäcker, München: Beck 1991, 95–118, hier 96. 232 Gerabek: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik, 27. 233 Joseph Görres: Exposition der Physiologie. Organologie. Koblenz: Lassaulx 1805, 1. Zu Görres in diesem Kontext: Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 99–100; Rothschuh: Naturphilosophisches Denken in der Romantischen Physiologie, in: Ders.: Physiologie, 191–203. Görres war wie die Brüder Grimm oder E.T.A. Hoffmann einer der Autoren der Hochromantik, siehe: Jaumann: Romantik, 360–361. 234 Philipp Franz von Walther: Physiologie des Menschen mit durchgängiger Rücksicht auf die comparative Physiologie des Menschen, Landshut: Philipp Krüll 1807–1808, 361. Zu Walther: Rothschuh: „Naturphilosophisches Denken in der Romantischen Physiologie“, in: Ders.: Physiologie, 191–203 sowie Konzepte der Medizin, 397–399; Wiesing: Kunst oder Wissenschaft, 244–255. Seine Formulierung findet sich noch spät im Zeitraum der romantischen Medizin (Moritz Hermann Strahl: Ueber Schlaf und Schlaflosigkeit für Aertze und Nicht=Aerzte, Berlin: Hayn 1834, 14; Jan: Der Schlaf [1836], 39; Fleck: Ueber Schlaf und Traum [1844], 5).

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Diese neue diskursive Positionierung des Schlafs ist bezeichnend für die Romantik als geistesgeschichtliche Epoche, die sich mehr für die Natur und das Seelenleben des Menschen interessierte als für allein rationalistisch angelegte Erklärungen physiologischer Abläufe. Zugleich wird bei Walther deutlich, wie unproblematisch sich das Thema Schlaf in das neue Körper- und Naturkonzept einfügte: Der Schlaf wurde in der Romantik weder als Joch problematisiert noch als Vergnügen gepriesen, sondern als eines von vielen Naturphänomenen auf allgemeine Ideen zurückgeführt.235 Zur argumentativen Verbindung von Natur und Kosmos mit der Menschennatur eignete sich der Schlaf gut, da er in einigen der romantischen Überbegriffe, allen voran der Periodizität (Tagesrhythmus) und der Polarität (Schlafen und Wachen – Nacht und Tag; Pflanzen- und Tierleben) aufging.236 Daher spielte das Thema in den Physiologien der Epoche eine fast gleichwertige Rolle wie etwa die Zeugung – mit dem Überbegriff der Reproduktion und Reproduktionskraft oder Entwicklung und Bildung –,237 obwohl die Reproduktion mit der Sensibilität und der Irritabilität die Basisbegriffe der Epoche bildete. Die Wiederherstellung der Kräfte blieb als Wiederherstellung der Lebenskraft und der Reizbarkeit weiterhin Thema im Schlafdiskurs, aber dieser Erklärungsansatz hatte weniger Gewicht als in der Aufklärung. Der Erholungseffekt des Schlafs war für die Romantiker mit dem weiteren Begriff der Bildung bereits ausreichend thematisiert.238 Dass der Schlaf nur beschrieben und in die Naturgeschichte eingeordnet, aber weiterhin nicht hinreichend erklärt werden konnte, war für die zeitgenössischen Philosophen und Physiologen sowie Seelenkundler, die meist mehr Interesse für Symptome als für Ursachen an den Tag legten,239 gerade Anlass,

235 Engelhardt betont, dass die „kosmologisch-anthropologische Orientierung“ alle medizinischen Detailbeiträge dominiert habe: Engelhardt: Romantische Mediziner, 110. 236 Zu letzterem: Ignaz Döllinger: Grundriß der Naturlehre des menschlichen Organismus. Bamberg/Würzburg: Jos. Anton Goebhardt 1805, 27: „Schlaf ist die zeitliche Trennung des Pflanzen- und Thierlebens“. Dies findet sich auch noch etwa bei Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831), 11: „Während des Schlafes findet gleichsam eine Ueberwältigung des Gehirns durch das Nervensystem des Unterleibes statt.“ 237 Walther: Physiologie (1807–1808), 67–80 („Von den Grundfunktionen des Lebens“). Der Entwicklungsgedanke geht auf Herder zurück (Leibbrand: Die spekulative Medizin der Romantik, 32). 238 Vgl. etwa: Karl Georg Neumann: Der Schlaf, eine physiologisch-pathologische Abhandlung, in: Abhandlungen der Physikalisch-Medicinischen Societät zu Erlangen, Nürnberg: Schrag 1810, 314–336. Zu Neumann: Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 62. 239 Leibbrand: Die spekulative Medizin der Romantik, 237.

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seine „widernatürlichen“240 Formen und „Zwischenzustände“241 zu ergründen. In dieser Hinsicht wurde das Projekt der Schlafdefinition im frühen 19. Jahrhundert durchaus weitergeführt, nämlich über eine erweiterte Diskussion von Abgrenzungen des „natürlichen“ Schlafs: von der Ohnmacht,242 vom Scheintod, von Somnambulie und Mesmerismus oder magnetischem Schlaf und vom Traum. Ein wesentlicher Anstoß für nunmehr holistischer orientierte medizinischphilosophische Themen wie den Schlaf kam aus dem Bereich der Anthropologie, der sich im 18. Jahrhundert neu herausbildete.243 Das Programm der Anthropologie formulierte der einflussreiche Mediziner und Philosoph Ernst Platner. Er plädierte 1772 in seiner wegweisenden, in Unzerscher Tradition stehenden und wissenschaftstheoretisch synthetisierenden „Anthropologie für Ärzte und Weltweise“:244 Wenn das Wachsthum der Arzneykunst nach den Zeiten des Hippocrates die Trennung derselben von der Philosophie, wie man sagt, nothwendig gemacht hat; so getraue ich mir zu behaupten, daß diese Wissenschaft durch ihr Wachsthum mehr ver240 Die Unterscheidung zwischen natürlichem und widernatürlichem Schlaf wird in den 1790er Jahren zuerst bei Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs (1791) aufgemacht sowie kurz darauf bei Davidson: Ueber den Schlaf (1796). Mit dem Begriff des Widernatürlichen (d.h. contra naturam) war im 18. Jahrhundert noch wesentlich die Krankheitsäußerung des Individuums gemeint, da das Pathologische noch eine andere Qualität, nicht einen graduellen Unterschied bedeutete (dazu Volker Hess: Messen und Zählen. Die Herstellung des normalen Menschen als Maß der Gesundheit, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 22 [1996], 266–280, hier 267–268). Hess bezieht sich hier auf Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische (München: Hanser 1974, franz. Original 1972). Dass die Begriffe des widernatürlichen Schlafs und die Zwischenzustände des Schlafs verschwammen, weist zum einen darauf hin, dass der Begriff des Pathologischen im Schlafdiskurs (noch) eine relativ geringe Rolle spielte, zum anderen auf das grundsätzliche, zeitgenössisch weiterhin ungelöste Definitionsproblem des Schlafs. 241 Diese Formulierung verwendeten etwa Jan: Der Schlaf (1844) oder Jakob: Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre (1791), 290. 242 Bei Unzer (Unzer: Gedancken vom Schlafe [1746], 23) ist die Ohnmacht „ein grösserer Grad [...] des Schlafs“. 243 Zur Anthropologie der Romantik bzw. im 18. Jahrhundert: Schweizer: Anthropologie der Romantik; Hans Erich Bödeker: Anthropologie, in: Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung, 38–39 sowie Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer 1989; Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Mensch und das Weib 1750–1850, München: dtv 1996 (Original Campus 1991). 244 Alexander Kosenina: Nachwort, in: Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise, 1. Teil, Hildesheim u. a.: Georg Olms 2000 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1772), 303–313. Biographie: Platner, Ernst, in: Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 470.

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loren als gewonnen hat. [...] Der Mensch ist weder Körper, noch Seele allein; er ist die Harmonie von beyden, und der Arzt darf sich, wie mir dünkt eben so wenig auf jene einschränken, als der Moralist auf diese.245

Obgleich die Romantik, als geisteswissenschaftliche Epoche, bekannt ist für ihr Interesse am Irrationalen, am „Anderen der Vernunft“246 und für ihre Bereitschaft zur Spekulation, bedeutete der anthropologische Ansatz nach Platner doch das Bemühen um einen empirischen Zugang gerade auch zu den „Seelenthätigkeiten“.247 Unter dem Begriff der „Erfahrungsseelenkunde“ begann sich seit den 1770er/80er Jahren eine frühe Form der Psychologie als Wissenschaft herauszubilden. Ihr bekanntestes Organ wurde umgehend das von Karl Philipp Moritz herausgegebene „Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde“, das von 1783 bis 1793 erschien. Das Magazin war eine Zusammenstellung von Erfahrungsberichten, die die Frage nach der Rolle von äußeren und inneren Einflüssen auf den Menschen unter Kategorien wie „Seelennatur“ oder „Seelengesundheit“ und „Seelenkrankheit“ thematisierten und von denen sich ein beträchtlicher Teil mit dem Phänomen des Träumens befasste.248 Das zeitgenössische anthropologische Interesse am Traum beruhte auf seiner Definition als Mittelzustand zwischen Körper- und „Seelenthätigkeit“, zwischen Schlafen (als physiologischem Zustand) und Wachen (als Zustand, der vom Bewusstsein gekennzeichnet ist).249 Träume waren weiterhin überwiegend der Effekt von im „unvollkommenen Schlaf“ (Unzer) wirkenden inneren oder äußeren Reizen 245 Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772), V–VI. Zu Platners Anthropologie detailliert: Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch, 172–223. 246 Doris Kaufmann: Träume als wissenschaftliches Objekt. Bürgerliche Selbstverständigungsprozesse im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Michael Grüttner, Rüdiger Hachtmann, Heinz-Gerhard Haupt (Hgg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt am Main: Campus 1999, 75–94, hier 76. 247 Vgl. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, insbesondere 109. 248 Dazu einführend: Müller: Aufklärung, 102. Zum Programm des Magazins: Kaufmann: Träume als wissenschaftliches Objekt, insbesondere 77. Karl Philipp Moritz (Hg.): Gnothi Sauton oder Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Nördlingen: Greno Neuausgabe 1986; Werner Obermeit: „Das unsichtbare Ding, das Seele heißt“. Die Entdeckung der Psyche im bürgerlichen Zeitalter, Frankfurt am Main: Syndikat, 1980, 61–69. 249 Vgl. Jutta Heinz: Mechanical association of ideas or „games of dice“ of the soul? Anthropological concepts of the dream in the late Enlightenment, in: Bernhard Dieterle, Manfred Engel (Hgg.): The dream and the Enlightenment (International Eighteenth Century Studies 7), Paris: Honoré Champion 2003, 98–103. Die Autorin nähert sich dem Thema auf der Grundlage von anthropologischen Quellen wie Platner und Zimmermann und kommt zu der gleichen Positionierung des Traums, die man auch anhand der Schlaftraktate erhält.

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und somit von einer unwillkürlichen Aktivität der Seelenkräfte, insbesondere Vernunft und Verstand, beziehungsweise der „Einbildungskraft“250 oder Phantasie.251 Der Traum wurde auch als „Störer des Schlafes“ bezeichnet.252 Humoralpathologische Erklärungsansätze oder Vorstellungen von divinatorischen Träumen dagegen wurden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts weitgehend abgelehnt.253 Die aufgeklärten und romantischen Schlaftheorien „unterstreichen“ damit „die Bedeutung des Traums als konstitutives wissenschaftliches Objekt bei der Entwicklung von Erklärungsmodellen für die innere menschliche Natur“.254 Wie die Seele auf den Körper einwirken kann, ließ sich mit dem Phänomen des Schlafwandelns verdeutlichen. Im „Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde“ wurde das Nachtwandeln in drei Fortsetzungen thematisiert und mit Beispielen aus der europäischen Literatur anschaulich ausgeführt. Danach handelt es sich dabei um eine „Art wachender Traum“, wobei die Seele „mit einer größern Ordnung, als gewöhnlich im Traume zu Werke geht, weil nicht die Einbildungskraft allein die Sensation der Seele beim Nachtwandeln aneinander reihet.“255 Diese Argumentation fand sich schon zur Jahrhundertmitte; allerdings ging man zu Zedlers Zeit noch von humoralpathologischen Prämissen aus.256 Die 250 Peter-André Alt: Der Schlaf der Vernunft. Traum und Traumtheorie in der europäischen Aufklärung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 25 (2001), 55–82, hier 60–61: Der Begriff der Einbildungskraft, der sich auch durch den Schlafdiskurs zieht, sogar über das von Alt als Rahmen gegebene 18. Jahrhundert hinaus, geht auf Christian Wolffs „Deutsche Metaphysik“ zurück. Alt geht des Weiteren auf Unzer ein (66–67). Zur Weiterentwicklung der Traumtheorien differenziert: Kaufmann: Träume als wissenschaftliches Objekt, 84–88. 251 Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs (1791), 150; Hildebrandt, Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf (1788), 152. 252 Wildberg: Handbuch der Diätetik (1828), 303. 253 Göttliche Inspiration im Traum wird im Magazin abgetan als „lächerliche Einbildung“, der „vernünftige Seelennaturforscher“ solle den Traum stattdessen als „bloßes Naturphänomen“ betrachten: Artikel „Psychologische Bemerkungen über Träume und Nachtwandler“, Teil 1, Bd. 6 (1786), 232–341, hier 232. In Teil 2, Bd. 7.1. (1789), 58–95, hier 65, findet sich eine klare Absage an humoralpathologische Erklärungen des Nachtwandelns. Zur Überwindung der Nervensafttheorie im Traumdiskurs: Alt: Der Schlaf der Vernunft, 66–67. Zur Seele in der Romantik einführend: Jochen Hörisch: Die Romantische Seele, in: Jüttemann: Die Seele, 258–266. 254 Kaufmann: Träume als wissenschaftliches Objekt, 83. 255 Moritz (Hg.): Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde, Bd. 2 (1784), 65–66. Nudow (Versuch einer Theorie des Schlafs, 1791) und Davidson (Ueber den Schlaf, 1796) verstehen das Nachtwandeln als Zwischenzustand: 154 bzw. 87. 256 Georg Friedrich Meier: Versuch einer Erklärung des Nachtwandelns, Halle: Hemmerde 1758. Bei Meier liegt der Unterschied zum Traum außerdem darin, dass die „Begehrungskraft“ geweckt wurde. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Artikel „Mond-

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3 Tabellarische Abgrenzung von Schlaf und Wachen, 1821

Temperamente dagegen behaupteten sich genau wie im Hygienediskurs hier noch länger: Der „Traumwandler“ in Jakobs Seelenlehre ist demnach bevorzugt der cholerisch oder melancholisch veranlagte junge Mann, der zudem „starke Affecte“ und „hitziges Blut“ aufweist.257 Innerhalb der Fülle von Beispielen im Magazin wurden einige der im 18. Jahrhundert verfügbaren Somnambulismus-Topoi tradiert, etwa die Beobachtung von Schlafwandlern, die furchtlos über Hausdächer spazieren, weil sie sich der Gefahr nicht bewusst sind.258 Trotz des großen Interesses an diesem Thema, das sich genau wie der Traum auch in vielen Schlaftraktaten niederschlug, wurde es nicht wesentlich weiterentwickelt, so dass 1821 der Mediziner Friedrich Buchholz in seiner Darstellung „Ueber den Schlaf und die verschiedenen Zustände desselben“ nicht mehr Erkenntnisse zur Hand hatte als für eine Gegenüberstellung verschiedener Erfahrungswerte über den „Zustand des

süchtige, Nacht-Gänger, Nacht-Wanderer, Lunaticus, Noctambulo, [...] Somnambulus“, Bd. 21 (1739), 1110–1111. Hier wird auch die Unzurechnungsfähigkeit im Falle von Straftaten während des Schlafwandelns thematisiert. 257 Jakob: Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre (1791), 293. Ebenso Jan: Der Schlaf (1836), 78–84. 258 Auf diese beruft sich auch Davidson so selbstverständlich (Ueber den Schlaf, 70–91), dass er teils nur andeutungsweise darauf verweist mit der Begründung, sie seien „zu bekannt, als daß ich nöthig hätte, sie zu erzählen“ (84).

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Schlafwachens“ und „des Schlafs im Normal=Zustande“ und das Wachen hinreichten. Hierfür bemühte der Autor die üblichen Kriterien wie Bewusstsein, Verstand und Wille (Abb. 3).259 Eine weitere konzeptuelle Einkreisung des Schlafs erfolgte mittels der Abgrenzung des Todes – des ewigen Schlafs – von anderen Formen der Bewusstlosigkeit. Um 1800 war der Scheintod ein Modethema.260 Die aufgeklärte Gesellschaft thematisierte das Leben, den Tod und die dazwischenliegende Grenze öffentlich, wie beispielsweise auch das enorme Interesse an Frankensteins Monster deutlich macht.261 In der Sprache der reiztheoretischen Makrobiotiker war der Zusammenhang von Schlaf und Tod klar benennbar: „Ohne den Schlaf könnte [...] das Leben schlechterdings nicht von langer Dauer seyn, weil die gewöhnlichen Reizmittel bald keine Reizmittel für den Körper seyn würden.“262 Nicht zuletzt Hufeland selbst publizierte ausführlich zu diesem „Mittelzustand zwischen Leben und Tod“.263 Die wissenschaftliche Problematik und zugleich der makabre Reiz des Themas lagen in der Definition des Todes. Wenn, wie man seit Hallers Experimenten wusste, tote Organe noch reizbar waren, musste ein eindeutiges Kriterium für den Eintritt des Todes festgelegt werden. Dass man sich mit Hufeland auf die Fäulnis einigte, zeigte sich in der Einführung von Leichenhäusern, womit der umgreifenden Furcht entgegengewirkt wurde, 259 Friedrich Buchholz: Ueber den Schlaf und die verschiedenen Zustände desselben, mit einem Vorwort vom Herrn Doctor Hufeland, Berlin: Schlesingersche Buch- und Musikhandlung 1821. Zum Autor: Callisen: Medicinisches Schriftsteller-Lexicon, Bd. 3 (1830), 273. 260 Gerlinde Rüve versteht den Scheintod sogar als ein Schlüsselphänomen der Zeit um 1800, in der im Kontext der Verwissenschaftlichung und Säkularisierung des Körperverständnisses und einer Verlagerung der Sinnstiftung auf das Diesseits die heilsgeschichtlichen Erwartungen grundlegend erschüttert wurden. Die Wissenschaft hat, so argumentiert sie, rasch neue Umgangsmuster mit dem Phänomen Tod bereitgestellt (Gerlind Rüve: Scheintod. Zur kulturellen Bedeutung der Schwelle zwischen Leben und Tod um 1800, Bielefeld: transcript 2008). 261 Mary Wollstonecraft Shelley: Frankenstein or The modern Prometheus, London: Lackington u.a. 1818. Zum Kontext: Michel Delon: Konzepte der Medizin, in: Horst Albert Glaser, György M. Vajda (Hgg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820, Amsterdam u.a.: J. Benjamins 2001, 293–303, hier 296. Zur Rezeption: Sven Ortoli, Nicolas Witkowski: Die Badewanne des Archimedes. Berühmte Legenden aus der Wissenschaft, München/Zürich: Piper 1997, 55–63. 262 Vogel, Diätetisches Lexikon (1801), 149. 263 Christoph Wilhelm Hufeland: Über die Ungewissheit des Todes und das einzige untrügliche Mittel, sich von seiner Wirklichkeit zu überzeugen, und das Lebendigbegraben unmöglich zu machen, Weimar: Glüsing; 1791; hier zitiert: Ders.: Der Scheintod oder Sammlung der wichtigen Thatsachen und Bemerkungen darüber in alphabetischer Ordnung, Berlin: Matzdorff 1808, 170.

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lebendig, also zum Beispiel ohnmächtig, begraben zu werden. Im 19. Jahrhundert wurde gesetzlich festgeschrieben, dass Tote vor ihrer Beerdigung drei Tage lang aufgebahrt werden mussten.264 Ein dem Schlaf nicht nur dem Namen nach ähnlicher, ebenfalls schwer fassbarer und zeitweilig stark umstrittener Zwischenzustand war der magnetische Schlaf. Der „animalische Magnetismus“ des Arztes Franz Anton Mesmer war eine der späteren Hypnose vergleichbare Heilmethode aus dem mittleren 18. Jahrhundert, die auf der Annahme beruhte, dass der Organismus von einem von der Schwerkraft bestimmten „Fluidum“ beeinflusst sei. Mit Magneten, im Falle Mesmers selbst auch mit der bloßen Hand, erzeugte der Magnetiseur augenscheinlich eine Art Trancezustand, den magnetischen Somnambulismus. Die Verbindung mit dem Patienten oder der Patientin – das typische „Medium“ war eine bleichsüchtige Frau – nannte man dabei „Rapport“. Selbstdiagnosen sowie Hellsehen, „Clairvoyance“, wurden im magnetischen Schlaf für möglich gehalten. Der nie unumstrittene „Mesmerismus“ erfreute sich nach einem Abflauen des Interesses erneut großer Faszination im Zeitraum zwischen 1790 und 1810. Die romantische Begeisterung für dieses provozierende Produkt der Aufklärung liegt wie im Falle der Reiztheorie in der zugrundeliegenden Ganzheitlichkeit und dem Polaritätsdenken sowie in der Tatsache, dass mit dem Magnetismus eine geheimnisvolle Naturkraft an Werke war. Im Schlafdiskurs wurde

264 Hufeland: Der Scheintod, 290 und 300; Neumann: Christoph Wilhelm Hufeland, 343. Martina Kessel: Die Angst vor dem Scheintod im 18. Jahrhundert. Körper und Seele zwischen Religion, Magie und Wissenschaft, in: Thomas Schlich, Claudia Wiesemann (Hgg.): Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, Frankfurt am Main: suhrkamp 2001, 133–166. Kessel stellt eine zögerliche Akzeptanz dieser Neuerungen heraus, die mit dem früheren Aufbahrungsbräuchen erklärt werden kann. Damit steht die Scheintoddebatte im weiteren Kontext von Dechristianisierung und Professionalisierung. Delon bemerkt – was auf den Schlaf übertragbar ist: „Das Begriffspaar Leben und Tod in Frage zu stellen, bedeutete auch den Dualismus von Leib und Seele, das Fundament religiösen Denkens, zu verwischen.“ (Delon: Konzepte der Medizin, 301). Stefan Haas: Der Experte und die Verwaltung des Todes. Symbolische und mediale Strategien medizinischer Entscheidungsexperten und administrativer Implementationsexperten am Beispiel des Diskurses über den Scheintod im frühen 19. Jahrhundert, in: Eric. J. Engstrom, Volker Hess, Ulrike Thoms (Hgg.): Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2005, 147–165 bzw. Ders.: Die Unordnung der toten Körper. Diskursive und organisationstechnische Praktiken der Bändigung des Scheintods im Übergang zur Moderne, in: Andreas Bähr (Hg.): Grenzen der Aufklärung. Körperkonstruktionen und die Tötung des Körpers im Übergang zur Moderne (Aufklärung und Moderne 7), Laatzen: Wehrhahn 2005, 125–150.

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der Mesmerismus unterschiedlich beurteilt; nie jedoch bezeichnete man den magnetischen Schlaf als natürlichen Schlaf. 265 Beides, der universale Einfluss der Natur auf den Schlaf und das Denken in polaren Gegensätzen, war für die naturphilosophischen Ärzte so selbstverständlich, dass 1818 in Erlangen ein Arzt mit einer Schlaftheorie promoviert wurde, nach der das Einschlafen durch eine Art Explosion verursacht werde, mit der sich positive und negative elektrische Ladung des Gehirns ausgleiche.266 Auch eine Erklärung des Schlafens und Wachens aus dem Gegensatz von Licht und Schwere, die sich im Organismus als Gegensatz von Irritabilität und Reproduktion manifestiere, war nicht ausgeschlossen.267 Generell war um 1800 die physiologisch-psychologische Argumentation mit Elektrizität und Magnetismus in Schlaferklärungen durchaus möglich und anerkannt. So beschreibt etwa der Platnerschüler und bekannte Mediziner und Philosoph Johann Christian August Heinroth in seinem „Lehrbuch der Anthropologie“ von 1822 den Schlaf als Ansammeln von Elektrizität und zugleich als lebensmagnetischen Zustand, in dem die Kraft aus sich selbst generiert wird.268 Die inhärente Periodizität des Schlafes schließlich war es, die ihn so problemlos in der naturphilosophisch-romantischen Medizin aufgehen ließ. Burdach handelt den Schlaf, gemeinsam mit dem Traum, in seiner „Physiologie“ unter „Periodicität“ – „Täglicher Umlauf“ ab.269 Gegenüber dem Periodizitäts265 Zum Mesmerismus: Robert Darnton: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, München/Wien: Carl Hanser 1983 (franz. Original 1968). Für Deutschland: Diethart Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn/München: Ferdinand Schöningh, 2002, 131–145; Nils Freytag: Praxis zwischen „Wissenschaft“ und „Aberglauben“. Animalischer Magnetismus in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Medizin in Geschichte und Gesellschaft 15 (1996), 141–166; Heinz Schott: Die magnetische Heilmethode mit wissenschaftlichem Anspruch. Franz Anton Mesmers „thierischer Magnetismus“, in: Schott (Hg.): Meilensteine der Medizin, 250–264. 266 Johann Ziel: De somno dissertatio inauguralis physiologica, Diss. med. Erlangen 1818. Zur Schlaftheorie siehe: Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 64. Wilhelm Fick in Elberfeld: Über den Schlaf (Pädagogisches Magazin 90), Langensalza: Hermann Beyer und Söhne, 1897, 39. Zur Entwicklung der Elektrizitätslehre (v.a. durch die Italiener Aloisius Galvani und Alessandro Volta): Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 87–89. 267 So der prominente romantische Mediziner Ignaz Troxler. Zu seiner Theorie: Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 62. Die Theorie wurde hier wiedergegeben nach Neumann: Der Schlaf (1810), 329. Biographie: Dietrich von Engelhardt: Troxler, Ignaz Paul Vitalis, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 2, 635. 268 Schweizer: Anthropologie der Romantik, 273–276. 269 Burdach: Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft, Bd. 3 (1830), 447–500.

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prinzip spielte der in der Naturphilosophie ansonsten so prominente Bildungsund Entwicklungsgedanke in Bezug auf den Schlaf eine vergleichsweise geringe Rolle. Zwar wurde das Schlafverhalten des nord- und mitteleuropäischen Menschen immer wieder thematisiert und als zivilisierter als das der Einwohner wärmerer Klimazonen beurteilt. Auch wurde der Schlaf des Menschen häufig mit Beobachtungen des Schlafs der Tiere verglichen (Schlafverhalten, -dauer, Instinktverhalten beim Schlafwandeln)270, wobei der Mensch als höher entwickeltes „Thier“ vorgestellt wurde, so etwa in einem Ratgeber von 1824: Je niedriger die Geschöpfe stehen, desto mehr schlafen sie, aber desto weniger richten sie sich dabei nach dem Tageswechsel, je höher sie aber stehen und je vollkommener sie sind, desto mehr aber wählen sie dazu die Nachthälfte des Tages.271

Unter romantischen Vorzeichen wird hier der Schlaf des Menschen von dem der Pflanzen und Tiere hergeleitet und der Blick auf die Natur der Erde gelenkt, was zu folgender Beurteilung der „Bewohner der südlichen Halbkugel“ führt, die der nördlichen nachstehe: Diese Unvollkommenheiten müssen auch den größten Einfluß auf ihre Bewohner haben. Ihre ursprünglichen Einwohner (Neuholland, Südamerika) stehen auf der tiefsten Stufe der Cultur und sind einer Veredelung kaum fähig. Die die Südhälfte der Erde bewohnenden Landthiere sind kleiner und stehen an Zahl und Mannichfaltigkeit denen der Nordhälfte nach.272

Aber weder die Wiederherstellung der tagsüber verlorenen Kräfte noch etwa die Bedeutung des Schlafs für die Entwicklung und das Wachstum während der Kindheit kamen an den Stellenwert des Periodizitätsbegriffs heran. Unzer hatte im 18. Jahrhundert postuliert, der Schlaf des Ungeborenen sei vollkommen, nehme mit dem Alter aber immer mehr ab.273 Dies wurde in der Romantik aufgegriffen und differenziert: Der Schlaf ist [...] eine Rückkehr zum Zustande des Embryo, oder zu dem Urzustande, wo das Leben noch als Allgemeines waltet, und mit seiner leiblichen Verwirklichung beschäftigt ist, wo die Seele noch nicht als Individualität sich herausgehoben. Die Seele vermag aber nicht völlig zu ihrem Urzustande zurückzukehren [...], der Schlaf

270 Letzteres: Gräfe (Hg.): Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Artikel „Schlaf“ (1843), 401. 271 Friedrich Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit. Wie kann man diesen Übeln vorbeugen und abhelfen? Nebst Betrachtungen über den Schlaf überhaupt. Eine Schrift für alle Diejenigen, welche an Schlaflosigkeit leiden, Quedlinburg/Leipzig: Gottfried Basse 1824, 9. 272 Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit (1824), 5. 273 Unzer: Gedancken vom Schlafe (1746), 26.

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nähert sich daher mehr dem spätern Leben des Embryo, wo schon Gemeingefühl und Bewegungstrieb sich regen, ohne auch dieses zu erreichen.274

Die Beobachtung des direkten Zusammenhangs von Alter und Schlafbedürfnis und insbesondere die daraus ableitbaren Diätetikregeln waren aber für die Naturphilosophen nicht von vorrangigem Interesse.275 Der Schlaf war in erster Linie die „periodische Erschöpfung der Erregbarkeit“:276 Aus der Erfahrung aller Zeiten ergiebt sich, dass diese periodische Abwechselung des Wachens und des Schlafs der Natur nach mit der Umdrehung der Erde um ihre Achse ein gewisses Verhältnis beobachtet, so dass die Ruhe des thierischen Lebens am vollständigsten und die Restauration der Kräfte durch dieselbe am vollkommensten in der Nacht geschiehet, also der Schlaf seine ihm vom Schöpfer angewiesene Bestimmung am vollkommensten in der Nacht erfüllt. 277

Weil der Schlaf für die Naturbestimmung des Menschen und das Periodische in der Menschennatur, also für den zyklischen Charakter der Natur stand, repräsentierte er das antimoderne Element, das die Romantiker dem fortschrittsgläubigen und grundlegend teleologisch konzipierten Projekt der Aufklärung am Beginn des 19. Jahrhunderts als dem Jahrhundert der Modernisierung und der Rationalisierung von Lebens- und Arbeitswelt entgegen setzten.278 In der Romantik wurde der Schlaf zum letzten Mal, als ein Naturgesetz, einfach hingenommen. Oder er wurde sogar zum Anlass genommen, wortreich den Kosmos- und Lebensbegriff der Naturphilosophen darzulegen, wie es ein preußischer Arzt in seinem umfangreichen, zweibändigen „Versuch einer Physiologie des Schlafes [...] in Verbindung mit der ganzen Natur“279 unternahm, der das aussa274 Karl Friedrich Burdach: Anthropologie für das gebildete Publikum, Stuttgart: Ad. Becher 2 1847 (11837), 586. Vgl. auch Georg Friedrich Most: Der Mensch in den ersten sieben Lebensjahren oder Anweisung zur richtigen körperlichen und geistigen Erziehung der Kinder für Eltern und Erzieher, Leipzig: Hartmann 1828, 73. 275 Klima und Alter waren so verbreitete Elemente des Schlafdiskurses, dass sie nicht spezieller belegt werden. 276 Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit (1824), 32. 277 Wildberg: Handbuch der Diätetik (1828), 303. 278 Besonders deutlich wird die antimoderne Orientierung der Romantik in der Literatur, die tendenziell die Träume und die Poesie über die Vernunft und die Wissenschaften stellte, vgl. Jaumann: Romantik, 360. 279 Ernst Ludwig Heinrich Lebenheim: Versuch einer Physiologie des Schlafes, Leipzig: Industrie=Comptoire, 2 Bde. 1823–1827 bzw. 1824 (eigentlich o. J., die Datierungen variieren in den Staatsbibliotheken), Bd. 1, VIII. Zum Autor: Callisen: Medicinisches Schriftsteller-Lexicon, Bd. 11 (1832), 165, wo aber vor allem eine Publikationsliste zu finden ist.

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gekräftigste romantische Schlaftraktat sein dürfte. Ernst Ludwig Heinrich Lebenheim war keine große Figur seiner Zeit, und seine Ausführungen sind allenfalls als populärphilosophisch zu bezeichnen. Der Kreisphysikus in Breslau und Trebnitz bediente sich der Naturphilosophie mit dem Schlafthema als Aufhänger, auf das er im ersten Band eigentlich noch gar nicht zu sprechen kommt, weil zunächst der gesamte Kosmos der Natur abgehandelt sein will. Den zweiten Band, der sich schließlich dem Menschen widmet, beginnt er mit Adam und Eva, deren Sündenfall als eine Abwendung von der Natur interpretiert wird. Der Schlaf als das „Einsseyn mit der gesammten Natur“, des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos, wird im Rahmen des „Lebensprincips“ gefasst, das aus dem nutritiven, dem irritablen und dem sensitiven Element besteht.280 Anschließend greift der Autor oberflächlich auf den üblichen diätetischen Wissensbestand zurück. An Lebenheim und anderen Gelegenheitsautoren auch der 1820er und 1830er und sogar noch der 1840er Jahre, die weder der Physiologie oder der Psychologie noch der Philosophie zuzurechnen sind, wird deutlich, dass sich das romantische Paradigma im Schlafdiskurs über den Höhepunkt der naturphilosophisch orientierten Epoche der Medizingeschichte (bis ca. 1815/1820) und die Phase der erfahrungsseelenkundlich angelegten Anthropologie (bis ca. 1835) hinaus hielt.281 Spätestens mit dem Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts kam es zu einem deutlich bemerkbaren Theorievakuum auch im Schlafdiskurs. Der Schlaf hatte sich in das naturphilosophische Welt- und Menschenbild vielleicht doch zu glatt eingefügt, als dass mit dem nächsten Verwissenschaftlichungsschub der Naturwissenschaften um die Jahrhundertmitte, allen voran der Physik und der Chemie, nicht wieder um neue Schlaferklärungen gerungen werden sollte. Die nachfolgenden Wissenschaftlergenerationen ignorierten den romantischen Zugriff oder verurteilten ihn als „naturphilosophische Phantasieen“.282 280 Lebenheim: Versuch einer Physiologie des Schlafes, 146–147. 281 In unterschiedlichen Kontexten war das romantische Schlafverständnis noch um 1830/1840 selbstverständlich. Deutliche Beispiele sind Beneke: Aphorismen über das Verhältnis zwischen Wachen und Schlaf (1831) (Der Philosoph und Psychologe argumentiert v.a. mit der Polarität und der Reiztheorie. Zum Autor: v. Hertling: Beneke, Friedrich, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften [Hg.]: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 2 [1875], 327–329); Fr. Fischer: Ueber den Schlaf. Einladung zur Promotionsfeier des Pädagogiums, Basel: Schweighauser 1839 oder Gotthilf Heinrich von Schubert: Die Geschichte der Seele, Stuttgart/Tübingen: J. G. Cotta 31839, 238–256. 282 Hier Fick: Über den Schlaf (1897), 38. Zur zeitgenössischen Kritik, d.h. ab etwa 1815, siehe: Dietrich von Engelhardt: Wissenschaft und Philosophie der Natur um 1800. Prinzipien, Dimensionen, Perspektiven, in: Kai Torsten Kanz: Philosophie des Organischen in der Goethezeit. Studien zu Werk und Wirkung des Naturforschers Carl Friedrich Kielmeyer (1765–1844), Stuttgart: Steiner 1994, 252–269, hier 267–268.

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Schlaftheorien zwischen Erfahrung und Experiment. Kriterien der Wissenschaftlichkeit zwischen 1750 und 1850

Als glaubhaft nach den jeweils gültigen Kriterien musste sich ausweisen können, wer Ratgeber verkaufen wollte oder in anderen Textgattungen wissenschaftlich ernstzunehmende Aussagen über den Schlaf machen wollte – dies galt schon lange vor der institutionalisierten Schlafmedizin des 20. Jahrhunderts. Der Verweis auf die akademischen Errungenschaften und gesellschaftliche Position des Autors, die, was im Verlauf des 19. Jahrhunderts deutlich zunahm, gern auf den Titelblättern angeführt wurden, reichte dafür nicht aus: Der jeweilige Begriff davon, was Schlaf sein konnte und wie man mit ihm umzugehen hatte, musste für die Rezipienten inhaltlich schlüssig sein. Als schwierigste Aufgabe stellte sich dabei im gesamten Untersuchungszeitraum der Umgang mit neuen Elementen im Schlafdiskurs heraus, der stark in der Diätetiktradition verwurzelt war. Die historische Diskursanalyse legt ein methodisches Vorgehen nahe, nach dem darauf fokussiert wird, was in einer historischen Wissensformation ungedacht oder undenkbar war; dies schafft die Voraussetzungen dafür, Möglichkeiten der Integration von Neuerungen zu beschreiben.283 Für die Fragestellungen einer Geschichte des Schlafdiskurses bietet dieser Zugang die Möglichkeit, Randgebiete des Diskurses in den Vordergrund zu stellen: So fällt zum Beispiel auf, dass die unheimlichen Seiten des Schlafs, der von Kontrollverlust gekennzeichnet ist, in der wissenschaftlichen Problematisierung kaum thematisiert werden. Diesen Bereich überlassen die betreffenden Autoren der Dichtung und der Erbauungsliteratur.284 An der Grenze zur Unwissenschaftlichkeit – nach den damals aktuellen Kriterien – bewegten sich im 18. und 19. Jahrhundert verschiedene Schlafauffassungen oder Theorien, die von Zeitgenossen oder der wissenschaftlichen Nachwelt kritisiert wurden. Ein Beispiel dafür ist die Bewusstlosigkeit, die durch Schlafmittel erzeugt werden kann: Sie galt nie einhellig als „echter“ Schlaf. Ein anderes Beispiel ist der magnetisierte Zustand. Nicht nur seine teilweise anzutreffende zeitgenössische Definition als Schlaf, auch das immer wieder als pseudowissenschaftlich verurteilte Umfeld der Magnetiseure war Gegenstand zeitgenössischer und späterer Kritik. In erster Linie führt aber die Frage, was die Kriterien der Wissenschaftlichkeit in der Auseinandersetzung mit dem Schlaf waren, zum positiven Begriff der Erfahrung, der die Traditionslastigkeit des Diskurses besonders deutlich erken283 Arne Klawitter: Die Kategorie des Neuen aus wissensarchäologischer Perspektive, in: Franz X. Eder (Hg.): Historische Diskursanalysen. Genealogie, 151–170, v.a. 159. 284 Eine mentalitätshistorische Studie, die etwa die Übergangsriten zwischen Wachen und Schlaf analysiert, steht noch aus.

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nen lässt. Den gemeinsamen Erfahrungshorizont mit ihren Lesern stellten die Schlafautoren häufig durch rhetorische Rückgriffe auf Topoi sicher – vor allem Binsenweisheiten wie etwa die Feststellung, dass Müller beim Klappern ihrer Mühle schlafen oder dass zu wenig Schlaf schadet. Diese Topoi, die zudem auch für ein hohes Maß an Intertextualität im Ratgebergenre stehen, waren ein synchron und diachron gemeinsamer Argumentationsfundus für den Umgang mit dem Schlaf als einem wissenschaftlich nicht ausreichend gefassten Phänomen. Nach dem Beginn einer Lösung des Schlafbegriffs aus der Humoralpathologie im 19. Jahrhundert nahmen ihre Stelle die jeweils gültigen Großdiskurse des betreffenden Faches ein, beispielsweise die lokalistische Physiologie ab etwa 1850. Zur dieser Zeit begannen auch Experimente eine Rolle für den Ausweis der Wissenschaftlichkeit zu spielen. Eine wesentliche Entwicklung der Medizin im 18. Jahrhundert war die Ablösung der Humoralpathologie durch das Nervenparadigma. Die mit der Humoralpathologie entstandene Argumentation mit Temperamenten oder Charaktereigenschaften hielt sich dabei deutlich länger als die Säftelehre im engeren Sinn, wie sie etwa bei der aristotelischen Schlaftheorie zur Anwendung gekommen war. Die medizintheoretische Ablösung von der Humoralpathologie war im Schlafdiskurs gekennzeichnet durch den Übergang von der Säftelehre zu einer Kräftelehre. Der neue Zugang verschwamm dabei allerdings vielfach mit dem alten humoralpathologischen Paradigma, was damit einherging, dass die Weiterentwicklung des spiritus animalis zur Lebenskraft keinen qualitativen Umbruch darstellte – die Konzepte unterschieden sich nicht wesentlich in ihrem Erklärungspotential. Wie die Integration von traditionellen Diätetikelementen sogar in vielen naturphilosophisch eingefärbten Thematisierungen des Schlafs belegt, erwies sich der Schlafdiskurs zu einem gewissen Teil als resistent gegen oder unabhängig von wissenschaftlichen oder wissenschaftstheoretischen Innovationen. Trotzdem entwickelte er zwischen etwa 1750 und 1850 einen zunehmenden Bedarf an neuen Kriterien der Wissenschaftlichkeit heraus, die dann gegen Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt eingeklagt wurden. 1836, in der Phase der wissenschaftlichen Ernüchterung nach der Romantik, fasste ein Arzt in der Einleitung seiner ganz dem Schlaf gewidmeten Dissertation treffend zusammen, dass und warum sein Gegenstand noch immer nicht erklärt werden konnte – ein Defizit, gegen das er selbst auch nichts ausrichten sollte: Dass [...] der Schlaf noch so vieles Räthselhafte darbietet, dazu haben besonders folgende Umstände beigetragen: 1. Die zu geringe Kenntnis der Thierseele und ihrer Angränzung der, von der Leiblichkeit losgerisseneren, individuell gewordenen menschlichen Psyche; 2. unsere zu wenig genaue Kenntnis des Uebergangs und der Wechselwirkungen des physischen mit dem psychischen Princip in uns selbst; und

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3. die wenigen objectiven Erscheinungen, die der Schlafende darbietet, während die subjektiven durch die gebrochene Willenskraft der näheren Untersuchung entzogen sind.285

Der Autor wies damit auf die entscheidenden theoretischen Probleme des Schlafdiskurses hin, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten vorgegeben worden waren. Diese umfassten insbesondere das ungeklärte Verhältnis zwischen dem Körper und der nicht hinreichend definierten Seele und das Problem, den Schlaf nicht mit Methoden untersuchen zu können, die über die bloße Beobachtung einer schlafenden Person oder die eigene Wahrnehmung des Einschlafens und Aufwachens hinausgehen. Wenn auch keine Lösung, so bestand doch eine Weiterentwicklung in den kommenden Jahrzehnten in der zunehmenden, allerdings immer nur bedingten Aufspaltung der physiologischen und psychologischen Forschung und in neuen Methoden der „näheren Untersuchung“ des rätselhaften Phänomens: Während philosophische Fragen an Stellenwert verloren, gingen in den Schlafdiskurs mit der Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt Experimente ein. Der wissenschaftstheoretische Zugang zum Schlaf, der bis dahin zwischen den teilweise neu entstehenden wissenschaftlichen Disziplinen verhandelt wurde, veränderte sich mit der Wissenschaftslandschaft bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Die grobe Entwicklungslinie bewegte sich von den Materialisten-Physiologen (Descartes) über die Anthropologen-Seelenkundler (Unzer bis Moritz) zu den Naturphilosophen-Physiologen (vor allem Burdach).286 Daneben und mit großem inhaltlichem Einfluss auf diese Entwicklung bestand die Hygienetradition fort, die älter war und überwiegend Erfahrungswissen beinhaltete.287 Erfahrungswissen galt als Grundlage der Medizin als Wissenschaft und insbesondere auch des Schlafdiskurses.288 Daher untermauerte man insbe285 Jan: Der Schlaf (1836), 8. 286 Zum Erfahrungsbegriff der Seelenkundler detaillierter: Carsten Zelle: Experiment, experience and observation in eighteenth-century anthropology and psychology. The examples of Krüger’s Experimentalseelenlehre and Moritz’ Erfahrungsseelenkunde, in: Orbis Litterarum 56 (2001), 93–105. 287 Zum speziell physiologiehistorischen Kontext siehe: Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 68–69. Zu den Begriffen der Erkenntnis und der Erfahrung siehe die einführenden Artikel von Helmut Holzey in: Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung, 103–104 und 104–106. 288 Vgl. Lohff: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit, 72. Burdach nannte beispielsweise seine Physiologie „Erfahrungswissenschaft“; diese gründete er auf Empirie und Spekulation, so Lammel: Nosologische und therapeutische Konzeptionen in der romantischen Medizin, 95 und 117–119. Richard Toellner konstatiert, dass sich die Medizin der Aufklärung „bei allen Unterschieden im einzelnen durchgängig als Erfahrungswissenschaft“ verstanden habe. In Boerhaaves Worten war „die Erforschung der letzten metaphysischen

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sondere in den Jahrzehnten um 1800 mit dem Erfahrungsbegriff die Wissenschaftlichkeit von Aussagen zum Thema Schlaf. Dieses Wissen war entweder, wie bei der Diätetikliteratur, tradiert (1.) oder auch vom jeweiligen Autor (zusätzlich) erlangt – aus Erfahrung am eigenen Leib oder aus Erfahrungswissen aus der ärztlichen Praxis (2); mit dem Begriff des Erfahrungswissens wurde aber auch auf wissenschaftliche Beobachtung und frühe, den Schlaf betreffende Experimente Bezug genommen (3). 1. Tradiertes Erfahrungswissen

Die Schlafdiätetik aus dem seit der Antike überlieferten Hygienediskurs blieb ein grundlegender Erfahrungsschatz. Tradierte Diätetikelemente zur angemessenen Dauer, zur gesündesten oder schicklichsten Zeit, zur günstigsten Umgebung wurden, von jeweiligen an der Leserschaft orientierten Schwerpunktsetzungen und Ergänzungen aus persönlicher Erfahrung abgesehen, weitgehend unverändert in Schlaftraktate eingeflochten. Genauso verhielt es sich mit dem Thema der schlaffördernden Mittel oder verschiedenen Detailfragen wie der unterschiedlichen Beurteilung des Wiegens der Kinder.289 Mit dem Erfahrungsbegriff sollte manchmal auch an den gesunden Menschenverstand appelliert werden – seit der Aufklärung wurde nicht nur zum Bemessen der richtigen Schlafmenge, sondern auch in vielen anderen Gesundheitsfragen von den Lesern der Ratgeber immer wieder eingefordert, die „Erfahrungen des täglichen Lebens“ heranzuziehen. Man wisse schließlich zum Beispiel, dass Bewegung an der frischen Luft müde mache.290 Die Ratschläge konnten im Einzelnen widersprüchlich ausfallen – dies ist in der historischen Forschung zur Ratgeberlitera-

und ersten physischen Ursachen weder notwendig, nützlich, noch möglich“; die romantische Medizin war dagegen theoretischer fundiert (Richard Toellner: „Medizin“, 4. Aufklärung, in: Ritter, Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5 (1980), 990–992. 289 Das Wiegen wurde zumeist empfohlen, im 19. Jahrhundert aber zunehmend als „künstlichen Schlaf“ erzeugend abgelehnt, vgl. Carl Werner: Schlaflosigkeit und Schlafmittel. Für Laien und Ärzte, Berlin: Hugo Steinitz 21892, 29. Der Hygieniker Oesterlen erwähnt das Wiegen gar im gleichen Atemzug mit der Schädlichkeit des Opiums (Friedrich Oesterlen: Handbuch der Hygieine für den Einzelnen sowie für eine Bevölkerung, Tübingen: Laupp 1851, 722). 290 Ein später Beleg: E. Nagel: Der natürliche und künstliche Schlaf. Beitrag zur Gesundheitspflege und Makrobiotik, Wien: Selbstverlag 1872, 20.

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tur immer wieder festgestellt worden.291 Dies lag im Schlafdiskurs meist an der persönlichen Erfahrung des Autors. 2. Persönliche Erfahrung. Erfahrung, die in der ärztlichen Praxis gewonnen wurde („am Krankenbett“)

Das empirische Wissen der Ärzte war im 18. Jahrhundert ihre Therapiegrundlage, so dass diese Epoche auch als Zeitalter der „Krankenbettmedizin“ bezeichnet worden ist. Die praktische Erfahrung blieb über das 19. Jahrhunderts hinweg auf der anwendungsbezogenen Seite des Schlafdiskurses sehr wichtig, auch wenn sich das „Krankenbett“ im Laufe des 19. Jahrhundert in sozialer Hinsicht stark verändern sollte: Um 1900 berichteten nicht mehr Leibärzte von ihren Erkenntnissen, die sie am Bett adliger Patienten gewonnen hatten. Jetzt forschten auch Akademiker ohne eigene Praxis in den Sälen der neuen Kliniken; die praktische Arbeit niedergelassener Ärzte und medizinische Forschung hatten sich inzwischen auseinander entwickelt.292 In Bezug auf den Schlaf beriefen sich viele Autoren, nicht nur Ratgeberautoren, pauschal auf ihre Praxiserfahrung.293 Selten wurde diese aber so ausführlich dargestellt wie in Anton Friedrich Fischers Ratgeber gegen Schlaflosigkeit von 1831, der auf mehrere einzelne Fälle und deren Behandlung eingeht. Einer seiner Patienten war ein 44-jähriger Beamter, der ihn mit der Bitte um eine Opiumtherapie aufgesucht hatte. Nach Fischers Diagnose verschaffte der Beruf des Mannes ihm nicht ausreichend Bewegung, so dass er „dickleibig“ geworden war und unter Verdauungsproblemen litt. Die – erfolgreiche – Therapie bestand zunächst in einem pflanzlichen Abführmittel, dessen Rezept mit abgedruckt 291 Döcker stellt dies beispielsweise für die Beurteilung des Waschens mit kaltem Wasser fest: Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt, 113. 292 Zur Krankenbettmedizin: Rothschuh: Medizin im Zeitalter der Romantik, 146. Volker Hess: Messen und Zählen, 267 (der die Medizin des 18. Jahrhunderts als „Krankenbettmedizin“ bezeichnet). Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, 95. Dieser klinische Erfahrungsbegriff blieb im Schlafdiskurs lange erhalten, sogar im Kontext der Schlafmittelforschung, etwa: Fronmüller: Klinische Studien über die schlafmachende Wirkung narkotischer Arzneimittel, Erlangen 1869, Einleitung; in den 1880er Jahren wurde von diätetisch-psychologischer Seite kommentiert: „Einen metaphysischen Grund für die Periodicität von Schlafen und Wachen kennen wir nicht“. Stattdessen bediene sich die Psychologie der Methode der „empirischen Betrachtung“ (Heinrich Spitta: Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen Seele mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den psychischen Alienationen, Tübingen: Fues 21883, 6). 293 Etwa Strahl: Ueber Schlaf und Schlaflosigkeit (1834).

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wurde, einer Ernährungsumstellung und schließlich in einem Aderlass.294 Fischers Vorgehensweise war typisch für die Methoden der praktischen Ärzte seiner Zeit: Gelehrte Ärzte griffen genau wie Wundheiler, Chirurgen oder Barbiere noch im frühen 19. Jahrhundert als Standardbehandlung zu Aderlässen, Brech- und Abführmitteln, die die wissenschaftshistorische Entwicklung von der Säftelehre über den Brownianismus hinaus im Wesentlichen unverändert überdauert hatten.295 Um 1790 war es im Zeichen der Erfahrungs-Seelenkunde zeitgemäß, nicht nur den Traum, sondern auch den Schlaf aufgrund eigener Erfahrung zu diskutieren. So legte der Pädagoge Johann Heinrich Campe 1788 die „Wirkungen des Schlafs [...] die ich an mir selbst wahrgenommen habe“ dar. Er befürwortete mit dem Erfahrungsargument den Mittagsschlaf, der wie der Schlaf vor Mitternacht auf derselben Grundlage oder mit moralischen Argumenten häufig abgelehnt und für ungesund erklärt wurde. Aus seiner persönlichen Erfahrung mit dem Verdauungsschläfchen berichtet er: Fällt dieser Nachmittagsschlummer weg: so ist gemeiniglich der ganze Rest des Tages, wenigstens zu anstrengenden Geistesarbeiten [und „starken Körperbewegungen“], für mich verloren. Ich fühle Magendrücken, Spannungen, Unbehaglichkeit. 296

Gegen den Mittagsschlaf wurden aber auch autoritär-wissenschaftlich präsentierte Thesen herangezogen, etwa dass es den Augen schade, wenn man „bey dem Erwachen gleich ins Helle sehen muß“.297 D. Rosch zog seine eigene Familie als Referenz heran, um sich als Autor eines Elternratgebers Glaubwürdigkeit zu verschaffen für seine Stellungnahme zu einer Theorie, nach der man wegen „polarischer Wirkung“ nach Norden schlafen solle. Seine Erfahrungen konnten diese Theorie nicht bestätigen.298 Aufgrund seiner Praxiserfahrung sah er aber eine andere These bestätigt: „Man kann es täglich beobachten, dass Kinder, die man immer auf eine und dieselbe Seite legt, schief werden.“299 Diese spezielle 294 Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831), 120–123. 295 Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, 23. Fischer war nach eigenen Angaben Arzt in einer Dresdner Erziehungsanstalt für Adelige. Daher hatte er wohl den Erfahrungshintergrund – und die Muße, sich Hygienethemen zu widmen. Der universitären Forschung wird er nicht nahegestanden haben. 296 Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf physiologisch erklärt von Herrn D. Hildebrandt und pädagogisch benutzt von J. H. Campe, in: Braunschweigisches Journal 1.6 (1788), 141–188, hier 142 und 146. 297 Friedrich Röver: Ueber Gesundheit und Wohlanständigkeit, Göttingen: Johann Friedrich Röwer 1803, 89. 298 Rosch: Das Bette, der Schlaf und der Traum (1837), 21. 299 Rosch: Das Bette, der Schlaf und der Traum (1837), 10. Andere Warnungen, die die Hygieniker verbreiteten, waren u.a. vor zu niedriger Kopflage (führe zu Kopfschmerzen)

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Warnung steht im weiteren Kontext der physischen Kindererziehung, die seit der Aufklärung erstmalig intensiv diskutiert wurde. Neben den Vor- und Nachteilen der Abhärtung der Kinder, die auch in Bezug auf den Schlaf thematisiert wurde, standen im ausgehenden 18. Jahrhundert Methoden der Aus-Bildung des kindlichen Körpers im physischen Sinne, also der Orthopädie, zur Debatte, mit der man sich erstmalig eingehend befasste, ohne noch über gesicherte empirische Kenntnisse zu verfügen. Ein typisches Beispiel dafür sind die zeitgenössischen Debatten über mehr oder weniger einengende Kinderkleider.300 Was den eigentlichen Ablauf des Schlafs betrifft, blieb das Dilemma ungelöst, dass während der Bewusstlosigkeit im Schlaf die „subjektiven [Erscheinungen] durch die gebrochene Willenskraft der näheren Untersuchung entzogen“ waren.301 Anschauliche Beschreibungen der Müdigkeit und des Einschlafens oder der Wahrnehmungen beim Aufwachen waren ein fester Bestandteil der Thematisierungen des Schlafs, so dass die Mehrzahl der Autoren sich die Mühe machte, diese alltägliche Erfahrung in Worte zu fassen. Dies führte manchmal zu direkt aus der Müdigkeitserfahrung geschlossenen Thesen: Unzer beispielsweise ging vom Erlebnis des Einschlummerns aus, wenn er mutmaßte, man schlafe von oben nach unten ein, was er anschließend mit der Lage des Gehirns theoretisch untermauerte.302 Selbstbeobachtung war auch die Methode Kants für seine Aussagen zum Schlaf; Wissenschaft beruhte für ihn aber nicht auf Erfahrungsgesetzen, sondern auf Naturgesetzen.303 Diese Prämisse trug wohl mit zum raschen Aufgehen des Schlafdiskurses in der Reiztheorie beziehungsweise der Naturphilosophie

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oder vor dem geteilten Lager von Jungen und Alten, dadurch würden die Alten gestärkt, die Jungen geschwächt (hier Röver: Ueber Gesundheit und Wohlanständigkeit [1803], 87 und 89). Vgl. Corinna Müller: Kinderkleidung, in: Marita Metz-Becker (Hg.): Schaukelpferd und Schnürkorsett. Kindheit um 1800, Marburg: Jonas 2002, 24–30. Zur Geschichte der Orthopädie knapp: Heinz Schott, Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren – Irrwege – Behandlungsformen, München: C. H. Beck 2006, 50. Jan: Der Schlaf, 8. Ausführlich thematisiert das Problem Michael Wagner: Ueber den Schlaf und das Träumen, in: Beyträge zur philosophischen Anthropologie und den damit verwandten Wissenschaften, Bd. 1, Wien: Stahl 1794, 204–243. Unzer: Gedancken vom Schlafe (1746), 40. Kant: Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein (1798), 373 und Lammel: Nosologische und therapeutische Konzeptionen in der romantischen Medizin, 48; Kant unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen, letztere sind verallgemeinerbar: Friedrich Kambartel: Erfahrung, in: Ritter, Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 (1972), 609– 619. Zur Selbstbeobachtung von Kranken und Patienten als Grundlage für Therapieansätze siehe auch: Piller: Private Körper.

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bei. Nach der Romantik wurde der Mangel an objektiven Kriterien zur Schlafdefinition wieder manifester.304 3. Erfahrung, die auf Experimente zurückgeht

Seit der Antike waren die beobachtbaren Merkmale des schlafenden Menschen in der Literatur verfügbar, und mit der ausgehenden Aufklärung rückten genau diese Beobachtungswerte wieder in den Vordergrund:305 Puls, dessen Messung das wichtigste zeitgenössische diagnostische Hilfsmittel war, Atmung, Körpertemperatur und Ausdünstungen waren diejenigen Themen, die diskutiert wurden.306 Nicht zur Debatte standen die offensichtlichen Kennzeichen, die allerdings zumeist beschrieben wurden, wie die ruhige, entspannte Lage des Körpers oder die geschlossenen Augen. Der Artikel „Schlaf“ (1843) im „Encyclopädischen Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften“,307 herausgegeben von Hufeland und anderen führenden Medizinern und Naturwissenschaftlern, später auch von dem prominenten Physiologen und Experimentalforscher Johannes Müller, ist ein Schlüsseldokument für den wissenschaftstheoretischen Umbruch, wie er sich zu dieser Zeit – mit ersten Anzeichen – auch im Schlafdiskurs niederschlug. In expliziter Abwendung von „spekulativen“ Methoden wurde hier zwar der Brownianismus zumindest rhetorisch noch vertreten, und der in der Romantik fundamentale, dabei aber schon ältere Vergleich mit der Tier- und Pflanzenwelt herangezogen. Dies geschah aber mit einer eindeutigen Konzentration auf die Experimentalphysiologie. Der „Pflanzenschlaf“ fand schon in den 1760er Jahren Interesse und war dann bei den Romantikern ein beliebtes Beispiel für 304 Der Erfahrungsbegriff hielt sich über den gesamten Untersuchungszeitraum in den populär ausgerichteten Texten, vgl. Fischer-Defoy: Schlafen und Träumen (1918). 305 Für die ausgehende Aufklärungsmedizin konstatiert Delon einen „Rückgang der Theorien zugunsten der Beobachtung“: Delon: Konzepte der Medizin, 293. 306 Schon im 17. Jahrhundert waren es „Pulsfrequenz, Körpertemperatur, Schweißabsonderung“, womit die cartesianischen Theorien vertieft wurden (Bergdolt: Leib und Seele, 227). Die Einschätzung der Pulsmessung bezieht sich auf Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, 22. 307 Gräfe (Hg.): Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Artikel „Schlaf“ (1843), 385–441. Zur Einordnung: Michael Stolberg: Einleitung (MicroficheAusgabe [Archiv der europäischen Lexikongraphie Abteilung 3, Fach-Enzyklopädien 13], Erlangen: Fischer 1994), 1–5. Stolberg betont zum einen, dass das Wörterbuch den Forschungsstand recht objektiv zusammenfasste, und zum anderen, dass es das erste nicht mehr überwiegend an den französischen Enzyklopädien orientierte Nachschlagewerk war. Tatsächlich war Meißners Encyclopädie noch untertitelt mit „nach dem Dictionnaire de Médicine frei bearbeitet“.

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die natürliche Periodizität von Tag und Nacht. 308 Im „Wörterbuch“, wie in anderen zeitgenössischen Texten, ist der Pflanzenschlaf typischerweise vor dem Schlaf der Tiere der erste Schritt zur Hinleitung auf eine experimentell-naturwissenschaftliche Darstellung des menschlichen Schlafs. „Pflanzenphysiologen“ experimentierten mit Licht und Wärme;309 französische Forscher nahmen sich das schon lange als Sonderform des Schlafes bestaunte Phänomen des Winterschlafs vor und experimentierten mit Kleintieren.310 Dabei stellte sich heraus, dass die Versuchstiere, Fledermäuse, Murmeltiere und Igel, unter künstlich hergestellten Winterbedingungen nicht etwa einschliefen, sondern starben.311 Das messbare Wissen um den Schlaf des Menschen fasst der Artikel knapp zusammen: Puls und Atmung sind reduziert, die Verdauung setzt sich fort. Die Ausdünstungen, die in der Hygieneliteratur über Jahrzehnte hinweg als Gesundheitsargument gegen das Zusammenschlafen und für die Belüftung der Schlafzimmer und die Art der Decken und Polster hergehalten hatten, werden gar nicht mehr erwähnt. Die neueren Forschungen rücken dagegen in den Vordergrund: Der vor allem in Deutschland tätige Tscheche Jan Evangélista Purkyne312 und Johan308 Johann Gottfried Zinn: Von dem Schlafe der Pflanzen, in: Hamburgisches Magazin 22 (1759), 40–50; John Hill: Der Schlaf der Pflanzen und die Ursache der Bewegung an dem Fühlkraut erklärt in einem Briefe an Herrn Carl Linnaeus, Nürnberg: Peter Monath 1768. Den Pflanzenvergleich führt Schöpf zurück auf „den hohen Stand der Botanik im 18. Jahrhundert verbunden mit dem naturphilosophischen Verständnis vom Gesamtzusammenhang des Universums“ (Schöpf: Der Schlaf aus medizinischer Sicht im 18. und frühen 19. Jahrhundert, 204). Für Carl Gustav Carus, den romantischen Arzt, Philosoph und Landschaftsmaler, sinkt der Mensch im Schlaf fast auf ein unbewusstes Seelenleben, das den Pflanzen entspricht, herab (um 1830). Dazu: Schweizer: Anthropologie der Romantik, 361–362. 309 Gräfe (Hg.): Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Artikel „Schlaf“ (1843), 386–388. 310 Bei Meißner wurde der Winterschlaf noch als Carus, Totenschlaf abgehandelt: Meißner, Schmidt (Hgg.): Encyclopädie der medicinischen Wissenschaften, Artikel „Carus“, Bd. 3 (1830), 25 (Autor: Étienne Jean Georget). 311 Gräfe (Hg.): Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Artikel „Schlaf“ (1843), 388–390. Bei Burdach, von dem man das als einem Romantiker nicht unbedingt erwarten sollte, finden sich ausführlichere Daten: Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft, Bd. 3 (1830), 447–500. Die Erkenntnis, dass große Kälte „Schlaf“ hervorrufen konnte, ging bereits mindestens auf Boerhaave zurück und wurde bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts unter den Ursachen des Schlafes häufig angeführt (Hermann Boerhaavs Phisiologie [1754], 926). 312 Zu Purkyne (oder Purkinje): Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 105–106; Michael Hagner: Purkyne, Jan Evangelista, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 480.

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nes Müller,313 beide in der Romantik ausgebildete, einflussreiche Physiologen, veröffentlichten in den 1820er Jahren jeweils Selbstbeobachtungen zum „Sehfeld“.314 Ein wichtiger Bestandteil dieser Studien waren „Schlummerbilder“ beim Einschlafen. Die Medizingeschichte beurteilte die Sinnesphysiologie als Anzeichen für die allmähliche Rückkehr der empirischen Methode.315 Die „Schlummerbilder“ erinnern an die Erfahrungsberichte der Erfahrungsseelenkundler, konzentrieren sich aber auf die Wahrnehmung eines bestimmten Organs, des Auges. Dieser Zugang war in der romantischen Medizin theoretisch vorbereitet worden, wie sich an einer Beschreibung des Einschlafens bei Burdach (1810) zeigt: Der willkürliche Lauf der Vorstellungen wird unterbrochen, sie werden dunkler und erfolgen mehr unwillkührlich, nach den Gesetzen der Association. Dies verbreitet sich nun auf die Perception der Sinnesrührungen: das Bewußtseyn unsrer Verhältnisse wird dunkler, wir hören einen Schall, können aber nicht mehr die Töne unterscheiden, noch aus ihrer Perception getreue Wahrnehmungen bilden, sondern die Phantasie benutzt diese fragmentarischen Eindrücke als Stoff zu ihren freyen Spielen. Die Cessation der Willenskraft schreitet nun zu den willkührlichen Muskeln fort: der Kopf sinkt herab, und die Gliedmaaßen folgen ihrer Schwerkraft. Das Auge, als das vollkommenste Sinnesorgan, isolirt sich von der äußern Welt durch seinen eigenthümlichen Deckel; die übrigen Sinnesorgane percipiren die Eindrücke nicht, wenn sie ihnen auch offen stehen.316

Die Konzentration auf das Auge hatte vorübergehend eine gewisse Verbreitung, so dass das obere Augenlid mitunter das „Organ des Schlafes“ genannt wurde.317 Purkyne und Müller äußerten sich außerdem zum Schlaf selbst. In seinem

313 Zu Müller: Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 112–118; Brigitte Lohff: Johannes Müller, in: Engelhardt, Hartmann (Hgg.): Klassiker der Medizin, Bd. 2, 119–134; Michael Hagner: Müller, Johannes Peter, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 423–424: Müller war Görresschüler und Lehrer von Hermann von Helmholtz und Emil Du Bois-Reymond. 314 Jan Evangelista Purkyne: Untersuchungen und Versuche zur Physiologie der Sinne, 2 Bde., Prag: Calve und Berlin-Reimer 1823–1825; Johannes Müller: Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung mit einer physiologischen Urkunde des Aristoteles über den Traum, Koblenz 1826, je zitiert nach Gräfe (Hg.): Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Artikel „Schlaf“ (1843), 441. 315 Dazu Rothschuh in Physiologie: Beobachtung und Versuch in der Physiologie des ersten Drittels des 19. Jahrhundert, 213–230. Burdach gibt diese Studien auch wieder: Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft, Bd. 3 (1830), 464. 316 Karl Friedrich Burdach: Die Physiologie, Leipzig: Weidmann 1810, 271. 317 Strahl: Ueber Schlaf und Schlaflosigkeit (1834), 25.

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„Handbuch der Physiologie des Menschen“318 beschreibt Müller als erster die Iris im Schlaf. Purkyne, der sich in seiner Publikation zum Schlaf eingehend mit der veränderten Wahrnehmung der Sinnesorgane und mit Traumbildern befasst, lokalisiert den Schlaf anders. Zur Erklärung des Schlafes, die er als „empirischer Physiologe“ in expliziter Absetzung von den „Allgemeinheiten der Naturphilosophie“319 unternimmt, kann er auf verschiedene Ansätze zurückgreifen, den Schlaf im Gehirn zu lokalisieren. Darunter sind die ersten eigentlichen Schlafexperimente zu rechnen, die über die alltäglich mögliche Erfahrung hinausgingen, nämlich Hallers Beobachtungen, dass Tiere, deren Schädelknochen verletzt waren, „einschliefen“, sobald Druck auf das Gehirn ausgeübt wurde.320 Der Hirndruck wurde wie die antike Blutfülle im Gehirn seither als „entferntere“ Ursache des Schlafs angeführt.321 Gleichzeitig bestand ein Widerspruch in dem Erfahrungswert, dass Blutverlust, „Blutflüsse“, ebenfalls „Schlaf“ verursachten.322 Diese Erkenntnisse wurden später nicht mehr als Gegenstand von Schlafforschung verstanden, weil es sich dabei eigentlich nicht um Schlaf, sondern um Bewusstlosigkeit handelt. Die gedankliche Verbindung zwischen Schlaf und Gehirn bestand aber. Auch der Romantiker Blumenbach beispielsweise nahm Blutleere im Gehirn als eine Ursache an, nachdem ihm bei Studien an einem Schädelbruch die Blässe der Gehirnrinde im Schlaf aufgefallen war.323 Für Purkyne war das Großhirn unzweifelhaft das Organ der Sinneswahrnehmung und damit das Organ des Bewusstseins, also des Wachens.324 Ausgehend von der antiken, von Boerhaave aktualisierten Drucktheorie ging seine Überlegung dahin, den Schlaf in den Stabkranzfasern im Großhirn festzumachen, die durch den Druck, etwa auch durch vermehrte Blutzufuhr, besonders beeinflusst 318 Johannes Müller: Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, 2 Bde., Koblenz: Hölscher 1833/34 und 1840, hier Bd. 2 (1840), 579–588, speziell 583 (Kapitel „Wechselwirkung der Seele und des Organismus“). Zu Müllers Schlafverständnis knapp Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 67–68. 319 Jan Evangelista Purkyne: Wachen, Schlaf, Traum und verwandte Zustände, in: Rudolph Wagner (Hg.): Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf die physiologische Pathologie (4 Bde., 1842–1853), Bd. 3.2, Braunschweig: Friedrich Vieweg 1846, 412–480, hier 473. 320 Purkyne: Wachen, Schlaf, Traum, 474. Zu Haller: Strahl: Ueber Schlaf und Schlaflosigkeit (1834), 13; zur Hirnforschung: Hagner: Homo cerebralis. In der Diätetik wurden u.a. Kopfschmerzen als Folgen des Hirndrucks etwa durch zu niedrige Kopflage im Bett erklärt. 321 Etwa bei Burdach: Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft, Bd. 3 (1830), 458. 322 Der Widerspruch wird kritisiert bei: Davidson: Ueber den Schlaf (1796), 10. 323 Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 56. 324 Purkyne: Wachen, Schlaf, Traum, 474.

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würden, so dass die Verbindung zum Nervensystem beeinträchtigt werde.325 Diese Stabkranztheorie kann man ebenfalls als Wiederbelebung der empirischen Forschung bezeichnen.326 Eine deutlichere Veränderung der Schlaftheorien zeichnete sich aber erst nach der Jahrhundertmitte mit der Integration chemischer und physikalischer Forschung wie den Schlafstoffforschungen und den Weckschwellentests ab. Um 1850 sollten sich im Zeichen der neuen naturwissenschaftlichen Disziplinen auch die Kriterien der Wissenschaftlichkeit verändern. Obwohl sich der Schlafdiskurs insgesamt als sehr traditionell erwies, gingen doch neue wissenschaftliche Entwicklungen nicht an ihm vorüber: Um 1890 konnte man beispielsweise statt Aderlässen Schlaftabletten verschreiben. 1.4. Schlaf – ein bürgerlicher Diskurs

Die wissenschaftliche Problematisierung des Phänomens Schlaf wurde im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert von bürgerlichen Autoren und gebildeten Lesern zu einem Diskurs auf der Grundlage ihrer eigenen, bürgerlichen Werte geformt. In diesem Zeitraum hatte sich das Bürgertum allmählich formiert; Auch zur kontinuierlichen gesellschaftlichen Selbstvergewisserung dieser einflussreichen, durchaus heterogenen Schicht diente ein „gemeinsame[r] Wertehimmel, an dem sich jeder individuell ausrichten konnte und mußte“327. Zu den geforderten und geförderten Tugenden zählten insbesondere Ordnung, Fleiß und Sauberkeit, Sparsamkeit, Pflichtbewusstsein, Glaube, Liebe und Treue, Bildung und Selbstständigkeit.328 Aus dem Bereich der Hygiene ist das Thema der Sauberkeit, also die Erziehung zur Reinlichkeit, eingehend erforscht

325 Purkyne: Wachen, Schlaf, Traum, 475. Kuhlen: Lokalisierung in Stabkranzfasern des Gehirns, 68–69. 326 Für Purkyne hebt Messerli die letztliche Verhaftung im Lebenskraftparadigma hervor, die deutlich wird in Purkynes Darstellung der Rolle des Bluts, dessen veränderliche Zusammensetzung auf ein „Etwas, [...] man nenne nun es Lebenskraft oder wie immer“ zurückgehe. Auch für Messerli steht also diese Schlaftheorie an der Schwelle zur naturwissenschaftlichen Forschung des späteren 19. Jahrhunderts (Jakob Messerli: Zeitnutzung, in: Mesmer [Hg.]: Die Verwissenschaftlichung des Alltags, 209–210). 327 Hettling, Hoffmann: Der bürgerliche Wertehimmel, 337. 328 Zu den bürgerlichen Tugenden v.a. Maurer: Die Biografie des Bürgers; Dieter Hein: Arbeit, Fleiß und Ordnung, in: Hans-Werner Hahn, Ders. (Hgg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf, Vermittlung, Rezeption, Köln u.a.: Böhlau 2005, 239–252; Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann (Hgg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000.

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worden.329 Auch über Körperpraktiken in der bürgerlichen Kommunikation liegt eine Studie vor.330 Die aufklärerische Engführung von Schlaf und Mäßigung, einer weiteren bürgerlichen Kardinaltugend, zeigt deutlich, wessen Diskurs mit der Problematisierung des Schlafs geformt wurde: Der Schlaf, von dem die Rede war – zunächst bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts –, war der Schlaf der Ärzte, Pädagogen und ihresgleichen, also des „städtischen Bildungsbürgertums“.331 Ihr Schlafverständnis grenzte sich klar von dem des „faulen“ Adels oder der „reichen Müßiggänger“332 ab. Das Bürgertum war den vormodernen Tagesrhythmen weniger lange verpflichtet gewesen als die Landbevölkerung oder die unterbürgerlichen Schichten.333 Von einer Orientierung an adeligen Schlafzeiten ist aber, jedenfalls seit dem 18. Jahrhundert, in den Quellen nicht die Rede.334 Es ist allerdings denkbar, dass die Adelskritik im Schlafdiskurs indirekt in disziplinierender Absicht auch auf solche Bürger gerichtet war, die sich adeliger Lebensformen bedienten. Der idealtypische Bürger war fleißig; er schätzte die Arbeit, die seit der Aufklärung nicht mehr nur gottgegebene Last und Mühsal war, als Chance zur Selbstverwirklichung. Müßiggang und Zeitverschwendung hatten im 17. Jahrhundert mitunter sogar als Sünden des perfektiblen Menschen gegolten, Arbeit dagegen als Gottesdienst.335 Die neuzeitliche Umwertung von Arbeit und Zeit im 17. und 18. Jahrhundert bereitete die Universalisierung dieser bürgerlichen Werte auf die gesamte Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit seiner neuen Zeit329 Vgl. Manuel Frey: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997; Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. 330 Kirsten O. Frieling: Ausdruck macht Eindruck. Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2003 (Quellenbasis: u.a. Benimmbücher). Zur bürgerlichen Abgrenzung mit dem Faulheitsargument siehe auch: Paul Münch (Hg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“, München: dtv 1984, 167–177. Münch zieht hier eine Quelle aus den 1760er Jahren in Braunschweig heran (Philipp Peter Guden: Polizey der Industrie, oder Abhandlung von den Mitteln, den Fleiß der Einwohner zu ermuntern). 331 Vgl. Sahmland: Der Gesundheitskatechismus, 58. Zum Begriff des Gelehrten in der Frühen Neuzeit und der Aufklärung knapp: Gunter E. Grimm: Gelehrter, in: Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung, 146–147. 332 Anonymus: Gedanken vom Schlafe, in: Neues Hamburgisches Magazin 15 (1775), 376– 384, hier 378. 333 Emich: Zwischen Disziplinierung und Distinktion, 73. 334 Im Gegensatz dazu: Emich: Zwischen Disziplinierung und Distinktion, 75. 335 Hein: Arbeit, Fleiß und Ordnung. Zur nicht etwa nur ökonomisch, sondern auch heilsgeschichtlich bewerteten Zeit im 17. und 18. Jahrhundert: Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers, v.a. 382–405.

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ökonomie vor, die auch das Verständnis vom Schlaf tiefgreifend beeinflussen sollte. Bevor das Bürgertum die „eigenen Werte und Normen universalisiert[e], […] eine Wertehegemonie über die alten Führungsschichten und die unterbürgerliche Bevölkerung errichtet[e]“, was ihr „durch die Meisterschaft des Wortes“ gelang, „welcher in der Expansionsphase des literarischen Marktes entscheidende Bedeutung zukam“, 336 setzte es sich nicht nur vom untätigen Adel, sondern ebenso von den Unterschichten ab. Dies zeigt sich auch im Schlafdiskurs. Die unterbürgerlichen Schichten konnten mit Ausführungen über die Details der Gesundheitslehre schon aufgrund ihrer materiellen Lage nicht gemeint sein, wenngleich es prinzipiell für jeden im Bereich des Möglichen stand, sich zum Bürger zu vervollkommnen. Der bürgerliche Zuschnitt des Schlafdiskurses erfolgte entweder über Themen wie die Kinderdiätetik oder den Schlaf der Gelehrten oder auch bereits über die Titel der Ratgeber; dafür steht etwa Fischers Ratgeber mit dem Untertitel „Zur Belehrung für Leidende aus gebildeten Ständen“337. Eine Ausnahme in Bezug auf die Adressaten waren die Bemühungen im Zuge der Volksaufklärung, mit den Gesundheitskatechismen breitere Schichten zu erreichen. Das verfolgte Ziel war dabei aber wiederum, nicht nur medizinisches Wissen, sondern auch bürgerliche Werte von Gesundheit und Moral zu popularisieren, um damit den „gemeinen Mann“338 soweit als möglich zu einem guten Bürger und gesunden und nützlichen Element der Gesellschaft zu erziehen. Dieser Aspekt des Schlafdiskurses kann durchaus im Foucaultschen Sinne als ein Macht- oder disziplinierender Diskurs verstanden werden.339 Ansonsten ist der Schlafdiskurs eher zu charakterisieren als erstens ein definitorischer Diskurs, da er von der Annäherung an eine Schlaferklärung, von der Suche nach Ursache und Zweck, geprägt war. Zweitens bedeutete er im engeren Sinne das Reden über den Schlaf, wie es durch zeitliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Ebenen verfolgt werden kann. Die Sprache der Makrobiotik oder 336 337 338 339

Maurer: Die Biographie des Bürgers, 16. Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831). Vgl. Boening: Der „gemeine Mann“ als Adressat aufklärerischen Gedankenguts. Sahmland verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der Sozialdisziplinierung (Sahmland: Der Gesundheitskatechismus, 69). Zur Foucaultrezeption und zum Diskursbegriff (in der Körper- und Medizingeschichte) siehe zudem: Volker Hess: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Die Normierung der Gesundheit. Messende Verfahren der Medizin als kulturelle Praxis (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 82), Husum: Matthiesen 1997, 7–16, hier 12; Loetz: Vom Kranken zum Patienten; Michael Maset: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung, Frankfurt am Main/New York: Campus 2002; Steinmetz: Diskurs, in: Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft, 56–60.

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der Reiztheorie, vorübergehend auch der Naturphilosophie, oder der Mühlentopos, das Thema der Federbetten und die stets wiederholten Diätetikelemente verdeutlichen zudem beispielhaft, dass sich drittens auch in formaler Hinsicht ein eigener Diskurs über den Schlaf herausbildete. Dass sich über das Phänomen Schlaf nur bedingt ein disziplinierender Diskurs formte, zeigt die Tatsache, dass die Vorstellungen von Mäßigkeit, wie sie sich in den Fragen nach Schlafzeit und -dauer niederschlugen und die ja durchaus Ansprüche auf Fremd- wie Selbstdisziplinierung transportierten, diese Ansprüche in der Regel selbst relativierten und damit letztlich zu keiner eindeutigen Normierung führten: Zwar gaben die Autoren Richtlinien an, schließlich hatten sie, zumal als Ärzte, die Ratgeberautorität, die solche Stellungnahmen erlaubte und zugleich erforderte. Aber diese Richtlinien unterschieden sich teils doch sehr stark voneinander. Vor allem aber gingen die konkreten Angaben, etwa zur Schlafdauer, fast immer mit der Einschränkung der jeweiligen „individuellen Disposition“ einher. Der Schlaf konnte also bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weder umfassend verwissenschaftlicht, also von der Wissenschaft erklärt und von ihr kontrolliert, noch den damit wechselseitig verbundenen gesellschaftlichen Normen unterworfen werden. In dieser Hinsicht steht der Diskurs über den Schlaf den jüngeren historischen Forschungen, die sich der Normierung als sozialer Konstruktion nähern, diametral entgegen. Für die Konstruktion insbesondere der Normen von Gesundheit und Krankheit im 19. Jahrhundert wurde nämlich konstatiert: Nicht das Leben verleiht den Lebenswissenschaften ihren normativen Charakter, sondern eine gesellschaftliche Übereinkunft. Die Normativität medizinischer Normen und Referenzen ist historisch geschaffen.340

Der Schlaf als unveränderliches natürliches Phänomen, das mit den Begriffen der Gesundheit und der Krankheit nicht hinreichend erfassbar war, stand dagegen weiterhin überwiegend außerhalb des medizinischen wie gesellschaftlichen Zugriffs. Wenn Verhaltensmuster diskutiert wurden, die den Schlaf nur indirekt betrafen, zeigten sich aber Aspekte von (Selbst-) Disziplinierungsbestrebungen und bürgerlichen Werteschemata auch im Schlafdiskurs: in den Themen der Kindererziehung, der Sexualität, der Unterschiede der beiden Geschlechter in Bezug auf Schlafbedarf und Schlafverhalten, und schließlich in einem besonders verbreiteten sozialen Element des Schlafdiskurses, der Gesundheit der Gelehrten.

340 Hess: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Die Normierung der Gesundheit, 12.

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Die Kinderdiätetik ist ein zutiefst bürgerliches Konzept, das sich in der fundamental um Erziehungsfragen bemühten Aufklärung ausbildete.341 Es orientierte sich am geläufigen Hygienewissen und, was teils gleichbedeutend war, für jedermann nachvollziehbaren Erfahrungswissen. Übliche Bestandteile waren die Warnungen vor Schmutz und sonstigen ungünstigen Schlafumständen, die das Wachstum störten, vor der Gabe von Schlafmitteln, etwa durch „unverständige Ammen oder Muhmen“342 und vor einengender Kleidung. Die Bekleidung war also im Schlafdiskurs lange Thema, bevor sich ab den 1870er Jahren im Zuge der Reformbewegungen die Kleidungsreform mit dem Zusammenhang von Kleidung und Gesundheit eingehend auseinandersetzte.343 Das Alter galt seit der Antike als Faktor des Schlafverhaltens. Hufeland schrieb 1799 in seiner Kinderdiätetik: „Je näher der Mensch seinem Ursprunge ist, desto mehr muß er schlafen.“344 Der Gedanke an diesbezügliche Abhärtung der Kinder war für Hufeland abwegig, im Gegenteil warnte er davor, „nach selbst erdachten Regeln, nicht aber nach dem Willen der Natur“ den Schlaf der Kinder zu bemessen; Kinder lebten „geschwinder“ als Erwachsene, die Gefahr der Verdummung durch zu viel Schlaf bestünde bei ihnen keinesfalls.345 Hufeland stellte sich damit gegen eine offenbar stärker von französischen und englischen Autoren vertretene Erziehung mit Mitteln der Abhärtung: Das 1835 aus dem Englischen übersetzte, weit verbreitete Schlaftraktat von Robert Macnish unterschied sich in seinen Grundannahmen in keinerlei Hinsicht von den deutschen Schlafquellen seiner Zeit. Der einzige deutliche Unterschied liegt in der Behandlung der Kinder. Der Autor fordert, den Kindern pro Lebensjahr eine Stunde Schlaf 341 Zur Bedeutung der Erziehung in der Aufklärung siehe die kurze Einführung mit Literatur von Ulrich Herrmann (Artikel „Erziehung“) in: Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung, 108–109. 342 Meißner: Ueber die physische Erziehung der Kinder (1824), 59–65, hier 62. Gegen zu enge und zu warme Kleider wendet sich z. B. Röver: Ueber Gesundheit und Wohlanständigkeit (1803), 88 oder Friedrich Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit. Wie kann man diesen Übeln vorbeugen und abhelfen? Nebst Betrachtungen über den Schlaf überhaupt. Eine Schrift für alle Diejenigen, welche an Schlaflosigkeit leiden, Quedlinburg/Leipzig: Gottfried Basse 1824, 10. Nach Bergdolt (Leib und Seele, 262) gehen die Warnungen vor zu enger Kleidung auf Rousseau zurück. 343 Im Zentrum stand die Ablehnung des Korsetts, dem insbesondere das weite, hängende Reformkleid entgegengesetzt wurde. Dazu: Karen Ellwanger, Elisabeth Meyer-Renschhausen: Kleidungsreform, in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hgg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal: Hammer 1998, 87–102. 344 Vgl. Unzer: Gedancken vom Schlafe (1746), 26. Christoph Wilhelm Hufeland: Guter Rath an Mütter über die wichtigsten Punkte der physischen Erziehung der Kinder in den ersten Jahren, Wien: Pichler 1799 (die erste von etwa einem Dutzend Auflagen), 71. 345 Hufeland: Guter Rath an Mütter, 69.

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weniger zuzugestehen und klagt: „Die Eltern begehen oft einen großen Fehler, daß sie ihre Kinder in so verweichlichender Art aufziehen.“346 Hier klingt einmal mehr die Rousseausche Abhärtung an, die dem Motto folgt, wer auf Brettern schlafen lerne, könne später überall schlafen.347 Dieser pädagogische Ansatz spielte bei den deutschen Diätetikern weder vor noch nach Hufeland eine große Rolle, was den Schluss nahe legt, es habe sich bei dieser liberalen Form der Schlafdiätetik für Kinder um ein vorwiegend deutsches Phänomen gehandelt.348 Die Angst vor Verweichlichung wurde auch bei Hufeland nur beim Thema Federbetten wirklich deutlich, ein Thema, das sich als erstaunlich vielschichtig erweist. Federbetten, anstelle von Matratzen, teils auch als Zudecke, galten als ungesund.349 Hinter dem Gesundheitsargument standen im Zeitraum von etwa 1770 bis über 1900 hinaus hygienische und hygienisch-moralische Argumente: Man schwitze darin zu leicht,350 die ungünstig erhöhte Körperlage fördere die Faltenbildung,351 man verweichliche generell und setze sich „körperlichen und moralischen Nachteilen“352 aus.353 Was mit letzterer Befürchtung, den mora346 Robert Macnish: Der Schlaf in allen seinen Gestalten. Aus dem Englischen von Gottfried W. Becker, Leipzig: Voß 1835 (Original Glasgow 1830), 220 und 226. Die Korrelation von zunehmendem Lebensalter und abnehmendem Schlafbedürfnis findet sich aber auch bei Hildebrandt, Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf (1788). 347 Rousseau: Émile (1762), 284. Vgl. Kapitel 1.2. Zu den Rousseauschen Diätetikprinzipien siehe auch: Bergdolt: Leib und Seele, 558–264. Zu den pädagogischen Prinzipien in „Émile“: Jonach: Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter, 66–73. 348 Diese Tendenz findet sich etwa auch schon bei Hildebrandt, Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf (1788): „Man lasse sie [die Kinder] ungehindert schlafen, bis sie von selbst erwachen“ (174). Der Schlaf sei ihnen nämlich „das beste Stärkungsmittel für die Nerven“ (184). 349 Wetzler: Gesundheitskatechismus (1804), zum Thema Federbetten vgl. Kapitel 1.2. 350 Wildberg: Handbuch der Diätetik (1828), 311; Hermann Klencke: Das Weib als Gattin. Lehrbuch über die physischen, seelischen und sittlichen Pflichten, Rechte und Gesundheitsregeln der deutschen Frau im Eheleben; zur Begründung der leiblichen und sittlichen Wohlfahrt ihrer selbst und ihrer Familie. Eine Körper- und Seelendiätetik des Weibes in der Liebe und Ehe, Leipzig: Kummer 1875, 245; Max Reimann: Gesundheitslehre auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Für Gebildete aller Stände, Kiel/Leipzig: Lipsius & Tischer 1887, 143; Leo Langstein: Ernährung und Pflege des älteren Kindes, Berlin: Max Hesse, 31923, 51. 351 Rosch: Das Bette, der Schlaf und der Traum (1837), 18. 352 Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel (Schuhrs Sammlung volkstümlicher Beiträge auf dem Gebiete der Gesundheitspflege, der körperlichen Erziehung und der UnfallVerhütung 6), Berlin: Gustav Schuhr 31896 (11887), 16. 353 Hygiene- und Schlafprobleme, die von Ungeziefern herrühren, spielen in der Hygieneliteratur erstaunlicherweise keine Rolle. Die zeitgenössischen Lehrtafeln aus der Samm-

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lischen Nachteilen, gemeint war, brachte etwa Hufeland vorsichtig auf den Punkt. Genauso wie das zu lange Liegenbleiben am Morgen354 förderte das allzu weiche Lager das seit dem späten 18. Jahrhundert in den Augen der Zeitgenossen immer verbreitetere und gefürchtetere Laster der „Selbstbefleckung“. In Hufelands Worten: Auch entsteht durch die Wärme der Federbetten eine andere nachtheilige Folge [zusätzlich zu den „schadhaften Ausdünstungen“], die unsern Zeiten besonders zu eigen zu sein scheint, und welche [...] die Augen der Erzieher und Aerzte besonders auf sich gezogen hat. Ich meine die zu frühe Entwickelung des Geschlechtstriebes.355

Die vordergründig medizinische Problematik, die die Selbstbefleckung, als Synonym und Überbegriff der neuen als solchen kategorisierten und von Patientenseite lebhaft beschriebenen Krankheit „Onanie“, mit sich brachte, war die Annahme, dass die „Vergeudung des männlichen Samens“ die „Verkrüppelung des Körpers und Geistes“ nach sich ziehe.356 Erklärt wurde der rege Geschlechtstrieb im Schlaf, der zu „Saamenergießungen“ führen konnte, überwiegend wie das Entstehen der Träume, die oft die Ursache waren, mit der Einbildungskraft. Außerdem machten „Ausschweifungen aller Art“ die „Geburtstheile“ reizbar, so dass nicht etwa mehr die „große Keuschheit“ früherer Zeiten als Ursache galt, sondern vielmehr ihr Gegenteil.357 Mit dem Onaniediskurs,358 einer „sozialen Konstruktion, die letztlich auf die gesellschaftliche Verortung der bürgerlichen Mittelstände abzielt[e]“,359 berührte der Schlafdiskurs also eine Überschnei-

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lung des Deutschen Hygiene Museums sprechen eine ganz andere Sprache, indem sie Wanzen und Flöhe als Schlafräuber brandmarken (Helga Raulff [Hg.]: Schlaf & Traum. Begleitbuch zur Ausstellung des Hygiene-Museums Dresden in Zusammenarbeit mit der Wellcome Collection, London, Köln: Böhlau 2007). Hufeland: Der Schlaf und das Schlafzimmer (1803), 112–113. Hier benennt Hufeland die Krankheit der Onanie und führt Tissot an. Hufeland: Der Schlaf und das Schlafzimmer (1803), 78–79. Das argumentative Vorgehen gegen Federbetten thematisiert auch Ruth-E. Mohrmann: „in der freywilligen Nachlassung der willkührlichen Bewegungen“. Anmerkungen zur Geschichte des Schlafens, in: Burkhard Pöttler (Hg.): Innovation und Wandel. Festschrift für Oskar Moser zum 80. Geburtstag, Graz: Österreichischer Fachverband für Volkskunde 1994, 261–278, hier 278. Allerdings weist sie nur auf die Begründung der erhöhten Ausdünstung hin. Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831), 35. Dazu Davidson: Ueber den Schlaf (1796), 68–69. Zu diesem: Karl Braun: Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a.: Campus 1995. Sarasin: Reizbare Maschinen, v.a. 403–417; Stolberg: Homo patiens, 261–286. Neue Literatur zum Antionaniediskurs findet sich bei Piller: Private Körper, v.a. 192. Franz X. Eder: Die Erfindung der „Onanie“ im späten 18. Jahrhundert, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 24.2 (1994), 57–62, hier 61.

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dungsfläche von bürgerlichen moralischen Werten und medizinisch-hygienischen Argumenten. Teilweise erscheint die Onanie zugleich als versachlichte Form dessen, was in der frühneuzeitlichen Vorstellungswelt an Dämonen und anderen teuflischen und mystischen, oft sexuell konnotierten Erscheinungen über den Schlafenden kam, den der Alb, der Nachtmahr (im Englischen „nightmare“) drückte.360 Der Schweizer Samuel André Tissot gehörte zu den einflussreichsten medizinischen Autoren der Aufklärung, die sich mit ihm und seinen wissenschaftlichen Kontakten einmal mehr als europäisches Phänomen darstellt.361 Sein „Avis a peuple sur sa santé” („Anleitung für das Landvolk in Absicht an seine Gesundheit“)362 war der Prototyp der Gesundheitskatechismen in mehreren europäischen Ländern. Seine in Deutschland etwas später rezipierte Abhandlung über die Onanie beinhaltete eine lange Liste der schrecklichsten körperlichen Schäden dieses schlimmsten aller sexuellen Laster, bei dem Lebenskraft vergeudet werde,363 und war ausnehmend erfolgreich: Sie wurde in mehrere Sprachen übersetzt und sah im 19. Jahrhundert 72 französische Auflagen.364 Die Verbindung von Sexualität und Schlaf blieb im 19. Jahrhundert und darüber hinaus bestehen.365 Deutlich zeigt sich das auch in konkreten Disziplinierungspraktiken, etwa in Kasernen oder Internaten. Für letztere stellte der Historiker Alain Corbin fest: 360 Vgl. Ekirch: At day´s close, 268. 361 Antoinette Emch-Dériaz: Tissot. Physician of the Enlightenment (American University Studies, Series IX History), San Francisco u.a.: Peter Lang 1992; Engelhard: Krankheit, Schmerz und Lebenskunst, 151. Ein anschaulicher Beleg für die europäische Dimension der Aufklärungsmedizin ist die Tatsache, dass ein Autor wie Tissot zugleich Übersetzer anderer einflussreicher europäischer Mediziner war, in diesem Falle u.a. von Haller und Brown. 362 Samuel André Tissot: Avis au peuple sur sa santé, Lausanne: Grasset 1761. Erste deutsche Übersetzung. Zürich 1762. 363 Sarasin: Reizbare Maschinen, 69. 364 Sarasin. Reizbare Maschinen, 405. Sarasin fasst die Publikationsgeschichte zusammen. Danach erfolgte die erste lateinische Auflage von „L´onanisme“ 1758, die erste französische 1760, die erste deutsche 1785. 365 Die Gefahren der Onanie (gefördert von den weichen Federbetten) thematisieren noch Fleck: Ueber Schlaf und Traum (1844), 117, Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1833), 35; Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit (1824), 77; Carl Werner: Schlaflosigkeit und Schlafmittel. Für Laien und Ärzte, Berlin: Hugo Steinitz 21892, 33 und viele mehr. 1921 warnte ein Nervenarzt vor „sexuellen Excessen jeder Art“ und präzisierte zum Thema der Onanie: „Hierbei ist zu bedenken, dass gerade Schlafstörungen eines der ersten Symptome der durch die gewohnheitsmäßige Masturbation verursachten Nervenerschöpfung sind“ (Siegmund Auerbach: Die Behandlung der nervösen Schlaflosigkeit, München: Gmelin [1921], 12).

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Hinter den Internatmauern graut es den Erziehern vor der Schlafenszeit, in der ungezügelte Träume ihren Tribut fordern. Das Zubettgehen gestalten sie nach dem Vorbild einer Grablegung und machen aus dem Aufstehen eine Auferstehung, ein Hinaufschnellen, damit ein allzu gefälliger, sanfter Halbschlaf vermieden wird.366

Ein weiteres Element im Schlafdiskurs war das Problem der nächtlichen „Pollutionen“, die im Kontext des Onaniediskurses ausführlich diskutiert wurden.367 Aber auch der eigentliche Geschlechtsakt fand immer wieder Eingang in das Thema: So hatte Nudow 1791 unter die „entfernteren Ursachen des Schlafs“ den „befriedigten Geschlechtstrieb“ eingereiht: „Nach dem Beyschlaf entsteht [...] eine Abspannung aller Nerven, und natürlich eine Neigung zum Schlaf.“368 Noch 1923 fanden sich im Schlafdiskurs genau diese Elemente, die positiv konnotierte sexuelle Befriedigung und die schließlich nicht mehr so kategorisch negativ konnotierte Selbstbefriedigung: Auch das Entbehren des gewohnten Geschlechtsverkehrs kann infolge des dadurch gesetzten unbefriedigenden Reizzustandes schlafhemmend wirken. Unmäßigkeiten auf geschlechtlichem Gebiete, auch übertriebene Onanie können infolge der bei ihnen auftretenden allgemeinen nervösen Störungen den Schlaf sehr ungünstig beeinflussen. Dasselbe wird der Fall sein, wenn der Geschlechtsakt zu einer über die Kräfte gehenden Anstrengung wird, z.B. bei Herzerkrankungen, Arterienverkalkung, bei geringer Potenz usf.369

Das zugrundeliegende Ideal war auch in diesem Diskursstrang letztlich die Mäßigung – „im Essen, Trinken und Rauchen, sowie die natürliche und schonende Ausübung des Geschlechtstriebes“.370

366 Alain Corbin: Wunde Sinne. Über die Begierde, den Schrecken und die Ordnung der Zeit im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Klett-Cotta 1993, 16. Das Beispiel aus der mentalitätsgeschichtlichen Forschung zeigt, wie lohnenswert eine weitergehende Untersuchung der Schlafpraktiken im bürgerlichen Zeitalter wäre. 367 Pilloud und Louis-Courvoisier veranschaulichen dies anhand von Patientenbriefen an Tissot, in denen Schlafprobleme mit erotischen Träumen und nächtlichen Samenergüssen in kausalen Zusammenhang gestellt wurden (The intimate experience of the body, hier 460). Zum deutschen Onaniediskurs siehe auch: Friedrich Hildebrandt: Über die Ergießungen des Samens im Schlafe, Braunschweig: Schulbuchhandlung 1792. 368 Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs (1791), 21. Er beruft sich auf Haller (29): „Geschlechtslust. – Die Geilheit, sagt Haller, macht anfangs das Thier lebhaft und heiter; ist sie aber gesättigt, so hat sie Traurigkeit und Neigung zum Schlaf zur Folge.“ 369 Ernst Siemerling: Schlaf und Schlaflosigkeit (Schwabachers Medizin. Bibliothek 7), Berlin: Schwabacher 1923, 28. Vgl. auch: Richard Traugott: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung, Würzburg: Curt Kabitzsch, 31913 (11902), 33–36. 370 Joseph Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen, Berlin: Deutscher Verlag 1902, 17.

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Der Onaniediskurs war ein männlicher Diskurs insofern, als Männer darüber verhandelten; die Onanie selbst galt aber nicht als ein rein männliches Phänomen, auch wenn in diesem speziellen Fall der Hinweis auf die Potenz eine entsprechende Interpretation nahe legt. Der Schlafdiskurs dagegen, der ebenso von Männern geformt wurde, scheint auf den ersten Blick ein geschlechtsneutraler Diskurs über den Menschen gewesen zu sein.371 In den Wissenschaften vom Menschen, die sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hatten, galt seit etwa 1800 als – nicht unbedingt ausgesprochene – Norm des Menschen der gesunde Bürger, genauer der gesunde männliche Bürger. Mit der überwiegenden Identifizierung des Menschen als Mann war etwa zeitgleich die Entwicklung einer „weiblichen Sonderanthropologie“372 verbunden. Hintergründe für diese Entwicklung war vor allem das neue anthropologische Interesse am Körper, einhergehend mit dem zeitgenössischen Denken in Polaritäten. Die Physiologen konstatierten nun nicht mehr nur eine prinzipielle, über die Geschlechtsorgane hinausgehende anatomische Unterschiedlichkeit, wie das Haller noch getan hatte, sondern stellten ein Entwicklungsmodell, eine Hierarchie auf, nach der die Lebewesen den Pflanzen und die Männer den Frauen übergeordnet waren.373 Das durchschnittlich geringere weibliche Gehirngewicht sah man nicht mehr in Relation zum geringeren Körpergewicht, sondern absolut; auf die Spitze getrieben konnte das zu einer Theorie des „physiologischen Schwachsinns des Weibes“374 führen. Die Frau galt, strukturell nicht unähnlich dem „Irren“ oder dem „Neger“, als das „Andere“ der Norm.375 Um 1850 schien der „Mann der Moderne“ „endgültig 371 Vgl. Sonja Kinzler: Sleep and the body in 19th century Germany: A gendered discourse (?), in: Özen Odag, Alexander Pershai (Hgg.): Negotiating space for gender studies: Frameworks and applications, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2005, 105–117. Zum Zusammenhang von Geschlecht und Körpergeschichte: Barbara Duden: Geschlecht, Biologie, Körpergeschichte. Bemerkungen zu neuer Literatur in der Körpergeschichte, in: Feministische Studien 2 (1991), 105–122. 372 Honegger (Die Ordnung der Geschlechter). 373 Gerabek: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik, 336; Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, 171–172. 374 Paul J. Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Halle an der Saale: Marhold 1900. 375 Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, 114. Mit dem Gewicht des weiblichen Gehirns befasste sich zuerst Jakob Fidelis Ackermann, Schüler des Anatoms und Anthropologen Samuel Thomas Soemmering, dem Autor von „Ueber die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer“ (Frankfurt am Main/Mainz: Varrentrapp Sohn und Wenner 1785), der allerdings selbst noch keine „Psychologisierungen“ anstellte (Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, 172, 176–177). Zu Soemmering s. a.: Hagner: The soul and the brain between anatomy and Naturphilosophie.

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zum modernen Menschen der Humanwissenschaften verallgemeinert“,376 was bedeutet, dass seit etwa 1800 jeder Diskurs über den Menschen letztlich den Mann als Maßstab nahm.377 Die weibliche Sonderanthropologie flaute nicht mit dem Ende der naturphilosophisch-anthropologischen Medizin ab, sondern blühte im Gegenteil mit dem Vorrücken des bürgerlichen 19. Jahrhunderts mit seiner wiederum von der Anthropologie gestützten Theorie der getrennten sozialen Sphären des männlich-rational-öffentlichen Lebens und des weiblich-emotional-häuslichen Lebens auf.378 Burdach war einer derjenigen Ärzte, die diese Ideologie als Wissenschaftler untermauerten, wenn er erläuterte: [Dass] in dem Weibe das innerliche Leben, Bilden und Erhalten, im Manne dagegen das Schaffen und Wirken im Äußern vorwaltet, ist schon darin angedeutet, daß die Eierstöcke im Innern des Beckens, die Hoden hingegen außerhalb der Rumpfhöhle [...] liegen.379

Für den Schlafdiskurs bedeutete dieser wissenschaftshistorische Kontext, dass das Reden über den Schlaf des Menschen nicht geschlechtsneutral sein konnte. Der antiken Diätetiktradition folgend gingen die Autoren außerdem schon vor 1800 von einem differenzierten Blick auf den Menschen aus: Der Schlaf war zu unterscheiden nach Alter, Persönlichkeit oder Lebensstil – und teils eben auch nach dem Geschlecht. Allerdings sind explizite Äußerungen dazu relativ selten zu finden, eher schwingt ein Ausgehen von männlichen Adressaten mit, wie etwa bei einer von Hufelands Empfehlung gegen Schlafprobleme, nämlich abends Holz zu hacken.380 Indirekt wurde geschlechtsspezifisches Schlafverhalten gelegentlich konstatiert, wenn der Schlaf und die Temperamente in Zusammenhang gebracht und letztere mit Geschlechterstereotypen verbunden 376 Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, 6. 377 Die Bedeutung medizinischer Forschung im 18. Jahrhundert für die Festschreibung von Geschlechterrollen stellt Schiebinger anhand von Soemmerings Darstellungen des weiblichen Skeletts dar: Londa Schiebinger: Skeletons in the closet. The first illustrations of the female skeleton in eigtheenth-century anatomy, in: Catherine Gallagher, Thomas Laqueur (Hgg.): The making of the modern body. Sexuality and society in the nineteenth century, Berkely/London: University of California Press 1987, 42–82. 378 Zur Verbindung der separate-spheres-Ideologie und den entsprechenden Polaritätskonstruktionen mit der Medizin: Ludmilla Jordanova: Sexual visions. Images of gender in science and medicine between the eighteenth and twentieth centuries, Madison/Wisconsin: University of Wisconsin Press 1989. 379 Burdach: Anthropologie für das gebildete Publicum. Der Mensch nach den verschiedenen Seiten der Natur, Stuttgart: Balz 1837, zitiert nach Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, 198–199. In der Auflage 21847: 485 (unter „Die Zeugung“: „Die Geschlechter“, 481–88). 380 Hufeland: Der Schlaf und das Schlafzimmer (1803), 34.

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wurden. Das „Encyclopädische Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften“ fasst entsprechend zusammen: Im Begriff des Geschlechtes sind die Angaben verschieden: einige Schriftsteller behaupten, die Frauen schliefen mehr, als die Männer, andere gerade das Umgekehrte. Ich glaube, das Geschlecht kommt weniger in Betracht, als die Nervenreizbarkeit.381

Nun galt aber die Reizbarkeit der Frauen generell als höher, nicht umsonst war insbesondere die Hysterie überwiegend weiblich konnotiert.382 Dieses Stereotyp schlug sich auch im Thema des Somnabulismus nieder: „Die Somnambuele [...] wird ganz Gefühl, Receptivität, auch wenn sie männlich ist, in welcher Beziehung die männliche Somnambuele eine Charakterseite der Weiblichkeit übernimmt.“383 Die Temperamente lösten sich im 18. Jahrhundert aus ihrer traditionellen Geschlechtsneutralität, so dass unter schlafdiätetischen Vorzeichen um 1840 behauptet wurde, dass „Männer, deren Temperament dem der Frauen analog, also phlegmatisch und sanguinisch, oder phlegmatisch und nervös“ sei, „im Allgemeinen sehr geneigt zum Schlaf“ seien,384 beziehungsweise dass Phlegmatiker länger schliefen als Choleriker und Sanguiniker, „daher im Durchschnitte Weiber länger, als Männer“.385 Allerdings zeigt sich bei der Frage nach dem weiblichen Schlafbedarf eine ähnliche Problematik wie beim Mittagsschlaftopos: Es fehlten die objektiven, wissenschaftlichen Kriterien, die über auf Erfahrung gestützte Hypothesen hinausgingen. Daher wurde, diesmal gesellschaftlich argumentiert, zeitgleich genauso angenommen, Frauen schliefen zwar gerne, brauchten aber wegen ihrer naturgegebenen, relativ anspruchslosen Mutterrolle gegebenenfalls weniger Schlaf: Männer pflegen sich an eine festere Regel des Schlafs zu gewöhnen, als Frauen, welche [...] gerne lang schlafen, als ob sie sich einen Vorrath an Ruhe für die Zeit sammeln müßten, wo sie mit der Pflege kleiner Kinder beschäftigt, oft Monate lang keinen erquickenden Schlaf finden. Freilich können sie dabei auch leichter ausdauern, als

381 Gräfe (Hg.): Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Artikel „Schlaf“ (1843), 410. 382 Zur Geschichte der Hysterie: Karen Nolte: Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900 (Geschlechter und Geschichte 42), Frankfurt/New York: Campus 2003; Mark S. Micale: Approaching hysteria. Disease and its interpretations, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1995. Demnach war die Hysterie bis ins 18. Jahrhundert hinein verbunden mit weiblichen Unterleibserkrankungen, bevor sie im 19. Jahrhundert überwiegend zur Nervenkrankheit wurde. 383 Buchholz: Ueber den Schlaf und die verschiedenen Zustände desselben (1821), 69. 384 Jan: Der Schlaf (1836), 27. 385 Fleck: Ueber Schlaf und Traum (1844), 46.

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Männer, weil ihr Tagewerk lange nicht so angreifend ist, und in einer Art Halbschlaf verrichtet werden kann.386

Diese gesellschaftliche Abwertung der Frau entspricht ihrer von den Anthropologen gestützten physiologischen Unterordnung. Genau wie bei der Schlafdauer wurde auch in Bezug auf die Schlafqualität von einem Unterschied ausgegangen, der aber genauso wenig klar festzumachen war. Im Verlauf des 19.  Jahrhunderts, als sich das Interesse vom Schlaf zur Schlaflosigkeit verlagerte, schienen die Frauen an Schlafqualität zu verlieren. Daher wiederholten die Ratgeber die Notwendigkeit der Disziplin, der moderaten Schlafdiätetik, auch bei schwangeren Frauen.387 In den 1870er Jahren gab es eine, allerdings nicht weiter beachtete, phrenologische Theorie, die wie selbstverständlich die Verbindung von Geschlecht und Nervosität aufgriff, mit einem „vermehrten, jedoch nicht krankmachenden Plus an Wasser“ im Kinder- und Weiberhirn sei „eine Agilität der Phantasie stets verbunden, welche eine nervöse Aufregung und Schlaflosigkeit bedingt“.388 In der Romantik dagegen hatte das Stufen- und Gegensatzdenken noch dazu geführt, dass man davon ausging, dass „Wilde“, Arbeiter, Frauen, Kinder und Kranke den tieferen Schlaf hätten. So kam Lebenheim aufgrund seiner Naturphilosophie des Schlafes zu dem Schluss: daß die niedern Volksclassen den leisen Zug, welchen das Weiterbilden als Spur des Winterschlafes der menschlichen Natur einprägt, tiefer und innerlicher aufgenommen haben, als die cultivirten, bei welchen sich überhaupt das Aufgenommenseyn der Aussenwelt weniger klar abspiegelt; daß ferner das weibliche Geschlecht tiefer, als das männliche, Kinder mehr, als Erwachsene, Schwache mehr, als Starke, Kranke mehr, als Gesunde, diesem Leiden [gemeint ist der Schlaf als passiver Zustand] unterliegen.389

Überwiegend richtete sich aber das Interesse der Autoren, sei es der Philosophen, der Physiologen oder der Diätetiker, nicht auf die Abweichungen des Schlafs von der anthropologischen Norm. Nicht der Schlaf der Kranken, der Fremden und der Frauen, nicht einmal der Schlaf der Kinder war so interessant wie der eigene Schlaf. 386 Ideler: Allgemeine Diätetik für Gebildete (1846), 172. Dass der Schlafbedarf der Frauen geringer sei, beobachtet auch Neumann: Der Schlaf (1810), 315. 387 Klencke: Das Weib als Gattin (1875), 243–245. Der Gynäkologe und Diätetiker Jörg gesteht der Schwangeren 1 bis 2 Stunden mehr Schlaf zu: Eileithyia oder diätetische Belehrungen für Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen, welche sich als solche wohl befinden wollen. In zehn an gebildete Frauen gehaltene Vorlesungen von Johann Christian Gottfried Jörg, praktischem Arzte, Geburtshelfer und akademischem Privatdocenten auf der Universität in Leipzig, Leipzig: Carl Cnobloch 1809, 35. 388 Nagel: Der natürliche und künstliche Schlaf (1872), 18. Zur Geschichte der Phrenologie: Breidbach: Die Materialisierung des Ichs, 73–88. 389 Lebenheim: Versuch einer Physiologie des Schlafes, Bd. 1 (1823), 78.

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Der „Schlaf der Gelehrten“ war und blieb daher ein fester Bestandteil des Schlafdiskurses. Er stand im diskursiven Kontext der „Gesundheit der Gelehrten“. Schon Galen hatte über Patienten berichtet, die klagten, das wissenschaftliche Arbeiten belaste ihre Gesundheit.390 In der Renaissance tauchte der Topos der Gelehrtenkrankheiten erneut auf, auch in den zeitgenössischen Schlaftraktaten: Zugunsten des Studiums wach zu bleiben, galt als ungesund.391 Der Gelehrtenschlaf war dabei selbstverständlich männlich kodiert, weibliche nächtliche Arbeiten fanden normalerweise keine Erwähnung – die seltene, sozusagen komplementäre Ausnahme: „Näherey“.392 Im 18. Jahrhundert ging man davon aus dass, „anstrengende Arbeiten des Geistes [...] einen etwas längeren Schlaf [forderten], weil diese das Nervensystem noch mehr als Arbeiten des Körpers, schwächen“.393 Einmal mehr war im Betreff der „Gesundheit der Gelehrten“394 Tissot Wortführer. Nicht mehr die Säfte, sondern Gehirn und Verdauung waren nach Tissot durch die Kopfarbeit erhöhter Belastung ausgesetzt, was zu Ermüdung und Verstopfung führen könne. Die Lebensführung spielte dafür eine entscheidende Rolle, insbesondere das lange Sitzen („die stete Ruhe des Leibes“)395 und das nächtliche Studieren in dunklen, schlecht gelüfteten Räumen. Die Gefahren skizziert Tissot folgendermaßen: Die Beschäftigung im Cabinet, sagt Rousseau, macht die Leute weichlich, sie schwächt ihr Temperament, und die Seele kann ihre Kräfte schwerlich behalten, wenn der Leib die seinen verlohren hat. Das Studiren verschleißt die ganze Maschine, erschöpft die Lebensgeister, zerstört die Kräfte, entnervt den Muth, macht verzagt, und unfähig sowol den Beschwehrden als den Leidenschaften zu widerstehen.396 390 Zur Geschichte des Topos der Kopfarbeit in der Medizin: Werner Friedrich Kümmel: Kopfarbeit und Sitzberuf. Das früheste Paradigma der Arbeitsmedizin, in: Jahrbuch des Instituts für Medizin der Robert Bosch Stiftung 6 (1987), 53–70. 391 Dazu auch Wittern: Der Schlaf als medizinisches Problem, 52. 392 Handarbeiten als Pendant zum nächtlichen Studieren finden Erwähnung bei Christian Felix Weiße: Der Kinderfreund. Ein Wochenblatt (19. Theil 1781,), zitiert nach Münch: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit, 201. 393 Hildebrandt, Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf, 168– 169. 394 Samuel André Tissot: Von der Gesundheit der Gelehrten (und derer die in kränklichen Umständen sind), Zürich/München: Artemis 1976 (Nachdruck der Ausgabe Zürich: Füsslin, 1768). 395 Tissot: Von der Gesundheit der Gelehrten (1768), 16. 396 Tissot: Von der Gesundheit der Gelehrten (1768), 35–36. Auf Rousseau und dessen Kultur- oder Zivilisationskritik verweist explizit auch Roelcke, der zur Historisierung des Begriffs der Zivilisationskrankheit den Topos von der Krankheit der Gelehrten anführt (Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, 15–17).

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Unter Bezugnahme auf Tissot ging Hufeland so weit, die zunächst oft beabsichtigte, also willkürliche Schlaflosigkeit der Gelehrten als maßlos, unmoralisch und letztlich selbstmörderisch zu verurteilen.397 Aber nicht nur Hufeland griff den Topos des nächtlichen Studierens auf.398 In makrobiotisch-reiztheoretischer wie in aufklärerisch-moralischer Perspektive und über das gesamte 19.  Jahrhundert hinweg wurde die geistige Nachtarbeit zu einem der am meisten angeführten Diätfehler wider die Natur stilisiert.399 Zumeist wurden in diesem Zusammenhang Bewegung, leichte Unterhaltung400 und der im gesamten Untersuchungszeitrum oft beschworene Schlaf vor Mitternacht empfohlen.401 In Fischers Schlaflosigkeitsratgeber findet sich unter den Fallbeispielen selbstverständlich auch das eines typischen kranken jungen Gelehrten, der sich überarbeitet und bald unter Verdauungs- und Schlafproblemen leidet. Fischers auch in diesem Fall erfolgreiche Therapie ist einmal mehr die Umstellung des Lebenswandels; zunächst verschreibt er dem Patienten aber Baldrian für die Nerven, ein Abführmittel und eine Trink- und Badekur.402 In der Bewertung des Umgangs der Gelehrten mit ihrer Gesundheit unterscheidet sich die Diätetikliteratur der Aufklärung und Romantik deutlich von 397 Hufeland: Der Schlaf und das Schlafzimmer (1803), 45. 398 Vgl. etwa: Anonymus: Gedanken vom Schlafe (1746); Ideler kritisiert (Die Allgemeine Diätetik für Gebildete [1848], 175), man „verbanne“ den Schlaf „mit Gewalt [...] durch Reizmittel aller Art“, „um sich nur 3–4 Stunden des Nachts aus dem Joche auszuspannen.“ 399 So beispielsweise Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs (1791), 230–239; Struve: Der Gesundheitsfreund der Jugend (1803), 146; Consbruch: Diaetetisches Taschenbuch (1820), 288; Jan: Der Schlaf (1836), 71; Ideler: Handbuch der Diätetik (1855), 78. Der Gelehrtentopos findet sich als „Kopfarbeit“ noch bei Eduard Reich: Arbeit und Lebensnoth aus dem Gesichtspunkte der Gesundheitspflege und des Humanismus. Berlin: Gustav Hempel 1881; Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung, Berlin: Wilhelm Möller [1896], 36–37 und 52–53. Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel (31896), 9 urteilt, tiefer, traumloser Schlaf sei der Schlaf der „Arbeiter, das Anrecht der Jugend, der Erwerb großer körperlicher Anstrengungen bei günstigen äußeren Lebensbedingungen, oder der Schlaf nach Aufnahme bestimmter toxischer Substanzen“. Gegen den Topos der ungesunden nächtlichen Kopfarbeit wendet sich erst viel später Siemerling: Schlaf und Schlaflosigkeit (1923): „Die Periodizität des Schlafens und Wachens können wir willkürlich verkehren, [...] ohne die geringste Störung des Organismus zu empfinden.“ 400 Zum Typ des Gelehrten im 18. Jahrhundert, u.a. zum Abgeschiedenheitsideal: Roger Chartier: Der Gelehrte, in: Vovelle (Hg.): Der Mensch der Aufklärung, 122–168. 401 Auch in der schweizerischen Ratgeberliteratur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Hufeland immer wieder explizit als einschlägige Autorität herangezogen. Der Topos vom Schlaf vor Mitternacht geht dieser zufolge auf ihn zurück (Messerli: Zeitnutzung, 214–215). 402 Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831), 111–119; zum Gelehrtentopos auch 8 und 36– 37 sowie 52–53.

Resümee

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der biographischen Literatur dieser Epoche. Dort findet sich der Gelehrtentopos ebenso häufig und fast durchgehend positiv konnotiert: Arbeitsamkeit bis hin zur Schädigung der eigenen Gesundheit zeichnet den Bürger in seiner Biographie vielmehr als guten, fleißigen Menschen aus. Der Gelehrtentopos dient hier klar der sozialen Distinktion. Diese Erkenntnis aus der Bürgertumsforschung ist eine wertvolle Ergänzung des Themas als Diätetikfrage; zugleich sind die zusätzliche Erklärung des Phänomens mit neuen Verdienstmöglichkeiten der zeitgenössischen Gelehrten und die Annahme, dass die Rhetorik der Biographien auf tatsächliche historische Praktiken des systematischen Schlafentzugs schließen lässt, in Frage zu stellen.403 In den Überschneidungsbereichen mit gesellschaftlich-disziplinierenden Diskursen wie der Erziehung, der Sexualität oder den Geschlechterrollen erweist sich der Schlafdiskurs also als weniger neutral als die liberalen, den individuellen Bedürfnissen unterworfenen Vorgaben zur Schlafdauer zunächst nahe legen. Gerade auch am Gelehrtentopos wird zudem die Bürgerlichkeit des Schlafdiskurses besonders deutlich, insofern sich das Reden über den Schlaf um die eigene soziale Schicht dreht, das erstarkende Bürgertum, das sich mit der Selbstthematisierung von anderen Schichten abzusetzen begann und im Zuge der Universalisierung bürgerlicher Werte diese unermüdlich thematisierte.404 Ähnlich wie schon die Volksaufklärung den Adressatenkreis ausweitete, sollte dann im späteren 19. Jahrhundert die Ermüdungsforschung mit Untersuchungen nicht nur der geistigen Ermüdung, sondern gerade auch der physischen Erschöpfung den Kreis seiner Forschungssubjekte verbreitern: auf die Masse der Fabrikarbeiter. 1.5. Resümee: Erklärung und Bedeutung des Schlafs zwischen 1750 und 1850

In der Zeit der Aufklärung und der Romantik war der wissenschaftliche Zugang zum Phänomen des Schlafs wesentlich vom Bild des Menschen in der Gesellschaft geprägt. Dabei ging es nicht nur um die Frage nach seiner sozialen Rolle, sondern auch nach seiner Natur, also auch um die zeitgenössischen Körperkonzepte. Diese Bereiche, das soziale und biologische Menschenbild, waren eng verbunden, was sich daran ablesen lässt, dass die meisten wissenschaftlichen

403 Vgl. Maurer: Die Biographie des Bürgers, 387–411 und 424–425. 404 Göckenjan stellt etwa heraus, dass sich Tissot wie Rousseau mit einem bürgerlichen Milieu befasste, von welchem aus der den Lebensstil der Oberschichten kritisierte (Göckenjan: Kurieren und Staat machen, 76).

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Autoren dieses Zeitraums weder ausschließlich Philosophen noch reine Mediziner waren.405 Der aufklärerische Schlafdiskurs war geprägt von Bürgerlichkeit in seinen Werten und Materialismus in seinen Theorien. Zunächst bedeutete der cartesianische Materialismus die Säkularisierung des Schlafs. Von Interesse war nun kaum noch, wie der Zusammenhang zwischen dem unvermeidlichen Joch des Schlafs und der Vertreibung aus dem Paradies zu fassen war. Stattdessen wurde der Schlaf zum Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen, deren Definitions- und Erklärungsversuche ihn in den Debatten des Leib-Seele-Dualismus ansiedelten: Körperliche und geistige Ermüdung, zwei Begriffe, die eigentlich aus der Ermüdungsforschung des späteren 19. Jahrhunderts stammen, hier als Phänomen aber bereits thematisiert wurden, standen offenbar in Zusammenhang. Der Schlaf war für die zeitgenössischen Mediziner-Philosophen ein besonders anschaulicher Gegenstand, an dem sie die Interaktion von Leib und Seele zu begreifen suchten. Anders als andere Körperfunktionen wie die Verdauung beinhaltete der Schlafdiskurs eine metaphysische Komponente, die ihm über die Aufklärung hinaus bleiben sollte. Zunächst war das Erklärungsangebot die Erschöpfung und Restauration der Säfte respektive des spiritus animalis. Das aufklärerische Ideal vom selbstbestimmten Menschen wurde zudem treffend ergänzt von der aus der Antike überlieferten Hygienetradition, die daher im späten 18. Jahrhundert eine Blüte erlebte: Die Eigenverantwortung für die Gesundheit war, was den Schlaf betraf, aus der Theorie der sex res non naturales herzuleiten, nach der das Individuum für die Synkrasie der Säfte oder, in der neuen Sprache der bürgerlichen Aufklärer, für ein Mittelmaß in der Lebensführung zuständig war. In gesundheitlichen Fragen schlugen sich die Werte der neuen Bürgerschicht deutlich nieder. Dies zeigte sich im praktischen Umgang mit dem letztlich zutiefst unheimlichen Phänomen Schlaf, der den Menschen seiner Selbstkontrolle beraubt. Mit der Entdeckung der Reizbarkeit von Muskeln und Nerven zeichnete sich im Schlafdiskurs ab der Mitte des 18. Jahrhunderts ein neues Paradigma ab, das die Säftelehre endgültig ablöste. Die Reiztheorie bedeutete eine deutliche Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Innern des Menschen, seinen Säften – die freilich von außen, von den non naturales beeinflusst wurden – auf die Umweltfaktoren, deren Einflüsse auch auf den schlafenden Körper aus eigener 405 Vgl. auch Tanner, der betont, dass die „Suche nach den Konstruktions- und Funktionsprinzipien ‚des Menschen’“ „seit der Aufklärung ein interdisziplinäres Unternehmen“ gewesen sei (Jakob Tanner: Wie machen Menschen Erfahrungen? Zur Historik und Semiotik der Körpers, in: Körpergeschichte als Sozialgeschichte/ Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte [Hg.]: Körper Macht Geschichte – Geschichte Macht Körper, Bielefeld/ Gütersloh: Verlag für Regionalgeschichte 1999, 16–34, hier 21.).

Resümee

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Erfahrung nachvollziehbar waren. Dies zeigt sich etwa daran, dass die Bedeutung abnahm, die man der Verdauung für den Schlaf zumaß.406 Die Gleichzeitigkeit der breiten Rezeption des Brownianismus als vereinfachter Reiztheorie und der Popularität des Genres der Hygieneratgeber, die mit ihm argumentierten, bedeutete um die Wende zum 19. Jahrhundert auch eine Popularisierung des Schlafdiskurses. Um die Jahrhundertwende zeichnete sich ein Wandel des Menschenbildes ab. Auch im Schlafdiskurs stand nun nicht mehr der perfektible Mensch im Zentrum der Argumentationen, sondern sie drehten sich um die naturphilosophische Einbettung des menschlichen Organismus in die Gesetze der Natur. Der Schlaf wurde daher nicht mehr im eigentlichen Sinne problematisiert, sondern nur mehr thematisiert, allerdings sehr prominent, da er für die Verbindung der Natur des Menschen, die vom natürlichen Rhythmus des Tages bestimmt ist, mit der kosmischen Natur stand. In diesem Sinne bedeutete die Romantik für den Schlafdiskurs eine Zäsur. Anders als zuvor in der Aufklärung und anders als später in der Industrialisierung wurde der Schlaf in der Romantik vorübergehend nicht als ein abzuschüttelndes oder gar abschüttelbares Joch verstanden. Die Definitionsbemühungen wurden in einer Epoche, die sich gerade auch für die Schattenseiten der menschlichen Existenz begeisterte, mit Abgrenzungen des Schlafs von anderen „Zuständen“, wie dem Scheintod oder dem magnetischen Schlaf, weitergeführt.407 Die Körpergeschichtsschreibung stellt für das 18. Jahrhundert drei grundlegende Körperkonzepte heraus: Das Maschinenbild, die Säftelehre und die Nervenreize.408 Für die Zeit um 1800 gelten als „diskursstrukturierend“ in der Medizintheorie der „Neohippokratismus, die Sprache der Irritabilität, der Sensibilität und des Reizes und schließlich die Theorie des Subjekts der medizinischen Aufklärer“.409 Der Schlafdiskurs ist in diesen Analysen klar wiederzuerkennen. Das bedeutet, dass die wissenschaftliche Problematisierung des Schlafs in den jeweils zeitgenössisch zentralen Debatten stattfand. Darüber hinaus fällt 406 Die Verdauung wurde stattdessen eigens thematisiert: Wie zum Thema Schlaf erschienen zum Ende des 18. Jahrhunderts die ersten eigenständigen Veröffentlichungen über die Verdauung (Delon: Konzepte der Medizin, 294). Zur Geschichte der Verdauung: James C. Whorton: Inner Hygiene. Constipation and the pursuit of health in modern society, Oxford University Press 2000. 407 Als wichtige Themen der ausgehenden Aufklärungsmedizin stellt Delon heraus: die „Frage nach den Kategorien, die die Grundlage des medizinischen Diskurse bildeten: die Probleme von Leben und Tod, Körper und Seele, Vernunft und Wahnsinn.“ (Delon: Konzepte der Medizin, 293). 408 Pilloud: The intimate experience of the body. 409 Sarasin: Reizbare Maschinen, 33.

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aber auf, dass der Schlaf als (gottgegebenes)410 Naturgesetz immer an ihren Grenzen angesiedelt war und anders als andere den non naturales entstammenden Themen an die fundamentalen Fragen nicht nur nach der Physiologie, sondern auch nach dem Wesen des Menschen rührte. Hörte der Mensch im Schlaf vielleicht doch auf „Mensch zu seyn“?411 Der Schlaf war nach allen Versuchen, ihn wissenschaftlich zu fassen, noch lange nicht entzaubert.412

410 Der generelle Gottesbezug wurde im 18. Jahrhundert trotz der Säkularisierung des Zugangs weiterhin gelegentlich hergestellt (es war wesentlich „unbestritten, daß Gott jederzeit in die Funktion des Uhrwerks eingreifen konnte“, so Bergdolt: Leib und Seele, 241), im Vordergrund stand aber immer deutlicher die Naturgesetzlichkeit. Vgl. Hildebrandt, Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf (1788), 167 oder Wildberg: Handbuch der Diätetik (1828), 303, der den Nachtschlaf begründet: „Aus der Erfahrung aller Zeiten ergiebt sich, dass diese periodische Abwechselung des Wachens und des Schlafs der Natur nach mit der Umdrehung der Erde um ihre Achse ein gewisses Verhältnis beobachtet, so dass die Ruhe des thierischen Lebens am vollständigsten und die Restauration der Kräfte durch dieselbe am vollkommensten in der Nacht geschiehet, also der Schlaf seine ihm vom Schöpfer angewiesene Bestimmung am vollkommensten in der Nacht erfüllt.“ 411 Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit (1824), 26. Oder ist „der Mensch in der einen Hälfte seines Lebens mehr eine Maschine als ein Mensch“? (Formey: Versuch vom Schlafe, 422). 412 Den Begriff der „Entzauberung der Welt“ durch den Fortschritt, durch die „intellektualistische Rationalisierung durch Wissenschaft“ prägte Max Weber (Wissenschaft als Beruf, original 1919, hier zitiert Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1995, 9 und 8.

2. Schlafphysiologie in der Industrialisierung Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machten sich Wissenschaftler erneut an die Entzauberung des Schlafs, indem sie ihn auf der Mikroebene des Blutes untersuchten und instrumentengestützte Experimente zu Ermüdung, Schlafverlauf und Erweckbarkeit anstellten. Damit kehrte ein rationalistischer, empirischerer Blick auf die Natur des Menschen zurück. Deutschland mit seiner eigentümlichen romantischen Bewegung und deren Einfluss auf die Wissenschaften hatte an der Wende zum 19. Jahrhundert in Sachen Naturwissenschaften und Medizin noch als rückständig gegolten.413 Ab der Jahrhundertmitte kann man nicht nur von einem Auf-, sondern auch von einem Überholen sprechen, insbesondere für die Physik mit der Entdeckung der Thermodynamik und der Faszination an der Elektrizität, für die Chemie mit der entstehenden pharmazeutischen Industrie und für die Physiologie. Neben der Hygiene waren es diese beiden Disziplinen, die den Schlafdiskurs bald vorrangig bestimmten.414 Die wissenschaftliche Erforschung war, genau wie der gesellschaftliche Stellenwert des Schlafs im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, wesentlich gekennzeichnet von der Industrialisierung sowie ihren naturwissenschaftlichtechnischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Implikationen. Insbesondere die Umstellungen auf eine maschinelle Produktionsweise und die Verstädterung veränderten das Menschenbild grundlegend. In der Wissenschaft ging diese Entwicklung damit einher, dass Arbeitsphysiologen ausgehend von Ermüdungs- und anderen Experimenten die Koordinationsprozesse von Mensch und Maschine zu optimieren suchten. Gleichzeitig mussten die modernen Arbeiter den Schlaf an eine neue, nicht mehr vor allem vom landwirtschaftlich geprägten Tagesablauf, sondern vom industriellen Arbeitsrhythmus bestimmte Zeitökonomie anpassen.415 Der Schlaf erschien nun verstärkt als 413 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München: C. H. Beck 21998, 484–488. 414 Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866, 488–492. Eine gute, in die Gesellschaftsgeschichte eingebettete Zusammenfassung der Entwicklung der Naturwissenschaften vor dem Ersten Weltkrieg bietet: Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt, 48–60. 415 Zur Industrialisierung, ihrer Definition, dem Ablauf und den sozialen Implikationen: Hans-Werner Hahn: Die industrielle Revolution in Deutschland (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 49), München: Oldenbourg 1998 („Durchbruchsphase der deutschen industriellen Revolution: 1845/50–1873); Friedrich Wilhelm Henning: Die Industrialisierung in Deutschland 1800–1914, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 91995 (1780/1800– 1835: „Der Aufbruch zur Industrialisierung“); Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800– 1866, 178–210; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“, 1815– 1845/49, München: C. H. Beck 31996, 589–652 und Ders.: Deutsche Gesellschafts-

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Joch der modernen Gesellschaft, passten doch seine renitente Zyklizität und seine naturgegebene Unvermeidlichkeit nicht zum modernen Fortschrittsoptimismus. Zugleich schien in einer Zeit der erneuten, verstärkten Wissenschaftsgläubigkeit die Möglichkeit in greifbare Nähe zu rücken, die „Ressourcen des Körpers“ den „Forderungen der Zivilisation“ entsprechend unter wissenschaftliche Kontrolle zu bringen,416 letztlich das Joch des Schlafs abzuschütteln.

2.1. Problematisierung des Schlafs in der Gesellschaft der Industrialisierung

Mit der Industrialisierung eröffnete sich eine in zweifacher Hinsicht neue Problematik des Schlafs. Mit dem Ende der „organischen Zeitstruktur der vorkapitalistischen Arbeit“417 wurde er zum (Fortschritts-) Hindernis der nach den Vorgaben der Produktionsabläufe eingeteilten Arbeits- und Tagesabläufe.418 Zugleich zeigte sich anhand der Schlafgewohnheiten des 19. Jahrhunderts besonders deutlich die Kluft zwischen der – als zivilisatorischer Fortschritt beurteilten – „Intimisierung und Privatisierung des Schlafens“,419 wie sie sich in der Frühen Neuzeit abzuzeichnen begonnen hatte, und den gegenteiligen Lebensverhältnissen der pauperisierten Arbeiterschaft: Industriearbeiter teilten weiterhin die Schlafzimmer und Betten und hatten sogar Fremde, sogenannte „Schlafgänger“, als Untermieter. Als gesellschaftliches Thema problematisiert wurde der Schlaf daher während der Industrialisierung vorrangig im Kontext von Debatten um Arbeitszeiten einerseits und um Sozial- und Wohnungshygiene andererseits.

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geschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, 1849–1914, München: C. H. Beck 1995, 7–195. Anson Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, in: Philipp Sarasin, Jakob Tanner (Hgg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: suhrkamp 1998, 286–312, hier 286. Christoph Deutschmann: Der Weg zum Normalarbeitstag. Die Entwicklung der Arbeitszeiten in der deutschen Industrie bis 1918 (Studienreihe des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt am Main), Frankfurt am Main/New York: Campus 1985, 72. Zur Begriffsgeschichte des Fortschritts, dem „Leitbegriff im 19. Jahrhundert“: Reinhart Koselleck: Fortschritt, in: Brunner, u.a. (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.  2 (1975), 351–423. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt am Main: suhrkamp 191995 (original Bern 1969 bzw. 1939), 219–230 („Über das Verhalten im Schlafraum“), hier 227.

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Arbeiten, Leben und Schlafen unter dem Joch einer neuen Zeitökonomie. Zur Sozialgeschichte des Schlafs in der Industrialisierung

1845 verglich Friedrich Engels in seinen Beobachtungen der englischen Arbeiterklasse das neue Industrieproletariat mit den vor- und protoindustriellen Arbeitern in einer noch agrarisch geprägten Gesellschaft: Sie brauchten sich nicht zu überarbeiten, sie machten nicht mehr, als sie Lust hatten, und verdienten doch, was sie brauchten, sie hatten Muße für gesunde Arbeit in ihrem Garten oder Felde, eine Arbeit, die ihnen selbst schon Erholung war, und konnten außerdem noch an den Erholungen und Spielen ihrer Nachbarn teilnehmen; und alle diese Spiele, Kegel, Ballspiel usw., trugen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Kräftigung ihres Körpers bei. Sie waren meist starke, wohlgebaute Leute, in deren Körperbildung wenig oder gar kein Unterschied von ihren bäurischen Nachbarn zu entdecken war. Ihre Kinder wuchsen in der freien Landluft auf, und wenn sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen konnten, so kam dies doch nur dann und wann vor, und von einer acht- oder zwölfstündigen täglichen Arbeitszeit war keine Rede.420

Diese idealisierende, agrarromantische Darstellung ist so nicht haltbar, weder für England noch für Deutschland, weist aber auf eine der umfassendsten von der Industrialisierung eingeleiteten gesellschaftlichen Veränderungen und zugleich einen erstrangigen sozialen Konfliktstoff hin: die Trennung von fremdbestimmter Arbeitszeit und selbstbestimmter Zeit breiter Bevölkerungsschichten.421 Die Organisation von Arbeitsprozessen in agrarisch geprägten Gesellschaften hängt zunächst vor allem vom Rhythmus der Natur, also von der Sonne ab, von den Tages- und Jahreszeiten. Eine besondere Rolle spielte daher die Einführung des elektrischen Lichts, weil damit in völlig neuem Umfang Nachtarbeit möglich wurde. In Deutschland wurden Großräume wie Fabriken oder Kaufhäuser ab den 1870er Jahren elektrisch erhellt, etwa zwanzig Jahre zuvor war in großem Umfang die zentrale Gasversorgung eingeführt worden.422 420 Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, zitiert nach der Auflage Stuttgart: Dietz 61920, 2. 421 Die grundlegende Studie zum Zusammenhang von Zeit, Arbeit und Industrialisierung ist: Edward P. Thompson: Time, work discipline, and industrial capitalism, in: Past and Present 38 (1967), 56–97. Thompson bezieht sich auf Lewis Mumford, der die Uhr anstatt der Dampfmaschine die „Schlüsselmaschine des Industriezeitalters“ genannt hatte (Technics and Civilization, London: Hartcourt, Brace 1934). Zur Geschichte der Zeitmessung und Zeitkonzepte siehe auch: Stephen Kern: The culture of time and space 1880–1918, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1981; David S. Landes: Revolution in time. Clocks and the making of the modern world, Cambridge, Massachusetts u.a.: Belknap Press of Harvard University Press 1983. 422 Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 2004 (11983), 60–68 und 36–38.

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Zusätzlich zur neuen Unabhängigkeit von den natürlich vorgegebenen Zeitrhythmen brachte die Industrialisierung aber auch eine neue Abhängigkeit von fremden, durch Produktionsprozesse bestimmten Zeitrhythmen mit sich. Aus dem Blickwinkel der Sozialgeschichte lässt sich konstatieren, dass mit dem Beginn des „Maschinenzeitalters” die „objektive Zeitgestaltung, die subjektive Zeiterfahrung und die individuelle Zeiteinteilung [...], nach sozialen Gruppen differenziert, auseinanderfallen.”423 In der modernen Arbeitswelt wird die Zeiteinteilung nicht mehr von den Arbeitsrhythmen vorgegeben, die das traditionelle Handwerk kennt. Durch die Mechanisierung von Produktionsabläufen bestimmen stattdessen immer mehr die technischen Gegebenheiten, zum Beispiel die Geschwindigkeit eines maschinellen Fertigungsschrittes, die Abfolge von Arbeitsschritten. In der Konsequenz ist der einzelne Arbeiter meist nur in einen Teil der Produktion eingebunden. Vor allem aber geht die Mechanisierung der Arbeitsabläufe mit einem weitreichenden Verlust der Selbstbestimmung über die Zeiteinteilung einher.424 In der frühneuzeitlichen Arbeitswelt hatte es Tagesabläufe, die nicht von den vorindustriell organisierten Aufgaben vorgegeben waren, in erster Linie im klösterlichen Leben und in italienischen oder puritanischen Händlerkreisen gegeben. Es ist immer wieder auf den Zusammenhang zwischen der modernen Arbeitsethik und dem protestantischen Weltbild hingewiesen worden.425 423 Gunther Mai: Die Ökonomie der Zeit. Unternehmerische Rationalisierungsstrategien und industrielle Arbeitsbeziehungen, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 311– 327, hier 311. 424 Thompson: Time, work discipline, and industrial capitalism, 60, verwendet das Begriffspaar „natural work-rhythms” und „task orientation”. 425 Auf den Puritanismus als Wurzel der Arbeitsdisziplin weist vor allem Thompson hin (Time, work discipline, and industrial capitalism), Grundlage dafür ist die Webersche Protestantismusthese: Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen: Mohr 1920, 17–206. Teilweise wird in der Forschung auch innerhalb des Protestantismus weiter differenziert, so dass dem Pietismus und Calvinismus die entscheidenden Impulse zugeschrieben werden, etwa bei Hein: Arbeit, Fleiß und Ordnung, 241. Auf die italienischen Händler des Spätmittelalters verweist Sombart, der auch die Klosterdisziplin als Ursprung nennt (s. Gerhard Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München u.a.: Hanser 1992, 19–22). Zur Klosterdisziplin siehe auch: Hubert Treiber, Heinz Steinert: Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen. Über die „Wahlverwandtschaft“ von Kloster- und Fabrikdisziplin, München: Moos 1980. Ein anderes Umfeld, in dem der Tagesrhythmus vorgegeben wurde, war die Klinik, dazu s. z.B. Edward Shorter: Geschichte der Psychiatrie, Reinbek: rowohlt 2001 (Original: A History of Psychiatry, 1997), 39. Zur vorindustriellen „Lebens-Rhythmik“ siehe auch: Arthur E. Imhof: Leib und Leben unserer Vorfahren: Eine rhythmisierte Welt, in: Ders. (Hg.): Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit (Berliner Historische Studien 9.II), Berlin:

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In mentalitätshistorischer Perspektive steht das 19. Jahrhundert, in dem sich das Wirtschaftsbürgertum konsolidierte, für die Durchsetzung eines bürgerlichen Zeitmodells. Dazu gehört einerseits die bürgerliche Selbstdisziplinierung zur Regelmäßigkeit, wie sie Norbert Elias beschrieben hat und wie sich in den Selbstzeugnissen der Zeitgenossen in allen Lebensbereichen, vor allem aber in der Erziehung widerspiegelt.426 Auch der Siegeszug des Weckers, der bis um 1900 zum Massenprodukt wurde, ist ein Indikator nicht nur für eine technische, sondern auch für diese gesellschaftliche Entwicklung.427 Der Mentalitätshistoriker Corbin spricht vom Bürger, „der sich bereitwillig von der Arbeit auffressen läßt“: Der einzelne verwendet seine Zeit gänzlich auf die Arbeitsmühe, und mit ihr richten sich seine Erwartung nicht allein auf eine gesteigerte gesellschaftliche Wertschätzung [...], sondern vor allem auf ein größeres Selbstwertgefühl.428

Die Arbeit, die zuvor, wie der Schlaf, gottgegebene Mühe und Last war – das französische Wort für Arbeit „travail“ (oder spanisch „trabajo“) ist nicht zufällig abgeleitet vom lateinischen „triballium“, also Jochbalken429 – hatte bereits mit der Aufklärung allmählich eine neue, identitätsstiftende Wertigkeit im bürgerlichen Weltbild erhalten.430 Corbin stellt für das 19. Jahrhundert heraus, dass im Sinne einer „Verdichtung“ der Zeit die individuell verfügbare Zeit in ein immer engeres Korsett gepresst wird, wie das im Falle der Zeitdisziplin und -disziplinie-

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Duncker & Humblot 1981, 21–38. Zum Thema Schlaf vgl. auch Ekirch: At day’s close, 264. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation; Ders.: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hg. von Michael Schröter, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988 (11984). Zur Erziehung der Bürgerkinder zur Selbstdisziplin und zu Regelmäßigkeit und Pflichterfüllung: Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben, 116–123. Richard Mühe, Helmut Kahlert, Beatrice Techen: Wecker, München: Callwey 1991, 9–19. Corbin: Wunde Sinne, 12. Metz: Ursprünge der Zukunft, 184. Die etymologische Verbindung zwischen Arbeit und Joch stellt Ernst Gamillscheg her; eher in der Bedeutung als Marterwerkzeug sehen die Begriffe „tripalium“ oder „trabalium“ („travail“) Walther von Wartburgs französische Etymologie und das Mittellateinische Wörterbuch (Ernst Gamillscheg: Etymologisches Wörterbuch der französischen Sprache, Heidelberg: Winter 21969, 864; Walther von Wartburg: Französisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 13.II, Basel: Zbinden 1967, 291). Diese Hinweise sind Franz-J. Konstanciak von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften/Mittellateinisches Wörterbuch verdankt. Zur Veränderung des Wertes der Arbeit mit der Aufklärung insbesondere: Maurer: Die Biographie des Bürgers; Hein: Arbeit, Fleiß und Ordnung und Josef Ehmer, Peter Gutschner: Befreiung und Verkrümmung durch Arbeit, in: Dülmen (Hg.): Erfindung des Menschen, 283–303.

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rung der Internate besonders deutlich zutage tritt. Die Zeitverdichtung gehöre „zu den komplizierten und vielgestaltigen Disziplinierungsverfahren, die Foucault aufgewiesen hat“.431 Die Internalisierung der neuen Zeitökonomie wurde also eingeübt und durchgesetzt; die Zeitdisziplinierung kann dabei verstanden werden als ein „Versuch der Linearisierung des menschlichen Tätigseins“.432 Zur neuen Bedeutung von Zeit, zunehmend als Arbeitszeit verstanden, gehörte, dass sie nicht mehr als naturgegeben hingenommen, sondern als Kapital, als „commodity“433, als knappes Gut bemessen wurde. Zeit wurde Geld.434 In einer Epoche, die sich der sukzessiven Naturbeherrschung rühmte, bedeutete die neue kapitalistische Zeitökonomie für die Mehrheit der Bevölkerung daher einen immensen Bedeutungsverlust des natürlichen Bedürfnisses nach ungenutztem Verstreichenlassen von Zeit, nach Muße. Freie Zeit, so das traditionelle bürgerliche Ideal, wurde am besten zu Bildungszwecken genutzt. Bald begann neben der „Verengung des Zeithorizonts“435 die Beschleunigung, veranschaulicht in der Beschleunigung von Transport und Kommunikation durch die Eisenbahn, das Zeitempfinden zu dominieren.436 Der Soziologie Werner Sombart nannte 1913 dann „Tempo“ gar das „Losungswort“ seiner Zeit: 431 Corbin: Wunde Sinne, 13. 432 Karl H. Metz: Ursprünge der Zukunft. Die Geschichte der Technik in den westlichen Zivilisationen, Paderborn u.a.: Schöningh 2006, 174. 433 Vgl. Barbara Adam: Timewatch. The social analysis of time, Cambridge u.a.: Polity Press 1995, 105: „The market economy depends on standardized, decontextualized, commodified time”. Vgl. auch: Borscheid,, der die Modernisierung und Industrialisierung als Beschleunigungsgeschichte schreibt: Die Ökonomisierung der Zeit „sorgt für eine Beschleunigung von der Produktion bis zum Konsum durch den Einsatz von Zeitverkürzungstechniken. [...] Sie führt zur Bewirtschaftung der Zeit, die zu einem ökonomischen Faktor wird, zu einem Wirtschaftsgut.“ (Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt am Main u.a.: Campus 2004, 110.) 434 Vgl. die Redewendung „Remember that time is money“ (Benjamin Franklin, 1748), zitiert nach: Angela Schwarz: „Wie uns die Stunde schlägt“. Zeitbewusstsein und Zeiterfahrungen im Industriezeitalter als Gegenstand der Mentalitätsgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 83.2 (2001), 451–279, hier 465. Siehe auch: Thompson: Time, work discipline, and industrial capitalism, 61: „Time is now currency: it is not passed but spent.“ 435 Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann: Zur Historisierung bürgerlicher Werte, in: Dies. (Hgg.): Der bürgerliche Wertehimmel, 7–21, hier 15. 436 Die Eisenbahn bedeutete eine „Schrumpfung der natürlichen Welt“ und damit eine „zeitliche Verkürzung“: Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 2000 (11977), hier 16 und 35; Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 21980, 382–399; Gerald J. Withrow: Die Erfindung der Zeit, üs. von Doris Gerstner, Wiesbaden: fourier 1991 (engl. Original Time in history, 1988), 241–248.

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Vor den Augen jedermanns steht das Bild dieser bis zum Wahnsinn arbeitenden Menschen. Es ist ein allgemeines Kennzeichen dieser Menschen, sie mögen Arbeiter oder Unternehmer sein, daß sie beständig vor Überanstrengung zusammenzubrechen drohen. Und immer sind sie in Aufregung und Hast. Tempo, Tempo! Das ist das Losungswort unserer Zeit geworden.437

Allerdings zeigten sich gerade auch im Umgang mit der Zeit im Jahrhundert des Fortschrittsoptimismus „Grenzen der Autonomie des Menschen gegenüber der Natur“438. Die Unvermeidbarkeit des Schlafs, der die „Linearität des menschlichen Tätigseins“439 regelmäßig in Frage stellt, steht für diese Grenzen. Am Beispiel des Schlafs lassen sich sowohl die Durchsetzung als auch der Widerstand gegen die generelle Ausweitung der Ökonomisierung der Zeit konkretisieren.440 Geregelte Arbeitszeiten gehörten zu den primären Konfliktfeldern zwischen Unternehmern und Arbeitern: Unternehmer kämpften um die Pünktlichkeit und Ausdauer der Arbeiter und saßen dabei am langen Hebel der Lohnkürzungen und Kündigungen. Arbeiter, organisiert in Gewerkschaften und unterstützt von Sozialreformern, kämpften um die Beschränkung der Tages- und Wochenarbeitszeit.441 Gegen die Arbeitsdisziplinierung wurde nicht selten passiver Widerstand geübt. So war das Schlafen am Arbeitsplatz in der Kruppschen Gussstahlfabrik noch 1892 diejenige Strafe, die am häufigsten mit Geldbußen geahndet wurde, weit vor dem vorzeitigen Verlassen des Arbeitsplatzes.442 Das Schlafen wurde über Jahrzehnte hinweg in den Betriebsordnungen thematisiert und wie die Unpünktlichkeit durch Überwachung und, effektiver, mit der Einführung des Stücklohns gegenüber dem Zeitlohn kontrolliert.443 Die täglichen Arbeitszeiten betrugen bei Krupp im Zeitraum von 1840 bis 1890 unterdurchschnittliche 13 Stunden, die Nachtschichten dauerten meist 10 Stunden. Da man die Esspausen im Betrieb einrechnete, begann der Arbeitstag um 6 Uhr 437 Werner Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München u.a.: Duncker & Humblot 21920 (11913), 228. 438 Elias: Über die Zeit, XXV. Für den Zivilisationssoziologen ist die Zeit aber nicht mehr wie in der Aufklärung ein a priori, sondern vor allem eine „menschliche Syntheseleistung“. 439 Metz: Ursprünge der Zukunft, 174. 440 Die Disziplinierungsversuche etwa mit Hilfe von Policeyordnungen (Sperrstunden) und moralischen Vorgaben in der Frühen Neuzeit bezeichnet Emich als im Wesentlichen gescheitert (Zwischen Disziplinierung in Disktinktion, 67). 441 Schwarz: „Wie uns die Stunde schlägt”, 466–467 und Alf Lüdtke: Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende. Skizzen zur Bedürfnisbefriedigung und Industriearbeit um 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Gerhard Huck (Hg.): Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal: Hammer 21982, 95–122. 442 Deutschmann: Der Weg zum Normalarbeitstag, 90–91. 443 Lüdtke: Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende, 103–106.

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und endete um 19 Uhr. Die Arbeitszeit wurde nach 1890 schrittweise reduziert. Seit 1891 galt der Elfstundentag für Frauen. Als „sozialpolitische Einforderung zyklischer Bedürfnisse in einem System linearisierter Produktion“ konnte der Achtstundentag als Normalarbeitstag 1918 durchgesetzt werden.444 Der Ablauf wurde durch Läuten, später von der Fabriksirene vorgegeben. Der „Kruppsche Esel“ (Abb. 4) war lange Zeit die Bezeichnung für die Werkssirene bei Krupp in Essen. Eine Postkarte aus den Jahren um 1900 verdeutlicht so anschaulich die Macht der modernen Arbeitszeitvorgaben, dass eine zweite Bedeutung für den „Kruppschen Esel“ denkbar scheint: als Metapher für das unterjochte „Arbeitstier“, das sich beim Sirenengeräusch durch Traben zu erkennen gibt. 445 Sozial- und alltagshistorische Studien haben sich mit der Geschichte und dem Erleben der Arbeitsalltage verschiedener Zeiten, Schichten und Geschlechter befasst. Das Erwerbs- und Familienleben von Frauen erfuhr demnach ebenfalls Normierungsschübe infolge der Veränderung der Arbeitswelt. Dienstmädchen hatten sich beispielsweise oft nach Hausordnungen zu richten, die die Arbeitsabläufe vom Aufstehen an genauso wie die Schlafzeiten reglementierten.446 In den Familien der Arbeiterinnen und Arbeiter schließlich, in ihren Wohnungen, entsprachen die Umstände selten den Forderungen der Hygieniker, seien es die altbekannten, seien es neue, den Umständen der urbanisierten Lebensumwelt angepasste Forderungen. Deren gesundheitlich-moralische Maximen waren für die meisten Arbeiterfamilien nicht umsetzbar, sogar wenn sie den bürgerlichen Wertvorstellungen der Hygieniker entsprechen wollten. Ganz anders als die Wohnverhältnisse im Bürgertum, das überwiegend sehr wohl über genug Platz verfügte, so dass Rückzugsmöglichkeiten für das In444 Lüdtke: Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende, 99 und 118. Generell zur Entwicklung der Arbeitszeiten: Deutschmann: Der Weg zum Normalarbeitstag. Einen Überblick über die Entwicklung auch der Frauen- und Kinderarbeit, die zwischen 1878 und 1908 schrittweise reglementiert wurden, bietet: Wolfram Fischer, André Armengaud (Hgg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart: Klett-Cotta 1985, 435. Zum Verhältnis von Arbeit und Zeit in diesem Kontext zuletzt: Gabriela Muri: Pause! Zeitordnung und Auszeiten aus alltagskultureller Sicht, Frankfurt am Main u.a.: Campus 2004. Zitat: Metz: Ursprünge der Zukunft, 193– 194. Zur Geschichte der Kinderarbeit: Annika Boentert: Kinderarbeit im Kaiserreich 1871–1914, Paderborn u.a.: Schöningh 2007. 445 Lüdtke: Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende, 111–112. 446 Martina Kessel (Hg.): Zwischen Abwasch und Verlangen. Zeiterfahrungen von Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, München: Beck 1995, Abschnitt 63 „Tagespensum eines Dienstmädchens um 1900“, 62–63.

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Der „Kruppsche Esel“, Postkarte, um 1900

dividuum, sogar Kinderzimmer mit Kindermöbeln üblich waren, stellte sich das Wohnen der unterbürgerlichen Schichten dar.447 „Wenn es die Noth nicht durchaus erfordert, muß man nicht bey jemand andern im Bette Schlafen; wenigstens auf keine Weise bey solchen, die man nicht genau kennt“, war eine Maxime der Schlafhygieniker schon in der Aufklärungszeit.448 In dieser Forderung ist die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders deutlich, denn Schlafzimmer und Betten oder andere Schlafplätze, so die Klagen gerade auch der Sozialreformer, waren vor allem in Zeiten der akuten Wohnungsnot nicht nur schmutzig und schlecht temperiert, sondern allzu oft überbelegt. Eine Wohnung galt um 1860 als „übervölkert“, wenn sechs oder mehr Personen auf ein beheizbares Zimmer kamen oder mehr als zehn Menschen eine Wohnung mit zwei beheizbaren Zimmern teilten. 1867 lebten rund 123.000 Berliner in solchen Wohnverhältnissen.449 Zumal in Großstädten wie Berlin oder industriellen Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet war es zum Ende des 447 Gunilla-Friederike Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben: Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, v.a. 76–80. Ingeborg Weber-Kellermann: Die Kindheit – Kleidung und Wohnen, Arbeit und Spiel. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt am Main: Insel 1979, 138–155. 448 Röver: Ueber Gesundheit und Wohlanständigkeit (1803), 88. 449 Hardy: Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit, 247. Siehe auch die Schilderungen in Hans J. Teuteberg, Clemens Wischermann: Wohnalltag in Deutschland 1850–1914.

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19. Jahrhunderts durchaus üblich, dass Familien, die bereits auf sehr engem Raum wohnten, zusätzlich Untermieter oder sogenannte Schlafgänger, die die Wohnung nur zum Schlafen mit nutzten, aufnahmen. Diese Praxis bedeutete für viele Familien einen wichtigen Beitrag zum Familieneinkommen, oft konnte man sich die entsprechende Wohnung nur leisten, wenn man zahlende Untermieter aufnahm. Von den Nürnberger Arbeiterfamilien hatte so um 1900 mehr als die Hälfte ein Nebeneinkommen aus verschiedenen Formen der Untervermietung.450 Von den Bergleuten im Ruhrgebiet lebte und schlief 1893 etwa die Hälfte unter diesen Bedingungen, als Mieter oder Vermieter.451 Das Schlafstellenwesen als „Quelle gesundheitlicher und sittlicher Gefahren“452 wurde zunächst seit den 1870er und 1880er Jahren in Preußen und im Ruhrgebiet, um die Jahrhundertwende „in den meisten deutschen Bundesstaaten“ „durch Gesetz oder Polizeiverordnung“ und Wohnungsinspektionen bekämpft: Schlafgänger mussten gemeldet werden, der Schlafraum musste mindestens ein Fenster haben und pro Person 3 bis 5 Quadratmeter Bodenfläche und 10 Quadratmeter Luftraum ausmachen, Frauen und Männer waren getrennt unterzubringen. Dazu kamen die Einrichtung von Ledigen- und Arbeiterheimen, insbesondere in industriellen Ballungsräumen – im Saarrevier gab es so 1905 27 Schlafhäuser mit 4869 Betten –, und der staatlich gelenkte Wohnungsbau. Die Wohnsituation entspannte sich um die Jahrhundertwende vielerorts deutlich. Während 1861 noch etwa ein Viertel der Berliner in „übervölkerten“ Wohnungen lebte, waren es 1910 noch knapp Prozent.453

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Bilder-Daten-Dokumente (Studien zur Geschichte des Alltags 3), Münster: F. Coppenrath 1985, 220–242. Gerhard A. Ritter, Klaus Tenfelde: Arbeiter im deutschen Kaiserreich 1871–1914 (Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 5), Bonn: Dietz 1992, 503. Zur Geschichte des Arbeiterwohnens siehe v.a. 582–617. Franz J. Brüggemeier, Lutz Niethammer: Schlafgänger, Schnapskasinos und schwerindustrielle Kolonie. Aspekte der Arbeiterwohnungsfrage im Ruhrgebiet vor dem Ersten Weltkrieg, in: Jürgen Reulecke, Wolfhard Weber (Hgg.): Fabrik Familie Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal: Peter Hammer 1975, 135–176, hier 143–145. Artikel „Schlafstellenwesen“, in: Brockhaus´ Konversations-Lexikon, Berlin u.a.: Brockhaus, Bd. 14, 141896, 473–474. Artikel „Schlafstelle“, in: Herders Konversations-Lexikon, Freiburg im Breisgau u.a.: Herder, Bd. 7, 31907 (8 Bde, 1902–1907), 1206. Statistiken und die Anfänge der Reformen und die weiterhin bestehenden Forderungen sind nachzulesen bei: Johannes Altenrath: Das Schlafgängerwesen und seine Reform. Statistik, Schlafstellenaufsicht, Ledigenheime. Mit besonderer Berücksichtigung des weiblichen Schlafgängerwesens (Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt), Berlin: Carl Heymann 1919. Eine Einführung bietet: Clemens Wischermann: Mythen, Macht und Mängel. Der deutsche Wohnungsmarkt im

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Auch wenn die Industrialisierung in Deutschland mittelfristig einen wesentlich höheren Lebensstandard gerade auch für die Unterschichten bedeutete, brachte sie doch zunächst eine unter anderem mit der verbreiteten materiellen Verelendung ärmerer Arbeiterschichten verbundene Umwälzung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse mit sich, die auch die Schlafverhältnisse betrafen. Sozialhygieniker und Arbeitsphysiologen nahmen sich daher seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der sozialen Frage des Schlafs an.454 Die Berichte der bürgerlichen Zeitgenossen zeugen oft gleichermaßen von Mitleid wie von Befremden gegenüber einer unverständlichen Lebenswelt. Ein Leipziger Arzt schrieb über die Schlafsituation um die Jahrhundertwende beispielsweise: Es gibt auch Eheleute, die nicht einmal genügend Geld haben, überhaupt eine Wohnung, eine einzelne Stube für sich allein zu mieten. Sie schlafen dann mit andern, fremden Leuten zusammen, mit halbwüchsigen Kindern oder Schlafgängern in ein und demselben Zimmer. Vielfach langt der Verdienst nicht einmal zur Beschaffung zweier Betten, und die Eheleute schlafen dann in einem schmalen Bette zusammen.455

Über die Perspektive derer, die sich die Betten teilten, ist deutlich weniger überliefert. Einblicke in die Lebensverhältnisse von unterbürgerlichen, auch von ländlichen Bevölkerungsschichten ermöglichen die Ergebnisse alltagsgeschichtlicher und volkskundlicher Untersuchungen, die insbesondere im Sachgebrauch (etwa Wandbetten, Federbetten) das Beharren auf Traditionen entgegen den Reformforderungen der Hygieniker erkennen lassen.

Urbanisierungsprozeß, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800– 1918. Das bürgerliche Zeitalter, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1997, 333–502, hier 494–500. S. a. Lutz Niethammer, Franz J. Brüggemeier: Wie wohnten Arbeiter im Kaiserreich?, in: Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976), 61–134, hier 75–78 und 115–128. Vgl. a. Peter Reinhart Gleichmann: Einige soziale Wandlungen des Schlafens, in: Zeitschrift für Soziologie 9.3 (1980), 236–250, hier 243. Ritter, Tenfelde: Arbeiter im deutschen Kaiserreich 1871–1914, 582–617 (die absoluten Zahlen aus dem Saarrevier: 604). Illustrativ der Quellenabschnitt zum Thema Ledigenheime in Teuteberg, Wischermann: Wohnalltag in Deutschland, 331–338 und zum Schlafgängerwesen 317–330; Clemens Zimmermann: Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik. Die Reformbewegung in Deutschland 1845–1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 90), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, hier 85. 454 Zur Arbeitsphysiologie: Kapitel 2.2. 455 Zitiert nach Ritter, Tenfelde: Arbeiter im deutschen Kaiserreich, 540.

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Norbert Elias und die Geschichte der Bettstatt. Zur Alltagsgeschichte des Schlafens

Die einzige soziologische Theorie, auf die von historiographischer Seite im Zusammenhang mit dem Thema Schlaf Bezug genommen wurde, berührt hauptsächlich die Alltags- und die Objektgeschichte des Bettes und des Schlafzimmers: die Theorie der Privatisierung des Schlafs von Norbert Elias. Der Soziologe, der den „Prozeß der Zivilisation“ beschrieb, zog das Schlafverhalten genau wie das Essverhalten als gesellschaftliche Bereiche heran, an denen sich dieser Prozess, der mehr von Selbst- als von Sozialdisziplinierung bestimmt ist, besonders anschaulich manifestiert habe. So wie sich im Zeitraum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, also dem Zeitalter der Verbürgerlichung der Verhaltenskodizes, die Tischsitten verfeinerten – erkennbar etwa an der Durchsetzung des Essens mit der Gabel – setzte sich, so Elias, auch die Schlafkleidung allmählich durch. In Ablösung eines quasi kindlichen Verhältnisses zum Körper wuchs kontinuierlich eine „Affektmauer, die durch die Konditionierung zwischen Körper und Körper errichtet“ wurde,456 bis im 19. Jahrhundert eine „zum Selbstzwang gewordene Peinlichkeitsempfindung oder Moralität“ vorherrschte. Mit der „Privatisierung“ und „Intimisierung“ des Schlafs in der Frühen Neuzeit wurde die Praxis des Nacktschlafens abgelegt; die Schlafstätten, als Überbegriff von Schlafzimmer, Betten und anderen Lagern, wurden individualisiert und nicht mehr, wie zuvor selbstverständlich, geteilt. Elias´ eher beschreibende als erklärende Theorie wurde verschiedentlich als zu pauschal kritisiert,457 in volkskundlichen und alltagshistorischen Studien – zur Geschichte des Bettes und der Schlafkleidung und zur Geschichte des Wohnalltags – aber überwiegend bestärkt, dabei jedoch um wichtige Differenzierungen ergänzt.458 Demnach waren der Besitz oder auch nur die Benutzung eines eigenen Bettes vor allem in den einfacheren Bevölkerungsschichten bis um 1900 keine 456 Elias: Über das Verhalten im Schlafraum, 222–230, hier 230 und 237. 457 Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1: Nacktheit und Scham, Frankfurt am Main. Suhrkamp 1988. Zum Thema das getrennten Schlafens und der Schlafbekleidung führt Duerr einige Gegenbeispiele an (177–196). Zur Auseinandersetzung (Duerrs) mit Elias: Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit, 64–65. 458 Die Privatisierungstheorie unterstützen etwa Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München: dtv 71985 (franz. Original 1960), 543–48; Martin Beutelspacher: Kultivierung bei lebendigem Leib. Alltägliche Körpererfahrungen in der Aufklärung, Weingarten: Drumlin-Verlag 1986, 26–31; Hermann Zinn: Wohngewohnheiten und Wohnstrukturen, in: Lutz Niethammer (Hg.): Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft, Wuppertal: Peter Hammer 1979, 13–27, hier 16.

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Selbstverständlichkeit.459 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es schätzungsweise 1 bis 2 Betten je Haushalt, was durchschnittliche 2 bis 4 Personen pro Bett ausmachte.460 Nur im gehobenen städtischen Bürgertum, das im 17. Jahrhundert bereits über Schlafzimmer zu verfügen begann, stellte sich die Lage anders dar.461 Im 19. Jahrhundert verbreitete sich die Benutzung von speziellen Kindermöbeln, so dass man in Bürgerhäusern zunehmend Betten in Kindergröße antraf.462 Noch im mittleren 19. Jahrhundert war es aber im vom Handwerk bestimmten Kleinbürgertum üblich, dass die Werkstatt nachts als Schlafraum für die Lehrlinge und Gesellen genutzt wurde.463 Kleinbürgerliche Handwerkerfamilien hatten in der frühen Neuzeit und bis weit in das 18. Jahrhundert meist ein „statussicherndes“ Himmelbett für das Meisterehepaar und ein weiteres Bett. Das Himmelbett ist für die entsprechenden ländlichen Regionen in Norddeutschland auch als Übergangsmodell zwischen den wandfesten Betten und dem im 20. Jahrhundert allgemein üblichen Bettmöbel beschrieben worden.464 Die Errechnungen aus Inventaren und eine breite Palette von alltagshistorischen Quellen lassen den Schluss zu, dass man üblicherweise nicht allein in einem Bett schlief; mehrere Kinder, aber auch Erwachsene oder Erwachsene und Kinder teilten sich die Bettstatt. Oder aber man schlief nicht in einem eigentlichen Bett, sondern im Stall – dies betraf vor allem das Gesinde –465, auf dem Fußboden, auf Bänken oder an verschiedenen anderen Orten im Haus (Abb. 5).466 Im ländlichen Bereich ließ sich an der Nähe des 459 Gleichmann: Einige soziale Wandlungen des Schlafens, 245; Gottfried Korff: Einige Bemerkungen zum Wandel des Bettes, 4. 460 Korff: Einige Bemerkungen zum Wandel des Bettes, 7. 461 Korff: Einige Bemerkungen zum Wandel des Bettes, 7 und Peter Reinhart Gleichmann: Schlafen und Schlafräume, in: Journal für Geschichte 2.1 (1980), 14–19, hier 14. Pascal Dibie: Wie man sich bettet. Die Kulturgeschichte des Schlafzimmers, Stuttgart: KlettCotta 1989 (franz. Original 1987), 168: das Schlafzimmer setzt sich im französischen Bürgertum Mitte des 18. Jahrhunderts durch. 462 Weber-Kellermann: Die Kindheit, 152–155. 463 Zur Lebenswelt des Kleinbürgertums, in dem bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die geschäftliche und private Sphäre noch viel weniger (räumlich) getrennt war als in gehobenen bürgerlichen Schichten, siehe: Heinz-Gerhard Haupt, Geoffrey Crossick: Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München: Beck 1998, hier v.a. 124–127. 464 Dröge: Das ländliche Bett, 328. 465 Bzw. in der Hille, ein an der Seite der großen Diele des norddeutschen Hallenhauses gelegener, meist enger Raum (Schürmann: Die Inventare des Landes Hadeln, 267). 466 Speziell zur ländlichen Situation: Kai Detlev Sievers: Schlafgelegenheiten ländlicher Unterschichten im 19. Jahrhundert, in: Nina Hennig, Heinrich Mehl (Hgg.): Bettgeschichte(n). Zur Kulturgeschichte des Bettes und des Schlafens (Arbeit und Leben auf dem Lande. Eine kulturwissenschaftliche Studienreihe hg. von den Museen des Ausstellungsverbun-

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Beengte Wohnverhältnisse: Küche/Schlafraum in Berlin, Fotografie, 1913/1914

jeweiligen Schlafplatzes zum Herd die soziale Stellung eines Hofbewohners ablesen.467 Die Schlafverhältnisse der weiblichen Dienstboten in Berlin um 1900 sind aufgrund einer sozialreformerisch motivierten zeitgenössischen Studie gut dokumentiert – sowohl die Aussagen der Dienstmädchen als auch die durchweg positiveren Angaben der Herrschaften wurden dafür aufgenommen. Demnach hatte circa die Hälfte von 432 Fällen ein eigenes Zimmer, ein knappes Drittel schlief in einem eingezogenen Hängeboden, 6,3 Prozent respektive keine (Angaben der Dienstmädchen gegenüber Angaben der Herrschaften) hatten ihren Schlafplatz in einer Dach- oder Treppenkammer, etwa 4 Prozent im Badezimmer, 3,5 beziehungsweise 6,6 Prozent in der Küche, und einige weitere schliefen des Niedersächsisches Freilichtmuseum – Museumsdorf Cloppenburg, Deutsches Landwirtschaftsmuseum Hohenheim/Stuttgart, Freilichtmuseum am Kiekeberg – Landkreis Harburg, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum – Volkskundliche Sammlungen, Fränkisches Freilandmuseum Bad Windsheim 5), Schleswig: Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum 1997, 85–96. 467 Dubbi: Himmelbett, Schlafbank, Strohschütte, 20.

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im Keller, Korridor, einer anderen Kammer wie der Speisekammer oder, wiederum nur laut den Dienstmädchen, in der Werkstatt.468 Sofern in Betten geschlafen wurde, dienten dazu freistehende Betten, bis um die Wende zum 19. Jahrhundert auch Himmelbetten, die den Schlafraum mit ihren Vorhängen abtrennten und kein eigenes Schlafzimmer erforderten,469 und die Sonderform der norddeutschen Wandbetten oder Alkoven sowie Bänke und andere umfunktionierte Plätze.470 Den Forderungen der Schlafhygieniker entsprach nur das freistehende Bett in einem eigenen Schlafzimmer. Ihre Anforderungen an das jeweils genutzte Zimmer und an die Bettstätten waren in den wenigsten Fällen erfüllt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlangten die von den Hygienikern immer wieder angepriesenen Rosshaarmatratzen einen gewissen Stellenwert.471 Die Durchsetzung der neuen Unterlagen ging nur zögerlich vonstatten; gerade im ländlichen Bereich behielt man die Federbetten, die oft einen beträchtlichen Anteil am mobilen Familienbesitz ausmachten und entsprechende Wertschätzung genossen, teils bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bei.472

468 Wischermann: Mythen, Macht und Mängel, 489. Die Originalquelle (nach Wischermann) ist Oscar Stillich: Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin, Berlin/Bern: J. Edelheim 1902. Zu den Wohnverhältnissen der Dienstboten siehe auch: Teuteberg, Wischermann: Wohnalltag in Deutschland, 306–316. 469 Adelheid von Saldern: Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen, in: Reulecke (Hg.): Geschichte des Wohnens, 145–332, hier 163. 470 Mohrmann: „in der freywilligen Nachlassung der willkührlichen Bewegungen“, 263– 266. Zum norddeutschen Hallenhaus auch Korff: Einige Bemerkungen zum Wandel des Bettes, 5. Zur regionalen Sachkulturforschung siehe auch: Schürmann: Die Inventare des Landes Hadeln. Schürmann veranschaulicht exemplarisch anhand der Inventare einer Region den großen Anteil, der Bettmöbel und -auflagen innerhalb des Volumens und Vermögens einzelner Haushalte zukam. 471 Die Matratzen bürgerten sich zusammen mit den Sprungfedern ein: Saldern: Im Hause, zu Hause, 163. 472 Auch für die Schweiz wurde dies festgestellt: „Und während das städtische Bürgertum mit erwachendem Hygienebewusstsein die Federbetten abschaffte, häuften sich in den ländlichen monatlichen Kalendern die Annoncen der Bettfedernlieferanten.“ Die billigeren Füllungen in der Schweiz waren vor allem Laub und Maisstroh. Birgit Littmann Brunner: Textile Bettgeschichten, in: Eder Matt (Hg.): Wie sie sich betten, 25–34, hier 28. Zur Verwendung von Federbetten entgegen den Vorstellungen der Hygieniker, die die Federbetten nicht weniger als die stickigen Alkoven attackierten, und zur Einführung von maschineller Federnreinigung siehe für den westfälischen Raum: Kuprian: Buntkartiert und blütenweiß, 60–69.

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Schema der traditionellen Bettpolsterung und Schlafposition

Als weitere Auflagen kamen meist mehrere Polster und Kissen hinzu.473 Die auffallende Kürze der Betten in den Freilicht- und Heimatmuseen liegt wohl nicht nur daran, dass die Menschen früher kleiner waren – was historisch belegt ist und etwa aufgrund der niedrigen Türstocke auch plausibel erscheint – oder zudem weniger Platz in Anspruch nahmen, sondern auch daran, dass die Lage im Bett durch die im Rücken stützenden Kissen nicht unbedingt horizontal sein musste. Nach Meinung der Hygieniker bis um 1900 sollte sie das auch nicht sein.474 Volkskundler gehen davon aus, dass Schlafkleidung bereits im 16. Jahrhundert üblich war, auch die Nachtmützen (bis ins 19. Jahrhundert), die in den Ratgebern manchmal extra erwähnt wurden. Also kann man die Nachtbekleidung nur bedingt als ein „bezeichnendes Requisit“ der Moderne verstehen.475 473 Zu den Bettauflagen Mohrmann: „in der freywilligen Nachlassung der willkührlichen Bewegungen“, 267–271 und Kuprian: Buntkariert und blütenweiß, 20–23. Die Betten (zu diesen Dröge: Das ländliche Bett) und Betttextilien des Freilichtmuseums Detmold lassen auf folgende Ausstattung schließen: „Die unterste Lage [...] bildete der Strohsack. Darüber befand sich das Unterbett mit den Laken. Als Vorläufer des Keilkissens wurde das sogenannte Pfühl benutzt [...]. Hinzu kamen mehrere mit einem Bezug (Büren) überzogene Kopfkissen, die den Oberkörper in eine erhobene Schlafposition brachten. Als Zudecke diente das bezogene Oberbett oder Deckbett, je nach Inhalt auch Federbett benannt.“ (Kuprian: Buntkariert und blütenweiß, 21). 474 Vgl. Schürmann: Die Inventare des Landes Hadeln, 208 und Heidrich: Das Bett, 18–23. 475 Elias: Über das Verhalten im Schlafraum, 226; zur Schlafkleidung: Mohrmann: „in der freywilligen Nachlassung der willkührlichen Bewegungen“, 275. Sie bestätigt damit die Duerrsche Behauptung gegen Elias.

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In der Hygieneliteratur fällt im Gegenteil auf, dass angeraten wird, nicht zu viel Kleidung zu tragen, um den Körper nicht einzuengen.476 Auch was die Eliassche „Peinlichkeitsschwelle“ in Hinblick auf das Teilen der Bettstatt anbelangt, muss also differenziert werden: Aufgrund wirtschaftlicher Zwänge und Ignoranz gegenüber den entsprechenden realitätsfernen bürgerlichen Werten sank diese Schwelle zeitweise sogar. Die Schlafgänger und Dienstmädchen, also die untere soziale und ökonomische Schicht der Landflüchtlinge, waren oft von Zuhause an schlechte Schlafgelegenheiten gewöhnt.477 Den bürgerlichen moralisch-hygienischen Werten entsprach darüber hinaus auch die Unterbringung von Kranken oder von Reisenden noch lange nicht.478 Wissenschaftliche und staatliche Wohnungshygiene im Kaiserreich

Die deutschen Sozialreformer und, zur Jahrhundertwende, die Sozial- oder Wohnungshygieniker versuchten die Hygieneideale zu verwirklichen. Zunächst definierten sie Mindeststandards, dann ging es an die konkrete Umsetzung von Verbesserungen, nach der Reichsgründung zunehmend in institutionalisiertem Rahmen, als zu den wissenschaftlichen Instituten immer mehr Gesundheitsämter kamen.479 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte es in den Großstädten Zeiten akuter Wohnungsnot gegeben;480 der heftigste Urbanisierungsschub erfolgte zwischen 1850 und 1870. Ab der Jahrhundertmitte thematisierte die bürgerliche Sozialreformbewegung, wie schon zuvor die Pauperismusbewe476 Zur Geschichte der Schlafkleidung orientiert sich Eder Matt dagegen an Elias´ „Peinlichkeitsgrenzen“, weil sie einen längeren Zeitraum zur Grundlage nimmt, also der immer modischer gestalteten Schlafkleidung der Moderne das Nacktschlafen des Mittelalters gegenüberstellt. Katharina Eder Matt: Kleidung für die Nacht, in: Dies. (Hg.): Wie sie sich betten, 37–39. 477 Wischermann: Mythen, Macht und Mängel, 488. 478 Gleichmann: Schlafen und Schlafräume, 16. Korff: Einige Bemerkungen zum Wandel des Bettes, 13. 479 Die bürgerliche Sozialhygiene, politisch im Gegensatz zu vielen Sozialreformern am rechten Rand der Sozialdemokratie angesiedelt, etablierte sich als wissenschaftliche Disziplin mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts: Klaus-Dieter Thomann: Wissenschaftliche Sozialhygiene und gesellschaftliche Praxis im Deutschen Reich, in: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 68.1 (1984), 61–76. Zur Geschichte der öffentlichen Hygiene siehe insbesondere auch: Zimmermann: Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik; auch: Beate Witzler: Großstadt und Hygiene. Kommunale Gesundheitspolitik in der Epoche der Urbanisierung (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 5), Stuttgart: Steiner 1995 und Hardy: Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. 480 Wischermann: Mythen, Macht und Mängel, 374.

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gung, die sogenannte „Wohnungsfrage“. Argumentativ verbanden die Sozialreformer die physische Umwelt mit der sozialen Lage in der Absicht, die Situation der verarmten Unter- und Arbeiterschichten zu verbessern. Im Kampf gegen Lärm, Schmutz und Platzmangel, der auch in der überwiegend bürgerlichen Lebensreformbewegung eine zentrale Rolle spielte, wurden Wohnnormen formuliert – etwa in Bezug auf das Schlafgängerwesen –, Wohnpraktiken kontrolliert, Wohnungen saniert und kommunale „Assanierungs“-Projekte, wie insbesondere das Verlegen von Wasserleitungen, durchgesetzt. In den 1870er und 1880er Jahren wurden die sozialreformerischen, oft im Wohltätigkeitsbereich angesiedelten Kräfte abgelöst von den Sozialhygienikern – Ärzten, Verwaltungsbeamten, Architekten und Ingenieuren –, die Sozialpolitik betrieben und die Sauberkeit mit einer Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes und einer Verringerung der Sterblichkeit in Zusammenhang stellten. Um 1900 waren die meisten Forderungen der Hygieniker in Bauordnungen, Polizei- und Wohnungsordnungen verankert. Seit etwa 1890 besserte sich die allgemeine Wohnsituation in vielen Städten deutlich: Die Mieten sanken und die Qualität des Wohnraums nahm zu.481 Staatliche Wohnungspolitik wurde möglich, weil die städtischen Wohnverhältnisse nun als Gesundheitsgefahr begriffen wurden. Die Institutionalisierung der öffentlichen Hygiene auf wissenschaftlicher Ebene erhielt durch zwei Umstände besonders Rückenwind: zum einen durch die Erfolge des Chemikers Max von Pettenkofer, der in den 1850er Jahren die Wasserqualität in München verbessern konnte und damit die Seuchengefahr, an die die Choleraepidemie von 1831/32 grausam erinnerte, erheblich verringerte; 1865 erhielt er einen der ersten bayerischen Hygienelehrstühle. Zum anderen verzeichneten etwa gleichzeitig die Kontagionisten erste Erfolge, also diejenigen Mediziner, die noch bis 481 Clemens Zimmermann. Wohnen als sozialpolitische Herausforderung. Reformerisches Engagement und öffentliche Aufgaben, in: Reulecke (Hg.): Geschichte des Wohnens, 505–636, hier 518–525 und 531–533. Zur Geschichte der „Wohnungsfrage“ grundlegend und differenziert: Zimmermann: Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik. Zur Definition und den „Interventionsformen“ der Sozialhygiene: Alfons Labisch: Experimentelle Hygiene, Bakteriologie, soziale Hygiene. Konzeptionen, Interventionen, soziale Träger. Eine idealtypische Übersicht, in: Jürgen Reulecke, Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hgg.): Stadt und Gesellschaft. Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft 3), Stuttgart: Franz Steiner 1991, 37–47. U.a. aus der Sozialhygiene entwickelte sich rasch der medizin- und gesellschaftspolitische Bereich der „Rassenhygiene“, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann. Dazu einführend: Jürgen Reulecke: Rassenhygiene, Sozialhygiene, Eugenik, in: Kerbs, Reulecke (Hgg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, 197–210. Zur Lebensreformbewegung siehe Kapitel 3.4.

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weit ins 19. Jahrhundert hinein die umstrittene Theorie vertraten, dass Krankheiten von Mensch zu Mensch übertragen werden, also ansteckend sein konnten. Robert Koch, Entdecker des Tuberkuloseerregers (1882) und mit Louis Pasteur Gründervater der Bakteriologie, wurde 1885 erster Leiter des Berliner Hygieneinstituts.482 Mit der Bakteriologie kam im Hygienediskurs schließlich der naturwissenschaftliche Begründungszusammenhang gegenüber dem älteren moralisch-sittlichen zum Tragen.483 Der Hygienebegriff erhielt durch die politische und verstärkt naturwissenschaftliche Dimension eine neue Bedeutung. Die private Hygiene, wie sie aus der Aufklärungsliteratur bekannt ist, hatte sich zwar nicht nur an bürgerliche Adressaten gewandt, sondern ganz klar auch einen moralischen, massenerzieherischen Anspruch verfolgt; dennoch ging es in der Hygieneliteratur im Kern um das individuelle körperliche Befinden. Daneben hatte es vor dem 19. Jahrhundert Anfänge eines staatlichen Medizinalwesens in Form der „medizinischen Polizey“ gegeben. Zum Ende des 19. Jahrhunderts konnten hygienische Forderungen mit Hilfe wissenschaftlicher und staatlicher Unterstützung als Maßnahmen der „Sozialhygiene“ im Sinne einer Sozial- und Gesundheitspolitik allmählich breit umgesetzt werden. Neben die privaten Hygienerichtlinien, die weiterhin in Form von Ratgeberliteratur fortbestanden, trat eine institutionalisierte öffentliche Hygiene mit Forschungseinrichtungen und politischen Instrumenten, die gesellschaftliche Reformen durch wissenschaftliche Normsetzung und staatliche Eingriffe in die Lebensverhältnisse der Bevölkerung beabsichtigte.484 Diese Veränderungen in der staatlichen Gesundheitsfürsorge werden besonders deutlich an der Rolle der Medizinalbeamten. Die zentrale Figur des Medizinalwesens war der beamtete Kreis-Physiker. Er kontrollierte, soweit möglich, die Ärzte in seinem Kreis, stattete Apotheken Visiten ab und fungierte als Gerichtsmediziner. Die 1880er Jahre brachten entscheidende Kompetenzerweiterungen der staatlichen Mediziner: Der praktische Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege oblag ihnen. Sie kontrollierten öffentliche Einrichtungen, 482 Dieter Jetter: Geschichte der Medizin. Einführung in die Entwicklung der Heilkunde aller Länder und Zeiten, Stuttgart u.a.: Thieme 1992, 317–323. Zu Pettenkofer und Koch zudem: Labisch. Experimentelle Hygiene, Bakteriologie, soziale Hygiene, 37–47. 483 Alfons Labisch: „Hygiene ist Moral – Moral ist Hygiene“ – Soziale Disziplinierung durch Ärzte und Medizin, in: Christoph Sachße, Florian Tennstedt (Hgg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt am Main: suhrkamp 1986, 265–285, hier 270. 484 Die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Hygiene wurde bereits in der Encyclopédie getroffen (Peter H. Niebyl: The non-naturals, in: Bulletin of the History of Medicine 45 [1971], 486–492, hier 491).

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aber auch Fabriken und Mietskasernen, und hatten damit wesentlichen Einfluss auf die Schaffung und Durchsetzung von Hygienerichtlinien.485 Wie sich an den Schlafstellenkontrollen zeigte, wollten die Sozialhygieniker in der Wohnungsfrage „auf der Grundlage physiologischer und chemischer Erkenntnisse [...] exakte und objektive Normen eines Mindestbedarfs an Wohnraum entwickeln“.486 Von den vorindustriellen Hygieneschriften wurden einige grundlegende Elemente übernommen, in Bezug auf das Schlafzimmer vor allem die alten Forderungen nach ausreichend Luft und Ruhe. Das Verbindungsglied zwischen Wissenschaft und Verwaltung war der „Verein für Öffentliche Gesundheitspflege“, bestehend aus Akademikern und staatlichen Verwaltungsvertretern, der sich unter anderem für Bauordnungen sowie Wohn- und Polizeiordnungen einsetzte.487 Seit den 1890er Jahren schwenkte man im Wesentlichen um auf Wohnungsbau – etwa die von Altenrath genannten Ledigenheime – und Stadtplanung.488 Mit Blick auf die Schlafsituation gibt Oscar Spitta in seinem „Grundriß der Hygiene“ 1920 einen Lagebericht zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg.489 Spitta war Hygieniker, auch mit dieser – neuen – Berufsbezeichnung in Berlin am hygienischen Institut, zuletzt als Professor, und, wie Koch, Mitglied im 1876 gegründeten Reichsgesundheitsamt und im Hygienischen Laboratorium.490 Die Hygieneschriften hatten sich in den vorausgehenden Jahrzehnten verändert und, oft sogar überwiegend, Elemente der öffentlichen Hygiene integriert, so dass Spittas Abschnitt zur „Bau-, Straßen- und Wohnungshygiene“ ein

485 Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, 167. 486 Zimmermann. Wohnen als sozialpolitische Herausforderung, 533. 487 Jürgen Reulecke, Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hgg.): Stadt und Gesellschaft. Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft 3), Stuttgart: Franz Steiner 1991, Einleitung: 11–19, hier 13. 488 Zimmermann. Wohnen als sozialpolitische Herausforderung, 534 und 536. Wohnungsbaumaßnahmen griffen überwiegend erst im 20. Jahrhundert (Gleichmann: Schlafen und Schlafräume, 17). 489 Oscar Spitta: Grundriß der Hygiene für Studierende, Ärzte, Medizinal- und Verwaltungsbeamte und in der sozialen Fürsorge Tätige, Berlin: Julius Springer 1930 („Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse“ und „Wohnungsgesetzgebung“ im Abschnitt „Bau-, Straßen- und Wohnungshygiene, 484–489. 490 „Spitta, (Johannes Heinrich) Oscar“, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 2, 591–592. Zur Gründung des Reichsgesundheitsamtes: Johanna Bleker: Die Stadt als Krankheitsfaktor. Eine Analyse ärztlicher Auffassungen im 19. Jahrhundert, in: Medizinhistorisches Journal 18 (1983), 118–136, hier 128.

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typisches Beispiel ist.491 Er beklagt die Verbreitung von Infektionskrankheiten durch Überfüllung und Verschmutzung der oft zu feuchten großstädtischen Wohnungen und insbesondere durch das Schlafgängerwesen:492 Statistische Erhebungen lassen den Einfluß schlechter Wohnungsverhältnisse auf die Morbidität und Mortalität der Bevölkerungen (namentlich hinsichtlich der Säuglingssterblichkeit und der Tuberkulose) unschwer erkennen, wenn auch naturgemäß bei den sozial schlechter gestellten Personen neben der gesundheitsschädlichen Wohnung auch noch viele andere ungünstige Ursachen mitwirken.493

Der Hygieniker bemängelt die „unsachgemäße Benutzung und mangelnde Wohnungspflege“ mit dem Beispiel des Schlafzimmers: Der Schlafraum ist z.B. hygienisch der wichtigste Teil der Wohnung, denn der Mensch pflegt etwa 1/3 seiner Lebenszeit im Bett zu verbringen. Und doch werden bei mehrzimmerigen Wohnungen gewöhnlich die schlechtesten Räume als Schlafräume benutzt!494

Gegen die verbreitete „Unkenntnis und Ungeschicklichkeit“ fordert Spitta weiterhin die Wohnungsaufsicht, betont aber auch die Notwendigkeit des Wohnungsbaus. An der Sozialreformbewegung und Sozialhygiene manifestierte sich also ein neuer Strang des Schlafdiskurses, der sich, ähnlich wie die Volksaufklärung 491 Die neue Hygienedefinition wird deutlich in einer Reihe von Veröffentlichungen aus dem Kontext der neugegründeten Institute, die meist eng mit München oder Berlin in Verbindung standen: Friedrich Oesterlen: Handbuch der Hygieine für den Einzelnen sowie für eine Bevölkerung, Tübingen: Laupp 1851 – hier findet sich bereits ein Kapitel über „Gebäude, Städte“. Zum Ende des 19. Jahrhunderts rückte die Sozialhygiene deutlicher in den Vordergrund, so bei Eduard Cramer (Hygieneprofessor in Heidelberg): Hygiene. Ein kurzes Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1896; Carl Flügge: Grundriss der Hygiene für Studierende und praktische Ärzte, Medicinal- und Verwaltungsbeamte, Leipzig: Veit & Comp. 1889 (Flügge war Hygieneprofessor in Göttingen, so der Artikel in Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 180–181); Rudolf Emmerich, G. Recknagel: v. Pettenkofer und v. Ziemssen’s Handbuch der Hygiene und der Gewerbekrankheiten. Erster Theil. Individuelle Hygiene. 2. Abt., 4. Heft: Die Wohnung, F. Leipzig: C. W. Vogel 1894; Julius Uffelmann (Hygieneprofessor in Rostock): Handbuch der privaten und öffentlichen Hygiene des Kindes. Zum Gebrauche für Studierende, Ärzte, Sanitätsbeamte und Pädagogen, Leipzig: F. C. W. Vogel 1881. Friedrich Erismann (Hygieneprofessor in Moskau): Gesundheitslehre für Gebildete aller Stände, München: Rieger 1878. 492 Zur Wohndichte und dem Ansteckungsargument siehe auch: Niethammer, Brüggemeier: Wie wohnten Arbeiter im Kaiserreich und Zimmermann: Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik, 79–87. 493 Spitta: Grundriß der Hygiene, 483. Die hauptsächliche weitere Ursache ist die Ernährung, womit Spitta ein weiteres Basiselement des Hygienediskurses anführt (484). 494 Spitta: Grundriß der Hygiene, 484.

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(„medicinische Policey“), um die Umsetzung hygienisch-moralischer Ideale zur Besserung der Lage der Unterschichten bemühte. Gleichermaßen war der sozialhygienische Diskurs, auch wenn er auf einer neuen wissenschaftlichen Grundlage stand und den Hygienebegriff teilweise umdefinierte, ein disziplinierender Diskurs – im Hinblick auf die Lebens- und die konkrete Wohnraumgestaltung, bei der die Reformer zur Beeinflussung der Moral ansetzten. 2.2. Experimentelle Schlafforschung

1912 stellte der Hamburger Nervenarzt Ernst Trömner zur Errechnung der Einschlafgeschwindigkeit (V) eine Formel auf: V=

D·F E

D ist die „Dormition“, die „persönliche Schlaffähigkeit“; F ist die vorhandene Ermüdung und E ist das „Gesamtmass der jeweiligen Erregungen“. Trömner hatte weder mit seiner Formel noch mit seinem neuen Begriff der Dormition Erfolg. Trotzdem ist es bezeichnend für eine neue Epoche des Schlafdiskurses seit Mitte des 19. Jahrhunderts, dass ein Arzt, zumal ein „Nervenarzt“, versuchte, die altbekannten Kriterien des Schlafs und der Ermüdung – die „persönliche Schlaffähigkeit“ hieß zuvor „individuelle Disposition“ – möglichst mathematisch exakt umzuformulieren.495 Um 1840 endete die Epoche der klinisch-empirischen Medizin, wie sie zuletzt die Erfahrungsgrundlage für die Aufklärer und in gewissem Maße auch für die Romantiker gewesen war. Rasch wurde sie von der naturwissenschaftlichen Medizin abgelöst, die den überwiegend auf Beobachtung und Eigenerfahrung fußenden Zugang der Aufklärung und den stärker theoretisch-konzeptuellen Zugang der Romantik verband und methodisch auf die neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse bezog. Zur Jahrhundertmitte formte sich als Standard der Wissenschaftlichkeit das „Zerlegen von Komplexen in Prozessfragmente, [und die] Ermittlung der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge mit Hilfe des [...] Versuchs, durch Mikroskope, Apparate, mit Messungen der Wirkungsgrößen bei genau bekannten Beeinflussungsgrößen“.496 Es setzte sich die Einsicht durch, 495 Ernst Trömner: Das Problem des Schlafes. Biologisch und psychophysiologisch betrachtet, Wiesbaden: J. F. Bergmann 1912, 41. Zum Autor: Trömner, Ernst, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 2, 634. 496 Rothschuh: Konzepte der Medizin, 176, 182 und 181.

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daß die physiologischen Fragestellungen begrenzter sein müssen und daß die wissenschaftstheoretischen Probleme als solche an die Philosophie [...] zurückgegeben werden müssen. [...] Nur eine Forschung mit methodisch abgesicherten Ergebnissen, die aus Beobachtung und Experiment entstanden sind, konnte der Weg einer naturwissenschaftlichen Physiologie sein.497

Von großem Einfluss auf diese Entwicklung war die französische „Hospitalmedizin“. Bereits um 1800 erhielten in Frankreich in vielen neu gegründeten Kliniken die medizinische Theorie und Praxis eine neue Grundlage, indem man die Patientenbeobachtung durch eingehende, systematische Untersuchungen ergänzte. Dazu zählte insbesondere auch das Experimentieren mit neuen Instrumenten, zu deren frühen Beispielen das Stethoskop zählt. Außerdem wurde die pathologische Anatomie hier wesentlich erweitert. In Deutschland war die Choleraepidemie von 1831/32 wahrscheinlich ein wichtiger Anstoß für die Durchsetzung solcher neuen Standards der Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, weil nun die Notwendigkeit einer therapiebezogenen und modernen Verhältnissen angepassten medizinischen Versorgung deutlich wurde. Auch wissenschaftsintern galten die alten Kriterien der Wissenschaftlichkeit und das romantische Denken in der Medizin zunehmend als überholt. Vor allem jüngere Akademiker arbeiteten seit den 1840er Jahren mit physikalischen Untersuchungsmethoden und vor dem Hintergrund lokalistischer Krankheitsauffassungen in zunehmend differenzierten Teilbereichen der medizinischen Forschung. Zur Labormedizin zählten von französischer Seite vor allem die Forschungen Louis Pasteurs; in Deutschland gewann die Labormedizin, die „die in der Welt führende Stellung der deutschen Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründete“, viel rascher Boden als zuvor die Hospitalmedizin. Bedeutende chemische Entdeckungen in Deutschland gehörten auch in das Gebiet der Beruhigungs- und Schlafmittelforschung.498 Physik und Chemie hatten schon im 18. Jahrhundert Einfluss auf Physiologie und physiologische Schlaftheorien.499 Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kann man aber von einer eigentlichen „physikalisch-chemischen Periode der Physiologie“ sprechen – die „Logik des Körpers“ wurde jetzt nach Kriterien der exakten Naturwissenschaften „chemophysikalisch gedacht“;500 gleichzeitig etablierte sich die Physiologie als eigenes Fach.501 Zudem siedelten sich ab 1840 in mehr und mehr Kliniken chemische Laboratorien der medizini497 498 499 500 501

Lohff: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit, 206. Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, 87–97, 93. Rothschuh: Konzepte der Medizin, 69. Sarasin: Reizbare Maschinen, 52. Rothschuh: Konzepte der Medizin, 93.

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schen Fakultäten an.502 Der neue naturwissenschaftliche Positivismus bedeutete „für die Erforschung des Schlafs [...] eine Beschäftigung mit Detailproblemen im reproduzierbaren, standardisierten Experiment zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung“.503 Wo zuvor von der Wiederherstellung der Lebenskraft der menschlichen Maschine gesprochen worden war, ging es unter dem Eindruck der mit Dampfkraft mechanisierten Lebenswelt jetzt um die (Arbeits-) Energie und ihre Erhaltung und um die Bestimmung der körperlichen und geistigen Ermüdung. Der Berner Physiologieprofessor Gabriel Valentin fasste 1846 in seinem „Grundriß“ die Physiologie als physikalischen und chemischen Ablauf der Maschine Mensch: Eine jede künstliche Maschine bedarf einer physikalischen und chemischen Anregung, einer sogenannten Speisung, um ihr Triebwerk in Thätigkeit zu erhalten und die dadurch bedingte Wirkung hervorzubringen. Die gleiche Erscheinung kehrt auch bei den lebenden Körpern wieder. Ihre Kraftäußerungen sind wahrscheinlich immer oder wenigstens größtentheils mit einem Stoffumsatze verknüpft. [...] Der Verlust an Material macht die Zufuhr neuer Substanz nothwendig und die organischen Wesen sind daher auf die Einnahme von Nahrung von Zeit zu Zeit angewiesen. Sie dient aber nicht immer als bloßes Speisungsmittel des lebendigen Räderwerkes, sondern wird auch häufig gebraucht, um neue Theile desselben zu bilden, alte zu ergänzen und verloren gegangene wieder herzustellen. Während also unsere künstlichen Vorrichtungen alle diese Veränderungen ihrer einzelnen Stücke von außen her, durch die Hand eines fremden, geistig thätigen Menschen empfangen müssen, kommen sie in den organischen Körper ohne Weiteres von selbst zu Stande. Denn diese sind zu gleicher Zeit in den Rollen des Baumeisters, des Maschinisten und der Maschine thätig.504

Die Physiologie des Purkyneschülers Valentin basierte teilweise noch auf romantischen Begriffen wie der Bildungsidee.505 Bereits wenige Jahre später inkorporierte die Physiologie den modernen Kraftbegriff, der die Reizargumentation weitgehend in den Hintergrund drängte. 1847 formulierte der Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz den Energieerhaltungssatz, das erste thermodynamische Gesetz, nach welchem die verschiedenen Kräfte der Natur Teil einer universellen Kraft sind, die weder vermehrt noch reduziert werden kann, innerhalb eines Systems also unter Umverteilung oder Umwandlung erhalten 502 Johannes Büttner: Messende Instrumente im medizinischen Laboratorium des 19. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die ärztliche Erkenntnis, in: Instrument – Experiment 109–117, hier 109. 503 Schöpf: Der Schlaf aus medizinischer Sicht, 202. 504 Gabriel Valentin: Grundriß der Physiologie des Menschen. Für das erste Studium und zur Selbstbelehrung, Braunschweig: Friedrich Bieweg und Sohn 1846, 1–2. 505 Zur Biographie: Valentin, Gabriel Gustav, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 2, 644.

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bleibt.506 Die überlieferte Metapher der menschlichen Maschine ermöglichte zusammen mit Überresten des naturphilosophischen Menschenbilds, in dem der menschliche Organismus Teil der Gesamtnatur war, die Anwendung dieses physikalischen Gesetzes zur Erklärung von körperlichen Abläufen wie dem Stoffwechsel. Emil Du Bois-Reymond, Physiologe in Berlin und Schüler von Johannes Müller, setzte unter Berufung auf den Energieerhaltungssatz seines Kollegen Helmholtz 1848 einen entschiedenen Schlussstrich unter die Ära der Lebenskraft; der „Glaube an die Lebenskraft“ war spätestens jetzt wissenschaftlich unhaltbar.507 Das in der Physiologie vielfach variierte, selten umschiffte „Lückenparadigma“ der Lebenskraft war von nun an überholt – ein „Gespenst“, ein „Unding“, ein „rhetorischer Kunstgriff unseres Intellekts, das zur tropischen Wendung greift, wenn ihm zum reinen Ausdruck die Klarheit der Vorstellung fehlt“.508 Die „Kraft“, die nicht mehr in anorganische und organische Kraft unterschieden werden könne, sei „das Maß, nicht die Ursache der Bewegung“.509 Du Bois-Reymond erklärte: „Es gibt keine Lebenskraft [...], weil die ihr zugeschriebenen Wirkungen zu zerlegen sind in solche, welche von Zentralkräften der Stoffteilchen ausgehen“, die anorganischen Kräfte der Natur wirken demnach auf der Mikroebene auf den menschlichen Körper ein.510 Dessen Bewegungen zu untersuchen, nicht die Letzterklärung des Daseins zu erörtern, war für Du Bois-Reymond Aufgabe der Physiologen. Die Physiologie wurde damit neu fundiert in „organische[r] Physik und Chemie“. 511

506 Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1992, 52–56; Maria Osietzki: Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik, in: Sarasin, Tanner (Hgg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft, 313–346, hier 322–332; Hermann von Helmholtz: Ueber die Erhaltung der Kraft. Eine physikalische Abhandlung, Berlin: Reimer 1847; Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 123–127. Zum Autor: Walter Kaiser: Helmholtz, Hermann (Ludwig Ferdinand), in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 266–268. 507 Emil Du Bois-Reymond: Ueber die Lebenskraft (1848), in: Ders.: Reden, Bd. 1, Leipzig: Veit 21912, 1–26, hier 11. Dazu auch: Lohff: Zur Geschichte der Lehre von der Lebenskraft, 107. Zum Autor: Michael Hagner: Du Bois-Reymond, Emil (Heinrich), in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 136–137; Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 130–133. 508 Du Bois-Reymond: Ueber die Lebenskraft, 12–14. 509 Du Bois-Reymond: Ueber die Lebenskraft, 15 und 17. 510 Du Bois-Reymond: Ueber die Lebenskraft, 16–17. 511 Du Bois-Reymond: Ueber die Lebenskraft, 21.

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Die Integration chemischer Forschung in die Physiologie wird besonders deutlich im Programm Carl Ludwigs, der mit Helmholtz und Du Bois-Reymond zu den Begründern der neuen „physikalisch-mechanistischen“ Physiologie gehörte.512 Als Aufgabe der Disziplin nennt Ludwig 1852 die Forschung auf der Mikroebene: Man bestrebt sich den thierischen Körper in seine Bestandtheile zu zerlegen, und sucht diese letzteren, abgesehen von ihren Leistungen innerhalb des thierischen Organismus, durch möglichst scharfe Kennzeichen irgend welcher Art von allen anderen zu scheiden. [...] Diese wichtige und fundamentale Arbeit übernimmt für die Stoffe die Chemie, für die Formen die Anatomie.513

Ludwig entwickelte um die Jahrhundertmitte als Erster Geräte zur Messung und Aufzeichnung physiologischer Prozesse, darunter das „Kymographion“ (Wellenschreiber) zur Untersuchung des Blutkreislaufs. Die ersten Kurven, die veröffentlicht wurden, waren Puls- und Muskelkontraktionskurven.514 Auch für die Erforschung von Schlaf und Ermüdung, die bislang besonders tief im Lebenskraftparadigma verwurzelt gewesen waren, wurden jetzt verstärkt Konzepte und Methoden aus der Physik und aus der Chemie herangezogen. Eine neue Qualität der „Experimentalisierung des Lebens“515 wurde erzielt und erreicht, und das schlug sich auch im Schlafdiskurs nieder. Das gemeinsame Ziel verschiedener, nun überwiegend experimenteller Ansätze war es dabei weiterhin, den Schlaf zu erklären und letztlich wissenschaftlich zu kontrollieren. Die durchgeführten Experimente zielten nach den noch romantisch inspirierten „Sehfeldexperimenten“ Purkynes und Müllers aus den 1820er Jahren seit den 1860er Jahren darauf ab, die relative Tiefe des Schlafs zu bestimmen, womit in der Geschichte der Schlafforschung die Visualisierung des Messbaren begann. Dazu gehörten psychophysische Weckschwellenversuche, Hypnographien und im frühen 20. Jahrhundert schließlich Hirnstrommessungen. In den 1870er Jahren suchte man verstärkt nach Schlafstoffen, die den Schlaf als eine Art biochemische Vergiftung erklärbar machen sollten. Verschiedene 512 Brigitte Lohff: Ludwig, Carl Friedrich Wilhelm, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 388. 513 Carl Ludwig: Lehrbuch der Physiologie des Menschen, 1. Band, 1. Abteilung: Physiologie der Atome, der Aggregatzustände, der Nerven und Muskeln, Heidelberg: C.F. Winter 1852, 11. Und nach Rothschuh: Physiologie, 259. 514 Soraya de Chadarevian: Die „Methode der Kurven“ in der Physiologie zwischen 1850 und 1900, in: Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin: AkademieVerlag 1993, 28–49; Winau: Von der Faszination der Kurven, in: Ders.: Technik und Medizin, 165–168; Rothschuh: Geschichte der Physiologie, 118–123. 515 Vgl. Rheinberger: Die Experimentalisierung des Lebens.

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Stoffe, von Sauerstoff (um 1800) über Milchsäure bis zu einem „Kenotoxin“ (um 1900), also einem als Gift bezeichneten Stoff, wurden auf der Mikroebene der Untersuchungsmöglichkeiten für die Müdigkeit verantwortlich gemacht. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bemühten sich Arbeitsphysiologen, die körperliche und geistige Ermüdung wissenschaftlich zu vermessen. Forschungen zur Schlaftiefe 1860–1930. Von den Weckschwellentests bis zu den Hirnstrommessungen

Mit Valentin, Purkyne und Müller stand eine ganze Generation von Physiologen noch um die Jahrhundertmitte am Übergang vom romantischen zum positivistischen Paradigma der Medizin. Der Leipziger Physiker und Philosoph Gustav Theodor Fechner war einer von ihnen. Mit seiner „Psychophysik“ – eine der Grundlagen der späteren Arbeitswissenschaften – versuchte er, die seit der Aufklärung ungelöste philosophisch-medizinische Frage des Leib-Seele-Dualismus in die Sprache der Jahrhundertmitte zu übersetzen und sich einer Lösung mit neuen naturwissenschaftlichen Methoden anzunähern.516 1860 definierte er die Psychophysik folgendermaßen: Unter Psychophysik soll [...] eine exacte Lehre von den functionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele, allgemeiner zwischen körperlicher und geistiger [...] Welt verstanden werden. [...] Alle Erörterungen der Psychophysik beziehen sich [...] auf das Physische im Sinne der Physik und Chemie, auf das Psychische im Sinne der Erfahrungsseelenlehre, ohne dass auf das Wesen des Körpers, der Seele hinter der Erscheinungswelt im Sinne der Metaphysik zurückgegangen wird.517

Um die Beziehungen zwischen Körper und Seele „möglichst genau festzustellen“,518 operiert Fechner in seinen „Elementen der Psychophysik“ – positivistisch statt philosophisch – mit der Bestimmung von Reizschwellen, verbindet also die romantische Reiztheorie mit den neuen Anforderungen der Physiologie als exakter Wissenschaft. Als Schwelle definiert er „den Punct, wo wie Merklichkeit eines Reizes oder eines Reizunterschiedes beginnt und schwindet“.519 Dazu verknüpft 516 Zu Fechner und der Psychophysik: Petra Lenning: Von der Metaphysik zur Psychosomatik. Gustav Theodor Fechner (1801–1887). Eine ergobiographische Studie (Beiträge zur Geschichte der Physiologie 8), Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1994; Horst Gundlach: Entstehung und Gegenstand der Psychophysik (Lehr- und Forschungstexte Psychologie 45), Berlin u.a.: Springer 1993. 517 Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik, Erster Theil, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1860, 8. 518 Fechner: Elemente der Psychophysik, 9. 519 Fechner: Elemente der Psychophysik, 238.

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er die Begriffe der Empfindung und des Bewusstseins: „So lange der Reiz oder Reizunterschied unter der Schwelle bleibt, bleibt die Empfindung desselben, wie man sagt, unbewusst“.520 Außerdem kommen bei der Bestimmung der Schwellen zusätzlich zu Licht-, Geräusch- und anderen Reizen verschiedene „Abhängigkeitsverhältnisse“ ins Spiel: „Ermüdung, Gewöhnung, Uebung, innere Ursachen der Aufregung oder Lähmung, Arzneien, die Periodicität des Lebens, individuelle Constitution u. s. w.“.521 Das Bewusstsein, genau wie Fechners „Abhängigkeitsverhältnisse“ der Wahrnehmung, sind althergebrachte Kriterien aus dem traditionellen Schlafdiskurs. Nach Hyphothesen und Ausführungen zur Schwellenbestimmung anhand der Sinnesorgane befasst sich Fechner auch explizit mit dem Schlaf, den er psychisch mit Burdach, physisch mit Purkyne definiert, wonach der Schlaf bald nach dem Einschlafen zunächst am tiefsten ist und die „körperlichen Thätigkeiten“ herabgesetzt sind.522 Die äußeren und inneren Reize, die das Einschlafen und Aufwachen beeinflussen, übernimmt Fechner aus dem Schlafdiskurs. Sogar der Hufelandsche Müller, der erwacht, „wenn der Gang der Mühle stockt“, tritt wieder in Erscheinung.523 Neu ist die Prämisse der prinzipiellen Errechenbarkeit der Schwelle, unter die die „psychophysische Thätigkeit, welche unserem Gesammtbewusstsein unterliegt“, im Schlaf sinkt.524 Fechner formulierte ein mathematisches Gesetz der Psychophysik, das die Abhängigkeit der Empfindungsintensität von der Reizgröße für das jeweils untersuchte Individuum, also seinen Schwellenwert, feststellte. Sein Schüler Ernst Kohlschütter wandte die Fechnersche Methode des Schallpendels für eine erste Versuchsreihe der Schlaftiefe an. In seiner Dissertation von 1862 untersuchte er die Weckschwellen mit Hilfe von akustischen Reizen und kam zu dem Schluss, dass der natürliche Schlaf sich normalerweise innerhalb der ersten Stunde erst rasch, dann langsamer vertieft und in den folgenden Stunden immer flacher wird. Kohlschütter erstellte dazu eine Graphik (Abb. 7), die die Schlafdauer (0 bis 8 Stunden) mit den zum Erwecken erforderlichen Schalleinheiten in Zehntausendstel (0 bis 750) in Relation bringt. Das Erwecken oder vielmehr beinahe Erwecken seiner Versuchspersonen hatte keine anschließende Verflachung des Schlafs zur Folge, sondern im Gegenteil eine kurzfristige Vertiefung. Zudem dauerte der Schlaf länger, je flacher er war: „Zwischen der grössten erreichten Festigkeit und der Gesammtdauer des Schlafes findet ein gesetzliches 520 Fechner: Elemente der Psychophysik, 246. 521 Fechner: Elemente der Psychophysik, 248. 522 Fechner: Elemente der Psychophysik, Zweiter Theil, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1860, 439–452, hier 443. 523 Fechner: Elemente der Psychophysik, Zweiter Theil, 446. 524 Fechner: Elemente der Psychophysik, Zweiter Theil, 446.

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Kohlschütters Schlaftiefenkurve, 1862

Abhängigkeitsverhältnis Statt“.525 Die Schlaftiefenstudien Kohlschütters erfuhren wegen ihres experimentellen Zugangs Anerkennung.526 1891 wurden sie von Eduard Michelson weitergeführt, einem Psychiater, der mit dieser Arbeit bei 525 Ernst Kohlschütter: Messungen der Festigkeit des Schlafes, Diss. Leipzig 1862, 42. 526 Veröffentlichungen zum Schlaf bis zur Jahrhundertwende erwähnen Kohlschütter bis über die Jahrhundertwende hinaus, etwa: Max Verworn: Schlaf, in: Eugen Korschelt (Hg.): Handwörterbuch der Naturwissenschaften, 10 Bde., 1912–1915, Bd. 8, Jena: Fischer 1913, 906–918, hier 907; Spitta: Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen Seele (21883), 40. Dazu auch Schöpf: Der Schlaf aus medizinischer Sicht im 18. und frühen 19. Jahrhundert, 171. Hermann kommentiert, die Schlaftiefenkurve habe „bereits wesentliche Vorstellung moderner Schlafforschungsergebnisse“ beinhaltet (Hermann: Schlafapnoe als Krankheitskonstrukt, 79).

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Emil Kraepelin promoviert wurde, der wiederum als Ermüdungsforscher und Arbeitshygieniker für den Schlafdiskurs eine wichtige Rolle spielte. Michelson setzte an der Selbstkritik Kohlschütters an, bei seinen sechs Testpersonen habe sich während der Experimente möglicherweise ein verfälschender Gewöhnungseffekt eingestellt.527 In seinem Versuchsaufbau wurden von einem Nebenraum aus die Schallreize mit fallenden Metallkugeln unterschiedlichen Gewichts erzeugt. Die Kohlschüttersche Schlafkurve wurde im Wesentlichen bestätigt mit der Ergänzung, dass nach 1 ¾ Stunden der Tiefschlaf vorbei sei und der Tagesschlaf dreimal flacher ausfalle als der Nachtschlaf. 528 Außerdem stellte Michelson fest, dass seine Probanden im Winter tiefer schliefen als zur hellen Jahreszeit.529 Damit schien die Schlaftiefe in ihren Grundzügen erforscht zu sein, so dass darüber hinaus kaum neue Erkenntnisse aus den Weckschwellentests erhofft wurden. Dass beispielsweise vorangehende Ermüdung – Michelson experimentierte mit „warme[n] Bäder[n], Rudern, Velocipedfahren“530 – schlafförderlich war, war Allgemeinwissen. Somit beließ man es zunächst dabei. 1925 veröffentlichte Paul Karger, Privatdozent für Kinderheilkunde an der Universität Berlin, eine Studie „Über den Schlaf des Kindes“, die Kohlschütters Experimente teilweise fortsetzte. Der Berliner Kinderarzt untersuchte „Aktivitäts- und Ruheperioden bei älteren Kindern“ und deren Abhängigkeit von inneren und äußeren Einflüssen.531 Die „Weckerwartung“, die in den früheren Untersuchungen verfälschend gewirkt haben könnte, vermied er, indem er, wenn überhaupt, Reize unter der Weckschwelle einsetzte, nämlich Lichtreize, die Blinzelreaktionen hervorriefen.532 Der Schlaf des Kindes legte nach Kargers Studie „gewisse Gesetzmäßigkeiten“ an den Tag; Störungen und Krankheiten beeinflussten das Schlafverhalten jedoch negativ.533 Zudem erwies sich die „Dormition“ der Kinder – Karger griff hier ungewöhnlicherweise Trömners Formulierung für die individuelle Disposition auf – als sehr ungleichmäßig; Regel schien aber zu sein, dass der Schlaf in der ersten Nacht immer relativ

527 Kohlschütter: Messungen der Festigkeit des Schlafes, 12; Eduard Michelson: Untersuchungen über die Tiefe des Schlafes, Diss. Dorpat 1891, 11. 528 Michelson: Untersuchungen über die Tiefe des Schlafes, 30 und 44. 529 Michelson: Untersuchungen über die Tiefe des Schlafes, 45. 530 Michelson: Untersuchungen über die Tiefe des Schlafes, 48. 531 Paul Karger: Über den Schlaf des Kindes (Abhandlungen aus der Kinderheilkunde und ihren Grenzgebieten 5), Berlin: S. Karger 1925, hier 12–13. Karger (hier 2–3) und Trömner (Das Problem des Schlafes, 35) verweisen je auf zwei weitere Folgestudien, die aber zu vernachlässigen seien. 532 Karger: Über den Schlaf des Kindes, 3–6. 533 Karger: Über den Schlaf des Kindes, 10.

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Hypnographie des „normalen Kindes“, 1925

unruhig ausfiel.534 Der Schlaf eines „normalen Kindes“ (Abb. 8) ist nach Karger in den ersten Stunden, also gerade im tiefen Schlaf, und dann kurz vor dem Aufwachen relativ unruhig.535 Aufregende Spiele am Abend führen zu einem insgesamt deutlich unruhigeren Schlaf (Abb.  9). Der Vergleich von ruhigen, lebhaften und als epileptisch eingestuften Kindern veranschaulicht ihr entsprechend unterschiedliches Schlafverhalten (Abb. 10). Für seine Untersuchungen verwendete Karger einen „Hypnographen“, der Bewegungen im Schlaf in „Schlafaktogrammen“ aufzeichnete: Auf zwei Gummirollen (R.) läuft mit einer Geschwindigkeit von 4 cm pro Stunde, durch ein Uhrwerk getrieben, ein Registrierstreifen (Str.) ab, auf dem eine Schreibfeder (F.) die Bewegungen eines Hebels (H.) aufzeichnet.536

Diese Messapparatur wurde mit dem Bein (B.) des Bettes verbunden, das auf einem Gummipfosten (Pf.) stand (Abb. 11, S. 151).

534 Karger: Über den Schlaf des Kindes, 4–5, 20, 45–46. 535 Karger: Über den Schlaf des Kindes, 9. 536 Karger: Über den Schlaf des Kindes, 13. Das Messgerät wurde nach Angaben des Autors von einer nicht näher vorgestellten Person namens „Naegele“ entwickelt.

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9 Hypnographie eines zehnjährigen Jungen, der vor dem Schlafengehen mit einem Hund spielte, 1925

10 Vergleichende Hypnographie von ruhigen und unruhigen Kindern, 1925

Wie in den früheren Untersuchungen der Schlaftiefe, ging es auch in Kargers Experimenten nicht um eine Definition oder Erklärung des Schlafs. Auf der Grundlage der neuen exakten Wissenschaften, der Physik in diesem Fall, war

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Kargers Hypnograph, 1925

der Anspruch nicht mehr und nicht weniger als der auf Vermessung des Vermessbaren. Der Einfluss äußerer und innerer Reize auf den Schlaf wurde dabei nach Möglichkeit visualisiert. Dazu kam teils die Hoffnung auf eine Anwendung der Ergebnisse in der Psychiatrie. Während Karger noch in Berlin mit den Aufzeichnungen seines Hypnographen befasst war, führte der Neurologe und Psychiater Hans Berger in Jena Experimente zur Telepathie und Telekinese durch; sein Ziel war es, „psychische Energie“ nachzuweisen. Dabei entwickelte er, nachdem es schon seit 1887 die Elektrokardiographie gab, die Elektroenzephalographie, um elektrische Gehirnaktivität unterschieden nach Bewusstseinszuständen über die Schädeloberfläche zu messen und darzustellen; das Elektroenzephalogramm (EEG, Abb. 12),

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Beispiel für die ersten Elektroenzephalogramme, 1929

worüber er 1929 publizierte, wurde zur Grundlage der Schlafforschung des 20. Jahrhunderts.537 Im Schlafdiskurs war das Gehirn seit der Antike von besonderem Interesse. Der Schlaf oder seine Verursachung wurde dort lokalisiert; auch auf die Frage, ob Blutfülle oder Blutarmut im Gehirn schlafförderlich waren, gab es unterschiedlich begründete Antworten. Noch 1892 wurde eine auf dem Stoffwechsel basierende, an die Spirituslehre erinnernde, aber biochemisch argumentierende Theorie formuliert, nach der das durch Wasser verursachte Quellen der Nervenzellen (im Gehirn) deren Erregbarkeit blockiere und damit Müdigkeit verursache. Die Ausdünstung im Schlaf, Folge der Nahrungsassimiliation, sei Oxydationswasser. Dieser ärztliche Blick auf die Ebene der Zelle spiegelt die neue Verwurzelung der Medizin in der Zellularpathologie und der Lokalisierung von Krankheiten, für die Rudolf Virchow stand, wider.538 Etwa zeitgleich wurde 537 Mit Berger und seinem „Experimentalsystem“ hat sich ausführlich auseinandergesetzt: Borck: Hirnströme. Zur Vorgeschichte der Entdeckung der Hirnaktivität: Ders.: Strom im Gehirn. Zur mehrfachen Erstbeschreibung elektrischer Hirnaktivität, in: Christoph Meinel (Hg.): Instrument – Experiment. Historische Studien, Berlin/Diepholz: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaft und der Technik 2000, 119–127. Außerdem: Lavie: The enchanted world of sleep, 9; Breidbach: Die Materialisierung des Ichs, 282–284; Hans Berger: Über das Elektrenkephalogramm des Menschen; zu Berger und dem EEG auch Mächler: Die Anfänge moderner Schlafforschung, 26–45; Michael Aldrich: Electroencephalogram, in: Carskadon (Hg.): Encyclopedia of sleep and dreaming, 206–207 und Sharon A. Keenan: Electroencephalography, in: Mary A. Carskadon (Hg.): Encyclopedia of sleep and dreaming, New York u.a.: Macmillan 1993, 207–208; zur Geschichte des EKGs: Cornelius Borck: Herzstrom. Zur Dechiffrierung der elektrischen Sprache des menschlichen Herzens und ihrer Übersetzbarkeit in klinische Praxis, in: Hess (Hg.): Die Normierung der Gesundheit, 65–86. Zum Autor: Berger, Hans, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 47. 538 Emanuel Rosenbaum: Warum müssen wir schlafen? Eine neue Theorie des Schlafes, Diss. Berlin 1892. Dazu auch Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 72. Zu Virchow im Kontext der Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts siehe z.B.: Erwin H. Ackerknecht: Geschichte der Medizin, überarbeitet von Axel Hinrich Murken, Stuttgart: Enken 71992, 117–118. Seine „Cellularpathologie“ erschien 1858.

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Purkynes Lokalisationstheorie weiterentwickelt.539 Schließlich standen in den 1920er Jahren der Name des österreichischen Neurologen und Gehirnanatoms Constantin Alexander von Economo und seine Forschungen zum „Schlafzentrum“ oder „Schlafsteuerungszentrum“ für die Bestrebungen, den Schlaf im Gehirn zu lokalisieren. Economo verortete im Zusammenhang mit seinen Studien zur Enzephalitis (Gehirnentzündung) die Schlafsteuerung im Übergang vom Zwischen- zum Mittelhirn.540 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden elektrische Reize in der Hirnforschung eingesetzt, um Korrelationen von Hirnregionen und -funktionen zu erforschen. Tatsächlich waren um 1800 schon Tierversuche mit Elektrizität begonnen worden; allerdings bestand weiterhin das Problem, dass diese Versuche nur bei offener Schädeldecke durchgeführt werden konnten.541 1892 stellte ein Kinderarzt an einem Kleinkind mit gebrochenem Schädel in der Deutschen Landesfindelanstalt in Prag fest, dass beim Einschlafen der Hirnpuls stieg, ein Phänomen, das von anderen Forschern aus dem neurologischen Umfeld bestätigt wurde (Abb.  13).542 Entsprechende Untersuchungen hatte kurz zuvor bereits Angelo Mosso angestellt, der den Wirkungen von Anämie beziehungsweise Hyperämie im Gehirn nachging. Seine Versuchsperson hatte „mitten auf der Stirn ein Loch“, durch das ein Glasrohr eingeführt wurde. Ein Messgerät verzeichnete die Luftverdrängung im Gehirn (Abb. 14).543 Wie der Puls wurden Atmung, Körpertemperatur und Absonderungen untersucht.544 Auch führte 539 Ludwig Mauthner: Zur Pathologie und Physiologie des Schlafes nebst Bemerkungen über die „Nona“, in: Wiener medizinische Wochenschrift 40 (1890), 961–964, 1001–1004, 1049–1052, 1092–1095, 1144–1146, 1185–1188. Dazu auch Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 71. 540 Economo fasst in einem wenige Jahre nach seinen Studien veröffentlichten Beitrag zu einem Sammelband seine und frühere Schlaflokalisationen bündig zusammen: Der Schlaf als Lokalisationsproblem, in: David Sarason (Hg.): Der Schlaf. Mitteilungen und Stellungnahme zum derzeitigen Stande des Schlafproblems, München: Lehmann 1929, 38– 53. Biographisches: Economo von San Serff, Constantin Alexander Frh., in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 144. Zu seiner Theorie knapp Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 75. Die Existenz eines Schlafzentrums wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts angenommen. 541 Lavie: The enchanted world of sleep, 8. 542 Trömner: Das Problem des Schlafes, 30. Trömner bezieht sich hier auf eine andere Veröffentlichung Czernys. Zu dessen Biographie: Czerny, Adalbert, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 116–117. Er gilt als einer der Begründer der deutschen Kinderheilkunde. 543 Mosso: Die Ermüdung (dt. 1892), 67–75. 544 Eine Zusammenfassung der Forschungen findet sich bei Karger: Über den Schlaf des Kindes (1925), 1–2.

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13 Visualisierung des Hirnpulses nach Czerny, 1912

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Mossos Versuchsanordnung mit Messaparat für den Gehirnpuls, 1892

man Versuche mit elektrischen Hautreizen bei Säuglingen und Kleinkindern durch (Abb. 15).545 Mit Elektrizität („unterbrochenem Gleichstrom“) konnte ein dem „Chloroformschlaf“ ähnlicher Zustand hervorgerufen werden – vom 545 Adalbert Czerny: Beobachtungen über den Schlaf im Kindesalter unter physiologischen Verhältnissen, in: Jahrbuch für Kinderheilkunde und physische Erziehung 33 (1892), 1–28.

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Czernys Versuchsanordnung zur Schlaftiefenprüfung bei Kindern, 1892

magnetischen Schlaf war nun keine Rede mehr; ebenso wurde um 1900 mit Elektrizität die Wiederbelebung experimentell erforscht (Abb. 16).546 Bergers Entdeckung der elektrischen Aktivität des Gehirns war vor diesem Hintergrund in einigen Punkten eine Bestätigung der Schlafforschung des 19. Jahrhunderts. Dass der Schlaf mit den Hirnfunktionen in Verbindung steht und dass er letztlich „messbar“ sein würde, waren wesentliche Prämissen und Ziele der Forschungen gewesen.547 Nach Bergers Zeit, vor allem seit der Entdeckung des REM-Schlafs 1953 in Chicago, wurde die Schlafforschung in mit EEGs ausgestatteten Schlaflabors ein internationales Forschungsgebiet, in dem Begriffe aus den frühen „Schlaflabors“, wie die „Weckschwelle“, weiterhin Verwendung fanden.548 546 Oscar Roos: Studien über den „Elektrischen Schlaf“, Diss. Strassburg: Straßburger Drukkerei und Verlagsanstalt 1916. Zur Geschichte der „Elektrizitätslehre als neues Paradigma für das Verständnis des Nervensystems“, vor allem um 1850: Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, 101–111, hier 106: Du Bois-Reymond wies die tierische Elektrizität nach und belegte den „Nervenaktionsstrom“, während Helmholtz die Nervenleitgeschwindigkeit maß. 547 Auch galt der Schlaf längst nicht mehr als ein rein passives Phänomen, vgl. etwa: Oesterlen (Handbuch der Hygieine für den Einzelnen sowie für eine Bevölkerung [1851], 245) „Es ist nicht möglich, daß eine Art des Schlafs existirt, in welchem gar keine Geistesactionen stattfinden.“ 548 1953 entdeckten schließlich ausgewiesene Schlafforscher (Eugene Aserinsky, Nathaniel Kleitmann) in Chicago zusätzlich zu den bereits bekannten, nach der neuralen Aktivität unterschiedenen, nach bestimmten Mustern ablaufenden Schlafstadien den so genannten REM-Schlaf (REM steht für „rapid eye movement“). Karger hatte bei seinen Messungen von Schlaftiefe und Bewegung im Schlaf bereits die Einbeziehung der Augen-, speziell der Pupillenreaktion, in Betracht gezogen, sich aber wegen der unvermeidlichen Störung des Schlafes dagegen entschieden. Kleitmann: Sleep and wakefulness; zur Entdeckung der

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Roos’ Versuchsaufbau zur Erzeugung von elektrischem Schlaf bei einem Kaninchen, 1916

1828 hatte der Gerichtsmediziner und Ratgeberautor Wildberg geschrieben: Der Schlaf ist ein dem Wachen entgegengesetzter Zustand, in welchem das animalische Leben ruhet und das vegetative vorwaltet. In demselben höret alle Empfindung und willkührliche Bewegung auf, alle Sinne und mit ihnen auch die Thätigkeit des Gehirns ruhen, alle Verbindung mit der Sinnenwelt ist gleichsam aufgehoben, das Bewusstseyn wird verdunkelt und ausgelöscht, im ganzen Seelenleben wird Nacht, und der Mensch hört gewissermaßen so lange der Schlaf dauert auf, Mensch zu seyn.549

Der Schlaf galt zwar schon lange nicht mehr als rein passive Ruhepause des Lebens – wenn man die „Wiederherstellung der Lebenskraft“ oder des spiritus animalis als eine Form der Aktivität versteht, war das noch nie der Fall gewesen. Die moderne Schlafforschung sieht aber in der Entdeckung der Ge“rapid eye movements” und Kleitmann: Lavie: The Enchanted World of Sleep, 18–25; William C. Dement, REM sleep, Discovery of, in: Carskadon (Hg.): Encyclopedia of sleep and dreaming, 505–507. 549 Wildberg: Handbuch der Diätetik für Menschen im gesunden Zustande (1828), 301– 302. Zum Autor: Wildberg, Christian Friedrich Ludwig, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 2, 683–684.

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hirnaktivität, wie sie durch das EEG visualisiert wird, die Gründung ihrer Disziplin, weil damit eine völlig neue Dimension der Darstellung und Analyse des Schlafs eröffnet wurde. Mit dem EEG schien endlich die Möglichkeit gegeben, den Schlaf selbst wissenschaftlich zu erforschen, nicht mehr nur seine Umstände. Die Suche nach Schlafstoffen im 19. Jahrhundert

Die Vorstellung von körpereigenen Substanzen, die Ermüdung verursachen und im Schlaf abgebaut werden, geht auf die antike Spirituslehre zurück. Die chemischen Forschungen des 19. Jahrhunderts stellten neue Ansätze zur Verfügung, mit denen diese Vorstellung erneut aufgegriffen werden konnte.550 Noch in die Romantik gehört die Sauerstofftheorie des Philosophen, Anatoms und Physiologen Jakob Fidelis Ackermann, der um 1800 als erster eine chemische Entdeckung auf den Schlaf anwendete: Der 1775 entdeckte Sauerstoff transportierte für ihn den „Lebensäther“, der dem „Princip der Reizbarkeit“ entspreche und in Verbindung mit dem Kohlenstoff flüssig in das Blut gelange. Das Leben der organisirten Körper, sowohl der Thiere als der Pflanzen, ist das Resultat physischer Kräfte, welche in ihrem vereinzelten Zustande sich von jenen, die in der übrigen Körperwelt wirksam sind, im geringsten nicht verschieden zeigen und nur in ihrem Zusammenhange die verwickelte Erscheinung des Lebens darstellen. Diejenige Kraft, welche wir als das erste Agens im lebenden Körper ansehen müssen, ist eine chemische Kraft [...]. Sie entsteht durch die in den Organismen vor sich gehende Vereinung des Säurestoffs mit dem Kohlenstoffe, wo bei der Erzeugung des kohlensauren Gases die Zellchen des organischen Gewebes wegen der bei dieser Verbindung geschehenen Trennung des Kohlenstoffs sich zusamenziehen.551

Wenn der „Vorrath des Lebensäthers“ im Gehirn erschöpft ist, das Blut langsam fließt, tritt nach Ackermann Ermüdung ein. Im Schlaf „gewinnt [das Gehirn] Zeit, [um] aus der Blutmasse wieder einen beträchtlichen Vorrath an Lebensäther abzusondern, und zu den künftigen Muskelbewegungen

550 Vgl. Schöpf: Der Schlaf aus medizinischer Sicht, 202. 551 J. F. Ackermann: Versuch einer physischen Darstellung der Lebenskräfte organisirter Körper. In einer Reihe von Vernunftschlüssen aus den neuesten chemischen und physiologischen Entdeckungen, 2 Bde., Frankfurt am Mayn: Varrentrapp und Wenner 1797 und 1800, hier Bd. 2, 4–5; Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 56–57; zur Entdeckung des Sauerstoffs: Delon: Konzepte der Medizin, 295; zu Akkermann: Ackermann, Jacob Fidelis, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 3.

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aufzubewahren“.552 Die allgemein bekannte Erfahrung des Gähnens dient ihm als Argumentationsgrundlage: Durch das Gähnen wird durch ein gedehntes Athemholen die Brust mehr als gewöhnlich zu geschehen pflegt, erweitert, um eine größere Menge Luft einzunehmen, wodurch auch eine verhältnismäßig größere Menge Lebensäther dem Blute beigemischt, und mehr kohlensaures Gas aus demselben ausgeschieden wird. Diese beiden Erscheinungen gehen gewöhnlich dem Schlaf vorher, und zeigen offenbar, daß in dem Zustand automatische und animalische Bewegungen einander zur Hülfe kommen, um die nöthige Reizbarkeit zu erhalten, welche im wachenden Zustande des thierischen Körpers erfordert wird. Endlich aber tritt dennoch der Schlaf ein, in welchem Zeitraum in dem Gefäßsystem bei dem fortdauerenden Geschäft des Atemholens eine hinreichende Menge Säurestoffs angesammelt wird.553

Die Sauerstofftheorie schlug sich im Schlafdiskurs der nächsten Jahrzehnte vereinzelt nieder, etwa bei Fleck, der 1844 erklärte: Alle Nervenreize wirken [...] negativ, reizentziehend für das Gehirn, denn indem dasselbe die Objecte sich assimiliren, indifferenciren will, muss es einen Theil seines Oxygens verlieren, es wird demnach am Ende ganz differencirt, der Hydrogenpol wird überwiegend, die Nerven hören auf zu wirken, – sie werden isolirt, und – schlafen.554

In den 1870er Jahren wurden zwei Theorien aufgestellt, nach welchen der Schlaf von einer schlafinduzierenden biochemischen Substanz ausgelöst werde. Mit dem positivistisch-naturwissenschaftlichen Zugang löste sich die Frage nach den Schlafstoffen aus dem Kontext des Lebensbegriffs. Aus dem Bonner „Physiologischen Laboratorium“ gingen Eduard Pflügers Überlegungen hervor, die er selbst als „eine Art vorläufiger Mittheilung“ verstanden wissen wollte.555 Ohne auf Ackermann Bezug zu nehmen, ging er von denselben physiologischen Prämissen aus und experimentierte wie Ackermann mit (erstickenden) Fröschen. Ich zeigte durch Versuche, dass die Erregbarkeit ihren nächsten Grund im intramolecularen Sauerstoffe hat und dass sie erlischt, wenn derselbe zur Bildung von Kohlensäure verbraucht ist. [...] Die trotz des Circulierens von sauerstoffhaltigem Blute, lange Dauer des Scheintodes, wie wir dies bei Fröschen, die lange des Sauerstoffs beraubt 552 Die Schlaftheorie: Ackermann: Versuch einer physischen Darstellung der Lebenskräfte, Bd. 1, 167–72, hier 169. 553 Ackermann: Versuch einer physischen Darstellung der Lebenskräfte, Bd. 1, 171–172. 554 Fleck: Ueber Schlaf und Traum (1844), 13. 555 Eduard Pflüger: Theorie des Schlafes, in: Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere 10 (1875), 468–478, hier 478. Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 69. Zum Autor: Pflüger, Eduard (Friedrich Wilhelm), in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 466. Pflüger war Schüler von Du Bois-Reymond.

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waren, feststellen mussten, erklärt sich meines Erachtens daraus, dass erst wenn diejenige Menge intramolecularen Sauerstoffs vorhanden ist, welche in der hierdurch bedingten Kohlensäurebindung eine gewisse Summe lebendiger Kräfte in der Zeiteinheit als Minimum liefert, der wache Zustand wiederkehrt.556

Schon zwei Jahre später erweiterte der englisch-deutsche Physiologe Wilhelm Thierry Preyer in Jena die Sauerstofftheorie. Die zeitgenössische Physiologie hatte Milchsäure und Kreatin als Stoffwechselprodukte der Muskelermüdung entdeckt, die den Sauerstoff im Blut absorbieren.557 Zudem gab es erste Forschungsergebnisse, nach denen der Sauerstoffverbrauch im Schlaf geringer war als im wachen Zustand.558 Preyer mutmaßte, dass diese „Ermüdungsstoffe“ denselben Effekt auf Nerven haben, womit die körperliche wie die geistige Ermüdung erklärt wird, denn ihre Sauerstoffabsorption lähmt die Gehirnfunktionen, wodurch der Schlaf eintritt, so Preyer. Im Schlaf würden die Ermüdungsstoffe oxydiert. Diese Theorie verband der Physiologe mit Elementen der Reiztheorie: Ist die Oxydation und damit die Beseitigung der Ermüdungsstoffe schon weit fortgeschritten, so genügen schon schwache Reize, den Blutsauerstoff der Ganglienzellen wieder zuzuwenden: man erwacht. Häufen jene Stoffe während des Wachseins sich wieder an, so nimmt die Erregbarkeit ab, die Bewusstseinsschwelle steigt, es tritt Ermüdung und Schlaf ein, wenn nicht starke Reize den Sauerstoff verhindern die Ermüdungsstoffe zu oxydieren, indem sie ihn selbst benöthigen.559

Preyers Tierversuche mit Milchsäure führten tatsächlich „in vielen Fällen [zu] Ermüdung, Arbeitsunlust, Schlaffheit, Schläfrigkeit“, er selbst fühlte sich nach dem Genuss saurer Milch manchmal schläfrig.560 Seine Milchsäuretheorie fand bis zur Jahrhundertwende Niederschlag in der Wissenschaft und in der 556 Pflüger: Theorie des Schlafes, 468 und 474. 557 Die Entdeckung der Milchsäure schreibt Ludwig Du Bois-Reymond zu: Ludwig: Lehrbuch der Physiologie, 31; zu Kreatin stellt er heraus, man finde es „in der Flüssigkeit angestrengter Muskeln und im Harn“ (35). Kreatinin als Endprodukt des Muskelstoffwechsels entdeckte der Chemiker Max von Pettenkofer: Peter Voswinckel: Pettenkofer, Max von: in Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd.  1, 462–463. 558 Entsprechende Experimente hatten Max von Pettenkofer und Carl von Voit durchgeführt: Messerli: Zeitnutzung, 212. 559 Wilhelm Thierry Preyer: Über die Ursache des Schlafes. Ein Vortrag, gehalten in der ersten allgemeinen Sitzung der 49. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Hamburg am 18. September 1876, Stuttgart: Ferdinand Enke 1877, hier 12–13. Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 70. Messerli: Zeitnutzung, 211. Zum Autor: Preyer, Wilhelm Thierry, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 477; Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, 70. 560 Preyer: Über die Ursache des Schlafes, 22 und 24.

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Leistungskurven von Mäusen mit und ohne Antikenotoxin, 1912

Ratgeberliteratur.561 Auch das Familienblatt „Gartenlaube“, die damals größte Wochenzeitschrift ihrer Art und maßgebendes Organ der Wissenschaftspopularisierung, klärte unter Bezugnahme auf Preyer seine Leserschaft über die Bedeutung der Milchsäure für den Schlaf auf.562 Der wissenschaftliche Ertrag aus der Suche nach Ermüdungsstoffen konnte entweder in der Synthetisierung eines Schlafmittels bestehen oder seinem Gegenteil: der Herstellung eines Impfstoffs gegen Müdigkeit. An letzteres, (sozial-) 561 1900 las man in einem Ratgeber: „Als ein unschädliches Mittel empfehle ich in manchen Fällen die Milchsäure. Nach der Theorie von Preyer soll nämlich unter den Zersetzungsprodukten, welche sich bei der Thätigkeit des Zentral-Nervensystems bilden, die Milchsäure obenan stehen; sie soll als der wichtigste Ermüdungsstoff vornehmlich den Schlaf herbeiführen.“ (Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel [31896], 41). Preyer selbst plädierte für Milchsäureexperimente in Irrenhäusern (Preyer: Über die Ursache des Schlafes, 26). Zum Thema Milch in der Schlafdiätetik siehe auch Kapitel 3.4. 562 Anonym (Dr. W.): Schlaflosigkeit, in: Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Jg. 1877, 123. Die Gartenlaube erschien von 1853–1937 und verkaufte sich im ersten Jahr bereits mit 100.000 Exemplaren, 1875 waren es bereits bis dato im Wochenzeitschriftenbereich unerreichte 382.000. Mehrere Schlafartikel stehen in dieser Untersuchung, die sich stärker auf die Gesundheitsratgeberliteratur konzentriert, beispielhaft für eine Vielzahl weiterer populärwissenschaftlicher Zeitschriftenbeiträge (Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt, 80; Daum: Wissenschaftspopularisierung, 337–342).

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utopisches Unterfangen wagte sich 1904 der Erlanger Physiologe Wolfgang Weichardt. Er experimentierte mit Kleintieren, deren durch Erschöpfung herbeigeführte Bewusstlosigkeit oder deren Tod er als Vergiftung mit dem Ermüdungsstoff „Kenotoxin“ interpretierte. Er entwickelte ein „Antikenotoxin“ und erreichte eine Immunität seiner Mäuse gegen den Ermüdungsstoff (Abb. 17). Die knapp zehn Jahre, in denen man mit Antikenotoxin experimentierte, wurden in der jüngeren Forschung lakonisch zusammengefasst: Ein paar Jahre lang besprühten Männer in weißen Laborkitteln Berliner Schulkinder mit „Antikenotoxin“ [ab 1909] und stellten bedeutende Verbesserungen bei der Leistung und der Aufmerksamkeit fest [Abb. 18]. Erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs erwies sich Weichardts Hoffnung, die Ermüdung zu beseitigen, endgültig als illusorisch. Ärzte, die der Österreich-Ungarischen Armee angehörten und sich den militärischen Vorteil ständig wacher und frischer Truppen vor Augen hielten, behandelten Rekruten mit dem Weichardtschen Impfstoff [1914]. Sie kamen zu enttäuschenden Ergebnissen, besonders im Vergleich mit der außergewöhnlichen Vitalität, die eine Kontrollgruppe zur Schau stellte, der konzentriertes Coffein gespritzt worden war.563

Die Vorstellung von Schlafstoffen oder „-giften“ war um die Jahrhundertwende durchaus verbreitet. Rosenbaum und Economo beispielsweise verbanden ihre Lokalisationstheorien damit, aber auch viele Arbeitsphysiologen waren von ihrer Existenz und Wirkung überzeugt. Das Ziel, mit Hilfe der Chemie gegen den Schlaf impfen zu können wie beispielsweise gegen Tuberkulose, erwies sich allerdings als reine Utopie: Der Schlaf schien also auch mit den Waffen der Chemie auf absehbare Zeit nicht bezwingbar zu sein.

563 Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, 291. Ausführlicher: Rabinbach: The Human Motor, 142–145. Wolfgang Weichardt: Über Ermüdungsstoffe, Stuttgart: Enke 21912 (11910); Kuhlen: Geschichte der Schmerz-, Schlaf und Betäubungsmittel, 73. Zum Autor: Weichardt, Wolfgang, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 2, 671. Genauere Darstellung des Versuchsaufbaus und der Ergebnisse einer Fallstudie, in der Ergographen und das Antikenotoxin zur Anwendung kamen: Friedrich Lorentz: Über Resultate der modernen Ermüdungsforschung und ihre Anwendung in der Schulhygiene, Hamburg/Leipzig 1911. Ein anderes Beispiel: Marx Lobsien: Über den Einfluß des Antikenotoxin auf die Hauptkomponenten der Arbeitskurve. Einige experimentelle Beobachtungen (Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung 96), Langensalza: Beyer 1912.

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18 Leistungen von Schulkindern mit und ohne Gabe von Antikenotoxin, Ausschnitt aus einer breiteren Studie nach Weichardtschen Methoden, 1911

Ermüdungsforschung und Arbeitsphysiologie. Schlaf als Fortschrittshindernis im späten 19. Jahrhundert

Davidson hatte die Ermüdung, typisch für die Zeit um 1800, in seinem aus Theorie und Hygiene zusammengesetzten Traktat als Gefühl beschrieben, das dem Einschlafen vorangehe und von der physischen Abstumpfung der Nerven hervorgerufen werde: Wenn [...] durch die stete Einwirkung der Lebenskraft von innen und die steten Eindrücke von aussen, die Nerven verstimmt werden, so kann die Lebenskraft nicht mehr gehörig wirken, alle Äußerungen ihrer Kraft, Bewegung, Empfindung, und Denken,

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müssen ebenfalls verändert werden, das Gefühl dieser Veränderung [...] ist die Ermüdung, und eine Folge derselben die Schläferigkeit, nun werden die Nerven immer weniger fähig, Bewegung und Empfindung zu erregen und nun entsteht der Schlaf.564

Um 1900 dagegen betrachtete man die Ermüdung differenzierter; sie war nun nicht mehr nur ein kleiner Bestandteil des Schlafdiskurses, vielmehr war in den vergangenen Jahrzehnten ein eigenständiger Ermüdungsdiskurs entstanden. Ermüdung war in diesem Kontext nicht mehr hauptsächlich eine der Vorstufen oder Vorbotin des Schlafs, denn die Gewichtung hatte sich gewendet: Der Schlaf war „das bei weitem wichtigste Mittel zum Ausgleiche aller Ermüdungserscheinungen“.565 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich um den Begriff der Ermüdung eine historiographisch gut aufgearbeitete internationale Forschungsdebatte von Physiologen, Psychologen und vor allem Psychophysikern der Arbeit, „Arbeitswissenschaftlern“, die unter anderem auf den „Internationalen Kongressen für Hygiene und Demographie“ (1903 Paris, 1907 Berlin, 1912 Washington) vorangetrieben wurde und bereits um die Jahrhundertwende eine Flut von Veröffentlichungen hervorbrachte.566 Michelsons Schlaftiefenmessungen und, mehr noch, Weichardts Ermüdungsstoffforschung waren Teil eines breiteren Forschungskontexts. Man hatte begonnen, die körperliche Ermüdung zu vermessen, zunächst davon ausgehend, psychische Faktoren der Ermüdung einkalkulieren zu können; bald aber kam der Begriff der „geistigen Ermüdung“ auf, die man ergänzend zu erfassen suchte und an dem die Arbeitsphysiologie der Ermüdung letzten Endes scheiterte. Hinter dieser Entwicklung stand die soziale beziehungsweise ökonomische Utopie, die Ermüdung, und damit neben der Schlaflosigkeit die zweite problematische Seite des Schlafs, erfolgreich bekämpfen zu können. Diese wurde von zwei unterschiedlichen Lagern gestützt: einerseits den Sozialreformern und Gewerkschaftern, andererseits von Unternehmern – wenngleich weniger prominent als in den USA, wo im Kontext der Arbeitsrationalisierung der Taylorismus und der Fordismus entwickelt wurden. Denn zum einen machte die „Überbürdung“ durch Arbeit einen integralen Bestandteil der sozialen Frage aus. Zum anderen – und im Gegensatz dazu im Zeichen des (wissenschaftlichen) Fortschrittsoptimismus –, war man bestrebt, die menschliche Arbeitsleistung mit der der Maschine besser zu koordinieren oder sie nach Möglichkeit zu erweitern, um ökonomischer produzieren zu können.

564 Davidson: Ueber den Schlaf (1796), 14. 565 Emil Kraepelin: Ueber geistige Arbeit, Jena: Gustav Fischer 1894, 18. 566 Rabinbach: The Human Motor, 179–205, 133 und 137–138.

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Dass der neue Begriff der Ermüdung ein quantitativer war, die Ermüdung „ein Gegenstand der Berechnung und Vermessung“,567 beruhte auf der MenschMaschine-Analogie, wie sie von den Mechanisten des 18. Jahrhunderts vorbereitet worden war, und in der Gleichsetzung von Arbeitskraft und physikalischer Kraft, wie sie Helmholtz 1854 formulierte, einmal mehr aufgegriffen wurde: Der Tierkörper unterscheidet sich [...] durch die Art, wie er Wärme und Kraft gewinnt, nicht von der Dampfmaschine [...]. Deshalb ist im mechanischen Sinne der Begriff der Arbeit gleich dem des Kraftaufwandes geworden.568

Die breite zeitgenössische Akzeptanz der Beschreibung des Menschen als Dampfmaschine oder, in anderen Fällen, des menschlichen Körpers als eines Kombinats chemischer Fabriken lässt sich mit der Technikgläubigkeit und dem Fortschrittsoptimismus der Zeit erklären. Die Wissenschaftsgeschichte hat aber noch weiterreichende Erklärungsmuster herausgestellt: Mit solchen Analogien wurden nicht nur die bürgerlichen Werte Arbeit und Leistung szientistisch abgestützt, auch die Industrialisierung erschien nun als folgerichtige Nutzung der vorgegebenen natürlichen Ressourcen.569

Nach dem Vorbild des Helmholtzschen „Myographen“ zur Messung von Muskelkontraktionen (1850) entwickelte der italienische Physiologe Angelo Mosso in Turin 1884 einen Ergographen zur Messung der „Kraftverminderung“,570 der Ermüdung. Das Prinzip der selbstschreibenden Geräte, die in den 1860ern in vielen Bereichen der neuen, „exakten“ Physiologie entwickelt wurden, war zuvor bei der Messung der Leistung von Dampfmaschinen eingesetzt worden und stand für wissenschaftliche Objektivität.571 Der Ergograph (Abb. 19) ist ein Messgerät, das Unterarm und Hand der Testperson so auf einem Tisch fixiert, dass an einem einzelnen Finger eine über die Tischkante geleitete Schnur befestigt werden kann, an deren Ende ein variables Gewicht hängt. Die Schnur läuft durch eine mechanische Schreibvorrichtung, die mit dem Anwinkeln des Fingers eine Linie auf Papier erzeugt. Mit der wiederholten Bewegung entsteht 567 Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, 286. 568 Hermann von Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Entwicklungen der Physik, zitiert nach Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, 295 und 294 (21876). 569 Beatrix Mesmer: Fazit, in: Dies. (Hg.): Die Verwissenschaftlichung des Alltags, 239–244, hier 241. 570 Valentin: Grundriß der Physiologie des Menschen (1846), 278. 571 Zum „Myographion“ („Froschzeichenmaschine“) und dem wissenschaftshistorischen Kontext: Chadarevian: Die „Methode der Kurven“ in der Physiologie. Zum Begriff der wissenschaftlichen Objektivität: Lorraine Daston, Peter Galison: The image of objectivity, in: Representations 37 (1992), 67–106.

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Mossos Ergograph, 1892

eine Ermüdungskurve (Abb. 20). Mosso hatte bei Ludwig und Hugo Kronecker studiert, die beide über Muskelermüdung forschten.572 Auch bei vergleichbaren oder sogar denselben Testpersonen unter den gleichen Versuchsbedingungen erhielt Mosso sehr unterschiedliche Kurven, so dass er, bezugnehmend auf Fechners Psychophysik, zu dem Schluss kam, dass der vorangegangene Schlaf, die Lebensart, der Gemütszustand und geistige Ermüdung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen mussten. Auch fiel ein Auseinanderfallen der Wahrnehmung der Ermüdung und der zumeist früher einsetzenden, vom Ergographen belegten Ermüdung auf. Seine These lautete daher, dass die Ermüdung vor der Erschöpfung des Arbeitspotentials einsetze. Folglich könne eine wissenschaftliche Erforschung der Ermüdung zu einer bes572 Kronecker, Hugo, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 350. Kronecker war vor seiner Professorentätigkeit Schüler von Du Bois-Reymond und Assistent bei Ludwig. Für Ludwig war die Grundlage der Muskelermüdung die Annahme, der Körper könne „im Sinne der Mechanik Arbeit verrichten. In dieser Beziehung fällt die Betrachtung unseres Apparates mit derjenigen aller arbeitenden Maschinen zusammen.“ (Ludwig: Lehrbuch der Physiologie des Menschen, 342).

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Ermüdungskurve, Aufzeichnung mit Ergograph, 1892

seren, ökonomischeren und gesünderen Bestimmung und Ausnutzung des Arbeitspotenzials führen.573 Die psychischen und psychophysischen Faktoren, mit denen sich bereits Mosso auseinandersetzte, um trotzdem objektive Ermüdungskurven zu erhalten, wurden auch von Seiten der Arbeitswissenschaft in Deutschland intensiv beleuchtet.574 Seit 1895 wurde das von Mosso beobachtete Phänomen der zeitlichen Distanz zwischen der Ermüdung und ihrer Wahrnehmung von dem Psychiater Emil Kraepelin mit den Begriffen der „objektiven Ermüdung“ und der „subjektiven Müdigkeit“ differenziert.575 Detaillierte Versuchsreihen mit Ergo573 Angelo Mosso: Die Ermüdung (ital. Original 31891; frühere Auflagen nicht verfügbar), Leipzig: S. Hirzel 1892; Rabinbach: The Human Motor, 133–142; François Vatin: Arbeit und Ermüdung. Entstehen und Scheitern der Psychophysiologie der Arbeit, in: Sarasin, Tanner (Hgg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft, 347–368, hier 357. 574 Zur Geschichte der Arbeitswissenschaften in Europa: Rabinbach: Der menschliche Motor, 179–237. 575 Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, 288. Zum Autor: Bernhard Pauleikoff: Emil Kraepelin, in: Engelhardt, Hartmann (Hgg.): Klassiker der Medizin, Bd. 2, 299–322; Udo Benzendörfer: Kraepelin, Emil, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 343–344; Schott, Tölle:

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graphen, zunehmend auch mit Gedächtnisaufgaben, etwa Rechenaufgaben, wie sie Weichardts Schulkinder bearbeiten mussten, sollten alle beteiligten Größen bis hin zur Pausendauer, Übung und Motivation („Antrieb“, „Arbeitsfreude“) berücksichtigen. Die untersuchten Arbeitsabläufe blieben überwiegend die kurzen, repetitiven und mechanischen Aufgaben der ungelernten Industriearbeiter. Kraepelin, der später sozialdarwinistische Töne anschlug, bemühte sich um die Jahrhundertwende in sozial- beziehungsweise arbeitshygienischer Absicht, wissenschaftlich gegen die „Überbürdung“ zu argumentieren.576 Er appellierte an Unternehmer und öffentliche Institutionen, die wissenschaftlichen Ergebnisse der Arbeitshygiene (auch im ökonomischen Eigeninteresse) zu berücksichtigen, dass die „Grenze der zulässigen täglichen Erschöpfung dort liegt, wo nicht mehr der volle Ausgleich durch den Nachtschlaf erreicht wird“577. Diese Tendenz war auch begründet in einem allgemeinen Abflauen des vorangegangenen Industrialisierungsenthusiasmus. Die Gesellschaft der Jahrhundertwende schien von der Modernisierung „erschöpft“. Zudem hatte die Durchsetzung von Reformen zur Lösung der sozialen Frage begonnen, nicht zuletzt in Form der Sozialgesetzgebung. In der Forschungslandschaft machte sich gleichzeitig eine gewisse Ernüchterung breit, nachdem sich die Ermüdung, insbesondere die geistige Ermüdung, zum Beginn des 20. Jahrhunderts mit den naturwissenschaftlichen Messverfahren weiterhin nicht erfassen ließ. Erschwerend kam hinzu, dass die Physiologen gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur mit dem Prinzip der Energieerhaltung operierten, sondern auch das zweite thermodynamische Gesetz (1850) rezipierten, nach welchem nur ein Teil der Wärmeleistung in mechanische Arbeit umgesetzt wird, also nicht mehr von einem geschlossenen Kräftekreislauf ausgegangen wurde.578 Der Glaube an die Optimierbarkeit des menschlichen Kraftaufwandes geriet damit ins Wanken. Nachdem die Arbeitswissenschaft darüber hinaus seit einiger Zeit wegen mangelnder Praxisnähe in die Kritik geraten war, erweiterte sie sich um die Arbeitssoziologie, deren methodologische Grundlagen Max Weber geschaffen Geschichte der Psychiatrie, 116–123. Michelson wurde mit seinen Schlafexperimenten bei Kraepelin promoviert. 576 Emil Kraepelin: Zur Überbürdungsfrage, Jena: Gustav Fischer 1897. 577 Emil Kraepelin, W. H. R. Rivers: Über Ermüdung und Erholung, in: Emil Kraepelin (Hg.): Psychologische Arbeiten, Bd. 1, Leipzig: Wilhelm Engelmann 1986, 627–678, hier 677. 578 Rabinbach: The Human Motor, 3–4; Osietzki: Körpermaschinen und Dampfmaschinen, 337–341. Zur zeitgenössischen Debatte zwischen Wissenschaft und Gesellschaft über die Thermodynamik siehe auch: Elisabeth R. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850–1915 (Berliner Kulturwissenschaft 2), Freiburg im Breisgau: Rombach 2006.

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hatte. 579 Der 1872 von Weber mitbegründete, sozialreformerisch motivierte Verein für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik veröffentlichte um 1910 mehrere Studien zur „Auslese und Anpassung der industriellen Arbeiterschaft“, die statt einzelner Arbeitsabläufe und deren theoretischer Optimierung die tatsächlichen Tagesleistungskurven ganzer Betriebe beinhalteten. Ziel war es, unter Berücksichtigung sozialer, psychologischer und ökonomischer Interessen, zwischen den Rentabilitätsrechnungen der Unternehmer und den Interessen der Arbeiter, insbesondere der Unfallgefahr, einen Interessensausgleich auf wissenschaftlicher Grundlage zu ermöglichen.580 Die begleitenden Debatten drehten sich überwiegend um die Arbeitszeit, zunehmend auch um die Arbeitsintensität und letztlich um die Verhinderung der Übermüdung, resultierender Unfälle oder Erkrankungen. „Ermüdungsschädigungen“ waren in der Ermüdungsforschung zu verstehen als solche Schäden des Körpers und der „Nerven“, die durch die natürliche Erholung, also vor allem Pausen und Schlaf, nicht mehr auszugleichen waren. 1929 schlug der Wiener Physiologe Arnold Durig den Begriff des „hygienischen Arbeitstages“ vor als Vermittlung zwischen dem ökonomischen und dem kulturellen Arbeitstag: Der ökonomische Arbeitstag, [...] bei welchem die Fabrik am ökonomischsten arbeitet und aus der Maschine Mensch den größten Nutzen zieht, [...] steht im Gegensatz zum hygienischen Arbeitstag und dem kulturellen Arbeitstag. Der kulturelle Arbeitstag ist der von den Arbeitnehmern geforderte.581

Seine Ermüdungsdefinition war dabei keinesfalls so präzise wie es sich Mosso, Kraepelin und andere von der Forschung der Folgegeneration wohl erhofft hatten. Im Gegenteil schrieb Durig schlicht: Industrielle und gewerbliche Ermüdung werden gekennzeichnet durch das Sinken der Leistung und durch die subjektiven Angaben der Arbeiter über Müdewerden und Müdesein sowie durch Ermüdungsschädigungen.582

Die Ermüdungs- und Arbeitsforschung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik bemühte sich, das richtige, „hygienische“ Verhältnis von Arbeit und Erholung zu bestimmen. Wie im Mäßigkeitsdiskurs der Aufklärung erwies sich aber auch hier die Festlegung der Grenzen, also der Belastbarkeit und des 579 Max Weber: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. Schriften und Reden 1908–1912, hg. von Wolfgang Schluchter, Sabine Frommer (Studienausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe Bd. I, 11), Tübingen: Mohr Siebeck 1998. 580 Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, 310–312; Rabinbach: The Human Motor, 195–202. 581 Arnold Durig: Die Ermüdung im praktischen Betrieb, in: Edgar Atzler (Hg.): Körper und Arbeit. Handbuch der Arbeitsphysiologie, Leipzig: Georg Thieme 1927, 488–651, hier 489. 582 Durig: Die Ermüdung im praktischen Betrieb, 488.

Resümee

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menschlichen Erholungsbedürfnisses, als unmöglich. Durig konstatierte 1929, das grundlegende Problem sei weiterhin, die „Unmöglichkeit, die Ermüdung quantitativ zu messen“583. Somit war das Projekt, für die Ermüdung als „natürliche Grenze zwischen den Forderungen der Zivilisation und den Ressourcen des Körpers“ einen „objektiven und normativen Maßstab“ zu finden, gescheitert.584 Die Grenze zwischen Schlafen und Wachen ließ sich im fortschrittsoptimistischen langen 19. Jahrhundert nicht von Menschen- respektive Wissenschaftlerhand verschieben. Die Ermüdung war weiterhin ein „Zeichen für die Weigerung des Körpers, sich den Disziplinen der modernen Industriegesellschaft zu beugen“.585 Die Ermüdung und die natürliche Notwendigkeit des Schlafes blieben zum einen ein Hindernis in der Optimierung der Arbeitsleistung der Maschine Mensch. Zum anderen blieb der Mensch eingespannt zwischen dem Joch des Schlafs und dem ökonomischen Zwang der Arbeitsleistung. Trotz der Ansammlung von Daten und Statistiken über die Ermüdung konnte die Definition der subjektiven Ermüdung in fast 150 Jahren nicht wesentlich weiterentwickelt werden. So findet sich bei Durigs Publikation von 1916 Davidsons eingangs zitierte Erklärung der Ermüdung durch die Nervenreize von 1796 in kaum veränderter Form wieder: Das [...] Müdigkeitsgefühl ist wohl nur der Ausdruck eines subjektiv empfundenen Mißverhältnisses zwischen der Größe des [...] Innervationsimpulses und dem aus der Innervation entspringenden Erfolg. Hemmungen in der Auslösung einer zentralen Erregung vermögen daher sehr leicht zu Ermüdungsgefühl und scheinbarem Unvermögen, aus Müdigkeit etwas nicht mehr leisten zu können, zu führen. Aber auch die größere Schwierigkeit einer Ausbreitung eines zentral gesetzten Impulses auf andere Hirnpartien in der Richtung eines Eingehens gewollter Verbindungen und Assoziationen mag den Eindruck zentraler Ermüdung hervorrufen.586

2.3. Resümee: Ein neues Schlafverständnis der industrialisierten Gesellschaft?

Der Mensch des Zeitalters der Industrialisierung wurde nur bedingt „Herr der Natur“ und „bemächtigt[e] sich ihrer“ nicht, wie erhofft, umfassend.587 Gerade 583 584 585 586

Durig: Die Ermüdung im praktischen Betrieb, 509. Vgl. Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, 286. Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, 287. Arnold Durig: Die Ermüdung (Schriften des III. Internationalen Kongresses für Gewerbekrankheiten 1), Wien: Alfred Hölder 1916, 37. Zum Autor: Durig, Arnold, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 139. 587 Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866, 178.

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der menschliche Körper erwies sich nämlich durchaus nicht als unbegrenzt rationalisierbar, nicht als perfektibel in einem neuen, technisch-ökonomischen Sinn.588 Nicht zuletzt die Unvermeidbarkeit der Ermüdung, die unveränderliche natürliche Periodizität oder Zyklizität des Schlafs, sperrte sich gegen das –  lineare – Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts. In den 1880er Jahren wurde daher erneut konstatiert, es sei „ein bisher ungelöstes Problem, welche Ursache in letzter Linie den Schlaf verursacht. Aber das wissen wir bestimmt, daß der Schlaf dem Menschen so nothwendig ist, wie die Ernährung.“589 Besonders deutlich wurde dies an der Verbindung des Schlafdiskurses mit der sozialen Frage. Gerade bei der neuen Schicht der Industriearbeiter, die statt der bürgerlichen Gelehrten – als Objekte – in das Zentrum des Diskurses rückten, zeigte sich das Problem der „Überbürdung“ durch die doppelte Bürde der bezahlten Arbeit und der unbezahlten, aber unabdingbaren Ruhezeit. Die Schlafzeit und Schlafumstände breiter Schichten widersprachen oft nicht nur den Vorstellungen der Unternehmer, sondern auch von Grund auf den moralisch-hygienischen Anforderungen der Hygieniker. Mit der wissenschaftlichen Entwicklung und den gesellschaftlichen Umbrüchen veränderte sich daher der im Schlafdiskurs dominante Hygienebegriff von einer privaten Lebensführungslehre hin zur Sozialpolitik. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ließen die Anstrengungen nach, den Schlaf als Naturphänomen umfassend zu begreifen, also eine gleichermaßen medizinische wie philosophische Definition – wenn auch nur ex negativo – zu erreichen. Das Lebenskraftparadigma verlor den Wortbestandteil „Leben“, so dass der Schlaf nicht mehr im Kontext des Lebensbegriffs verhandelt wurde, sondern in Hinblick auf die physische Leistung: Die Körperkraft wurde mit der Maschinenkraft weitgehend gleichgesetzt, so dass die Naturgesetze der Physik und Chemie auf den Menschen anwendbar wurden – wie es zunächst schien. Im Zeichen des wissenschaftlichen Positivismus wurde der schlafende oder ermüdende Mensch physikalisch-physiologischen Experimenten unterzogen; man arbeitete an der Vermessung und Darstellung des Messbaren. Hinter der Materialisierung des Schlafs durch die chemische Schlafstoffforschung, die den Schlaf im Stoffwechselprozess lokalisierte und als Vergiftungserscheinung prinzipiell für vermeidbar hielt, und hinter dem physiologischen Ausloten der Schwelle zwischen Schlaf und Wachen (als Weckschwelle, Belastbarkeitsschwelle) stand der verstärkte Glaube an die Möglichkeit, sich mit Hilfe des

588 Vgl. Tanner: Wie machen Menschen Erfahrungen, 19. 589 Hans van Wyß: Populäre Vorträge über Gesundheitspflege insbesondere für Frauen, Leipzig: F. C. W. Vogel 1887, 146.

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wissenschaftlichen Fortschritts immer besser gegen das Joch des Schlafs wehren zu können. War der Schlaf als Phänomen zuvor überwiegend der Untersuchungsgegenstand, rückte mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Ermüdung mit ihren ökonomischen, sozialen und gesundheitlichen Implikationen in den Mittelpunkt des Interesses derer, die den Schlafdiskurs, der sich in diesem Bereich in einen Ermüdungsdiskurs wandelte, bestimmten. Die Deutungsmacht über Müdigkeit und Schlaf übernahmen zunächst Physiologen, spätestens seit den 1890er Jahren zunehmend Psychiater und „Nervenärzte“, während die Philosophie, mehr noch als die traditionelle Hygiene, ihren Stand im medizinischen Schlafdiskurs verlor.590 Dies bedeutete eine weitreichende Abgabe der Selbstverantwortung für den Schlaf, von der das Körper- und Menschenideal der Aufklärung stark geprägt gewesen war, an Experten, also an medizinische Spezialisten und deren Forschungseinrichtungen, und an staatliche Institutionen: Institute, Labors, Kliniken und Irrenhäuser. Mit der Ernüchterung in der Wissenschaft, die die Fehlschläge in der Ermüdungsforschung hervorriefen, schien es spätestens seit etwa 1890 unvermeidlich, den Blick wieder verstärkt auf die menschliche Psyche zu richten, wollte man den Kampf gegen das Joch des Schlafs nicht verloren geben. Der Schlafdiskurs wurde daher nicht zufällig von einer (populär-) wissenschaftlichen beziehungsweise gesellschaftlichen Strömung der Zeit erfasst: der Debatte um die Neurasthenie, die Nervenschwäche. Nachdem der Schlaf von der Mitte des 19. Jahrhunderts an als ökonomisches Hindernis und im Kontext der sozialen Frage problematisiert worden war, privatisierte sich der Blick auf das Thema zum Ende des 19. Jahrhunderts wieder deutlich. Im Zeichen einer Modernekritik, die gegen die laute, schnelle Lebenswelt und – weniger explizit – gegen das technisierte Körperbild des industrialisierten Deutschland opponierte, blühte die Schlafhygiene als bürgerliche Schlaflosigkeitshygiene erneut auf.

590 „Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird versucht, systematisch Lebenserscheinungen mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erforschen, während der Schlaf als Begriff der philosophischen Diskussion in den Hintergrund tritt bzw. partiell durch das Thema des Traums ersetzt wird.“ (H. Homann: Schlaf, in: Ritter, Gründer [Hgg.]: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 [1992], 1296–1299.

3. Das Joch der Schlaflosigkeit im nervösen Zeitalter Zedlers Universallexikon führte 1742 Schlaflosigkeit als „Zufall, welcher die Pferde befällt und ermattet“ an, dazu „Schlaflosigkeit in der Pest“ und „Schlaflosigkeit der Kinder“;591 für allgemeine Schlafprobleme im Sinne von Ein- und Durchschlafstörungen, auch als Insomnie bezeichnet, findet sich im Lexikon ein Verweis auf den griechischen Begriff „Agrypnia“, unter dem Schlaflosigkeit als „übriges und allzuvieles Wachen“ thematisiert wird: Es ist ein sehr beschwerlicher Affect, und wenn er lange währet, findet sich Raserey dabey. Man kann ihn entweder als einen Zufall anderer Krankheiten, als Fieber, Schmerz, Husten, Hauptweh etc. oder als eine besondere Krankheit und für sich betrachten. Die Ursache ist eine Unruhe, heftige Bewegung oder Entzündung der Lebens-Geister, welche von Gram, Schmerz, Einsamkeit etc. herstammet. Zur Cur werden Sedativa erfordert, als Opiata [...]. Man hat aber allemal auf die Ursachen zu sehen, welche die Ruhe der Geister verhindern; denn wenn diese gehoben, so findet sich der Schlaf von sich selbsten, dahero siehet man, daß zuweilen auch mancherley alterirende Mittel, Alterantia [„reinigende Mittel“, darunter Branntwein oder Mineralwasser]592, den Schlaf bringen. Ein Trunck Wein, oder ein guter Rausch wird recommendiret, wenn der Schlaf von Sorge, Mühe und Gram gebricht.593

Im Zeitalter der Aufklärung war „Schlaflosigkeit“ noch kein gesellschaftliches Schlagwort. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlangte die Schlaflosigkeit, nicht nur innerhalb des Schlafdiskurses, sondern auch in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten der Zeit, einen neuen Stellenwert: Nach der fortschrittseuphorischen Jahrhundertmitte und der Aufbruchsstimmung der Gründerzeit erfasste die bürgerliche Gesellschaft am Fin de siècle eine „Katerstimmung“594, ein kulturpessimistisches „Gefühl der Lebensschwäche und der Angst vor dem Kulturverfall“595. Die Schlaflosigkeit galt nun als eines der Symptome, teils sogar als potentieller Mitverursacher der für den modernen Menschen typischen Nervenleiden.

591 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Artikel „Schlaflosigkeit“, Bd. 34 (1742); ebenda 1717, 1718–21 und 1717–18. 592 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Artikel „Alterans, Alterantia, AlterirMittel“, Bd. 1 (1732), 1558. 593 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Artikel „Agrypnia“, Bd. 1 (1732), 837. 594 Messerli: Zeitnutzung, 229. 595 Schott, Tölle: Geschichte der Psychiatrie, 104. Zum Begriff des Fin de siècle ausführlicher: Jens Malte Fischer: Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche, München: Winkler 1978.

Das Joch der Schlaflosigkeit im nervösen Zeitalter

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Die rund 35 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg sind in der Forschung wiederholt als „nervöses Zeitalter“ bezeichnet worden.596 Tatsächlich traten in dieser Zeit individuelle Diagnosen und gesellschaftliche Deutungsmuster aus dem Bereich der nervösen Leiden gehäuft auf, so dass die Nervosität geradezu als Lebensgefühl der damaligen bürgerlichen Gesellschaft erscheint. Dies lässt sich auch am Schlafdiskurs deutlich zeigen: Die zeitgenössische Erfindung der Zivilisationskrankheit „nervöse Schlaflosigkeit“ sowie die allgemein übliche Verknüpfung des Schlafthemas mit dem aktuellen Nervositätsdiskurs bestätigen diese Beobachtung. Vor diesem Hintergrund liegt die Verwendung des Begriffs „nervöses Zeitalter“ für diesen Abschnitt der Problemgeschichte des Schlafs nahe. Dabei ist einschränkend zu berücksichtigen, dass die Konjunktur des Nervenparadigmas um die Jahrhundertwende, gerade was das Heranziehen medizinischer Deutungsmuster für Gesellschaftsdiagnosen betrifft, nicht unbedingt dafür geeignet ist, Erklärungen zur politischen Geschichte des Kaiserreichs beizutragen; es bestünde die Gefahr einer monokausalen Argumentation.597 Zudem ist die Gefahr eines „direkten Rückschluss[es] im Sinne einer retrospektiven Epidemiologie“ 598 gegeben: Wenn die unspezifische Nervenkrankheit Neurasthenie allenthalben diagnostiziert und – ohne oder gegen eine ärztliche Meinung – selbstdiagnostiziert wurde, heißt das noch nicht, dass ein großer Teil der Bevölkerung nervenkrank war. Wenn Schlaflosigkeit in aller Munde war, heißt das noch nicht, dass sie tatsächlich gehäuft auftrat. Zunächst steht daher die Feststellung und Analyse der Konjunktur des Nervenparadigmas in der wissenschaftlichen Thematisierung des Schlafs und als „Ausdruck einer historisch spezifischen bürgerlichen Selbst- und Weltdeutung“599 an. Im nächsten Schritt geht es um die Geschichte des Umgangs mit der Schlaflosigkeit in den Jahrzehnten um 1900. Im nervösen Zeitalter also stellte sich die Schlaflosigkeit als Begleiterscheinung des nervenaufreibenden „Kampfes ums Dasein“ dar, zu dessen Bewäl596 Der Begriff des nervösen Zeitalters wurde, wie bereits erwähnt, geprägt von Joachim Radkau: Ders.: Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter und Ders.: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien: Hanser 1998. 597 Radkau stellt die politische Vorkriegsgeschichte und die Nervosität in einen direkten Zusammenhang, wodurch der Weltkrieg teilweise als eine Art kollektive Spannungsentladung, als „Überwindung der Nervosität“ erklärt wird. Roelcke (Ders.: Krankheit und Kulturkritik) geht zwar auch auf die Befindlichkeiten des Bürgertums ein, greift aber von der Wissenschaftsgeschichte (mit kulturanthropologischem Interesse) weniger weit auf die Sozial- oder Politikgeschichte aus. 598 Roelcke kritisiert Radkaus „direkten Rückschluß im Sinne einer retrospektiven Epidemiologie“ (Roelcke: Krankheit und Kultururkritik, 26). Auf die Frage, ob die Schlaflosigkeit tatsächlich gehäuft auftrat, soll unter 3.5. eingegangen werden. 599 Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, 26.

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Das Joch der Schlaflosigkeit im nervösen Zeitalter

tigung die „geistigen Spannkräfte“ den Schlaf dringend benötigten, während aber der „moderne Kulturmensch“600 mehr denn je, wie es schien, unter dem Joch der Schlaflosigkeit litt. Die Ursachen lagen, so der zeitgenössische Tenor, insbesondere im lauten, schmutzigen, hektischen Stadtleben und einer daraus resultierenden Schwächung des Nervensystems. In vielen Fällen liegt die Ursache der Schlaflosigkeit weniger in einem bestimmten krankhaften Zustande, als vielmehr auf geistigem Gebiete. Die großartigen Fortschritte unseres modernen Lebens, die Erhaltung und Ausbildung des einmal Errungenen stellen gewaltige Anforderungen an die geistigen Spannkräfte. [...] Daß die Nervenkraft wie jede andere Kraft nicht unerschöpflich ist und der Ergänzung bedarf, das wird bei dem rast- und ruhelosen Kampf ums Dasein, bei dem Wettstreit, der fieberhaften Jagd nach dem Glück leider zu häufig außer Acht gelassen.601

Im 19. Jahrhundert verschob sich also der Blickwinkel von der Betrachtung innerer Ursachen für Schlafprobleme hin zu den Umwelteinflüssen beziehungsweise von den Affekten, Lebensgeistern und diätetischen Hilfsmitteln, die im 18. Jahrhundert im Vordergrund gestanden hatten, auf das moderne Leben in einer industrialisierten Umwelt. Die Schlaflosigkeit war im Schlafdiskurs insgesamt keineswegs ein neues Thema, denn letzten Endes waren Schlafprobleme ja die Berechtigung – und eröffneten den Markt – für Schlafdiätetikliteratur und Publikationen aus der naturwissenschaftlichen Forschung. Generell gehörte sie zu den wichtigsten (persönlichen) Impulsen zur Thematisierung des Schlafs. Die Schlaftheorien, die sich um Zweck und Ursache des Schlafes drehten, problematisierten immer auch die Schlaflosigkeit – als Dyskrasie, als Unstimmigkeit der Säfte, als ein Zuviel oder Zuwenig an Reizen oder, in den physikalisch oder chemisch argumentierenden Theorien, insbesondere als Mangel an Schlafstoffen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts gehörte die Schlaflosigkeit zu den breit diskutierten psychosomatischen Symptomen einer Gesellschaftsschicht, die ihre Positionierungsschwierigkeiten in der Moderne ostentativ vor sich hertrug. Die Moderne in Gestalt der pharmazeutischen Industrie stellte sogleich Erleichterung für die Schlaflosen in Aussicht. Da diese Abhilfe unzulänglich blieb – die frühen Schlafmittel waren hauptsächlich wenig verträgliche Narkotika und Beruhigungsmittel – , spielte die Schlafdiätetik, die den „natürlichen“ gegenüber dem 600 Der „Culturmensch als das entschiedene Gegenteil zum Naturmenschen“ mit seiner „künstlichen Lebensform“ wurde u.a. beschrieben und beklagt von Klencke: Die physische Lebenskunst (1864), 36. Die Gegenüberstellung von Kultur- und Naturmensch geht auf Rousseau zurück (Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, 15). 601 Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), 11.

Kulturkritik im Schlafdiskurs seit der Aufklärung

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„künstlichen“ Schlaf versprach, weiterhin eine große Rolle. Die zeitgenössische Aufmerksamkeit für Schlafprobleme bedeutete dabei nicht nur für die Schlafmittelindustrie, sondern gerade auch für Anbieter naturheilkundlicher Verfahren, die, gerne in Kurkliniken, traditionelle Diätetik und moderne Technik verbanden, und für Ratgeberautoren gute Absatzmöglichkeiten. Schlaflosigkeit war damit zum Wirtschaftsfaktor geworden. Um 1900 kam eine Fülle von Ratgebern gegen die „nervöse Schlaflosigkeit“ auf den Markt, während zuvor nur vereinzelte Publikationen zum Thema im Umlauf waren. Die ersten Texte, die die Schlaflosigkeit im Titel führten, waren „Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit. Wie kann man diesen Übeln vorbeugen und abhelfen? Nebst Betrachtungen über den Schlaf überhaupt. Eine Schrift für alle Diejenigen, welche an Schlaflosigkeit leiden“ (1824), „Von der Schlaflosigkeit und deren Ursachen und Heilart. Zur Belehrung für Leidende aus gebildeten Ständen“ (1831), „Ueber Schlaf und Schlaflosigkeit für Aertze und Nicht=Aerzte“ (1834), „Ueber Schlaf und Traum und die Schlaflosigkeit mit ihren Ursachen, Folgen und Heilmitteln“ (1844).602 Die Autoren dieser Traktate aus der ersten Jahrhunderthälfte waren mehr oder weniger in der medizinischen Wissenschaft bewanderte Ärzte, die allgemeine Betrachtungen und aktuelle Theorien über den Schlaf mit Diätetikwissen und der eigenen Praxiserfahrung verbanden. Zur Jahrhundertwende schrieben dagegen vor allem Nervenärzte Schlafratgeber mit zumeist populärwissenschaftlichem Charakter. 3.1. Kulturkritik im Schlafdiskurs seit der Aufklärung

Die Schlaflosigkeit als Überbegriff für Probleme mit der Qualität und Quantität des Schlafs, die das Wohlbefinden und die Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigten, war und blieb von der Aufklärung bis in das 20. Jahrhundert eng verbunden mit der Kulturkritik auf der gesellschaftlichen Ebene und dem Reiz- und Nervenparadigma auf der (populär-) wissenschaftlichen Ebene. 602 Friedrich Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit. Wie kann man diesen Übeln vorbeugen und abhelfen? Nebst Betrachtungen über den Schlaf überhaupt. Eine Schrift für alle Diejenigen, welche an Schlaflosigkeit leiden, Quedlinburg/Leipzig: Gottfried Basse 1824; Anton Friedrich Fischer: Von der Schlaflosigkeit und deren Ursachen und Heilart. Zur Belehrung für Leidende aus gebildeten Ständen, Nürnberg: Campe 1831; Moritz Hermann Strahl: Ueber Schlaf und Schlaflosigkeit für Aertze und Nicht=Aerzte, Berlin: Hayn 1834; Johann Christoph Fleck: Ueber Schlaf und Traum und die Schlaflosigkeit mit ihren Ursachen, Folgen und Heilmitteln, Weimar: B. F. Voigt 1844.

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Diese Kritik an der modernen Zivilisation, die als Beschuldigung der jeweils zeitgenössischen Lebensumstände zumeist sehr pauschal formuliert wurde, bestand überwiegend in Gesellschaftskritik und wurde zunehmend ergänzt durch Großstadtkritik. Hintergrund für diese Verknüpfung von Schlafproblemen und moderner Gesellschaft war einerseits die wissenschaftliche Bedeutung der non naturales, also der Umweltfaktoren, und ihres Einflusses auf die Nerven. Andererseits formulierten die Diätetiker moralische Appelle gegen die vorsätzliche, also unmäßige Schlaflosigkeit, beispielsweise gegen das ungesunde nächtliche Studieren. Innerhalb des Diätetikdiskurses wurde schon in Texten wie dem „Neuen Sittlichen Hippokrates“ von 1703 Kritik geübt an der gegenwärtigen Gesellschaft wegen ihrer Missachtung der richtigen Schlafenszeit: Es geschehe [...] all zu lang und zu vieles abwache aus nächtlichem debauchiren / panquetiren / schwärmen/Ballet-und Spiel beywohnen / aus dem Spatzmausen und Löfflerey nachgehen / aus Betrübnuß / Melancholisiren / oder aus unmäßigem lesen / und schreiben / oder aus anderen Beschäfftigungen &c. Alles hat seine Zeit / also auch der Leib seine nächtliche Ruhe und Schlaff haben will / wann Er gesund bleiben solle.603

Das nächtliche Lesen und Schreiben, also der Gelehrtentopos, Symbol für die Bürgerlichkeit des Diätetikdiskurses des 18. Jahrhunderts, fand im Schlafdiskurs seine Erweiterung zu einer relativ offenen Hof- und Adelskritik, die anders als der Gelehrtentopos keinerlei positive Konnotationen beinhaltete, aber gleichermaßen der sozialen Distinktion diente.604 Deutlicher wird diese Absicht noch bei Campe, der die Nacht als die natürliche Zeit zum Schlafen empfahl und seine Leser mit dem schlechten Beispiel der „Nachtschwärmer“ konfrontierte, deren Lebensweise er als indiskutabel verurteilte: Es giebt zwar manche, die ihre Nächte lieber am Spieltische, in Saufgelagen, auf Maskeraden und Bällen durchschwärmen, und dagegen bis an den hellen Mittag sich im Bette wälzen; aber die unnatürliche Lebensart solcher Geschöpfe kommt hier nicht in Betracht.605

603 Hack: Neuer Sittlicher Hippokrates (1703), 97. 604 Emich stellt eine Verbindung zwischen Schlafenszeit und Adelskritik bereits für das 17.  Jahrhundert fest: Birgit Emich: Zwischen Disziplinierung und Distinktion. Der Schlaf in der Frühen Neuzeit, in: WerkstattGeschichte 34 (2003), 53–75, hier 71–73. Zum Gelehrtentopos siehe Kapitel 1.4. 605 Hildebrandt, Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf (1788), 161. Bei Nudow findet sich diese Passage fast wörtlich wieder: Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs (1791), 235.

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In der Romantik mit ihrer antimodernistischen Grundeinstellung wurde die von Aufklärungspädagogen wie Campe oder Physiologen wie Burdach formulierte Naturgesetzlichkeit des Schlafes weiterhin als Maßstab eingefordert und dabei die Sozialkritik im Kontext der Schlaflosigkeit stärker stadtkritisch oder agrarromantisch eingefärbt. So schrieb Lebenheim in den 1820er Jahren: Es ist wohl gewiß, daß die Schwächlichkeit und die Geneigtheit zu so vielerlei Krankheiten, welche die luxuriösen Bewohner der großen Städte für ihre so vielfachen Diätfehler strafen, zum großen Theile aus der ordnungswidrigen, verkehrten Weise entspringen, die sie in der Zeit des Schlafens und Wachens beobachten.606

Bekanntermaßen seien die „Landleute und noch mehr die rohen unkultivirten Völker“ besonders gesund, was nicht zuletzt an ihrem „höheren Einklang mit der Natur“, auch in Bezug auf den Schlaf, liege. Die Siesta der Mittelmeeranrainer, da galt es denn doch zu differenzieren, wird mitunter als evolutionärer „Rückschritt“ beschrieben, als „Hinuntersteigen“ „zu dem Thiere, dessen Wille so sehr eingeschränkt ist“.607 Zur Jahrhundertmitte schlugen sich auch neue Kennzeichen des städtischen Lebens wie, der Einfluss der künstlichen Beleuchtung, im Schlafdiskurs nieder. So schrieb Fischer 1831: Wohl aber gibt es, besonders unter den sogenannten vornehmen Ständen gar Viele, die um Mitternacht zu Abend speisen, und mit Tagesanbruch zu Bette gehen; allein bei weitem die Mehrzahl dieser Individuen hat keinen großen Aufwand an Kraft, macht selten Gebrauch von den Geisteskräften und noch seltener von denen des Körpers; und dennoch verrät sich das Naturwidrige ihrer Lebensweise selbst dadurch, daß sie, um die verkehrte Lebensweise fortzusetzen, steter Reizmittel bedürfen, Musik, Spiel, Tanz, starke Beleuchtung und gesellschaftlicher Umgang, der fleißige Gebrauch der Tabaksdose, sie sind es die den fehlenden natürlichen Einladungen zur Ruhe Widerstand leisten müssen.608

Den Übergang zum bürgerlichen Schlaflosigkeitsbegriff des nervösen Zeitalters vor dem Ersten Weltkrieg markierten bereits die ersten – medizinhistorisch betrachtet noch romantischen – Schlaflosigkeitsratgeber. Da hieß es etwa 1824:

606 Lebenheim: Versuch einer Physiologie des Schlafes, Bd. 2 (1827), 130. 607 Lebenheim: Versuch einer Physiologie des Schlafes, Bd. 2 (1827), 131 und 132. Die Siesta wurde von anderen Autoren oft mit den klimatischen Bedingungen entschuldigt, wenn auch überwiegend nicht gutgeheißen. 608 Fischer: Von der Schlaflosigkeit und deren Ursachen und Heilart (1831), 31. Zur Beleuchtung als teilweiser Grund für die moderne, „künstliche Lebensform“ vgl. Klencke: Die physische Lebenskunst (1864), 36–37.

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Von den mancherlei Schwächen und Kränklichkeiten, die unser gesteigerter Kulturzustand in seinem Gefolge mit sich führt, ist die Schlaflosigkeit, der Mangel eines festen und erquickenden Schlafs, gewiß eine der häufigsten und beachtenswertesten.609

Der Arzt und Philosoph Fleck machte 1844 das moderne Stadtleben schließlich explizit für eine erhöhte Belastung der Nerven verantwortlich: Wer wird sich [...] wundern, wenn, wie in unserer verkehrten Zeit jetzt immermehr, besonders in grossen Städten, einreisst, die Nächte zum Tage gemacht und Schwärmereien, Schwelgereien u.s.w., bis an den Morgen andauernd, die Kraft der Nerven zerstören, und dann die Klagen über Schlaflosigkeit immer häufiger werden?610

Damit war der Topos der Adelskritik im Schlafdiskurs abgelöst von der Stadtkritik, wohingegen noch wenige Jahre zuvor den „Hütten des Landmannes“ die „Palläste des Adels“ gegenübergestellt worden waren:611 Durch den Schlaf und die Ruhe wird der Körper erquickt und gestärkt; beide wirken am besten und am wohlthätigsten, wenn es Nacht ist und der Mensch bei Tage seinen Körper gehörig bewegt hat. Daher fliehet der Schlaf die Palläste der Großen und verweilt dagegen mit seinen sanften Erquickungen in den Hütten des Landmanns.612

Das moderne, urbane Leben wurde von den Diätetikern überwiegend kritisch betrachtet, dabei aber auch in die Argumentationen integriert. So erfuhr etwa der Mühlentopos, das inzwischen nostalgische sprachliche Bild von der beruhigenden Monotonie der vormodernen Mühle, verschiedene Erweiterungen, vor allem um die einschläfernde Wirkung der Bahnfahrt: „Der Großstädter schläft ruhig bei dem gewohnten Wagengerassel, während andere weniger starke Geräusche ihn oft wecken.“613

609 Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit (1824), III. 610 Fleck: Ueber Schlaf und Traum (1844), 101–102 (im Kapitel „Ursachen der Schlaflosigkeit, die dem reproductiven Systeme entkeimen“). 611 Rabinbach betont dagegen, der Ermüdungsdiskurs habe den über die Faulheit abgelöst (Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, 297). Die Faulheit stand im eigentlichen Schlafdiskurs allerdings weniger im Mittelpunkt als die Mäßigkeit, vgl. das Kapitel zur aufklärerischen Schlafhygiene. Gesellschaftliche Distinktion wurde im Schlafdiskurs daher vielmehr in enger Verbindung mit der Modernekritik formuliert. 612 Georg Friedrich Most: Gesundheit und Krankheit. Ein diätetisch-medicinisches Handbuch für alle Stände, Hannover: Hahn 21827, 127. 613 Fick: Über den Schlaf (1897), 46; vgl. Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), Einleitung; der Topos findet sich auch bei Klencke: Die physische Lebenskunst (1864), 43 und Siemerling: Schlaf und Schlaflosigkeit (1923), 26; Frensberg: Schlaf und Traum (Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, hg. von Rud. Virchow und Fr. v. Holtzendorff XX), Berlin: Carl Habel 1885, 17 (Frensberg war Irrenarzt); Dornblüth thematisiert außerdem den Schlaf

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Die Modernekritik war schon vor der Industrialisierung Bestandteil der traditionellen, tendenziell wertekonservativen Hygieneliteratur. Vor allem naturverbundene und kulturkritische Strömungen der Aufklärung, im Gefolge Rousseaus, und der romantische Antimodernismus bereiteten im Schlafdiskurs den Boden für die Großstadtkritik, die ab etwa 1850 in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu bemerken war. Die Kritik am Stadtleben erhielt mit den 1840er Jahren eine neue Bedeutung, denn Industrialisierung und Urbanisierung veränderten sowohl das Bild der rasch anwachsenden Städte als auch die dortigen Lebensbedingungen. Wenngleich die Städte weiterhin, wie prinzipiell bereits in der Aufklärung, als Zentren des Fortschritts galten, bestärkte insbesondere die Pauperismuskrise ihre Kritiker. Tatsächlich erfuhren alle Schichten der Stadtbevölkerung in neuem Umfang täglich Schmutz, Lärm und Hektik, und alle drei Phänomene wurden problematisiert.614 Aus medizinischer Sicht galt die Stadt spätestens seit dem 17. Jahrhundert als ungesund. Hufeland bezeichnete dann in seiner „Makrobiotik“ die Städte sogar als „offene Gräber der Menschheit“;615 die Sterblichkeit war hier höher, und die Sanitär- und Wohnverhältnisse blieben lange ein Dorn im Auge der Sozialreformer und -hygieniker.616 Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts bedeutete vor diesem Hintergrund „Hygiene“ vorübergehend weniger private, bürgerliche Hygiene, sondern vor allem öffentliche Hygiene. Als aber um 1890 die Bemühungen um die Besserung der Lebensverhältnisse in den Städten allmählich fruchteten, fiel das Bürgertum wieder auf sich selbst zurück, so dass der Schlafdiskurs nicht mehr vorrangig die Bürden der Industriearbeiter thematisierte – das überließ man mehr und mehr in der Fabrik (Otto Dornblüth: Hygiene der geistigen Arbeit, Berlin: Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt 21907 [11890], 104). Zum Mühlentopos: Kapitel 1.4. 614 Schmutz und Lärm waren zunächst vor allem Themen der Hygieniker, das Lebenstempo und seine Folgen zunehmend auch Themen der Neurologen. Zur historischen Lärmforschung siehe: Siegfried Krömer: Lärm als medizinisches Problem im 19. Jahrhundert, Diss. Mainz 1981 und zur Wahrnehmungsgeschichte Peter Payer: Vom Geräusch zum Lärm. Zur Geschichte des Hörens im 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie Robert Jütte: Kranke und gefährdete Sinne im 19. Jahrhundert, in: Wolfram Aichinger, Franz X. Eder, Claudia Leitner (Hgg.): Sinn und Erfahrung in der Geschichte (Querschnitte. Einführungen zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 13), Innsbruck u.a.: StudiumVerlag 2003, 173–191 und 193–211. 615 Zitiert nach Bleker: Die Stadt als Krankheitsfaktor, hier 119 (Hufeland: Ausgabe Jena 2 1798, 30). 616 Bleker: Die Stadt als Krankheitsfaktor; Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft (Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft 20), Meisenheim am Glan: Anton Hain 1970; Thorsten Sadowsky: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Kritik und Apologie der großen Stadt, in: Anne Conrad (Hg.): Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert, Hamburg: Lit 1998, 103–120.

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den Arbeitsphysiologen und Soziologen. Vielmehr ging mit einer ausführlichen bürgerlichen Introspektion die Selbstdiagnose der Nervenschwäche einher. Damit war Schlaflosigkeit, wenn sie von Umweltstörungen verursacht war, nicht mehr nur ein aus Diätfehlern entstehendes gesundheitliches Problem, das sich mit der Änderung des Schlafumfeldes und der Umstellung von Gewohnheiten für gewöhnlich beheben ließ. Sie wurde auch ein Problem derer, die kultiviert genug waren, es sich also leisten konnten, unter der Moderne zu leiden. 3.2. Die nervöse Schlaflosigkeit. Kulturkritik im nervösen Zeitalter

Die Neurasthenie, vor 1880 noch ein unbekannter Begriff, war von den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg eine regelrechte Modekrankheit. Die Forschung hat sie als „Leitkrankheit eines durch die Geschwindigkeit der modernen Technologisierung und Industrialisierung erschöpften Bürgertums“ bezeichnet.617 Man verstand unter „Neurasthenie“ eine „functionelle, d.h. in ihren anatomischen Bedingungen mit den Hilfsmitteln der heutigen Forschung nicht erfassbare Nervenkrankheit“, eine „über sehr grosse Gebiete des Nervensystems verbreitete Neurose, von vorwiegend centraler (cerebraler) Localisation, mit prädominirenden psychischen Symptomen (Neuropsychose).“ Als Auslöser galt ein Faktorenkomplex um den „Kampf ums Dasein“, wie er dem modernen Menschen abverlangt wurde: In den politischen und socialen, speciell den mercantilen, industrialen, agrarischen Verhältnissen der Culturnationen haben sich eben im Laufe der letzten Jahrzehnte Aenderungen vollzogen, die bürgerliche Stellung, Beruf, Besitz, gewaltig umgeändert haben, und zwar auf Kosten des Nervensystems, das gesteigerten socialen und wirthschaftlichen Anforderungen durch vermehrte Verausgabung an Spannkraft bei vielfach ungenügender Erholung gerecht werden muss.618

Die „Störung des Schlafes“ war im nervösen Zeitalter „eines der hartnäckigsten“ der Neurastheniesymptome; dazu kamen Unruhe, Erschöpfung, Probleme des Magen-Darm-Traktes, Migräne, Impotenz und vieles mehr.619 Ausreichenden Schlaf dagegen, ein „mittleres Maß von Ruhe und Thätigkeit“, zählte Richard 617 Hier: Michael Hagner: Gehirnführung. Zur Anatomie der geistigen Funktionen, 1870– 1930, in: Ders. (Hg.): Ecce cortex. Beiträge zur Geschichte des modernen Gehirns, Göttingen: Wallstein 1999, 177–205, hier 180–181. 618 Richard von Krafft-Ebing: Nervosität und neurasthenische Zustände (Specielle Pathologie und Therapie 12,2), Wien: Hölder 1895, 11. 619 Vgl. J. Schnetter: Der nervöse Kopfschmerz. Eine klinische Studie, Heidelberg: Carl Winter 1889.

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von Krafft-Ebing, Psychiater und einer der einflussreichsten Autoren in der deutschen Neurastheniedebatte, zu den vorrangigen diätetischen Mitteln gegen die Neurasthenie.620 Der amerikanische Elektrotherapeut Charles Miller Beard hatte 1869 die Neurasthenie als Zivilisationskrankheit beschrieben. Seine Monographie „A practical treatise on nervous exhaustion (neurasthenia)“ erschien 1880 in New York und wurde bereits 1881 ins Deutsche übersetzt. Dass das Neurastheniekonzept vor allem in Deutschland auf fruchtbaren Boden fiel, lag daran, dass es eine umfassende naturwissenschaftliche Erklärung für einen Komplex von physischen und psychischen Phänomenen bot, die den Erfordernissen in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation entgegenkam, nicht zuletzt dem „bildungsbürgerlichen Bedürfnis nach Kennzeichnung und Kritik der kulturellen Veränderungsprozesse der Zeit“ – einer Zeit, die den Naturwissenschaften einen hohen gesellschaftlichen Deutungsanspruch zugestand.621 Die unmittelbare Aufnahme der Neurasthenie als medizinisch-gesellschaftliches Paradigma erinnert in gewisser Weise an den ursprünglich schottischen Brownianismus, der um 1800 eine Neubestimmung der „Lebenskraft“ für das romantische Deutschland bewirkt und ein vergleichbar hohes Erklärungspotential geboten hatte. Im Fall der Neurasthenie wurden unter anderem die Hypochondrie, Melancholie und Hysterie mit einem neuen, bündigen und zugleich offenen Konzept ersetzt oder zumindest überformt.622 620 Krafft-Ebing: Nervosität und neurasthenische Zustände, 36, 10, 95 und 11. Zum Autor: Krafft-Ebing, Richard (Fridolin Joseph) Frhr. von, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 344. Zur Geschichte der Neurasthenie: Roelcke: Krankheit und Kulturkritik; Ders.: Electrified nerves, degenerated bodies. Medical discourses on neurasthenia in Germany, ca. 1880–1914, in: Marijke GijswijtHofstra, Roy Porter (Hgg.): Cultures of neurasthenia. From Beard to the First World War (Clio Medica 63/The Wellcome Series in History of Medicine), Amsterdam/New York: Rodopi 2001, 177–197; Doris Kaufmann: Neurasthenia in Wilhelmine Germany. Culture, sexuality, and the demands of nature, in: Gijswijt-Hofstra, Porter (Hgg.): Cultures of neurasthenia, 161–176; Joachim Radkau: Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter und Ders.: Das Zeitalter der Nervosität; Hans-Georg Hofer: Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien u.a.: Böhlau 2004. 621 Hofer: Nervenschwäche und Krieg, 378. Zur Rezeption der Neurasthenie ausführlicher: v.a. 64–82. 622 Vgl. Paul Haffter: Die Entstehung des Begriffs der Zivilisationskrankheiten, in: Gesnerus 36 (1979), 228–237. Zu Begriff und Geschichte der Zivilisationskrankheit: Roy Porter: Diseases of civilization, in: Bynum, Porter (Hgg.): Companion encyclopedia of the history of medicine, 585–600. Die Hypochondrie war tendenziell männlich, die Hysterie tendenziell weiblich konnotiert. Die Neurasthenie galt in den USA als Krankheit der männlichen Elite, in Deutschland stand sie dagegen in erster Linie im Zusammenhang

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Dies galt auch für frühere Diagnosen der traumatischen Neurose und des Schocks, etwa der „Railway Spine“, einer Form der „Spinalirritation“.623 Persönliche Befindlichkeiten, aber auch die Stimmung der Zeit, ein allgemeines Gefühl der Erschöpfung von der Moderne, konnten jetzt in neuen, naturwissenschaftlichen Termini gefasst werden – das Nervensystem der Maschine Mensch lief Gefahr, von einem Zuviel an Reizen, von Physiologen in elektrische Aktivität übersetzt, chronisch erschöpft zu werden.624 Der Begriff der Asthenie stammte aus der Sprache des Brownianismus, wo er für eine Schwächung des Erregbarkeitspotentials aufgrund von Reizüberfluss gestanden hatte. Allerdings war um 1800 nicht der Überfluss, sondern im Gegenteil der Mangel an Reizen die im Nervendiskurs vorherrschende gesundheitliche Problematik, so dass beispielsweise die Schlaflosigkeit als leichte sthenische Erkrankung klassifiziert wurde, also als eine Erregungsanreicherung aufgrund von Reizmangel.625 Mit der Neurasthenie wandelte sich das Verständ-

mit der Degenerationsdebatte; allerdings trug der typische Neuropath in Deutschland weibliche Züge. Dazu Katrin Schmersahl: Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts (Sozialwissenschaftliche Studien 36), Opladen: Leske und Budrich 1998, 254–269. 623 In diesen Krankheiten wurde – zunächst als somatische Erscheinungen – gefasst, was später zu Gegenständen der Psychotherapie wurde. Esther Fischer-Homberger: Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden, Bern u.a.: Hans Huber 1975. Nach Shorter (Edward Shorter: Moderne Leiden. Zur Geschichte der psychosomatischen Krankheiten, Reinbek: rowohlt 1994 [Original From paralysis to fatigue, 1992], 55–76) wurde die Spinalirritation als psychosomatische Krankheit, die ihren Ursprung im Rückenmark hatte, von den 1830er Jahren bis 1860/1870 diagnostiziert. „Railway spine“ wurde von den späten 1860ern bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts als traumatische Folgeerscheinung auf einen Schock, der während eines Eisenbahnunfalls erlitten wurde, diagnostiziert. Symptom war beispielsweise der Kopfschmerz. Dazu: Eric Michael Caplan: Trains, brains, and sprains: Railway spine and the origins of psychoneuroses, in: Bulletin of the History of Medicine 69.3 (1995), 387–419, Ralph Harrington: On the tracks of trauma. Railway spine reconsidered, in: Social History of Medicine 16.2 (2003), 209– 223. Der Schockbegriff war im Schlafdiskurs bislang nur im Kontext des plötzlichen Aufwachens angeklungen, z.B. Hildebrandt, Campe: Einige Erfahrungen und Beobachtungen über den Schlaf (1788), 148 und 178; Jan: Der Schlaf (1836), 63. 624 Roelcke betont außerdem die „Krise im bürgerlichen Selbstbewußtsein“ in Folge des „Erstarkens der Arbeiterbewegung“, der ersten Wirtschaftskrisen und der „innenpolitischen Wende hin zu einem autoritären Interventionsstaat (Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, 122–137, hier 125). Zur „Elektrifizierung der Nerven“ und zu Beard: 101–121. 625 Auch Radkau stellt die Neurasthenie dem Brownianismus gegenüber: Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, 212. Roelcke verweist zusätzlich auf die naturphilosphischen Grundlagen (um 1800) des späteren Zusammenhangs zwischen Nerven und Kultur: Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, 37–46.

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nis auch der Schlaflosigkeit, die damit im Gegensatz zu der älteren Definition Begleiterscheinung der Nervenschwäche wurde. Im Schlafdiskurs wurde die Rolle der Nervenreize durch das 19. Jahrhundert tradiert. Ihre Bedeutung (für das Einschlafen, Aufwachen und die Schlafdauer) wurde bei Meißner (1833) als Selbstverständlichkeit angeführt: „Wer begreift [...] nicht den Einfluss, den die verschiedenen äussern und innern Erregungsmittel, welche das Nervensystem reizen können, [...] ausüben?“626 1844, als der Schlafdiskurs noch von Überresten romantischer Rhetorik, aber zugleich auch schon von der neuen Lebenswirklichkeit in den Großstädten geprägt war, schrieb Fleck in seinem Schlaftraktat dem Stadtleben die Schuld an der Zerstörung der Nervenkraft zu. Die breite Rezeption der Neurasthenie war also im Schlafdiskurs beim Import der amerikanischen Theorie der „nervous exhaustion“ über den Kontext der Großstadtkritik schon vorbereitet. Die Durchsetzung der Neurasthenie als Paradigma ist deutlich im Vergleich der Brockhausartikel „Schlaflosigkeit“ der 11. Auflage (1868) und der 13. Auflage (1886) erkennbar. Während der ältere Artikel noch ganz im Zeichen der traditionellen Hygiene stand, ergänzte der Artikel von 1886, der mit demselben einleitenden Satz begann, die alten Elemente aus der Schlafdiätetik um neue Schlafmittel und um den Begriff der Nervenschwäche: Schlaflosigkeit (agrypnia) kann durch Gemütsunruhe, ungewohnte Lebensart u.s.w. (vorübergehend) erzeugt werden, ohne Zeichen eines krankhaften Zustandes zu sein. [...] Oft genug ist sie ein Symptom krankhafter Nervenschwäche [oder fieberhafter oder schmerzhafter Krankheiten]. Die Ursachen [von Schlafstörungen] sind solche, welche das Gehirn zu sehr in Erregung erhalten (Überanstrengung, Tabakrauchen, Genuß von Thee und Kaffee) oder dessen Ermüdung verhindern: Hunger, kalte Füße, zu große Wärme und juckende Hautausschläge hindern gleichfalls oft das Einschlafen. Sehr gewöhnlich ist karger Schlaf im höhern Alter. In jedem Fall wirkt die S. entkräftend und verdirbt Appetit und Laune. Die Behandlung erfordert [...] zweckmäßiges diätetisches Verhalten [d.h. körperliche Betätigung, Schlafzimmerhygiene]. In vielen Fällen leisten [...] ableitende Fußbäder, kalte Klystiere, kalte Waschungen des Oberkörpers, ein Trunk kalten Wassers, ein Brausepulver treffliche Dienste; bei geschwächten und älteren Personen wirkt oft ein Glas guten Biers oder alten Weins schlafbringend. Von den mediz. Mitteln sind außer dem Morphium und seinen Präparaten namentlich das Chloralhydrat und Bromkalium zum empfehlen; doch sollten dieselben nur auf ausdrückliche ärztliche Anordnung angewendet werden.627

626 Adelon: Schlaf (1833), 4. 627 Brockhaus Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Artikel „Schlaflosigkeit“, Bd. 14, Leipzig: Brockhaus 131886, 370–371; Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, Artikel „Schlaflosigkeit“, Bd. 13, 111868, 220.

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Das wissenschaftliche Verständnis der Neurasthenie veränderte sich bereits in den 1890er Jahren. Anders als in den USA, wo die Neurasthenie zumeist als Symptom für eine hohe kulturelle Entwicklungsstufe verstanden wurde, stand sie im deutschen Sprachraum bald vorrangig für die (drohende) Degeneration der Gesellschaft. Die Ursachen der Nervenschwäche erklärte man hier nun immer weniger in elektrophysiologischen Begriffen, sondern mit der physiochemischen Erschöpfung einerseits und sozialdarwinistisch-kulturpessimistischen Begriffen andererseits: Der Psychiater Kraepelin begann, die Nervenkrankheiten zu somatisieren, und die Erschöpfung wurde von Seiten der Neurologie und der entstehenden Psychiatrie mit Ermüdungsstofftheorien untermauert. Mit Kraepelin setzte sich außerdem eine Ausdifferenzierung der Neurastheniephänomene durch: Zu den „Erschöpfungszuständen“ kam das degenerative „Entartungsirresein“; an die Stelle der vormaligen privaten Pathologie trat jetzt, zu einem großen Teil, eine kollektive Neurastheniediagnose. Kraepelin formulierte vor diesem Hintergrund bereits vor der Jahrhundertwende konkrete Forderungen nach „Rassenhygiene“.628 Außer dem „Kampf ums Dasein“ fanden sich im Schlafdiskurs kaum Spuren aus dieser Debatte, obwohl es ja schon seit langem breite diskursive Überschneidungen mit der Kulturkritik und der Nerventheorie gab. Eine Ausnahme findet sich bei Trömner, dem Erfinder der „Dormition“ (der errechenbaren persönlichen Schlaffähigkeit), der 1912 die nervöse Degeneration thematisierte, um „drakonische Massregeln der Polizei“ zugunsten der Nachtruhe in den Städten zu fordern, die seiner Meinung nach nicht zuletzt von Nachbarn, Musikinstrumenten und Hunden gestört werde: Es gibt Gegenden in der Grossstadt, wo es keinem empfindlichen Schläfer möglich ist, einen ungestörten 7–8 stündigen Schlaf zu finden, den sein im modernen Kampf um den Dollar arbeitender Geist so dringend notwendig hätte. Mangelnde und ungenügende Schlaffähigkeit ist ein Hauptgrund der beständig zunehmenden nervösen Degeneration unserer Grossstadtbevölkerung.629

Der Schlafdiskurs hatte schon um 1800 die Nervenreize und Kulturkritik in Zusammenhang gesehen, ein Beispiel dafür war die Debatte um den Schlaf der Gelehrten, die mit verschiedenen Reizmitteln wie Kaffee und Tabak aus Fleiß und Ehrgeiz willkürlich den Schlaf verweigern, bis er sich nicht mehr natürlich einstellen kann. Jetzt nahm der Schlafdiskurs aus der wissenschaftlichen Neurastheniedebatte erneut den Zusammenhang von Nerven und Zivilisation auf – und widmete sich der „nervösen Schlaflosigkeit“. Diesen Begriff hatte 1848 schon der Berliner Irrenarzt Ideler in seiner „Diätetik für Gebildete“ verwendet; 628 Roelcke: Electrified nerves, degenerated bodies, 187. 629 Trömner: Das Problem des Schlafes (1912), 88.

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1901 konstatierte Georg Flatau, ein Berliner Nervenarzt, bereits „zahllose Arbeiten über die Schlaflosigkeit“.630 Die nervöse Schlaflosigkeit entstand auch für ihn „auf dem Boden der allgemeinen nervösen Erschöpfung“.631 Schlaflosigkeit und Nervosität bedingten sich dabei gegenseitig: Das Resultat ist [...] die mit Angstaffecten verbundene zwangsartig auftretende Vorstellung des Nichtmehrschlafen können; diese Zustände führen natürlich allmählig zu einer grösseren reizbaren Schwäche des Nervensystems, die sich in Schreckhaftigkeit, Angst, innerer Unruhe äussert, so ensteht ein unter Umständen sehr bedenklicher circulus vitiosus, der zu grosser körperlicher Schwäche und Abmagerung führen kann.632

Daher fiel „die Prophylaxe der nervösen Schlaflosigkeit [...] natürlich grösstentheils mit der Verhütung der allgemeinen Nervosität zusammen“.633 Die Verfasser pharmakologisch-diätetischer Ratgeber waren häufig Psychiater in „Irrenanstalten“ oder Kurärzte, so dass es kein Zufall war, wenn Artikel wie Flataus in der „Berliner Klinik“ begleitet wurden von Werbeanzeigen für Sanatorien und Badeorte, die um die Jahrhundertwende gegründet wurden oder beachtlichen Zulauf erfuhren, nachdem außer den Lungenkranken nun auch Neurastheniker den Weg dorthin fanden.634 Der Gesundheitsmarkt versprach die Heilung der Nervosität. Anzeigen bewarben etwa eine „Heilanstalt für Nervenleidende und Erholungsbedürftige. Prachtvoll gelegen, sehr elegant und komfortabel eingerichtet. Kaltwasserkuren – elektrische Bäder – Massage“. Die behandelnden Ärzte hegten oft den, sicherlich teils berechtigten, Verdacht, ihre – sehr gut über die Neurasthenie informierten – Patienten bildeten sich nervöse Symptome nur ein, ihre Schlaflosigkeit sei „regelmässig Selbsttäuschung und Uebertreibung“ oder beruhe auf „Beobachtungsfehlern“.635 Sie 630 Ideler: Die Allgemeine Diätetik für Gebildete (1848), 176; zum Autor: Dietrich von Engelhardt: Ideler, Karl Wilhelm, in: Ders. (Hg.): Klassiker der Medizin, Bd. 1, 300. Ideler gehörte zu den frühen Verfechtern einer philosophisch-anthropologischen Psychiatrie, d.h. er ging von seelisch-emotionalen, statt von physiologischen Ursachen der Geistesstörungen aus. Georg Flatau: Ueber die nervöse Schlaflosigkeit und deren Behandlung mit besonderer Berücksichtigung der Psychotherapie, in: Berliner Klinik 157 (1901), 1–19, hier 1. 631 Flatau: Ueber die nervöse Schlaflosigkeit, 4. 632 Flatau: Ueber die nervöse Schlaflosigkeit, 9. 633 Flatau: Ueber die nervöse Schlaflosigkeit, 9. 634 Zur Geschichte der Tuberkulosesanatorien: Wolfgang Seeliger: Die „Volksheilstätten-Bewegung“ in Deutschland um 1900. Zur Ideengeschichte der Sanatoriumstherapie für Tuberkulöse, München: Profil 1988; Zu den neuen Sanatorien für Nervenkranke: Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, 21. Zur Therapie siehe die folgenden Kapitel. 635 Krafft-Ebing: Nervosität und neurasthenische Zustände, 95; Rudolph von Hösslin: Symptomatologie, in: Franz Carl Müller (Hg.): Handbuch der Neurasthenie, Leipzig: F. C. W. Vogel 1893, 87–190, hier 108–109. Müller war Direktor einer Badeanstalt im Fich-

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reagierten damit auf den nicht unbedingt bewussten Versuch der Patienten, sich mit dem unklaren Krankheitsbild der Neurasthenie oder Nervosität die an die Physik und Chemie zu einem guten Teil verlorene Definitionsmacht über die Verfassung des eigenen Körpers zurückzuerobern, indem sie nicht so reibungslos funktionierten wie die ideale Menschmaschine. Um die nervöse Schlaflosigkeit zu verwissenschaftlichen, legte der Psychiater Karl Lechner 1909 eine Studie über die klinische Schlaflosigkeit vor, in der er Schlafprobleme in sechzehn Formen unterklassifizierte. Er stellte je vier Formen der Einschlafprobleme, der „ungenügenden Schläfrigkeit“, des schlechten Erwachens und der „krankhaften Munterkeit“ heraus und versah sie mit einer reiztheoretischen Terminologie (Abb.  21).636 Andere Ärzte griffen – typisch für den insgesamt sehr traditionellen Schlafdiskurs – auf ältere Nervenkrankheiten, nämlich die Hypochondrie und die Hysterie zurück, um die Schwierigkeiten der Diagnose und die Möglichkeit der Simulation hervorzuheben. Der „neurasthenische Halbschlaf“, mehr oder weniger eingebildeter Dämmerschlaf, wurde zur Objektivierung der Klagen von „hypochondrisch veranlagten Nervösen“ eingeführt, die „sich auf dem Wege der Autosuggestion (Hysterie)“ ihre Schlafprobleme einredeten.637 Die Neurasthenie wurde nach dem Ersten Weltkrieg kaum mehr diagnostiziert, unter der nervösen Schlaflosigkeit litt man dagegen weiterhin.638 Mit der Zunahme psychischer und neurologischer Erkrankungen bei Kriegsteilnehmern aus allen Schichten hatte die Nervosität ihr Distinktionspotential für das Bürgertum eingebüßt. J. Finckh etwa, Arzt im „Nordseebad Arendsee“, publizierte 1924 noch über die „nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung“. Die Neurasthenie, wovon die Schlaflosigkeit einen „kleinen Ausschnitt darstellt“, nannte er die „Hauptform der landläufigen Nervosität“ und konstatierte eine Zunahme der Fälle durch den „Krieg als Schädiger der Volksgesundheit“ gerade auch in „Volksschichten, denen die Nervosität früher etwas Unbekanntes telgebirge. Vielen Ärzten fiel auf, dass die Patienten über die Neurasthenie sehr umfassend informiert waren (Hofer, Nervenschwäche und Krieg, 156). 636 Karl Lechner: Die klinischen Formen der Schlaflosigkeit, Leipzig/Wien: Franz Deuticke 1909. 637 Richard Traugott: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung, Würzburg: Curt Kabitzsch 31913 (11902), 24. 638 Roelckes und Radkaus Untersuchungen beobachten beide ein umgehendes Abklingen der Neurastheniediagnosen mit dem Ersten Weltkrieg. Roelcke kritisiert Radkaus Erklärung des Kriegs als eine Art kollektive Spannungsentladung, als „Überwindung der Nervosität“ und erklärt den Niedergang des Neurastheniebegriffs vielmehr aus der Entwicklung der Wissenschaftsgeschichte (Roelcke: Krankheit und Kulturkritik, 25–26; Radkau: Das Zeitalter der Nervosität).

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Überblick über die Formen der Schlaflosigkeit mit Rückgriff auf die Sprache der Reiztheorie, 1909

war.“639 Auch Siegmund Auerbach von der Frankfurter Poliklinik für Nervenkranke stellte fest: Infolge des langes Krieges, seines unglücklichen Ausganges und der politischen und wirtschaftlichen Wirren, die in seinem Gefolge eingetreten und auch jetzt noch nicht abgeschlossen sind, hat die nervöse Schlaflosigkeit an Häufigkeit ganz außerordentlich zugenommen.640

Damit waren es wieder, wie schon im 18. Jahrhundert, mehr als physiologische Prozesse die aktuellen Lebensbedingungen, die für die Schlafprobleme verantwortlich gemacht wurden. Während die Ermüdungsforschung mit dem beginnenden 20. Jahrhundert in der Arbeitswissenschaft aufging, bestimmte den Schlafdiskurs also ein schon älteres, bislang aber nebensächliches Element zum Ende des 19. Jahrhunderts 639 J. Finckh: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung (Der Arzt als Erzieher, 49), München: Verlag der Ärztlichen Rundschau Otto Gmelin 21933 (11924, 31941), 24–25. 640 Siegmund Auerbach: Die Behandlung der nervösen Schlaflosigkeit, München: Gmelin 1921, Vorwort. Zur (Nach-) Kriegspsychiatrie: Paul Lerner: Hysterical men. War, psychiatry, and the politics of trauma in Germany, 1890–1930, Ithaca/London: Cornell University Press 2003.

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ganz wesentlich: die Schlaflosigkeit. Wie die Schlafphysiologen im 19. Jahrhundert auf das mechanistische Menschenbild zurückgriffen, so wurde das Thema der Schlaflosigkeit überwiegend mit dem anderen dominanten Paradigma des 18. Jahrhunderts, den Nervenreizen, verknüpft. Vor allem Nervenärzte befassten sich jetzt mit der Schlaflosigkeit, einer Modekrankheit – oder dem Symptom einer solchen. Während die modernen Zeiten augenscheinlich Ursache für das Problem waren, griffen die Ärzte aber fast so bereitwillig wie die Patienten auf die Produkte der pharmazeutischen Industrie als Errungenschaft der Naturwissenschaften und der modernen Technik zurück. 3.3. Künstlicher Schlaf für alle? Die Geschichte der synthetischen Schlafmittel

1869 kam Chloralhydrat als erstes synthetisches Schlafmittel auf den deutschen Markt. In den kommenden Jahrzehnten folgten eine Reihe weiterer Wirkstoffe und eine Vielzahl von Produkten, die sich in dem Versprechen ablösten, endlich das Joch der Schlaflosigkeit zuverlässig abzuschütteln. Schlaf wurde damit im Schlaflosigkeitsdiskurs gewissermaßen zum Konsumgut.641 Unter der Begleitung von Werbekampagnen erzielten die neuen Schlafpulver und -tabletten gute Absätze und trugen wesentlich zum Erfolg der deutschen Pharmafirmen bei. Allerdings bestand jenseits der Reklamerhetorik – „tiefer und erquickender Schlaf!“642 und Ähnliches – von Anfang an begründeter Zweifel an der Qualität des „künstlichen Schlafes“. In der Schlafdiätetik gab es zuvor bereits eine Vielzahl pflanzlicher Schlafmittel. Neben den Abführmitteln und Alterantia gab es reinigende Mittel oder Verfahren wie Aderlässe, Blutegel und Brechmittel.643 Auch waren Hopfen, Johanniskraut, Baldrian, Stechapfel, Tollkirsche, Hundszunge644, Nachtschatten645, mehr noch Bilsenkraut, Mandragora (Alraune), Alkohol und Hanf 641 Eine grundlegende Darstellung der Konsumgeschichte der Medizin in Deutschland steht noch aus. Im speziellen Zusammenhang der Schlafmittelindustrie spricht eindeutig von „Kommerzialisierung“: Rolf Winau: Von der Apotheke zur pharmazeutischen Großindustrie, in: Ders. (Hg.): Technik und Medizin (Technik und Kultur 4), Düsseldorf: VDIVerlag 1993, 257–288. 642 So eine typische Formulierung aus der Werbung, hier für Scherings Medinal in: Münchner Medizinischen Wochenschrift 24.12.1920, SchA-S1-022. 643 Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Artikel „Alterans, Alterantia, AlterirMittel“, Bd. 1 (1732), 1558, vgl. Kapitel 4; Fischer: Von der Schlaflosigkeit, 1831, 65–66. 644 Hermann Boerhaavs Phisiologie (dt. 1754), 925. 645 Davidson: Ueber den Schlaf (1796), 23.

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über Jahrhunderte im Gebrauch.646 Mit Abstand der meiste Platz wurde in der Schlafhygieneliteratur dem Opium (oder „Mohnsaft“647, „Schlaf-Safft“648) eingeräumt, das als wirkungsvoll, aber gefährlich galt. So schrieb Hufeland 1803 zum Thema des „erkünstelten Schlafs“: Das beste und gewöhnlichste Schlafbefördernde Mittel glaubt man in dem Opium und seinen Zubereitungen zu finden. [...] Aber man hüte sich vor dem unbedingten Gebrauch dieser Mittel, denn sie sind Gifte und können also durch unvorsichtige Anwendung als solche wirken.649

Die Wirkweise der Droge war allerdings unklar. In der Romantik zählte Opium, genau wie Alkohol zu den asthenischen, also reizenden Mitteln.650 Schon zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatte man die Wirkung des Opiums mit der des „Weingeistes“, also des Alkohols, verglichen, bei welchen der vergleichbare Effekt ebenfalls von der Dosierung abhänge, von „Glückseligkeit“ über Schlaf zum Tod. „Beständiger“ Gebrauch richtete „Unordnung im Körper und der Seele“ an. Der Mohnsaft schien die „Geschwindigkeit des Blutes“ zunächst zu vermehren.651 Davidson mutmaßte 1796, dass Opium, das „Schwindel, Zittern und andere Nervenzufälle und endlich einen tiefen Schlaf“ erzeugte, wahrscheinlich „zuerst die Lebenskraft erhöht, die Nerven spannt und nun eine größere Erschlaffung erfolgt“.652 Während Haller Tier- und Selbstversuche mit Opium anstellte, befasste sich auch Unzer mit dem Thema; er nahm veränderte „Lebensbewegungen“ und ein „Unwirksammachen“ der Seelen- und Nervenkräfte an:653 Das Opium, welches, wenn man es einnimmt, den Trieb zum Schlafe erzeuget, und dadurch nicht nur die Lebensbewegungen verändert, sondern auch die Seelenwirkun646 Die Auflistung ist unvollständig, z.B. nennt Richter außerdem: Schierling, Kirschlorbeer und Bittermandeln (Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit [1824], 123.). 647 So Nudow: Versuch einer Theorie des Schlafs (1791), 30. 648 Zedler: Eintrag „Schlaf-Safft“, Bd. 34 (1742), 1721. Der Eintrag verweist nur auf den Artikel „Opium“. 649 Hufeland: Der Schlaf und das Schlafzimmer (1803), 36. 650 Leibbrand: Die spekulative Medizin der Romantik, 80. Dazu siehe auch: Samuel Crumpes auf Versuche gegründete Untersuchung der Natur und Eigenschaften des Opiums. Aus dem Englischen üs. und mit Zusätzen und Anmerkungen begleitet von P. Scheel. Kopenhagen: Prost und Storch 1796. Crumpe stellt Opium als eines der wichtigsten, wenn auch schwer zu dosierenden Arzneimittel dar, da die Schlaflosigkeit aus Reizmangel oder Überreizung zustande kommen könne. Tierversuche zeigten erst eine Erregungszunahme, dann eine -abnahme. 651 Formey: Versuch vom Schlafe (1756), 435–436. 652 Davidson: Ueber den Schlaf (1796), 21–22. 653 Albrecht von Hallers Abhandlung über die Wirkung des Opiums auf den menschlichen Körper (1776–1777), üs. von Erich Hintzsche und Jörg Henning Wolf (Berner Beiträge zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 19), Bern: Paul Haupt 1962.

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gen in den mechanischen Maschinen nach und nach aufhebt, indem es die thierischen Seelenkräfte des Gehirns zu ihren natürlichen Verrichtungen ungeschickt machet, so daß sich, wie im Zustande jeder Schläfrigkeit, auch nicht einmal von den äußern sinnlichen Eindrücken und die Nerven materielle Empfindungen im Gehirne erzeugen; thut diese seine thierische Wirkung nicht blos im Gehirne, sonder in jedem Theile eines Nerven mit gleichen Erfolgen, indem es eben sowohl die Nervenkräfte der Nerven als die thierischen Seelenkräfte des Gehirns unwirksam machet.654

Opium war das sicherste Mittel zur Beruhigung oder Betäubung, hatte aber in der Opiumsucht seine Kehrseite. In den Opiumsüchtigen „glaubt[e] man ein Bild des Todes vor sich zu haben: Schwach, zitternd, wankend, bleich mit tief liegenden Augen schleichen sie einher; statt durch den Schlaf gestärkt zu seyn, sind sie vielmehr erst recht abgespannt.“655 1803 entdeckte ein Paderborner Apotheker, Friedrich Wilhelm Sertürner, die Alkaloide anhand der Herstellung eines Auszugs aus Opium, des Morphins. Er hatte versucht, Opium als Schlafmittel besser dosierbar zu machen und dafür das „principium somniferum“ zu isolieren. 656 Aus Opium konnten in den nächsten Jahrzehnten noch weitere Alkaloide isoliert werden, darunter Narkotin (1817) und Kodein (1832).657 Mit dem Verfahren der Herstellung von Alkaloiden konnte der Wirkstoff aus vielen verschiedenen Drogen extrahiert werden, wodurch sich diese viel exakter dosieren ließen. Das traf etwa auch auf das traditionelle Beruhigungsmittel Bilsenkraut zu, aus dem 1833 Hyoscyamus isoliert wurde. Die Alkaloidchemie bedeutete für die Arzneimittelproduktion den Beginn ihrer Industrialisierung. Die Produktion, die vorher in Apothekerhand gelegen hatte, ging damit teilweise auf Chemiefirmen über, etwa auf 654 Unzer: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper (1771), 557–558. 655 Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831), 18. 656 Christoph Friedrich, Wolf-Dieter Müller-Jahnke, Rudolf Schmitz: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Geschichte der Pharmazie 2), Eschborn: Govi 2005, 456–459. Siehe auch: Winau: Von der Apotheke zur pharmazeutischen Großindustrie, 265. Zur wissenschaftlichen Bewertung des Opiums im 18. Jahrhundert siehe auch: Schöpf: Der Schlaf aus medizinischer Sicht im 18. und frühen 19. Jahrhundert, 72–77. Zur Kulturgeschichte des Opiums siehe auch: Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genussmittel, Frankfurt am Main u.a.: Ullstein 1983, 215–238. Schivelbusch hebt die weite soziale Verbreitung des Opiumkonsums im frühen 19. Jahrhundert hervor (wobei der Vergleich mit dem heutigen Aspirinkonsum sicher zu weit gegriffen ist [217]). 657 Narkotin wurde als Betäubungsmittel verwendet, Codein u.a. als Schlafmittel für Kinder. Zur Geschichte der Alkaloide: Friedrich: Geschichte der Pharmazie, 459–462 und Paul Siedler: Die chemischen Arzneimittel der letzten 113 Jahre mit Rückblicken auf die Entwickelung der wissenschaftlichen Chemie und Pharmazie. Für Apotheker, Ärzte und Chemiker, Berlin: Borntraeger 1914, 41.

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die Firma Merck, die sich als Alkaloidlieferant etablierte. Andere Firmen, wie der Chemikalienhersteller Schering oder die Teerfarbenfabrik Bayer, konnten sich bis zur Jahrhundertwende mit Arzneirohstoffen, Fertigarzneimitteln und eigenen Entwicklungserfolgen international erfolgreich im neuen Pharmamarkt positionieren. Erst nach dem Ersten Weltkrieg liefen Firmen aus den USA den deutschen Pharmaentwicklern und -produzenten teilweise den Rang ab.658 Morphin war bald nach seiner Isolierung – oder „Darstellung“ – in Irrenanstalten im Gebrauch und ab 1855 oder 1864659 als Injektion erhältlich. Es war auch unter Namen wie Papaverin oder Opianin zu kaufen und diente als Hypnotikum beziehungsweise Sedativum, also als Beruhigungsmittel. Besonders verbreitet waren bis um die Wende zum 20. Jahrhundert folgende Schlafmittel im weiteren Sinne:660 1855 1857 1868 1869 1883 1887 1888 1903/04 1908

Vermarktung Morphin (zuvor in Kliniken), isoliert 1804/05 Epilepsiemittel Kaliumbromid, 1826 Isolierung von Brom Hyoszyamin (Merck), 1833 Hyoscamus aus Bilsenkraut isoliert Chloralhydrat, erstes synthetisches Schlafmittel (Bayer 1888), 1832 dargestellt Paraldehyd Schlafmittel Amylenhydrat, 1866 dargestellt Sulfonal (Bayer u.a.), 1892 Trional und Tetronal (Bayer) Schlafmittel Veronal (Bayer, Merck), Medinal (Schering), 1882 Wirkstoff Diethylbarbitursäure synthetisiert Schlafmittel Adalin (Bayer; Brombasis)

658 Wolfgang Wimmer: „Wir haben fast immer was Neues“. Gesundheitswesen und Innovationen der Pharmaindustrie in Deutschland, 1880–1935 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 43), Berlin: Duncker & Humblot 1994, v.a. 26, 32 und 376. 659 Schott, Tölle: Geschichte der Psychiatrie, 351. 660 Winau: Von der Apotheke zur pharmazeutischen Großindustrie, 265–266. Zur Geschichte der Schlafmittel: Kristina Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel in die Medizin im 19. Jahrhundert (Marburger Schriften zur Medizingeschichte 18), Frankfurt am Main: Peter Lang 1985; Shorter: Geschichte der Psychiatrie, 289–299; Michael Kessler: Der künstliche Hypnos, in: Eder Matt (Hg.): Wie sie sich betten, 61–67, hier 64. Brom, Barbiturate und der Wirkstoff von Chloralhydrat blieben nach diesen Darstellungen die grundlegenden Wirkstoffe der Schlafmittel des 20. Jahrhunderts. Zur Geschichte der Barbiturate zuletzt: Willibald Steinmetz: Ungewollte Politisierung durch die Medien? Die Contergan-Affäre, in: Bernd Weisbrod (Hg.), Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Göttingen: Wallstein Verlag 2003, 195–228. Opiumderivate und ihre (Neben-) Wirkungen zählt Fronmüller auf: Fronmüller: Klinische Studien über die schlafmachende Wirkung narkotischer Arzneimittel, Erlangen 1869.

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Hyoszyamin wurde von Merck in Darmstadt vertrieben, ab 1868 als Beruhigungs- und Schlafmittel. Um 1880 war es in psychiatrischen Anstalten noch gegen das „Wahndelirium“ gebräuchlich. Dass der Wirkstoff in der Schlaflosigkeitstherapie begrüßt wurde, zeigt etwa Jans Würzburger Dissertation von 1836, in der er Hyozyamus zusammen mit Hopfen als Alternative zum Opium, das man als Betäubungsmittel zur Therapie von Schlaflosigkeit immer mehr ablehne, empfahl.661 In seiner Schlafdiätetik von 1834 hatte Strahl das Opium dagegen noch gelobt: „Das Opium ist in der Hand eines vorsichtigen Arztes nicht nur ein sehr heilkräftiges und durchaus unschädliches Mittel, sondern [...] ganz und gar unentbehrlich.“662 Strahl verfügte noch nicht über Alternativen, über hinreichende Erfahrungsberichte oder gar über eigene Erfahrungswerte mit den neuen Stoffen; er dürfte als Chirurg und Accoucheur, also Geburtshelfer, mit den aktuellen klinischen Forschungen nicht hinreichend vertraut gewesen sein. Brom wurde 1826 von einem französischen Apotheker isoliert. 1850 fielen bei einer Syphilistherapie mit Kaliumbromid Sensibilitätsminderungen auf, woraufhin es erfolgreich bei englischen Epileptikern getestet wurde. Seit 1864 setzte man Bromkalium als Schlafmittel ein.663 Verschiedene Anwendungsreihen in deutschen Anstalten führten allerdings zu Misserfolgen: Eine entsprechende Wirkung war nicht nachzuweisen. Der bayerische Bezirksarzt Fronmüller schlussfolgerte daher 1869, man solle dem „Opium seine ehrwürdige und von Jahrhunderten sanctionirte Ehrenstelle belassen“.664 Das Festhalten an traditionellen Schlafmitteln wurde von der Hygieneliteratur, die teils aus der Defensive heraus argumentierte, gestützt: Nagel reihte 1872 noch Zwiebeln, Knoblauch, Pfeffer, Hopfen und Küchensalz („in großen Mengen“) als Schlafmittel aneinander; Bromkalium hielt er für ebenso wirkungsvoll wie Salz.665 Um 1880 dagegen hatte sich das Bromkalium, dessen Wirkung nun als erwiesen galt, das viele Hygieniker aber als gefährlich verurteilten, auch in Deutschland durchgesetzt: Sowohl Kraepelin als auch Krafft-Ebing indizierten es bei Epilepsie, also als Beruhigungsmittel. Beide beschrieben aber auch den „Bromismus“, die Folgen der längeren Anwendung: Abhängigkeit, Hals-, Herz-, Magen- und Verdauungsprobleme und allgemeine Schwächung und Abstumpfung. Da 661 Shorter: Geschichte der Psychiatrie, 299; Jan: Der Schlaf (1836), 71. 662 Strahl: Ueber Schlaf und Schlaflosigkeit (1834), 96. 663 Henry Behrend: On the action of bromid of potassium in inducing sleep, in: The Lancet 83.2126 (1864), 607–608. 664 Fronmüller: Klinische Studien über die schlafmachende Wirkung narkotischer Arzneimittel, 96–97; Gustav Amburger: Zur Kritik der schlafmachenden Wirkung des Bromkaliums, Diss. Dorpat 1872. 665 Nagel: Der natürliche und künstliche Schlaf (1872), 19.

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Bromsalze aber deutlich günstiger zu erhalten waren als Chloralhydrat, waren sie über Jahrzehnte hinweg Standard in der Anstaltsmedizin.666 Chloralhydrat wurde 1869 von Oscar Liebreich, Pharmakologe in Berlin, als „Hypnoticum und Anästheticum“ vorgestellt, nachdem Chloral 1832 bereits von Justus Liebig synthetisiert worden war.667 Liebreich verglich aufgrund von Versuchen an Tieren und Geisteskranken an der Berliner Charité die Wirkung mit der des Chloroforms, das es seit 1847 gab, stellte den erzeugten Schlaf aber als „normalen Schlaf“ dar: „In allen diesen Fällen war der Schlaf, den dieses Mittel hervorbrachte, ein normaler und trat zuweilen schon 5 Minuten nach Verabreichung ein.“ Einem an Melancholie leidenden Patienten konnte er damit beispielsweise einen 16-stündigen Schlaf verschaffen.668 Nervenärzte kombinierten Chloralhydrat teils mit Morphium und setzten es in den Kliniken trotz der offensichtlichen Nebenwirkungen ein, die es vor allem auf Kreislauf und Atmung hatte, und obwohl es schnell zu Abhängigkeit führte. Schering, die Berliner „Schlummerfabrik auf Aktien“, und Bayer vermarkteten es als Schlafmittel sehr erfolgreich seit 1888; der Gebrauch – und der Missbrauch – setzte sich im Bürgertum, das sich die Tabletten und Pulver leisten konnte, wie frühere Beruhigungs- und Rauschmittel rasch durch und hielt über Jahrzehnte an.669 In den 1880er Jahren kamen zwei weitere Produkte auf den Markt, die sich wie Kaliumbromid einsetzen ließen: Paraldehyd und Amylenhydrat. Paraldehyd gewährleistete rasches Einschlafen. Allerdings stellte sich bald heraus, dass bei längerer Anwendung motorische Störungen in Form von Zittern, Magenproblemen und Abmagerung in Kauf zu nehmen waren. Paraldehyd war relativ 666 Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel, 18–21; Shorter: Geschichte der Psychiatrie, 302–303. 667 Oscar Liebreich: Das Chloral, ein neues Hypnoticum und Anästheticum, in: Berliner klinische Wochenschrift 6 (1869), 325–327. Zu Liebig: Claus Priesner: Liebig, Freiherr von, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie, Bd. 14, Duncker & Humblot: Berlin 1972, 497–501. 668 Liebreich: Das Chloral, ein neues Hypnoticum und Anästheticum, 327. 669 Shorter: Geschichte der Psychiatrie, 300–301; Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel, 22–26. Zu Schering: Winau: Von der Apotheke zur pharmazeutischen Großindustrie, 276–277, Friedrich: Geschichte der Pharmazie, 481–482; Schering-Aktiengesellschaft (Hg.): Aus einem Jahrhundert Schering-Forschung. Pharma (Schriftenreihe des Scheringianums), Berlin 1991 (zu Chloralhydrat: 10). Die Bezeichnung „Schlummerfabrik auf Aktien“ stammt wohl aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert; das Unternehmen Schering war 1871 in die „Chemische Fabrik auf Actien“ umgewandelt worden. Ein Zeitungsausschnitt, der mit der Überschrift „Eine Schlummerfabrik auf Aktien“ (Autor Carus Sterne) die Rolle der Schlafmittel für Schering betont, ist in „Aus einem Jahrhundert Schering-Forschung“ abgedruckt, aber leider nicht datierbar.

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günstig, schmeckte dafür aber sehr schlecht.670 Das Schlafmittel Amylenhydrat wurde vier Jahre später eingeführt.671 Es erwies sich als weniger schädlich für Atmung und Kreislauf als dies bei Chloralhydrat der Fall war und schmeckte etwas besser als Paraldehyd, war aber auch nicht frei von Nebenwirkungen von morgendlicher Schläfrigkeit bis zu akuten und chronischen Vergiftungserscheinungen.672 Beide Schlafmittel erzeugten Abhängigkeit. Ihre Wirksamkeit wurde rasch auch von den experimentellen Schlafforschern in den Blick genommen: Michelson betrachtete es beispielsweise als eines der wichtigen Ergebnisse seiner Studie, dass sich bei schlechtem Einschlafen das leider nicht sehr bekömmliche, aber rasch wirkende Paraldehyd, sonst das länger wirkende Sulfonal eignete.673 Für all diejenigen, die unter nervöser Schlaflosigkeit litten, löste 1888 Sulfonal fast umgehend sowohl Morphin als auch Chloralhydrat ab. Es war in Freiburg von dem Chemiker Eugen Baumann entwickelt worden und ging bei Bayer 1888 in Produktion. Die Firma Bayer, genauer die „Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co.“ in Elberfeld, später Leverkusen, war 1863 gegründet worden und produzierte seit 1888 pharmazeutische Produkte. Das erste war Phenacetin, ein chininhaltiges fiebersenkendes Präparat, das aus Abfällen aus der Farbenproduktion entwickelt worden war. Im selben Jahr nahm Bayer, dessen Firmenname nach 1897/99 für den Welterfolg von Aspirin stehen sollte, die Produktion eines Schlafmittels auf, das von Seiten der Medizin überwiegend begrüßt wurde. In verschiedenen Kliniken wurden Erfahrungen mit Sulfonal an Patienten gesammelt, die in psychiatrischer Behandlung waren. Eine Münchner Dissertation von 1889 konstatierte eine Wirksamkeit in achtzig Prozent der Fälle.674 Sulfonal wurde bei solchen Untersuchungen an unterschiedlichen – wohl den verfügbaren – Patienten als Schlafmittel getestet: Schuler, Rosa, 22 Jahr. Diagnose: Neuralgia n. trigemini dext.; Hysterie. 18. IV. Patientin war durch die hochgradigsten Kopf- und Gesichtsschmerzen dauernd im Schlaf gestört und bekam deswegen gestern Abend 7 Uhr 1,0 gr. Sulfonal. Sie schlief gegen 8 Uhr ein, wachte zwar einmal in der Nacht durch heftige Schmerzen in den Zähnen 670 Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel, 27–30. 671 Josef von Mering: Das Amylenhydrat, ein neues Schlafmittel und dessen Anwendung in der Medizin, in: Therapeutische Monatshefte 1 (1887), 249–252. 672 Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel, 34–35. 673 Michelson: Untersuchungen über die Tiefe des Schlafes (1891), 42 und 46. Vgl. auch Karger: Über den Schlaf des Kindes (1925). 674 Max Matthes: Über Sulfonal, Diss. München 1889, 33–34; Zu Bayer: Winau: Von der Apotheke zur pharmazeutischen Großindustrie, 282–284; Erik Verg, Gottfried Plumpe, Heinz Schultheis: Meilensteine. 125 Jahre Bayer 1863–1988, Köln: Infomedia-Verlag 1988, 90–93.

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auf, schief aber bald wieder ein und bis 4 Uhr früh. Von ½ 5 Uhr an schlief sie nochmals eine Stunde. Patientin fühlt sich von dem Schlafe erquickt und hat nicht die geringsten unangenehmen Nebenwirkungen, weder Müdigkeit noch Schwindel gehabt. Appetit ist ungestört. 14. VI. Patientin hat ohne Sulfonal sehr schlecht geschlafen.“675

Sulfonal konnte auch den gegenteiligen Effekt haben, den man auch schon vom Opium und seinen Derivaten her kannte: Gruber Franz. Diagnose: Delirium tremens. 14.VI. Patient ist im Laufe des Nachmittages sehr unruhig. Auf 2 gr. Sulfonal steigert sich die Unruhe. 15.VI. Patient erhält wieder 2 gr. Sulfonal. Er wird aber erst geraume Zeit darauf, wohl in Folge der Uebermüdung, ruhiger.676

Vergleichbare Studien im Würzburger Juliusspital und an anderen Orten ergaben ein ähnliches Bild; aus Würzburg hieß es, Morphium sei immer noch sicherer.677 Trotz der öffentlichen Begeisterung für die Schlafmittel wurde, wie schon an den früheren Schlafmitteln, auch an Sulfonal nach einiger Zeit Kritik wegen der Nebenwirkungen laut. Sulfonal erwies sich bei längerem Gebrauch als nierenschädigend, spontan traten auch Vergiftungserscheinungen wie Kopfschmerzen, Übelkeit und Benommenheit am Tag auf. 1903 fasste ein Freiburger Arzt die Sulfonalstudien zusammen und stellte außerdem Verdauungsprobleme, Belastungen des Nervensystems und Hautausschläge heraus. Dazu kamen erste Berichte von schweren Vergiftungen und Selbstmordfällen mit Schlaftabletten. Trotzdem blieben Sulfonal und die beiden 1892 eingeführten, chemisch eng verwandten Bayerprodukte Trional und Tetronal die besten verfügbaren Schlafmittel.678 Dies änderte sich noch im selben Jahr mit den ersten Barbituraten, die als Schlafmittel verkauft wurden. Die Barbitursäure war 1863 vom späteren Chemienobelpreisträger Adolf von Baeyer beschrieben worden; der Arzt Emil Fischer, der schon Amylenhydrat entwickelt hatte, und Josef von Mering, ebenfalls späterer Nobelpreisträger, stellten 1873 eine einschläfernde Wirkung fest. 1903/04 kam es als Veronal bei Bayer und Merck und als 1908 als Medinal bei 675 Matthes: Über Sulfonal, 29. 676 Matthes: Über Sulfonal, 33. 677 Ernst Wolff: Die Wirkung des Sulfonal, Diss. Würzburg 1889. Die intensive wissenschaftliche Publikationstätigkeit war bereits in den 1880er Jahren eine typische Begleiterscheinung der Einführung neuer Medikamente, so auch im Fall von Sulfonal. Ein weiteres Beispiel wäre: A. Kast: Sulfonal, ein neues Schlafmittel, in: Berliner klinische Wochenschrift. Organ für practische Ärzte 25.16 (1888), 309–314. 678 Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel, 39–44; Friedrich Binoth: Über Sulfonal- und Trionalvergiftung, Diss. Freiburg im Breisgau 1903.

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Schering in Tablettenform und löslich auf den Markt.679 Nach einigen Tierversuchen, die man vor der Jahrhundertwende für Schlafmittel noch kaum angestellt hatte, waren die Entwickler zu dem Schluss gekommen: Das Resultat unserer Versuche ist derart, dass wir keine Bedenken tragen, das Veronal den Klinikern und Aerzten zur Prüfung seines therapeutischen Werthes bei Schlaflosigkeit zu übergeben.680

Die Markteinführung von Veronal und Medinal verlief ähnlich wie bei den früheren Schlafmitteln. Da es keine staatlichen oder wissenschaftlichen Kontrollinstanzen für neue Medikamente gab, sondern nur eine Reihe relativ unverbindlicher Richtlinien, bemühten sich die Hersteller selbst um Gutachten. Wie die Produzenten von anderen Präparaten im Gesundheitsbereich, die als Massenware auf den Markt kamen, bedienten sie sich der Werbung und richteten diese direkt an die betroffenen Verbraucher. Von der Geheimmittelindustrie („patent medicine“ im englischsprachigen Raum) setzten sie sich aber gezielt ab, indem sie auf die Apothekenpflicht bauten, die es für die Abgabe von einigen, vor allem den starken Arzneimitteln seit den 1870er Jahren gab, und indem sie sich die wissenschaftliche Kompetenz und den Einfluss der Ärzte zunutze machten. Die Firmen schickten neue Produkte an Klinikärzte mit der Bitte um Erprobung und Publikation der Ergebnisse.681 So erschienen auch für Medinal zunächst einige unterstützende klinische Berichte;682 im März 1908 war das Schlafmittel aber bereits nur noch rezeptpflichtig in Apotheken erhältlich. Es gab auch bei den Barbituraten bald erste

679 Zu Baeyer: Friedrich Klemm: Baeyer, Adolf Ritter von, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1 (1953), 534–536. 680 Emil Fischer, Josef von Mering: Ueber eine neue Klasse von Schlafmitteln, in: Therapie der Gegenwart 44 (1903), 97–101, hier 101; Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel, 44–45; Aus einem Jahrhundert Schering-Forschung, 19. Zu Mering: Mering, Joseph Frhr. von, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 405. Zu Fischer: Karl Freudenberg: Fischer, Emil, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5 (1961), 181–182. 681 Wimmer: „Wir haben fast immer was Neues“, 47–48, 74–85, 105 und 327–333. Wie Wimmer die deutsche Geheimmittelindustrie, stellt Thomas Richards die britische „patent medicine“ wegen ihrer professionellen und erfolgreichen Bewerbung als Konsumgüter überzeugend als Wegbereiter für die Kommerzialisierung der Pharmaprodukte heraus (Thomas Richards: The commodity culture of Victorian England. Advertising and spectacle, 1851–1914, London/New York: Verso 1991, hier 168–204). 682 Beispielsweise Ludwig Ebstein: Ueber Erfahrungen mit Medinal, in: Münchner medizinische Wochenschrift 3 (1909), Sonderdruck in: SchA-1292 (Chemische Fabrik auf Actien [vorm. E. Schering] 1899–1909).

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22 Veronal, geschmacklich mit Cacao verbessert, Verpackung, o.J..

Meldungen von Überdosierungen und Selbstmordfällen.683 Auch hatte man bei Veronal den Geschmack offenbar nicht wesentlich verbessern können, so dass Bayer die Tabletten auch mit Kakaogeschmack anbot (Abb. 22) – die Methode, industriell gefertigte Tabletten mit Gelatine zu überziehen, setzte sich erst nach 1945 durch.684 Veronal und Medinal waren Markennamen, die bald zu Alltagsbegriffen wurden.685 Die Pharmafirmen vermarkteten sie, wie schon Sulfonal, mit internationalem Erfolg.686 Medinal, das wie Veronal neben einer ständig wachsenden Zahl weiterer Schlafmittel bis Anfang der 1970er Jahre erhältlich war, bewarb man 1920 noch als „Hypnoticum und Sedativum“:

683 „Apotheker Zeitung, Nr. 67 vom 19. Aug. 1908“, ein Bericht von einem Selbstmord wird mit dem Hinweis auf die Rezeptpflichtigkeit ergänzt (BAL 166/8 [Veronal]). Einen Überblick über die Vergiftungsfälle liefert: Ernst Steinitz: Zur Symptomatologie, Prognose und Therapie der akuten Veronalvergiftungen, in: Therapie der Gegenwart 1908, 203–210. Die Vorteile und Nebenwirkungen der gängigen Anästhetika (wie Äther oder Kokain), Schmerzmittel (wie Morphium), Sedativa (wie Bromsalze, Cannabis, Baldrian) und Hypnotika (Schlafmittel wie Chloralhydrat, Paraldehyd, Veronal) stellt weniger negativ ein Pharmakologe zusammen: C. Bachem: Unsere Schlafmittel mit besonderer Berücksichtigung der neueren, Berlin: August Hirschwald 1909. 684 Winau: Von der Apotheke zur pharmazeutischen Großindustrie, 273. Bei der manuellen Herstellung fand Gelatine schon vor der Jahrhundertwende Verwendung. So verabreichte man das übel schmeckende Paraldehyd teils mit Überzug (J. Wilheim: Massage und Heilgymnastik in: Müller [Hg.]: Handbuch der Neurasthenie (1893), 260–303, hier 324). 685 Shorter: Geschichte der Psychiatrie, 306. 686 Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel, 44–50; Shorter: Geschichte der Psychiatrie, 306. Zu Baumann: Friedrich Klemm: Baumann, Eugen, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1 (1953), 651.

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Beliebtes Hypnoticum und Sedativum für innerliche, rektale und subkutane Anwendung. Vorzüge: leichte Wasserlöslichkeit, schnelle Resorption und Ausscheidung, tiefer und erquickender Schlaf, deutliche sedative und schmerzstillende Wirkung.687

Wie die früheren synthetischen Schlafmittel war auch das wiederum brombasierte Bayerprodukt Adalin, das 1909 eingeführt wurde, nicht nur für die Verwendung bei Schlafproblemen gedacht, sondern gleichermaßen als Beruhigungsmittel. Beispielsweise wurde es nach dem Ersten Weltkrieg speziell für die Behandlung von Kriegsneurosen empfohlen: Bei Kriegsneurosen, Angstgefühl, nervösen Aufregungs- u. Depressionszuständen, Transport Verwundeter: Adalin. Geschmackfreies beliebtes Sedativum und Hypnoticum („Einschläferungsmittel“).688

Bayer professionalisierte die Werbung, die die Einführung des Produktes begleitete, soweit, dass positive Forscherstimmen etwa aus der Psychiatrie und der Zahn- oder Kinderheilkunde gezielt integriert wurden (Abb. 23, Abb. 24). Die synthetischen Schlafmittel von Chloralhydrat bis Adalin fanden also je nach Wirkstoffkombination oder Dosierung immer auch als Beruhigungsmittel, also Hypnotika oder Sedativa, vor allem bei der Behandlung Geisteskranker Anwendung und nicht in erster Linie als Schlafmittel. Dazu kam ihre Funktion als Schmerz- oder Betäubungsmittel, also als Anästhetika oder Narkotika. Beispielsweise wurde Veronal in der Verbindung mit Morphium und Alkohol auch für Narkosezwecke eingesetzt.689 Der „künstliche“, von Pharmazeutika hervorgerufene Schlaf sollte aber eigentlich weder der Betäubung noch der Narkose entsprechen: Ärzte und Unternehmen waren gewillt, an die Natürlichkeit des von Chemikalien hervorgerufenen Zustands zu glauben, und beide priesen ihn den Konsumenten als natürlichen Schlaf an. Die Möglichkeiten, die Schlafqualität zu überprüfen, waren noch begrenzt auf Methoden wie die Messung von Schlafdauer und Körperfunktionen sowie Patientenbeobachtung und -gespräche. Die Begrifflichkeiten dessen, was die Schlaf- und Beruhigungsmittel bewirkten, waren noch nicht klar abgegrenzt: 1906 erschien etwa eine Abhandlung über „schmerzlose Operationen“, die den Untertitel „Psychophysik des natürlichen und künstlichen Schlafes“ trug.690 Der Effekt der hypnotischen 687 Münchner Medizinische Wochenschrift 24.12.1920, SchA-S1-022. 688 BAL 166/8 (Adalin). 689 C. Strauch: Zur Technik der Narkose, Zentralblatt für die gesamte Medizin 9 (1907), aus: BAL 1666/8 (Veronal). 690 Carl Ludwig Schleich: Schmerzlose Operationen. Örtliche Betäubung mit indifferenten Flüssigkeiten. Psychophysik des natürlichen und künstlichen Schlafes, Berlin: Julius Springer 1906. Narkose als künstlicher Schlaf findet sich auch bei Nagel: (Kapitel: „Der

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Adalin gegen Kriegsneurosen, Werbematerial, o.J.

Schlafmittel beruhte aber doch vor allem auf Beruhigung und Empfindungsunterdrückung, weniger auf Schmerzunterdrückung.691 Für diese entwickelte man seit den Zeiten von Narkotika, wie Äther oder Chloroform, gesonderte Präparate.692 Für die Entwicklung der Definition des Schlafes bedeutete dies einen Rückschritt. In der Romantik hatte man noch den Schlaf, der von Druck auf das Gehirn verursacht war, und insbesondere den Mesmerismus, den Scheintod oder künstliche Schlaf“: 20–21), die allerdings 1872 noch vor allem mit Opiaten erzeugt wurde. 691 Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel, 4–9. 692 Shorter: Geschichte der Psychiatrie, 300. Zur Geschichte der Narkotika: Rolf Winau: Narkose, in: Ders.: Technik und Medizin, 52–65.

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Schlafmittelwerbung, die positive Reaktionen aus der Forschung und Praxis heranzieht, o.J.

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andere „widernatürliche Erscheinungen“ als Gegensatz zum natürlichen Schlaf bezeichnet und diese Phänomene definitorisch vom Schlaf abgegrenzt.693 In der Begeisterung über die Möglichkeit, etwas, das augenscheinlich ein Schlafzustand war, mit naturwissenschaftlicher, genauer, chemischer, Hilfe hervorrufen zu können, lösten sich die Bemühungen um eine Schlafdefinition in diesem Diskursstrang viel mehr als in der – ebenfalls positivistischen – Ermüdungsund Schlafstoffforschung auf. Sobald die Begeisterung für ein neues Schlafmittel nachgelassen hatte, ließen sich die Schlaflosen offenbar wieder bereitwillig auf das Versprechen eines neuen Produktes, die Nachtruhe sei in Pillenform erwerbbar, ein. Man hoffte mit den Forschern und Fabrikanten auf ein Heilmittel gegen das Leiden. Neben den Nervenkranken und Schlaflosen aus bürgerlichen Schichten war die zweite größere Gruppe derer, die regelmäßig Hypnotika zu sich nahmen, obwohl sie nicht unbedingt über die finanziellen Mittel dazu verfügten, die Insassen von Irrenhäusern, die die Wirkstoffe nicht selten ohne ihr Wissen verabreicht bekamen.694 Zwar warnten auch Psychiater vor dem Missbrauch der Schlafmittel.695 Dass mit chemischen Schlafmitteln nicht die Ursachen, sondern – wenn überhaupt – die Symptome von Krankheiten behandelbar waren, war vielen Klinikern durchaus klar. Auch die psychische Komponente der Wirksamkeit von Schlafmitteln war bekannt – Amburger, der 1872 das Bromkalium kritisierte, verabreichte manchen Patienten erfolgreich wirkstofffreie Substanzen.696 Die Kritik an den Schlafmitteln kam aber überwiegend von Allgemein- oder Kurärzten, die dem künstlichen Schlaf den natürlichen Schlaf, wie ihn die Diätetikregeln versprachen, gegenüberstellten. Argumentiert wurde aus verschiedenen Blickwinkeln, wobei meist die Gefahr der Abhängigkeit von Schlafmitteln, die Gesundheitsgefährdung durch die Nebenwirkungen, vor allem Vergiftungserscheinungen, und die Künstlichkeit des mit Schlafmitteln erzeugten Schlafs hervorgehoben wurden.

693 Consbruch z. B. bezeichnete in seinem Diätetischen Taschenbuch (1803, 293) als widernatürlichen Schlaf denjenigen, der von Narkotika, also den um 1800 verfügbaren Schlafmitteln, oder von Hirndruck ausgelöst werde (die Nervenkraft könne sich dann nicht bewegen) – oder von Langeweile. 694 Sogenannte Irrenhäuser gab es in Deutschland seit dem Ende der Aufklärung. Sie waren aus den Zucht- und Tollhäusern hervorgegangen (Schott, Tölle: Geschichte der Psychiatrie, 236–242). 695 Etwa Auerbach: Die Behandlung der nervösen Schlaflosigkeit (1921), 21. 696 Amburger: Zur Kritik der schlafmachenden Wirkung des Bromkaliums (1872); Goder: Zur Einführung synthetischer Schlafmittel, 16.

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Selten war die Kritik so pauschal und deutlich wie im Falle eines Naturarztes, wie er sich selbst betitelte, der der „Schädlichkeit der Schlafmittel“ 1896 ein eigenes Kapitel in seiner Schlafdiätetik widmete: In neuerer Zeit sind von der chemischen Industrie eine große Anzahl von Schlafmitteln auf den Markt gebracht worden, welche sämtlich vom Standpunkte der Naturheilmethode verworfen werden müssen.

Die größte Gefahr lag für ihn in der Abhängigkeit; aber auch im Einzelfalle „erquicke“ der künstliche Schlaf nicht, sondern schwäche. Chloralhydrat, Bromkalium, Sulfonal, Paraldehyd und eine Reihe weiterer populärer Schlafmittel verurteilte er als „gefährliche Nervengifte“, woraus der Appell zu folgern war: „Fort mit allen Schlafmitteln!“697 Der Schlafdiätetiker Kühner argumentierte etwas abstrakter: Es giebt kaum etwas Bedenklicheres in der Medizin, als das zeitliche Zusammentreffen zweier Tatsachen (post hoc) ohne weiteres ursächlich (proper hoc) verwerten zu wollen. Dieser Fehler [...] ist bei der Empfehlung der Mittel meist ganz übersehen worden. Man betrachtet das Schlafmittel als Ursache, den Schlaf als Wirkung, ohne zu berücksichtigen, daß die Natur dazwischen greift, die auch Schlaf oder Schlaflosigkeit schafft.698

Oft lehnte man die chemischen Schlafmittel, genau wie zuvor die Opiate, aber nicht prinzipiell ab. Im Falle individueller Unverträglichkeit oder über einen längeren Zeitraum, so die ärztliche Empfehlung, sollten sie jedoch nicht angewendet werden.699 Wie schon früher beim Opium, wurde auch bei den neuen Schlafmitteln zum vernünftigen und ärztlich kontrollierten Gebrauch aufgerufen. Wie auch die Auseinandersetzung um die Schlaflosigkeit im Kontext der Neurastheniedebatte zeigte, hatten die Ärzte bereits Schwierigkeiten mit der Überprüfbarkeit und Glaubwürdigkeit der Patientenaussagen bei Klagen über Schlaflosigkeit. Hier stießen sie nun, was das Problem der Abhängigkeit von Schlafmitteln zeigte, wieder auf klare Grenzen ihrer Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten. Von Patientenseite bedeuteten die Selbstdiagnose der (nervösen) Schlaflosigkeit und die Einnahme der Schlafmittel zweierlei: Einerseits erschienen die Nervenkrankheiten, unter die die Schlaflosigkeit oft gerechnet wurde, immer wieder wie eine körperlich-seelische Abwehrreaktion auf die Anforderungen der modernen Lebenswelt, letztlich gegen den zivilisatorischen Fort697 Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), 29–31. 698 Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel (31896), 38–39. 699 Siehe etwa: Traugott: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung (31913), 78; J. Wilheim: Massage und Heilgymnastik in: Müller (Hg.): Handbuch der Neurasthenie (1893), 260–303, hier 299.

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schritt und das damit verbundene moderne Menschenbild. Die Akzeptanz der neuen Schlafmittel stand anderseits für eine Möglichkeit der Anpassung an die Moderne, den Willen der Menschmaschine zum Funktionieren mit modernen Hilfsmitteln. Zugleich aber entzog man sich teilweise der ärztlich-professionellen Kontrolle des eigenen Körpers – durch Selbstdiagnosen und Missbrauch. Einigkeit bestand darin, dass die synthetischen Schlafmittel nicht alleine zum (individuellen) Sieg gegen die Schlaflosigkeit verhelfen würden. Daher bemühte man erneut oder weiterhin die traditionelle Schlafdiätetik, die um neue, dem modernen Leben und seinen Folgen für das Nervensystem angepasste Elemente erweitert wurde. 3.4. Natürlicher Schlaf für alle? Das Fortbestehen der Schlafdiätetik

Die Naturheilkunde war eine überwiegend von Laien getragene Bewegung, die sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts herauszuformen begann und ihren Höhepunkt um 1900 erlebte. Sie verstand sich als Reaktion auf die soziokulturellen Veränderungen, die das 19. Jahrhundert unter anderem in Form der Urbanisierung und der Vernaturwissenschaftlichung des menschlichen Lebens mit sich brachte. Zu einer Zeit, als Helmholtz, Du Bois-Reymond und andere die Idee der Lebenskraft zu Grabe trugen und Ärzte zunehmend lokalpathologisch dachten und therapierten,700 stellten die Lebensreformer, in deren Kontext die Naturheilkunde eingeordnet wird, auf vitalistischer und holistischer Grundlage den Anforderungen an den modernen Menschen die bewusste, selbstverantwortliche „Hinwendung zu naturgemäßen Lebensformen und angeblich naturgesetzlichen Verhaltens-, Nahrungs- und Medikationsweisen“701 entgegen. Wie die jüngere Forschung hervorhebt, ging es der Lebensreformbewegung dabei trotz ihrer Orientierung am Menschenbild Rousseaus und einer generell zivilisationskritischen Haltung keineswegs darum, sich dem Fortschritt der Industriegesellschaft entgegenzustellen. Im Gegenteil verstand sie sich darin als fortschrittlich, dass sie Strategien bereitstellen wollte, das Wohlbefinden des Menschen und die Entwicklung seiner Umwelt in Einklang zu bringen.702 700 Vgl. Kapitel 2.2. 701 Wolfgang R. Krabbe: Lebensreform/Selbstreform, in: Kerbs, Reulecke (Hgg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, 73–75, hier 73. 702 Neben der einschlägigen Forschungsliteratur zu lebensreformerischen Strömungen vertritt auch Thomas Rohkrämer die generelle These, dass es Zivilisationskritikern im Kaiserreich primär um die Gestaltung des Lebens unter den Bedingungen der modernen

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Konkret lehnten die Naturheilkundler die Verwendung von Arzneimitteln ab, auch von traditionellen Arzneien, und kritisierten die junge, noch wenig kontrollierte Pharmaindustrie.703 „Integraler Bestandteil der Naturheilkunde“ war „das an die Tradition der Diätetik und der von Hufeland begründeten Makrobiotik anknüpfende Ziel, durch eine gesundheitsgerechte Lebensführung die körpereigenen Abwehrkräfte umfassend zu stärken.“704 Konzeptionell standen die Lebensreformer und Naturheilkundler der bürgerlichen Gesundheitsbewegung nahe, die vor der Institutionalisierung der öffentlichen Hygiene vor allem mit den Mäßigkeitsvereinen öffentliche Wirkung hatte.705 In Gesundheitsbereichen, in denen die neue naturwissenschaftliche Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenig Erfolge vorweisen konnte, bot die Naturheilkunde erfolgreiche Alternativen zu den Therapien der approbierten Ärzte; zu diesem Bereich zählte die private Hygiene, nachdem „die Schulmedizin [sie] im Zuge ihrer zunehmenden naturwissenschaftlichen Orientierung vernachlässigt hatte“.706 Dass traditionelle Diätetikthemen wie der Schlaf nicht von der naturwissenschaftlich orientierten Medizin vereinnahmt wurden, lag allerdings weniger an der Struktur der ärztlichen Versorgung oder der jeweiligen Akzeptanz naturwissenschaftlicher oder traditionalistischer Ansätze. Die nachhaltige Verortung des Schlafs im Diätetikdiskurs lag und liegt in der Natur des Phänomens Schlaf selbst begründet. Die traditionelle Diätetikstruktur blieb im Schlafdiskurs durch das 19. Jahrhundert hin bestehen; der ganzheitliche Blick auf den (schlafenden) Menschen wurde nicht erst um die Jahrhundertwende, wie behauptet worden ist, von irrationalen Neo-Vitalisten erstmals seit der Romantik wieder aufgegriffen, sondern hatte durchgehend bestanden.707

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Welt ging (Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn u.a.: Schöningh 1999, hier 344–345). Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik, 450. Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik, 23. Zur Geschichte der Naturheilkunde und der Lebensreform- bzw. Reformhausbewegung: Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik, Wolfgang R. Krabbe: Naturheilbewegung, in: Kerbs, Reulecke (Hgg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, 77–85 und Florentine Fritzen: Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert (Frankfurter Historische Abhandlungen 45), Stuttgart: Steiner 2006. Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik, 39 und 448. Erstere Position deckt sich mit dem Befund Sarasins, der für die deutschsprachige und französische Ratgeberliteratur feststellt, dass die traditionelle Diätetikstruktur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestand, um dann in Einzelelemente zu zerfallen (Reizbare Maschinen, 112). Dies traf wiederum speziell für den Diskurs über den Schlaf, der – auch – ein Diätetikthema bleibt, nur bedingt zu. Letztere Position vertritt Fritzen: Gesünder leben, 283–295.

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Diejenigen Autoren, die dem „künstlichen“ den „natürlichen“ Schlaf entgegenstellten, lassen eine diätetische Gegenströmung zur allgemeinen Verwissenschaftlichung der Medizin und dem Einfluss der neuen Pharmazeutika in der Behandlung der Schlaflosigkeit erkennen. Sie sind zumeist nicht eindeutig als Naturheilkundler zu identifizieren, sondern stehen mit ihrem Schlafverständnis pragmatisch zwischen den beiden Richtungen. Der Schlaf war weder naturwissenschaftlich noch diätetisch zu kontrollieren, eine Vermischung der Therapiemethoden war daher für die Ratgeberliteratur nur konsequent. Der Hygieniker Kühner trifft diese typische Position auf den Punkt, wenn er 1896 rät: Wir sind reich an Schlafmitteln hygienischer Natur und sollten zu der Anwendung schlafmachender Arzneimittel erst greifen, wenn jene diätetischen naturgemäßen Erfahrungsweisen erschöpft sind.708

Über das 19. Jahrhundert hinaus spielte also die Diätetik, in deren traditionellem Muster die künstlichen Schlafmittel als Faktoren extra naturam galten, eine wichtige Rolle im Schlafdiskurs. Naturwissenschaftler forschten zwar inzwischen nach körpereigenen und chemischen Schlafmitteln, und in den entstehenden Arbeitswissenschaften wurde die Ermüdung problematisiert und experimentell untersucht. Die diätetischen Grundlagen blieben aber trotzdem gültig. Als die überlieferten Kriterien des Schlafs gingen sie in die neuen Forschungsansätze ein: Die Unterscheidung des Schlafbedürfnisses nach individueller Konstitution etwa wurde von den Ermüdungsforschern in ihren Graphiken und Statistiken berücksichtigt, und die Hygieniker verwissenschaftlichten die ehemaligen non naturales, wie beispielsweise die Rolle der Luftqualität, auch in Bezug auf den Schlaf. So schrieb der Hygieniker Uffelmann 1881 in seiner populären, innerhalb weniger Jahre ins Französische und Englische übersetzten „privaten und öffentlichen Hygiene des Kindes“: Ein Knabe von 12 Jahren producirt in 9 Stunden Schlafzeit = 135 Liter Kohlensäure; diese zu den 10 Litern addiert, welche in den 20 Cbm. seines Raumes enthalten sind, machen = 145 Liter. Würden letztere sich anhäufen, so enthielte die Binnenluft nach Ablauf jener Zeit = 7/00 Kohlensäure. Sie darf aber höchstens 0,7 0/00 enthalten. Man sieht hieraus, wie nothwendig die gute Ventilation des Schlafzimmers, wie nothwendig aber auch die Steigerung des Luftcubus für das schlafende Kind ist.709

Die Hygiene, auch die private Hygiene, entwickelte sich also inhaltlich weiter, indem sie sich mit den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verband 708 Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel (31896), 28. 709 Uffelmann: Handbuch der privaten und öffentlichen Hygiene des Kindes (1881), 299. Zum Autor: Uffelmann, Julius, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 2, 637.

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oder in der öffentlichen Hygiene aufging und sich damit institutionalisierte: Im 19. Jahrhundert gab es immer mehr staatlich approbierte Ärzte, die im Bereich der öffentlichen Hygiene an Einfluss gewannen.710 Als ab der Jahrhundertmitte der Schlafdiskurs von Chemie und Physik beeinflusst wurde, befand sich daher auch die traditionelle Diätetik in einer Umbruchphase. Die Schlafdiätetik löste sich gleichzeitig aus der romantischen Terminologie und traditionellen vor-naturwissenschaftlichen Mustern. Makrobiotische Argumentationen in Hufelandscher Tradition waren im Schlafdiskurs nach dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts kaum mehr ausschließlich vertretbar; sie wurden von der naturwissenschaftlichen Mikroperspektive, insbesondere der physiologischen Stoffwechselprozesse, verdrängt. 1850 dagegen konnte die Makrobiotik in Schlafratgebern durchaus noch im Vordergrund stehen. Der Mediziner und Botaniker Carl Heinrich Schultz-Schultzenstein etwa ließ seine „Verjüngung des menschlichen Lebens und die Mittel und Wege zu ihrer Kultur“ 1850 erneut auflegen, in der er die „Verjüngung [...] durch den Schlaf“ auf der – romantisch dargestellten – Grundlage des „Gleichgewicht[s] des periodischen Wechsels von Schlaf und Wachen“ betonte. Die Verhaftung in romantischen Denkmustern zeigt sich besonders deutlich in seiner dynamistisch geprägten Beschreibung des Schlafs als „Bildungs- und Mauserprocess“.711 Aber auch von der Romantik nur wenig berührte, den moralischen Prinzipien der Aufklärung verschriebene Diätetikschriften gab es zur Jahrhundertmitte noch. Der Leipziger Gynäkologe Johann Christian Gottfried Jörg, eigentlich Vertreter einer neuen akademischen Disziplin712, veröffentlichte in dieser Tradition um 1850 mehrere Schriften, die „Gesundheitskatechismus“ oder die „Zehn Gebote der Diätetik“ hießen und mehrere Auflagen erzielten. Seine „Zehn Gebote“ waren an den non naturales und sowohl im Aufbau als auch inhaltlich an den Gesundheitskatechismen der Volksaufklärer orientiert; Jörg benutzte in seinen Publikationen sogar das Frage-und-Antwort-Schema dieses

710 Mit Oesterlen und anderen Hygienikern wurde um 1850 die Hygiene zur naturwissenschaftlichen Disziplin, so Bleker: Die Stadt als Krankheitsfaktor, 123. Zur öffentlichen Hygiene siehe Kapitel 2.1. 711 Carl Heinrich Schultz-Schultzenstein: Die Verjüngung des menschlichen Lebens und die Mittel und Wege zu ihrer Kultur. Nach physiologischen Untersuchungen in praktischer Anwendung dargestellt, Berlin: August Hirschwald 21850 (11842), 498–507, 502 und 501. Zum Autor: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 2, 567. 712 Zur Geschichte der Gynäkologie im 19. Jahrhundert: Pierre Muller: Geschichte der Gynäkologie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Richard Toellner: Illustrierte Geschichte der Medizin 3, Augsburg (Weltbild Verlag) 2000, 1277–1323, hier 1282–1309.

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Genres.713 Das erste Gebot lautet: „Du sollst keine andere, als reine atmosphärische Luft einatmen“, dann folgen Anweisungen zum Essen und Trinken und zur Bewegung. Das fünfte Gebot betrifft den Schlaf: „Du sollst nach Bedürfnis schlafen, um deine geschwächten Kräfte wieder herzustellen und deine Gesundheit zu erhalten!“. Darauf folgen die „Ausleerungen“, Sauberkeit, Schutz vor „Witterung“, zuletzt das Befolgen der „natürlichen Entwicklungsstufen im Leben“ und die Wiederherstellung der Gesundheit (Abb. 25).714 Explizit humoralpathologische Elemente aus der traditionellen Schlafdiätetik hielten sich sogar noch länger, vor allem wenn es um pauschale Aussagen zu den Kriterien des Schlafbedürfnisses ging. Der Leipziger Anatom Carl Ernst Bock, der einige populäre Gesundheitsbücher und Aufsätze in der „Gartenlaube“715 veröffentlichte, schrieb 1878 in der 12. Auflage von „Das Buch vom gesunden und kranken Menschen“: Der Schlaf [ist] fürs weibliche Geschlecht ein größeres Bedürfnis, als für das männliche, wie dies auch bei Schwächlichen, Kränklichen, Blutarmen, Greisen, Sanguinikern und Cholerikern der Fall ist.716

Bock war in Hinblick auf die naturwissenschaftlichen Theorien auf der Höhe der Zeit, denn er rezipierte und popularisierte die Sauerstofftheorie des Schlafs (und bezeichnete den Sauerstoff als die „Dampfkraft, die unsere Lebensmaschine

713 Zum Genre der Katechismen im zeitgenössischen Kontext der Popularisierung der Naturwissenschaften: Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt, 112. 714 Zum Autor: Jörg, Johann Christian Gottfried, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 311 und der Artikel von Hans G. Sohni in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10 (1974), 262–263. Die Titel: Zehn Gebote der Diätetik, Leipzig: Brockhaus 1847; Gesundheitskatechismus für die Jugend und für Erwachsene oder Anleitung, gesund, lange und weniger kostspielig zu leben, Leipzig: B. G. Teubner 1850; Die Erziehung des Menschen zur Selbstbeherrschung sowie zur Führung eines gesunden, langen und weniger kostspieligen Lebens, Leipzig: B. G. Teubner 31851 (21850, 41853). 715 U.a. Carl Ernst Bock: Schlaf und Traum. Diätetik des Gehirns, in: Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Jg. 1861, 744–45 (Literaturhinweis bei Messerli: Zeitnutzung). 716 Carl Ernst Bock: Das Buch vom gesunden und kranken Menschen, Leipzig: Ernst Keil 12 1878 (11855), 344; Bock, Karl Ernst, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 66; zu Bock siehe auch: Sarasin: Reizbare Maschinen, 105–106 und 165. Bock steht demnach in Deutschland für die Verbindung von traditioneller Diätetik und physiologischer Wissenschaft. Auch Oesterlen argumentierte humoralpathologisch, wenn er darauf hinwies, dass Phlegmatiker nicht zu viel schlafen sollen: Oesterlen: Handbuch der Hygieine für den Einzelnen sowie für eine Bevölkerung (1851), 717 (Schlaf: 711–22).

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Die zehn Gebote der Diätetik, 1850

treibt“).717 Im populärwissenschaftlichen Bereich hatte wenige Jahre zuvor als Beleg der Wissenschaftlichkeit noch ein randlicher Verweis auf den Stoffwechsel genügt. Die humoralpathologische Typenlehre, die bei Bock hervorsticht, wurde im Schlafdiskurs zur Jahrhundertwende dann von der Rhetorik der Neurastheniedebatte weitestgehend überformt; an die Stelle der Sanguiniker und Choleriker traten damit die Nervenschwachen. Der letzte große Ratgeber vor dem Umbruch in der Schlafdiätetik, der von der Verfügbarkeit von synthetischen Schlafmitteln und von der Schlafstofffor717 Bock: Das Buch vom gesunden und kranken Menschen (121878), 347. Der Autor bezieht sich allerdings auf die Sauerstoffstudien Max von Pettenkofers, nicht auf Preyer. Dies ist auch der Fall bei Ewald Heckers anekdotenreichem Beitrag: Schlaf und Traum, in: Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Jg. 1869, 136–139. Auf Preyer bezieht sich C. Falkenhorst in der Gartenlaube, Jg. 1890 (Der Schlaf, 362–363, 386–387, 414–426, ein in erster Linie unterhaltlich gestalteter Beitrag). Zu Bock und der Gartenlaube als Popularisierer der Sauerstoff-Schlaftheorien siehe auch: Messerli: Zeitnutzung, 211. Den Stoffwechsel als wissenschaftliche Grundlage bemüht: M. J. Schleiden: Schlaf und Traum, in: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Jg. 1862, 375–378.

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schung verursacht wurde, war wohl Klenckes „Familienbuch“ (1864), das er „Physische Lebenskunst“ betitelte und als „Anwendung der Naturgesetze auf den Menschen, und als Resultat der maßgebenden Erfahrung“ verstand. Der Autor beliebter Ratgeber, der auch Hufelands Makrobiotik neu herausgab, argumentierte traditionalistisch und kulturkritisch mit dem makrobiotischen Lebenskraftbegriff.718 Die Nervosität, die bald darauf als die Hauptursache der Schlaflosigkeit galt, ja die Schlaflosigkeit überwiegend zur „nervösen Schlaflosigkeit“ machte, tat er noch ab als modischen „Beschönigungsmantel für mancherlei Trägheit, Bequemlichkeit und Müßiggang“.719 Dies ist wohl als eine zu diesem Zeitpunkt noch mögliche Sozialkritik an der Nervositätsdebatte zu verstehen, die auf die Zustimmung der potentiellen (klein-) bürgerlichen Leserschaft abhob. In seinem Diätetiklexikon von 1881 musste Klencke auf die neuen Schlafmittel eingehen, und sein Standpunkt war deutlich: Man gebrauche und gewöhne sich nie an Schlafmittel; sie führen später zur größeren Schlaflosigkeit durch Abstumpfung und wirkliche krampfhafte Überreizung durch Steigerung der Schlafmittel, die meist heftige Gifte sind.720

Allerdings teilte er den Glauben an das Potential der Schlafmittel insofern, als er im „Chloralschlaf“ mehr Ähnlichkeit mit dem natürlichen Schlaf als im Opiumschlaf oder der Betäubung durch Alkohol sah. Die Gewöhnung an schlafmachende Mittel verurteilte er durchweg als „verwerflich“.721 Mit der Neurastheniedebatte wurde die Schlafdiätetik, wie sich das seit den 1840er Jahren langsam angekündigt hatte, endgültig zur Schlaflosigkeitsdiätetik. Auch wenn es weiterhin um die Optimierung des Schlafens ging, rückte die Problematik der Schlaflosigkeit deutlich in den Vordergrund. Zugleich waren die Publikationen speziell zur Schlaflosigkeit ein Beispiel für eine immer stärkere Ausdifferenzierung der einzelnen Diätetikthemen. So wurden etwa Ernährungsfragen differenzierter diskutiert.722 Der Psychiater und Diätetiker 718 Die Hufelandausgabe erschien 1870 bei Reclam in Leipzig. 719 Hermann Klencke: Die physische Lebenskunst oder praktische Anwendung der Naturwissenschaften auf die Förderung des persönlichen Daseins. Ein Familienbuch, Leipzig: Eduard Kummer 1864, 51, 39, 41 und 61. Zum Autor: Wilhelm Heß: Klencke, Hermann, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 16 (1882), 157–158; Gunter Mann: Führende deutsche Hygieniker des 19. Jahrhunderts. Eine Übersicht, in: Studien zur Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts 3 (1969), 1–16, hier 12–13. 720 Hermann Klencke: Hauslexikon der Gesundheitslehre für Leib und Seele. Ein Familienbuch, 2 Bde. (71880–1881): 2. Theil: L–Z, Leipzig: Eduard Kummer 1881 (Schlaf und Traum: 369–383; Schlaflosigkeit und Schlafmittel: 383–386), 378. 721 Klencke: Hauslexikon der Gesundheitslehre, 386. 722 Mit der Ernährung als Bestandteil der traditionellen Hygiene befassten sich u.a. Bryan S. Turner: The government of the body. Medical regimens and the rationalization of diet,

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Ideler lag falsch, als er 1846 in einem Plädoyer für die traditionelle Diätetik als Grundlage der Medizin noch annahm, das Zeitalter der Entdeckung weiterer Medikamente sei abgeschlossen.723 Die neuen synthetischen Schlafmittel wurden von den Autoren der nächsten Generation, vor allem Nerven- und Kurärzten, in die Therapieansätze integriert: Sie verbanden tradiertes Hygienewissen, wozu gerade auch die Änderung von Gewohnheiten gehörte, für die ein Kuraufenthalt der Impuls sein konnte, mit den neuen Therapiemöglichkeiten.724 Wie schon bei den früheren Schlaflosigkeitsdiätetikern standen zur Jahrhundertwende weiterhin die direkte Schlafumgebung und das richtige Verhalten, die richtigen Gewohnheiten, im Vordergrund.725 Richters Ratschläge von 1824 („Von den Mitteln, sich einen guten Schlaf zu sichern“) stehen für die Inhalte dieser älteren Ratgeber: Sie befassten sich mit der Luft (die im Schlafzimmer rein und richtig temperiert sein sollte; dazu kommt die Bewegung an der frischen Luft als schlafförderndes Mittel), dem Essen, Trinken und Tabakgenuss (die am Abend nicht zu reichlich ausfallen dürfen; Warnung vor Missbrauch von Tee und Kaffee), den Ausleerungen, der Beschäftigung vor dem Einschlafen (ruhige Stimmung; Denken an gleichgültige Gegenstände, die „reich an Nebenvorstellungen sind“ oder monotone Geräusche)726, der Lage im Bett (nicht ganz flach), Nachtkleidung (nicht zu warm und zu eng), die Lage und Einrichtung des Schlafzimmers (trocken, kühl, ruhig), die Beschaffenheit des Bettes (Rosshaar statt Federn; separate Schlafstatt), Arzneimittel (etwa Abführmittel und Opium). Diese typischen Anweisungen, wie sie schon von Hufeland bekannt

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in: British Journal of Sociology 33.2 (1982), 254–269 (ein knapper, an der Theorie der Medikalisierung orientierter Einblick in das neuzeitliche England). James C. Whorton thematisierte das Problem der Verstopfung, ihre zunehmende Wahrnehmung als Zivilisationskrankheit und die damit verbundenen Theorien, Therapien und Naturheilmittel im 19. und 20. Jahrhundert, z.B. der Gesundheitsreformer Graham und Kellogg (Whorton: Inner Hygiene). Schipperges: Heilkunde als Gesundheitslehre, 55. Z.B.: Ludwig Büchner: Das Buch vom langen Leben oder die Lehre von der Dauer und Erhaltung des Lebens, Leipzig: Spohr 1892, zum Schlaf: 237–246. Der Ratgeber ist als Aktualisierung der Hufelandschen Makrobiotik, d.h. um Ergänzung der neuen Naturheilmethoden, angelegt. Synthetische Schlafmittel werden aber auch empfohlen. Zum Autor: Büchner, (Friedrich Karl Christian) Ludwig, in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 92. Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit (1824), Strahl: Ueber Schlaf und Schlaflosigkeit (1834), Fleck: Ueber Schlaf und Traum (1844), Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831). Richter bezieht sich hier auf Kant.

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waren, wurden meist ergänzt um den Hinweis auf die Wirkung warmer Bäder und Fußbäder sowie kalter Waschungen.727 Infolge der Ergebnisse der Ermüdungs- und Schlafstoffforschung, mehr noch der Schlafmittelforschung, einerseits und der Neurastheniedebatte andererseits erweiterte sich das Spektrum der Ratschläge um neue Therapien. Generell konnten für die Schlaflosigkeit alle Neurastheniekuren in Betracht gezogen werden, ging man davon aus, dass es sich um ein Symptom der Nervenschwäche handelte und entsprechend behandelbar, kurierbar war.728 Müllers Handbuch, dessen Beiträge von Kurärzten verfasst wurden, stellte 1893 folgende Möglichkeiten zur Behandlung der Neurasthenie dar: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Massage und Heilgymnastik Die medikamentöse Behandlung Diät-Curen und Diätetik im Allgemeinen Seebäder Klimatische Curen Die hydropathische Behandlung Die balneologische Behandlung Die elektrische Behandlung Die psychische und suggestive Behandlung der Neurasthenie729

Die Therapiemöglichkeiten in den Schlaflosigkeitsratgebern waren zunächst weniger differenziert. Meist wurde die „Hygiene des Schlafes“ der „medikamentöse[n] Behandlung“ gegenübergestellt oder natürliche den künstlichen Mitteln.730 Nach der Jahrhundertwende wurde aber umgehend stärker untergliedert, typischerweise in hygienisch-diätetische Behandlung, klimatische und physikalische Behandlung, psychische und suggestive Behandlung und medikamentöse Behandlung – die in Einzelfällen auch homöopathisch ausfallen konnte.731 So 727 Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit (1824), 89–126. 728 Zur Vorstellung der Heilbarkeit, dargestellt am Fall der Geisteskrankheiten, vgl. Matthias M. Ester: Ruhe – Ordnung – Fleiß. Disziplin, Arbeit und Verhaltenstherapie in der Irrenanstalt des frühen 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), 349–376. 729 Müller (Hg.): Handbuch der Neurasthenie (1893), Kapitel Therapie (Inhaltsverzeichnis). 730 Carl Werner: Schlaflosigkeit und Schlafmittel. Für Laien und Ärzte, Berlin: Hugo Steinitz 2 1892; Joseph Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen, Berlin: Deutscher Verlag 1902. 731 Traugott: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung (31913); vgl. auch Rudolf Heinrich: Beiträge zur Theorie des Schlafes und zur ursächlichen Behandlung der Störungen des Schlafes, München: Verlag der Aerztlichen Rundschau Otto Gmelin 1919; zur Homöopathie im Schlafdiskurs: Adolf Alfred Michaelis: Anweisung, Schlaflosigkeit und krankhaften Schlaf auf homöopathische und hygienisch-diätetische Weise zu heilen, Leipzig-Reudnitz: Michaelis 1894. Die diätetischen Ratschläge des Homöopathen entsprachen im Wesentlichen denen der Allopathen; in Einzelfällen schließt ein Autor wie

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überformten die neuen Nerventherapien die Gliederung der Ratgeber, die damit formal nicht mehr an den sex res non naturales orientiert waren, auch wenn die traditionellen Elemente der Schlafdiätetik im neuen Gewand der Naturheilverfahren, wie sie um die Jahrhundertwende modern waren, weitgehend darin aufgingen.732 Diese waren hauptsächlich: 1. Licht- und Luftkuren (etwa in Seebädern oder alpinen Luftkurorten) und besser belüftete Betten (Metallbetten), 2. Wasseranwendungen (wie Kneippsche Güsse; auch in Sanatorien), 3. Diäten im neuen Sinne der Ernährungssteuerung (wie Vegetarismus) und 4. Bewegung (insbesondere Gymnastik). 5. Desweiteren spielte im Schlaflosigkeitsdiskurs vorübergehend auch die Elektrotherapie als eine weitere „physikalische“ Therapie eine Rolle. 6. Dazu kamen als psychologische Ansätze die Hypnose und andere suggestive Therapien. Licht und Luft (1.), die seit der Antike zu den bestimmenden Faktoren der Gesundheit gehörten, wurden zum Ende des 19. Jahrhunderts, gewissermaßen in Reaktion auf das schmutzige Stadtleben, als Erholungsfaktoren wiederentdeckt und von der Naturheilbewegung und mit der Einrichtung von ärztlich betreuten Licht- und Luftbädern wieder stärker in den Vordergrund gestellt. Die Lichtbehandlung hatte für die Schlaflosigkeitstherapie keine spezielle Bedeutung; vereinzelte Experimente mit dem Einfluss des elektrischen Lichts wurden, ähnlich wie Behandlungen mit Röntgenstrahlen, als Varianten der Elektrotherapie verstanden.733 Die Bewegung im Freien, die schon in den Gesundheitskatechismen gepriesen worden war, bedeutete freilich immer auch intensiveren Kontakt mit dem Sonnenlicht.734 Die Behandlung mit Luft schlug sich in den Ratgebern deutlicher nieder. Sie konnte in den im Bürgertum sehr beliebten Kurorten an der See oder im Gebirge stattfinden, wo gerade auch „Neurasthenische“ und Michaelis die Gabe von synthetischen Schlafmitteln nicht aus. Zur Homöopathie: Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Praktiken von heute, München: C. H. Beck 1996, 179–221. Das Simile-Prinzip und die Praxis der geringen Dosierung mitunter giftiger Substanzen (Samuel Hahnemann, 1791) waren allerdings weiterhin umstritten, u.a. weil die Begriffe und Methoden als romantisch-unwissenschaftlich abgelehnt wurden. 732 Zur Geschichte der Naturheilverfahren: Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin, 115–164; Krabbe (Naturheilbewegung, 77) führt genau diese Therapien (außer den ernährungsbezogenen) als klassischen Kanon der Naturheilkunde auf. 733 Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen (1902), 34. 734 Vgl. Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), 25.

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„Blutarme“, denen die Kurärzte teilweise vom Baden abrieten, Erholung finden sollten.735 Luftkuren konnten auch in den Alltag integriert werden, „sei es in Form von abendlichen Zimmerluftbädern, oder in der von Spaziergängen“.736 In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise Eltern empfohlen, ihre Kleinkinder vor dem Schlafen nackt auf dem Teppich spielen zu lassen.737 Für einige Jahre galt ein neuer Bettentyp als eine Revolution in der Schlafhygiene. Ein typisches Beispiel dafür war das „Steinersche Reformbett“, womit man das lange bekämpfte, stickige Federbett ablösen wollte und das auf der Leipziger Hygieneausstellung von 1892 ausgezeichnet wurde.738 Es ermöglichte durch einen verstellbaren Kopfkeil weiterhin eine leicht erhöhte Kopflage. Die Kombination aus Sprungfedern und einer Matratze aus Rosshaar und waschbaren Materialien sorgte für eine bessere Luftzirkulation. Federn waren höchstens noch für eine dünne, im Winter einziehbare Oberdecke vorgesehen – die „hygienisch vollkommene Lagerstätte [...] bewahrte“ vor „Ueberhitzung und Verweichlichung“.739 1902 pries ein Ratgeberautor das Reformbett als Umsetzung des Luftkurprinzips: Wenn schon ein kurzes Luftbad [...] vor dem Niederlegen auf den Schlaf günstig einwirkt, so muß [...] ein Bett, das uns während der ganzen Nacht ein Luftbad gewährt, naturgemäß ein noch besseres Verfahren gegen Schlaflosigkeit sein.740

Sprungfedermatratzen und Metallgestellbetten gab es schon seit einigen Jahrzehnten; das Steinersche Reformbett (Abb. 26) steht auch für neue Vermark735 736 737 738

Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen (1902), 27. Traugott: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung (31913), 70. Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen (1902), 25. Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel (31896), 17–18. Zur Ausstellung: Internationale Ausstellung für das Rote Kreuz, Armeebedarf, Hygiene, Volksernährung und Kochkunst. Krystall-Palast zu Leipzig, Februar 1892, Officieller Katalog, Leipzig: Rudolf Mosse [1892], hier 37: In der Gruppe III. Hygiene stellte u.a. die sächsische Firma M. Steiner & Sohn aus: „Ein Steiner´s Reformbett aus Tricot mit Wolle und Rosshaar und drei Reformsteppdecken aus Tricot, Wollatlas und Seidenatlas.“ 739 Illustrirte Zeitung Nr. 2540, 5.3. 1892: Rückblick auf die Internationale Ausstellung für das Rothe Kreuz, Armeebedarf, Hygiene, Volksernährung und Kochkunst im Krystallpalast zu Leipzig 1892. Spezialbericht des Bureaus für Internationale Publicationen (Rudolph Pietzcker), 260–262, hier 260. 740 Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen (1902), 24. Das Reformbett ist abgebildet in Anna Fischer-Dückelmann: Die Frau als Hausärztin. Ein ärztliches Nachschlagebuch für die Frau, vermehrte und verbesserte Jubiläums-PrachtAusgabe, Stuttgart: Süddeutsches Verlags-Institut [1910], 159; hier findet sich auch ein Plädoyer für das allmählich üblich werdende horizontale Schlafen hier zugunsten einer gleichmäßigen Blutverteilung zwischen Kopf und Unterleib. Zur Geschichte der Lichtund Luftbäder: Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik, 194–207.

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Steinersches Reformbett, um 1900

tungsstrategien im Gesundheitsbereich, die sich also, was den Schlaf betrifft, nicht auf Heilmittel aus dem Pharmaziebereich oder kurmäßige Anwendungen beschränkten, sondern mit dem Bettgestell das wesentliche Alltagsobjekt des Schlafens erfassten.741 Im Kampf gegen die „Grundkrankheiten“ der Schlaflosigkeit, die Nervenoder Gehirnleiden, galten die Wasserkuren (2.) zumeist als noch effektiver als die Luft- und Bewegungstherapien.742 Die Hydrotherapie, die im 18. Jahrhundert schon populär gewesen war, gab es in institutionalisierter Form seit den 1830er Jahren.743 Man unterschied sie in balneologische Verfahren, also Trink- und Badekuren in Heilbädern, die wiederum oft eine jahrhundertealte Tradition als Thermalquellen hatten, und in die Wasserheilkunde. Darunter verstand man physikalische Wasseranwendungen, wie Bäder, Waschungen, Duschen oder feuchte Wickel. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren sie mit der gesellschaftlichen Bewegung der Naturheilkunde verbunden, 741 Die einschlägige Sachkulturforschung hat leider bislang keine exaktere Datierung ermittelt. Eder Matt verortet das Metallgestellbett zeitlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Eder Matt: Wie sie sich betten, 18–19. In ländlichen Regionen wie Westfalen waren Sprungfedermatratzen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts erhältlich, aber nicht verbreitet (Kuprian: Buntkartiert und blütenweiß, 91). 742 Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), 14. 743 Bergdolt: Leib und Seele, 287.

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die beispielsweise die Prinzipien des Pfarrers Sebastian Kneipp verwirklichte. Hufeland hatte die Wasseranwendungen noch gutgeheißen, aber während des 19. Jahrhunderts wurden sie lange als unwissenschaftlich belächelt. Zum Ende des Jahrhunderts befassten sich zunehmend auch Schulmediziner mit den Wasserkuren; 1891 gab es immerhin 131 deutsche Naturheil- und Badeanstalten.744 Die Empfehlungen zur Wassertherapie der Schlaflosigkeit waren im Einzelnen teilweise widersprüchlich. Übereinstimmend galt jedoch die Mäßigkeit in der Anwendung, denn zu lange Sitz- Fuß- und Vollbäder, zu kaltes oder zu heißes Wasser bei Duschen, Abwaschungen und Wickeln erwiesen sich, zumal abends, nicht als beruhigend: „Hitze und Kälte reizen, Mitteltemperaturen beruhigen, Ueberreiz schwächt, Beruhigung stärkt.“745 Die traditionelle Diätetik hinterließ dabei in den Ratgebern zur Jahrhundertwende noch deutliche Spuren: Die Temperatur des Bades sollte der Blutfülle, der Konstitution, der Gewöhnung des Patienten angepaßt sein und etwa zwischen 23–27° R. liegen; gewöhnlich werden sie für die Dauer von ½ -1 Stunde verordnet; bei Blutandrang zum Gehirn gebe man kalte Kompressen auf den Kopf.746

Die Ernährung (3.) hatte im Schlafdiskurs schon im Kontext der Spirituslehre eine Rolle gespielt; auch wurde prinzipiell von zu schwerem Essen und Trinken kurz vor dem Schlafengehen abgeraten. Im Kontext der nervösen Schlaflosigkeit wurde neben anderen Verhaltensweisen nun die Diät der Betroffenen hinterfragt. In Ratgebern, wie der „Nahrungsordnung bei Schlaflosigkeit und anderen Nervenstörungen“747, und in Sanatorien versuchten Kurärzte, „Erschöpfungsneurotiker“, „Bleichsüchtige“ und andere Zivilisationsgeschädigte nicht nur mit Arzneimitteln und physikalischen Kuren und Verhaltensänderungen zu therapieren, sondern auch – auf der Grundlage der gerade entstehenden Ernährungswissenschaften und dem wachsenden (populären) Wissen über Stoffwechselvorgänge – richtig zu ernähren. Man wollte daher den gestörten Schlaf 744 Jütte: Geschichte der alternativen Medizin, 115–135. Zur Geschichte der Kurorte: Burkhard Fuhs: Mondäne Orte einer vornehmen Gesellschaft. Kultur und Geschichte der Kurstädte 1700–1900, Hildesheim u.a.: Olms 1992; Michael Matheus (Hg.): Badeorte und Bäderreisen in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Stuttgart: Steiner 2001; Vladimír Křížek: Kulturgeschichte des Heilbades, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1990. 745 Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), 19. 746 Carl Werner: Schlaflosigkeit und Schlafmittel (21892), 42; vgl. Traugott: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung (31913), 68–69, der Neurasthenikern das Schwimmen in kaltem Wasser nahe legte. 747 Felix Oefele: Nahrungsordnung bei Schlaflosigkeit und anderen Nervenstörungen, Bonn: Selbstverlag 1900.

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unter anderem mit abendlicher, weniger anregender und weniger nahrhafter „Vegetarianer-Nahrung“ verbessern. Verschiedene Regeln in der Zubereitung nach dem Gehalt der Lebensmittel an Kohlehydraten, Eiweiß und Fett, vermindertes Würzen, das Zerkleinern von Speisen zur „Arbeitsersparung der Kauwerkzeuge“, kleinere Portionen oder die Unterbindung von Tischgesprächen durch „Tafelmusik“ prägten bald die Vorstellungen von Sanatoriumsdiäten.748 Als schlafmachende Lebensmittel galten, gerade auch außerhalb des Anstaltskontextes, in erster Linie Milchprodukte – nach Preyers Milchsäuretheorie – und Alkohol, gelegentlich auch warmes oder kaltes Wasser, Suppen oder Schokolade.749 Von naturheilkundlicher Seite hieß es 1896: „Die Milchsäure ist [...] als das einzige unschädliche Schlafmittel bei der Behandlung der Schlaflosigkeit zu bezeichnen.“750 Die Wirkung von Joghurt, Dickmilch und anderen Sauermilchprodukten war aber umstritten.751 Milch mit Rum oder Cognac gemischt wirkte etwas zuverlässiger.752 Der Alkohol, vor dem oft im gleichen Atemzug wie dem Opium und dem anregenden Tee und Kaffee gewarnt wurde, galt in manchen Fällen, nämlich bei den besonders Erfolgversprechenden, als indiziert: Namentlich die Schlaflosigkeit junger blutleerer Damen kann oft allein durch den vorsichtigen Genus einer oder zweier Flaschen schweren bayerischen Bieres vollkommen beseitigt werden.753 748 Oefele: Nahrungsordnung bei Schlaflosigkeit und anderen Nervenstörungen (1900), 18 und 25–29. Schär empfahl die vegetarische Kost speziell bei Kindern und plädierte generell für die „vegetarische Abendkost als Mittelweg“: Otto Schär: Schlafstörungen, Dresden: Holze & Pahl 1913, 49–55. Schär war Kurarzt in der Schweiz. 749 Z.B. Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), 28 bzw. Flatau: Ueber die nervöse Schlaflosigkeit (1901), 17. 750 Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel (31896), 41. Siehe auch: Michaelis (Anweisung, Schlaflosigkeit und krankhaften Schlaf auf homöopathische und hygienischdiätetische Weise zu heilen [1894], 31–32). 751 Schär: Schlafstörungen (1913), 21 stellte eine Wirkung von Joghurt oder von Milchsäure in Zuckerwasser fest; Carl Werner: Schlaflosigkeit und Schlafmittel (21892), 49, meinte, saure Milch werde „fast gar nicht mehr verordnet, es wird auch unter den eigentlichen Schlafmitteln kaum aufgeführt, und dieses ist wohl der beste Beweis dafür, dass es sich als spezifisches Schlafmittel nicht bewährt hat.“ Oefele: Nahrungsordnung bei Schlaflosigkeit und anderen Nervenstörungen (1900), 21–22, hält Milch für beruhigend, was man ja von Säuglingen kenne, seine Patienten legten aber wegen Überdrusses oft Unwillen an den Tag. 752 Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), 28. 753 Carl Werner: Schlaflosigkeit und Schlafmittel (21892), 48. Der Autor war Arzt in Bad Neuenahr. Bei der Diskussion von Wein und Bier schlugen oft die persönlichen Vorlieben der Autoren durch, z.B. bei Michaelis (Anweisung, Schlaflosigkeit und krankhaften Schlaf

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Bewegung (4.), ein Topos in den Gesundheitskatechismen, wurde für viele Stadtbewohner zur bewusst vorgenommenen Leibesübung in Form von Sport und Gymnastik.754 Der Erfahrungswert der Ermüdung und des erquickenden Schlafs nach maßvoller körperlicher Betätigung fand seine wissenschaftliche Bestätigung in der Theorie der Ermüdungsstoffe.755 Den nervösen Schlaflosen wurden, gerade im Sanatorium, außerdem Massagen nahegelegt, deren Wirkung als teilweise suggestiv dargestellt wurde: Das „Bewegen und Streicheln des Körpers“ fanden manche Ärzte ähnlich wirkungsvoll wie die bloße Vorstellung desselben.756 Die Elektrotherapie (5.) war aufs Engste mit dem Neurastheniekonzept verbunden, da die Nervenschwäche mit einer elektrophysiologischen Überreizung der Nerven erklärt wurde. Um die Jahrhundertwende waren die gebräuchlichsten Formen die Galvanisation und die Faradisation. Sie fanden auch in der Schlaflosigkeitstherapie Anwendung, die ja zumeist Nerventherapie war: Den galvanischen Strom kann man in der Form der „Galvanisation durch den Kopf“ und der „Galvanisation am Halse“ einwirken lassen. Die erste Applikationsform: Anode an der Stirn, Kathode im Nacken, Stromstärke einhalb bis eineinhalb Milliampère, Dauer der Sitzung drei bis fünf Minuten, erzeugt bei vielen Personen direkt Ermüdungsgefühl und Schlafbedürfnis. Von eklatantem Erfolge ist in manchen Fällen, besonders da, wo es sich um blutarme, muskelschwache, an neurasthenischem Halbschlafe leidende Personen handelt, die Einwirkung des faradischen Stromes in der Form der „allgemeinen Faradisation“.757

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auf homöopathische und hygienisch-diätetische Weise zu heilen [1894], 32) oder bei Oefele: Nahrungsordnung bei Schlaflosigkeit und anderen Nervenstörungen (1900), 20–21, für den das, was in Norddeutschland „bayerisches Bier“ hieße, „für jeden bayrischen Gaumen schon mehr ein Folterwerkzeug ist“. Fleck (Ueber Schlaf und Traum [1844], 103) spricht sich im Gegensatz dazu pauschal gegen „die Gewohnheit, täglich viele starke und schwere Biere zu geniessen“ aus. Die Argumente gegen Alkohol fielen sehr unterschiedlich aus, z.B. erklärte Röver (Ueber Gesundheit und Wohlanständigkeit [1803], 86): Branntwein „verhärtet die Speisen im Magen und macht den Körper unnatürlich warm.“ Z.B. Daniel Gottlieb Moritz Schreber: Ärztliche Zimmergymnastik oder System der ohne Gerät und Beistand überall ausführbaren heilgymnastischen Freiübungen als Mittel der Gesundheit und Lebenstüchtigkeit für beide Geschlechter und jedes Alter, Leipzig: Friedrich Fleischer 281902. Vgl. Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen (1902), 29; Carl Werner: Schlaflosigkeit und Schlafmittel (21892), 40–41. Vgl. Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), 26; Spitta: Die Schlaf-und Traumzustände der menschlichen Seele (21883), 61. Traugott: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung (31913), 70.

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Auch das „galvanische Bad“, elektrische Lichtbäder, Röntgenstrahlenbehandlung und die „vibrierende Krone“, eine französische Apparatur aus Metallstreifen, die man sich auf den Kopf setzte und die eine mechanische Vibration erzeugte, gehörten zu den Therapieexperimenten.758 Gleichzeitig gab es psychotherapeutische Ansätze (6.). Die Psychotherapie wurde um 1900 noch überwiegend als Suggestion aufgefasst: Selbst wenn es der Psychotherapie [„sanfte Zurede“, „kontinuierliche Laute“ etc.] nicht gelingen sollte, den Schlaf direkt zu verschaffen, hat sie trotzdem darin eine Aufgabe, den Kranken Hoffnung und Selbstvertrauen einzuflössen, ferner darin, dass sie ihn nicht allein zu resignieren lernt, sondern ihm gerade dadurch die Mitteln in die Hand gibt, seiner Agrypnie die Stange zu halten und dieselbe mit eigener Kraft nach und nach zu überwinden.759

Der Suggestion wurde in der Schlaflosigkeitstherapie besondere Bedeutung zugemessen. Viele Ärzte misstrauten nämlich den Patienten in deren Selbstdiagnose, so dass sie die erfahrungsgemäß beruhigende Betreuung der Nervösen durch den Fachmann hervorhoben. Die psychischen Effekte der physikalischen Heilmethoden spielten hier genauso eine Rolle wie die ärztliche Autorität: Immer wieder wurde von Fällen berichtet, in denen Patienten in der ersten Nacht der Behandlung ein synthetisches Schlafmittel beispielsweise in Zuckerwasser verabreicht wurde, in den folgenden Nächten nur noch das Zuckerwasser, ohne dass es zu Schlafstörungen gekommen wäre.760 Darüber hinaus galt weiterhin die Kantsche autosuggestive Strategie der Gedankenkontrolle als Einschlafhilfe.761 Das Beten wurde allerdings weiterhin nur selten empfohlen.762 Monotone Geräusche und Bewegungen, Schlaflieder für Kinder, das „Zählen von Eins bis Hundert und zurück oder das Hersagen eines Gedichtes“ waren dagegen gängige Ratschläge.763 Die hypnotische Behandlung, die teilweise aus dem Magne758 Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen (1902), 33–41. 759 S. Laache: Über Schlaf und Schlafstörungen. Ihre Ursachen und ihre Behandlung, Stuttgart: Ferdinand Enke 1913, 48. 760 Z.B. Traugott: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung (31913), 74. 761 Teils wurde, wie bei Schär, (Schlafstörungen [1913], 32–34) darauf explizit Bezug genommen. Kühner zitiert Kant sogar wörtlich: Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel (31896), 22–23. Die Kantsche „Ableitungsmethode“ wurde auch außerhalb des Schlafdiskurses als „ganz ausgezeichnete Seelenarznei“ empfohlen: Friedrich Wilhelm Dock: Gesunde Seele in gesundem Körper. Populär-wissenschaftlicher Vortrag, St. Gallen: F. B. Müller 1887, 43. Richter bezieht sich darauf in seinem Kapitel „Einige Mittel zur Beförderung des Einschlafens“ (Richter: Der unregelmäßige Schlaf und die Schlaflosigkeit [1824], 89). 762 So etwa bei Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831), 56. 763 Spitta: Die Schlaf- und Traumzustände der menschlichen Seele (21883), 64; Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen (1902), 29. Michaelis: Anwei-

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tismus entwickelt worden war und als ein Vorläufer der späteren psychotherapeutischen Behandlung gilt, wurde sicherlich mehr diskutiert als praktiziert; die Beurteilungen fielen sehr unterschiedlich aus.764 Die Behandlung der Schlaflosigkeit sah weniger das Versetzen in die Hypnose, das bei Nervösen ohnehin als schwierig galt, anstelle des Einschlafens vor, sondern vielmehr die aktive Suggestion des leichten Einschlafens zu einem späteren Zeitpunkt.765 Das Phänomen der Schlaflosigkeit, wie es wissenschaftlich und gesellschaftlich im Kontext der Neurastheniedebatte problematisiert wurde, war für die Forschung noch weniger greifbar als der Schlaf, zu dessen Erklärung zeitgleich wenigstens einige neue Theorien um verschiedene Schlafstoffe und Beobachtungen im Rahmen der Ermüdungsforschung zu verzeichnen waren. Deshalb wurde der Diskurs der traditionellen privaten Hygiene im naturwissenschaftlichen Zeitalter weitergeführt. Oft erschien er im neuen Gewand der teils im Ruf der Vor- oder Halbwissenschaftlichkeit stehenden Naturheilverfahren, die natürlichen im Gegensatz zum künstlichen Schlaf versprachen.766 3.5. Resümee: Schlaflosigkeit – ein bürgerlicher Diskurs

Die Geschichte der Problematisierung des Schlafs stellt die zunächst widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Antimodernismus und kaum gebremstem Fortschrittsoptimismus der kulturkritischen bürgerlichen Gesellschaft im nervösen Zeitalter heraus. Schlaflosigkeit wurde nun als Symptom, teils auch als Mitverursacher der Nervenschwäche als Zivilisationskrankheit beklagt – und zugleich zum durchaus auch positiv besetzten Distinktionsmerkmal des modernen Menschen; zur Abhilfe gegen Schlafprobleme konkurrierten neue chemisung, Schlaflosigkeit und krankhaften Schlaf auf homöopathische und hygienisch-diätetische Weise zu heilen (1894), 36. Das „Schäfchenzählen“ kommt dagegen überhaupt nicht vor. 764 Ablehnend z.B.: Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen (1902), 40; positiver: Siemerling: Schlaf und Schlaflosigkeit (1923), 34–37. Zur Geschichte der Hypnose: Shorter: Moderne Leiden, 223–284. Der „Hypnotismus“ war um die Jahrhundertmitte als Heilverfahren entwickelt worden (James Braid). Einen Aufschwung erfuhr er (bzw. die Suggestion) um 1880–1900. Unter anderen praktizierten sie Krafft-Ebing und Kraepelin. 765 Etwa Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel (31896), 42; Traugott: Die nervöse Schlaflosigkeit und ihre Behandlung (31913), 75. 766 Im Schlaflosigkeitsdiskurs zeigte sich auch der Übergang von mesmeristischen Traditionen und Neurologie in die entstehende Psychotherapie bzw. vom neurologischen zum psychologischen Paradigma. Überwiegend galt die Schlaflosigkeit jedoch noch als eine Nervenkrankheit.

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sche Mittel mit altbewährten diätetischen Methoden, die sich dem modernen Leben anpassten. Der Blick auf die Kontinuitäten der Beziehungen zwischen dem Schlafdiskurs und dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Nervenparadigma seit der Aufklärung relativiert die vermeintliche Konjunktur der Schlaflosigkeit um 1900: Wie die anderen Beschwerden, die unter der Bezeichnung Neurasthenie gefasst wurden, waren Schlafprobleme keine neue Erscheinung. Vielleicht wog nur die andauernde Erfolglosigkeit im Kampf gegen die Schlaflosigkeit in einer modernen, technisch-industriellen Welt schwerer. Von der zunehmenden Thematisierung der Schlaflosigkeit kann zudem nicht direkt auf eine tatsächliche Zunahme von Schlafproblemen infolge der Industrialisierung geschlossen werden; eine Studie, die mit medizinhistorischem Problembewusstsein in Bezug auf historische (Selbst-) Diagnosen unter anderem Patientenakten und Egodokumente darauf hin untersuchen müsste, steht noch aus.767 Genauso wenig gibt es bislang eine grundlegende Konsumgeschichte der Medizin in Deutschland. Der Zusammenhang zwischen der Neurasthenie und dem gleichzeitig expandierenden Gesundheitsmarkt ist allerdings festgestellt worden.768 Die Nachfrage nach Schlafmitteln und -kuren war im nervösen Zeitalter in erhöhtem Maß bereits gegeben oder wurde auch geweckt und gefördert. Die Therapien gegen Schlafprobleme, in denen die traditionelle Diätetik im 19. Jahrhundert aufging, waren auf das Bürgertum zugeschnitten. Zwar waren manche Wasseranwendungen beispielsweise auch von jedermann zu Hause durchführbar, aber die Nerven- und Kurärzte verfassten ihre Ratgeber nicht für Erholungsbedürftige aus den Unterschichten, sondern für potentielle Patienten ihrer Nervenheilkliniken und Sanatorien. Wie schon in der Aufklärung, war über den Kontext der Neurastheniedebatte hinaus die bürgerlich Schicht diejenige Gruppe, die den Hygienediskurs im 19. Jahrhundert weiterhin bestimmte. Meist verstand sich von selbst, wer die Adressaten waren; nur selten wurden sie so deutlich benannt wie bei Jörg, der seinen Diätetikdekalog an „alle in der bürgerliche[n] Gesellschaft lebende[n]“ richtete.769 Ausnahmen waren die Volksaufklärung (bis um 1800) und die öffentliche Hygiene (Schwerpunkt 1840/50-1880/90), deren Adressaten, wenn auch nicht die Autoren, nicht nur den Obrigkeiten und den Sozialpolitikern, sondern insbesondere auch den Unterschichten angehörten oder wenigstens angehören sollten.770 767 Ein historisch-kritischer Zugang ist erforderlich, um retrospektive Diagnosen zu vermeiden. 768 Hofer: Nervenschwäche und Krieg, 151–157. 769 Jörg: Zehn Gebote der Diätetik (1847), 140. 770 Zur Leserschaft: Sarasin: 147–172. Sarasin untersucht hier v.a. Frankreich und stellt heraus, dass Mitte des 19. Jahrhunderts die Hygieneschriften deutlich billiger wurden (154).

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Die Bürgerlichkeit gerade des Schlaflosigkeitsdiskurses zeigt sich besonders deutlich am Fortbestehen und erneuten Aufleben des Gelehrtentopos, des Diskurs-Versatzstückes des nächtlichen Studierens auf Kosten der Gesundheit, der schon in der Aufklärung für die distinktive und selbstreflexive Bürgerlichkeit des Schlafdiskurses gestanden hatte.771 Das Bürgertum hatte inzwischen eine andere Gestalt, denn zu den Bildungsbürgern kamen im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr Geschäftsleute und bessergestellte, wirtschaftsbürgerliche „Großstädter“.772 Auch sie waren es jetzt, deren Nerven nach eigenem Bekunden unter der Moderne besonders litten: Ueberhaupt ist das Maß der täglichen Arbeit des Nervensystems größer als früher, besonders jene der Geschäfts- und Finanzleute, der Großindustriellen, Fabrikanten und Großstädter. In Beamten-, Gelehrten- und Journalistenkreisen wird täglich gesündigt gegen die vernünftige Eintheilung von Arbeit und Ruhe, und zwar nicht blos in Betreff der Dauer, sondern auch in der Intensität der Geistesarbeit.773

Dass tatsächlich in jedem einzelnen Ratgeber, der zum Thema Schlaf um die Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre erschien, die Geistesarbeit thematisiert wurde, hatte mehrere Gründe.774 Zum einen wurde die intellektuelle Anstrengung als Nervenarbeit verstanden, und das Nervenparadigma erfuhr im ausgehenden 19. Jahrhundert eine zweite große Konjunktur. Zum anderen konnten die Autoren, die sich ja meist als versierte Praktiker darstellten, hier auf eigene Erfahrung zurückgreifen, die sie zudem mit den Lesern teilten. Mit der Reflexion der eigenen Arbeitsbelastung und der Freiheit, sie gesund oder ungesund zu gestalten, förderten sie – zunehmend implizit – die soziale Abgrenzung der eigenen Schicht zunächst gegenüber dem als untätig geltenden Adel, dann zunehmend gegenüber den – so das Stereotyp – überwiegend körperlich arbeitenden Unterschichten. Zudem war die Kopfarbeit seit Tissot, wo sie bereits 771 Siehe Kapitel 1.4. 772 Vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: Ders., Ute Frevert (Hgg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1, München: dtv 1988, 11–76. 773 Dickmann: Die Schlaflosigkeit, ihr Entstehen, Verhüten und Wesen (1902), 9. 774 Z.B. Fischer: Die Schlaflosigkeit. Ihre Ursachen, Verhütung und naturärztliche Behandlung (1896), 12; Oesterlen: Handbuch der Hygieine für den Einzelnen sowie für eine Bevölkerung (1851), 713; Poeche: Der Schlaf und das Schlafzimmer (1901), 38–40 (nächtliches Studieren); Fischer: Von der Schlaflosigkeit (1831), v.a. 36–37, 53–54. Friedrich Richter widmete dem Thema 1824 einen eigenen Ratgeber: Diätetik für solche Personen, welche bei ihren Geschäften wenig Bewegung haben. Oder wie können Gelehrte, Gerichtspersonen, Regierungs- und Kassenbeamte [...] sich gesund erhalten und vor Krankheiten bewahren, um ein hohes Alter zu erreichen, Quedlinburg/Leipzig: Basse 1824.

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diese Bedeutung hatte, ein rhetorischer Bestandteil des Schlafdiskurses. Wie der Mühlentopos oder die gesundheitlichen und moralischen Gefahren der Federbetten gehörte sie einfach in jeden neuen Ratgeber. Dazu kam, dass die geistige Leistung genau das Problem war, an dem sich die Ermüdungsforschung in den Jahrzehnten um 1900 einigermaßen erfolglos abarbeitete.775 Das machte sie zu einem aktuellen Thema, und hier schienen die Hygieniker ihre Zuständigkeit noch nicht verloren zu haben. In seiner „Allgemeinen Diätetik für Gebildete“ schrieb Ideler 1846: Geistige Anstrengungen, in denen das Nervensysthem vorzugsweise besthätigt ist, erfordern, wahrscheinlich weil die Restauration in letzterem langsamer von Statten geht, eine längere Zeit des Schlafs, als körperliche Arbeit, da die Muskeln allem Anschein nach sich schneller reproduciren. Denn die Landleute brauchen in der Regel nur wenige Stunden inmitten der angreifendsten Arbeiten zu schlafen.776

Diese These wurde in der Literatur so beibehalten, auch wenn die „Landleute“ dafür bald keine Rolle mehr spielten und das Problem der Schlaflosigkeit der Kopfarbeiter in den Vordergrund rückte,777 während man für die „mechanische Arbeit“, eine urbanisierte Form der Unterschichtenarbeit, um 1880 schon erste Aussagen etwa in Bezug auf die Bedeutung der Pausen treffen konnte: Wir haben kein Maaß dafür, wieviele Stunden täglich sich ein gesunder Mensch ohne Nachtheil geistig beschäftigen kann, denn es hängt dies sowohl von der Leistungsfähigkeit der Persönlichkeit, als auch von den übrigen Lebensverhältnissen ab; aber wenn man, wie dies ja gegenwärtig allgemein geschieht, es nicht für zulässig hält, einen Erwachsenen Menschen mehr als 10-11 Stunden (einschließlich der Pausen für die Mahlzeiten) mechanisch arbeiten zu lassen, so darf man gewiß auch dem geistigen Arbeiter nicht mehr zumuten. Eine zu angestrengte und durch zu seltene und zu kurze Ruhepausen unterbrochene Geistesarbeit, wobei die Veränderungen im Gehirn sich niemals vollständig ausgleichen können, muß gewiß als krankmachendes Moment betrachtet werden. Anfangs freilich sind die bleibenden Störungen in der Blutvertheilung des Gehirns und in der Ernährung seines Gewebes sehr unbedeutend und machen sich höchstens durch das Gefühl der Ermüdung und einen dumpfen Kopfschmerz bemerkbar; aber nach und nach gesellt sich dazu Schlaflosigkeit, rasche Ermüdung nach kurzer Arbeitsdauer [und] Abnahme des Gedächtnisses. [...] Es scheint sicher zu sein, daß Hand in Hand mit der Civilisation auch die Zahl der Geisteskranken zunimmt.778

Otto Dornblüth, der Nervenarzt in Frankfurt war, integrierte in seine „Hygiene der geistigen Arbeit“ um 1890 Begriffe aus der Ermüdungsforschung 775 Etwa Kraepelin: Ueber geistige Arbeit (1894). 776 Ideler: Allgemeine Diätetik für Gebildete (1846), 171–172. 777 Etwa Kühner: Schlaf, Schlaflosigkeit und Schlafmittel (31896), 12; Büchner: Das Buch vom langen Leben (1892), v.a. 238 und 247–249. 778 Erismann: Gesundheitslehre für Gebildete aller Stände (1878), 63.

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wie Ablenkbarkeit oder Erholungsfähigkeit, die man für die Kraepelinsche Arbeitskurve zu operationalisieren versucht hatte, sowie die aktuelle Forschungsmeinung, dass 10 Stunden geistiger Arbeit am Tag das Maximum, 8 Stunden realistischer und gesünder seien. Seine Schlafhygiene war durchweg traditionalistisch angelegt und integrierte nur oberflächlich naturheilkundliche Therapien.779 Noch 1927 war die geistige Ermüdung ein ungelöstes Problem der Arbeitswissenschaftler; das distinktive Element hatte sich noch nicht verflüchtigt. Durig konstatierte daher in seinen Ausführungen zur geistigen Ermüdung des Arbeiters, es sei „geradezu [ein] Befähigungsnachweis für den Gelehrten, daß er Nächte und Tage hindurch schlaflos mit den Problemen, die ihn unter Tags beschäftigten, verbracht haben müsse.“780 Ein anderer Anhaltspunkt für die Bürgerlichkeit des Schlaflosigkeitsdiskurses ist seine Voraussetzung einer „grundsätzliche[n] Differenz der Geschlechter in Gestalt biologischer und kultureller Geschlechts-‚Identitäten’“.781 Die Neurastheniedebatte unterstützte die Darstellung unterschiedlicher Schlafbedürfnisse von Männern und Frauen auch in der Schlafhygieneliteratur. Friedrich Wilhelm Dock, der als Kurarzt in St. Gallen praktizierte, schrieb 1887 beispielsweise: Besonders ist es das weibliche Geschlecht, das zu unserer Zeit, wie man sagt, nervös ist, d.h. an einem Zustand leidet, den man empfinden, nicht aber beschreiben kann: Ueberreiztheit im Physischen und Moralischen, die das Leben sich und anderen zur Qual macht.782

Der Diskurs über die Schlaflosigkeit war also in erster Linie ein bürgerlicher Diskurs. Nicht mehr das Joch des Schlafs, der dem Fortschritt der sich modernisierenden Gesellschaft mit ihrer neuen Zeitökonomie im Weg stand, sondern das Joch der Schlaflosigkeit, unter dem die Modernisierer selbst immer mehr zu leiden schienen, rückte zur Jahrhundertwende in das Zentrum des gesellschaftlichen Interesses am Phänomen Schlaf. Die modernen Naturwissenschaften produzierten und verkauften künstlichen, „gewaltsam herbeigeführten“ Schlaf.783 779 Dornblüth: Hygiene der geistigen Arbeit (21907 [11890]), hier 106. Kümmel (Kopfarbeit und Sitzberuf, 62) thematisiert die Selbstreferentialität: „So oft das Thema geistiger Arbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert behandelt wurde, immer wandten sich die ärztlichen Autoren und Gelehrte, Schriftsteller [...] etc., als an die Gebildeten, zu denen sie selbst gehörten.“ Zu Dornblüth: Dornblüth, Otto (Wilhelm Albert Julius), in: Engelhardt (Hg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner, Bd. 1, 134. Poeche (Der Schlaf und das Schlafzimmer [1901], 8) argumentiert gar makrobiotisch. 780 Durig: Die Ermüdung im praktischen Betrieb (1927): „Die geistige Ermüdung des Arbeiters“: 607–611, hier 610. 781 Sarasin: Reizbare Maschinen, v.a. 192–196, hier 193. Zur Vorgeschichte Kapitel 1.4. 782 Dock: Gesunde Seele in gesundem Körper (1887), 15–16. Diesen zitiert auch Sarasin. 783 Nagel: Der natürliche und künstliche Schlaf (1872), 20.

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Die traditionelle Diätetik, die bislang allein über das Wissen um Schlafmittel verfügt hatte, wurde binnen weniger Jahre zur Alternative degradiert – und eröffnete mit einer Reihe von Kuren einen eigenen Markt. Die Position als Alternative zur naturwissenschaftlichen Forschung konnte sich die Diätetik, was den Schlaf betrifft, dauerhaft sichern, denn die menschliche Maschine wollte weiterhin nicht nach den Regeln der Chemie und Physik funktionieren. Der Schlaf und seine Probleme erwiesen sich als nur bedingt kontrollierbare anthropologische Konstanten.

Schluss Der Schlaf und seine Erforschung in der bürgerlichen Gesellschaft der Moderne: einige Thesen

So wie eine Geschichte der Problematisierung des Schlafs nicht ohne Berücksichtigung der Schlaflosigkeit zu schreiben ist, erfordert sie auch einen Zugang, der körperhistorische, also medizin- und wissenschaftsgeschichtliche, mit sozial- und gesellschaftshistorischen Ansätzen verbindet. Im Zeitraum von der Aufklärung bis in die 1920er Jahre verband sich das Reden über den Schlaf – der Schlafdiskurs – mit mehreren breiteren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen. Erkenntnisse darüber, wer in welchem Kontext über die anthropologische Konstante Schlaf gesprochen hat, zeigen, wie und aus welchen Perspektiven im bürgerlichen Zeitalter nicht nur Körperkonzepte, sondern auch das vorherrschende Menschenbild geprägt wurden. Der Schlafdiskurs verdichtete sich dabei mehrfach: 1. als er mit der Aufklärung säkularisiert wurde und als er in der romantischen Naturphilosophie aufging; 2. in der Problematisierung und naturwissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Ermüdung während der Industrialisierung; 3. als Schlaflosigkeitsdiskurs, der am Ende des Untersuchungszeitraums den gesellschaftlichen Schlafdiskurs dominierte. Die Säkularisierung des Schlafes im 17. und 18. Jahrhundert bedeutete, dass er nicht mehr als Joch verstanden wurde, das Gott dem Menschen als Strafe nach dem Sündenfall auferlegt hatte.784 Stattdessen sollte der aufgeklärte, perfektible Mensch Eigenverantwortung für seine Moral wie für seine Gesundheit übernehmen.785 Besonders in den Gesundheitskatechismen der Volksaufklärer wurde das Bild des selbstbestimmten Menschen deutlich, der auch in Bezug 784 Krankheit und Schmerz galten vor der medizinischen Aufklärung ebenfalls als göttliche Strafen, vgl. Bergdolt: Leib und Seele, 228; Achim Barsch: Peter M. Hejl: Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hgg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850– 1914), Frankfurt am Main: suhrkamp 2000, 7–90, hier 62. 785 Zur Schlaflosigkeit schrieb in diesem Zusammenhang Fischer (Von der Schlaflosigkeit [1831], 8): „An dieser Unvollkommenheit [des Menschen und seines Körpers] ist [...] nicht der Schöpfer Schuld, sondern unsere Lebensweise, die Verderbnis der Sitten, eine falsche Richtung, welche die geistige Kultur des Menschengeschlechtes allmählig genommen hat, mit einem Worte: das gesellschaftliche Leben, das den Menschen dem Naturzustande gewaltsam und ganz entrückte, und ihn, bei übrigens höchst ersprießlicher gei-

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auf den Schlaf dem Imperativ der Mäßigung folgte, um seine Lebenskraft zu erhalten. Mediziner-Philosophen verorteten den Schlaf auf der Suche nach seinem Zweck und seiner Ursache in der Interaktion zwischen Leib und Seele. Der antike spiritus animalis, dessen Wiederherstellung im Schlaf angenommen wurde, blieb dafür, wenn auch in veränderter Gestalt („Nervensaft“), die Brückenkonstruktion. Dies änderte sich allmählich um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Anwendung eines neuen wissenschaftlichen Paradigmas, dem Brownianismus, auf den Schlaf. Diese Reizlehre verlagerte die Ursachen von Schlaf und Schlaflosigkeit stärker auf die Umwelteinflüsse, bis dann die Naturphilosophen um 1800 den Schlaf in den Gesamtorganismus der Natur und des Kosmos einbetteten: Der Mensch war für sie bestimmt von den Kräften und Gesetzen der Natur, nicht zuletzt dem Wechsel von Tag und Nacht. Der Schlaf wurde in der Romantik vorübergehend nicht im eigentlichen Sinne problematisiert, sondern problemlos in ein naturphilosophisches System integriert. Den Fortschrittsoptimismus der Aufklärer ließen um die Mitte des 19. Jahrhunderts die naturwissenschaftlichen Forscher – vor allem Physiologen – wieder aufleben. Auch sie glaubten an die Möglichkeit, den Menschen zu vervollkommnen und somit das Joch des Schlafs letztlich abschütteln zu können. Der grundlegende Unterschied in ihrem Menschenbild bestand darin, dass der Weg dazu nicht mehr die moralische Selbstperfektionierung war, sondern eine technische Fremdperfektionierung: Nicht mehr die Kantsche Selbstkontrolle oder die Erziehung nach Rousseauschen Idealen standen im Vordergrund, sondern die technische Beherrschung der Maschine Mensch, deren Körperkraft in rein physikalischen und chemischen Gesetzen erfassbar schien. Ein Beispiel für die Abnahme der Eigenverantwortlichkeit für den Schlaf ist die Ablösung des früheren Faulheitsdiskurses vom Ermüdungsdiskurs.786 Der Glaube an den wissenschaftlichen und wirtschaftlich-gesellschaftlichen Fortschritt wurde unter anderem von den Rückschlägen erschüttert, die die Ermüdungsforschung der Psychophysiker an der Wende zum 20. Jahrhundert erfuhr: Insbesondere die geistige Ermüdung wollte sich nicht wie erhofft vermessen lassen. Dies führte nicht etwa zu einer Rückkehr in die weiterhin als spekulativ verurteilte Naturphilosophie mit ihrem zyklischen Natur- und Menschenbild. Als Bremse im Zeitalter der Beschleunigung ist die Konjunktur der „Nervenerschöpfung“ zu verstehen, in deren Zeichen sich die eigentlichen stiger Ausbildung und Vervollkommnung, auch überreizte und allmählig körperlich zu zerstören bedroht.“ 786 Zur Ablösung des Faulheitsdiskurses: Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, 297.

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Akteure der Modernisierung, die Bildungs- und Wirtschaftsbürger nämlich (und ihre Frauen), gegen die Anforderung wehrten, ihre Körper sollten reibungslos funktionieren. Daher kamen im Schlafdiskurs zusätzlich Nervenärzte und Psychiater ins Spiel, die Therapien gegen die „nervöse Schlaflosigkeit“ entwickelten. Damit erhielt der Schlafdiskurs die um die Mitte des 19. Jahrhunderts vorübergehend eher unbedeutende psychische Dimension zurück. Indem eine wachsende Gruppe von Schlaflosen die Diagnosen ihrer eigenen Empfindlichkeiten als Neurasthenie und die Wahl der pharmazeutischen und naturheilkundlich-diätetischen Therapie mitbestimmten, hatten sie als Patienten beziehungsweise Konsumenten – im Zuge einer gewissen Demokratisierung oder Kommerzialisierung des Schlafs – nun deutlich mehr Einfluss auf das zeitgenössische Körper- und Menschenbild. Vor der Institutionalisierung der Forschung in Schlaflabors wurde der Schlaf nicht nur am Rand verschiedener philosophischer, medizinischer und gesellschaftlicher Debatten aufgegriffen. Die Problematisierung des Schlafs im bürgerlichen Zeitalter trug zur Ausformung des modernen Menschenbildes bei, gerade weil der unvermeidliche Schlaf – oder sein Ausbleiben – Nacht für Nacht quer zu den Ansprüchen des von den Zeitgenossen als rationalisiert wahrgenommenen, modernen Lebens lag. Neben vielen weiteren Konstanten, die sich durch den Schlafdiskurs im langen 19. Jahrhundert verfolgen lassen – vom Mühlentopos über Elemente der antiken Diätetik bis zum Gelehrtentopos und der allgegenwärtigen Modernekritik –, ist die Bezeichnung des Schlafs als „Rätsel“ wissenschaftshistorisch vielleicht am bedeutsamsten.787 Die Historisierung des Phänomens Schlaf muss also nicht zwangsläufig zu einer teleologischen Vor-Geschichte der neurowissenschaftlich dominierten Schlafforschung des 20. Jahrhunderts führen, in deren Verlauf sein Rätsel nach und nach gelüftet worden sei, im Gegenteil. Bemerkenswert aktuell klingt vor diesem Hintergrund weiterhin die vergleichsweise unbekannte vierte Strophe des Abendliedes von Matthias Claudius („Der Mond ist aufgegangen“) von 1779: 787 Anonymus: Gedanken vom Schlafe (1746), 377–378: Der Zweck des Schlafs bestehe darin, „die zum Nachdenken erforderlichen Kräfte wiederum hinreichend zu ersetzen. Es ist nur ein einziges natürliches Mittel hierzu vorhanden, und dieses ist der Schlaf, der, wie ich glaube, allen Weltweisen und Aerzten jederzeit ein unauflößliches Räthsel bleiben wird.“ Vgl. Theodor Zell: Der Schlaf des Menschen auf Grund der Tier-Beobachtung, Hamburg/Berlin: Hoffmann & Campe, 1924, 43: „Die Wissenschaft kann uns [...] die Frage nach dem Wesen des Schlafes nicht in befriedigender Weise beantworten.“ Ideler (Allgemeine Diätetik für Gebildete [1846], 168) nannte ihn ein „heiliges Mysterium der Natur“, vgl. Kapitel 1.3.

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Wir stolze Menschenkinder Sind eitel arme Sünder Und wissen gar nicht viel; Wir spinnen Luftgespinste, Und suchen viele Künste, Und kommen weiter von dem Ziel.788

788 Matthias Claudius: Sämtliche Werke, München: Winkler 71991, 217–218.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Abbildungsnachweis 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.

BAL 166/8 Rothschuh: Konzepte der Medizin, 350 Buchholz: Ueber den Schlaf und die verschiedenen Zustände desselben, 62 Historisches Archiv Krupp, Essen akg-images Eder Matt: Wie sie sich betten, 24 (Zeichnung: Susanne Gisin) Verworn: Schlaf, 907, Original: Kohlschütter: Messungen der Festigkeit des Schlafes, 40–41 Karger: Über den Schlaf des Kindes, 17 Karger: Über den Schlaf des Kindes, 31 Karger: Über den Schlaf des Kindes, 25 Karger: Über den Schlaf des Kindes, 14 Berger: Das Elektrenkephalogramm, 553 Trömner: Das Problem des Schlafes, 30 Mosso: Die Ermüdung, 70 Czerny: Beobachtungen über den Schlaf im Kindesalter, 5 Roos: Studien über den elektrischen Schlaf, 11 Weichardt: Über Ermüdungsstoffe, 25 Lorentz: Über Resultate der modernen Ermüdungsforschung, 22 Mosso: Die Ermüdung, 90 Mosso: Die Ermüdung, 92 Lechner: Die klinischen Formen der Schlaflosigkeit, 19 BAL 166/8 BAL 166/8 BAL 166/8 Jörg: Gesundheitskatechismus, o.S. Anna Fischer-Dückelmann: Die Frau als Hausärztin, München: Süddeutsches Verlags-Institut 1917, 166

IRIS RITZMANN

SORGENKINDER KR ANKE UND BEHINDERTE MÄDCHEN UND JUNGEN IM 18. JAHRHUNDERT

Was geschah im 18. Jahrhundert mit Kindern, wenn sie erkrankten, verunglückten oder an einer Behinderung litten? Der Topos des ungeliebten, vernachlässigten Kindes verstellte lange Zeit den Blick auf die vormoderne Kindheit. Dabei belegen Krankenjournale, elterliche Bittschriften zur Spitalaufnahme ihrer Kinder, Gerichtsakten von Heilerprozessen oder Protokolle frühneuzeitlicher Ärztegremien, dass die Wahrnehmung behinderter und kranker Kinder mehrheitlich von einer starken emotionalen Zuwendung geprägt war. Entsprechend attraktiv war es für Heilkundige, eine breite Palette verschiedener kindermedizinischer Therapien anzubieten. So minimal die therapeutischen Erfolge auch waren, so stark beeindruckt der respektvolle Umgang mit den kleinen Patienten. Der hohe Stellenwert dieser »Sorgenkinder« relativiert nicht nur das historische Bild, sondern gibt zu Fragen Anlass, wo die Kindermedizin heute steht und ob die hohe Beachtung, die Kinder heute finden, wirklich erst in der jüngsten Gegenwart aufkam. 2008. X, 320 S. MIT 40 S/W-ABB. UND 11 GRAFIKEN GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-20149-4

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MICHAEL STOLBERG

DIE HARNSCHAU EINE KULTUR- UND ALLTAGSGESCHICHTE

Die Harnschau war über viele Jahrhunderte das wichtigste Diagnoseverfahren der abendländischen Medizin. Ärzte wie Laien glaubten, man könne fast alle Krankheiten und selbst Schwangerschaften allein durch den Blick auf das gefüllte Harnglas erkennen. Anschaulich und facettenreich beschreibt Michael Stolberg in seinem neuen Buch die theoretischen Grundlagen und die praktische Anwendung der Harnschau im medizinischen Alltag der Vormoderne. Er untersucht die Gründe für das tiefe und beharrliche Vertrauen der Menschen in dieses Verfahren und eröffnet dem Leser faszinierende Einblicke in eine fremd gewordene Welt. „Warum die Uroskopie spätestens im 19. Jahrhundert aus der Schulmedizin verschwand und durch andere Diagnoseverfahren ersetzt wurde, kann man jetzt in dem faszinierenden und vorzüglich bebilderten Buch des Würzburger Medizinhistorikers nachlesen.“ Robert Jütte, Deutsches Ärzteblatt 2009. 285 S. MIT 44 FARB. UND 8 SW-ABB. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20318-4

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