„Das ist mehr als ein Beitrag zur Völkerverständigung“: Zur Geschichte und Rezeption des Völkermordes an den Armeniern 3447106786, 9783447106788

2015 jährte sich zum hundertsten Mal das entscheidende Jahr des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich. Der d

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„Das ist mehr als ein Beitrag zur Völkerverständigung“: Zur Geschichte und Rezeption des Völkermordes an den Armeniern
 3447106786, 9783447106788

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Vorwort (Martin Tamcke)
Der Völkermord an den Armeniern (Raffi Kantian)
Der armenisch-katholische Erzbischof Ignatius Maloyan (1869-1915) Ein Märtyrer, dessen Wirkung noch heute verändernd wirken kann (Martin Tamcke)
Völkermord als Selbstschutz oder Vergeltung? Muslimische Kriegs- und Vertreibungserfahrungen vor dem Ersten Weltkrieg (Tessa Hofmann)
„Umzug und Neuansiedlung“ Gedanken zum Sprachgebrauch osmanischer Quellen zu den Armenier-Massakern im Jahr 1915 (Kai Merten)
Der Krimkrieg (1853–56) und seine Auswirkungen auf die Christen im Osmanischen Reich (Kai Merten)
Eingezwängt zwischen Zivilgesellschaft und Politik Der Völkermord an den Armeniern und die Türkei (Raffi Kantian)
The issue of the Armenian Genocide recognition within the US-Turkish relations from 1950 to 2012 (Areg Galstyan)
Wie Armenier des Genozids im Libanon gedenken (Lukas Reineck)
Der Armeniergenozid und Göttingen (Martin Tamcke)
Die Orient- und Islamkommission und die Armenier (Volker Metzler)
Armenierhilfe zwischen christlicher Solidarität und politischer Instrumentalisierung: Zur Arbeit des „Armenier-Ausschusses“ zwischen OIK und DAG (1917–1918) (Volker Metzler)
Der levantinische Krieg Die islamistische Bedrohung und die Re-definierung politischer Allianzen im Libanon Eine kritische Analyse zur Positionierung interviewter Rum- und Syrisch-Orthodoxer Christen (Christoph Leonhardt)
Trauern um Terroropfer. Synästhetisch-visuelle Praxen der Konstruktion von Märtyrern unter koptisch-orthodoxen Christen in Ägypten (Cordula Weißköppel)

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© 2016, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447106788 # ISBN E-Book: 9783447195812

G Ö T T I N G E R   O R I E N T F O R S C H U N G E N I.  R E I H E:  S Y R I A C A Herausgegeben von Martin Tamcke Band 52

2016

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

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„Das ist mehr als ein Beitrag zur Völkerverständigung“ Zur Geschichte und Rezeption des Völkermordes an den Armeniern Herausgegeben von Martin Tamcke

2016

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the internet at http://dnb.dnb.de.

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Inhalt Vorwort (Martin Tamcke) ....................................................................................

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Der Völkermord an den Armeniern (Raffi Kantian).............................................

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Der armenisch-katholische Erzbischof Ignatius Maloyan (1869-1915) Ein Märtyrer, dessen Wirkung noch heute verändernd wirken kann (Martin Tamcke) ...................................................................................................

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Völkermord als Selbstschutz oder Vergeltung? Muslimische Kriegs- und Vertreibungserfahrungen vor dem Ersten Weltkrieg (Tessa Hofmann) ..............

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„Umzug und Neuansiedlung“ Gedanken zum Sprachgebrauch osmanischer Quellen zu den Armenier-Massakern im Jahr 1915 (Kai Merten) ........................

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Der Krimkrieg (1853–56) und seine Auswirkungen auf die Christen im Osmanischen Reich (Kai Merten) ........................................................................

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Eingezwängt zwischen Zivilgesellschaft und Politik Der Völkermord an den Armeniern und die Türkei (Raffi Kantian) ...........................................................

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The issue of the Armenian Genocide recognition within the US-Turkish relations from 1950 to 2012 (Areg Galstyan) ....................................................... 101 Wie Armenier des Genozids im Libanon gedenken (Lukas Reineck) .................. 115 Der Armeniergenozid und Göttingen (Martin Tamcke) ....................................... 123 Die Orient- und Islamkommission und die Armenier (Volker Metzler)............... 155 Armenierhilfe zwischen christlicher Solidarität und politischer Instrumentalisierung: Zur Arbeit des „Armenier-Ausschusses“ zwischen OIK und DAG (1917–1918) (Volker Metzler)………… ............................................. 173 Der levantinische Krieg Die islamistische Bedrohung und die Re-definierung politischer Allianzen im Libanon Eine kritische Analyse zur Positionierung interviewter Rum- und Syrisch-Orthodoxer Christen (Christoph Leonhardt) ...... 185 Trauern um Terroropfer. Synästhetisch-visuelle Praxen der Konstruktion von Märtyrern unter koptisch-orthodoxen Christen in Ägypten (Cordula Weißköppel) ......................................................................................... 233

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Vorwort Martin Tamcke

Einen Einblick in die Vorgänge rund um den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges 1915 bot eine öffentliche Vortragsreihe an der Universität Göttingen im Sommersemester 2015, der im Wintersemester 2014/15 eine Konferenz in Zusammenarbeit mit der Akademie Hofgeismar und der Deutsch-Armenischen Gesellschaft vorgeschaltet war. Die Konzeption beider Veranstaltungen berücksichtigte auch ausgiebig den parallelen Völkermord an den syrischen Christen (Syrisch-Orthodoxen, Chaldäern, Aramäern, Assyrern, syrischen Katholiken und syrischen Protestanten). Leider sahen sich die Beiträger zum Bereich der Syrer nicht in der Lage, ihre Beiträge für den Sammelband fristgerecht einzureichen (Amill Gorgis, Sayfo – eine vererbte Identität der Syro-Aramäer; Andrew Palmer, Ein Vergleich zwischen syrischen Büchern über die Massaker vom Jahre 1915, Israel Awdo und Suleiman Henno; Shabo Talay, Zur Reaktion der syrischen Christen auf die türkisch-kurdischen Angriffe im Ersten Weltkrieg. Die gescheiterte Verteidigungsstrategie von Bsorino). Doch sind auch die eingereichten Beiträge so aufschlussreich, dass wir uns entschlossen, den Band nunmehr mit starker Betonung des Völkermords an den Armeniern zu publizieren. Daneben haben wir noch zwei darüber hinaus greifende Beiträge mit aufgenommen, die besonders für die gegenwärtige Situation im Nahen Ostens aufschlussreich sind.1 Der Titel, unter dem schon die vorbereitende Konferenz auf der Katlenburg bei Göttingen stattfand, entstammt dabei einem Zitat des Katholikos-Patriarchen Karekin II., der sagte: „Wir haben den Genozid überlebt, jetzt erwarten wir von der Welt, dass sie den Genozid als solchen anerkennt. Das ist mehr als ein Beitrag zur Völkerverständigung, das ist ein Beitrag zum dauerhaften Frieden und zur Anerkennung unseres Volkes und unserer Religion.“2 Gerade diesen Aspekt nahmen die Studierenden nochmals auf, als sie die Abschlussdiskussion mit einem eigenen Statement einleiteten. 1 Ebenfalls nicht zum Druck gekommen sind die Beiträge von Gudrun Löwner zu den Spuren der armenischen Christen in Indien, Sebastian Elsässer zu den Kopten und den gegenwärtigen Umwälzungen in Ägypten, Elke Hartmanns Beitrag zum Völkermord an den Armeniern mit besonderer Berücksichtigung der Osmanistik, Ischchan Tschiftdschjans Beitrag zur theologischen Annäherung an den Genozid und der Begleitvortrag zur Ausstellung. 2 Zitiert nach: Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt, Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 2008, S. 176 (Das Zitat findet sich am Ende des mit dem Katholikos geführten Interviews von M. Kropp: Das armenische Kirchenoberhaupt Karekin II über den Dialog der Kirchen nach dem Vatikan-Papier, Rheinischer Merkur 32, 9. August 2007).

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Martin Tamcke

Zu danken haben wir den in diesem Sinn mit uns arbeitenden Kollegen Hovhannes Hovhannisyan, der nicht nur mit uns in Göttingen darüber nachdachte, sondern auch der Motor einer Fahrt der Göttinger Studierenden nach Armenien war, die wesentlich dem Aspekt der Völkerverständigung in diesem Sinne galt. Auch Katholikos Aram I. vom hohen Haus von Kilikien sind wir zu Dank verpflichtet. Er sorgte für einen Vortrag vor den Bischöfen und Priesterkandidaten seiner Kirche im Libanon und hat uns stetig unterstützt. Gleiches gilt auch für die türkischen Weggefährten, die uns auf den Spuren der Armenier in ihrem Land begleiteten. Die Akademie in Hofgeismar war ein hilfreicher Kooperationspartner bei der Konferenz ebenso wie die Deutsch-Armenische Gesellschaft. Bei der Ringvorlesung kooperierte ich wieder mit der sich ebenfalls für die Belange der Christen im Orient einsetzenden Kollegin Behlmer, die in Göttingen die Koptologie vertritt. Die zahlreichen Begegnungen in der Türkei, Armenien, dem Libanon, in Syrien und natürlich auch in Deutschland haben Mitarbeitende und Studierende am Göttinger Institut seit Jahren immer wieder auch auf diese Thematik geführt und dafür gesorgt, dass das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung des Genozids anhielt. Allen sei für Ihren Einsatz gedankt. Christian Koch erstellte die Druckvorlage in seiner Eigenschaft als Hilfskraft am Institut. Wir bangen mit den Christen des Orients um deren Zukunft im Orient und hoffen auf Völkerverständigung über die Gräben der Verfeindung oder der Ignoranz des jeweils anderen hinweg. Dazu will das vorliegende Buch einen Beitrag leisten, der Interessierten hilfreich sein möge.

Martin Tamcke Göttingen am 1.7.2016

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Der Völkermord an den Armeniern Raffi Kantian

Für ein besseres Verständnis der Lage der Armenier im Osmanischen Reich sind zwei Fakten von Bedeutung. 1. Wie die anderen nicht muslimischen Gruppen waren auch die Armenier Teil des so genannten Millet-Systems. In Abweichung von der heutigen Bedeutung des Wortes „Millet“ bedeutete es damals eine bestimmte Religionsgemeinschaft. So waren die Armenier in der Millet-i Arman zusammengefasst. Doch neben den Armeniern gehörten auch die Kopten und die Syrer zu dieser Millet. Darüber hinaus gab es die Millet-i Rum (dort hatte man die Griechen, Serben und Bulgaren zusammengefasst). Die Juden bildeten die Millet-i Yahud. Das jeweilige religiöse Oberhaupt leitete seine Millet. Im Falle der Armenier war das der Patriarch mit Sitz in der Hauptstadt Istanbul, der direkt dem Sultan unterstellt war. Streitfälle zwischen zwei Armeniern wurden vom Patriarchat geregelt. Die Aussage der Parteien hatte gleiches Gewicht. Anders lagen die Dinge bei Streitfällen zwischen einem Muslim und einem Nichtmuslim. In diesem Fall war nicht mehr das jeweilige nichtmuslimische religiöse Oberhaupt zuständig, sondern ein islamisches Gericht. Die Aussage eines Nichtmuslims wog dann nicht so schwer wie die eines Muslims. Kurz gesagt: Zwar genossen die Nichtmuslime den Schutz des Sultans, sie waren aber nicht gleichberechtigt den Muslimen gegenüber. So gesehen waren sie Bürger zweiter Klasse. 2. Nichtmuslime durften keine Waffen tragen und wurden nicht in die Armee eingezogen. Stattdessen wurde eine Ausgleichszahlung für die Befreiung vom Militärdienst erhoben. Eine direkte Folge des Waffenverbots war, dass die Nichtmuslime besonders im Osten Anatoliens – dort lebte die überwiegende Mehrheit der Armenier – bei Konflikten im Nachteil waren. Muslimische Gruppierungen konnten sich mit Waffengewalt durchsetzen, ohne dass sich Nichtmuslime, hier Armenier, adäquat verteidigen konnten. Dieses über die Jahrhunderte tradierte und hingenommene System wurde besonders ab dem 19. Jahrhundert kritischer gesehen. Junge Armenier fuhren zum Studium, manchmal sogar zwecks schulischer Ausbildung, in den Westen. Dabei waren vor allem Italien und Frankreich bevorzugte Ziele. Eine besondere Rolle spielte der katholisch-armenische Orden der Mechitaristen, der seit dem frühen 18. Jahrhundert in Venedig, später auch in Wien ansässig war. Der Orden gab die griechischen Klassiker

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Raffi Kantian

in armenischer Übersetzung heraus, publizierte daneben die Werke von Voltaire und Rousseau. Die so geschulten jungen Armenier machten auch politische Erfahrungen. Die Julirevolution von 1830, die zur erneuten Machtergreifung des Bürgertums in Frankreich führte, und die europäischen Revolutionen der Jahre 1848/1849 erlebten sie aus nächster Nähe. Bei ihrer Rückkehr strebten sie mit Erfolg die Demokratisierung des verkrusteten Millet-Systems bei den Armeniern an. Tonangebend waren dort neben dem Patriarchen so genannte Amiras. Darunter verstand man eine einflussreiche Gruppe von Armeniern, die enge Beziehungen zum Hof unterhielt und bedeutende Unternehmen im Auftrag des Staates leitete. Mit der Zeit gelang es den neuen aufstrebenden gesellschaftlichen Kreisen, so z.B. dem Bürgertum, sich Zugang in die Leitungspositionen des armenischen Millets zu verschaffen. Eine bedeutende Rolle bei der Modernisierung und Demokratisierung der damaligen armenischen Gesellschaft spielte auch die Verabschiedung einer innerarmenischen Verfassung im Jahre 1863. Parallel zu diesen Prozessen modernisierte sich auch die Sprache. Die Volkssprache, insbesondere der in der Hauptstadt Istanbul/Konstantinopel gesprochene Dialekt, wurde mit der Zeit zur westarmenischen Literatursprache. Diese löste das seit dem 5. Jahrhundert gebräuchliche, jedoch im 19. Jahrhundert nur noch von der Geistlichkeit benutzte und verstandene Altarmenisch, das sog. Grabar, ab. Eine unmittelbare Folge dieser Entwicklung war, dass Zeitungen für einen größeren Teil der armenischen Bevölkerung zugänglich wurden. So konnten die Menschen die Korrespondentenberichte aus den armenischen Siedlungsgebieten des Reiches verfolgen und sich über die dort herrschenden Missstände informieren. Eine Modernisierung strebte auch das Osmanische Reich selbst an. Dazu zählt das Reformedikt Hatt-ı Şerif von Gülhane 1839. Ein weiteres, das sog. Hatt-ı HümâyûnReformedikt der Hohen Pforte – im übertragenen Sinn die osmanische Regierung – wurde im Februar 1856 verkündet und somit rechtzeitig vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Paris am 30. März 1856, mit dem der Krimkrieg beendet wurde. Zuvor hatten England, Frankreich und Österreich Druck auf das Osmanische Reich ausgeübt und die Verabschiedung dieses Reformedikts nahegelegt. Denn nur so konnte der Pariser Vertrag so günstig für das Osmanische Reich ausfallen. Das Reformedikt Hatt-ı Şerif sah für die Untertanen die volle Sicherheit ihres Lebens, ihrer Ehre und ihres Vermögens vor. Ebenso sollten die Steuern gerecht und geregelt festgesetzt und eingetrieben werden. Das Hatt-ı Hümâyûn-Reformedikt sah die Auflösung des Millet-Systems vor. Alle Untertanen bekamen das osmanische Untertanenrecht und wurden gleichgestellt. Des Weiteren sah es den Militärdienst auch für Nichtmuslime vor. So schön die hier angesprochenen Punkte sich auch anhörten, in der Lebenswirklichkeit des Osmanischen Reiches haben sie sich nicht durchgesetzt. Die proklamierte Gleichstellung der Nichtmuslime mit den Muslimen war für die letztgenannten – nach Jahrhunderten der Dominanz – vollkommen fremd und inakzeptabel und so kam es zu öffentlichen Protesten.

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Der Völkermord an den Armeniern

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Auch der Militärdienst für Nichtmuslime blieb jahrzehntelang nur auf dem Papier bestehen. Bei der ebenfalls proklamierten vollen Sicherheit des Lebens, der Ehre und des Vermögens der Untertanen war es nicht anders: Sie existierte ganz besonders im Osten bei den Nichtmuslimen ebenfalls nur auf dem Papier. Die angeblich gerecht und geregelt festgesetzten und einzutreibenden Steuern machten das Leben in den ländlichen Gebieten nur schwieriger. Denn der Staat konnte die Steuern durch die modernisierte Steuerverwaltung jetzt auch in den entlegenen Gebieten viel besser eintreiben als zuvor. Doch die Nichtmuslime dort mussten auch an die lokalen Stammesführer Abgaben entrichten. In der Summe stieg ihre finanzielle Belastung daher deutlich. Dass es trotz der skizzierten Reformen zu erheblichen Problemen kommen konnte, zeigen die Ereignisse um das Jahr 1860 im südanatolischen Zeitun. Den Armeniern dort war im 17. Jahrhundert ein semiautonomer Status bei Zahlung einer jährlichen Steuer zugestanden worden. Nach dem Krimkrieg 1853–1856 beschloss der Staat, einen Teil der Ländereien von Zeitun zu beschlagnahmen und sie tatarischen Flüchtlingen von der Halbinsel Krim zur Verfügung zu stellen. Da die Menschen von Zeitun – sie waren durch die Jahrhunderte alte Halbunabhängigkeit entsprechend selbstbewusst – mit dieser Maßnahme nicht einverstanden waren, erhöhte der Staat als Strafe ihre Steuern. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen, welche im Sommer 1862 mit einem Sieg der Armenier von Zeitun endeten. Eine neue Etappe hätte durch die am 23. Dezember 1876 verabschiedete osmanische Verfassung beginnen können. Trotz etlicher Vorrechte, die der Sultan für sich beanspruchen konnte, war das der erste Versuch überhaupt, das absolutistische osmanische System in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln. An der Ausarbeitung der Verfassung hatte sich auch der Armenier Krikor Odian beteiligt. Ein weiterer wichtiger Schritt waren die Parlamentswahlen, ein absolutes Novum in der osmanischen Geschichte, aus denen das Parlament (Meclis-i Mebusan) hervorging. Immerhin waren von seinen 115 Mitgliedern 46 Nichtmuslime und die restlichen 69 Muslime. Es nahm am 18. März 1877 seine Arbeit auf und wurde nach nur drei Monaten, am 28. Juni 1877, von Sultan Abdülhamid II. geschlossen, wenn auch nicht aufgelöst. Die Verfassung blieb formal in Kraft, wurde aber nicht angewendet. Als Grund wurde der russisch-osmanische Krieg 1877/78 genannt. Danach herrschte bis 1908 das alte absolutistische System. Erstmalig wurden die Zustände in den von den Armeniern bewohnten Provinzen des Osmanischen Reiches beim Berliner Vertrag von 1878 nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78 Gegenstand der internationalen Politik. Im Artikel 61 des Berliner Vertrages hieß es dazu: „Die Hohe Pforte verpflichtet sich, ohne weiteren Zeitverlust die Verbesserungen und Reformen ins Leben zu rufen, welche die örtlichen Bedürfnisse in den von Armeniern bewohnten Provinzen erfordern, und für die Sicherheit derselben gegen die Tscherkessen und Kurden einzustehen. Sie wird

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Raffi Kantian

in bestimmten Zeiträumen von den zu diesem Zwecke getroffenen Massregeln den Mächten, welche die Ausführung derselben überwachen werden, Kenntnis geben.“1 Zuvor tauchten diese Forderungen in Artikel 16 des Friedens bzw. Vorfriedens von San Stefano (heute Yeşilköy im Westen Istanbuls) auf:2 „Art. XVI. As the withdrawal by the Russian troops of the territory which they occupy in Armenia, and which is to be restored to Turkey, might give rise to conflicts and complications detrimental to the maintenance of good relations between the two countries, the Sublime Porte engages to carry into effect, without further delay, the improvements and reforms demanded by local requirements in the provinces inhabited by Armenians, and to guarantee their security from Kurds and Circassians.” Allerdings zeitigte Art. 61 des Berliner Vertrags nicht die erwarteten Ergebnisse. Die Lagebeurteilung und Reformpostulate des britischen Vizekonsuls Claytons aus Van vom November 1879 (Anlage 1) belegen das. Seine Lagebeurteilung war auch für die Zeit vor 1878 gültig. Mit einer Verbalnote wandten sich die Großmächte am 11. Juni 1880 und später am 7. September 1880 an die Hohe Pforte und mahnten die Umsetzung dieses Artikels an. Darüber hinausgehende Schritte wurden nicht unternommen. Abdülhamid II. war an Reformen für die Armenier nicht interessiert. Ihm behagten die Interventionsversuche der imperialen Großmächte grundsätzlich nicht. Wie oben ausgeführt war das Hatt-ı Hümâyûn-Reformedikt der Hohen Pforte Ergebnis des von den Großmächten ausgeübten Drucks. Schon ab dem Ende des 18. Jahrhunderts fungierten diese als ausländische Schutzmächte der Nichtmuslime: Großbritannien bürgte für die Juden, Frankreich für die Katholiken und Russland für die Orthodoxen, worunter auch die Armenier subsumiert wurden. Besonders Russland, das seit Anfang des 19. Jahrhunderts den Südkaukasus beherrschte, wurden Gelüste auf (Ost)Anatolien nachgesagt. Der Ausspruch „Armenien ohne Armenier“ des russischen Außenministers Alexej Lobanow-Rostowskij in den Jahren 1895/96 lässt freilich vermuten, dass es der russischen Außenpolitik um das Territorium ging, nicht um die Menschen dort, sprich nicht um die Armenier. Schon vor dem Berliner Vertrag suchten die Armenier nach Auswegen aus ihrer bedrückenden Lage. Die 1872 gegründete Geheimorganisation „Union für Errettung“

1 Imanuel Geiss, Hg., Der Berliner Kongress 1878. Protokolle und Materialien (Boppard am Rhein: Harald Bold Verlag, 1978), S. 405; Einzusehen unter http://www.hist.net/kieser/mak4/armenischefragebis1914.html#be (Alle Links, die in diesem Beitrag angegeben werden, waren zum Zeitpunkt der Endredaktion aktuell). 2 Quelle: Thomas E. Holland, The European Concert in the Eastern Question: A Collection of Treaties and other Public Acts (Oxford: Clarendon Press, 1885), S. 335–48; Einzusehen unter http://pages.uoregon.edu/kimball/1878mr17.SanStef.trt.htm.

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Der Völkermord an den Armeniern

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(Միութիւն ի փրկութիւն), die „Organisation Schwarzes Kreuz“ (Սեւ Խաչ Կազմակերպութիւն), entstanden 1878 in Van, und die Gruppe „Beschützer des Vaterlandes“ (Պաշտպան Հայրենեաց) (Erzurum 1881) verfügten über eine starke Rhetorik. Ihnen fehlten aber die finanziellen Mittel zur Erreichung ihrer Ziele. Eine andere Qualität hatten die ab 1885 gegründeten Parteien. Den Anfang machte die Partei Armenakan aus Van, gefolgt von der Sozialdemokratische HuntschakPartei (Սոցիալ դեմոկրատ Հնչակեան կուսակցութիւն). Sie wurde im Jahre 1887 von Studenten der Universität Genf gegründet. Ziel der Gruppierung war, die armenischen Provinzen aus dem Osmanischen Reich herauszulösen und einen unabhängigen armenischen Staat zu schaffen, der zu einer künftigen sozialistischen Welt gehören sollte. Der Gebrauch terroristischer Mittel wurde befürwortet. Methoden sollten „Propaganda, Agitation, Terror, Organisation und Bauern- und Arbeiteraktionen“ sein. Die dritte Partei, die „Armenische Revolutionäre Föderation“ (Հայ Յեղափոխական Դաշնակցութիւն), wurde 1890 in Tiflis gegründet. Sie war eine reformerisch eingestellte sozialistische Bewegung. Daneben strebte sie die Trennung sowohl vom Zarenreich als auch vom Osmanischen Reich an. Das große Ziel aller drei Parteien überstieg ihre Möglichkeiten bei weitem. Denn abgesehen von diesen Beispielen war die armenische Bevölkerung mehrheitlich an einer Unabhängigkeit nicht interessiert. Doch die „revolutionäre Rhetorik“ der Parteien war für Abdulhamid II. eine willkommene Gelegenheit zur Rechtfertigung einer immer brutaler werdenden Unterdrückung der Armenier. Den Höhepunkt bildeten die Armeniermassaker (Hamidische Massaker) der Jahre 1894–1896, denen bis zu 300.000 Armenier zum Opfer fielen. Dazu setzte der Sultan auch die 1891 gegründete Kavallerietruppe Hamidiye ein, die u.a. aus Kurden und Turkmenen bestand. Bezeichnender Weise hatten die Großmächte 1894 weitere Reformen für die Armenier verlangt, nachdem sich die Armenier in Sasun geweigert hatten, die von den Kurden verlangten Schutzgelder zu bezahlen. Daraufhin wandten sich die Kurden an die Hohe Pforte und bezichtigten die Armenier, einen Aufstand anzuzetteln. Die anschließenden Kämpfe endeten mit der Niederlage der Armenier. Doch statt der versprochenen Amnestie wurden sie massakriert. Wie unterlegen die Armenier gegenüber der Staatsmacht waren, belegen gerade die Hamidischen Massaker. Die Armenier versuchten aus dieser Position der Schwäche heraus die Großmächte durch Aktionen auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Diesem Ziel diente die am 27. Juli 1890 von den Huntschaken organisierte Protestaktion im Istanbuler Stadtteil Kumkapı. Den Huntschaken gelang es ebenfalls 1896 den Widerstand in Zeitun gegen die Massaker erfolgreich zu organisieren. Eine andere Form, die Großmächte auf die andauernden Armeniermassaker aufmerksam zu machen, war die Besetzung von Banque Ottomane (Ottomanische Bank) am 26. August 1896 durch Mitglieder der Armenischen Revolutionären Föderation. Diese forderten die Unabhängigkeit der sechs armenischen Provinzen und drohten, die Bank samt den 150 Geiseln in die Luft zu sprengen. Doch dazu kam es nicht. Die Franzosen intervenierten, die Täter gaben auf und wurden nach Marseille gebracht.

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Raffi Kantian

Der Staat reagierte äußerst brutal. Noch am 26. August 1896 wurden in Konstantinopel/Istanbul Armenier auf offener Straße ermordet. Die Zahl der Toten belief sich auf ca. 6000. Einen Rachefeldzug gab es ebenfalls in Akn, dem Geburtsort von Papken Suni, einem der Anführer. Als Vergeltung verübte die Armenische Revolutionäre Föderation am 21. Juli 1905 ein Bombenattentat auf Abdülhamid II., dem dieser knapp entkam. Es gärte nicht nur bei den Armeniern. Mit der Despotie des Sultans waren auch zahlreiche muslimische Untertanen unzufrieden. Hinzu kam, dass sie sich bezüglich der Zukunft des ständig schrumpfenden Osmanischen Reiches Sorgen machten. Vielfach agierten diese oppositionellen Kräfte im Untergrund, durchaus auch im westlichen Ausland, und wurden vielfach als die Jungtürken bezeichnet. Aus den vielfältigen Gruppierungen entstand mit der Zeit das Komitee für Einheit und Fortschritt, dessen Ziel die Absetzung des verhassten Sultans war. Dem Komitee gehörten auch Armeeoffiziere an. An den Beratungen dieser Gruppierung nahmen die Armenier, namentlich die Partei Armenische Revolutionäre Föderation, ebenfalls teil. Schließlich revoltierten von jungtürkischen Offizieren angeführte Truppen und marschierten auf Istanbul. Am 23. Juli 1908 kapitulierte der Sultan. Es kam zu spontanen Verbrüderungsszenen und man wähnte von armenischer Seite die Verfolgungen hinter sich gelassen zu haben. Auf Transparenten stand die Losung „Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit“. Bei einer Feierlichkeit für die Opfer der Jahre 1894–1908 solidarisierten sich Vertreter des Komitees für Einheit und Fortschritt mit den Armeniern und sprachen von einer gemeinsamen und friedlichen Zukunft. Die Verfassung von 1876 wurde wiederhergestellt und es wurden ebenfalls 1908 Neuwahlen abgehalten. Im Parlament waren 147 Türken, 60 Araber, 27 Albaner, 26 Griechen, 14 Armenier, 10 Slawen und 4 Juden vertreten. Vier von den armenischen Abgeordneten gehörten der Armenischen Revolutionären Föderation an, zwei der Huntschak-Partei. Dieses optimistische Gesamtbild wurde jedoch mit den Armeniermassakern im südtürkischen Adana vom April 1909 massiv getrübt. Insgesamt wurden dabei bis zu 30.000 Armenier ermordet. Das Komitee hatte zunehmend mehr Einfluss auf die Politik. Nach den für das Osmanische Reich verlustreichen Balkankriegen 1912/13 putschten die Komiteemitglieder Talat, Enver und Cemal sich an die Spitze und bildeten ein diktatorisch agierendes Triumvirat. Das seit längerem im Niedergang befindliche Reich versuchte sich mit Ideologien zu stabilisieren. Der Osmanismus konnte den Zusammenhalt des Vielvölkerstaates nicht herbeiführen. Der von Aldülhamid II. propagierte Panislamismus grenzte die zahlenmäßig respektablen nichtmuslimischen Gruppen aus. Turkstämmige Migranten aus dem zaristischen Russland (z.B. Yusuf Akçura, Ahmet Bey Ağayev) setzten sich für die Idee ein, dem türkischen Element des Reiches den Vorzug zu geben. Neben den Ideologen dieser Richtung wie Ziya Gökalp propagierten auch die Zeitschrift Türk Yurdu (Türkische Heimat) und der Verein Türk Ocakları diese Idee. Hinzu kam,

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Der Völkermord an den Armeniern

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dass die jungtürkische Führung sich angesichts der Erfahrungen der letzten 100 Jahre von einer multinationalen Lösung zunehmend stärker distanzierte. Im Kontext dieses sich radikalisierenden Umfelds wurde ein weiteres Reformvorhaben für die Armenier erwogen. So wurde unter maßgeblicher Mitwirkung des Deutschen Kaiserreichs ein letzter Reformplan ausgearbeitet und von Russland und dem Osmanischen Reich im Februar 1914 (Anlage 2) unterzeichnet. Dieser sah u.a. die Ernennung von zwei Oberinspektoren für die Bezirke des östlichen Anatoliens vor. Die osmanische Seite sah darin den ersten Schritt für die zukünftige Abspaltung dieser „armenischen Provinzen“. Beim Kriegseintritt annullierte die osmanische Regierung den Reformplan jedoch umgehend. Im Osmanischen Reich begriffen führende Politiker den Ersten Weltkrieg als Chance zur Rückeroberung verlorengegangener Gebiete auf dem Balkan, zu expansionistischen Zielsetzungen in Richtung Kaukasus und Zentralasien und dazu, eine Lösung der armenischen Reformfrage zu unterbinden (Anlage 3). Dem österreichischen Historiker Wolfdieter Bihl folgend waren die strategischen Minimalziele des Osmanischen Reiches bei Kriegseintritt die Rückgewinnung Ägyptens und Armeniens sowie die Eroberung Adens (Jemen). Das Reich nahm den Weltkrieg aber gleichzeitig zum Anlass, um mit Hilfe panislamischer und pantürkischer Losungen seine Position zu kräftigen, seine Macht zu erweitern, Einflusszonen zu schaffen, verlorene Gebiete zurückzuerobern, ja sogar neue Territorien zu erwerben. Die osmanischen Gebietsgelüste standen in ihrem territorialen Ehrgeiz – von Tunis bis Turkestan und Nordwestindien – denen des deutschen Bündnispartners kaum nach. Das Hauptziel der osmanischen Hoffnungen, Wünsche und Träume wurde der muslimisch-türkische Osten. Ein muslimischer Dreibund Türkei-Persien-Afghanistan sollte das Bindeglied nach Indien und nach Russisch-Turkestan sein. Schon die Betonung Armeniens bzw. Kaukasiens bei den osmanischen Kriegszielen unterstreicht die Bedeutung der Kaukasus-Offensive vom Winter 1914/15. Die offizielle Türkische Historikervereinigung, Türk Tarih Kurumu (TTK), nennt auf ihrer Webseite3 folgende osmanischen Kriegsziele: „An erster Stelle stand die Rückeroberung der Gebiete Batumi, Ardahan und Kars, die während des russisch-türkischen Krieges 1877/78 den Russen überlassen worden waren. An zweiter Stelle stand die Befreiung des kaukasischen Volkes und der Muslime, die bei den vorhergehenden Kriegen unter das russische Joch geraten waren. Was das dritte Kriegsziel anbetrifft, da ging es darum, Kontakt zu den Türken am Kaspischen Meer und in Zentralasien herzustellen und so den Panturanismus4 zu verwirklichen. […] Das zweite und das dritte Ziel waren Phantasieprodukte.“

3 http://www.ttk.gov.tr/index.php?Page=Sayfa&No=155. 4 Panturanismus wird häufig als Synonym von Panturkismus verwendet. Beiden gemeinsam sind der Abstammungsmythos und der Wunsch nach kultureller oder politischer Einheit. Panturanismus und Panturkismus sind Varianten des türkischen Nationalismus.

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Die entscheidende Schlacht bei Sarıkamış endete für die schlecht ausgebildete und schlecht ausgerüstete osmanische Armee, deren Gesamtstärke die TTK mit 190.000 angibt, von denen allenfalls die Hälfte kriegstauglich gewesen sei, mit einem Desaster. 60.000 Gefallene waren innerhalb von drei Wochen – so lange dauerten die Kampfhandlungen – zu beklagen. Enver Paşa und sein Generalstabschef Friedrich Bronsart von Schellendorf – seine antiarmenischen Ausfälle sind wohl bekannt5 – verbreiteten die Legende, wonach die Armenier Schuld an diesem Desaster seien. Die TTK gibt die Stärke der russischen Streitkräfte dort mit 100.000 Mann an, darunter 4 armenische und 2 georgische Bataillone. Darüber hinaus habe es in den hinteren Frontabschnitten weitere 150.000 Soldaten gegeben. Militärtechnisch war es unmöglich, mit nur 4 armenischen Bataillonen dieses osmanische Desaster zu erklären. Sachlich korrekt weist TTK auf die dort herrschenden Witterungsverhältnisse hin (Temperaturen von bis zu -25 °C) und schreibt: „Von den 13.000 Soldaten des X. Korps erreichten lediglich 3.000 am 27. Dezember Sarıkamış, die restlichen 10.000 starben an Kälte, Hunger und Überanstrengung.“ Zwar gab es in den russischen Streitkräften auch georgische Soldaten, aber ihre Teilnahme an den Kampfhandlungen hatte keine Auswirkung auf die im Osmanischen Reich lebenden Georgier, ebenso auf die Tataren – wir würden heute von türkischstämmigen sprechen – die ebenfalls Teil der russischen Armee waren. Die katastrophale Niederlage von Sarıkamış war eine schwere Belastung für die osmanische Psyche. Der Versuch, die Armenier als die Schuldigen hinzustellen, wirkte in den Köpfen der Menschen nach und bereitete unter anderem den Boden für ihre spätere Vernichtung. Wie es den Armeniern ergangen ist, ist in aller Ausführlichkeit bekannt: Der Verhaftung und Deportation ins Landesinnere von führenden Köpfen am 24. April 1915 folgte das Deportationsbefehl des osmanischen Kabinetts vom 27. Mai 1915. Es gibt unzählige Bücher zu diesem Thema. Raymond Kévorkians monumentales „The Armenian Genocide: A Complete History“ sei hier stellvertretend für viele andere genannt. Überaus anschaulich wie eindrucksvoll sind die Erinnerungen der Überlebenden. Pailadzo Captanian beschreibt die Trennung von ihrem Mann in einem Dorf bei Sivas so: „Dort versammelte man die mehr als 300 Männer der Karawane abseits. Dann wurden sie (...) in einem Stall gegenüber des Lagerplatzes geführt (...) Einer Ohnmacht nahe, ging ich taumelnd zum Stall und erbat von den Posten die Erlaubnis,

5 „Der Armenier ist, wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte.“ aus http://www.deutschlandradiokultur.de/das-schweigen-dervoelker.984.de.html?dram:article_id=153269; sowie Julius Hans Schoeps, „Du Doppelgänger, du bleicher Geselle ...“ Deutsch-jüdische Erfahrungen im Spiegel dreier Jahrhunderte 17002000 (Berlin: Philo Verlag, 2004), S. 330; Es wundert daher kaum, dass 1926 Bronsart Vorsitzender des rechtsradikalen, völkischen Tannenbergbundes wurde.

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durch ein kleines Fenster zu schauen (...) nur unter großen Mühen gelang er zum Fenster – so sehr waren sie gegeneinander gepresst (...) einen Augenblick schauten mein Mann und ich uns angstvoll an. Mein Herz quoll über von Dingen, die ich ihm sagen wollte, aber ich gab nur Unbedeutendes von mir. Tränen sammelten sich in meinen Augen, aber er schwieg, und wir sahen einander nur still an. Wie viel Liebe lag in diesen letzten Blicken.“ Und wie muss ihr zu Mute gewesen sein beim Einblick der Kinder auf der Strecke. Sie notiert: „Nur die Kinder überlebten manchmal. Wie viele von ihnen haben wir verlassen am Wegesrand gesehen! Die Zahl der so verlassenen Kinder wird wohl niemals ans Licht kommen. Man sah sie unter den Bäumen umher irren – in der Stille ihrer Einsamkeit. Einige wirkten bereits apathisch und abgestumpft. Sie schauten uns nur wortlos an.“ Im von Mihran Dabag und Kristin Platt zusammengestellten Sammelband „Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich“ kommt auch der Zeitzeuge Aram Güreghian zu Wort. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen wird die Radikalität von 1915 deutlich. Er sagt: „Wenn ich darüber nachdenke, könnten wir (gemeint ist die Familie, R. K.) vielleicht um die 200 Personen gewesen sein, ältere jüngere, nahe und ferne Verwandte. Daher muss ich vielleicht zunächst erwähnen, dass ich 1918 ganz allein zurückgeblieben bin. Erst später habe ich meinen Bruder Armenag wiederfinden dürfen und eine Tante mit ihren zwei Töchtern.“ In seiner Familie gab es bereits Gewalterfahrungen. Der Großvater väterlicherseits war 1896 den damaligen Massakern zum Opfer gefallen. Auch Jahre danach wurden sie von Ängsten heimgesucht. Es muss im Jahre 1907 gewesen sein, da versteckten sich alle im Haus, der Vater riegelte alle Türen ab. Mit einem Mal drückte er Arams sechsjährigen Bruder einen Revolver in die Hand. Seine Anweisung: Wenn jemand plötzlich rein käme und „uns töten wolle“ solle er abdrücken. Aram selbst war damals drei Jahre alt. Auch über die Rolle des Deutschen Kaiserreichs bei diesen Ereignissen ist viel geschrieben worden. Von großer politischer Relevanz ist die Stellungnahme von Reichskanzler Bethmann Hollweg zum Vorschlag von Botschafter Wolff-Metternich vom 07. Dezember 1915. Der entscheidende Satz Bethmann Hollwegs: „Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung (koramieren: zur Rede stellen, R.K.) eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“6.

6 Vergleiche hierzu Vahakn N. Dadrian, German Responsibility in the Armenian Genocide. A Review of the Historical Evidence of German Complicity (Cambridge: Blue Crane Books, 1996); Christoph Dinkel,“German Officers and the Armenian Genocide,“ The Armenian Review Bd. 44 (1991): S. 77–130; Wolfgang Gust, Hg., Der Völkermord an den Armeniern 1915/16: Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts (Springe: zu Klampen Verlag,

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Nach Ende des Ersten Weltkriegs kehrte ein Teil der Überlebenden in die Heimatorte zurück. Doch sie wurden in den 1920er und 1930er Jahren, also während der Republikzeit, mit Einschüchterungsmethoden aus dem Land getrieben. Heute gibt es, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nur noch in Istanbul eine nennenswerte Anzahl von Armeniern. Rückblickend muss man feststellen: Die Vernichtungspolitik der Jungtürken war ein „voller Erfolg“. 1. Ausländische Mächte konnten fortan auf die Türkei keinen Druck mehr ausüben und Reformen zu Gunsten der Armenier verlangen. Allenfalls wegen der Anerkennung des Genozids wird heutzutage ein gewisser Druck auf die Türkei ausgeübt, auch von einigen Staaten. Deutschland gehört nicht dazu. 2. Die vollständige Enteignung der Armenier war ein konstitutiver Bestandteil des Genozids. Sie diente u.a. der Schaffung der türkischen Unternehmerklasse.7 3. Anatolien war weitestgehend homogenisiert. Die Türkisierung der verbliebenen muslimischen bzw. alewitischen Menschen war eine Aufgabe, die die junge türkische Republik von Anfang an energisch angepackt und mit Ausnahme eines größeren Teils der Kurden erfolgreich abgeschlossen hat. Der Genozid von 1915 war der Schlussstrich der 3000-jährigen Geschichte der Armenier in ihrer Urheimat Anatolien.

2005); Wilhelm Litten, Der Todesgang des armenischen Volkes. Augenzeugenbericht des Konsuls Litten von seiner Fahrt von Bagdad nach Aleppo (Berlin: epubli Verlag, 2014 (Erstausgabe Berlin: 1925); Ulrich Trumpener, Germany and the Ottoman Empire. 1914–1918 (Princeton: Princeton University Press, 1989); Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier (Berlin: Ch. Links Verlag, 2015); und http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1915-12-07-DE-001 7 Vergleiche hierzu Ugur Umit Ungor und Mehmet Polatel, Confiscation and Destruction: The Young Turk Seizure of Armenian Property (London/New York: Continuum International Publishing Group, 2011); Taner Ümit Kurt Akçam, The Spirit of the Laws: The Plunder of Wealth in the Armenian Genocide (New York/Oxford: Berghahn Books, 2015); Ungor führt aus: „Die Enteignung der Armenier war einer der größten Umverteilungen von Eigentum in der neueren Geschichte.“

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Anhang zum Beitrag zum Völkermord an den Armeniern: 1. Britische Quelle zur Situation in den «armenischen Provinzen» 18798 Vizekonsul Clayton aus Van, Nov. 1879, Lagebeurteilung und Reformpostulate: [...] We will now pass to the consideration of the particular evils, consequent on the vices of Turkish government, from which the people in the Armenian provinces are suffering and the measures that may be taken for their removal. The people in the Armenian provinces suffer under the following provincial evils: Firstly, robbery, exaction, and oppression at the hands of the Kurds. In some parts nomad Kurds make raids on villages, carrying off locks and herds and other plunder, and sometimes burning what they cannot carry away. In other parts influential Kurdish families parcel out the villages (especially Christian) in their neighbourhood among their various members, and regard them as their property. The inhabitants have to pay them black-mail, cultivate their lands, pasture their flocks, and give and do for them anything they may demand. Secondly, hardships of taxation. The Government now in its need of money is pressing heavily on the rural population, demanding arrears which have accumulated in consequence of inability to pay during the last two years, owing to the war and the depredations of the Kurds, and this at a time when the scantiness of the harvest and wholesale plunder by the Kurds have reduced the peasantry to the utmost straits. The rapacity of officials is also always a cause of iniquity in the collection of taxation. Thirdly, in many cases authority and office have been given to Kurdish Chiefs, sometimes of noted bad character, so that they obtain as it were a charter to prey upon and oppress the country people. Fourthly, many villages have a mixed population of Turks and Armenians, and in such cases the Armenians suffer innumerable oppressions and wrongs at the hands of their Turkish neighbours. Their property, the honour of their women, and their lives are none of them safe. Fifthly, the ill-behaviour of zaptiehs [Gendarmen] and troops. Owing to the financial difficulties of the Government they receive little or no pay, and when marching or stationed in country districts are quartered on the inhabitants. They are housed and fed at the expense of the villagers, giving more or less regularly receipts for what they have received, but in most cases the receipts do not represent anything like what is actually provided, and are besides seldom or never paid. [...]

8 http://www.hist.net/kieser/mak2/quellen1879ff.html#br

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Sixthly, the almost impossibility of obtaining justice or redress for wrongs, especially if the complaint be a Christian. [...] [Der Autor macht im folgenden Reformvorschläge: Den Vali solle ein europäischer Ratgeber begleiten, die Provinzverwaltung mehr Autonomie gegenüber dem Zentrum erhalten. Als Gegengewicht zur korrupten Justiz brauche es europäische Appellationsrichter. Sukzessiv sei ein parlamentarisches System auf Provinz- und Kreisebene zu entwickeln. Das Steuersystem müsse durch europäische Inspektoren überwacht werden, die Empfangsscheine der Steuerhebung seien sowohl türkisch als auch in der Lokalsprache auszufertigen. Er beendet seinen Bericht wie folgt: I must reiterate my strong feeling that no real reform is possible here without the cooperation of European officials. Subjects of the Porte, even if Christians, will not answer the purpose. They would not have sufficient character and independence for the difficult tasks that would fall to their lot. I have been obliged to consider the possibility of having to oppose Russia, but I have been able to notice, in conversation with the Turkish officials, a great anxiety to find out our real relations with that Power, and a scarcely-concealed exultation at any report of differences between the two nations, so that I cannot help feeling that it would be a great advantage in our dealings with Turkey if we could establish a cordial understanding with Russia. I put forward the suggestions contained in this paper with the utmost diffidence, but I may be permitted to point out that in the scheme of reform I have sketched out there is provision made for the principal things that I have argued should be attended to. There would be a strong executive in the Vali with his English assessor and increased powers, able to control the heterogeneous elements of the population and thus providing for present security; the administration of justice and finance would be improved, and at the same time, by enlarging the functions of the Idare Medjliss [Provinzrat] and providing for a modified popular election of its local members, the political education of the people would be begun. How far that education could be carried under the present régime circumstances alone could show, but the manner in which, if circumstances permitted, it could be carried further is indicated, viz., by the gradual grant of legislative power to the Idare Medjliss. If the separation from the Turkish Empire came, there would be the germs of an autonomous organization ; the English assessor to the Vali would remain for a time as assistant to the new ruler, and the European judicial and financial officials would also remain to carry on traditions till the new nation became able to stand alone, when the foreign aids might be withdrawn. It would no doubt be difficult to induce the Porte to consent to the appointment of such European officials as I have suggested, but I am certain that no measure short oft his will be effectual in introducing adequate reforms into this province at all events, for the feeling of hostility to the Christians on the part of the Moslems has been greatly

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increased by the appeal made to, and the interference of Europe; and if adequate reform is not introduced I am convinced that a general appeal will be made by the Armenians to Russia before the middle of next summer. (Signed) EMILIUS CLAYTON, Captain, R. E., Her Britannic Majesty's Vice-Consul, Van. F. O. 424/106, S. 34–40, Nr. 13/10; als Anhang eines Briefes an seinen Vorgesetzten Major Trotter vom 29.11.1879, abgedruckt in: Simsir, Bilal, British Documents on Ottoman Armenians, Bd. I: 1856–1880, Ankara: Türk Tarih Kurumu Basimevi, 1982, S. 645–655.

2. Internationaler Reformplan für die osmanischen Ostprovinzen 19149 Türkisch-russisches Abkommen vom 26. Januar (8.Februar) 1914 Seine Exzellenz Herr Konstantin Gulkiewitsch, russischer Geschäftsträger, und Seine Hoheit Prinz Said Halim Pascha, Großwesir und Minister der auswärtigen Angelegenheiten, sind übereingekommen, daß gleichzeitig mit der Ernennung der beiden Oberinspektoren für die Bezirke des östlichen Anatoliens die Hohe Pforte den Großmächten folgende Note überreichen wird: „Zwei ausländische Oberinspektoren werden an die Spitze der aus dem östlichen Anatolien zu bildenden Bezirke gestellt: Herr A. erhält die Wilajets Erzerum, Trapezunt, Sivas, Herr B. die Wilajets Wan, Bitlis, Charput und Diarbekir. Den Oberinspektoren obliegt die Aufsicht über die Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Polizei und Gendarmerie der beiden Distrikte. Im Fall, daß die Sicherheitstruppe zur Aufrechterhaltung der Ordnung nicht genügen sollte, werden dem Oberinspektor auf Verlangen militärische Kräfte zur Ausführung der in seiner Befugnis liegenden Maßnahmen zur Verfügung gestellt. Die Oberinspektoren können nach Bedarf die Beamten, die sich durch Unzulänglichkeit oder schlechtes Betragen als untauglich erwiesen haben, verabschieden, sowie solche, die sich gesetzlicher Vergehen schuldig gemacht haben, dem Gericht überantworten. Sie haben das Recht, die höheren Beamten S. M. dem Sultan zur Ernennung vorzuschlagen. Von allen Absetzungen erstatten sie den zuständigen Ministern sofort die telegraphische, kurz begründete Nachricht, der im Verlauf von acht Tagen die Akten und ausführlichere Berichte zu folgen haben. In wichtigen Fällen, die sofortiges

9 http://www.hist.net/kieser/mak2/Reform1914.html

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Einschreiten erheischen, haben die Oberinspektoren das Recht, unabsetzliche Gerichtsbeamte sofort vom Amte zu suspendieren unter der Bedingung, daß sie den Fall sofort dem Justizdepartement abtreten. Sollten sich durch Handlungen, deren sich der Wali schuldig gemacht hat, dringend zu ergreifende Maßnahmen ergeben, so haben die Oberinspektoren davon den Minister des Innern telegraphisch zu benachrichtigen. Dieser bringt den Fall sofort zur Kenntnis des Ministerrats, welcher spätestens innerhalb von vier Tagen nach Einlauf der Depesche entscheidet. Die Streitigkeiten auf landwirtschaftlichem Gebiete werden unter der persönlichen Aufsicht des Oberinspektors entschieden. Es werden nach der Ernennung der Oberinspektoren unter ihrer Mitwirkung ausführliche Vorschriften über die ihnen zustehenden Pflichten und Rechte ausgearbeitet werden. Im Fall, daß im Verlaufe von zehn Jahren der Posten eines Oberinspektors unbesetzt bleiben sollte, wird die Hohe Pforte für die Wahl des betreffenden Oberinspektors die wohlwollende Unterstützung der Großmächte in Anspruch nehmen. Die Gesetze, Erlasse und öffentlichen Bekanntmachungen ergehen in der Umgangssprache jedes Distrikts. Sofern es der Oberinpektor als möglich erachtet, hat jede Partei das Recht, vor Gericht und Verwaltungsbehörden sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Die Gerichtsurteile ergehen in türkischer Sprache, wenn möglich von einer Übersetzung in der Sprache der Partei begleitet. Der den einzelnen völkischen Elementen zustehende Anteil am Schulbudget des Wilajets wird durch die Höhe der von ihnen entrichteten Schulsteuer bestimmt. Die kaiserliche Regierung wird keinerlei Hindernisse in den Weg legen, daß die Religionsgenossenschaften sich an der Unterhaltung ihrer Schulen beteiligen. Jeder Ottomane hat in Friedenszeit seine Militärpflicht in dem Bezirk der Militärinspektion seines Wohnsitzes zu erfüllen. Die Hohe Pforte wird jedoch bis auf weiteres in die entlegenen Ortschaften des Yemen, Assir und Nedjd Kontingente der Landmacht aus allen Teilen des Reiches, im Verhä1tnis zu der dort lebenden Bevölkerungszahl entsenden; sie wird außerdem in die Seemacht Rekruten aus allen Teilen des Reiches einstellen. Die Regimenter der Hamidiés werden in Reservekavallerie umgewandelt. Ihre Waffen verbleiben in den Militärdepots und werden ihnen nur im Fall der Mobilisierung und zu Manövern ausgeliefert. Sie unterstehen dem Befehl des Korpskommandanten, in dessen Befehlsbereich sie sich befinden. In Friedenszeit werden die Regiments-, Eskadrons- und Zugskommandanten aus den aktiven Offizieren der kaiserlichen ottomanischen Armee ernannt. Die Soldaten dieser Regimenter haben ein Jahr militärischer Dienstpflicht zu leisten. Zur Aufnahme in das Regiment müssen sie eigene Pferde und vollständiges Sattelzeug stellen. Jede Person, ohne Unterschied der Rasse oder des Glaubens, die sich in diesem Rekrutierungsbezirk befindet und die Forderungen erfüllt, kann in die genarmten Regimenter anfgenommen werden. Im Kriegsfall und während der Manöver unterliegen sie den gleichen disziplinarischen Maßnahmen wie die regulären Truppen.

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Die Befugnisse der Oberinspektoren der Wilajets entsprechen den Grundsätzen des Gesetzes vom 13. März 1329/1913. Eine Volkszählung, die unter Oberaufsicht der Oberinspektoren in kürzester Frist, wenn irgendmöglich nicht später als nach einem Jahr veranstaltet werden wird, wird die genauen Verhältnisse der Religionen, Nationalitäten und Sprachen in den beiden Distrikten festlegen. Bis dahin werden die zu den 'Generalräten' (Medjlissi umumi) und zu den 'Wilajetausschüssen' (Endjumen) von Wan und Bitlis gewählten Mitglieder zu gleichen Teilen aus Mohammedanern und Nichtmohammedanern bestehen. Im Wilajet von Erzerum werden die Mitglieder des Generalrats, falls die endgültige Volkszählung nicht im Laufe eines Jahres vollzogen ist, auf der gleichen Verhältnisgrundlage wie in den beiden anderen Wilajets gewählt werden. In den Wilajets von Sivas, Charput, und Diarbekir werden die Mitglieder sofort dem Bevölkerungsverhältnis entsprechend gewählt. Zu diesem Zweck wird bis zur neuen Zählung die Anzahl der mohammedanischen Wähler nach den alten Wahllisten festgestellt und die Zahl der Nichtmohammedaner nach den Gemeindelisten. Sollten indessen materielle Schwierigkeiten die Anwendung dieses provisorischen Wahlsystems als untunlich erweisen, so haben die Oberinspektoren die Befugnis, für die Wilajets von Sivas, Charput und Diarbekir eine den gegenwärtigen Bedürfnissen und Bedingungen der genannten Wilajets besser entsprechende Wahlverteilung für die Generalratswahlen in Vorschlag zu bringen. In allen Wilajets, in denen die Generalräte nach dem Proportionalwahlrecht gewählt werden, wird die Bevölkerungsminderheit in den Ausschüssen (Endjumen) eine Vertretung erhalten. Die Mitglieder des Verwaltungsrats bestehen wie früher zu gleichen Teilen aus Mohammedanern und Nichtmohammedanern. Es wird dem Erachten des Oberinspektors anheimgestellt, die Polizei- und Gendarmerierekrutierung in den Distrikten im gleichen Verhältnis vorzunehmen. Das Verhältnisprinzip wird bei der Besetzung der anderen Beamtenposten ebenfalls so viel als möglich berücksichtigt werden.“ Zu Urkund dessen haben die Unterzeichneten Vorliegendes mit ihren Unterschriften versehen und ihre Siegel beigesetzt. gez. Gulkiewitsch. gez. Said Halim. Konstantinopel, den 26. Januar (8. Februar) 1914. (Orangebuch Nr. I47, abgedruckt in Djemal, Ahmed (Pascha), Erinnerungen eines türkischen Staatsmannes, München: Drei Masken Verlag, 1922, S. 349–51)

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Der ehemalige Konsul in Aleppo Walter Rößler an Johannes LepsiusBriefentwurf [Handschriftliches] Konzept. [Datum des Dokuments ist geschätzt. Das Konzept müßte nach dem Empfang des Briefes von Lepsius (Absendedatum: 13.4.1921) und vor dem Datum der offiziellen Antwort von Rößler an Lepsius (25.4.1921) liegen.] Um die Frage beantworten zu können, ob ich für möglich halte, daß die türk. Regierung die Vernichtung absichtlich herbeizuführen gesucht habe, sei es gestattet, sich die politische Lage zu gegenwärtigen, wie sie bei Ausbruch des Weltkrieges war. Man muß sich dabei in erster Linie vor Augen halten, daß die arm. Frage für die Türkei ungeheuer gefährlich war. Sie konnte u. sollte von Rußland benutzt werden, um die Türkei zu zerstückeln. Unmittelbar nach Beendigung des Balkankrieges, zu welchem Rußland vom Balkan aus den Hebel zur Zerstörung der Türkei angesetzt hatte u. noch ehe der Balkanfrieden abgeschlossen war, rollte Rußland die arm. Reformfrage auf. Sie endete mit einer russischen-türkischen Vereinbarung vom 8. Febr. 1914, nach deren Abschluß der russische Geschäftsträger in Cospoli folgendermaßen berichtete... Die türk. Reg. war sich daher nicht im Unklaren, daß die Aufrollung der armen. Reformfrage durch Rußl. die Vorbereitung der Okkupation sein sollte. Ich halte in der Tat für möglich, daß ein türk. Minister um dieser schweren, drohenden Gefahr zu begegnen, zu dem verzweifelten Mittel orientalischer Politik gegriffen hat, die Armenier auszurotten. Die Ausrottung ist tatsächlich erfolgt, wenigstens ist anzunehmen, daß von den viell. 1 ½ Mill. Armeniern, die es vor dem Kriege in der Türkei gegeben haben mag, mehr als 1 Mill. infolge der Politik der Reg. umgekommen sind. Dieses Ergebnis wäre nicht möglich gewesen, wenn die Ausrottung nicht die durch 4 Jahre hindurch während des Weltkrieges bewußt verfolgte Politik der Regierung gewesen wäre. Aus diesem Grunde haben meiner Überzeugung nach die in dem Buch von Aram Andonian veröffentlichten Befehle Talaat Paschas die innere Wahrscheinlichkeit ihrer Echtheit für sich. Ich habe im Juniheft 1919 der Preuß. Jahrblätter einen Artikel „Armenier u. Türken“ unter dem Pseudonym „Ferdinand Winfrid“ veröffentlicht, in dem ich versucht habe, das politische Verhältnis zwischen den beiden Völkern bei Ausbruch des Weltkrieges objektiv darzustellen. Aus diesem Aufsatz geht ein doppeltes hervor: 1. wie ungeheuer gefährlich die arm. Frage für die Türkei geworden war, da Rußland am Werke war, sie als Mittel zur Zerstücklung der Türkei zu benutzen. 2. Die hoffnungslose Lage der Armenier, die etwa 1 ½ Millionen, als die, die von Rußl. als Sturmbock geg. die Türkei benutzt werden sollten und sich dem nicht entziehen konnten, auch wenn sie gewollt hätten. Denn neben den 1 ½ Mill. Arm. in der Türkei gab es [unleserlich] arm. Untertanen in Rußland, d.h. im Kaukasus. Versagten sich die türk. Armenier den russ. Wünschen, so mußten ihre Stammesbrüder im Kaukasus, die als Geiseln in russ. Hand waren, darunter büßen. Die Arm. waren also, mochten sie wollen oder nicht, eine schwere Gefahr für die Türkei.

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[Ab hier maschinenschriftlich] Die Armenier haben sich tatsächlich den russischen Wünschen nicht versagt. [Gestrichen: Daher die ungeheure Erbitterung der Türken gegen sie. Die Beschuldigung des Aufstandes während des Krieges halte ich für falsch.] d.h. sie haben sich an die fremden Mächte gewendet. [Nächster Satz unkenntlich gemacht.] Diese Tatsache hat die türkische Regierung selbst durch den Mund ihres Grosswesirs Said Halim Pascha am 11. April 1915 dem armenischen Patriarchen als Grund für die Verschickungen angegeben. Andonian S. 91 auch S. 98. Wenn der Verschickungskommissar bei Ankunft in Aleppo mir erklärt hat, Nous voulons une Armenie sans Armeniens, so konnte er es nur, wenn er Instruktionen aus Kospoli mitbrachte, die dem entsprachen. Für die innere Wahrscheinlichkeit sprechen: Als Voraussetzung war zunächst gegeben 1. 1) die politische Lage 2. 2) das Vorbild Abdul Hamids 3. 3) die tatsächlich erfolgte Vernichtung 4. 4) die Äusserung des Verschickungskommissars 5. 5) die Absetzung der menschlichen Beamten. (Ali Suad, Djelal Bey, u.a.). die vom Minister des Inneren erfolgt 6. 6) Instruktion des Kaimmakam von Alexandrette (Hoffmann) 7. 7) Wahrscheinlich ist die Unterschrift von Mustafa Abdulkhalik Bey echt. 8. Von meinen Berichten im Lepsiusbuch ist mir bisher nichts bekannt geworden was ich zurückzunehmen hätte. Die Zahlen von Aram Andonian sind vielfach zu hoch. Mustafa Abdulkhalik wurde Unterstaatssekretär im Ministerium des Innern. Die Verschickung schien zeitweilig zur Ruhe gekommen, doch erfolgte immer wieder ein neuer Anstoss. Warum sind die Armenier nicht in der Provinz Aleppo belassen worden? z.B. in Bab, in Membidj, in Maarra? warum nicht an der Bagdadbahn in Amanus, wo sie gut gebraucht wurden? oder in Tell Abiad, in Ras ul Ain? Warum vor allen Dingen nicht in den Lagern längs des Euphrat? vor allem nicht in Der es Sor? Die ganze Verschickung wird nur verständlich, wenn ein Plan dahinter stand. Für den immer wieder kommenden Anstoss geben die von Andonian veröffentlichten Befehle eine einleuchtende Erklärung. Wer erlebt hat, wie die Ereignisse drei Jahre lang unausgesetzt sich langsam abgespielt haben, hat nicht anders als den Eindruck der planmässigen Vernichtung haben können. Die Ausrottung war m.E. die drei Jahre hindurch bewusst verfolgte Politik der Regierung. [Notiz Auswärtiges Amt] S. 71. erst vorsichtig, allmählich kühner.

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Nachprüfen im Lepsius’schen Buch. S. 168. Sabah Jan. 1919 sagt, es sei bewiesen, daß die Vernichtung auf einen Entschluß u. Befehl des jungtürk. Komitees erfolgt sei. S. 145. Talaat P. sagt: Vernichtg. sei erfolgt auf Befehl des Komitees. 15. Sept. 1915 Lepsius S. LII Die Seele der armenischen Politik war das jungtürkische Komité, Minister des Innern u. Enver Pascha waren für die Ausführung formell verantwortlich. Graf Metternich: Niemand hat die Macht die Hydra des Komités zu bändigen. Lepsius S. XVIII zweifelhaft war die entscheidende Wendg. herbeigeführt. (Link: http://www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1921-0420-DE-001) Copyright © 1995–2015 Wolfgang & Sigrid Gust (Ed.): www.armenocide.net A Documentation of the Armenian Genocide in World War I. All rights reserved

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Der armenisch-katholische Erzbischof Ignatius Maloyan (1869-1915) Ein Märtyrer, dessen Wirkung noch heute verändernd wirken kann1 Martin Tamcke

Vom zweiten bis dritten November 2012 trafen sich unter dem den wahren Gegenstand etwas verdeckenden Konferenztitel „The Social and Economic History of Mardin and the Region“ auf Einladung der Hrant-Dink-Stiftung als Ausrichter, unterstützt von lokalen Verbänden wie der Mardiner Ärztekammer, Forscher aus aller Welt, die großenteils zum Völkermord an Armeniern und Syrern (gemeint sind Suryoye, Aramäer, Assyrer und Syrianer) berichteten. Rahel Dink, die Witwe Hrant Dinks, begrüßte uns mit einer engagierten Rede, die die Mängel im Bereich der Minderheitenrechte in der Türkei herausstellte. Der Kollege Cengiz Aktar, ebenfalls von der Stiftung, wies auf die respektlose Behandlung der Minderheiten in den türkischen Schulbüchern hin. Der Kollege Gaunt, dessen Buch zum Völkermord an den syrischen Christen noch relativ neu war, begann sodann seine Eröffnungsrede mit dem eindringlichen und bewegenden Beispiel des Erzbischofs Ignatius Maloyan. Das wir in der Türkei diese große Konferenz gestalten konnten, war für alle von uns ein kaum zu fassendes Zeichen der Veränderung der politischen Lage in den kurdischen Regionen der Türkei. Und mittlerweile kann jeder, der es will, unsere Beiträge in der Türkei in der türkischen Publikation der Konferenz lesen. Die Ergebnisse wurden also nicht versteckt, nicht lediglich in den jeweiligen internationalen Sprachen veröffentlicht, sondern in der Sprache, über die allein eine Änderung des öffentlichen Bewusstseins in der Türkei zu erreichen sein wird. Unter uns war auch der damals einzige christliche Abgeordnete im türkischen Parlament – mittlerweile sind bei den gerade erst zurückliegenden Parlamentswahlen vier christliche Abgeordnete ins Parlament eingezogen. Ich beginne mit diesem Hinweis auf die Diskussionen in der Türkei, weil jede Erinnerung an Märtyrer von einst ihren Sinn nicht in der Verherrlichung vergangenen Verhaltens finden sollte, sondern aus dem Vergangenen zu einer Erinnerung „nach vorne“ werden muss. Niemand geringerer als der Erzbischof Maloyan selbst weist hierfür den Weg, wenn er Mut macht zum aufrechten Gang in Bedrängnis: „Fürchten

1 Der Vortragsstil ist – um den Charakter der Laudatio bei der Verleihung des Stephanspreises der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte beizubehalten – so erhalten geblieben, wie der Text auch tatsächlich in Köln in der Apostelkirche am Neumarkt vorgetragen wurde. Anmerkungen zu Textbelegen wurden nicht hinzugefügt.

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sie sich nicht! Gott kümmert sich um die Leidenden. Sie werden feststellen, dass sein väterlicher Trost in all Ihren Kämpfen beruhigend wirkt.“ In diesem an den Hauptpfarrer von Bzommar gerichteten Brief weist er darauf hin, dass er selber bereits aus dem bitteren Kelch der Leiden gekostet habe, der doch süß sein könne, wenn er mit dem Kelch Christi vermischt werde. Diese spirituelle Aussage des Erzbischofs holt er durch sein späteres Handeln ein. Zu Mardin und seinen Christen sind wir für diese Zeit sehr gut informiert. Leider kommen wir nur langsam in der Erschließung der Quellen und ihrer Übersetzung in westliche Sprachen voran. Wenn etwa der damalige ostsyrische Bischof der Stadt in seiner Beschreibung der Vorgänge, die er in einem Buch zusammenfasste, in englischer Sprache publiziert vorliegen wird (der Kollege Andrew Palmer sitzt an dieser Arbeit und ich habe versucht, ihn zu überreden, da auch eine deutsche Übersetzung folgen zu lassen), werden wir einmal mehr eine komplettierende Sicht zum Geschehen haben, bei der wir auszuhalten haben, dass die von der Vernichtung betroffenen christlichen Gemeinschaften in der Stadt leider nicht nur eines Sinnes waren und wir neu lernen müssen, ihren Stimmen zuzuhören, um ein immer vollständigeres Bild zu bekommen. Ich verzichte hier auf eine ausführlichere Darstellung des Genozidgeschehens, weil dazu nun unzählige Veröffentlichungen vorliegen, und beschränke mich auf einige knappe Linien mit Blick auf die Osttürkei. Im Zuge des Bestrebens, ein zentralisiertes Reich zu schaffen, wurden die autonomen kurdischen Herrschaftsbereiche im Osten des Osmanischen Reiches Ende des 19. Jahrhunderts weithin zerschlagen. Die Folge war aber nicht eine geordnete Zentralisierung, sondern Anarchie. Die freigesetzte Gewalt richtete sich vor allem gegen alle Minderheiten außerhalb des sunnitischen Islam. Da der Staat wenigstens teilweise neue Verhältnisse etablieren konnte, forderte er auch direkt Steuern ein. Zugleich aber blieben überkommene Strukturen bestehen, die ihrerseits ebenfalls Steuern eintrieben. Die Niederlage im russisch-türkischen Krieg 1877/78 trieb erstmals Massen umzusiedelnder Muslime auf den Boden des Osmanischen Reiches. Viele wurden in den Osten verwiesen, mitten unter die Christen und Kurden und schlecht versorgt. Da Sultan Abdulhamid die auf dem Berliner Kongress vereinbarten Reformen, die den Armeniern zugutekommen sollten, hintertrieb, wuchs Widerstand. Armenische Bauern in Sassun wehrten sich 1893/94 gegen die Eintreibung der Steuern. Zwar unterschrieb der Sultan 1895 auf internationalen Druck hin nochmals das Reformprojekt, doch diesem Akt folgten unmittelbar antiarmenische Pogrome. Bis heute ist in der Forschung umstritten, ob diese Pogrome vom Sultan veranlasst waren oder nicht. Allerdings schützten die Lokalbehörden erkennbar nicht die Angegriffenen. Die Reaktion des Westens war symptomatisch: viel humanitäre Hilfeleistung wohlmeinender Menschen, einige diplomatische Proteste, aber keine gezielte internationale Aktion gegen das Geschehen und für die Durchsetzung der internationalen Vereinbarungen. Kaiser Wilhelm fand sich gar am Hof des Sultans und Kalifen ein, obwohl er keinen Zweifel an seiner Abscheu für die Handlungsweise des osmanischen Herrschers ließ.

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Mit dem Bund für Einheit und Fortschritt aus mittelständischen Kreisen unter französischem Einfluss schienen sich Retter des Staates anzubieten, die zugleich den Sultan zu stürzen sich anschickten. Während die Politik des Sultans auch die religiöse Komponente stark mit betont hatte – so im Islamismus, der ähnlich wie der Osmanismus ein einigendes Band für den instabilen Vielvölkerstaat zu etablieren suchte –, waren die Jungtürken säkular gesonnen und instrumentalisierten den Islamismus lediglich für ihre Ziele. Schon bei den Pogromen im Kontext der Konterrevolution gegen die Jungtürken besonders um Adana fanden sich einerseits Jungtürken auf Seiten der Täter, andererseits weiterhin auch auf Seiten derer, die sich gegen Ausschreitungen einsetzten. Die politische Radikalisierung aufgrund der verlorenen Kriege in Libyen und den Balkankriegen führte zu einer radikalen Türkisierungspolitik um Enver Pascha, einem Bewunderer Preußens, und in die jungtürkische Einparteiendiktatur. Die armenischen Bitten an internationale Mächte um Mediation wurden bereits als gegen den Staat gerichtet gesehen und Izmir als Hort des Griechentums als ein Zentrum eines inneren Tumors bezeichnet. Es kam zu Vertreibungen von Griechen und Armeniern an der ganzen Ägäisküste. Der wirtschaftliche Boykott armenischer und griechischer Händler wurde als politische Waffe angewandt, die sich gegen christliche „Ausbeuter“ und „Blutsauger“ wandte. Diese Vertreibungen waren noch nicht auf Vernichtung gerichtet. Dennoch starben unzählige Menschen. Der Weltkrieg schuf neue Gelegenheiten. Enver versuchte einen aberwitzigen Feldzug gegen russische Truppen, der so gnadenlos scheiterte, dass das gesamte Reich gefährdet schien. Hans Lukas Kieser meint, dass spätestens nun „der Antiarmenismus bei der türkischen Elite zu einer Obsession“ geworden sei. Talaat Pascha beschwerte sich gar bei einem Besuch in Malatya, darüber, dass die Moscheekanzel dort von einem armenischen Handwerker stammte. Da Armenier auch auf russischer Seite kämpften, kam es in Notwehr bei den schwer bedrängten Armeniern zu Gegenwehr, die von türkischer Seite genutzt wurde, diese als illoyale Aufstände gegen den Staat vorzuführen und mit harten Maßnahmen reagieren zu können. Taner Akcam denkt an die Zeit im März 1915, also nach den großen militärischen Niederlagen im Osten, als diejenige, in der der Beschluss zur Vernichtung der Armenier fiel. Ende April begann mit der Ausschaltung der gesamten armenischen Elite der Völkermord. Ab Mai häuften sich die Massaker. Schon im Sommer war auch der deutschen Botschaft klar, worauf das Geschehen zielte. Die Regierung verfolge tatsächlich den Zweck, meinte der Botschafter, „die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“ Die „Verschickungen“ begannen, juristisch abgesichert durch das „Provisorische Gesetz über Massnahmen, welche die militärische Autorität gegen die Widersacher der Regierung zu ergreifen hat“ (27. Mai 1915). Die Deutschen rechtfertigten zunächst einige Verschickungen als militärisch notwendig. Eberhard Wolffskeel von Reichenberg involvierte sich selbst. Den deutschen Offizieren fiel auf, wie planmäßig sich alles vollzog: „Die Austreibung und Vernichtung der Armenier war vom jungtürkischen Komitee in Konstantinopel beschlossen, wohl organisiert und mit Hilfe von Angehörigen des Heeres und von Freiwilligenbanden durchgeführt. Hierzu befanden sich Mitglieder des Komitees hier an Ort und Stelle“. Dies war das Resümee

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eines deutschen Offiziers und Augenzeugen, des Oberstleutnants Stange. In der Regel wurden zunächst die Männer abgesondert. Wer nicht das eher seltene Glück hatte, in irgendwelche Arbeiter-Bataillone gesteckt zu werden, wurde zumeist in unmittelbarer Nähe oder nach kurzem Transport ermordet. Frauen und Kinder wurden, stets bedroht vom Mädchenraub durch marodierende Banden, in die Konzentrationslager in der syrischen Wüste verschickt, teilweise mit der Bahn in Viehwaggons, öfter zu Fuß. Was nicht Hunger und Strapazen schafften, das schafften die ansteckenden Krankheiten infolge massiver hygienischer Probleme. Massenverbrennungen gestorbener Deportierter sollten den Seuchen wehren. Der Besitz wurde allen Zusagen zum Trotz in der Regel in staatliche Hand überführt. Deutsche Missionare sahen zu, wie lokale Reiche sich am Gut der Armenier bereicherten. Wir wissen heute aber, dass es erhebliche Unterschiede im Vorgehen beim Völkermord gab und dass er sich oft in mehreren Wellen an einem Ort vollziehen konnte. In einer Provinzstadt wie Mardin wusste man nicht um den Befehl zur Vernichtung. Es erreichten die Stadt aber durchaus schon die Schreckensnachrichten zu dem, was im Nordosten der Region vor sich ging. Diese Nachrichten sorgten für verständliche Unruhe unter den Christen der Stadt. Noch am 18. oder 20. April wurde Ignatius Maloyan von höchster Stelle, vom Sultan Mehmed V., mit einer Auszeichnung für sein Engagement bedacht, die ihm von Hilmi Bey überreicht wurde. Damit ist er kein Ausnahmefall. Viele Armenier hatten ursprünglich auf die Jungtürken gehofft – politisch gab es gemeinsame Ziele und Handlungen. Der Wechsel der Haltung der Regierung kam für viele Armenier immer noch unvorbereitet; hatten sie doch auf die Reformen zu ihren Gunsten kurz vor dem Krieg gehofft und sich aktiv für eine Umgestaltung der türkischen Gesellschaft eingesetzt. Das taten sie, obwohl die Bedrängnisse für sie in der türkischen Gesellschaft nie wirklich aufhörten. Maloyan, am 18. April 1869 in Mardin geboren, seit 1883 am Priesterseminar im libanesischen Bzommar studierend, 1896 zum Priester geweiht, nahm bewusst den Namen Ignatius an, den Namen des antiochenischen Märtyrerbischofs, der zu einer Leitfigur des christlichen Märtyrergedankens wurde. Als Pfarrer arbeitete er vorrangig in Kairo – das gehörte da noch zum Osmanischen Reich – mit einem starken Engagement für Arme und Kranke. Zu diesen Vergessenen empfand er sich von Gott gesandt und nahm dafür tägliche Erschöpfungszustände in Kauf. Von 1904 an war er Sekretär des armenisch-katholischen Patriarchen von Konstantinopel, Sorghos Bedros XII (1836– 1915, 1904–1910 Patriarch), der wie er – allerdings als Bischof – in Ägypten gewesen war, wie er sich auch seelsorgerlich besonders für die Armen engagierte, wie er auch besonders gebildet war und einige Bücher verfasste. Als der Bischof seiner Heimatstadt Mardin aus Altersgründen zurücktrat, wurde Maloyan am 22. Oktober 1911 während der Synode der armenisch-katholischen Bischöfe in Rom zum Bischof seiner Heimatstadt gewählt und vom ebenfalls gerade in sein Amt gekommenen armenischkatholischen Patriarchen von Konstantinopel, Boghos Bedros XIII. Terzian (18551931, 1910 bis 1930 Patriarch), geweiht. Dieser Patriarch hat selbst autobiographisch seine Erinnerungen an die Zeit der Völkermorde festgehalten. In Princeton bekam ich

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von dessen Familie ein gerade aus dem Druck gekommenes Exemplar in die Hand, das allerdings auch zeigt, dass er es großenteils erst im Rückblick verfasst hat. Der Patriarch war Gesprächspartner von Johannes Lepsius, der 1915 im Einverständnis mit der deutschen Reichsregierung nach Konstantinopel gefahren war, um mit Enver Pasacha zu sprechen (wozu Lepsius einen Kurzbericht verfasste, den Franz Werfel in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ aufnahm) und Materialien zusammenstellen zu dem, was geschah. Diese Materialien waren dann die Grundlage seines Berichtes, mit dem er die Zensur umging und dessentwegen er in die Niederlande ins Exil ging. Als Maloyan sein Amt in Mardin antrat, war seine Diözese noch von den Folgen einer Hungersnot gekennzeichnet und sein starkes soziales Engagement stieß immer wieder an Grenzen im Umgang mit den Behörden vor Ort. „Ständig schikaniert die Regierung mich und mein Volk in heimtückischer Weise. Wir tun niemanden leid, niemand versucht, diese verzweifelte Situation zu korrigieren.“ Mit seinem beharrlichen Engagement erwarb er sich den Respekt, der ihm auch die Auszeichnung durch den Sultan im April 1915 einbrachte. Als dann Reschid Bey im Mai 1915 mit der brutalen Maßnahmen gegen die Armenier in Diyarbakir begann, feierte Malyoan selbst noch am 3. Juni die Fronleichnamsmesse und mahnte die Gläubigen zu zivilem Gehorsam gegenüber den lokalen Behörden. Er war damit nicht allein. Der syrischkatholische Patriarch in der Stadt wird später dem einstigen Missionar der deutschen Orientmission, Detwig von Oertzen, als dieser 1917 in Mardin als Pfarrer die Leitung des deutschen Soldatenheimes in der Stadt übernommen hatte, berichten, wie er seine Gemeinde im Hof des Patriarchates vor dem Abmarsch in die Deportation in Festtagskleidern versammelte, sie Abschied nahmen, beteten und sich segnen ließen. Nein, Aufständische waren diese Menschen nicht. Doch am selben Tag, an dem Maloyan noch zu zivilem Gehorsam aufgerufen hatte, erfolgte bereits die Absperrung der Stadt durch Milizionäre und kam es zu Hausdurchsuchungen. Maloyan gehörte mit sechs Priestern zu den ersten, die verhaftet und in der Zitadelle gefangengesetzt wurden. Am Folgetag, dem 4. Juni, erfolgte die Verhaftung von Notabeln. Nun wurden Gefangene gefoltert – Maloyan, als herausragender Repräsentant seines Volkes, besonders. Zunächst die Bastonade, das gezielte Prügeln der Fußsohlen, und Ausreißen der Fingernägel… Der Mann, der noch wenige Tage zuvor ausgezeichnete Kontakte zu den osmanischen Behörden zu unterhalten schien, musste sich mit seinem schwer geschundenen Körper an die Spitze des ersten Deportationszuges stellen, zu dem 226 Armenier, 112 Syrer, 30 Chaldäer und 27 armenische und syrische Protestanten gehörten. Schon da hätte allen klar sein müssen, dass diese Aktion sich gegen alle christliche Konfessionen richtete. Aber das Unglaubliche geschah. Als der Zug, mit dem gemarterten Bischof, dessen Hals in Eisen lag und dessen Hände gefesselt waren, an der Spitze sich auf der Straße in aller Öffentlichkeit in Gang setzte, schmähte die umstehende Bevölkerung die Erniedrigten und – das scheint beschämend, ist aber aufgrund der Angst ums eigene Überleben auch zu verstehen – die in der Stadt verbleibenden Christen schwiegen. Dem ersten Zug folgte ein zweiter am 14. Juni, ein

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dritter am 2. Juli; am 10. August und am 12. September folgte der Abtransport von Frauen und Kindern. Da reagierten längst selbst die deutschen Diplomaten. Konsul Rössler, dieser deutsche Ausnahmediplomat vom Konsulat in Aleppo, verwies am 3. September die deutsche Reichsregierung darauf, dass aus den Maßnahmen gegen die Armenier Maßnahmen gegen die Christen geworden waren. Er berief sich u.a. auf einen Bericht des stellvertretenden syrisch-katholischen Bischofs von Mardin. Da waren gerade 300 Kinder und ältere Frauen aus Mardin bei ihm in Aleppo angekommen. „Der Rest der Gemeinschaft wird umgekommen oder entführt sein.“ Im Kern sind Berichte also richtig, die davon ausgehen, dass zumindest die Armenier Mardins zu dieser Zeit bereits alle niedergemetzelt waren, und auch die syrischen Katholiken. So sagten dies auch zwei Kurden aus Mardin dem Armenier Matros Gasarian gegenüber aus, was daraufhin der deutsche Konsul von Adana nach Berlin berichtete. Merkwürdig an der Realität vorbei berichtet Talaat Pascha dem Gouverneur von Diyarbakir am 12. Juli lediglich von der nächtlichen Ermordung von 700 Armeniern in Mardin, die „wie die Schafe geschlachtet“ worden seien und verbat ausdrücklich, andere Christen einzubeziehen, um einen schlechten öffentlichen Eindruck zu vermeiden. Aber da waren längst auch die ersten Syrer getötet worden. Zwei Mutasarrifs von Mardin wurden, um dies alles überhaupt erst möglich zu machen, ihres Amtes enthoben, weil sie sich geweigert hatten, „die Befehle der Regierung gegen die Armenier auszuführen“. Als es die Syrer in Mardin und dem nahen Tur Abdin traf, setzten sie sich heftig zur Wehr. Sie wussten nun, was mit ihnen geschehen würde, würden sie den Zusicherungen der Beamten trauen. Es kam zu militanten Auseinandersetzungen mit dem türkischen Heer. Als die deutschen Diplomaten dann am 14.2. 1916 vermeldeten, Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz habe den „Konflikt“ beilegen können, war das nicht mehr als eine die Wahrheit weithin verdeckende Mitteilung. Mittlerweile waren auch die Syrer, zunächst die Ostsyrer, dann auch die Westsyrer, vernichtet worden. Man kann es fast nicht glauben, dass die Überlebenden Christen weiter Gottesdienst hielten. Detwig von Oertzen von der deutschen Orientmission diente als deutscher Pastor überlebenden Syrern und Armeniern und der geistlich verwaisten amerikanischen Missionsstation – brachte gar zwei Vollwaisen aus Diyarbakir nach Mardin zu Verwandten. Erst 1922 setzten dann die von Jakob Künzler und seiner Frau geleiteten Transporte in der Stadt ein, mit denen 7.000 überlebende Waisenkinder außer Landes gebracht und so gerettet wurden. Was mit dem vom Gejohle der Bevölkerung begleiteten Auszug des erniedrigten armenisch-katholischen Erzbischofs Maloyan begann, steigerte sich zur Ausrottung der Christen der Stadt, die noch zur knappen Hälfte christlich gewesen war: Armenier, armenische Katholiken, Syrisch-Orthodoxe, syrische Katholiken, armenische Protestanten, syrische Protestanten, Chaldäer und Angehörige der Kirche des Ostens. Die Patriarchen der Syrischen Orthodoxen Kirche residierten auch nach dem Massenmorden zunächst noch im Safrankloster bei der Stadt, ebenso wie der nun ohne seine

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Gläubigen verwaiste syrisch-katholische Patriarch. Maloyan hatte dem Hauptkommissar der Polizei, Memdouh Bey, gegenüber seine Treue zum Staat betont und den Übertritt zum Islam verweigert. Bis zuletzt hielt er an seiner Treue zu dem Staat fest, der ihn im Begriff war, umzubringen. Als er wiederholt jede ihm und anderen Armeniern und Syrern unterstellte Illoyalität zum Staat im Namen aller zurückwies, wurde er von Memdouh Bey persönlich erschossen. Mit ihm am selben Tag starben auch die ersten Mitglieder seiner Familie. Es war nicht von ungefähr, dass der Staat sich zuerst derer entledigte, deren Staatsreue ihr Handeln fragwürdig machte. Mit ihnen starb der Traum einer friedvollen Koexistenz der Völker und Religionen in der Osttürkei. Und so sehr die Staatstreue des Gemarterten und Getöteten uns heute auch irritieren mag, sie war ein konsequenter Versuch, den Tätern vor Augen zu führen, dass sie das Recht – im Sinne etwa der erst im Dezember 1948 verabschiedeten Erklärung Menschenrechte der UN – nicht auf ihrer Seite hatten. Als der Reichstagsabgeordnete Mathias Erzberger seine Denkschrift am 3. März 1916 verfasste, da zählte Mardin bereits zu den 15 Diözesen, von denen er feststellte, dass sie aufgehört hätten zu existieren. Sie hätte ihre Bewohner „durch Metzeleien verloren“. Können wir anders, als zu hoffen, dass da eines Tages überall Kirchen oder wenigstens Denkmäler wiedererstehen, die an das erinnern, was da geschah? Wäre das nicht ein notwendiges Zeichen? Was an den Getöteten geschah, kann keine Macht der Welt wieder gut machen. Aber die Lehre daraus ziehen können die Menschen dort eher, wenn zumindest die Kirchen wieder erstehen, die unrechtmäßig zweckentfremdet, zerstört oder dem Verfall preisgegeben wurden. Nicht Museen sollten das werden, sondern Stätten der Erinnerung. Maloyans sinnlosem Tod würde ein Sinn gegeben, wenn alles getan würde, dass sich so etwas nie wiederholt. Stattdessen müssen wir zusehen, wie den durch die Genozide Traumatisierten in Syrien und dem Irak neue Traumata hinzugefügt werden. Maloyan blieb treu auch zu denen, die ihm feind wurden. Sollte das nicht zur Umkehr einladen, heute wieder ganz unbedingt? Können wir anders, als das wir das erwarten müssen, damit Steine reden, wo Menschen für immer zum Schweigen gebracht wurden?

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Völkermord als Selbstschutz oder Vergeltung? Muslimische Kriegs- und Vertreibungserfahrungen vor dem Ersten Weltkrieg Tessa Hofmann

Das Jahr 2014 bot einen doppelten Anlass des historischen Erinnerns und Gedenkens: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor einhundert Jahren lieferte dem osmanischen Regime der Jungtürken die willkommene Nebelwand, hinter der sie die bereits in früheren Jahren angedrohte Vernichtung der indigenen Christen vorantreiben und, was die osmanischen Armenier und aramäischsprachigen Christen betrifft, abschließen konnten. Zweitens jährte sich 2014 zum 150. Mal das Gedenken an das Jahr 1864, das für die indigenen Völker des Nordwestkaukasus den Höhepunkt der Verbrechen markiert, die die russische Regierung und Heeresleitung an ihnen verübten. Beide Verbrechen – das der russischen und das der osmanisch-türkischen Regierung – stehen dabei in einem engeren Wechselverhältnis, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Unter den muslimischen Tätern, die während des Ersten Weltkrieges Massaker, Folterungen und Plünderungen an armenischen, aramäischsprachigen und pontosgriechischen Christen begingen, finden sich überproportional folgende nichttürkische Volks- bzw. Herkunftsgruppen: die Nachfahren muslimischer Deportierter aus dem Nordkaukasus, muslimische Flüchtlinge vom Balkan sowie Kurden. Raymond Kévorkian äußerte zu diesem Befund in den Schlussfolgerungen seiner monumentalen Geschichte des armenischen Genozids: „Ausgehend von der Bestandsaufnahme all jener, die am meisten für den Genozid verantwortlich zu machen sind, seien es nun zivile oder militärische Beamte oder örtliche Notabeln, kann festgestellt werden, dass diejenigen, die am stärksten in die Massengewalt verwickelt waren, oft marginalen sozialen Gruppen entstammten und, so muss betont werden, oft Minderheiten mit Wurzeln im Kaukasus angehörten. Dies trifft besonders auf die Tscherkessen und Tschetschenen zu, die anscheinend Rechnungen mit ihrer schmerzhaften Geschichte zu begleichen hatten und sich leicht dazu hinreißen ließen, die Armenier mit ihren russischen Unterdrückern gleichzusetzen. Die Hauptrolle, die

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‚die‘ Kurden laut türkischer Historiographie und vielen westlichen Wissenschaftlern gespielt haben sollen, erweist sich bei näherer Prüfung als weit weniger eindeutig als vermutet.“1 Mit Ausnahme der Kurden, deren Verwicklung vor allem in die Vernichtung von Aramäern/Assyrern einer gesonderten bzw. abschließenden Analyse bedürfte, handelt es sich bei den Nordkaukasiern und Balkanflüchtlingen um anscheinend retributiv, also rächend motivierte Opfer von Vertreibungs- und Gewalterfahrungen bzw. um deren Nachfahren. Sie selbst deuteten ihre Handlungen gegen osmanische Christen während des Weltkrieges und danach als Prävention und Selbstschutz. „Unsere Wut steigt“, schrieb der jungtürkische Kriegsminister Enver 1913 unter dem Eindruck osmanischer Kriegsverluste während der Balkankriege an seine Frau: „Rache, Rache, Rache! Es gibt kein anderes Wort!“2 In einer öffentlichen Rede erklärte Enver, ebenfalls 1913: „Wie könnte man die Ebenen, die Wiesen vergessen, die mit dem Blut unserer Vorväter getränkt sind? Wie die Orte vergessen, wo türkische Marodeure ihre Reitpferde für ganze vierhundert Jahre versteckt hatten, zusammen mit unseren Moscheen, unseren Gräbern, den Einsiedeleien unserer Derwische, unsere Brücken und Schlösser, um sie nun unseren Sklaven zu überlassen und aus Rumelien nach Anatolien vertrieben zu werden? Das geht über jedes Maß des Ertragbaren hinaus. Ich bin bereit, den Rest meines Lebens zu opfern, um mich an den Bulgaren, den Griechen und Montenegrinern zu rächen.” 3 Wie stark die Sichtweise der muslimisch-osmanischen Elite durch die Erfahrung des Macht- und Einflussverlustes sowie kriegsbedingter Vertreibung und Gewalt geprägt wurde, veranschaulicht auch folgendes Zitat des politisch für die Vernichtung der Armenier hauptverantwortlichen osmanischen Innenministers Mehmet Talat. Wir verdanken es den zeitnah, d.h. 1926, veröffentlichten Erinnerungen der türkischen Autorin und nationalistischen Aktivistin Halidé Edip, die ein Gespräch mit Talat aus dem Jahr 1916 und aus Anlass der Armenierdeportation wie folgt zitiert: „Sehen Sie mal, Frau Halidé: Ich habe ein ebenso gütiges Herz wie Sie. Und es lässt mich nachts wegen des menschlichen Leids nicht schlafen. Aber das ist eine persönliche Sache. Und ich bin auf der Welt, um an mein Volk und nicht, um an meine Empfindsamkeit zu denken. Falls ein makedonischer oder ein armenischer Anführer die Möglichkeit und den Anlass erhält, wird er niemals zögern. Während der Balkankriege ist eine ebenso große Anzahl

1 Raymond Kévorkian, The Armenian Genocide: A Complete History (London: I.B. Tauris, 2011), S. 810. 2 http://www.lrb.co.uk/v30/n17/perry-anderson/kemalism (Alle Links in diesem Beitrag waren zum Zeitpunkt der Endbearbeitung aktuell). 3 Ibid.

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Völkermord als Selbstschutz oder Vergeltung?

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Türken und Muslime ermordet worden, aber die Welt schweigt dazu. Ich bin überzeugt, dass eine Nation, die für ihre Interessen das Beste tut und dabei Erfolg hat, von der Welt bewundert und für moralisch gerechtfertigt gehalten wird. Ich bin bereit, für das, was ich getan habe, zu sterben, und ich weiß, dass ich dafür sterben werde.“4 Die Äußerung Talats verrät zum einen das allen Völkermördern eigene Rechtfertigungskonstrukt: die Schuldzuweisung an die designierte Opfergruppe. Die von den Opfern angeblich ausgehende Gefahr wird dabei grotesk überzeichnet. Denn im Regelfall handelt es sich bei Opfern und Tätern um äußerst ungleiche Macht-, Zahlenoder Bewaffnungsverhältnisse. Zugleich zeigt das Talat-Zitat, wie stark die wenige Jahre zuvor während der Balkankriege 1912 und 1913 an Muslimen begangenen Verbrechen für die osmanische Elite den Vergleichsmaßstab und Referenzrahmen ihrer eigenen Handlungen darstellten. Halidé Edip, die im Übrigen das Vorgehen Talats gegen die Armenier zumindest im Nachhinein billigte und rechtfertigte, warf ihrerseits den europäischen, vor allem den britischen Kritikern der Armeniermassaker vom April 1909 Doppelmoral vor: „Die Erklärung von Mr. Asquiths5 Kabinett war anscheinend eine einfache Vorsichtsmaßnahme für den Fall eines türkischen Sieges, und die Massaker riefen nicht ein Viertel der Empörung wie bei den armenischen Massakern hervor. In der Türkei sowie in der islamischen Welt Asiens sprachen diese Tatsachen zutiefst gegen Europa. Ich glaube, dass das Doppelmaß, das Europa an die muslimischen Türken und an die christlichen Völker in der Türkei anlegte, den Nationalismus in der Türkei stark entfacht hat. Es rief außerdem das Gefühl hervor, dass die Türken andere vernichten mussten, um nicht vernichtet zu werden.“6 Als Beispiel für die bevölkerungspolitische Radikalisierung jungtürkischer Wortführer und Funktionäre durch die Balkankriege lässt sich Dr. med. Mehmet Reşid Şahingiray (1873–1919) anführen, dessen Biographie der Schweizer Turkologe HansLukas Kieser diesbezüglich erforscht hat. Von tscherkessischer Abstammung, kam Mehmet Reşid 1873 im russisch beherrschten Kaukasus zur Welt, von wo seine Familie ein Jahr später in das Osmanische Reich flüchtete. Zutreffend charakterisiert Kieser die kaukasischen Einwanderer im osmanischen Reich als soziale Schicht, die die türkische Nationalbewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts entscheidend geprägt hatte:

4 Halidé Edib, Memoirs of Halide Edib (London/New York: Gorgias Press, 1926; Reprint 2005), S. 387. 5 Herbert Henry Asquith war liberaler Premierminister des Vereinigten Königreichs zwischen 1908 und 1916. 6 Ibid., S. 333.

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„Zutiefst traumatisiert, hatte diese Schicht bereits früh eine ausschließlich türkisch-muslimische Solidarität entwickelt. Innerhalb dieser Schicht der türkischsprachigen Muslime aus Russland wurde der Türkismus geboren.“7 Der venezolanische Abenteurer Rafael de Nogales, der 1915–1918 als regulärer Offizier in der osmanischen Armee diente und zum Augenzeugen des Waner Aufstands, aber auch der Vernichtung der Armenier wurde, schildert eine Begegnung im Serail des Waner Generalgouverneurs Cevdet [Belbez] im April 1915: „Mir zur Rechten saß Achmed-Bei in korrektem englischen Sportanzuge. Er sprach mehrere Sprachen fehlerlos, war Mitglied einiger der besten Konstantinopler Klubs und hatte lange Zeit in London gelebt. Mit seinen aristokratischen Manieren und seinem blasierten Gesicht hätte man ihn für einen der Snobs halten können, die im Hyde Park vierelang zu kutschieren pflegten. Dabei war Achmed-Bei kein anderer als der berüchtigte Räuberhauptmann Tscherkess-Achmed8, Führer einer Schar tscherkessischer Freiwilligen, der später auf Befehl der Regierung die armenischen Abgeordneten Zorab [Grigor Zohrap], Vartkes [Vardgēs Sērēngowlean – Wardges Serenguljan] und Daghawarian [Nazaretʻ Taġavarean] in der ‚Teufelsschlucht‘ abschlachtete und schließlich auf Betreiben Dschemal-Paschas in Damaskus aufgeknüpft wurde.“9 Nogales beschreibt im weiteren Verlauf, wie besagter Brigantenführer Ahmet mit seinen Tscherkessen am 28. April 1915 auf Befehl von Gouverneur Cevdet in einer Art Rache- und Strafexpedition über die umliegenden armenischen Ansiedlungen herfiel, von deren Einwohnern nur noch Frauen und Kinder übrig waren. „Es ist überflüssig zu sagen“, schreibt Nogales, „wie Achmed mit diesen Unglücklichen verfahren ist, wenn selbst Dschevded ihm darüber Vorwürfe machte, und sogar die Kurden sich ihrer Taten schämten.“10 Es ist zu vermuten, dass wiederholte Gewalterfahrungen in religiös eingefärbten Kriegen und Vertreibungen die antichristlichen Vorurteile osmanischer Muslime verstärkt haben. Diese Wirkung scheint bis zum Machtantritt der islamistischen AKP angehalten zu haben. Denn mir sind im Verlauf der Jahrzehnte auf Konferenzen und anderen öffentlichen Veranstaltungen zahlreiche Menschen aus der Türkei begegnet, die mich nach meinen Vorträgen oder Redebeiträgen mit ihrer Familiengeschichte konfrontierten. Die meisten gehörten der kemalistischen Führungsschicht an und

7 Hans-Lukas Kieser, „Dr. Mehmed Reshid (1873–1919): A Political Doctor”, in Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah – The Armenian Genocide and the Shoah, Hg. Hans-Lukas Kieser, und Dominik J. Schaller (Zürich: Chronos, 2002), S. 247. 8 Mit vollem Namen Major Sirozlu Çerkez Ahmet. 9 Rafael de Nogales, Vier Jahre unter dem Halbmond: Erinnerungen aus dem Weltkriege (Berlin: Hobbing Verlag, 1925), S. 55. 10 Ibid., S. 64.

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äußerten, dass ihre Vorfahren vom Balkan vertrieben worden seien, meist unter Zurücklassung ihrer gesamten Habe. Während sie sich detailliert an Einzelheiten der Flucht ihrer Vorfahren erinnern konnten, zeigten sie in aller Regel keinerlei Empathie für Armenier oder andere osmanische Christen, über deren Leiden ich referiert hatte. Ich hielt dieses auffallend einförmige Verhalten zunächst für eine einstudierte Abwehrpose, bis mir die nähere Beschäftigung mit den Balkankriegen und vor allem der russischen Eroberung des Nordkaukasus zeigte, dass ich es offenbar mit einem authentischen, über Generationen vererbten Trauma zu tun hatte, das in Verbindung mit ideologischen Fixierungen keinen Raum für Empathie, Vergleiche sowie menschenrechtliche oder wissenschaftliche Verallgemeinerungen zuließ. Gerade um diese übergreifenden Schlussfolgerungen und die Empathiefähigkeit geht es mir aber bei diesem Thema. Ich wage hier die Doppelthese, dass die von Russland an der nordkaukasischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert begangenen Verbrechen die Blaupause für die Bevölkerungspolitik der Jungtürken geliefert haben und dass zweitens die russisch-imperiale und die osmanisch-türkische Bevölkerungspolitik zahlreiche Schnittstellen und teilweise auch Kooperationen auf Kosten der indigenen Bevölkerung zwischen Kaukasus und Kleinasien aufweisen. Russland konnte sich in der Neuzeit nur im militärisch schwachen Asien erfolgreich ausdehnen. Seine Südexpansion setzte unter dem dynamischen, charismatischen Zaren Peter dem Großen (1672–1725) ein und wurde von der nicht minder charismatischen deutschstämmigen Kaiserin Ekaterina II. (1729–1796) fortgeführt, die unter anderem das tatarische Krimchanat zerschlug und mit Unterstützung der indigenen Christen, darunter Armenier, 1783 die Halbinsel Krim in russischen Besitz brachte sowie weite Teile der heutigen Südukraine als Provinz Neurussland besiedeln ließ. Die Kontrolle des kaukasischen Gebirgsriegels auf dem handels-, verkehrs- und militärstrategisch wichtigem Isthmus zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer besitzt für Russland eine doppelte strategische Bedeutung: zum einen konnte Russland so auf die südlich anschließenden Gebiete, den Iran und vor allem Georgien, zugreifen; zum anderen benötigte Russland die Küstenregionen, um das Schwarze Meer zu kontrollieren. Die Politik gegenüber der indigenen muslimischen Bevölkerung in den neueroberten Gebieten des heutigen Südrusslands wie auch in Mittelasien und im Nordkaukasus blieb seit dem späten 18. Jahrhundert gleich: Die Muslime wurden in sämtlichen Lebens- und Wirtschaftsbereichen benachteiligt, eingeschüchtert, vertrieben und ihre Rückkehr behördlich verhindert. Seit der Annexion der Krim bis 1922 vertrieb Russland bis zu 1,8 Millionen Krimtataren und des Weiteren 50.000 turkstämmige Nogaier aus den heute südrussischen Steppengebieten. 11 Von der Vertreibung aus ihrer Heimat haben sich weder Nogaier, noch Krimtataren erholt:

11 Arsen Avakjan, Čerkesskij Faktor v Osmanskoj Imperii i Turcii (vtoraja polovina XIX – pervoj četvert‘ XX vv.) (Erevan: Nacional’naja Akademija Nauk Respubliki Armenija, Muzej-Institut Genocida Armjan, 2001), S. 70 ff.

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Während beispielsweise heute nur 90.000 Nogaier in ihrer ursprünglichen nordkaukasischen Heimat leben, sind in der Türkei eine Million Menschen nogaischer Herkunft. Sowohl in Russland, wie auch in der Türkei unterliegen die Nogaier jeweils einem starken Assimilationsdruck. Im Kaukasus stieß Russland auf eine sprachlich und ethnisch stark differenzierte halbnomadische Bergbevölkerung im vornationalen und vormodernem Zustand, der es auch im Verlauf jahrzehntelanger Bedrängnis und bewaffneter Auseinandersetzungen mit Russland nicht gelang, sich unter einer gemeinsamen Führung zusammenzuschließen, geschweige denn einen Zentralstaat aufzubauen. Zur inneren Zerrissenheit trugen zudem noch wachsende Sozialkonflikte zwischen der indigenen Bauernbevölkerung und Aristokraten bei. Besonders die im Nordwestkaukasus lebenden zwölf tscherkessischen Stämme kannten keine Zentralgewalt. Zur Gesellschaft Tscherkessiens gehörten auch die kleine Gruppe der Abassinen, die seit dem 15. Jahrhundert aus Abchasien zugewandert war, das zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert entstandene Turkvolk der Karatschaier und eine nordwestkaukasische Untergruppe der turkstämmigen Nogaier („Kuban-Nogaier“). Als ursprünglicher Siedlungsraum der Tscherkessen – oder wie sie sich selbst bezeichnen: Adyge und Kabardiner – gelten die Schwarzmeerküste und der Nordwestkaukasus bis zur Krim sowie den Flüssen Don und Wolga. Allerdings mussten sich die von den Krimtataren bedrängten Kabardiner im 16. Jahrhundert vom Nordufer des Asowschen Meeres, dem Don und der Wolga zurückziehen und wanderten südwärts in den Zentralkaukasus ein.12 In diesen Zeitraum fällt auch der Beginn der sukzessiven Islamisierung der Tscherkessen, die sich anfangs auf den Adel beschränkte, während die einfache Bevölkerung noch bis 1860 zu 60–70% dem Christentum anhing. 13 Es war von Byzanz erst spät, im 6. Jahrhundert, bei den Tscherkessen eingeführt worden und war mit erheblichen vorchristlichen Relikten durchsetzt, darunter animistische und schamanistische Glaubensvorstellungen. Die eigentliche Religion der Nordwestkaukasier blieb, wie es der US-Forscher Walter Richmond treffend umschrieb, trotz der Mission monotheistischer Religionen das „adygage“ – das „Adyge sein“ –, wozu das Gebot bedingungsloser Gastfreundschaft und Toleranz gegenüber anderen Lebensweisen

12 Gerayer Koutcharian, Der Siedlungsraum der Armenier unter dem Einfluss der historischpolitischen Ereignisse seit dem Berliner Kongress 1878: eine politisch-geographische Analyse und Dokumentation (Berlin: D. Reimer Verlag, 1989), S. 64. 13 Zur Situation der Tscherkessen (Adyge) in der Türkei, im Nahen Osten und in der Bundesrepublik vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Hg., pogrom: Zeitschrift für bedrohte Volker Nr. 85 (12. Jg., Okt./Nov. 1981): S. 58. – W. Richmond zufolge blieb der Stamm der Schapsug bis 1844 christlich und der der Natuhaj „heidnisch“. Erst das Bündnis mit dem tschetschenisch-muslimischen Religionsführer Schamyl zwang diese Stämme zum Übertritt zum Islam. – W. Richmond, The Circassian Genocide (London: New Brunswick, NJ, 2013), S. 59.

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und Glaubensvorstellungen gehören.14 Das davon geprägte tscherkessische Gewohnheitsrecht erschließt sich aus dem mündlich überlieferten Epos „Adyge Chabse“. Falls die Nordkaukasier im zeitgenössischen Westeuropa überhaupt wahrgenommen wurden, dann bestenfalls romantisierend als „edle Wilde“, nicht aber als vollwertige und gleichberechtigte Menschen. Im Russischen wurden sie seit dem 19. Jahrhundert unterschiedslos als „gorcy“ – „Gebirgler“ – bezeichnet. Ab den 1840er Jahren galten die Tscherkessen meist als „chiščniki“, d.h. wörtlich als „Entführer“ bzw. verallgemeinert als „Diebe“, obwohl die ostslawischen Kosaken inner- und außerhalb des Kaukasus dem Viehdiebstahl nicht minder frönten. Wegen ihres erbitterten Widerstands galten die Nordkaukasier zudem als zu vernichtende Feinde sowie als „Wilde“ ohne menschliche bzw. sympathische Eigenschaften.15 Völkerrechtlich hatten die Tscherkessen zu diesem Zeitpunkt bereits einen langen Abstieg von ihrem Status als einstige Verbündete Russlands durchlaufen. Denn 1557 galten die Kabardiner noch als gleichberechtigte Verbündete Russlands in dessen Kampf gegen das Krimchanat. Peter der Große setzte dieser Stellung allerdings ein Ende, indem er die Kabardiner als Untertanen Russlands behandelte, obwohl ihr Siedlungsgebiet damals außerhalb des russischen Hoheitsgebiets lag. Mit dem osmanischrussischen Abkommen von Belgrad verlor Kabardinien 1739 auch förmlich seinen Status als Verbündeter und wurde zur „neutralen Pufferzone“ erklärt, wobei sich die vertragschließenden Russen und Osmanen vorbehielten, Kabardiner als Geiseln zu nehmen bzw. zu „bestrafen“, falls sie „Anlass zur Beschwerde“ böten. Die Kabardiner selbst wurden nicht an diesem Abkommen beteiligt. Im April 1804 wandte Russland erstmals die Taktik der Eroberung durch Aushungern an, indem es, in Tateinheit mit einer vollständigen Wirtschaftsblockade, nach dem Ausbruch einer Seuche an der Nordgrenze Kabardiniens eine so genannte „Quarantänelinie“ verhängte und diese mit Festungen und Kosaken-Wehrdörfern verstärkte. Die von Seuchen und Hunger geschwächten sowie von den benachbarten Kosaken ausgeraubten Kabardiner starben in Massen. Von dem russischen Befehlshaber Alexej Ermolov, den Richmond als „Großvater des Genozids“ bezeichnet, stammen die Worte: „Die Pest war unser Verbündeter gegen die Kabardiner.“16 1826 befand sich Kabardinien fest unter russischer Kontrolle, womit die erste Phase des einhundertjährigen russisch-tscherkessischen Krieges („Kaukasischer Krieg“) abgeschlossen war. Mit dem osmanisch-russischen Friedensschluss von Adrianopel (1829) galten die Tscherkessen nicht länger als unabhängige Stämme und souveräne Vertragspartner, sondern wurden auch vom Osmanischen Reich als reguläre Untertanen des Zaren anerkannt, dessen Militärführer nun die vollständige Unterwerfung des Nordwestkaukasus vorbereiten. Das daran maßgeblich beteiligte Kaukasus-Corps

14 Ibid., S. 3. 15 Ibid., S. 55. 16 Ibid., S. 26.

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war, nach den Worten W. Richmonds, seit den 1830er Jahren zur „Müllgrube von Straftätern und politischen Dissidenten“ geworden. Seine zunehmende Verrohung zeigte sich unter anderem in Jagden auf die Köpfe der Einheimischen. Skelettierte Köpfe von Nordkaukasiern sollen damals zu zweifelhaften Forschungszwecken nach Berlin geschickt worden seien, ähnlich wie fast ein Jahrhundert später die Köpfe von Hereros aus der deutschen Kolonie Südwest auf Bestellung aus Berlin in die deutsche Hauptstadt geliefert wurden.17 Eine totale russische Seeblockade sowie eine Missernte lösten 1839 eine weitere Hungersnot, diesmal gegen den Stamm der Natuhaj, aus. Dass dieser Vorläufer eines Hungergenozids bzw. Holodomor beabsichtigt war, bekundete zwei Jahre später der armenischstämmige Admiral Lazar Serebrjakov (Ղազար Արծաթագործեան – Ghazar Artsatagortsian), der zugleich das Aushungern als allgemein probate Vernichtungsmethode vorschlug.18 Zeitgleich taucht in den Berichten russischer Militärs immer häufiger der Begriff „očiščenie“ – „Säuberung“ – auf. Während die Zivilverwaltung zunächst weiterhin an der Vorstellung festhielt, lediglich den Willen der resistenten „Gebirgler“ zu brechen und sie schlussendlich in die vollständige Unterwerfung zu zwingen, propagierte das Gros der russischen Militärs bereits eine Vernichtungsstrategie, nämlich den Kaukasus ohne seine indigenen Bewohner in Besitz zu nehmen. Da es zudem der Zivilverwaltung an einem kohärenten Plan zur Unterwerfung der Tscherkessen fehlte, setzte sich das Militär durch. Das Ende des Krimkrieges 1856 und der anschließende Friedensvertrag von Paris besiegelten das Schicksal der Tscherkessen. Denn dieser Vertrag erlaubte Russland implizit, mit den Nordwestkaukasiern nach Gutdünken zu verfahren. Ihr Land wurde zu russischem Staatsgebiet erklärt, bei gleichzeitiger Vorenthaltung von Staatsbürgerrechten. Als drei Jahre darauf der awarische Imam Schamil in Tschetschenien und Dagestan kapitulieren musste, konnte sich Russland ungehindert dem Nordwestkaukasus zuwenden. Es setzte zunächst den Ausbau seiner Festungen und der vollständigen Umzingelung tscherkessischen Siedlungsgebiets fort. Zugleich wurde 1860 Graf Nikolaj Evdokimov zum Befehlshaber der Militäroperationen ernannt. Der „Vater des Genozids“ (W. Richmond) erklärte in einem Gespräch 1862 seine Entschlossenheit, alle noch verbliebenen „Gebirgler“ in die Türkei zu vertreiben. Evdokimov wollte gegen die Tscherkessen ähnlich vorgehen, wie zuvor im Mittelund Ostkaukasus gegen Tschetschenen und andere indigene Völker: Ausbau des Netzes von Kosaken-Stanizen, also Wehrdörfern, Wegnahme des Viehs und der Lebensmittelvorräte der „Gebirgler“ sowie Zerstörung ihrer Wohnstätten. Im Unterschied zum Vorgehen gegen die Tschetschenen schlug Evdokimov auch die vollständige Deportation in die russischen Ebenen oder in die Türkei vor. Sein Deportationsplan wurde 1860 von einer Unterkommission der „Kaukasischen Kommission“

17 Ibid., S. 55. 18 Ibid., S. 57.

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in Sankt Petersburg zunächst entschieden zurückgewiesen, weil er „nicht zu ihrer Unterwerfung, sondern ihrer Vernichtung führt“. 19 Ungeachtet solcher Expertenbedenken überzeugte jedoch der russische Kriegsminister Graf Dmitrij Miljutin (1816–1912) am 10. Mai 1862 Zar Alexander II., der Deportation zuzustimmen. Die Äußerungen des Ministers und anderer russischer Entscheidungsträger zeigen, dass sie „bei Bedarf“ zum Massenmord bereit waren: Miljutin vertrat die Ansicht, dass Tscherkessen, die sich nicht „zivilisieren“ ließen, vernichtet werden müssten. Zwölf Tage nach seinem Gespräch mit dem Zaren wurde eine Deportationskommission ins Leben gerufen, die offiziell als Kommission zur Ansiedlung von Kosaken in der Kubanregion getarnt war. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits Deportationen stattgefunden: Schon 1861 wurden die ersten 4.000 Familien gewaltsam in die Türkei vertrieben. Die tscherkessischen Stammesführer reagierten mit einer Petition, die sie dem Zaren am 23. September 1861 bei einem Treffen in Taman überreichten. Alexander, der hauptsächlich als liberaler Befreier der russischen leibeigenen Bauern in die Geschichte einging, konfrontierte die Tscherkessen mit einem gnadenlosen Ultimatum: Binnen Monatsfrist und ohne Schonfrist hatten sie sich in die Ebene oder in die Türkei zu verfügen; den Hinweis auf die Härten des bevorstehenden Winters ließ der Zar nicht gelten. Hunderttausende Tscherkessen, nach russischen Schätzungen 200.000, entschlossen sich, dennoch in ihren Dörfern zumindest zu überwintern. Doch ab November 1861 trieb Evdokimov sein Deportationsprojekt mit aller Brutalität voran. Entgegen dem Versprechen des Zaren, Land nördlich des Kuban für die Deportierten zur Verfügung zu stellen, erstrebte Evdokimov im Wesentlichen die Deportation über die russische Landesgrenze hinaus, obwohl russische Diplomaten bereits seit 1860 aus der Türkei über das Elend der dort angekommenen Nordkaukasier berichtet hatten. Evdokimov argumentierte aber erfolgreich mit dem Kostenfaktor, zumal auch der Unterausschuss der Kaukasischen Kommission zu dem Ergebnis gelangt war, dass für eine Umsiedlung innerhalb Russlands nur im Ural sowie in Orenburg genügend Land vorhanden war, um die „Gebirgler“ gemeindeweise unter Kosaken anzusiedeln. Wegen der hohen Kosten entschied sich auch die Kommission trotz anfänglicher Bedenken für die alternative Ansiedlung im Kubangebiet oder in der Türkei.20 Im nächsten Schritt wandte sich Evdokimov dem Stamm der Natuhaj zu. Obwohl sie sich bereits bedingungslos Russland unterworfen bzw. für Russland nie ein Problem dargestellt hatten, wurden 1862 40.000 Natuhaj durch die Beschlagnahmung ihres Landes zur Ausreise in die Türkei gezwungen – „freiwillig“, wie es wahrheitswidrig

19 Ibid., S. 70. 20 Avakjan, Čerkesskij Faktor, S. 78–80.

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auf russischer Seite hieß.21 Vom Oktober 1862 bis Dezember 1863 erfolgte dann die flächendeckende Vertreibung und Aussiedlung der übrigen Bevölkerung, die unter Bewachung an die Schwarzmeerküste getrieben wurden. Über die Art der „Kriegsführung“ gegen ein verhungerndes Volk schrieb der russische Augenzeuge und Geograph Michail Venjukov (1828–1896), der Evdokimov gegenüber höchst kritisch eingestellt war, in seinen Erinnerungen (1895): „Der Krieg wurde mit unerbittlicher, gnadenloser Härte geführt. Wir gingen Schritt für Schritt voran und säuberten dabei jegliches Gebiet, das die Soldaten betraten, unwiderruflich bis auf den letzten Mann von den Gebirglern. Die Dörfer der Gebirgler wurden zu Hunderten niedergebrannt, so schnell, wie Schnee schmilzt, aber noch ehe die Blätter wieder auf die Bäume zurückkehrten (also im Februar und März). Mit unseren Pferden traten wir ihre Feldfrüchte nieder und zerstörten sie. Falls wir die Dorfbewohner überraschen konnten, sandten wir sie umgehend mit einem Konvoy an die Küste des Schwarzen Meeres, und weiter, in die Türkei… Manchmal – zur Ehre unserer Truppen allerdings nur selten – kam es zu Gräueltaten, die an Barbarei grenzten.“22 Unterworfene nordkaukasische Völker wurden von Russland vertraglich zur Aussiedlung aus ihrer Gebirgsheimat verpflichtet. So geschah es erstmals 1810 mit den Inguschen (Eigenbezeichnung: Lamur). Am 14. April 1864 musste auch der Ältestenrat der Tscherkessen in Sotschi eine Kapitulationserklärung unterschreiben, mit er die Aussiedlung binnen dreier Monate anerkannte, dabei wurden alternativ die Kubanebene oder die Türkei als Ansiedlungsorte vorgegeben. Wer sich der Aussiedlung widersetzte, sollte als Kriegsgefangener behandelt werden. 23 Von der Schwarzmeerküste wurden allein im Jahr 1864 zwischen 600.000 und 750.000 Ausgesiedelte in der rauesten, stürmischsten Jahreszeit in überfüllten osmanischen und russischen Schiffen an die pontische Südküste des Schwarzen Meeres überführt.24 Die extremen Wetterverhältnisse, die im Schwarzen Meer herrschen, waren Evdokimov seit den 1830er Jahren bestens bekannt. Dass schon die persischen Achämeniden und die antiken Griechen das Schwarze Meer als Axschaina bzw. Πόντος Ἄξε(ι)νος – Póntos Áxe(i)nos, das „ungastliche Meer“, bezeichnet hatten, verweist auf diesen Zusammenhang. Im Artikel eines Tscherkessen aus der Türkei, den ich 1981 in der Zeitschrift „pogrom“ der Gesellschaft für bedrohte Völker veröffentlichte, heißt es über die Auswanderung in die Türkei:

21 Richmond, Genocide, S. 69. 22 Zitiert nach Ibid., S. 80. 23 Zur Situation der Tscherkessen (Adyge) in der Türkei, im Nahen Osten und in der Bundesrepublik vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, pogrom, S.58. 24 Richmond, Genocide, S. 91; Siehe auch den Bericht in der bereits zitierten Ausgabe der Zeitschrift “pogrom”: 500.000-600.000.

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„Die Tscherkessen selbst hatten gehofft, im Reich des Kalifen [also des osmanischen Sultans; T.H.] Frieden und Ruhe zu finden. Sie hofften auf weißes Brot, das Symbol der Wohlhabenheit. Ein altes tscherkessisches Lied sagt folgendes: ‚Wir gehen nach Stambul. Wir werden weißes Brot essen. Wir werden Frieden finden. ‘“25 Doch zur Ruhe kamen die Tscherkessen auch in der Türkei nicht. Schon während der Überfahrt und kurz nach ihrer Ankunft starben etwa 100.000 der im Türkischen als muhacirler, als Glaubensflüchtlinge bezeichneten Zwangsaussiedler. Die osmanische Verwaltung war von dem Massenansturm der Ausgewiesenen völlig überfordert; vergeblich hatte das Osmanische Reich Russland aufgefordert, die Deportation zu stoppen oder wenigstens zu drosseln. Über das Elend der Neuankömmlinge an der Pontosküste berichtete der österreichische Reiseschriftsteller und Offizier Freiherr Amand von Schweiger-Lerchenfeld (1846–1910): „Hier ward ihr Erscheinen bald zu einer furchtbaren Invasion. Gleich riesigen Heuschreckenschwärmen okkupierten sie provisorisch alles Land umher, nur notdürftig bekleidet und ohne alle Proviantvorräte, anfangs vom Bettel, später von Diebstahl und Raub lebend. Hunderttausende Flüchtlinge hatten bereits die Blütengestade von Dschanik (dem ehemaligen Land der georgischen Tschanen an der südöstlichen Schwarzmeerküste, T.H.) zertreten und immer noch hielten die plumpen russischen Transportschiffe an den Küstenpunkten, um neue zahllose Kandidaten des Hungers an Land zu setzen. Da sie ihre eigenen Kinder nicht verzehren konnten, so ward bald die Stadt Trapesunt selbst sowie auch das benachbarte Samsun und Kherasunt vor den gefährlichen, in jeder Richtung elend heruntergekommenen Massen nicht sicher. Das war der erste Gruß der von der Pforte pomphaft angekündigten Gastfreundschaft.“26 Die Folge der überstürzten und unkoordinierten Einwanderung war der Ausbruch von Seuchen – Hungertyphus, Pocken sowie die Pest –, die einem Drittel der zwischen Frühjahr und Herbst 1864 eingewanderten 300.000 Tscherkessen das Leben kostete. 27 Der russische Konsul zu Trapesunt berichtete 1864 von einer täglichen Todesrate von 180–250 unter den nordkaukasischen Immigranten in Trapesunt und seiner Umgebung.28 Über die endgültige Ansiedlung der Tscherkessen gab es bei den Osmanen und den sie diesbezüglich beratenden Briten unterschiedliche Auffassungen. Die Osmanen setzten sich allerdings mit ihrem Konzept durch, was ein frühes Beispiel für die unter den Jungtürken im 20. Jahrhundert zur Leitidee entwickelte Deportations-

25 Zur Situation der Tscherkessen vgl. Ibid., S. 59. 26 Amand von Schweiger-Lerchenfeld, Armenien: Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner (Jena: Costenoble, 1878), S. 80 f. 27 Ibid., S. 81. 28 Avakjan, Čerkesskij Faktor, S. 121.

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und Zersiedelungspolitik darstellt. Die für ihre Wehrhaftigkeit berühmten Tscherkessen sollten im Verhältnis von eins zu vier unter türkischen Familien zersiedelt werden. Im Widerspruch zu diesem Grundsatz sollten sie allerdings überall dort als regierungstreue Wehrbauern in geschlossener Gemeinschaft eingesetzt werden, wo sich die Osmanen von einer Freiheitsbewegung der einheimischen Bevölkerung bedroht sahen: auf dem Balkan, in Zentralanatolien, in Syrien sowie in Jordanien. 29 Das lief freilich dem Zersiedelungsgedanken zuwider und führte zu tscherkessischmuslimischen Agglomerationen, vor allem in christlichen Siedlungsgebieten. Dem türkischen Demographen Kemal Karpat zufolge wurden in den europäischen Teilen des Osmanischen Reiches 400.000 Tscherkessen angesiedelt, die Hälfte von ihnen in Bulgarien und an der Grenze zu Serbien 30, wo ihnen Land der altansässigen slawischen Bevölkerung zugeteilt wurde, die den Neuankömmlingen teilweise beim Bau ihrer Hütten helfen und ihnen bis zum Abschluss der Bauarbeiten ihre eigenen Behausungen zur Verfügung stellen musste.31 Doch schon während des osmanisch-russischen Krieges von 1877 wurden Tscherkessen, neben Türken und Krimtataren, in Bulgarien und Rumelien erneut Opfer von Brandschatzung, Vertreibung und ethnischer Säuberung – übrigens gemeinsam mit Juden und christlichen Armeniern.32 Russen, Bulgaren und vor allem Kosaken vergewaltigten, folterten und massakrierten die flüchtenden Muslime „ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht“, wie es in einem osmanischen Diplomatenbericht heißt. Die Gräuel bei der russischen Eroberung des Nordkaukasus wiederholten sich nun auf dem Balkan. Der britische Konsul zu Adrianopel berichtete am 14. Juli 1877, dass die Russen dort ganze Dörfer verbrannten und „die Einwohner töteten“. 33 Von 180.000 Flüchtlingen aus Bulgarien, die im März 1878 in Konstantinopel eintrafen, war fast jeder Dritte – 50.000 Menschen – Tscherkesse.34 Nach dem Waffenstillstandsabkommen vom 31. Januar 1878 mussten sämtliche tscherkessischen Ansiedler den Balkan wieder verlassen.35 Wie hoch ist die Opferzahl russischer Deportationspolitik während und nach der Eroberung des Nordkaukasus? W. Richmond geht von einer tscherkessischen Gesamtbevölkerung von bis 1,5 Millionen um das Jahr 1860 aus; selbst bei Zugrundelegung der konservativsten Opferschätzung seien allein während der Operationen Evdokimovs mindestens 625.000 umgekommen. Die Anzahl der im Zuge dieser Operationen vertriebenen Tscherkessen beziffert Richmond auf 726.000 bis

29 30 31 32 33 34 35

Koutcharian, Siedlungsraum, S. 66. Avakjan, Čerkesskij Faktor, S. 126. Schweiger-Lerchenfeld, Armenien, S. 82, Anm. 1. Richmond, Genocide, S. 107. Ibid., S. 109. Ibid., S. 110. Koutcharian, Siedlungsraum, S. 66; Vgl. auch Gesellschaft für bedrohte Völker, pogrom, S. 58.

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907.50036, während zeitgenössische europäische Schätzungen von 400.000 bis 470.000 ausgingen und Robert Conquest im Jahr 1974 von 600.000 sprach37. K. Karpat veranschlagt die Zahl der im Zeitraum 1856–1876 Deportierten auf zwei Millionen,38 wobei hier vermutlich auch die Angehörigen anderer nordkaukasischer Ethnien inbegriffen sind, die im türkischen Sprachgebrauch oft unter den Sammelbegriff Tscherkessen subsumiert werden. Denn die Deportation der Tscherkessen blieb kein Einzelfall. Gemeinsam mit ihnen emigrierten auch muslimische Abchasen, vor allem während der zweiten Auswanderungswelle aus dem Nordkaukasus, die 30.000 Abchasen in das Osmanische Reich brachte. Diese zweite Massenflucht wurde durch den fehlgeschlagenen Versuch des osmanischen Sultans Abdülhamit II. ausgelöst, eine Erhebung der „bedrückten Glaubensbrüder“ im Nordkaukasus gegen die Russen anzuzetteln. Zwar kam es daraufhin in Tschetschenien und Dagestan zu Aufständen einiger Stämme, aber diese wurden von den Russen sehr schnell niedergeschlagen. Ebenso scheiterte trotz einiger Anfangserfolge der osmanische Versuch, mit Hilfe von tscherkessischen Anlandungen in der abchasischen Haupt- und Hafenstadt Suchumi den Kaukasischen den Krieg mit Russland erneut zu entfachen. Zeitgleich mit der endgültigen militärischen Unterwerfung der Tscherkessen 1864 kam es zu einem russisch-osmanischen Abkommen über die Einwanderung der Tschetschenen in das Osmanische Reich: Sie sollten in den Ebenen jenseits von Diyarbakır angesiedelt werden, lehnten diesen Siedlungsraum jedoch ab und ließen sich stattdessen in der Umgebung der armenischen Städte Kars und Musch nieder. 39 Die Vertreibung und erzwungene Umsiedlung der Tscherkessen aus ihrer nordkaukasischen Heimat bildet ein anschauliches Beispiel für die der Vertreibung und Deportation stets innewohnende Gefahr des Übergangs zum Genozid. Dass sich die politisch und militärisch verantwortlichen Russen dieser Gefahr durchaus bewusst waren, zeigen zahlreiche Zitate aus ihren Korrespondenzen und sonstigen Aufzeichnungen. Dass sie neben der passiven Billigung bei Bedarf auch mit gezielten Mitteln des Genozids gegen Nordkaukasier vorgingen, die der Aufforderung zum Wegzug nicht nachkamen, ist ebenfalls belegt. Genozid ist ein Verbrechen, das in jedem Fall persönlich und individuell, also nicht kollektiv verantwortet wird. Wer also trug die Schuld daran im Fall der Adyge bzw. Tscherkessen? Auf Regierungsebene lässt sich eine deutliche Brutalisierung im Verlauf der Jahrzehnte zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und den 1860er Jahren feststellen. So verwehrte Kriegsminister Barclay de Tolly dem Zerstörer der Kabardei, General Bulgakov, noch einen Orden mit der

36 37 38 39

Richmond, Genocide, S. 91f. Vgl. wiederum Gesellschaft für bedrohte Völker, pogrom, S. 62, Fußnote 2. Richmond, Genocide, S. 91. Koutcharian, Siedlungsraum, S. 67.

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Begründung, Bulgakov haben bei der „Befriedung der Rebellen […] Gebrauch von einem exorbitanten Maß an Brutalität und Unmenschlichkeit, die über die Grenzen seiner Zuständigkeit hinausgingen“, gezeigt. Die Ablehnung für die Ordensverleihung beweist im Weiteren, dass der Kriegsminister damals klar den Zusammenhang von brutalem Vorgehen gegen die Nordkaukasier und ihrer antirussischen Radikalisierung erkannte: „Will man den Berichten glauben, bestanden die Expeditionen gegen die Kabardiner und Kuban-Gebirgler aus vollständiger Plünderung und dem Niederbrennen ihrer Häuser. Derart brutale Aktionen, die dieses Volk zur Verzweiflung trieben, haben lediglich Hass gegen uns erzeugt (…)“. 40 De Tollys später Nachfolger Dmitrij Miljutin war von solchen Skrupeln frei. Er überredete, wie schon erwähnt, Alexander II. zum schonungslosen Vorgehen gegen die militärisch bereits besiegten Adyge, wobei militärische Befehlshaber wie Nikolaj Evdokimov die Umsetzung der „Säuberung“ des Kaukasus von seiner indigenen Bevölkerung vorantrieben. Zeit und Kosten bildeten die Hauptkriterien. In der Phase der Entscheidungsfindung, also in den Jahren 1857–1860, schrieb der russische General Rostislav Fadeev: „Die Umerziehung eines Volkes ist eine Angelegenheit von Jahrhunderten, doch bei der Unterwerfung des Kaukasus bildete gerade die Zeit das Hauptelement… Wir mussten das Ostufer des Schwarzen Meeres in ein russisches Land umwandeln, und dafür war es erforderlich, sein gesamtes Ufer von Gebirglern zu säubern.“41 Doch selbst damals gab es auch in der russischen Heeresleitung besonnene und humane Gegenstimmen: Der deutschstämmige Generalleutnant Wolf äußerte gegen die Deportationspläne Miljutins, dass sie jeden, „der mit dem Kaukasus vertraut sei“, angesichts ihrer „Kälte, Gewalt und mangelnden Sorgfalt der vorgeschlagenen Mittel erschüttern“ müssten. Denn, so meinte er weiter: „wer den Gebirgler kennt, seine tiefe Verbundenheit mit der Heimat, mit seinen Gebirgsschluchten und seiner Lebensart, der wird niemals glauben, dass er nicht den Tod der Umsiedlung in die Ebenen des Don-Gebiets vorzieht und […] dass es sich bei dem gegenwärtigen (und im Übrigen darin nicht klar ausgesprochenem) Vorschlag nicht um die Befriedung, sondern um die Vernichtung der Gebirgler handelt.“42

40 Richmond, Genocide, S. 16. 41 Avakjan, Čerkesskij Faktor, 74f. 42 Ibid., S. 75f.

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Russland trägt bis heute schwer an den Folgen seiner verfehlten Kaukasuspolitik, wobei sich im 20. Jahrhundert zu den früheren Verbrechen an der indigenen Bevölkerung zahlreiche weitere gesellten. Eine gesellschaftliche oder gar staatliche Aufarbeitung von mindestens zwei Jahrhunderten inhumaner Kolonisations- und Bevölkerungspolitik hat in Russland nie stattgefunden, dafür aber die umfassende Islamisierung und Radikalisierung der derart geschundenen nordkaukasischen Region. Der armenische Historiker Arsen Awakjan hat in seiner Habilitationsschrift die These aufgestellt, dass die „Rolle der Türkei bei der Aussiedlung der Tscherkessen womöglich noch größer als die Russlands“ gewesen sei. 43 Die empirische Überprüfung dieser Behauptung möchte ich den Kolleg_innen aus den Disziplinen der Osmanistik, Turkologie und Orientalistik überlassen. Mit Gewissheit aber lässt sich feststellen, dass es zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich ein unheilvolles Zusammenwirken zu Lasten indigener Bevölkerungen gegeben hat. Denn in ihrem jahrhundertelangen Machtkampf um das Land zwischen dem Kaukasus und Kleinasien ging es beiden Reichen stets darum, den Anteil der eigenen Religionsbzw. Bevölkerungsgruppe zu erhöhen und den der Andersgläubigen im eigenen Herrschaftsgebiet zu senken, wobei gewaltsame, aber dafür schnelle Verfahren der Vertreibung, Zwangsumsiedlung und Zwangsaussiedlung häufiger angewendet wurden als assimilatorische. Beide Konfliktparteien schreckten auch nicht vor dem Versuch zurück, zum Zweck der politischen Destabilisierung unter den indigenen Völkern im jeweils feindseligen Herrschaftsgebiet Nationalismus, Sezessionismus und Rebellionen zu schüren. Russland wusste zudem, dass es unruhige, schwer integrierbare und kontrollierbare Bevölkerungsgruppen einfach in die Türkei vertreiben und ihnen dann durch Passentzug und Passverweigerung die Rückkehrmöglichkeiten versperren konnte. Das Osmanische Reich gewann durch die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge aus dem Russischen Reich sowie vom Balkan seit Ende des 18. Jahrhunderts fünf bis sieben Millionen muslimische Einwanderer, die es vor allem in bislang christlichen Mehrheitsgebieten ansiedelte. Allein die Balkankriege machten 800.000 Menschen zu Flüchtlingen, davon die Hälfte Muslime. Die Cholera wütete unter den Flüchtlingen. Der Untersuchungsbericht der privaten US-amerikanischen Carnegie-Mission vom Sommer 1914 stellte fest, dass in Thrakien und Makedonien die muslimische Bevölkerung von 2,3 auf 1,4 Millionen gesunken waren. 623.000 Muslime, also mehr als ein Viertel der muslimischen Bevölkerung, starben bei Massakern, an Hunger, Seuchen bzw. den Fluchtstrapazen.44 Wie weltweit üblich, suchten die Flüchtlinge in Großstädten Schutz

43 Ibid., S. 80. 44 M. Schwartz, „Die Balkankriege 1912/13: Kriege und Vertreibungen in Südosteuropa“ in Militärgeschichte: Zeitschrift für historische Bildung (2008, Nr. 2): S. 9.

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und Unterkunft, in diesem Fall in Konstantinopel. Doch erst Anfang 1914 gründete das Osmanische Reich eine Einwanderungsbehörde, der jedoch von Beginn an auch weiterreichende bevölkerungspolitische Aufgaben zugeteilt waren. So hieß diese neue Behörde bezeichnenderweise offiziell „Direktorium zur Ansiedlung von Stämmen und Einwanderern“. Ihr oblag nicht nur die Zwangsesshaftmachung der bis dahin nomadischen oder halbnomadischen kurdischen und arabischen Stämme, sondern auch die Auskundschaftung der Zahlenstärke von Ethnien und Religionsgruppen für die Vorbereitung von Zersiedelungs- und Assimilationsprojekten. Der deutsche Zeithistoriker Michael Schwartz beschreibt den ebenfalls an der Peripherie des Osmanischen Reiches gelegenen Balkan als den zweiten „Lernort“ ethnischer Gewaltpolitik. Ähnlich wie im Nordkaukasus erfolgten auf dem Balkan bereits früh im 19. Jahrhundert ethnische Säuberungen, dort allerdings im Unterschied zum Kaukasus nicht infolge imperialer Ausdehnung und Kolonisierung, sondern im Zuge der Befreiung von der osmanischen Fremdherrschaft. Die bereits erwähnten Balkankriege setzten 1912 und 1913 den Schlusspunkt dieser Entwicklung, bei der Serbien (1804–1878), Griechenland (1821/29–1912), Bulgarien (1876–1908) und Albanien (1911/12) ihre Freiheit gewannen. Die Unabhängigkeitsbewegung der orthodoxen Südosteuropäer löste einerseits brutale osmanische Vergeltungsakte an der Zivilbevölkerung aus und führte andererseits zu Vertreibungen von Muslimen durch siegreiche Südosteuropäer. Die Balkankriege mündeten auch in erste bilaterale Abkommen über einen Bevölkerungsaustausch: Beim osmanisch-bulgarischen Friedensabkommen von Konstantinopel handelt es sich de facto um eine rückwirkende völkerrechtliche Bestätigung wechselseitiger „ethnischer Säuberungen“ und die damit verbundene Verrechnung von Vermögenswerten. Das Abkommen sah unter anderem eine 15 km lange Pufferzone vor, aus der aber 48.000 Bulgaren sowie 49.000 Türken bereits geflüchtet waren. Während des Zweiten Balkankrieges vertrieb und deportierte das Osmanische Reich fast sämtliche 350.000 griechisch-orthodoxen Ostthraker, davon zwei Drittel in das benachbarte griechische Hoheitsgebiet und ein Drittel nach Zentralanatolien. Von diesen Deportierten starb ungefähr jeder zweite, während die Hälfte der nach Griechenland Vertriebenen nach dem Krieg nach Ostthrakien zurückkehrte. 45 Die vom Osmanischen Reich schon 1914 angestrebte Übereinkunft mit Griechenland zum wechselseitigen dauerhaften Bevölkerungsaustausch kam wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges erst 1923 zustande – nachdem von einer griechischorthodoxen Vorkriegsbevölkerung von etwa 3 Millionen über ein Drittel osmanischen Massakern, Deportationen und damit verbundenen Strapazen zum Opfer gefallen

45 Konstantinos A. Vakalopoulos, „ Vertreibung und Genozid an den Griechen Ostthrakiens (1908– 1922)“ in Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, Hg. Tessa Hofmann (Münster: LIT Verlag, 2004), S. 140.

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war.46 Die osmanisch-muslimische Elite lernte aus der Erfahrung der Balkankriege unter anderem, dass die bloße Vertreibung unerwünschter Bevölkerungsgruppen über die Landesgrenze im Unterschied zu Todesmärschen in das Landesinnere keinen dauerhaften Erfolg brachte, zumal wenn es sich bei dem Aufnahmeland zugleich um die Schutzmacht der Vertriebenen handelte. Spätestens ab Sommer 1914, als das osmanische Kriegsministerium mit der Führung der geheimen „Sonderorganisation“ die „Vernichtung der nicht-türkischen Rassen“ im Osmanischen Reich beriet und plante, wurden diese Lehren aus den Balkankriegen berücksichtigt. Kommen wir zur vorläufigen Schlussfolgerung: Tscherkessische Vertriebene und Überlebende russischer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit beeinflussten ebenso wie Hundertausende aus Südosteuropa vertriebene Muslime die osmanische Nationalitäten- und Bevölkerungspolitik vor und besonders während des Ersten Weltkrieges. Dem niederländischen Turkologen Erik Jan Zürcher zufolge war im Jahr 1915 mindestens jeder vierte Anatolier ein muslimischer Flüchtling vom Balkan oder das Kind solcher Flüchtlinge und mithin fest entschlossen, keine weiteren osmanischen Gebietsverluste hinzunehmen. Zürcher sieht hierin, und nicht in den „pan-türkischen Träumen“ der Jungtürken, die eigentliche Ursache für die „vollständige Vernichtung der Armenier und die Vertreibung der Griechisch-Orthodoxen“.47 Sieht man einmal von ersten Ansätzen bei Arsen Awakjan oder von verstreuten, hier zitierten Andeutungen bei R. Kévorkian und E.-J. Zürcher ab, so erstaunt, dass die traumatischen Erfahrungen der muslimischen Vertriebenen bisher kaum bei der Erforschung des Genozids an osmanischen Christen berücksichtigt wurden. Meine Versuche, eine internationale Konferenz anzuregen, bei der die Bevölkerungs- und Nationalitätenpolitik des Russischen und des Osmanischen Reiches auf ihre Wechselwirkungen hin betrachtet und analysiert würden, haben türkische Kollegen wie Taner Akçam zwar begrüßt, nicht aber armenische Kollegen. Dr. Hayk Demoyan, der Leiter des Jerewaner Genozidmuseums, fand ein solches Ansinnen inopportun. Vor dem Hintergrund der starken politischen und außenwirtschaftlichen Abhängigkeit Armeniens von Russland sind seine Bedenken durchaus nachvollziehbar.

46 Zur Erörterung der Gesamtopferzahlen griechisch-orthodoxer Christen osmanischer Staatszugehörigkeit vgl. Tessa Hofmann, Matthias Bjørnlund, Vasileios Meichanetsidis, Hg., Genocide against the Ottoman Greeks: Studies on the State-Sponsored Campaign of Extermination of the Christians of Asia Minor, 1912–1922 and Its Aftermath: History, Law, Memory (New York: Melissa International Ltd., 2011), S. 101–105; Harry Tsirkinidis, „Der Völkermord an den Griechen Kleinasiens“ in Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, Hg. Tessa Hofmann (2. Aufl. Münster: LIT, 2007), S. 180 f.; Adam Jones, Genocide: A Comprehensive Introduction, (London: Routledge, 2010), S. 151. 47 Erik Jan Zürcher, The Young Turks: Children of the Borderlands? – einzusehen unter: https://www.academia.edu/5726065/The_Young_Turks_Children_of_the_borderlands

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Um Missverständnissen vorzubeugen: Verbrechen gegen die Menschheit, zu denen auch Genozid zählt, lassen sich nie gegeneinander aufrechnen; sie relativieren einander auch nicht. Der Wissenschaft muss aber gestattet sein, über den Einzelfall hinaus nach Typologien, Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zu fragen. Und dies kann nur komparativ bzw. in einer Gesamtschau erfolgen. In der Täterforschung wäre, bezogen auf unsere Beispiele, zu fragen, warum russische und osmanische Eliten es ab einem bestimmten Zeitpunkt als geradezu „zwingend“ empfanden, sich der jeweils designierten Opfergruppen genozidal zu entledigen. Werden in der Regionalforschung solche komparativen, übergreifenden Perspektiven unterdrückt, droht die Gefahr des Tunnelblicks und der einseitigen Parteinahme. Ein abschreckendes Beispiel hierfür hat der Demograph und Turkologe Justin McCarthy geliefert, dem wir zwar seit 1985 die Aufarbeitung der muslimischen Opfergeschichte 48 verdanken, der aber gerade deswegen zu einer sachlichen Betrachtung der Vernichtung der osmanischen Christen unfähig war.

48 Justin McCarthy, Death and Exile: The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims, 1821–1922 (Princeton: Darwin Press, 1995).

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„Umzug und Neuansiedlung“ Gedanken zum Sprachgebrauch osmanischer Quellen zu den Armenier-Massakern im Jahr 19151 Kai Merten

Im zweiten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs begannen die umfassenden Massaker an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches. Am 24. April, dem offiziellen Gedenktag dieser Ereignisse, werden sich wieder viele Menschen in der ganzen Welt daran erinnern, jährt sich dieser traurige Anlass doch 2015 zum 100. Mal. Die historische Deutung und Einordnung dieser Massaker ist allerdings bis heute strittig. Historiker und Politiker diskutieren seit Jahrzehnten in einer oft emotional angeheizten Debatte darüber, ob die Massaker als Völkermord zu gelten haben oder ob es sich dabei lediglich um kriegsbedingte Maßnahmen handle. Diesen sei dann zwar eine gewisse Grausamkeit nicht abzusprechen, sie seien aber nur im Rahmen der damaligen Kriegswirren zu verstehen, ohne dass man der Hohen Pforte die Absicht der systematischen Vernichtung der Armenier unterstellen könnte. Dieser Streit bildet bis heute einen wesentlichen Punkt, der eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Republik Türkei und der Republik Armenien verhindert. Im Grunde genommen begann die Kontroverse um die richtige Einschätzung der Massaker bereits im Jahr 1915. Westeuropäische Zeitungen begannen sofort, über die Ereignisse zu berichten. Die diesbezüglichen Artikel in der „Times“ lassen es dabei nicht an Deutlichkeit fehlen. Wir lesen da z.B. von „Massakern“ und von „Horror“ 2 und sogar schon im September 1915 von der „Vernichtung einer ganzen Rasse“ („destruction of a race“) und vom Vorwurf einer „wholesale murder policy“ des Osmanischen Reiches.3 Im Oktober 1915 spricht die „Times“ davon, dass die Armenier „geschlachtet“ und mit einer „unglaublichen Grausamkeit“ „ausradiert“ werden.4 In osmanischen Quellen der gleichen Zeit hingegen findet sich ein völlig anderer Sprachgebrauch. Leider war es mir von Deutschland aus nicht möglich, Zeitungen aus

1 Die folgenden Ausführungen wurden von mir am 14. Januar 2015 als Antrittsvorlesung für meine Privatdozentur an der Philipps-Universität Marburg vorgetragen. 2 Vgl. z. B. „The Times“ vom 13. Januar 1915, S. 8; „The Times“ vom 15. Oktober 1915, S. 7; “The Times” vom 15. Dezember 1915, S. 9. 3 „The Times vom 25. September 1915, S. 5; „The Times“ vom 30. September 1915, S. 5 und 7. 4 „The Times“ vom 7. Oktober 1915, S. 8; „The Times“ vom 8. Oktober 1915, S. 5.

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dem Osmanischen Reich zu diesen Ereignissen einzusehen, aber die damaligen Dokumente der osmanischen Verwaltung sind mittlerweile von den staatlichen Archiven in Ankara der Öffentlichkeit in Buchform zugänglich gemacht worden. 5 Dort ist die Rede von „Umzug“ (sevk) und „Neuansiedlung“ (iskânı) der Armenier, die einfach ihren Wohnort wechseln würden (yerleşmek). Die vielleicht härtesten Worte sind noch als „Verschicken“ (göndermek) oder als „Abtransport“ (ihracı) zu verstehen. Doch auch diese Begriffe sind letztlich nicht wirklich außergewöhnlich, denn „ihracı“, also „Abtransport“, diente beim osmanischen Militär auch zur Bezeichnung von Truppentransporten. In unserem Zusammenhang kommt dieser Begriff allerdings nur bei aufrührerischen Armeniern wie in der Stadt Zeitun zur Anwendung, die dann in der Regel als „Räuber“ oder „Banditen“ (eşkıyalar) bezeichnet werden. Wenn in den osmanischen Quellen hingegen von „Massakern“ (katliam) oder „Grausamkeiten“ (zulümler) die Rede ist, dann sind damit armenische Überfälle auf ihre muslimischen Nachbarn gemeint. Es existieren z.B. lange Listen von Armeniern, die an einen anderen Ort „umgezogen“ sind oder die „sich woanders hinbegeben haben“ (gitmek). Von Armeniern, die auf dem Weg umgekommen sind oder aktiv ermordet wurden, ist hingegen nicht die Rede. Stattdessen bemüht man sich sichtlich, die ordnungsgemäße und reibungslose Abwicklung der Umsiedlung an die Hohe Pforte melden zu können. Manche Unterlagen sprechen z.B. davon, dass man sich nach der Umsiedlung der armenischen Bevölkerung eines Ortes um herrenlose armenische Kinder, die man dort noch angetroffen habe, gekümmert habe und sie im Ort bei muslimischen Familien untergebracht habe, damit sie nicht verhungern würden. Diese sehr auffällige Diskrepanz im Sprachgebrauch in britischen Quellen einerseits und osmanischen Quellen andererseits ist zunächst recht einfach zu erklären: Sprache gibt oft Stimmungen wieder bzw. Sprache soll Stimmungen erzeugen.6 Sprache ist gerade im Krieg ein gutes Mittel, um die gegnerische Seite zu diffamieren und die eigene Position zu rechtfertigen. Natürlich waren die ArmenierMassaker im Ersten Weltkrieg zugleich eine gute Gelegenheit, den Mittelmächten insgesamt ihre unmenschliche Grausamkeit vorzuwerfen, und die „Times“ lässt kaum eine Gelegenheit aus, auch Deutschland anzuprangern, weil es den Massakern tatenlos zusehen würde.7 Umgekehrt ist es wenig überraschend, dass die Hohe Pforte Wert darauf legte, dass die Armenier die eigentlichen Aggressoren seien, die mit Bombenattentaten und Überfällen die Gewalt angestoßen hätten, und dass die angeordneten Maßnahmen nur der inneren Sicherheit des eigenen Reiches und der Abwehr jeder Kooperation mit

5 Zu den folgenden Ausführungen zum Sprachgebrauch finden sich zahlreiche Belege in T. C. Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü, Hg., Osmanlı Belgelerinde Ermenilerin Sevk ve İskâni (1878–1920) (Ankara, Osmanli Arşivi Daire Başkanlığı Yayın Nu: 91, 2007); dort z. B. die Quellentexte Nr. 12, 66, 72, 75, 76, 87, 93, 109 und 111. 6 Vgl. dazu Hans Ulrich Gumbrecht, Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur (München: Carl Hanser Verlag, 2011), S. 13 und 28. 7 Vgl. z. B. „The Times“ vom 8. Oktober 1915, S. 5; „The Times“ vom 11. Oktober 1915, S. 7.

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dem Feind dienen würden. Diese Maßnahmen seien daher angemessen und geeignet, der Situation Herr zu werden. 8 Die äußeren Umstände, die zu dieser Sicht geführt haben, sind allgemein bekannt und dürften auch kaum geleugnet werden können. Ich möchte sie an dieser Stelle nur kurz anreißen: Im April 1915 spitzte sich die Situation des Osmanischen Reiches auf kritische Weise zu. An der Ostfront im Kaukasus starteten die Russen eine erfolgreiche Offensive. Viele ihrer Kommandeure und Soldaten waren Armenier, die bei ihrem Vormarsch muslimische Dörfer niederbrannten, christliche Dörfer dabei aber verschonten. Nicht wenige Armenier auf osmanischer Seite begrüßten sie deshalb als Befreier und liefen zu ihnen über. Dass zahlreiche Armenier und insbesondere die politisch ausgerichteten armenischen Organisationen offen mit den Russen sympathisierten und auch von den Russen unterstützt wurden, war damals ohnehin allen Seiten seit langem bekannt. Auch an einigen Orten im Osmanischen Reich, vor allem in den Städten Zeitun und Van, gor es unter der armenischen Bevölkerung seit Jahren. Nun brachen dort offene Aufstände aus. Im Westen wiederum, an den Dardanellen, nur wenige Stunden zu Fuß von der Hauptstadt Istanbul entfernt, versuchten die Alliierten, mit australischen und neuseeländischen Truppen an Land zu gehen. Dazwischen, in Anatolien, bestand aufgrund der verlorenen Kriege der letzten Jahrzehnte mittlerweile etwa ein Viertel der Bevölkerung aus heimatvertriebenen Muslimen von der Krim, aus dem Kaukasus und vom Balkan, die ebenfalls einen ständigen Unruheherd bildeten. Denn sie waren voller Hass auf alle Christen, die ihnen ihre Heimat genommen hatten. Die von Auslandsarmeniern immer wieder vorgebrachte „Armenische Frage“ tat ein Übriges, um die Stimmung in der einen oder anderen Richtung anzuheizen.9 Alle diese Vorgänge bildeten daher für die Hohe Pforte einen willkommenen Vorwand, im Rahmen der allgemeinen Kriegshandlungen endlich gegen die Armenier vorgehen zu können, damit sie der eigenen Armee im Kampf gegen das Zarenreich nicht in den Rücken fallen würden. Und dennoch bleibt die Frage offen: Wie konnte es geschehen, dass für die terroristischen Anschläge armenischer Extremisten, die es ja tatsächlich gegeben hat, die gesamte armenische Bevölkerung verantwortlich gemacht wurde? Was hatten armenische Alte, Frauen und Kinder im ganzen Land mit den Überfällen und Attentaten zu tun, die an anderen Orten von ideologisch aufgeheizten Aufrührern verübt wurden? Warum mündete der Schutz vor Kollaborateuren in eine umfassende Aktion, die letztlich faktisch die Vernichtung aller Armenier zum Ziel gehabt hatte? Wie konnte z.B. eine einfache Landbevölkerung in entlegenen Dörfern mit dem russischen Feind

8 Zur heutigen Sicht türkischer Wissenschaftler vgl. z. B. Kamuran Gürün, The Armenian File. The Myth of Innocence Exposed (Istanbul: Turkiye Bankasi, 2007), S. 261–282; vgl. auch Sibylle Thelen, Die Armenierfrage in der Türkei (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1130) (Bonn: Verlag der bpb, 2011), S. 31–44. 9 Vgl. dazu Kai Merten, Untereinander, nicht nebeneinander. Das Zusammenleben religiöser und kultureller Gruppen im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts (Marburger Religionsgeschichtliche Beiträge, Bd. 6) (Berlin: Lit-Verlag, 2014), S. 160–166.

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kollaborieren, wenn die Front Hunderte von Kilometern entfernt lag? Und warum ließen sich kleine Beamte der osmanischen Verwaltung willig darauf ein, die entsprechenden Befehle widerspruchslos auszuführen, obwohl diese einen beträchtlichen Teil der Einwohner der Orte betrafen, für die sie verantwortlich waren? Wie war es möglich, dass sich im Osmanischen Reich so leicht eine anti-armenische Stimmung erzeugen ließ, auch dort, wo gar keine armenischen Aufstände und Aktionen stattfanden? Diese Fragen sind weder mit kriegsbedingten Notwendigkeiten noch mit der Annahme einer Verschleierungstaktik und Schönfärberei allein zu beantworten. Meiner Meinung nach steckt hinter dem Sprachgebrauch in den osmanischen Quellen daher mehr als reine Kriegspropaganda, um die Armenier als schuldig und als Aggressoren zu entlarven. Das alleine würde die Heftigkeit und flächendeckende Breite der osmanischen Maßnahmen nicht erklären. Um die Gründe für die umfassenden Massaker an den Armeniern besser zu verstehen, müssen wir noch tiefer in die osmanische Geschichte eintauchen. Denn die Ursachen für diese Ereignisse liegen m.E. in der Struktur der osmanischen Gesellschaft verborgen und wirken sich zum Teil bis heute aus. Auch der Sprachgebrauch, den wir in den osmanischen Quellen finden, rührt von diesen Ursachen her. Wir wissen – auch aus den Quellen –, dass die osmanische Oberschicht durchaus ausländische Zeitungen gelesen hat und dass es der Hohen Pforte wichtig war, wie ihre Politik in London und Paris dargestellt wurde. Zugleich erfahren wir, dass sich die osmanische Regierung häufig unverstanden, um nicht zu sagen missverstanden gefühlt hat.10 Auch das geht letztlich auf die Umstände zurück, die ich im Folgenden ausführen möchte, nämlich auf eine vollkommen andere Art zu denken. Eine erste Anmerkung dazu betrifft den religiösen Charakter der osmanischen Gesellschaft. Über Jahrhunderte hinweg war es in Bezug auf das Selbstverständnis des Osmanischen Reiches überhaupt nicht anders denkbar, als auf religiöse, sprich islamische Grundsätzen zu verweisen. Das ließe sich an vielfältigen Einzelbeobachtungen leicht nachweisen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts änderte sich diese grundsätzliche Einstellung, was jedoch hauptsächlich der äußeren Notwendigkeit geschuldet war, sich an die moderne Welt anpassen zu müssen, um überhaupt als Osmanisches Reich weiterbestehen zu können. Die Tatsache, dass dieser Reformprozess gegen außerordentlich große Widerstände durchgesetzt werden musste, macht deutlich, wie tief das religiöse Denken die Köpfe bestimmte. Dies möchte ich zunächst an wenigen Beispielen veranschaulichen: Erst im Zusammenhang mit der jungtürkischen Bewegung, die dann im Jahr 1908 an die Macht kam, wurden überhaupt erst Begriffe für „Staat“ und „weltlich“ in die osmanische Sprache eingeführt.11 Vorher gab es diese Begriffe schlicht nicht. Das türkische Wort „devlet“, das heutzutage üblicherweise mit „Staat“ übersetzt wird, bedeutet dabei eigentlich überhaupt nicht „Staat“, sondern „Macht“ oder „Herrscher“

10 Merten, Untereinander, nicht nebeneinander, S. 166. 11 Ibid., S. 453.

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oder auch „Herrscherhaus“. Wenn sich das Osmanische Reich daher im 19. Jahrhundert als „Devlet Âliyye-i Osmâniyye“ bezeichnete, so könnte man das mit „Erhabener osmanischer Staat“ übersetzen, doch die Osmanen jener Zeit bezogen das wahrscheinlich eher auf die Dynastie der Osmanen und hörten somit „Erhabenes osmanisches Herrscherhaus“ und dachten dabei eben gerade nicht an einen Staat in unserem Sinne. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hatte sich das Osmanische Reich ohnehin am liebsten „Memalik-i Mahruse“, d.h. „Die wohlbehüteten Länder“, genannt, während man andere Staaten wie England oder Frankreich als „Vilâyets“ bezeichnete,12 also als potentielle, eben noch nicht eroberte Provinzen des Sultans und damit ebenfalls nicht als Staaten im modernen Sinne. Es ist auch kein Zufall, dass das Wort für „weltlich“ oder „säkular“ „ladini“ ist, was wörtlich übersetzt einfach „nichtreligiös“ oder sogar „nicht-islamisch“ oder „unislamisch“ bedeutet. Das heißt, die weltliche Sphäre der menschlichen Gesellschaft ist nicht positiv bestimmt, sondern negativ in Abgrenzung vom Religiösen. Entsprechend konnte die normale Bevölkerung vermutlich dem neuen Gedanken des säkularen Staates zunächst wenig Positives abgewinnen. Dieses Konzept war etwas grundsätzlich anderes, als man es bisher gelernt und gehört hatte, und von daher völlig ungewohnt oder gar unverständlich. Dazu passt, dass die Großwesire, die den Reformprozess im 19. Jahrhundert vorangetrieben hatten, bald als „Gavur-Paschas“ verschrien waren,13 also quasi als die ungläubigen Minister. Der letzte dieser mutigen Männer, die im Sinn hatten, die osmanische Gesellschaft zu modernisieren und dadurch lebensfähig zu erhalten, wurde von Sultan Abdülhamid II. abgesetzt. Gleichzeitig schaffte es dieser fromme Herrscher, in der kurzlebigen, erstmals demokratisch legitimierten Verfassung des Osmanischen Reiches von 1876 den Islam als Staatsreligion zu verankern. Vorher war das zwar faktisch so gewesen, aber nirgendwo gesetzlich festgehalten. Dies zeigt, dass die modernen politischen Strukturen dazu benutzt wurden, gerade den religiösen Charakter des Osmanischen Reiches zu festigen, anstatt ihn abzuschaffen. Abdülhamid II. war es auch, der das Kalifat, das über Jahrhunderte hinweg kaum beachtet worden war, zu neuen Ehren brachte. Ihm schwebte es vor, nun nicht mehr nur religiöses Oberhaupt der Muslime in seinem Herrschaftsgebiet zu sein, sondern er präsentierte sich zugleich als Kalif aller Muslime, also eben auch derjenigen Muslime, die Untertanen des russischen Zaren oder in Indien Untertanen der britischen Krone waren.14 Folgerichtig rief sein Nachfolger, Mehmed V., zu Beginn des Ersten Weltkriegs den Dschihad gegen die Ungläubigen aus, um die Muslime, die zu den Alliierten gehörten, auf seine Seite zu ziehen. Wir haben somit im Vorfeld des Ersten Weltkriegs eher eine Neubelebung der staatstragenden Funktion religiöser Gedanken vor uns als dessen Abschwächung.

12 Ibid., S. 440f. 13 Ibid., S. 445. 14 Ibid., S. 344–357.

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Wie bereits gesagt, versuchten die Jungtürken, die im Ersten Weltkrieg an der Regierung waren, dieser Entwicklung gegenzusteuern und ihre säkularen Gedanken einzubringen und kein religiöses, sondern ein nationales Gefühl unter den Osmanen zu wecken, was ihnen jedoch nur sehr unzureichend gelang. Wir müssen dazu bedenken, dass das Osmanische Reich alles andere als ein Land war, in dem Informationen leicht ausgetauscht werden konnten. Die Verbindungswege waren lang und es gab nur wenige Telegraphenleitungen. Viele Befehle und Nachrichten wurden noch per reitenden Boten und häufig sogar nur mündlich übermittelt. Was wir heute an Dokumenten besitzen, sind nicht selten nachträgliche Verschriftlichungen, die angefertigt wurden, damit eine Mitteilung überhaupt zu den Akten genommen werden konnte. Inwieweit diese Aufzeichnungen mit dem ursprünglichen Wortlaut der mündlichen Botschaft übereinstimmen, vermag heute im Rückblick niemand mehr zu sagen. Auch mag es vorgekommen sein, dass die Boten neben der offiziellen schriftlichen Order noch einen mündlich hinzugefügten Kommentar überbrachten, an den sich der örtliche Beamte dann – abweichend vom Wortlaut des Befehls – zu halten hatte.15 Die Jungtürken wiederum waren ein Kreis von Intellektuellen, die zumeist aus dem Offizierschor der Armee stammten und die vornehmlich im Bereich der großen Städte im Westen des Landes, Istanbul, Saloniki, Edirne und Izmir, aktiv waren. Wir dürfen daher zumindest anfragen, wie stark der Einfluss der jungtürkischen Gedanken auf die Beamtenschaft im östlichen Teil des Reiches tatsächlich gewesen ist. Vermutlich werden die neuen Ideen unter den eher konservativ gesinnten Beamten Anatoliens nicht so stark gewirkt haben, was die Vermutung nahe legt, dass man dort weiter religiös und nicht national oder gar säkular dachte. Ein weiterer, ganz wesentlicher Faktor, der sich ebenfalls unter der Oberfläche bis heute auswirkt, ist das osmanische Millet-System, das auch auf dem klassischen islamischen Recht fußt.16 Demnach wird die Gesellschaft in Gruppen eingeteilt, die eindeutig religiös bestimmt sind. Über diese Gruppen übte der Sultan nur eine Art indirekte Herrschaft aus. Unter seiner Oberhoheit besaß jede Millet ihre eigene Gerichtsbarkeit, ihr eigenes Familienrecht und die Berechtigung, überhaupt ihre eigenen Angelegenheiten ohne Einmischung der Hohen Pforte zu regeln. Im Gegenzug war das jeweilige Oberhaupt einer Millet dem Sultan gegenüber dafür verantwortlich, dass die Steuern regelmäßig gezahlt wurden und dass Recht und Ordnung unter den Angehörigen der Millet gewahrt wurden. Dass das System religiös begründet war, erkennt man daran, dass die Millets nicht nach ethnischen, sprachlichen oder kulturellen Gesichtspunkten gebildet waren, sondern aufgrund des jeweiligen religiösen Bekenntnisses. Deshalb gehörten zur armenischen Millet zugleich die syrisch-orthodoxen Christen, die gemeinsam mit den Armeniern dem miaphysitischen Christentum zuzurechnen sind, während z.B. zur griechischen Millet auch die ebenfalls orthodoxen Bulgaren gehörten. Den Armenier-Massakern fielen übrigens dementsprechend auch

15 Ibid., S. 40f. 16 Vgl. zu dem Folgenden ibid., S. 47ff.

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Tausende von syrischen Christen zum Opfer, weil sie mit den armenischen Glaubensgeschwistern sprichwörtlich in einen Topf geworfen wurden, obwohl die Syrer mit den politischen Ambitionen der Armenier nichts zu tun hatten. 17 Auch in der syrischorthodoxen Kirche ist das Jahr 1915 deswegen als „das Jahr des Schwertes“ in Erinnerung geblieben. Dieses Millet-System wurde zwar offiziell im sogenannten Erlass „Hâtt-ı Hümāyūn“ im Jahr 1856 abgeschafft, doch bestand dieser Beschluss gleichsam nur auf dem Papier. Die Zugehörigkeit zu einer Millet bestand faktisch nach wie vor, vor allem auch im Denken der Menschen im Osmanischen Reich, übrigens sowohl der Muslime als auch der Christen.18 Diese Art, in religiösen Kategorien zu denken, hatte nun erhebliche Konsequenzen. Zum einen konnte sich dadurch unter dem Gros der Armenier kaum ein wirkliches Gefühl der Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich entwickeln. Es hatte den Jungtürken zwar vorgeschwebt, ein solches Nationalgefühl im ganzen Reich zu installieren, aber das war vermutlich erstens zu spät und zweitens eben aufgrund des Millet-Systems von vornherein äußerst schwierig. So wirkte sich z.B. eine osmanische Staatsbürgerschaft im westlichen Sinne, die schon im Jahr 1869 eingeführt worden war, kaum im Bewusstsein der Menschen aus. Stattdessen sahen sich die Armenier in erster Linie ihrem Patriarchen als dem Oberhaupt ihrer Millet verpflichtet und nicht dem Sultan. So standen sie zum anderen dadurch gleichzeitig nationalen Gedanken einer armenischen, politischen Eigenständigkeit weit aufgeschlossener gegenüber als einem islamisch geprägten Gesellschaftssystem, in dem sie immer eine untergeordnete Rolle gespielt hatten.19 Diese Einschätzung wurde übrigens auch von Seiten der Muslime geteilt. Es ist eine bisher kaum beachtete Tatsache, dass die nicht-muslimischen Millets in der osmanischen Verwaltung seit jeher rechtlich beim Außenministerium angesiedelt waren. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs war dann das Justizministerium für sie zuständig.20 Dabei ist jedoch zu beachten, dass die nicht-muslimischen Millets nie direkt an das Innenministerium angeschlossen waren, wie man es womöglich erwartet hätte. M.E. ist dieser Umstand bedeutsamer, als man auf Anhieb vermuten könnte, denn er macht deutlich, dass die Nicht-Muslime in der Logik der osmanischen Verwaltung fast als eine Art Ausländer im eigenen Land galten, wenn der Innenminister allein für die muslimische Bevölkerung zuständig war. Gerade in Kriegszeiten stehen jedoch solche Ausländer im eigenen Land besonders schnell unter dem Verdacht, nicht loyal zur eigenen Regierung zu stehen, insbesondere wenn sie zudem einer anderen Religion angehören. Auch das Gefühl, hier die eigenen Landsleute zu deportieren, mag unter vielen osmanischen Verwaltungsbeamten nicht vorgeherrscht haben, sondern

17 18 19 20

Ibid., S. 176 und 437. Ibid., S. 444 und 449. Ibid., S. 449. Ibid., S. 473.

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stattdessen tatsächlich das Empfinden, hier die eigene Bevölkerung vor feindlich gesinnten Ausländern zu schützen. Diese Stimmung konnte nur aufkommen, weil man die Armenier nicht als vollgültigen Teil der eigenen Gesellschaft betrachtete. Die Armenier wiederum, bei denen dieses Gefühl nicht viel anders gewesen sein mag, haben sich aus dem gleichen Grund ganz natürlich stärker zu den ebenfalls christlichen Russen hingezogen gefühlt als zu den eigenen islamischen Nachbarn. Zugleich dachten wohl sowohl die Muslime als auch die Christen im Osmanischen Reich aufgrund des Millet-Systems nicht in der Kategorie von individuellen Staatsbürgern mit individuell einklagbaren Rechten, sondern vielmehr in der Kategorie des Vertragsrechts zwischen Gruppen.21 Rechte Einzelner gegenüber dem Staat waren im Osmanischen Reich weitgehend unbekannt. Stattdessen vertrat der armenische Patriarch die Rechte seiner Gruppe vor der Regierung des Osmanischen Reiches. Ein einzelner Armenier hätte sich niemals direkt an die Hohe Pforte gewandt oder dort eine Petition eingereicht. Er hätte dies immer nur über die Zwischeninstanz „Patriarch“ getan, dessen Aufgabe es war, zwischen der Regierung und den Angehörigen seiner Millet zu vermitteln. Daher erschienen die Armenier in den Augen der Hohen Pforte stets nur als Gruppe, die zwar in sich selber ausdifferenziert war, die aber nach außen hin einheitlich auftrat und die nach außen hin als Gruppe für ihre Taten verantwortlich war. Wenn daher einzelne Armenier oder bestimmte armenische Organisationen terroristische Anschläge oder Überfälle verübten, so war es nach der osmanischen Logik die Pflicht des armenischen Patriarchen, seine Leute zur Ordnung zu rufen und dafür zu sorgen, dass die öffentliche Sicherheit gewahrt blieb. War allerdings der Patriarch dazu nicht in der Lage, wurde die Hohe Pforte aktiv, um sicherzustellen, dass von dieser Millet keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit ausging. Dies tat sie dann sofort mit der regulären Armee und mit drastischen Maßnahmen, wie etwa der Umsiedlung ganzer Ortschaften. Wie gesagt, aufgrund des Denkens im kollektiven Vertragsrecht und in Gruppen war man es nicht gewohnt, zwischen den Angehörigen einzelner Millets zu differenzieren. Vielmehr haftete die gesamte Millet gegenüber der Hohen Pforte für die Taten weniger. Diese wenigen wiederum mussten in den Befehlen folglich als Räuber und Terroristen bezeichnet werden, um zu verdeutlichen, dass es hier um die Sicherheit der eigenen Leute ging. Auf diese Art konnten derartig weitreichende Maßnahmen der muslimischen Bevölkerung vermittelt werden. Wenn nun auf diese Art eine Stimmung erzeugt wurde, die die ganze Millet der Armenier als räuberische Gesellen einstufte, war es nur ein kleiner Schritt, nicht mehr zu fragen, um welche Armenier genau es sich dabei handelte, welche Armenier genau denn sich nicht loyal, sondern aufrührerisch verhielten. Schnell stand die gesamte Millet einschließlich der syrischen Christen unter einem Generalverdacht. Im Grunde wiederholte sich bei diesem Prozess eine Entwicklung, die man im Osmanischen Reich mehrfach beobachten kann. Eigentlich war das Osmanische

21 Ibid., S. 486–488.

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Reich recht pragmatisch ausgerichtet und nicht an kriegerischen Konflikten in seinem Inneren interessiert. Deshalb durfte sich jede Millet und oft auch jede anders geartete Gruppe selber verwalten. Die Hohe Pforte redete ihnen wenig herein und ließ sie in ihrer Eigenart gewähren, sofern sie ihre Steuern bezahlten und sie die öffentliche Ruhe und Ordnung nicht gefährdeten. Sogar heterodoxe Gruppen wie die Nusairier oder die Jeziden durften solange in ihren Bergen unbehelligt leben wie sie ihrerseits die restliche Bevölkerung in Ruhe ließen.22 Nur wenn Leib und Leben der anderen in Gefahr war, schritt die Hohe Pforte mit Soldaten ein, um die innere Sicherheit wiederherzustellen. Umsiedlungen hatten – wenn auch in weit geringerem Maße – dabei auch bisher quasi zum erlaubten Maßnahmenkatalog gehört. Von daher war es für die osmanische Verwaltung in den Provinzen nicht verwunderlich, wenn jetzt auch bei den Armeniern Ähnliches angeordnet wurde. Wir lesen dementsprechend in den osmanischen Unterlagen immer wieder, dass sich die verantwortlichen Beamten vor Ort bemühten, die ordnungsgemäße Abwicklung des Befehls an die Hohe Pforte zurückzumelden. Wenn wir nun einen zusammenfassenden Blick auf das werfen, was wir bisher bedacht haben, so ergibt sich folgendes Bild: Es war im Osmanischen Reich völlig normal, die Gesellschaft unter religiösen bzw. in diesem Fall islamischen Gesichtspunkten zu ordnen. Daran konnten vermutlich auch die Jungtürken nichts ändern, zumindest nicht außerhalb der gebildeten Schichten in den großen Städten. Dieser Art zu denken entsprach es nun aber, die Menschen in Gruppen einzuteilen und von ihrer Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe her zu beurteilen, anstatt vom Individuum mit individuellen Rechten und Pflichten auszugehen. Darüber hinaus hat man vermutlich die nicht-muslimischen Gruppen nie wirklich als Teil der eigenen Gesellschaft angesehen. Man empfand sie eher als so etwas wie Fremdkörper, deren Existenz nur so lange geduldet wurde, wie sie sich ruhig verhielten, die Vorherrschaft der muslimischen Millet anerkannten und überhaupt das gesamte Gesellschaftssystem nicht in Frage stellten. Von der dahinter stehenden, religiös geprägten Tradition her war es völlig undenkbar, die Nicht-Muslime als gleichberechtigte Glieder derselben Gesellschaft anzusehen. Vielmehr war es für die einfachen Muslime vollkommen einleuchtend, dass die Armenier mit den Russen sympathisierten. Dies war für sie vielleicht sogar nachvollziehbar, nur waren leider die Russen dem Osmanischen Reich feindlich gesinnt. Dass dann auch noch die Armenier die osmanische Regierung im Ausland anschwärzten und dass ausländische Missionare und Diplomaten gegen das Vorgehen der Hohe Pforte gegen die Armenier protestierten, verstärkte wahrscheinlich nur zusätzlich das Gefühl, von lauter äußeren und inneren Feinden umgeben zu sein. Zum Äußersten greifen zu müssen, um sich zu wehren, war in dieser Situation im Verständnis vieler Muslime die einzig logische Konsequenz. Zugleich hatte sich der armenische Patriarch weder willens noch fähig gezeigt, seine Millet im

22 Ibid., S. 237, 244 und 262.

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Zaum zu halten. Deshalb erschienen auch die Ordnungsmaßnahmen, die die Hohe Pforte daraufhin angeordnet hatte, zunächst einmal als angemessen, waren sie doch auch schon früher bei ähnlichen Fällen angewandt worden. Dass sich hinter den euphemistischen Ausdrücken „Umzug und Neuansiedlung“ etwas viel Umfassenderes und Grausameres verbarg, blieb dabei vermutlich vielen Beamten in den Provinzen verborgen. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass der einzelne Kaymakam in irgendeiner kleinen Provinzstadt wohl kaum den Überblick über das gesamte Reich hatte und sich nur als Befehlsempfänger sah, ohne dass er eine Ahnung davon gehabt hätte, dass hier eine ganze Millet ausgelöscht werden sollte. Er erfüllte vielmehr seine Pflicht, vor allem jetzt im Krieg, und verteidigte sein Land gegen die ausländischen Feinde, zu denen er mehr oder weniger auch die Armenier rechnete. Denn waren die Christen schließlich nicht schon immer nur einen Schritt von der Illoyalität entfernt gewesen? Denn wenn sie sich mit der osmanischen Gesellschaft identifizieren würden, wären sie nach dieser Art zu denken längst Muslime geworden. Der Sprachgebrauch in den osmanischen Quellen, der aus unserer heutigen Sicht verharmlosend und menschenverachtend anmutet, resultiert somit nicht allein aus der Kriegspropaganda dieser Zeit. Er erwächst aus einem Denken, das damals im Osmanischen Reich weit verbreitet war. Den Herrschenden in Istanbul war daher wahrscheinlich wohl bewusst, was sie taten und anordneten. Dafür spricht die eine oder andere Andeutung in den Quellen. Dennoch blieben auch sie letztlich in der damals geltenden Logik, wenn auch die Härte und der Umfang der Maßnahmen jeden früheren Rahmen sprengten. Von Umzug und Neuansiedlung armenischer Räuberbanden zu sprechen, kam überdies der eigenen muslimischen Bevölkerung entgegen, die auf diese Art nicht das Gefühl hatte, dass hier die eigenen Leute betroffen waren. Vielmehr stellte man sich vor, dass die Hohe Pforte mit derartigen Anordnungen in den ohnehin unruhigen Zeiten Ruhe und Sicherheit wiederherstellte, wie sie es früher schon oft bei anderen aufrührerischen Gruppen getan hatte. Die Armenier wiederum wurden als Fremdkörpern in der eigenen Gesellschaft abgestempelt, die es sich letztlich selber zuzuschreiben hätten, so behandelt zu werden. Diese Erkenntnis macht das, was geschehen ist, nicht weniger grausam, aber sie erklärt, warum es möglich war, derart tiefgreifende Maßnahmen im ganzen Reich umzusetzen.

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Der Krimkrieg (1853–56) und seine Auswirkungen auf die Christen im Osmanischen Reich Kai Merten

1. Der Krimkrieg Die Krim ist in den letzten Jahren wieder verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten, seit Russland diese Halbinsel völkerrechtswidrig von der Ukraine abgetrennt und dem eigenen Territorium angegliedert hat. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Krim bereits seit Jahrhunderten zu den bevorzugten Streitobjekten der Anrainer des Schwarzen Meeres gehört. Vielleicht am bekanntesten aus der Zeit vor dem 20. Jahrhundert sind die Krimtataren, die aus dem Mongolensturm als ein eigenes Khanat hervorgingen und sich im Jahr 1478 unter osmanische Schutzherrschaft stellten. Im Jahr 1792 wurden sie jedoch nach jahrzehntelangen Grenzstreitigkeiten mit dem nördlichen Nachbarn Teil des russischen Zarenreiches. Infolgedessen wanderten große Teile der tatarischen Bevölkerung der Krim ins benachbarte Osmanische Reich aus, zuletzt noch einmal als Nachwirkung des Krimkrieges, so dass spätestens kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrheitlich christliche Gruppen auf der Krim lebten. Mit diesem Krimkrieg, der von 1853 bis 1856 wütete, geriet dieses Gebiet erneut ins Zentrum der internationalen Diplomatie. Der konkrete Auslöser des Krimkrieges war eigentlich ein Streit der christlichen Kirchen um die Betreuung des Heiligen Grabes in Jerusalem. Die russischen Zaren sahen sich spätestens seit dem Vertrag von Kücük Kaynarca im Jahr 1774 als die Schutzherren über alle orthodoxen Christen im Osmanischen Reich und somit auch über die heiligen Stätten der Christenheit in Jerusalem und in Bethlehem an. Sie wollten allerdings diese heiligen Stätten nicht mit den katholischen Christen des Westens teilen. Anfang März 1853 wurde deshalb ein russischer Gesandter beim Sultan vorstellig und erhob entsprechende Forderungen, die die Hohe Pforte jedoch als unerlaubte Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zurückwies. Der Zar wiederum betrachtete diese Haltung des Sultans als Kriegsgrund. Im Oktober 1853 begannen die Kampfhandlungen mit dem russischen Angriff auf die osmanischen Besitzungen auf dem Balkan. Im März 1854 erklärten daraufhin Großbritannien und Frankreich ihrerseits Zar Nikolaus I. den Krieg und schlossen ein Militärbündnis mit Sultan ‘Abdülmeğīd I. (1839-61). Österreich und Preußen blieben in dem Konflikt neutral, aber die Österreicher banden indirekt russische Truppen, da sie selber eigene Kontigente an der gemeinsamen Grenze zu-

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sammenzogen, sodass der Zar ständig – zumindest theoretisch – einen österreichischen Angriff fürchten musste. Preußen wiederum entsandte Militärberater ins Osmanische Reich. Der bekannteste von ihnen ist Helmuth Graf Moltke. Die große Besonderheit dieses kriegerischen Konfliktes war es nun, dass sich hier Großbritannien und Frankreich und zum Schluß auch das Königreich Sardinien zum ersten Mal überhaupt an die Seite des Osmanischen Reiches stellten. Noch wenige Jahrzehnte zuvor hatten sie in der berühmten Schlacht von Navarino im Jahr 1827 zusammen mit den Russen die osmanische Kriegsflotte vernichtet. Nun aber stützten sie das im Niedergang befindliche Osmanische Reich, um ein weiteres Vordringen Russlands bis an den Bosporus zu verhindern. Für das Osmanische Reich waren diese neuen, christlichen Aliierten militärisch eine willkommene und höchst notwendige Unterstützung. Ideell und religiös hingegen war dies ein absolutes Novum, das dementsprechend auch recht unterschiedliche Reaktionen in allen beteiligten Ländern hervorgerufen hat. Deutlich wird dies vor allem am Friedensvertrag von Paris, der am 30. März 1856 den Krimkrieg beendete. Bereits im Vorfeld der Friedensverhandlungen hatte der Sultan einen Fermān, den sogenannten Hātt-ı Hümāyūn, erlassen.1 Dieser Erlass sollte Großbritannien und Frankreich veranschaulichen, wie sehr auch das Osmanische Reich selber bereit war, Reformen voranzutreiben. Damit wollte man sich das Wohlwollen der westlichen Mächte auch in Zukunft sichern. Der Vertrag von Paris erkannte dieses Bemühen auch ausdrücklich an und verwandelte die im Hātt-ı Hümāyūn gemachten Ankündigungen in vertraglich festgelegtes und international garantiertes Recht. Im Gegenzug bestätigte der Friedensvertrag u. a. die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches. Der Hātt-ı Hümāyūn umfasste 21 Artikel, von denen die folgenden Punkte die christlichen Untertanen des Sultans betrafen: – §2) Garantie der alten Rechte für Griechen und Armenier – §3) Beschränkung der Macht der Patriarchen – §4) Gleichstellung aller Konfessionen – §5) Abschaffung der Verfolgung und der Bestrafung bei einem Religionswechsel – §6) Zulassung von Christen zum Staatsdienst – §7) zivile Gerichtshöfe für Christen

1 Der Hātt-ı Hümāyūn ist in englischer Übersetzung abgedruckt bei Elçin Kürşat, Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert. Zur Komplementarität von Staatenbildungs- und Intellektualisierungsprozessen Bd. 2 (Frankfurt am Main/London: IKO-Verlag, 2003), S. 599–604; in französischer Übersetzung findet er sich bei Friedrich Eichmann, Die Reformen des Osmanischen Reiches mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses der Christen des Orients zur türkischen Herrschaft (Berlin: 1858) [Nachdruck: o. O. 2006], S. 353–360. Die osmanische Version (in Transskription) findet sich vollständig in T. C. Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü, Hg., Osmanlı Belgerinde Kırım Savaşı (1853–1856) (Osmanlı Arşivi Daire Başbakanlığı Yayın 84) (Ankara: 2006), S. 96–109.

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– §12) Zulassung von Christen für den Polizeidienst – §13) Zulassung von Christen zum Militärdienst – §19) Vertretung der Christen im Staatsrat

2. Die Folgen des Krimkrieges für die Christen im Osmanischen Reich Was dieser Fermān für die christlichen Gruppen im Osmanischen Reich konkret bedeutete, möchte ich nun an drei ausgewählten Beispielen näher erläutern. Ich denke, dass man an diesen drei Punkten besonders gut veranschaulichen kann, welche gesellschaftlichen Dynamiken die genannten Reformen auslösten und wie sowohl die Muslime als auch die Christen im Osmanischen Reich darauf reagierten. 2.1 Die Gleichberechtigung vor dem Gesetz Seit Menschengedenken war die osmanische Gesellschaft in Millets eingeteilt. Zumindest war das im Empfinden der Osmanen zur Zeit des Krimkrieges so. Eine Millet war dabei eine Religionsgemeinschaft, die innerhalb der osmanischen Gesellschaft und Gesetzgebung weitgehende Autonomie besaß. Traditionell galten vier Millets als offiziell anerkannt und bestätigt: die muslimische Millet, die griechisch-orthodoxe Millet, die armenische Millet und die jüdische Millet. Fast alle anderen religiösen Gruppen waren den existierenden Millets zugeordnet. Das Kriterium war dabei die Religionszugehörigkeit, nicht die ethnische oder sprachliche Herkunft. Damit wurde – zumindest von der Idee her – ein System geschaffen, dass die einzelnen religiösen und kulturellen Gruppen, die im Osmanischen Reich lebten, friedlich vereinte, weil jeder in seinem Rahmen seine Freiheit und relative Autonomie besaß, ohne seine ethnische, sprachliche und religiöse Identität aufgeben zu müssen, solange er die Oberherrschaft des Sultans nicht infragestellte. In diese Situation hinein platzte nun die Ankündigung, dieses Millet-System außer Kraft zu setzen; denn der Hātt-ı Hümāyūn und der Vertrag von Paris schafften faktisch das Millet-System ab zugunsten einer rechtlichen Gleichstellung aller Untertanen des Sultans, unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis oder ihrer Zugehörigkeit zu einer religiös, kulturell oder sprachlich definierten Gruppe. Das bedeutete einen Einschnitt in eine Art zu denken, die seit Jahrhunderten das Selbstverständnis des Osmanischen Reiches geprägt hatte. Insofern sollte es kaum verwundern, dass die Reaktionen auf die beiden Dokumente, den Hātt-ı Hümāyūn sowie den Vertrag von Paris, nicht lange auf sich warten ließen. Der Tenor der Kommentare war in der Regel deutlich ablehnend, und zwar sowohl von Muslimen als auch von Christen im Osmanischen Reich.

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Insbesondere die konservativen Muslime wehrten sich gegen die Gleichberechtigung aller Untertanen des Sultans, die für sie ohnehin von den ausländischen Mächten erzwungen war. Ein zeitgenössischer muslimischer Kommentar schreibt: „Heute haben wir unsere geheiligten nationalen [milli-] Rechte verloren, für die unsere Väter und Vorfahren ihr Blut geopfert haben. Zu einer Zeit, da der islamische millet (sic!) der herrschende millet (sic!) ist, ist ihm dieses heilige Recht genommen worden. Dies ist ein Tag der Trauer für das Volk des Islam.“2 Glaubt man den Zeitungsmeldungen dieser Zeit, folgten auf die Veröffentlichung des Hātt-ı Hümāyūn und des Vertrags von Paris sogar gewalttätige Auseinandersetzungen. Bereits im Mai 1856 weist z.B. der Korrespondent der britischen „Times“ darauf hin, dass der Hātt-ı Hümāyūn die Feindseligkeiten zwischen den Angehörigen verschiedener Religionen im Osmanischen Reich geschürt habe, anstatt ihnen entgegenzuwirken. Der Fermān bewirke also in der Realität das Gegenteil von dem, was er eigentlich bezwecken sollte.3 Dass hingegen auch ein großer Teil der nicht-muslimischen Untertanen des Sultans mit den Reformen nicht einverstanden war, mag auf den ersten Blick verwundern. Denn die christlichen Mächte hatten diese ja gefordert, um deren Lage zu verbessern. Und anfangs sah es tatsächlich danach aus, dass die Hohe Pforte mit der Umsetzung der Reformen ernst zu machen gedachte. So genehmigte die osmanische Regierung z.B. in der ersten Zeit nach dem Hātt-ı Hümāyūn die Renovierung alter sowie den Bau neuer Kirchen und Synagogen, was die früheren Schutzverträge nicht vorgesehen hatten.4

2 Zitiert nach Bundeszentrale für politische Bildung, Hg., Islam. Politische Bildung und interreligiöses Lernen (Fünfte Teillieferung) (Bonn: Verlag der bpb, 2006), S. 47; in englischer Übersetzung in Vahakn Dadrian, The History of the Armenian Genozide. Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus (New York/Oxford: Berghahn Books, 2006), S. 19; vgl. auch Roderic Davison, Reform in the Ottoman Empire 1856–1876 (Princeton: Princeton University Press, 1963), S. 52–60; Roderic Davison, “Turkish Attitudes Concerning ChristianMuslim Equality in the Nineteenth Century,” The American Historical Review 59/4 (1954): S. 854; Berdal Aral, “The Idea of Human Rights as Perceived in the Ottoman Empire,” Human Rights Quarterly 26/2 (Mai 2004): S. 467; Candan Badem, The Ottoman Crimean War (1853– 1856) (The Ottoman Empire and its Heritage. Politics, Society and Economy 44) (Leiden/Boston: BRILL, 2010), S. 345. 3 „The Times“ vom 16. Mai 1856, Ausgabe 22369, 10, Sp. E; vgl. auch „The Times“ vom 5. November 1856, Ausgabe 22517, S. 6, Sp. F; „The Times“ vom 15. Dezember 1856, Ausgabe 22551, S. 10, Sp. A. Zu weiteren Ereignissen vgl. „The Times“ vom 5. November 1856, Ausgabe 22517, S. 6, Sp. F; „The Times“ vom 15. Dezember 1856, Ausgabe 22551, S. 10, Sp. A. 4 Badem, Ottoman Crimean War, S. 346f. zählt über acht renovierte und mehr als sechs neu errichtete griechisch-orthodoxe Kirchen, über neun renovierte und mehr als sechs neu gebaute armenisch-apostolische Kirchen, drei renovierte und über sieben neue katholische Kirchen, zwei neu gebaute evangelische Kirchen, zwei renovierte Synagogen, eine neue Kirche bei der britischen Botschaft (auf einem von der Hohen Pforte geschenkten Grundstück) sowie mehr als zehn renovierte oder neu errichtete „verschiedene“ Kirchen auf.

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Doch trotzdem wurden der Erlass und der Friedensvertrag von vielen einheimischen Griechen und Armeniern heftig kritisiert, weil sich dadurch ihre Situation verschlechtert habe. An drei Punkten wird das schnell deutlich: So beschwerte sich der griechisch-orthodoxe Patriarch erstens über die Beschränkung seiner Machtfülle.5 Zweitens könne der Sultan nun mit Hinweis auf diesen Fermān jede ausländische Intervention zugunsten der Christen ablehnen, weil eine solche Protektion nicht mehr nötig sei, da jetzt ja die Religionsfreiheit offiziell gewährleistet sei. Schließlich seien drittens bisherige Privilegien der Christen, z.B. die Befreiung vom Militärdienst, aufgehoben, doch im Gegenzug keine wirkliche Gleichstellung mit den Muslimen erreicht worden.6 Wie diese Entwicklung die nicht-muslimischen Gruppen innerlich zerrissen hat, ist vor allem an der armenischen Millet gut zu erkennen. Auf der einen Seite standen die westlich-europäisch gesinnten Armenier, die – oft unter ausländischem Einfluss oder aufgrund eines Studiums an europäischen Universitäten – eine Gleichstellung der christlichen Untertanen mit den Muslimen sowie innerkirchliche Reformen forderten. Zu ihnen gehörten viele der vornehmen und reichen Familien, die mehr und mehr beanspruchten, die Geschicke der Millet zu leiten und ihren Einfluss auch gegen den Klerus geltend zu machen.7 Ihnen gegenüber formierte sich der Klerus unter den zumeist konservativen Patriarchen, die gegen die im Hātt-ı Hümāyūn beschlossenen Maßnahmen protestierten. Es wurde also versucht, einerseits Benachteiligungen für Nicht-Muslime zu beenden. Andererseits bemühte man sich zugleich, die eigene Selbständigkeit als Nationalkirche innerhalb der osmanischen Gesellschaft zu erhalten, um die damit verbundenen Privilegien weiter genießen zu können. Der gleiche Vorgang wäre leicht auch für die griechisch-orthodoxe Millet nachzuweisen.8 2.2 Die Zulassung zum Militärdienst Die Art, Rekruten für die Armee zu gewinnen, war im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts nicht einheitlich und unterlief mehrere Veränderungen. 9 Nach einem 5 „The Times“ vom 21. März 1856, Ausgabe 22321, S. 8, Sp. A. 6 „The Times“ vom 15. Dezember 1856, Ausgabe 22551, S. 10, Sp. A; vgl. auch Aral, Idea of Human Rights, S. 467. 7 Vgl. zu dieser Entwicklung u. a. Vartan Artinian, The Armenian Constitutional System in the Ottoman Empire 1839–1863. A Study of its Historical Development (Istanbul: 1988) vor allem S. 59–65 und 72–104; Hagop Barsoumian, “The Eastern Question and the Tanzimat Era,” in The Armenian People from Ancient to Modern Times II: Foreign Dominion to Statehood: The Fifteenth Century to the Twentieth Century, Hg. Richard Hovannisian (New York: Palgrave, 2004), 188–191 und 195–198; Kürşat, Verwestlichungsprozeß 2, S. 205–215. 8 Davison, Reform, 52–60; Davison, Turkish Attitudes, S. 854. 9 Zu den diesbezüglichen osmanischen Gesetzen vgl. die Ausführungen bei Erik Jan Zürcher, „The Ottoman Conscription System In Theory And Practice, 1844–1918“, in Arming the State. Military Conscription in the Middle East and Central Asia 1775–1925, Hg. ders. (London/New York: I. B. Tauris, 1999), S. 79–94. Auch veröffentlicht in International Review of Social History 43 (3) (1998): S. 437– 449.

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Rekrutierungsgesetz von 1843 bestanden die Rekruten sowohl aus Freiwilligen als auch aus Wehrpflichtigen, die man aus der Liste der dafür geeigneten Männer im Alter von 20 bis 25 Jahren per Los bestimmte. Ab 1848 bestand die Möglichkeit, einen Ersatzmann zu schicken, wenn man selbst verschont bleiben wollte. Außerdem legte das neue Gesetz fest, dass nicht mehr als ein Sohn pro Familie und nicht mehr als zehn Prozent aller wehrfähigen Männer eines Dorfes eingezogen werden durften und dass junge Männer, die auf andere Weise ihrem Land dienten, nicht zum Militär mussten. Damit wollte man die Belastung für die heimatliche Landwirtschaft in Grenzen halten.10 Von der verpflichtenden oder auch nur möglichen Rekrutierung für die osmanische Armee waren jedoch einige Personengruppen ausgenommen. Neben den Nicht-Muslimen gehörten dazu auch die Einwohner von Mekka und Medina, muslimische Gelehrte und deren Studenten sowie eine Reihe von Berufsgruppen (z.B. Richter). Ohne gesetzliche Verankerung rekrutierte man auch niemanden von den Einwohnern Istanbuls und von den Nomadenstämmen. An sich Wehrpflichtige konnten sich zudem befreien lassen, wenn sie nachwiesen, dass sie allein für den Lebensunterhalt ihrer Familie verantwortlich waren. 11 Den Nicht-Muslimen war es somit von jeher im Osmanischen Reich verboten, Waffen zu tragen. Das entsprach einer Regelung der Schutzverträge, die die Eroberer der islamischen Frühzeit mit den Bewohnern der unterworfenen Gebiete abgeschlossen hatten, sofern sie nicht bereit waren, zum Islam überzutreten. Bei dem Verbot des Waffentragens für Nicht-Muslime spielte nicht nur die Befürchtung eventueller Aufstände eine Rolle, sondern man argumentierte, die Schutzbefohlenen bräuchten auch keine Waffen, da es die Ehre der muslimischen Herrscher wäre, sie zu verteidigen.12 Mit der den Schutzbefohlenen auferlegten Kopfsteuer „bezahlten“ sie gleichsam den Schutz vor den Feinden durch ihre muslimischen Herrscher. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Sultane nie auf die Idee kamen, ihre christlichen Untertanen für die osmanische Armee zu rekrutieren. Nicht ohne Grund hielt man sie zudem für wenig zuverlässige Soldaten für die Verteidigung eines islamischen Reiches.13

10 Zürcher, Ottoman Conscription System, S. 82; Eichmann, Reformen, S. 227; Badem, Ottoman Crimean War, S. 50; Stanford J. Shaw, „Das Osmanische Reich und die moderne Türkei“, in Der Islam II. Die islamischen Reiche nach dem Fall von Konstantinopel, Hg. Gustave von Grunebaum (Frankfurt: Fischer Verlag, 1971), S. 127. 11 Zürcher, Ottoman Conscription System, S. 86. 12 Vgl. Kürşat, Verwestlichungsprozeß 1, S. 54. 13 Caroline Finkel, Osman’s Dream. The History of the Ottoman Empire (New York: Basic Books, 2005), S. 436.

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Von dem Verbot für Nicht-Muslime, Waffen zu tragen, gab es daher in der Geschichte des Osmanischen Reiches bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur sehr wenige Ausnahmen. Die eine bildete die griechische Kavallerie, die von 1431–1639 in osmanischen Diensten stand und die sogar ihre eigene christliche Fahne führen durfte, solange sie sich im heimatlichen Gebiet (Epirus und Peloponnes) bewegte. 14 Zum anderen dienten im 17. und 18. Jahrhundert einige Griechen und Armenier als Seeleute in der osmanischen Kriegsflotte. Nach dem Beginn des griechischen Unabhängigkeitskrieges in den 1820er Jahren entließ man allerdings die Christen vollständig aus der Marine.15 Außerdem existierte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine Einheit „osmanischer Kosaken“, die auch im Krimkrieg eingesetzt wurde. In ihr fasste man Kosaken aus der Ukraine zusammen, die im Jahr 1775 ins Osmanische Reich eingewandert waren und die dort sowohl ihre russische Sprache als auch ihren russisch-orthodoxen Glauben bewahrt hatten.16 Abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen änderte sich die Politik, Nicht-Muslimen den Militärdienst zu verweigern, erst ganz allmählich im Lauf des 19. Jahrhunderts und dies nur unter äußerem und innerem Druck. Seit 1841 nahm man Christen in den medizinischen Dienst der Armee auf und ließ sie an den militärischen Hochschulen studieren.17 Auch die Marine fing wieder an, zuerst nur vorübergehend und in geringer Zahl in den Jahren 1835–37 und 1845–51, Griechen zu rekrutieren.18 Zu Beginn des Krimkrieges haben sich dann bulgarische, griechische und armenische Freiwillige zum Dienst in der osmanischen Armee gemeldet.19 Auch die Oberhäupter der christlichen Millets hatten damals ihre Gläubigen dazu aufgefordert, sich frei-

14 www.ask.com/wiki/Flag_of_Greece (05.02.2011). 15 Daniel Panzac, “The Manning of the Ottoman Navy in the Heyday of Sail (1660–1850),” in Arming the State. Military Conscription in the Middle East and Central Asia 1775–1925, Hg. Eric Zürcher (London/New York: I. B. Tauris, 1999), S. 47, 52f. 16 William E. D. Allen und Paul Muratoff, Caucasian Battlefields. A History of the Wars on the Turco-Caucasian Border 1828–1921 (Cambridge: Cambridge University Press, 1953), S. 95 Anm. 1. 17 Kürşat, Verwestlichungsprozeß 2, S. 201. 18 Panzac, The Manning of the Ottoman Navy, S. 54; Finkel, Osman’s Dream, S. 455; Davison, Reform, S. 45. 19 Badem, Ottoman Crimean War, S. 50. Vgl. auch die Aufzeichnungen des Wālīs von Izmir vom Januar 1854 über den Wunsch von Armeniern in Manisa (Magnesia) und Izmir, in der osmanischen Armee zu dienen: T. C. Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü, Osmanlı Belgerlerinde Kırım Savaşı, S. 134–136.

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willig als Soldaten zu melden. Sie wollten damit ihre Loyalität zum Sultan bekunden.20 Zudem hatte es von britischer Seite Vorschläge zur Bewaffnung der Christen im Osmanischen Reich gegeben. 21 Alle diese Angebote wies der Sultan zunächst noch als unvorstellbar zurück, obwohl er angesichts des russischen Gegners zusätzliche Truppen durchaus nötig gehabt hätte.22 Mit der gleichen Begründung lehnte er auch die Bildung einer „Polnischen Legion“ ab, in der polnische Einwanderer gegen den gemeinsamen Feind Russland zu kämpfen wünschten. Sie waren zuvor nach dem gescheiterten Aufstand von 1848 aus ihrer Heimat geflohen.23 Darüber hinaus wäre es aus muslimischer Sicht undenkbar gewesen, dass muslimische Soldaten eventuell christlichen Offizieren gehorchen müssten. 24 Aus diesem Grund gab man auch den zahlreichen ausländischen Militärberatern und Offizieren, die die osmanische Armee zu modernisieren halfen und auch an der Kriegsführung wesentlich beteiligt waren, muslimische Namen oder zumindest den Titel „Pascha“, um den einfachen Soldaten zu suggerieren, ihre Vorgesetzten seien auch Muslime. Einige Ausländer sind in osmanischen Diensten allerdings auch tatsächlich zum Islam übergetreten, um diesem Problem zu entgehen.25 Gegen Ende des Krimkrieges sah sich die Hohe Pforte durch den weiteren Verlauf der Ereignisse gezwungen, ihre Einstellung zur Rekrutierung von Nicht-Muslimen erneut zu überdenken. Im Mai 1855 veröffentlichte Sultan ‘Abdülmeğīd I. seine bereits ein Jahr zuvor angekündigte Entscheidung, zu den Bedingungen des Rekrutierungsgesetzes von 1843 auch nicht-muslimische Soldaten in die Armee aufzunehmen.26 Schließlich verkündete der Hātt-ı Hümāyūn, wie eingangs erwähnt, offiziell die Zulassung von Christen zum Militärdienst. Die Reaktionen auch auf diese Reform waren im Osmanischen Reich interessanterweise sowohl von muslimischer als auch von christlicher Seite aus mehrheitlich ablehnend. Obwohl Griechen und Armenier sonst immer eine Gleichberechtigung in der osmanischen Gesellschaft gefordert hatten, war es ihnen jetzt nicht recht, in Zukunft

20 Finkel, Osman’s Dream, S. 461. 21 „The Times“ vom 29. Dezember 1855, Ausgabe 22250, S. 9, Sp. B. Der Verfasser dieses Leserbriefes greift damit einen bereits Anfang des Jahres von anderer Seite aus gemachten Vorschlag auf: „The Times“ vom 18. Januar 1855, Ausgabe 21954, S. 10, Sp. D. 22 Badem, Ottoman Crimean War, S. 50. 23 Ibid., S. 147. 24 Roderic Davison, Essays in Ottoman and Turkish History, 1774–1923: The Impact of the West (Austin: Univserity Press of Texas, 1990) S. 124; Davison, Turkish Attitudes, 859; Kürşat, Verwestlichungsprozeß 2, S. 170f., 200. 25 Badem, Ottoman Crimean War, S. 147f. 26 Ibid., S. 342; vgl. auch Eichmann, Reformen, S. 217, 230.

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genau wie die Muslime in der Armee dienen zu müssen. Dabei war es nur eine logische Konsequenz aus dieser Reform, nun mit der Gleichstellung vor dem Gesetz auch das Verbot für Christen, Waffen zu tragen, aufzuheben. 27 Sogar von britischer Seite aus äußerte man nun auf einmal Bedenken. In einem Brief des britischen Außenministers an seinen Botschafter in Istanbul vom 18. Februar 1856 ist davon die Rede, dass es nicht unwahrscheinlich sei, dass christliche Soldaten von ihren muslimischen Offizieren wie Hunde behandelt würden. Christen könnten in der osmanischen Armee daher nur in von den Muslimen getrennten Bataillonen dienen.28 Viele betroffene christliche Männer versuchten deswegen, sich der Rekrutierung zu entziehen. Schon zuvor waren nach der wiederaufgenommenen Rekrutierung von christlichen Seeleuten für die osmanische Marine viele Griechen ins Königreich Griechenland geflohen oder hatten sich von den örtlichen griechischen und russischen Konsulaten ausländische Pässe besorgt.29 Als die osmanischen Behörden das erkannten, erlaubten sie den Christen sehr gerne, sich vom Militärdienst freizukaufen.30 Sehr viele christliche junge Männer, vor allem aus den Kaufmannsfamilien, machten von dieser Möglichkeit Gebrauch.31 Auf diese Art behielt man also faktisch das Prinzip, Nicht-Muslimen keine Waffen auszuhändigen, bei, indem man der früheren Kopfsteuer nur einen anderen Namen gab und so trotzdem der Forderung der Gleichheit aller Untertanen vor dem Gesetz rein äußerlich genügte. Auch die Hohe Pforte scheint – u. a. aus finanziellen Gründen – diese Regelung begrüßt zu haben.32 Anfang der 1860er Jahre wurde darüber hinaus von der Hohen Pforte eine Kommission eingesetzt, die ein Gutachten zu dieser Frage erarbeiten sollte. Sie kam zu dem Ergebnis, dass bei einer Umsetzung der neuen Vorschrift zur Rekrutierung von

27 Vgl. u.a. „The Times“ vom 15. Dezember 1856, Ausgabe 22551, S. 10, Sp. A; Eichmann, Reformen, S. 231; Davison, Reform, S. 52-60; Davison, Turkish Attitudes, S. 854; Aral, Idea of Human Rights, S. 467. 28 Instructions addressed to Her Majesty’s Embassy at Constantinople respecting Financial and Administrative Reforms and the Protection of Christians in Turkey: 1856–75. Presented to the House of Commons by Command of Her Majesty, in Pursuance of their Address dated February 9, 1877 (Turkey 17, 1877), London o. J., S. 63. 29 Finkel, Osman’s Dream, S. 455. 30 Instructions addressed to Her Majesty’s Embassy at Constantinople, S. 67 (Brief des britischen Außenministers an den britischen Botschafter Lord Stratford de Redcliffe vom 18. September 1856); Eichmann, Reformen, S. 391; Zürcher, Ottoman Conscription System, S. 445; Finkel, Osman’s Dream, S. 461; Davison, Turkish Attitudes, S. 859; Kürşat, Verwestlichungsprozeß 2, S. 200. 31 „The Times“ vom 21. Februar 1876, Ausgabe 28557, S. 6, Sp. A; Further Correspondence respecting the Affairs of Turkey. Presented to both Houses of Parliament by Command of Her Majesty, 1878 (Turkey 1, 1878), London o. J., S. 36 (Brief vom 28. Juni 1877). 32 Zürcher, Ottoman Conscription System, S. 88.

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Nicht-Muslimen die praktischen Schwierigkeiten größer seien als der Nutzen. Gemischte Truppen seien unmöglich. Die Kommission gab zu bedenken, dass Muslime und Christen unterschiedliche Speisevorschriften und andere Fastenzeiten zu beachten hätten. Außerdem bräuchten die christlichen Soldaten dann ihre eigenen Geistlichen, wobei es nicht mit einem christlichen Priester neben jedem muslimischen Imam getan sei. Vielmehr benötigte jede christliche Religionsgemeinschaft (griechisch-orthodox, bulgarisch-orthodox, armenisch-apostolisch, katholisch, protestantisch u. a. m.) ihre jeweiligen Geistlichen, und den Juden müsse man auch ihren Rabbi zugestehen. Das würde dazu führen, dass jeder Einheit eine ganze Gruppe von religiösem Personal folgen würde, was in der Praxis undurchführbar sei. Schließlich weist der Leiter der Kommission, Cevdet Pascha, auf den ihm wichtigsten Umstand hin: Wie könnte ein christlicher Offizier den muslimischen Soldaten glaubwürdig vermitteln, sie müssten für den Islam in den Märtyrertod gehen? Und wie dürfte umgekehrt ein muslimischer Offizier den Märtyrertod für den Islam von seinen christlichen Soldaten verlangen?33 Es ist an dieser Stelle bemerkenswert zu beobachten, wie sich sowohl aus der Sicht der Christen als auch aus der Sicht der Muslime im Osmanischen Reich eine ursprünglich als Demütigung gedachte Vorschrift mit der Zeit in ein heftig verteidigtes Privileg verwandelt hatte. Mittlerweile wünschte sich sogar ein Teil der muslimischen Bevölkerung, dass diese gefühlte Bevorzugung der Christen abgeschafft werden würde. Die Gründe dafür sind offensichtlich. Der Militärdienst in der osmanischen Armee war – zumindest für die einfachen Soldaten mit niederen Dienstgraden – seit langem kein erstrebenswerter Beruf mehr. Nicht nur die Zeiten der „ewig siegreichen Grenzen“ und der ruhmreichen Feldzüge gehörten der Vergangenheit an, die zahlreichen Kriege bedeuteten für das Osmanische Reich zudem einen hohen Blutzoll. Das wiederum beeinträchtigte auch die osmanische Wirtschaft, weil die zur Armee eingezogenen jungen muslimischen Arbeitskräfte jahrelang in der Landwirtschaft und in den Handwerksbetrieben fehlten, sofern sie überhaupt lebend nach Hause zurückkehrten. 34 Zusätzlich brachen auch in außenpolitischen Friedenszeiten ständig irgendwo im Reich Aufstände und Unruhen aus, zu deren Niederschlagung die Armee ausrücken musste. All das machte den Beruf des Soldaten unbeliebt. 35 So hatte es z.B. schon im Jahr 1850 in Aleppo Ausschreitungen gegeben, bei denen verärgerte Muslime die von Christen bewohnten Stadtviertel überfallen und geplündert hatten. Auslöser dieser Unruhen war vermutlich die Rekrutierung von Soldaten für die osmanische Armee gewesen, gegen die sich junge Muslime wehrten. Ihre Wut richtete sich dabei gegen

33 Badem, Ottoman Crimean War, S. 340. 34 James L. Farley, Turks and Christians (London: 1876) [Nachdruck o. O. 2005], S. 15; Badem, Ottoman Crimean War, S. 50; S. J. Shaw, Osmanisches Reich, S. 127. 35 Zürcher, Ottoman Conscription System, S. 85.

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die Christen, die vom Militärdienst ausgeschlossen waren und stattdessen ihren Geschäften nachgehen konnten. Das wiederum weckte den Neid ihrer muslimischen Nachbarn, die sich benachteiligt fühlten.36 Trotz dieser Last, die einseitig auf den muslimischen Schultern lag, war und blieb es für das traditionell geprägte muslimische Verständnis insgesamt ein unerhörter Gedanke, Nicht-Muslimen offiziell zu erlauben, Waffen zu tragen. Denn das bedeutete implizit, sie nicht mehr angemessen schützen zu können (d. h. ihren Teil der Schutzverträge nicht mehr erfüllen zu können) und – für Muslime unvorstellbar – bei der Verteidigung des Landes auf nicht-muslimische Hilfe angewiesen zu sein.37 Schon Friedrich Eichmann, von 1852–55 Legationssekretär an der preußischen Botschaft in Istanbul, erkannte diese Problematik. Er schreibt im Jahr 1858 über das neue Rekrutierungsgesetz von 1855: „Dieses Gesetz, wenn es dermaleinst ernstlich zur Ausführung gebracht werden sollte, würde mehr als alle anderen reformatorischen Massregeln der Pforte die alten Grundlagen der osmanischen Gesellschaft erschüttern. […] Wenn der Christ fechten soll für das Reich der Osmanen, so darf es nicht sein Kerker, so muss es sein Vaterland sein, so kann der Türke nicht mehr sein Herr, er muss sein Mitbürger geworden sein. Ein grosser politischer Akt der Versöhnung muss zwischen dem Eroberer und dem Eroberten die Erinnerung an die Vergangenheit verwischt, den Herrscherstolz der Muhamedaner gebrochen und die Erbitterung des geknechteten Christen in Patriotismus verwandelt haben. Erst wenn der Gedanke eines gemeinsamen Vaterlandes die religiösen und nationalen Gegensätze aufgelöst hat, erst dann kann aus dem Christen ein ehrlicher Soldat des Sultans werden.“38 Eichmann hebt damit die Einzelfrage der Rekrutierung von Nicht-Muslimen für die osmanische Armee auf die grundsätzliche Ebene der Entstehung eines osmanischen Nationalstaates. Auch die Hohe Pforte war sich dieser Problematik durchaus bewusst. Aus diesem Grund setzte sie die einheitliche Rekrutierung aller jungen Männer gleich welcher Religion nur sehr zögerlich durch. Dass man die Rekrutierung von Christen und auch von Yeziden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann doch verstärkt vorangetrieben hat, hängt daher eher mit dem Sachzwang, nach den vielen zermürbenden Kriegen Soldaten zu benötigen, als mit einer inneren Überzeugung zusammen.

36 „The Times“ vom 22. November 1850, Ausgabe 20653, S. 8, Sp. C; vgl. dazu auch den Leserbrief in der „Times“ vom 26. November 1850, Ausgabe 20656, S. 5, Sp. E. 37 Aral, Idea of Human Rights, S. 478f. 38 Eichmann, Reformen, S. 226.

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Nach 1856 muss es aber – zumindest an manchen Orten – in der osmanischen Armee tatsächlich Nicht-Muslime sowohl unter den einfachen Soldaten als auch im Offizierskorps gegeben haben. Vereinzelte Beobachtungen bestätigen das: Im Jahr 1867 sprach Großwesir Fu’ād Pascha davon, die Zahl der christlichen Offiziersanwärter zu beschränken, solange es nicht genügend christliche Soldaten in der Armee gäbe.39 Aus dem Jahr 1872 ist in der britischen diplomatischen Korrespondenz von einem osmanischen Regiment christlicher Dragoner die Rede. Diese Dragoner seien in den Libanonbergen eingesetzt, um die dortigen Christen während der von Drusen angezettelten Unruhen zu beschützen. Dazu habe man vor allem bulgarische Rekruten und andere Christen aus dem europäischen Teil des Osmanischen Reiches eingezogen.40 Ende 1876 meldeten sich zudem 4.000 Armenier in Erzurum freiwillig zum Dienst in der osmanischen Armee, falls es zum Krieg mit Russland kommen solle.41 Erst im 20. Jahrhundert führten die Jungtürken, die im Jahr 1908 an die Macht gekommen waren, die allgemeine Wehrpflicht für alle jungen Männer, gleich welcher Religionszugehörigkeit, ein. Im Oktober 1909 zog man zum ersten Mal Rekruten nach diesem Prinzip ein. Die Oberhäupter der nicht-muslimischen Millets begrüßten zu diesem Zeitpunkt anfangs diese Gleichstellung vor dem Gesetz, weil sie sich von den Jungtürken insgesamt eine Verbesserung ihrer Situation erhofften. Allerdings verlangten sie zugleich ethnisch und religiös homogene Einheiten. Christliche Soldaten sollten weder mit muslimischen vermischt werden, noch sollten muslimische Offiziere über sie befehligen. Die betroffenen jungen Männer hingegen waren verständlicherweise weniger begeistert.42 Auch unter manchen Muslimen regte sich damals noch immer Unmut über diese Gleichstellung der Christen. 43 Im Ersten Weltkrieg dienten deshalb zunächst auch Nicht-Muslime in der osmanischen Armee, bis schon am 25. Februar 1915 der Befehl kam, alle armenischen Soldaten zu entwaffnen und nur noch als Hilfskräfte zur Unterstützung der kämpfenden Truppen einzusetzen. Die offizielle Begründung war der Verdacht, sie könnten mit dem russischen Kriegsgegner sympathisieren oder gar kollaborieren.44

39 Kürşat, Verwestlichungsprozeß 2, S. 20. 40 Reports by Her Majesty’s Diplomatic and Consular Agents in Turkey respecting the Condition of the Christian Subjects of the Porte. 1868–75. Presented to the House of Commons by Command of Her Majesty, in Pursuance of their Address dated March 5, 1877 (Turkey 16, 1877), London o. J., S. 72f. (Brief von Generalkonsul G. Jackson Eldridge an das britische Außenministerium vom 7. August 1872). 41 „The Times“ vom 26. Dezember 1876, Ausgabe 28822, S. 3, Sp. B. 42 Zürcher, Ottoman Conscription System, S. 89; vgl. auch E. W. McDowell, “The Ancient Nestorian Church and its Present Influence in Kurdistan,” Journal of Race Development 2 (1911/12): S. 80. 43 Vgl. McDowell, Ancient Nestorian Church, S. 79. 44 Finkel, Osman’s Dream, S. 534.

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2.3 Die Religionsfreiheit Nach traditionellem sunnitisch-islamischen Recht ist jemand als Apostat zu behandeln, der die Religion des Islam verlässt. Der Abfall vom Islam kann ausdrücklich verbal oder durch Taten deutlich gemacht werden. Ein solcher Akt gilt jedoch nur dann als gültig, wenn er von einem erwachsenen Menschen aus freiem Willen und mit voller Zurechnungsfähigkeit seiner Vernunft vollzogen wird. Die Strafe für Apostasie vom Islam ist nach traditioneller islamischer Lehre für Männer die Todesstrafe.45 Frauen, die nur bedingt als religionsmündig gelten, sollen stattdessen eingesperrt und alle drei Tage geschlagen werden, um sie zur Rückkehr zum Islam aufzufordern. Noch nicht voll zurechnungsfähige Minderjährige sind von der Bestrafung ganz ausgenommen, wie auch Konvertiten zum Islam, deren Ernsthaftigkeit beim Übertritt angezweifelt werden kann.46 An zivilrechtlichen Folgen eines Abfalls vom Islam ist u. a. der Verlust des Eigentums vorgesehen, der aber erst nach der Vollstreckung der Strafe rechtswirksam wird, damit der Angeklagte für den Fall, dass er die Apostasie rückgängig macht, sein Eigentum behalten kann.47 Natürlich beklagten die westeuropäischen Diplomaten in gleichbleibender Regelmäßigkeit jede Hinrichtung von Apostaten und forderten die Hohe Pforte unmissverständlich auf, eine entsprechende strafrechtliche Verfolgung zu unterlassen bzw.

45 Der Koran selber ordnet zwar grundsätzlich die Bestrafung der Abtrünnigen an, legt aber kein bestimmtes Strafmaß fest. Die Forderung der Todesstrafe wird hauptsächlich mit der Koranstelle Sure 4, 88f. sowie mit überlieferten Aussagen Mohammeds begründet, aber u. a. auch mit Sure 3, 86–91, Sure 16, 106f., Sure 2, 217 und Sure 4, 137: Katharina Knüppel, Religionsfreiheit und Apostasie in islamisch geprägten Staaten (Rechtspolitisches Symposium 8) (Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, 2010), S. 219–221. Manche neuere Literatur zu diesem Thema betont deshalb zu Recht, dass die Strafe für Apostasie laut dem Koran nicht die Todesstrafe ist, sondern dort ausdrücklich nur eine Bestrafung durch Gott vorgesehen ist, nämlich der Verlust des ewigen Heils. Oder sie verweist auf die unterschiedliche historische Entstehungssituation der einzelnen koranischen Aussagen und die oft kontroverse Auslegung in der islamischen Theologie der späteren Jahrhunderte, so z.B. Frank Griffel, Apostasie und Toleranz im Islam. Die Entwicklung zu al-Gazālīs Urteil gegen die Philosophie und die Reaktionen der Philosophen (Islamic Philosophy, Theology, and Science. Texts and Studies XL) (Leiden/Boston/Köln: BRILL, 2000), S. 24-32. 51–54; Bülent Ucar, „Die Todesstrafe für Apostaten in der Scharia. Traditionelle Standpunkte und neuere Interpretationen zur Überwindung eines Paradigmas der Abgrenzung“, in Identität durch Differenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, Hg. Hansjörg Schmid u.a. (Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 2007), S. 227–244. Dort eine gute Zusammenfassung der diesbezüglichen unterschiedlichen Lehrmeinungen. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass diese Ansicht zumindest nicht die im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert vertretene Ansicht war. Dort ging man auf Seiten der ‘Ulamā’ selbstverständlich von der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe für Apostasie aus: vgl. Ucar, Todesstrafe, S. 233. 46 Knüppel, Religionsfreiheit, S. 206–208. 211f.; Rudolph Peters und Gert J. J. De Vries, „Apostasy in Islam,“ Die Welt des Islams. Neue Serie 17/1-4 (1976–1977): S. 3–6. 47 Knüppel, Religionsfreiheit, S. 215–217; Peters / De Vries, Apostasy, S. 7f.

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zu verhindern. Aufgrund dieses erheblichen außenpolitischen Drucks schien die Hohe Pforte zunächst tatsächlich bereit, ihren Untertanen mehr Religionsfreiheit zuzugestehen. Im Hātt-ı Hümāyūn und im Vertrag von Paris wurde deshalb die freie Religionsausübung ausdrücklich verkündet. Daraufhin gab es zum ersten Mal vereinzelt Muslime, die auch öffentlich aufgrund evangelischer oder katholischer Mission den christlichen Glauben annahmen,48 d. h. nicht mehr nur – wie bisher – Christen, die vorübergehend Muslime geworden waren und anschließend den Religionswechsel rückgängig zu machen wünschten. Der Historiker Leon Arpee zählt z.B. für die Zeit nach 1856 folgende Fälle auf: Um 1857 konvertierte in Kayseri (Caesarea) ein Türke namens Ahmed mit seiner Frau und seinen drei Töchtern. Im Jahr 1860 wurden sechs Muslime, darunter ein Imam, in Istanbul getauft. Insgesamt spricht er von 23 in Istanbul zum Protestantismus bekehrten Muslimen bis Ende 1861 bzw. im ganzen Osmanischen Reich von knapp 50 Muslimen, die evangelisch geworden waren, und von in etwa der gleichen Zahl zur katholischen Kirche (Mission der Jesuiten) konvertierter Muslime.49 Die englische Church Missionary Society spricht sogar von rund 50 getauften Muslimen allein in Istanbul in den Jahren 1862–64.50 Angesichts solcher Zahlen, die man wohl zu Recht auf die im Hātt-ı Hümāyūn zugesicherte Religionsfreiheit zurückführen darf, reagierten große Teile der muslimischen Bevölkerung mit zunehmendem Unmut und mit Sorge, weil man die Überlegenheit des Islam in Gefahr sah. Durch die neue Freiheit würden die Muslime in unerlaubter Weise verunsichert. Dadurch sah sich die osmanische Regierung veranlasst, doch wieder verstärkt Maßnahmen gegen die christlichen Missionen zu ergreifen.51 Der neue Sultan ‘Abdül‘azīz (1861–76) beurteilte deshalb den von seinem Vorgänger erlassenen Fermān äußerst kritisch und bemühte sich gleichsam um Schadensbegrenzung. Das erste Opfer dieser neuen Politik wurde eine im Auftrag der anglikanischen Kirche in Istanbul tätige „Society for the Propagation of the Gospel“. Sie hatte in Zusammenarbeit mit der „British and Foreign Bible Society“ einen Raum angemietet, in

48 Vgl. Finkel, Osman’s Dream, S. 460f. 49 Leon Arpee, A Century of Armenian Protestantism (Church History 5) (Chicago: 1936), S. 163. 50 Christine Schirrmacher, Mit den Waffen des Gegners. Christlich-muslimische Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert dargestellt am Beispiel der Auseinandersetzung um Karl Gottlieb Pfanders `Mîzân al-haqq´ und Rahmatullâh ibn Halîl al-‘Utmânî al-Kairânawîs `Izhâr al-haqq´ und der Diskussion über das Barnabasevangelium (Islamkundliche Untersuchungen 162) (Berlin: Klaus-Schwarz-Verlag, 1992), S. 56. 51 Arpee, Armenian Protestantism, S. 163; Selim Deringil, „‚There Is No Compulsion in Religion.’ On Conversion and Apostasy in the Late Ottoman Empire 1839-1856,” Comparative Studies in Society and History 42/3 (Juli 2000): S. 565; Finkel, Osman’s Dream, S. 461; Jeremy Salt, „Trouble Wherever They Went: American Missionaries in Anatolia and Ottoman Syria in the Nineteenth Century,” The Muslim World 92 (2002): S. 304.

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dem sie sonntags Gottesdienste in türkischer Sprache feierte. Verantwortlich dafür zeichnete ein Pfr. Edward Williams, ein Türke, der zum Christentum konvertiert war und seinen früheren, islamischen Namen abgelegt hatte. Insgesamt ist von vier oder fünf ehemaligen Muslimen die Rede, die dort gearbeitet hätten. Am 17. Juli 1864 schlossen die osmanischen Behörden die Räume der „Society for the Propagation of the Gospel“ und der „British and Foreign Bible Society“ und verhafteten sieben Konvertiten, die sie aber kurz darauf wieder auf freien Fuß setzten. Alle Veröffentlichungen und Äußerungen, die den Islam kritisierten, wurden fortan ausdrücklich verboten.52 Vor allem aber wehrte sich die Hohe Pforte jetzt gegen eine Interpretation des Fermāns, die das Zugeständnis der freien Religionswahl behauptete; denn in der osmanischen Fassung des Fermāns stand – anders als in den Übersetzungen – lediglich: „Es gibt keinen Zwang in der Religion.“ Es wurde argumentiert, dass dieser Satz, der direkt dem Koran (Sure 2, 256) entnommen war, nur meine, dass es keinen erzwungenen Übertritt zum Islam hin geben dürfe. Über einen Religionswechsel vom Islam zu einer anderen Religionsgemeinschaft sage diese Sure hingegen nichts aus.53 Um dennoch den Forderungen der christlichen Mächte nach Religionsfreiheit Genüge zu tun, veränderten die Osmanen zusätzlich ihre Strategie im Umgang mit Apostaten. Zwei Beispiele dazu: Im September des Jahres 1856 verbannten die osmanischen Behörden einen zum evangelischen Glauben übergetretenen Muslim namens Yani Sava aus seinem Heimatort Manisa (Magnesia), sogar ohne vorheriges ordentliches Gerichtsverfahren.54 Eine weitere Begebenheit ereignete sich im Jahr 1874 in der anatolischen Stadt Maraş (heute Kahramanmaraş). Ein Muslim namens Mustafa war aufgrund amerikanischer Mission zuerst heimlich zum Christentum übergetreten, bekannte sich aber später zusammen mit seinem 16- oder 17-jährigen Sohn öffentlich zu seinem Religionswechsel. Daraufhin waren beide von ihren Nachbarn misshandelt und anschließend von der Polizei verhaftet und ohne Anklageerhebung ins fünf Tagesreisen weiter südlich gelegene Aleppo gebracht worden. Der diesbezüglichen Beschwerde des britischen Botschafters wurde erwidert, die Verhaftung habe lediglich der Sicherheit der Konvertiten vor dem Zorn der Nachbarn gedient. Doch dies erkläre nicht, so

52 So Schirrmacher, Waffen, S. 61, die sich auf Meldungen in Missionszeitschriften beruft. Dort ist von 20 bis 75 Personen die Rede; zu dem Vorfall vgl. auch Instructions addressed to Her Majesty’s Embassy at Constantinople, S. 111–117; Finkel, Osman’s Dream, S. 461. 53 Auf diesen kleinen, aber bedeutenden Unterschied hat zu Recht Davison aufmerksam gemacht: Davison, Reform, S. 55 Anm. 12; vgl. auch Salt, Trouble, S. 298. 54 Instructions addressed to Her Majesty’s Embassy at Constantinople, S. 67 (Brief des britischen Außenministers an den britischen Botschafter Lord Stratford de Redcliffe vom 23. September 1856).

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der Botschafter, die Verschleppung nach Aleppo. Letztlich wurden die beiden Gefangenen auf britischen Druck hin mit der einzigen Auflage freigelassen, sich zur eigenen Sicherheit überall im Osmanischen Reich, nur nicht in Maraş, niederlassen zu dürfen.55 Weitere Ereignisse ähnlicher Art ließen sich leicht hinzufügen. Anstatt der zuvor praktizierten Hinrichtung war also jetzt häufiger die Verhaftung sowie eine spätere Verbannung innerhalb des Osmanischen Reiches die übliche Strafe für Apostasie. Nach islamischem Recht hatte eine Gefangennahme eigentlich das Ziel, den Abtrünnigen zur Rückkehr zum Islam zu bewegen. Nun aber sollten diese Maßnahmen, wie es scheint, hauptsächlich die Apostaten vor aufgebrachten Muslimen beschützen. In der Regel lautete daher die offizielle, an die ausländischen Proteste gerichtete Begründung der Hohen Pforte, die Verhaftung habe in erster Linie dem persönlichen Schutz des Apostaten gedient, weil sein Leben wegen fanatischer Muslime, die ihn hätten töten wollen, in Gefahr gewesen sei. 56 Das war vermutlich auch nicht vollkommen von der Hand zu weisen. Gleichzeitig mag es der Regierung gar nicht ungelegen gekommen sein, bei einem Religionswechsel mit Verhaftung und Verbannung zu drohen. Man wollte damit wohl erreichen, dass Muslime, die mit dem christlichen Glauben sympathisierten, am Ende doch vor der Apostasie zurückschreckten. Außerdem änderte die Hohe Pforte ihre offizielle Argumentationskette, warum Apostaten überhaupt zu bestrafen seien. Deutlich erkennbar bemühte man sich jetzt, einerseits den diesbezüglichen Protesten der europäischen Botschafter auszuweichen und den von außen erhobenen Vorwurf der unmenschlichen Behandlung von Apostaten zu entkräften. Zugleich versuchte die Hohe Pforte, gegenüber der eigenen muslimischen Bevölkerung glaubwürdig zu bleiben. Den christlichen Mächten gegenüber wurden die Verurteilungen deswegen mit dem Vorwurf der Blasphemie oder der Erregung öffentlichen Ärgernisses und der Stiftung von Unruhen begründet, nicht jedoch mit der Anklage der Apostasie. Zugleich ließ man keine Unklarheit darüber aufkommen, dass man das im Koran festgelegte Gesetz als göttlichen und nicht menschlichen Ursprungs ansah. Deshalb dürfe und könne es auch nicht von Menschen willkürlich verändert oder für ungültig erklärt werden. Eine Revision der Todesstrafe für den Abfall vom Islam stand also nie zur Debatte. Es ging höchstens um die Klärung der Umstände, um für alle Seiten eine „elegante Lösung“ aus dem Dilemma zu finden.

55 „The Times“ vom 2. März 1875, Ausgabe 28252, S. 4, Sp. G. 56 Finkel, Osman’s Dream, S. 461 nennt diese Vorgehensweise – aus osmanischer Sicht wohl zutreffend – „pragmatisch“.

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Der Krimkrieg

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Allerdings ist es zusätzlich notwendig zu erwähnen, dass sich durchaus auch die Patriarchen der traditionellen Millets, also der orthodoxen Griechen und der apostolischen Armenier, vehement gegen die neue Religionsfreiheit aussprachen. Der Islamwissenschaftler S. J. Shaw schreibt dazu: „Allerdings waren die millets außerordentlich feindselig gegen solche Mitglieder, die sie verließen, um zu einer anderen Religion überzutreten, weswegen denn auch die Regierung solche Übertritte so weit wie möglich einschränkte, um den sozialen Frieden, der das Hauptziel des millet-Systems war, zu bewahren.“57 Der Hintergrund einer derartigen Feindseligkeit, die bis zur kompromisslosen Verfolgung katholischer und evangelischer Griechen und Armenier reichte, ist natürlich darin zu sehen, dass jeder Austritt aus der eigenen Millet deren Ansehen beschädigte und die eigene Macht infrage stellte. 3. Fazit Für die Muslime im Osmanischen Reich standen mit den Reformen, die im Hātt-ı Hümāyūn und im Vertrag von Paris vereinbart worden waren, nicht weniger als die Grundfesten ihrer Überzeugungen und ihrer Gesellschaft zur Debatte. Damit deutet sich die schwierige Gratwanderung an, die die Hohe Pforte zu meistern hatte. Nämlich zwischen den als notwendig anerkannten Maßnahmen einerseits und den inneren Widerständen der muslimisch geprägten Bevölkerung andererseits zu vermitteln. Noch mehr als alles andere, auch mehr als die Gleichstellung vor dem Gesetz oder als der verpflichtende Militärdienst für alle jungen Männer, bewegte die Frage der freien Religionswahl die muslimischen Gemüter. Es Muslimen freizustellen, zu einer anderen Religion zu wechseln, war völlig unannehmbar und Ideen dieser Art haben immer wieder zu größtem Unmut und Aufruhr unter der muslimischen Bevölkerung geführt.58 Eine zusätzliche, deutlich erkennbare Folge dieser Entwicklung war, dass sich in den Jahrzehnten nach dem Krimkrieg auch die öffentliche Meinung im Osmanischen Reich verändert hat. Die konservativen Muslime sahen sich in ihrer anti-christlichen bzw. anti-europäischen Haltung bestärkt. Sie warfen den ausländischen Mächten zunehmend Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihres souveränen Staates vor und unterstellten ihren nicht-muslimischen Minderheiten, sich von ausländischen Mächten kaufen und instrumentalisieren zu lassen.59 Noch viele Jahrzehnte später sollte sich das bei den Verhandlungen um den Vertrag von Lausanne auswirken. Damals, im Jahr 1922, behauptete İsmet Pascha, in der Republik Türkei als İsmet İnönü der engste Vertraute Atatürks, die Lage der

57 S. J. Shaw, Osmanisches Reich, S. 92 (Kursivsetzungen bereits bei S. J. Shaw). 58 Davison, Turkish Attitudes, S. 860. 59 „The Times“ vom 15. Februar 1895, Ausgabe 34501, S. 15, Sp. B.

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christlichen Untertanen des Sultans habe sich erst verschlechtert, seitdem sich die europäischen Mächte in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches eingemischt hätten. Vorher habe die Hohe Pforte ihre Minderheiten sehr gut behandelt.60 Vor diesem Hintergrund ist es auch gut zu verstehen, dass der streng religiös erzogene Sultan ‘Abdülhamīd II. (1876-1909) das Ansehen des Kalifats zu neuen Ehren zu bringen beabsichtigte. Er bevorzugte außerdem Beamte arabischer Herkunft bis in die höchsten Ämter hinein, förderte die religiösen Orden, verbot Muslimen, die nicht seine Untertanen waren, im Gebiet von Mekka und Medina Grundstücke zu erwerben, und monopolisierte den Druck von Korantexten. Bei der zuletzt genannten Maßnahme lautete die offizielle Begründung, man wolle sicherstellen, dass die Korane nicht bei der Herstellung womöglich von christlichen Druckern in die Hand genommen würden.61 Darüber hinaus wandte sich Sultan ‘Abdülhamīd II. verstärkt gegen die zahlreichen katholischen wie evangelischen Missionsstationen in seinem Reich. Zudem schrieb er erstmals in der Geschichte des Osmanischen Reiches den sunnitischen Islam hanafitischer Rechtsschule für alle Muslime als verbindlich vor 62 und schickte seinerseits „Missionare“ dieses Islams zu denjenigen Religionsgruppen, die davon abwichen.63 Auf der Seite der nicht-muslimischen Gruppen im Osmanischen Reich wiederum ist erstaunlicherweise eine ganz ähnliche Entwicklung zu beobachten. Hier standen auf der einen Seite die westlich gebildeten, nach Europa hin ausgerichteten Kreise, die in der Regel aus Laien, die der städtischen Bevölkerung des Reiches entstammten, bestanden, und andererseits die kirchlich dominierenden Kreise um den Klerus, die bemüht waren, ihre bisherigen Privilegien zu behalten. Sie befürchteten nicht zu Unrecht aufgrund der Reformgesetzgebung Einschränkungen ihrer Machtbefugnisse. 64 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die im Osmanischen Reich beheimateten christlichen Gruppen das muslimische Interpretationssystem im Laufe der Jahrhunderte als ihr eigenes übernommen haben, ohne sich dessen bewusst zu sein. 65 Natürlich entspricht es traditioneller ostkirchlicher Rechtsauffassung, von einem „kanonischen Territorium“ zu sprechen, d. h. von einem Gebiet oder einer Nation, das bzw. die zu einer bestimmten Kirche gehört. Dringen andere Konfessionen wie etwa katholische oder evangelische Missionare in dieses Territorium ein, wird dies als verbotene Proselytenmacherei und als Angriff auf eben dieses kanonische Territorium verstanden. Andererseits lebten im Osmanischen Reich Armenier, West- und Ostsyrer,

60 „The Times“ vom 13. Dezember 1922, Ausgabe 43213, S. 13, Sp. G. 61 Kürşat, Verwestlichungsprozeß 2, S. 258f.; vgl. auch Finkel, Osman’s Dream, S. 521. 62 Früher war der sunnitische Islam zwar stets die staatstragende Religion gewesen, aber andere Formen des Islam wurden mehr oder weniger geduldet. 63 Kürşat, Verwestlichungsprozeß 2, S. 257. 64 Eichmann, Reformen, S. 67. 247; Davison, Turkish Attitudes, S. 853. 65 Diese Beobachtung stellt bereits F. Eichmann Mitte des 19. Jahrhunderts an: Eichmann, Reformen, S. 41.

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Der Krimkrieg

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Griechen, Bulgaren u. a. schon seit Jahrhunderten nicht in geschlossenen Siedlungsgebieten, so dass sie dort nie ein „kanonisches Territorium“ im orthodoxen Sinne hätten beanspruchen können. Auch die Millets waren ja von Anfang an polyethnisch gewesen. Insofern spiegelt das Verhalten der alten, im Osmanischen Reich beheimateten Kirchen deutlich wieder, wie sehr sie das Interpretationssystem, das mit dem Millet-System verbunden war, verinnerlicht hatten. Man kann deshalb in Bezug auf die Mehrheit der nicht-muslimischen Untertanen auch ohne deren Übertritt zum Islam von einer religiös bedingten und religiös geprägten Assimilation in das islamische Interpretationssystem sprechen. Die eben genannten Reformen waren demnach anlässlich des Krimkrieges von den christlichen Staaten eingefordert worden und von westlich ausgerichteten Politikern innerhalb des Osmanischen Reiches beschlossen worden. Ihr Ziel war es gewesen, die Situation der nicht-muslimischen Gruppen zu verbessern. Dieses Ansinnen ist vor allem daran gescheitert, dass es nicht gelungen war, dem weitaus größten Teil der Bevölkerung des Osmanischen Reiches den Sinn solcher Maßnahmen begreiflich zu machen. Interessanterweise gilt das sowohl für die Muslime als auch für die Christen. Der Krimkrieg war für diese Reformen der politische Auslöser gewesen. Vielleicht war aber damals – um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum – die Zeit noch nicht reif für ein derart tiefgreifendes Umdenken.

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Eingezwängt zwischen Zivilgesellschaft und Politik Der Völkermord an den Armeniern und die Türkei Raffi Kantian

I. Statt einer Einleitung Der Völkermord an den Armeniern spielt bis in die heutige Zeit eine bedeutende Rolle in der türkischen Innen- und Außenpolitik, was man gerade im 100. Gedenkjahr sehr genau beobachten kann. Und das nicht von ungefähr. Der türkische Publizist Cengiz Aktar, einer der Organisatoren der Internetaktion „Ich bitte um Verzeihung“ vom Dezember 2008, stellte Ende Oktober 2014 fest: „Der Völkermord an den Armeniern ist die Mutter aller Genozide des Nahen Ostens.“1 Einige Fakten sind im Vorfeld zu diesem Zusammenhang erwähnens- und bemerkenswert: 1. Als Zeitzeugin bezeichnete die amerikanische Missionarin Corinna Shattuck die Lebendverbrennung von 3.000 Armeniern in der armenischen Kathedrale zu Urfa Ende 1895 als „Holocaust“. Das ist die erste Verwendung dieses Begriffs. 2. Die heute geläufige Formulierung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ („crimes against humanity“) wurde erstmalig von den alliierten Mächten Großbritannien, Frankreich und Russland am 24. Mai 1915 in einer gemeinsamen Erklärung aus Anlass der Armenierverfolgungen an die osmanische Regierung benutzt. Ein Auszug: „For about a month the Kurd and Turkish populations of Armenia has been massacring Armenians with the connivance and often assistance of Ottoman authorities (…) In view of these new crimes of Turkey against humanity and civilization, the Allied Governments announce publicly to the Sublime Porte that they will hold personally responsible for these crimes all members of the Ottoman Government, as well as those of their agents who are implicated in such massacres.“2

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3. Die strafrechtliche Verfolgung der für den Genozid verantwortlichen jungtürkischen Funktionäre von einem Militärgericht als Sondertribunal begann am 5. Februar 1919. Darin ging es um folgende Straftatbestände: Verletzung der Abkommen über Kriegsführung, Übergriffe gegen Armenier und andere Volksgruppen sowie Raub, Plünderung und Zerstörung von Eigentum. Diese sogenannten „Unionistenprozesse“ stellten erstmals in der Rechtsgeschichte den Versuch dar, Staats- und Kriegsverbrechen auf Regierungsebene zu ahnden. Sie waren die Vorläufer der Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Unterscheid, dass in Istanbul nationale osmanische Richter Recht gesprochen haben. 4. Robert Kempner, Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson bei den Nürnberger Prozessen, nahm Anfang Juni 1921 in Berlin am Tehlirian-Prozess teil. Dabei ging es um die Ermordung des Hauptorganisators des Völkermords, Talat Pascha, am 15. März 1921 in Berlin durch den jungen Armenier Soghomon Tehlirian. 5. Der Text der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (auch Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes; offiziell Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, CPPCG) der UNO, beschlossen Ende 1948, wurde maßgeblich von Raphael Lemkin formuliert, der den Begriff des Genozids 1944 unter dem Eindruck des Völkermordes an den Nama und Herero 1904–1908, der Vernichtung der Armenier 1915–1916 sowie der Vernichtung der Juden 1939–1945 geprägt hatte. Lemkin hatte den Tehlirian-Prozess anhand der Berichterstattung verfolgt. Im Folgenden wird es um die Rolle des türkischen Staates und der türkischen Zivilgesellschaft im Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern gehen.

II. Der Staat als Akteur Der türkische Staat ist der mit Abstand wichtigste und mächtigste Akteur im Bezug auf den Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern. Seine eigene Sicht der Dinge von 1915 kann der Staat umfassend und effektiv verbreiten. Das geschieht zum einen durch die Internetauftritte der Ministerien und sonstigen Einrichtungen. Exemplarisch sei die Webseite des türkischen Außenministeriums genannt3, wo in Form von Fragen und Antworten Positionen verbreitet werden, die mit dem Stand der internationalen Forschung nicht übereinstimmen.

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Der Völkermord an den Armeniern und die Türkei

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Zum anderen haben die türkische Staatsführung und in den letzten Jahren vor allem der damalige Ministerpräsident und heutige Präsident Erdoğan verschiedentlich ihre Sicht der Dinge zum Ausdruck gebracht. 1. Die ehemaligen Vorsitzenden der international renommierten International Association of Genocide Scholars (IAGS) schrieben am 03.11.2009 an Ministerpräsident Erdoğan und erinnerten daran, dass dieser wiederholt gesagt habe, die Türkei werde die Entscheidung der Historikerkommission ignorieren, wenn diese die Vorgänge von 1915 als Genozid qualifizieren würde. 4 2. Erdoğans Äußerungen anlässlich seines USA-Besuches von Anfang Dezember 2009 weisen in dieselbe Richtung. Nachdem Erdoğan festgestellt hatte, dass es klare und eindeutige Dokumente zur Deportation der Armenier gäbe, meinte dieser: „Meine Vorfahren haben keinen Völkermord begangen, sie tun so etwas nicht.“5 3. Beim Spiegel-Gespräch vom März 2010 stellte der (damalige) türkische Ministerpräsident Erdoğan fest: „Ich bin Muslim. Aber ich habe meine Religion nie mit anderen Religionen verglichen. Ich habe gesagt, dass ein Muslim einen Völkermord, so wie ihn die Vereinten Nationen definieren, nicht begehen kann. Der Islam ist eine Religion des Friedens. Die Muslime glauben: Wer einen unschuldigen Menschen tötet, der handelt so, als hätte er die gesamte Menschheit getötet (...) Von einem Völkermord an den Armeniern kann keine Rede sein.“6 4. Als der US-amerikanische Fernsehsender PBS Erdoğan am 27. April 2014 fragte, ob er „die Geschehnisse von 1915“ als Genozid umschreiben würde, antwortete er: „Wenn es einen Genozid gegeben hätte, würde es heute in diesem Land [Türkei] überhaupt Armenier geben?“ Nimmt man Erdoğans Verständnis der Dinge als Messlatte, so hat es in der Weltgeschichte noch nie ein Genozid gegeben. Denn nach dem Holocaust lebten noch Juden, nach dem Völkermord in Kambodscha noch Kambodschaner und in Ruanda soll es noch Tutsis geben. Dabei stellt sich die Frage, warum die Türkei so rigide bei ihrer Ablehnung der Völkermordvorwürfe ist? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, einige seien hier aufgeführt: 1. Diese Positionen vertritt die offizielle Türkei schon seit ihrer Gründung nahezu unverändert. Von daher gibt es eine sehr lange „Tradition der Leugnung“, die man nicht über Nacht fallen lassen kann.

4 „Brief des ehemaligen Vorsitzenden des International Association of Genocide Scholars an Ministerpräsident Erdoğan vom 3.11.2009, The Armenian Weekly,“ http://www.armenianweekly.com/2009/11/20/former-iags-presidents-consider-historicalcommission-an-attempt-to-deny-armenian-genocide/. 5 Im Charlie Roses Interview vom 8. Dezember 2009 im US-amerikanischen Fernsehsender PBS TV. 6 „Ministerpräsident Erdoğan im Spiegel-Gespräch vom März 2010,“ DER SPIEGEL, http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,druck-686135,00.html.

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2. Die Gründer der türkischen Republik, darunter jene, die am Befreiungskampf teilgenommen haben, wurden und werden vielfach glorifiziert. Nicht wenige von ihnen waren jedoch an der Vernichtung der Armenier beteiligt. Um nach dem Ersten Weltkrieg den Prozessen („Unionistenprozesse“) in Konstantinopel/Istanbul zu entkommen, waren sie nach Anatolien geflohen und hatten an der Seite Mustafa Kemals (des späteren Atatürk) am „türkischen Befreiungskampf“ teilgenommen. Nach Gründung der Republik haben etliche von ihnen hohe Ämter bekleidet. Würde man die Vernichtung der Armenier wissenschaftlich sauber untersuchen, müsste man diese „Helden des Befreiungskampfes“ neu bewerten. 3. Der Völkermord an den Armeniern wurde von massiven Enteignungen begleitet. Etliche der namhaften Persönlichkeiten der Republikzeit, darunter auch heute bedeutende Unternehmer/Unternehmen, haben dabei ihr „Gründungskapital“ erworben. Auch an dieser Stelle müsste eine sehr offene Diskussion stattfinden. 4. Ein von der türkischen Seite immer wieder vorgetragenes Argument lautet außerdem: Die Armenier würden an die Türkei Territorialforderungen stellen und somit den Bestand des türkischen Staates gefährden, das müsse man unterbinden. Die Türkei ist ein zentralistischer Staat. Das bietet für eine einheitliche Vermittlung von Lern- und Lehrinhalten ideale Voraussetzungen. So werden die Inhalte der Schulbücher in Ankara zentral festgelegt. Auf die Geschichtsbücher bezogen kann gesagt werden, dass die kulturelle Vielfalt des Landes in diesen nicht abgebildet wird, was übrigens auch für die Museen gilt. Des Weiteren werden problematische Phasen der türkischen/osmanischen Geschichte nicht angesprochen und nicht vermittelt. Vielmehr wird eher die sogenannte „offizielle Geschichte“ („resmi tarih“) an die jungen Menschen weitergegeben, was einer Glorifizierung und nicht einem (selbst)kritischen „Blick zurück“ gleichkommt. Das gilt auch für den Völkermord an den Armeniern. Über die YÖK (Yükseköğretim Kurulu) (Lenkungsausschuss für die Hochschulbildung), eine nach dem Militärputsch von September 1980 eingeführte Einrichtung, verfügt der Staat über eine wirksame Möglichkeit, Hochschullehrer auszuwählen und diese ggf. zu disziplinieren.7 Die wenigen privaten Universitäten mit einem liberalen Profil – diese sind vor allem im Großraum Istanbul angesiedelt – können schon zahlenmäßig mit der Vielzahl der staatlichen Universitäten nicht konkurrieren. Im Lande wurden auch unter dem Eindruck der armenischen Aktivitäten zur Anerkennung des Genozids und des europäischen Drucks Stimmen laut, die türkischen

7 Sehr lehrreich ist in diesem Kontext die Lektüre von Prof. Fatma Müge Göçeks, University of Michigan, „Profesör olmak için ne gerekir?“ („Was ist notwendig, um ein Professor zu sein“), erschienen in Zaman vom 27.02.2011; zu finden unter http://www.zaman.com.tr/yorum_yorumfatma-muge-gocek-profesor-olmak-icin-ne-gerekir_1099678.html.

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Thesen noch stärker als bislang ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. In dieser Hinsicht profilierte sich die staatliche und staatlich finanzierte Türkische Historische Gesellschaft/Gesellschaft für Türkische Geschichte“ (TTK).8 Diese Institution ist die Nachfolgerin der „Türk Ocakları“ 9, die sich 1930 auflösten/aufgelöst wurden. Deren Gründung ging damals eine Direktive des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk voraus. Prof. Halaçoğlu – er stand in den Jahren 1993 bis 2008 der TTK vor, heute ist er Abgeordneter der extrem nationalistischen Partei der nationalistischen Bewegung MHP – verfasste die Monographie „Ermeni Tehciri“ („Armenierdeportation“), die 2004 bei Babıali Kültür Yayıncılığı erschien und bis 2007 zwölf Auflagen hatte. Darin behauptete Halaçoğlu, dass die Deportierten größtenteils an ihre Wohnorte zurückgekehrt seien. Ein anderer Teil jedoch sei ins Ausland emigriert, „um dort bessere Lebensbedingungen vorzufinden“. Ferner behauptete er, dass 1918 die Zahl der Armenier in den Städten deutlich größer gewesen sei als 1914. Sein Fazit: Da es keine nennenswerten Verluste gegeben habe, könne auch von Genozid keine Rede sein. Diese These ist so unglaublich, dass der türkische Kolumnist Kürşat Bumin – er schreibt in der islamistisch orientierten Yeni Şafak – zum Galgenhumor griff (8.1.2005): „Da die armenische Bevölkerung Anatoliens durch die Deportation noch vitaler geworden ist, wird es nicht lange dauern, und die Deportation wird zur‚ wohltätigen Aktion’ erklärt.“ Derselbe Prof. Halaçoğlu ging später noch einen Schritt weiter. Es gebe kein Dokument, das den Genozid an den Armeniern belege. Dafür könne er mühelos beweisen, dass die Armenier 519.000 Türken umgebracht hätten (Anadolu Agency, 17.12.2004). Ebenfalls in 2004 brachte Halaçoğlu zusammen mit den Kollegen Hikmet Özdemir (er steht der Armenischen Abteilung der TTK vor), Kemal Çiçek,

8 Der Internetauftritt der Türkische Historische Gesellschaft/Gesellschaft für Türkische Geschichte ist zu finden unter http://www.ttk.gov.tr/. 9 Der Verein wurde offiziell am 25. März 1912 in Istanbul gegründet. Der erste Vorsitzende war Ahmet Ferit Tek und sein Stellvertreter Yusuf Akçura. 1913 wurde Hamdullah Suphi Tanrıöver neuer Vorsitzender. Bekannte Mitglieder waren Halide Edip Adıvar, Mehmet Emin Yurdakul, Ahmet Ağaoğlu, Ziya Gökalp, Adnan Adıvar und Mehmet Fuat Köprülü. Bald darauf wurden unter anderem in Izmir Zweigstellen eröffnet. So existierten im Jahr 1915 25 und im Jahr 1919 35 türkische Vereine. Bis 1919 propagierte der Verein den Turanismus und den Traum vom Großen Turan. Doch dann konzentrierte er sich als Vorstufe für ein Turan auf einen türkischen Staat in den Grenzen des Nationalpaktes Misak-ı Millî. So sollte erst eine Türkei in Anatolien entstehen und später eine Vereinigung mit den Turkvölkern Mittelasien stattfinden. Nach dem Waffenstillstand von Mudros und der Besetzung Istanbuls durch die Alliierten, organisierten die Vereine Aktionen wie die bekannten Sultanahmet-Treffen. Sie machten einen großen Teil des Widerstandes gegen die Besatzer aus. Als der Druck größer wurde, verließen viele Mitglieder Istanbul und schlossen sich der Widerstandsbewegung in Anatolien an. Der Verein gab Zeitschriften wie Türk Yurdu (dt: Türkische Heimat) und Yeni Mecmua (dt: Neue Zeitschrift) KHUDXV 4XHOOH:LNLSHGLDÄ7UN2FD÷Õ³KWWSGHZLNLSHGLDRUJZLNL7&%&UNB2FD& )&% 

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Ömer Turan und Ramazan Çalık die TTK-Publikation mit dem bezeichnenden Titel „Ermeniler: Sürgün ve Göç“ („Die Armenier: Deportation und Emigration“) heraus. In der von Prof. Halaçoğlu verfassten Einleitung ist zu lesen, dass die Verfasser über mehrere Jahre tausende von Dokumenten, auch deutsche, studiert hätten. Das Buch basiere auf dieser umfassenden wissenschaftlichen Forschung. Doch die Ergebnisse genügen mitnichten wissenschaftlichen Standards. Nach Taner Akçam sind die westlichen Dokumente, die die Autoren als Beleg für ihre Thesen heranziehen, bemerkenswert „verkürzt“ worden (Agos, 9.7.2005). Am Beispiel des Berichts des deutschen Konsuls in Trapezunt, Bergfeld, an den Reichskanzler Bethmann Hollweg vom 25.7.1915 belegt Akçam seine These. So wird die Passage10 im Originalbericht „Ausserdem begegneten wir drei Arbeitern, welche uns berichteten, am Morgen mit der Absuchung des Flusses und der Beerdigung gefundener Leichen beauftragt worden zu sein“11 in der türkischen Fassung wie folgt wiedergegeben: „Bundan başka bize malumat veren üç işçiye de rastladık“, zu Deutsch: „Außerdem begegneten wir drei Arbeitern, die uns Auskunft gaben“. Die Manipulation der Aussage ist bemerkenswert. Im selben Bericht befindet sich auch der folgende Satz: „Wir haben dabei eine Leiche gefunden, welche etwa 7 Tage im Wasser gelegen hatte, ein Beweis, dass eine planmässige Beseitigung etwaiger Leichen bisher nicht erfolgt war.“ Der von uns kursiv abgedruckte Teil lautet auf Türkisch aber so: „… bu muhtemel cesetlerin planlı olarak yok edilmediğinin bir delili“, zu Deutsch: „… das ist ein Beleg dafür, dass etwaige Leichen nicht planmässig beseitigt worden sind.“ Auch hier eine bemerkenswerte Bedeutungsverschiebung. Taner Akçam findet im Buch mehrere solche Beispiele und fragt rhetorisch, ob die Autoren nicht wüssten, dass Manipulationen an Dokumenten in Wissenschaftskreisen als „Verbrechen“ angesehen würden. Die vielfältige Einflussnahme des Staates sowie die Vorgaben der TTK führen zwangsläufig zu einem „niedrigen“ Profil bei Historikern. Der renommierte Historiker der mittleren Generation und ein erklärter Gegner der „offiziellen Geschichte“, Prof. Cemil Koçak – er lehrt an der privaten Sabancı Universität – beantwortete die Frage der angesehenen Journalistin Neşe Düzel „Warum lügen wir in historischen Dingen so sehr? Kennen [unsere] Historiker die Wahrheit nicht?“ wie folgt: „Es gibt [bei uns] drei Sorten von Historikern. Die einen finden sehr schnell heraus, dass sie dann rasch Karriere machen [können], wenn sie über die herrschenden ideologischen Paradigmata schreiben. Und die Mehrheit geht diesen Weg. Dann gibt es eine zweite Sorte Historiker. Diese kennen die Wahrheit, aber sie sprechen nie öffentlich darüber. Sie kennen die Nachteile, die dann zu erwarten sind, wenn sie das offizielle Paradigma missachten. Und wenn jemand die Wahrheit sagt, dann schmunzeln sie. In privaten Unterhaltungen sagen sie deutlich mehr als die anderen. Die dritte Sorte Historiker ist

10 Den vollständigen Bericht kann man unter der URL www.armenocide.net einsehen; redaktionelle Betreuung durch Wolfgang & Sigrid Gust. 11 Die Originalschreibweise der deutschen Dokumente wurde beibehalten.

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die kleinste Gruppe. Diese nennen die Dinge beim Namen und schreiben auch darüber. Aber wer hört ihnen schon zu und wer liest ihre Texte?“12 Die „Historikerkommission“ Seit Jahren plädiert der heutige türkische Präsident Erdoğan für eine „Historikerkommission“. Wenn auch aus dem oben Gesagten die Erwartungen an sie nicht sonderlich hoch sein können, lohnt es sich, sich damit zu befassen. Im Frühjahr 2001 wurde die Gründung des Armenian-Turkish Reconciliation Commission (TARC) bekanntgegeben. Diese kann man als eine inoffizielle „Historikerkommission“ ansehen. Dass ihrer Gründung Armenien und die Türkei Pate gestanden haben, stritten die offiziellen Vertreter der beiden Staaten ab. Allerdings war nicht zu übersehen, dass besonders die Zusammensetzung der türkischen Delegation eine deutliche Staatsnähe signalisierte. Sie bestand im Wesentlichen aus ehemaligen Diplomaten und Generälen – das bekannte Personal, das die offizielle Türkei immer dann einsetzt, wenn bei bestimmten Vorgängen eine gewisse staatliche Oberaufsicht erwünscht ist, ohne dass der Staat direkt in Erscheinung tritt. Die Gruppe tagte hinter verschlossenen Türen. Nach einiger Zeit vergab sie an das unabhängige International Center for Transitional Justice (ICTJ) den Auftrag, ein Gutachten zum Armenischen Völkermord anzufertigen. Dieses lag 2003 vor. 13 Im Ergebnis wurde darin festgestellt, dass die Vorgänge von 1915 gemäß der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der UNO als Völkermord bezeichnet werden könnten.14 Kurze Zeit danach zerbrach die TARC, weil die türkischen Mitglieder sich zurückzogen. Die nächste Etappe kam einige Jahre später. Am 10. Oktober 2009 haben Armenien und die Türkei in Zürich zwei Protokolle unterzeichnet 15: Ein Protokoll über die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei

12 Cemil Koçak, „Cemil Koçak: ‘Atatürk orduya güvenmiyordu’,“ Taraf – Düşünmek Taraf Olmaktır 11.11.2009 http://arsiv.taraf.com.tr/yazilar/nese-duzel/cemil-kocak-ataturk-orduyaguvenmiyordu/8432/. 13 Das Dokument ist einzusehen auf der Webseite der deutsch-armenischen Gesellschaft unter http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/wp-content/uploads/2009/11/4_rgenictj.pdf. 14 Dieses kam in dem oben genannten Rechtsgutachten u.a. zu dem Ergebnis, dass die osmanischen Massaker der Jahre 1915-1918 „include[d] all of the elements of the crime of genocide as defined in the [Genocide] Convention, and legal scholars as well as historians, politicians, journalists and other people would be justified in continuing to so describe them“. 15 Ersteres der zwei im Folgenden genannten Protokolle kann in dreisprachiger Ausführung (Armenisch, Türkisch, Englisch) auf der Webseite der deutsch-armenischen Gesellschaft eingesehen werden unter http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/wpcontent/uploads/2010/02/Armenia-Turkey-protocols-and-timetable_2-ArmTrEn-20091010unterzeichnet.pdf. Für eine inoffizielle deutsche Übersetzung s. Armenisch-Deutsche Korrespondenzen, Vierteljahresschrift der deutsch-armenischen Gesellschaft 145 (2009 / Heft 3): S. 5f.

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sowie ein Protokoll über die Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei. Im Letztgenannten steht u.a.: „Die Republik Armenien und die Republik Türkei (…) vereinbaren (…) einen Dialog über die historische Dimension zu implementieren mit dem Ziel, das beiderseitige Vertrauen zwischen den beiden Nationen wiederherzustellen, einschließlich einer unparteiischen wissenschaftlichen Prüfung der historischen Akten und Archive, um bestehende Probleme zu definieren und Empfehlungen zu formulieren.“ Doch was verstanden die Parteien unter der „historischen Dimension“? Die armenische Sicht Präsident Sargsyan besuchte noch vor der Unterzeichnung der Protokolle die wesentlichen armenischen Diasporazentren (Paris, New York, Los Angeles, Beirut), um die diesbezüglichen Befürchtungen zu beschwichtigen. Nach den Worten des armenischen Präsidenten sollte der noch zu bildende Unterausschuss zu der „historischen Dimension“ der beiderseitigen Beziehungen, kurz die „Historikerkommission“, nicht über die Frage entscheiden, ob es einen Genozid gegeben hat oder nicht, sondern sich um „das armenische Erbe in der Türkei, die Restaurierung und den Erhalt dieses Erbes und die Nachfahren der Opfer des Genozids betreffenden Fragen“ kümmern. Das jedenfalls sagte Armeniens Präsident am 3. Oktober 2009 in New York vor Vertretern der armenischen Diasporaorganisationen. 16 In Teilen der Diaspora, aber auch der armenischen politischen Opposition in der Republik Armenien war und ist man anderer Ansicht. Besonders in der Diaspora befürchtete man, Armenien werde bezüglich der Deutung der Vorgänge von 1915 Konzessionen machen müssen, wie auch beim Karabach-Konflikt. So wurde Präsident Sargsyan in Paris von den dort versammelten Armeniern als „Verräter“ bezeichnet. Türkische Erwartungen Welchen Zielen die „Historikerkommission“ aus türkischer Sicht tatsächlich dienen könnte, machte eine Fernsehdebatte vom 15.10.2009, wenige Tage nach der Unterzeichnung der Zürcher Protokolle, beim türkischen Fernsehsender Kanal D deutlich. Sechs ehemalige türkische Außenminister, darunter auch Mesut Yılmaz, diskutierten über die Protokolle. Einer von ihnen, Ilter Türkmen, der seinerzeit Mitglied der Turkish Armenian Reconciliation Commission (TARC) war, sagte: „Auch ich weiß, dass diese [Historikerkommission] zu nichts führen wird (...) Das dauert Jahre (...) Wenn wir zwischenzeitlich mit einer Genozid-Behauptung konfrontiert werden, werden wir ‚Warten wir mal ab, die Historiker arbeiten daran’ sagen. Der eigentliche Nutzen [der Historikerkommission] besteht darin, dass dies die Methode ist, mit der die Verabschiedung [einer Genozidresolution] durch den Amerikanischen Kongress unterbunden werden wird.“ Ebenfalls in dieser Sendung sagte Prof. Mümtaz Soysal, ein weiterer Ex-Außenminister in der Runde, zu den Archiven, die in diesem Kontext

16 „An Interview with Serge Sargsian“, Armenian Reporter, 3. Oktober 2009, S. 4.

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geöffnet werden sollen: „Niemand öffnet seine Archive zu 100 Prozent. Es gibt ganz bestimmt etwas, was man in der Rückhand hält ... Archive können z.B. für den Fall nützlich sein, um damit unsere eigenen Thesen zu belegen. Wenn es aber [in den Archiven] Dinge gibt, die wir anderen nicht zeigen wollen, so zeigen wir diese nicht.“ Diese Äußerungen wurden in der Runde zustimmend zur Kenntnis genommen. Im Übrigen bestand Konsens darüber, dass Armenien auf seine Genozid-Ansichten nicht verzichten würde. Schließlich sei das Teil der Unabhängigkeitserklärung. Gesetze könne man nachträglich novellieren, nicht jedoch eine Unabhängigkeitserklärung, so Hikmet Çetin, ein weiterer türkischer Ex-Außenminister in der Kanal D-Runde.17 Westliche Hoffnungen/Erwartungen Die von den armenisch-türkischen Protokollen vorgesehene „Historikerkommission“ wurde neben einigen westlichen Staaten auch von Deutschland begrüßt. Die guten Erfahrungen Deutschlands bei der Klärung seiner komplizierten wie problematischen Beziehungen zu den Nachbarländern Frankreich und Polen durch vergleichbare Formate mögen dabei auch eine Rolle gespielt haben. Nicht übersehen werden sollte bei aller Gleichheit der äußeren Form allerdings, dass die inhaltliche Ausgestaltung und vor allem die Ergebnisse sehr wesentlich von den in diese Gremien berufenen Historikern abhängen. Im Falle der Türkei ist davon auszugehen, dass der Staat die handverlesenen Vertreter der „offiziellen Geschichte“ in diese Gremien schicken wird und nicht die unabhängigen und kritischen. Bedenkt man darüber hinaus die Vorgaben des Ministerpräsidenten Erdoğan, so kann – zumindest was die türkische Seite anbetrifft – von ergebnisoffenen Verhandlungen keine Rede sein. Im bereits genannten Schreiben der ehemaligen Vorsitzenden der International Association of Genocide Scholars (IAGS) vom 3.11.2009 an Ministerpräsident Erdoğan steht u.a.: „Außerhalb Ihrer Regierung gibt es keine Zweifel an den Fakten des Genozids, folglich besteht unsere Sorge darin, dass Ihre Forderung bezüglich der Einsetzung der Historikerkommission letztlich ein politischer Kniff ist, um diese Fakten zu leugnen.“ Ob eine solche Kommission den Erwartungen des Westens (USA und EU) entspricht, darf bezweifelt werden. Sie wäre allenfalls eine Alibiveranstaltung, von der der Westen nicht profitieren könnte. Damit meine ich vor allem die von den USA und der EU erhoffte Entspannung zwischen der Türkei und Armenien, die schlussendlich auch zu einer Entspannung in der weiteren Region führen soll.

17 Die Sendung 32. Gün („Der 32. Tag“) auf Kanal D gibt es nicht mehr, folglich gilt der ursprüngliche Link http://webtv.kanald.com.tr/Detail.aspx?Id=4467 nicht mehr. Der Verfasser hat den Mitschnitt dieser Sendung.

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III. Die türkische Zivilgesellschaft Die türkische Zivilgesellschaft hat sich erst seit dem Annäherungsprozess der Türkei an die EU allmählich konstituiert. Zu ihr gehören einige unabhängige und kritische Wissenschaftler, Publizisten und Journalisten, ferner Menschenrechtsorganisationen (zu nennen wäre der Menschenrechtsverein IHD), unabhängige Medien wie z.B. die Internetagentur BIANET und einige mutige Verlage wie z.B. der Belge-Verlag. Des Weiteren können die beiden Istanbuler Privatuniversitäten Bilgi und Sabancı als Teil der Zivilgesellschaft angesehen werden, sowie die ebenfalls in Istanbul angesiedelte Boğaziçi (Bosporus) Universität, die in Teilen die liberale Tradition des amerikanischen Robert College, aus dem sie hervorgegangen ist, weiterpflegt. Hinzu kommen Wissenschaftler, Publizisten, Journalisten und Künstler. Die so umrissene Zivilgesellschaft hat u.a. durch Bücher zu einem offeneren Verständnis des Völkermordes beigetragen. Genannt werden sollte Taner Akçams „Die türkische Nationalidentität und die Armenische Frage“ (1992), die vom Belge-Verlag herausgegebenen Bücher des armenisch-amerikanischen Historikers Prof. Vahakn Dadrian, Werfels „Die 40 Tage des Musa Dagh“, sowie weitere Bücher zum Los der während des Völkermords zwangsislamisierten armenischen Frauen und zur Enteignung der Armenier im Zuge des Völkermordes von 1915 u.a. Einen produktiven Einfluss auf die öffentliche Diskussion der Kryptoarmenier hatte Fethiye Çetins autobiographisches Buch „Meine Großmutter“. Nicht vergessen werden sollte die von Hrant Dink mitbegründete armenischtürkische Wochenzeitung Agos, die mutig den Völkermord an den Armeniern thematisierte. Entscheidenden Anteil hatte die Zivilgesellschaft an der ersten „ArmenierKonferenz“ von 2005, die bezeichnenderweise an der Bilgi Universität stattfand. Eine noch offenere Tagung fand am 24. April 2010 in Ankara statt. Unabhängige Publizisten um Sait Çetinoğlu waren ihre Organisatoren. In den letzten Jahren tut sich außerdem die Hrant Dink Stiftung mit interessanten Tagungen hervor, so zu den Kryptoarmeniern sowie anderen aus offizieller Sicht „problematischen“ Themen. Ebenso auf das Konto der Zivilgesellschaft geht die als historisch zu bezeichnende Beisetzung des von einem türkischen Nationalisten im Januar 2007 erschossenen Hrant Dink mit der bis vor wenigen Jahren unvorstellbaren Losung „Wie sind alle Hrant, wir sind alle Armenier“. Für die türkische Öffentlichkeit war die Internetkampagne vom Ende Dezember 2008 „Ich bitte um Verzeihung“, mit der sich immerhin 30.000 identifizieren konnten, ein Novum. Auch wenn die Formulierung nicht zu Unrecht als „schwammig“ kritisiert wurde, ist die Erscheinung an sich bemerkenswert in einem Land, das sich seit einem Jahrhundert nicht öffentlich und offen mit dem Völkermord auseinandersetzen kann und möchte. Schließlich seien die Gedenkveranstaltungen zum 24. April erwähnt. Mit zwei Aktionen machten 2010 zum einen der Menschenrechtsverein IHD, zum anderen der

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Kreis um jene, die für die Internetkampagne „Ich bitte um Verzeihung“ verantwortlich gezeichnet hatten, auf sich aufmerksam. 18 Auch in den folgenden Jahren gab es ähnliche Gedenkveranstaltungen. So ermutigend diese Entwicklungen auch sind, muss aus mehreren Gründen vor Euphorie gewarnt werden. Die Zivilgesellschaft ist mehr oder minder auf Istanbul beschränkt, wenn auch zunehmend andere Städte von sich reden machen. Sie ist vergleichsweise klein und nur bedingt vernetzt. Hinzu kommt, dass die nationalistischen Gegenspieler der Zivilgesellschaft wesentlich zahlreicher und mächtiger sind. So haben Nationalisten den Slogan „Wie sind alle Hrant, wir sind alle Armenier“ vielfach variiert, auch in der Heimatstadt des vermeintlichen Mörders Ogün Samast, wo Zigtausende „Wir sind alle Ogün Samast“ skandierten. Die „Armeniertagung“ von 2005 an der Bilgi Universität 19 wurde von nationalistisch gesinnten Wissenschaftlern durch Gegentagungen an etlichen Universitäten verwässert. Ultranationalisten haben ihre deutlich antiarmenische Internetkampagne „Wir warten auf Verzeihung“ lanciert und 120.000 Befürworter gefunden. Am nachhaltigsten erwies sich aber: Die Zivilgesellschaft hat keinen Zugang zum Staats- und Machtapparat. Ihre Aktionen bleiben daher politisch folgenlos. Dennoch: Die türkische Zivilgesellschaft ist der einzige Motor der überfälligen Entspannung in den armenisch-türkischen Beziehungen.

IV. Der türkische Staat im Vorfeld von 2015 Zwei Dinge sind erwähnenswert: Da ist zum einen Erdoğans Beileidsbekundung, zum anderen die neuen türkischen Schulbücher zur Geschichte. Erdoğans Beileidsbekundung Am 23. April 2014 machte eine Erklärung des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan die Runde – bedingt schon durch die Vielzahl der Sprachen. Sie erschien neben Türkisch in acht weiteren Sprachen, darunter auf West- und Ostarmenisch. Trotz ihres unscheinbaren Titels „Die Botschaft unseres Ministerpräsidenten zu den Geschehnissen von 1915“ wurde sie vielfach verbreitet und kommentiert.

18 S. Armenisch-Deutsche Korrespondenzen 148 (2010 / Heft 2): S. 23-25. 19 Die Texte der Tagung sind, wenn auch mit großer Verspätung, 2011 von der Bilgi Universität in Buchform herausgegeben worden: Fahri Aral, Imparatorluğun Çöküş Döneminde Osmanlı Ermenileri – Bilimsel Sorumluluk ve Demokrasi Sorunları (Istanbul: Bilgi Üniversitesi Yayınları, 2011).

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Für Aufmerksamkeit sorgten darin Formulierungen wie diese (die Zitate stammen aus der inoffiziellen deutschen – sprachlich nicht fehlerfreien – Fassung des Amtes des türkischen Ministerpräsidenten, die ich aus Gründen der Authentizität unverändert bringe): „Es lässt sich nicht abstreiten, dass die letzten Jahre des Osmanischen Reiches (…) für (…) Armenier (…) eine schwierige Zeit voller Schmerz waren.“ „(…) ist es eine menschliche Pflicht, (…) das Gedenken der Armenier an die Erinnerung an das Leid, das die Armenier zu jener Zeit durchlebt haben, zu verstehen und es mit ihnen zu teilen.“ „Wünschen wir, dass die Armenier, die unter den Bedingungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts umkamen, in Frieden ruhen, und sprechen ihren Enkeln unser Beileid aus.“ Das ist neu, und so titelten viele Medien sinngemäß, die Türkei habe 99 Jahre nach 1915 den Armeniern ihr Beileid gesprochen. Eigentlich müsste es heißen, auch den Armeniern. Denn eigentlich steht bei Erdoğan (Hervorhebungen durch uns): „Es lässt sich nicht abstreiten, dass die letzten Jahre des Osmanischen Reiches, gleich welcher Religion oder ethnischer Herkunft sie angehörten, für Türken, Kurden, Araber, Armenier und Millionen weiterer osmanischer Bürger eine schwierige Zeit voller Schmerz waren.“ „Wie bei allen Bürgern des Osmanischen Reiches ist es eine menschliche Pflicht, auch das Gedenken der Armenier an die Erinnerung an das Leid, das die Armenier zu jener Zeit durchlebt haben, zu verstehen und es mit ihnen zu teilen.“ Und auf Zitat 3 folgt das: „Auch gedenken wir aller osmanischen Bürger gleich welcher ethnischen und religiösen Herkunft, die damals unter ähnlichen Bedingungen ihr Leben ließen, mit Respekt. Mögen sie alle in Frieden ruhen.“ Also haben damals alle Menschen des Osmanischen Reiches gelitten, also gedenken wir aller. Und der Text belehrt uns: Alles andere wäre „unfair und unaufrichtig“. Dieses Narrativ ist nicht neu. Außenminister Davutoğlu propagiert es seit einiger Zeit, er nennt das „gerechtes Gedächtnis“ („adil hafıza“). In seiner Rechnung sind dabei die osmanischen Soldaten, die an den diversen Fronten (Balkankriege, Erster Weltkrieg u.a.) gefallen sind, enthalten, ebenso die muslimischen Flüchtlinge der Balkankriege u.a. Der Vorteil: Da damals alle gelitten haben, muss keine Gruppe hervorgehoben werden, das wäre auch „ungerecht“. Doch stimmt das? Was haben diese Menschen durchgemacht? Erdoğan spricht von „Ereignissen mit unmenschlichen Folgen, wie Umsiedlungen, bei denen während des Ersten Weltkriegs Millionen von Menschen aller Religionen und Volksgruppen ihr Leben ließen.“

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Nach seiner Lesart sind Türken, Kurden, Armenier und die anderen umgesiedelt worden. Was er nicht sagt, ist, wer diese „Ereignisse“ angeordnet, sie durchgeführt hat und wer daher die Verantwortung für all das trägt. Gegen Ende wird es in dem Text noch nebulöser, Erdoğan spricht nun von den „Armeniern, die unter den Bedingungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts umkamen.“ Was für Bedingungen sollen das gewesen sein, die den Tod so vieler Menschen nach sich gezogen haben? Auch dazu erfahren wir nichts. Verkürzt heißt das: Täter vergeblich gesucht, alle sind Opfer. Implizit ist die Frage nach den Tätern offenbar nicht erwünscht. Denn dann könnte herauskommen, dass bestimmte Gruppen mehr Täter waren als Opfer, einige sogar nur Täter. Das Narrativ, dass alle Schlimmes durchgemacht haben, soll solchen Fragen und Debatten einen Riegel vorschieben. Auch die Frage, warum bestimmte Völker wie die Armenier in Anatolien nahezu vollständig ausgerottet worden sind, wird so umgangen. Zwar sollen „in der Türkei unterschiedliche Meinungen und Gedanken zu den Ereignissen von 1915 frei geäußert werden können“, aber innerhalb bestimmter Grenzen. Einige könnten „beschuldigend, verletzend, hetzerisch“ sein. Wer bestimmt, dass sie so sind? Und was passiert, wenn sie so sind? Türkische Liberale kommentieren Die türkischen Liberalen, die sich bei dieser Frage seit Jahren für eine Öffnung einsetzen, sind mit Erdoğans Schritt zwar einverstanden, finden aber, dass er hätte weiter gehen müssen. So schrieb der bekannte Kolumnist Cengiz Çandar am 24. April in Radikal: „Für uns alle ist die ‚Angelegenheit‘ vor allem eine ‚moralische‘ und ‚menschliche‘. Wenn wir anstatt, das, was 1915 passiert ist, anzuerkennen, dafür nach ‚Ausreden‘ suchen, so verrotten wir alle miteinander. Wenn wir sie anerkennen, werden wir ‚frei‘.“ Und Bülent Keneş vermutet: „Diese Botschaft hat nicht die Lösung des Problems und eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zum Ziel, damit die Wahrheit – selbst wenn sie uns nicht gefällt – zu Tage gefördert wird. Vielmehr zielt sie darauf ab, ein großes Problem zeitweilig loszuwerden und Zeit zu gewinnen.“ (Today’s Zaman, 24.4.2014) Die neuen türkischen Schulbücher zur Geschichte Zu Beginn des Schuljahres 2014/15 wurden die angekündigten neuen türkischen Geschichtsbücher mit einer gewissen Spannung erwartet. Und das aus mehreren Gründen. Die wenn auch heftig kritisierte „Beileidsbekundung“ des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan vom April 2014 hatte gewisse Hoffnungen genährt, sie könnte der zaghafte Beginn einer „Öffnung“ hin zu einem offeneren Umgang mit der blutigen armenisch-türkischen Geschichte der letzten 100 Jahre gewesen sein. 20 Schließlich 20 Fatma Müge Göçek, „Turkish Prime Minister Erdoğan’s Non-Apologies to the Armenians and Kurds,“ E-International Relations, http://www.e-ir.info/2014/07/07/turkish-prime-ministererdogans-non-apologies-to-the-armenians-and-kurds/.

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standen die Gedenkveranstaltungen für den Völkermord an den Armeniern unmittelbar bevor. Und vielleicht würde dieser offenere Umgang im Vorfeld des Jahres 2015 Eingang in die neuen Schulbücher finden, hofften manche. Das allein ist Grund genug, um sich die Bücher21 einmal etwas genauer anzuschauen. Das Ergebnis sei vorweggenommen: Es ist niederschmetternd. Eine Analyse Für die Zeit bis zum späten 19. Jahrhundert zeichnen die Autoren ein überaus positives Bild. Den Armeniern sei es im Osmanischen Reich sehr gut gegangen. Sie hätten allen Grund gehabt, zufrieden zu sein. Dazu drei Zitate aus den Unterrichtswerken. 22 Glaubt man den Autoren, so ließen diese Armenier (gemeint sind wohl alle Armenier) trotz ihres „Goldenen Zeitalters“ sich scheinbar grundlos von Russen und Engländern verführen, sie zettelten immer wieder Aufstände an, sie revoltierten, sie massakrierten die muslimisch/türkische Bevölkerung und betätigten sich als Separatisten. In seinem „Abwehrkampf“ musste der Staat die Aufstände eindämmen, „für Ordnung sorgen“. Dass z.B. bei den „Hamidischen Massakern“ der Jahre 1894–1896 unter Sultan Abdülhamid II. bis zu 300.000 Opfer zu beklagen waren, wird nicht erwähnt. Solche Zahlen sind allenfalls europäische Behauptungen. Keine Rede auch von den Massakern des Jahres 1909 im südtürkischen Adana mit 30.000 Opfern. Auch zu diesem Themenkomplex drei Zitate, ebenfalls aus dem Unterrichtswerk:23

21 „İlköğretim T.C. İnkılap Tarihi ve Atatürkçülük 8, Ders Kitabi“ (fortan A), „İlköğretim T.C. İnkılap Tarihi ve Atatürkçülük 8, Öğrenci Çalışma Kitabı“ (B), „Ortaöğretim T.C. İnkılap Tarihi ve Atatürkçülük 8“ (C), „Ortaöğretim Tarih 9“ (D), „Ortaöğretim Tarih 10“ (E), „Ortaöğretim Tarih 11“ (F). Sie alle können von der Webseite des türkischen Bildungsministeriums heruntergeladen werden: http://www.meb.gov.tr/2014-2015-egitim-ogretim-yilinda-okutulacakilk-ve-orta-ogretim-ders-kitaplari/duyuru/7013. 22 Zitat 1: „Nachdem die Türken [im ausgehenden 11. Jahrhundert, R.K.] in Anatolien eindrangen, sind die Armenier in den Genuss einer gerechten, humanen, toleranten Verwaltung gekommen (…) Die Armenier (…) haben jahrhundertelang innerhalb der Grenzen des osmanischen Staates in Frieden und Wohlstand gelebt. Der osmanische Staat hat sich nicht in ihre Sprache, ihre Religion, ihre Lebensart und ihre Kultur eingemischt.“ (A, S. 47); Zitat 2: „Es hat seit den Reformedikten des Sultans [Mitte des 19. Jahrhunderts, R.K.] 33 armenische Abgeordnete, 22 Minister, 29 Generäle, sieben Botschafter, einen Konsul, 41 hochrangige Beamte gegeben. (…) Daran kann man die Wertschätzung der Armenier durch die osmanische Verwaltung bemessen.“ (E, S. 66/67); Zitat 3: „Bei den Osmanen genossen die Armenier die höchste Stufe der religiösen Freiheit. Der Höhepunkt der [osmanisch-armenischen] Beziehungen war gegen Ende des 19. Jahrhunderts, das war die‚ Goldene Zeit der Armenier‘.“ (A, S. 178). 23 Zitat 1: „Die Armenier, die sich gegen den osmanischen Staat organisiert hatten, haben erstmalig beim Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/1878 revoltiert. Bei diesem Krieg haben Russland und armenische Komitees in Ostanatolien die Armenier angestachelt, um dort einen armenischen Staat zu gründen.“ (E, S. 188); Zitat 2: „Die armenischen Komitees haben erstmalig im Jahre 1890 in Erzurum und Adana revoltiert. 1893 haben sie in Merzifon das Feuer auf unsere

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Als Begründung für den Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915 und folgende muss wieder ihr „Verrat“ herhalten: „Während des Ersten Weltkrieges haben die Armenier an der Kaukasusfront gemeinsame Sache mit den Russen gemacht und gegen den osmanischen Staat revoltiert. Daraufhin wurden die Armenier in den Süden des Landes umgesiedelt.“ (A, S. 47) An anderer Stelle fällt den Autoren eine andere Begründung ein: „Mit dem Umsiedlungsgesetz wurden nur jene Armenier aus dem Kriegsgebiet entfernt und in die sicheren Regionen des Landes gebracht, die sich an den Aufständen beteiligt hatten. Diese Vorgehensweise hat auch das Leben der [übrigen] armenischen Bevölkerung gerettet, denn die armenischen Banden haben jene [ihrer Landsleute], die sich an den Terrorakten und Aufständen nicht beteiligt hatten, umgebracht. [Hervorhebungen durch R.K.]“ (E, S. 212) Mit anderen Worten: Die „Umsiedlung“ war demnach eine „Schutzmaßnahme“ und die Jungtürken waren nicht Täter, sondern die „Beschützer“ der Armenier oder zumindest eines großen Teiles davon. Dieses Argument ist neu und innovativ zugleich, deswegen die Hervorhebung. Ebenfalls dort (E, S. 212) erfahren wir, dass insgesamt 702.900 Armenier „umgesiedelt“ worden sind, nach der obigen Lesart „702.900 Terroristen und Aufständische“. Bei einer ebenfalls dort behaupteten armenischen Gesamtbevölkerungszahl von 1.300.000 entspricht das 54 Prozent der Bevölkerung. Also müssten über die Männer im wehrfähigen Alter hinaus auch Frauen, Kinder und möglicherweise auch Greise zu der Gruppe der „armenischen Terroristen und Aufständischen“ zugerechnet werden. In dieser Darstellung finden wir auch die Opferzahlen. So sollen 300.000 Armenier gestorben sein, darin seien auch jene enthalten, die „an den Kriegsfolgen und den Krankheiten gestorben“ seien (E, 213). Zu den auf türkischer Seite zu beklagenden Opfern erfahren wir ebenfalls dort: „Dabei haben nach offiziellen russischen Quellen allein in Erzurum, Erzincan, Trabzon, Bitlis und Van die Armenier an die 600.000 Türken massakriert, 500.000 wurden vertrieben.“ In jener Zeit hätten insgesamt 1.400.000 Türken ihr Leben gelassen. Der „Kronzeuge“ ist Boghos Nubar Pascha – Begründer der weltweit größten armenischen Wohltätigkeitsorganisation AGBU, der „die armenischen Aufstände unterstützte“. Letztlich wird also ein umgekehrtes Bild vermittelt: Die Türken waren die Opfer, nicht die Armenier.

Sicherheitskräfte eröffnet und 25 unserer Soldaten getötet. Ebenfalls in 1894 organisierten sie in Istanbul eine Demonstration. Sie griffen den Sitz der osmanischen Regierung an. Die heftigsten armenischen Zwischenfälle gab es in Sassun (1894). (…) Die Versuche des Osmanischen Staates, diese Aufstände einzudämmen, wurden in Europa als ‚Massaker an den Armeniern‘ bezeichnet.“ (E, S. 188/9); Zitat 3: „Die Armenier wollten keine Reformen haben, sie wollten sich vom osmanischen Staat loslösen. Die Minderheitenschulen im Lande waren Munitionsdepots der armenischen Banden. Die Terrorakte der aufständischen Armenier setzen sich fort. Sie haben sogar jene Armenier umgebracht, die sich nicht an den Revolten beteiligten. Die Armenier haben in 1909 in Adana und Dörtyol die Muslime angegriffen und sie massakriert (…).“ (E, S. 189).

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Und was die Umstände der „Umsiedlung“ anbetrifft, erfahren wir Bemerkenswertes; ein Auszug: „Damit die Bedürfnisse der umgesiedelten Armenier unterwegs gestillt werden, wurden eigens Beamte beauftragt (…) Damit auf dem Weg zum Zielort und am Zielort selbst niemand die Umsiedler tätlich angreift, wurden geeignete Maßnahmen ergriffen. Angreifer wurden umgehend festgesetzt und dem Kriegsgericht zugeführt (…) Man hat darauf geachtet, dass der Boden an den Zielorten fruchtbar ist und es an Wasser nicht mangelt. Um die Sicherheit von Leib und Leben zu gewährleisten, wurden dort Polizeistationen gegründet.“ (E, 212) Das alles als „zynisch“ zu bezeichnen ist eine Untertreibung, zumal beim Ort mit dem „fruchtbaren Boden“ die Syrische Wüste gemeint ist. Es wird nicht ausbleiben, dass für die Schülerinnen und Schüler das Wort „Armenier“ ein Synonym für „Feind“ und „Verräter“ werden wird. Und wie werden sich die armenischen Kinder in der Türkei fühlen, die ebenso wie ihre türkischen Altersgenossen diese Bücher lesen und Fragen wie „Was müssen Staat und Bürger gegen die Bedrohungen (die Armenische Frage wird als eine solche bezeichnet, R.K.) unternehmen?“ (B, S. 118) und „Aus welchen Gründen haben die armenischen Terrororganisationen landesweite Aufstände organisiert?“ (E, S. 189) schriftlich beantworten müssen? Werden so indoktrinierte junge Menschen zukünftig für die diversen, mehrheitlich vom Westen finanzierten zivilgesellschaftlichen Projekte zwischen der Türkei und Armenien überhaupt zu gewinnen sein? Man könnte diese Liste beliebig verlängern. Kein Wunder, dass die „türkischarmenischen Beziehungen“ als Bedrohung Nummer 1 für die Türkei bezeichnet werden (gefolgt von „Terrorismus“ und „Tätigkeit der (christlichen) Missionare“) (A, S. 178/9).

V. Statt eines Schlussworts Geschichtsklitterung solchen oder ähnlichen Ausmaßes – speziell bei der Armenischen Frage – hat es in der Türkei schon immer gegeben. Offenbar will auch die jetzige türkische Regierung nichts aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts lernen, sie hält sich – wie ihre Vorgängerinnen – an den nationalen Mythen und Dogmen fest. Und so soll diese Version der Geschichte nunmehr systematisch und landesweit und von Kindesbeinen an propagiert werden, damit auch künftige Generationen daran festhalten. Das ist ein Novum. Schulen eignen sich dafür sehr gut, besonders in der Türkei. Sie ist zentralistisch strukturiert und die Schulbücher werden landeseinheitlich von der Regierung in Ankara beschlossen und landesweit eingesetzt. Freilich muss man sich auch fragen, was von der Glaubwürdigkeit der „versöhnlichen“, auf Außenwirkung bedachten und aufwendig inszenierten „Beileidsbekundung“ übrigbleibt, wenn man sieht, dass dieselbe Staatsführung im Lande selbst genau das Gegenteil davon betreibt. Die aktuellen Schulbücher stehen exemplarisch für diese Politik.

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Am Vorabend des 100. Gedenkjahres muss realistisch festgestellt werden, dass es einen Paradigmenwechsel mit der offiziellen Türkei (so bald) nicht geben wird. Vielleicht wird es am 24. April 2015 eine an die „Beileidsbekundung“ angelehnte Erklärung geben. Aber die eigentlichen Hoffnungen ruhen auf der – wenn auch kleinen – Zivilgesellschaft. Es waren 100 von ihnen24, die sich kritisch zu den oben genannten Schulbüchern zu Wort gemeldet und zwei einfache Forderungen gestellt haben: Sie aus dem Verkehr ziehen und sich bei den Armeniern entschuldigen (Agos, 29.9.2014). Das ist gut und richtig, dennoch rechnet niemand damit, dass der allmächtige Staat in dieser Frage – wie auch bei den anderen Forderungen der Zivilgesellschaft – nachgeben wird.

24 Darunter der Historiker Taner Akçam (von ihm stammen einige Kolumnen zum Thema in Taraf – Düşünmek Taraf Olmaktır, 15.–18.9.2014), der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, Hasan Cemal, der Enkelsohn des jungtürkischen Führers Cemal Pascha, der deutsch-türkische Regisseur Fatih Akın, der an der MIT (USA) lehrende armenisch-türkische Wirtschaftswissenschaftler Prof. Daron Acemoglu, der Historiker Fikret Adanır (er lehrte lange Jahre an der Ruhr Universität Bochum) und andere. Siehe die Links http://arsiv.taraf.com.tr/yazilar/taner-akcam/yeni-turkiyenin-ders-kitaplari-i/30814/, http://arsiv.taraf.com.tr/yazilar/taner-akcam/yeni-turkiyenin-ders-kitaplari-ii/30821/, http://arsiv.taraf.com.tr/yazilar/taner-akcam/yeni-turkiyenin-ders-kitaplari-iii/30833/, http://arsiv.taraf.com.tr/yazilar/taner-akcam/kasitla-nefret-sucu-islenmektedir/30841/

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The issue of the Armenian Genocide recognition within the US-Turkish relations from 1950 to 2012 Areg Galstyan

Since the adoption of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide Armenian communities all around the world started active lobbying campaign to achieve the recognition of the massacres of 1915–1923 as a genocide by various countries and international organizations. The Armenian Diaspora of the USA became the most active in that struggle. In 1941 the American Committee for the Independence of Armenia got another name: The Armenian National Committee of America. The main objective of the new organization was recognition of the Armenian Genocide by the United States at an official level. To solve that task organization branches were opened in 42 states. The work was done by well-known politicians, businessmen, lawyers and human rights activists. As part of the struggle for the official recognition of the Armenian Genocide Diaspora achieved the support of K. Wherry, an influential congressman. Thanks to the efforts of senator Wherry the USA became the first country that sent documents with the facts on Genocide to the UN International Court of Justice in 1951. It was noted there that genocide is the result of the inhuman and barbaric acts committed in certain countries prior to and during World War II, when religious, racial and national minority groups were under threat of intentional destruction and extermination. The document also indicated that the phenomenon of genocide existed throughout the history of humanity: the persecution of Christians by the Romans, the Armenian massacres by the Turks, the massacre of millions of Jews and Poles, committed by the Nazis serve as examples of genocide. By 1958 the interests of the Armenian lobby were represented by more than 50 members of Congress. In spite of strong positions in Congress, the first formal discussion of the resolution on the Armenian Genocide was constantly delayed because of geopolitical reasons. During the Cold War Turkey was considered one of the most important strategic allies in the bilateral format and through NATO. On the basis of pragmatic considerations the White House and the leaders of both parties in Congress believed that an open discussion of the Armenian issue may cause negative reaction from Turkey. The situation changed in 1974, when Turkey sent troops to the territory of Cyprus. In response to this act of aggression, Congress declared arms embargo on Turkey. A series of further events led to a serious cooling of the US-Turkish relations. The Armenian lobby made use of this crisis to advance the resolution on Genocide in Congress. The hearings were held on the 8th of April in 1975. The initiator of the

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resolution №148 on the “Day of Remembrance of the Victims of Inhuman Crimes“ was T. O'Neil, the leader of the Democratic majority of the House of Representatives. The co-initiators were congressmen Robert Dole and George Brown. In view of the crisis between Turkey and the USA and due to consistent work of Armenian lobbyists, the acceptance of the resolution in the House of Representatives passed without much difficulty. The original text of the resolution included the following crucial points: 1. The Armenian Genocide was planned and carried out by the Ottoman Empire from 1915 to 1923 and resulted in a mass deportation of about two million Armenians. 1,500,000 men, women and children were killed, and 500,000 survivors were expelled from their homes. Thus, 2,500-years presence of Armenians in their historical homeland came to an end. 2. The administration of the US National Archives and Records has an extensive and detailed documentation on the Armenian Genocide, in particular in keeping a group of documents of the 59th US State Department, sections 867.00 and 867.40. These documents are fully accessible to public and any interested organizations. 3. Raphael Lemkin, who introduced the term “genocide“ in 1944, and who was one of the initiators of the International Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, considered the crime against the Armenians to be a defining example of genocide in the XX century. 4. In 1948 the UN War Crimes Commission referred to the Armenian Genocide as “exactly the action that can be characterized with the term 'crime against humanity', as a Nuremberg precedent.“ Furthermore, according to the adopted resolution, the day of 24th of April was officially proclaimed the day of remembrance of victims of the Armenian Genocide. Thus, the United States at that time became the only country in the world whose president officially addressed to the Armenian people on every 24th of April. The success of the resolution could also be explained with the strong political position of many Americans of Armenian descent. Thus, among the people particularly close to President Richard Nixon were K. Khachikian and R. Mardyan. K. Khachikyan was Nixon's chief speechwriter and George Mitchell's (Nixon's chief adviser) senior assistant. In turn, R. Mardyan became the closest person to Nixon occupying the post of chief adviser on domestic issues. In 1978 the US President George Carter used the term “genocide” for the first time in his official speech to describe the events of 1915–1923 in the Ottoman Empire. Carter noted that, while preparing for the meeting with the Armenian community, he spent a lot of time in Roosevelt’s room and carefully studied the documents related to the Armenian history. The President said that he was impressed by the force of will and talent possessed by the Armenian people and that as the US citizens Armenians made an enormous contribution to the development of the country. Carter said that not many people knew that in few years prior to 1916 a deliberate effort was taken to destroy the Armenian people. At the end of his speech he stated that the Armenian

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Genocide is one of the greatest tragedies that ever befell any group of people, and no trial similar to Nuremberg was conducted over the criminals. However, after only a few months after this statement, President Carter canceled the embargo on Turkey. That action caused a negative reaction on the part of the Greek and Armenian lobby. In this regard, the American analyst S. Cohen noted that the discussions of the Armenian Genocide in Congress and Carter's statement made Turkey conduct a softer and more transparent policy. In the period of 1979–1980 America objectively needed restoration of relations with Turkey. Firstly, the Islamic revolution in Iran led to loss of a key US ally in the region. Secondly, the military coup in Turkey resulted in coming to power of General K. Evren, who announced the country's readiness to integrate into the Western community. Thirdly, in response to the Soviet invasion to Afghanistan, President Carter adopted the doctrine, which involved the use of any means, including military force to protect the US interests in the Gulf region. As part of the “Carter Doctrine“, Turkey was assigned to be one of the main US strategic outposts in the Middle East. All the efforts of the Armenian and Greek lobbies in Congress to block the “Agreement on Cooperation in the field of defense and economy“ with Turkey turned into failure. This case clearly demonstrated that even the most influential lobby groups are powerless when it comes to the far-reaching geopolitical interests. Ronald Reagan's Republican team, which came to power in 1981 continued the policy of strengthening relations with Turkey. But despite the rapidly developing relations between these two countries, Reagan’s rule could be called the most productive for the Armenian diaspora in the context of lobbying for recognition of the Genocide. It is important to note that Reagan developed a special relationship with the Armenian Diaspora during his governorship in California. In the beginning of the presidential campaign Reagan appointed G. Deukmejian – the former Attorney General of California – his chief adviser. The two prominent politicians from California were bound by personal friendship, which also was beneficial for the interests of the Armenian lobby. In the very first year of his presidency, Reagan demonstrated support for the Armenian-American community in the international recognition of the Armenian Genocide. In his proclamation № 4838 on April 22nd in 1981 Reagan remarked that the United States are aware of the fact and understand that the criminal government that committed inhuman acts of genocide must acknowledge its past and repent for it. Reagan said that there was an eternal debt of all mankind towards those who had experienced these horrors. He urged the international community to remember that the lessons of the Holocaust, as well as of the Armenian Genocide, the ensuing genocide of the Cambodians and numerous persecutions against other nations, could never be forgotten. The Turkish side reacted very nervously to the statement of the American President, but no significant steps were taken, because Congress was ready to consider the increasing external allocations for foreign countries. Along with lobbying at the

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federal level, there was an active work conducted at the level of certain states. Yet in 1982 the states of California, Massachusetts, New Jersey, Rhode Island, Maine, Florida, Arizona, Tennessee and Utah adopted formal resolutions on “Recognition and condemnation of the Armenian Genocide of 1915–1923 in the Ottoman Empire.“ The success at the local level became possible thanks to the compact residence of the Armenian communities in the states listed above, as well as due to the institutional strengthening and increasing the financial capacity of the Armenian organizations. To some extent, the smooth adoption of resolutions on the Armenian Genocide at the state level was also a kind of compensation for the absence of a federal law. According to the US Constitution, legislation at the state level is advisory in nature and does not reflect the official US position on a particular issue. On the one hand, this allows the federal government to show the Armenian community that the issue of Genocide recognition will not be silenced but, on the other hand, this allows to avoid any conflicts with Turkey. Elections to Congress in 1984 became very successful for the Armenian lobby. More than 70 congressmen and 40 senators supporting ANCA activities won a landslide victory. This layout allowed Armenian organizations to rely on the adoption of the Genocide resolution in the House of Representatives and the Senate. On the 11th of April in 1985 the Republican majority leader – senator Robert Dole – introduced the Resolution №247 on the “Day of Memory of the Armenian Genocide in the Ottoman Empire“ to Congress. The hearing in the Committee on Foreign Affairs of the House of Representatives was successful and the Speaker T. O'Neill put the resolution on a general vote. Judging by the preliminary vote-shuffling in the Lower House, the resolution should not have encountered serious obstacles. However, this time Turkey recalled its ambassador and threatened that in case of adoption it would refuse to buy eleven US aircraft “Boeing“ for the benefit of aircraft of the European consortium “Airbus Industries“. Moreover, Turkey claimed that it would cease to prolong the Defense and Economic Cooperation Agreement. Yielding to blackmail from Turkey, the Speaker recalled the Armenian resolution, which caused a wide resonance not only in Armenian, but also in Greek Diaspora. After the withdrawal, the Armenian and Greek lobbies reduced military aid to Turkey by $ 500 million. Armenian-Greek tandem in Congress from 1985 to 1989 sought to reduce the appropriations for Turkey in the amount of $ 1 billion. President Reagan assured Turkish Prime Minister T. Ozal that the administration was committed to maintaining high level of appropriations for Turkey. The US President was referring to the majority in the Congress held by Democrats, who he could not influence on. Regardless of quite logical explanations given by the White House, the Turkish side did not conceal its irritation. Ankara stated again that it would prepare for the revision of the US-Turkish agreement on military and economic cooperation. America, which at that time was going through a period of difficult relations with Greece, was close to losing access to its military bases in Turkey. It was for that reason

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that the US Secretary of State D. Schulz arrived to the negotiations on the extension of the agreement in Ankara. But, while Schultz was in Turkey, the leader of the Armenian lobby in Congress, Senator Robert Dole, with the support of the majority ensured that the Senate Committee on Foreign Affairs imposed an embargo on the sale of American weapon to Turkey. The Senate also passed a resolution demanding the reduction of Turkish troops in Cyprus. Taking these facts into account, Turkey agreed to extend the contract for one year only instead of eight years. The next blow, which the Armenian lobby caused, occurred on the 22nd of April in 1987 when the Public Service Commission of the House of Representatives adopted another resolution recognizing the Armenian Genocide. That time, Turkey responded by cancelling the official visit of the President K. Evren to the United States. Turkey hoped that the end of Reagan's administration would mark the decline of the influence of the Armenian lobby. However, the Turkish side faced with even more serious problems. Thus, the main candidate of the Democratic Party during the presidential election in 1988 was ethnic Greek M. Dukakis. He represented a serious threat to Ankara for several reasons. Firstly, Dukakis, being an ethnic Greek, said that if elected president he would do everything possible to end the occupation of the northern part of Cyprus and to continue cutting appropriations for Turkey. Secondly, as a governor of Massachusetts, he maintained close contacts with the influential Armenian lobbying structures and promised that the US president will end the denial of the Armenian Genocide. In this regard, Turkey began serious work with a number of influential lobbying firms that were engaged in making black PR of Dukakis campaign. Thus, the lobbying firm “Nolton Strategies“ began to spread rumors through the mass media that the Democrat was suffering from mental illness. This fact significantly reduced the rating of Dukakis, allowing the Republican George. W. Bush to take the lead by 17 points during the preliminary interviews. At the same time the Turks also knew that for Bush, as well as for Dukakis, it was very important to win the support of the Armenian lobby. Since the beginning of the campaign George W. Bush invited the Governor of California George Deukmejian to join his campaign as a candidate for the post of the vice-president. When learnt about that, the Turkish president K. Evren visited Washington and met with Bush. During a two-hour conversation George W. Bush assured Evren, that if he won, the relations with Turkey would be one of the most important foreign policy priorities. At the same time, speaking about Deukmejian's invitation, Bush made clear that he would not tolerate any interference in the internal affairs of America. After the meeting the leaders of the “US-Turkish alliance“ made a statement that President K. Evren was disappointed while leaving Washington. The disappointment of the Turkish President could be explained by Bush's rigid reaction, as well as by several refusals from a number of Democrats to meet with him.

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For Ankara such an attitude meant the beginning of the revision of America's foreign policy priorities in the Middle East. Moreover, the Soviet Union's restructuring policy that marked the actual end of the Cold War automatically created such a geopolitical situation in which Turkey's importance as an outpost for the US against the USSR expansion decreased significantly. Such alignment meant that the Armenian lobby got an opportunity to bring the issue of Armenian Genocide recognition to its logical conclusion. They understood it well in Turkey. They offered America to play the role of a “bridge“ between the Turkic Republics of the USSR. However, all the efforts of President Özal in this direction were unsuccessful. And even the defeat of Dukakis and Deukmejian’s refusal to go to the polls with Bush did not calm the Turkish side. After the collapse of the Soviet Union and the formation of an independent Republic of Armenia the leading Diaspora organizations in the United States changed the vector of lobbying activities. American Armenians realized that the formation and development of young Armenian state is the top priority for Diaspora. Armenia, which was in a difficult geopolitical and economic situation, also needed the support of leading Armenian organizations worldwide. The American Armenians perceived the massacres in Sumgait, Baku and Maragha as a continuation of the Genocide. Thus, the war in Nagorno-Karabakh was perceived as a struggle for the survival of the entire Armenian nation. On this basis, the Armenian lobby was actively engaged in supporting and strengthening the positions of Armenia and Nagorno-Karabakh in the international arena. In this regard, the issue of recognizing the Armenian Genocide was driven to the background. The victory in the war and the establishment of a de facto independent NagornoKarabakh Republic allowed the Armenian lobby to return to the issue of Genocide. On January the 19th in 1995 in Los Angeles a congress of leaders of Armenian organizations of America was held. The US Vice President Albert Gore as well as a number of senior legislators were invited as guests of honor. During the meeting Senator Dole stressed the need to systematize the work of the Armenian lobby in Congress. Thus, in April 1995 members of Congress, representing Armenian interests were merged into an official “group on Armenian affairs“ of the US Congress (the so-called Armenian Caucus). Senator John Kerry from Massachusetts was elected an honored member of that group. In 1996 two committees were established: the Armenian Republican Party Council under the leadership of ex-congressman E. Porter and the Armenian-American Council of the Democratic Party under the leadership of F. Pallone. Another round of tension in US-Turkish relations was observed during the presidential elections in 1996. President Bill Clinton had a very low popularity ratings in the US-Armenian environment due to his statements concerning the Armenian issue. Firstly, Clinton refused to use the term “genocide“ in an official speech to the Armenian people while speaking about “mass killings of Armenians“ and “great tragedy.“ Secondly, Clinton was a supporter of deepening of the US-Turkish and AzerbaijaniUS relations, supporting the abolition of Section 907. Thirdly, Armenian Americans

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were outraged that Clinton did not use the word genocide in relation to the events in Rwanda in 1994, when rebel groups, consisting of people of Hutu massacred, according to different sources, from 800 thousand up to 1 million of Tutsi people. The leader of the ANCA M. Topalian said that “Armenians, who knew what genocide was, could not accept such a cynical attitude of the US government on other crimes against humanity.“ In view of such obvious unfriendly steps taken by Clinton's Democratic administration in respect of the Diaspora, the leaders of major Armenian organizations unanimously expressed their support for the Republican candidate, who was their longtime supporter Robert Dole. It was him, who sponsored the first resolution on the Armenian Genocide recognition, who was the initiator of the adoption of Section 907 and the inclusion of Armenia in the list of priority countries for receiving grant support from the USA. Armenia and the Armenian Diaspora around the world considered Dole to be the most intimate and sincere politician since the days of Woodrow Wilson. Dole himself was proud of his cooperation with the Armenian community, noting their commitment to a just solution of the Armenian issue and the deepening of the USArmenian political dialogue. So, during his speech in front of the Armenian community in Los Angeles on April the 24th in 1996, Dole announced that his position on the recognition of the Armenian Genocide remained unchanged. Senator Dole stressed that, unlike Clinton, he was not afraid to speak plainly. He also said that no circumstances could make him betray the trust of American Armenians. The news of Dole's nomination for the US president post and his subsequent visit to Armenia was actively discussed in Turkey. The level of hostility to R. Dole in Turkey went so far that the mayor of Izmir B. Ozfatura forbade to sell the fruit of the brand “Dole Food Co.“ in his city due to the fact that the name of the company coincided with a the US senator's name. At the end of May in 1996 the President S. Demirel visited Washington, where he met with leaders of the US-Turkish alliance to discuss a strategy for further action. As in the case with the campaign of Dukakis, Ankara tried to work through lobbying firms, which created black PR. But this time the Turkish organizations were not able to achieve any considerable success. Failure in this area occurred due to several reasons. Firstly, even by 1996 R. Dole was considered to be the most influential political lobbyist in the United States. According to the Center for Responsive Politics, Dole had contracts with 23 lobbying campaigns, including the Top 10 companies, which decided not to take the risk of long-term partnership with an influential senator and presidential candidate for the sake of shortterm contract with the pro-Turkish groups. Secondly, Turkish side did not manage to find a gap in the camp of the Republican Party. If in the case of Dukakis, Turkish President K. Evren was able to meet with Bush Sr. and clarify his position on the Armenian issues, Dole refused meetings with both – Demirel and the leaders of the pro-Turkish organizations. In such a situation, the Turkish companies concentrated on collecting donations for Clinton's campaign. But, despite the fact that the US-Turkish alliance collected $ 1.5 million for Clinton, he also refused to meet with Demirel. Officially, Clinton explained his refusal with

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busy schedule. However, the American world of experts' also has other theories on that account. Thus, the professor at the University of Florida D. Gelak wrote that the failure could be lobbied by the president' wife – Hillary Clinton, who consistently supported the aspirations of the Armenian community. And, despite the support of the proTurkish groups, W. Clinton was aware of the extent of the Armenian diaspora's influence in the key states for Democrats: California, Massachusetts and New Jersey. In this regard, it is important to note that the Armenian organizations acted as internal lobbyists, while Turkish foreign organizations were registered as foreign lobbyists. Based on this, one way or another any presidential candidate would prefer cooperation with domestic pressure groups to foreign agents. According to the results of elections, Clinton won the elections, having collected 49.2% of the vote. Clinton's re-election was greeted with enthusiasm in Turkey. Many Turkish media reported that Dole's victory in the elections could lead to the AmericanTurkish relations to a deadlock. Despite the fact that Dole failed, the US Armenians expressed their gratitude for the senator's position in relation to the concerns of Armenia and Diaspora. Moreover, the influential Republican remained the main and most influential Armenian lobbyist in Washington until the end of his political career. It is important to note that the Armenian lobby in the 90-s transferred the process of reviewing the issue of Genocide to the legal plane. So, in October the 24th in 1999 influential Armenian lobby in California, with the support of lawyer M. Geragos, prepared a bill that empowered staff to address issues of compensation for insurance bills sold by Armenians in the period from 1915 to 1923. The Governor of California – Mr. Davis – sent a letter to the State Assembly personally and referred to “the need for adopting this bill.“ On the 19th of May in 2000 Californian State Senate unanimously adopted the necessary legislation. On June the 21st in 2000 the lawyers M. Geragos, V. Yeghiayan, W. Shernoff and B. Katabek initiated “Martin Martunyan's“ case against “New York Life Insurance Company“, which was considered in California Central District Court. In fact, there was a certain amount of Turkish capital in the form of private investment in the company. Litigation lasted for 3 years, after which the company agreed to pay more than $ 20 million, including compensation for the plaintiffs' costs. Chairman and CEO of “The New York Life Insurance Company“ S. Sternberg said that the lawyers proved that the descendants of the victims of the tragic events of 1915 lost all their belongings, which had been illegally taken away. Sternberg also noted that the decision to pay compensation suggested that the company was primarily committed to the principles of humanity and human rights. As a result, the Armenian side under the mediation of John Garamendi – the congressman from California – got additional payments to Armenian American organizations in the amount of $ 3 million. “Martin Martunyan's“ case was the first major success of the Armenian lobby in terms of specific demands: from that time on

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Armenian Americans were able to receive a compensation of material benefits, taken from their ancestors during the period from 1915 to 1923. It is noticeable that since the early 2000 congressmen as well as presidential candidates used the issue of the Armenian Genocide not only to win the support of Armenian Americans, but also to attract the financial resources of various Armenian funds and organizations. Thus, George W. Bush used the Armenian issue extensively in 2000 during the primaries of the Republican Party, where his main opponent was senator John McCain. After the announcement of the results in South Carolina the candidates went to Michigan. The situation developed in such a way that a victory in Michigan could be decisive for both candidates. John McCain was regarded as the favorite in Michigan, where he enjoyed great fame among the population. George W. Bush's team decided to start the dialogue with quite a large and rather influential Armenian community of the state. Three days before the start of voting Bush sent a letter to the Chairman of the ANCA office in Lansing, in which he affected the major theme for the Armenian lobby: the recognition of the extermination of Armenians in the Ottoman Empire in 1915–1923 as an act of genocide. Also George W. Bush noted that Armenians were subjected to genocide. He promised that if elected president he would do everything possible for the recognition of the Genocide at the official level. J. Papazian – director of the Center for Armenian Studies, the University of Michigan – believed that Bush's letter determined the mood of the majority of Armenians in the state. In an interview to “The Armenian Weekly“ on September the 10th in 2000 Papazian wrote that Armenian voters mainly pay attention to the candidate's position on three issues: the recognition of the Genocide, the NKR recognition and aid to Armenia. For all three positions Bush was more preferable. McCain could hardly count on the sympathy of Armenians after his speech against adoption of the bill on Genocide by the Senate in 1990, which was proposed by R. Dole. Moreover, in November 2000, during the election campaign in California, McCain said he did not understand how the Genocide recognition would change the situation. As a result, John McCain lost in those states, where the influence of the Armenian lobby was the most significant: California, Massachusetts, New Jersey, Florida and Michigan. Having won the presidential election, Bush did not keep his campaign promise to recognize the Armenian Genocide. Overall, Bush's presidency was marked by a sharp strengthening of the US-Turkish relations. In early 2001 Republican George Radanovich and Democrat John Biden introduced resolution №596 on “Recognition of the Armenian Genocide of 1915–1923 in the Ottoman Empire“ to Congress. The hearings in the House of Representatives were to be held on April the 15th in 2001, but President Bush sent a letter to Speaker in which he asked not to pass the resolution №596 to the discussion. In his letter, the President pointed out that Turkey was an important US ally in the fight against terrorism and the adoption of Armenian resolutions could lead to undesirable consequences. The group on Armenian Affairs

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consisted of only 50 members of Congress, and the leaders of the majority in the Senate and House of Representatives had positive attitude in respect of the resolution on the Genocide. But as in the case of the replacement of financial assistance to Turkey for a loan, Speaker of the House followed the request of the White House administration. Major changes in US-Turkish relations took place during the US military campaign against Iraq in 2003. Ankara took the chance to demonstrate to Washington its own importance and usefulness. Turkey provided access for the US troops to its military bases and closed the Turkish-Iraqi oil pipeline Kirkuk – Yurmutalik. At the same time Turkey held a significant grouping of troops in the area of the Iraq-Turkey border. The administration of George W. Bush praised the support and loyalty of Turkish authorities. The importance of Turkey to the United States grew so much that Washington began to consider it as a “bridge“ between East and West. American strategists decided to use Turkey for solving the following geopolitical issues: 1. The geographic and ethnic proximity of Turkey to the countries of Central Asia could allow Turkey to promote America's interests actively there. 2. Turkey was perceived as an outpost, able to inhibit the spread of fundamental Islam in the Middle East. 3. America expected that in Turkey where Muslims had a majority democratic system could become an ideological counterweight to Iran's influence in the regional countries with predominantly Muslim populations. For these reasons, the White House tried to convince Congress of the need to maintain high volumes of external appropriations for Turkey and to block the initiatives of the Armenian lobby for the recognition of the Armenian Genocide. But the leaders of the Democratic Party, on which the Armenian lobby was based on, did not support the administration's approach towards Turkey. Democrats were confirmed that after the fall of the Soviet Union the United States needed to cut military aid, review relations with Turkey and draw attention to the issue of human rights. During the 2004 presidential election the Armenian organizations in the US announced their support for the candidate of the Democratic Party, the first chairman of the Armenian Affairs Group John Kerry. It was the second time after the election campaign of R. Dole that the Armenian lobby had an opportunity to gain support of the potential head of the White House. Throughout his career Kerry served as a member of various groups advocating Armenian interests in Congress. On April the 23rd in 2004 Kerry made a speech and stressed the need to struggle for the international recognition of the Armenian Genocide. During his campaign, Kerry visited the centers of Armenian organizations in 25 states. During the meeting with the leaders of the Armenian community of Boston, he highlighted that the only way to truly honor the memory of innocently killed Armenians is to study this black period in humanity's history and work to prevent the recurrence of genocides in the future. Paying tribute to the victims of Genocide, Kerry

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The Armenian Genocide within US-Turkish relations

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noted that the Armenian-American community reminded the world of the common responsibility for the prevention of recurrence of such a tragedy. Despite the fact that Kerry suffered a defeat in the presidential election the Armenian Diaspora continued to work towards the recognition of the Genocide. Following the elections to the Congress in 2007 the Group on Armenian Affairs consisted of 113 congressmen, among them was the leader of the Democratic majority S. Hoyer and Speaker N. Pelosi. In addition to that, one of the members was G. Reed – the leader of the Democratic majority of the Senate. The resolution №106 on the “Recognition of the Armenian Genocide of 1915–1923 in the Ottoman Empire“ was sent to the Committee on Foreign Affairs of the House of Representatives on October the 9th in 2007. President George W. Bush, Vice President Dick Cheney and Secretary of State Condoleezza Rice sent a letter to Hoyer – the majority leader – asking them not to pass the resolution for discussion. In his letter Bush noted that the administration deeply regrets the sufferings of the Armenian people, which began in 1915, but the resolution was not the right answer to the history of the massacres, and its adoption could cause enormous damage to the relations with Turkey – a key NATO ally in the global war against terror. Despite enormous pressure from the White House, the Committee on Foreign Affairs of the House of Representatives adopted the resolution №106 with a difference of six votes. The Executive Director of the Armenian National Committee of America A. Hamparian welcomed the decision of the House of Representatives. He noted that the adoption of the resolution sent a strong signal that Turkey did not have the right of veto in the US Congress, that they did not have a veto over the way how the United States solved the problem of human rights. In turn, the Chairman of the Armenian Assembly of America B. Arduni said that adoption of the resolution on the Genocide was a victory of truth over Ankara's threats. In response to the adoption of the resolution, Turkey recalled its ambassador from Washington. In the official statement of the Turkish Foreign Ministry it was stated that Ankara condemned the resolution, which accused the Turkish nation of a crime it had not committed. Thus, the Armenian lobby managed to achieve an important victory in the walls of the Capitol, which allowed them to continue further struggle for the adoption of the resolution by the Senate in the April hearing in the Committee on Foreign Affairs. During the 2008 presidential campaign, the Armenian organizations relied on Barack Obama – the candidate from the Democratic Party. As a senator from Illinois, Obama knew about the power of the Armenian lobby and, like his predecessors, he decided to use the Armenian issue. On May the 28th in 2008 Obama met with the leaders of the Armenian lobby groups in Los Angeles. During that meeting he said, that America was worthy of such a leader who was truly dedicated to the recognition of the Armenian Genocide and strongly condemned all genocides in general. Obama noted that he supported the adoption of Resolution №106 in the House of Representatives, and as president, he would make every effort so that the Senate also adopted it.

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Areg Galstyan

Despite the support he got from Armenians, after he became president, Obama, like Bush, did not keep his promise. The most important foreign policy priority for Obama was the withdrawal of the US troops from Iraq and Afghanistan, and the support for the development of democratic institutions in the Middle East. To meet these challenges, it was necessary for Obama to ensure the support of Turkey, through which all American logistics in Iraq was conducted. However, as a Democrat who had close contacts with the Armenian Diaspora, Obama could not ignore the issue of Genocide. Therefore, Obama just replaced the English word “the Genocide“ with the Armenian equivalent – “Mets Yeghern“ (Great Massacre). Thus, in his speech to Armenians made on 24th of April in 2010 President Obama said that the American people remembered Mets Yeghern – one of the worst atrocities of the twentieth century. Obama stressed that the USA honored the memory of 1.5 million Armenians who had been massacred in the sunset of the Ottoman Empire. The statement also noted that the United States were responsible for preserving the memory of the victims and preventing any repetitions of the dark pages of history. As all the previous leaders, Obama emphasized that Armenian-Americans contributed greatly to the building of a democratic, peaceful and prosperous future for the United States, and all Americans are proud of this heritage. The majority of congressmen supported the resolution and the leader of the Democratic majority, Eliot Engel, said that he was excited about the fact that Turkey, which had direct historical and spatial relation to the development of Christian culture, humiliated the representatives of the Christian minority. Engel also said that he supported the resolution, the purpose of which was to protect the unique stone constructions of Armenian, Greek and Assyrian cultures. The only congressman to oppose the adoption of the resolution, was a representative from Kentucky Ed Whitfield. During his twenty-minute speech Whitfield said that Turkey had been and continued to be a vital US partner in the fight against terrorism in Iraq and Afghanistan, and it was the only Muslim country in NATO. Whitfield also drew attention to the fact that Turkey was an important economic partner of the USA. He also noted that three years before without any pressure from outside Turkey became the organizer of the meeting of different religious leaders in Washington. On this basis, Whitfield tried to convince other legislators that Turkey was moving in the right direction, and there was no need to condemn that state. After two hours of hearings, the resolution was adopted without any obstacles. After a week, it was considered and adopted by the Senate. The resolution resulted in certain actions: on April the 12 in 2012 Turkey returned one of the oldest churches – the Holy Kirakos in Diyarbakir – to the disposal of the Armenian Apostolic Church. At the opening ceremony of the church, in addition to the leaders of the Armenian diaspora from the US, France, Lebanon and Argentina, there also were some members of Congress, who had initiated the adoption of resolution №306. Among them were E. Royce, B. Sherman, G. Berman, A. Schiff and E. Engel.

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The Armenian Genocide within US-Turkish relations

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In summary, it can be noted that the attitude of the US authorities to the issue of the Armenian Genocide lies in both humanitarian and political planes. The USA provided substantial assistance to the Armenian people in the period from 1915 to 1930. Moreover, the historical documents and letters of American diplomats of that period formed the basis of numerous pieces of legislation on the recognition of Armenian Genocide around the world. Now few people in America doubt on the fact that the tragedy of the Armenian people is a prime example of genocide. However, at the political level the recognition of the Armenian Genocide de jure faces serious obstacles. Firstly, the federal government at different time periods did not want to irritate Turkey, which played an important role in shaping the US foreign policy strategy in the Middle East. Secondly, the issue of genocide for the American authorities was a “political club“, which was often used to force Turkey to adhere to a particular foreign policy line. At the same time Armenian lobby, which could not be ignored by the White House, is still a major factor at the level of Congress. The adoption of many resolutions in the period from 1975 to 2012 against the will of the administration shows a high level of organization and consolidation of the Armenian lobby.

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Wie Armenier des Genozids im Libanon gedenken Lukas Reineck (Simo Student 2013/14)

Einleitung: Zitat Aram I Aram I ist amtierender Katholikos der Armenisch-Apostolischen Kirche von Zilizien, die jetzt ihren Hauptsitz im Libanon hat. Über Identität schreibt er Folgendes: „Eine Identität, die die innere Kraft hat, sich vorsichtig nach außen zu öffnen, in einem gegenseitigen Wachstum und einem mutigen Begegnen mit anderen, wird zur Quelle der Bereicherung. Eine introvertierte, den Anderen ausschließende Identität führt in ein selbst geschaffenes Gefängnis, während ein ganzheitliches Empfinden von Identität den menschlichen Horizont weitet. Ich bin ein echter Armenier, tief verwurzelt in meiner eigenen Identität. Treu zu den Werten und Anweisungen meiner Identität. Doch zur gleichen Zeit habe ich mich selbst geöffnet durch Ausbildung und meinen ökumenischen Dienst, um den eigenen Kontext zu weiten und von Werten, Traditionen und Erfahrungen der Anderen bereichert zu werden. Und tatsächlich, Gegenseitigkeit ist eine Quelle der Bereicherung. Doch Selbstzentriertheit führt in Entfremdung und Entfremdung verursacht Misstrauen.“1 Meine erste, bewusste Begegnung mit Armeniern hatte ich im Libanon. In Deutschland hatte ich nie Armenier getroffen, zumindest hatte sich mir niemand als Armenier vorgestellt. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nicht wusste, dass es eine realexistierende Republik Armenien gibt. Ich dachte, dies wäre ein ferner Traum der im Exil lebenden Armenier.

Wie aber kommen Armenier in den Libanon?

1 Katholikos von Kilikien Aram I., Issues & Perspectives (Beirut: Catholicosate of Cilicia AnteliasLebanon, 2013), S. 63.

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Luckas Reineck

Der Weg der Armenier in den Libanon Es ist das schreckliche Jahr 1915; der 24. April 1915. Die „Jungtürken“ (unter Talat Pascha) vertreiben armenische Intellektuelle aus Istanbul. Es finden Pogrome an der armenischen Bevölkerung statt. Die Osmanische Regierung hat Angst, das Reich könnte von innen heraus zerfallen, die Armenier mit Russland paktieren und Aufstände anzetteln. Es werden Deportationen und Todesmärsche in die syrische Wüste angeordnet. Auf den Todesmärschen sterben 1,5 Millionen Menschen. Armenische Männer werden willkürlich am Wegrand exekutiert. Armenische Frauen verfallen dem Wahnsinn. Sie stürzen sich und ihre Neugeborenen in den Euphrat. Mädchen und Jungen werden verschleppt. Die schönsten armenischen Mädchen werden vergewaltigt und zu einem Leben im türkischen Harem gezwungen. Armenische Kinder werden aus ihren Familien gerissen und als Leibeigene gehalten. Um zu überleben, konvertieren einige Armenier zum Islam. Die Überlebenden des Genozids flüchten in alle Welt. Der Westen, Europa, USA, Kanada sind Immigrationsziele der Verfolgten. Auch Russland und der Nahe Osten werden zur Heimat der Überlebenden. Der überwiegende Teil der libanesischen Armenier kommt aus Zilizien. Zilizien liegt in der heutigen Türkei. Es ist Teil des ehemaligen armenischen Königreiches gewesen. Die Armenisch-Apostolische Kirche besteht aus zwei Katholikoi. Das ehemalige Armenisch-Apostolische Katholikat Ziliziens wird nach der Vertreibung im Libanon in Beirut ansässig. Etschmiazin, eine Stadt im heutigen Armenien, ist Sitz des anderen Armenisch-Apostolischen Katholikats. 1943 wird der Libanon unabhängig. Die Armenier werden daraufhin als siebtgrößte Volksgemeinschaft des Libanon rechtlich anerkannt. Das Jahr 2000 ist ein besonderes Jahr. Die Massaker an der armenischen Bevölkerung werden von der libanesischen Regierung offiziell als Genozid bezeichnet.

Armenisches Leben im Libanon heute Es gibt viel zu entdecken in Beirut. Die Stadt hat wunderbare Facetten. Es braucht etwas Zeit, um Augen und Ohren für die Farben, die Gerüche und die Menschen zu sensibilisieren. Ein ehemaliger Studierender aus Europa soll einmal gesagt haben: „Ich konnte während meines Studienjahres Armenisch und Arabisch nicht auseinanderhalten. Beides hat sich für mich so ähnlich angehört.“ Das ist unglaublich! Die beiden Sprachen sind doch so grundlegend verschieden. Heute leben viele Armenier in Beirut. Im Osten Beiruts gibt es ein armenisches Viertel (Bourj Hammoud). Es ist ein lieblicher Ort. Kleine Boutiquen, Friseure, Obsthändler und Imbissbuden an jeder Ecke. Die Atmosphäre ist friedlich. Im Gegensatz zu West-

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Beirut ist es ruhig in Bourj Hammoud, fast schon leise. Natürlich leben nicht alle libanesischen Armenier in Bourj Hammoud. Einige Armenier leben in der BekaaEbene im östlichen Libanon. Ein Dorf ist hier besonders zu nennen, Anjar. Die ersten Armenier, die nach Anjar gekommen sind, sind ursprünglich aus der Gegend um den Musa Dagh gewesen, einen Berg, der in der heutigen Türkei liegt. Anjar liegt an der syrischen Grenze. Der Krieg im Nachbarland ist nicht weit entfernt. Die Kriegsfolgen sind in der Bekaa-Ebene zu sehen. Wieder einmal wurde Anjar ein Ort für Heimatlose. Kasab, eine nordöstliche Stadt Syriens, wurde im letzten Jahr überfallen. Die armenischen Einwohner flohen in den Libanon. Anjar war das Ziel. Die Bewohner Anjars gaben den syrischen Armeniern Zuflucht. Leerstehende Häuser wurden geputzt. Kleidung, Decken und Nahrung bereitgestellt. Meine armenischen Kommilitonen in Beirut waren schockiert. „Schon wieder ein Genozid? Wieder eine Flucht?“, hörte ich sie sagen. Eine angemessene Antwort fehlte mir oft. Ich wollte nichts relativieren. Es ist schwierig, Leid zu vergleichen. Leid sollte man individuell betrachten. Die Armenier haben sich im Libanon etabliert. Ein eigenes Viertel, eigene Kindergärten, eigene Schulen (je nach Konfession protestantisch oder armenischapostolisch). Die meisten jungen Armenier studieren. Sie sind fleißig und wollen etwas im Leben erreichen. Viele Armenier sind musisch und künstlerisch begabt. Es gilt die Möglichkeiten, die man hat, zu nutzen. Langfristig wollen die Wenigsten im Libanon bleiben. Die „goldene“ Zukunft wird im Westen gesehen. Doch gibt es armenische Ausbildungsstätten im Libanon. Beirut hat eine armenische Universität (Haygazian). Neben armenischer Literatur und Geschichte kann man weitere Studienfächer belegen. Psychologie, Biologie, Informatik stehen zur Auswahl. Die Universität ist interkonfessionell. Muslime und Christen studieren dort.

Die libanesisch-armenische Diasporagemeinde Drei Instanzen halten die armenische Diasporagemeinde zusammen. Es sind die Religion, das Alphabet und die Geschichte. 2 Die armenische Identität wird von diesen drei Säulen getragen. Dies gilt für alle Armenier weltweit, nicht nur im Libanon. Das Leben in der Diaspora wird auf Armenisch „Spürk“ genannt. Westarmenisch ist die wichtigste identitätsstiftende Instanz. Man wird im Libanon kaum einen Armenier finden, der des Armenischen nicht mächtig ist. Im Kindergarten wird das armenische Alphabet gelernt. In Familien wird Armenisch gesprochen und geschrieben – und „gechattet“ wird natürlich auch auf Armenisch.

2 Mari Karaciyan-Berndt, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität der armenischen Diaspora. Identität in der Diaspora (Saarbrücken: VDM Verlag, 2008), S. 45.

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Man hat mir im Libanon erzählt, dass es vielleicht zu 0,0000001% andersgläubige Armenier gibt. Die Faustregel gilt: „Wer Armenier ist, ist Christ!“ Kommt man mit Einwänden und sagt: „Ja, aber es gibt doch auch muslimische Armenier!“, dann wird man zurechtgewiesen, dass dies keine wirklichen Muslime seien. Die Armenier seien zur Konversion gezwungen worden. Das Christentum ist den Armeniern ein kostbarer Schatz. Im Libanon trägt die Kirche erheblich zur Identitätsstiftung bei. Obwohl die armenische Kultur vielfach in den Familien weitergegeben wird, ist die Kirche als armenische Bildungsstätte wichtig. Der Ökumenebeauftragte der Armenisch-Apostolischen Kirche, Bischof Nareg Alemezian, drückt es wie folgt aus: „Die Armenisch-Apostolische Kirche versteht Mission nach innen. Wir haben eine Verantwortung, die armenische Kultur an die nächste Generation weiterzugeben. Dies geschieht in der Kirche.“ Die letzte Instanz ist die armenische Geschichtsschreibung. Anders als im Judentum gibt es keinen religiös-armenischen Kanon, der dem Tanach oder der Mischna gleicht. Doch muss Geschichte transportiert werden. Daher gibt es auch ein armenisches Geschichtskonstrukt, was einer Mischung aus Ursprungsmythen und christlichen Legenden gleicht. Um die Geschichte der Armenier hat sich Moses von Choren im 5. Jahrhundert bemüht. Die Geschichte der Armenier wird unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt an nachfolgende Generationen weitergegeben. Die bekannteste Geschichte ist die Schlacht „Vartanantz“. Jedes libanesisch-armenische Kind kennt diese Geschichte. Es geht um die Unnachgiebigkeit der Armenier gegenüber den Persern, die die Armenier zum Zoroastrismus konvertieren wollen. Die Armenier weigern sich und es kommt zur Schlacht. Der armenische Anführer Vartan verliert diese und wird getötet. Die Armenier verlieren einen großen Feldherrn und viele ihrer Leute. Trotz der Verlusterfahrung ist es auch eine Widerstandserfahrung. 3 Der Widerstand und das Festhalten am eigenen Glauben sind prägend für die armenische Identität. Die drei Instanzen: Religion, Schrift, Geschichte sind für das armenische Volk eine Sicherung und Fortsetzung ihrer Identität. Es bleibt aber eine Spannung im Libanon wie in jedem anderen armenischen Exil. Es ist die Spannung zwischen Assimilation und Identitätsbewahrung.

Das Gedenken an den Völkermord im Libanon Es sind 100 Jahre seit dem Genozid vergangen und noch immer kommt es zu Verdrängung und Leugnung der Ereignisse. Die türkische Regierung erkennt den armenischen Genozid nicht an. Das armenische Trauma kann nicht öffentlich verarbeitet werden. Die Türkei stellt sich nicht ihrer Vergangenheit. Es ist eine Katastrophe oder,

3 Karacyian-Berndt, Kollektives Gedächtnis, S. 40.

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wie man auf Armenisch sagt, „Arget". Dieser Völkermord, diese Katastrophe ist in das kollektive Gedächtnis der Armenier eingebrannt. Was erben die nachfolgenden Generationen von ihren Vorfahren? Ein doppeltes Trauma? Das Trauma des Massakers und das Trauma der Leugnung? Oder ist es doch die Hoffnung, dass das eigene Leid anerkannt wird? Die libanesischen Armenier sind herausgefordert. Der Libanon ist ein unruhiges Land. Die Zukunft ist unsicher. Viele Armenier nennen den Libanon Heimat, doch nur halbherzig. Wo ist die Heimat? Ist es die Republik Armenien? Eines ist gewiss, die einstige Heimat, die heutige Osttürkei, ist verloren gegangen. Leider teilen Westarmenier und Ostarmenier nicht denselben Heimatbegriff. Ost- und Westarmenier haben unterschiedliches Leid erlebt. Einige Ostarmenier sind vom Genozid nicht direkt betroffen gewesen. Für viele Westarmenier, auch libanesische Armenier, ist die Republik Armenien nicht Heimat. Die verlorenen Orte im türkischen Ostanatolien, der Van-See und die wichtige armenische Kirche „Aghthamar“ sind Heimat. Es sind Orte der Erinnerung. Aram I fordert das Land zurück. Der rechtmäßige Besitzer ist die Armenisch-Apostolische Kirche. Die Sehnsucht nach dem verlorenen Land ist groß. Es gibt unter den Juden ein Sprichwort. „Wir sehen uns nächstes Jahr in Jerusalem“. Es ist die Sehnsucht nach Heimat. Es spiegelt die Vorstellung eines Zuhauses wieder. Bei den Armeniern gibt es ein ähnliches Sprichwort. „Hayastan yergir trakchdawayr“ – Armenien, Land des Paradieses.4 Die Sehnsucht nach Heimat ist groß. Vielleicht können die Armenier eines Tages wieder in ihr Land zurück. Leider sind die Orte der Massaker nicht zugänglich. Das jüdische Volk hat Zugang zu den Orten der Verbrechen. Auschwitz, Birkenau sind zugänglich. Das armenische Volk hat keinen Zugang zu den Orten des Verbrechens. Die Orte sind unbekannt oder die Türkei verbietet die Begehung. Das armenische Volk hat keine Möglichkeit an den Tatorten zu gedenken und zu trauern.5 Daher bietet die Kunst einen wichtigen Raum, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. In Filmen, Musik, Streetart und Literatur wird der Schmerz über den Verlust verarbeitet. Es gibt jedes Jahr neue Dokumentationen, Bücher oder Konzerte, die an den Genozid erinnern. Die American University of Beirut ist ein kultureller Veranstaltungsort, um des Genozids zu gedenken. Es gibt Vorlesungen zu den Ereignissen von 1915 – auch mit türkischen Autoren. Im letzten Jahr wurde armenische Folklore gespielt. Komidas zum Beispiel. Die Musikanten waren Mitglieder des armenischen Clubs der American University. Die Lieder von Komidas wurden neu interpretiert und mit anderen Musikgenres gemischt. Das war atemberaubend. Meine deutschen Kommilitonen und ich waren dabei. Wir waren alle begeistert.

4 Ibid., S. 72. 5 Ibid., S. 73.

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Der Höhepunkt der Gedenkfeiern ist jedes Jahr ein langer Marsch durch Beirut. Es ist ein symbolischer Marsch. Die Armenier gedenken ihrer verstorbenen Angehörigen, die auf den Märschen in die mesopotamische Wüste 1915 ums Leben kamen. 2013 ging der Marsch bis zur türkischen Botschaft in Beirut. Dort wurde für Anerkennung des Genozids demonstriert. Im Letzten Jahr ging der Marsch von Bourj Hammoud nach Beirut Downtown. Die Hauptversammlung fand auf dem Märtyrerplatz in Beirut statt.

Interview mit drei libanesischen Armeniern Ich hatte die Gelegenheit drei libanesische Armenier zu interviewen. 6 Die Namen werde ich nicht nennen. Die Antworten lasse ich unkommentiert für sich stehen. Meine Interviewpartner waren: Eine Hochschuldozentin, eine armenische Studentin der American University und ein armenischer Händler aus Anjar.

Wie erlebt ihr die Konsequenzen des armenischen Völkermordes in eurem alltäglichen Leben? Studentin: „Ich bin aus der vierten Generation der Überlebenden. Deshalb hat der Genozid nur eine indirekte Wirkung auf mich. Für meine Großeltern und deren Eltern war der Genozid direkt erfahrbar. Sie kamen ohne Essen und Unterkunft im Libanon an. Es war schwierig, sich in einem fremden Land niederzulassen, zu arbeiten und zu überleben. Nichtsdestotrotz beeinflusst der Genozid mein Leben. Ich bin in einem fremden Land geboren. Ich musste die Sprache dieses Landes lernen, in meinem Fall Arabisch. Ich musste mich dem libanesischen Ausbildungssystem anschließen und bis zu einem gewissen Grad der libanesischen Geschichte. In vielen weiteren Fällen, ob ich das möchte oder nicht, bin ich durch die libanesische Kultur und Tradition beeinflusst.“ Hochschuldozentin (HD): „Ich kann dazu sagen, dass ich in erster Konsequenz ein Fremder in einem Gastland bin. Obwohl ich die Staatsbürgerschaft dieses Gastlandes habe, fühle ich mich immer noch zuerst als Armenierin und dann erst als Libanesin.“

6 Die Interviews wurden in englischer Sprache geführt. Der deutsche Text ist eine kommunikative Übersetzung. Es ist keine wortgetreue Wiedergabe.

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Wie Armenier des Genozids im Libanon gedenken

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Wie hat die Tatsache des armenischen Völkermordes zur Formung eurer Identität beigetragen? HD: „Der Genozid hat sich verstärkend auf meine Identität ausgewirkt. Ich bin Armenierin. Der Genozid hat eine vereinende Wirkung. Alle Armenier weltweit werden dadurch vereint.“ Studentin: „Ich habe Schwierigkeiten meine Identität zu bestimmen. Wenn ich gefragt werde, woher ich komme, dann sage ich: aus dem Libanon. Jedoch fühle ich mich eher als Armenierin denn Libanesin. Ich würde sagen, dass ich eine starke Persönlichkeit bin. Da ich in einem Land fern von meiner Heimat aufgewachsen bin. Ich hatte damit zu kämpfen, meine Sprache und Kultur als einen untrennbaren Teil meiner selbst zu verstehen. Es gibt für mich so etwas wie ein psychologisches Heimatland unabhängig von der Republik Armenien.“ Glaubt ihr, dass ihr ein kollektives Gedächtnis mit den Armeniern in Ostarmenien habt in Bezug auf den Genozid? Händler: „Mit den Armeniern in Armenien ist es ein wenig anders. Diese waren bis 1991 Teil der Sowjetischen Union. Unter sowjetischer Herrschaft konnten die Armenier nicht wirklich des Genozids gedenken. Es gab zwar Lockerungen in den 1965er Jahren, aber ein freies Gedenken an den Genozid gab es erst ab 1991. Die Armenier in der Diaspora haben jedoch immer des Völkermords gedacht. Was jedoch den armenischen Genozid betrifft, haben Armenier weltweit die gleiche Haltung. Die Türkei hat den Genozid anzuerkennen. Es sollen Entschädigungen gezahlt werden, genauso wie Israel Entschädigungen von Deutschland bekommt.“ HD: „Ich glaube, dass wir trotz unterschiedlicher Leiderfahrungen während des ersten Weltkrieges tief in uns dieselben Gefühle haben. Der Vorteil der Ostarmenier war, dass sie ein Land ihr Eigen nennen konnten, während wir gezwungen wurden, in Länder auszuwandern, die nicht die unsrigen sind.“ Meine letzte Frage an euch: Nächstes Jahr ist das 100-jährige Gedenken an den Genozid. Wird es besondere Events und Aktivitäten geben, um des Genozids zu gedenken? HD: „Es wird natürlich auf allen Ebenen wie Kirchen, Politik, Schulen dazu beigetragen, dass die 100 Jahre armenischer Genozid in Würde bedacht werden.“ Händler: “Wie jedes Jahr wird es viele kulturelle Ereignisse geben. Filme, Bücher, Musik werden dazu beitragen, dass des Genozids gedacht wird. Es soll an die vielen armenischen Opfer, das besetzte Land und die verlorenen Kirchen erinnert werden.

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Natürlich wird es wieder spezielle Programme in Schulen geben, die zur historischen Aufklärung beitragen sollen.Es stand sogar in einer armenischen Zeitung, dass am 24. April 2015 die Kirchenglocken in Deutschland zum Gedenken an den armenischen Genozid läuten.“

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Der Armeniergenozid und Göttingen Martin Tamcke

1. Einleitung Bislang wurde die zeitgenössische Reaktion auf die Völkermorde während des Ersten Weltkrieges für den niedersächsischen Raum oder speziell Göttingen noch nicht erhoben. Fest steht dabei aber, dass in keinem der Staaten oder Provinzen im niedersächsischen Raum besondere Hilfswerke oder nachhaltig operierende Missionswerke bestanden, die sich der Arbeit an den Armeniern verschrieben hätten. Werke und Vereine hier widmeten sich in erster Linie den ostsyrischen Christen, was genauer die Angehörigen der Apostolischen Kirche des Ostens im Iran meint. 1 Der dabei führende Verein für lutherische Mission in Persien erwuchs aus der Hermannsburger Arbeit in der iranischen Urmia-Region.2 Daneben unterhielt etwa Pastor Otto Wendt aus Lerbeck an der Porta Westfalica einen eigenen Verein zur Unterstützung von notleidenden Gläubigen der Kirche des Ostens im iranischen Aserbaidschan. 3 Seine Tochter war mit einem Spross einer bekannten ostsyrischen Familie verheiratet und lebte mit diesem im Siedlungsgebiet der Syrer im Iran. Seine Frau starb dort auf der Reise. Die Fehlanzeige zu speziellen Organisationen mit Fokus auf den Armeniern im niedersächsischen Raum scheint keine vielversprechende Voraussetzung zu sein für Erhebungen im Blick auf Reaktionen zu den Armeniern und dem Völkermord, den

1 Dazu einleitend etwa Wilhelm Baum und Dietmer W. Winkler, Die Apostolische Kirche des Ostens (Klagenfurt: Kitab-Verlag, 2000). Zum christlichen Orient insgesamt: Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt (München: C.H.Beck-Verlag, 2008); Wolfgang Hage, Das orientalische Christentum (Stuttgart: Kohlhammer, 2007). 2 Dazu einleitend Martin Tamcke, „Die Hermannsburger Mission in Persien (mit einem Anhang: Pera Johannes, Kirchliche und bürgerliche Sitten der Nestorianer in Persien),“ in Zu Geschichte, Theologie, Liturgie und Gegenwartslage der syrischen Kirche – Ausgewählte Vorträge des deutschen Syrologen-Symposiums vom 2.–4. Oktober 1998 in Hermannsburg (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 9), Hg. Martin Tamcke/Andreas Heinz (Hamburg: LIT-Verlag, 2000), S. 231–273. 3 Vgl. Karl Pinggéra, „Die Liebesarbeit an den Nestorianern in Kurdistan: Evangelische Wahrnehmungen eines alten Zweiges des orientalischen Christentums zu Anfang des 20. Jahrhunderts,“ in Orientalische Christen und Europa (GOF SYRIACA 41), Hg. Martin Tamcke (Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2012), S. 59–70.

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sie erlitten. Aber dieser erste Eindruck täuscht. Besonders die meistgelesenen Kirchenzeitungen dieser Zeit bezeugen ein erhebliches Interesse im Blick auf die Armenier.

2. Das Hannoversche Hilfskomitee für die Notleidenden in Armenien So konstituierte sich schon früh das Hannoversche Hilfskomitee für die Notleidenden in Armenien. Dieses spielte dann auch in der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle gerade beim Fundraising für die beiden wichtigsten Institutionen, die seitens des deutschen Protestantismus unter den Armeniern infolge der Pogrome der 1890er Jahre aktiv wurden: der Deutschen Orientmission des Johannes Lepsius 4 und des Hilfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient. Während aber der Hilfsbund in erster Linie mit schriftlichen Beiträgen zu Wort kam, 5 fand sich Lepsius immer wieder auch persönlich im einstigen Königreich ein. Und er zog zahlreiche Interessierte an: So sprach er am 26. Oktober 1896 gar „im Konzerthaus in Hannover vor einer großen Zuhörerschar, in der hauptsächlich die kirchlichen Kreise der Stadt vertreten waren“.6 Die Wirkung seiner Rede war eine unmittelbare: „Herren aus allen Ständen und Kreisen“ seien anschließend zusammengetreten mit dem Ziel einer Sammlung für die notleidenden Armenier.7 Dem Hilfskomitee gehörten neben zahlreichen Laien auch 39 Pastoren an,8 was eine erstaunlich große Zahl darstellt. Den Vorsitz hatte Generalsuperintendent D. Schuster inne, Schriftführer war Pfarrer Beyer aus Hannover, als Schatzmeister fungierte der hannoversche Buchhändler Feesche. Der hannoversche Verein war einbezogen, als sich die beiden rivalisierenden Organisationen der deutschen Armenierhilfe darauf einigten, einen Dachverband zu gründen, und die oft selbstständigen Komitees tendenziell eher als Provinzial- oder Zweig-Komitees verstanden, die aber dennoch weiterhin oft eigen- und selbstständig agierten.9 Eine Persönlichkeit wie Friedrich Ludwig Feesche (1866–1931) dokumentiert, welche Kreise in Hannover sich hier auf der einen Seite engagierten: sein Vater Heinrich Feesche (1837–1890), geprägt durch die Hermannsburger Erweckungsbewegung, hatte der Buchhandlung vorrangig im Bereich der Theologie ein spezielles Profil gegeben, wobei ein eigener Verlag in die Buchhandlung integriert war.10 Der Vorsitzende des

4 Zu ihm zuletzt: Rolf Hosfeld, Hg, Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme (Göttingen: Wallstein, 2013). 5 So ein Beitrag von Ernst Lohmann, Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 364. 6 Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 392. 7 Ibid. 8 Ibid. 9 Axel Meißner, Martin Rades ‚Christliche Welt‘ und Armenien (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte Band 22) (Berlin: LIT-Verlag, 2010), S. 298. 10 HugoThielen, „Feesche, Heinrich,“ in Hannoversches biographisches Lexikon von den Anfängen bis in die Gegenwart, Hg. Dirk Böttcher (Hannover: Schlütersche, 2002), S. 115.

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Vereins, Carl Schuster (1833–1907), hingegen repräsentiert eine andere Seite. Er vereinigt in seiner Person Kirche und Theologie. Seine Werke waren vorrangig praktischtheologischen Inhalts, umfassten aber auch eines zum Kloster Loccum und eine Anleitung zum Studium der Theologie.11 Der Sohn des Generalsuperintendenten von Lüneburg-Celle war 1865 bereits Konventualstudiendirektor in Loccum geworden, wirkte ab 1880 an St. Jakobi in Göttingen als Pfarrer und Superintendent. Er wurde 1882 geistliches Mitglied im Konsistorium von Hannover, 1891 im Landeskonsistorium, 1884–1903 zugleich Generalsuperintendent von Calenberg und 1903– 1905 Generalsuperintendent von Hannover. Somit repräsentierte er auch die Kirchenleitung. Und das war in Deutschland hinsichtlich der Armenier-Hilfswerke eher eine Ausnahme. Kirchenleitungen hielten sich bei diesem Engagement zumeist eher zurück. Carl Schusters Engagement als Vorsitzender dürfte daher wesentlich dazu beigetragen haben, dass das Engagement für die bedrängten Armenier zunächst auf eine breite Basis besonders in der hannoverschen Pfarrerschaft bauen konnte. Es gab ein solches Komitee übrigens auch im Herzogtum Braunschweig, bei dem der Buchhändler Hellmuth Mollermann als Schriftführer wirkte.12 Die Aktivitäten des Vereins ließen sich auch in der Öffentlichkeit anhand der von ihm in das „Hannoversche Sonntagsblatt“ lancierten Artikel mitverfolgen. Die Berichterstattung zum Schicksal der Armenier, den hannoverschen Hilfsaktionen für sie und zu den Aktivitäten des Komitees erschließen ein Kapitel eines heute vollständig vergessenen karitativen Engagements der hannoverschen Kirche, das zu erschließen sich lohnen würde, hier aber nur des Vorlaufes zum Völkermordgeschehen wegen erwähnt werden soll. Die beachtliche Fülle der im Kontext dieser Arbeit im Schatten der Pogrome erscheinenden Artikel allein im Hannoverschen Sonntagsblatt belegt, dass hier mit einer breiten Teilnahme der Bevölkerung entweder gerechnet wurde oder aber diese Teilnahme geweckt werden sollte. Es wird zu den Konferenzen und Versammlungen berichtet,13 um Spenden geworben,14 politische Vorgänge wie die Reformvorschläge für das Osmanische Reich und die in ihm lebenden Armenier ebenso kommentiert wie die Steuerverweigerung der ausgepressten armenischen Bauern in der Osttürkei 15 und es wird 11 Carl Schuster, Das Kloster Loccum. Blicke auf die Geschichte, Alterthümer und Kunstschätze des Klosters (Hannover: Hahn-Verlag, 1876); Carl Schuster, Die Ausbildung der Theologen im Prediger-Seminar des Klosters Loccum mit Andeutungen über des Klosters Geschichte, Alterthümer und Kunstschätze (Hannover: 1876); Carl Schuster, Der gute Vortrag, eine Kunst und eine Tugend. Practisch-theologische Studie (Wiesbaden: 1881); Carl Schuster, Die Vorbereitung der Predigt: praktisch-theologische Studie (Wiesbaden: Greiner & Pfeiffer, 1889); Carl Schuster, Das Studium der Theologie in der Gegenwart. Anleitung für Anfänger (Stuttgart: Greiner & Pfeiffer, 1892). 12 Meißner, Rades „Christliche Welt“, S. 301, Anm. 63. 13 Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 37. 14 Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 136; Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 38–39; Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 159; Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 135. 15 Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 6; Hannoversches Sonntagsblatt 1894, S. 429; Hannoversches Sonntagsblatt 1894, S. 430; Hannoversches Sonntagsblatt 1898, 258f; Hannoversches Sonntagsblatt 1918, S. 102.

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zu den Hilfsaktionen berichtet.16 Es wurden Briefe wichtiger Armenier abgedruckt, über Reisen in Armenien berichtet17 und Schreckensnachrichten zu Übergriffen gegen die Armenier weitergegeben.18 Daneben wurde auch zur armenischen Kirchengeschichte informiert.19 Der Schriftführer, Pastor Beyer aus Hannover, klagte über die verzerrende Berichterstattung in Deutschland bereits in einem Artikel aus dem Jahr 1897, indem er darauf hinwies, dass die in der Presse oft zu findende Ansicht, die Armenier seien ein Volk von Rebellen, das kein Mitleid verdiene, sich bei den Untersuchungen der Diplomaten der Großmächte vor Ort im Blick auf die „Metzeleien“ sachlich als falsch erwiesen habe.20 Und natürlich suchten die kirchlichen Helfer in Hannover auch einen geistlichen Nutzen aus dem Geschehen zu ziehen. So wird armenischer Bekennermut zur Einladung an hannoversche Christen zum Sinneswandel. „Liebe Leser, was lernen wir aus dieser Geschichte? Sie diene uns zur ernsten Prüfung und eindringlichen Warnung!“, heißt es da. „Und Dein Leben stand noch nicht auf dem Spiel“, wird da gemahnt. Auch wird da in einer in der damaligen Zeit möglichen Form zu ökumenischem Lernen eingeladen: „Der Herr erwecke den Geist der ersten Zeugen auch unter uns und lasse uns lernen von unseren armenischen Brüdern!“21 Daneben kommt der immer noch erhaltene Glaube an die sogenannten „christlichen Mächte“ zur Sprache, einem Mythos, mit dem schon der junge Albert Schweitzer gründlich aufräumte. Diese sollten sich angesichts der Verfolgungen „ins Mittel“ legen.22 Auch der Rückgriff auf althergebrachte Feindbilder blieb da nicht aus: „Die Christenheit darf mit ihrer Fürbitte, daß Gott dem türkischen Wesen steuern wolle und mit ihrer Hilfe für die armenischen Witwen und Waisen nicht nachlassen.“23 Schon früh konzentrierten sich die Hannoveraner in diesem Kontext auf die Unterstützung von armenischen Waisenkindern. 24 1897 sicherte man Johannes Lepsius bereits den Unterhalt für 13 armenische Waisenkinder zu und stellte in Aussicht,

16 Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 84 (zu den 15 armenischen Waisen aus Cäsarea, die nach Brussa gebracht wurden); Hannoversches Sonntagsblatt 1896, Bild vom 29.6.1896 zum Eintreffen der 16 armenischen Waisenkinder aus Marasch in Smyrna. 17 Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 412 (Bericht zur Reise Zimmermann); Hannoversches Sonntagsblatt 1898, S. 217(Ein Besuch in einem armenischen Dorfe). 18 Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 458 (15.11.1897);Hannoversches Sonntagsblatt 1918, S. 102; Hannoversches Sonntagsblatt 1894, S. 430; Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 422 (Massaker). 19 Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 447f. („Wie die Armenier Christen wurden“), Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 467 („Wie die Armenier die Heilige Schrift in ihrer Sprache bekamen“). 20 Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 38. 21 Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 152f. 22 Hannoversches Sonntagsblatt 1893, S. 280. 23 Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 6. 24 Hannoversches Sonntagsblatt 1897, S. 159; Ibid., S. 135; Ibid., S. 381; Ibid., S. 382.

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dieses Hilfsangebot noch zu erweitern.25 Andererseits machte sich Superintendent Schaaf aus Potshausen stark dafür, dass aus dem Spendenfluss auch Gelder für die armenischen Waisen im Syrischen Waisenhaus zu Jerusalem abgeführt werden sollten.26 Die Hannoveraner erwarteten dabei konkrete Berichte zu den Waisenkindern, deren Versorgung sie übernahmen. Die sehr knappen Berichte wurden umgehend veröffentlicht. „Minos Hagobian aus Severek, 12 Jahre alt. Sein Vater starb früh, die Mutter verheiratete sich wieder. Kurz vor dem Massaker starb sie, und der Stiefvater, sowie Onkel und Sohn wurden getötet.“27 Solche Berichte erschienen besonders geeignet, willigen Spendern die Herzen zu öffnen. Christliche Nothilfe bekam einen unmittelbar existenziellen Sinn. „Was mögen diese armen 15 Kinder an Leib und Seele erduldet haben, ehe die christliche Liebe sie fand und aufnahm!“ 28 Allerdings wurde diese Perspektive auf ein erfülltes Handeln christlich motivierter Nächstenliebe sofort rückgebunden an einen moralischen Appell, den Pastor Beyer damit verband. „Möchten doch viele Eltern, welche des Anblicks ihrer Lieblinge sich erfreuen dürfen, möchten noch viele Christen, welche in dieser Jahreszeit dankbar des reichen Erntesegens sich freuen, den der freundliche Gott unserem Hannoverlande beschert hat, auch der armen Waisen in Armenien gedenken!“29 Der Artikel war von Beyer in Hannover im September 1897 verfasst worden, also kurz vor dem Erntedankfest. Dieser Zeitpunkt konnte dabei als ideal erscheinen, um Spenden einzuwerben, da das ehemalige Königreich Hannover immer noch weithin eine von der Landwirtschaft dominierte Region war. Doch das Engagement der Hannoveraner geriet mit dem Weltkrieg in eine Krise. Im Krieg kam die Berichterstattung zu den Armeniern so gut wie zum Erliegen. Paradigmatisch für die Perspektive auf die von der Ausrottung bedrohten Armenier während des Krieges ist etwa die folgende Notiz: „Groß ist wieder die Not der Armenier, nicht ohne ihre Schuld. Aber mit den revolutionären schuldigen Teile des Volkes leiden auch die Unschuldigen.“30 Nun also werden die Armenier nicht mehr gegen den Vorwurf der Rebellion oder Revolution in Schutz genommen, sondern ihre Vernichtung zum Ausdruck der kollektiven Haftung für das vermeintlich unrechtmäßige Handeln eines Teiles des Volkes erklärt. Diese nun doch vermutlich aus lutherischer Obrigkeitstheologie und nationaler Rücksicht sich erklärende Position bestimmte auch die weitere Berichterstattung. Neue antiarmenische Gräuel noch im letzten Kriegsjahr werden zwar registriert,31 aber dennoch hat die Abschwächung der eigenen Verantwortlichkeit in diesem Kontext wie besonders auch nach dem Krieg im Blick

25 26 27 28 29 30 31

Ibid., S. 135. Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 407; Ibid., S. 450. Hannovesches Sonntagsblatt 1897, S. 381. Ibid., S. 382. Ibid. Hannoversches Sonntagsblatt 1915, S. 369. Hannoversches Sonntagsblatt 1918, S. 102.

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auf mögliche Schuldzuweisungen Vorrang. Zugleich aber ist eine Kritik an der deutschen Regierung und ihrer wenig entschlossenen Haltung in Fragen des Völkermords gegenüber der türkischen Regierung deutlich greifbar. Die Anmerkung der Redaktion zu einem Bericht über den Bekennermut verfolgter Armenier zeugt unmissverständlich davon: „unsere Regierung hat freilich oft genug sich für die Armenier bei den Türken verwendet, aber sie hätte energisch bis zum Bruch mit der Türkei sein müssen.“32

3. Göttingen und Karl Friedrich Andreas Im Folgenden soll nun ein Blick auf die Situation in Göttingen und an der GeorgAugust-Universität geworfen werden. An der Universität bestand eine lange Tradition hinsichtlich der Erforschung der armenischen Sprache, des Landes Armenien und seiner Bewohner. Der Hofrat und seit 1772 als Philosophieprofessor in Göttingen lehrende Christoph Meiners (1747–1810),33 beständiger Beisitzer des Göttinger Universitätsgerichts und mit den Franzosen in der Besetzungszeit kooperierend, veröffentlichte Arbeiten zu Armenien und dem Berg Ararat. 34 Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827),35 Orientalist und Theologe, der in Göttingen studierte und seit 1788 als Professor lehrte, verfasste zahlreiche Paragraphen zur Literaturgeschichte des Armenischen und zur armenischen Geschichte. 36 Er hebt – den Bildern seiner Zeit von Armenien verpflichtet – auf die Armenier als

32 Hannoversches Sonntagsblatt 1919, S. 349. 33 Carl von Prantl, „Meiners, Christoph,“ in Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) Bd. 21 (Leipzig: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1885), S. 224–226. 34 Friedrich Salfeld, Geschichte der Universität Göttingen in dem Zeitraume 1788–1820. Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen vom Geheimen Justizrath Pütter fortgesetzt von Professor Salfeld, Dritter Theil 1788–1820 (Hannover: Verlag der Helwingschen Buchhandlung, 1820), § 56, S. 105–115, hier: S. 113. 35 Eberhard Sehmsdorf: Die Prophetenauslegung bei J. G. Eichorn (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht), 1971. 36 Johann Gottfried Eichhorn, Weltgeschichte erster Theil, welcher die alte Geschichte von ihrem Anfang bis auf die Völkerwanderung enthält, Geschichte der alten Welt, Zweyte verbesserte Ausgabe (Göttingen: Johann Friedrich Röwer, 1804), S. 371–375; Johann Gottfried Eichhorn, Geschichte der Litteratur von ihrem Anfang bis auf die neuesten Zeiten Bd. 1 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1805), S. 552–553; Johann Gottfried Eichhorn, Geschichte der neueren Sprachenkunde (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1807), § 50, S. 348–356; Johann Gottfried Eichhorn, Weltgeschichte Zweyter Theil, welcher die neuere Geschichte von der Völkerwanderung bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts enthält 4. Band (Göttingen: Johann Friedrich Röwer, 1814), V. Die Armenier, S. 148–150; Auch zu seinen kritischen Arbeiten zum Alten Testament zog er das Armenische und dessen Textüberlieferung mit heran, vgl. Johann Gottfried Eichhorn, Kritische Schriften. 1. Band (Einleitung in das Alte Testament), 3. Verbesserte Auflage (Leipzig: Weidmannsche Buchhandlung, 1803), S. 648.

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Händler ab und charakterisiert das Land als steten Kriegsschauplatz zwischen den Großmächten.37 „In dem unglücklichen Lande konnte keine Ordnung, kein Wohlstand gedeihen.“38 Der Professor der Medizin, Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840),39 seit 1775 in Göttingen bis zu seinem Tod 1840, der auch Inspektor der Naturaliensammlung der Universität war, registrierte einige Armenier und in seiner Sammlung fällt auch ein Schädel aus Armenien auf.40 Dabei hatten seine Beobachtungen und ethnischen Klassifizierungsversuche zu Armeniern, Kaukasiern und ihrer „Rassen“ eine unerfreuliche Wirkungsgeschichte.41 Die auf ihn sich gründende Rassenideologie zwang während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland auch zu einer Klärung der Rassenzugehörigkeit der Armenier. Friedrich Wilhelm Murhard (1778–1853) hatte seit 1795 in Göttingen u.a. bei August Ludwig Schlözer studiert, promovierte 1796 in Göttingen und lehrte hier als Privatdozent. 1798 reiste er ins Osmanische Reich und berichtete ausführlich zu seiner Reise und seinem Aufenthalt in Konstantinopel in seinem zweibändigen Werk „Gemälde von Konstantinopel“ im Jahr 1804.42 Seine Beobachtungen zu den Armeniern – er hielt Konstantinopel besonders geeignet für Studien zu ethnischen Eigenheiten – dürften aber weithin denen des armenischen Dragoman bei der schwedischen Botschaft, Ignace Mouradgea d’Ohsson entlehnt worden sein. 43 Doch eröffnen seine Ausführungen zu den Armeniern einen Zugang zur Situation der Armenier in Konstantinopel und im Osmanischen Reich, der sich aus der Sicht der Armenier selbst speist.

37 Eichhorn, Weltgeschichte, Zweyter Teil, S. 149–150. 38 Eichhorn, Weltgeschichte, Zweyter Teil, S. 151. 39 Gundolf Krüger, „Johann Friedrich Blumenbach, England und die frühe Göttinger Völkerkunde,“ in „Eine Welt allein ist nicht genug.“ Großbritannien, Hannover und Göttingen 1714–1837 (Göttinger Bibliotheksschriften 31), Hg. Elmar Mittler (Göttingen: Katalog zur Ausstellung in der Paulinerkirche 20. März – 20. Mai 2005. Niedersächsische Staats- und UniversitätsBibliothek, 2005), S. 202–220; Hans Plischke, Johann Friedrich Blumenbachs Einfluss auf die Entdeckungsreisenden seiner Zeit (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. 3. Folge, 20) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1937). 40 Vgl. hierzu das Verzeichnis bei: Blumenbach Archival Material in the Universitätsbibliothek Göttingen, http://www.blumenbach.info/UB_Gottingen_Collections.html. Alle Links waren zum Zeitpunkt der Endredaktion aktuell. 41 Norbert Klatt, Kleine Beiträge zur Blumenbach-Forschung I (Göttingen: Norbert Klatt Verlag, 2008), S. 75, 83, 100. 42 Friedrich Murhard, Gemälde von Konstantinopel. Neue verbesserte Auflage, 2 Bände (Penig: Dienemann-Verlag, 1805), hier Bd. II, S. 25. Die Erstausgabe erschien 1804 in drei Bänden ebenfalls in Penig bei Dienemann. 43 Vgl. Julia Chatzipanagioti-Sangmeister, Von Kassel nach Chios: Weg und Werke von Friedrich Wilhelm Murhard (1778–1853); Einzusehen unter: https://kobra.bibliothek.unikassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-200603227762/1/ra0002_UB.pdf; Anmerkung 22, S. 10.

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Georg Heinrich August Ewald (1803–1875) – ebenfalls Orientalist und Theologe und einer der sogenannten Göttinger Sieben – betrieb intensiv auch das Armenische.44 Das gehört seit Jahrhunderten zu den Auffälligkeiten an der Göttinger Georg-AugustUniversität: die Theologen standen seit jeher in vorderster Reihe, wenn es um die Beschäftigung mit den Armeniern, ihrem Land und dem Armenischen ging. Für Alttestamentler wie Ewald waren da Kommentartraditionen, die sich allein im Armenischen erhalten haben, ebenso von Gewicht wie die armenischen Texttraditionen zur Septuaginta. Heinrich Brugsch (1827–1894),45 in Göttingen Professor der Ägyptologie (1868– 1870), veröffentlicht in seinen Reisebüchern zu Ägypten und Persien beiläufig auch historisch wichtige Notizen und Beobachtungen zu Armeniern und Armenien. 46 In Ägypten nahmen die Armenier zu dieser Zeit eine herausragende Stellung in der Gesamtgesellschaft ein und gaben wichtige Impulse zur Erneuerung. Die Situation der Armenier im Iran war zwar seit Adam Olearius (1599–1671) im Bewusstsein der deutschen Gelehrten, aber die Beobachtungen von Brugsch standen am Anfang der intensiven deutschen Iranpolitik nach Gründung des Deutschen Reiches 1871. Paul de Lagarde (1827–1891)47 leistete grundlegende Arbeiten zur Erforschung des Armenischen. Er publizierte 1877 einen Band „Armenische Studien“ bei der Göttinger Akademie der Wissenschaften48 und – ebenfalls in den Abhandlungen der Göttinger Akademie – seine Forschungen zu Agathangelos und den Akten Gregors von Armenien.49 Während die zuvor Genannten das Armenische eher beiläufig be-

44 August Dillmann, „Ewald, Heinrich,“ in Allgemeine Deutsche Biographie Band 6 (Leipzig: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1877), S. 438–442; Horst Junginger, Von der philologische zur völkischen Religionswissenschaft (Contubernium 51) (Stuttgart: Franz-Steiner Verlag, 1999), S. 11. 45 Friedrich Wilhelm von Bissing: „Brugsch, Heinrich,“ in Neue Deutsche Biographie (NDB) Band 2 (Berlin: Duncker & Humblot, 1955), S. 667f. 46 Heinrich Brugsch, Reiseberichte aus Aegypten. geschrieben in den Jahren 1853 und 1854 (Leipzig: Brockhaus, 1855); Heinrich Brugsch, Wanderung nach den Natronklöstern in Aegypten (Berlin: Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung, 1855); Heinrich Brugsch, Reise der K. preussischen Gesandtschaft nach Persien 1860 und 1861 2 Bände (Leipzig: J.C. Hinrichs’sche Buchhandlung, 1862–63) Heinrich Brugsch, Aus dem Orient (Berlin: Verlag von Werner Große, 1864). 47 Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus (München: Carl Hanser, 2007); Hans Walter Schütte, Lagarde und Fichte. Die verborgenen spekulativen Voraussetzungen des Christentumsverständnisses Paul de Lagardes (Gütersloh: Gerd Mohn, 1965). 48 Paul de Lagarde, Armenische Studien (Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 22) (Göttingen: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1877 (Neudruck Osnabrück 1970)). 49 Paule de Lagarde, Erläuterungen zu Agathangelus und die Akten Gregors von Armenien (Abhandlungen der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 35) (Göttingen: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1887).

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trieben oder streiften, ist es bei Lagarde fester Bestandteil dessen, was er als Kerngeschäft seiner Arbeit ansah. Lagarde, Vater des Göttinger Septuaginta-Unternehmens, war an der ganzen Breite der armenischen Geschichte und der armenischen Kultur und Literatur interessiert und kann als eine zentrale Gestalt in der Geschichte der deutschen Armenologie betrachtet werden. Eduard Schwartz (1858–1940)50, der in Göttingen aufwuchs und hier zunächst studierte und zudem hier von 1902 bis 1909 als Professor wirkte, lernte – wie viele Klassische Philologen und Kirchenhistoriker seiner Zeit – zu Zwecken seines Quellenstudiums Armenisch.51 Waren Eichhorn, Ewald und Lagarde zunächst als Alttestamentler an die Beschäftigung mit dem Armenischen geraten, so dokumentiert Schwartz, dass auch die Kirchenhistoriker, besonders die Patristiker, ihre Erkenntnisse ohne eine komplettierende Sicht auf die armenischen Traditionen nicht vorantreiben konnten. Max Friedrichsen (1874–1941) wurde in Göttingen, wo er sich 1903 habilitierte und noch bis 1906 lehrte, von Hermann Wagner zum Hauptmitarbeiter des länderkundlichen Teiles seines geographischen Lehrbuches bestimmt und legte wichtige geographische Werke vor allem zu Russisch-Armenien – wie das damals hieß – vor.52 Im Blick auf den Armeniergenozid führten nun die Interessen der Göttinger Wissenschaftler sie zu einem Teil an die Seite derer, die sich öffentlichkeitswirksam für die Armenier einsetzten. Groß angekündigt wurde über das Hannoversche Sonntagsblatt, dass Johannes Lepsius selbst am 11. Dezember 1896 nach Göttingen kommen werde, um in der Universitätsstadt „Vorträge über den Notstand unter den armenischen Christen“ zu halten.53 Das war kein Zufall, da es in Göttingen gewichtige Repräsentanten der armenophilen Kreise Deutschlands gab, sodass Lepsius beileibe nicht nur wegen seiner Vorträge in Göttingen zu Gast war. Die Georg-August-Universität zu Göttingen, damals schon lange in besonderer Weise ein Hort der Armenologie innerhalb der deutschen Hochschullandschaft, war die einzige Universität, an der ein Armenier als Professor lehrte: Karl Friedrich Andreas, der Ehemann von Lou Andreas-Salomé.54 Da

50 Unte Wolfhart, „Schwartz, Eduard,“ in Neue Deutsche Biographie (NDB) Band 23, (Berlin: Duncker & Humblot, 2007), S. 797–799. 51 Ibid. 52 1906 ging er als außerplanmäßiger Professor nach Rostock, 1907 als Ordinarius nach Bern, 1909 nach Greifswald, 1917 nach Königsberg, 1923 nach Breslau. Vgl. http://www.deutschebiographie.de/sfz39248.html. 53 Hannoversches Sonntagsblatt 1896, S. 449; er sprach zudem in Goslar und Hannover. 54 Enno Littmann, „Andreas, Friedrich Carl,“ in Neue Deutsche Biographie (NDB) Band 1 (Berlin: Duncker & Humblot, 1953), S. 284; Götz von Selle, „Friedrich Carl Andreas,“ Indogermanisches Jahrbuch Band 15 (1931): S. 366–376. Eine Biographie, die wissenschaftlichen Standards genügen würde, ist nicht vorhanden und das Werk harrt noch seiner Erschließung. Im Folgenden werden diese unterschiedlichen biographischen Würdigungen zugrunde gelegt, die darüber hinausgehenden Aspekte aber jeweils gesondert ausgewiesen. Hinweise auf die grundlegenden Artikel von Littmann und von Selle unterbleiben hingegen.

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dieser Gelehrte heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist und doch selbst ein herausragendes Beispiel eines Menschen ist, der in einer Brückenfunktion zwischen Deutschen und Armeniern bzw. Göttingen und Armenien tätig war, soll er auch biographisch hier kurz gewürdigt werden. Friedrich Carl Andreas trägt zwar einen scheinbar deutschen Namen, vereint aber das Erbe mehrerer kultureller Strömungen in seiner Person. Am 14. März (einige Quellen geben April an) 1846 in Batavia, also dem heutigen Jakarta, der Hauptstadt Indonesiens, damals Niederländisch-Indiens, unehelich geboren, stammt Andreas aus an sich schon interessanten Familienverhältnissen. Seine Mutter war die Tochter des norddeutschen Tropenarztes Waitz, eines Freundes Hufelands, der ein Buch über die Behandlung kranker Kinder in den Tropen geschrieben hatte und in Indonesien als Militärarzt wirkte.55 Dieser Großvater mütterlicherseits hatte während seines Dienstes auf Java eine Malaiin geheiratet. Die Mutter von Friedrich Carl Andreas war also halb malaiisch und halb deutsch. Doch damit für die auf Andreas überkommene Kulturmischung nicht genug. Die Mutter ihrerseits heiratete nun einen geflohenen armenischen Fürsten. Schon seit Jahrhunderten gehörte Batavia zu den auch für die Armenier wichtigen Orten ihrer weltweiten Migration. Die armenische Kolonie hier stand wie die in enger Bindung mit ihr stehenden armenischen Kolonien Indiens für die ausgedehnten Wirtschaftsnetze der Armenier, die überall in Südasien zu Mittlern zwischen den Kulturen wurden. Armenier nahmen nicht nur herausragende Ämter bei den muslimischen Herrschern Indiens wahr, sie wurden auch für die europäischprotestantischen Missionare in Indien zu unverzichtbare Brücken in die ihnen noch verschlossene Welt Indiens.56 Andreas Vater hatte aber den Familiennamen des armenischen Adelsgeschlechts, aus dem er entstammte, Bagratuni, nach einer für ihn verloren gegangenen Familienfehde abgelegt und stattdessen seinen Vornamen zum Familiennamen gemacht. Er ging als Arzt und / oder Kaufmann nach NiederländischIndien. Friedrich Carl Andreas hat Eindrücke in Indonesien nur als Kind sammeln können, auch wenn er später immerhin noch einmal für ein knappes halbes Jahr bis nach Indien reisen sollte.57 Mit sechs Jahren musste er Indonesien verlassen, weil seine Eltern nach Hamburg zogen. Nach einiger Zeit im Privatunterricht ging er mit vierzehn Jahren in dem Jahr, in dem sein Vater starb, auf ein Gymnasium nach Genf. Die dort bei ihm sich zeigende Sprachbegabung führte ihn nach Halle, Erlangen, Göttingen und Leipzig zum Studium der Orientalistik und Iranistik, zudem dem der klassischen Philologie und Philosophie. Während Göttingen als eines der damaligen

55 Lou Andreas-Salomé, Lebensrückblick (Frankfurt: Insel Verlag, 1974), S. 286 Anmerkung des Herausgebers Ernst Pfeiffer zu S. 186. 56 Martin Tamcke, „Präsenz und Rolle der Armenier unter den indischen Christen,“ in Bibel, Byzanz und Christlicher Orient, Festschrift für Stephen Gerö zum 65. Geburtstag (Orientalia Lovaniensia Analecta 187), Hg. D. Bumazhnov, D., E. Grypeou, E., T.B. Sailors u.a. (Leuven: Peeters Publishers, 2011), S. 465–485. 57 Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 187. Lou meint irrigerweise an, ihr Mann sei auf dem Weg über Indien dort aufgehalten worden und daher verspätet bei der Expedition eingetroffen.

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Zentren der Orientalistik hier schon auftaucht, fehlt Berlin noch. In Göttingen nahm er an einem Privatissimum von Theodor Benfeys (1809–1881) zu Sanskrit teil und legte damit auch den Grund für seine indologischen Studien. 58 Seine Dissertation von 1868, wesentlich auch in Kopenhagen vorangetrieben, trug den Titel „Beiträge zu einer genaueren Kenntnis des mittelpersischen (Pahlavi-) Schrift- und Lautsystems“. In Kopenhagen machte Georg Brandes (1842–1927), der bedeutende dänische Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller, der sich besonders um Nietzsche, Kierkegaard und Ibsen anhaltende Verdienste erwarb, ihn mit skandinavischer Literatur und Sprachen vertraut. Später las Andreas seiner Frau Ibsen vor, was bedeutete, er übersetzte ihr die bis dahin noch unübersetzten Dramen Ibsens im Augenblick des Vorlesens.59 Sie wird ihm das danken, indem sie ihm ihr Ibsen-Buch widmen wird.60 Andreas lernte in Kopenhagen Dänisch, Schwedisch und Norwegisch. Vorrangig war Andreas dorthin gereist, weil er dort unveröffentlichte persische Handschriften studieren wollte.61 In seiner Militärzeit 1870/71 nahm er an den Schlachten bei Connoré und Le Mans teil und wurde bei letzterer verwundet.62 Er ging nach dem deutschfranzösischen Krieg zu weiteren Studien nach Kiel und bekam dann – und hier kommt Berlin erstmals ernsthaft ins Blickfeld – vom Preußischen Kultusministerium die Genehmigung, als epigraphischer Begleiter an einer astronomischen Expedition nach Persien teilzunehmen, deren Ziel die Beobachtung und Beschreibung des Venusdurchganges war. Die Expedition diente also einem Zweck, der nicht unmittelbar den Interessen von Andreas entsprach. Doch wurde das Unternehmen um epigraphische und archäologische Ziele erweitert. Dafür nun schien er der geeignete Mann. Er konnte aber nur unter großen Schwierigkeiten zur Expedition hinzustoßen und hatte zwischenzeitig das Angebot erhalten, Kaiser Pedros II. (1831–1889) von Brasilien als Privatsekretär zu dienen, ehe seine Teilnahme an der Expedition dann doch gesichert werden konnte.63 Geldmangel und eine Choleraerkrankung hielten ihn länger fest und verhinderten so die Abreise. So traf er erst Anfang 1876 in Persien ein, in dem Jahr,

58 Michael Knüppel und Alois van Tongerloo, Die orientalische Gelehrtenrepublik am Vorabend des Ersten Weltkrieges (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge Band 20) (Berlin/Boston: De Gruyter, 2012), S. 12. 59 Kerstin Decker, Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich (Berlin: Propyläen Verlag, 2012), S. 145. 60 Lou Andreas-Salomé, Henrik Ibsens Frauengestalten, nach seinen sechs Familiendramen (Berlin: 1892), S. 1; vgl. Linde Salber, Lou Andreas-Salomé mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt (Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1990), S. 48. 61 Decker, Lou Andreas-Salomé, S. 133. 62 Knüppel/Tongerloo, Gelehrtenrepublik, S. 12. 63 Ibid.; Der Kollege Jürgen Tubach, Halle, wies während der Konferenz in Berlin in der Diskussion auf einen weiteren Fall eines bei Pedros dann tatsächlich eingestellten Orientalisten hin. Der brasilianische Kaiser hatte also ernsthaft Interesse am Orient.

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in dem die Expedition bereits abgebrochen wurde. Nur den Photographen der Expedition, Franz Stolze, traf er noch an. 64 Mit ihm blieb er zeitlebens eng befreundet.65 Dennoch blieb Andreas trotz einer mangelnden Finanzierung sieben Jahre in Persien. Mit Erteilung von Sprachunterricht und zeitweiliger Übernahme des Amtes des Generalpostmeisters verschaffte er sich ein spärliches Einkommen. Seine Zeit in Persien war zugleich Trotz. Denn Andreas war aus Persien kaum nach seiner Ankunft dort trotz neuer Funde, die er bei einer unerlaubten Reise nach Indien vom 28. Juli bis 17. Dezember 1875 machte, die nichts mit den Zielen der Expedition zu tun hatten, abberufen worden.66 Auf die Abberufung reagierte er mit einem schriftlich nach Berlin gesandten offiziellen Antwortschreiben, ein „haßsprühender Temperamentsausbruch“.67 Mit diesem Verhalten empfahl er sich nicht gerade für eine weitere Verwendung in Berlin. Doch bedingt schon durch die Tätigkeiten, mit denen Andreas seinen Lebensunterhalt in Persien zu sichern suchte, bereiste kaum einer den Iran mit solch einer Intensität wie er. Er erhielt während seiner Zeit in Schiraz 1878–1879 Zugang zum Hof des persischen Schah-in-Schah und befreundete sich mit dem Prinzen Ihtisam-ed-daule. Von diesem wurde er als Privatlehrer angestellt und mit auf seine Reise nach Europa über Russland mit Aufenthalten in Moskau und Riga genommen. Zu diesem Zeitpunkt war Andreas bereits erneut stark beeinträchtigt durch ein schweres Augenleiden. Januar 1882 traf Andreas dann mit dem Prinzen in Berlin ein, brach aber aufgrund der Überforderungen, denen er sich stets ausgesetzt hatte, gesundheitlich vollkommen zusammen. Weiterhin völlig mittellos fristete er sein Dasein erneut dadurch, dass er besonders türkischen Studierenden Sprachunterricht gab. Von 1883 bis 1903 dozierte er als Dozent für Persisch und Osmanisch am Seminar für Orientalische Sprachen der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin.68 Erst 1887 erfolgte seine Berufung zum Professor für Persisch, etwas später auch für Türkisch, an das neugegründete Seminar für Orientalische Sprachen. Hier nun habe ich einen Umstand übersprungen, der Andreas aus ganz anderem Gesichtswinkel in den Blick kommen lässt als über Sprache und Wissenschaft. Der Umstand sichert ihm bis heute im Schatten seiner Frau ein internationales, an seinem Privatleben interessiertes Publikum. Er begegnete der Schriftstellerin und Psychologin Lou von Salomé, einer Russin deutscher Abstammung aus Sankt Petersburg, deren Beziehungen besonders zu Paul Rée, Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke69 64 65 66 67 68

Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 287 Anmerkung zu S. 194. Ibid., S. 194 und 287 (Anmerkung zu S. 194). Ibid., 187. Ibid. Zur Geschichte des Seminars: Eduard Sachau, Denkschrift über das Seminar für Orientalische Sprachen an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1887 bis 1912 (Berlin: 1912); Otto Franke, Das Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin und seine geplante Umformung (Leipzig: 1924). 69 Einen guten Einblick in das Dreieckverhältnis der beiden mit Andreas bietet der Briefwechsel der beiden: Rainer Maria Rilke und Lou Andreas Salomé, Briefwechsel, Hg. Ernst Pfeiffer (Frankfurt: Insel Verlag, 1989).

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und Sigmund Freud70 sie zu einer skandalumwitterten Gestalt machten. Andreas gelingt es, die ihm fast unbekannte Lou von Salomé 1886 zu einer Verlobung zu überreden. Obwohl „überreden“ wohl nicht das rechte Wort ist, um die dramatischen Umständen zu beschreiben, unter denen er ihr ein Einverständnis abnötigt – er sticht sich mit seinem Taschenmesser in die Brust. Lou gerät bei dem behandelnden Notarzt gar in Verdacht, die Täterin zu sein. Am nächsten Tag schon wird die Verlobung vollzogen. Die standesamtliche Eheschließung erfolgte am 20. Juni 1887 in Sankt Petersburg. Die kirchliche Trauung vollzog ein einst abgewiesene Liebhaber Lous aus Petersburger Zeiten, Hendrik Gillot (1836–1916)71, der als niederländisch-reformierter Prediger in der russischen Hauptstadt auch Konfirmator Lous war, in der Kirche zu Santpoort in den Niederlanden. Der unglaublichen Ehegeschichte der beiden kann hier nicht gefolgt werden. Sie belegt aber, dass hier zwei ganz ungewöhnliche Menschen sich miteinander verbunden hatten. Statt gemeinsamen Glückerlebens charakterisierte Lou Andreas-Salomé das von mehrfachen Suizidvorhaben geprägte Miteinander zutreffender: „Zwei Menschen wurden voll der gleichen Ratlosigkeit und Verzweiflung“.72 Seine Frau veröffentlichte dazu selbst die Einzelheiten aus ihrer Perspektive. In der Sekundärliteratur wurde auch mit der Herkunft beider als Erklärungsmuster gespielt. „Ein Orientale und doch kein Orientale. Eine Russin und doch keine Russin“73, meint etwa Kerstin Decker, die von Andreas etwas zu malerisch als von einem „Sohn der vier Himmelsrichtungen“ spricht. 74 Nun war einer, der zumindest zu einem erheblichen Anteil – mütterlicher- wie großmütterlicherseits – als Orientale eingestuft wurde, als Professor gewiss noch ungewöhnlich im damaligen Deutschland, doch verstand Andreas sich stets erklärtermaßen auch als deutscher Wissenschaftler. Angesichts der Tatsache, dass er nach zweijähriger Lehrtätigkeit zu einem Opfer von Intrigen am Seminar in Berlin wurde, spielten er und seine Frau, die sich ganz dem einfachen Lebensstil ihres Mannes anschloss (zunächst in Tempelhof in winziger Wohnung wohnend, dann in einem großen verlotterten Haus in Schmargendorf) mit dem Gedanken, nach Armenien auszuwandern. Ihr Ziel war dabei entweder Persisch-Armenien oder die Gegend von Etschmiadzin, dem Sitz des armenischen Katholikos auf dem Boden des Russischen Reichs. Entlassen wurde Andreas einerseits, weil er der Forschung stets den Vorrang

70 Der Briefwechsel zwischen Lou Andreas-Salomé und Anna Freud, der Tochter Sigmund Freuds, enthält auch eine Dokumentation zu wachsenden Zuwendung der Ehegatten zueinander, Lou Andreas-Salomé/Anna Freud, „…als käm ich heim zu Vater und Schwester“. Briefwechsel 1919– 1937, Hg. Daria A. Rothe (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004). 71 Zu ihm und den reformierten niederländischen Predigern in St. Petersburg: https://sites.google.com/site/verenigingoudvriezenveen/dorpsgeschiedenis/rusluie/predikantenh ervgemstpetersburg. 72 Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 203. 73 Decker, Lou Andreas-Salomé, S. 133. 74 Ibid., S. 132.

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vor der Lehre gab, und andererseits wegen seines zerrütteten Nervenzustandes, ein Leiden, das ihn lebenslang begleitete. Der entlassene Wissenschaftler schlug sich wieder einige Zeit mit der Erteilung von Sprachunterricht durch, ehe ihn Eduard Schwartz (1858–1940), der selbst einige Zeit in Göttingen lehrte und von einigen Artikeln, die Andreas für Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft verfasst hatte, angetan war, mit der Hilfe Wackernagels als Professor in Göttingen etablieren konnte.75 Der Minister bestand dabei darauf, dass es sich um eine Professur für vorderasiatische Sprachen handele und nicht um eine für Iranistik, weil Andreas auch als vorzüglicher Kenner des Aramäischen und Syrischen, sowie des Altund Neuarmenischen galt.76 Die Hinweise auf die Verhältnisse in der Ehe mögen schon genügen, um Andreas Frau nicht allein das Wort zur Einstufung des Gelehrten zu überlassen. Sie ist da aber auch ganz offen und bekennt sich zu ihrem Unvermögen. „Meines Mannes ausgebreitete Fachgebiete entzogen sich meinem Wissen und Verstehen überdies so absolut, wie es nur sein kann.“77 Den unüberwindbaren Zwiespalt in ihm, der sich für ihn auch mit seiner Herkunft verband, suchte er nicht künstlich zu schließen oder seinen Frieden damit zu machen. Er empfand sich vielmehr bleibend als in zwei zu weit auseinanderliegende Welten hineingeboren.78 Obwohl Andreas sich schon in der Berliner Zeit neben vehementer Kritik auch die Anerkennung etwa seines Kollegen Rosen (1856–1935)79 erwarb und Solf (1862–1936)80 zu seinen später einflussreichen Schülern gehörte, bildete sich sein eigentlicher Schülerkreis erst in Göttingen um ihn. Dabei schien er das Anwachsen dieses Schülerkreises in Göttingen gar nicht zu bemerken. An Wilhelm Bang (1869–1934)81 schrieb er am 24.4.1910 gar: „Hier in Göttingen kann ich keinen Nachwuchs heranziehen.“82 Wenn seine Frau bemerkt, dass „er es daran fehlen“ gelassen habe, „seine Forschungsarbeiten in Büchern zu fixieren – er beließ sie in vorläufigen Notizen: gleichsam unterwegs.“ – so war das zugleich ein Erklärungsversuch, das geradezu intuitive Vermögen ihres Mannes im

75 Zu Andreas in dieser Hinsicht aufschlussreich: Jonathan Groß, „Ein säumiger Autor und ein geplagter Editor. Die Korrespondenz zwischen Friedrich Carl Andreas und Georg Wissowa aus der Frühzeit der RE,“ Jahresheft des Vereins der Göttinger Freunde der antiken Literatur 9. Ausgabe (2010): S. 10–20. 76 Andreas-Salomé, Lebensrückblick, Anmerkung zu S. 188, S. 286f. 77 Ibid., S. 204. 78 Vgl. Ibid., S. 213. 79 Vgl. Ibid., S. 195. Zu Rosen: Herbert Müller-Werth, Der Staatsmann Friedrich Rosen: Diplomat und Orientalist. Leben und Wirken [1856–1935] (Mainz: 1957); Herbert Müller-Werth, Friedrich Rosen: Ein staatsmännisch denkender Diplomat. Ein Beitrag zu Problematik der deutschen Aussenpolitik (Wiesbaden: F. Steiner-Verlag, 1969). 80 Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 204. Lou spricht von „dem ihm lebenslang anhänglichen Solf“; Zu Solf: Eberhard von Vietsch, Wilhelm Solf. Botschafter zwischen den Zeiten (Tübingen: Reiner Wunderlich-Verlag, 1961); Peter J. Hempenstall und Paula Tanaka Mochida, The Lost Man. Wilhelm Solf in German History (Wiesbaden: Harrassowitz, 2005). 81 Vgl. Knüppel/Tongerloo, Gelehrtenrepublik, S. 4–10. 82 Andreas an Bang am 24.10.1910, Knüppel/Tongerloo, Gelehrtenrepublik, S. 43.

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dauernden Widerstreit mit seiner übertriebenen Gründlichkeit nicht einfach als Unproduktivität zu sehen, was seinem Arbeiten auch in keiner Weise gerecht geworden wäre.83 Seine Zögerlichkeit im Publizieren kostete ihn später nochmals die Chance, nach Berlin zurückzukehren, weil er einfach nicht bereit war, eine Publikation, die dafür hätte vorliegen sollen, unter Zeitdruck zu beenden.84 Georg Hoffmann (1845– 1933), mit Theodor Noeldecke (1836–1930) in Göttingen eng verbunden und später als Orientalist in Kiel lehrend, meinte knapp: „vielleicht wenn Andreas die sofortige Hinrichtung drohe, wäre von ihm eine fachliche Erledigung zu erlangen – vielleicht aber auch dann nicht: so sehr hinrichten müßte er dazu sich selbst“. 85 Verständnisvoll kommentiert Lou die Aussage Hoffmanns: „Denn jeder Abschluss ist auch ein Verzicht auf ganze Vollkommenheit dessen, wovon man total und bis ins Letzte durchdrungen ist.“86 Schaut man einmal in die Werkstatt von Andreas, so zeigt sich, dass er einerseits nicht zimperlich war in seiner Kritik, wenn wissenschaftliche Arbeiten nicht das Niveau erreichten, dass er für erforderlich hielt. Wie etwa seine Kritik an Wilhelm Radloffs (1837–1918)87 parallelen Studien, die der bei der Russischen Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg publiziert hatte, zeigt: „Der Mann ist ja ganz unfähig, einen Text – welchen Inhalte dieser auch sei – zu interpretieren, d.h. philologisch zu arbeiten. Ebensowenig ist er aber auch imstande, linguistisch zu arbeiten. Seine Aufstellungen sind unhaltbar, alles ist Verständnislosigkeit, Voreingenommenheit und Willkür.“88 Die Empörung – „Seine Übersetzung verrät eine unglaubliche Unkenntnis und einen Mangel an geistiger Durchbildung“ 89 – führt immerhin dazu, dass Andreas selbst eine Bearbeitung eines der strittigen Texte, des Marienhymnus, in Angriff nimmt.90 Das Werk von Andreas war weithin der Kreis seiner Schüler. Dabei war er auch als Lehrer extravagant. Er baute ein intensives Verhältnis zu seinen Schülern auf und wirkte durch sie. Auch die Form seines Lehrens war ungewöhnlich: „Man kam erst abends, sozusagen am Rande der Nacht, zusammen und ging nicht gerade bald wieder auseinander, – wie ihm, der nicht vor vier Uhr morgens zur Ruhe zu gehen pflegte, Tag und Nacht sich ohne weiteres tauschten. Zur Erquickung der in solchen Anspruch genommenen Geister dienten entweder Tee – den er eigenhändig mit orientalischer Sorgfalt bereitete – und Kuchen, oder aber

83 84 85 86 87

Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 188–189. Ibid., S. 212. Zitiert nach Ibid., S. 212–213. Ibid., S. 213. Ahmet Temir, „Leben und Schaffen von Friedrich Wilhelm Radloff (1837–1918). Ein Beitrag zur Geschichte der Turkologie,“ Oriens 8 (1955): S. 51–93. 88 Andreas an Bang am 27.3.1910, Knüppel/Tongerloo, Gelehrtenrepublik, S. 36. Dort in Anmerkung 116 der Hinweis auf die von Bang und Andreas diskutierte Veröffentlichung von Radloff aus dem Jahr 1886. 89 Andreas an Bang am 17.4.1910, Knüppel/Tongerloo, Gelehrtenrepublik, S. 41. 90 Vgl. Willy Bang, Beiträge zur Erklärung des komanischen Marienhymnus. mit einem Vorwort von F.C. Andreas (Göttingen: Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 1910).

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Wein und belegte Schnitten; und was von beidem dran war, kennzeichnete gleichsam Charakter und Thema des jeweils Erörterten.“91 Der Frankfurter Iranist und Indogermanist Hermann Lommel (1885-1968)92, ein Schüler von Andreas, erinnert sich solcher Nachtsitzungen bei seinem Lehrer. „Wenn ich gegen Morgen zur eigentlichen Arbeit zu müde war, aber noch nicht entlassen wurde, verbreitete sich das Gespräch weiter. Da las er mir einmal Vierzeiler des Omar Chajjam in der Rosenschen Übersetzung vor; das war nicht erzählt von Persien, das war wie eine Szene unter dem Himmel Persiens. Da sprach aus den Versen orientalische Weisheit, da war von Wein und Liebe die Rede, da herrschte eine heitere Geistigkeit und einzige Zartheit […] Außer der stets erneuten Produktivität, vermöge deren kein fester Lernstoff als Fertiges gegeben wurde, war alles, auch das anscheinend formal Grammatikalische, ein Stück erlebter Orient. Man spürte hinter dem Abgeleiteten der rationalen Wissenschaft immer noch das quellende Leben, aus dem es entnommen war, – unausgesprochenes, darin pulsierendes Leben, was ihm ein Wort und alle daran zu beobachtenden Laut- und Deklinationsregeln zu einem Stück wirklicher Welt machte.“93 In Göttingen wurde Andreas dann ein führender Erforscher der durch die Turfanexpeditionen nach Deutschland verbrachten Materialien. Doch blieb das meiste seiner Arbeit unpubliziert und ging in seinen ungewöhnlich umfangreichen Nachlass ein. 94 Aufgrund der Arbeiten von Andreas wurde Göttingen weltweit von Bedeutung für die komanischen Studien.95 Als Friedrich Carl Andreas am 3. Oktober 1930 stirbt, da sind es seine Schüler, die der längst neugewachsenen Zuneigung beider Eheleute eine neue Dimension im Erleben der Witwe ermöglichen: „Ich erlebe auf neue Weise meinen Mann: durch einige der angereisten Professoren – seine Schüler –, die sich mit der Herausgabe des Nachlasses beschäftigen. Seine Schüler – diejenigen die selbst zur wissenschaftlichen Produktion begabt waren, – sind nämlich sozusagen meines Mannes Bücher gewesen, denn er hinter[ließ][…] meistenteils statt der Bücher Notizen, infolge der ungeheuren Breite und Gründlichkeit womit seine Sprachforschung angelegt wurde; ganz konnten sie darum nur Frucht tragen in Denen, die sich ihnen wie tragende Äcker entgegenhielten. Und so nicht nur Belehrte und Lernende, sondern Miterlebende wurden. Und so an mich Einblicke in meinen Mann weitergeben konnten, die sowohl sie wie mich außerordentlich beschenkten – auf neue Weise ‚mit meinem Mann‘ beschenkten. […] Und jetzt, hinterher, kommt deshalb manches, was ich von ihm erfahre, mir wie eine Gabe zu Händen, die ich garnicht wie einen Nachklang sondern wie einen lebendigen Ton aufnehme, wie eine „Vorhandenheit“,

91 Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 191. 92 Bernfried Schlerath, „Lommel, Hermann,“ in Neue Deutsche Biographie (NDB) Band 15 (Berlin: Duncker & Humblot, 1987), S. 145. 93 Zitiert nach: Andreas-Salomé, Lebensrückblick, 195. Rosens Übersetzung: Friedrich Rosen, Die Sinnsprüche Omars des Zeltmachers. Rubaijat-i-Omar-i-Khajjam (Stuttgart und Leipzig: Deutsche Verlagsanstalt, 1909). 94 Knüppel/Tongerloo, Gelehrtenrepublik, S. 15. 95 Ibid., S. 15–18.

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welche nicht nur vorwiegend Trauer um Verlust, nein, Freudiges, Beseelendes, Besitzglück ganz leiser Art aufwachen läßt.“96 Auch wenn tatsächlich das Werk von Andreas großenteils erst mit den langsam anlaufenden Arbeiten an seinem Nachlass wird gewürdigt werden können, so ist doch auch das bereits publizierte Werk aussagekräftig genug, um Andreas’ wesentliche Arbeitsfelder zu entdecken: Zarathustra beschäftigte ihn in Gestalt von Editionen. Auch zu Psalmen in Pehlevi aus sassanidischer Zeit und Dialektstudien arbeitete er. Seiner Zeit im Iran sind Werke nicht nur zu Persepolis zu verdanken, sondern auch zu den Handelsverhältnissen in Persien. Die Editionen umfassen dabei vorrangig religiöse Texte. Aber bei solchem lediglich an historischen Texten sich festmachenden Interesse blieb es nicht. Als Andreas mit Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé bei der ersten gemeinsamen Russlandreise bei Lev Tolstoi (1828–1910)97 am Karfreitag, dem 25. April 189998, vorsprach, musste Rilke eine harsche Kritik des Russen an aller Lyrik erdulden und auch Lou kam kaum zum Zuge. Was Tolstoi dagegen interessierte, waren die Forschungen von Andreas. Er unterhielt sich intensiv mit Andreas zu den Babis.99 Tatsächlich galt Andreas seit seiner Arbeit „Die Babi’s in Persien“ von 1896 als Spezialist für diese religiöse Bewegung. 100 Die von Sayyid Ali Muhammad, der sich ab 1844 als Bab – der erwartete religiöse Erneuerer der schiitischen Religion – verstand, war auf heftigen Widerstand der schiitischen Orthodoxie gestoßen und wurde im Juli 1850 öffentlich hingerichtet. 101 Der offiziell dem Protestantismus angehörende Andreas und der weiterhin noch zur Orthodoxie gehörende Tolstoi – er wurde erst 1901 von seiner Kirche exkommuniziert – empfanden tiefe Sympathien für die Bewegung der Babis. Tolstoi sah in ihr eine ihm existentiell nahestehende religiöse Gruppe und ließ vielen von ihnen wohl auch deshalb nachdrückliche Unterstützung zukommen. Sein Interesse galt dabei stets auch dem Verhältnis des Staates zur Religion. Wie Tolstois Auseinandersetzung mit der orthodoxen Kirche zugleich auch seine Überwachung durch den Geheimdienst wesentlich mit legitimierte und er immer mehr auch in Konflikt mit dem sich weitergehenden Reformen verschließenden Staat des Zaren geriet, so vollzog auch der Schah in Persien die brutale Unterdrückung der Babis im Bund mit den schiitischen Mullahs. Diese standen jedoch mit ihrer religiösen Haltung auch den Vorstellungen des Schahs zur Modernisierung im Wege, genau wie den liberalen Zaren Russlands der orthodoxe

96 Andreas-Salomé/Anna Freud, heim zu Vater und Schwester, S. 587f. 97 Zur Religion bei Tolstoi: Martin Tamcke, Tolstoijs Religion, Eine spirituelle Biographie (Berlin: Insel Verlag, 2010). 98 Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 267. 99 Vgl. Michaela Wiesner-Bangard und Ursula Welsch, Lou Andreas-Salomé, „…wie ich Dich liebe, Rätselleben“. Eine Biographie (Stuttgart: Reclam, 2008), S. 138f. 100 Friedrich Carl Andreas, Die Babi's in Persien: Ihre Geschichte Und Lehre (1896) (Whitefish: Kessinger, 2010). 101 Edward Granville Browne, Materials for the Study of the Bábí Religion (Cambridge: Cambridge University Press, 1918).

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Klerus. Kurz bevor sich die Möglichkeit zur Teilnahme an der Expedition nach Persien für Andreas eröffnete, hatte der Schah Berlin besucht und hier seine Erfahrungen mit dem iranischen Klerus mit denen Bismarcks im Kulturkampf mit den katholischen Bischöfen parallelisiert. In sein Reisetagebuch schrieb Naser ad-Din Schah (1831–1896)102 im Eintrag für den 4. Juni 1873 hier in Berlin: „Den Deutschen geht es nicht anders als uns im Iran. Diese Mullahs scheinen in aller Welt und unter allen Konfessionen gleich zu sein […] Sollte dem deutschen Kaiser in seinem sogenannten Kulturkampf ein Erfolg beschieden sein, so will ich nicht zögern, auch in meinem Land an energische Reformen heranzugehen, sollte es mich auch Opfer an altüberlieferten Gebräuchen kosten.“103 Andreas hatte schon bei Brandes stark antiklerikale Impulse empfangen, die mit den religionskritischen Abhandlungen seiner Frau, an denen er regen Anteil nahm, verstärkt wurden. Doch bedeutete dies nicht, dass Andreas nicht auch seiner Kirche ganz konkrete Dienste mit seinem Fachwissen leistete. Sein Beitrag etwa zu den ersten von den deutschen Missionsgesellschaften geleisteten Übersetzungen von Bibelteilen ins Kurdische ist nicht zu unterschätzen. Wie selbstverständlich schulte er zudem künftige Missionare sprachlich für ihren Einsatz. Als der Missionar von Oertzen (1876–1950) etwa mit seinem einheimischen Sprachlehrer, einem Juden, aus Mahabad zurück nach Deutschland kam, um hier dann die Arbeiten an der Übersetzung des Markus-Evangeliums ins Mukri-Kurdische zu vollenden, da zog er zur Überprüfung des Textes Andreas heran. Der sei der „so ziemlich einzig dafür in Frage kommende Sprachgelehrte“.104 Nach der Überprüfung durch Andreas ging der Band dann in Bulgarien, in Philippopel, in den Druck. 105 Glaubt man von Oertzen, so wurde

102 Mostafa Edjtehadi, Zerfall der Staatsmacht Persiens unter Nasir ad-Din Schah Qagar (1848– 1896): Einblicke in die Machtverhältnisse am Teheraner Hof nach den Tagebüchern Ictimad as-Saltanas (Islamkundliche Untersuchungen Band 161) (Berlin: Klaus Schwarz Verlag, 1992). 103 Hans Leicht, Hg., Ein Harem in Bismarcks Reich. Das ergötzliche Reisetagebuch des Nasreddin Schah (Stuttgart: Edition Erdmann, 2001), S. 125–126. 104 Hans Wilhelm Hertzberg, Hg., Detwig von Oertzen, Ein Christuszeuge im Orient (Giessen: Brunnen-Verlag, 1961), S. 63 (zu von Oertzen erscheint ein Aufsatz von mir in Aram im Sammelband zur Levantekonferenz der Aram-Society). Martin Tamcke, „Mission among Jews and Muslims in Mahabad: Strategies of the German Orient Mission in Iran (Cultural Encounters between the Children of Abraham in Modern Times, Chapter Fifteen),“ in Encounters of the Children of Abraham from the Ancient to Modern Times (Studies on the Children of Abraham 1), Hg. Antti Laato und Pekka Lindqvist (Leiden/Boston: BRILL, 2010), S. 293–312; Martin Tamcke, „Gleichzeitig-ungleichzeitiges Wissen im Austausch. Exemplarisches zu Grundfragen transkulturellen Wissensaustausches am Beispiel der deutschen Kurdenmission in Mahabad,“ in Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen, Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert (Missionsgeschichtliches Archiv 19), Hg. Ulrich van der Heyden und Andreas Feldtkeller (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2012), S. 389–399. 105 Hertzberg, Oertzen, S. 63.

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diese „erste Übersetzung eines Evangeliums Grundlage und Hilfsmittel für weitere wissenschaftliche und missionarische Erarbeitung der kurdischen Sprache“.106 Diese Zusammenarbeit mit einem der wichtigsten Missionare der Deutschen Orientmission war nicht zufällig. Die von dem gewichtigsten Armenophilen Deutschlands geleitete Mission war beständiger Kooperationspartner des Orientalisten. So stand Andreas in beständigem Briefwechsel mit dessen Gründer und Direktor, Johannes Lepsius (1858–1926).107 Die Korrespondenz beider begann bereits in der Schmargendorfer Zeit von Andreas und blieb auch während seines Aufenthaltes in Göttingen bestehen.108 Die Zusammenarbeit der Mission mit dem Orientalisten funktionierte nicht nur im Blick auf die Armenier reibungslos. Der zweifellos international bekannteste Missionar der Mission, Johannes Avetaranian (1861–1919), Türke aus Sufi-Kreisen, der zum Christentum konvertiert war, unterhielt zu Andreas über Jahrzehnte einen intensives Briefwechsel zum Austausch ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse und Arbeiten gerade im Bereich der Sprachen. Avetaranian war kein Armenier. Er hatte sich seinen armenischen Namen bei der Taufe zugelegt, nachdem er vom Islam zum Christentum konvertiert war. Sein ursprünglicher Name war Mehmet Schükri. 109 Avetaranian wirkte besonders als Übersetzer christlicher Literatur ins Türkische und Osttürkische und wirkte lange als Missionar in Kaschgar. Die Briefe Avetaranians im Andreas-Nachlass in Göttingen belegen die Intensität auch dieser Interaktion eines Theologen mit dem Orientalisten eindrücklich. 110 Besonders im Bereich des Osttürkischen und Neu-Uigurischen profitierte Andreas nachhaltig von Avetaranian. Der Orientalist verwendete Erkenntnisse, die er aus ihm zur Verfügung gestellten Texten von Avetaranian gewann, auch im wissenschaftlichen Gespräch mit Bang. So macht er – um Kritik der Gegner vorzugreifen – Einwendungen gegen dessen Transkriptionspraxis. „Ich meine die Trennung der türkischen Endungen von dem Nomen oder dem Verbalstamm, wozu sie gehören. Ein konsequentes Prinzip ist nicht zu erkennen, auch widersprechen sich sehr oft Text und Transkription. Ich halte die Loslösung der

106 Ibid., S. 52. 107 Rolf Hosfeld, Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte (Göttingen: Wallstein, 2013). 108 Einen Überblick zu den im Archiv der Mission erhaltenen Briefe von Andreas bieten Hermann Goltz und Axel Meissner, Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1925, Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Teil 1 (Katalog) (München: De Gruyter Saur, 1998), S. 7–8 (für Schmargendorf sind hier Briefe vom 2.10.1900 bis zum 24.8.1902 belegt, für Göttingen vom 23.7.1909 bis zum 29.8.1910; die Unterzeichnung des Aufrufes durch Andreas aber belegt, dass die Korrespondenz weiter bestand. Der Bestand des Archivs verzeichnet jedoch erhebliche Verluste). Die Briefe von Johannes Lepsius an Andreas finden sich ebd., S. 308, und reichen vom 30.7.1906 bis zum 5.10.1917 (auch hier scheinen spätere Briefe schlicht verloren gegangen zu sein). 109 Johannes Avetaranian, Geschichte eines Mohammedaners der Christ wurde (ursprünglich Potsdam: 1905, neu erschienen Albstadt: Brosamen-Verlag, 2014). 110 Handschriftenabteilung der SUB Göttingen, Signatur: Cod. Ms. F. C. Andreas 1:9.

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Endungen an und für sich nicht für richtig und zweckmässig. Überdies steht sie durchaus im Widerspruch zu der Praxis der centralasiatischen Türken. Ich besitze durch die Güte meines alten Freundes Avetaranian eine Anzahl von Briefen, die von Leuten aus Kaschgar geschrieben sind, und da sind die Endungen stets mit dem Worte verbunden, zu dem sie gehören.“111 Auch Missionare anderer Missionsgesellschaften fanden sich bei Andreas beispielsweise zu intensivem Sprachtraining ein.112 Theologie und Semitistik wirkten hier in einer ganz pragmatischen Forschungsgemeinschaft zusammen. Obwohl sich ihre Forschungsziele doch strikt voneinander unterschieden, waren die Theologen und der Orientalist doch geeint in ihrem Interesse an der Erschließung semitischer Sprache, Religion und Kultur. Diese Kompetenz führte Andreas in eine enge Gemeinschaft mit Johannes Lepsius, der in dieser Zeit wie kein anderer Deutscher für die Armenier auch öffentlich weiter einstand. Zu Andreas hatte Lepsius, solange jener noch in Berlin wirkte, gerade in den ersten Jahren seiner Arbeit als Missionsdirektor intensiv Kontakt gehalten und schätzte den Orientalisten so außerordentlich, dass er ihn von Anfang an bei maßgeblichen Weichenstellungen mit entscheiden ließ. Zudem griff er intensiv auf das sprachliche Wissen von Andreas zurück und ließ Mitarbeiter sprachlich von diesem für ihren Dienst ausbilden. Andreas hatte schon zuvor den Mitarbeitern der Deutschen Judenmission von Pastor Wilhelm Faber Sprachunterricht gegeben. Daher hatte er zunächst

111 Andreas an Bang am 15.3.1912, Knüppel/Tongerloo, Gelehrtenrepublik, S. 79. 112 Etwa der Hermannsburger Kurdenmissionar Georg Bachimont, vgl. Martin Tamcke, „Den eigenen Körper erfahren. Ein sehr vorläufiger Versuch, Anna Bachimonts Erfahrung als Opfer körperlicher Gewalt in das Spektrum der Körpergeschichtsforschung einzuzeichnen,“ in "Die Mission ist weiblich", Frauen in der frühen Hermannsburger Mission (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission und des Ev.-luth. Missionswerkes in Niedersachsen XXI), Hg. Jobst Reller (Berlin: LIT-Verlag, 2012), S. 87–102; Martin Tamcke, „Als Schulsuperintendent in Eriwan. Georg Bachimont (1878–1921),“ Pro Georgia, Journal of Kartvelological Studies 18 (2009): S. 137–154; Martin Tamcke, „Zwischen kurdischem Nationalismus, iranischer Zentralgewalt und amerikanischer Missionskonkurrenz. Die Hermannsburger Mission in Mahabad nach dem Ersten Weltkrieg,“ in Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen, Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945 (Missionsgeschichtliches Archiv, Studien der Berliner Gesellschaft für Missionsgeschichte 10), Hg. Ulrich van der Heyden und Holger Stoecker (Wiesbaden: 2005), S. 595–604; Martin Tamcke, „Die Archivalien der deutschen Kurdenmissionen als Quellen zur Geschichte Kurdistans am Beispiel des Missionars Bachimont (1878–1921),“ in Koexistenz und Konfrontation, Beiträge zur jüngeren Geschichte und Gegenwartslage der orientalischen Christen (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 28), Hg. Martin Tamcke (Hamburg: LIT-Verlag, 2003), 417–426; Martin Tamcke, „Les documents d'archives de la mission allemande au Kurdistan considérés comme sources d'informations sur l'histoire du Kurdistan: A – Le cas particulier du missionaire Bachimont (1878–1921), B – L'affaire Mirza Aziz Madjid: Le Kurde dénommé ‚l'étranger venu de Perse‘,“études kurdes 5 (2003): S. 25–51; Martin Tamcke, „Bachimont, Georg Hippolyt,“ in Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 18 (Nordhausen: Traugott Bautz-Verlag, 2001), S. 118–120.

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gezögert, auf das Ansuchen von Johannes Lepsius einzugehen. Faber und dessen Seminar fühle er sich „nicht nur formell verpflichtet“, vielmehr habe der „das erste Anrecht“ auf seine Kraft.113 Angesichts seiner beschränkten Kraft verfüge er für ein vergleichbares Unternehmen bei Lepsius „leider nicht über genügende Zeit“. 114 So schlug er zunächst vor, dass der bereits erwähnte Detwig von Oertzen als Hospitant an seinem Unterricht teilnehmen könne.115 Schließlich unterrichtete er von Oertzen, was in der Fertigstellung der besagten Bibelübersetzungen ins Mukri-Kurdische mündete, die später in Bulgarien gedruckt wurden. 116 Grundsätzlich war da Andreas Beziehung zu Lepsius aber bereits so gefestigt, dass der letzte Satz in seinem Brief, der eigentlich zunächst eine Absage zum Inhalt hatte, nicht nur als Floskel zu verstehen war. „Sie wissen, ich stehe stets, so weit meine Kraft und Zeit reicht, in jeder anderen Beziehung zu Ihren Diensten und werde mich jedesmal freuen, wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise nützen kann.“117 Er ging sogar so weit, Missionsaspiranten aus dem Hause Fabers an Lepsius zu vermitteln. Lepsius arrangierte seinerseits Treffen zwischen Andreas und dem Armenienspezialisten Lehmann. 118 Auch wurde er von dem in Finanznöten steckenden Andreas um finanzielle Hilfe in einem Notfall angegangen, 119 wobei dieser andererseits auch mehrfach auf ihm zugesagte oder zustehende Gelder von dem stets mit Finanznöten kämpfenden Lepsius zu warten hatte, was ihn zuweilen in größere Not brachte.120 Fortwährend war er dabei für Lepsius als Übersetzer tätig.121 Vor allem aber war er im Vorstand der Deutschen Orientmission tätig, zu dessen Mitgliedern 1910 neben Lepsius, dessen Stellvertreter Roedenbeck und dem

113 Brief von Friedrich Carl Andreas an Johannes Lepsius vom 2.10.1900 (Lepsius-Archiv 2362). 114 Ibid. 115 Ibid., zu von Oertzen: Martin Tamcke, „Strategien christlicher Mission unter Juden und Muslimen in Mahabad (Iran),“ in „Vom Leben umfangen“, Ägypten, das Alte Testament und das Gespräch der Religionen, Gedenkschrift für Manfred Görg, Ägypten und das Alte Testament (Studien zu Geschichte, Kultur und Religion Ägyptens und des Alten Testaments Bd. 80), Hg. Stefan Jakob Wimmer und Georg Gafus (Münster: Ugarit-Verlag, 2014), S. 605– 618; Martin Tamcke, „Mission und Kulturkonflikt: Deutsche Missionen im Iran des 19. Jahrhunderts,“ in Judaism, Christianity, and Islam in the Course of History: Exchange and Conflicts (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 82), Hg. Lothar Gall und Diertmar Willoweit (München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2011), S. 433–446; Martin Tamcke, Gleichzeitig-ungleichzeitiges, S. 389–399. 116 Hertzberg, Oertzen, S. 63. 117 Brief von Friedrich Carl Andreas an Johannes Lepsius vom 2.10.1900 (Lepsius-Archiv 2362). 118 Brief von Johannes Lepsius an Lehmann vom 26. Mai 1910 (Lepsius-Archiv 11517). 119 Brief von Carl Friedrich Andreas an Johannes Lepsius aus Schmargendorf vom 9.2.1902 (Lepsius-Archiv 6776). 120 Briefe von Carl Friedrich Andreas an die Deutsche Orientmission vom 2. März 1901 (LepsiusArchiv 10794); Brief von Carl Friedrich Andreas an Johannes Lepsius vom 9. Februar 1902 (Lepsius-Archiv 6776), Brief von Carl Friedrich Andreas an Johannes Lepsius vom 10. Juni 1902 (Lepsius-Archiv 6775). 121 Carl Frierdrich Andreas an Johannes Lepsius vom 10. Juni 1902 (Lepsius-Archiv 6775); Carl Friredrich Andreas an Johannes Lepsius vom 9. Februar 1902 (Lepsius-Archiv 6776).

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Schatzmeister Hennings lediglich noch Andreas, Johannes Awetaranian und Paul Rohrbach gehörten.122 Andreas selbst hatte für die Zuwahl Awetaranians zum Vorstand gestimmt.123 Er traf sich bei seinen Berlinaufenthalten mit Lepsius und Awetaranian und überlegte, an dem von Lepsius gegründeten MuhammedanerSeminar als Gastdozent mitzuwirken.124 Und doch war es für Andreas nicht einfach, von Göttingen aus die Geschicke der Deutschen Orientmission mit zu bestimmen. Seit er von Berlin nach Göttingen gezogen war, fühlte er sich in dem Klima und unter den Menschen in Göttingen unwohl. So entschuldigt er sich für sein Nichterscheinen bei der Vorstandssitzung am 29. August 1910 mit just dieser Unpässlichkeit, die über Jahre seine Korrespondenz begleitet. „Meine Nerven sind seit längerer Zeit völlig erschöpft infolge von Überarbeitung und des ungünstigen Wetters in diesem Sommer. Überhaupt wirkt das Klima von Göttingen sehr ungünstig auf mich. Ausserdem habe ich den Fehler begangen, Ostern nicht fortzugehen und etwas für meine Gesundheit zu tun. Es lag eben zu viel vor. Ich wünschte, ich könnte ganz von Göttingen fort, das mir in hohem Grade unsympathisch ist.“125 Andreas blieb beständig und über die Jahre im Kuratorium der Mission. Der ansonsten mindestens so kirchenkritisch wie seine Frau Lou ausgerichtete Nietzsche-Verehrer empfand seine jahrzehntelange Mitarbeit in einer Missionsgesellschaft offenbar nicht als seinen Überzeugungen so widersprechend, dass er sich aus der Mission zurückgezogen hätte. Lepsius selbst informierte Andreas dann am 3. Oktober 1917 zu seinem eigenem Ausscheiden aus der Missionsgesellschaft.126 Die Erklärungen, die Lepsius über sein Ausscheiden aus der Mission verfasst hatte, waren von der Mission den Kuratoriumsmitgliedern nicht zugesandt worden. Andreas gehörte dabei nun just dem Kuratorium an, von dem Lepsius behauptete, es hülle „sich seit drei Monaten in Schweigen.“127 Rohrbach und Deissmann hätten den Bruch bedauert und hätten den allerdings nie realisierten Vorsatz geäußert, privat vermitteln zu wollen. Aber da war es bereits zum Bruch zwischen dem Direktor und seiner Mission gekommen. Ausdrücklich erbat Lepsius die Zustimmung von Andreas, dass er ihn – sollte es zu einer korrekten Neubildung eines Kuratoriums kommen – für dieses neue Kuratorium wieder benennen dürfe. Lepsius sah seine Aufgabe auch während seiner Exilszeit in Holland darin, „gegen dreitausend

122 Atanas Damianov, Die Arbeit der "Deutschen Orient-Mission" unter den türkischen Muslimen in Bulgarien von Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum 2. Weltkrieg (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte) (Hamburg: LIT-Verlag, 2003), S. 111. 123 Brief von Carl Friedrich Andreas an Johannes Lepsius vom 27.August 1910 (schriftliche Stimmabgabe) (Lespius-Archiv 11316) 124 Brief von Carl Friedrich Andreas an Johannes Lepsius vom 23.Juli 1909 (Lepsius-Archiv 7379); Telegramm von Carl Friedrich Andreas an Johannes Lepsius vom 20.4.1910 (LepsiusArchiv 7379). 125 Brief von Carl Friedrich Andreas an Johannes Lepsius vom 27. August 1910 (Lepsius-Archiv 11316). 126 Brief von Johannes Lepsius an Carl Friedrich Andreas vom 3. (5.) Oktober 1917 (LepsiusArchiv 2496). 127 Ibid.

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Kinder von Deportierten zu unterhalten“, wie er Andreas ausdrücklich versicherte. 128 Diese Korrespondenz gehört somit in den Kontext des Zerwürfnisses zwischen der Deutschen Orientmission und Lepsius. 129 Zu diesem Bruch kam es, nachdem Johannes Lepsius seinen Bericht über die Armenier-Gräuel gegen alle Bedenken anderer Mitglieder des Missionsvorstandes veröffentlicht hatte. Der Vorstand verweigerte sich der Publikation aus politischen Gründen. Denn dieser hielt grundsätzlich an der politischen Leitlinie in Übereinstimmung mit der Orient- und Islamkommission fest, dass aus Rücksicht auf den Bündnispartner Türkei öffentlich nicht über dessen Vorgehen gegen die Armenier berichtet werden sollte. Im anschließenden Kampf um die Spendengelder unterlag Lepsius, der die Spenden mittels einer Notiz in der Zeitschrift „Christlicher Orient“ dazu aufgefordert hatte, die Spenden direkt an die von ihm und Richard Schäfer eingerichtete Sammelstelle zu überweisen und nicht an das Spendenkonto der Mission. Der Hinweis von Lepsius wurde durch einen Spendenaufruf der Mission und eine beigelegte Zahlkarte zugunsten der Mission ersetzt. In der Folge dieses Eingriffs blieben die Zahlungen an die Sammelstelle von Lepsius hinter denen an die Mission zurück. Zugleich aber konnten weitere Berichte nicht verhindert werden, die deutlich der unerwünschten Türkeikritik zuzurechnen waren. Lepsius distanzierte sich somit nachdrücklich von der staatskonformen Haltung der Mission, auf die diese sich nach vertraulichen Gesprächen im Außenministerium eingelassen hatte. „Eine Orientmission, die an dem Sterben eines Christenvolkes, unter dem sie 20 Jahre gearbeitet hat, schweigend vorübergehen will und angesichts des Hungerleidens von Hunderttausenden unschuldiger Frauen und Kinder irgend etwas anderes als deren Rettung sich zur Hauptaufgabe macht, ist nicht mehr die Mission, die ich begründet habe.“130 Das Ansinnen, Andreas in ein neu zu bildendes Kuratorium der Mission zu berufen, zeugt dabei jedoch vom ungebrochenen Verhältnis zwischen Lepsius und Andreas. Der Orientmission wurde aber ein Privatbrief von Lepsius an Paul Rohrbach vom 26. September 1917 zugespielt, in dem er den Rücktritt des gesamten Kuratoriums forderte. 131 So kam es zu keiner Neukonstituierung, sondern lediglich zu einer Verhärtung der Fronten und einem monatelangem Schlagabtausch von Vorwürfen, Rechtfertigungen und Erklärungen. Getrübt wird das Bild von Andreas und seinem Engagement für die Armenier durch einen Eklat im Zusammenhang mit einem Kollegen. Andreas war zwar Armenier, aber er geriet außer sich, als sein Berliner Kollege Marquart (1864–1930)132 in eine gemeinsame Publikation der beiden mit dem Orientalisten Bang ohne Wissen

128 Ibid. 129 Hierzu handelt ausführlicher die im erscheinen befindliche Dissertation meines Doktoranden Volker Metzler zur Orient- und Islamkommission (erscheint bei Harrassowitz). 130 Johannes Lepsius, Hg., Der grüne Tisch. Sammlung von Aktenstücken über die Gründe seines Austrittes aus der Deutschen Orientmission (Potsdam: Tempelverlag, 1920), S. 16. 131 Lepsius, Der grüne Tisch, S. 25. 132 Rüdiger Schmitt, „Markwart, Josef,“ in Neue Deutsche Biographie (NDB) Band 16 (Berlin: Duncker & Humblot, 1990), S. 227.

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von Andreas stark abwertende Äußerungen zu den Türken in den Text einfügte, womit Marquart auf die jüngsten Ausschreitungen der Türken gegen die Armenier reagierte. „So unerfreulich wie die Arbeit selbst sind die Völker, mit denen sie sich zu beschäftigen hatte“, hatte Marquart da beispielsweise in die Veröffentlichung der „Osttürkischen Dialektstudien“ eingefügt. Der Göttinger Andreas protestierte heftig gegen diese Verzeichnungen und die Kontakte der drei endeten. Der Vorfall selbst beschäftigte Politik und Wissenschaft als die sogenannte „Marquart-Affäre“. Schon früh setzte sich Andreas mit Marquart wissenschaftlich kritisch auseinander – „Hoffentlich fasst er solche Meinungsverschiedenheiten nicht persönlich auf“, schrieb er dazu an Bang am 12. Februar 1911.133 Obwohl selbst teilweise armenischer Abstammung, achtete Andreas darauf, dass keine zu weitreichend parteiischen Stellungnahmen zugunsten der Armenier in seinen Publikationen erfolgen sollten. Solche Äußerungen würden in die Zeitung gehören, nicht aber in wissenschaftliche Veröffentlichungen. 134 Andreas war sich der politischen Dimension bewusst und berief sich darauf, dass solche Äußerungen gegen die Türken nach Meinung einiger Mitglieder der Göttinger Akademie der Wissenschaften, diese politisch verstimmen könnten. Es handele sich um „Beleidigungen des Bundesgenosssen“, die da „unter dem Deckmantel wissenschaftliche[r] Forschung“ publiziert würden.135 In seinem Einspruch gegen Marquart aber ging es ihm nicht um eine politische Stellungnahme. Denn in den politischen Fragen wäre er wohlmöglich gar nicht so weit entfernt gewesen von den Urteilen Marquarts. Gewichtiger war für ihn der Vertrauensbruch, da er dem Kollegen gegenüber darauf verzichtet hatte, dessen Beitrag Korrektur zu lesen. 136 Leider ist es im Rahmen dieses Beitrages nicht möglich, noch zu überprüfen, welche Stellung Andreas in dem Streit zwischen Mission und Lepsius bezog. Allerdings ist sein anhaltendes Engagement für die Armenier in Gemeinschaft mit Lepsius auch nach dem Ersten Weltkrieg immerhin ein klares Indiz dafür, dass er der Sache sowohl im Weltkrieg als auch darüber hinaus verbunden blieb. Es muss allerdings noch weiter überprüft werden, ob er auch hier seine politische Stellungnahme, die er im Streit mit Marquart bezogen hatte, wiederholt hat oder nicht. Lepsius zumindest hat auf Andreas als Verbündeten in der Auseinandersetzung mit dem Missionsvorstand gehofft und hatte ihn auch zukünftig als leitenden Repräsentanten der Mission vorgesehen. Aktives Engagement für Armenien und die Armenier war aber auch anderswo schon früh in Göttingen festzustellen. Der Theologieprofessor Rudolf Otto (1869– 1937), später in Marburg lehrend, gehörte neben Friedrich Carl Andreas (1846–1930), zu den Unterzeichnern des Aufrufes zur Gründung der Deutsch-Armenischen Gesellschaft – wie übrigens auch der Göttinger Verleger Gustav Ruprecht (1860–1950).137

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Knüppel/Tongerloo, Gelehrtenrepublik, S. 63. Vgl. Andreas an Bang am 11.2.1915, Knüppel/Tongerloo, Gelehrtenrepublik, S. 105. Vgl. Ibid., S. 106. Vgl. Ibid. Axel Meissner, „Die Gründung der Deutsch-Armenischen Gesellschaft,“ in Deutsch-

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Friedrich Carl Andreas wird sodann den Aufruf als Unterzeichnender eröffnen, der von zweihundert Intellektuellen Deutschlands zur Friedenskonferenz in Lausanne 1923 erschien.138 Nun unterschrieb neben Gustav Ruprecht auch sein Bruder Wilhelm (1858–1943).139 Auffallend ist an dem Aufruf, dass jede Diffamierung der Türken als Verantwortlichen des Genozids unterblieb, wohingegen das Leid der Armenier einem massiv vor Augen gestellt wird. Zugleich sprach der Aufruf von der Versöhnung von Türken und Armeniern und appellierte an das Mitgefühl. 140 Mit seiner Unterschrift blieb Andreas also durchaus seiner Position treu, die er im Kontext der MarquartAffäre bezogen hatte. Er folgte damit auch seinem Interesse an der kulturellen Förderung der Armenier, wie er sie als Unterzeichner des Gründungsaufrufes zur Deutsch-Armenischen Gesellschaft Anfang Juni 1914 ausdrücklich öffentlich unterstützt hatte: „Es gilt, unter beiden Völkern eine bessere Kenntnis der beidseitigen Kultur anzubahnen und zu erhalten.“141 Der Einsatz zur Gründung der DeutschArmenischen Gesellschaft lag zeitlich parallel mit seiner Auseinandersetzung mit Marquardt. Auch dies spricht dafür, die von ihm wiedergegebenen Stimmen aus der Akademie der Wissenschaften in Göttingen nicht einfach in eins zu setzen mit seiner eigenen Position. Zum Auftakt des Aufrufes zur Friedenskonferenz von Lausanne hieß es: „Die von dem armenischen Volk seit so vielen Jahren der Unterdrückung und des Krieges erduldeten Leiden übertreffen heute an Stärke und Furchtbarkeit alles, was sich die menschliche Phantasie nur ausmalen kann.“142 Der Aufruf endet schließlich in einer den Armenophilen minimal erscheinenden Forderung, die aber durch den Anschluss Armeniens an die Sowjets obsolet wurde: „So fordern wir im Rahmen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit und im Interesse eines dauernden Friedens im Orient, daß durch Errichtung einer unabhängigen ‚Nationalen Heimstätte‘ für die Armenier das ihnen gegebene Versprechen eingelöst werde.“143 Die Unterschriftenliste führte dieses Mal vor allem die Namen wichtiger Vertreter der protestantischen Theologie (Rudolf Otto144, Adolf von Harnack, Rudolf

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Armenische Gesellschaft, 1914–2014, 100 Jahre Deutsch-Armenische Gesellschaft. erinnern – gedenken – gestalten, Hg. Deutsch-Armenischen Gesellschaft (Hannover: DeutschArmenischen Ges., 2014), S. 83–124, hier: S. 108. Hermann Goltz, „Der Ararat kam zu Loofs, Dokumente und Reflexionen,“ in Friedrich Loofs in Halle (Arbeiten zur Kirchengeschichte 114), Hg. Jörg Ulrich (Berlin/New York: De Gruyter 2010), S. 185–234 (Text und Liste der Unterschreibenden dort S. 221–232). Vgl. Meissner, Deutsch-Armenischen Gesellschaft, S. 108. Zu den Ruprechts: Franz Menges, „Ruprecht,“ in Neue Deutsche Biographie (NDB) Band 22 (Berlin: Duncker & Humblot, 2005), S. 292–294. Ibid. Goltz, Der Ararat kam zu Loofs, 223. Vgl. Meissner, Deutsch-Armenischen Gesellschaft, S. 107 (zu den abweichenden Unterzeichnerlisten vgl. Meissner, Deutsch-Armenischen Gesellschaft, Anmerkung 80, S. 122); Das Zitat aus dem Aufruf dort S. 105. Hermann Goltz, Der Ararat kam zu Loofs, dort Aufruf und Unterschriftenliste S. 222–232. Ibid. Rudolf Otto war bereits in seiner Zeit als Professor in Göttingen der Deutsch-Armenischen

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Bultmann, Ferdinand Kattenbusch145), aber auch herausragende Namen von Nichttheologen lassen sich unschwer ausmachen: Thomas Mann 146, der Verleger Karl Robert Langewiesche147, der Journalist Maximilian Harden, altbekannte Kämpfer für die Sache der Armenier wie Johannes Lepsius148, Paul Rohrbach149, Martin Rade150, Lehmann-Haupt151 ebenso wie herausragende deutsche Militärs der einstigen deutschen Orienttruppen wie Franz Carl Endres, Freiherr Kress von Kressenstein, Ernst Paraquin, und Christof Schubart als Repräsentant der im Osmanischen Reich unter den deutschen Soldaten tätigen Militärpfarrer. Es unterschrieben neben Andreas auch Orientalisten wie Eduard Sachau (1845–1930), Josef Marquart (1864–1930)152 und Georg Kampffmeyer (1864–1936)153.

4. Hermannsburger Mission Natürlich war auch die grundsätzlich ausschließlich an die Ostsyrer gerichtete Hermannsburger Mission von den Pogromen gegen die Armenier und dem Völkermord betroffen, da das Siedlungsgebiet der Ostsyrer in der Urmia-Region sich mit dem der Armenier dort überlappte.

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Gesellschaft beigetreten, vgl. Meissner, Deutsch-Armenischen Gesellschaft, S. 83–124, Unterschriftenliste der Gründer S. 106–108, Otto dort als Göttinger Theologieprofessor S. 108; zu Otto immer noch grundlegend (neben der neueren, recht umfangreichen Literatur zu ihm): Hans-Walter Schuette, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos (Berlin: De Gruyter, 1969). Auch Geheimrat Kattenbusch, Theologieprofessor in Halle, unterschrieb bereits den Gründungsaufruf der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, vgl. Meissner 2014, DeutschArmenischen Gesellschaft, S. 107; zu ihm zuletzt: Joachim Weinhardt, „Kattenbusch, Ferdinand,“ in Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) Bd. 4 der 4. Aufl. (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), Sp. 905–906. Thomas Manns Unterschrift erscheint nicht in allen Veröffentlichungen des Aufrufes. Vgl. Meissner, Deutsch-Armenischen Gesellschaft, Anmerkung 80, S. 122. Auch Langewiesches Name befindet sich auf dem Aufruf zur Gründung der DeutschArmenischen Gesellschaft. Vgl. Meissner, Deutsch-Armenischen Gesellschaft, S. 107. Lepsius gehörte bereits dem vorbereitenden Komitee zur Gründung der Deutsch-Armenischen Gesellschaft an. Vgl. Ibid., S. 106. Zu Rohrbach als Mitglied des Vorbereitenden Komitees zur Gründung der DeutschArmenischen Gesellschaft vgl. Ibid. Zu Rades Mitgliedschaft im Vorbereitungskomitee zur Gründung der Deutsch-Armenischen Gesellschaft vgl. Ibid. Zu Lehmann-Haupt als Unterzeichner des Gründungsaufrufes zur Deutsch-Armenischen Gesellschaft vgl. Ibid., S. 107–108. Später: Markwart, bis 1922 schrieb er sich Marquart, als Mitbegründer und Mitarbeiter im vorbereitenden Komitee zur Gründung der Deutsch-Armenischen Gesellschaft vgl. Ibid., S. 106. Gotthard Jäschke, „Georg Kampffmeyer“, in Neue Deutsche Biographie (NDB) Band 11 (Berlin: Duncker & Humblot, 1977), S. 91.

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Für Hermannsburg nun kooperierte Karl Röbbelen mit Axenfeld und der Orientund Islamkommission. Auch veröffentlichte er deren zurückhaltenden Aufruf, der jede politische Stellungnahme vermied und auch vom informativen Gehalt her dokumentiert, wie sehr sich die Vertreter der Orientwerke politisch von der Reichsregierung gängeln ließen. Die Hermannsburger Kontakte zu Armeniern gehen auf die Hermannsburger Mission des Eduard Freiherrn von Schlotheim in Georgien im Jahr 1869 zurück, der eng mit Armeniern kooperierte und zeitweilig in Armenien zum Einsatz zu kommen schien. Missionsdirektor Theodor Harms artikulierte den Hermannsburger Wunsch, in Armenien Fuß zu fassen so: „Wenn nun dort auch erst ein Hermannsburg ist am Fuße des Ararat, wie schön wäre das!“ 154 Doch trafen sich Armenier und die Hermannsburger erst im Kontext von deren Evangelisationsarbeit unter Ostsyrern im iranischen Asderbaidschan wieder, die von Anfang an auch die Armenier im Blick hatte.155 Im Hermannsburger Missionsblatt wurde in der Folge auch zur Geschichte der Armenier informiert.156 Hermannsburger Mitarbeiter halfen bei der Linderung der armenischen Flüchtlingsnot und warben Spenden dafür ein. 157 1896 erschien ein Aufruf zur Fürbitte für die „armen Armenier“.158 Von einem Hermannsburger Mitarbeiter heißt es: „Er habe ausgeteilt, was er mitgebracht habe; aber das habe bei weitem nicht ausgereicht unter so viele“. 159 So half die Mission: „wir glaubten um des Herrn willen dieselben (Unterstützungen) nicht versagen zu dürfen“.160 „Ihr Zustand ist bitter, ohne Wohnung, ohne Kleider, ohne Brot, sitzen mitten in der Straße, schreien nach Hülfe“.161 Erneut wurde zu Spenden aufgerufen162 und im selben Jahr wurde die Bitte wiederholt mit dem Hinweis, Gaben für die armenischen Flüchtlinge „in reicherem Maße wie bisher zuzuwenden.“ 163 Die Massaker wurden in Hermannsburg ausschließlich religiös gedeutet. Die „schrecklichen armenischen Metzeleien“ hätten den „Christen des Orients gezeigt, wozu mohammedanischer Fanatismus noch heute fähig“ sei.164 Auch Missionsdirektor Haccius

154 Hermannsburger Missionsblatt 1868, S. 131. 155 Der Brief des Pera Johannes vom 20. Juni 1882 wird hier zitiert nach Georg Haccius, Hannoversche Missionsgeschichte Bd. III,1 (Hermannsburg: Missionsbuchhandlung, 1914), S. 412–422, das Zitat findet sich auf S. 419. 156 Etwa die Abhandlung „Die Armenier“in Hermannsburger Missionsblatt 1897, S. 2–4, die zur armenischen Kirchengeschichte informierte. 157 Der beiläufige Hinweis bei Haccius dazu entspricht kaum der tatsächlichen Belastung der Arbeit durch die Versorgung der Flüchtlinge, vgl. Georg Haccius, Missionsgeschichte III, 2. Teilband (Hermannsburg: Missionsbuchhandlung, 1920), S. 372. 158 Beihefte zum Hermannsburger Missionsblatt 4, Hermannsburg 1896, S. 68. 159 Hermannsburger Missionsblatt 1898, S. 32. 160 Ibid., S. 132. 161 Hermannsburger Missionsblatt 1899, S. 99. 162 Ibid.; Die Armenier flohen angesichts der Armenierpogrome auf türkischem Boden, die in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts ihren ersten Höhepunkt erlebt hatten. 163 Ibid., S. 170. 164 Karl Röbbelen, „Die asiatische Welt und die lutherische Kirche,“ Kleine Hermannsburger

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sah das so: „Wie waren wir mit Recht so zornentbrannt über ihren Mord und Greuel unter den Armeniern! Das dürfen wir nicht vergessen; denn es ist gerichtet gegen das Christentum“.165 Eindringlich warnte er vor den Folgen des „Heiligen Krieges“. 166 Ausdrücklich wurden Berichte richtig gestellt, die in zeitgenössischen Darstellungen vom „Ränkespiel“ der „Armenier in der Gegend von Zeitun und Wan“ berichteten.167 Sowohl der Vorsitzende des Vereins für lutherische Mission in Persien, einer Tochterinstitution der Hermannsburger Mission, Karl Röbbelen, als auch der Direktor der Hermannsburger Muttergesellschaft, Georg Haccius, unterzeichneten dennoch die Eingaben der Orient- und Islamkommission an den Reichskanzler und die Pressemitteilungen, obwohl sie sehr wohl wussten, wie sehr die hinter dem Erforderlichen zurückblieben.168 Der von der Kommission publizierte Aufruf sollte nach Axenfelds Anschauung auf die kirchliche Presse beschränkt bleiben. „Dagegen, daß Sie den Aufruf auch in christliche Sonntagsblätter bringen, habe ich keine Bedenken, aber von einer Übersendung an die Tagespresse würde ich absehen. Je mehr wir uns auf unsere religiösen Blätter beschränken, desto deutlicher wird der gänzlich unpolitische Charakter unseres nur vom christlichen Erbarmen veranlaßten Unternehmens“.169 Beim Abdruck des Danks für Spenden infolge eines dringlichen Aufrufes zur Hilfe wurden die Spender aber zugleich darum gebeten, sich „nicht irremachen“ zu lassen „durch wahrheitswidrige Schilderungen, die gelegentlich durch die Tagespresse laufen und den Eindruck erwecken, als sei die Bitte um Hilfe und Hilfeleistung selbst

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Missionsschriften 45 (1906): S. 16; Vgl. auch Hermannsburger Missionsblatt 1891, S. 231: „Es ist begreiflich, daß die persischen Christen, die in steter Furcht vor dem Fanatismus der Mohammedaner leben, ihre Hoffnung auf den Schutz der christlichen Mächte setzen – namentlich seit den armenischen Metzeleien“. Ähnlich argumentierte er unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Berichte Paul Rohrbachs im „Christlichen Orient“ angesichts der erneuten Armeniermassaker 1909 in Adana, Hermannsburger Missionsblatt 1909, S. 396f: „‚Hüter ist die Nacht schier hin?‘ möchte man ausrufen“, meinte Röbbelen, Hermannsburger Missionsblatt 1909, S. 396. Hermannsburger Missionsblatt 1914, S. 357. Hermannsburger Missionsblatt 1915, S. 195–196. Hermannsburger Missionsblatt 1916, S. 179. Auf eine Auflistung der umfangreichen Archivalien in Hermannsburg hierzu wird in diesem Beitrag verzichtet. Sie sind dieselben, die bei der Deutschen Orient-Mission, dem Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient, der Christoffel-Blindenmission, der Berliner Mission etc. zu finden sind. Erste Orientierung bietet: Martin Tamcke, „Karl Röbbelen: Zivilcourage für den fernen Nächsten. Von einer frühen Beziehung des Missionsseminars zu den gefährdeten Völkern des Ostens,“ in Jahrbuch 1994 des Evangelisch-Lutherischen Missionswerkes Niedersachsen (Hermannsburg: Selbstverlag, 1994), S. 93–97. Eine herausragende Eingabe beim Reichskanzler ist die vom 15. Oktober 1915, vgl. Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien 1914–1918 (Potsdam: 1919 (Nachdruck Bremen: DonatVerlag, 1986)), S. 183–189. Brief von Dr. Axenfeld für die Orient- und Islam-Kommission des Deutschen Evangelischen Missions-Ausschusses am 2. Juni 1916 an Karl Röbbelen, Archiv des ELM in Hermannsburg, Akte Armenien.

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nicht berechtigt, weil die Betroffenen ihrer nicht wert seien. Wir können zu dieser Frage jetzt nicht öffentlich reden, sind aber dessen ganz gewiß, daß ein Tag kommen wird, an dem es manchem, der uns heute nicht versteht, lieb sein wird, daß es in dieser Zeit deutsche Christen gab, die, ohne nach Schuld und Würdigkeit zu fragen, sich nicht haben abhalten lassen, Samariterdienst zu tun.“170 1920 wirkte der Missionar Georg Bachimont dann mit seiner Frau nebenher als Schulsuperintendent in Jerevan für den Near East Relief.171 Im Spätsommer fragte Bachimont bei Röbbelen und über ihn bei Lepsius an, ob deutsche Universitäten nicht eine „Medizinalsammlung“ für die zu gründende Universität in Jerevan stiften und für armenische Studierende zwecks Studiums in Deutschland nicht Erleichterungen gewährt werden könnten.172 Am 6. Januar 1921 reisten die Bachimonts gen Iran ab und wurden unterwegs Zeugen der unbeschreiblichen Not der Armenier. Die Mission arbeitete fortan mit armenischen Mitarbeitern in Mahabad. Auch nach der Ermordung Bachimonts durch plündernde Kurden im Kontext des Aufstandes um Simko blieben die Armenier unter dem Hermannsburger Missionsarzt Dr. Schalk die Hauptansprechpartner. 173 Das Waisenhaus der Mission beherbergte armenische Waisen, die Jungenschule armenische Jungen und die Mädchenschule armenische Mädchen. Die Zahlen der erreichten Armenier aber war nur klein: als die Mädchenschule 1925 eröffnet wurde, wurde sie von vier armenischen und einem kurdischen Mädchen besucht – den Unterricht erteilte

170 Hermannsburger Missionsblatt 1916, S. 12f, Zitat: S. 13. Den Abdruck dieses Dankes an die Missionsgemeinde hatte Haccius veranlasst und Röbbelen nur entsprechend informiert (s. Haccius Randnotizen hierzu im Archiv des ELM in Hermannsburg, Akte Armenien). 171 Zur Ankunft in Jerevan: Nachrichten aus der lutherischen Mission in Persien 7, Nr. 3 / 4 (20. September 1920), Hermannsburg, S. 5; Nachrichten aus der lutherischen Mission in Persien 8, Nr. 1 (1. Februar 1921), Hermannsburg, S. 2; Nachrichten aus der lutherischen Mission in Persien 8, Nr. 1 (1. Februar 1921), Hermannsburg, S. 3. Zum Einsatz insgesamt: Martin Tamcke, „Als Schulsuperintendent in Eriwan. Georg Bachimont (1878-1921),“ Pro Georgia, Journal of Kartvelological Studies 18 (2009): S. 137-154; Martin Tamcke, „Georg Hippolyt Bachimont (1878-1921) in Armenien 1920-21,“ in Ecce Verum - Ecce Lingua, Perspektiven der Wahrheitsbewältigung durch die Sprache von Erinnerung und Versöhnung, Fürbitte und Utopie, Festschrift für Eduard Saroyan (Strukturen der Wirklichkeit 11), Hg. Friedrich Erich Dobberahn und Dieter Friredrichs (Wambach: Via Verbis, 2015), S. 143-161; Martin Tamcke, „Den eigenen Körper erfahren. Ein sehr vorläufiger Versuch, Anna Bachimonts Erfahrung als Opfer körperlicher Gewalt in das Spektrum der Körpergeschichtsforschung einzuzeichnen,“ in „Die Mission ist weiblich“, Frauen in der frühen Hermannsburger Mission (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission und des Ev.-luth. Missionswerkes in Niedersachsen XXI), Hg. Jobst Reller (Berlin: LIT-Verlag, 2012), S. 87-102. 172 Brief Karl Röbbelens an Johannes Lepsius vom 29. November 1920. Die Mikrofiche-Edition in Hermann Goltz und Axel Meissner, Mikrofiche-Edition Teil 2, NC 2129; verzeichnet bei Goltz/Meissner, Katalog, S. 243. 173 Jahresbericht 1925 von Dr. Schalk im Archiv des ELM in Hermannsburg, Akte Schalk, S. 13. Schalk begann seine Arbeit am 9. Oktober 1923 in Täbris, ab 12. Januar 1924 in Sautschbulaq, zu der ihn betreffenden Phase der Hermannsburger Kurdenmission vgl. Tamcke, Kurdenmission, S. 257–260.

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Martin Tamcke

eine angehende armenische Krankenpflegerin.174 Die Zahl der armenischen Mitarbeiter überwog die der kurdischen und symbolträchtig öffnete die Mädchenschule von vornherein – „aus Platzmangel“, wie es offiziell hieß – in einem Privathaus im armenischen Viertel der Stadt seinen Betrieb und zog armenische Kinder der gesamten Umgebung an.175 Mit dem Abzug aus dem Orient endete freilich auch das Hermannsburger Engagement für die Armenier und mit dem Ende der Hermannsburger Arbeit im Iran 1940/41 gerieten auch die Armenier endgültig aus dem Blick des niedersächsischen Missionswerkes.

5. Schluss Dieser Versuch zur Erfassung dessen, was die Universität Göttingen und ihr Umfeld in ihrem Verhalten zum Völkermord an den Armeniern kennzeichnete, bleibt ein erster Torso. Erst die bei verstärkter Recherche zukünftig zu leistenden Arbeiten werden ihn noch um zahlreiche neue Aspekte, Akteure und Texte zu ergänzen wissen. Besonders die Arbeit des Hannoverschen Hilfskomitees wäre einer weiteren Untersuchung wert. Aber auch die Person von Karl Friedrich Andreas verspricht reichhaltig Material nicht nur zum Geschehen, sondern auch zum Leben eines der führenden Armeniers in Deutschland. Zudem wäre interessant, die Hintergründe zu den Unterschriften von Rudolf Otto und Carl Mirbt ebenso zu erforschen wie die der Brüder Ruprecht. Schließlich eröffnet die Hermannsburger Mission besonders deutlich den Blick auf den Sayfo, den gleichzeitig sich vollziehenden Völkermord an den Syrern (West- und Ostsyrer, Assyrer, Aramäer, Chaldäer, Syrianer) und das Beziehungsgeflecht zwischen Armeniern und Syrern in dieser Zeit. Auf diese künftig noch zu schließenden Defizite wollte dieser Beitrag aufmerksam machen und zugleich zeigen, was wohl alles noch zu entdecken wäre, wenn zu dem Geschehen auch in den verschiedenen regionalgeschichtlichen Kontexten geforscht würde. Da könnte man dann auch die Presse zur Gegenprobe nutzen und schauen, wie weit turkophile Kommentatoren womöglich konkret zum Geschehen Stellung nahmen und die konträren Berichterstattungen zueinander zu stehen kamen. Bei Andreas finden sich beispielsweise Hinweise auf deutlich turkophile Stellungnahmen von Göttinger Professoren in der Akademie der Wissenschaften. Hier könnte angesetzt werden, um zu sehen, wer hier wie, wo und wann deutlich sich gegen ein Engagement für die Armenier an der Universität verwandte. Am Schluss dieses Beitrages steht also die Feststellung, dass es noch viel zu tun gäbe. Daher ist es ein wenig bedauerlich, dass die Erschließung solch neuer Quellen momentan kaum noch geschieht und stattdessen weithin am einmal schon fast kanonisch gewordenen Quellenbestand festgehalten

174 Jahresbericht 1925 von Dr. Schalk im Archiv des ELM in Hermannsburg, Akte Schalk, S. 13– 14. 175 Ibid.

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wird, wobei sich lediglich Sichtweisen gegenseitig zu rechtfertigen suchen. So hat auch die Georg-August-Universität Göttingen ihre Geschichte mit dem Völkermord an den Armeniern und deren Erschließung könnte sogar Überraschendes bieten für die Darstellungen zum Gesamtgeschehen.

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Die Orient- und Islamkommission und die Armenier Volker Metzler

Eine Kommission, durch welche „die deutsche Christenheit ihrer Liebespflicht gegen ein um seine Existenz ringendes, altchristliches Volk nachkommen und dadurch alle die gehässigen Anklagen von seiten unserer Gegner […] wiederlegen kann.“ Die OIK und die „Armenische Frage“ 1916–1918. Der Titel des Beitrags ist einem Zitat von Paul Otto Hennig entnommen, dem Herrnhuter Bischof und Vorsitzenden des Deutschen Evangelischen Missionsausschusses (DEMA), der während der Ausschusssitzung im Leipziger Missionshaus vom 12./13. Juni 1918 über die Arbeit der sogenannten Orient- und Islamkommission (OIK) Folgendes aussagte: „Wenn erst die Geheimakten über die stille Arbeit derselben der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können, wird es viele Christen Deutschlands mit herzlicher Freude erfüllen, daß in dieser Kommission des Ausschusses ein Organ entstanden ist, durch welches die deutsche Christenheit ihrer Liebespflicht gegen ein um seine Existenz ringendes, altchristliches Volk nachkommen und dadurch alle die gehässigen Anklagen von seiten unserer Gegner, – als ob unser deutsches Volk über der Verbindung mit der Vormacht des Islam seine Christenpflichten vergessen habe, – wiederlegen [sic!] kann.“1 Hennig skizzierte die Rolle der Orient- und Islamkommission, also des institutionalisierten Zusammenschlusses aller evangelischen Orientmissionswerke in Deutschland, somit in doppelter Weise: Einerseits sollte sie zur Zeit des Ersten Weltkriegs der „Liebespflicht“ der deutschen evangelischen Christen dienen, die darin bestand, einem „altchristlichen Volk“ beizustehen – wobei Hennig auf die dringende Hilfe für die notleidenden Armenier in der Türkei abhob. Doch andererseits sollte jedwedes Engagement der OIK im Rahmen der „Armenischen Frage“ auch dezidiert politischen Zwecken dienen, nämlich um der „gehässigen Anklagen“ zu wehren, folglich um der Kritik aus dem Ausland entgegenzutreten, man würde dem deutschen

1 U.A. (Unitätsarchiv der Evangelischen Brüder-Unität, Herrnhut)/MD 461, Hennig an DEMAMitgliedsgesellschaften, 4. Juli 1918. Referenzen zu verwandtem Quellenmaterial werden fortlaufend nach dem Schema „Name des Archivs/Signatur der Akte, Verfasser an Adressat, Datum“ geboten.

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Kriegsbündnis mit der Türkei die Solidarität mit den dortigen armenisch-christlichen Glaubensgenossen opfern. Wenn man allerdings das Wirken dieser Orient- und Islamkommission in ihrem Beziehungsnetzwerk von Mission und Staat kritisch ausleuchtet und systematisch gewichtet, so ist festzuhalten, dass die OIK unter ihrem Vorsitzenden Karl Theodor Axenfeld die „Armenische Frage“ sehr viel weniger im Sinne einer diakonisch-solidarischen „Liebespflicht“ bearbeitet hat. Vielmehr vertrat sie die militärischpolitischen Interessen des deutschen Vaterlandes derart, dass jedwede Hilfe für Armenier sich zuallererst daran zu orientieren hatte, ob sie dem Interesse der deutschen Staatsführung entsprach oder nicht. Oder zugespitzt formuliert: Der primäre Referenzrahmen des Engagements der OIK-Leitung für dieses „um seine Existenz ringend[e], altchristlich[e] Volk“ war nicht dessen Not, sondern das Wohl der Interessenslage der deutschen Staatsmacht und deren Kriegsziele. Um dies im Rahmen dieses Beitrages in der gebotenen Kürze2 zu veranschaulichen, bedarf es dreier Schritte: 1. Zunächst soll eine Skizze der Entstehung der OIK deren Vernetzung im deutschen Missionsleben grob anreißen. 2. Daraufhin folgt eine kritische Analyse der Arbeitsfelder der OIK, auf welchen sie sich für die Sache der Armenier einzusetzen versucht hat: Dies war zum einen die publizistische Ebene mittels Veröffentlichungen zur Not der Armenier und zum anderen die finanzielle Ebene, indem man eine gemeinsame Spendensammlung für die Bedürftigen in die Wege leitete – gleichfalls ein eher typisches Aktionsfeld für eine Dachorganisation von evangelischen Orientmissionswerken. Allerdings agierte man im Frühjahr/Sommer 1918 in Berlin auch auf höchster politischdiplomatischer Ebene, wobei der dortige Status der OIK-Leitung als offizieller Verhandlungspartner von armenischen Regierungsdelegationen für eine evangelische Missionsdachorganisation sicherlich ungewöhnlich und doch zugleich symptomatisch für deren große Staatsnähe war. 3. Die Darstellung endet mit Ausführungen zum Plan der Veröffentlichung einer mit dem Auswärtigen Amt in Berlin eng abgestimmten apologetischen „Broschüre“ durch die OIK-Leitung, die kurz nach Kriegsende unter die „Armenische Frage“ schließlich einen regierungsfreundlichen Schlussstrich hätte ziehen sollen.

2 Die folgende Darstellung, die in modifizierter Form zudem in den Loccumer Protokollen erscheint, enthält zusammengestellte Auszüge meiner im Druck befindlichen Dissertation „Mission und Macht. Das Wirken der Orient- und Islamkommission des Deutschen Evangelischen Missionsausschusses 1916-1933“.

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Doch zunächst zur Gründung und Vernetzung der OIK im Raum von Mission und Staat: Ein wesentlicher Impuls dazu war in der Reise von Johannes Lepsius3 begründet, die er im Juli 1915 nach Istanbul unternommen hatte und im Zuge derer er sich ein Bild von der Not der Armenier hatte verschaffen können. Kaum nach Deutschland wieder zurückgekehrt, setzte er sich sodann mit August Wilhelm Schreiber, dem Direktor der Deutschen Evangelischen Missionshilfe (DEMH), in Verbindung, um eine vertrauliche Besprechung aller Orientmissionswerke einzuberufen. Bei der DEMH handelte es sich um eine Art „fund-raising“-Agentur für die Sache der deutschen evangelischen Mission, welche Ende 1913 unter dem Patronat des Kaisers gegründet worden war, um unter wohlhabenden Bevölkerungskreisen die Beteiligung an der Mission zu fördern.4 Schreiber lud des Weiteren zu einer vertraulichen „Orient-Konferenz“ am 9. Oktober 1915 nach Berlin ein. Dort erstellte ein Ausschuss aus J. Lepsius und den drei späteren maßgeblichen Leitungsfunktionären der OIK, Karl Theodor Axenfeld, Julius Richter und A.W. Schreiber, eine proarmenische Petition an Reichskanzler Bethmann Hollweg.5 Abgesehen von dieser Petition6 machte dieser Ausschuss jedoch mit keinen weiteren Aktivitäten mehr von sich

3 Eine knappe Einführung in die Vita der einflussreichen Persönlichkeit von Johannes Lepsius (1858–1926) bietet Andreas Baumann, in Die Wiedergeburt des Orients. Texte zur Mission (Evangelium und Islam 7), Hg. Johannes Lepsius/Andreas Baumann (Nürnberg: VTR Verlag für Theologie & Religionswissenschaften, 2007), S. 9–18. 4 Vgl. Horst Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehungen während der deutschen Kolonialzeit (1884–1914) unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas (Paderborn: Schöningh-Verlag, 1982), S. 110. Der Kaiser durfte ein Mitglied des 16-köpfigen Vorstandes bestimmen, der vom DEMHVerwaltungsrat gewählt wurde. Die jährlichen Sitzungen des Verwaltungsrates tagten bis 1918 unter Anwesenheit eines Mitgliedes der kaiserlichen Familie im großen Sitzungssaal des Preußischen Herrenhauses in Berlin, vgl. Werner Müller-Bay, Die Deutsche Evangelische Missionshilfe. Entstehung und Geschichte (unveröffentlichte Seminararbeit, Uni Hamburg: 1968), S. 14, 20; 1971 wurde die DEMH als Stiftung erneuert und trat dem Evangelischen Missionswerk bei. Bis heute besteht ein Vorstand und ein Kuratorium weiter, vgl. Rainer Hering, "Missionshilfe, Deutsche Evangelische", in Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) Bd. 5 der 4. Aufl. (Tübingen: Mohr Siebeck, 2002), Sp. 1313. Zu Ursprung, Gründung und inhaltlicher Ausrichtung der DEMH vgl. ferner A.W. Schreiber, „Die Deutsche Evangelische MissionsHilfe,“ EMM 58/8 (1914): S. 351–357. 5 Vgl. U.A/A..J.H. 18, (Eingabe an den Reichskanzler), 15. Oktober 1915. Diese Petition ist auch zu finden bei Johannes Lepsius, Hg., Deutschland und Armenien 1914–1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke (Potsdam: 1919 (Nachdruck Bremen: Donat-Verlag, 1986)), S. 183– 189. Axel Meißner gibt ebenfalls deren Kernstücke wieder, vgl. ders., Martin Rades „Christliche Welt" und Armenien. Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus (Berlin: LIT Verlag, 2010), S. 225. 6 Sie umfasste sechs abschließende Forderungen: Zum einen sollte weiteren Deportationen von Armeniern in bisher nicht betroffenen türkischen Städten und Distrikten wie Konstantinopel, Adana oder Smyrna „ein Riegel vorgeschoben“ werden. Zum anderen sollten den bereits deportierten hunderttausenden Frauen und Kindern wirksame Hilfsmaßnahmen zukommen, sowie weitere Übergriffe an den noch übrigen Armeniern verhindert werden. Bei Friedenschluss

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reden. Stattdessen vermeldete Schreiber knapp vier Monate später, dass dieses Gremium seine Tätigkeit als beendet ansehe, da nun die Bildung einer neuen Kommission im Gange sei.7 Und tatsächlich hatte im Januar 1916 der Deutsche Evangelische Missionsausschuss (DEMA) um besagten Vorsitzenden P. O. Hennig in Berlin beschlossen, die OIK als einen festeren Zusammenschluss von deutschen evangelischen Orientmissionsgesellschaften unter dem Vorsitz von Axenfeld zu bilden. Somit war nun als treibende Kraft an Stelle der DEMH der DEMA getreten, der damalig zentrale Interessensverband deutscher evangelischer Missionswerke, der 1916 19 Mitgliedsgesellschaften umfasste.8 Die Motivation des DEMA, weshalb man sich nun dazu entschlossen hatte, einen Unterausschuss für Orientwerke zu bilden, illustrierte daraufhin ein Rundschreiben. Dort begründete man diese Initiative damit, um „eine einheitliche Stellung der beteiligten deutschen Missionskreise nicht nur zur Armenierfrage, sondern auch für die Aufgabe Deutschlands im Morgenlande und gegenüber der ganzen Welt des Islams herbei zu führen.“9 Somit bleibt demnach festzuhalten, dass eine Spezialkommission entstanden war, mit deren Hilfe der Missionsausschuss in Fühlungnahme mit von ihm bisher nicht erreichten Orientmissionen treten wollte. Ziel war dabei die Herbeiführung einer „einheitlichen Stellung“ der Missionsgesellschaften, also eines regierungsfreundlichen Handelns derselben – bei der „Aufgabe Deutschlands im Morgenlande“ im Allgemeinen und bei der „Armenierfrage“ im Speziellen. Tatsächlich traten sodann am

möge schließlich den Zwangsislamisierten ihre Rückkehr zum christlichen Glauben, den christlichen Minderheiten in der Türkei ihre Rechte und der christlichen Liebes- und Kulturarbeit generell ihre Fortführung verbürgt werden. A.W. Schreiber teilte sodann in einem Rundschreiben vom 20. November 1915 an die Unterzeichner der Petition die an ihn gerichtete Erklärung des Reichskanzler vom 12. November 1915 mit, wonach es die kaiserliche Regierung auch weiterhin als eine ihrer vornehmsten Pflichten ansähe, dass christliche Völker nicht um ihres Glaubens willen verfolgt würden und der Reichskanzler alles in seiner Macht stehende tun werde, um den von den Unterzeichnern vorgetragene Sorgen und Wünschen Rechnung zu tragen; vgl. U.A./A.J.H. 18, Schreiber an Unterzeichner, 20. November 1915; Meißner, Martin Rade, S. 226f. 7 Vgl. U.A./A.J.H. 18, Schreiber an Unterzeichner der Eingabe, 7. Februar 1915. 8 Der DEMA war bereits 1885/86 gegründet worden, da die deutsche evangelische Mission eine gemeinsame Vertretung vor staatlichen Instanzen benötigt hatte, vgl. William Richey Hogg, Mission und Ökumene. Geschichte des Internationalen Missionsrats und seiner Vorläufer im 19. Jahrhundert (Stuttgart: Missionsverlag, 1954), S. 88. Als man den Deutschen Evangelischen Missionsbund (DEMB) am 11. Oktober 1922 als erweiterten Interessensverband gegründete hatte, agierte der DEMA fortan als dessen Vorstand und Exekutivorgan, vgl. Ar.EMW (Archiv des Evangelischen Missionswerks in Deutschland, Hamburg)/DEMA/DEMR 1/0718, (vertraulicher Entwurf der Vertreterversammlung), 11. Oktober 1922. Schließlich kam es bei den Tagungen des DEMA und des DEMB am 17. Oktober 1933 bzw. vom 18. bis 20.Oktober 1933 in Barmen zur Transformation dieser beiden Gremien in den Deutschen Evangelischen Missionsrat (DEMR) und Deutschen Evangelischen Missionstag (DEMT) auf Grund des Drucks der Deutschen Christen, vgl. Gunther Schendel, Die Missionsanstalt Hermannsburg und der Nationalsozialismus. Der Weg einer lutherischen Milieuinstitution zwischen Weimarer Republik und Nachkriegszeit (Berlin/Münster: LIT Verlag, 2008), S. 210. 9 Ar.EMW/DEMA/DEMR 1/0318, Hennig/Schreiber an DEMA-Mitglieder, 19./20. Januar 1916.

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23. Juni 1916 in Berlin10 alle 13 deutschen evangelischen Orientmissionsgesellschaften der OIK bei, welche zudem einen achtköpfigen OIK-Arbeitsausschuss bildeten.11 Nur J. Lepsius hatte sich mit Axenfeld bis dato überworfen und war aus der OIK wieder ausgetreten. 12 Doch erwies sich dieser Verband von Orientmissionswerken als durchaus inhomogen. Nicht nur, was die disparate Missionspraxis und Theologie der Werke anbelangte, sondern auch hinsichtlich des Problems der „Armenischen Frage“.

10 Vgl., U.A./A.J.H. 18, (streng vertrauliche Mitschrift zu den Verhandlungen vom 23. Juni 1916), o.D. Meißner, Christliche Welt, 235–238 gibt ebenfalls die Grundzüge des Konferenzverlaufs wieder und nennt dort für die Konferenztagung den 23. Juli 1916, was jedoch nicht zutrifft. 11 Es handelte sich hierbei um folgende Werke: 1. DAG, Marburg; 2. Deutsche Orientmission, Potsdam; 3. Deutscher Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient, Frankfurt/M.; 4. Deutsches Blindenheim in Malatia, Berlin-Friedenau; 5. Direktion der evangelischen Brüderunität, Verwaltungsausschusses des Aussätzigen-Asyls „Jesushilfe“ in Jerusalem, Herrnhut; 6. Direktion der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, Kaiserswerth; 7. Evangelischer Karmelverein, Klein Welka; 8. Evangelisch-Lutherische Mission in Persien, Hermannsburg; 9. Jerusalemsverein, Wustrau; 10. Kuratorium des Syrischen Waisenhauses, Köln; 11. Nestorianisches Hilfswerk, Lerbeck; 12. Notwendiges Liebeswerk, Marburg; 13. Sudan-PionierMission, Wiesbaden. Der Arbeitsausschuss umfasste folgende Personen: 1. D. Karl Axenfeld, Direktor der Berliner Missionsgesellschaft, Mitglied des DEMA, Vorsitzender; 2. Pastor A.W. Schreiber, Direktor der DEMH, Schriftführer; 3. Bischof Paul O. Hennig, Missionsdirektor, Vorsitzender des DEMA, Herrnhut; 4. Prof. D. Julius Richter, Mitglied des DEMA, Berlin; 5. Pastor D. Ludwig Schneller, Vorsitzender des Kuratoriums des Syrischen Waisenhauses, Köln; 6. Direktor Friedrich Schuchardt, Stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Hilfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient, Frankfurt/M.; 7. Pastor Johannes Stursberg, Vorsteher der Diakonissenanstalt Kaiserswerth; 8. Pastor Max Ulich, Schriftführer des Jerusalemsvereins, Wustrau. Eine undatierte Liste, die diese Mitgliederverzeichnisse bietet, ist zu finden bei Roland Löffler, "Kritik am türkischen Armenier-Völkermord und Sicherung der eigenen Institutionen. Zur Arbeit der »Orient- und Islam-Kommission« des Deutschen Evangelischen Missionsausschusses während des Ersten Weltkrieges," Zeitschrift für Missionswissenschaften (ZMiss) 4 (2005): S. 332–351: S. 349–351. Allerdings sollte sich der Arbeitsausschuss auf Drängen der SudanPionier-Mission noch um dessen Missionsinspektor Johannes Held erweitern und damit 1916/1917 auf neun Personen vergrößern, vgl. EZA (Evangelisches Zentralarchiv, Berlin)/BMW 1/1977, Axenfeld/Schreiber (Jahresbericht OIK 1916), 26. Februar 1917. 12 J. Lepsius gab seinen Rücktritt aus dem Arbeitsausschuss der OIK am 6. Juli 1916 bekannt, also kurz bevor er für längere Zeit am 15. Juli in die Niederlande aufbrechen sollte, vgl. LAH 7129, Lepsius an Axenfeld, 6. April 1916 (vgl. Hermann Goltz/Axel Meißner, Hg., Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1926. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. JohannesLepsius-Archiv an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hg. von Hermann Goltz Teil 1, Katalog (München: K.G.Saur-Verlag, 1998); Teil 2, Mikrofiche-Edition mit Begleitband (München: K.G.Saur-Verlag, 1999). Ein wesentlicher organisationspolitischer Grund für den Austritt von Lepsius war die von Axenfeld zentral betriebene OIK-Spendensammlung der „Armenierhilfe“ gewesen, die weiter unten skizziert wird. Eine ausführlichere Darstellung des Streits von Lepsius und Axenfeld, der sich zunehmend in einen unverhohlenen Antagonismus der beiden Missionsfunktionäre steigerte, wird meine Dissertation bieten.

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Einerseits empfanden nämlich manche Mitglieder dieses Thema als zu heikel und wollten es aus der Arbeitstätigkeit der Kommission gänzlich ausgeklammert sehen. 13 Andererseits hatte die sich verschärfende Lage der Armenier zusehends zu einem organisationsübergreifenden Handeln der Kommission auf publizistischer, finanzieller und diplomatischer Ebene gedrängt, was allerdings der OIK-Vorsitzende K.T. Axenfeld in betont regierungsfreundliche Bahnen zu lenken wusste, wie nun zu sehen sein wird. Zunächst zum Engagement der OIK auf publizistischer Ebene: Axenfeld hatte sich Anfang September 1916 verstärkt in dieses Arbeitsfeld eingeschaltet, was daraufhin wahrnehmbaren Folgen für die Pressepolitik der angeschlossenen Orientmissionen nach sich zog. Stein des Anstoßes war ein Artikel der staatlich-türkischen Nachrichtenagentur Milli vom 6. September 1916 mit dem Titel „Aufklärung über die angeblichen armenischen Aufstände“ gewesen, der seinen Weg in die staatsnahe Norddeutsche Allgemeine Zeitung (NAZg) vom 8./9. September 1916 gefunden hatte. Dies sorgte bei Axenfeld für Empörung, da dort die Türkei als „unschuldiges Lamm“ und die armenische Bevölkerung dagegen als „reißender Wolf“ präsentiert würden.14 Daher wandte sich Axenfeld in einem Rundbrief an die OIK-Missionswerke und stellte dort gegen Ende folgende rhetorische Frage: „Es fragt sich doch, ob wir diese dreiste Fälschung der öffentlichen Meinung ruhig hinnehmen sollen und dürfen oder ob wir nicht wenigstens an die zuständige Stelle eine energische Eingabe richten müssen […]. Dass wir mit

13 So machte etwa Max Ulich vom Jerusalemsverein gegenüber Schreiber keinen Hehl aus seinem Unbehagen, insbesondere nachdem der englische Premierminister Herbert Asquith während seiner Guildhall-Rede im Herbst 1916 die deutschen Seite der Untätigkeit beschuldigt hatte, der „germanisierten“ Türkei als ihres Vasallen dem Morden an den Armeniern nicht Einhalt geboten zu haben: „Selbstverständlich hatte ich die Ausführungen dieses Erzlügners bereits in anderen Zeitungen gelesen […]. Ich bitte Dich herzlich, uns als Mitglied der Orient- und Islamkommission davor zu bewahren, daß wir etwa unter Bezugnahme auf dieses britische Urteil erneut die Armenierfrage behandeln sollen.“, EZA/BMW 1/1982, Ulich an Schreiber, 14. November 1916. Den Hintergrund dazu bildete ein Artikel der NAZg Nr. 313, 11. November 1916 (EZA/BMW 1/1982), wo Asquith, wie folgt, zitiert wird: „Aber Deutschland, das als Herr der Türkei mit einem Wink diesem organisierten Feldzug von Vergewaltigung und Metzelei gegen ein christliches Volk hätte Einhalt tun und […] ihn verhindern können, Deutschland hat unbewegt und ergeben und […] vielleicht beifällig zugeschaut. Dies ist ein Beispiel […] für die wahre Bedeutung einer germanisierten Türkei.“ Eine organisationspolitische Folge der Umstrittenheit der „Armenischen Frage“ im Raum der OIK war die Konsequenz, dass man einen eigenen „Armenierausschuss“ bildete, dem von Seiten der OIK K.T. Axenfeld, J. Richter, A.W. Schreiber und Friedrich Schuchardt angehörten, und von Seiten der Lepsius-nahen Deutsch-Armenischen Gesellschaft (DAG) James Greenfield, Paul Rohrbach und Ewald Stier. Für eine ausführliche Darstellung von dessen kurzer, jedoch recht aufschlussreicher Wirkungsdauer von Ende 1916 bis Anfang 1918 sei auf meine Dissertation verwiesen. 14 Vgl. U.A./A.J.H. 18, Axenfeld an OIK-Werke, 9. September 1916.

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Rücksicht auf die politisch-militärischen Interessen unseres Vaterlandes uns dessen enthalten, die wirklichen Vorgänge und Zustände zu erörtern, kann man billiger Weise von uns verlangen, aber dann sollte auch die Gegenseite zu schweigen haben und nicht so dreist den Mund auftun dürfen.“ 15 Bemerkenswert an dieser Aussage war, dass Axenfeld hier ausdrücklich auf die Grenze jeglichen OIK-Engagements wie ganz selbstverständlich hinwies: Die „wirklichen“ Umstände der Armeniergräuel, über die man sehr wohl orientiert war,16 durften mit Rücksicht auf das Interesse des Vaterlandes nicht zur Sprache kommen. So konnte es also nach Meinung des OIK-Vorsitzenden bei möglichen Protesten auf Staatsstellen gar nicht erst um den Kampf für die „Wahrheit“ der christlichen Leidensgenossen in der Türkei gehen, sondern allenfalls um einen gegenseitigen pressepolitischen „Nichtangriffspakt“ zwischen turkophil-staatlicher und armenophilmissionswerklicher Seite – mit der Beachtung des politisch-militärischen Interesses Deutschlands als dessen Grundlage. Dementsprechend versuchte Axenfeld in einem vertraulichen Rundschreiben im November 1916 an die Mitgliedswerke, selbige auf eine regierungskonforme Linie einzuschwören, nämlich – trotz des unbeschreiblichen Leides der Armenier – nun keinesfalls türkeikritische Artikel in deren Missions-Periodika zu publizieren: „Andererseits verbietet es uns die Pflicht gegenüber dem eigenen Volk und Land, jetzt Nachrichten zu veröffentlichen, die unvermeidlich als scharfe Angriffe auf die verbündete Türkei wirken müßten. Auch würde die Zensur solche Nachrichten nicht durchlassen, und das Los der Armenier würde, wenn es vereinzelt gelänge, sie zu veröffentlichen, nur noch weiter verschlimmert werden.“17 Damit bewegte sich Axenfeld exakt auf der pressepolitischen Linie des Auswärtigen Amtes (AA) und übte Zensurdruck gegenüber den eigenen Mitgliedswerken aus. Passend dazu verabredete das Leitungsgremium der OIK, nämlich die drei in Berlin ansässigen Funktionäre A.W. Schreiber, J. Richter und K.T. Axenfeld, auf einer internen Sitzung vom 16. November 1916, dass eine Eingabe Axenfelds, die nicht mit den OIK-Mitgliedswerken abgesprochen war, an den Reichskanzler sofort abgehen und den OIK-Werken erst im Nachhinein zur Kenntnis zugesandt werden sollte. 18 In dieser Petition kritisierte Axenfeld ausdrücklich, dass die Armenier in der Türkei kurz

15 Ibid.; Auch auf Seiten der OIK-Werke sorgte dieser Milli-Artikel für Unmut, wie eine hs. erhaltene Mitteilung L. Kölbings an die OIK-Leitung illustriert, der dessen Bericht als „empörend und schmerzlich“ bezeichnete, vgl. U.A./A.J.H. 18, Kölbing an OIK-Leitung [hs.], 25. September 1916. 16 So erhielt Axenfeld außerdem im Frühjahr 1917 Berichte deutscher Konsuln über die Opferzahlen und die Bedürftigkeit der Armenier u.a. in Damaskus, Aleppo, Mossul und Kirkuk. 17 Vgl. U.A./A.J.H. 18, Axenfeld an OIK-Gesellschaften und Schriftleitungen, November 1916. 18 Vgl. EZA/BMW 1/1977, Schreiber [hs. Sitzungsmitschrift], 16. November 1916.

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vor der Ausrottung stünden und dies in der beanstandeten Milli-Meldung in der NAZg zu Unrecht öffentlich verteidigt werde, wohingegen Armenierfreunde in Deutschland gezwungen seien, zu schweigen. Zugleich hinterfragte Axenfeld aber die Berechtigung dieses gebotenen Schweigens keineswegs. Stattdessen setzte er es vielmehr als legitim voraus und fokussierte nur die Bringschuld des Staates auf der Basis eines gegenseitigen „Stillhalteabkommens“19, nämlich dass „solange von uns eine weitgehende Zurückhaltung in öffentlicher Äußerung über unser Arbeitsfeld aus Rücksicht auf vaterländische Interessen verlangt wird, auch die Veröffentlichung armenierfeindlicher Berichte in der Presse nicht gestattet werde.“20 Damit war das Handeln der OIK und ihrer Mitgliedswerke auf publizistischer Ebene primär an den militärisch-politischen Interessen des deutschen Vaterlandes orientiert. Denn der Wunsch nach Eindämmung armenophober Artikel in der deutschen Presse hatte durch Axenfelds Petition zu einem publizistischen „Maulkorb“ geführt, den der Vorsitzende seinen Mitgliedswerken durch die grundsätzliche Zusicherung des Stillhaltens eigenmächtig übergestülpt hatte. Dass diese Erwartungshaltung nun von Seiten des Staates tatsächlich bestand, zeigte ein handschriftlicher Vermerk von Staatssekretär Arthur Zimmermann/AA vom 14. Dezember 1916 in Bezug auf diese Petition. Dieser drückte das Verständnis der Regierung für die dortigen „Empfindungen und Besorgnis“ aus, versprach auch den weiteren Einsatz für einen „schonenderen“ Umgang mit den Armeniern und berichtete schließlich von getroffener „Vorsorge“ gegen armenierfeindliche Artikel. Allerdings müsse eben die Voraussetzung vorliegen, dass auch keine öffentliche Polemik von armenierfreundlicher Seite ergehe.21 Sicherlich mag man darüber streiten, inwiefern Axenfelds eigenmächtiges Zugeständnis, das die OIK-Werke unter einen staatskonformen publizistischen Zwang stellte, nicht einfach dem per se sehr begrenzten Spielraum für einen kritischen Umgang mit der Armenierfrage in Deutschland angesichts der Kriegszensur geschuldet gewesen sein könnte.22 Doch zeigen Äußerungen Axenfelds zu türkeikritischen Publikationen, dass der OIK-Vorsitzende bereits vor seiner Eingabe vom 16. November

19 Ähnliche Verhandlungen hatte es außerdem zwischen E. Jäckh und den führenden DAGMitgliedern Paul Rohrbach, Ewald Stier und James Greenfield am 15./16. September 1916 in Berlin gegeben, in deren Verlauf die letzteren versprochen hatten, ebenfalls öffentliche proarmenische Stellungnahmen zu vermeiden, wenn im Gegenzug die Regierung sich stärker für die Armenier engagiere; vgl. Hermann Goltz, „Zwischen Deutschland und Armenien. Zum 125. Geburtstag des evangelischen Theologen Dr. Johannes Lepsius (15.12.1858–3.2.1926),“ Theologische Literaturzeitung (ThLZ) 12 (1983): Sp. 865–886: Sp. 871f.; Uwe Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien. Die Armenierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen (Kirche und Konfession 28) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1989), S. 222. 20 U.A./A.J.H. 18, Axenfeld an „Exzellenz“ [Reichskanzler] (vertraulich), 16. November 1916. 21 Vgl. U.A./A.J.H. 18, (Antwort des AA/Zimmermann auf die Eingabe an den Reichskanzler, streng vertraulich), 14. Dezember 1916. 22 So verweist Elizabeth Khorikian darauf, dass das Nachschlagebuch für die Pressezensur von 1917

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generell einen regierungsfreundlich-repressiven Kurs innerhalb der OIK verfolgte. Dies zeigte sich etwa im Fall der Beförderung des berühmten Lepsius-Berichtes „Bericht über die Lage des Armenischen Volkes“, dem gegenüber Axenfeld den OIKMitgliedern am 10. August 1916 eine Distanzierung anempfohlen hatte: „Wo ich darauf angesprochen werde, erwidere ich, dass diese Versendung nicht, wie vielfach angenommen wird, im Auftrag unserer Kommission erfolgt ist, sondern unter L's. [i.e. Lepsius', Anm. V.M.] eigener Verantwortung geht.“23 Insgesamt stellte sich jedoch bald heraus, dass das von Axenfeld verabredete „Stillhalteabkommen“ nicht tragfähig war und immer wieder von staatlicher Seite durch die Beförderung von armenophoben Presseartikeln gebrochen wurde, woraufhin meist Kreise der Deutsch-Armenischen Gesellschaft (DAG) mit Gegendarstellungen aktiv wurden, welche die OIK-Spitze zumindest weiterleitete. Dezidiert – und dabei selbstverständlich die deutsche Regierung in Schutz nehmend – wollte man sich von Seiten

regelte, dass die „Armenische Frage“ nicht in einer „der Türkei nachteiligen Weise“ behandelt und Veröffentlichungen nur mit Zustimmung der Oberzensurstelle in Berlin veröffentlicht werden dürften, vgl. dies., „Die Behandlung des Völkermordes an den Armeniern in der deutschen Presse und Literatur um 1915–1925“, in Armenologie in Deutschland. Beiträge zum Ersten Deutschen Armenologen-Tag (StOrKG 35), Hg. Armenuhi Drost-Abgarjan/Hermann Goltz (Münster: LIT Verlag, 2005), S. 159–172: S. 162. Eine staatliche Pressekonferenz am 7. Oktober 1915 hatte es Journalisten zuvor sogar untersagt, den Armeniergräuel als „innertürkische Verwaltungsangelegenheit“ überhaupt zu prüfen, so dass es einstweilige Pflicht sei, zu schweigen; vgl. ibid. Diese scharfe Zensurpraxis drückte sich dann etwa in der Berichterstattung des Frankfurter Hilfsbundes aus, der in seinem Periodikum im Oktober 1915 (Sonnen-Aufgang, Oktober 1915, 2) mitteilte, dass er zwar über ausführlicheres Material zu den Vorgängen in der Türkei verfüge, von dessen Abdruck aber wegen der gegenwärtigen politischen Lage des deutschen Vaterlandes absehen müsse; vgl. Khorikian, Behandlung, S. 168. Andererseits gab es aber eben auch deutsche publizistische Kreise, die dieses Publikationsverbot zu umgehen versuchten, wie die „Kölnische Volkszeitung“, die freilich die Mitschuld Deutschlands an den Deportationen bestritt, oder – wie am Beispiel der DAG ersichtlich – Kreise um Lepsius bzw. Lepsius persönlich; vgl. ibid., S. 166f. 23 EZA/BMW 1/1977, Axenfeld an OIK-Mitglieder, 10. August 1916. Axenfeld hatte freilich schon am 1. Juli 1916 in einem Anschreiben an die OIK-Mitglieder auf das mögliche Gefährdungspotential türkeikritischer Veröffentlichungen hingewiesen; dort erwähnte er einen Offizier-Stellvertreter von der Westfront, der ihm mitgeteilt habe, dass feindliche Flieger „Hetzschriften“ auf deutsche Stellungen abgeworfen hätten und dort auch einen Artikel aus der von J. Richter herausgegebenen AMZ abgedruckt hätten, „Schilderung der von den Türken an den Armeniern verübten Grausamkeiten.“ Dieser sei dann mit dem Kommentar versehen worden: „Das sind die Bundesgenossen des Deutschen Reiches!“, vgl. U.A./A.J.H. 18, Axenfeld an OIKWerke, 1. Juli 1916. Meißner, Martin Rade, 236 (Anm. 1123), der dabei auf LAH 7125 zurückgreift, identifiziert diesen AMZ-Artikel mit Informationen aus einem kritischen Augenzeugenbericht eines Mitarbeiters des Frankfurter Hilfsbundes über die Deportationen aus Erzincan ab dem 7. Juli 1915, abgedruckt in AMZ 22, S. 506–509.

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der OIK-Leitung zur Armenierfrage dagegen erst äußern, als der Krieg bereits vorüber war – wie abschließend noch zu sehen sein wird.24 Stattdessen versuchte die OIK-Spitze in einem weiteren Schritt, die Loyalität der deutschen evangelischen Orientwerke zur deutschen Staatsmacht auch auf finanzieller Ebene im Kontext der „Armenischen Frage“ sicherzustellen: Gleich auf der ersten Vollversammlung der OIK am 1. März 1916 in Halle an der Saale setzte man sich mit der Planung einer „Armenierhilfe“25 im Sinne einer die einzelnen Missionsgesellschaften übergreifenden Hilfsaktion auseinander. So beschloss man dort, durch Axenfeld einen kurzen Aufruf für Missionsblätter abzufassen, der „ohne Anklage gegen die türkische Regierung, lediglich mit kurzem Hinweis auf die Not eine ausserordentliche Bitte begründen“ solle. 26 Insgesamt belief sich der von Seiten des DEMA als „erfreuliche Gaben“ gewürdigte Betrag des Spendenaufkommens27 bis zum 21. März 1918 sodann auf 44.378,91 Mark28. Doch ist eine kritischere Analyse dieser Armenierhilfe unbedingt notwendig, indem man das Spendenaufkommen innerhalb des bisher skizzierten Beziehungsnetzes der OIK präzise nachverfolgt:

24 Freilich darf hier der Verweis nicht fehlen, dass Axenfeld aus Empörung über den armenophoben Artikel „Armeniergreuel an der Kaukasusfront“ in der Zeitschrift „Kolonie und Heimat“ Nr. 28 (1918) im April 1918 tatsächlich dem AA gegenüber mit der Aufkündigung des Stillhalteabkommens gedroht hatte, wenn dieses weiterhin ungeprüft derartige Gräuelnachrichten übernehme und damit die OIK machtlos sei, im Ausland den Verleumdungen bezüglich einer deutsche Mitschuld entgegenzutreten: „Wenn armenierfeindlichen Kreisen freisteht, in dieser Weise die öffentliche Meinung zu beeinflussen, müssen wir für uns das Recht in Anspruch nehmen, auch unsererseits über die Vorgänge in Armenien seit Kriegsbeginn fortan ohne Beschränkung uns zu äußern.“, EZA/BMW 1/1980, Axenfeld an das AA, 20. April 1918. Doch auch den vorhergehenden Verstoß, als das staatsnahe Wolffsche Telegraphische Bureau einen Artikel aus der türkischen Zeitung „Allahanda“ über armenisch-russische Gräueltaten in Erzincan veröffentlichte – den Axenfeld ausdrücklich als „törichte Entgleisung“ gegenüber einem Dezernenten im AA kritisiert hatte – war der OIK-Vorsitzende ebensowenig bereit zu sanktionieren. Vielmehr arrangierte er sich mit den Beteuerungen des AA: „Wir könnten bestimmt darauf rechnen, daß der Burgfrieden fortan gewahrt werde. Aber die Veröffentlichung des Berichtes über Ersinjan dürften wir nicht als Bruch des Burgfriedens auffassen, da er amtlichen Charakter trage und mit den Tagesmeldungen der Heeresleitungen auf einer Stufe stehe“, EZA/BMW 1/1979, Axenfeld an Mitglieder des Armenier-Ausschusses, 11. Juni 1917. 25 Zu diesem Thema kann auf folgende Vorarbeiten zurückgegriffen werden: Vgl. Richard Schäfer, Geschichte der Deutschen Orient-Mission (Potsdam: Missionshandlung und Verlag, 1932), S. 91 (rezipiert von Feigel, das evangelische Deutschland, 222); Löffler, Kritik, S. 344f.; Meißner, Martin Rade, S. 237f., 425. 26 Vgl. U.A./A.H. J. 18, Axenfeld/Schreiber (Vertrauliche Niederschrift der OIK-Verhandlungen in Halle an der Saale, 1. März 1916), o.D. 27 Vgl. EMW/DEMA/DEMR 1/0318, (Bericht über die DEMA-Sitzung vom 6. Juli 1916 in Leipzig), 8. September 1916. 28 Vgl. EZA/BMW 1/1976, Axenfeld/Schreiber (Bericht über OIK-Arbeit 1917–1918, vertraulich), 21. März 1918.

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So achtete Axenfeld genauestens darauf, dass der Spendenaufruf ohne jeglichen türkeikritischen Zusatz derart abgedruckt wurde, wie er von Staatsseite her genehmigt worden war. In einem Anschreiben an Karl Röbbelen vom Verein für Lutherische Mission in Persien etwa mahnte er deshalb unmissverständlich: .

„Nicht wahr, Sie haben auch die Freundlichkeit, darauf zu achten, daß der Wortlaut, wie er zuletzt festgelegt war und meinem Schreiben vom 24. Mai beilag, abgedruckt wird, und nicht der erste, den Professor Haußleiter noch etwas abgeändert hat.“29 Um diese Linientreue auch bei der Verteilung der Spendengelder zu gewährleisten, räumte man ein diesbezügliches Entscheidungsmonopol der OIK-Leitung ein. So habe sich laut Axenfeld die Konferenz der OIK am 23. Juni 1916 hinsichtlich des Aufrufs zur „Armenierhilfe“ auf Folgendes geeinigt: „Da aber der Aufruf aus der Konferenz der O.u.I.-Kommission in Halle herausgewachsen ist, und auch die Bitte um Abdruck in den Missionsblättern im Auftrag der Kommission erfolgte, schien es mir angemessen, die Konferenz am 23. Juni in dieser Frage wenigstens beratend zu Wort kommen zu lassen. Der hier gemachte Vorschlag, es möchten Liebeswerke, die in der Lage sind, sofort notleidenden Armeniern Hülfe zu bringen, Anträge um Zuweisung von Mitteln […] zu meinen Händen einreichen, wird auch Ihnen richtig erscheinen.“30 Axenfeld argumentierte also, dass die Mitgliedswerke zwar bei der Spendenverteilung beratend beteiligt wären. Doch letztendlich nahm er diesen deren Entscheidungsunabhängigkeit über die Zweckzuführung der Gelder ab, indem er sich selbst als Antragsinstanz installierte, fortan den OIK-Werken Vorschläge zur Spendenausschüttung unterbreitete31 und durch das Auszahlungsmonopol A.W. Schreibers, 32 das dieser allein erhielt, letztlich den Spendenfluss kontrollieren konnte. Weiterhin

29 Ar.HB (Archiv des Evangelisch-lutherischen Missionswerkes in Niedersachsen, Hermannsburg)/AP 3, 32, Axenfeld an Röbbelen, 2. Juni 1916. Bei Prof. Haußleiter handelte es sich um Gottlob Haußleiter (1857–1934), der von 1903 bis 1908 als Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft amtiert und 1907 das „Deutsche Institut für ärztliche Mission“ in Tübingen mitbegründet hatte. An der Universität Halle an der Saale trat er die Nachfolge G. Warnecks an und hatte dort die erste ordentliche Professur für Mission und Missionswissenschaften in Deutschland inne; vgl. Thorsten Altena, ,Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteilsʽ. Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884–1918 [CD-Rom] (Internationale Hochschulschriften 395) (Münster: Waxmann Verlag, 2003), S. 30f. 30 EZA/BMW 1/1977, Axenfeld an Spendenaufrufunterzeichnende [Vermerk: Eilt!], 1. Juli 1916. 31 Vgl. EZA/BMW 1/1977, Axenfeld an Spendenaufrufunterzeichnende, 15. Juli 1916; 10. August 1916. 32 Vgl. Ar.FKSK (Archiv der Fliedner- Kulturstiftung, Kaiserswerth), 2-1 DA 1820, Schreiber an Stursberg, 10. Juli 1916; 10. Oktober 1916.

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war auch der Staat sowohl am Spendenaufkommen als auch an der Spendenausschüttung der „Armenierhilfe“ direkt beteiligt gewesen – freilich durch Vermittlung der OIK-Lenkungszentrale: So bezeugt eine Notiz des AA, dass Axenfeld und M.d.R. Reinhard Mumm am 2. September 1916 das AA aufgesucht und letzterer dort angefragt hatte, „ob es nicht möglich sei, aus dem geheimen Fonds des AA.'s einen Betrag für die jetzt betriebene Sammlung zu Gunsten der Armenier zu bewilligen.“33 Mit größter Wahrscheinlichkeit stellte dann die folgende, anonymisierte Geldsumme den besagten Zuschuss von staatlicher Seite für die OIK-Armenierhilfe dar, die Axenfeld im Februar 1917 in seinem Jahresbericht erwähnte: „Ausser den erwähnten Beträgen gelang es dem Vorsitzenden noch aus anderer verschwiegener Quelle eine Summe von M. 20 000 für den gleichen Zweck zu gewinnen.“34 Allerdings handelte es sich hierbei nicht um einen selbstlosen Finanzzuschuss der deutschen Regierung, sondern vielmehr um ein Instrument der gezielten staatlichen Kontrolle der OIK-Spendenaktion. Einen zwar bescheidenen, aber dennoch eindeutigen Beweis dazu liefert ein späteres Telegramm Axenfelds an Schreiber vom 9. Januar 1918, dass dieser „gemäß der Empfehlung von Herrn Geheimrat [Otto, Anm. V.M.] Göppert“ abermals 100 Mark an den lungenerkrankten Dr. med. Hantscher auszahlen möge35; was Schreiber denn auch tat, indem er dem Spender Elias Kamparos für dessen Gabe von 50 Mark dankte und auf dessen Einverständnis hoffte, diese Gabe nicht wie vorgesehen für gefangene Armenier zu verwenden, sondern eben im Sinne des AA für den besagten Arzt. 36 Unterstützend für diese These ist darauf hinzuweisen, dass dieser Zuschuss des Staates zur Armenierhilfe keinesfalls das einzige Beispiel dafür war, dass die Regierung über Axenfeld mittels finanzieller Zuwendungen im Sinne eines mehr oder minder expliziten „Do-ut-des-Prinzips“ die OIK-Werke zum „Stillhalten“ bei der Armenierfrage zu beeinflussen beabsichtigte: So konnte man die Problemlage der OIKWerke aufnehmen, als diese zunehmend unter einem sich verschlechternden Wechselkurs von deutscher Mark in türkisches Pfund litten, da die Mark wegen des Krieges

33 Vgl. PA AA/1916-08-24-DE-001, Notiz des AA vom 2. September 1916 (www.armenocide.net/armenocide/armgende.nsf/$$AllDocs/1916-08-24-DE-001 [Zugriff am 24. Februar 2015]). 34 EZA/BMW 1/1977, Axenfeld (Bericht über die OIK-Arbeit 1916, vertraulich), 26. Februar 1917. Diese These lässt sich mit Aussagen P. Rohrbachs in einem Protokoll des Armenierausschusses zwischen OIK und DAG vom 7. Dezember 1916 stützen, der dort den Betrag des AA auf 30– 35.000 Mark taxierte, vgl. EZA/BMW 1/1979, Schreiber (Vertrauliche Besprechung über die „Armenische Frage“ am 7. Dezember 1916 in Berlin), o.D. 35 Vgl. Ar.EMW/DEMH 0047, Axenfeld an Schreiber, 9. Januar 1918. 36 Vgl. Ar.EMW/DEMH 0047, Schreiber an Kamparos, 23. Januar 1918.

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stark unter Druck geraten war und in der Türkei Mangel an Papiergeld herrschte. Den Ertrag dieser vielschichtigen Geldpolitik37 reflektierte der OIK-Vorsitzende abschließend am 25. September 1918 auf einer Konferenz von Missionsgesellschaften, wo er auch auf sein enges Verhältnis zur Staatsführung explizit einging. Außerdem benannte er dort den zu zahlenden politischen Preis von Seiten der Mitgliedswerke für die durch ihn vermittelte Regierungsnähe: „Sie [i.e. die deutsche Regierung, Anm. V.M.] hat dem Vorsitzenden weitestgehend Vertrauen erwiesen, ihn zeitweise dauernd auf dem Laufenden erhalten und nicht selten aus eigenem Antrieb seinen Rat erbeten. Nur hat sie beharrlich verlangt, daß in unseren Veröffentlichungen auf das bestehende und unentbehrliche Bündnis mit der Türkei Rücksicht genommen werde.“38 Und schließlich versuchte Axenfeld, dieses deutsche Regierungsinteresse in Form des „unentbehrlichen Bündnisses mit der Türkei“ im Kontext der „Armenischen Frage“ nicht nur auf der skizzierten publizistischen und finanziellen, sondern auch auf höchster politisch-diplomatischer Ebene zu befördern: Am 29. April 1918 kam es in Berlin zu einem Treffen mit drei Mitgliedern des armenischen Nationalrates der erst kurz zuvor am 22. April 1918 gegründeten Transkaukasischen Demokratisch-Föderativen Republik39, welche dort für das Selbstbestimmungsrecht der Armenier warben. Doch war Axenfeld davon überzeugt, dass die Armenier an ihrem Elend einen großen Teil der Schuld selbst trugen, da sie sich mit der Entente verschworen hätten und damit das türkische Vorgehen bestärkten.40 Eine Hilfe Deutschlands könne es deshalb seiner Meinung nach nur unter zwei Vorbedingungen geben: Wenn sich erstens Armenier und Armenierfreunde jeglicher „deutschfeindlicher Agitation“ enthielten und wenn zweitens das Ziel einer Unabhängigkeit Armeniens und damit die „Zerstörung der Türkei“ aufgegeben werde. Denn, so der OIK-Vorsitzende im Juni 1918:

37 Noch am 18. September. 1818 hatte F. Stursberg die Vermittlungsrolle Axenfelds für Geldgeschäfte der OIK vorausgesetzt und deshalb diesem gegenüber den Bedarf Kaiserswerths auf 120.000 Goldmark bzw. 60.000 Mark Papiergeld taxiert: „Auf der deutschen Bank wurde mir mitgeteilt, dass Sie für Kaiserswerth vertretungsweise in Geldsachen für den Orient handeln würden.“, Ar.FKSK/2-1 DA 1820, Stursberg an Axenfeld, 18. September 1918. 38 EZA/BMW 1/8186, Axenfeld (Bericht der OIK für die Konferenz der Missionsgesellschaften am 26. September 1918 in Berlin), 25. Dezember 1918. 39 Hierbei handelte es sich um Rechtsanwalt L. Nasariantz, Bankdirektor A. Djamalian und G. Melik-Karageosian, allesamt ehemalige Mitglieder der Duma, vgl. EZA/BMW 1/1976, [Schreiber] (hs. Notiz), o.D. [terminus a quo: 3. Mai 1918]. 40 Vgl. LAH 13807, Axenfeld an Favre, 8. Juni 1918.

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„Daß solcher Verzicht nötig ist, weil Gott in diesem Kriege für Deutschland und gegen die Entente entschieden hat, ist ja jetzt nicht mehr schwer zu sehen.“41 Nachdem sich am 28. Mai 1918 trotzdem die unabhängige Demokratische Republik Armenien gegründet hatte, kam es für die OIK-Spitze in Berlin zu einem weiteren Kontakt mit armenischen Politikern, nämlich mit den bevollmächtigten Vertretern der Armenischen Regierung Dr. H. Ohandschanian und A. Suraboff, welche vom deutschen General Otto von Lossow begleitet wurden. 42 Zwischen dem 5. und 14. Juni fand dazu eine Begegnung von General Lossow und Axenfeld statt43, die den OIKVorsitzenden sehr beeindruckte.44 Daraufhin habe Axenfeld die beiden armenischen Delegierten empfangen und die Unterstützung Deutschlands zugesagt, wobei er allerdings abermals auf folgenden, für Axenfeld typischen Bedingungen bestand: „Sie haben auf meinen Rat beschlossen, durch den Botschafter in Bern den Armeniern in Genf zu schreiben, sie, d.h. die Beauftragten des Nationalrates und des armenischen Volkes, sähen […] ihre einzige Rettung bei Deutschland. Die deutsche Regierung bemühe sich, ihnen zu helfen. Daher warnten sie die in Europa und Amerika weilenden Armenier, diese Bemühungen irgend dadurch zu stören, dass sie sich weiterhin auf Verbindung mit der Entente und ihrer deutschfeindlichen Propaganda einlassen, oder sich durch trügerische Versprechen der Entente betrügen lassen.“45 Axenfeld nutzte also die Gunst der Stunde und verfolgte seine regierungstreue Einflussnahme auf diplomatischer Ebene rigoros weiter. Diesen Standpunkt vertrat der OIK-Vorsitzende zudem auf der DEMA-Sitzung im Leipziger Missionshaus am 12./13. Juni 1918. Hier bekundete er, dass ihm die geplanten politischen und militärischen Maßnahmen der deutschen Regierung in der Türkei „unter Verschwiegenheit mitgeteilt“ worden seien und er deshalb den kaukasischen und schweizerischen Armeniern eingeprägt habe, von deutschfeindlicher Agitation abzurücken „und sich der deutschen Leitung vertrauensvoll zu fügen“: „Sowohl der deutschen Regierung wie den Armenierkreisen erkläre ich beharrlich, daß der einzige Gesichtspunkt, der uns leitet und zur Beteiligung an diesen Beratungen und Arbeiten treibt, der des christlichen Erbarmens ist, das dem Verderben eines unglücklichen Volkes steuern helfen möchte.“ 46

41 Ibid. 42 Vgl. EZA/BMW 1/1976, [Schreiber] (hs. Notiz), o.D. [terminus a quo: 10. Juni 1918]; DeutschArmenische Korrespondenz 1 (12. November 1918), S. 7. 43 Vgl. EZA/BMW 1/1976, [Schreiber] (hs. Notiz), o.D. [terminus a quo: 10. Juni 1918]. 44 Vgl. EZWA/BMW 1/1976, Axenfeld an Richter u.a. (vertraulicher Umlaufbrief), 14. Juni 1918. 45 Ibid. 46 Ibid.

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Dieses von Axenfeld auf höchster politischer Ebene betriebene „christliche Erbarmen“ stieß freilich auch auf besagter Sitzung innerhalb des DEMA, als der verantwortlichen Mutterorganisation der OIK, auf großes Erstaunen. So kam es dort nach Axenfelds Bericht – wie es das offizielle Protokoll recht zurückhaltend umschrieb – zu einer längeren Aussprache „über die ungewöhnlich schwierige Aufgabe, die weitgehende Befugnis und die außerordentliche Verantwortung dieser Kommission und ihres Vorsitzenden.“47 Bischof Hennig als DEMA-Vorsitzender musste jedoch einräumen, dass er von Herrnhut aus die nötige Sachkenntnis nicht besitze, um bei der „Armenischen Frage“ kompetent mitwirken zu können, sondern nur mahnen könne „wenn er etwa den Eindruck habe, daß die falsche Richtung eingeschlagen werde.“ 48 Deshalb trug man den regierungsfreundlichen Kurs Axenfelds nach einer nicht näher beschriebenen Aussprache in dem abschließenden Votum der DEMA-Sitzung klar mit und auch von Seiten der OIK-Mitgliedswerke war diesbezüglich kein Protest laut geworden: „Da er [i.e. Axenfeld, Anm. V.M.] offenbar von Gott in die viel verzweigten Verhandlungen mit dem Auswärtigen Amt und mit den Vertretern des armenischen Volkes geführt sei, erklärt sich der Ausschuß dankbar für die von Gott zugewiesenen Aufgaben und die […] Art ihrer Lösung, zu der der Ausschuß volles Vertrauen habe.“49 Schließlich kam die OIK am 27. September 1918 in Berlin zusammen, um ein letztes Mal ausführlich zur „Armenischen Frage“ Stellung zu beziehen.50 Dort erwähnte Axenfeld, dass er eine Eingabe an den Reichskanzler gerichtet habe, wo er u.a. von Seiten der Türkei ein Amnestieangebot an die kämpfenden Armenier gefordert habe. Im Gegenzug habe er deshalb die Armenier zu beeinflussen versucht, dieses Angebot anzunehmen, die Waffen niederzulegen und auf staatliche Autonomie zu verzichten. Diese Petition sei auch dem türkischen Großwesir Talaat Pascha bei dessen Besuch in Berlin vorgelesen worden, der Interesse am Angebot einer solchen Amnestie erklärt habe.51 Ähnlich positiv hatte Axenfeld die von ihm verantwortete OIK-Hilfe für die

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EZA/BMW 1/8186, Sitzungsprotokoll des DEMA in Leipzig am 12./13. Juni 1918, o.D. Ibid. Ibid. Vgl. EZA/BMW 1/1976, [Schreiber] (Protokoll der OIK-Sitzung in Berlin) [hs.], 27. September 1918. Während zwei ms. erstellte Einladungen mit einer voneinander abweichenden Anzahl von TOP bekannt sind (vgl. U.A./A.J.H. 18, Axenfeld [Tagesordnung zur OIK-Sitzung am 27. September 1918], 21. September 1918; ebd., Tagesordnung zur OIK-Sitzung am 27. September. 1918, o.D.), liegt das Protokoll dazu nur in einer Mitschrift vor, für deren Dechiffrierung ich der Hilfe von Herrn Dr. Frank Aschoff herzlich danke. 51 Vgl. EZA/BMW 1/1976, [Schreiber] (Protokoll der OIK-Sitzung in Berlin) [hs.], 27. September 1918.

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Armenier zuvor in einem Bericht an Hennig abschließend beurteilt und betonte dort als wichtigste Aufgabe der OIK-Arbeit die „beharrliche Einwirkung auf die deutsche Regierung zu Gunsten der Armenier. Sie war mühevoll, verantwortungsreich und enttäuschend, wie der Gesamtverlauf der deutschen Orientpolitik, aber notwendig und trotz des sehr schmerzlichen Gesamtergebnisses nicht vergeblich. Die deutsche Regierung war tatsächlich die einzige Macht auf Erden, die mit einigem Erfolg auf die Türkei mäßigend und zügelnd einwirken […] konnte.“52 Die eminent regierungskonformen Bahnen jeglicher Armenierhilfe wertete er dort erneut als selbstverständlich, auf Grund des „unentbehrlichen“ Bündnisses mit der Türkei. Zudem schuldeten nicht zuletzt gerade die Armenier der deutschen Regierung Dank für deren Bemühungen im Rahmen des Zulässigen innerhalb des deutschtürkischen Kriegsbündnisses: „Wenn von dem unglücklichen Volk der überlebende Rest, vielleicht ein Drittel, schließlich doch noch auf freiem Boden im kaukasischen Armenien zu einer erträglichen Existenz gelangt, so hat er dies in erster Linie Deutschland zu verdanken.“53 Diese staatsloyale Lesart der Armenierhilfe gedachten Axenfeld und Schreiber abschließend aktenmäßig zusammenzustellen und sich für dessen Veröffentlichung mit dem AA ins Benehmen zu setzen. Pläne dazu hatte Axenfeld bereits während der DEMA-Sitzung am 6. Februar 1918 in Berlin verlauten lassen, wonach man eine Sammlung von Material über die Hilfsaktionen der deutschen Regierung und der deutschen Christen vorbereite: „Im rechten Augenblick soll dieses Material zur Steuer der Wahrheit gegenüber den bösartigen Verleumdungen der Ententepolitiker und gegenüber den durch sie irregeführten Auslandschristen der Oeffentlichkeit vorgelegt werden.“54 Am 7. Oktober 1918 hatte das OIK-Dreiergremium aus Axenfeld, Richter und Schreiber daraufhin die Drucklegung formal beschlossen, welche Schreiber am 13. November 1918 nochmals in einem Brief an Axenfeld und Richter erwähnte. 55 Doch obwohl diese Materialsammlung also bereits druckfertig war, ist ihr weiteres publizistisches Schicksal bisher unklar gewesen und selbst ein Typoskript ist bis heute

52 EZA/BMW 1/8186, Axenfeld an Hennig (OIK-Bericht für die Konferenz der Missionsgesellschaften am 26. September 1918 in Berlin), 25. September 1918. 53 EZA/BMW 1/8186, Axenfeld an Hennig (OIK-Bericht für die Konferenz der Missionsgesellschaften am 26. September 1918 in Berlin), 25. September 1918.; vgl. auch Julius Richter, „Zur Lage der deutschen evangelischen Heidenmission,“ JVDM (1919): 8–20, 18. 54 EZA/BMW 1/8186, Richter (Protokoll DEMA-Sitzung in Berlin vom 6. Februar 1918), o.D. 55 Vgl. EZA/BMW 1/1976, Schreiber an Axenfeld/Richter, 13. November 1918.

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Die Orient- und Islamkommission und die Armenier

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nicht gefunden worden.56 Eine Erklärung dazu könnten allerdings Hinweise von Wolfgang Gust bieten. Dieser verweist darauf, dass bereits Ende 1915 der damalige Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann ein „Weißbuch“ auf Anregung Dr. Wilhelm Heinrich Solfs, des Staatssekretärs und Leiters des Reichskolonialamtes, 57 in Auftrag gegeben hat. Dieses hat der Konstantinopler Botschaftssekretär Dr. Leopold Gustav Alexander von Hoesch seit Mitte 1916 erstellt und schließlich am 18. September 1916 nach Berlin gesandt.58 Doch als Solf schließlich J. Lepsius für die Herausgabe von diplomatischen Aktenstücken zur Armenierfrage gewinnen konnte, sei der ungleich tendenziösere Hoesch-Bericht nicht mehr nötig gewesen: „Solf beauftragte Lepsius, eine Dokumentation über die deutsche ArmenierPolitik herauszugeben. Damit war sein eigenes Projekt obsolet geworden, mit Hilfe eines Weißbuches die deutsche Armenier-Politik zu rechtfertigen.“59 Ähnlich könnte es der beabsichtigten Publikation der OIK ergangen sein, die ja in engstem Kontakt mit dem AA hätte veröffentlicht werden sollen. Die OIK-Broschüre kam nach der Publikation von Lepsius‘ Dokumentation ab Mai 1919 somit höchstwahrscheinlich nie in den Druck. Stattdessen publizierten Richter und Axenfeld ihre Stellungnahmen noch im selben Jahr – wohl unter Rückgriff auf dieses gesammelte Material – in eigenen Aufsätzen in einschlägigen Missions-Periodika.60 Obgleich also eine umfassende Broschüre der OIK-Leitung hinsichtlich der „Armenischen Frage“ den Weg in die Veröffentlichung nicht mehr gefunden haben dürfte, sollte doch das in diesem Beitrag skizzierte Wirken der OIK-Spitze auf publizistischer, finanzieller und politisch-diplomatischer Ebene eines veranschaulicht haben: Der primäre Bezugspunkt bei der Bearbeitung der „Armenischen Frage“ war

56 Vgl. Meißner, Martin Rade, S. 259. 57 Vgl. Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien (Paderborn: UTB GmbH, 20126), S. 291. 58 Vgl. Wolfgang. Gust, „Das Kaiserliche Deutschland und der Völkermord an den Armeniern 1915/1916“, in Armenologie in Deutschland. Beiträge zum Ersten Deutschen Armenologen-Tag (StOrKG 35), Hg. Armenuhi Drost-Abgarjan/Hermann Goltz (Münster: LIT Verlag, 2005), S. 153–158: 156; ders., Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts (Springe: Klampen Verlag, 2005), S. 107. 59 Ibid.; Bei der „Dokumentation“ von Lepsius handelte es sich selbstverständlich um: Johannes Lepsius, Hg., Deutschland und Armenien 1914–1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke (Potsdam: 1919 (Nachdruck Bremen: Donat-Verlag, 1986)). 60 Vgl. Julius Richter, „Die deutschen evangelischen Missionskreise und das armenische Volk,“ Allgemeine Missionszeitschrift (AMZ) 46 (1919): S. 1–45; ders., Heidenmission; Karl Theodor Axenfeld, „Zur Steuer der Wahrheit über die Deportationen des armenischen Volkes,“ Allgemeine Missionszeitschrift (AMZ) 46 (1919): S. 57–64. Diese These lässt sich dadurch unterstützen, dass die von Axenfeld auf der DEMA-Sitzung am 6. Februar 1918 formulierte Zweckbindung der angedachten OIK-Broschüre, nämlich der „Steuer der Wahrheit“ für die „Armenische Frage“ zu dienen, später von ihm im Titel seines Aufsatzes exakt wieder aufgegriffen wurde: „Zur Steuer der Wahrheit über die Deportationen des armenischen Volkes“.

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nicht die Not dieses „um seine Existenz ringende, altchristliche Volk“,61 sondern vielmehr das Wohl der Interessenslage der deutschen Staatsmacht und deren Kriegsziele. Dies stellt gleichsam einen organisationsgeschichtlichen Beleg dafür dar, wie engmaschig das Beziehungsnetz von Staatsmacht und deutscher evangelischer Mission gegen Ende des Ersten Weltkrieges gewesen war.

61 Selbstverständlich gab es durchaus den Willen innerhalb der OIK, jenseits der politischen Instrumentalisierung der „Armenischen Frage“ tatsächliche Hilfe zu leisten, was etwa die Arbeit des „Armenier-Ausschusses“ aus OIK- und DAG-Mitgliedern, ein Plan zur Aussendung von diakonisch ausgebildeten Schwestern in Armenier-Lager oder auch ein Treffen von Axenfeld und Schreiber am 28. August 1917 mit dem Marineminister und Oberbefehlshaber in Syrien/Palästina, Djemal Pascha, das geringfügige Vergünstigungen beim Einkauf von Lebensmitteln für OIK-Werke in Palästina erwirkte, zeigten. Diese sowie weiterführende Einzelheiten zur Bearbeitung der „Armenischen Frage“ durch die OIK wird meine Dissertation bieten.

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Armenierhilfe zwischen christlicher Solidarität und politischer Instrumentalisierung: Zur Arbeit des „Armenier-Ausschusses“ zwischen OIK und DAG (1917–1918) Volker Metzler

Wie der Titel des Beitrages anzeigt, soll es im Folgenden weniger um die Ereignisse im Osmanischen Reich hinsichtlich der Völkermorde gehen, als vielmehr um ein Beispiel der Rezeption dieser Geschehnisse auf deutscher Seite. Genauer gesagt auf Seiten der deutschen evangelischen Orientmissionswerke, die sich zu der sog. „Orientund Islamkommission“ (OIK) zusammengeschlossen hatten. Dieses Gremium befasste sich während des Ersten Weltkrieges intensiv mit der „armenischen Frage“ und ging dabei eine kurzzeitige Kooperation mit der Deutsch Armenischen Gesellschaft (DAG) ein. Doch, wenn man sich bei deren Analyse nicht nur auf das „was“ des kurzen gemeinsamen Agierens beschränkt, sondern dabei auch das „wie“ in den Blick nimmt, so wird deutlich werden, dass die Arbeit dieses „Armenier-Ausschusses“ nicht allein einen Zweck in sich selbst darstellte. Vielmehr repräsentierte sie für den Vorsitzenden der OIK, Karl Theodor Axenfeld, ein wichtiges Betätigungsfeld, um Hilfe aus Deutschland für notleidende Armenier primär am Interesse der deutschen Regierungs- und Kriegspolitik orientiert auszurichten. Doch andererseits wird an Hand des Schriftführers der OIK, August Wilhelm Schreiber, auch zu zeigen sein, dass diese Zusammenarbeit zwischen OIK und DAG nicht allein von missionspolitischen Prämissen eingefärbt, sondern praktische Hilfe tatsächlich zu leisten im Stande war, nämlich vor Ort in Deutschland, für Armenier in Berlin. Um hier diese Armenierhilfe also im Spannungsfeld von politischer Instrumentalisierung und christlicher Solidarität knapp zu entfalten 1, bedarf es dreier Schritte: Zunächst soll eine Skizze der Entstehung der OIK deren Vernetzung im deutschen Missionsleben grob anreißen. Daraufhin folgt ein ebenso kurzer Überblick über

1 Die folgende Darstellung enthält für diesen Vortragsrahmen zusammengestellte Auszüge meiner vor dem Abschluss stehenden Dissertation zur Geschichte des Wirkens der OIK hinsichtlich des Verhältnisses von Mission und Macht. Referenzen zu verwendetem Quellenmaterial werden fortlaufend nach dem Schema „Name des Archivs/Signatur der Akte, Verfasser an Adressat, Datum“ geboten.

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die Gründung des Armenier-Ausschusses von OIK und DAG. Zuletzt widmen wir uns schließlich dem Wirken dieses Ausschusses im angesprochenen Spannungsfeld. Zunächst zur Entstehung der OIK: Ein wesentlicher Impuls dazu lag in der Reise von Johannes Lepsius2 begründet, die er im Juli 1915 nach Istanbul unternommen und im Zuge derer er sich ein Bild von der Not der Armenier in der Türkei hatte verschaffen können. Kaum nach Deutschland wieder zurückgekehrt, setzte er sich sodann mit A.W. Schreiber, dem Direktor der Deutschen Evangelischen Missionshilfe (DEMH), in Verbindung, um eine vertrauliche Besprechung aller Orientmissionswerke einzuberufen. Bei der DEMH handelte es sich um eine Art „fund-raising“-Agentur für die Sache der deutschen evangelischen Mission, welche Ende 1913 unter dem Patronat des Kaisers gegründet worden war, um die Beteiligung unter wohlhabenden Bevölkerungskreisen an der Mission zu fördern.3 Schreiber, der dementsprechend über ein hervorragendes Beziehungsnetz verfügte, lud sodann zu einer vertraulichen „OrientKonferenz“ am 9. Okt. 1915 nach Berlin ein. Dort erstellte ein Ausschuss aus J. Lepsius und den drei späteren maßgeblichen Funktionären der OIK, K.T. Axenfeld, Julius Richter und A.W. Schreiber, eine proarmenische Petition an Reichskanzler Bethmann Hollweg.4 Abgesehen von dieser Petition5 machte dieser Ausschuss jedoch

2 Eine knappe Einführung in die Vita der einflussreichen Persönlichkeit von Johannes Lepsius (1858–1926) bietet Andreas Baumann, in: Johannes Lepsius/Andreas Baumann, Die Wiedergeburt des Orients. Texte zur Mission (Evangelium und Islam 7) (Nürnberg: VTR-Verlag, 2007), S. 9–18. 3 Vgl. Horst Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehungen während der deutschen Kolonialzeit (1884–1914) unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas (Paderborn: Schöningh, 1982), S. 110. Der Kaiser durfte ein Mitglied des 16-köpfigen Vorstandes bestimmen, der vom DEMHVerwaltungsrat gewählt wurde. Die jährlichen Sitzungen des Verwaltungsrates tagten bis 1918 unter Anwesenheit eines Mitgliedes der kaiserlichen Familie im großen Sitzungssaal des Preußischen Herrenhauses in Berlin, vgl. Werner Müller-Bay, Die Deutsche Evangelische Missionshilfe. Entstehung und Geschichte (unveröffentlichte Seminararbeit, Uni Hamburg: 1968), S. 14, 20; 1971 wurde die DEMH als Stiftung erneuert und trat dem EMW bei. Bis heute besteht ein Vorstand und ein Kuratorium weiter, vgl. Rainer Hering, "Missionshilfe, Deutsche Evangelische", in Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) Bd. 5 der 4. Aufl. (Tübingen: Mohr Siebeck, 2002), Sp. 1313. Zu Ursprung, Gründung und inhaltlicher Ausrichtung der DEMH vgl. ferner A.W. Schreiber, „Die Deutsche Evangelische Missions-Hilfe,“ EMM 58/8 (1914): S. 351–357. 4 Vgl. U.A. (Unitätsarchiv der Evangelischen Brüder-Unität, Herrnhut)/A.J.H. 18, (Eingabe an den Reichskanzler), 15. Okt. 1915. Diese Petition ist auch zu finden bei Johannes Lepsius, Hg., Deutschland und Armenien 1914–1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke (Potsdam: 1919 (Nachdruck Bremen: Donat-Verlag, 1986)), S. 183–189. Axel Meißner gibt ebenfalls deren Kernstücke wieder, vgl. ders., Martin Rades „Christliche Welt" und Armenien. Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus (Berlin: LIT Verlag, 2010), S. 225. 5 Sie umfasste sechs abschließende Forderungen: Zum einen sollte weiteren Deportationen von Armeniern in bisher nicht betroffenen türkischen Städten und Distrikten wie Konstantinopel, Adana oder Smyrna „ein Riegel vorgeschoben“ werden. Zum anderen sollten den bereits deportierten hundertausenden Frauen und Kindern wirksame Hilfsmaßnahmen zukommen, sowie

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mit keinen weiteren Aktivitäten mehr von sich reden. Stattdessen vermeldete deren Vorsitzender Schreiber knapp vier Monate später, dass dieses Gremium seine Tätigkeit als beendet ansehe, da nun die Bildung einer neuen Kommission im Gange sei. 6 Und tatsächlich hatte im Januar 1916 der Deutsche Evangelische Missionsausschuss (DEMA) in Berlin beschlossen, die OIK als einen festeren Zusammenschluss von Orientmissionsgesellschaften unter dem Vorsitz von Axenfeld zu bilden. Somit war nun als treibende Kraft an Stelle der DEMH der DEMA getreten, dem damaligen zentralen Interessensverband deutscher evangelischer Missionswerke, der 1916 19 Mitgliedsgesellschaften umfasste.7 Die Motivation des DEMA, weshalb man sich nun dazu entschlossen hatte, einen institutionalisierten Unterausschuss für Orientwerke zu bilden, illustrierte daraufhin ein Rundschreiben. Dort begründete man diese Initiative damit, um „eine einheitliche Stellung der beteiligten deutschen Missionskreise nicht nur zur Armenierfrage sondern auch für die Aufgabe Deutschlands im Morgenlande und gegenüber der ganzen Welt des Islams herbei zu führen.“8 Somit bleibt also festzuhalten, dass eine Spezialkommission entstanden war, mit deren Hilfe der Missionsausschuss in Fühlungnahme mit von ihm bisher nicht

weitere Übergriffe an den noch übrigen Armeniern verhindert werden. Bei Friedenschluss möge schließlich den Zwangsislamisierten ihre Rückkehr zum christlichen Glauben, den christlichen Minderheiten in der Türkei ihre Rechte und der christlichen Liebes- und Kulturarbeit generell ihre Fortführung verbürgt werden. A.W. Schreiber teilte sodann in einem Rundschreiben vom 20. Nov. 1915 an die Unterzeichner der Petition die an ihn gerichtete Erklärung des Reichskanzler vom 12. Nov. 1915 mit, wonach es die kaiserliche Regierung auch weiterhin als eine ihrer vornehmsten Pflichten ansähe, dass christliche Völker nicht um ihres Glaubens willen verfolgt würden und der Reichskanzler alles in seiner Macht stehende tun werde, um den von den Unterzeichnern vorgetragene Sorgen und Wünschen Rechnung zu tragen, vgl. U.A./A.J.H. 18, Schreiber an Unterzeichner, 20. Nov. 1915; Meißner, Martin Rade, S. 226f. 6 Vgl. U.A./A.J.H. 18, Schreiber an Unterzeichner der Eingabe, 7. Feb. 1915. 7 Der DEMA war bereits 1885/86 gegründet worden, da die deutsche evangelische Mission eine gemeinsame Vertretung vor staatlichen Instanzen benötigt hatte, vgl. William Richey Hogg, Mission und Ökumene. Geschichte des Internationalen Missionsrats und seiner Vorläufer im 19. Jahrhundert (Stuttgart: Evang. Missionsverlag, 1954), S. 88; Als man den Deutschen Evangelischen Missionsbund (DEMB) am 11. Okt. 1922 als erweiterten Interessensverband gegründete hatte, agierte der DEMA fortan als dessen Vorstand und Exekutivorgan, vgl. Ar.EMW (Archiv des Evangelischen Missionswerks in Deutschland, Hamburg)/DEMA/DEMR 1/0718, (vertraulicher Entwurf der Vertreterversammlung), 11. Okt 1922. Schließlich kam es bei den Tagungen des DEMA und des DEMB am 17. Okt. 1933 bzw. vom 18. bis 20.Okt. 1933 in Barmen zur Transformation dieser beiden Gremien in den Deutschen Evangelischen Missionsrat (DEMR) und Deutschen Evangelischen Missionstag (DEMT) auf Grund des Drucks der Deutschen Christen, vgl. Gunther Schendel, Die Missionsanstalt Hermannsburg und der Nationalsozialismus. Der Weg einer lutherischen Milieuinstitution zwischen Weimarer Republik und Nachkriegszeit (Berlin/Münster: LIT-Verlag, 2009), S. 210. 8 Ar.EMW/DEMA/DEMR 1/0318, Hennig/Schreiber an DEMA-Mitglieder, 19./20. Jan. 1916.

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erreichten Orientmissionen treten wollte. Ziel war dabei durch bewusste Einflussnahme die Herbeiführung einer „einheitlichen Stellung“ der Missionsgesellschaften, also ein regierungsfreundliches Handeln derselben – bei der „Aufgabe Deutschlands im Morgenlande“ im Allgemeinen und bei der Armenierfrage im Speziellen. Tatsächlich traten sodann im Zuge der Vollversammlung am 23. Juni 1916 in Berlin9 alle 13 deutschen evangelischen Orientmissionsgesellschaften der OIK bei, welche zudem einen achtköpfigen OIK-Arbeitsausschuss bildeten.10 Nur J. Lepsius hatte sich mit Axenfeld überworfen und war aus der OIK wieder ausgetreten. 11

9 Vgl., U.A./A.J.H. 18, (streng vertrauliche Mitschrift zu den Verhandlungen vom 23. Juni 1916), o.D. Meißner, Martin Rade, S. 235–238 gibt ebenfalls die Grundzüge des Konferenzverlaufs wieder und nennt dort für die Konferenztagung den 23. Juli 1916, was jedoch nicht zutrifft. 10 Es handelte sich hierbei um folgende Werke: 1. DAG, Marburg; 2. Deutsche Orientmission, Potsdam; 3. Deutscher Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient, Frankfurt/M.; 4. Deutsches Blindenheim in Malatia, Berlin-Friedenau; 5. Direktion der evangelischen Brüderunität, Verwaltungsausschusses des Aussätzigen-Asyls „Jesushilfe“ in Jerusalem, Herrnhut; 6. Direktion der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, Kaiserswerth; 7. Evangelischer Karmelverein, Klein Welka; 8. Evangelisch-Lutherische Mission in Persien, Hermannsburg; 9. Jerusalemsverein, Wustrau; 10. Kuratorium des Syrischen Waisenhauses, Köln; 11. Nestorianisches Hilfswerk, Lerbeck; 12. Notwendiges Liebeswerk, Marburg; 13. Sudan-PionierMission, Wiesbaden. Der Arbeitsausschuss umfasste folgende Personen: 1. D. Karl Axenfeld, Direktor der Berliner Missionsgesellschaft, Mitglied des DEMA, Vorsitzender; 2. Pastor A.W. Schreiber, Direktor der DEMH, Schriftführer; 3. Bischof Paul O. Hennig, Missionsdirektor, Vorsitzender des DEMA, Herrnhut; 4. Prof. D. Julius Richter, Mitglied des DEMA, Berlin; 5. Pastor D. Ludwig Schneller, Vorsitzender des Kuratoriums des Syrischen Waisenhauses, Köln; 6. Direktor Friedrich Schuchardt, Stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Hilfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient, Frankfurt/M.; 7. Pastor Johannes Stursberg, Vorsteher der Diakonissenanstalt Kaiserswerth; 8. Pastor Max Ulich, Schriftführer des Jerusalemsvereins, Wustrau. Eine undatierte Liste, die diese Mitgliederverzeichnisse bietet, ist zu finden bei Roland Löffler, "Kritik am türkischen Armenier-Völkermord und Sicherung der eigenen Institutionen. Zur Arbeit der »Orient- und Islam-Kommission« des Deutschen Evangelischen Missionsausschusses während des Ersten Weltkrieges," Zeitschrift für Missionswissenschaften (ZMiss) 4 (2005): S. 332–351: S. 349–351. Allerdings sollte sich der Arbeitsausschuss auf Drängen der Sudan-Pionier-Mission noch um dessen Missionsinspektor Johannes Held erweitern und damit 1916/1917 auf neun Personen vergrößern, vgl. EZA (Evangelisches Zentralarchiv, Berlin)/BMW 1/1977, Axenfeld/Schreiber (Jahresbericht OIK 1916), 26. Feb. 1917. 11 Lepsius gab seinen Rücktritt aus dem Arbeitsausschuss der OIK am 6. Juli 1916 bekannt, also kurz bevor er für längere Zeit am 15. Juli in die Niederlande aufbrechen sollte, vgl. LAH (Hermann Goltz/Axel Meißner, Hg., Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1926. Dokumente und Zeitschriften aus dem Dr. Johannes-Lepsius-Archiv an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, hg. von Hermann Goltz. Teil 1, Katalog (München: K.G.SaurVerlag, 1998); Teil 2, Mikrofiche-Edition mit Begleitband (München: K.G.Saur-Verlag, 1999); 7129, Lepsius an Axenfeld, 6. Apr. 1916.

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Doch erwies sich dieser Verband durchaus als inhomogen. Nicht nur, was die Missionspraxis und Theologie der Werke anbelangte, sondern auch hinsichtlich des Problems der „armenischen Frage“. Einerseits empfanden nämlich manche Mitglieder dieses Thema als zu heikel und wollten es aus der Arbeitstätigkeit der Kommission ausgeklammert sehen.12 Andererseits war der OIK- Vorsitzende Axenfeld aber nach dem Ausscheiden von J. Lepsius daran interessiert, den Kontakt zu Lepsius-Kreisen nicht zu verlieren. Deshalb berief Axenfeld am 7. Dez. 1916 eine vertrauliche Sitzung nach Berlin und lud dazu von Seiten der OIK Julius Richter, A.W. Schreiber und Friedrich Schuchardt, sowie als Repräsentanten der DAG James Greenfield, Paul Rohrbach und Ewald Stier ein. Am Ende dieser Tagung schlug Stier vor, „eine Art Armenierausschuss“ aus diesem Personenkreis dauerhaft zu bilden13 – eine Entscheidung, die Stier gegenüber J. Lepsius als Vorsitzendem der DAG, der zu diesem Zeitpunkt in Holland weilte, daraufhin energisch zu verteidigen hatte.14 Axenfeld jedenfalls übernahm den Vorsitz des neuen Ausschusses, E. Stier wurde dessen Schriftführer. Insgesamt sind nach dieser konstituierenden Sitzung noch drei weitere Tagungen im

12 So machte etwa Max Ulich vom Jerusalemsverein gegenüber Schreiber keinen Hehl aus seinem Unbehagen, insbesondere nachdem der englische Premierminister Herbert Asquith während seiner Guildhall-Rede im Herbst 1916 die deutschen Seite der Untätigkeit beschuldigt hatte, der „germanisierten“ Türkei als ihres Vasallen dem Morden an den Armeniern nicht Einhalt geboten zu haben: „Selbstverständlich hatte ich die Ausführungen dieses Erzlügners bereits in anderen Zeitungen gelesen […]. Ich bitte Dich herzlich, uns als Mitglied der Orient- und Islamkommission davor zu bewahren, daß wir etwa unter Bezugnahme auf dieses britische Urteil erneut die Armenierfrage behandeln sollen.“; EZA/BMW 1/1982, Ulich an Schreiber, 14. Nov. 1916. Den Hintergrund dazu bildete ein Artikel der NAZg Nr. 313, 11. Nov. 1916 (EZA/BMW 1/1982), wo Asquith wie folgt zitiert wird: „Aber Deutschland, das als Herr der Türkei mit einem Wink diesem organisierten Feldzug von Vergewaltigung und Metzelei gegen ein christliches Volk hätte Einhalt tun und […] ihn verhindern können, Deutschland hat unbewegt und ergeben und […] vielleicht beifällig zugeschaut. Dies ist ein Beispiel […] für die wahre Bedeutung einer germanisierten Türkei.“ 13 Vgl. EZA/BMW 1/1979, Schreiber (vertrauliche Mitschrift der Armenier-Ausschusssitzung am 7. Dez. 1916), o.D. 14 So etwa E. Stier in einem Brief an J. Lepsius, der die grundsätzlichen Vorbehalte des DAGVorsitzenden gegenüber dem OIK-Vorsitzendem gut wiederspiegelt: „Die Gefahr, die in dem xx Axenfelds liegt alles an sich zu reißen, verkenne ich nicht. Sie können uns aber das Vertrauen schenken, daß wir dem zu begegnen wissen werden; wir können das wie ich glaube jetzt besser, wo wir auch von seinen Absichten unterrichtet werden, als früher.“, LAH 2586, Stier an Lepsius (hs.), 11. Feb. 1917. Leider ist das mit „xx“ markierte Wort unleserlich. Der Sinn der gesamten Aussage ist jedoch klar, wenn Meißner den Hintergrund des Briefes von Stier wie folgt resümiert: „Lepsius befürchtete offenbar, dass die DAG und die DOM einer übergeordneten Instanz, deren Wortführer Axenfeld ist, unterstellt werden sollten, was deren Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit erheblich eingeschränkt hätte […].“; Meißner, Martin Rade, S. 238 (Anm.1132).

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Jahre 1917 bekannt und schließlich die letzte vom 3. Januar 1918.15 Das Potential dieser ungleichen Allianz war dabei im vornherein ein sehr begrenztes. Eine Entsendung Ewald Stiers in die Türkei etwa blockierte die OIK-Führungsspitze aus dezidiert politischen Gründen, da sie dessen Position als zu türkeikritisch einschätzte. So hieß es diesbezüglich in der Mitschrift zur dritten Ausschuss-Sitzung vom 10. Mai 1917: „D. Axenfeld und Dr. Richter haben gegen dieses Vorgehen die schwersten Bedenken und fürchten eine Gefährdung aller Unternehmen.“16 Waren also bereits hier deutliche Differenzen zu erkennen, führten diese Ende 1917 zu weiteren Komplikationen, als russische Truppen sich schneller als vereinbart aus türkisch-armenischem Gebiet zurückzogen und Armenier die Opfer des dortigen Machtvakuums zu werden drohten. So teilte man auf dem letzten Ausschuss-Treffen am 3. Januar 1918 mit,17 dass die DAG eine eigene, in Axenfelds Augen „politische“ Eingabe an das AA getätigt habe, welche die Zukunft der Armenier erörterte. Der OIK-Vorsitzende bekundete dagegen, „daß ein gänzlich unpolitisches, rein humanitäres Hülfswerk Billigung, u.U. sogar tatkräftige Unterstützung seitens der türkischen Regierung“18 finden würde. Doch genau diese Alternative eines „politischen“, also türkeikritischen, oder eher eines „unpolitischen“, also Türkei- und damit regierungsfreundlichen Charakters von Hilfsmaßnahmen sollte zu immer größerem Streit führen. Als E. Stier Axenfeld eröffnete, dass er nochmals auf eigene Faust versuchen wolle, in armenische Deportationslager zu reisen, kam es auch mit James Greenfield zum Disput, so dass Axenfeld schließlich Anfang Februar 1918 meinte feststellen zu müssen, „dass die Gesichtspunkte und Ziele der Deutsch-Armenischen Gesellschaft andere sind, als diejenigen der christlichen Missionen. Die D.A.G. hat bewusst auch politische Zwecke im Auge, hofft noch immer auf eine Lostrennung eines selbständigen Armenien von der Türkei, also auf die Verwirklichung eines Kriegszieles der Entente, und kann oder will sich von den nationalen Hoffnungen des armenischen Volkes nicht durch Beteiligung an einem Hülfswerk lossagen, dessen Voraussetzung volle Loyalität gegenüber der Türkei sein müsste.“19

15 Hierbei handelte es sich um Tagungen am 7. März, 10. Mai, und 2. Juli 1917. Alle Treffen des Armenier-Ausschusses fanden ausschließlich in Berlin statt. 16 EZA/BMW 1/1979, Schreiber (Besprechung des Armenier-Ausschusses am 10. Mai 1917 in Berlin), o.D. 17 EZA/BMW 1/1979, [Axenfeld] (hs.), o.D. 18 Vgl. EZA/BMW 1/1976, Axenfeld an OIK- und Ausschussmitglieder (vertraulich), 8. Jan. 1918. 19 EZA/BMW 1/1976, Axenfeld an Schuchardt (vertraulich), 11. Feb. 1918.

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In einem vertraulichen Umlaufbrief legitimierte Axenfeld darauf seine Haltung gegenüber den OIK-Mitgliedern, bezeichnete dort das Selbstbestimmungsrecht kaukasischer Völker als gegenstandslos und diffamierte bewaffnete Armenier als „Hochverräter und Aufrührer“, gegen die die regulären türkischen Truppen zu recht mit Schärfe vorgingen.20 Und schließlich setzte Axenfeld dann auch E. Stier über seine Sicht der Dinge wie folgt in Kenntnis: „Wir Missionsarbeiter sind überall gewissenhaft der Obrigkeit untertan, die Gewalt über uns hat, mischen uns nicht in den Streit der Völker, nehmen grundsätzlich nicht für politische Freiheitsbestrebungen […] unterworfener Völker Partei und müssen es […] auch grundsätzlich ablehnen, etwa in der Heimat durch Druck auf die Regierung […] derartige Parteinahme auszuüben.“21 Das offizielle Ende dieses Ausschusses nach nicht einmal gut einem Jahr vermerkte der OIK-Vorsitzende zusammen mit Schreiber in einem Arbeitsbericht am 21. März 1918.22 Doch bedeutete dies nicht, dass beide Körperschaften fortan getrennte Wege gingen. Der Grund bestand darin, dass abseits von diesen missionspolitischen Divergenzen auf persönlicher Ebene Bereitschaft zu praktischer Hilfe vorhanden war. So besaß A.W. Schreiber im Gegensatz zu Axenfeld gute Kontakte zur DAG, insbesondere zu James Greenfield23, weshalb er sich mit diesem um ein ganz spezielles Arbeitsgebiet zu kümmern begann: Zum ersten Mal wurde dieses im Januar 1917 greifbar, als ein in Jena eingeschriebener armenischer Student seinen Einberufungsbefehl vom türkischen Generalkonsulat in Frankfurt/ M. erhalten hatte und von Greenfield an Axenfeld weitervermittelt worden war, um sich möglichst der Einberufung zu entziehen. 24 Doch da Axenfeld zu diesem Zeitpunkt aus Krankheitsgründen verhindert war, nahm sich

20 EZA/BMW 1/1976, Axenfeld an Ulich u.a. (vertraulich), 21. Feb. 1918. 21 EZA/BMW 1/1976, Axenfeld an Stier, 25. Feb. 1918. 22 Vgl. EZA/BMW 1/1976, Axenfeld/Schreiber (Bericht OIK-Arbeit 1917/1918, vertraulich), S. 21. März 1918. 23 Der polyglotte James Greenfield (1870–1939) hatte als Sohn eines deutsch-jüdischen Vaters und einer armenischen Mutter in Deutschland Jura und Volkswirtschaft studiert und ab 1905 in Berlin zu leben begonnen. Dort war er von 1918–1920 der diplomatische Vertreter der armenischen Botschaft und im Anschluss der Leiter von deren Nachfolgeinstanz, der armenischen Vertrauensstelle. Zudem agierte Greenfield als Mitbegründer und Vizevorsitzender der DAG, sowie als Vorsitzender der Berliner armenischen Kolonie. Er gilt als einer der engsten Freunde und Vertrauten von J. Lepsius; vgl. Axel Meißner. „Das Armenische Hilfswerk von Johannes Lepsius. Umfang und Bedeutung,“ in Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte, Hg. Rolf Hosfeld (Göttingen: Wallstein-Verlag, 2013), S. 172–196, S. 175 (Anm. 10). 24 Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Chahigian an Axenfeld, 17. Jan. 1917.

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Schreiber persönlich der Sache an – mit energischen Mitteln.25 So verfasste er eine Eingabe im Januar 1917 an das königlich-preußische Kriegsministerium und bat dort um die Aufnahme in Deutschland befindlicher militärpflichtiger Armenier mit türkischer Staatsangehörigkeit in das preußische Heer, deren Zahl 200–300 Personen betrage. Diese befürchteten nämlich bei Auslieferung baldiges Verschwinden im türkischen Heer, Gefängnishaft, oder sofortigen Tod.26 Doch beließ es Schreiber nicht allein bei der Petition, sondern informierte zudem auch den Reichskanzler persönlich in einer weiteren, doppelseitigen Eingabe vom 24. Januar 1917, wo er außerdem auf die politischen Konsequenzen einer ausbleibenden Hilfsleistung verwies. Entsprechend möge sich der Reichskanzler für diese Armenier auf deutschem Boden einsetzen und zwar, wie Schreiber erwog, vermittels dreier potentieller Schutzmaßnahmen, „sei es durch Ermöglichung freiwilligen Eintritts in das Preussische Heer, durch Verwendung im deutschen vaterländischen Hilfsdienst oder durch Abschiebung ins Ausland.“27 Schreiber widmete sich daraufhin verstärkt der zweiten der von ihm vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen, nämlich Armenier in deutsche, für die Kriegsrüstung relevante Betriebe unterzubringen. So ließ er seine guten Beziehungen als DEMH-Direktor spielen und lotete etwa in einem Brief an Dr. Friedrich Albert Spieker, den Vorsitzenden der Berliner Mission und Direktor der Siemens-Halske-Werke28 die Möglichkeit aus, 50–60 Armenier den dortigen Werken zuzuweisen. 29 Auf der OIKSitzung in Berlin im März 1917 konnte Schreiber zudem erste Perspektiven

25 Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass Axel Meißners Hinweis, wonach auf Intervention der DAG militärpflichtige türkische Armenier nicht an die Türkei ausgeliefert, sondern zum Dienst in deutschen Munitionsfabriken herangezogen worden seien (vgl. Meißner, Martin Rade, 222), zwar durchaus zutrifft; doch lässt dieser Hinweis, den Meißner ohne Quellenbeleg gibt, nichts von Schreibers maßgeblichem Engagement erahnen, so dass diese Hilfsmaßnahmen durchaus keine alleinige DAG-Aktion darstellten, sondern sich eher der OIKSchirmherrschaft verdankten. 26 Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Major Düsterberg, 18. Jan. 1917; Wardges Mik'ayelyan, Die armenische Frage und der Genozid an den Armeniern in der Türkei (1913–1919). Dokumente aus dem politischen Archiv des Deutschen Auswärtigen Amts (Jerewan: 2004), S. 427f. 27 Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Bethmann Hollweg, 24. Jan. 1917. Dieser beherzte Vorstoß brachte Schreiber freilich auch Verärgerung von Seiten des AA ein, wie er selbst einmal vermerkte: „Man bedauerte dort, dass schriftliche Eingaben gemacht worden sind. […]. Ich wurde gebeten, […] in dieser Sache keinerlei schriftliche Eingaben mehr zu machen, sondern mich nur auf mündliche Verhandlungen zu beschränken.“ Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Mumm, 9. Feb. 1917. 28 Vgl. Wolfram Weiße, Praktisches Christentum und Reich Gottes. Die ökumenische Bewegung Life and Work, 1919–1937 (Kirche und Konfession. Veröffentlichungen des Konfessionskundlichen Instituts des Evangelischen Bundes 31) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991), S. 637. 29 Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Spiecker, 28. Feb. 1917.

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skizzieren, wonach Armenier in Berlin zum vaterländischen Hilfsdienst herangezogen werden könnten, da diesbezüglich Verständigungen mit dem AA und dem Berliner Polizeipräsidium erzielt worden seien; deshalb sollten auch andere vom Militärdienst betroffene Armenier auf Reichsgebiet sich fortan in der Landeshauptstadt um Arbeit bemühen.30 Und erste diesbezügliche Erfolge ließ schließlich die Erstellung einer Liste von 23 in der Kriegsindustrie beschäftigten Armeniern erkennen, welche deshalb vom Kriegsdienst ausgenommen werden sollten. 31 Wie schwierig diese praktische Hilfsarbeit jedoch tatsächlich sein konnte, zeigte schließlich der Einzelfall des armenischen Zahnarztes, Roupen M. Hocotz, über dessen Schicksal eine gut einjährige Briefkorrespondenz sporadisch erhalten ist: Schreiber musste Hocotz im Juni 1917 mitteilen, dass für diesen eine Einstellung im Preußischen Heer oder eine vergleichbare Verwendung im Hilfsdienst momentan unwahrscheinlich sei;32 analog dazu folgte eine Absage der Siemens-Halske-Werke.33 Kurz darauf konnte Schreiber dennoch vermelden, dass Hocotz „in einem als Rüstungsgesellschaft anerkanntem Betrieb“, nämlich demjenigen des Tiefbauunternehmers Hermann Hein, eine Anstellung gefunden habe.34 Doch folgten weitere Schwierigkeiten. So musste H. Hein Schreiber im Juli 1917 bitten, seine Reklamation für Hocotz weiterzuleiten: Obwohl dieser nämlich in der Verwaltung seines Betriebes nun die Rechnungsaufstellung, Buchführung „und andere dringende Tätigkeiten“ ausführe, habe Hocotz einen Einberufungsbefehl zum 27. Juli nach Konstantinopel erhalten.35 Wie dieser Befehl sodann erfolgreich aufgeschoben werden konnte, ist nicht weiter bekannt. Allerding erging ein halbes Jahr später im Januar 1918 eine geheime Mitteilung im Auftrag des Berliner Polizeipräsidenten36 an Schreiber, in welchem der Präsident auf Anfrage des Letzteren bekundete, dass er zwar den Versand von Einberufungsmitteilungen nicht verhindern könne. Allerdings könne er handeln,

30 Vgl. U.A./A.J.H.18, Axenfeld/Schreiber (Niederschrift der OIK-Verhandlungen in Berlin am 7. März 1917), o.D. 31 Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Polizeirat Hennig, („Liste der türkischen Armenier, die in der deutschen Kriegsindustrie beschäftigt sind“, o.D.) 20. März 1917. 32 Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Hocotz, 8. Juni 1917. 33 Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber [i.A.] an Hocotz, 19. Juni 1917. 34 Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Polizeirat Hennig, 21. Juni 1917. 35 Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Hein an Schreiber, 17. Juli 1917. 36 Obgleich in den hiesigen Quellen nicht namentlich erwähnt, sollte es sich hierbei um Heinrich von Oppen gehandelt haben, der als letzter königlicher Polizeipräsident von Berlin dieses Amt von 1916 bis zum 9. November 1918 innehatte, nachdem er in gleicher Funktion in Breslau zuvor tätig gewesen war, vgl. Joachim Rott, „Ich gehe meinen Weg ungehindert geradeaus“. Dr. Bernhard Weiß (1880–1951) Polizeivizepräsident in Berlin. Leben und Wirken (Berlin: Frank & Timme, 2010), S. 36 (Anm. 127).

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„wenn das Generalkonsulat um zwangsweise Abschiebung solcher Leute nach der Türkei ersucht, indem ich dann diesem Ersuchen keine Folge gebe.“37 Für Hocotz, der in einer Wohnung in Berlin-Schöneberg wohnhaft war, spitzte sich die Situation freilich im März 1918 abermals zu, als der türkische Generalkonsul Omer Lutfi ihm den offiziellen Stellungsbefehl zusandte, da Konstantinopel dessen Reklamation schlussendlich abgelehnt habe.38 Schreiber wurde deshalb erneut aktiv, machte an das Königliche Polizeipräsidium in Berlin eine Eingabe und bat dort um Aufklärung, ob das Präsidium „ebenso verfahren“ werde, wie in den anderen Fällen der eingetragenen Armenier und ob entsprechend „auch Hocotz in Ruhe alles Weitere abwarten“ könne.39 Die im Januar 1918 angekündigte Praxis des Polizeipräsidenten, etwaige türkische Abschiebungsanträge zu verschleppen oder zu ignorieren, scheint also tatsächlich in gewissem Umfang angewandt worden zu sein. Und zumindest im Fall von Hocotz höchstwahrscheinlich mit Erfolg, denn in einer Liste der aus Rüstungsgründen nicht auszuliefernden Armeniern von Ende Mai 1918 war dieser noch immer aufgeführt.40 Schließlich beglückwünschte Schreiber seinen Schützling am 24. August 1918, dass dessen erneutes Gesuch um Zurückstellung „vom türkischen Militärdienst den richtigen Weg gegangen ist und hoffentlich nun zum erwünschten Ziele führen wird.“41 Wie erfolgreich insgesamt diese von Schreiber und Greenfield maßgeblich gestaltete Hilfsarbeit tatsächlich war,42 lässt sich leider nicht genau erfassen. Schreiber sprach

37 38 39 40 41

Ar.EMW/DEMH 46, Polizeipräsident [i.V.] an Schreiber (geheim), 11. Jan. 1918. Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Lutfi an Hocotz, 8. März 1918. Vgl. Ar.EMW/DEMH, 46, Schreiber an Königliches Polizeipräsidium, 9. März 1918. Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Hennig, 30. Mai 1918. Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Hocotz, 24. Aug. 1918. Hocotzʼ Dankesspende von 100 Mark habe Schreiber der Arbeit des Blindenheimes in Malatia überweisen und dessen Angebot, mit zahnärztlichem Können „Missionskindern“ gelegentlich zu helfen, nehme er gerne wahr, vgl. ibid. 42 Höchstwahrscheinlich war dies nicht das einzige Beispiel einer guten Zusammenarbeit von Schreiber mit DAG-Kreisen: Denn der DEMH-Direktor war außerdem Schriftführer des am 11. November 1914 gegründeten interkonfessionellen Hilfsausschusses für Gefangenen-Seelsorge, der an ausländische Gefangene christliche Schriften und Hilfsgüter verteilte, vgl. A. W. Schreiber, „Die Kriegsarbeit der Deutschen Evangelischen Missions-Hilfe,“ EMM 59/7 (1915): S. 300–305. Dieser Hilfsausschuss nahm durch Vermittlung von Ernst Sommer (DAG, Hilfsbund) 1917 Kontakt zu 800 strafgefangenen russischen Armeniern auf und versorgte diese mit religiösen Schriften, sowie mit Lebensmittelpaketen aus Kopenhagen und aus der Schweiz, vgl. EZA/BMW 1/1979, Schreiber (Niederschrift der Besprechung des Armenier-Ausschusses vom 2. Juli 1917), 15. August 1917. Die Kooperation mit E. Sommer im Gefangenenausschuss erwähnte Schreiber abermals ein Jahr später, vgl. EZA/BMW 1/1976, Schreiber an Königlich Preußisches Kriegsministerium, 22. August 1918.

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in diesem letzten an Hocotz erhaltenen Brief lediglich davon, dass er froh sei „hier und da einen wirklichen Dienst“ geleistet zu haben.43 Schlussendlich dürfte es also angemessen sein, den Aktionsradius des ArmenierAusschusses als ein Spannungsfeld zu charakterisieren: Ein Feld im Raum der Mission, auf welchem zwar praktische Armenierhilfe aus christlicher Solidarität heraus geleistet wurde. Ein Feld, das aber auch, wie an Hand der Einflussnahme des OIKVorsitzenden K. T. Axenfeld zu sehen war, als Aktionsfeld politisch instrumentalisiert werden konnte – mit einem wesentlichen Fluchtpunkt: Die Interessenslage der deutschen Regierungs- bzw. Kriegspolitik.

43 Vgl. Ar.EMW/DEMH 46, Schreiber an Hocotz, 24. August 1918. Hätte es sich bei dieser Hilfsmaßnahme der Bewahrung von armenischen Wehrpflichtigen vor dem türkischen Kriegsdienst allerdings insgesamt um einen größeren Erfolg gehandelt, hätte man es nach dem Krieg im Kontext der Schuldfrage Deutschlands an der armenischen Gräuel wohl nicht unterlassen, auch diese Maßnahme missionspolitisch stärker auszunutzen, was allerdings nicht geschah: So touchierte etwa Julius Richter, „Die deutschen evangelischen Missionskreise und das armenische Volk,“ Allgemeine Missionszeitschrift (AMZ) 46 (1919): S. 1–45, S. 41 allenfalls dieses Arbeitsfeld im Rahmen seiner apologetischen Darstellung des deutschen Engagements für die Armenier, ohne weitere Detailinformationen dazu zu nennen. Auch Axenfeld hatte zuvor gegenüber dem DEMA keine konkreten Zahlen angeführt, sondern nur resümiert, dass man das Leben von Armeniern in Deutschland durch Einstellung in kriegswichtige Betreibe geschützt habe, vgl. EZA/BMW 1/8186, Axenfeld an Hennig (OIKBericht für die Konferenz der Missionsgesellschaften am 26. September 1918 in Berlin), 25. September 1918.

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Der levantinische Krieg Die islamistische Bedrohung und die Re-definierung politischer Allianzen im Libanon Eine kritische Analyse zur Positionierung interviewter Rum- und Syrisch-Orthodoxer Christen1 Christoph Leonhardt

Die Christenheit als bedrängte Minderheit in der Levante Historisch gesehen kann die Levante als die Wiege des Christentums bezeichnet werden, da die ältesten christlichen Gemeinden von jeher mit dieser Region verbunden sind. Mit den dynamischen Entwicklungen des gegenwärtigen Krieges in Syrien und im Irak und mit dem großen Zuwachs an Islamismus in der Levante sind diese dort in ihrer Existenz bedroht.2 Nachdem die islamistische Gruppierung des sog. Dawlah alIslāmīyah (»Islamischen Staates«) 2014 ein Kalifat in großen Teilen des syrischirakischen Gebietes ausgerufen hatte, häuften sich die Drohungen gegen die Orientalischen Christen, entweder zum Islam zu konvertieren, aus dem Gebiet zu fliehen oder bei einer Verweigerung dieser Anordnungen getötet zu werden. 3 Zumindest noch vor der Machtergreifung des sog. Dawlah al-Islāmīyah lösten offizielle Aussagen Orthodoxer Patriarchen in Syrien und im Libanon in der westlichen Medienlandschaft Unverständnis aus, weil ihre Äußerungen zu Beginn des Krieges eine Solidarisierung mit

1 Die Interviewpartner des Autors dieses Artikels entstammen aus einem Kreis von libanesischen Lehrbeauftragten, Klerikern, Diakonen, Priestern, Metropoliten und Erzbischöfen der einheimischen Kirchen des Rum- und Syrisch-Orthodoxen Patriarchats von Antiochia. Zu den gesamten Interviews mit den Repräsentanten des Rum- und Syrisch-Orthodoxen Patriarchats, siehe in: Christoph Leonhardt, Orthodoxe Konfessionen im Libanon im Kontext der ‘Syrischen Arabellion’: Haltungen, Auswirkungen und Zukunftsperspektiven (eingereichte Masterarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2014), XI. Anhang: Interviewreihen 1-2. 2 Im Folgenden werden die Begriffe „Islamismus“ und „islamistisch“ für eine Erscheinungsform politisch-islamischer Bewegungen verwendet, die nach S. Riedel auf die Machtergreifung in Form eines Islamischen Systems abzielt. Zur Debatte der Begriffsverwendung siehe: Peter L. Münch-Heubner, „Islamismus oder Fundamentalismus?,“ in Der Islam. Im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog, Hg. Hans Zehetmair (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005), S. 36–48. 3 Vgl. Jiyar Gol (19.07.2014), Iraqi Christians flee after Isis issue Mosul ultimatum, BBC News Middle East, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-28381455 [19.07.2014;17:35].

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der syrischen Regierung des amtierenden Präsidenten Bashar al-Asad (*1965) verdeutlichten.4 Während die Christen in Syrien lediglich 8–10% der Bevölkerung stellten, hält das Nachbarland Libanon bis heute mit einem Anteil von ca. 35% an der Gesamtbevölkerung prozentual gesehen die größte christliche Bevölkerungsgruppe der christlichen Minderheiten im arabisch-islamischen Gebiet. Als einst zum selben französischen Völkerbundmandat (1923–1943) dazugehörend ist der Libanon nicht nur auf ökonomischer und gesellschaftlicher, sondern vor allem auf politischer Ebene eng mit dem benachbarten Bürgerkriegsland verbunden, wobei auch die Christen beider Länder engste Verbindungen miteinander pflegen. Aus dem ehedem gemeinsamen kirchlichen Zentrum Syriens hervorgehend, nehmen das Rum- und das Syrisch-Orthodoxe Patriarchat von Antiochia hierbei eine herausragende Position ein. Nicht nur erstrecken sich beide Kirchen in ihrer territorialen Ausdehnung auf libanesischem und syrischem Staatsgebiet mit Patriarchatsstuhl in Damaskus, sie sind außerdem auch als zwei der ältesten Denominationen in der Levante direkt vom Krieg in der Levante betroffen.5

Christliche Kräfte in der politischen Landschaft des Multikonfessionsstaats Libanon Der Libanon wurde schon früh zum Rückzugsgebiet für verschiedenste religiöse Minderheiten. Obwohl archäologisch etliche Spuren auf frühere Völker hinweisen, wird die Geschichte des Zedernlandes oftmals mit dem antiken Seefahrervolk der Phönizier um 1500 v. Chr. in Verbindung gebracht.6 Ab dem 1. Jahrhundert begann dann im Küstengebiet der Levante die Verbreitung des Christentums. Durch die Politik des Byzantinischen Reiches begünstigt kam es im 5. Jahrhundert im christologischen Streit zu den Spaltungen der Christenheit, auf deren kirchengeschichtlicher Basis innerhalb der Orientalischen Christen zwischen den Östlich-Orthodoxen und Orien-

4 Vgl. Carsten Wieland, Syria – A Decade of lost chances. Repression and Revolution from Damascus Spring to Arab Spring (Seattle: Cune, 2012), S. 90. 5 In der einstigen hellenistischen Metropole Antiochia lebte eine christliche Gemeinde, deren Mitglieder laut Apg 11,26 zum ersten Mal als christianoi – als »Christen« – bezeichnet wurde. Anknüpfend an den neutestamentlichen Bericht von Gal 2,11f. gilt Petrus als der erste Bischof dieser Gemeinde. Da auch Paulus, der »Apostel der Heiden«, ausgehend von diesem Zentrum seine Mission bis nach Europa vorantrieb, sind die Anfänge des abendländischen Christentums tief mit Antiochia verbunden. Seit 1939 liegt es als Antakya auf türkischen Staatsgebiet (vgl. Regina Panzer, Identität und Geschichtsbewusstsein: griechisch-orthodoxe Christen im Vorderen Orient zwischen Byzanz und Arabertum (Studien zur Zeitgeschichte des Nahen Ostens und Nordafrikas 3) (Hamburg: LIT-Verlag, 1998), S. 24). 6 Vgl. Raif G. Khoury, „Libanon,“ in TRE Bd.21 (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1991), S. 40–47, S. 40.

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talisch-Orthodoxen Kirchen differenziert wurde. Als Östlich-Orthodox wurden diejenigen Kirchen bezeichnet, die im weiteren Verlauf der Byzantinischen Tradition folgten.7 Dagegen wurden diejenigen Denominationen Orientalisch-Orthodox genannt, die dann aus der Opposition zu dem christologischen Bekenntnis der IV. Ökumenischen Synode von Chalzedon (451) hervorgingen. 8 Aufgrund von weiteren Antagonismen existierte lange Zeit eine Vielzahl an Orientalischen Christen in der Levante, wobei allein der Libanon noch heute zwölf offiziell anerkannte christliche Konfessionen beherbergt.9 Die durch die Geschichte anhaltende Immigration religiöser Minderheiten bildete den Grundstein, auf dessen Basis der Libanon bis heute als ein Multikonfessionsstaat bezeichnet werden kann. Neben den politischen und ökonomischen Differenzierungen spielte die sich dazu quer verhaltende Fragmentierung von insgesamt achtzehn offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften lange Zeit eine tragende sozial-gesellschaftliche Rolle.10 Nach der Parlamentsbildung von 1922 und der Kabinettsbildung von 1926 wurde die konstitutionelle Republik Libanon als Teil des Völkerbundmandats für Syrien und Libanon ausgerufen. Mit der Institutionalisierung des Konfessionalismus sorgte Frankreich als traditioneller Schirmherr der maronitischen Christen dafür, dass diese die bedeutenden Funktionen im Staat innehatten.11 Obwohl es mit dem libanesischen Mīthāq al-Waṭanī (»Nationalpakt«) 7 Als »Byzantinisch« galten die Patriarchate, die sich zu dem christologischen Credo der IV. Ökumenischen Synode von Chalzedon und den weiteren Bekenntnissen bis zur VII. Ökumenischen Synode zu Nicäa (787) bekannten. Diese waren: das Rum-Orthodoxe Patriarchat Antiochia, das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat Alexandria und das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat Jerusalem sowie die autokephale Georgisch-Orthodoxe Kirche (vgl. Wolfgang Hage, Das orientalische Christentum (Religionen der Menschheit 29/2) (Stuttgart: KohlhammerVerlag, 2007), S. 127). 8 Als »Non-Chalzedonenser« galten diejenigen Kirchen, die in ihrer konfessionellen Prägung dem Monophysitismus alexandrinischer Tradition folgten und Christus als den wahren Gott und wahren Menschen in der nur einen fleischgewordenen Natur des Gott-Logos bekannten. Diese waren: die Syrisch-, die Koptisch-, die Äthiopisch- und die Eritreisch-Orthodoxe sowie die Armenisch-Apostolische Kirche. Der Vollständigkeit halber sind hier noch die Apostolische Kirche des Ostens mit ihrer eigenen »Nestorianischen« Konfession sowie die OrientalischKatholischen Kirchen anzuführen (vgl. ibid., S. 129). 9 Vgl. Wolf Hagen von Angern, Geschichtskonstrukt und Konfession im Libanon (Berlin: LogosVerlag, 2010), S. 69. 10 Die Sunniten repräsentieren bis heute die Hauptströmung der Muslime und bilden die Mehrheit der Bevölkerung in der islamisch-arabischen Welt mit der Ausnahme von Bahrain, Irak und Iran, wo die Schiiten die Mehrheitsbevölkerung stellen. Im Libanon bilden beide Strömungen eine beträchtliche Minderheit, wobei offizielle Angaben allerdings auf die letzte Volkszählung von 1932 zurückgehen, als Christen ca. 51% (29% Maroniten) und Muslime ca. 49% (22% Sunniten, 20% Schiiten, Drusen 7%) der Bevölkerung stellten (vgl. Mayssoun Zein al-Din, Religion als politischer Faktor? Eine Untersuchung am Beispiel der Frage des politischen Konfessionalismus in Libanon (Baden-Baden: Nomos-Verlag, 2010), S. 138). 11 Der Name der Maroniten geht auf eine Gemeinschaft von Mönchen aus dem 5. Jahrhundert zurück, die nach der asketischen Lebensweise des Abtes Maron (†410) lebten. Im Libanon stellen sie bis heute die größte christliche Konfession dar und repräsentieren hier als mit Rom unierte Kirche die Mehrheit der Katholiken (vgl. Angern, Geschichtskonstrukt, S. 70).

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1943 zur Unabhängigkeit der Republik im Rahmen einer konfessionellen Demokratie kam, behielten die Führerschaften der Maroniten ihre Vorherrschaft. 12 Das Staatsgebilde als modus vivendi für die religiöse Koexistenz stellte sich jedoch als fragil heraus, da die Nationale Charta durch konfessionalistische Neigungen immer weiter zurückgedrängt wurde.13 Da im Laufe der Zeit große christliche Bevölkerungsteile emigrierten und muslimische immigrierten, kam es 1958 auch auf Grund dieser veränderten Demographie zu dem Ausbruch des Ersten Libanesischen Bürgerkrieges. 14 Mit dem Zustrom an palästinensischen Flüchtlingen vertieften sich die gesellschaftlichen Spannungen, die sich in dem Zweiten Libanesischen Bürgerkrieg (1975– 1990) gänzlich entluden.15 Ab Ende der 1980er Jahre kam es dabei auch zu innerchristlichen Konflikten, wobei ganze maronitische Familienclans ausgelöscht wurden. Die innerchristlichen Kämpfe zwischen den Armeeeinheiten von M. Aoun (*1933) und S. Geagea (*1952) führten zu tausenden Opfern unter den Christen und zu einer tiefen Spaltung der libanesischen Christenheit.16 Ihr Anteil fiel dramatisch und der zusätzliche Verlust der prominenten Familienclans stand symptomatisch für das Ende einer Ära christlicher Vorherrschaft im Zedernland.17 Nachdem der Bürgerkrieg 1989 durch das Abkommen von Taif beendet werden konnte, wurde mit der Konstitutionalisierung dieses Vertrags die Zweite Republik Libanon gegründet. Jedoch lehnte die Mehrheit der Christen diese ab, was soweit führte, dass viele von ihnen mit dem neuen Staat so umgingen, wie die Muslime früher mit dem Groß-Libanon, so „als ob der Staat, den sie nicht beherrschen, auch nicht ihr Staat [sei]“ 18. Das Abkommen bedeutete für viele Christen, dass ihr lang gelebter Traum von einer christlichen Vorherrschaft über ein Land in der islamisch-arabischen Welt unweigerlich verschwand, weshalb die Post-Ära von Taif in den 1990er Jahren als die Dekade der

12 Während der Parlamentspräsident ein Sunnit und der Regierungschef ein Schiit zu sein hatte, fiel das Amt des Staatspräsidenten den Maroniten zu (vgl. Theodor Hanf, Koexistenz im Krieg: Staatszerfall und Entstehen einer Nation im Libanon (Baden-Baden: Nomos-Verlag, 1990), S. 169). 13 Vgl. Werner Schmucker, „Die Krise im Libanon: ein konfessioneller oder ein sozialer Konflikt?,“ Die Welt des Islams: International journal for the study of modern Islam 17/1-4 (1976/77): S. 104–126, S. 109. 14 Vgl. Mordechai Nisan, Minorities in the Middle East: A History of Struggle and Self-Expression (Jefferson/London: Mcfarland & Co, 2002), S. 209. 15 Vgl. Craig Larkin, “Beyond the War? The Lebanese Postmemory Experience,” International Journal of Middle East Studies 42 (2010): S. 615–635, S. 617. 16 Vgl. Michael Kuderna, Christliche Gruppen im Libanon: Kampf um Ideologie und Herrschaft in einer unfertigen Nation (Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1983), S. 1–2. 17 Vgl. Eyal Zisser, Lebanon: The Challenge of Independence (London/New York: I. B. Tauris, 2000), S. 239. 18 Volker Perthes, Der Libanon nach dem Bürgerkrieg. Von Ta'if zum gesellschaftlichen Konsens? (Baden-Baden: Nomos-Verlag, 1994), S. 19.

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christlichen Frustration galt.19 Auf der anderen Seite beeinflusste die syrische Dominanz im Libanon die christlichen Loyalitäten auf politischer Ebene stark. Als der ehemalige Ministerpräsident R. Hariri (1944–2005) in Beirut ermordet wurde, glich dies einem Erdbeben in der politischen Landschaft. 20 Dessen Nachwehen gingen 2005 als »Zedern-Revolution« in die libanesische Geschichte ein und können bis heute als ein Sinnbild der Spaltung des Landes gesehen werden. Die durch den Mordanschlag ausgelösten anti-syrischen Demonstrationen führten zu einem Zusammenschluss aus Parteien und Organisationen, der seinen Namen einer Protestkundgebung am 14. März entnahm. Als Reaktion entstand eine von der Ḥizbu’llāh (»Partei Gottes«) angeführte Allianz des 8. März, deren Namensgebung von einem Gegenprotest herrührte, der symbolträchtig Syrien für seine Rolle im Libanon gedankt hatte.21 Nach dem Abzug der syrischen Streitkräfte fanden sich die Christen in einem Prozess der Neuausrichtung ihrer politischen Allianzen innerhalb dieses Spektrums des proamerikanischen, pro-saudischen 14. März Lagers und des pro-iranischen, prosyrischen 8. März Lagers wieder. Der Machtkampf der beiden Allianzen entlud sich, auch durch die konfessionalistischen Gesellschaftsstrukturen befördert, zwischen 2005 und 2008 in innerlibanesischen Konflikten. 22 Obwohl viele Christen, allen voran die Maroniten, ihren alten sunnitischen Rivalen beitraten, schlossen sich wenige andere Christen unter dem ehemaligen christlichen Milizenführer M. Aoun der Allianz des 8. März an.23 Die christlichen Gemeinschaften blieben im Schatten der musli-

19 Vgl. Hussain Abdul-Hussain (05.01.2015), „The Islamization of Lebanon,” Now Lebanon, https://now.mmedia.me/lb/en/commentaryanalysis/564615-the-islamization-of-lebanon [05.01.2015;23:23]. 20 R. Hariri, ein moderater Sunnit, galt als Syrien-Kritiker, weshalb die syrische Regierung auf Grund ihrer Kontrolle der libanesischen Sicherheitsapparate bis heute beschuldigt wird, zumindest indirekt an dessen Ermordung beteiligt gewesen zu sein (vgl. Hussein Dabrouk (14.02.2015), „Hariris killing a catalyst for regional turmoil,” The Daily Star Lebanon, http://dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2015/Feb-14/287396-hariris-killing-a-catalyst-forregional-turmoil.ashx# sthash.Fg9CjUAX.dpuf [15.02.2015,09:49]). 21 Die Ḥizbu’llāh entstand aus einer Absplitterung paramilitärischer Kräfte von der schiitischen Miliz Afwāj al-Muqāwamat al-Lubnāniyah (»Bataillone des libanesischen Widerstandes«) im Zweiten Libanesischen Bürgerkrieg. Sie etablierte sich ab 1982 durch den Widerstand gegen die israelische Invasion (1975-1990) und entwickelte sich bis heute zu einem militärisch, politisch aber auch sozial-gesellschaftlich anerkannten Machtfaktor im Libanon (vgl. Magnus Ranstorp, Hizb’allah in Lebanon: The Politics of Western Hostage Crisis (New York: Palgrave Macmillan, 1997), S. 29). 22 Vgl. Nassim Tabri und Michael Conway, „Negative expectancies for the group's outcomes undermine normative collective action: conflict between Christian and Muslim groups in Lebanon,” British Journal of Social Psychology 50/4 (2011): S. 649–669, S. 652. 23 Vgl. John O. Voll (20.02.2007), „Muslim-Christian Relations in Lebanon: From Conflict to Dangerous Alliances,” ACMCU Archive George Town University, https://acmcu.georgetown.edu/muslim-christian-relations [11.01.2015;10:26].

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mischen Stärkung durch Taif zerstritten und spalteten sich sogar auf die unterschiedlichen politischen Lager der Muslime auf. 24 Dementsprechend waren trotz Beendigung des Libanesischen Bürgerkrieges nicht nur die muslimischen Bevölkerungsteile hinsichtlich ihrer politisch-ideologischen Ziele, sondern selbst ihre christlichen Mitbürger untereinander stark zerstritten.25 Verschärft wurde diese innerchristliche Spaltung wiederum in der Folge des jüngsten Krieges im Nachbarland Syrien und der dadurch ausgelösten Flüchtlingskrise. Die Präsenz der syrischen Flüchtlinge im Zedernland wurde bereits kurz nach dem Kriegsausbruch als „Libanons brisanteste politische Akte [beschrieben]“26. Nachdem die Flüchtlingswelle 2012 einen Höhepunkt erreicht hatte, überschritt die Zahl der Flüchtlinge im Libanon schon im Mai 2013 die Eine-Million-Grenze.27 Bis zu diesem Zeitpunkt waren von den insgesamt 2 Millionen bereits bis zu 300.000 syrische Christen aus dem Bürgerkriegsland geflohen.28 Die aktuellen Zahlen sind jedoch schwer zu ermitteln, da viele von ihnen – auch diejenigen, die im Libanon Zuflucht fanden – sich meist aus Angst vor Vergeltung nicht registrieren ließen.29 Allgemeine Schätzungen gehen davon aus, dass bis 2015 rund 700.000 Christen Syrien verlassen haben dürften, wovon 500.000 christliche Flüchtlinge Zuflucht in den Nachbarländern der Türkei, Jordanien und eben dem Libanon gesucht haben. Es ist aufgrund der christlichen Bevölkerungsanteile anzunehmen, dass der Anteil der Rum- und Syrisch-Orthodoxen unter den geflüchteten Christen aus Syrien am größten gewesen sein dürfte. Dagegen gehörten bis zu 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge der sunnitischen Konfession an, 30

24 Selbst der maronitische Patriarch Béchara Pierre Kardinal Rai (*1940) erklärte, dass die libanesischen Christen sich in die jeweils rivalisierenden Lager der Muslime aufgespalten hätten (vgl. Now News Desk (30.01.2008), „Bishop Al-Rahi: Christians have become followers to Muslims,” Now Lebanon, https://now.mmedia.me/lb/en/archive/bishop_alrahi_christians_have_become_followers_to_mu slims [23.01.2015;11:21]). 25 Vgl. Kuderna, Gruppen, S. 1–2. 26 Vgl. Rosa-Luxemburg-Stiftung / RLS, Flucht und Vertreibung im Syrien Konflikt: eine Analyse zur Situation von Flüchtlingen in Syrien und im Libanon (Berlin: Verlag der RLS, 2014), S. 34. 27 Vgl. Ibid., S. 35-36. 28 Unter den syrischen Christen stellen die Rum-Orthodoxen die größte Konfession, gefolgt von den Syrisch-Orthodoxen, den Syrisch-Katholischen, den Maronitischen, den Armenischen, den Assyrischen, den Römisch-Katholischen und den Griechisch-Katholischen wie zuletzt auch den irakischen Christen. Die meisten der christlichen Konfessionen waren zumindest vor dem Bürgerkrieg in den städtischen Gebieten in und um Aleppo, Damaskus, Hassaka, Homs und Jazira konzentriert (vgl. Minority Right Groups International/ MRGI (2011), „Minorities Syria Overview,” World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, http://www.minorityrights.org/5266/syria/syria-overview.html [09.01.2012;09:39]). 29 Vgl. Melissa Tabeek (27.06.2013), Christians in Exile: Syrians take Refuge in Lebanon, Christian Century 130/14 (2013): S. 28, https://www.christiancentury.org/article/2013-06/christians-exile [09.01.2014;10:02]. 30 Der Grund für diese hohe Anzahl sunnitischer Flüchtlinge liegt darin begründet, dass die Sunniten ca. 74% der Gesamtbevölkerung stellen. Religiös setzt sich Syrien außerdem aus Alawiten (11%),

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wobei viele von ihnen allein schon aufgrund ihrer Mittellosigkeit auch längerfristig im Libanon bleiben dürften.31 Jedoch könnten demographische Verschiebungen das instabile libanesische Proporzsystem erneut schnell in Frage stellen und ein durch die Flüchtlingskrise ausgelöster längerfristiger demografischer Wandel die einzigartige Formel der religiösen Koexistenz und den Frieden im Libanon ernsthaft bedrohen.32

Die Rum-Orthodoxen Christen im Libanon Gegenwärtig wird die Östlich-Orthodoxe Kirchenfamilie im Libanon hauptsächlich von den Rum-Orthodoxen Christen repräsentiert.33 Die Residenz ihres Patriarchen Johannes X. Yazigi (*1955) in Damaskus trägt bis heute der Tatsache Rechnung, dass unter den bis zu zwei Millionen syrischen Christen fast die Hälfte mit dem RumOrthodoxen Patriarchat von Antiochia verbunden ist. 34 Es zählt bis zu vier Millionen Kirchenmitglieder, wobei sich mittlerweile ihr kleinerer Teil auf die Levante verteilt.35 Das Patriarchat hatte zumindest vor Ausbruch des Krieges Metropolien in Aleppo, Bosra, Damaskus, Hamah, Homs und Lattaqia in Syrien, während es im Libanon die Metropolien Akkar-Halba, Berg Libanon-Byblos, Beirut, HelioupolisZahle, Tripoli und Tyros-Saida mit bis zu 200.000 Gläubigen umfasst. 36 Obwohl sich ihre Mehrheit in Städten niederließ, verteilen sich die Rum-Orthodoxen seit jeher im gesamten libanesischen Staatsgebiet. Zuletzt bildeten sie jedoch nur in der ländlichen Gegend Kura eine konfessionelle Mehrheit. Ihr ökonomischer Schwerpunkt lag lange Zeit in den Vorstädten Ostbeiruts und Juniyas, wo sich ihre Eliten aus dem städtischen Mittelstand von Kaufleuten und Händlern rekrutierten, die in der libanesischen Bourgeoisie überrepräsentiert waren. Ihre territoriale Verstreuung in der Levante hatte ihr

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anderen Muslimen (2%), Drusen (3%) und Christen (ca. 8-10%) zusammen (vgl. MRGI, Minorities, 2011). Vgl. RLS, Flucht, S. 36. Vgl. Venetia Rainey (11.05.2014), „Lebanon's refugee influx alarms Christians,“ Al-Jazeera English, http://www.aljazeera.com/news/middleeast/2014/04/lebanon-refugee-influx-alarmschristians201441913659149837. html [11.05.2014;10:56]. Der Begriff »Rum-Orthodox« leitet sich von dem arabischen Wort »rum« für Byzanz ab. Obwohl es für römisch steht, wurde es als Bezeichnung für das Oströmische Reich benutzt (vgl. Antonie Wessels, Arab and Christians? Christians in the Middle East (Kampen: Kok Pharos Publishing House, 1995), S. 67). Vgl. Jane Betty Bailey und Martin J. Bailey, Who are the Christians in the Middle East? (Grand Rapids/Cambridge: Wm. B. Eerdmans Publishing Co., 2003), S. 191. Vgl. Hage, Christentum, S. 79. Zu der Kirche gehören fünf Männer- und zwei Frauenklöster im Gebiet der Metropolie Berg Libanon-Byblos und ein Kloster in Balamand, mit dem die theologische Johannes-vonDamaskus-Fakultät verbunden ist (vgl. Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart (München: C.H.Beck Verlag, 2008), S. 79).

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Selbstverständnis befördert, Träger einer arabisch-orientalischen Kultur zu sein.37 Vor allem das arabischsprachige Volkstum verlieh dem Patriarchat den Charakter einer »Arabisch-Orthodoxen« Kirche.38 Obwohl ihre Bedeutung gegenüber den Maroniten und Melkiten39, welche die »Christlich-Arabische Renaissance« initiiert hatten, schwach blieb, leisteten sie durch ihr Engagement für das Arabertum einen bedeutsamen Beitrag zur Nahḍah (»Arabischen Renaissance«) und zum arabischen Nationalismus.40 Demographisch verstreut suchten sie dabei vermutlich auch einen Anschluss an die noch säkularen Gruppierungen des arabischen Sozialismus. 41 Obgleich sie die zweitgrößte christliche Konfessionsgruppe stellten, erhielten sie als lediglich Rang vier in der Volksgruppenhierarchie nur die Stellvertreterposten des Ministerund Parlamentspräsidenten, weshalb weder das maronitische Konzept des Libanons noch das des Konfessionalismus ihren Interessen entsprach. 42 Als sogenannte »Araber durch Akkulturation« speiste sich ihre arabische Identität vielmehr aus einem dem Maronismus diametral entgegengesetzten Geschichtsbewusstsein. 43 Während in ihrem Geschichtsbild der Leitgedanke der Loyalität der »Arabischen Ostchristen« dominierte, zwang die Gründung des Groß-Libanons die Rum-Orthodoxen zu einer Art Schicksal des inneren Exils.44 Sie bildeten die am stärksten durch Emigration dezimierte Gemeinschaft und besaßen im Libanon oftmals keinen konfessionellen Zusammenhalt.45 Ihre Angst vor einer Marginalisierung führte im Zweiten Libanesischen Bürgerkrieg dazu, dass sich viele von ihnen der Katā'ib, der FalangistenPartei, anschlossen – obwohl sich ihre Synode gegen jegliche Gewaltausübung aussprach. Als nach der israelischen Invasion (1982–1985) Orthodoxe Einrichtungen im Shuf, Matn und in Beirut nicht länger verschont blieben, sahen sich viele RumOrthodoxe Christen als Opfer eines Libanesischen Bürgerkrieges, aus dem sie sich ursprünglich heraushalten wollten.46 Nach Taif schien das konfessionalistische Sys-

37 Vgl. Peter L. Münch-Heubner, Zwischen Konflikt und Koexistenz: Christentum und Islam im Libanon (Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Aktuelle Analysen 28) (München: Akademie für Politik und Zeitgeschehen, 2002), S. 47. 38 Vgl. Panzer, Identität, S. 18. 39 Einst wurden die Rum-Orthodoxen als Melkiten (»Kaiserliche«) bezeichnet. Heute ist mit »Melkitisch« die von der Syrisch-Orthodoxen Kirche abgespaltene Melkitisch-Katholische Kirche gemeint (vgl. Wessels, Arab, S. 67). 40 Vgl. Hage, Christentum, S. 92. 41 Vgl. Helga Anschütz und Paul Harb, Christen im Vorderen Orient. Kirchen, Ursprünge, Verbreitung. Eine Dokumentation (Hamburg: Deutsches Orient-Institut, 1985), S. 131. 42 Vgl. Panzer, Identität, S. 20–21. 43 Vgl. Zein Al-Din, Religion, S. 118. 44 Vgl. May Davie, Atlas historique des Orthodoxes de Beyrouth et du Mont Liban. 1800-1940 (Balamand: Dar an-Nahar, 1999), S. 109. 45 Vgl. Panzer, Identität, S. 22. 46 Vgl. Tamcke, Christen, S. 168.

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tem bei ihnen mehr Akzeptanz zu erfahren, da sie zunächst ihre Interessengemeinschaft mit den Maroniten stärker in den Mittelpunkt rückten. 47 Dennoch bewahrten sie ihre traditionelle Offenheit gegenüber den Muslimen und bis heute steht der christlich-muslimische Dialog ganz oben auf der Agenda ihrer Geistlichkeit.48 In jüngster Zeit führten jedoch gezielte Übergriffe auf Rum-Orthodoxe Christen im Libanon selbst49, aber vor allem der Brandanschlag auf die von einem Rum-Orthodoxen Priester geführte Al-Saeh Bibliothek in Tripoli durch Islamisten im Jahr 2014, wobei rund zwei Drittel der 80.000 geschichtsträchtigen Bücher und Handschriften vernichtet wurden, zu starken Spannungen zwischen Christen und Muslimen.50 Obwohl der Rum-Orthodoxe Bischof E. Kyriakos (*1943) zusammen mit dem Mufti Sheikh M. al-Shaar (*1952) zum Zusammenhalt aufgerufen hatte, verließen daraufhin viele Rum-Orthodoxe Christen die Hafenstadt aus Angst vor sektiererisch motivierten Anschlägen.51

Die Syrisch-Orthodoxen Christen im Libanon Die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochia mit ihrem Oberhaupt Moran Mor Ignatius Ephrem II. Karim (*1965) ist auch als »westsyrische« Denomination bekannt.52 Ursprünglich in der aramäisch-sprachigen Christenheit Syriens und Mesopotamiens verwurzelt, stellt sie bis heute den Träger einer der ältesten Kulturen der

47 Vgl. Panzer, Identität, S. 21. 48 Mit ihren engeren Beziehungen zu den Sunniten und ihrer Stellungnahme für die Deklaration eines palästinensischen Staates sind ihre Würdenträger bis heute gerne gesehene Gäste in den arabischen Hauptstädten. Der Rum-Orthodoxe Patriarch Elias IV (1970-1979) genoss 1974 sogar das Privileg, als einziger christlicher Repräsentant an der islamischen Konferenz von Lahore teilzunehmen (vgl. Münch-Heubner, Konflikt, S. 43). 49 Vgl. Misbah Al-Ali (28.10.2013), „Christians and Alawites target of Tripoli attacks,” The Daily Star Lebanon, http://dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2013/Oct-28/235960-christians-and-alawitestarget-of-tripoli-attacks.ashx#ixzz2j0eQFrbh [28.10.2013;18:45]. 50 Der Besitzer der Bibliothek, der Rum-Orthodoxe Priester I. Surouj (*1942), wurde wegen einer angeblichen Verunglimpfung des Propheten Mohammed hierbei gezielt angegriffen (vgl. Tyler O῾Neil (07.01.2014), „Over 50,000 Books Burned in Christian Library in Lebanon Over Blasphemy Claim; US Leader Says 'Violent Hysteria' Spreading in Muslim World,” The Christian Post, http://www.christianpost.com/news/over-50000-books-burned-in-christianlibrary-in-lebanon-over-blasphemy-claim- us-leader-says-violent-hysteria-spreading-in-muslimworld-112133/ [07.01.2014;23:34]). 51 Vgl. DailyStar (05.09.2014), „Religious figures hold unity meeting in Tripoli,” The Daily Star Lebanon, http://dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2014/Sep-05/269604-religious-figures-hold-unitymeeting-in-tripoli.ashx [08.10.2014;19:02]. 52 Sie folgt in ihrer Liturgie dem alten westsyrischen Ritus Antiochias mit seiner Jakobus-Liturgie, die in der syrisch-aramäischen Kirchensprache vollzogen wird. Ihre Tradition besteht bis in die

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Welt dar.53 Im christologischen Streit geriet sie unter den Einfluss des in Opposition zur IV. Ökumenischen Synode stehenden monophysitischen Bekenntnisses von Alexandria, weshalb das Syrisch-Orthodoxe Patriachat von Antiochia „auf dem Boden der Opposition gegen das Chalcedonense“ 54 entstand. Aktuell zählt es mit seinen elf Erzbistümern bis zu eine Million Gläubige, wobei sich heute dessen kleinerer Teil im arabisch-islamischen Raum auf Syrien, den Irak, die Türkei und den Libanon erstreckt. Da die syrische Tradition primär in den Klöstern gepflegt und gleichsam auch dort das griechische Erbe aufgenommen wurde, war das Syrisch-Orthodoxe Patriarchat lange Zeit nur als »Mönchskirche« bekannt. 55 Erst unter den Dynastien der Umayyaden in Damaskus (661-750) und Abbasiden in Bagdad (750-1258) wurden die Syrisch-Orthodoxen Christen in einem Staat vereint und begrüßten damals die Muslime sogar „als Befreier vom byzantinischen Joch“56. Mit der »Syrischen Renaissance« erlebte das Patriarchat seine Blütezeit und stieg endlich sogar zu einer syrischen Nationalkirche auf.57 Jedoch offenbarte sich ihre Einheit oftmals als brüchig, sodass bis heute eine Zweiteilung eines dem Patriarchen unterstehenden Westens neben einem autonomen Osten besteht.58 Bis zum Kriegsausbruch existierten in Syrien neben der Patriarchal-Diözese Erzbistümer in Aleppo, Homs-Hamah und JazirehEuphrat und im Irak in Bagdad-Basra, Mar Mattai als auch in Mossul. Im Libanon ist die Syrisch-Orthodoxe Kirche bis heute noch mit ihren 30.000 Gläubigen in die Diözesen Beirut und Zahle mit ihren Sitzen in Beirut und in Boucherieh unterteilt. Die bislang größte Zäsur erlebten die Syrisch-Orthodoxen Christen in den Massakern von 1860/1894–1896 sowie 1915 im Genozid an den Armeniern. Nachdem sie ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet Tur Abdin in der Türkei kaum noch halten konnten, wurde nicht nur ihre Residenz 1959 nach Damaskus verlegt, sondern ihr gesamtes Kirchengebiet verschob sich in die Diaspora.59 Im Libanon hatten sich die meisten der Syrisch-Orthodoxen nach dem armenischen Völkermord, der auch viele Opfer unter ihnen forderte und seither als Seyfo (»Jahr des Schwertes«) bezeichnet wird, nach

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Gegenwart darauf, dass in ihr der Dialekt der Stimme Jesu zu vernehmen sei (vgl. Robert A. Kitchen (2012), „The Orthodox Christian World,” S. 66, https://www.academia.edu/4691596/The_Syriac_Tradition [17.09.2013;12:23]). Vgl. Horst Oberkampf, Ohne Rechte keine Zukunft. Die Syrischen Christen des Turabdin im Südosten der Türkei (Neuendettelsau: Erlanger Verlag für Mission und Ökumene, 2011), S. 154. Tamcke, Christentum, S. 26. Vgl. Hage, Christentum, S. 152. Wolfgang Hage, Die syrisch-jakobitische Kirche in frühislamischer Zeit: nach orientalischen Quellen (Wiesbaden: Harrassowitz-Verlag, 1966), S. 66. Mit »Syrischer Renaissance« ist die Rückkehr ihrer Sprache in die Gelehrsamkeit gemeint (vgl. Tamcke, Christen, S. 82–83). Vgl. Hage, Christentum, S. 132. Die noch bis zu 15.000 türkischen Gläubigen sind nach dem Seyfo fast vollständig von ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet Tur Abdin (»Berg der (Gottes-)Knechte«) nach Istanbul emigriert (vgl. Martin Tamcke, Christen vom Tur Abdin. Hinführung zur Syrisch-Orthodoxen Kirche (Frankfurt a. M.: Evangelische Verlagsanstalt, 2009), S. 71).

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Beirut geflüchtet.60 Ihre Mehrheit konnte hier wirtschaftlich relativ abgesichert leben, weshalb sie auch während des Zweiten Libanesischen Bürgerkrieges im Land blieb. Trotz der Zerstörungen konnten sie ihr Gemeindeleben mit Schulen und Kulturarbeiten erhalten und bis heute ist eine Föderation ihrer Kulturvereine im Libanon aktiv. Entgegen der Neutralitätsverkündung ihres Patriarchen kämpften viele von ihnen während des Libanesischen Bürgerkriegs unter der assyrischen Bewegung für einen christlich geprägten Libanon oder für den Erhalt dieses Status. 61 Da sie sich auch in christlichen Parteien engagierten, erhielten sie zunächst Unterstützung von der syrischen Armee, welche 1976 in den Bürgerkrieg eingriff. 62 Nach dem Konflikt warfen sie der libanesischen Regierung vor, die Vereinbarungen von Taif nicht umgesetzt zu haben und trotz der Verbesserung ihrer Situation fühlten sie sich politisch weiterhin unterrepräsentiert. Obwohl es ein Syrisch-Orthodoxer 1993 erstmals als Abgeordneter ins Parlament schaffte und sich für die Belange der rechtlosen Mehrheit der syrischen Christen einsetzte, blieb das Problem der staatenlosen Flüchtlinge auch unter ihnen präsent. Dieser Umstand untergrub ihre Identifikation mit dem Staat, weshalb das türkische und syrische Gebiet der geographische Orientierungspunkt für ihre Identitätsfindung blieb. Allen voran Syrien – von wo bis zu 70 Prozent ihrer Einwandergemeinden abstammten – galt nach dem Seyfo zumindest bis zum Beginn der Protestbewegung im Land als ihr historischer Zufluchtsort. 63 Da sie weder staatliche noch gesellschaftliche Diskriminierung unter der säkular orientierten Regierung erlitten, übte Syrien für die Syrisch-Orthodoxen nicht nur eine große Anziehungskraft aus, sondern galt unter ihnen sogar als das sicherste Land für die Orientalische Christenheit im Nahen und Mittleren Osten.64 Mittlerweile ist die Syrisch-Orthodoxe eine der am stärksten bedrohten Konfessionen, da sich ein Großteil ihrer Gemeinden in der nordsyrischen Provinz Hassaka befindet, wo ihr kirchliches Zentrum in Qamishli liegt. Gerade diese Provinz ist seit der ersten größeren militärischen Niederlage des sog. Dawlah al-Islāmīyah gegen kurdische Kampfverbände in Kobani, häufiger eine Gegend von gezielten Racheaktionen gegen Kurden, aber auch gegen Christen geworden.65 Zuletzt war die Syrisch-Orthodoxe Gemeinschaft als erste und bisher einzige christliche Konfession im Libanon seit dem Ausbruch des Krieges gezielt Opfer

60 Vgl. Kai Merten, Die syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei und in Deutschland: Untersuchungen zu einer Wanderungsbewegung (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 3) (Hamburg: LIT-Verlag, 1997), S. 211. 61 Vgl. Ibid., S. 212. 62 Vgl. Radwan Ziadeh, Power and Policy in Syria: Intelligence Services, Foreign Relations and Democracy in the Modern Middle East (New York: I. B. Tauris, 2013), S. 102. 63 Vgl. Merten, Christen, S. 208. 64 Vgl. Carsten Wieland, Syrien nach dem Irak-Krieg. Bastion gegen Islamisten oder Staat vor dem Kollaps? (Islamkundliche Untersuchungen 263) (Berlin: Klaus-Schwarz-Verlag, 2004), S. 69. 65 Vgl. Katie Gorka (24.03.2015), „War on Christians: ISIS Goes on Church-Burning and Kidnapping Spree in Syria,” The Counter Jihad Report, http://counterjihadreport.com/2015/02/24/war-on-christians-isis-goes-on-church-burning-andkidnapping-spree-in-syria/ [25.05.2015;19:21].

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eines Bombenanschlags geworden, als ein Sprengstoffanschlag in ihrer Kirche Saidat al-Najat in Zahle verübt wurde.66

Die Dynamik des levantinischen Konflikts: Von dessen Militarisierung, Radikalisierung, Internationalisierung und Konfessionalisierung bis hin zur Konfliktregionalisierung Die Arabische Republik Syrien wurde unter dem französischen Mandat nach dem ersten Weltkrieg gegründet und kann ebenfalls als multireligiöses Mosaik bezeichnet werden.67 Nach seiner Unabhängigkeit 1946 erlebte das Land eine langanhaltende Periode politischer Unruhen, bis 1970 Hafiz al-Asad (1930–2000) als erster nichtsunnitischer Präsident die Führung des Staates übernahm. 68 Nach seiner Machtergreifung strukturierte er die an die Macht gelangte Ḥizb al-Baʿth al-ʿArabī alIštirākī (»Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung, kurz: Baath-Partei«) in eine semi-militärische Organisation um. Bereits zwischen 1974 und 1982 schlug die Ǧaiš al-’Arabī as-Sūrī (»Syrische Arabische Armee«, kurz: SAA) mehrere Aufstände nieder, wobei es bei einem von der ʾIḫwān al-Muslimūn (»Muslimbruderschaft«) angeführten Aufruhr 1982 zu einem folgenreichen Massaker in Hamah kam.69 Da H. al-Asad Schlüsselpositionen im Staat und im Sicherheitsapparat mit Gefolgsleuten und Verwandten besetzte, entstand eine Symbiose von Armee und BaathPartei.70 Während der sunnitischen Unterschicht oftmals Schutz verwehrt wurde, baute die Baath-Partei Wāsiṭah (»Verbindungen«) zu anti-islamistisch eingestellten Christen auf, die durch diese Begünstigung zu sozio-ökonomischer Prominenz aufsteigen konnten.71 Mit Ausnahme der Vorenthaltung des Präsidentenpostens war mit der syrischen Verfassung von 1973 die Freiheit des Glaubens in Syrien garantiert. 72 66 Vgl. Patrick Galey and Wassim Mroueh (28.03.2011), „Bomb explodes at Zahle church, none hurt,” The Daily Star Lebanon, http://www.dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2011/Mar28/135134-bomb-explodes-at-zahle-church-none-hurt.ashx [28.03.2011;21:39]. 67 Siehe Fußnote 27. 68 Die Familie der al-Asads gehörte der Religionsgruppe der alawitischen Konfession an, die eine mystisch-religiöse Abspaltung des Schiitentums darstellt, wobei die Alawiten auch als »Nusarier« bezeichnet werden (vgl. Yaron Friedman, The Nasayri-‘Alawis: An Introduction to the Religion, History and Identity of the Leading Minority in Syria (Islamic History and Civilization Volume 77) (Leiden/Boston: BRILL, 2010), S. 6–7). 69 Vgl. Bassam Haddad, Business Networks in Syria: The Political Economy of Authoritarian Resilience (Stanford: Stanford University Press, 2012), S. 86. 70 Vgl. Christoph Schumann und Andrea Jud, „Staatliche Ordnung und politische Identitäten in Syrien,“ Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2013): S. 44–49, S. 47. 71 Vgl. Salma Mousa, „To Protest or not to Protest? The Christian Predicament in the Syrian Uprising,” Syrian Studies Association Bulletin Vol. 17/2 (2012): S. 16–19, S. 16. 72 Vgl. Wordpress (2012), „Draft Constitution for the Syrian Arab Republic,” S. 1–22, S. 2; http://syria360.files.wordpress.com/2012/02/draft-constitution-for-the-syrian-arab-republic.pdf [23.10.2013;13:52].

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Die christlichen Feiertage wurden als Symbol religiöser Toleranz anerkannt und der Bau von Kirchen – wie eben der von Moscheen – wurde staatlich unterstützt sowie kircheninterne Anschaffungen von der Steuer befreit.73 Als Bashar al-Asad nach dem Tod seines Vaters an die Staatsspitze trat, erbte er zwar ein jahrzehntelang mit eiserner Hand geführtes, nichtsdestotrotz aber fragiles System. Obwohl die Baath-Partei innenpolitisch auf konfessionelle Seilschaften angewiesen war, bemühte sie sich wenig um die Erhaltung der Balance zwischen den alawitischen und den sunnitischen Positionen.74 Die Zurücknahme der politischen Öffnung durch den »Damaszener Frühling« sowie die Einführung der sozialen Marktwirtschaft beförderten die Ressentiments der syrischen Gesellschaft.75 Nach dem Attentat auf R. Hariri endete nicht nur die über 30-jährige anhaltende syrische Vormachtstellung im Libanon, sondern die Baath-Partei wurde auch international immer stärker isoliert.76 Anders als bei den Aufständen in anderen arabischen Staaten entwickelte sich die „Syrische Arabellion“77 vergleichsweise langsam. Selbst als in sozialen Netzwerken im Internet zu Protestaktionen aufgerufen wurde, nahm bei einer Demonstration in Damaskus nur eine überschaubare Anzahl Oppositioneller teil. 78 Mit Berichten über die Folter von Jugendlichen, welche in Daraa regierungskritische Parolen publik gemacht hatten, eskalierte die Lage. Nachdem auf Kundgebungen deren Freilassung gefordert wurde, stürmten syrische Sicherheitskräfte die al-Omari-Moschee in Daraa, die nach Angaben staatlicher Medien als militärischer Stützpunkt missbraucht wurde. 79 Berichte über dieses Vorgehen entfachten Protestwellen in Baniyas, Lattakiya, Idlib und Tartus, wobei sich besonders Versammlungen rund um Freitagsgebete zu einem

73 Vgl. Bailey and Bailey, Christians, S. 193. 74 Vgl. Christopher Phillips, After the Arab Spring: power shift in the Middle East? Syria’s bloody Arab Spring (London: London School of Economics and Political Science, 2012), S. 37–42, S. 38. 75 Der »Damaszener Frühling« bezeichnet eine kurze Phase politischer Öffnung in Syrien zwischen 2000 und 2001 (vgl. Wieland, Decade, S. 47). 76 Vgl. Ibid., S. 52-53. 77 Entgegen der mittlerweile gänzlich unpassenden Fremdbezeichnung „Arabischer Frühling“ beschreibt der im arabisch-islamischen Raum verwendete Begriff Thawrāt al-ʿArābīyah (»Arabische Rebellionen«) die Ereignisse des syrischen Aufstandes präziser. Der nach C. Melchers abgeleitete Begriff „Arabellion“ wird vom Autor dieses Beitrags als „Syrische Arabellion“ für die ab dem 15. März 2011 in Syrien aufkommende Protestbewegung in einem diesem Beitrag vorangegangenen Artikel herangezogen und auch hier verwendet (vgl. Christoph Leonhardt, „Die Haltung rum- und syrisch-orthodoxer Christen in der Syrischen Arabellion – Zwischen der regierenden Baath-Partei und der Opposition,“ Ostkrichliche Studien 63/2 (2014): S. 193–242, S.193). 78 Vgl. Muriel Asseburg, „Syrien: Ziviler Protest, Aufstand, Bürgerkrieg und Zukunftsaussichten,“ Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2013): S. 11–17., S. 11. 79 Vgl. New York Times/ NYT (18.03.2011), „In Syria, Crackdown After Protests,” The New York Times, http://www.nytimes.com/2011/03/19/world/middleeast/19syria.html?_r=0 [20.03.2011;18:36].

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Brennpunkt entwickelten.80 Während Regierungskreise die Proteste als ausländische Verschwörung diskreditierten, reagierten die Sicherheitsapparate dysfunktional und verstrickten sich in Zyklen von Repressionen und Ausschreitungen. 81 Nachdem Desertionen in der SAA zunahmen, gaben jene Dissidenten in der Türkei die Gründung der Ǧaiš as-Sūrī al-Ḥurr (»Freie Syrische Armee«, kurz: FSA) bekannt.82 Nach ersten Kampfhandlungen konnten Oppositionsgruppen – denen sich kriminelle Banden und religiös motivierte Gruppierungen anschlossen – ganze Stadtviertel in Homs, Hamah und Dair az-Zur unter ihre Kontrolle bringen. Als die Opposition größere Gebiete als „befreit“ erklärte, reagierte die SAA mit Angriffen ihrer Artillerie und Luftwaffe.83 Trotz internationalen Vermittlungsbemühungen führte die Militarisierung zu einem Zerfall von Syriens Territorium, Staat und Gesellschaft.84 Während ein Zusammenschluss der Oppositionskräfte im In- und Ausland mit Vertretern der Koordinationskomitees in den Maǧlis al-Waṭanī as-Sūrī (»Syrischen Nationalrat«, kurz: SNC) mündete, wurde die friedliche Protestbewegung, die sich zum »Nationalen Koordinierungskomitee für Demokratischen Wandel« (NCC) zusammengeschlossen hatte, marginalisiert.85 Mit den Berichten über Kriegsverbrechen von beiden Konfliktparteien kam es neben der Radikalisierung zu einer Internationalisierung des ursprünglich innersyrischen Kriegs.86 Während die russische und chinesische Regierung die syrische Staatsgewalt um B. al-Asad durch Handels- und Rüstungskooperation sowie ihre Parteinahme im Rahmen ihres Vetos für eine UN-Resolution im Sicherheitsrat unterstütze, leistete die iranische Regierung Militärhilfe. Andererseits erhielten syrische Oppositionsgruppen nicht nur Unterstützung von den US-amerikanischen, den europäischen und den türkischen Regierungschefs, sondern auch vom

80 Vgl. Fouad Ajami, The Syrian Rebellion (Stanford: Hoover Institution Press, 2012), S. 75. 81 Vgl. Maya Bhardwaj, „Development of Conflict in Arab Spring Libya and Syria: From Revolution to Civil War,” Washington University International Review Vol. 1 (2012): S. 76–97, S. 85. 82 Vgl. Ajami, Rebellion, S. 137–139 83 Vgl. Damien Mc Elroy und Magdy Samaan (25.07.2012), „Syria's regime uses fighter jets for first time as it struggles to contain rebellion,” The Telegraph, http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/middleeast/syria/9424606/Syrias-regime-usesfigher-jets-for-first-time-as-it-struggles-to-contain-rebellion.html?mobile=basic [26.07.2012;08:56]. 84 Vgl. Stephan Rosiny, Power Sharing in Syria: Lessons from Lebanon’s Experience (Hamburg: Leibniz-Infstitut für Globale und Regionale Studien, 2013), S. 8. 85 Im Gegensatz zu dem Komitee, das vollständig Haiʾat at-Tansīq al-Waṭanī li-Quwā t-Taġyīr ad Dīmuqrāṭī as-Sūriya (»Nationales Koordinationskomitee für demokratischen Wandel der syrischen Kräfte«) heißt und an Werten wie politischer Partizipation festhält und eine gewaltlose Transition forderte, näherte sich der SNC der FSA an und wurde zunehmend gewaltbereiter (vgl. Asseburg, Syrien, S. 14). 86 Vgl. Aron Lund, Divided They Stand. An Overview of Syria’s Political Opposition Factions (Uppsala: Foundation for European Progressive Studies und das Olof Palme International Center, 2012), S. 17.

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Saudi-Arabischen Königshaus und dem Staat Katar.87 Mit der ausländischen Parteinahme entwickelte sich der Konflikt zu einem sektiererischen Stellvertreterkrieg. Die ausländischen Finanzströme begünstigten die Etablierung salafistischer Gruppierungen, wie der Ḥizb at-Taḥrīr (»Partei der Befreiung«), sowie islamistischer Organisationen, wie dem sog. Dawlah al-Islāmīyah. Schon im Frühjahr 2012 debattierten muslimische Hardliner, ob sie den Ǧihād (»sog. „Heiligen Krieg“«, arab.: »Anstrengung«) gegen die syrische Regierung erklären sollten. Nach diesem Wendepunkt entstanden durchschlagkräftige islamistische Bewegungen, wie unter anderem die Ḥarakat Ahrār aš-Šām al-Islāmīyah (»Islamische Bewegung der freien Männer der Levante«) und der Ǧabhat al-Nuṣrah (»Nusrah-Front«), welche fortan die Implementierung eines Islamischen Staates in Syrien anstrebten.88 Ihr Aufschwung und zuletzt die Entstehung des sog. Dawlah al-Islāmīyah beförderte die Konfessionalisierung des Konfliktes, was wiederum vermehrt islamistische Kämpfer aus der Region, aber auch aus Europa rekrutierte. Während auf der anderen Seite primär alawitische, regierungstreue sog. Šabbīḥa (»Geister«)-Milizen das militärische Kommando übernahmen und in sunnitischen Gegenden Massaker verübten, 89 kam es zu Massenmorden in alawitischen Gebieten von Seiten der Islamisten.90 Der Anstieg des Sektierertums verfestigte die Wahrnehmung eines sunnitischen Aufstands, der die Hegemonie einer alawitischen Administration und ihrer schiitischen Bündnispartner zu durchbrechen versucht.91 Gemäß der Logik konfessioneller Mobilisierung erhielt auch die syrische Regierung militärische Unterstützung von schiitischen Milizen, wie den iranischen Nīrū-ye Quds (»Quds-Brigaden«), der irakischen Liwāʾ Abū al-Faḍl alʿAbbās (»Abbas-Brigade«),92 sowie von dem militärischen Arm der libanesischen Ḥizbu’llāh, deren Generalsekretär H. Nasrallah (*1960) bereits 2013 offiziell die militärische Involvierung seiner Partei im Bürgerkrieg des Nachbarlandes erklärte. 93

87 Vgl. Muriel Asseburg und Heiko Wimmen, Syrien im Bürgerkrieg. Externe Akteure und Interessen als Treiber des Konflikts (Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2012), S. 3. 88 Vgl. International Crisis Group/ ICG (12.10.2012), „Tentative Jihad: Syria’s Fundamentalist Opposition,” International Crisis Group Middle East Report 131, S. 1, http://www.crisisgroup.org/~/media/Files/Middle%20East%20North%20Africa/Iraq%20Syria %20Lebanon/Syria/131-tentative-jihad-syrias-fundamentalist-opposition.pdf [09.09.2013;17:23]. 89 Vgl. Gabriela M. Keller (12.06.2012), „Todesschwadrone in Syrien: Assads Miliz,“ Taz: Die Tageszeitung, http://www.taz.de/Todesschwadrone-in-Syrien-/!95211 [13.06.2012;09:02]. 90 Vgl. Human Rights Watch/ HRW (11.11.2013), „‘You Can Still See Their Blood’ Executions, Indiscriminate Shootings, and Hostage Taking by Opposition Forces in Latakia Countryside,” Human Rights Watch Report October 2013, http://www.hrw.org/sites/default/files/reports/syria1013_ForUpload.pdf [17.11.2013;22:56]. 91 Vgl. Kristin Helberg, Brennpunkt Syrien - Einblick in ein verschlossenes Land (Freiburg i. B.: Herder-Verlag, 2012), S. 39. 92 Vgl. Michael Knights (27.06.2013), „Iran's Foreign Legion: The Role of Iraqi Shiite Militias in Syria,“ The Washington Institute, http://www.washingtoninstitute.org/policyanalysis/view/irans-foreign-legion-the-role-of-iraqi-shiite-militias-in-syria [28.06.2014;09:50]. 93 Vgl. Al Arabiya (25.05.2013), „Hezbollah chief vows ‘victory’ against Syrian opposition

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Nicht nur ist die Mehrheit der Oppositionellen sunnitisch, sondern auch die Alawiten sind im Staatsapparat überproportional vertreten. Auch die militärische Dominanz der islamistischen Milizen auf Seiten der Opposition und der schiitischen und alawitischen Milizen auf Seiten der syrischen Regierung lädt gegenwärtig in der Tat zu einer religiös konnotierten Interpretation des Krieges ein. 94 Zuletzt gefährdete der aufkommende Konflikt zwischen den Kurden, primär den Waḥdat Ḥimāyat aš-Šaʾab (»Volksverteidigungseinheiten; YPG«), und dem sog. Dawlah al-Islāmīyah das künftige Zusammenleben in der syrischen Mosaikgesellschaft zusätzlich.95 Spätestens mit dem Vormarsch des sog. Dawlah al-Islāmīyah auf das irakische Staatsgebiet überschlugen sich die sicherheitspolitischen Übertragungseffekte in der gesamten Levante.96 Da die Ḥizbu’llāh eine führende militärische Rolle bei dem Machterhalt des syrischen Staates spielte, war der Libanon schon lange mehr als nur ein Nebenkriegsschauplatz und stand seit dem Einmarsch der schiitischen Kampfverbände im syrischen Kalamun-Gebirge im Fadenkreuz islamistischer Kräfte. Bereits 2013 kam es neben sektiererisch aufgeladenen Kämpfen zwischen dem alawitischen Stadtviertel Jabal al-Mohsen und dem sunnitischen Viertel Bab al-Tabbaneh in Tripoli97, zu Raketenangriffen auf das syrisch-libanesische Grenzgebiet98, Attacken von Islamisten im Beqaa und Hermel99, sowie zu islamistisch motivierten Bombenanschlägen in Tripoli und Beirut.100 Heftige Angriffe salafistischer Kräfte unter Sheikh A. al-Assir (*1970) 2013 in Saida und Übergriffe islamistischer Gruppierungen in Tripoli101 sowie letztlich die Besetzung der libanesischen Grenzstadt Arsal durch die Ǧabhat al-

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fighters,” Al Arabiya Middle East, http://english.alarabiya.net/en/News/middleeast/2013/05/25/Hezbollah-chief-vows-victory-against-Syrian-opposition-fighters.html [26.05.2013;22:59]. Vgl. Leonhardt, Haltung, S. 232. Vgl. Asseburg, Syrien, S. 15. Vgl. ICG, Jihad, S. 1. Vgl. Naharnet Newsdesk (21.05.2013), „Tripoli Clashes Intensify as Eid Declares All-Out Battle and Kabbara Demands His Arrest,” Naharnet Lebanon, http://www.naharnet.com/stories/en/83899-tripoli-clashes-intensify-army-targeted-as-jabalmohsen-declares-all-out-battle [21.05.2013;16:45]. Vgl. DailyStar (19.05.2013), „Rockets from Syria strike Hermel,” The Daily Star Lebanon, http://www.dailystar.com.lb/News/Local-News/2013/May-19/217606-syrian-rockets-hithermel-injuring-several.ashx [19.05.2013;19:35]. Vgl. Ana M. Luca (17.07.2013), „Beqaa residents worry after bombing,” Now Lebanon, https://now.mmedia.me/lb/en/reportsfeatures/beqaa-residents-worry-after-bombing [18.07.2013;09:29]. Vgl. Hussein Dabrouk (26.08.2013), „Fears of more Bombings sweep Lebanon,” The Daily Star Lebanon, http://www.dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2013/Aug-26/228659-fears-ofmore-bombings-sweep-lebanon.ashx#ixzz2d6YthdjB [26.08.2013;15:42]. Vgl. Alex Rowell (25.06.2013), „Abra fiercely divided after Assir defeat,” Now Lebanon, https://now.mmedia.me/lb/en/reportsfeatures/abra-fiercely-divided-after-assir-defeat [25.06.2013;19.06].

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Nuṣrah und dem sog. Dawlah al-Islāmīyah 2014 bildeten den Höhepunkt dieser Entwicklungen.102 Diese Vorfälle machten deutlich, dass die Konfliktregionalisierung des syrischen Bürgerkriegs diesen zu einem levantinischen Konflikt ausgeweitet hat. Der Einfall des sog. Dawlah al-Islāmīyah in Mossul mit der anschließenden Vertreibung der dort seit zwei Jahrtausenden ansässigen Christen stellte für die Orientalische Christenheit nicht nur die bislang schärfste Zäsur des Krieges dar, sondern hat auch die Bedrohungslage in der gesamten Levante selbst für die Orthodoxen Christen im Libanon umso deutlicher vor Augen geführt. 103 Diese Bedrohung wurde durch die Veröffentlichung der militärischen Pläne des sog. Dawlah al-Islāmīyah, längerfristig ein Islamisches Emirat selbst im Libanon errichten zu wollen, noch existentieller.104

Die Positionierung der Rum- und Syrisch-Orthodoxen Christen im levantinischen Konflikt In den vom Autor dieses Beitrages durchgeführten Interviewreihen mit namhaften Mitgliedern und Repräsentanten des Rum- und Syrisch-Orthodoxen Patriarchats von Antiochia deutete sich anfänglich eine positive Haltung in Bezug auf die aufkommenden Demonstrationen in Syrien im März 2011 an. Die befragten Christen deuteten nicht nur einen Reformbedarf bei der syrischen Regierung an, sondern zeigten auch Verständnis für das Bestreben der Bevölkerung nach politischer Partizipation.105 Obwohl sich einige aus ihrer Religionsgemeinschaft an der Protestbewegung in Syrien beteiligten, habe mehrheitlich eine Zurückhaltung unter den Christen hinsichtlich einer aktiven Unterstützung dominiert. 106 Die Gründe für ihre Passivität waren zunächst einerseits die Zufriedenheit und Verbundenheit der Christen mit der syrischen Regierung und andererseits eine empfundene politische Alter-

102 Vgl. Antoine G. Saab (23.02.2015), „ISIS preparing to declare Islamic emirate in Lebanon: sources,” The Daily Star Lebanon, http://dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2015/Feb23/288379-isis-preparing-to-declare-islamic-emirate-in-lebanon-sources.ashx [23.02.2015;22:54]. 103 Vgl. Fazel Hawramy (24.07.2014), „‘They are savages’, say Christians forced to flee Mosul by Isis,” The Guardian, http://www.theguardian.com/world/2014/jul/24/iraqi-christiansmosul-isis-convert-islam-or-be-executed [24.07.2014;21:34]. 104 Vgl. Saab, ISIS, 23.02.2015. 105 „All the people of the world have a right to change their country that they are belonging to … at the beginning of the revolution in Syria the opposition had good aims.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Metropoliten A. M., Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 1). 106 „Man muss schon sagen, dass sich die Orthodoxen Christen, die Christen allgemein, ferngehalten haben von den Demonstrationen. Aber es gab auch Einige unter ihnen, die daran teilgenommen haben.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Professor Assaad Kattan, Ashrafieh, Beirut, 20.08.2013, S. 1).

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nativlosigkeit sowie Ungewissheit in Bezug auf den Ausgang einer militärischen Konfrontation.107 Zuletzt haben auch ihr Minderheitenstatus und ihre daraus resultierende Chancenlosigkeit als Konfessionsgruppe in einem sich abzeichnenden Konflikt eine Rolle gespielt.108 Ihr phasenweise gezeigtes Verständnis bezöge sich dabei fast ausschließlich auf das Frühjahr 2011. Danach hätte die Mehrheit der Rum- und SyrischOrthodoxen zu einer distanzierten Positionierung tendiert. Zur Zeit der Recherche im Sommer 2013 war die Mehrheit der Befragten davon überzeugt, dass die Protestbewegung von Anfang an nicht nur gewalttätig, 109 sondern zugleich islamisch und christenfeindlich orientiert gewesen sei.110 Ausschreitungen hätten zu einer Distanzierung gegenüber der Oppositionsbewegung geführt. 111 Sie hatten den Eindruck gewonnen, dass die Bewegung ihren Ursprung in den syrischen Moscheen gehabt hätte. Insofern sei sie von Imamen in Freitagsgebeten initiiert und religiös motiviert gewesen.112 Ein Indiz dafür sei gewesen, dass schon im Sommer 2011 islamische Fahnen und Slogans wie der sog. Takbīr, Allāhu Akbar (»Gott ist größer«), erschienen wären.113 Diese Veränderung in der Wahrnehmung des Erscheinungsbildes der Protestbewegung schien symptomatisch für einen Meinungswandel unter den Christen zu stehen. Hinsichtlich der Internationalisierung und Konfessionalisierung des Kon-

107 „Die Christen hatten einfach Angst sich in den Aufstand einzuschalten … weil sie befürchteten, dass ein Regime entsteht, das schlimmer sein wird. Sie haben keine Alternative gesehen.” (vgl. ibid.). 108 „To use violence and counter-violence would be useless for the Rum-Orthodox communities. They wouldn’t have a chance, if you look at the percentage of Rum-Orthodox, or even of all the Christians in Syria, compared to the Muslim majority of Sunni.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 1–2). 109 So berichtete S. C., dass er im März 2011 in Homs gesehen habe, wie Demonstranten Sicherheitskräfte töteten (vgl. ibid., S. 5–7). Auch D. B. äußerte, dass er im März und April 2011 in Hamah miterlebt habe, wie Oppositionsmitglieder Polizisten ermordeten und mit Übergriffe auf staatliche Einrichtungen begonnen hatten (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Kleriker D. B., Hamra, Beirut, 18.06.2013, S. 3–4). 110 „At the beginning of the uprising, every Friday after the prayers, the demonstration emerged and created a lot of problems and conflicts, which was against the Christians and against the regime.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Erzbischof George Saliba, Sabtiyyeh, Jdeideh, 26.06.2013, S. 4). 111 „When the violence started most of them [the Christians] start to distant themselves from the protests ... generally any step towards violence is against the conviction of Christianity.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 1). 112 „The Sunni Imams told the people in the Friday prayers to go to protest on the streets. It was therefore a religious movement.“ (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Kleriker D. B., Hamra, Beirut, 18.06.2013, S. 3). 113 „You couldn’t see the Islamic elements at first, but if you looked after only two or three weeks … they [the demonstrators] started to carry flags of Islam and shouting, like ̒Allāhu akbar̓ , and all these Islamic slogans. At this time, I thought that this is the real intention of it, they want a Sunni-Sharīʿah Islamic State in Syria.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 6).

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fliktes zeigten die Interviewten ebenfalls eine Abgrenzung, weil der Krieg ihren Aussagen zufolge als ein vom Ausland aus initiierter Konflikt anzusehen sei. 114 Demnach seien arme Bevölkerungsteile korrumpiert worden, um zuerst eine Protestbewegung gegen die syrische Regierung zu entfachen und danach deren Absetzung zu fordern.115 Aus diesem Grund habe der gegenwärtige Konflikt überhaupt nichts mit einem Volksaufstand zu tun.116 Da allen voran das Saudi-Arabische Königshaus, aber auch die katarische und die türkische Regierung islamistische Bewegungen mit Vermögen ausgestattet hätten, sei deren islamistisches Gedankengut aufgrund von Bildungsmangel und Arbeitslosigkeit in der armen Landbevölkerung auf fruchtbaren Boden gestoßen.117 Zusätzlich hätten diese Mächte sunnitische Imame bezahlt, um Fatāwā (»Rechtsgutachten«) für den Konflikt auszusprechen mit der Intention diesen weiter anzuheizen.118 Diese sektiererische Ebene hätte sich dann in Angriffe auf schiitische Schreine und in Vergeltungsschläge gegen Sunniten manifestiert.119 Obwohl das Sektierertum in der syrischen Gesellschaft lange Zeit keine Rolle gespielt habe, sei es durch die Internationalisierung mittlerweile weit in Syrien verbreitet. Dieses Kalkül sunnitischer Regionalmächte intendiere, neben der Entmachtung des alawitischen Präsidenten, eine Schwächung seiner schiitischen Bündnispartner, allen voran des Iran. Aus diesem Grund sei der einst syrische Bürgerkrieg mittlerweile ein sektiererischer Stellvertreterkrieg um die gesamte Levante geworden.120 Nicht einmal die

114 „Like things are changing now, I am more and more sure, although I cannot confirm this to 100%, that this was an outside operation against Syria ... This looks more like a nasty thing than a popular willing to rise up against the regime.” (vgl. Interview mit der Rum-Orth. Lehrbeauftragten May Davie, Brummana, Mount Lebanon, 31.08.2013, S. 1). 115 „The Syrian uprising started from ... very uneducated people in the countryside. These areas are very poor and it is very easy for Islamist to influence and to brainwash these people.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 5). 116 „This [the uprising] is not a popular movement … it is a Qatari-Saudi-American soup to just move al-Asad and to make Syria a pro-American country.” (vgl. Interview mit der Rum-Orth. Lehrbeauftragten May Davie, Brummana, Mount Lebanon, 31.08.2013, S. 3). 117 „The Takfīrīs and Salafis were founded by Saudi Arabia and Qatar … these Gulf States brought in the religious aspect by founding mainly people who are in a lack of education, poverty and unemployment … due to this fertile ground the Islamists … could hijack the revolution.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Priester Boulos Wahbeh, Hamra, Beirut, 14.08.2013, S. 1–2). 118 „Some imams are using an escalating language and announce horrible Fatāwā for the war … [this is why,] it has become more sectarian.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Metropoliten A. M., Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 4). 119 „This war is a sectarian war now, especially after the bombing of the religious shrines in Damascus, like Zaynab. There are also a lot of sectarian massacres in Syria, some say it is titfor-tat.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Diakon Ephrem Ishac, Jounieh, Mount Lebanon, 30.08.2013, S. 8). 120 „We have regional powers fighting the Syrian regime and therefore a regional war... one of those reasons are sectarian differences, a second is Iran's backing of Bashar al-Asad, which is likewise a Saudi-Iranian problem. At the same time, this is part of a Shi'a-Sunni conflict. On the top of that, there is the Russian-American problem, and there is also a pro- and anti-Israeli

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USA oder die EU hätten dieser Entwicklung Einhalt geboten, sondern stattdessen durch ihre anti al-Asad Haltung selbst islamistische Strömungen gefördert.121 Der Grund für diese westliche Haltung sei lediglich der Wunsch gewesen, den israelischen Staat als Regionalmacht zu stärken und gleichzeitig feindlich gesinnte Staaten zu schwächen.122 Insofern seien die tatsächlichen Ziele des Krieges nicht die der syrischen Mehrheitsbevölkerung, weil es entweder um den Isqāṭ al-Niẓām (»Sturz des Systems«),123 die Schwächung der letzten großen arabischen Armee124 oder um die Etablierung eines rein sunnitischen, islamischen Staates in der Levante ging. 125 Statt der Unterstützung für die Opposition sollte sich der Westen vielmehr für eine politische Lösung einsetzen, wobei einzig und allein das syrische Volk über die Zukunft seines Landes zu entscheiden habe.126 Zuletzt deuteten sich eine Ernüchterung und eine Enttäuschung hinsichtlich der mangelnden Unterstützung für die Christen von Seiten des als »christlich« angesehenen Westens an. Da ihre Hilferufe hier auf taube Ohren gestoßen seien, hätten die Orientalischen Christen mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass das christliche Erbe in der Levante für die westlichen Mächte überhaupt keine Bedeutung mehr habe.127

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problem. All these factors play a role and Syria has become the battleground of all these games.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Präsidenten der »Syriac League in Lebanon« und Generalsekretär der »Union of Lebanese Christian Leagues« Habib Ephrem, Sin el-Fin, Beirut, 03.09.2013, S. 2–3). „In Syria, there are many foreign Islamist fighters and the West is happy, because they neither like Asad nor the rebels. They are traitors, because in fact they are happy that the regime is killing the terrorists and likewise, that’s why they don’t intervene … but in doing so they even support the Islamist.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Metropoliten A. M., Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 4–5). „America and Israel want to weaken the Arabs. They call it Arab Spring, but it is Arab autumn“ (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Erzbischof George Saliba, Sabtiyyeh, Jdeideh, 26.06.2013, S. 10). „The only reason of this conflict is to topple the [Syrian] regime.” (vgl. ibid., S. 2). „In the Middle East the countries of Iraq, Egypt, and Syria had the strongest armies in the region … all these strong countries that were a threat to Israel have been involved in a conflict and were weakened on purpose.“ (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Metropoliten A. M., Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 5). „He [Bashar al-Asad] was the aim from the very beginning, it [the conflict] started in order to topple him and to change the regime into a Sunni-run-State.” (vgl. Interview mit dem Syr.Orth. Kleriker D. B., Hamra, Beirut, 18.06.2013, S. 5). „[The Syrian Crisis is] a war of the superpowers on Syria … but it should be the Syrian people, the majority of the people, that have the right to choose their policy.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Repräsentanten L. R., Ashrafieh, Beirut, 30.05.2013, S. 5). „[As long] we have bad European leaders who do not care about the Christianity as much, our [the Christian̕ s] future will be dark … they do not care about the Christianity in the Middle East; rather they are all slaves of Israel.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Erzbischof George Saliba, Sabtiyyeh, Jdeideh, 26.06.2013, S. 9).

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Die Positionierung der Rum- und Syrisch-Orthodoxen Christen zur syrischen Regierung Den Interviewreihen zufolge hielt die Mehrheit der Rum- und Syrisch-Orthodoxen Christen an der amtierenden Regierung von B. al-Asad fest. Die verfassungsrechtliche Garantie der Religionsfreiheit kristallisierte sich dabei als zentral für ihre Regierungsloyalität heraus, weil das säkulare System ihnen bis heute eine freie Religionsausübung gewährleistet. Als Christen wurden sie weder staatlich, wie z.B. durch eine zusätzliche Steuerabgabe, wie der Ǧizyah (»Kopfsteuer«) unter Ḏimma (»Schutzverträgen«), noch sozial-gesellschaftlich diskriminiert.128 Das in der Verfassung verankerte Recht Kirchen zu bauen, Land zu erwerben und staatliche Unterstützung zu erhalten, wurde durchweg positiv gesehen. Sie hätten nicht nur ihre Feiertage zugestanden bekommen, sondern selbst ihre Messen wurden in Fernsehen und Rundfunk übertragen.129 Insgesamt könnten die Rum- und Syrisch-Orthodoxen ihre christliche Identität in dem liberal-gesellschaftlich orientierten Syrien unter den al-Asads frei entfalten, was ihnen im tendenziell traditionell-konservativ orientierten arabischislamischen Raum ein zusätzliches Freiheitsgefühl verliehen hätte.130 Einige Christen hatten es sogar geschafft in Regierungskreise aufzusteigen, sodass ihnen selbst die politische Ebene des syrischen Staates nicht verschlossen blieb. In Bezug auf die Treue zu der regierenden Baath-Partei schien die Loyalität der Syrisch-Orthodoxen vor allem durch die Erinnerung an ihre Dezimierung durch türkische Truppen im Seyfo stärker ausgeprägt gewesen zu sein, weshalb das säkulare System Syriens als eines der bestmöglichen Optionen im Nahen und Mittleren Osten bezeichnet wurde. 131 Obwohl in den Interviewreihen auch kritische Aspekte der Regierung von B. al-Asad angesprochen wurden, hätte die Mehrzahl der syrischen Christen die Entwicklungen seit der Machtergreifung seines Vaters H. al-Asad begrüßt. Während die Korruption, der Mangel an politischer Partizipation und die Missachtung der Menschenrechte negative Auswirkungen gehabt hätten, wäre die durch die syrische Administration unter

128 „The Christians felt as free as the Sunnis or Alawites, which was a really rare situation in the Middle East … due to the secular orientation of the Baath-regime.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Priester Boulos Wahbeh, Hamra, Beirut, 14.08.2013, S. 3–4). 129 „The regime was always good with the Syriac Orthodox … they broadcasted their masses on radio and they were shown in the TV.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Diakon Ephrem Ishac, Jounieh, Mount Lebanon, 30.08.2013, S. 3–4). 130 „You ̶ as a Christian ̶ had the total right on having your religious freedoms. When it comes to social behavior you had the total right to do your customs. I would say that Syria had a regime, when you compare it, it was by far much better than a lot of the other Muslim regimes that do not see the Christians as equal.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Präsidenten der »Syriac League in Lebanon« und Generalsekretär der »Union of Lebanese Christian Leagues« Habib Ephrem, Sin el-Fin, Beirut, 03.09.2013, S. 1). 131 „We accept the Syrian regime and we have no problem with it. Maybe this regime is one of the best we have seen in Syria for 50 years … and the best regime in the entire region.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Erzbischof George Saliba, Sabtiyyeh, Jdeideh, 26.06.2013, S. 1).

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den al-Asads lange Zeit bewahrte Sicherheit für die Christen doch als positiv einzuschätzen.132 Außerdem konnten sie eine kostenfreie Ausbildung, eine stabile Wirtschaft und einen relativ hohen Lebensstandard in Syrien genießen. 133 Mit dem Vormarsch der Islamisten in der Levante entstand der Eindruck, dass die Armee die Christen im Bürgerkrieg bis heute beschütze, wodurch der Charakter der syrischen Regierung als Protektor der christlichen Minderheiten der Region deutlich werde.134 Anders als das Konzept des politischen Islams hatte die säkulare Ausrichtung der Baath-Partei einen Lebensraum für alle Religionsgemeinschaften geschaffen, wobei die Trennung von Religion und Staat die gesamte Bevölkerung unter dem „Banner der kulturellen Freiheit“ vereint habe.135 Aus diesem Grund wurde sie von den Christen als ein Bollwerk gegen islamistische Strömungen gesehen.136 Schließlich spielte in den Interviews die Religionszugehörigkeit des syrischen Präsidenten eine Rolle, dem mehr Sympathien als seinem Vater ausgesprochen wurden. 137 Da durch die al-Asads die alawitische Minderheit die staatlichen Schlüsselpositionen von Syrien dominieren konnte, hätten diese auch im Interesse der Alawiten am Schutz von religiöser Minderheiten festgehalten.138 Diese Schutzfunktion machte das noch relativ hohe Ansehen von B. al-Asad zu einem entscheidenden Faktor. Er hätte sogar noch nach dem Ausbruch des Konflikts versucht, auf die Opposition zuzugehen. 139 Seine Schritte hätten dessen Reformbereitschaft offenbart. Da die Christen nach dem Verständnis des Staatsoberhaupts den Eckpfeiler des syrischen Staatsgebildes geformt hatten, seien sie

132 „We, as Christians, felt very save in Syria … in the entire region, Syria was the best country for the Christians.” (vgl. ibid., S. 5). 133 „The system gave us social freedom, religious freedom and there was security. Syria was the fourth safest country in the world and we had a stable economy and prosperity.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 5). 134 „We experienced that, the opposition groups, especially Ǧabhat al-Nuṣrah, entered Christian quarters and started to annoy, to bother, to insult, and to attack the Christians. So finally, the Syrian army took action and came to save the Christians.” (vgl. ibid., S. 2). 135 „The regime gave Syria a secure common living of all different religious sects and harmony together … under this regime, state and religion are divided and all of the different sects could share a cultural freedom all together.” (vgl. ibid., S. 3–4). 136 „The Rum-Orthodox Christians don’t expect social, cultural, and more important religious freedom from radical Islamism from which the regime is protecting us … it [regime] serves as a bulwark against Islamism.” (vgl. ibid., S. 4). 137 „What serves the regime is that Bashar al-Asad is much more popular than his father, because he is very close to the Syrians who like him.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Kleriker D. B., Hamra, Beirut, 18.06.2013, S. 1). 138 „We [the Christians] stick to the Syrian regime, because a Syrian State that is run by Alawites is much better for the Christians … they like the Alawites more than the Sunnis, because they are much more moderate … the secular system serves the Christian’s interests.” (vgl. ibid., S. 2–3). 139 „The regime provided a plan for reforms, but the people of the uprising were demanding too radical changes … the President was ready for change and for reforms. But al-Asad was moving a bit too slowly in this context.” (vgl. Interview mit dem ranghohen Rum-Orth. Repräsentanten L. R., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 1).

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für ihn ein integraler Bestandteil Syriens gewesen. 140 Im Vergleich zu einer politischen Alternative, die explizit eine islamistische wäre, stelle B. al-Asad bis heute die bestmögliche Option für die Christen dar, weshalb sie in „ihrem Herzen loyal mit ihm verbunden seien“.141 Darüber hinaus stellten sie ihre loyale Positionierung argumentativ in einen regionalen Kontext. Während christliche Minderheiten sonst selten Schutz durch arabische Staaten erfahren hätten, seien sie unter den al-Asads keinen Repressalien ausgesetzt gewesen. Während das Christentum im Irak fast verschwunden sei und sich viele irakische Christen den gestürzten S. Husain (1937– 2006) zurückwünschten, gewährte ihnen die christenfreundliche Politik der BaathPartei, die bis zur US-geführten Invasion auch im Irak geherrscht hatte, staatlichen Schutz.142 Im Vergleich zu anderen arabischen Staaten sei Syrien bis zum Ausbruch des Krieges das sicherste Land für das Orientalische Christentum gewesen. 143 Zuletzt stellten die Syrisch-Orthodoxen erneut den historischen Kontext ins Zentrum ihrer Argumentation. Die historische Zäsur des Seyfo habe sich in „ihr kollektives Gedächtnis eingebrannt“.144 Der Genozid sei der ausschlaggebende Grund für viele ihrer Vorfahren gewesen sich in das benachbarte Syrien zu flüchten. Insbesondere die dortige christenfreundliche Haltung hatte es ihnen letztendlich ermöglicht, ihr „heiliges Erbe zu bewahren“.145 Da sich der Völkermord in einer Zeit politischer Unruhen ereignet habe, verspüre die Syrisch-Orthodoxe Gemeinschaft bis in die Gegenwart

140 „The life will look gloomier for Christians after al-Asad. He believes that Christians are the cornerstone of the society; owners of the land and a welcomed guest. This gives us [the Christians] protection.” (vgl. Interview mit dem ranghohen Rum-Orth. Repräsentanten L. R., Ashrafieh, Beirut, 30.05.2013, S. 3). 141 „In their hearts, the Christians are with the al-Asad regime. Most of them wouldn’t tell you this, but of course we stand with the Syrian regime.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013,S. 2). 142 „The Christian heritage in Iraq is in danger and will probably vanish; despite of that Syria provides protection for the Christians. In Iraq, Islamism is on a raise and many Christians died, churches have been destroyed and the US is shamefully responsible. Today there are Christians in Iraq that want to have Hussein back, even though he was a dictator.” (vgl. Ibid., S. 5). 143 „You could not compare Syria to the rest of the Middle East … in the entire region, Syria was the best country for the Christians.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Erzbischof George Saliba, Sabtiyyeh, Jdeideh, 26.06.2013, S. 5). 144 „There was the genocide of the Aramaic and the Syriac Orthodox people in South Turkey. Out of this, we left Turkey and came to Syria. This is in our mind, in our hearts. In this context, for the Syriac Orthodox, it was so important to live a life in security ... there is a historical heritage to keep, because we still speak the Aramaic from the ancient times, the language that Jesus Christ spoke.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Metropoliten A. M., Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 2). 145 „Sie [die Christen] denken, dass das Regime sie beschützt vor einem bevorstehenden Islamismus, … weil sie der Meinung sind, dass ein Weiterbestehen des Regimes gut für sie ist: insofern eine Minderheit regiert, sind auch die anderen Minderheiten beschützt ... Zunächst hatten sie aber Angst vor dem Chaos, das ausbrechen könnte.” (vgl. Interview mit der RumOrth. Professor Assaad Kattan, Ashrafieh, Beirut, 20.08.2013, S. 7).

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eine tiefsitzende Angst vor fundamentalen Veränderungen im arabisch-islamischen Raum. Gerade weil ein potentieller Sturz von al-Asad die Gefahr eines unvorhersehbaren Vakuums in der gesamten Levante berge, würden sie es bevorzugen, weiterhin unter einer schützenden, wenn auch autoritären Ordnung mit eingeschränkter Meinungsfreiheit in Syrien zu leben.146

Die Positionierung der Rum- und Syrisch-Orthodoxen Christen zu der syrischen Opposition Nach Einschätzung der Interviewpartner vertrete die Mehrheit der Rum- und SyrischOrthodoxen Konfessionsgruppe eine kritische Haltung gegenüber der syrischen Opposition. Obwohl in ihren Reihen eine politische Fraktion aus moderaten und säkularen Kräften existiere, hätte diese kaum Einfluss und genieße weder Ansehen noch Vertrauen unter den Christen.147 Selbst christlichen Oppositionellen, wie G. Sabrah (*1947) oder M. Kilo (*1940), wurde nicht nur die Unterstützung, sondern auch die Legitimität abgesprochen.148 Da die Opposition selbst kriminelle und mafiöse Strukturen offenbart habe, bestünden große Zweifel, ob diese ihre proklamierten politischen Ziele jemals ernst gemeint hätte.149 Durch die starke Fragmentierung sei jeder der oppositionellen Zweige hinsichtlich seiner finanziellen, politischen und militärischen Strategie bis zum heutigen Tage gespalten, weshalb die Opposition kein gemeinsames Ziel verfolge, außer al-Asad zu stürzen.150 Da sie sich häufig in Widersprüche verstrickt habe und nicht über die Integration der Christen debattiere, habe die syrische Opposition für die Christen kein vielversprechendes politisches Modell

146 „In the entire region, Syria was the best country for the Christians . People lived in good condition … [although only] some people were able to talk, but for the others it was not their business.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Erzbischof George Saliba, Sabtiyyeh, Jdeideh, 26.06.2013, S. 5). 147 „The Christians don’t trust the opposition, because there is this Islamist movement; they don’t believe them anyway, not only in a political aspect, also not in a social and religious one.” (vgl. Interview mit der Rum-Orth. Lehrbeauftragten M. Davie, Brummana, Mount Lebanon, 31.08.2013, S. 2). 148 „Although there is a public opposition with even Syrian Christians like Michael Kilo or George Sabrah ... they have no agenda and that is why Christians in Syria don’t even trust them. So all in all, the opposition is a mess.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 1). 149 „The chiefs of this uprising are thieves … all of these people on the head of the opposition are exactly as criminal as Bashar al-Asad.” (vgl. Interview mit der Rum-Orth. Lehrbeauftragten M. Davie, Brummana, Mount Lebanon, 31.08.2013, S. 3). 150 „The problem of the opposition is that each branch of the opposition has its own agenda and that they are totally divided in all aspects: in terms of politics, military and public support. The only real commonsense is their aim to topple al-Asad.” (vgl. Interview mit dem rum-orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 1).

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anzubieten.151 Neben der Ermordung des Rum-Orthodoxen Verteidigungsministers D. Rajiha (1947-2012)152, stellten die Entführung des Rum-Orthodoxen Bischofs B. Yazigi (*1955) und des Syrisch-Orthodoxen Bischofs G. Y. Ibrahim (*1948)153, sowie die Verschleppung von rund einem Dutzend Rum-Orthodoxer Nonnen aus dem Kloster Mar Taqla in Maaloula, einem historischen Dorf der syrischen Christenheit, durch die Ǧabhat al-Nuṣrah eine deutliche Zäsur dar.154 Letztendlich habe die Entführung ihrer Würdenträger nicht nur zu einer Intensivierung der Abwanderungswelle unter den Christen geführt, sondern habe auch deren ablehnende Haltung gegenüber der Opposition als auch deren Festhalten an der syrischen Regierung weiter bekräftigt. 155 Zentral für die Zweifel der Interviewten war dabei nicht nur das fehlende Demokratiebestreben der Opposition, sondern auch ihr Mangel an Demokratieverständnis. Obwohl die säkularen Kräfte in der Opposition teilweise für politische Partizipation gekämpft hätten, lehne ihre Mehrheit diese demokratischen Tendenzen ab. Ihr tatsächliches Ziel sei von jeher die Abschaffung des säkularen Systems in ganz Syrien gewesen.156 Außerdem wurde in Oppositionskreisen Demokratie lediglich mit der Herrschaft der Mehrheit gleichgesetzt. Da die Machtverteilung nach deren Verständnis an konfessionellen Grenzlinien zu verlaufen habe, sei das oppositionelle Konzept explizit als sunnitisch-islamische Herrschaft über Syrien zu verstehen. 157 Dies werde dadurch verdeutlicht, dass keine der oppositionellen Kräfte das Konzept der Gleichberechtigung in ihre Agenda aufgenommen habe.158 Dagegen bestehe die

151 „The entire opposition is divided. The Rum-Orthodox don’t see a promising regime to emerge out of this.” (vgl. Interview mit dem ranghohen Rum-Orth. Repräsentanten L. R., Ashrafieh, Beirut, 30.05.2013, S. 2f.). 152 Vgl. Thomas El-Bashara (18.07.2012), „Suicide attack kills Assad’s brother-in-law, two top generals,” The Daily Star Lebanon, http://www.dailystar.com.lb/News/Middle-East/2012/Jul18/181002-suicide-attack-kills-Assads-brother-in-law-two-top-generals.ashx#ixzz2oUrnyLty [23.07.2013;17:35]. 153 Vgl. Naharnet Newsdesk (24.04.2013), „Aleppo Archdiocese: No News on Kidnapped Syria Bishops,” Naharnet Lebanon, http://www.naharnet.com/stories/en/80640 [24.04.2013;17:23]. 154 Vgl. Lee Keath (09.12.2013), „Seizure of nuns stokes Christian fears,” The Daily Star Lebanon, http://www.dailystar.com.lb/News/Middle-East/2013/Dec-09/240372-seizure-ofnuns-stokes-christian-fears.ashx [09.12.2013;11:45]. 155 „Their [the opposition's] target was to harm the Christians. And this is why you can see that our people are leaving Syria ... even more after these two Bishops were kidnapped and they were kidnapped, because they were Bishops, leaders of the Christians.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Erzbischof G. Saliba, Sabtiyyeh, Jdeideh, 26.06.2013, S. 3). 156 „The only reason of this conflict is to topple the secular regime and implement an Islamic state … in fact for the Muslims democracy is the rule of Muslims, but it is the worst for the Christians.” (vgl. ibid., S. 2–3). 157 „The Sunnis are not looking for democracy ... for them, democracy is only that the majority should rule the minority … this is their only understanding of democracy.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Diakon E. Ishac, Jounieh, Mount Lebanon, 30.08.2013, S. 8). 158 „All political parties from the Muslim Brotherhood and any other opposition group, that is trying to ask for reforms or for changes, they all do not have a thinking about equal rights or equal citizenship in their political agenda.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Präsidenten der

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Opposition mittlerweile mehrheitlich aus islamischen Hardlinern, sodass das oppositionelle Konzept als eine Gefahr anzusehen sei.159 Obwohl die Förderung politischer Partizipation erstrebenswert sei, hätten die Orientalischen Christen bis dato keinen Staat in der arabisch-islamischen Welt gekannt, welcher Menschenrechte geachtet oder Christen als gleichberechtigte Bürger gesehen habe. 160 Aus diesem Grund sei den Orthodoxen Christen heute die Bewahrung ihrer religiösen Freiheit wichtiger als die Erlangung ihrer politischen Freiheit. 161 Darüber hinaus speiste sich ihre Skepsis aus der Ambiguität zwischen den proklamierten Zielen der Opposition und der Wirklichkeit in den sogenannten „befreiten Gebieten“. Alle Ziele der säkularen Oppositionskräfte wurden durch die Aktivitäten der militanten Oppositionsgruppen vor Ort zunichte gemacht. Während die politische Opposition über Demokratie, Freiheit und Menschenrechte debattiert habe, terrorisierten islamistische Kampfverbände die Bevölkerung.162 Obwohl sich die meisten der Christen in den von der Regierung kontrollierten Regionen sicher gefühlt hätten, lebten sie in den von der Opposition kontrollierten Gebieten in Angst und Schrecken. 163 Aus diesem Grund stelle die Opposition, die gegenwärtig von der Ǧabhat al-Nuṣrah und dem sog. Dawlah al-Islāmīyah dominiert werde, keine Befreiung, sondern vielmehr eine existentielle Bedrohung für die syrische Christenheit dar.164 In den „befreiten Gebieten“ sei es immer wieder zu christenfeindlichen Übergriffen, Zerstörungen, Entführungen und Morden gekommen, wobei diese Übergriffe die klare Intention verfolgten, entweder die Zwangs-

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»Syriac League in Lebanon« und Generalsekretär der »Union of Lebanese Christian Leagues« H. Ephrem, Sin el-Fin, Beirut, 03.09.2013, S. 1). „Without Hafiz al-Asad or now his son you would never find a Christian lady walking in the street and that is true, because the Muslim Brotherhood cannot accept that … this is about what we are really afraid of.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Diakon E. Ishac, Jounieh, Mount Lebanon, 30.08.2013, S. 8). „The Christians in Syria and in all the Middle East have never known what we call a perfect government or regime, where the values of human rights and human dignity, pluralism, diversity, respecting the other or respecting the minorities in their rights, not only as equal citizen, as equal communities, were guaranteed.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Präsidenten der »Syriac League in Lebanon« und Generalsekretär der »Union of Lebanese Christian Leagues« H. Ephrem, Sin el-Fin, Beirut, 03.09.2013, S. 1). „There is no guarantee at all for the Christians. We don’t care about free elections, about political freedom so much as about our religious freedom.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 3). „The Rum-Orthodox don’t want democracy in the expense of destroying our country. I mean, basic democratic change would be good in this case, but the way is really bad, because they are using terror.” (vgl. ibid.). „They [the Christians] were safe under al-Asad and they still are in government controlled areas. But they feel now that this could be taken away in many other parts of Syria ... the Christians are really devastating under rebel control.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Priester B. Wahbeh, Hamra, Beirut, 14.08.2013, S. 1–2). „When al-Nuṣrah [Ǧabhat al-Nuṣrah] comes, they attack us [the Christians] and take over until no more Christian will remain. They really think that all Christians should be exterminated.” (vgl. ibid., S. 1–2).

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Konversion, Vertreibung oder sogar Ausrottung der Christen voranzutreiben. 165 Aus diesem Grund wurden die islamistischen Kräfte als „Feinde der Christen“ bezeichnet.166 Da sie die mit Abstand stärksten Kampfverbände der Opposition ausmachten, riefen diese nicht nur im syrischen, sondern selbst im libanesischen Territorium Angst und Schrecken unter den Christen hervor.167 Ihre ablehnende Positionierung begründete sich im weiteren Kontext aus den Erfahrungen der irakischen und ägyptischen Christen. Durch die US-geführte Invasion im Irak 2003 sei es zu einem Erstarken von islamistischen und salafistischen Strömungen gekommen.168 Viele irakische Christen flohen deshalb nach Syrien und berichteten dort von christenfeindlichen Übergriffen, die sich „in den Köpfen“ der einheimischen Christen festsetzten.169 Da vergleichbare Flüchtlingswellen in Syrien eingesetzt haben, bestand die Furcht vor einem „zweiten Irak“.170 In Ägypten hätten die Orthodoxen Kopten mit den Muslimen gegen die Regierung von H. Mubarak (*1928) demonstriert. Dennoch kam nach dessen Sturz zu einer Erstarkung der ʾIḫwān al-Muslimūn, die nach der Revolution von 2011 zu christenfeindlichen Angriffen übergegangen seien und damit die Kopten betrogen hätten. 171 Mit diesem Vertrauensbruch und der Dominanz der Islamisten in der syrischen Opposition, fürchteten viele Orthodoxe Christen von dieser am Ende selbst betrogen zu werden und ein „anderes Ägypten“ zu erleben.172 Aus diesen Gründen existiere die

165 „They [the opposition] will try to establish a complete Islamic country and will refuse us Christians in our own country … many Syriac Orthodox Christians have left not only because of the war, but also because they have been threatened, kidnapped, and injured by the Islamists so far.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Metropoliten A. M., Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 3–4). 166 „The Syrian army is not an enemy to the Christians … but the Islamist rebels are an enemy to the Christians, because it is a threat to the existence of Christians in Syria.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 2). 167 „In general, there is a widespread fear of the Christians in Lebanon. There is a certain danger, because due to poverty and ignorance there are so many people who becoming more and more radicalized.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Priester B. Wahbeh, Hamra, Beirut, 14.08.2013, S. 6). 168 „But with the uprising of the Islamic fanaticism after Iraq, because the al-Qāʿida militias started to be powerful after Iraq invasion by the US, they even attacked Christians.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Diakon E. Ishac, Jounieh, Mount Lebanon, 30.08.2013, S. 6–7). 169 „The image of the Christians in Iraq was in our heads and the Christians [in Syria] were very afraid of that.” (vgl. ibid., S.1). 170 „The Christian heritage in Iraq is in danger and will probably vanish … we [the Christians] are afraid that Syria is going to turn into a ʻsecond Iraqʼ. I think, all the Christians in Syria are in fear of this scenario and it is likely going to happen, if al-Asad will fall.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Kleriker S. C., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 7). 171 „Don’t be surprised if they [the Syrian opposition] later say: oh, sorry we cheated you. And this is actually what happened in Egypt.“ (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Diakon E. Ishac, Jounieh, Mount Lebanon, 30.08.2013, S. 7). 172 „We [the Christians] were afraid that Syria turns into ʻanother Egyptʼ dominated by the Muslim Brotherhood, because they also dominate great parts of the Syrian opposition.” (vgl.

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feste Überzeugung, dass ihre Lebenssituation nach dem Sturz der säkularen Regierung schlechter aussehen würde. 173 Aufgrund der Ereignisse in den „befreiten Gebieten“ hatte sich darüber hinaus die Auffassung etabliert, dass das Ziel der Opposition von Anfang an eine Implementierung eines Islamischen Staates in ganz Syrien gewesen sei, was mit dem in Syrien schon praktizierten Šarī‘ah-Recht begründet wurde.174 Viele Christen verließen ihre Heimat nicht nur wegen des Krieges, sondern auch aus Angst davor, von Islamisten aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit bedroht, entführt oder getötet zu werden.175 Deren Taten verstärkten ihre Furcht, dass sie wie zu Zeiten des Osmanischen Reiches unter einem Ḏimmi-Status zu Bürgern zweiter Klasse degradiert würden.176 Tatsächlich lebten aber nicht nur die Christen, sondern selbst die moderaten Sunniten in Furcht vor einer islamistischen Machtübernahme in der Levante. 177 Die islamistische Bedrohung sei schon längst im Libanon angekommen, da es zu einem erheblichen Anstieg salafistischer und islamistischer Gruppierungen im Libanon, allen voran von Seiten radikal eingestellten Sunniten in Saida und in Tripoli, gekommen sei.178 Mit der Verschärfung der Lage in Syrien und die dadurch ausgelöste

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Interview mit dem ranghohen Rum-Orth. Repräsentanten L. R., Hamra, Beirut, 25.05.2013, S. 2–3). „They [the Islamists] will just try to push the minorities out and this is the reality, it is not fiction. Always the minorities of Syria, the Christians, Druzes and Alawites were in fear of the Sunnis ... but more in dreams and this became a myth. But this myth became reality today.” (vgl. Interview mit der Rum-Orth. Lehrbeauftragten May Davie, Brummana, Mount Lebanon, 31.08.2013, S. 2). „They [the Christians] see no light at the very dark end of the tunnel. They think, if the opposition will win, it would be an Islamic State in entire Syria and then it is the end of the story … their Christian faith and their rights will not be preserved in Syria and maybe even beyond.” (vgl. Interview mit dem Syr.-Orth. Präsidenten der »Syriac League in Lebanon« und Generalsekretär der »Union of Lebanese Christian Leagues« Habib Ephrem, Sin el-Fin, Beirut, 03.09.2013, S. 4). „Many Syriac Orthodox Christians have left not only because of the war, but also because they have been threatened, kidnapped or injured by the Islamists.” (vgl. Interview mit dem Syr.Orth. Metropoliten A. M., Ashrafieh Beirut, 22.08.2013, S. 2–3). Im Islam werden Christen als ‘Ahl al-Kitāb (»Völker des Buches«) bezeichnet, wobei es eigentlich nach dem Koran für sie Fi Ḏimmat (»Schutz(verträge) «) unter der muslimischen Mehrheitsbevölkerung geben sollte. Historisch wurden den Christen in der Tat unter im Ḏimma-Status viele Privilegien vorenthalten, welche die Ummah (»muslimische Gemeinschaft«) genießen durfte (vgl. Charles H. Malik, Islamism and the Future of the Christians of the Middle East (Stanford: Hoover Institution Press, 2010), S. 13). „There is no room for other minorities and they [the Islamists] reinterpreted Islam in the way it favors them … the fear now is really in the heart of all the Syrian Christians and even in the heart of all the Druzes and the Alawites and moderate Sunnis, too.” (vgl. Interview mit der Rum-Orth. Lehrbeauftragten May Davie, Brummana Mount Lebanon, 31.08.2013, S. 2). „The crisis in Syria has also lead to a boost of fundamentalist groups in Saida and in Tripoli ... if you take into account that all the terrorist acts in the world have been done by the Sunni radicals, this becomes much clearer. The Sunnis have a much more dangerous orientation that

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Flüchtlingskrise ist es zu einer starken Polarisierung gekommen, welche die Islamisten für ihre Zwecke missbrauchten. Da die islamistische Gefahr allen voran von sunnitischen Islamisten ausgehe, bevorzugen die Christen eine Allianz mit den sehr viel liberaler orientierten Drusen und Schiiten, sogar mit der Ḥizbu’llāh.179 Tendierte die Mehrheit der Christen in den innerlibanesischen Machtkämpfen von 2005 bis 2008 noch zum politischen Lager des 14. März, würde sich nun ihre Mehrheit der 8. März Allianz verbunden fühlen, das von der den Libanon beschützenden Ḥizbu’llāh dominiert werde. Aus diesem Grund scheint sich die Re-definierung ihrer politischen Allianzen entgegen ihrer Tendenz nach der Zedernrevolution durch den levantinischen Krieg nun zugunsten der Schiiten zu drehen. Die militärische Stärke und der Kampf der schiitischen Ḥizbu’llāh gegen die auf den Libanon vorrückenden Kräfte des sog. Dawlah al-Islāmīyah und der Ǧabhat al-Nuṣrah biete ihnen demnach mehr Sicherheit und Schutz, als dies von den Sunniten zu erwarten sei, von denen ein erheblicher Teil selbst mit den Islamisten sympathisiere. Schließlich bestehe heutzutage eine reale Gefahr, dass es bei einem politischen Machtvakuum nach dem Sturz der Asad-Administration zu einem Völkermord an christlichen, aber eben auch an schiitischen und alawitischen Minderheiten in der gesamten Region kommen könnte.180

Kritische Analyse zu der Rum- und Syrisch-Orthodoxen Positionsfindung im levantinischen Krieg Hinsichtlich der Gründe für die Entstehung der Protestbewegung in Syrien verwies die von dem Autor durchgeführte Interviewreihe mit den Experten für den Nahen und Mittleren Osten auf eine Verschränkung struktureller und regionaler Prozesse. 181

the Shiites, they are not Takfīrīn ... the Takfīrī areas of the Sunnis are a much bigger threat to the Christians. The Shiites don’t have such a radical ideology ... the Shiites are not that radical in terms of an eliminating strategy against the Christians and they totally coexist with the Christians … they don’t target the Christians with violence, because they have never closed the door of Ijtihād, like the Sunnis did.” (vgl. Interview mit dem Rum-Orth. Priester B. Wahbeh, Hamra, Beirut, 14.08.2013, S. 2–5). 179 „All of the Christians feel that the Salafis and Takfīrīs are not like the Christians and the other way around. But the Alawites and the Druzes they are very close to each other in terms of when you see them walking in the streets … like Ḥizbu’llāh in Lebanon, you immediately know that they are different from the Sunni Islamists.” (vgl. Interview mit der Rum-Orth. Lehrbeauftragten May Davie, Brummana Mount Lebanon, 31.08.2013, S. 2). 180 „Da gibt es Bewegungen [,wie] Ǧabhat al-Nuṣrah … , wenn so etwas entsteht dann sind die Christen auf jeden Fall benachteiligt. In Bezug auf die Angst vor Massakern, denke ich zwar nicht, dass es Massaker gegen Christen geben wird, aber es ist dennoch möglich. Wahrscheinlicher ist, dass es zu Massakern gegen Alawiten kommt.” (vgl. Interview mit RumOrth. Professor Assaad Kattan, Ashrafieh, Beirut, 20.08.2013, S. 9). 181 Die interviewten Experten für den Nahen und Mittleren Osten entstammen einem Kreis von

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Langfristig spielten die Vetternwirtschaft, der Klientelismus und die Kooptation seitens der herrschenden Elite Syriens eine ausschlaggebende Rolle. 182 Die Einführung der sozialen Marktwirtschaft verschärfte die sozioökonomischen Spaltungen. Während das reiche Damaskus und Aleppo lange Zeit von den Aufständen verschont blieben, breiteten sich die Proteste primär in der ärmeren Peripherie von Syrien aus. 183 Anders als sein Vater managte B. al-Asad die sunnitischen Institutionen eher als sie zu kontrollieren, wodurch er diesen letztendlich einen gewissen Handlungsspielraum eröffnete.184 Allen voran konservative, sunnitisch orientierte Wohlfahrtsorganisationen nutzten ihre Tätigkeiten, um den Einfluss auf die arme Landbevölkerung jenseits der staatlichen Kontrolle zu stärken. Dadurch gelang es ihnen nicht nur die Lücke der fehlenden Sozialdienstleistungen zu schließen, sondern auch das Vertrauen der überwiegend sunnitischen Landbevölkerung zu gewinnen. 185 Diese Strategie sollte die Legitimität des syrischen Staates aushöhlen, der zunehmend die Kontrolle über die Peripherie verlor, welche ab März 2011 zur Brutstätte der regierungskritischen Demonstrationen wurde.186 Kurzfristig waren aber auch die Aufstände in anderen arabischen Staaten ausschlaggebend. Dies wurde dadurch verdeutlicht, dass es bereits kurz nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten H. Mubaraks zu Spontan-Demonstrationen in Syrien kam.187 Entgegen der Überzeugung vieler Orthodoxer Christen schien die Protestbewegung auch vom syrischen Volk getragen zu sein. Zwar spielten die sunnitischen Moscheen eine initiierende Rolle, doch die Tatsache, dass nach den Freitagsgebeten regelmäßig Demonstrationen von den Moscheen ausgingen, muss laut der Experten nicht zwangsläufig bedeuten, dass diese auch isla-

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Spitzenbeamten nationaler und internationaler Organisationen im Libanon sowie einschlägig ausgewiesenen Professoren und Journalisten für den libanesisch-syrischen Raum. Zu den gesamten Interviews mit den Experten für den Nahen und Mittleren Osten, siehe in: Leonhardt, Orthodoxe Konfessionen, Interviewreihe 3. „At the beginning of the uprising, people were mainly asking for more participation in politics, free elections, reform and reducing the corruption, clientelism and cooptation in the system that caused the demonstrations as well.” (vgl. Interview mit dem hochrangigen UNSicherheitsexperten für den Libanon C. Y., Ashrafieh, Beirut, 23.08.2013, S. 1). „Die ökonomische Liberalisierung Syriens hatte die wirtschaftliche und soziale Situation in den Städten, wie Aleppo, Homs und Damaskus sehr verbessert. Andererseits haben die ländlichen Gegenden nicht davon profitiert … das ist ein wichtiger Faktor auch für die Revolution, da zum Beispiel Aleppo am Anfang des Aufstandes total von den Unruhen verschont war.” (vgl. Interview mit Politikprofessor Theodor Hanf, Hamra, Beirut, 06.09.2013, S. 3). „Because Bashar is not like his father in the sense that he doesn't control Syria like his father did before him.” (vgl. Interview mit dem Journalist und Politikanalyst Makram Rabah, Gemmayze, Beirut, 29.08.2013, S. 3). Vgl. Rosiny, Power, S. 7. Vgl. Raymond Hinnebusch, „Syria: from ‘authoritarian upgrading’ to revolution?,” International Affairs 88/1 (2012): S. 95‒113, S. 105. Vgl. Phillips, Spring, S. 38.

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misch geprägt waren. Vielmehr stellten die Moscheen einen wichtigen Versammlungsort für einen sozialen Austausch dar, da sie den einzig öffentlichen Raum bildeten, wo sich die Gesellschaft in größeren Menschenmengen relativ unkontrolliert zusammen finden konnte.188 Letztendlich ist in diesem Zusammenhang auch zwischen Muslimen und Islamisten zu differenzieren, da zwar beide auf den Islam rekurrieren, jedoch zwei unterschiedliche religiöse Identitäten darstellten. 189 In der Protestbewegung hatten sich zudem auch einige Christen, Drusen und Alawiten zusammengefunden und selbst sunnitische Demonstranten hatten sich nicht selten als ausgesprochen nicht-sunnitische Oppositionelle gesehen. 190 Auf der anderen Seite ist nicht zu leugnen, dass bereits in den ersten Wochen der Syrischen „Arabellion“ religiöse Symbole und Slogans, wie der sog. Takbīr, in Erscheinung traten und eben auch gewisse Ulamā (»sunnitische Gelehrte«) in Freitagsgebeten zur Teilnahme an der Bewegung aufriefen.191 Die syrische Regierung reagierte mit einem Sicherheitsplan, wobei die Ereignisse in Daraa als Initialzündung gewertet werden können. Diese hatten in einen Schneeballeffekt gemündet, der letztendlich zur Militarisierung des Konfliktes führte.192 Durch die Verschränkung von staatlichen und parteilichen Strukturen führte diese Dynamik zu einem Konflikt über die politische Ordnung, wobei die Forderung nach einem Isqāṭ al-Niẓām einer Demontage der Staatsstruktur gleichkam.193 Diese förderte die Gefahr eines politischen Vakuums, das die Befürchtungen der Orthodoxen Christen vor einem Chaos nicht nur in Syrien, sondern letztendlich in

188 „That was the only way to start in Syria, there were no other places, and because that is the natural place where people can gather in Syria ... [the mosques were] used as a base, but at the beginning ... it was not an Islamic revolution … the Muslims who went to the streets wanted the Christians to join.” (vgl. Interview mit dem »World Council of Churches«-Mitarbeiter Michel Nseir, Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 6). 189 Vgl. Doreen Khoury, „Is it Winter or Spring for Christians in Syria?,” in Syria’s Revolution: Society, Power, Ideology, Hg. Heinrich Böll Stiftung (Beirut: Heinrich-Böll-Stiftung Middle East Office, 2012), S. 48‒52, S. 49. 190 „If you talk to any true Syrian activist, he will tell you that it was never a sectarian uprising. A lot of people that joined the uprising early on were actually outspoken non-Sunni-activists. There were also Druze, Christians and even Alawites.” (vgl. Interview mit dem Journalist und Politikanalyst Makram Rabah, Gemmayze, Beirut, 29.08.2013, S. 3). 191 Vgl. Thomas Pierret (2014), „The Syrian Baath Party and Sunni Islam: Conflicts and Connivance,“ Brandeis University, http://www.brandeis.edu/crown/publications/meb/MEB77.pdf [23.01.2016;12:17]. 192 „It was more a random volunteer movement and I think they [the Syrian government] pulled the guns and ... this overkill released a chain effect and that is how it spread.” (vgl. Interview mit dem Journalist und Politikanalyst Makram Rabah, Gemmayze, Beirut, 29.08.2013, S. 4). 193 „The regime has managed for over 40 years to identify itself with the State, so the fall of the regime will also be the fall of the structure of the state. It is because of the system that has been created around the Baath-Party and you cannot dismantle a regime without keeping the structures of the State intact.” (vgl. Interview mit »World Council of Churches«-Mitarbeiter Michel Nseir, Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 8).

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der gesamten Levante bis heute rechtfertigt. 194 Beide Konfliktparteien wurden bei der Militarisierung durch externe Mächte gestützt. Damit nahm der ursprünglich innersyrische Kampf tatsächlich den Charakter eines Stellvertreterkrieges an, in dem gegenwärtig subnationale, regionale und internationale Konfliktherde ausgetragen werden. So schaltete sich die türkische Regierung von R. Erdogan (*1954) früh in den Konflikt ein, indem sie als Gastgeber des SCCs fungierte, während sie der FSA eine militärische Operationsbasis bot.195 Die USA und die EU solidarisierten sich rasch mit der Opposition und werteten diese auf, indem sie als legitime Vertretung des syrischen Volkes anerkannt wurde, obwohl deren Legitimität keineswegs unumstritten war. Zuletzt war die Kritik der Orthodoxen Christen hinsichtlich der fehlenden Unterstützung des sog. »christlichen« Westens nachvollziehbar, da dieser in seiner Nahostpolitik tatsächlich wenig Interesse am Orientalischen Christentum zeigte.196 Stattdessen sah beispielsweise die EU das syrische Gebiet primär als Energie-Transitland, um längerfristig das Problem ihrer Ressourcen-Abhängigkeit vom russischen Staat lösen zu können.197 Das Königreich Saudi-Arabien und der Staat Katar nahmen schnell eine Vorreiter-Rolle im Kampf gegen die syrische Regierung ein. Das saudische Königshaus sah in dem Sturz von al-Asad eine Chance das Ziel einer sunnitischen Vormachtstellung in der Region endlich verwirklichen zu können.198 Ein Großteil der sunnitischen Opposition verfiel darauf den Machtspielen konkurrierender Regionalmächte. Insofern manifestiert sich der traditionelle saudisch-iranische Konkurrenzkampf um die Region gegenwärtig verstärkt im levantinischen Konflikt. Das eigentliche Anliegen der syrischen Protestbewegung verkam zu einer Nebenrolle, da der Machtkampf in Syrien längst zu einem international ausgefochtenen Konflikt um

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„The Christian minority is somehow protected by the regime or at least they benefit a lot from the political system. If you compare the situations of the Christians and all the others with the situation of the Christians in most of the other Arab countries - except of Lebanon - the situation of the Syrian Christians is one of the best regarding to their religious freedom. The political vacuum there probably boosts this impression.” (vgl. Interview mit dem hochrangigen UN-Sicherheitsexperten für den Libanon C. Y., Ashrafieh, Beirut, 23.08.2013, S. 2). Vgl. Asseburg, Syrien, S. 15‒16. „In a free election ... the entire West knows Bashar al-Asad will win and he will win with more percentage than Obama or Merkel. This is why you [the West] don’t want free elections, you don’t want Christian values, you just want Bashar out.” (vgl. Interview mit dem Generalsekretär der »National Ev. Synod of Syria and Lebanon« Adeeb Awad, Hamra, Beirut, 13.08.2013, S. 2). „This is not a war for democracy and reforms. It all cleared out, it was a big lie that the West created though its proxies. The US and mainly the EU want to control the area, for its petrol and economy.“ (vgl. ibid., S. 8). „There is a kind of master plan by Saudi Arabia that has been highlighted in the conflict. This plan is a regional plan to draw the Middle East totally new and to impose a Sunni Šarīʿah law in the entire Middle East. So they want to implement a Sunni Umma and they show willingness to do so.” (vgl. Interview mit dem hochrangigen UN-Sicherheitsexperten für den Libanon C. Y., Ashrafieh, Beirut, 23.08.2013, S. 3).

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die Levante geworden war.199 Während die finanziellen Mittel immer stärker an ausgesprochen sunnitische Rebellengruppen flossen, wurde der Informationsfluss lange Zeit durch al-Jazeera in Katar dominiert. Deren Informationsverbreitung vermittelte nicht nur das Bild einer breiten Front gegen die syrische Regierung, sondern auch eine sunnitisch-christliche Solidarität. Als Beleg wurden beispielsweise auf der Internetplattform YouTube Videos veröffentlicht, die Proteste mit regierungskritischen Gesängen vor Kirchen zeigten,200 was allerdings keinen tatsächlichen Beweis christlicher Solidarität darstellte.201 Entgegen dieser These kamen früh Slogans wie alAlāwī a-lā Tābūt, wa al-Māsīḥī a-lā Beirut (»Die Alawiten in den Sarg und die Christen nach Beirut«) auf.202 Auch kam es bereits im August 2012 im südsyrischen Jaramana zu christenfeindliche Übergriffe von Seiten der Rebellen.203 Obwohl es sich zunächst um einen politischen Machtkampf handelte, wurde mit der Radikalisierung die Religion zunehmend von beiden Konfliktparteien missbraucht. Insofern das Sektierertum als Mobilisierungs- und Legitimierungsressource eingesetzt wurde, wirkten die religiösen Unterschiede als entscheidender Brandbeschleuniger für die Konfliktregionalisierung.204 Schließlich hat sich neben der Konfessionalisierung – die ursprünglich ein bloßes Narrativ darstellte, aber mittlerweile ein reales Sektierertum etabliert hat – der levantinische Konflikt zu einem regionalen Wettstreit über die Einflusssphäre sunnitischer und schiitischer Regionalmächte entwickelt. 205

199 „[For the EU and the US] it is about regional stability and keeping the oil resources in their hands … moreover Saudi Arabia plays a major role and ... it is as well a country of dictatorship. They don’t care about something else than Iran and they actually want to target them. That’s why they are deeply involved in the Syrian war. Qatar is also powerful in the war, but they are a small country, although they have a lot of resources. All in all it is a big deal.” (vgl. Interview mit dem Journalist und Politikanalyst Makram Rabah, Gemmayze, Beirut, 29.08.2013, S. 3). 200 Vgl. YouTube (14.11.2011), „Homs: Anti-regime protest in front of Al-Bashara church. Free Syria,” veröffentlicht von: Syrian Days Of Rage, https://www.youtube.com/watch?v=_1sOXM3SgY0 [18.04.2015;14:04]. 201 „I heard the words in it and I saw the pictures and immediately I knew that this was fake ... the Syrians refused it from the beginning and they know who is behind it … the outside media. That is ... Saudi Arabia and mainly Qatar, but also Turkey.” (vgl. Interview mit dem Generalsekretär der »National Ev. Synod of Syria and Lebanon« Adeeb Awad, Hamra, Beirut, 13.08.2013, S. 6–7). 202 Vgl. Martin Staudinger (11.02.2013), „Der nächste Völkermord,“ United Nations/ UN Profil Austria 7, http://www.un.org/en/preventgenocide/adviser/pdf/Profil%20Austria.pdf [16.11.2013;15:45]. 203 Vgl. Aymenn J. Al-Tamimi, „Christians in Syria,” Women in International Security Executive Board Vol. 2/5 (2012): S. 19-25, S. 22. 204 „But in the current conflict, I guess even in the whole region, unfortunately but this is the reality, religion is being used by politics and vice-versa, the politics is sacrificed, so you have both ways: Religionization of politics and Politicization of religion.” (vgl. Interview mit dem »World Council of Churches«-Mitarbeiter Michel Nseir, Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 4). 205 „Mainly Saudi Arabia ... is using the narrative of religion to fuel the conflict with the long history of hatred. So the problem with this is that the narrative could come reality and if these

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Kritische Analyse zu der Rum- und Syrisch-Orthodoxen Positionsfindung zur syrischen Regierung Bis zum Ausbruch des Konflikts bildeten eine pro-palästinensische und pan-arabische Rhetorik, einer Strategie des negativen Säkularismus, d.h. einer Vorherrschaft nichtreligiöser Prinzipien in der Innenpolitik, sowie einer Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten und letztendlich Stabilität und Sicherheit die Fundamente des syrischen Staates, mit denen die Regierung al-Asads ihre Macht konsolidieren konnte. 206 Tatsächlich galt Syrien 2009 laut einer Gallup-Umfrage hinsichtlich der persönlichen Einschätzung der Sicherheitslage durch ihre Bürger als eines der sichersten Länder der Welt.207 Bei den syrischen Christen galten vor allem der Grad der religiösen Toleranz und der sozialen Interaktion als die zentralen Pluspunkte für die Regierung.208 Durch ein geschicktes Taktieren suchte die Baath-Partei seit jeher ein Ausbalancieren der Interessengruppen zu erreichen. Daher bettete sie einen arabischen Polizeiapparat ‒ trotz oder vermutlich eher wegen ihren allgegenwärtigen Geheimdiensten, die Muḵābarāt (»Berichte« bzw. »Neuigkeiten«), ‒ relativ stark in das Gefüge des Landes ein. Obwohl der Nimbus von B. al-Asad durch sein militärisches Vorgehen verblasste, genießt er unter den Christen bis heute ein positives Image. 209 Während die strategischen Fehler des Vorgehens der Regierung bei seiner politischen Umgebung gesucht wurden, erschien er, womöglich auch aus Mangel an politischen Alternativen, als ein Projektionsobjekt persönlicher Autorität und Beliebtheit, das sich stark aus dem politischen Erbe seines Vaters speiste. 210 Unabhängig davon, dass er als

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super rich powers want to set up a Sunni-Shi'a strife, you cannot prevent it ... but in fact it is only about gaining power in the region.” (vgl. Interview mit dem hochrangigen UNSicherheitsexperten für den Libanon C. Y., Ashrafieh, Beirut, 23.08.2013, S. 2–3). Vgl. Wieland, Syrien, S. 61–74. Vgl. RealClearWorld (16.03.2009), Top 5 Most Personally Safe Countries. Personal Safety in Syria, RealClearWorld.com (Gallup Worldwide Research), http://www.realclearworld.com/lists/top_5_personal_safety_countries/syria.html [24.11.2014;07:09]. „Die syrische Gesellschaft hat die Christen weitgehend in Ruhe gelassen, weil sie integriert, vor allem wirtschaftlich, integriert waren … wenn man Syrien mit den restlichen arabischen Staaten vergleicht, dann haben die Christen relativ viel Freiheit in Bezug auf die Religionsausübung.” (vgl. Interview mit Politikprofessor Theodor Hanf, Hamra, Beirut, 06.09.2013, S. 2). „At the last Arab Summit held more than 3 years ago ... Bashar invited al-Gaddafi for a drive in the car in Damascus, in the streets ... Bashar went out to buy some sweets in the streets. All of a sudden people discovered: This is the President and they surrounded him, kissing and hugging him. The security came just to get him out of the people, but al-Gaddafi was totally afraid ... i think, they saw in him a different type of President. No other President in the area does things like he does. No other Arab President and no other Arab regime is as close with its people as the Syrian.” (vgl. Interview mit dem Generalsekretär der »National Ev. Synod of Syria and Lebanon« Adeeb Awad, Hamra, Beirut, 13.08.2013, S. 11). Vgl. Wieland, Syrien, S. 76.

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Präsident ohne Zweifel die Verantwortung für die Eskalation mit zu tragen hat, hatte er die Verantwortung über die Streitkräfte früh an Familienmitglieder übertragen, weshalb seit 2012 oftmals Šabbīḥa das militärische Kommando übernahmen.211 Nicht nur die Christen, die Alawiten und die Drusen, sondern auch die sunnitische Bourgeoisie unterstützt die Regierung bis heute noch. Zuletzt scheint auch die Mehrheit des Militärs noch auf ihrer Seite zu stehen, wobei sicher geschürte Angst und systematische Kontrolle ihre Wirkung nicht verfehlt haben dürften. Insofern ist nicht auszuschließen, dass B. al-Asad in nicht unerheblichen Teilen der syrischen Gesellschaft noch Unterstützung genießt.212 Diese dürfte letztendlich wegen der Dominanz der Opposition durch islamistische Kräfte, allen voran dem sog. Dawlah al-Islāmīyah und dessen medialer Inszenierung von Gräueltaten, wieder gestiegen sein. So dürften große Gesellschaftsteile neben der Herrschaft der Baath-Partei gegenwärtig nur das Kalifat der Islamisten als politische Alternative sehen, was nicht als vielversprechendere Option erscheint. Politisch teilten die Rum-Orthodoxen jeher eine ideologische Nähe mit der säkularen Baath-Partei. So galt nicht nur der Rum-Orthodoxe A. Saadeh (1904-1949) als Architekt des syrischen Nationalismus, sondern auch M. Aflaq (1910-1989), der allgemein als ihr ideologischer Gründer angesehen wurde, war ein Rum-Orthodoxer Christ.213 Die Ideologie des Baathismus, welche in die Konzepte des nationalen Panarabismus und revolutionären Säkularismus die Elemente des arabischen Sozialismus integrierte, bildete lange Zeit die Grundlage, auf der die sunnitische Mehrheit mit den religiösen Minderheiten unter dem nationalen Banner einer syrisch-arabischen Identität vereint werden sollte. 214 Dagegen scheint die Ideologie des Arabismus weniger mit der regierungsnahen Haltung der SyrischOrthodoxen in Verbindung zu stehen. Dass der einstige Syrisch-Orthodoxe Patriarch Mor Ignatius Zakka I. Iwas (*1933) noch 2009 ein Treffen mit syrischen Beamten abhielt und die Mitglieder der ʾIḥādīyah Ǧhānī ʾŠūrīhā (»Assyrischen UniversalAllianz«) stets die staatlichen Bemühungen für ihre Kultur gelobt hatten, zeigt, wie sich der staatliche Einsatz für ihr nach dem Seyfo bedrohtes Erbe in Form von Loyalität bezahlt machte.215 Zuletzt erklärt auch die politische Integration der Christen in das System unter der Herrschaft der al-Asads deren regierungsnahe Haltung.216 Trotz 211 Vgl. Phillips, Spring, S. 38. 212 „Syria to the Christians is still like the crown to the king. Christians are afraid for Syria, because Syria represents always for them, even with its Sunni majority, the best country in the world.” (vgl. Interview mit dem Generalsekretär der »National Ev. Synod of Syria and Lebanon« Adeeb Awad, Hamra, Beirut, 13.08.2013, S. 7). 213 Vgl. Robert M. Haddad, Syrian Christians in Muslim society: An interpretation (Princeton: Princeton University Press, 1970), S. 93. 214 Vgl. Adel Beshara, „Antun Sa'adeh. Architect of Syrian nationalism,” in The Origins of Syrian Nationhood: Histories, pioneers and identity (Routledge Studies in Middle Eastern History 10), Hg. ders. (New York: Routledge Chapman Hall, 2011), S. 341–363, S. 341. 215 Vgl. Al-Tamimi, Christians, S. 24. 216 „Die Christen in Syrien [waren] mit dem Regime nicht unglücklich … sie konnten auch hohe Positionen im Staatsgebilde einnehmen, was in anderen arabischen Ländern nicht immer der Fall war. (vgl. Interview ” mit Politikprofessor Theodor Hanf, Hamra, Beirut, 06.09.2013, 2).

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der Dementis der syrischen Administration gegenüber den Vorwürfen der Opposition, auf Basis einer Minderheiten-Allianz zu regieren, schaffte sie es, durch eine ausbalancierte Kooptation die christlichen Minderheiten an sich zu binden. Diese Strategie wendete sie mit gleichem Erfolg auch bei der eigenen Religionsgemeinschaft an, wenn die Baath-Partei ihr Schicksal mit der Existenz der Alawiten verknüpfte. 217 Da die Alawiten jahrhundertelang eine diskriminierte Minderheit bildeten und bis heute von der sunnitischen Mehrheit in der Tat als Kuffār (arab. eigentlich „Undankbar sein“, allgemein mit „Ungläubige“ übersetzt) angesehen werden, hat sich diese Opferrolle in ihr kollektives Gedächtnis eingebrannt, sodass es für die syrische Regierung ein Leichtes war, sich dieser Gefühlslage zu bedienen. 218 Obwohl die Alawiten tatsächlich von der Machtübernahme Asads profitiert hatten, lebte ihre Mehrheit auch weiterhin in ärmlichen Verhältnissen.219 Letztendlich deutete dieser Umstand darauf hin, dass die Mehrheit der Alawiten nicht die herrschende Elite Syriens bildete.220 Entgegen dem oftmals vorgebrachten Vorwurf von Oppositionellen, dass die Alawiten den Armee- und Sicherheitsapparat dominierten, stellen sie bis heute nicht einmal in der SAA die Mehrheit.221 Vielmehr entstand durch die Symbiose von BaathPartei und Armee ein neo-patrimoniales System, wobei die alawitische Elite die egalitäre Klassenhierarchie jenseits der konfessionellen Differenzen oftmals kaschiert hatte.222 Zugleich schürte bereits der Aufstand der ʾIḫwān al-Muslimūn der 1980er

217 Vgl. Mousa, Predicament, S.19. 218 „Die Alawiten wurden lange Zeit vor der Machtübernahme der Asad-Familie diskriminiert, benachteiligt und unterdrückt. Viele Sunniten haben die Alawiten lange Zeit gar nicht als ordentliche Muslime angesehen, sondern eher als Ungläubige ... es [gibt] eine lange Geschichte der Feindseligkeit von Sunniten gegenüber den Alawiten, die das natürlich ihrerseits in ihrem Gedächtnis haben.” (vgl. Interview mit Politikprofessor Theodor Hanf, Hamra, Beirut, 06.09.2013, S. 2–3). 219 „Man muss in Betracht ziehen, dass sich, seitdem die Asad-Familie an der Macht ist, die Lage vieler Alawiten, z.B. in Latakia, stark verbessert hat, obwohl immer noch viele von ihnen in ärmlichen Verhältnissen leben.” (vgl. Interview mit Politikprofessor Theodor Hanf, Hamra, Beirut, 06.09.2013, S. 3). 220 „The people who are fighting with Bashar are not all Alawites, because the Alawites are a minority compared to the Sunni … they could not survive for more than two years in this conflict. They are fighting and you can surely say that the Alawites are backing al-Asad … the people who hold power in Syria are part of the al-Asad regime, but it is not an Alawite regime.” (vgl. Interview mit dem Journalist und Politikanalyst Makram Rabah, Gemmayze, Beirut, 29.08.2013, S. 2). 221 „The majority of the Syrian Army is Sunni. You have compulsory military service in Syria, so the Syrian Army consists according to the population with its majority.” (vgl. Interview mit dem Generalsekretär der »National Ev. Synod of Syria and Lebanon« Adeeb Awad, Hamra, Beirut, 13.08.2013, S. 8). 222 Vgl. Jürgen Hartmann, Staat und Regime im Orient und in Afrika. Regionenporträts und Länderstudien, Wiesbaden 2001, S. 123.

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Jahre die Furcht vor einer Islamisierung Syriens, welche seitdem eine nicht zu unterschätzende Trumpf-Karte der Administration darstellte.223 Angesichts der Tatsache, dass sowohl das saudische Königshaus als auch die US-Geheimdienste bisher vielerorts Islamisten zur Erreichung ihrer Ziele mitfinanziert hatten, legitimierte die Angst vor einer Islamisierung bei den Christen den Status Quo in Syrien. Zuletzt sah sich die syrische Regierung selbst in der Vermittlerrolle zwischen den Religionsgemeinschaften. Die al-Asads empfingen jeher medienwirksam christliche Patriarchen und hielten interreligiöse Dialogforen ab, um ihrer selbstgewählten Vermittlerrolle in den Medien gerecht zu werden. Trotz der toleranten Haltung existierte aufgrund des Verbotes von andersartigen politischen und religiösen Diskussionen tatsächlich ein Mangel an interreligiösem Dialog. So sollen syrische Funktionäre der Baath-Partei religiöse Spannungen teilweise sogar selbst initiiert haben, mit der simplen Intention diese unter staatlicher Schirmherrschaft eigenhändig zu lösen und die Würdenträger der Religionsgemeinschaften so kontrollieren zu können. Dies scheint ihr eigentliches Interesse an einer Überwachung und staatlichen Bindung der Konfessionen zu offenbaren.224 Während der Syrisch-Orthodoxe Patriarch Mor Ignatius Zakka I. Iwas (1933-2014) 2012 die Regierung noch offen unterstützte, verbündete sich die seit langer Zeit staatlich unterdrückte Munaẓamah al-Dīmuqrāṭīyah al-Šūrīyah (»Assyrische Demokratische Organisation«, kurz: ADO) mit der Opposition. Der Überfall von Sicherheitskräften auf ihre Büros in Qamishli zeigte früh, dass Oppositionelle ganz unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt wurden.225 Berichte über Angriffe auf Christen bei einer Demonstration einschließlich der Ermordung des Priesters Basilios von Homs (1983-2012)226, sowie der Prügelhaft der christlichen Aktivistin H. Kouky (*1991),227 offenbaren nicht nur die noch immer funktionierende systematische Einschüchterung oppositioneller Christen, sondern dienten auch als Warnung an christliche Gemeinschaften. Insofern dürften unter den Christen nicht nur Ängste vor einer oppositionellen Ordnung in Syrien, sondern auch vor der bestehenden Regierung selbst bestanden haben. Die Theorie einer schützenden

223 Vgl. Wieland, Syrien, S. 66. 224 „The religious, social, cultural, and ethnic tensions were there and were fueled, were used and were politicized, but before the conflict they were controlled and also manipulated by the regime … keeping it under its control, its patronage … they [Syrian officials] sometimes created even tensions between the religions on the micro-level, that both of them need to go to the regime to solve their problem.” (vgl. Interview mit dem »World Council of Churches«Mitarbeiter Michel Nseir, Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 5–6). 225 Vgl. Al-Tamimi, Christians, S. 24. 226 Vgl. Georges Massouh (02.02.2012), „Basilios Nassar and the Best Jihad,” Mouvement de la Jeunesse Orthodoxe, http://www.mjoa.org/cms/index.php?option=com_content&view=article&id=5875:2012-0201-09-4546&catid=233:2011-12-29-09-25-09&Itemid=419 [23.02.2013;08:45]. 227 Vgl. AhramOnline (05.01.2012), „Syrian actor Jalal Al-Taweel missing,” Al-Ahram Weekly, http://english.ahram.org.eg/NewsContent/5/32/30972/Arts--Culture/Film/Syrian-actor-JalalAlTaweel-missing.aspx [18.04.2015;11:01].

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Funktion der syrischen Administration erschien zumindest im Kontext der Verfolgung christlicher Oppositioneller als fragwürdig. Allein die oberflächliche Solidarität eines staatlichen Protektors überzeugte die Christen anscheinend davon, dass Angehörige religiöser Minderheiten in Schlüsselpositionen den Schutz über andere Minderheiten sichern würden. Die sichere Gewährleistung einer pluralistischen Identität im nationalen Staat Syrien, der den Minderheitenstatus der eigenen Gruppe kaschierte und bei Loyalität Schutz gewährleistete, schien für die Orthodoxen Christen vielversprechender zu sein, als der unsichere Weg zu mehr politischer Partizipation für alle Bevölkerungsgruppen, der letztendlich bis heute die Gefahr einer Implementierung eines Islamischen Staates im gesamten syrischen Gebiet in sich trägt. Jedoch wurde ihre Ansicht auch bewusst durch regierungsnahe Medien gefüttert. Beispielsweise berichtete die Website al-Ḥaqīqa (»Wahrheit«), auch genannt „Syria Truth“, schon im Frühjahr 2012, dass bis zu 90 Prozent der Christen in Homs einer ethnischen Säuberung militanter Islamisten zum Opfer gefallen seien. 228 Interessanterweise wurde diese Meldung wenige Tage nach ihrer Veröffentlichung von der vatikanischen Nachrichtenagentur „Agenzia Fides“ ohne Quellenverweis fast wortwörtlich übernommen.229 Auch der al-Asad treue Sender „Russia Today“ berichtete, dass rund 10.000 Christen vor einem islamistischen Überfall aus der Gegend geflohen seien.230 Bei einer Analyse des Berichts von „Russia Today“ offenbarte sich jedoch eine ungeprüfte Übernahme der Informationen der regierungsgelenkten Website „Syria Truth“.231 Dies zeigt, wie die christlichen Minderheiten schon in einem frühen Stadium des Konflikts über das gezielte Streuen von Ängsten unmittelbar an das Schicksal der syrischen Regierung gebunden wurden, wobei ein unkritisches Übernehmen zweifelhafter Informationen von Seiten europäischer Nachrichtenagenturen diese Strategie zusätzlich stützte. Entgegen der Vorstellung der Orthodoxen Christen, in der syrischen Regierung einen Protektor zu finden, trat die Baath-Partei vielmehr als rein pragmatisches „Regime“ auf, das alle Maßnahmen ergriffen hatte, um sein politischen Überleben abzusichern. Nichtsdestotrotz besteht sowohl bei einem Blick in andere arabische Staaten und allen voran bei den jüngsten Entwicklungen in der Levante kein Zweifel daran, dass die syrischen Christen kirchlich-institutionell als auch religiös-gesellschaftlich von der säkularen Baath-Partei profitiert haben. Seit Beginn der Protestbewegung von 2011 propagierte die syrische Administration medial

228 Vgl. Al-Ḥaqīqa/ Syria Truth (13.03.2012), „Militant ’Farouk Battalion‘ has finished the displacement of most of the Christians of Homs’s neighborhoods after seizing their homes by force of arms,” http://www.syriatruth.org/news/tabid/93/Article/6923/Default.aspx [20.12.2013;14:56]. 229 Vgl. Agenzia Fides (21.03.2012), „Abuse of the opposition forces,’ethnic cleansing‘ of Christians in Homs, where Jesuits remains,” http://www.fides.org/en/news/31228?idnews=31228&lan=eng [18.04.2015;11:34]. 230 Vgl. Russia Today/ RT (14.06.2012), „Syrian Islamist opposition casts out Christians,” http://www.rt.com/news/syria-christians-exodus-opposition-778 [07.09.2013, 14:19]. 231 Vgl. Al-Tamimi, Christians, 21.

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sozusagen eine „amerikanisch-französisch-israelisch-saudisch-katarische“ Verschwörung gegen sich und erklärte unablässig, dass es letztendlich nur um einen Kampf islamistischer Terroristen gegen eine säkulare Ordnung und um die Errichtung eines Islamischen Staates in Syrien ginge. Vermutlich hatten die religiösen Minderheiten Syriens diese Propaganda der Regierung vor allem aus Angst zu schnell und nicht hinterfragt abgekauft.232 Gegenwärtig sieht es jedoch so aus, als ob diese Theorie mittlerweile zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung und somit in der Tat zu einer unausweichlichen Realität in Syrien geworden ist, welche die gesamte Levante – inklusive des Libanons ̶ ins politische Chaos und in eine humanitäre Katastrophe stürzen könnte. Unabhängig davon, ob die Errichtung eines Islamischen Staates als eine selbsterfüllende Prophezeiung oder als geplante Strategie islamistischer Teile der Opposition gewertet werden muss, bleibt festzuhalten, dass die Mehrheit der Rumund Syrisch-Orthodoxen Christen bereits im Sommer 2013 vor genau dem Ereignis warnte, welches der sog. Dawlah al-Islāmīyah mit der Errichtung seines Kalifats rund ein Jahr später in Syrien und dem Irak in die Tat umsetzte.

Kritische Analyse zu der Rum- und Syrisch-Orthodoxen Positionsfindung zur syrischen Opposition In Bezug auf die Haltung der Rum- und Syrisch-Orthodoxen gegenüber der Opposition hatten die Experten des Nahen und Mittleren Ostens in den Interviewreihen zunächst auf die gesellschaftliche Realität in Syrien hingewiesen. Da syrische Oppositionelle jahrzehntelang Gefahr liefen, nicht nur diskriminiert oder verhaftet, sondern gefoltert oder sogar getötet zu werden, verließen viele von ihnen bereits ab den 1970er Jahren das Land.233 Die aufkommenden Proteste 2011 wurden primär von jungen Aktivisten getragen, die sich aus den Liǧān at-Tansīq al-Maḥalīyah (»Lokalen Koordinationskomitees«, kurz: LCC) und der Haīʾah al-ʿᾹmah li-ṯ-Ṯaura as-Sūrīyah (»Generalkommission der Syrischen Revolution«, kurz: SRGC) zusammensetzten. Die LCCs, die anfangs weder einer spezifischen politischen noch ideologischen Strömung angehörten, bildeten die Basis der Demonstrationsausweitung. Eine zweite Bewegung wurde im Koordinationskomitee, dem NCC, gebündelt. Aus syrischen Parteien und Organisationen hervorgehend setzte es sich weiterhin für einen säkularen Kurs ein.234 Eine dritte Strömung entstand schließlich als Nationalrat, dem SNC, im 232 Vgl. Robin Yassin-Kassab (29.09.2011), „Is the Syrian Civil War a Self-Fullfilling prophecy?,” The New York Times, http://foreignpolicy.com/2011/09/29/is-syrian-civil-war-aself-fulfilling-prophecy/ [03.12.2011; 14:45]. 233 „There has always been internal opposition in Syria, but most of them have been persecuted … he [a opposition member] spent more than half of his life ... in prison like many others of the opposition.” (vgl. Interview mit dem Generalsekretär der »National Ev. Synod of Syria and Lebanon« Adeeb Awad, Hamra, Beirut, 13.08.2013, S. 4). 234 Vgl. Huda Zein, „Identitäten und Interessen der syrischen Oppositionellen,“ Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2013): S. 17-23, S. 20.

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Ausland. Da aber verschiedene Vertreter dieses Rates ihre persönlichen Meinungen in den Medien äußerten, die dann im Namen des SNCs zitiert wurden, entstand ein widersprüchliches Bild der Position des Rates.235 Da das saudische Königshaus, die katarische und auch die türkische Regierung im SNC primär die ʾIḫwān al-Muslimūn unterstützten, stellten diese hier bald die stärkste Kraft dar.236 Auf internationalen Druck wurde der Rat in die al-iʾTilāf al-Waṭanī li-Qiwā ’l-Ṯawra wa-l-Muʿāraḍa asSūrīya (»Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte«, kurz: NCR) unter dem Christen G. Sabrah umgeformt. Trotz dieses symbolischen Aktes entwickelte sich kein Vertrauensverhältnis zwischen den Christen und der Opposition.237 Streitigkeiten um Bündnispartner und Finanzierungsquellen führten schließlich zur oppositionellen Fragmentierung, wobei Interessenkonflikte auch eine einheitliche militärische und politische Strategie blockierten. Während der Sturz von al-Asad in der Tat als das einzige vereinende Ziel der Opposition erschien, spiegelte die Vielfältigkeit der Kräfte innerhalb der Opposition gleichsam die ethnische und religiöse Heterogenität der syrischen Gesellschaft wider.238 Durch die Militarisierung waren vor allem die säkularen Kräfte auf ausländische Investoren angewiesen, deren Interessen sie sich verstärkt unterordneten. Ursprünglich demokratisch orientiert, zeigten sie durch diese Abhängigkeit zunehmend Mängel hinsichtlich ihres Demokratiebestrebens, was sich beispielhaft an ihrem Umgang mit der Kurdenfrage zeigte.239 Diesbezüglich wurde in den Experteninterviews jedoch kritisch angeführt, dass auch die Kirchenhierarchie selbst nicht als demokratisch bezeichnet werden könne, da sie sich zu gewissen Teilen selbst undemokratische Strukturen zu eigen gemacht hatte.240 Die stützende Rolle der Kirchen im Syrien des „Asad-Regimes“

235 „But now the problem in Syria is that the Sunni community is very fragmented. Not even the exile government [SNC] is indeed united or speaks with one voice.” (vgl. Interview mit Politikprofessor Theodor Hanf, Hamra, Beirut, 06.09.2013, S. 4). 236 Vgl. Zein, Identitäten, S. 19. 237 „George Sabrah … knows nothing, no one respects him actually in Syria and the problem is that the Germans, the Europeans and the Americans know that these people of Istanbul and Doha [the opposition] have no chance of winning anything in Syria in a free vote. This is why they want al-Asad out.” (vgl. Interview mit dem Generalsekretär »National Ev. Synod of Syria and Lebanon« Adeeb Awad, Hamra, Beirut, 13.08.2013, S. 4). 238 „The Syrian society is so diverse, therefore it is also normal that you don’t have a unified opposition in Syria.” (vgl. Interview mit dem »World Council of Churches«-Mitarbeiter Michel Nseir, Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 7–8). 239 Vgl. Aymenn J. Al-Tamimi (23.07.2012), „Syria's Kurds stand alone after rejecting rebels and regime,” The National Online, http://www.thenational.ae/thenationalconversation/comment/syrias-kurds-stand-alone-afterrejecting-rebels-and-regime [06.11.2013;09:45]. 240 „The church preferred their good position and probably the stability, as well as law and order. If you look at the history there is a tradition of the church to support dictators in many places of the world. Even the Orthodox Church itself is not really a democratic institution with its hierarchical structure.” (vgl. Interview mit dem hochrangigen UN-Sicherheitsexperten für den Libanon, C. Y., Ashrafieh, Beirut, 23.08.2013, S. 1).

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stellt dabei historisch keinen Einzelfall dar. Eine ähnliche Haltung zeigte beispielsweise auch die römisch-katholische Kirche gegenüber den diktatorischen Regimen in der Dominikanischen Republik unter R. Trujillo (1891-1961) und in Argentinien unter J. Videla (1925-2003). Auch in der Positionierung der Deutschen Christen im Nationalsozialismus schlug sich eine ähnliche Haltung nieder.241 In Syrien offenbarte der Mangel an demokratischer Haltung auch die Folgen der autoritären Strukturen, denen die Bevölkerung viele Dekaden ausgesetzt war. Schließlich rächte sich die oppositionelle Unfähigkeit, sich auf eine einheitliche politische Agenda festzulegen, indem sich dies deutlich in ihrem Vertrauensdefizit unter den Christen niederschlug. Obwohl auch die Rum- und Syrisch-Orthodoxen mehr politische Partizipation in Syrien begrüßt hatten und sogar anfangs mit der Protestbewegung sympathisierten, führte schließlich das Fehlen einer klaren politischen Alternative zu ihrer aus heutiger Sicht durchaus nachvollziehbaren Ablehnung durch die Christen. 242 Zugleich zeigte sich in den kritischen Äußerungen gegenüber den oppositionellen Kräften womöglich auch eine Angst vor einem politischen Mehrheitskonzept, da die Christen in diesem auf einige komfortable Begünstigungen verzichten müssten. 243 Durch die Vielzahl der Ziele der oppositionellen Kräfte mit ausländischer Finanzierung wuchs das politische Vakuum, wobei lange Zeit eine Dezentralisierung für den Konflikt charakteristisch war.244 Beide Faktoren förderten während des Durchgreifens der syrischen Streitkräfte zusätzlich die islamistischen Strömungen. Das Fehlen einer überzeugenden und finanziell unabhängigen Kraft verstärkte die Bereitschaft der sunnitischen Bevölkerung mit den erstarkenden Islamisten, wie der Ǧabhat al-Nuṣrah oder dem sog. Dawlah alIslāmīyah, zu kooperieren. Darüber hinaus halfen Teile der sunnitischen Bevölkerung beispielsweise beim Vormarsch des sog. Dawlah al-Islāmīyah in Mossul den Islamisten dabei christliche Häuser zu identifizieren, indem sie die Gebäude der Christen mit dem arabischen Buchstaben »Nūn« markierten. 245 Während auch viele Sunni-

241 Vgl. Wolfgang Sauer (1997), „Volkstum gegen Bekenntnis - Die Richtlinien der Deutschen Christen und die Barmer Theologische Erklärung,“ Universität Hannover, http://www.lotharveit.de/lektuere/barmen.pdf [13.10.2013;14:12], S. 11–12. 242 „What they [the Christians] have seen so far from the opposition, it is not really promising for them. In many parts where the opposition is controlling the ground now there has been implemented a sort of Šarīʿah law which is really bad for the Christians.“ (vgl. Interview mit dem hochrangigen UN-Sicherheitsexperten für den Libanon, C. Y., Ashrafieh, Beirut, 23.08.2013, S. 1–2). 243 „Ich denke, dass diese Aussagen [gegen die Opposition] deutlich die Angst vieler Christen widerspiegeln, da sie als Minderheit Furcht vor einem Mehrheitskonzept haben.“ (vgl. Interview mit Politikprofessor Theodor Hanf, Hamra, Beirut, 06.09.2013, S. 4). 244 Vgl. Daniel Gerlach und Nils Metzger, Männer, die auf Leichen starren. Wie unser Bild vom Krieg in Syrien entsteht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2013), S. 3–11, S. 10. 245 Im Koran werden die Christen als Naṣārā bezeichnet, wobei der arabische Buchstabe »Nūn« entsprechend für den Buchstaben »N« steht. In diesem Kontext wurde das »Nūn«

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ten in Syrien ihre vorher relativ unbelasteten Beziehungen zu ihren christlichen Nachbarn beim Ansturm der Islamisten vergessen hatten, begannen diese auch in der Folge ihrer anscheinend breiten Unterstützung verstärkt Jagd auf Christen zu machen. 246 Primär der sog. Dawlah al-Islāmīyah hatte sich wegen seiner Kommunikationsfähigkeit, seiner militärischen Durchschlagskraft, seinen externen Sponsoren und medial inszenierten Skrupellosigkeit als einer der stärksten Kampfverbände der Opposition etabliert.247 Zwar waren die Christen keineswegs die einzigen Opfer sektiererischer Gewalt, doch wird ihre Krisenlage durch die Tatsache, dass sie bis heute die einzige nicht-muslimische Religionsgemeinschaft Syriens sind, gegenwärtig zusätzlich prekär.248 Zwar hatte der Anführer des sog. Dawlah al-Islāmīyah, Abu Bakr alBaghdadi (*1971), am 26. Februar 2014 in Raqqa den Christen nach prophetischen Vorbild im islamischen Recht sog. Ḏimma-Status angeboten – bzw. vielmehr oktroyiert.249 Damit verbunden war aber, dass die Christen jeglichen feindlichen Akt gegenüber dem sog. Dawlah al-Islāmīyah zu unterlassen hätten. Diese vermutlich bewusst sehr vage gehaltene Angabe führte in der Realität dazu, dass die Islamisten einen völlig willkürlichen Umgang mit den Christen praktizierten, weil sie fast immer behaupten konnten, dass die christliche Bevölkerung ihnen gegenüber feindselig gewesen sei. Beispielsweise wurden nach der Eroberung der Stadt Mossul durch den sog. Dawlah al-Islāmīyah im Sommer 2014 viele der dort ansässigen Christen entgegen des „Schutzvertrages“ gezwungen zum Islam zu konvertieren. Nur Wenigen wurde in Aussicht gestellt, sich mit dem Ḏimmi-Status „arrangieren zu dürfen“. Häufiger wurden Christen bei einer Verweigerung zum Islam zu konvertieren, entweder beraubt und in die Flucht geschlagen, oder nicht selten sogar mit dem Tod durch das

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missbräuchlich zur Brandmarkung der Naṣrānī (»Christen«) verwendet (vgl. Inforadio (24.12.2015), „Regimetreu und verfolgt: syrische Christen, Interview von V. Kröning-Menzel mit dem Autoren dieses Artikels in der Inforeihe ‚Vom Morgenland und Abendland‘,“ Rundfunks Berlin-Brandenburg, https://www.inforadio.de/dossier/archiv-2015/weihnachtenneujahr-15-16/weihnachtstage/229491.html [24.12.2015;13:25]). „The opposition … is the only armed group that has attacked the Christians so far, whereas the regime hasn't until now. But I think that mainly parts of the radical Islamists groups have targeted the Christians.“ (vgl. Interview mit dem hochrangigen UN-Sicherheitsexperten für den Libanon C. Y., Ashrafieh, Beirut, 23.08.2013, S. 1). „The radical Islamic groups are the strongest militant part of the opposition and therefore they are going to play a major role in a possible post-Asad era.“ (vgl. ibid., S. 1–2). „So, if I am honest, I think that the Christians have everything to fear and they are not to be blamed on that.“ (vgl. ibid., S. 2). Der „Schutzvertrag“ beinhaltete, dass den Christen, ihrem Vermögen und ihren Kirchen grundsätzlich Schutz gewährt werden sollte. Im Gegenzug ist ihnen jedoch verboten, Gotteshäuser zu bauen oder alte wieder aufzubauen. Sie dürfen weder Kreuze noch christliche Symbole in Öffentlichkeit zeigen und sollen verhindern, dass Muslime in Kontakt mit ihrem Glauben kommen. Dies schließt ein, dass Glaubensbrüder und -schwestern nicht an der Konversion zum Islam gehindert werden dürfen. Auch ist ihnen verboten Schweinefleisch und Alkohol zu verkaufen oder zu konsumieren. Letztendlich müssen alle Christen zudem die Ǧizyah entrichten (vgl. Inforadio, Christen).

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Schwert bestraft.250 Weitere einschneidende Vorfälle, wie die Entführung Orthodoxer Bischöfe und Nonnen und die weit verbreiteten christenfeindlichen Übergriffe durch die Islamisten, bestätigten die schlimmsten Befürchtungen der Christen in der gesamten Levante. Im Vergleich zu den genannten Ereignissen von Mossul genossen die irakischen Christen unter S. Husain – abgesehen von den 1980er Jahren – in der Tat eine relativ gesicherte Existenz.251 Dies änderte sich primär mit der von der USAdministration angeführten Irak-Invasion im Jahr 2003. Letztendlich führte die Auflösung der irakischen Armee- und Sicherheitskräfte durch die US-Administration dazu, dass diese hoch ausgebildeten und hoch gerüsteten Militärkräfte ein Zweckbündnis mit al-Qāʿida (»Die Basis«) im Irak (AQI) eingingen. 252 Aus AQI entstand über mehrere Jahre hinweg später die Vorgängerorganisation des sog. Dawlah alIslāmīyah, die sich zu dieser Zeit noch Dawlah al-ʿIrāq al-Islāmīyah (»Islamischer Staat Irak«) nannte und später seinen Vorstoß vom Irak nach Syrien durchführte. 253 Nachdem solche islamistische Strömungen durch den Kampf gegen die US-Besatzung und durch das politische Vakuum im Irak Aufwind erhalten hatten, kam es schon während der US-Besatzung verstärkt zu Übergriffen auf christliche Minderheiten. Dies führte schließlich zu einer Zunahme von Abwanderungswellen unter den irakischen Christen.254 Auch im weiteren regionalen Vergleich, wie zum Beispiel in Ägypten, konnten die Kopten unter H. Mubarak trotz sozialer und wirtschaftlicher Unterdrückung eine relative Stabilität genießen.255 Nach dessen Sturz beförderte das entstandene Machtvakuum jedoch christenfeindliche Tendenzen. So kam es während der ägyptischen Revolution 2011 bereits einen Monat nach Mubaraks Sturz zu Übergriffen auf Orthodoxe Kopten und deren Kirchen in Kairo.256 Um solche Negativentwicklungen zu verstehen, muss auch der entscheidende Faktor berücksichtigt werden, dass, wie zum

250 Vgl. Ibid. 251 Vgl. Al-Tamimi, Christians, S. 19. 252 Vgl. Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus (München: C.H.Beck-Verlag, 2005), S. 199. 253 Vgl. Stephan Rosiny, Des Kalifen neue Kleider: Der Islamische Staat in Irak und Syrien (Hamburg: German Institute of Global and Area Studies, 2014), S. 2. 254 „The persecution of Christians in Iraq happened for sure … it was more a persecution that targeted the weakest link in the chain ... Christians were targeted in areas, disputed areas in Mosul and Kirkuk … there was emigration also because the people wanted the Christians to leave.“ (vgl. Interview mit dem »World Council of Churches«-Mitarbeiter Michel Nseir, Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 3). 255 Vgl. Najib G. Awad, And Freedom Became a Public-Square. Political, Sociological and Religious Overviews on the Arab Christians and the Arab Spring (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 46) (Berlin/Zürich: LIT-Verlag, 2012), S. 79. 256 Vgl. Rainer Herman (17.08.2013), „Nach dem Putsch die Verfolgung der Kopten,“ Frankfurter Allgemeine Online, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afrika/aegypten-nach-demputsch-die-verfolgung-der-kopten-12535359.html [20.12.2013;20:45].

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Beispiel im Fall des Iraks, viele Christen teils enge Beziehungen zu den elitären Kreisen der sich nun im Umbruch befindenden Regierungen unterhielten. Insofern wurden die irakischen Christen von der Bevölkerung als einstige Kollaborateure des gestürzten Diktators Husain wahrgenommen. Viele irakische Christen suchten dann in den christlich dominierten Gebieten von Syrien Zuflucht, was auch das Meinungsbild der dort ansässigen Christen nachhaltig beeinflusste. 257 In einer 2011 durchgeführten YouGov-Umfrage der Doha-Debatte unterstützten rund 55% der befragten syrischen Bürger ihre Regierung. Von diesen begründeten 46% ihre Loyalität mit ihrer Angst vor einem „zweiten Irak“.258 Daher ist anzunehmen, dass das politische Vakuum, das nach dem Sturz von S. Hussein und H. Mubarak entstand, zu einem positiven Rückkopplungseffekt für die Administration von B. al-Asad und zu einem Negativeffekt für die syrische Opposition geführt hatte.259 Dies dürfte insbesondere auf die religiösen Minderheiten, wie die Rum- und Syrisch-Orthodoxen Christen, zutreffen.

Fazit zur Positionierung der Christen im Libanon in Bezug auf den levantinischen Konflikt Dem Beispiel der bereits früh im Konflikt deutlich werdenden Solidarisierung ihrer Patriarchen folgend schien die Mehrheit der Rum- und Syrisch-Orthodoxen im Konflikt hinter der syrischen Regierung zu stehen. Trotz kleiner Differenzen in der Argumentation dürfte dabei die Positionsfindung der Rum- und Syrisch-Orthodoxen in Bezug auf den levantinischen Krieg auch für andere christliche Konfessionen charakteristisch sein. Zwar hegte womöglich ein erheblicher Teil des Kirchenvolkes Sympathie für die anfänglichen Ziele der Opposition – und zwar entgegen der frühen Solidarisierung ihrer Patriarchen – jedoch transformierte sich ihr Wohlwollen nicht in eine aktive Unterstützung des Kampfes gegen die Regierung al-Asads. Diese Zurückhaltung steigerte sich noch, als die Opposition von islamistischen Kräften zunehmend ideologisch vereinnahmt wurde. In der Tat hatte die Opposition im weiteren Verlauf

257 „People wanted the Christians to leave ... from Iraq there was a lot of emigration to foreign countries, also to Syria.“ (vgl. Interview mit dem »World Council of Churches«-Mitarbeiter Michel Nseir, Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 3). 258 Vgl. Doha Debates and YouGov Poll Report (26.12.2012), „Syria’s President Assad- Should he resign?,” S. 8, http://clients.squareeye.net/uploads/doha/polling/YouGovSirajDoha%20Debates%20President%20Assad%20report.pdf [20.12.2013;14:57]. 259 „If you compare the situations of the Christians and all the others with the situation of the Christians in most of the other Arab countries - except of Lebanon - the situation of the Syrian Christians is one of the best regarding to their religious freedom. The political vacuum there probably boosts this impression.” (vgl. Interview mit dem »World Council of Churches«Mitarbeiter Michel Nseir, Ashrafieh, Beirut, 22.08.2013, S. 3).

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des Krieges bisher für die Christen wenig vielversprechende Alternativen zur Regierung um al-Asad anzubieten. Spätestens die sektiererischen Übergriffe und die Errichtung des Kalifat-Staates in großen Teilen von Syrien und dem Irak durch den sog. Dawlah al-Islāmīyah führten zu einer ganzheitlichen Ablehnung der Oppositionsbewegung durch die Christen. Aufgrund eines interessengeleiteten Abwägungsprozesses tendierten gleichsam die Christen im Libanon schon sehr früh im Konflikt zu der syrischen Regierung, wobei sie nicht unbedingt aus einer absoluten Treue heraus, sondern vielmehr aus einer für sie berechtigten Ablehnung gegenüber der Opposition handelten. Ihre Wahrnehmung des Konfliktes rief bei ihnen ein verstärktes Verlangen sowohl nach Stabilität und Sicherheit als auch nach Gesetz und Ordnung hervor. Die ebenfalls im Libanon deutlich gefühlte Verunsicherung führte unter den libanesischen Christen zu einem neuen Prozess der Re-definierung ihrer politischen Allianzen. Sie orientierten sich durch die islamistische Bedrohung des levantinischen Krieges weg von der noch nach der Zedernrevolution bevorzugten pro-saudischen, sunnitisch dominierten 14. März Allianz hin zum pro-syrischen, schiitisch dominierten 8. März Lager. Aufgrund des verstärkten Kampfes der Ḥizbu’llāh gegen die vorrückenden Islamisten setzten demnach immer mehr Christen auf die kampferfahrene schiitische Miliz. Im Lichte der Veröffentlichung der militärischen Pläne des sog. Dawlah al-Islāmīyah, ein Islamisches Emirat im Libanon zu errichten, begannen viele Christen besonders im Grenzgebiet von Baalbek, aber auch in Jezzine und Ain Majdaline, sogar damit sich selbst zu bewaffnen und christliche WiderstandsBrigaden zu gründen.260 Es gab nicht wenige Brigaden, die ihre Waffen dabei direkt von der Ḥizbu’llāh bezogen und mit dieser zusammen patrouillierten.261 Begründet wurde dies öffentlich damit, dass die Schiiten – als religiöse Minderheit selbst von den Sunniten benachteiligt und somit Schicksalsgenossen – weitaus liberaler orientiert seien.262 Eine Studie des Beiruter Zentrums für Forschung und Information kam Ende 2014 sogar zu dem Ergebnis, dass mittlerweile fast zwei Drittel der libanesischen Christen (62.6%) davon überzeugt seien, dass die Ḥizbu’llāh ihr Land vor den Islamisten beschütze.263 In der Tat hat der Krieg in der Levante zu einem rasanten An-

260 Vgl. Mohammed Zaatari (15.09.2014), „Hezbollah, FPM form Christian armed group in Jezzine,” The Daily Star Lebanon,” http://www.dailystar.com.lb/News/LebanonNews/2014/Sep-15/270680-hezbollah-fpm-form-christian-armed-group-in-jezzine.ashx [15.09.2014;12:39]. 261 Vgl. Susannah George (11.10.2014), „Lebanese Christians Gun Up Against ISIS,” The Daily Beast, http://www.thedailybeast.com/articles/2014/11/10/lebanese-christians-gun-up-againstisis.html [11.10.2014;23:56]. 262 Vgl. Anthony F. Shaker (05.11.2014), „An Overwhelming Majority of Lebanon’s Christians Believe Hizbullah Protects Their Country,” http://www.counterpunch.org/2014/11/05/anoverwhelming-majority-of-lebanons-christians-believe-hizbullah-protects-their-country [23.01.2015;19:38]. 263 Selbst ihr Generalsekretär H. Nasrallah betonte, dass seine Partei die Christen im Libanon vor dem Terrorismus der sunnitischen Extremisten schützen werde (vgl. Mary Abdallah

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Christoph Leonhardt

stieg von Islamismus, selbst im Libanon geführt. Demnach haben schon einzelne islamistische Gruppierungen in Saida und Tripoli einen Treueid gegenüber A. B. alBaghdadi geschworen.264 Allerdings sollte den Christen im Libanon Vorsicht geboten sein, da im Falle eines Sturzes von al-Asad ihre Haltung wiederum von den Sunniten als Argument genutzt werden könnte, sie als Kollaborateure und Schuldige zu brandmarken, wie dies bereits im Irak geschehen war. Daher sei es umso wichtiger nicht auf eine der Konfliktparteien zu setzen, sondern zu versuchen, der Polarisierung zwischen Sunniten und Schiiten entgegenwirken. Da das Rum-Orthodoxe Patriarchat mit seiner Agenda lange Zeit gute Beziehungen zu den Sunniten pflegte, wäre es die nachhaltigere Option, sich trotz aller Vorbehalte an eine Vermittlerrolle heranzutasten. 265 Vielmehr birgt eine einseitige Parteinahme in einem aufkommenden sunnitischschiitischen Flächenbrand in der Levante die Gefahr, als Minderheit noch weiter zerrieben zu werden. Anknüpfungspunkte wären hierbei zum Beispiel Äußerungen des sunnitischen Großmuftis Scheikh M. R. Qabbani (*1942), dass er die Sorgen der Christen um ihre Präsenz in der Levante angesichts des Vormarsch islamistischer Kräfte verstehe.266 Gegen die Tendenz, die Feindseligkeiten weiter zu schüren und wie der Syrisch-Orthodoxe Bischof G. Saliba (*1945) alle Muslime öffentlich als „Feinde von Jesus Christus“ zu diffamieren267, bedarf es der Förderung moderater und versöhnlicher Diskurse. Trotz seines ungewissen Schicksals war es gerade der entführte Syrisch-Orthodoxe Bischof G. Y. Ibrahim, der sich lange Zeit für einen Dialog einsetzte und bereits 2012 im Rahmen eines »7-Punkte-Programms« zu einem Ende des Mordens aufrief.268 Einen weiteren Vorstoß in die richtige Richtung wagte zuletzt das Rum-Orthodoxe Patriarchat, als es den verzeihenden Charakter des Islams hervorhob, durch den sein Kirchenvolk in der Vergangenheit Frieden und Brüderlichkeit erfahren hätte, und darüber hinaus die Christen und Muslime öffentlich als „zwei

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(03.03.2015), „Do Christians need Hezbollah?,” Now Lebanon, https://now.mmedia.me/lb/en/reportsfeatures/564914-do-christians-need-hezbollah [03.03.2015;10:56]). Vgl. Ana M. Luca (23.06.2014), „Can ISIS make real gains in Lebanon?,” Now Lebanon, https://now.mmedia.me/lb/en/reportsfeatures/552936-can-isis-make-real-gains-in-lebanon, [27.09.2015;10:20]. Vgl. Christoph Leonhardt, Die orthodoxen Christen in Syrien und Libanon: Zwischen Assad und Islamisten (Berlin: Deutsches Orient Institut DOI-Kurzanalyse, 2014), S. 1‒26, S. 19, einzusehen unter :www.deutsche-orient-stiftung.de/en/publications/doi-kurzanalysen [09.06.2015, 23:17]. Vgl. DailyStar (26.12.2013), „Mufti says concerns of Christians justified,” The Daily Star Lebanon, http://www.dailystar.com.lb/News/Lebanon-News/2013/Dec-26/242300-muftisays-concerns-of-christians-justified.ashx [29.12.2013;09:40]. Vgl. Orthodox Christian News (31.07.2014), „Syriac Orthodox bishop: Muslims enemies of Christ,” http://myocn.net/syriac-orthodox-bishop-muslims-enemies-christ [31.07.2014;20:23]. Vgl. Katholisch-Informiert (01.10.2012), „Ein Aufschrei gegen das Morden,“ http://katholisch-informiert.ch/2012/09/ein-aufschrei-gegen-das-morden [12.12.2013;13:13].

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Der levantinische Krieg

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Lungen von ein und demselben Östlichen Körper“ bezeichnete.269 Da die Medien eine zentrale Rolle im levantinischen Krieg spielen, würde beispielsweise die hohe Position der Christen bei der Zeitung an-Nahār (»der Tag«) mit dem Rum-Orthodoxen Gründer G. Tuwaini (*1957) zumindest eine Basis ermöglichen, solche versöhnlichen Worte weiter zu verbreiten, um konfliktlösende Diskurse anzustoßen. Schließlich erscheint es aufgrund des christlichen Minderheitenstatus sinnvoll, überkonfessionell als politische Einheit aufzutreten, und nicht – wie es so oft zuvor im Libanon geschehen ist – in einen Konfessionalismus zu verfallen, um sich so im Säbelrasseln der sektiererischen Rhetorik mehr Gehör zu verschaffen. Trotz der historischen Rivalität sollte demnach auch die Syrisch-Orthodoxe Kirche in diesen Prozess der Versöhnung integriert werden. Entgegen diesem noch verbleibenden Hoffnungsschimmer ist eher davon auszugehen, dass die Konfliktregionalisierung noch weitere folgenreiche territoriale, sozio-ökonomische und humanitäre Krisen mit sich bringen wird. Schließlich werden die bereits aus der Levante geflohenen Christen ohne ein neues Vertrauensverhältnis zu der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung nicht zurückkehren. Ohne dieses Vertrauen wächst gleichzeitig die Gefahr, dass die in der Levante zurückgebliebenen Christen sich noch stärker auf eine religiöse Minderheitenallianz stützen werden. Schlussendlich wird der Exodus der Christenheit auch im Kontext des levantinischen Konflikts weitergehen, was gleichermaßen bedeutet, dass auch die ältesten und traditionsreichsten christlichen Gemeinden selbst im Libanon in Zukunft weiter schwinden werden.

269 Vgl. Orthodox Christian Channel (23.07.2014), „Greek Orthodox Church Condemns Attacks on Christians in Mosul,” http://philotimo-leventia.blogspot.de/2014/07/greek-orthodoxchurch-condemns-attacks.html [23.07.2014;23:30].

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Trauern um Terroropfer. Synästhetisch-visuelle Praxen der Konstruktion von Märtyrern unter koptisch-orthodoxen Christen in Ägypten Cordula Weißköppel

Für Amira, Marina und Nardeen

Ethnografischer Einstieg: Terror in der Neujahrsnacht Während meiner Forschung über religiöse Sozialisation und Erziehung in den koptisch-orthodoxen Kirchen Ägyptens1 wurde ich Zeitzeugin eines Bombenattentats. In der Silvesternacht vom 31.12.2010 zum 1.1.2011 detonierte ein abgestelltes Auto vor einer der größten koptischen Kirchen Alexandrias, der El Quedessin-Kirche, kurz vor Beendigung des Nachtgebets. 23 Kopten starben an Verbrennungen oder anderen Verletzungen durch die Explosion. 80 weitere wurden schwer verletzt und ungefähr 1000 Gläubige wurden unmittelbare Zeugen der Ereignisse. Sie hatten die Detonation aus dem Innern der Kirche erlebt2 und mussten um das eigene Leben fürchten. Im Anschluss waren sie daran beteiligt, die Toten zu bergen und die Verletzten zu retten. Ich spreche daher von einer kollektiven traumatischen Erfahrung, die von allen unmittelbar Betroffenen verarbeitet werden musste. Diese Erfahrung betraf eben nicht nur die Opfer und ihre Angehörigen, sondern auch in kulturspezifischer Hinsicht die koptische Bevölkerung in Alexandria und Ägypten insgesamt. Der Trauma-Begriff wurde im Zuge der Auseinandersetzungen um den Holocaust und seine unmittelbaren wie langfristigen Folgen bekanntlich kontrovers theoretisiert3 und schließlich auf di-

1 Dieser Forschungsaufenthalt in Alexandria von Oktober 2010 bis März 2011 wurde durch ein Sabbatical im Rahmen meiner Stelle an der Universität Bremen ermöglicht. 2 Durch die Überwachungskameras im Innern des Kirschenschiffes wurde diese Szene dokumentiert und weltweit in nationalen TV-Sendern (u.a. in ARD) ausgestrahlt. Besonders eindrücklich war daran, dass der Priester geistesgegenwärtig sofort die Gemeinde beruhigen wollte, um den Ausbruch einer Massenpanik zu verhindern. 3 Siehe Wulf Kansteiner, „Menschheitstrauma, Holocausttrauma, kulturelles Trauma: Eine kritische Genealogie der philosophischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung seit 1945,“ in Handbuch der Kulturwissenschaften, Themen und Tendenzen Bd. 3, Hg. Friedrich Jäger und Jörn Rüsen (Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, 2004), S. 109–139; Ruth Leys, Trauma: A Genealogy (Baltimore: Johns Hopkins University, 2000).

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verse Formen der kollektiven Traumatisierung und ihre kulturelle Bearbeitung bezogen. So wird allgemeiner auch von metaphorischer Traumatisierung gesprochen, die auf strukturelle Zusammenhänge von Verdrängung und spezifischen Formen der Erinnerung bzw. (Re-)Artikulation und Symbolisierung von traumatischen Ereignissen verweist. Auch wenn ich hier die unmittelbaren Erfahrungen der involvierten Menschen während des Terroranschlages in Alexandria zum Ausgangspunkt nehme4, beschäftigt mich im weiteren Verlauf dieses Artikels genau diese Frage: Wie wurden die traumatischen Erfahrungen Einzelner in soziale und kulturelle Bedeutungssysteme (oder auch „Skripte“5) eingebettet, die Kopten und Koptinnen im Zuge ihrer historischen Erfahrungen von gewaltvoller Diskriminierung ihrer religiösen Identität entwickelt und rituell wie symbolisch etabliert haben. Gleichzeitig wurden dabei aber zeitgenössische Praxen vor allem im Umgang mit digitalen Medien sichtbar, die nicht innerhalb von Kulturspezifika zu interpretieren sind, sondern deutlich machen, welche übergreifenden und somit strukturellen Möglichkeiten oder Kulturtechniken für die Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse einbezogen werden. Insofern geht es in diesem Aufsatz nicht um ein Entweder-oder von historischer (und somit kulturspezifischer) versus struktureller (d.h. tendenziell metaphorischer) Analyse von Bearbeitungsformen6, sondern gerade um die Synthese beider Ansätze. Mein Interesse gilt der „soziale(n) Übersetzung von Traumata, sowohl im direkten Kontakt mit Überlebenden von Traumata wie auch durch indirekte Erfahrungen z.B. durch elektronische und digitale Medien“7, die heute, wie ich zeigen werde, auch in der weiteren Ver- und Bearbeitung als schnelle Übermittler aktueller Geschehnisse eine zentrale Rolle spielen. Denn durch meine Präsenz in einer der größten Nachbargemeinden erlebte ich, welche Wellen der Panik, Trauer und Verzweiflung der Terroranschlag in El Quedessin in zahlreichen koptisch-orthodoxen als auch in anderen christlichen Gemeinden Alexandrias auslöste und wie schnell sich die Nachricht auch inter- bzw. transnational verbreitete (u.a. Braunschweiger Zeitung; Züricher Zeitung; Hannoversche Allgemeine Zeitung)8.

4 Damit folge ich medizinisch-psychiatrischen Definitionen im engeren Sinne, dass von Traumatisierung nur zu sprechen sei, wenn die Person „das Trauma entweder selbst erlebt hat, oder unmittelbarer Zeuge war oder von der Bedrohung eines Familienmitgliedes oder einer anderen eng verbundenen Person erfahren hat“ (Kansteiner, Menschheitstrauma, S. 121). 5 Sieh unter Peter J. Bräunlein, Passion / Pasyon: Rituale des Schmerzes im europäischen und philippinischen Christentum (München: Wilhelm Fink, 2010). 6 Siehe Kansteiner, Menschheitstrauma, S. 118. 7 Ibid., S. 123. 8 Braunschweiger Zeitung, „Das Böse bestimmt die Wirklichkeit“. Bischof Weber schreibt an Bischof der Kopten (Braunschweig, 2011), 66: 2; Neue Züricher Zeitung, Tödliches Mittel zum Zweck. Gezielte Destabilisierung in Ägypten (Zürich, 2011); Hannoversche Allgemeine Zeitung (kna/dpa), Trauerfeiern für tote Kopten in ganz Europa (Hannover, 2011); So erfuhr ich am Neujahrsmorgen durch eine SMS auf dem Mobilphone von einer guten Freundin aus Deutschland von dem Anschlag, da sie sich nach den Nachrichten Sorgen um mich gemacht hatte.

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Das Trauern um Terroropfer unter koptischen Christen

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Selbst unter dem Schock der Ereignisse stehend war ich vor allem auf elektronische Medien innerhalb meiner Wohnung angewiesen, um herauszufinden, was genau passiert und wer konkret betroffen war. Meine koptischen Gesprächspartner in Alexandria9 waren per Telefon zu erreichen und oft noch verwirrt und kurz angebunden. Zum Teil luden sie mich spontan zu den Trauergebeten in ihrer Kirche ein. Die weitere ethnografische Arbeit gestaltete sich als ein Puzzle der Rekonstruktion: internationale Nachrichten aus dem Fernsehen und Internet, Artikel und großformatige Bilder in der lokalen Presse, Namenslisten der Opfer auf den Websites der betroffenen Gemeinde und bald auch Serien von Fotos über die Situation unmittelbar nach dem Anschlag, die von Augenzeugen auf die öffentlich zugänglichen Websites gepostet wurden. Bilder von verbrannten Körpern, Blut durchströmte Laken, in denen die Leichen eingewickelt waren, die zum Teil nur mit Zeitungspapier abgedeckt waren – chaotische Szenen, in denen Tote und Lebende, Verletzte und Retter kaum voneinander unterscheidbar waren. Mein Widerwillen, diese Bilder anzuschauen und zu dokumentieren, war groß, aber sie wurden zu einer wichtigen Quelle der Anteilnahme und somit meines weiteren Verstehens. Es folgten weitere Fotoserien, mit denen z.B. über die Verletzten in den Krankenhäusern berichtet wurde und wie sie von den Angehörigen und Priestern versorgt wurden, aber auch über einzelne Opfer, wie z.B. eine junge Frau, die in der bekannten Bibliothek Alexandrias gearbeitet hatte. Ich realisierte, dass Fotos sowie Videos für die Betroffenen zentrale Medien waren, um das Unfassbare zu dokumentieren und das Erlebte in der weiteren, translokalen wie transnationalen Community zu verbreiten, aber auch das Geschehen annähernd selbst zu verarbeiten. Dieser Spur der visuellen Bearbeitung der Terror-Ereignisse durch die Betroffenen folgte ich weiter. Ich entschied mich dazu, da diese Form neben den sprachlichen Quellen ein wichtiges und unmittelbar zugängliches Medium zur Wahrnehmung der Ereignisse war.10 Ein anderer Beweggrund war, dass das Visuelle im weitesten Sinne auch an die lange Tradition der Ikonenkunst im koptisch-orthodoxen Christentum anknüpft, die für alle orthodoxen Kirchen ein Charakteristikum darstellt. Gerade in Ägypten ist die rituelle Heiligenverehrung anhand entsprechender Ikonen in den Kirchen und Klöstern sehr präsent und auch alltagskulturell findet sie durch populäre Derivate, sogenannte Ikonenbilder, in Läden, Autos oder auf individuellen bzw. familiären Hausaltären ein Pendant. Während ich diese visuelle Kultur in den ersten Wochen meines Aufenthaltes in Alexandria mehr als eine nonverbale Strategie einer religiösen Minderheit interpretiert hatte, in der von Islam dominierten Alltagswelt durch „stille Bote“ sichtbar zu sein, erlebte ich nach dem Bombenanschlag, dass die Heiligenbilder zu stillen Begleitern für die Toten wurden. Die Bilder wandelten sich

9 Diesen sei an dieser Stelle explizit gedankt für ihre Offen- und Warmherzigkeit, mich in dieser Situation der Krise einzubeziehen. 10 Till Förster, „Jenseits der Worte,“ in Handbuch der Medienethnographie, Hg. Cora Bender und Martin Zillinger (Berlin: Reimer, 2015), S. 37–56.

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zu Tröstern an den Krankenbetten und zum Gegenüber für die eigene Trauer, an die das stumme Gebet oder die gesungenen Hymnen in besonderer Intensität gerichtet werden konnten. Die Hinwendung zur visuellen Anthropologie lag nahe: Wie konnte ich als leidenschaftlich schreibende Ethnografin mit diesem Bilder-“Material“ umgehen? Welche methodischen Verfahren aus der qualitativen Analyse des Visuellen waren zu berücksichtigen11 bzw. welche Erfahrungen und Einsichten anderer Anthropologen und Religionswissenschaftler12 konnten in dieser Hinsicht inspirierend sein?

Die Wende zu einer anthropologischen Bild- und Medienwissenschaft Bachmann-Medick13 spricht von sieben „turns“ im 20. Jahrhundert, die zu entscheidenden Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften14 geführt haben. Der „Iconic Turn“15 gehört zu diesen Neuorientierungen, da im Zuge der damaligen Debatten der Bild-Begriff aus den Herkunftsdisziplinen der Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte enorm erweitert wurde. Durch die Aneignung visueller Gegenstände und Phänomene durch die Sozial- und Kulturwissenschaften sind nicht nur Theorien und Fragestellungen der Bildtheorie komplexer geworden, es konnte sich auch eine transdisziplinäre Medienwissenschaft16 etablieren. Dies lag nicht zuletzt daran, dass durch die neuen digitalen Technologien vielfältige visuelle Formen und mediatisierte, d.h. auch neu visualisierte, (Lebens-)Welten hervorgebracht wurden und werden. Da an dieser Stelle keine umfassende Diskussion der Debatten im Zuge des „Iconic Turn“ erfolgen kann17, sollen nur einige zentrale Postulate angeführt werden, die für meine Forschung besonders relevant wurden.

11 Gillian Rose, Visual Methodologies. An Introduction to the Interpretation of Visual Materials (London u.a.: Sage, 2001) und Marcus Banks und David Zeitlyn, Visual Methods in Social Research (London u.a.: Sage, 2015). 12 Peter J. Bräunlein, „Bildakte. Religionswissenschaft im Dialog mit einer neuen Bildwissenschaft,“ in Religion im kulturellen Diskurs. Religion in Cultural Discourse. Festschrift für Hans G. Kippenberg zu seinem 65. Geburtstag, Hg. Brigitte Luchesi und Kocku von Stuckrad (Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2004), S. 195–234; Terence Wright, Visual impact: culture and the meaning of images (Oxford: Berg, 2008); David Morgan, The Sacred Gaze. Religious Visual Culture in Theory and Practice (Berkeley u.a.: Univ. of California Press, 2005); Sarah Pink, Advances in visual methodology (Los Angeles u.a.: Sage, 2012) und Sarah Pink, Doing sensory ethnography (Los Angeles: Sage, 2009). 13 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (Reinbek: Rowohlt, 2007). 14 Hier verstanden als Sammelbegriff für inter-und transdisziplinäre Diskurse und Paradigmen innerhalb der (früheren) Geistes- und Sozialwissenschaften. 15 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 329f. 16 Unter anderem Cora Bender und Martin Zillinger, Hg., Handbuch der Medienethnographie (Berlin: Reimer, 2015). 17 Unter anderem W. J. Thomas Mitchell, „Der Pictorial Turn,“ in Privileg Blick. Kritik der

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„Ein Bild ist mehr als ein Produkt von Wahrnehmung. Es entsteht als das Resultat einer persönlichen oder kollektiven Symbolisierung. Alles, was in den Blick oder vor das innere Auge tritt, lässt sich auf diese Weise zu einem Bild klären oder in ein Bild verwandeln“, schreibt der Kunsthistoriker Belting18 in seiner Bildanthropologie. Er betont, dass innere (subjektive) in äußere (intersubjektiv geteilte) Bilder transformiert werden (können) und somit sozialen, kommunikativen Handlungen, also kulturellen Kontexten der Bedeutungsgebung und Aushandlung unterliegen. Es ist davon auszugehen, dass diese Bedeutungen sich historisch verändern und entlang situativer Rahmen immer wieder neu formieren. Deutlich wird in Folge eines so konsequent kontextuellen Verständnisses des Bildlichen auch, dass sich Bilder als Objekte einer detaillierten Beschreibung und Analyse nicht von den Umständen ihrer Entstehung entkoppeln lassen, sodass die menschliche Wahrnehmung, Imagination und Praxis der Visualisierung und Präsentation einbezogen werden muss. Die auf diese Weise erzeugten Bilder geraten in eine Zirkulation zwischen Menschen, ihren Körpern und Praxen und werden wiederum von anderen menschlichen Körpern und ihren Sinnesorganen rezipiert, kommuniziert und verändert. Diese sozialen und kulturellen Aneignungs-, Verbreitungs- und Wandlungsprozesse motivieren Ethnologen (aber nicht nur diese), über die Bedeutung des Visuellen im Zwischenmenschlichen zu forschen. Dabei ist nach den Spezifika visueller Kommunikation zu fragen und was am Sprechen durch Bilder für die Akteure besonders attraktiv ist. Genauso wichtig ist dann aber auch die Frage, durch welche anderen Medien (Gerede, Geräusche, Gerüche) die visuellen Botschaften ergänzt und erweitert, durchkreuzt oder erschüttert werden. Die Analyse des Visuellen ist daher nicht auf das unmittelbar Bildliche zu beschränken, sondern, wie es die Semiotikerin Bal formuliert hat19, in die Komplexität menschlicher Sinneswahrnehmung, in die „synaesthetics of visuality“ zu integrieren: „It involves bodily sensations that cannot be reduced to perception through the eye.“20 Denn auch umgekehrt können Geräusche, Gerüche oder gesamte soziale Settings innere Bilder bzw. Imaginationen auslösen, die in die Form des materiell Sichtbaren umgesetzt werden, oder aber die Rezeption des Sichtbaren stimulieren. Diese Wech-

visuellen Kultur, Hg. Christian Kravanga (Berlin: Edition ID-Archiv, 1997), S. 15–40; Bräunlein, Bildakte; Christoph Wulf und Jörg. Zirfas, Hg., Ikonologie des Performativen (München: Wilhelm Fink Verlag, 2005). 18 Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft (München: C.H. Beck, 2001); zitiert nach Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 335. 19 Mieke Bal, Kulturanalyse (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006); Mieke Bal, „Visual Analysis,“ in: The Sage Handbook of Cultural Analysis. Hg. Tony Bennett and John Frow (Los Angeles u.a.: Sage, 2008), S. 163–184. 20 Ibid., S.171.

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selwirkung des Bildlichen mit anderen Sinnesreizen und menschlichen Ausdrucksformen21 ist eine alltagstheoretische Banalität. Für die Analyse visuellen Materials ist sie aber eine Herausforderung, weil zunächst Schritte der Selektion oder Isolation vorgenommen werden müssen und dann wiederum Schritte der Rekontextualisierung folgen sollten.22 In welchen Phasen des Forschungsprozess nimmt man solche Extraktionen vor? Wie verschränkt sich die ganzheitliche Wahrnehmung des Gesehenen unter Umständen mit Techniken des Ausschneidens und der exemplarischen Analyse? Und in welchen Situationen führt die Aufmerksamkeit für Visuelles zur gezielten Verbalisierung in Form von weiteren Fragen und zu einem Austausch in Form von Gesprächen und Interviews?23 Viele dieser ethnografisch relevanten Überlegungen klären sich durch die Eigenheit von Forschungsprozessen, durch die Pragmatik von Handlungsabfolgen, aber auch durch die Unwiederbringlichkeit der Ereignisse. In dieser Hinsicht bietet die visuelle Dokumentation (durch Film oder Fotografie) ein hervorragendes Speichermedium jeder Ethnografie, das soziale Situationen in ihrer Momenthaftigkeit festhalten und der Ethnografin zu einem späteren Zeitpunkt helfen kann, Assoziationen, Erinnerungen an eine Situation freizusetzen, die erst dann einer Analyse unterzogen werden. So gehen diesem Beitrag diverse Vorarbeiten und Auseinandersetzungen mit meinem ethnografischen Material voran, das ich in der Krisensituation nach dem Terroranschlag dokumentierte.

Zur Gleichzeitigkeit von visuellen und diskursiven Daten im Feld Es waren gerade die intuitiven Reaktionen auf die eruptiven Ereignisse im Kontext der hereinbrechenden Nachrichten vom Terroranschlag, meine Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen, die ich versuchte annähernd festzuhalten. Mein Forschungstagebuch wurde seinem klassischen Ruf gerecht, Ort und Hort des Unverdauten zu werden, da ich in aller Fragmenthaftigkeit und Subjektivität über die Erlebnisse des Trauerns um die Opfer von El Quedessin berichtete. Parallel dazu archivierte ich Fotos, Videos und Websites oder machte selbst Fotos immer dort, wo es spontan möglich war. Insofern verfolgte ich kein spezifisches Interesse an Bildern oder einem visuellen Genre, sondern generierte situativ bedingtes Material, das ich auch während meines weiteren Forschungsaufenthaltes kaum der gezielten Gesprächsarbeit mit involvierten Akteuren etwa im Rahmen von „photo elicitation“ unterzog.24

21 Pink, Doing sensory ethnography. 22 Rose, Visual Methodologies; Banks/Zeitlyn, Visual Methods; Dorle Dracklé, „Ethnographische Medienanalyse: vom Chaos zum Text,“ in: Handbuch der Medienethnographie, Hg. Cora Bender und Michael Zillinger (Berlin: Reimer, 2015), S. 387–404. 23 Förster, Jenseits der Worte. 24 Douglas Harper, „Talking about pictures: a case for photo elicitation,“ Visual Studies 17(1) (2001): S. 13–26.

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Vielmehr beschäftigte mich zunächst, wie über den Anschlag geredet wurde. Eine erste Irritation bestand darin, dass die anfängliche Konfusion, wer den Anschlag verübt hatte25 und die Frage, an wen er genau adressiert war 26, für meine koptischen Gesprächspartner kaum ein Anliegen war. Die brutal ermordeten 23 Opfer galten in ihren Augen, sei es in informellen Gesprächen oder in offiziellen Darstellungen im Internet, als koptische „Märtyrer“. Sie waren als gläubige Christen getroffen worden. Allein der Aufenthaltsort in einer orthodoxen Kirche zum Nachtgebet hatte sie als aktive Christen ausgewiesen und machte die Getroffenen zu mutigen Verfechtern ihres Glaubens, die für diesen bereitwillig starben. Dies galt für meine Gesprächspartner, auch wenn man argumentieren könnte, dass es sich bei Terroranschlägen ja oft um eine „zufällige“ Wahl von Opfern handelt und die Anwesenden nicht mit der Intention zum Nachtgebet gekommen waren, ihren Glauben gegenüber Opponenten verteidigen zu wollen. Was sich in den allgemeinen Äußerungen artikulierte, war aber weniger die Spekulation über die realen Motive der Opfer, sondern mehr das Selbstverständnis vieler koptisch-orthodoxer Christen Ägyptens, erneut zur Zielscheibe von Terror und somit potenziell zu Opfern einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft geworden zu sein, die nicht das Interesse habe, radikalisierte und gewaltbereite Strömungen des Islam unter Kontrolle zu bringen. Die Selbstwahrnehmung als potentielle Märtyrer für ihren Glauben ist für Koptinnen und Kopten keine neue Vorstellung, sondern steht in einer alten Märtyrertradition, die bis zu den Anfängen der Koptischen Kirche zurückreicht.

25 Etwa ob lokale fundamentalistische Zellen des Islam oder global vernetzte Terrororganisationen oder gar eine Kollaboration mit dem ägyptischen Geheimdienst bzw. Innenministerium für den Anschlag verantwortlich zu machen waren (s. Die Tagespost (dpa), Polizei: Ägypter verübten Anschlag auf Kirche (Würzburg: 2011), 5: 2., Neue Züricher Zeitung, Tödliches Mittel zum Zweck.)? Die nachfolgende Revolution, d.h. die Aneignung von geheimen Akten beim Sturm des Innenministeriums durch Revolutionäre, habe später angeblich aufgeklärt, dass das Attentat mit vom ägyptischen Geheimdienst fingiert worden sei, um potenziell von anderen innenpolitischen Spannungen abzulenken (z.B. Korruptionsskandale) und stattdessen die Aufmerksamkeit auf die interreligiösen Konflikte zu lenken. 26 Richtete sich der Anschlag gegen koptische Christen in Ägypten, gegen Christen allgemein im Nahen Osten und damit gegen religionsplurale Positionen bzw. allgemein gegen säkulare Positionen? Für letzteres könnte etwa sprechen, dass die weltliche Jahreswende, also ein westlichsäkularer und kein religiöser Ritus als Anschlagsdatum gewählt wurde.

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Das koptisch-orthodoxe Christentum Ägyptens als Geschichte von Märtyrern Bereits im zweiten und dritten Jahrhundert während der Verbreitung der christlichen Lehren durch den Apostel Markus in Ägypten und Nordafrika waren die Anhänger dieser damals neuen Glaubensströmung mit starken Widerständen durch die römischen, also weltlichen Herrscher konfrontiert. 27 Zahlreiche Heiligenlegenden und somit Ikonenkulte gehen auf diese frühe Gründungs- und Bewährungszeit zurück. Insbesondere die Geschichten28 um den Heiligen St. Mena, der im dritten Jahrhundert n.Chr. lebte und bereit war, seinen guten Status im römischen Militär unter dem Herrscher Diocletian zu riskieren, weil er sich zum Christentum bekannte, erzählen bis heute von seinen außerordentlichen Taten. So wie ca. 800 000 andere Christen zu dieser Zeit29 wurde er wegen seiner religiösen Überzeugung wiederholt gefoltert, schließlich bis zum Tode30. Der Fund seiner Gebeine in der Marriut-Wüste (geografisch zwischen dem heutigen Borg el Arab und Alexandria gelegen) wurde zum Ausgangspunkt seiner Hagiographie, als zwei Kamele an der Stelle seines Begräbnisortes rasteten und somit auf die Kraftquellen dieses Ortes hinwiesen – so wird es zumindest durch die Legenden tradiert.31 Interessanterweise wird St. Mena als Person auf allen archäologischen und historischen Artefakten32 bis hin zu den gegenwärtigen Darstellungen auf Ikonen und populären Ikonenbildern mit diesen zwei rastenden Kamelen dargestellt, die ihm zu Füßen liegen. Durch diese ikonographische Montage der zwei zentralen Symbole (Römischer Fremdenlegionär und die Kamele) wird seine Geschichte „gespeichert“ und als Märtyrerschicksal nacherzählt. Koptische Ikonenkulte gehen oft auf solch eine jahrtausendealte Praxis der Visualisierung und Kodifizierung von kollektivem Wissen bzw. Erfahrungen zurück, die ihre Wirkung bis ins 21. Jahrhundert entfaltet.

27 Erst im Weiteren nahmen dann die Glaubenskämpfe zwischen den verschiedenen Schulen des Christentums zu, und ab dem 6. bzw. 12. Jahrhundert die Auseinandersetzungen mit dem sich ausbreitenden Islam. 28 In oralen Traditionen des Narrativen wiederholen sich zwar viele Fragmente einer Geschichte, es bestehen aber immer auch Varianten des Erzählten, bedingt durch das je spezifische Wissen und den interaktiven Kontext des Erzählers / der Erzählerin. 29 Fuad N. Ibrahim, Das wunderbare Wirken des koptischen Papstes Kyrillos VI (1902–1971) (Fürth: Flacius Verlag, 1990), S. 11. 30 Tadros Y. Malaty, Introduction to the Coptic Orthodox Church (Alexandria, St. Girgis Eigenverlag, 2010), S. 26–28. 31 Ibid., S. 29; Ibrahim, Das wunderbare Wirken, S.11; Gawdat Gabra und Marianne Eaton-Krauss, The Illustrated Guide to the Coptic Museum and Churches of Old Cairo. A. S. C. o. A. Edition (Cairo/New York: The American University in Cairo Press, 2007), S. 221. 32 Martina Bagnoli u.a., Hg., Treasures of Heaven. Saints, Relics and Devotion in Medieval Europe (London: The British Museum Press, 2011), S.43; Gabra/Eaton-Krauss, The Illustrated Guide, S.221; Tadros, Introduction, S. 27.

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Abb 1: Ikone von St. Mena in der El Quedessin-Kirche Quelle: private Aufnahme, CW, Alexandria 2011

Von der aktuellen Vitalität des St. Mena-Kultes erfuhr ich während meiner Forschungen in der deutschsprachigen koptischen Diaspora in der Schweiz und Bayern (im Zeitraum 2008 bis 2009): Koptische Jugendliche erzählten davon, wie „angesagt“ St. Mena als Heiliger unter Kopten sei und dass das St. Mena Kloster in Borgh el Arab ein beliebter Pilgerort auch für transnationale Migranten geworden sei. Das heutige St. Mena Kloster geht auf die Revitalisierung des Mena-Kultes durch den koptischen Papst Kyrollos VI. zurück, der sich seit den 1920er Jahren als praktizierender Eremit und Wunderheiler dem Heiligen Mena sehr verbunden fühlte.33 Nach seiner Ernennung zum koptischen Papst (1959–1971) ließ Kyrollos schließlich in den 1960er Jahren in geografischer Nähe zum vermuteten Fundort der Gebeine St. Menas ein neues Kloster erbauen. Dort befinden sich heute die Reliquienschreine von wichtigen Heiligen der Region, so auch sein eigenes Grab, was für viele Kopten Anlass zu einer Pilgerreise ist. Bereits im fünften und sechsten Jahrhundert n.Chr. entfaltete sich vermutlich ein regionaler Kult34 durch die St. Mena-Verehrung an seinem ehemaligen Begräbnisort,

33 Ibrahim, Das wunderbare Wirken. 34 Pnina Werbner, „Langar. Pilgrimage, sacred exchange and perpetual sacrifice in a Sufi saint's lodge,“ in Embodying Charisma: Modernity, Locality and the Performance of emotion in Sufi Cults. Hg. Pnina Werbner und Helene Basu (London: Routledge, 1998), S. 95–116.

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der zu einem spirituellen Zentrum und zur Pilgerstätte avancierte, weil dort u.a. heilende Öle hergestellt wurden. Archäologische Funde dieser sogenannten St. MenaFlakons35, verziert mit der typischen St. Mena-Darstellung, zeugen davon, dass dieser Kult von überregionaler Verbreitung war, bzw. zumindest die rituell-materiellen Paraphernalia inklusive ihrer Symbolik von Nordafrika über die südeuropäischen Mittelmeerländer bis nach Zentraleuropa zirkulierten. Bildanalytisch ist relevant, dass mit der frühen St. Mena-Ikone bereits ein Prototyp einer Portrait-Ikone zu verzeichnen ist, die Cormack wie folgt charakterisiert: „Since portrait icons were meant to be lasting images which could be used for display and devotion in the church or at home for decades, if not centuries, what mattered was the avoidance of overly specific and ephemeral references to time and place. The figures and their settings and attributes in icons are intended to be identifiable, not realistic.“36 Der Protagonist wird zwar als realer Mensch und Persönlichkeit gezeigt, die Darstellung ist jedoch so stilisiert, dass über dieses Bild primär der Charakter der Person (seine einfache Kleidung als römischer Soldat) und die Geschichte seines Leidens und dessen Überwindung durch den Tod (für diesen Prozess der religiösen Transzendierung stehen vermutlich die beiden Kamele) vermittelt wird. Damit der Heilige in jedem Fall identifizierbar bleibt, finden sich auf vielen Portrait-Ikonen die spezifischen Namen der Abgebildeten in griechischer oder in koptischer Schrift bzw. in der Sprache des jeweiligen Herkunfts- oder Fundorts. Gerade in Portrait-Ikonen wird also die Wandlung des realen Menschen und seiner Leidensgeschichte über die Transzendenz des Todes hin zu seiner posthumen Überhöhung als Heiligem verdichtet kommuniziert. Das deutet darauf hin, dass der Ikonen-Kult vermutlich immer schon Ausdruck einer visuellen Strategie unter den frühen Christen in Ägypten war, um über den Verlust von Glaubensbrüdern und -schwestern zu trauern. Noch ältere Funde aus der Zwischenphase von antiker und koptischer Periode des Alten Ägyptens, die sogenannten Mumienportraits auf Holzsarkophagen37, verweisen in dieser Hinsicht auf eine historische Kontinuität von Beerdigungsriten in der nördlichen Nilregion: Man dekorierte den Sarg des/der Verstorbenen mit Portrait-Malereien, um sich an diese/n in besonderer Weise zu erinnern. Die Portraits wurden bereits zu Lebzeiten der Person angefertigt und dienten nach ihrem Tode dazu, ein möglichst positives Image für die

35 Bagnoli, Treasures of Heaven, S:43; Gabra/Eaton-Krauss, The Illustrated Guide, S. 221; Tadros, Introduction, S. 27. 36 Robin Cormack, Icons (London: The British Museum Press, 2009), S. 63. 37 Ibid., S. 65f.; Klaus Parlasca, „Die ägyptischen Mumienportraits. Eine Einführung,“ in Paula Modersohn-Becker und die ägyptische Mumien-Portraits, Hg. Rainer Stamm (München: Hirmer, 2007), S. 36–63; Roberta Cortopassi, „Paris um 1900. Die Fayum-Portraits und das Ägyptische Museum des Louvre,“ in Paula Modersohn-Becker und die ägyptischen Mumienportraits. Hg. Rainer Stamm (München: Hirmer, 2007), S. 64–73.

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Nachwelt zu hinterlassen. Man könnte sie daher als frühe Vorläufer der dokumentarischen Portrait-Malerei und -Fotografie einordnen.38 Ähnlich wie in der Ikonenmalerei wird eine Erinnerungsstrategie transparent, die vor allem die visuellen Sinne anspricht und damit die heutige Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften vorwegnimmt, dass menschliche Gedächtnisleistung in hohem Maße über die Kreation und Internalisierung von Bildern und entsprechend assoziativen Verknüpfungen zu weiteren Informationen verläuft. Gleich ob man dieser historischen Tiefe der Rekonstruktion von Trauer- bzw. Erinnerungspraxen in Nordafrika folgen mag oder nicht, ist zumindest festzuhalten, dass schon früh Techniken der Visualisierung zur Erinnerung an die Verstorbenen bzw. Getöteten verbreitet waren, die aller Wahrscheinlichkeit nach in weitere Praxen des Rituell-Performativen und Diskursiv-Narrativen eingebettet wurden. Der synästhetische Zugang zum Visuellen39 kann dafür sensibilisieren, dass die reine Dekodierung der Bildsprache, die ikonische Symbolisierung unter Umständen verkürzte Deutungen produziert, wenn die begleitenden Praxen des Trauerns um diese frühen Märtyrer nicht mit rekonstruiert werden. Allerdings transportieren diese überlieferten und nach wie vor vitalen Bilder-Geschichten früher Märtyrer die Perspektive einer longue durée, die für die ethno-religiöse Identität von Kopten in Ägypten und der Diaspora bis heute von Relevanz ist.40 Dies gilt zumindest für diejenigen, die sich weiterhin mit diesen Märtyrerlegenden befassen und ihre aktuelle Situation in diese historisch langfristigen Zusammenhänge einordnen.41

Aktuelle Trauerpraxen nach dem Terroranschlag am 1.1.2011 Wenn ich im vorigen Abschnitt den orthodoxen Ikonenkult in die historische Kontinuität von potenziellen Trauerformen um frühe Märtyrer gestellt habe, so bedeutet dies keinesfalls, dass ich mich im Weiteren auf die Analyse einzelner Ikonen-Bilder konzentrieren werde. Sondern in Orientierung an Bal42 geht es mir darum, wie diese

38 Siehe Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts (München: C.H.Beck, 2013). 39 S.o. Bal, Visual Analysis. 40 Cordula Weißköppel, „Die Kultur der Väter verstehen. Ethnoreligiöse Sozialisation von Jugendlichen im transnationalen Beziehungsgefüge der koptisch-orthodoxen Kirche in der Schweiz,“ in Jugend, Migration, Religion, Hg. Birgit u.a. (Baden Baden: Nomos, 2011), S. 159– 195; Cordula Weißköppel, „Transformation religiöser Kultur? Koptisch-orthodoxe Christen im Kontext revolutionären Umbruchs,“ in Transformationen des Kulturellen, Hg. Andreas Hepp und Andreas Lehmann-Wermser (Wiesbaden: Verlag Sozialwissenschaften, 2013), S. 57–76; Carolyn M. Ramzy, „To Die is Gain: Singing a Heavenly Citizenship among Egypt's Coptic Christians,“ Ethnos: Journal of Anthropology 80(5) (2015): S. 649–670. 41 Wie man es zum Beispiel auch an den koptischen Demonstranten während der Revolutionen seit 2011 beobachten konnte (ibid.; Amira Mittermaier, „Death and Martyrdom in the Arab Uprisings: An Introduction,“ Ethnos: Journal of Anthropology 80 (5) (2015): S. 583–604). 42 Bal, Visual Analysis.

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Bilder gegenwärtig in eine sinnstiftende, also kulturelle Praxis eingebettet wurden und welchen Effekt die Bilder dabei auf die involvierten Menschen haben: „The object of visual analysis, then, is not a collection of things, but first of all an aspect of things, people and moments: their visibility.“43 Wichtig sind also die sozialen und kulturellen Arrangements, in denen Bilder ihre Bedeutung erlangen, ja re-inszeniert oder neu in Szene gesetzt werden. So spricht der Kulturwissenschaftler Wright von „systems (of representation, Erg. CW), and the system itself can introduce and exploit novel means of communicating through pictures.“44 Meine Beobachtungen zur öffentlichen Trauerarbeit nach dem Terroranschlag zeigten in dieser Hinsicht sehr deutlich, dass Kopten in dieser Situation eruptiver Gewalt gegen Mitgläubige und der Angst um das eigene Leben auf ein kulturell etabliertes Bedeutungssystem im Sinne einer bewährten coping strategy zugriffen: die Huldigung von Märtyrern. Diese äußerte sich zum einen immer wieder verbaldiskursiv und zum andern in der konkreten rituellen Praxis, vor ausgewählten Ikonen wie St. Mena zu beten oder die kleinen Ikonen-Bildchen von ihm nahe bei sich am Körper zu tragen oder auch auf die Körper der Getöteten zu legen. In dieser visualisierten Referenz auf historisch verehrte Märtyrer erkannte ich eine erste Erklärung, warum die Opfer nach dem Anschlag so schonungslos mit all ihren Verletzungen, Wunden und körperlichen Deformationen in der Öffentlichkeit des Internets gezeigt wurden. Von den Opfern wurde nicht nur geredet, sondern es wurde durch diese Fotos im Detail vorgeführt, in welchem Ausmaß menschliche Körper bis zur Unkenntlichkeit zerstört werden können und welche blutigen Spuren des Leidens das hinterlässt. „Turning victimhood into martyrdom requires much work“ konstatiert Mittermaier45 und betont damit, dass dieser Umdeutungsprozess vom tragischen Opfer zum heroischen Märtyrer sinnstiftende Arbeit erfordert, die an spezifischen Praxen der Akteure sichtbar werden. Und in der Tat wurden die realitätsnahen Abbildungen der Opfer von El Quedessin weiter bearbeitet: Auch der Prozess der Reinigung und Wiederherstellung der Leichname wurde visualisiert auf den Websites der Gemeinde oder auf Facebook-Seiten demonstriert. Einzelne Biografien wurden durch Fotostrecken zu wichtigen Lebensabschnitten abgebildet – Bilder von Lebensfreude, Erfolg und spiritueller Hingabe dominierten hier – und mündeten schließlich in der künstlichen Montage von eigens hergestellten „Portrait-Ikonen“46, indem noch vorhandene Passfotos der Getöteten mit weißen Gewändern kombiniert wurden, die

43 44 45 46

Ibid., S. 170. Wright, Visual Impact, S. 10. Mittermaier, Death and Martyrdom, S. 588. Da es sich nicht um offiziell deklarierte und geweihte Ikonen handelt, ist der Begriff hier nur metaphorisch verwendet und deshalb auch in Anführungszeichen gesetzt.

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üblicherweise von den Diakonen in koptischen Messen getragen werden. Auf den Kopf der Dargestellten wurden zu einem späteren Zeitpunkt mit Mitteln der digitalen Bild-Collage goldene Kronen gesetzt, um den weiteren Prozess der Glorifizierung als potenzielle Märtyrer zu symbolisieren. Die Ethnologen Hallam und Hockey47 beobachten, dass gerade dieser Übergang von Lebenden zu Toten, also die „(...) passage into `Otherness´“ besondere Formen der Symbolisierung hervorbringt48: „(it; Erg. CW) engages memorial making that might, on the one hand, seek to represent the corpse as a perfected and stable body that refers back to the person in life, and on the other, attempts to portray the disappearance of the body in decompositions (...)“49

Abb 2: Digitale Fotomontage als individuelle Trauerarbeit für ein Anschlagopfer

Abb 3: Öffentliche Posterdarstellung der Opfer (Fotomontage) im Foyer der El Quedessin-Kirche

Quelle: private Aufnahme, anonym, 2011

Quelle: private Aufnahme, CW, Alexandria 2011

47 Elizabeth Hallam und Jenny Hockey, Death, Memory and Material Culture (Oxford: Berg, 2001). 48 Dies ist in den Theorien zu Übergangsritualen (Arnold Van Gennep, Victor Turner) längst gesagt worden, v.a. im Zusammenhang mit der liminalen Phase, in der häufig auch besondere Formen der Kreativität anzutreffen sind (Turner). Mir geht es hier weniger um Kreativität per se, sondern um die Visualisierung und Materialisierung dieser ambivalenten Gefühlslagen beim Trauern, was James und Hockey bestätigen. 49 Ibid., S. 133

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Nur wenige Tage nach dem Anschlag fand sich ein Großposter in der Eingangshalle der El Quedessin-Kirche, auf dem diese gereinigten Opferdarstellungen in einem Gruppenbild gezeigt wurden. Die Verstorbenen werden hier in einer paradiesisch anmutenden Landschaft von Jesus als strahlendem Messias empfangen. Anschaulicher konnte die „passage into `Otherness´“ (s.o.) der 23 Opfer in die Sphäre göttlicher Erlösung, so die religiöse Imagination der Über-Lebenden, nicht illustriert werden. Zugleich transportierte die Darstellung die christliche Vision des ewigen Lebens bei Gott. Wichtig zu erwähnen ist, dass dieses Poster zunächst am Ort des tragischen Geschehens, aber auch im Internet und später an anderen öffentlichen Orten des Trauerns präsentiert wurde. So war das Poster in einer anderen Variante z.B. im kommerziellen Bereich des St. Mena-Klosters zu sehen, den verschiedenste Pilgergruppen aus Kairo und Alexandria, aber auch aus der internationalen Diaspora passierten. Hier konnten sie den inzwischen offiziell deklarierten Märtyrern huldigen bzw. selbst davon Aufnahmen machen, die sie weiter versenden konnten.

Abb 4: Öffentliche Posterdarstellung der "Märtyrer von El Quedessin" im St. Mena Kloster Quelle: private Aufnahme, CW, Borg el Arab 2011

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„Performances need to be constantly reaffirmed, and they require an audience – one that might change over time and that might pull the interpretation in different directions“, formuliert Mittermaier50, die den performativen Ansatz von Butler51 verfolgt, um zu erhellen, wie es zu diesen aktiven Umdeutungen von Gewalterfahrungen durch Opfer kommt. So war es unmittelbar nach den Anschlägen in den Gesprächen unter Kopten doch eine dringliche Frage, ob die Getöteten auch offiziell als Märtyrer galten, was später durch die öffentliche Bekanntgabe des Koptischen Patriarchats in Kairo bestätigt wurde, nachdem das kollektive Begräbnis im St. Mena-Kloster vollzogen war. Während in der koptischen Bevölkerung also längst von Märtyrern gesprochen wurde, bedurfte es noch dieser Legitimation durch die geistlichen Autoritäten. Aber bereits die Wahl des Begräbnisortes hatte darauf hingedeutet, dass die aktuellen Opfer in die sakral-rituelle Topographie von anderen koptischen Heiligen und den Märtyrern Ägyptens inkorporiert werden sollten. Bevor ich auf diese Einbettung der Opfer in die kollektiv etablierten Trauerpraxen eingehe, ist der vorige Abschnitt zu resümieren: Diverse Strategien zur Visualisierung der getöteten Personen dienten den überlebenden Kopten zunächst zur Bearbeitung der eigenen Trauer und Erinnerung an die Verlorenen. Gleichzeitig boten die bildlichen Darstellungen aber auch die Möglichkeit zur öffentlichen Bekanntmachung des tragischen Vorfalls und wie viele Kopten wieder Opfer von (islamistischem)52 Terror geworden waren. Während durch die diversen Abbildungen in den Medien potenziell auch eine sichtbare (und hörbare)53 Anklage gegen unsichtbare Täter erhoben wurde, wurde damit unmittelbar folgend auch die Transformation der Opfer in zu verehrende Märtyrer visuell vorgeführt. Das stigmatisierende Bild über Kopten, sie würden zur Zielscheibe und somit zu tragischen Opfern von interreligiösen Konflikten gemacht, wurde auch in dieser Situation von Kopten selbst54 zum heroischen Selbstbild von Märtyrern verkehrt. Kopten würden

50 Mittermaier, Death and Martyrdom, S. 588. 51 Judith Butler, Frames of War: When is Live grievable? (Brooklyn: Verso, 2009); Judith Butler und David Kazanjian, Loss: the politics of mourning (Berkeley, Calif.: Univ. of Calif. Press, 2003). 52 Da bis heute nicht geklärt ist, wer die Täter dieses Bombenattentats waren, sie vermutlich aber aus islamistischen Terrornetzwerken, innerhalb Ägyptens sowie aus transnationalen Bündnissen, stammten, setze ich dies Wort in Klammern, um den Charakter einer Vermutung zu unterstreichen. 53 Siehe hierzu Ramzy, To Die is Gain. 54 Da diese Bild-Collagen sich auf koptischen Websites befanden, gehe ich davon aus, dass sie von koptischen Gläubigen selbst hergestellt wurden. Letztlich bleibt diese Aussage aber eine Vermutung, da ich die Autorschaft dieser Bild-Collagen nicht erforscht habe. Es wäre Aufgabe einer vertieften Ethnografie, die Fragen zu klären, wer genau diese digitalen Foto- und Posterproduktionen betreibt und welche technischen Facilities dazu erforderlich sind und ob es dazu etwa bereits Vorlagen oder gar eine eigene Software gibt.

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sich im Ernstfall für den eigenen Glauben, also für die christlichen Überzeugungen opfern,55 um damit höchste religiöse Erfüllung zu erlangen.

Das unsichtbare Leiden der Überlebenden nach dem Terror In meiner Wahrnehmung der Ereignisse wurden die physischen und psychischen Leidensprozesse der Schwerstverletzten, also der unmittelbar Überlebenden, nach dem Terroranschlag demgegenüber viel weniger visuell repräsentiert, was sich aus Gründen der Privatsphäre und dem Schutz vor einer Medienvereinnahmung nachvollziehen lässt. Ich bekam im Rahmen meiner Kontakte zur koptischen Diaspora in Deutschland die Gelegenheit, mit einzelnen jungen Frauen zu sprechen, die für eine Spezialbehandlung ihrer Verbrennungen und Trümmerbrüche in deutsche Krankenhäuser ausgeflogen worden waren.56 Diese Begegnungen zeigten in sehr bedrückender Weise, welche langfristigen Auswirkungen der Terror auf das Weiterleben der Betroffenen hat. Auch wenn die unterstützenden Familien und religiösen Netzwerke sich stark engagierten, um diese Schwerstverletzten bei ihrer Genesung zu begleiten und sie später ins alltägliche Leben zurückzuführen, stellte sich mir die Frage, warum das Schicksal der überlebenden Traumatisierten weniger in der koptischen Öffentlichkeit gezeigt wurde als das Schicksal der unmittelbar Getöteten. Eine nahe liegende Antwort ist, dass das reale Leiden und Mitleiden unter Betroffenen sich noch der Artikulation entzog – Schmerz57 ist bekanntlich kaum zu verbalisieren. Schmerz und MitLeiden sucht sich verworrene Wege und konnte wohl am ehesten durch die Referenz auf die symbolischen Vor-Bilder und durch Gebete und Hymnen für die geheiligten Märtyrer ertragen werden.58 Schließlich verfolgte ich nicht weiter, wie diese individuell-biografischen Verarbeitungsstrategien verliefen, sondern orientierte mich

55 Diese heroisierte Identifikation mit dem „Opfersein“ ging in den Demonstrationen der Revolutionen seit 2011 sogar in die explizite Antizipation eines Opfertodes über (Ramzy, To Die is Gain, S. 650), da sich junge Kopten mit entsprechenden Transparenten – „a martyr is available“ – behängten, um ihre, wenn auch provokative Bereitschaft zu signalisieren, für ihr christlichägyptisches Vaterland auch zu sterben. 56 Monika Maier-Albang, „Ausruhen in Frieden. Die beim Anschlag in Alexandria verletzten Kopten werden in Münchner Kliniken behandelt – sie sorgen sich um die Sicherheit ihrer Familien in Ägypten,“ in Süddeutsche Zeitung (München: 2011), 26: 35. 57 Sowohl physischer und psychisch-seelischer Schmerz ist hier gemeint. 58 Auch die Erfahrungen aus der therapeutischen Behandlung von Traumatisierten in anderen Kontexten bestätigen, dass nonverbale und rituell-sinnliche Strategien den Zugang zum traumatisch Erlebten und notwendig Verdrängten wieder oder überhaupt ermöglichen können. Vom Besuch im Krankenhaus ist mir eindrücklich in Erinnerung geblieben, dass eine der verletzten Koptinnen als Ergotherapie „Malen nach Zahlen“ machte und dabei quasi übte, aus kleinsten Fragmenten bzw. Pixeln der Erinnerung wieder ein großes Bild mit klar erkennbarem Motiv herzustellen?

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weiter an den kollektiven Bewältigungsmechanismen unter Kopten, die sich in der Öffentlichkeit, also an potenziell gut zugänglichen Orten zeigten.

Das kollektive Begräbnis der 23 Opfer im St. Mena Kloster in einer Videographie Durch meine Gesprächspartner erfuhr ich, dass innerhalb von einem Tag nach dem Terroranschlag entschieden worden war, die 23 Opfer nicht in Alexandria zu beerdigen, sondern im etwa 150 km entfernten St. Mena Kloster westlich von Alexandria bei Borgh el Arab. Die offizielle Erklärung war, die Begräbnisfeierlichkeiten auszulagern, um weitere Tumulte zwischen Christen und Muslimen in Alexandria zu vermeiden, wie sie unmittelbar nach dem Anschlag in den Wohnsiedlungen um die getroffene Kirche ausgebrochen waren. Im weiteren Prozess meiner Ethnografie des kollektiven Trauerns wurde aber klar, dass diese Lokalisierung des Begräbnisortes ein konsequenter Schritt war, die Opfer in die sakral-rituelle Topographie von anderen koptischen Heiligen und Märtyrern einzubetten. Die gesamte Beerdigungszeremonie in der Hauptkirche des St. Mena-Klosters wurde videographiert und war im Internet abrufbar. Eine meiner koptischen Gesprächspartnerinnen in Alexandria hatte mich zur koptischen Weihnachtsfeier (am 7.1.2011)59 in ihre Familie eingeladen und, während leckere Speisen aufgetischt wurden, lief im Hintergrund auf einem der zwei Bildschirme das Video des Begräbnisses. Die Beerdigungsfeier überlagerte somit die Fernsehübertragung der koptischen Weihnachtsmesse aus dem Patriarchat in Cairo, die sporadisch zwischengeschaltet wurde. Auch jenseits der detaillierten Analyse dieses Videos, die ich in diesem Beitrag nicht leisten kann, war es ein wichtiger Eindruck, dass Kopten sich am heiligen Festtag mit der multimedialen Dokumentation des Begräbnisses der ElQuedessin-Opfer befassten. Zum einen taten sie dies vermutlich, um mir als externem Gast die Dramatik der Ereignisse vor Augen zu führen, zum anderen aber auch, um die Geschehnisse selbst weiter zu verarbeiten. Alle anwesenden Familienmitglieder hatten geäußert, dass dies ein ambivalentes Weihnachtsfest sei und man sich ein wenig zusammenreißen müsse, um die Geburt Jesu Christi zu feiern. Es wurde allerdings auch gesagt, dass zurzeit viele Kopten die TV-Messen vorziehen, weil man sich angesichts der Terrorgefahr nicht in die großen Kirchen begeben wolle. Im Kontext dieser gemischten Gefühle folgten wir der Beerdigungszeremonie. Dies verdeutlichte mir, dass visuelle Medienrezeption unter koptischen Gläubigen einerseits zur religiösen Routine gehörte, ihnen aber andererseits auch in der Situation akuter Terror-

59 Die Tagespost (dpa), Kopten feiern unter Polizeischutz. Weihnachtsfest ohne neue Zwischenfälle – Papst Shenouda erinnert an Märtyrer von Alexandria – Volker Kauder (CDU) in Ägypten (Würzburg: 2011), 64: 1.

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gefahr besonderen Schutz bot. Beide Übertragungen waren von koptischen Fernsehsendern produziert, was ebenfalls auf die Bedeutung von audiovisuellen Massenmedien für die Belange einer religiösen Minderheit hindeutet, welche sich auf diesem Wege von staatlicher Berichterstattung unabhängig machen und eigenständig für Formen der Gegenöffentlichkeit sorgen will.60 (Rekonstruiert an ethnografischen Protokollen, Alexandria, Januar 2011) Durch diese Beschreibung des konkreten Settings an diesem Nachmittag will ich betonen, wie sehr sich ein synästhetischer Ansatz zur visuellen Analyse aufdrängt: Alltägliche Routinen des gemeinsamen Essens und der face-to-face Kommunikation laufen simultan zu der Rezeption audiovisueller Medien, bewegte Bilder und Handlungen, die im Gespräch der Zuschauenden aufgegriffen und kommentiert wurden. Sinnliche Reize des Sehens, Hörens und Schmeckens vermischten sich mit Praxen des Redens, Kommentierens und Agierens. Dies zeigte sich z.B., wenn auf dem Videoplayer vor- oder rückgespult wurde, um mir bestimmte Ausschnitte der Beerdigungszeremonie vorzuführen. So machten die Anwesenden ihre Relevanzsetzung61 deutlich, indem sie mir vorführten, welche Szenen für sie von besonderer Bedeutung waren. In dieser Zielsetzung werde ich im Folgenden zwei Szenen exemplarisch skizzieren: Das prall gefüllte Kirchenschiff dominierte die Darstellung im Video. Die koptische Trauergemeinde empfing jeden einzelnen Sarg der 23 Opfer, die durch die Menschenmenge vorne in den Altarraum transportiert und aufgereiht wurden. Zum Teil wurden die Särge über die Köpfe der anderen gehievt, die Menschen streckten ihre Arme und Hände aus, um die Särge mit zu tragen bzw. weiter gleiten zu lassen – eine letzte Möglichkeit unmittelbaren Kontakt zu den Toten aufzunehmen, indem man den Sarg berührt. Dieses Ritual vollzog sich 23 Mal, wie in einem tosenden Meer von Menschen und Händen löste jeder Sarg eine Welle der Anteilnahme aus. Alle Toten wurden nochmals in die Mitte der Gemeinde aufgenommen, bevor sie endgültig verabschiedet wurden. Durch die Vogelperspektive der Kameraführung von erhöhtem Standort wurde diese Bewegung und Bewegtheit der Menge gut eingefangen und zeigte das Zusammenspiel von Einzelnem und Kollektiv. Die Bilder vermittelten den Eindruck einer großen Gemeinde, eines Gefühls von starkem und solidarischem Zusammenhalt: alle Gläubigen, Frauen und Männer, Diakone, Priester und Mönche, auch die hohen koptischen Bischöfe standen eng beisammen in ihrer Trauer um die Opfer, die noch mitten unter ihnen weilten. Während man als distanzierter Zuschauer von diesen ganzheitlich-visuellen Eindrücken berührt wurde, werden es für die Menschen in der Menge eher haptische und taktile Wahrnehmungen gewesen sein, als sie

60 Cora Bender, Die Entdeckung der indigenen Moderne. Indianische Medienwelten und Wissenskulturen in den USA (Bielefeld: Transcript, 2011). 61 Siehe Ralf Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung: Einführung in qualitative Methoden (Opladen: Leske und Budrich, 2007).

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eng zwischen anderen Körpern standen, die Särge spürten und berührten, die begleitenden Geräusche und Gerüche der andern erlebten und auch das Schluchzen und Weinen oder die skandierenden Chöre und Gesänge hörten. Nach diesen bewegten Eingangsszenen folgten nach einem speziellen Ritus Gebete und Hymnen. Hohe Priester und Bischöfe sprachen zur Gemeinde und segneten die Toten. „Abuna Tadros“, ein anerkannter Priester aus Alexandria, der aber auch in der amerikanischen und kanadischen Diaspora als renommiert gilt, geriet in seiner Rede ins Stocken. Diese Szene wollte mir meine Bekannte unbedingt noch zeigen, sie spulte vor und zurück, um sie zu finden: Abuna Tadros weinend vor der Kamera und die gesamte Gemeinde hielt inne. Es herrschte eine ergreifende Stille bis er sich wieder gefangen hatte und seinen Text fortsetzen konnte. Dass ein koptischer Priester während des Begräbnisrituals weinte, war eine Besonderheit und zeigte das Ausmaß der Betroffenheit und des Mitgefühls, das nach dem Anschlag in El Quedessin um sich gegriffen hatte. Die Videokamera fungierte als Dokumentar dieses besonderen Moments, als Speicher dieser ehrfürchtigen Stille im Angesicht des Todes von 23 Menschen. Bis ins Morgengrauen hinein wurde das Sammelgrab im Vorhof des St.MenaKlosters ausgehoben und mit Mauern stabilisiert. Das Video dokumentierte, wie binnen weniger Stunden diese Katakombe geschaffen wurde, um die vielen Särge nebeneinander unter zu bringen. Damit endete die Dokumentation, wie die Toten, begleitet von Hymnen der Priester und Diakone, durch einen Seitenausgang der Kirche ihrer letzten Bestimmung überführt wurden. (Rekonstruiert durch ethnografische Protokolle, Alexandria Januar 2011) Anders als zuvor durch die Fotos, die ich auf Hinweis meiner Gesprächspartner auf koptischen Websites gefunden und zu Hause allein am Computer heruntergeladen hatte, war ich durch dieses Video in die rituellen Geschehnisse der kollektiven Trauer unter Kopten involviert worden. Ich wurde zu einer teilnehmenden Betrachterin auf dem Sofa einer koptischen Familie, die mit mir gebannt den Bildern am Schirm folgte.62 Dies beförderte ein Gefühl von „being there“63, was durch ein audiovisuelles oder besser synästhetisches Medium vermittelt wurde, das zugänglich durch das Internet Tausenden, vielleicht gar Millionen anderen Kopten in Ägypten und der weltweiten Diaspora diese spezifische (An-)Teilnahme an der Begräbniszeremonie für die El Quedessin-Opfer ermöglichte. Die Notwendigkeit, solche dokumentarischen, indigenen Medien in ihrer Komposition und Rezeption als ethnografische Daten zu analysieren, kann kaum bezweifelt werden.64

62 Förster, Jenseits der Worte. 63 C. W. Watson, C. W., Hg., Being there. Fieldwork in Anthropology (London: Pluto Press, 1999). 64 Zum Beispiel Tobias Wendl, „Photographien, Radios und Bestattungsvideos: Medienethnographische Fallstudien in Ghana,“ in Handbuch der Medienethnographie. Hg. Cora Bender und Martin Zillinger (Berlin: Reimer, 2015), S. 17–35.

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Rituelles Trauern an den Heiligen-Gräbern im St. Mena-Kloster Ich besuchte dieses kollektive Grab im März 2011 in Verbindung mit einer Tagesreise ins St. Mena Kloster, die anlässlich des Todestages eines Bischofs, „Saidna Bishoy Kamel“65, von meiner Forschungsgemeinde in Alexandria organisiert wurde. Alle Mitreisenden wurden darüber informiert, dass sich das Grab der El Quedessin-Opfer unmittelbar in Parkplatznähe, quasi vor den Toren des Klosters befinde. Meine Kleingruppe entschied sich, erst das Kloster, also die Schreine der dort begrabenen Heiligen, verstorbener Bischöfe und Priester aus der Region aufzusuchen. Nachdem ich bei einem ersten Besuch im Dezember 2010 bereits das gesamte Gelände erkundet hatte, lief ich zielstrebig zu der Kathedrale und den zugehörigen Reliquien-Schreinen, in denen bedeutende Bischöfe aus Alexandria einschließlich Papst Kyrollos VI. begraben sind.

Abb 5: Das St. Mena Kloster bei Borg el Arab, 2010 Quelle: private Aufnahme, CW, Borg el Arab 2010

Zahlreiche Pilger strömten dort hin. Von professionellen Ordnern wurden wir angewiesen, wie viele Personen die einzelnen Nischen mit den Särgen betreten durften. Im Strudel des Geschehens bemerkte ich, dass man, einmal im Schrein befindlich, sich dort länger aufhalten konnte: Pilger kauerten zwischen Sarg und Wand in den engen Gängen auf dem Boden. Sie berührten die großformatigen Fotografien des damaligen Bischofs, die an den Wänden gehängt waren, oder sie lehnten über seinem steinernen Sarg, um der Energie, dem „baraka“, des Geheiligten sehr nahe zu sein. Der alles bedeckende rote Samtstoff war mit einer Plastikfolie geschützt und etwa auf Kopf65 Siehe Guirguis Samy, Father Bishoi Kamel Cross-Bearer. Alexandria (Maryut: St. George Church Sporting/ St. Mena Monastery Press, 2004).

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höhe befand sich ein überdimensional groß gemaltes Gesichtsportrait der realen Person. Manche Pilger hinterließen ihre Fürbitten auf handgeschriebenen Zetteln oder kleine Opfergaben wie Plastikblumen und Ikonenbilder. Schließlich ließ ich mich auch an eine Wand gelehnt nieder, zog mein Handy aus der Tasche und fotografierte. Ein Mann kniete an den Seitenwänden des Grabs, schmiegte seine Hände an den Stein, als wolle er hinein kriechen. Leute stiegen über meine Beine um die Sargoberfläche zu erreichen und dort inne zu halten. Jüngere Mädchen lehnten so wie ich an den Wänden, berührten mit ihren Rücken die Bilder der Heiligen. Ein stetiges Kommen und Gehen und dennoch beherrschte eine inbrünstige Kontemplation oder eine kollektive Inhalation der heiligen Sphäre den Raum.

Abb 6: Betende Pilger an den Gräbern der Bischöfe im St. Mena Kloster Quelle: private Aufnahme, CW, Borg el Arab 2011

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An diesen Orten und den Gräbern kulminieren die Sinne: das Visuelle, das Haptische, die Enge bzw. Nähe zu fremden und toten Körpern, stickige Luft und düstere Beleuchtung, eine Spannung zwischen Lebendigem, Morbidem und Transzendentem. Geht es um die Herstellung der körperlichen Verbindung zum Heiligen oder gar um eine Inkorporation des Verstorbenen, als sei er immer schon Teil der Lebenden? Sollen sich Lebende und Tote im engen Raum des Schreins vereinen, wodurch eine Ahnung des ersehnten Heils oder des ewigen Lebens antizipiert wird? (Rekonstruiert auf Basis ethnografischer Protokolle, St. Mena Kloster, März 2011) Coleman66 übernimmt das Konzept „corpothetics“ von Pinney67, um dieses performative Agieren zwischen Körpern und materiellen, symbolischen Objekten wie Bildern theoretisch zu fassen: „(...) how believers may not merely contemplate, but also bodily engage and elide the self with images.“68 Die übliche Berührung der Ikone mit der Hand wurde hier am Schrein auf den gesamten Körper ausgedehnt, als wolle der Lebende sich bereits im Diesseits dem Toten annähern.69 Der Ethnologe und Religionswissenschaftler Bräunlein formuliert im Kontext seiner Analysen von Ritualen der Selbstgeißelung im Katholizismus auf den Phillippinen: „Die Religionsgeschichte des Christentums lehrt, dass unter bestimmten Umständen Körper und Schmerz in den Mittelpunkt rücken. Besondere Aufmerksamkeit gebührt in diesem Zusammenhang der kollektiven, aber auch persönlichen Ausnahmesituation. Das historische Material, vor allem aber auch der ethnographische Befund zeigte, dass sozio-kulturelle wie auch persönliche Krisen körperlich und öffentlich ausagiert werden können, sofern ein akzeptiertes ‘Skript‘ verfügbar ist.“70 Im ägyptischen Kontext konnte anhand dieses Skriptes des rituellen Trauerns und der Märtyrerverehrung an den regulären Gräberkulten gut erschlossen werden, wie die verschiedenen Praxen der Visualisierung und der körperlichen Performanz in Kombination angesprochen waren, um in Kontakt mit den Heiligen als den Mittlern des göttlichen Segens zu treten. Die aktuellen Trauerpraxen am kollektiven Grab für die El Quedessin-Opfer zeigten sehr analoge Muster:

66 Simon Coleman, „Constructing the Globe. A Charismatic Sublime?“ in Traveling Spirits. Migrants, Markets and Mobilities, Hg. Gertrud Hüwelmeier and Kristine Krause (London / New York: Routledge, 2010), S. 186–202. 67 Christopher Pinney, „Piercing the Skin of the Idol,“ in Beyond Aesthetics: Art and the Technology of Enchantment, Hg. Christopher Pinney und Nicholas Thomas (Oxford: Berg, 2001): S. 157– 179. 68 Nach Coleman, Constructing the Globe, S. 188. 69 Man denke hier an christliche Kulte der Selbstgeißelung, etwa im Katholizismus auf den Phillippinen (Bräunlein, Passion / Pasyon), wo Verletzungen des eigenen Körpers rituell herbeigeführt werden und dadurch die Mimesis zum leidenden Körper des gekreuzigten Christus hergestellt wird. Beim beobachteten Gräberkult geht es mehr um die Herstellung körperlicher Nähe zum Leichnam bzw. seinen Gebeinen, die spirituelle, göttliche Energie repräsentieren. 70 Bräunlein, Passion / Pasyon, S. 497.

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Abb 7: Pilger am kollektiven Grab der El Quedessin-Opfer im St. Mena Kloster Quelle: private Aufnahme, CW, Borg el Arab 2011

An der separaten Grabstelle, die von weitem noch wie eine Baustelle aussah, vollzogen die Trauernden bzw. Pilgernden sehr ähnliches Handeln. Man berührte die Grabplatte mit den Händen, während man stille Gebete sprach, oder lehnte sich mit den Unterarmen auf. Auf der großen Fläche dieses Gruppengrabes befanden sich eine Menge bunter Plastikblumen, Ikonen-Bilder oder auch geschriebene Fürbitten. Einzelne Gruppen von Kopten standen vor der Tafel mit den Namen aller Opfer und sangen dort gemeinsam Hymnen. Und wenn man das Grab zu Fuß umrundete, fielen im Umfeld des Geländes wiederum stilisierte Portrait-Bilder von einzelnen Opfern ins Auge, denen auf diese Weise, vermutlich durch Familienangehörige, individuell gedacht wurde. Ein kollektiver Schrein war im Entstehen begriffen, der am St. MenaKloster den angemessenen Ort gefunden hatte, eingebettet in eine jahrtausendealte Tradition koptischer Trauerarbeit für geheiligte Märtyrer. (rekonstruiert an Feldnotizen, März 2011, Alexandria)

Konklusion Ich habe in diesem Aufsatz gezeigt, dass dokumentierte und hergestellte Bilder genutzt wurden, um die traumatischen Erfahrungen eines Terroranschlags an der koptischen Kirche El Quedessin zu bearbeiten. Trauerarbeit für Getötete sowie für Schwerstverletzte wurde unter zeitgenössischen Koptinnen und Kopten offensichtlich durch Praxen der Visualisierung und Symbolisierung vollzogen, indem auf historisch etablierte Skripte des Märtyrerkults zugegriffen wurde. In Anknüpfung an Theorien der kulturellen Trauma-Verarbeitung wird damit bestätigt, dass gerade die Schwierigkeit der diskursiven Artikulation des Erlebten durch andere Formen der Symbolisierung kompensiert wird. In diesem Fall geschah dies durch historisch etablierte

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Bilder und Legenden von früheren „Opfern“, die eine Transformation, eine Aufwertung als religiöse Märtyrer durchlaufen haben. Dabei war es mir besonders wichtig zu zeigen, dass sich diese visuell-symbolischen Artikulationsformen nicht isoliert vollziehen, sondern in andere Formen der körperlich-rituellen, ja sinnlichen Bearbeitung sowie in die Möglichkeiten der technisch-digitalen Umsetzung eingebettet werden. Insofern habe ich innerhalb des synästhetischen Ansatzes von Bal71 durch mein ethnografisches Material stark gemacht, dass der Umgang mit visuellen Daten in die Komplexität menschlicher Sinneswahrnehmung zu integrieren ist, um die vielschichtigen Prozesse der aktuellen Aneignung und Sinnkonstruktion erschließen zu können. Zeitgenössische Koptinnen und Kopten greifen zwar auf historisch etablierte Zeichen- und Bedeutungssysteme zurück, um gegenwärtige traumatische Erfahrungen zu bearbeiten, zugleich müssen sie diese Skripte aber auch in den aktuell relevanten Kontexten aktivieren bzw. in diese einpassen. Hier wurde insbesondere durch ihre Kompetenz im Umgang mit den neuen, digitalen Medien transparent, dass durch digitale Fotos und Videos nicht nur die Geschehnisse repräsentiert und verbreitet werden können, sondern auch in kreativer bzw. transformativer Hinsicht genutzt wurden, um den Übergang vom Sterben zur Erlösung zu demonstrieren (s.o. digitale Gestaltung von „Portraitikonen“) und um Massen an diesen Visionen der Transzendenz (s.o. Beerdigungsvideo vom kollektiven Begräbnis in St. Mena) partizipieren zu lassen. Lokale Praxen und Rituale greifen heute also unmittelbar mit ortsunabhängigen Techniken der Visualisierung und Distribution ineinander, so dass die kulturspezifisch etablierten Muster zur Verarbeitung des Traumatischen transnational, also weltweit zugänglich sind, dabei aber immer auch verändert und variiert werden. Es hat sich interessanterweise durch Beobachtungen während der ägyptischen Revolutionen seit 2011 bestätigt72, dass koptische Opfer nach den Demonstrationen oder Straßenkämpfen sehr ähnlich durch visuelle Symbole und ihre öffentliche Zurschaustellung als Märtyrer betrauert wurden, diesmal allerdings in der Bereitschaft, nicht nur für die eigene religiöse Überzeugung zu sterben, sondern auch für die eigene Nation. Dabei gerieten nicht nur die Toten, also die bereits Geopferten, sondern auch lebende Kopten in den Blick, die durch Transparente auf ihren Körpern („a martyr is available“) ihren potenziellen Märtyrertod deklarierten und damit bereits antizipierten.73 Das vorliegende kultur- oder religionsspezifische Skript unterliegt also verschiedenen Varianten der Anwendung, die situativ eingepasst oder inszeniert werden können.

71 Bal, Visual Analysis. 72 Mittermaier, Death and Martyrdom; Ramzy, To Die is Gain. 73 Ibid., S. 650.

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