Das Geschichtsbild Ottos von Freising: Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts 9783412314347, 3412059838, 9783412059835

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Das Geschichtsbild Ottos von Freising: Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts
 9783412314347, 3412059838, 9783412059835

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BEIHEFTE ZUM ARCHIV FÜR K U L T U R G E S C H I C H T E IN VERBINDUNG MIT KARL ACHAM, GÜNTER BINDING, WOLFGANG BRÜCKNER, KURT DÜWELL, WOLFGANG HARMS, GÜNTER JOHANNES HENZ, GUSTAV ADOLF LEHMANN HERAUSGEGEBEN VON

EGON BOSHOF HEFT 19

DAS GESCHICHTSBILD OTTOS VON FREISING Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhundens

VON HANS-WERNER GOET2

Φ 1984

BÖHLAU

VERLAG

KÖLN

WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Goetz, Hans-Werner: Das Geschichtsbild Ottos von Freising : e. Beitr. zur histor. Vorstellungswelt u. zur Geschichte d. 12. Jh. / von Hans-Werner Goetz. - Köln ; Wien : Böhlau, 1984. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte ; H. 19) ISBN 3-412-05983-8 NE: Archiv für Kulturgeschichte / Beihefte

Copyright © 1984 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung mechanischer, elektronischer und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung - auch von Teilen des Werkes - auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der tontechnischen Wiedergabe, des Vortrage, der Funk- und Fernsehsendung, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung. Gesamtherstellung: Hans Richarz Publikations-Service, Sankt Augustin Printed in Germany ISBN 3 412 05983-8

INHALT

Vorwort

IX

Einleitung: Zur Grundlegung des Themas

1

1. Geschichtsbild und Geschichtsbildforschung im Rahmen der Geschichtswissenschaft

1

2. Zur Situation im 12. Jahrhundert

8

3. Otto von Freising als Forschungsthema

16

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising - Geschichtsschreibung und Geschichtstheologie

22

1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund des Geschichtsschreibers a) Otto als staufischer Reichsfürst und Reichsbischof . b) Otto als Gelehrter

22 25 38

2. Otto in den Traditionen der Historiographie

49

3. Der theologische Hintergrund: Ottos Geschichtsschreibung als historiographische Theologie a) Theologie der Geschichtsschreibung: Heilsgeschichte als Gotteserkenntnis b) Historia: Inhalt und Leistung der Geschichte . . . c) Methodik der Geschichtsdeutung: Vom Sichtbaren zum Unsichtbaren - Ottos Figuralismus d) Inhalt der Geschichte: Von der Wandelbarkeit zur Stabilität II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs 1. Der Geschichtsablauf Wirkens

im

Zeichen

62 64 72 80 86 99

des

göttlichen

2. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf als Voraussetzung der Geschichte

101 110

Inhalt

VI

III. Der Geschichtsablauf als zielgerichtete Entwicklung und heilsorientierte Aufgabe des Menschen

131

1. Beginn und Entwicklung in der Geschichte

131

2. Geordneter Verlauf der Geschichte: Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

137

3. Sinn und Aufgabe des Geschichtsablaufs 4. Das Ziel des Geschichtsablaufs im ewigen Leben

161 169

. .

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising 1. Probleme der Civitas-Lehre: Forschungsbilanz

181 ...

2. Ottos cwi'fcw-Begriff 3. Manifestationen der civitates in der Geschichte

181 191

...

195

4. Die civitas Dei als civitas permixta 203 5. Civitas Dei und civitas mundi in ihrem Verhältnis zueinander 210 6. Die Konstituierung der civitates 213 7. Civitas Dei peregrinans und civitas Dei coelestis: Die Frage nach dem Wesen der civitates 219 a) Die Begrifflichkeit als Ausdruck ontologischer und figuraler Bezüge 219 b) Die Ausrichtung des irdischen Gottesstaates auf das ewige Ziel 222 c) Der Entwicklungsgedanke: Drei status des Gottesstaates 225 d) Gottesbürgerschaft und Heilsaussichten 232 8. Augustin und Otto von Freising 235 V. Das Gegenwartsbild Ottos von Freising

243

1. Ottos Kirchenbild: Der Problemkreis Papst und Kaiser, sacerdotium und regnum 243 2. Das Endzeitbewußtsein im Geschichtsbild Ottos von Freising 264 3. Die politischen Ideale Ottos im veränderten Zeitbild der Gesta Frederici 275

Inhalt

VII

Schluß: Das Geschichtsbild Ottos von Freising als Ausdruck der zeitgenössischen Weltanschauung

300

1. Ergebnisse: Das Geschichtsbild Ottos von Freising

301

2. Ottos Geschichtsbild und die geistige Struktur des 12. Jahrhunderts

315

Quellen und Literatur:

329

1. Quellen

329

2. Die zitierte Literatur

334

Register

361

1. Namenregister

361

2. Stellenregister

370

VORWORT

Die hier der Öffentlichkeit und der Fachwelt vorgelegte Schrift über das Geschichtsbild Ottos von Freising versteht sich als ein Baustein zu einer Geschichte des mittelalterlichen Geschichtsdenkens, das wohl als ein besonders relevanter Aspekt innerhalb der Geschichtswissenschaft gelten darf und an dessen Untersuchung und Darstellung der Verfasser selbst noch weiterzuarbeiten hofft. Die Analyse der Gedankenwelt Ottos von Freising, im Wintersemester 1981/82 von der Abteilung für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift angenommen, stellt in der vorliegenden Gestalt auch einen Kompromiß dar zwischen dem Wunsch, das Geschichtsbild möglichst umfassend in seiner ganzen Breite zu erforschen, und der Erkenntnis, daß dessen Darstellung mit zunehmendem Material immer mehr handbuchartigen Charakter annehmen würde. Die Beschränkung auf einen Autor, dessen Vorstellungen dann in die Gedankenwelt seiner Zeitgenossen einzuordnen und, auch über den engeren Bereich der Geschichtswissenschaft hinaus, nach allen Seiten hin abzuleuchten wären, bot sich hier als Lösung an. Otto von Freising lieferte dafür ein dankbares Beispiel. Bevor ich das Buch zur Lektüre freigebe, darf ich auch an dieser Stelle meinen besonders herzlichen, aufrichtigen Dank Herrn Professor Dr. Franz-Josef Schmale aussprechen, der mir als seinem Assistenten eine stetige, umfassende Förderung bei gleichzeitiger Freiheit in der Themenund Arbeitsgestaltung zuteil werden ließ und mit dessen Forschungen über die mittelalterliche Geschichtsschreibung sich die hier vorgetragenen Gedanken - unbeeinflußt und doch kaum zufällig - merklich berühren. An seine Forschungen, wenn auch nur in aspekthafter Beschränkung, anzuschließen, ist mir eine besondere Freude. Ebenso herzlich danke ich Herrn Professor Dr. Egon Boshof und dem Böhlau-Verlag, insbesondere Herrn Dr. Henz und Frau Dr. Risse, für die Aufnahme in die Beihefte des „Archivs für Kulturgeschichte" und für eine angenehme und förderliche Zusammenarbeit. Es sei schließlich daran erinnert, daß dieses Buch ohne die Druckbeihilfe der Deutschen

χ

Vorwort

Forschungsgemeinschaft, in einer Zeit, in der das wissenschaftliche Buch, zumindest was den Ladenpreis anbelangt, auf dem Wege ist, sich den Wert zurückzuerobern, den es im Mittelalter besessen hat, den hoffentlich geneigten Leser nicht oder jedenfalls nicht in dieser Form hätte erreichen können.

EINLEITUNG ZUR GRUNDLEGUNG DES THEMAS

1. G e s c h i c h t s b i l d u n d G e s c h i c h t s b i l d f o r s c h u n g im Rahmen der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t Das G e s c h i c h t s b i l d vergangener Zeiten zu erforschen, muß ein besonderes Anliegen des Historikers bilden, der hier gewissermaßen seinen eigenen Traditionen nachspült und gleichzeitig die geschichtstheoretische Grundlage der vor allem für die Mediävistik immer noch wichtigsten Quellengattung, der Historiographie, erfaßt, deren Eigenwert - über ihre Funktion als bloßes Medium zu den Fakten hinaus, nämlich im Sinne einer subjektiven Verarbeitung der eigenen Zeit1 - seit langem bekannt ist und die Beumann daher als „Selbstinterpretation des Zeitalters" bezeichnet hat2. Geschichtsbildforschung leistet damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Quellenkritik und Quellentendenz der Historiographie, die überhaupt erst auf der Grundlage eines festen Geschichtsbildes denkbar ist3, sie setzt darüber hinaus an der Wurzel der Entstehungsgeschichte erzählender Quellen an und erklärt erst die Entstehung wie auch die Darstellung des einzelnen Geschichtswerks.

1

Johannes S p ö r l , Das mittelalterliche Geschichtsdenken als Forschungsaufgabe, Historisches Jahrbuch 53, 1933 (abgedruckt in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter, hg. von Walther L a m m e r s , Wege der Forschung21, Darmstadt 1961, S. 4 ff.). 2 Helmut B e u m a n n , Die Historiographie des Mittelalters als Quelle für die Ideengeschichte des Königtums, Historische Zeitschrift 180, 1955, S.451 (= D e r s . , Wissenschaft vom Mittelalter S.203); vgl. D e r s . , Geschichtsschreibung im frühen und hohen Mittelalter, in: Geschichtsschreibung: Epochen, Methoden, Gestalten, Düsseldorf 1968, S. 84. 3 Vgl. Walther L a m m e r s , Vorwort, in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter S.XIV.

2

Einleitung

Die geschichtsschreiberische Praxis als den Akt, der erst zur Geschichtsdarstellung führt, hat Melville 4 untersucht und das eigentlich Spezifische der Geschichtsschreibung in der chronologischen Formung und Ordnung der chaoshaften Geschichtsmaterie durch Auswahl und Kombination erkannt; die Geschichtsschreibung wird damit zur Brücke zwischen Geschichte und Geschichtsdarstellung. Geschichte wird also erst in der Historiographie faßbar. 5 Der Geschichtsbegriff selbst aber wird bei Melville modern, nicht mittelalterlich verstanden: Die Formung der Materie (als Heilsgeschichte) ist nach der Vorstellung der mittelalterlichen Chronisten bereits vorgegeben, das Geschichtsdenken wird damit zur wichtigsten Bedingung der Geschichtsschreibung, das Geschichtswerk ist erst Produkt der Geschichtsdeutung durch den Geschichtsschreiber und nur in zweiter Linie weiteres „Deutungspotential metaphysischer Provenienz" (so Melville S. 67). Geschichtsbildforschung untersucht also die wichtigste Wurzel der Geschichtsschreibung (als Akt) überhaupt.

Mit ihrem Ansatz von der Interpretation der Geschichte durch den zeitgenössischen Geschichtsschreiber her, mit der Frage nach der Stellung des Menschen in der Zeit, seiner Haltung zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und nach dem „Geschichtsbewußtsein" der Zeitgenossen umgreift die Geschichtsbildforschung schließlich aber noch weit mehr, erfaßt sie nämlich einen bedeutsamen Teil der Vorstellungswelt der Menschen überhaupt und damit einen wesentlichen Aspekt der geistigen Strukturen einer vergangenen Epoche: Geschichtsbildforschung ist Teil einer Geistesgeschichte, ist „historische Ideengeschichte" 6 , als solche aber nicht so sehr an den geistigen Größen, sondern mit den Geschichtsschreibern eher an den Durchschnittsgelehrten und folglich an weiter verbreiteten Anschauungen und Vorstellungen der Zeitgenossen interessiert. Sie macht die Gedanken der Geschichtsschreiber über die Geschichte zum Gegenstand der historischen Forschung, zielt also nicht auf das Geschehen selbst, auf Ereignisse oder langfristige Strukturen des Geschichtsablaufs ab, sondern auf den kommentierenden

4 Gert M e l v i l l e , System und Diachronie. Untersuchungen zur theoretischen Grundlegung geschichtsschreiberischer Praxis im Mittelalter, Historisches Jahrbuch 95, 1975, S. 33-67 und 308-41. 5 Historie bezeichnet im Mittelalter überhaupt erst die Geschichtsdarstellung und nicht die Materie. Vgl. demnächst meinen Aufsatz über „Die .Geschichte' im Wissenschaftssystem des Mittelalters", in: Franz-Josef S c h m a l e , Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, Darmstadt ca. 1984. 6 Der Begriff ist analog zu Beumanns „politischer Ideengeschichte" gebildet.

1. Geschichtsbild und Geschichtsbildforschung

3

Menschen in diesem Geschehen7. Geschichtsbildforschung verarbeitet mit der historischen Vorstellungswelt der Menschen vergangener Zeiten also einen wesentlichen Teil der Geschichte selbst. Da „Geschichte" heute nun zunehmend nicht nur als vergangenes Geschehen, sondern als Vergangenheitsbild, als, so möchte ich es ausdrücken, die im Bewußtsein der Menschen verarbeitete Vergangenheit verstanden wird 8 , so erwächst daraus zwangsläufig in besonderem Maße die Aufgabe, das Geschichtsbewußtsein, das jeweilige historische Selbstverständnis vergangener Epochen als - nach dem jeweils zeitspezifischen Verständnis - die Geschichte schlechthin zu erforschen, um die in den Quellen gespiegelte Vergangenheit überhaupt erkennen zu können; denn die dort angesprochene Geschichte wird erst faßbar, wenn geklärt ist, was die Menschen vergangener Zeiten darunter verstanden und wie sie sie gesehen haben, wenn also ihr Geschichtsbild erforscht ist. Die Geschichtsbildforschung rückt folglich geradezu in den Mittelpunkt nicht nur einer „Vorstellungsgeschichte", sondern der Geschichtswissenschaft schlechthin, die zwangsläufig zunächst zur Geschichtsbildforschung werden muß, wenn sie nicht den denkenden Menschen vergangener Zeiten als Subjekt der Geschichte ausklammern will9. Sie stellt daher eine unverzichtbare Voraussetzung für das Verständnis der Quellen ebenso wie der Vergangenheit selbst und der Menschen

7

Darin begründet sich ein anthropologisches Element der Geschichtsbildforschung, die sich auch als Teil einer historischen Anthropologie verstehen kann. Eine theoretische Grundlegung der Erforschung menschlicher Vorstellungen habe ich in meinem Aufsatz: „Vorstellungsgeschichte": Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung, Archiv für Kulturgeschichte 61, 1979, S. 253-71, zu geben versucht. 8 Vgl. schon Johann H u y z i n g a , Wege der Kulturgeschichte, München 1930 (ND. 1961), S. 86; in neuerer Zeit Henri-Irenee M a r r o u , Uber die historische Erkenntnis, Freiburg-München 1973, S. 41 (französische Erstausgabe 1954); Rudolf V i e r h a u s, Was ist Geschichte? in: Probleme der Geschichtswissenschaft (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 1), Düsseldorf 1973, S.8; Jörn R ü s e n , Historik und Didaktik, in: Geschichtswissenschaft. Didaktik - Forschung - Theorie, hg. von Erich K o s t h o r s t , Göttingen 1977, S.48. 9 Die Geschichtswissenschaft erarbeitet gewissermaßen das Geschichtsbild der Gegenwart aus Quellen, die die Geschichtsbilder vergangener Zeiten widerspiegeln. Selbstverständlich stellt dieser Bereich nur ein Arbeitsfeld der modernen Geschichtsforschung dar.

4

Einleitung

vergangener Zeiten dar und scheint zudem besonders geeignet, auch das Geschichtsbewußtsein der Gegenwart zu erweitern und zu prägen. *

Wir haben bisher vom Geschichtsbild im Sinne einer historischen Vorstellungswelt gesprochen, ohne die Inhalte dieses Begriffs genauer zu kennzeichnen. Tatsächlich herrscht darüber noch keine Einigkeit, und das Problem wird um so komplizierter, je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht 10 . Wer das mittelalterliche Geschichtsdenken erforschen will, darf den Begriff des Geschichtsbildes nicht zu eng, zu modern, fassen. Entgegen den Vorstellungen mancher heutiger Historiker, die den Begriff auf die konkrete, zudem meist national gebundene Beziehung zur jeweils eigenen Vergangenheit einschränken wollen11, kann ein Geschichtsbild durchaus auch die Zukunftsperspektive einbeziehen (wie zum Beispiel im Marxismus), muß es sich nicht in der Interpretation der Vergangenheit erschöpfen, sondern kann die Deutung von „Geschichte an sich" einschließen, ist es wohl an ein interpretierendes Subjekt, aber nicht notwendig an die jeweils eigene Nation oder Ideologie gebunden, gibt es ein universales oder regionales, ein adliges oder bürgerliches, ein demokratisches, ein marxistisches, ein christliches Geschichtsbild usw. Ebenso geht das Geschichtsbewußtsein nicht auf in der stolzen Vorstellung, eine würdige, eigene Vergangenheit zu besitzen, sondern es schließt ein „Geschichtlichkeitsbewußtsein" ein, ein Wissen, daß der Mensch durch die Geschichte geprägt ist. Der Begriff „Geschichtsbild" muß also zunächst sehr weit gefaßt werden, etwa im Sinne eines Systems der 10 Das begründet sich schon aus der Wandlung des Geschichtsbegriffes selbst. Vgl. dazu Christian Meier/Odilo Engels/Horst Günther/Reinhart K o s e l l e c k , Artikel „Geschichte/Historie", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Β r u η η e r , Werner C ο η ζ e und Reinhart Κ ο s e 11 e c k , Bd. 2, 1975, Sp. 593-717. 11 Stellvertretend sei auf die drei auf dem Mannheimer Historikertag von 1976 unter dem Thema „Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein im 20. Jahrhundert" (23. Sept. 1976) von Gotthold R h o d e (Osteuropa), Hellmut D i w a 1 d (Deutschland) und Udo S a u t t e r (USA) gehaltenenVorträge verwiesen (gedruckt vorgelegt in: Saeculum28,1977, S. 1-41), in denen die Begriffe „Geschichtsbild" und „Geschichtsbewußtsein" nicht mehr eigens definiert, sondern implizit in dem oben beschriebenen Sinn vorausgesetzt werden. Lediglich D i w a 1 d stellt (S. 23) fest, in einem Geschichtsbild werde auf dem Boden bestimmter Werte und Überzeugungen der historische Ablauf als Ganzes einschließlich der Deutung der Epochen, Entwicklungen, Ereignisse und Persönlichkeiten im Sinne einer systematischen Gesamtinterpretation der Vergangenheit zusammengefaßt (er vermißt ein solches Geschichtsbild in der Bundesrepublik).

1. Geschichtsbild und Geschichtsbildforschung

5

Vorstellungen, die sich eine Epoche von (der) Geschichte macht. Er umschließt hier zumindest zwei Aspekte, nämlich einmal die systematische Interpretation, Verarbeitung und Beurteilung der bisher abgelaufenen Geschichte (Vergangenheit), zum andern aber auch die Vorstellung von der „Geschichte" als Prozeß, von ihren Anfängen, ihrem Ablauf, Wesen und Ziel sowie von ihren Bedingungen und Kausalitäten (geschichtswirkenden Kräften). Dieser zweite Aspekt erlangt gerade im Rahmen des mittelalterlichen Geschichtsbildes eine erhöhte Bedeutung12. Das christliche Geschichtsbild des Mittelalters geht auf die jüdisch-biblische Geschichtsanschauung des in die Welt hineinwirkenden und sein Volk führenden Gottes zurück, ist im Neuen Testament um den eschatologischen Aspekt der Zukunftserwartung im Jenseits erweitert und unter dem Einfluß auch der antiken Philosophie in der Zeit der Kirchenväter endgültig ausgebildet worden. Als die erste, systematisch ausgearbeitete, christliche Geschichtsphilosophie gilt Augustins Hauptwerk De ävitate Dei (verfaßt 413-26) 1 3 , in dem der Kirchenvater die Menschheit in zwei Gemeinschaften, die avitas Dei und die ctvitas terrena, einteilt und ihre Entwicklung von den Anfängen bis zur Ewigkeit verfolgt. Augustin hat bereits in seiner Programmerklärung im Prolog die wichtigsten Grundzüge eines christlichen Geschichts12 Von den modernen Mediävisten macht, soweit ich sehe, lediglich Waither L a m m e r s , Ein universales Geschichtsbild der Stauferzeit in Miniaturen. Der Bilderzyklus zur Chronik Ottos von Freising im Jenenser Codex Bose q. 6, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift Otto B r u n n e r , Göttingen 1963, S. 170 (vgl. D e r s . in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter S.XIVss.), den Versuch einer Begriffsdefinition: Geschichtsbild - als das konzeptive Verhalten zur Geschichte - ist der Bestandteil unserer geschichtlichen Kenntnisse, der Anschauungsformen seine Entstehung verdankt, durch welche der geschichtliche Prozeß im Ganzen sinnvoll geordnet, der Weg von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft zusammengesehen wird. Auch L a m m e r s integriert damit das konkrete Vergangenheitsbild (konzeptives Verhalten zur Geschichte) in die Vorstellung vom Geschichtsablauf als Ganzem, die zumindest auch von außerhistorischen Elementen („Anschauungsformen") bestimmt wird. 13 Ediert B. D o m b a r t - A . K a l b , Leipzig 5 1928/29 (Teubner). - Die heilsgeschichtliche Sicht der Geschichte ist nicht urchristlich, sondern wurde, aus einer apologetischen Strömung gegen das Judentum und die griechischen Philosophen heraus, erst gegen Ende des 2. Jahrhunderts allmählich ausgebildet und findet sich als System zuerst bei Irenäus von Lyon; vgl. dazu Hans von C a m p e n h a u s e n , Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des christlichen Geschichtsbildes in der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderts, Saeculum21, 1970, S. 189-212. Zum Geschichtsdenken der griechischen Kirchenväter vgl. Michael Soheil Α ζ k ο u 1, Peri Oikonomia Theou. The Meaning of History according to the Greek Fathers, Diss. Michigan State University 1968.

6

Einleitung

bildes dargelegt:14 Mit der Polarisierung/»« - impii werden hier Glaube und Kult, mit der Ewigkeit auch die nachirdischen Zustände, die Eschatologie, in die Geschichte einbezogen, die an das Wirken Gottes gebunden bleibt. Der Geschichtsablauf selbst wird im christlichen Geschichtsbild durch zwei Pole bestimmt: die Schöpfung als absolutem Beginn einerseits und das Ziel der ewigen Seligkeit andererseits, dem sich die Geschichte nach dem ewigen Plan Gottes zuentwickelt. Der Mensch hat das Heil durch den Sündenfall verloren, durch die Inkarnation Christi jedoch die Möglichkeit der Erlösung wiedererlangt: Die irdische Geschichte, das saeculum, ist daher Straf- und Bußzeit, Christus selbst der Mittelpunkt aller Geschichte. Heilserwartung und göttliche Lenkung schaffen zugleich eine Spannung zwischen dem irdischen Dasein und dem ewigen Ziel, das stets schon in die irdische Geschichte hineinwirkt. Jedes christliche Geschichtsbild bewegt sich innerhalb dieses Rahmens, läßt aber zeitbedingte Unterschiede in den einzelnen Ausführungen und Akzentverlagerungen zu. Die Geschichte kann hier nicht losgelöst von theologischen Vorstellungen und Prämissen betrachtet werden: Als die von Gott gelenkte Entwicklung der Menschheit zum Heil, als das Heilsgeschehen zwischen Schöpfung und Gericht, in dessen Mittelpunkt Christus steht15, nimmt die Geschichte für den mittelalterlichen Denker einen ganz besonderen Rang ein. Das spezifisch patristisch-mittelalterliche Geschichtsbild wird deshalb zu Recht als „Geschichtstheologie" bezeichnet. Ich werde dennoch den offeneren Begriff „Geschichtsbild" bevorzugen, weil er die ideellen und religiösen Grundlagen des Geschichtsablaufs und das eschatologische Zukunftsbild, also die Geschichtstheologie, einschließt und doch zugleich den pragmatischen Aspekt, die konkrete Anwendung geschichtstheologischer Anschauungen in der Geschichtsschreibung, berücksichtigt. 14

De civitate Dei 1 praefatio (S.3, 10ff.): Gloriosissimam civitatem Dei sive in hoc temporum cursu, cum inter impios peregrinatur ex fide vivens, sive in illa stabilitate sedis aetemae, quam nunc expectat perpatientiam, ,quoadusque iustitia convertatur in iudicium' (Rom. 8,25), deinceps adeptura per excellentiam victoria ultima et pace perfecta, hoc opere instituto et mea ad te promissione debito defendere adversus eos, qui conditori eius deos suos praeferunt, fili carissime Marcelline, suscepi. - Augustin schreibt sein Werk also in apologetischer Absicht gegen die Heiden. 15 Vgl. Otto B r u n n e r , Abendländisches Geschichtsdenken. Zur Vorgeschichte des Historismus im 12. Jahrhundert, Wort und Wahrheit 9, 1954, S.507.

1. Geschichtsbild und Geschichtsbildforschung Der hohe Stellenwert der Geschichtsbildforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft gilt jedenfalls für das mittelalterliche Geschichtsbild, das ganz von religiösen Vorstellungen geprägt ist, die das gesamte Leben dieses christlichen Zeitalters entscheidend bestimmt haben, in besonderem Maße, und es ist daher eher verwunderlich, daß die Wissenschaft hier auf eine zwar intensive, aber noch nicht sehr lange Forschungstradition zurückblicken kann. Als Initiator der modernen Geschichtsbildforschung kann Johannes Spörl gelten. In seinem Aufsatz „Das mittelalterliche Geschichtsdenken als Forschungsaufgabe" hat Spörl schon zu Beginn der 30er Jahre die mittelalterlichen Geschichtsanschauungen als eine dringende Aufgabe der Mediävistik vorgestellt, nach einem Forschungsbericht auf die vorrangigen Fragestellungen hingewiesen und daran erinnert, daß die mittelalterlichen Geschichtsschreiber nicht nur als die Vermittler von Stoff, sondern als geistiges Produkt ihrer Zeit zu verstehen sind (S. 4). Spörl regte an, „die treibenden Ideen jedes einzelnen Geschichtswerkes herauszustellen" und zu untersuchen, in welchem Ausmaß Institutionen wie Imperium und Kirche oder geistige, politische und religiöse Bewegungen, Tradition und Fortschritt, überhaupt Anschauungen von Vorgängen in das Bewußtsein der Historiker treten (S. 27 f.). Seither bildet die Geschichtsbildforschung ein wichtiges Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft; Spörl selbst schuf neben zahlreichen Einzelstudien eine erste Zusammenfassung über einzelne hochmittelalterliche Autoren 16 , Helmut Beumann begründete am Beispiel frühmittelalterlicher Quellen eine „politische Ideengeschichte" 17 ; Historiker wie Heinz Löwe 18 , Walther Lammers19 und andere20 trieben die 16

Johannes S p ö r l , Grundformen hochmittelalterlicher Geschichtsanschauung. Studien zum Weltbild der Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts, München 1935 (ND. Darmstadt 1968). 17 Das Wichtigste ist zusammengefaßt bei Helmut B e u m a n n , Wissenschaft vom Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze, Köln-Wien 1972. Wegweisend war B e u m a n n s Buch über: Widukind von Corvey. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jahrhunderts, Weimar 1950. 18 Vgl. Heinz L ö w e , Von Cassiodor bis Dante. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichtsschreibung und politischen Ideenwelt des Mittelalters, Berlin-New York 1973. 19 Vgl. Walther L a m m e r s, Vestigia mediaevalia. Ausgewählte Aufsätze zur mittelalterlichen Historiographie, Landes- und Kirchengeschichte (Frankfurter Historische Abhandlungen 19) Wiesbaden 1979. 20 Vgl. den Sammelband Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter, hg. von Walther L a m m e r s (Wege der Forschung21), Darmstadt 1961.

Einleitung

8

Forschung voran, und gelegentlich suchte man bereits die Grundzüge mittelalterlicher Geschichtsanschauungen herauszuarbeiten21, doch von einer zusammenfassenden Darstellung des mittelalterlichen Geschichtsbildes sind wir noch weit entfernt, so daß Spörls programmatischer Aufruf nach fast 50 Jahren immer noch seine Berechtigung hat; gerade der für das mittelalterliche Geschichtsdenken so grundlegende Aspekt der Geschichtstheologie ist bisher kaum systematisch erforscht worden22.

2.

Z u r S i t u a t i o n im 1 2 . J a h r h u n d e r t

Da sich das Geschichtsbild laufend wandelt, kann seine Erforschung nur zeitspezifisch erfolgen. Die Geschichtsbildforschung muß sich zunächst also bestimmten Epochen zuwenden. In dieser Hinsicht verdient, wie bereits Spörl erkannt hat, das Geschichtsbild des 12. Jahrhunderts besonderes Interesse, denn jetzt entstanden, erstmals seit der Epoche der Kirchenväter, wieder große und bei aller Traditionalität auch eigenständige Gesamtdeutungen des Geschichtsablaufs, wurden explizite Geschichtsbilder entworfen, die auf einen Wandel der Geschichtsanschauungen deuten. Diese Entwicklung erklärt sich aus den Zeitumständen. Das Z e i t a l t e r des g r o ß e n K i r c h e n s t r e i t s im späteren 11. und frühen 12. Jahrhundert, das politisch von dem Kampf zwischen Kaiser und Papst um die Bischofsinvestitur und darüber hinaus von dem Ringen um die Führung von Kirche und Christenheit bestimmt und das von einer religiösen Erneuerung, dem Bemühen um Kirchenreform und libertas ecclesiae2i, getragen und von der Suche nach neuen 21 Vgl. Herbert G r u n d m a n n , Die Grundzüge der mittelalterlichen Geschichtsanschauungen, Archiv für Kulturgeschichte 24, 1934, S. 326-36 (abgedruckt in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter S.418-29); Otto H e r d i n g , Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im Mittelalter, Theologische Quartalsschrift 130, 1950, S. 129-44; Clemens B a u e r , Die mittelalterlichen Grundlagen des historischen Denkens, Hochland 55, 1962/63, S. 24-35. Benoit L a e r ο ix, The Notion of History in Early Mediaeval Historians, Mediaeval Studies 10,1948, S. 219-23, will zeigen, daß es eine typisch christliche Geschichtskonzeption gibt. 22 Ich kann M e l v i l l e S.50 nicht in der Ansicht beipflichten, daß der Bereich der systemhaften Geschichtsphilosophie inzwischen in der Forschung abgedeckt sei. 23 Vgl. dazu Gerd T e l l e n b a c h , Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 7), Stuttgart 1936.

2. Zur Situation im 12. Jahrhundert

9

religiösen Lebensformen, nach einem heilsgerechten Leben in alten oder neuen Orden (vita monastica), im reformierten Regularklerus (vita canonica) oder in anderen Gemeinschaften innerhalb24, aber auch außerhalb der Kirche (Häresien) begleitet wird 25 , hat sich immer deutlicher als ein Zeitalter des Umschwungs in politischer, geistiger wie gesellschaftlicher Hinsicht erwiesen26. Nicht nur der Streit zwischen Kaiser und Papst, der schließlich zu einer Entsakralisierung der Königsgewalt führte, auch die wachsende Bedeutung der Nationalstaaten Europas mit einer zunehmend schriftlichen und von ausgebildeten Beamten getragenen Verwaltung27 schwächte die universale Stellung des Kaisers, während seine Macht als deutscher König gleichzeitig durch das 24 Zur „evangelischen" Bewegung vgl. Marie-Dominique C h e n u , La Theologie au douzieme siecle (Etudes de philosophie medievale 45), Paris 1962, S. 221 ff. 2 5 Vgl. Ernst W e r n e r , Häresie und Gesellschaft im 11. Jahrhundert (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Klasse 117,5), Berlin 1975. 2 6 Zu den geistigen Auswirkungen des Investiturstreits vgl. Karl J o r d a n , in: G e b h a r d t , Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 1, Stuttgart '1970, S.363ff.; grundlegend: Anton M a y e r - P f a n n h o l z , Die Wende von Canossa. Eine Studie zum Sacrum Imperium, Hochland 30, 1932/33, S. 385-404 (abgedruckt in: Canossa als Wende, hg. von Hellmut K ä m p f , Wege der Forschung 12, Darmstadt 1963, S. 1-26, besonders S. 23 ff.), der eine katastrophale Wende durch Auflösung der alten Weltordnung feststellt. Eine kurze, instruktive Zusammenfassung bietet jetzt Karl J o r d a n , Das Zeitalter des Investiturstreites als politische und geistige Wende des abendländischen Hochmittelalters, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 23,1972, S. 513-22. Vgl. auch den Sammelband: Investiturstreit und Reichsverfassung, hg. von Josef F l e c k e n s t e i n (Vorträge und Forschungen 17), Sigmaringen 1973. Das Zeitalter des Wandels stellt dar: Richard W. S o u t h e r n , Gestaltende Kräfte des Mittelalters. Das Abendland im 11. und 12. Jahrhundert, Stuttgart 1960 (Neudruck unter dem Titel: Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters im Abendland im 11. und 12. Jh., Stuttgart 1980). Zum gesellschaftlichen Wandel vgl. Karl Β ο s 1, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter. Eine deutsche Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 4), Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 161 ff.; D e r s., Soziale Mobilität in der mittelalterlichen Gesellschaft, in: D e r s . , Die Gesellschaft in der Geschichte des Mittelalters, Göttingen 1966, S.44ff.; D e r s . , Der Aufbruch von Mensch und Gesellschaft. Eine epochale Struktur in der europäischen Geschichte, in: Stauferzeit (unten Anm. E55, S. 11-27), und Georges D u b y, Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, Frankfurt/M. 1977, besonders S. 159 ff. (französische Erstausgabe London 1973). - Auf die Stilwandlungen in der Kunst, vor allem die in Frankreich aufkommende Gotik, die eine neue „Ekklesiologie" symbolisiert, kann hier nur andeutungsweise hingewiesen werden. 2 7 Zur Ausbildung des modernen Staatswesens vgl. Joseph R. S t r a y er, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates, hg. von Hanna V o l l r a t h (Böhlau StudienBücher), Köln-Wien 1975.

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Einleitung

zunehmende Gewicht der Fürsten beeinträchtigt wurde; die Ausbildung neuer sozialer Gruppen (Rittertum), der soziale Aufstieg der Ministerialen, das Emporkommen des vom Aufschwung der Städte getragenen Bürgertums, das nun auch auf politische Mitbestimmung gegenüber den Stadtherren drängte, und die Veränderungen im Bereich der Grundherrschaft mit der Auflösung der Villikationsverfassung28 durchbrachen die traditionelle Gesellschaftsordnung, und die Leistungssteigerung in der Landwirtschaft, die von einem neuen Arbeitsethos und der Befreiung von Arbeitskraft getragen wurde (Bosl), ermöglichte eine Ausweitung des Handels, ein Bevölkerungswachstum und eine neue Kolonisationstätigkeit, um nur die wichtigsten Faktoren des Wandels zu nennen. Dieser Aufschwung setzte überhaupt erst die Kräfte für die religiöse Erneuerung und die Menschen für die wachsenden geistlichen Orden frei. Die in langer Tradition gewachsene Weltordnung geriet über solchen Veränderungen ins Wanken und veranlaßte die Menschen, sie neu zu durchdenken, nach Jahrhunderten der inneren Stabilität wieder nach dem eigenen Standort zu fragen. Die Parteiungen im Investiturstreit zwangen zudem zu einer stichhaltigen Begründung der eigenen Position; das öffnete den Blick für Widersprüche und hatte so bei aller Polemik eine bisher nicht gekannte Wissenschaftlichkeit zur Folge, die, gefördert von Städten und Fürstenhöfen, in die neuen Methoden der an den Domschulen entwickelten Frühscholastik einmündete und eine Zunahme der geistigen Aktivität, eine Umbildung des Schulsystems mit einer größeren Freizügigkeit im Lehrbetrieb 29 , einen nun von breiteren Kreisen getragenen Aufschwung der Bildung bewirkte, deren Kennzeichen nicht zuletzt auch in der volkssprachlichen Literatur sichtbar wird; islamische Einflüsse förderten vor allem ein wachsendes Interesse an den Naturwissenschaften und an der Medizin, und die Wiederentdeckung der antiken Philosophen machte die Logik zu einer der wichtigsten Wissenschaften; der Wunsch nach einer klaren Rechtssetzung leitete zudem die systematische Sammlung der kanonischen und römischen Rechtsquellen ein. Alle 2 8 Vgl. Eberhard L i n c k , Sozialer Wandel in klösterlichen Grundherrschaften des 11. bis 13. Jahrhunderts. Studien zu den familiae von Gembloux, Stablo-Malmedy und St. Trond (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 57), Göttingen 1975. 2 9 Vgl. jetzt Joachim E h l e r s , Die hohen Schulen, in: Die Renaissance der Wissenschaften im 12.Jahrhundert, hg. von Peter W e i m a r (Züricher Hochschulforum. Universität Zürich. Ε Τ Η Zürich2), Zürich 1981, S.57-85.

2. Z u r Situation im 12. J a h r h u n d e r t

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wissenschaftlichen Bemühungen standen aber nach wie vor unter dem Primat der Theologie und gewährleisteten damit ein aus der göttlichen Schöpfung begründetes Bewußtsein von der Einheitlichkeit und Ganzheit der Welt30. In diese Zusammenhänge reiht sich das hochmittelalterliche Geschichtsbild ein. Bei der Suche nach einem neuen Weltbild, der Reflexion der sich ändernden Verhältnisse, die erst nachträglich, als eine Reaktion auf die Ereignisse, einsetzte, spielte die Geschichte sogar eine vorrangige Rolle, weil theologisch orientiertes Weltbild und Geschichtsbild eng zusammenhingen. Schon in den Streitschriften hatte man vielfach historisch argumentiert 31 , und die Geschichtsschreibung erlangte im 11. und früheren 12. Jahrhundert eine neue Blüte und wurde, wie einst bei Isidor von Sevilla, wieder zum Bestandteil der Enzyklopädien 32 . Hugo von St. Viktor strukturierte sogar sein theologisches Hauptwerk, De sacramentis fidei, in historischen Linien33. Und nicht nur die Geschichtsschreibung selbst, auch die höfische Epik verarbeitete fast durchweg historische Stoffe. Zum typischen historiographischen Erzeugnis dieser Zeit, die alles erreichbare Material über die Vergangenheit zusammentragen wollte (Frutolf; Annalista Saxo), wurde die Weltchronistik (Hermann von Reichenau, Bernold von St. Blasien, Berthold von Reichenau, Sigebert von Gembloux, Hugo von Flavigny, Marianus Scotus, Heimo von Bamberg, Frutolf von Michelsberg, Ekkehard von Aura, Honorius

30 Einen ähnlichen, breiter angelegten Überblick über die äußeren und inneren Bedingungen des geistigen Aufschwungs im 12. Jahrhundert gibt jetzt Peter C l a s s e n , Die geistesgeschichtliche Lage. Anstöße und Möglichkeiten, ebda. S. 11-32. 51 Vgl. Jürgen Ζ i e s e, Historische Beweisführung in Streitschriften des Investiturstreites (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissanceforschung 8), München 1972. Zur Summa gloria des Honorius Augustudunensis vgl. Hans-Werner G ο e t z, Die „Summa gloria". Ein Beitrag zu den politischen Vorstellungen des Honorius Augustudunensis, Zeitschrift für Kirchengeschichte 89, 1978, besonders S. 313 ff. und S. 345 ff. - Bonizo von Sutri verfaßte mit seinem Liber ad amicum (ed. Ernst D ü m m 1 e r, MG Libelli de lite Bd. 1, S. 568 ff.) sogar eine rein historische Schrift über das Verhältnis zwischen Kaiser und Papst seit Konstantin und Silvester. 32 Vgl. Honorius Augustudunensis, Imago mundi (Migne PL 172, Sp. 115-88); Hugo von St. Viktor, Excerptiones allegoricae (ebda. 177, Sp. 191-284). 33 Vgl. Richard W. S o u t h e r n , Aspects of the European Tradition of Historical Writing. 2. Hugh of St. Victor and the Idea of Historical Development, Transactions of the Royal Historical Society V, 21, 1971, S. 166 f. - Zur historischen Beschäftigung der englischen Mönche als Reaktion auf die normannische Eroberung vgl. D e r s., 4. The Sense of the Past, ebda.V, 23, 1973, S. 246 ff.

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Einleitung

Augustudunensis, Hugo von St. Viktor, Otto von Freising) 34 , die die Weltgeschichte in ihrer Gesamtheit von der Schöpfung bis zur Gegenwart zu erfassen suchte und damit ihrerseits bereits auf geschichtstheologischen Uberzeugungen beruhte, wenngleich sie noch kein explizites Geschichtsbild entwarf. Das blieb vielmehr den Geschichtsdenkern des 12. Jahrhunderts wie Hugo von St. Viktor oder Anselm von Havelberg, auch sogenannten Symbolisten wie Rupert von Deutz oder Gerhoh von Reichersberg und später dann Joachim von Fiore, Lehrern wie dem umstrittenen Honorius Augustudunensis oder Wilhelm von Conches und Mystikern wie Bernhard von Clairvaux oder Hildegard von Bingen vorbehalten, die ihre Geschichtsdeutung in bewußtem Rückgriff auf die großen, geschichtstheologischen Leistungen der Spätantike nicht in historiographischen, sondern in theologischen, meist dogmatischen oder exegetischen Schriften entwarfen; ein systematisches, theologisch begründetes Bild der gesamten Geschichte in einem rein historiographischen Werk ist erstmals dem Bischof Otto von Freising in seiner Historia de duabus ävitatibus (Chronik) gelungen, aber auch eine Ausnahme geblieben. Das 11. und 12. Jahrhundert suchte die Einordnung der eigenen Zeit in die Geschichte, und sogar zeitgeschichtliche Werke wie die Annalen Lamperts von Hersfeld wurden in einen weltgeschichtlichen Rahmen eingespannt. Geschichte wurde zur Aufgabe; schon Augustin, der einflußreichste aller Kirchenväter, hatte gelehrt, wer die Vergangenheit nicht sehe, erkenne auch die Zukunft nicht 35 . Das Geschichtsbild des 12. Jahrhunderts griff in seinem Streben nach einer systematischen Darstellung auf die großen patristischen Entwürfe zurück und trug damit zu jener vielberufenen „Renaissance" bei 36 , suchte und fand aber dennoch seinen eigenen Standort, indem es unter dem Einfluß der frühscholastischen Methode zugleich kritisch nach dem Maß der Gültigkeit der alten Lehren für die eigene Gegenwart fragte und die historischen Veränderungen berücksichtigte: Auch die Lehren der Kirchenväter mußten sich, 34 Vgl. dazu Anna-Dorothee von den B r i n c k e n , Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957. 55 De avitate Dei 7,7 (S.283, 12 ff.) (unten Anm. 1/216). 36 Grundlegend Charles Homer Η a s k i η s, the Renaissance of the Twelfth Century, 1927 (ND. Cleveland-New York 1955); vgl. auch Christopher B r o o k e , The Twelfth Century Renaissance, London 1969; die Akten eines Cambridger Kongresses sind unter dem Titel "The Renaissance of the Twelfth Century" demnächst zu erwarten.

2. Zur Situation im 12. Jahrhundert

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vor allem an der höheren Autorität der Bibel und ihrer prophetischen Typologie 37 , überprüfen lassen. Schon die Weltchronistik hatte selbständige Kompilationen hervorgebracht und sich nicht mehr mit einer bloßen Fortsetzung der Chroniken eines Hieronymus oder Beda begnügt. Das 12. Jahrhundert wollte im Rückgriff auf die Tradition über diese hinausgelangen und seinen Kenntnisstand, nicht zuletzt auf historischem und geschichtstheologischem Wege, erweitern. Die Folge war ein „Aufbruch geschichtstheologischen Denkens" in engstem Zusammenhang mit den Krisenerscheinungen dieser Zeit 38 . Eine Untersuchung des den Wandel reflektierenden Geschichtsbildes gerade des früheren 12. Jahrhunderts verspricht besonders tiefgreifende Einblicke in das Wesen dieser Zeit. Spörls umfassenderer Ansatz hat seither keine Nachfolger gefunden; doch kann sich die Geschichtsbildforschung inzwischen neben zahlreichen Spezialstudien auf eine Reihe grundlegender Forschungen zu einzelnen Aspekten stützen, von denen hier nur die wichtigsten genannt seien; so liegen Arbeiten über das Wirken Gottes 39 und der überirdischen Mächte in der Heilsgeschichte40, das Gegenwarts-41 und Fortschrittsbewußtsein42, die Eschatologie43 und

37 Vgl. Richard W. S o u t h e r n , Aspects of the European Tradition of Historical Writing. 3. History as Prophecy, Transactions of the Royal Historical Society V, 22, 1972, S. 159-80. 38 So B r u n n e r , Abendländisches Geschichtsdenken S.508. Zu den Vorbildern der scholastischen Synthesen in der Patristik vgl. Aloys G r i 11 m e i e r, Vom Symbolum zur Summa. Zum theologiegeschichtlichen Verhältnis von Patristik und Scholastik, in: Kirche und Uberlieferung. Festschrift Rupert G e i s e l m a n n , hg. Johannes Β e t ζ und Heinrich F r i e s , Freiburg-Basel-Wien 1979, S.17ff. 39 Vgl. Heinz M ü l l e r , Die Hand Gottes in der Geschichte. Zum Geschichtsverständnis von Augustinus bis Otto von Freising, Diss, (ms.) Hamburg 1949. 4 0 Die Mächte des Guten und Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhunden über ihr Wirken in der Heilsgeschichte, hg. von Albert Z i m m e r m a n n (Miscellanea Mediaevaliall), Berlin-New York 1977. 41 Vgl. Arnos F u n k e n s t e i n , Heilsplan und natürliche Entwicklung. Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des hohen Mittelalters, München 1965. 42 Vgl. Elisabeth G ö s s m a n n , Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung (Münchener Universitätsschriften. Katholisch-theologische Fakultät. Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts n.F. 23), München-Paderborn-Wien 1974; Antiqui und Modemi. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. von Albert Z i m m e r m a n n (Miscellanea Mediaevalia 9), Berlin-New York 1974. 43 Vgl. Bernhard T ö p f e r , Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter (Forschungen zur mittelalterlichen

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Einleitung

das Antichristbild 44 , die Ekklesiologie 4 5 mit der Frage des Verhältnisses zwischen Kaiser und Papst 4 6 , schließlich über den Reichs- 4 7 und Translationsgedanken 4 8 vor. Wertvolle Dienste leisten auch Arbeiten über Bereiche der hochmittelalterlichen Geistesgeschichte, die in Fragen des Geschichtsbildes hineinreichen, umfassende Darstellungen zur Philosophie und Bildung, vor allem zur Frühscholastik 4 9 mit ihren einzelnen Schulen 50 , zur Theologie 5 1 , zu Naturvorstellungen 5 2 , Weltbild 53 und

Geschichte 11), Berlin 1964; Martin H a e u s l e r , Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 13), Köln-Wien 1980. 44 Vgl. Horst Dieter R a u h, Das Bild des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum Deutschen Symbolismus (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, n. F. 9), Münster 1973. 4 5 Vgl. Wolfgang Β e i η e r t, Die Kirche - Gottes Heil in der Welt. Die Lehre von der Kirche nach den Schriften des Rupert von Deutz, Honorius Augustodunensis und Gerhoch von Reichersberg. Ein Beitrag zur Ekklesiologie des 12. Jahrhunderts (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, n. F. 13), Münster 1973; Yves M . J . C o n g a r , Die Lehre von der Kirche. Von Augustinus bis zum Abendländischen Schisma (Handbuch der Dogmengeschichte III, 3 c), Freiburg-Basel-Wien 1971; vgl. auch Georg Μ i c ζ k a, Das Bild der Kirche bei Johannes von Salisbury (Bonner Historische Forschungen 34), Bonn 1970. 46 Vgl. Wilhelm Κ ö 1 m e 1, Regimen Christianum. Wege und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses (8.-14. Jahrhundert), Berlin 1970. 4 7 Vgl. Robert F o l z , L'idee d'empire en Occident du Ψ au X I V siecle, Paris 1953; Gottfried K o c h , Auf dem Wege zum Sacrum Imperium. Studien zur ideologischen Herrschaftsbegründung der deutschen Zentralgewalt im 11. und 12. Jahrhundert, WienKöln-Graz 1972 (=Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte20, Berlin-O. 1972); Rainer Maria H e r k e n r a t h , Regnum und Imperium. Das „Reich" in der frühstaufischen Kanzlei (1138-55), (Sitzungsberichte der österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. KL 264,5), Wien 1969. 4 8 Vgl. Werner G ο e z, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958. 4 9 Grundlegend Martin G r a b m a n n , Geschichte der scholastischen Methode, 2Bde., Freiburg/B. 1909-11 ( N D . Darmstadt 1961). 50 Vgl. Artur Michael L a n d g r a f , Einführung in die Geschichte der theologischen Literatur der Frühscholastik unter dem Gesichtspunkt der Schulenbildung, Regensburg 1948. 51 Vgl. C h e n u , Theologie; Jean L e c l e r c q , Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963 (französische Erstausgabe: L'amour des lettres et le desir de Dieu, Paris 1957). 52 Vgl. Wolfgang S t ü r n e r , Natur und Gesellschaft im Denken des Hoch- und Spätmittelalters. Naturwissenschaftliche Kraftvorstellungen und die Motivierung politischen Handelns in Texten des 12.-14. Jahrhunderts (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 7), Stuttgart 1975.

2. Zur Situation im 12. Jahrhundert

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Symbolik 54 , zur Kultur55, Literatur56 und Geschichtsschreibung57 des 12. Jahrhunderts. So sehr diese Arbeiten auch einzelne Bereiche des mittelalterlichen Geschichtsbildes beleuchten, so bleiben doch wichtige Aspekte besonders der theologischen Grundlegung des Geschichtsbildes sowie des konkreten Vergangenheitsbildes noch weitgehend unerforscht. Vor einer systematischen Zusammenfassung sind also noch Vorarbeiten nötig. Das „System" des Geschichtsbildes in seiner Totalität läßt sich ohnehin zunächst nur in kleinerem Rahmen darstellen. Da die historische Vorstellungswelt stets einer individuellen Weltsicht entspringt, empfiehlt sich vorerst eine Behandlung einzelner Autoren 58 , bevor ein Vergleich ihrer spezifischen Geschichtsbilder eine zusammenfassende Würdigung erlaubt. Da der einzelne Denker andererseits in bestimmten zeit- und umweltgebundenen Verhältnissen schreibt, wird es schon hier nötig sein,

53 Etwa Barbara M a u r m a n n , Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters. Hildegard von Bingen, Honorius Augustodunensis und andere Autoren (Münstersche Mittelalter-Schriften33), München 1976; vgl. Vincenzo L i c c a r o , Studi sulla visione del mondo di Ugo di s.Vittore, Udine 1969. 54 Hier sei besonders auf die von Friedrich Ο h 1 y initiierte mittelalterliche Symbol- und Bedeutungsforschung hingewiesen; vgl. Friedrich O h l y , Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977; Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung, hg. von Hans F r o m m , Wolfgang H a r m s , Uwe R u b e r g (= Festschrift Ohly), 2Bde., München 1975; Hans-Jörg S p i t z , Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends (Münstersche Mittelalter-Schriften 12), München 1972. 55 Vgl. Jacques L e G o f f , Kultur des europäischen Mittelalters (Knaurs Große Kulturgeschichte), Zürich 1970; Friedrich H e e r , Aufgang Europas. Eine Studie zu den Zusammenhängen zwischen politischer Religiosität, Frömmigkeitsstil und dem Werden Europas im 12. Jahrhundert, Wien-Stuttgart-Zürich 1949; Die Zeit der Staufer. Geschichte Kunst - Kultur. Katalog der Ausstellung, 4 Bde., Stuttgart 1977; Stauferzeit. Geschichte Literatur - Kunst. Ergebnis der Karlsruher Staufertagung 1977, hg. von Rüdiger Κ r ο h n, Bernd T h u m , Peter W a p n e w s k i , (Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten 1), Stuttgart 1978. 56 Vgl. Joseph d e G h e l l i n c k , L'essor de la litterature latine au XII siecle, Brüssel 2 1955. 57 Vgl. Wilhelm Wa11eηbach/Franz-Josef S c h m a l e , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vom Tode Kaiser Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnum, Bd. 1, Darmstadt 1976. Vgl. auch Benoit L a c r o i x , L'historien au moyen äge, MontrealParis 1971; Bernard G u e n e e , Historie et Culture historique dans l'Occident medieval, Paris 1980. 58 Auf diese Notwendigkeit hatte bereits S p ö r l , Grundformen S. 13ff-, hingewiesen.

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Einleitung

seine spezifischen Anschauungen mit denen seiner Zeitgenossen zu vergleichen und in die Vorstellungen und Zusammenhänge seiner Zeit einzuordnen. Diese Aufgabe möchte die vorliegende Arbeit an einem Beispiel, dem Werk des Bischofs Otto von Freising, erfüllen, um auf diesem Wege einen Beitrag zum Geschichtsdenken und damit zur Geschichte des 12. Jahrhunderts zu leisten.

3. O t t o v o n F r e i s i n g als

Forschungsthema

O t t o v o n F r e i s i n g , der zu Recht als einer der bedeutendsten Geschichtsschreiber und einer der wenigen Geschichtsphilosophen des Mittelalters überhaupt angesehen wird, darf als ein hervorragendes Beispiel dafür gelten, wie die Geschichtsschreibung selbst ein bereits erarbeitetes Geschichtsbild aufgenommen und weiterentwickelt hat. Sein Werk war zudem im 12. Jahrhundert, zumindest im bayerisch-österreichischen Raum, so beliebt 59 , daß sich darin wohl mehr als nur das Denken eines einzelnen erschließt. Das allein schon rechtfertigt eine intensive Beschäftigung mit den Vorstellungen dieses Geschichtsschreibers 60 . Zwar ist sein Werk gerade wegen seiner Bedeutung häufig und nicht zuletzt auch unter dem hier ausgewählten Aspekt behandelt worden 61 , doch sind die Meinungen der Forschung über Otto von Freising alles andere als einhellig62. Während für andere Geschichtsdenker seiner Zeit

5 9 Vgl. dazu Alphons L h o t s k y , Das Nachleben Ottos von Freising, in: D e r s . , Aufsätze und Vorträge B d . l , München 1970, S. 32ff. - Aus dem 12. Jahrhundert sind immerhin 11 Handschriften der Chronik erhalten. 6 0 Vor 100 Jahren mußte Ernst B e r n h e i m , Der Charakter Ottos von Freising und seiner Werke, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 6, 1885, S. 1 f., seine Beschäftigung mit Otto als einer geistesgeschichtlichen Quelle vor seinen Zeitgenossen noch eigens rechtfertigen. 61 Immer wieder zitiert wird die Aussage Adolf H o f m e i s t e r s , Studien über Otto von Freising, Neues Archiv37, 1912, S. 108f., an irgendeiner Stelle sei bereits alles Erkennbare über Otto von Freising ausgesagt. 6 2 Bereits Hugo S t a u d i n g e r , Weltordnung und Reichsverfassung bei Otto von Freising, Diss, (ms.) Münster 1950, S.2f., weist auf die zahlreichen Widersprüche in den Arbeiten über den Bischof hin und wählt für seine eigene Untersuchung den Weg, die Weltsicht Ottos allein aus dessen Werk zu erarbeiten.

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3. Otto von Freising als Forschungsthema

wie Anselm von Havelberg 6 3 , H u g o von St. Viktor 6 4 und Gerhoh von Reichersberg 6 5 , auch Rupert von D e u t z 6 6 oder Johannes von Salisbury 6 7 außerdem neuere Untersuchungen über das Geschichts- oder Weltbild vorliegen 6 8 , fehlt zu O t t o v o n Freising eine entsprechende, umfassende Darstellung auf neuerem Stand. Die klassischen W e r k e

Bernheims,

Hashagens 6 9 und Schmidlins 7 0 sind, obwohl in vielen Aspekten n o c h aufschlußreich, insgesamt schon wegen ihrer starren Zeit- und Ideologiegebundenheit veraltet, zumal sie allesamt v o n einem zeitbedingt engen Begriff von Geschichtsphilosophie ausgehen und die berühmte civitasLehre, ein zentrales Anliegen der Anschauungen O t t o s von Freising, lediglich unter staatlich-politischen Gesichtspunkten auswerten. Ü b e r dies hatte sich die Quellengrundlage Hofmeister

entscheidend

verbessert,

1912 seine vorbildliche kritische Ausgabe der

seit

Chronik

vorlegte 7 1 . In n o c h höherem M a ß gilt das für das zweite W e r k O t t o s , die

45 Vgl. Kurt F i n a , Anselm von Havelberg. Untersuchungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte des 12. Jahrhunderts, Analecta Praemonstratensia32, 1956, S. 69-101, 193-227; 33, 1957, S.5-39, 268-301; 34, 1958, S. 13-41. 64 Vgl. Joachim E h l e r s , Hugo von St. Viktor. Studien zum Geschichtsdenken und zur Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts (Frankfurter historische Abhandlungen 7), Wiesbaden 1973. 65 Vgl. Erich M e u t h e n , Kirche und Heilsgeschichte bei Gerhoh von Reichersberg (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 6), Leiden-Köln 1959; Peter C l a s s e n , Gerhoch von Reichersberg. Eine Biographie. Mit einem Anhang über die Quellen, ihre handschriftliche Überlieferung und ihre Chronologie, Wiesbaden 1960. 64 Vgl. Mariano M a g r a s s i , Teologiae storia nel pensiero di Ruperto di Deutz, Rom 1959 (dazu: H. S i l v e s t r e , Revue d'histoire ecclesiastique 56, 1961, S.517—26); Wilhelm K a h l e s , Geschichte als Liturgie. Die Geschichtstheologie des Rupertus von Deutz (Aevum Christianum 3), Münster 1960. 67 Eine neue Gesamtdarstellung zu seinen Lehren hat Klaus G u t h , Johannes von Salisbury (1115/20-1180). Studien zur Kirchen-, Kultur- und Sozialgeschichte Westeuropas im 12. Jahrhundert (Münchener Theologische Studien 20), St. Ottilien 1978, vorgelegt. M Vgl. auch Hans W o l t e r , Ordericus Vitalis. Ein Beitrag zur kluniazensischen Geschichtsschreibung (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 7), Wiesbaden 1955. " Justus H a s h a g e n , Otto von Freising als Geschichtsphilosoph und Kirchenpolitiker (Leipziger Studien aus dem Gebiet der Geschichte VI,2), Leipzig 1900. 70 Joseph S c h m i d 1 i n, Die geschichtsphilosophische und kirchenpolitische Weltanschauung Ottos von Freising. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Geistesgeschichte (Studien und Darstellungen aus dem Gebiete der Geschichte IV,2/3), Freiburg 1906. S c h m i d l i n s Arbeit ist in mancherlei Hinsicht eine Antwort aus katholischer Sicht auf die Darlegungen Hashagens. 71 Otto von Freising, Chronica sive historia de duabus civitatibus, ed. Adolf H o f m e i s t e r , MG SSrG 1912. - Ergänzungen zur Handschriftenklasse Α gibt Joachim

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Einleitung

Gesta Frederici, deren Überlieferungsverhältnisse

erst vor

wenigen

Jahren mit weitreichenden Konsequenzen geklärt werden konnten und die nun unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse in einer vorläufigen Ausgabe vorliegen 7 2 . N a c h den grundlegenden Arbeiten um die Jahrhundertwende versuchte Kassian Haid in den 30er Jahren noch einmal eine Gesamtwürdigung des Freisinger Bischofs 7 3 , die sich im wesentlichen jedoch in einer ausgiebigen Wiedergabe der Forschungsmeinungen und wichtiger Schlüsselstellen im W e r k Ottos erschöpfte. Wenig später lieferte Brezzi einen ausdrücklich aus nichtdeutscher Sicht geschriebenen Überblick, in dem er vor dem Hintergrund der Geschichtsschreibung die besondere Position des Denkers O t t o herausstellte 74 . Seither hat sich die Forschung der Betrachtung von Einzelaspekten zugewandt und hier eine gewaltige Zahl von Aufsätzen und Monographien mit beschränkter Thematik hervorgebracht 7 5 , die die ältere Forschung erheblich erweitern und berichtigen. Im Mittelpunkt wichtiger Arbeiten stehen neben dem Leben des Bischofs von Freising 7 6 sein Verhältnis zu Augustin 7 7 , seine R ö s s l , Zwettler Fragmente der Chronik Ottos von Freising, in: Codices manuscript!. Zeitschrift für Handschriftenkunde 1, 1975, S. 33-40. 72 Zur Quellenkritik: Franz-Josef S c h m a l e , Die Gesta Fridericil. imperatoris Ottos von Freising und Rahewins. Ursprüngliche Form und Uberlieferung, Deutsches Archiv 19, 1963, S. 168-214; seine Ausgabe: Otto von Freising, Gesta Frederia seu rectius Cronica, hg. von Franz-Josef S c h m a l e (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 17), Darmstadt 1965, ersetzt die alte Ausgabe von W a i t ζ und S i m s ο n, MG SSrG 21912 (die aber noch wegen der Lesarten heranzuziehen ist). Vgl. auch Paolo B r e z z i , Note sulla composizione dei „Gesta Friderici Imperatoris" di Ottone di Frisinga (motivi - data — redazioni), in: Studi medievali in onore di Antoniho de S t e f a n o , Palermo 1956, S. 123-35. 73 Kassian Haid, Otto von Freising, Cistercienser-Chronik44,1932, S. 59-71,91-102, 131—44, 189-203, 222-34, 253-67, 287-99, 324-35; 45, 1933, S. 33-44, 66-77, 101-105, 132-38, 163-75, 205-16, 233-40, 261-77. 74 Paolo B r e z z i , Ottone di Frisinga, Bullettino dell'Istituto storico italiano per il medio evo54,1939, S. 129-328. Vgl. dazu Allessandro P a s s e r i n d ' E n t r e v e s , Ottone di Frisinga e la storiografia del medio evo, Rivista internazionale di filosofia del diritto 20, 1940, S. 360-67. 75 Am übergreifendsten ist noch die in Anm. 62 genannte Dissertation S t a u d i n g e r s . Im folgenden seien wenigstens die für das Geschichtsbild wichtigsten Untersuchungen genannt. 76 Zu erwähnen sind vor allem die beiden Festschriften zum 800. Todesjahr des Bischofs: Otto von Freising. Gedenkgabe zu seinem 800. Todesjahr, im Auftrag des Historischen Vereins Freising hg. von Joseph A. F i s c h e r, Freising 1958, und: Otto von Freising 1158-1958, in: Analecta sacri ordinis Cisterciensis 14, 1958. 77 Vgl. Johannes S ρ ö r 1, Die „Civitas Dei" im Geschichtsdenken Ottos von Freising, La Ciudad de Dios 167, 1956, S. 577-96 (zitiert nach dem Wiederabdruck in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter, hg. von Walther Lammers, Wege der

3. Otto von Freising als Forschungsthema

19

politischen78, metaphysischen79 und theologischen Vorstellungen80. Der jüngste Überblick bei Lammers behandelt das Verhältnis von Weltgeschichte (Chronik) und Zeitgeschichte (Gesta) bei Otto 8 1 . Diese Arbeiten werden noch ergänzt durch thematisch begrenzte, aber mehrere Autoren behandelnde Untersuchungen einzelner Sachverhalte des mittelalterlichen Geschichtsbildes82. Eine zusammenfassende Diskussion all dieser Forschungen fehlt nun ebenso wie eine dem heutigen Forschungsstand angemessene Gesamtdarstellung des Geschichtsbildes des Freisinger Bischofs. Anderes ist trotz der vielseitigen Forschung noch nicht hinreichend abgeklärt; Fortschritte lassen sich meines Erachtens vor allem dort erzielen, wo es um das Verständnis mittelalterlicher Vorstellungen, auch hinsichtlich der bisherigen Tradition, und um die Erklärung der Geschichtsschreibung und des Geschichtsbildes, der civitas-Lehre, sowie der unterschiedlichen Tendenzen in Chronik und Gesta von den philosophischen und theologischen Grundansichten Ottos her geht. Diese Lücke möchte die vorliegende Darstellung schließen. Sie geht aus von den Werken des Bischofs, um Forschung21, Darmstadt 1961, S.298-320), und Anny H a r t i n g s , Civitas Dei - Civitas Mundi in den Werken Ottos von Freising im Hinblick auf Augustins „De Civitate Dei", Diss, (ms.) Bonn 1943; einen knappen Uberblick gibt Robert F ο 1 z, Sur les traces de Saint Augustin. Otton de Freising, historien des deux cites, in: Collectanea ordinis Cisterciensium reformatorum20, 1958, S. 327-45. 78 Vgl. vor allem S p ö r l , Grundlagen (1935). 7 9 Bahnbrechend für die Metaphysik Ottos in den Gesta ist der Aufsatz von Josef K o c h , Die Grundlagen der Geschichtsphilosophie Ottos von Freising, Münchener Theologische Zeitschrift 4,1953, S. 79-94 (zitiert nach dem Wiederabdruck in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter S. 321-49); K o c h s Ergebnisse hat Hans Martin K l i n k e n b e r g , Der Sinn der Chronik Ottos von Freising, in: Aus Mittelalter und Neuzeit, Festschrift Gerhard Kallen, Bonn 1957, S. 63-76, auch für die Chronik nutzbar gemacht. 80 Zur Liturgie vgl. Leonid A r b u s o w , Liturgie und Geschichtsschreibung im Mittelalter. In ihren Beziehungen erläutert an den Schriften Ottos von Freising ( + 1158), Heinrichs Livlandchronik (1227) und den anderen Missionsgeschichten des Bremischen Erzsprengeis: Rimberts, Adams von Bremen, Helmolds, Bonn 1951; zur Theologie.jetzt vor allem Manfred M ü l l e r , Beiträge zur Theologie Ottos von Freising (St. Gabrieler. Studien 19), Mödling b. Wien 1965. 81 Walther L a m m e r s, Weltgeschichte und Zeitgeschichte bei Otto von Freising (Sbb. d. Wiss. Ges. an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. XIV,3), Wiesbaden 1977, S.68-99 (auch abgedruckt in: D e r s . , Vestigia mediaevalia S.88-108). 82 Von den Darstellungen, die Otto von Freising in einem eigenen Kapitel behandeln, vgl. vor allem M ü l l e r , Hand Gottes; v o n d e n B r i n c k e n , Weltchronistik; F u n k e n s t e i n und R a u h.

20

Einleitung

zunächst aus ihnen das Geschichtsbild als Beispiel hochmittelalterlicher Vorstellungen zu erarbeiten und systematisch darzulegen, in die Gedankenwelt seiner Zeit einzuordnen und auf diesem Wege zu einem besseren Verständnis Ottos zu gelangen. Die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft sind, soweit sie einen Beitrag zum Thema leisten, eingearbeitet; ergänzende oder abweichende, vor allem strittige Meinungen und Kontroversen sind - in durch Petitdruck abgehobenen Inserten - jeweils an den entsprechenden Stellen referiert und diskutiert. Insgesamt soll das wenigstens ist das Ziel dieser Arbeit - sich eine systematische, an den Absichten und Vorstellungen Ottos orientierte Darstellung des Geschichtsbildes auf dem neuesten Forschungsstand ergeben 83 , die sich zugleich als Ausgangspunkt umfassenderer Studien zum Geschichtsbild des 12. Jahrhunderts mit seinen Traditionen 84 und Eigenarten eignet. ψ Das Geschichtsbild gehört zweifellos zu jenen bevorzugten Themen der gegenwärtigen Vergangenheitsforschung, die aus einem aktuellen Bedürfnis heraus erwachsen sind. Zu Beginn der 50er Jahre bestand die Aktualität Ottos von Freising noch im „Erlebnis der in Ruinen fallenden Weltreiche" 85 , heute betrifft sie stärker unsere Suche nach einem neuen, angemessenen Geschichtsverständnis überhaupt. Das Geschichtsbild des 12. Jahrhunderts hat, wie bereits mehrfach festgestellt wurde 86 , in gewissem Sinn die moderne Geschichtsbetrachtung mit ihrem Bewußt-

83 Es geht mir nicht um eine Bewertung der Leistung des Freisinger Bischofs. Abwertend zuletzt vor allem Walter M o h r , Zum Geschichtsbild Ottos von Freising, in: Perennitas. Beiträge zur christlichen Archäologie und Kunst, zur Geschichte der Literatur, der Liturgie und des Mönchtums sowie zur Philosophie des Rechts und zur politischen Philosophie. P. Thomas M i c h e l s OSB zum 70. Geburtstag, Münster 1963, S.274-93. 84 Vorarbeiten dazu beschäftigen sich mit den wichtigsten spätantiken Vorbildern; vgl. Hans-Werner G o e t z , Die Geschichtstheologie des Orosius (Impulse der Forschung32), Darmstadt 1980); eine Arbeit über Augustin wird vorbereitet. 85 So Werner Κ a e g i, Chronica mundi. Grundformen der Geschichtsschreibung seit dem Mittelalter, Einsiedeln 1954, S. 10. 86 Vgl. B r u n n e r , Abendländisches Geschichtsdenken S.505ff.; B a u e r , S.24ff.; jüngst wieder Gunther W o l f , Das 12. Jahrhundert als Geburtsstunde der Moderne und die Frage nach der Krise der Geschichtswissenschaft, in: Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia9), Berlin-New York 1974, S. 80-84. Zur Suche des Gegenwartsverständnisses aus der Vergangenheit bei den Chronisten des 12.Jahrhunderts vgl. S o u t h e r n , Transactions V,23, 1973, S. 256 und 263.

3. Otto von Freising als Forschungsthema

21

sein vom Eingebettetsein des Menschen in historisch gewachsene Verflechtungen eingeleitet oder zumindest einzelne Elemente vorweggenommen. Es ist darüber hinaus selbst Ausdruck einer Krisenzeit, die im Bewußtsein des strukturellen Wandels ebenfalls nach Erklärungen und nach einem neuen historischen Selbstverständnis suchte. Ottos Theorie der mutabilitas alles Geschichtlichen trifft unsere schnellebige Zeit noch weit mehr, als der Bischof es in seiner eigenen Gegenwart verfolgen konnte. Damit soll nicht angedeutet werden, daß Otto von Freising uns eine direkte Antwort auf unsere eigenen Probleme geben könnte. Sein Ausweg der relativen Weltverachtung und totalen Hinwendung auf die Ewigkeit dürfte kaum noch unsere Lösung sein. Doch ist es hilfreich zu wissen, daß Menschen vergangener Jahrhunderte, in doch so unterschiedlichen Zeiten und Welten, mit strukturhaft ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten und daß sie - für sich erfolgreich - nach Lösungen suchten.

I.

T E N D E N Z E N IM W E R K O T T O S V O N F R E I S I N G GESCHICHTSSCHREIBUNG UND GESCHICHTSTHEOLOGIE

1.

D e r g e s e l l s c h a f t l i c h e und geistige H i n t e r g r u n d des G e s c h i c h t s s c h r e i b e r s

Das Werk Ottos von Freising1 steht in gewisser Weise einzigartig in der Geschichtsschreibung des Mittelalters da, denn es vereinigt bewußt historiographische und geschichtstheologische Elemente und hat deshalb viel Beachtung von seiten der historischen Forschung gefunden2. Ottos in der ersten (nicht erhaltenen) Fassung im Jahre 1146 vollendete Chronik, die er 115^ dann (in einer zweiten Fassung) dem Kaiser Friedrich Barbarossa widmete, gilt als absoluter Höhepunkt der mittelalterlichen Weltchronistik 3 , als die geschlossenste Weltgeschichte im hohen Mittelalter4, als Ausdruck eines erst durch die geistige Öffnung des großen Kirchenreform- und Investiturstreits des 11. Jahrhunderts möglich gewordenen universalen Geschichtsdenkens 5 . Ottos Ideen werden ande-

1 Vgl. darüber Franz-Josef S c h m a 1 e in: Wattenbach-Schmale, S. 48ff., und Alphons L h o t s k y , Die Historiographie Ottos von Freising, in: D e r s . , Aufsätze und Vorträge Bd. 1, S. 49-63. 2 Vgl. B r u n n e r , Abendländisches Geschichtsdenken S.509. Mit den Charakteristika der Gesta, die Otto von seinen Zeitgenossen abheben, beschäftigt sich kurz Charles Christopher M i e r o w , Bishop Otto of Freising: Historian and Man, Transactions and Proceedings of the American Philological Association 80, 1949, S. 393-402; vgl. auch B r e z z i , Ottone S.220ff. (zur Chronik), S.249ff. (zu den Gesta) und S.316ff. 3 Vgl. v o n d e n B r i n c k e n S.220; L a m m e r s , Weltgeschichte S.81; K. G u t k a s , Otto von Freising, der bedeutendste Geschichtsschreiber des Mittelalters, Kulturberichte aus Niederösterreich 77/78, 1958, S.77f. 4 Johannes S p ö r l , Vom Weltbild Ottos von Freising, in: Otto von Freising S. 12f. 5 Vgl. S p ö r l , Grundformen S.35.

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

23

rerseits sogar in einigen Philosophiegeschichten besprochen, denn seine Arbeiten gelten zu Recht auch als bedeutendes geschichtsphilosophisches Werk6. Chronik und Gesta eignen sich daher vorzüglich zu einer Untersuchung der Zusammenhänge zwischen einer theoretisierenden Geschichtstheologie und einer pragmatischen Geschichtsschreibung7; sie spiegeln darüber hinaus auch die wichtigen Leitideen des Jahrhunderts wider8: den sogenannten „Deutschen Symbolismus", die Frühscholastik und die zisterziensische Mönchsidee9; und schließlich gelten die Gesta Frederici10 als Ausdruck einer „staufischen Reichsideologie"11, wenngleich Holtzmanns These einer Hofgeschichtsschreibung anhand offizieller Dokumente heute widerlegt ist12. Immerhin machen die Gesta

6

Felix F e l l n e r , The "Two Cities" of Otto of Freising and its Influence on the Catholic Philosophy of History, The Catholic Historical Review 20, 1935, S. 159, bezeichnet die Chronik (sicher übertreibend) als das bedeutendste geschichtsphilosophische Werk zwischen Augustin und Bossuet (er hebt S. 160 auch den philologischen Wert des Buches hervor); M ü l l e r , Theologie S. 1, nennt Otto sogar den einzigen Geschichtsphilosophen des Mittelalters (vgl. auch S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 7 ff.; Μ ü 11 e r, Hand Gottes S. 112 und H a i d Bd.45, S. 101). Höhepunkt zu sein bedeutet freilich auch: Otto fand auf seinem Weg keinen Nachfolger (F e 11 η e r S. 173). - Auf der anderen Seite verstieg sich Η a s h a g e η S. 67 zu der Bemerkung, ohne die civitas-Lehre würde die Chronik für den an Fakten interessierten Historiker an Wert gewinnen. In neuerer Zeit suchte M o h r meines Erachtens mit unzureichenden Gründen (dazu unten S. 202 f.) - Ottos Fähigkeit als Geschichtstheologe zu bestreiten. 7 S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 7, spricht von einer Synthese der Geschichte mit der Philosophie und Theologie. 8 Vgl. H o f m e i s t e r S . 7 6 7 . 9 Vgl. S p ö r l , Grundformen S.35; D e r s . , Civitas Dei S.306; L a m m e r s , Einleitung S.XIss. und LVIss.; zu den zeitbedingten Hintergründen im einzelnen B r e z z i , Ottone S. 137-83. 10 Über die nicht von Otto stammende, aber inzwischen eingebürgerte Bezeichnung „Gesta Frederici" vgl. S c h m a l e , Einleitung S. 75 f. 11 S p ö r l , Grundformen S.38f., nennt die Chronik den großartigsten Ausdruck von „staufischer Reichsmetaphysik" dank der Verschmelzung des augustinischen civitas Det'-Begriffs mit dem staufischen Reichsgedanken (ebda. S. 43). 12 Robert H o l t z m a n n , D a s Carmen de FredericoI. imperatore aus Bergamo und die Anfänge einer staufischen Hofhistoriographie, Neues Archiv 44,1922, S. 252-313 (vgl. auch B r e z z i , Ottone S. 258 f., und D e r s., Le fonti dei „Gesta Friderici Imperatoris" di Ottone e Rahevino, Bullettino dell'Istituto storico italiano per il medio evo75, 1963, S. 112ff.); dagegen E. O t t m a r , Das Carmen de Fridericol imperatore aus Bergamo und seine Beziehungen zu Otto-Rahewins Gesta Friderici, Gunthers Ligurinus und Burchard von Ursbergs Chronik, Neues Archiv46, 1946, S.430-89, und S c h m a l e , in: WattenbachSchmale S.47f., und D e r s . , Einleitung S.50ff. (Gunther von Pairis und der Dichter des „Carmen de gestis Frederici I. in Lombardia" stützen sich nicht auf die gleichen, offiziellen

24

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Otto zum „Zeithistoriker der Stauferära" 13 , und der Bischof hält sich in der Auswahl der Ereignisse so eng an Friedrichs Auftragsbrief 14 , daß die Gesta in gewisser Weise auch die kaiserliche Sicht der Ereignisse wiedergeben, die der Chronist allerdings um seine geschichtstheologische Deutung erweitert15. Um sein Werk angemessen interpretieren und von seinen Intentionen her richtig verstehen zu können, müssen wir zunächst untersuchen, welche Einflüsse und Absichten Ottos Geschichtsschreibung leiten, vor welchem persönlichen und zeitbedingten Hintergrund der Bischof Geschichte schreibt und in welchem Umfang daraus eine Standortgebundenheit des Geschichtsschreibers erwächst, auf welchen Traditionen seine Historiographie beruht und welche spezifischen Motive Otto mit seinen Schriften verfolgt. Manche dieser Fragen sind eng mit dem Lebenslauf des Bischofs verknüpft 16 . Quellen, sie fußen vielmehr auf Ottos Gesta Frederki). - Otto selbst scheint sich vornehmlich auf mündliche Traditionen zu stützen; zu enge Beziehungen zum Hof hatte er offenbar nicht ( S c h m a l e , Einleitung S. 19 ff.). 13 So L a m m e r s , Weltgeschichte S.80. 14 S c h m a l e , Einleitung S.25 und danach L a m m e r s , Weltgeschichte S.95 (anders B r e z z i , Fonti S. 109ff.); vgl. schon Hermann G r o t e f e n d , Der Werth der Gesta Friderici imperatoris des Bischofs Otto von Freising, Hannover 1870, S.69; zu Ottos Verarbeitung des Königsbriefs im einzelnen vgl. Charles Christopher M i e r o w , Otto of Freising: A Medieval Historian at Work, Philological Quarterly 14,1935, S. 344-62. - Karl L i η d t, Zur Kritik des II. Buches der gesta Friderici von Otto von Freising, Programm des Ludwig Georgs-Gymnasium Darmstadt 1902, S. 3 ff. stellt einige Unterschiede zwischen Brief und Gesta heraus, will darin aber zu Unrecht eine Kritik Ottos am Kaiser erkennen. 15 Zur Gedankenwelt des Briefes vgl. Eberhard F. O t t o , Otto von Freising und Friedrich Barbarossa, Historische Vierteljahrschrift 31, 1938 (zitiert nach dem Wiederabdruck in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter, Darmstadt 1965, S. 271 ff.). - Zur historischen Glaubwürdigkeit der Gesta vgl. G r o t e f e n d (2.Buch) und W. L ü d e c k e, Der historische Wert des ersten Buches von Otto's von Freising gesta Friderici, Wissenschaftliche Beilage zum Programm des Gymnasiums Stendal, 1885. 16 Zur Lebensgeschichte Ottos von Freising, die hier nicht in chronologischer Reihenfolge wiederholt werden soll, vgl. H o f m e i s t e r S . 9 9 - 1 6 1 und S.633-768 (daran angelehnt, ohne das jeweils zu erwähnen, Bruno S c h m i d , Otto von Freising, Der Wächter 19, 1937, S.54ff.); H a i d Bd.44, S.65-71, 91-102, 131-44, 189-203, 222-34, 253-67, 287-99, 324-35; B r e z z i , Ottone S.183ff., und besonders Hubert G l a s e r , Versuch über die Lebensgeschichte, in: Otto von Freising S. 14-38 ( G l a s e r betont auch S. 34 ff. die Kongruenz der Ideen mit dem Lebenslauf Ottos). Zur Person jetzt Werner G ο e z, Gestalten des Hochmittelalters. Personengeschichtliche Essays im allgemeinhistorischen Kontext, Darmstadt 1983, S. 219-37. Die Regesten seiner Bischofszeit hat Alois W e i ß t h a n n e r i n : Analecta sacri ordinis Cisterciensis 14, 1958, S. 151-222, zusammengestellt. Zum Itinerar vgl. Leopold G r i l l , Das Itinerar Ottos von Freising, in: Festschrift Friedrich H a u s m a n n , hg. von Herwig E b n e r , Graz 1977, S. 153-77.

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

25

a) O t t o als staufischer Reichsfürst und Reichsbischof E s ist von Bedeutung für O t t o s Geschichtsschreibung, Chronist

aus

einer

bestimmten

gesellschaftlichen

Stellung

daß der heraus

schreibt. Seiner Abstammung nach gehörte er dem höchsten deutschen R e i c h s a d e l an 1 7 , und er stand in engen Beziehungen z u m Königsgeschlecht und z u den süddeutschen Herzogshäusern: Sein Vater war der babenbergische Markgraf L e o p o l d III. v o n Ö s t e r r e i c h 1 8 ; seine salische Mutter Agnes, die T o c h t e r Heinrichs IV., w a r in erster E h e mit H e r z o g Friedrich I. v o n Schwaben verheiratet: O t t o war also

Halbbruder

Konrads III., O h e i m Friedrich Barbarossas 1 9 und Bruder der bayerischen (seit 1 1 3 8 ) und später (seit 1 1 5 6 ) österreichischen H e r z ö g e aus dem babenbergischen Geschlecht sowie des Bischofs K o n r a d von Passau, der später ( 1 1 6 4 ) Erzbischof von Salzburg wurde. In solcher U m g e b u n g aufgewachsen, w a r O t t o , der u m 1112 geboren wurde und 1158 starb, offensichtlich stolz auf sein Geschlecht, denn er ließ keine Gelegenheit aus, Rühmliches über seine Vorfahren und besonders seinen Vater zu berichten 2 0 , ohne jedoch jemals die Verwandtschaft zu Offenbar entwickelte das Geschlecht wie die Weifen

22

erwähnen 2 1 ,

und Staufer 2 3 ein

17 Proavi vel avi probitas, sacer ordo, potestas, nennt Rahewin in seinem Nachruf (GF4,14 - S. 546,8) als Empfehlungen Ottos, die dem Toten Gottes Gnade erwerben mögen. Als selbst erwirkte Verdienste treten Stimme, Philosophie, Geschichtsschreibung und Interpretation hinzu (vgl. dazu S p ö r l , Weltbild S. 11). 18 Zur babenbergischen Abstammung Ottos und zur Politik der Babenberger vgl. H o f m e i s t e r S.109ff.j H a i d (Bd.44) S.65ff.; B r e z z i , Ottone S.184ff.; G l a s e r S. 15 ff. - Zu Leopold III. und seiner bereits nach Bayern ausgreifenden Politik vgl. jetzt Heinrich K o l l e r , Der Babenberger Markgraf Leopold III. und Baiern, in: Grundwissenschaften und Geschichte. Festschrift Peter A c h t , Kallmünz/Opf. 1976, S.86-94. " Die enge Beziehung zeigt auch die familiäre Anrede „tuus" an den König (GF prol. 1 S. 118,15; prol. 2 - S.282,2; 2,58 - S.390,21); vgl. M i e r o w , Bishop Otto S.395. 20 Vgl. Chr. 6,32 (S.298,17ff.); 7,7 (S.316,21 ff.); 7,9 (S. 321,7ff.); 7,15 (S. 330,20ff.); 7,21 (S. 340,14 ff.): Liutpold als clericorum et pauperorum pater. 21 Vgl. H o f m e i s t e r S . 111 f. ; S c h m i d S . 54.- Weniger panegyrisch äußert sich Otto über seine Brüder Leopold und Heinrich (Jasomirgott); Heinrich zerstörte nämlich wegen einiger Anhänger Welfs die Stadtbefestigung Freisings (Chr. 7,26 - S. 352,6 ff.; vgl. 2 prol. S. 68,16ff.); Rahewin berichtet später von der Aneignung Freisinger Güter in Österreich (GF3,16 - S.428,3ff.). H o f m e i s t e r (S.120f.) führt Ottos Zurückhaltung auf diesen Streit der Brüder zurück. 22 Vgl. Karl S c h m i d , Weifisches Selbstverständnis, in: Adel und Kirche. Festschrift Gerd T e i l e n b a c h , Freiburg-Basel-Wien 1968, S.389-416. 23 D e r s., De regia Stirpe Waiblingensium. Bemerkungen zum Selbstverständnis der Staufer, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 124, 1976, S. 63-73.

26

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

eigenes adliges Selbstverständnis, und Otto von Freising selbst ist Zeuge dafür, daß es seinen Ursprung auf die alten Babenberger in Mainfranken zurückführte (Chr. 6,15 - S. 275, 18 ff.) 24 . Markgraf Leopold bestimmte (mit wenigen anderen) maßgeblich die Reichspolitik, als er mit seinem Übertritt zu Heinrich V. das Schicksal Heinrichs IV. besiegelte (Chr. 7,9). Die Entscheidung wird freilich überschattet von der Tatsache, daß es sich dabei um einen Verrat an dem regierenden Kaiser handelte. Cohen25 sieht daher in diesem Bericht den objektiven Zeithistoriker Otto am Werk, der selbst die Kämpfe zwischen seinen kaiserlichen Vorfahren (Heinrich IV. und Heinrich V.) und den Verrat seines Vaters nicht verschweigt. Ahnlich positiv wie den Babenbergern steht Otto seinen königlichen Verwandten, den Staufern, gegenüber. Bereits die Vorfahren der staufischen Könige sind durchweg wohlwollend dargestellt26, und Friedrich selbst erscheint als ritterliche und königliche Idealfigur (vgl. unten S. 292 f.) 27 ; die Ereignisse werden häufig zugunsten der Staufer - in den Gesta wie im Bericht über die Wahl Konrads III. (GF 1,23) durchaus abweichend von der Chronik (Chr. 7,22)28 - abgefälscht, ohne daß Otto sich handfester Unwahrheiten schuldig macht29. Er verschweigt Konrads Aneignung der Regalien und läßt ihn in den Gesta nicht wie in der Chronik von quidam de principibus, sondern von allen „anwesenden" Fürsten wählen, verschiebt also deutlich die Akzente, ohne daß man ihm eine Lüge vorwerfen kann (die Wendung ,omnes qui aderant' sagt ja nichts über die Zahl der Wähler aus). Durch die Auswahl der Berichte und die stilistische Darbietung des historischen Materials wird Ottos Darstellung tendenziös30. Mehr noch als „auf

24 Zu dieser Abstammung vgl. Ferdinand G e l d n e r , Zum Babenberger-Problem, Historisches Jahrbuch 81, 1961, S. 9 ff. Kritisch zur historischen Wirklichkeit dieser Nachricht jetzt Alfred F r i e s e , Studien zur Herrschaftsgeschichte des fränkischen Adels. Der mainländisch-thüringische Raum vom 7. bis 11. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 18), Stuttgart 1979, S. 126 ff. 25 Α . E . C o h e n , O t t o van Freising als geschiedsschrijver van zijn tijd. Rede uitgesproken bij de aanvaarding van het ambt van gewoon hoogleraar in de geschiedenis der middeleeuwen en haar hulpwetenschappen aan de rijsuniversiteit te Leiden op 23 September 1960, Amsterdam 1960, S. 14 f. 26 Vgl. die Charakterisierung Herzog Friedrichs (GF 1,12); zum Thronfolgerecht Friedrichs vgl. Johannes V ο e 1 k e r, Konrad III. in der Darstellung Ottos von Freising, Diss. Greifswald 1917, S. 14 ff., zu Konrads Regierungsantritt ebda. S. 42 ff. 2 7 Vgl. G F 1,27 über die jugendlichen Heldentaten des Staufers. Dazu Lüdecke S.8. 28 Vgl. dazu V ο e 1 k e r S. 35 ff. 2 9 S c h m i d l i n , Weltanschauung S. 12, rühmt Ottos Unparteilichkeit. 30 Vgl. V o e l k e r S . 7 6 f .

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

27

der Seite der Parteigänger des Reichs"31 steht der Chronist auf der Seite der Staufer32, wenngleich sich beides oft nicht auseinanderhalten läßt. Offensichtlich unangenehm ist ihm die Rebellion Konrads gegen Lothar III.33, da er sich nicht gegen den legitimen König stellen will34. Trotz seiner persönlichen Sympathien bleibt Otto in jeder Hinsicht königstreu. Ottos Herkunft und Stellung bedingen einen bestimmten Bewußtseinshorizont, aus dem Stellungnahmen und Werturteile des Chronisten, auch persönlicher Art, erwachsen. Ottos a d l i g e r S t a n d p u n k t , der Staber (S. 106 ff.) sogar dazu veranlaßt hat, in einer freilich überspitzten These von einer gewissen Weltlichkeit seiner Geschichtsschreibung zu sprechen, meldet sich nirgends deutlicher zu Wort als in seinen Kommentaren über fremde Völker: Bei den Ungarn mißfällt ihm die Willkür das Königtums, die eine Beteiligung des Adels ausschließt (GF 1,33 - S. 194, 19 ff.), in Italien das bürgerliche Stadtregiment (Gf 2,14), das mit der Zulassung von Handwerkern und Angehörigen der unteren Schichten zum Rittertum die Standesgrenzen auflöst 35 : Kriegsdienst ist für Otto Sache des Adels (S. 308, 25 ff.). Sein Unverständnis gegenüber der befristeten Amtszeit der consules verrät, wie selbstverständlich ihm die (ererbte) Herrschaft auf Lebenszeit, aber auch der Gehorsam gegenüber dem König ist, den er in Italien vermißt. Otto orientiert sich an den gewohnten Zuständen seiner Umgebung und kritisiert bei fremden 31

So Joseph S t a b e r, Eschatologie und Geschichte bei Otto von Freising, in: Otto von Freising S. 109. - Wie „tendenziös" Ottos Darstellung über Friedrich Barbarossa in den Gesta tatsächlich ist, hat Helmut N ö r e n b e r g , Die Darstellung Friedrich Barbarossas in den Gesten Ottos von Freising mit Hinblick auf Ottos augustinische Geschichtsauffassung, Diss. Greifswald 1917, bes. S. 39-75, im einzelnen herausgestellt, dabei aber schon vermerkt, daß die Tendenz tatsächlich in einer Idealisierung des Herrschers liegt. Vgl. auch E. O t t o S.271 ff. 32 So V ο e 1 k e r S. 80; dagegen Β r e ζ ζ i, Ottone S. 256 f. 33 Vgl. V o e l k e r S.21 ff. 34 So Hans P o ζ o r , Die politische Haltung Ottos von Freising, Diss. Halle/S. 1937, S. 66. 35 Vgl. St ab e r S. 110. Vgl. auch GF2,25 (S. 326,32 ff.). Ein plebeius, der ein Husarenstück bei der Belagerung von Tortona vollbringt, verzichtet (lobenswerterweise) auf die Ritterwürde, weil er in seinem ordo bleiben möchte; vgl. dazu S t a u d i n g e r S . 96 f. Über Ottos „Erfindung" des ordo equestris vgl. Arsenio F r u g o n i , Sulla „Renovatio Senatus" del 1143 e l'„Ordo Equestris", Bullettino dell'Istituto storico italiano per il medio evo62, 1950, S. 172 ff. Zu Ottos Kenntnis und Deutung der italienischen Verhältnisse der Ständeordnung (GF2,14) vgl. jetzt Hagen K e l l e r , Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien. 9.-12. Jahrhundert (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 52), Tübingen 1979, S. 17 ff.

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Völkern, was ihm ungewohnt ist und daher verdächtig erscheint. Seine Urteile sind in einem Maße von der ihm vertrauten Gesellschaftsordnung und den N o r m e n seines Standes geprägt, daß er die Ständeordnung sogar auf die himmlische Hierarchie übertragen bzw. als gottgewolltes Abbild einer ewiggültigen Ordnung betrachten kann (Chr. 8, 31 - unten A n m . I / 2 9 7 ) 3 6 ; darin zeigt sich aber auch, daß seine Urteile noch durch andere Einflüsse bestimmt werden. Schon früh war O t t o (als 5. von sechs Söhnen Leopolds) zum G e i s t l i c h e n bestimmt worden; noch im Kindesalter wurde er (unter dem Beistand des Kanonikers Opold, vielleicht eines

Verwandten

Rahewins) Propst der väterlichen Gründung Neuburg (später Klosterneuburg) 3 7 . Entscheidend wurde dann aber nicht die Bestimmung zum Weltgeistlichen, der zweifellos auch die Studienjahre in Paris dienten (unten S. 39 ff.), sondern die mönchische Idee: N a c h seiner Rückkehr aus Frankreich trat O t t o (um 1132) mit 15 Begleitern 3 8 als M ö n c h in das Kloster Morimond ein 3 9 , die vierte Zisterziensergründung 4 0 , die selbst Mutterkloster zahlreicher, vor allem deutscher Zisterzen wurde 4 1 und w o

36 Ein Ausbrechen aus dem Stand ist Frevel, zumal die Seligkeit auch in den unteren Engelordines unvermindert vorhält, da sie nec aliquid scire velint, quod scire eos non expedit: „Stand" ist also das, was einem zusteht; selig ist, wer genau das und nichts anderes will (Chr. 8,30 - S. 446,26 ff.). 37 Vgl. darüber H o f m e i s t e r S . 123 f. und Leopold G r i l l , Bildung und Wissenschaft im Leben Ottos von Freising, Analecta sacri ordinis Cisterciensis 14, 1958, S. 282 ff. 38 Zu ihnen vgl. H o f m e i s t e r S.139f. 39 Annales Mellicenses Continuatio Claustroneoburgensis I, MG SS 9, S. 610,29 ff. Edgar K r a u s e n , Bischof Otto I. von Freising, der Zisterzienser auf dem Stuhl des hl. Korbinian, in: Otto von Freising S. 40, weist auf die Parallele zu Bernhard von Clairvaux (der allerdings nicht mit 15, sondern mit 30 Begleitern in Citeaux eingetreten war). Zur Geschichte des Zisterziensermönchtums Ottos vgl. G l a s e r S.23ff.; G r i l l , Bildung S. 301 f f . ; H a i d S . 131ff.;Brezzi, Ottone S. 191 ff.; Leopold G r i 11, Der Cistercienserbischof Otto von Freising und das benediktinische Mönchtum, in: Citeaux. Commentarii Cistercienses 31, 1980, S. 105-18. 40 Über die Zisterzienser vgl. Louis Jean L e k a i, Geschichte und Wirken der Weißen Mönche. Der Orden der Cistercienser, Köln 1958; Ambrosius S c h n e i d e r (Hg.), Die Cistercienser. Geschichte, Geist, Kunst, Köln 21974; Zisterzienser-Studien 1-4, Berlin 1975-79; Erg.-Bd. 1982; und jetzt den Aachener Ausstellungskatalog: Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit, Bonn 1980. 41 Vgl. Edgar K r a u s e n , Morimund, die Mutterabtei der bayerischen Zisterzen, Analecta sacri ordinis Cisterciensis 14, 1958, S.334-45; Leopold G r i l l , Der hl. Bernhard von Clairvaux und Morimond, die Mutterabtei der österreichischen Cisterzienserklöster, in: Festschrift zum 800-Jahrgedächtnis des Todes Bernhards von Clairvaux, Wien-

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

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außerdem bereits Heinrich von Kärnten Mönch geworden war. Im Jahre 1138 wurde Otto zum Abt dieses Klosters gewählt42. Als Zisterzienser gehörte der babenbergische Mönch dem Orden an, der im 12. Jahrhundert - nicht zuletzt dank der Tätigkeit Bernhards von Clairvaux zweifellos den größten Einfluß auf das religiöse und kirchliche, aber auch auf das politische Leben ausgeübt hat. Auch als Bischof hielt Otto bekanntlich an seinem Zisterziensertum fest43, trug sein Ordenskleid weiter, nahm vielleicht gelegendich an den Generalkapiteln des Ordens in Citeaux teil44 und intervenierte für zisterziensische Klöster. Markgraf Leopold gründete nicht lange nach dem Klostereintritt seines Sohnes (um 1135/36), inspirante atque Ottone dilecto ftlio meo, qui se apud Morimundum ordini subiecit Cisterciensi adhortante, das Zisterzienserkloster Heiligenkreuz45.

Ottos absolute Wertschätzung des Mönchtums wird in seinem Werk am deutlichsten am Ende des 7. Buchs der Chronik faßbar (Chr. 7,35), wo er die Geschichtsschreibung der eigenen Zeit mit einem langen Hochruf auf das Klosterleben abschließt und die einzelnen Orden in ihren vielfältigen Formen als bedeutendste (und letzte) Stütze des Gottesstaates feiert (vgl. unten S. 271 ff.). Schon bald nach seiner Bestimmung zum Abt von Morimond wurde Otto zum B i s c h o f v o n F r e i s i n g (1138-58) gewählt, wo schon sein Vorgänger, Heinrich von Peilstein, mit den Babenbergern verwandt war46. Er gehörte damit zu der großen Zahl, aber auch zu den ersten zisterziensischen Mönchen, die im 12. Jahrhundert auf Bischofssitze

München 1953, S. 31 ff.; Gerhard B. W i η k 1 er, Die Ausbreitung des Zisterzienserordens im 12. und 13.Jahrhundert, in: Die Zisterzienser S. 87-92. - Zur Frühgeschichte des Klosters vgl. auch H a i d (Bd.44) S. 132f. 42 Vgl. G r i l l , Bildung S.312. 43 Vgl. G l a s e r S.28f.j vor allem K r a u s e n , Bischof Otto S.39ff.; H o f m e i s t e r S. 749 ff. sieht Otto nicht erst durch das Zisterziensertum geprägt, sondern nimmt an, daß der Mönch in dem Orden ein bereits gewachsenes Ideal vorgefunden hat. 44 Das wird immer wieder behauptet; bekannt ist freilich nur Ottos Reise im Jahre 1158, als er auf dem Weg verstarb! In den meisten Jahren läfit Ottos Itinerar (vgl. G r i l l , Itinerar S. 176 f.) eine Anwesenheit auf den Generalkapiteln, die regelmäßig Mitte September stattfanden, gar nicht zu. 45 Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich Bd. 1, hg. von H. F i c h t e n a u und E. Z ö l l n e r , Wien 1950, nr.5 (S.6). 44 So G r i l l , Itinerar S. 155.

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

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berufen wurden 47 . Otto erhielt das Bistum in demselben Jahr, in dem Konrad III. auch Ottos Bruder Leopold IV., dem Markgrafen von Österreich, das Herzogtum Bayern verlieh! Offensichtlich suchte der König auf diese Weise einen Stützpunkt in dem weifischen Territorium 48

zu gewinnen . Ottos bischöfliches Wirken tritt uns, wenngleich unvollständig, dennoch weit deutlicher entgegen als andere Abschnitte seines Lebens. Der Kirchenfürst erwarb sich große Verdienste um seine Diözese 4 9 , die in den Wirren des Investiturstreits sehr gelitten hatte und die er weiterhin gegen die Vögte des Hochstifts, die Wittelsbacher, sowie gegen die Weifen und selbst gegen seine eigenen babenbergischen Verwandten schützen mußte. Weißthanners Regesten stellen die Berichte über Ottos Maßnahmen zusammen. Da sie meines Wissens bisher nur in einzelnen Aspekten ausgewertet worden sind, seien an dieser Stelle kurz die Grundzüge der bischöflichen Politik angesprochen. Otto lag sowohl das religiöse Leben wie der Bildungsstand der Freisinger Kleriker am Herzen. Rahewin, der Otto als neuen Gründer des Bistums feiert, berichtet, der Bischof habe das Schulwesen neu geordnet und in der Domschule mit der Disputation scholastische Unterrichtsmethoden eingeführt (GF 4,14)50: Otto bemühte sich also um eine angemessene und moderne Ausbildung seiner Kleriker. Einem Brief vom Ende seiner Amtszeit (1158) zufolge51 reformierte er das Domkapitel in Freising und bemühte sich um eine Rückkehr zu Vita communis und geregeltem Chordienst sowie um eine Zusammenfassung des Kapitelbesitzes. Wenn der Erfolg auch zu wünschen übrig ließ, so zeigt sich in dieser Maßnahme doch die entschiedene Absicht des Bischofs, die Säkularkanoniker in seinem Kapitel und in seinem Bistum in Regularkanoniker umzuwan-

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Allein im 12. Jahrhundert waren es mehr als hundert; fünfzehn Zisterzienser wurden Kardinäle; vgl. Dominikus W i l l i , Cistercienser Päpste, Kardinäle und Bischöfe, Cistercienser Chronik23, 1911, S.225-37, 263-72, 294-312, 323-39, 355-70; 24, 1912, S.9-15, 36-52, 73-86. Vor Otto von Freising (nr. 428) sind nur die Kardinäle Martin Cibo 1130 (nr. 31) und Erzbischof Balduin von Pisa 1137 (nr. 5) sowie die Bischöfe Petrus von Tarantaise 1130 (nr. 434), Dodo von Rieti 1137 (nr. 178), Hugo von Auxerre 1137 (nr. 273), Guarnarius von Sitten 1138 (nr. 234) und Philipp von Tarent 1138 (nr. 462) bezeugt. Vgl. auch L e k a i S.77. 48 Vgl. G1 a s e r S. 28; zur Wahl vgl. H a i d (Bd. 44) S. 191 f. 49 Dazu im einzelnen G l a s e r S.30f.; K r a u s e n , Bischof Otto S.43ff.; B r e z z i , Ottone S. 197ff.; H a i d (Bd.44) S. 194ff. und 222ff. 50 Vgl. S p ö r l , Weltbild S. 8 f.; Hermann-Joseph Β u s l e y , Bischof Otto und sein Domkapitel, in: Otto von Freising S. 73 f. 51 Darüber handelt Β u s 1 e y, Domkapitel S. 65-82.

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

31

dein52. Um Kloster- und Stiftsreform bemühte Otto sich auch in Weihenstephan, wo er Sigimar als Abt einsetzte (Weißthanner nr. 2), und Innichen (ebda. nr. 13), vielleicht auch in Rottenbuch und Schlehdorf (ebda.), ohne Erfolg dann in Tegernsee, das den König, den Salzburger Erzbischof und den Papst um Intervention bat (ebda. nr. 61, 63, 64, vgl. nr. 107)53. Otto setzte Prämonstratenser in Schäftlarn (1140; Weißthanner nr. 12) und im Neustift (1141; ebda. nr. 39)54 und Augustinerchorherren in Schlehdorf (1140) und Schliersee (1141) ein (ebda. nr. 24), und er förderte diese Gründungen ebenso wie andere Klöster und Stifte seines Bistums durch zahlreiche Schenkungen55; seine Sorge spricht auch aus seiner häufigen Anwesenheit bei Vergabungen an diese Kirchen56 und aus seinen Bemühungen um deren Besitz57. Er setzte einen Vogt in Schliersee ein (Weißthanner nr. 24), erlangte für Weihenstephan eine päpstliche Bestätigung der Privilegien (ebda. nr. 55), löste in Petershausen den in Laienhände geratenen Zehnt wieder ein (ebda. nr. 74) und vermochte Gutsbesitzer zu Schenkungen an die Kirchen seiner Diözese zu bewegen (ebda. nr. 183). Man weiß heute, daß die Förderung der Reformkanoniker durch den Episkopat auch politische Ziele verfolgte und die Stellung der Bischöfe stärken und ihre Landespolitik absichern sollte58; Otto von Freising handelte hier also auch als Reichsfürst (nach Haid Bd. 44, S. 222 ff., war die fürstliche Seite eher

52 Zu den Beziehungen Ottos zur Salzburger Reform vgl. Stefan W e i n f u r t e r , Salzburger Bistumsreform und Bischofspolitik im 12.Jahrhundert. Der Erzbischof Konrad I. von Salzburg (1106-1147) und die Regularkanoniker (Kölner Historische Abhandlungen 24), Köln-Wien 1975, S.103f. 53 Vgl. B r e z z i , Ottone S.200f. Vgl. Helmut P l e c h l , Studien zur Tegernseer Briefsammlung des 12.JahrhundertsIV, 1. Tegernsee unter den Äbten Konradi, und Rupert (1126-1186), Deutsches Archiv 13,1957, S. 52 ff.; zum Streit um das Präsentationsrecht der Pfarrer ebda. S. 62 ff. 54 Zu dieser Gründung, die auch mir karitativen Funktionen verbunden war (Aufrechterhaltung eines Hospitals), vgl. Hermann-Joseph Β u s 1 e y, Zur Frühgeschichte des von Bischof O t t o l . gegründeten Prämonstratenserkiosters Neustift bei Freising, in: Otto von Freising S. 49-64. 55 Vor allem an Schäfdarn ( W e i ß t h a n n e r nr. 11/12, 127/28, 174, 181), an Neustift (ebda. nr. 39), an Weihenstephan (ebda. nr. 86 und 148, die Verleihung des Schankrechts nr. 62 und nr. 184 ist eine Fälschung; vgl. dazu Bodo U h 1, Die Hofmarks- und Braurechte des Klosters Weihenstephan. Einige Anmerkungen zur Überlieferung und Fälschung von Urkunden Bischof Ottos I. von Freising, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Freising29, 1979, S. 9—48); für Moosburg (ebda. nr. 14), Reichersberg (ebda. nr. 35). 54 Für Schäftlarn (ebda.nr.ll, 134, 182), Weihenstephan (ebda.nr.23, 77, 84, 88-92), Neustift (ebda.nr. 76 und 131) und andere (ebda.nr. 10, 13, 16, 44, 75, 108, 123, 130, 132, 147). 57 Ebda. nr. 178/79 (für Neustift). 58 Vgl. dazu Stefan W e i n f u r t e r , Reformkanoniker und Reichsepiskopat im Hochmittelalter, Historisches Jahrbuch 97/98, 1978, S. 158-93 (zu Otto S. 188 f.).

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

aufgezwungen). Er erkannte die Bedeutung der seelsorgerischen Leistung des Regularklerus und machte sie sich zunutze , indem er in seiner Diözese nicht Zisterzienserklöster, sondern Kanonikerstifte (der gemäßigten Richtung) gründete bzw. Klöster in Stifte umwandelte, eine Tatsache, die in der Forschung immer wieder mit Verwunderung aufgenommen wurde 60 . Stand schon die Förderung des Reformklerus im Dienste seiner Diözese, so vermehrte Otto auch sonst den materiellen und rechtlichen Besitzstand seines Bistums: Er ließ sich bald von Konrad III. den Freisinger Besitz bestätigen und Münz- und Marktrechte in Freising verleihen (DK III 46 vom 3. Mai 1140)61, nahm Schenkungen an Freising entgegen62 und rundete den Grundbesitz durch Tauschgeschäfte ab63, verteidigte bischöfliches Gut gegenüber Tegernsee (Weißthanner nr. 137), kämpfte (vergeblich) um den Zehnt gegenüber dem Kloster Seitenstetten (ebda. nr. 163) und (erfolgreich) um die Diözesangrenzen gegenüber dem Bistum Regensburg (ebda nr. 156). Seine Sorge galt auch den Freisinger Ministerialen, Zinspflichtigen und Hörigen, die er zugleich aber als Freisinger Besitz beanspruchte64. Den Rechtsbestand ließ er ebenso wie das Recht der freien Bischofswahl von König und Papst bestätigen65. Eine große Einbuße bedeutete freilich die Zerstörung der Brücke und des Marktes bei Föhring durch Heinrich den Löwen im Jahre 1158, die von Friedrich I. gleichsam legalisiert und mit einem Teil der Rechte in München ausgeglichen wurde (DF I 218), eine Regelung, die man erst unter Ottos Nachfolger wieder änderte . Zugleich erweiterte Otto seine Herrschaftsrechte: In seiner Amtszeit wurden die Freisinger Ministerialen den Reichsministerialen gleichgestellt (Weißthanner nr. 9, DK III 83), der Gerichtsbarkeit des Vogtes entzogen und der eigenen Herrschaft unterworfen (ebda. nr. 37). Von seinem Metropoliten in Salzburg

59 Vgl. darttber Franz-Josef S c h m a l e , Kanonie, Seelsorge, Eigenkirche, ebda. 78,1958, S. 48 ff. (besonders S.52f.). 60 Vgl. G l a s e r S.30 (mit richtiger Deutung); B u s l e y , Frühgeschichte S.50f.; K r a u s e , Morimund S.336; W e i n f u r t e r , Salzburger Bistumsreform S. 190. Vielleicht hat auch die unruhige Situation in Bayern (so G r i l l , Bildung S.321) oder Ottos offenes, nicht allein zisterziensisches Mönchtum eine Rolle gespielt (so S ρ ö r 1, Weltbild S. 10), man wird aber kaum eine Kritik am Zisterziensertum annehmen dürfen (so Β r e ζ ζ i, Ottone S. 194 f.). 61 Vgl. dazu Romuald B a u e r r e i ß , Otto von Freising und die Stadtgründung Münchens, in: Otto von Freising S. 83 f.; S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 107. 62 W e i ß t h a n n e r nr.16 und 171. 65 Mit Scheyern (ebda.nr. 32), Weihenstephan (nr. 41/42; vom König bestätigt in nr. 47, vom Papst in nr. 55; nr. 150), mit Schäftlarn (nr. 124-26, 164) und anderen Kirchen (ebda.nr. 31, 69, 73, 109/136, 162) oder mit Laien (nr. 33 und 83). 64 W e i ß t h a n n e r nr.6, 78-80, 82, 87, 98, 124, 129, 175, 180. 65 Ebda. nr. 167; vgl. Β r e ζ ζ i, Ottone S. 203 f. 64 Vgl. dazu Β a u e r r e i ß S. 83-93 und Η a i d (Bd. 44) S. 226 ff.

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

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erwirkte Otto eine Bestätigung der Freisinger Rechte über die Pfarrkirchen auf bischöflichem Besitz sowie das Recht, die Priester zu ernennen (ebda. nr. 20); diese Rechte sicherte noch einmal eine päpstliche Bestätigung ab (ebda. nr. 21). Die Kirche St. Andreas in Freising nahm Otto in seinen Bischofsschutz auf (ebda, nr. 158), der ihm ebenfalls Rechte eintrug. Bezüglich seiner Gerichtstätigkeit ist uns ein Entscheid auf Bitten des Abtes Konrad von Tegernsee bekannt (ebda. nr. 138). Man sieht, wie eifrig sich Otto als Bischof um die Rechte und Wirtschaftsmacht seiner Diözese bemühte. Über Ottos Seelsorgetätigkeit besitzen wir nur vereinzelte Nachrichten über die Weihe einer Reihe von Kirchen und Altären67; der Pfarrei Egern erließ er Pfarrverordnungen (Weißthanner nr. 25), in Scheyern verlegte er zum Schutz des mönchischen Lebens die Pfarrkirche (ebda. nr. 53). Hinsichtlich seiner eigenen Predigttätigkeit erfahren wir immerhin aus einem Brief an Wibald von Stablo, der zugleich Ottos exegetische Interessen wiedergibt, daß der Bischof - wohl zu Himmelfahrt 1151 in Nimwegen - eine Volkspredigt gehalten hat68. Auch über sein Bistum hinaus nahm Otto an der Leitung der Kirche teil; er besuchte mehrmals Synoden69 und weihte 1147 zusammen mit anderen Bischöfen seinen Salzburger Metropoliten Eberhard70. Ottos rege bischöfliche Tätigkeit71 galt also ebenso der Pfarrseelsorge und der Kirchenreform wie der wirtschaftlichen und rechtlichen Absicherung und Bereicherung seiner Diözese. Der Bischof nahm ohne Zweifel seine Aufgabe ernst, handelte aber auch - seiner Zeit gemäß - als typischer deutscher Reichsfürst, dem die Regalien und Herrschaftsrechte ebenso wichtig waren wie die geistlichen Aufgaben72; innerhalb der Kirche stand Otto offensichtlich den gemäßigten Reformkreisen nahe.

67 Petersberg ( W e i ß t h a n n e r nr.5), Kemoden (ebda.nr.38), Wessobrunn (nr.43), Weihenstephan (nr. 45 und 169), Irschenhausen (nr. 157) und Ottersberg (nr. 176). M Darüber handelt Leopold G r i l l , Eine Volkspredigt Bischof Ottos, in: Otto von Freising S.94-105. Zur Auslegung vgl. auch A r b u s o w, Liturgie S.38f.; danach scheint die Liturgie bei Otto allerdings nur eine untergeordnete Rolle zu spielen; in strittigen Fällen verließ der Bischof sich eher auf die Autoritäten als auf die Liturgie. " I n Reichenhall 1146 ( W e i ß t h a n n e r nr.58f.), Salzburg 1150 (ebda.nr. 101), Augsburg 1151 (ebda.nr. 114). 70 Ebda. nr. 71; als Zeuge in erzbischöflichen Urkunden ist Otto ebda. nr. 56,59,60 und 72 genannt. 71 Otto hat eine Reihe von Urkunden hinterlassen (vgl. Weißthanner nr. 6,39,41,42,53, 62, 74, 136, 162 und 172); sein Titel lautet meist Otto dei gratia Frisingensis ecclesiae episcopus (ebda.nr.53 und 172; vgl. auch nr.6 und 41). 72 Karl F. Μ ο r r i s ο η, Otto of Freising's Quest for the Hermeneutic Circle, Speculum 55, 1980, S.207, stellt einen Widerspruch fest zwischen Ottos bischöflicher Politik und seinen theoretischen Überzeugungen.

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Als Reichsbischof war Otto vielfach für König und Reich tätig 73 ; er nahm an Hof tagen 74 und am 2. Kreuzzug teil, auf dem er eine der beiden Heeresabteilungen der deutschen Ritterschaft führte 75 , reiste zweimal (1141 und 1145/46) in königlichem Auftrag zum Papst nach Viterbo und Rom, w o er wohl über den geplanten Romzug Konrads III. verhandelte 76 , und war häufig am Hof anwesend 77 , ohne darüber seine anderen Pflichten zu vernachlässigen 78 . (Nach Haid (Bd. 44, S. 267) lag Ottos Größe allerdings dennoch nicht auf dem Boden der politischen Betätigung).

Als Reichsbischof war Otto mit den geistlichen und weltlichen Problemen seiner Zeit ständig konfrontiert und zudem in politischen Fragen gut unterrichtet. Seine Geschichtsschreibung beruht daher auf tiefen und umfassenden Einblicken in das Geschehen, ist aber zugleich von dieser Standortgebundenheit geprägt. Auch als Bischof von Freising läßt Otto keine Gelegenheit ungenutzt, um seinen Bischofssitz herauszustellen oder über dessen Bedrängnis zu klagen; das Kapitel 5,24 der Chronik widmet sich ganz dem Bistumsheiligen und Gründer Korbinian, einem der Bürger des Gottesstaates, und in diesem Zusammenhang stellt Otto auch den Ort Freising in einer ausführlichen geographischen Beschreibung vor. Besonders nahe liegt dem Freisinger Bischof auch das

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Otto war in diesem Zusammenhang häufig unterwegs; wir finden ihn außerhalb seiner Diözese in Nürnberg ( W e i ß t h a n n e r Nr.3), Selz im Elsaß (nr.4), Frankfurt (nr. 7-9), Würzburg (nr. 17, 46, 115, 144/45), vor allem in Regensburg (nr. 18, 27-33, 35-37, 66-70, 94/95, 113, 119, 146, 160), Konstanz (nr. 34), Bamberg (nr. 47-52, 133/135), Florenz/ Viterbo/Rom (nr. 54), Salzburg (nr. 56,71,74), Passau (nr. 60), Speyer (nr. 110), Nimwegen (nr. 112), Aachen (nr.116/17), Augsburg (nr.114, 121, 165-67). - Vgl. G l a s e r S.32; S c h m i d S.61. Zu Ottos Itinerar vgl. G r i l l , Itinerar (Karte S. 172; Übersicht S. 173 ff.). n Nürnberg 1139 ( W e i ß t h a n n e r nr.3), Frankfurt 1140 (nr.7-9), Würzburg 1141 (nr. 17), Regensburg 1141 (nr. 18) und 1142 (nr. 26-33), Konstanz 1142 (nr. 34), Regensburg 1142 (nr. 35-37), Würzburg 1144 (nr. 46), Bamberg 1144 (nr. 47-52), Regensburg 1147 (nr. 66-69 und nr. 94/95), Nimwegen 1151 (nr. 112), Regensburg 1151 (nr. 113), Würzburg 1151 (nr. 115), Aachen 1152 (zur Krönung Barbarossas; nr.116/17), Bamberg 1154 (nr. 135), Regensburg 1156 (nr. 146) und 1158 (nr. 160), Augsburg 1158 (nr. 165). 75 Zu den einzelnen Stationen vgl. G r i l l , Itinerar S. 160 ff.; zur Teilnahme selbst H a i d (Bd. 44) S. 287 ff. 76 W e i ß t h a η η e r nr. 21/22, 54/55, 108. Vgl. G r i l l , Itinerar S. 156 f. 77 Abgesehen von den Hoftagen (Anm. 1/74) W e i ß t h a n n e r nr.4 (Selz), 18 (Regensburg), 60 (Passau), 96 (an der Leitha), 110 (Speyer), 111 ff. (Rheinfahrt), 119 (Regensburg), 121 (Augsburg), 133 (Bamberg), 144 (Würzburg). 78 S ρ ö r 1, Weltbild S. 7, stellt fest, Otto habe sich rückhaltlos in den Dienst des Reichs gestellt; immerhin ließ er sich jedoch 1158 vom Italienfeldzug befreien, um nach Citeaux reisen zu können.

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

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Schicksal Bayerns. Einen Einfall Welfs vergleicht er sogar mit dem Untergang des Babylonischen Reichs, wenn er die Wirkung demgegenüber auch abschwächen will79. Otto starb 1158 in Morimond und wurde an der Evangelienseite des Altars beigesetzt 80 . Bei Grabungen in Morimond fand Grill 1959 eine Bleischachtel mit Skelettresten, die er dem als selig verehrten Otto zuschrieb 81 . Die anthropologische Untersuchung ergab, daß die Gebeine einem Mann gehörten, der großwüchsig, eher geistig als körperlich tätig war und im Alter von ca. 45 Jahren verstarb 82 . In seinem Orden und in Österreich - nicht aber in Freising - wird Otto bis heute als Heiliger oder Seliger verehrt 83 .

Otto ist Adliger, Reichsfürst, Mönch und Bischof, und überall dringt das daraus resultierende persönliche Empfinden und U r t e i l auch in seine Geschichtsschreibung ein, ohne daß er seine innere Beziehung jeweils explizit angibt84. Sogar über sich selbst spricht er - gemäß der Tradition der Weltchronistik, in der das „Private" keinen Platz hat unpersönlich in der dritten Person, wenn er sein Wirken als „historische Persönlichkeit" schildert und berichtet, auch Otto Frisingensis episcopus sei Teilnehmer am Kreuzzug gewesen85. Dagegen läßt er seine Person als Geschichtsschreiber keineswegs zurücktreten, und nicht zufällig stellt Glaser (S. 37) fest, Ottos Werke seien unergiebig für die Rekonstruktion der äußeren Lebensgeschichte, aber reich in bezug auf das Porträt seiner Persönlichkeit. Hier spricht Otto vielmehr in der ersten Person 86 und

79 Chr. 2 prol. (S. 68,9ff.). Vgl Chr. 7,23 (S. 347,10); 7,24 (S. 348,18f.); 7,25 (S. 350,22); 7,26 (S. 352,3 ff.). 80 Vgl. dazu Leopold G r i l l , Das Grabmal des seligen Cistercienserbischofs Otto von Freising, Cistercienser-Chronik69, 1962, S. 74 ff. 81 D e r s . , Ergebnis der Suche nach dem Grab Ottos von Freising, Annalen des Naturhistorischen Museums in Wien 77, 1973, S. 421-24. 82 Johann J u n g w i r t h , Anthropologische Untersuchung der Gebeine Ottos von Freising, ebda. S. 425-33. 83 Darüber Hermann W a t ζ 1, Fragen um einen Kult Ottos von Freising, Analecu sacri ordinis Cisterciensis 14, 1958, S. 223-79. 84 Da seine zeitgenössischen Leser ohnehin in diese Zusammenhänge eingeweiht waren, ist darin noch keine tendenziöse Verschleierung zu sehen. 85 GF 1,43 (S.210,23); vgl. auch 1,69 (S.276,8). - Vgl. G l a s e r S.36. S t a u d i n g e r S. 15f. und H a i d (Bd.44) S.68 werten das als Zeichen seiner Objektivität; es geht aber zweifellos zu weit, wenn H a i d von einer Ausschaltung des eigenen Ichs spricht. 86 Vgl. GF1,47 (S.218,18 f.); unter den maiores nostri versteht er häufig die Verfasser seiner Quellen; vgl. Chr. 3,45 (S. 179,15f.); 4,21 (S. 212,12f.); 6,22 (S.285,17f.); 8,13 (S. 410,29f.).

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

identifiziert sich i m m e r w i e d e r m i t b e s t i m m t e n G r u p p e n u n d I n s t i t u t i o n e n : m i t d e n C h r i s t e n g e g e n ü b e r d e n M o h a m m e d a n e r n ( O t t o sieht in d e n Kreuzfahrern „die Unsrigen")87 oder gegenüber den heidnischen Chris t e n v e r f o l g e r n unter d e n r ö m i s c h e n Kaisern 8 8 , d a n n aber auch m i t d e n Z e i t g e n o s s e n g e g e n ü b e r der V e r g a n g e n h e i t 8 9 u n d schließlich m i t d e m R e i c h 9 0 , m i t B a y e r n 9 1 o d e r seiner D i ö z e s e Freising 9 2 g e g e n ü b e r d e m „ A u s l a n d " ( w i e U n g a r n , P o l e n , Gallien). Sein Werturteil w i r d a u c h erkennbar, w e n n er die G l i e d e r d e s G o t t e s s t a a t e s äves

nostri

nennt93.

O t t o f ü h l t sich als C h r i s t u n d als A n g e h ö r i g e r des R e i c h s u n d b e s o n d e r s B a y e r n s ; er ist seiner Z e i t , seiner irdischen u n d seiner h i m m l i s c h e n Heimat verbunden. Wenn O t t o die Schäden, die sein Bruder Heinrich der Freisinger Kirche und Bayern zufügt (vgl. Anm. 1/21 und Chr. 7,25), verurteilt und mit der Invektive gegen Otto von Wittelsbach (Chr. 6,20) einen Fluch über das ganze Geschlecht verhängt 94 , so zeigt sich darin sein Standpunkt als bayerischer Kirchenfürst, wenn er die List des Erzbischofs Hatto von Mainz gegenüber dem Babenberger Adalbert im Jahre 906 mißbilligt (Chr. 6,15), weil ein Priester niemals, auch nicht zum Staatswohl, täuschen dürfe (S. 275,21 ff.)' 5 so verbinden sich diese ethischen Motive doch auch mit persönlichen, denn in jenen sehr positiv gekennzeichneten 87

Chr. 1,26 (S. 59,12 f.); 7,4 (S. 314,24); 7,10 (S. 322,8), hier ausdrücklich gegenüber der Vorlage (Ekkehard) hinzugefügt. 88 Chr. 3,2 (S. 137,19ff.); vgl. auch Chr. S. 19,14f. und 20,27f. 89 Chr. 5 prol. (unten Anm. 111/10); 1 prol. (Anm. V/119); 5 prol. (Anm. V/118); 7,9 (Anm. V/101). 90 Chr. 7,34 (S.368,2ff.). Über Ottos „Nationalgefühl", vgl. P o z o r S.82ff. Ottos kurze Darstellung der ottonischen Geschichte ist freilich nicht, wie P o z o r meint, auf eine Feindseligkeit gegenüber dem Sachsen zurückzuführen (vgl. die Verdienste Ottos des Großen GF 2,32), sondern auf die Quellenlage. 91 Chr. 7,23 (S.347,10f.); 7,26 (S.352,2f.); vgl. nostrum regnum Chr. 7,21 (S. 342,14)! 92 Chr. 7,25 (S. 350,22); 7,26 (S. 352,9). 93 Darüber unten S. 181. Vgl. S t a u d i η g e r S. 37. 94 Sie ist in einigen Handschriften gelöscht. - H a i d (Bd. 44) S. 232 bezeichnet das als die einzige Stelle, an der Otto aus seiner vornehmen Zurückhaltung heraustritt (das betrifft aber, wie wir gesehen haben, nur den Ton, nicht die Sache). Über die konkreten Anlässe vgl. G l a s e r S . 3 1 und B r e z z i , Ottone S.204f. Eine Urkunde Papst Eugens III. berichtet außerdem, daß der gleichnamige Sohn des Pfalzgrafen den Bischof während eines Gottesdienstes schwer beleidigt hatte ( W e i ß t h a n n e r nr. 105/6). Otto selbst erzählt andererseits auch von einer Heldentat dieses Wittelsbachers, die Kaiser und Heer aus einer Falle der Veroneser rettete (GF2.42; es ist freilich nicht ganz eindeutig, ob es sich hier um Vater oder Sohn handelt). 95 Ottos Stellungnahme weicht hier bewußt von seiner Quelle (Widukind 1,22) ab; vgl. dazu S t a b e r, Eschatologie S. 111 f. Nach Charles Christopher Μ i e r ο w, Otto of Freising

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

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Babenbergern erblickt Otto die Vorfahren seiner eigenen Familie (S. 275,18 ff.) 96 ! Auch in die zahlreichen (fingierten oder jedenfalls stilisierten) Reden in den Gesta, die Haid (Bd. 45, S. 69 f.) als Fehlgriff des Historikers abwerten will!, legt Otto jeweils seine positive (wie über den Veroneser Bischof, GF 2,47) oder negative (wie gegenüber den Römern, GF 2,13) Stellungnahme hinein. Längst nicht immer sind seine Urteile jedoch rein persönlich bestimmt, häufiger sind sie moralischer Natur (beides läßt sich oft gar nicht trennen), so daß er selbst den Gegnern der Staufer, Lothar III. (GF 1,17—S. 156,31 ff.) oder Heinrich dem Stolzen (GF 1,20 - S. 160, 27 ff.) Lob für ihre Leistungen spendet97. Wenn der Bischof sich anläßlich des Vorgehens Ottos I. gegenüber den Päpsten jedes Urteils enthalten will, da er Fakten berichten, nicht aber deren Ursachen aufzudecken gedenke98, so scheint mir das durchaus polemisch gemeint, denn sehr versteckt verurteilt Otto hier den Kaiser. Die Stelle ist aber bezeichnend für die abwägende, komplizierte Stellungnahme des Chronisten: Dem historischen Bericht folgt die Bemerkung, es sei nicht seine Aufgabe, festzustellen, ob das Vorgehen des Königs rechtmäßig war. Das klingt ganz so, als halte er es für unrechtmäßig. „Dennoch" (tarnen) sprechen einige, allerdings deutsche Quellen von dem schlechten Lebenswandel des Papstes (Johannes), würden damit also den Eingriff rechtfertigen. Dem wiederum kann man jedoch nur schwer Glauben schenken, bezeugt doch die römische Kirche, daß ein Papst schon wegen der Verdienste Petri nicht sündigen kann (Chr. 6,23 - S . 286,12 ff.). Otto stellt die gegensätzlichen Meinungen hier gegeneinander, um sich sehr vorsichtig - eher durch stilistische Hervorhebung - der letzteren anzuschließen. Otto liefert keine unparteiische Geschichtsschreibung, die sich bewußt jedes eigenen Standpunkts enthält; er schreibt vielmehr entschieden vor dem Hintergrund der aus seiner adlig-geistlichen Umwelt erwachsenen Vorstellungen und Normen 9 9 , an denen er seine historischen Nachrichten mißt, und er nimmt Stellung, indem er alles (ihm) Fremdartige - auch innerhalb der Christenheit und des Reichs - kritisiert und indem er die

and his Two Cities Theory, Philological Quarterly 24, 1945, S. 104, steht Otto bei Streitigkeiten zwischen Staat und Kirche auf der Seite desjenigen, der nicht gegen seine moralischen Überzeugungen handelt. 9 6 Vgl. dazu H o f m e i s t e r S.112ff. 9 7 Vgl. S t a u d i n g e r S . 1 7 . - Otto verzichtet, wie Elisabeth R e i n e r , Die Motivierung des geschichtlichen Handelns bei deutschen Historiographen des 10.-12. Jahrhunderts, Diss, (ms.) Wien 1955, S. 33 f., hervorhebt, bei seinen Urteilen auf eine SchwarzWeiß-Malerei. 9 8 Chr. 6,23 (S. 286,11 f.): Res enim gestas scribere, non rerum gestarum rationem

reddere proposuimus. 99

Von persönlichen Bezügen spricht auch S t a b e r S . l l l .

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Ereignisse nicht n u r berichtet, sondern k o m m e n t i e r t u n d ein U r t e i l über i h m wichtige P e r s o n e n 1 0 0 wie e t w a Abaelard ( G F 1 , 5 0 ff.) o d e r Gilbert v o n P o r r e e ( G F 1 , 5 3 ff.) fällt. N i c h t zufällig greift O t t o mit seinen Urteilen gerade auch in die geistigen Auseinandersetzungen ein, denn er schreibt G e s c h i c h t e z w a r v o r seinem gesellschaftlichen aber, v o n seinen eigenen Intentionen her, k a u m als

Hintergrund, Reichsbischof,

sondern in erster Linie als Gelehrter.

b ) O t t o als Gelehrter O t t o s H i s t o r i o g r a p h i e ist ein E r z e u g n i s seiner Bildung, u n d sie w e n d e t sich ihrerseits an die Gebildeten. Der Bischof sieht seinen Leserkreis auf diejenigen beschränkt, die eine Schulbildung genossen haben, denn er setzt die Fabel von Dädalus, die zum Schulstoff gehört, als bekannt voraus (Chr. 1,21). Eine Abschrift der Jenaer Handschrift, die den bekannten Bilderzyklus aufweist 101 , fügt am Ende des 7. Buchs die Bemerkung an, daß das Bild (hier: de gloria celesti et penis infemi) verzichtbar sei, da es dem Verständnis der Laien, nicht aber der Gebildeten diene, die den Text lesen und damit die Aussagen quasi in specttlo de utraque civitati verstehen könnten (Chr. S. 374,19 ff) 1 0 2 . Wenn Otto seine beiden Werke dem Kaiser widmet, dann nimmt dieser gewissermaßen eine Sonderstellung ein; bezeichnend ist dennoch die Bitte des Geschichtsschreibers an die Kapläne Friedrichs, das Passende herauszusuchen 103 . Auch der Herrscher erfährt den Stoff also erst durch die Vermittlung der Geistlichen.

100 Personen sind ihm überhaupt wichtig; vgl. Μ i e r ο w, Bishop Otto S. 396 und,S. 401; zu seiner Kunst der Personenschilderung vgl. Hildebrand T r o l l , Persönlichkeitsschilderungen in der historischen Literatur der Stauferzeit, Diss. München 1948, S. 72 ff. Ottos Urteile über Personen berichtigen die Ansicht von Marie S c h u l z , Die Lehre von der historischen Methode bei den Geschichtsschreibern des Mittelalters (VI.-XIII. Jahrhundert) (Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 13), Berlin-Leipzig 1909, S. 64, Otto empfinde geradezu eine Scheu vor Urteilen. 101 Dazu Walter S c h e i d i g , Der Miniaturenzyklus zur Weltchronik Ottos von Freising im Codex Jenensis Bose q.6, Straßburg 1928, und L a m m e r s , Geschichtsbild. 102 Diese Kennzeichnung ist üblich und wird im 13.Jahrhundert vor allem von Durandus vertreten; vgl. Horst A p p u h n , Einführung in die Ikonographie der mittelalterlichen Kunst in Deutschland, Darmstadt 1979, S. 9. 103 Die Hofkleriker sollen auswählen, was für Friedrich bestimmt ist (GF1,71 S. 280,15 ff.): Hec et alia, augustorum mvictissime, excellentie tue scribuntur, quedam tibi ut tibi, quedam tibi, sed non ut tibi, que acutus clericorum tuorum discemere debebit oculus.

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

39

Nach einer Nachricht der Klosterneuburger Annalen hat Otto (wohl seit 1126/27) in Paris studiert104. Seine geistige Beziehung zur französischen F r ü h s c h o l a s t i k ist unverkennbar, wenngleich sich nur schwer direkte Abhängigkeiten nachweisen lassen. Um die Zugehörigkeit Ottos zu einer der führenden „Schulen" dieser Zeit haben schon Bernheim (S. 3) und Hashagen (S. 10 ff.) gerungen; einmal suchte man seine Haltung in der Universalienfrage festzustellen105, zum andern arbeitete man die Anklänge an die verschiedenen Domschulen Frankreichs heraus und betonte Beziehungen vor allem zu St. Viktor in Paris und zu Chartres 106 . In Paris erwarb sich Otto die Bildung seiner Zeit, das Wissen um die antiken Autoren, die in den Geschichtswerken oft ausführlich zitiert werden, und die Grammatik, seine Sprachfertigkeit und seine Kenntnisse in der Bibel und in der patristischen Literatur 1 0 7 . Eine persönliche Bekanntschaft mit den großen Gelehrten, Hugo von St. Viktor , Gilbert und Thierry von Chartres oder Abaelard, bleibt unbewiesen oder gilt - wie im Falle Abaelards - geradezu als

104 Ann. Mellicenses Cont. ClaustroneoburgensisI, MG SS9, S.610, 23ff.; dazu H o f m e i s t e r , S. 124ff. (über die Studiengenossen ebda. S.139ff.); G l a s e r S. 19ff.; G r i l l , Bildung S. 285 ff.; Η a i d (Bd. 44) S. 91 ff.; Β r e ζ ζ i, Ottone S. 188 ff. 105 Η a s h a g e η S. 11 f. zählt Otto zu den gemäßigten Realisten (Universalien haben eine reale, aber nur in den Individuen real werdende Existenz). B e r n h e i m S . 13 stellt bei Otto eine vermittelnde Haltung eher in dem Sinn fest, daß der Bischof bald der einen, bald der anderen Richtung den Vorzug gibt. In die gängige Typologie des Universalienstreits läßt der Bischof sich jedenfalls nur schwer einordnen (vgl. dazu unten S. 220). 106 Zum Einfluß von Chartres im 12.Jahrhundert vgl. Winthrop Wetherbee, Platonism and Poetry in the Twelfth Century. The Literary Influence of the School of Chartres, Princeton/New Jersey 1972. 107 Darüber ausführlich H o f m e i s t e r S.681 ff. (zur Sprachenkenntnis), 701 ff. (zur philosophischen Literatur), 708 ff. und 722 ff. (zur patristischen Literatur), 719 ff. (zur Bibel) und 727 ff. (zu antiken Schriftstellern); danach H a i d (Bd. 44) S. 98 ff. und Β r e ζ ζ i, Ottone S. 316 ff. Zur Benutzung Lucans, der auch Ottos Geschichtsbild beeinflußt hat, vgl. jetzt Peter v o n M o o s , Lucans tragedia im Hochmittelalter. Pessimismus, contemptus mundi und Gegenwartserfahrung (Otto von Freising, ,Vita Heinrici IV', Johann von Salisbury, Mittellateinisches Jahrbuch 14, 1979, S. 127-86. - Einen Überblick über das Schulwesen dieser Zeit in Frankreich gibt Johannes von Salisbury in seinem Metalogicon; vgl. darüber G u t h S.23ff. 108 Oft nimmt man (wie F e 11 η e r S. 165) als selbstverständlich an, daß Otto in Paris bei Hugo von St. Viktor Studien hat, doch quellenmäßig belegt sind eben nur seine Pariser Studienjahre; vgl. H o f m e i s t e r S . 6 4 6 f f . und 652ff.

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

ausgeschlossen 109 . Erwiesen ist dagegen die Kenntnis ihrer Schriften 110 , die sich in seinen Berichten und Zitaten in der Chronik, vor allem aber in den Gesta widerspiegelt 111 ; mehrmals nimmt Otto auch zu ihren Lehren Stellung 112 . Nach Grill, Bildung S. 293 ff., blieb Ottos Frankreichaufenthalt nicht auf Paris beschränkt, sondern erstreckte sich auf Chartres und Schloß auch eine Wallfahrt nach St. Gilles (Chr. 3,12 und 4,21) 1 1 3 , sicher über Clairvaux, ein; außerdem lassen sich Beziehungen zu Reims (Alberich; Primas) erkennen. Immer wieder hat man vor allem die in den Gesta Frederici sichtbar werdende Gleichartigkeit der Gedanken Ottos und Gilberts von Porree herausgestellt 114 ; andererseits haben Schmidlin 115 und danach Fellner (S. 166) aber auch die Unterschiede zwischen den beiden Denkern, ja geradezu einen Gegensatz in der Trinitätsfrage konstatiert: O t t o folgt offenbar dem Lehrer von Chartres und Bischof von Poitiers dort nicht mehr, wo dieser bei der Anwendung scholastischer Methoden auf die Theologie in die Gefahr der Häresie gerät (Otto berichtet ja ausführlich über die Häresieprozesse) 116 , während er ihm im übrigen zweifellos recht nahe steht (vgl. unten S. 111 ff.).

109 Vgl. H o f m e i s t e r S.149-61, danach H a i d (Bd.44) S.94ff.; B r e z z i , Ottone S.273ff.; zu Hugo auch Max Β ü d i n g e r , Die Entstehung des 8. Buches Otto's von Freising, eine universalhistorische Studie, (Sbb. phil.-hist. Kl. d. kaiserl. Ak. d. Wiss. 98), Wien 1881, S.340f.), und G r i l l , Bildung S.285ff.; zu Gilbert H o f m e i s t e r S.640ff., GrillS.292f.,zuThierry H o f m e i s t e r S . 671 ff., G r i l l S.300, zu Abaelard Η o f m e i s t e r S.635ff., G r i l l S.289. 110 Zu den Boethiuskommentaren Gilberts vgl. H o f m e i s t e r S . 707; zum Dionysiuskommentar Hugos B ü d i n g e r S . 362 ff. und H a s h a g e n S . 1 7 f f . ; zur Summa sententiarum H o f m e i s t e r S.649ff. 111 Darüber G l a s e r S . 21 f. 112 Gegen Hugo vgl. Chr. 4,18 (S.205,11 ff.); vgl. H o f m e i s t e r S.650f.; gegen Abaelard GF 1,50; für Gilbert GF 1,55. 113 Vgl. auch H o f m e i s t e r S . 139. 114 B e r n h e i m S.7f{. hatte eine völlige Ubereinstimmung angenommen; vgl. H o f m e i s t e r S.643; differenzierend jetzt K o c h , bes. S.343ff. Zu Gilbertglossen in Klosterneuburg vgl. Peter C l a s s e n , Zur Geschichte der Frühscholastik in Österreich und Bayern, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 67, 1959, S. 273 ff. 115 Josef S c h m i d l i n , Die Philosophie Ottos von Freising, Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 18,1905, S.313ff. und 407ff.; D e r s . , Bischof Otto von Freising als Theologe, Katholik 85, 1905, S. 107 ff. 116 Vgl. M o r r i s o n S.229ff. Uber die Prozesse gegen Gilbert vgl. Nikolaus M. H a r i n g , The Case of Gilbert de la Porree Bishop of Poitiers (1142-1154), Mediaeval Studies 13,1951, S. 1-40; D e r s . , San Bernardo e Gilberto vescovo di Poitiers, in: Studisus. Bernardo di Chiaravalle nell'ottavo centenario della canonizzazione, Rom 1975, S. 75-91; Suitbert G a m m e r s b a c h , Gilbert von Poitiers und seine Prozesse im Urteil der Zeitgenossen (Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung 5), Köln-Graz 1959; H. C. ν a η Ε1 s w i j k, Gilbert Porreta. Sa vie, son oeuvre, sa pensee, Leuveq 1966, S. 75 ff.; zum Bericht des Johannes von Salisbury G u t h S.83ff. - Zur Einordnung in die theologischen Prozesse der Zeit vgl. Jürgen M i e t h k e , Theologenprozesse in der ersten

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

41

Auch mit anderen Gelehrten seiner Zeit blieb Otto in Verbindung, vor allem mit Gerhoh von Reichersberg117, mit dessen Ansicht in der Regalienfrage und bezüglich der Philosophie Gilberts Otto freilich nicht übereinstimmte . Mit Verwunderung hat man sodann immer wieder festgestellt, daß sich kaum engere Beziehungen des Zisterziensers Otto zu Bernhard von Clairvaux erkennen lassen119, und das auf Ottos Neigung zur rationalen Philosophie, in der Bernhard eine Gefahr für die Kirche sah, zurückführen wollen120. Sicher aber geht es zu weit, eine regelrechte Entfremdung zwischen diesen beiden Persönlichkeiten, die immerhin mehrmals zusammentrafen, anzunehmen, und Haid (Bd. 45, S. 261 ff.) hebt bei seinem Uberblick, der die unterschiedlichen Charaktere herausstellen soll121, das zisterziensische Ideal als entscheidende Gemeinsamkeit hervor. Bernhards Verhältnis zur Philosophie ist sicher auch differenzierter zu sehen, als es lange Zeit geschehen ist122; Otto selbst bescheinigt dem Abt von Clairvaux schließlich durchaus sciential sein zwiespältiges Urteil123, das Bernhard als

Phase ihrer institutionellen Ausbildung: Die Verfahren gegen Peter Abaelard und Gilbert von Poitiers, Viator6, 1975, S. 87-116 (zu Gilbert S. 102 ff.). 117 Vgl. Β ü d i n g e r S.341 ff. 118 Uber den Streit um Gilberts Philosophie und den Gilbertschüler Petrus in Wien vgl. G r i l l , Bildung S.321 ff.; C l a s s e n , Gerhoch von Reichersberg S. 162ff.; Heinrich F i c h t e n a u , Magister Petrus von Wien (f 1183), Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 63,1955, S. 283-97. Vgl. auch Nikolaus Μ. Η ä r i η g, Die Zwettler Summe (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N.F.15), Münster 1977, S.2ff.; zum Streit zwischen Petrus und Gerhoh ebda. S. 10 f. Vor diesem konkreten Hintergrund ist auch Ottos Rechtfertigungskapitel für Gilbert (GF 1,55) zu sehen. Otto sorgte wohl für die Anstellung des Petrus von Poitiers in Wien. 119 Vgl. bereits B ü d i n g e r S.336ff. und H o f m e i s t e r S.752ff. 120 Vgl. B e r n h e i m S.lOf.; maßvoller H o f m e i s t e r S.754f.; vgl. auch Robert F ο 1 z, Otton de Freising, temoin de quelques controverses intellectuelles de son temps, Bulletin de la Societe historique et archeologique de Langres 13,1957, S. 85 ff. - Zur Lehre Bernhards vgl. Elisabeth G ö s s m a n n , Glaube und Gotteserkenntnis im Mittelalter (Handbuch der Dogmengeschichte I, 2b), Freiburg-Basel-Wien 1971, S. 19 ff. 121 Vgl. auch H o f m e i s t e r S.765 und B r e z z i , Ottone S.194f. 122 Vgl. Walter B e t z e n d ö r f e r , Glauben und Wissen bei den großen Denkern des Mittelalters. Ein Beitrag zur Geschichte des Zentralproblems der Scholastik, Gotha 1931, S. 65 ff. Zur theologischen Leistung und Nachwirkung Bernhards vgl. Arthur Michael L a n d g r a f , Der heilige Bernhard von Clairvaux in seinem Verhältnis zur Theologie des 12.Jahrhunderts, in: Bernhard von Clairvaux. Mönch und Mystiker. Internationaler Bernhardkongreß Mainz 1953, hg. Joseph L o r t z , Wiesbaden 1955, S.44-62, der Bernhards Eingriffe rechtfertigen will; zu seiner spezifischen Auffassung von Wissen und Wissenschaft vgl. Erich K l e i n e i d a m , Wissen, Wissenschaft, Theologie bei Bernhard von Clairvaux, ebda. S. 128-67. 123 Vgl. G a m m e r s b a c h S. 136: Otto schrieb in einer Spannung zwischen seiner Zuneigung zu Gilbert und seiner Hochachtung gegenüber Bernhard.

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Ankläger gegen Abaelard und Gilbert kritisiert 124 , als Kreuzzugsprediger aber rundherum lobt 1 2 5 , ist bezeichnend für die Stellungnahmen des Bischofs, die von den jeweiligen Umständen beeinflußt sind. O t t o s B i n d u n g e n an die Schule v o n C h a r t r e s zeigen sich nicht zuletzt in der H o c h s c h ä t z u n g der antiken u n d besonders der aristotelischen Philosophie. N i c h t zufällig behandelt der B i s c h o f in seiner C h r o n i k die W e r k e Piatos u n d Aristoteles' r e c h t ausführlich ( C h r . 2 , 8 ) ; die A n e r k e n nung der aristotelischen L o g i k als Quelle der Wahrheitserkenntnis solum ad cognoscendae

veritatis,

sed ad vitandae

falsitatis

scienttam)

(non (S.

7 6 , 9 f.) weist ihn als V e r t r e t e r der beginnenden Aristotelesrezeption aus, die als ein entscheidendes K e n n z e i c h e n der Scholastik gilt. Otto führt als erster das erst 1128 von Iakob von Venedig aus dem Griechischen ins Latein übersetzte Organon (Topik, Elenchik und die beiden Analytiken) des Aristoteles, das er vielleicht schon in Paris kennengelernt hat, in Deutschland ein 1 2 6 . Er feiert den griechischen Philosophen vor allem als den Begründer einer schulmäßigen Logik, die in sechs Lehrinhalten über die Begriffe (de simplkibus terminis), Sätze (de propositionibus), Satzverknüpfungen (de complexione propositionum), vor allem die beweiskräftige syllogistische Methode (de methodis, id est via sillogizandi), den zwingenden Schluß (de demonstrationis necessitate) und die Vermeidung von Fehlschlüssen (de cautela sophisticarum fallaciarum) zum vollkommenen Philosophen erzieht (Chr. 2 , 8 - S . 76,3 ff.).

124 GF 1,50 (S. 224,13 ff.): Erat enimpredictus abbas tarn ex Christiane religionisfervore zelotipus quam ex babitudinali mansuetudine quodammodo credulus. - Diese Leichtgläubigkeit spielt nach F e l l n e r S. 165 auf Bernhards Gegnerschaft gegen die Säkularwissenschaften an; S c h m i d 1 i n, Theologe S. 88 f., wertet sie andererseits als Entschuldigung für Bernhard. - Der möglicherweise ironische Kommentar zum Ausgang des 2. Kreuzzugs, der Geist des Propheten weile nicht immer bei dem Propheten (vgl. S c h m a l e , GFS.271 Anm. 75), muß sich nicht auf Bernhard beziehen; nach den Erklärungen von Μ ο h r S. 291 könnte man denken, Otto spiele hier vielmehr auf die in Frankreich entstandene Prophezeiung des Pilgergottes an. 125 GF 1,36 (S. 200,13 ff.): Erat in illo tempore in Gallia cenobii Clarevallensis abbas quidam Bemardus dictus, vita et moribus venerabilis, religionis ordine conspicuus, sapientia litterarumque sdentia preditus, signis et miraculis clarus. Vgl. H o f m e i s t e r S . 752ff. 126 Darüber ausführlich G r a b m a n n , Scholastische Methode Bd.2, S.68ff.; vgl. auch H o f m e i s t e r S . 654 ff., der - neben den Lehrern in Chartres - in Adam von Petit-Pont in dieser Hinsicht eines der Vorbilder Ottos vermutet. Nach H o f m e i s t e r S . 676 ff. hat Otto das Kapitel über die antike Philosophie, das in der Handschriftenklasse C fehlt, erst nach 1149, vielleicht für Reinald von Dassel, eingefügt; vgl. auch S c h m i d l i n , Philosophie S. 160ff. Zu Jakob von Venedig vgl. L. M i n i o - P a l u e l l o , Iacobus Veneticus Grecus: Canonist and Translator of Aristotle, Traditio 8, 1952, S. 265-304.

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

43

Otto erkennt also - ähnlich wie Hugo von St. Viktor - den Wissenschaftswert der Logik voll an 127 : Sie hilft, das richtige Wissen (auch im theologischen Bereich) zu erwerben und das falsche zu vermeiden und ist damit gerade auch für den Geschichtsschreiber unentbehrlich 128 . Bis auf die Gnade Christi haben die antiken Philosophen bereits alles erkannt, was die humana ratio über die divina natura erforschen kann (S. 78,3 ff.). Die Wertschätzung der Philosophie und die Beziehung zur französischen Frühscholastik, deren dialektische Methoden Otto selbst in den Prologen und im 8. Buch der Chronik anwendet, um widersprüchliche Aussagen der Autoritäten abzugleichen 129 , gliedern das Werk des Bischofs von Freising in jene, sich seit dem 11. Jahrhundert ausbreitende Tendenz ein, die Welt und den Glauben mit vernunftgemäßen Methoden und Argumenten zu erfassen 130 , eine Geisteshaltung, für die Anselm von Canterburys/iWe5 quaerens intellectum geradezu zum Schlagwort geworden ist131. Die ratio spielt im Denken Ottos folglich eine gewichtige Rolle. Sie ist, wie wir (unten S. 162 f.) noch sehen werden, als eine von Gott dem Menschen als „rationalem Wesen" verliehene Eigenschaft eng in den heilsgeschichtlichen Ablauf einbezogen: Die Vernunft ist ein Mittel, ist Voraussetzung der Wahrheitserkenntnis (Chr. prol. 3), weil sie hilft, das göttliche Wesen und den göttlichen Willen, wenngleich nur auf menschliche Weise (unten S. 83 ff.), zu erfassen. Eben zu diesem Zweck ist der Mensch mit Vernunft begabt, und er hat somit teil an der ewigen Weisheit (participatione sapientiae sapiens - unten Anm. 11/80). Ratio und sapientia gehören für Otto eng zusammen (Chr. 7 prol.); immer wieder wendet sich der Bischof mit seinen historischen Urteilen an den Weisen (sapiens), der diese Vernunft besitzt 132 .

127 Daraus erklärt sich auch die Auswahl der Textstellen aus Aristoteles, so daß man nicht wie S c h m i d l i n , Philosophie S. 170 f., ein versehentliches Abschreiben annehmen muß; gegen S c h m i d l i n bereits H o f m e i s t e r S.675ff. 128 Vgl. unten S. 52 ff. 129 Vgl. S p ö r l , Weltbild S. 11; G l a s e r S.22; bereits H a s h a g e n S.13. 130 Im Prolog zum 1. Buch, sagt G1 a s e r S. 37, schildert Otto sein eigenes Bemühen um Erkenntnis. l}1 Darüber Wolfram v o n d e n S t e i n e n , Vom heiligen Geist des Mittelalters, Breslau 1926 (ND. Darmstadt 1968), S.21 ff. 132 Vgl. S t a u d i n g e r S . 7. Dem widerspricht nicht, daß der sapiens auch der Befolger christlicher Lebensweisheit ist (so K l i n k e n b e r g S.65f.), da diese mit der Vernunft übereinstimmt; „Weisheit" ist mit „Tugend" verbunden (vgl. S. 163 f.). - Zum Komplex der

44

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Die ratio bildet das verstandesmäßig Erfahrbare unter Ausschöpfung der allegorischen Bedeutungen von Bibel und Geschichte 133 : sie läßt erkennen (videre), was man bisher nur glauben konnte 134 . Otto bedient sich der Möglichkeiten der neuen Methode 135 ; daß Gott zum Beispiel einst drei Jünglinge im Feuer unversehrt ließ (Chr. 8,24 - S. 430,8 ff. über Daniel 3,23 ff.) oder daß Moses einen brennenden Dornbusch sehen konnte (Chr. 8,25 - S. 430,26 ff. über Ex. 3,2), deutet an, daß es auch in der Hölle mildere Strafen geben wird, da offensichtlich nicht jedes Feuer eine vernichtende Wirkung hat. Mit seinem Ziel einer vernunftgemäßen Auslegung der Uberlieferung zugunsten des Glaubens und zugunsten der Tugend (Chr. prol. 1 - unten S. 161) 136 bewegt sich Otto durchaus im Rahmen der Frühscholastik, der es noch nicht, wie man früher glaubte, um eine „Verweltlichung der Wissenschaft", sondern um eine rationale Erfassung der Glaubenswahrheiten ging137. Auctoritas und ratio ergänzen einander und sind aufeinander angewiesen (Chr. prol. 8 - S. 392,9 ff.) 138 . Durch ein ständiges Aufbauen auf der Tradition wird mit Hilfe der ratio ein stetiger Erkenntnisfortschritt erreicht (Chr. 5 prol. - unten S. 134). Kennzeichnend für den Bischof von Freising ist nun, daß er die „rationale" Methode - und deshalb ist überhaupt nur so häufig von der Vernunft die Rede - gerade auf die Geschichte anwendet139. ratio bei Otto von Freising im einzelnen vgl. Hans-Werner G o e t z , Ratio und Fides. Scholastische Philosophie und Theologie im Denken Ottos von Freising, Theologie und Philosophie56, 1981, S.232-43. 133 Auch scholastische und exegetische Methode (vgl. unten S. 80 ff.) bilden also keinen Gegensatz, sondern fließen gewissermaßen in der Funktion der ratio zusammen. 134 Damit rückt Otto ganz nah an Anselm von Canterbury heran. Vgl. Müller, Theologie S. 14, der (S. 8) auch die Nähe zu Augustin hervorhebt. 135 Vgl. S t a u d i n g e r S . 9. Trotz aller Grenzen menschlicher Fassungskraft stellt Otto Fragen und sucht, soweit er es kann, eine Erklärung zu geben. 136 Vgl. K l i n k e n b e r g S . 6 6 f f . 137 Vgl. bereits S c h m i d l i n , Theologe S.92ff. und vor allem G r a b m a n n Bd. 1, S. 36 f. (die scholastische Methode besteht in der Anwendung der Vernunft auf die Offenbarungswahrheiten, um Einblick in die Glaubensinhalte zu gewinnen); zur Geschichte des Verhältnisses von Glauben und rationaler Gotteserkenntnis vgl. G ö s s m a n n (wie Anm. 1/120) und Roger B a r o n , Science et Sagesse chez Hugues de Saint-Victor, Paris 1957, S. 1 ff. 138 Vgl. S t a u d i n g e r S. 10, zu den „Quellen des Glaubens" nach Chr.8,11 (S.406,19ff.), also wieder der Tradition (es handelt sich um Evangelisten und Apostel, die Lehrer des Neuen Testaments und die Väter des Alten Testaments). 159 Alois D e m ρ f, Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, München-Berlin 1929 (ND. Darmstadt 1962), S. 251,

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

45

Im Gegensatz zu manchen, von ihm selbst kritisierten Scholastikern wie Abaelard hält Otto sich jedoch frei von einer Überschätzung der neuen Methode, die auf die Tradition angewiesen bleibt. Wo die Überlieferung fehlt, wie bei der Vorstellung eines Purgatoriums zur Reinigung besserungsfähiger Sünder nach dem Jüngsten Gericht, verzichtet Otto auf eine Auslegung 140 . Er bleibt sich der Grenzen der Vernunft durchaus bewußt: Einmal darf Erkenntnis nicht zur Überheblichkeit führen, weil alles Wissen allein aus der Gnade Gottes stammt (Chr. 3 prol. - unten S. 107); zum andern ist die Erkenntniskraft der Vernunft als einer menschlichen Eigenschaft in bezug auf das Göttliche beschränkt (unten S. 84 f.); vor allem aber setzt deshalb der Glaube der philosophischen Logik feste Grenzen: Nur die fides, nicht aber die ratio vermag das Wesen des Göttlichen zu erfassen 141 . Der Glaube steht folglich über der Vernunft und enthält sogar Elemente, die dieser widersprechen wie die jungfräuliche Geburt, das Abendmahl, die Anbetung des Gekreuzigten oder die menschliche Natur Christi 142 . Die ratio soll die Glaubenssätze nach ihren Kräften erklären, darf sie aber nicht umstürzen, indem sie sich als Methode verselbständigt und über den Wahrheitsgehalt der Offenbarung stellt, denn hier würde sie der Möglichkeit zum Mißbrauch erliegen. Bezeichnenderweise sucht Ottos Antichrist die Weisen gerade mit rationalen Argumenten zu verführen (vgl. unten S. 171 f.), denn die sapientes schweben in der Gefahr, im

definiert Historie bei Otto als die Anwendung der scholastischen Methode auf die Geschichte durch Überprüfung gegebener Überlieferungsstellen auf ihren Autoritätsgrad und unter Eruierung einer eigenen Meinung. - Die Grundlage dafür bildet die Überzeugung, daß alle Geschichte göttliche Offenbarung ist (darüber unten S. 64 ff.). 140 Chr. 8,24 (S. 430,14ff.): Cuius tarnen rei assertionem, quia in certa nondum auctoritate invenimus, Deiiudicio relinquamus. Bereits H o f m e i s t e r S . 764 stellt fest, in schwierigen Fragen folge Otto letztlich der Autorität. 141 Vgl. F ο 1 z, Temoin S. 73. - Otto nähert sich damit den Gedanken Hugos von St. Viktor, der allerdings umgekehrt argumentiert: Die Grenzen menschlicher Erkenntnis bedeuten noch keine Machtlosigkeit der Vernunft; vgl. B a r o n , Science S. 10ff. Auch bei Hugo steht die Vernunft aber im Dienst des Glaubens (ebda. S. 28 ff.). 142 Chr. 8,4 (S. 397,28 ff.): Humanae rationi contraria, ut partum virginis, sacramentum altaris, adorare crucifixum, bominem credere Deum et cetera huiusmodi. - Die Ansicht, nur der Glaube erschließe Phänomene wie Jungfrauengeburt und Auferstehung Christi, findet sich bereits bei Manegold von Lautenbach, Liber contra Wolfelmum Kap. 22 (ed. Wilfried H a r t m a n n , MG Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters8, 1972, S.95ff.); vgl. B e t z e n d ö r f e r S.28f.

46

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Vertrauen auf ihre vernünftigen Erkenntnisse den Glauben zu leugnen143! Die humana ratio findet ihre Grenzen also in den orthodoxen Glaubensinhalten des Christentums144. Otto unterscheidet zwischen weltlicher Wissenschaft und Theologie 145 : Dort w o die Erkenntnisse aus der Philosophie wie bei Abaelard auf die Glaubenswahrheiten der Theologie übertragen werden, gerät diese zumindest in die Gefahr der Häresie 146 , weil Gott letztlich eben doch nicht verstandesmäßig erfaßbar ist; deshalb fordert Otto Demut gerade bei rationalen Überlegungen .

Der Bischof selbst bleibt bei aller Bejahung der Vernunft als Erkenntnisquelle fest auf dem Boden der katholischen Lehre148. Innerhalb dieser Grenzen aber liegt genügend Spielraum für die menschliche ratio, denn innerhalb der Glaubenswahrheiten gibt es oft mehrere Verständnismöglichkeiten, die Otto auch ausschöpft (vgl. Chr. 8,23), die aber Spekulationen bleiben. Häufig zitiert er deshalb mehrere Meinungen, ohne sich eindeutig festzulegen; am Schluß des gesamten Werks betont er noch einmal, daß manches nicht als (unumstößliche) assertio, sondern als bloße opinio et investigatio, als seine subjektive Forschungsmeinung, der letztlich die Wahrheitsbestätigung fehlt, und daher nicht als fester Glaubenssatz vorgetragen wurde und daß den Lesern das letzte

143 Chr. 8,4 (S. 398,8 ff.): Illi quippe, qui humanam rationem sequentes de rerum causis philosophantur, facilius rationibus et argumentis ad hoc, utfidem negent inducuntur, quam ad hocfaciendum minis deterreantur, delectationibus seculi alliciantur. - Vgl. F ο 1 z, Temoin S. 73. 144 Wenn die griechischen Philosophen also bereits fast alles erforscht haben, was die menschliche Vernunft über die göttliche Natur erkennen kann (oben S. 43), so hat ihnen doch gerade das Wichtigste, nämlich der Glaube, gefehlt. 145 GF 1,50 (S.226,11 ff.): Sententiam ergo vocum seu nominum in naturali tenens facultate non caute theologie admiscuit. - Vgl. S c h m i d l i n , Theologe S.97ff.; F o l z , Τέηιοίη S. 73. 146 Otto selbst hat die Anfälligkeit von Gelehrten wie Abaelard oder auch Gilbert gegenüber ihrer eigenen Logik erlebt (vgl. unten S. 112 f.) und distanziert sich von ihren Übergriffen; vgl. F e l l n e r S.165f.; M ü l l e r , Theologie S. 11; F o l z , Temoin S.77ff.; S c h m i d l i n , Theologe S. 83 ff. Übrigens vertraute auch der im Mittelalter umstrittene griechische Kirchenvater Origines nach Otto (Chr. 3,27 - S. 168,22 ff.) zu sehr auf die weltliche ratio. 147 Vgl. S t a u d i n g e r S . 12f. und M ü l l e r , Theologie S. 11 f.: Der Mangel an Demut ist die Quelle des Irrtums. - F o l z , Temoin S. 87, nennt Otto (als Fazit seines Überblicks) klüger als Gilbert und Abaelard, weil er den Irrtum der Wissenschaft einkalkuliert; F o l z siedelt ihn in der Mitte zwischen jenen Gelehrten und Bernhard von Clairvaux an. 148 Das zu zeigen, war die Absicht S c h m i d 1 ί η s (Theologe S. 98 ff.).

1.1. Der gesellschaftliche und geistige Hintergrund

47

Urteil bleibt 149 : Sie sollen das Werk ergänzen oder verbessern und Uberflüssiges streichen. Im Zweifelsfall begnügt Otto sich mit der Bereitstellung des Materials. Rahewin berichtet, noch im Tode habe Otto gebeten, aus seinem Werk auszulöschen, was sich (etwa zur Verteidigung Gilberts) zu weit vorgewagt habe 150 . Bibelauslegung mit Hilfe der ratio ist eben ein Forschen um die Wahrheit, die man doch nicht ganz erreichen kann. Ottos spezifisches Verhältnis zur Scholastik erklärt zumindest zwei immer wieder beobachtete Grundzüge seines Denkens: die auf der Wertschätzung der ratio beruhende Bemühung um immer tiefere Wahrheitserkenntnis und die vom Bewußtsein menschlicher Schwäche getragene Offenheit und Vorsicht, das Bemühen, nirgendwo in ein Extrem zu verfallen. Mit der Suche nach der Wahrheit aber gliedert sich Ottos „Rationismus" in die Wertvorstellungen des Zeitalters ein: Rationales Denken erhält ebenso wie die gesamte Geschichtsschreibung ein theologisches Ziel in der Erkenntnis der (einzigen) göttlichen Wahrheit. Otto bleibt als Gelehrter in erster Linie der rechtgläubige Theologe, eine Tatsache, die für die Eigenart seiner Geschichtsschreibung noch eine bedeutende Rolle spielen wird. Ψ

Die p e r s ö n l i c h e n G r u n d l a g e n d e r H i s t o r i o g r a p h i e Ottos von Freising sind vielfältig und kompliziert und vielfach mit seinem Lebenslauf verbunden. Rahewin hat Otto einen würdigen, gewiß am Idealbild des Bischofs orientierten, aber dennoch lebensnahen Nachruf (in Prosa und als Versepitaph) gewidmet (GF 4,14)151, in dem er

149 Chr. 8,35 (S. 457,7ff.): Nam ut supra de Augustino dixi, nonnulla ibi non sub assertione, sed opinione et investigatione posita sunt, finitivaeque sententiae examen prudentioribus relictum. - Vgl. S c h m i d 1 i n, Theologe S. 95 f. - Mit dem Leser ist zunächst der Adressat Isangrim gemeint. 150 GF 4,14 (S. 542,2 ff.): Ibi per aliquot dies lecto cubans et iam de obitu suo nequaquam dubius, dum sacro liquore ölet, sicut moris est, perunctus fuisset et de pecunia sua laudabili testamento ordinasset, inter cetera, que sollidtus de salute sua previdebat, etiam hunc codicem manibus suis offerri precepit eumque litteratis et religiosis viris tradidit, ut, si quid pro sententia magistri Güeberti, ut patet in prioribus, dixisse visus esset, quod quempiam posset offendere, ad ipsorum arbitrium corrigeretur, seque catholice fidei assertorem iuxta sancte Romane, immo et universalis ecclesie regulam professus est. - Vgl. G l a s e r S.38, S t a u d i n g e r S. 13f. und G r i l l , Bildung S.332. 151 Eine ausführliche Interpretation dieses Nachrufs bietet S p ö r l , Weltbild S. 1-13.

48

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Ottos Vorzüge, seine Abstammung, seine staatsmännischen Tugenden wie die weltmännische Klugheit und Standhaftigkeit, sein Harmoniebestreben und seinen vorbehaltlosen Dienst am Reich, vor allem aber seine Verdienste als Bischof und Gelehrter hervorhebt. Ottos Persönlichkeit wird in seinem Geschichtswerk greifbar. Seine Geschichtsschreibung ist ohne jeden Zweifel tendenziös, sie ist aus seiner Stellung als adliger Reichsfürst erwachsen und in Form und Absicht von seinen zeitgebundenen Interessen, die sich an seinen Kommentaren ablesen lassen, geprägt, und sie will in diesem Sinne Einfluß nehmen, ist zugleich aber durch die gelehrte Suche nach der Wahrheit bestimmt. Es sind verschiedene Tendenzen, die im Werk des Freisinger Bischofs zusammentreffen. Die Frage, ob Otto eher als Reichsfürst (so Spörl) oder eher als Mönch (so Hartings S. 11 f.) Geschichte schreibt, läßt sich ebensowenig alternativ beantworten wie die Frage, ob er der mönchischen Tradition verhaftet bleibt oder sie durch die scholastische Denkweise überwindet oder worauf noch einzugehen ist - ob er mehr Philosoph als Theologe ist: In Otto, dem adligen Mönch und gebildeten Weltgeistlichen, vereinigen sich diese Tendenzen zu einem harmonischen, alle Gegensätze ausgleichenden Charakter, und vor allem dieser Wesenszug bestimmt auch seine Geschichtsschreibung. Otto, sagt Spörl, Weltbild S. 11, gliedert sich ein in jene Gelehrtenreihe, die eine Symbiose der Geisteswissenschaften auf dem Fundament eines theologischreligiös geformten Weltbildes erarbeiteten. Er verbindet dialektische Gedankenführung (Schule von St. Viktor) mit der sachgerechten und begriffsklaren Interpretation der Tradition (Schule von Chartres) und knüpft beides an das symbolistische Begreifen des geschichtlichen Seins nach der Art Hugos von St.

Viktor an. Er ist, wie Glaser (S.22) es ausdrückt, ebenso eingeweiht in die

aristotelisch-logische wie in die scholastische und die exegetisch-historische Methode. Otto ist nicht, wie man nach Staudinger aus den Worten Hofmeisters schließen müßte, mit sich selbst in Zwietracht, sondern er besitzt, wie Staudinger (S. 15) korrigiert, „die Weite, die ganze Fülle der Wirklichkeit auf sich einströmen zu lassen, ohne selbst in ihr aufgelöst zu werden und unterzugehen". Sein Ziel ist die Harmonisierung aller Methoden, und er bleibt stets um Ausgleich zwischen den verschiedenen geistigen und politischen Strömungen seiner Zeit bemüht 152 .

Die verschiedenen, harmonisierten Tendenzen sind bei einer Interpretation des Geschichtswerks zu berücksichtigen, ob sie nun einfach dem 152

So S t a b e r, Eschatologie S. 111.

1.2. Otto in den Traditionen der Historiographie

49

lebensgeschichtlichen Horizont Ottos oder seiner bewußten Absicht der Einflußnahme entspringen, und sie bilden ein ausdrucksvolles Moment der ottonischen Vorstellungen; Herkunft, Bildung, Zisterziensertum und Bischofstätigkeit hinterlassen deutliche Spuren auch in der Historiographie Ottos, die ihrerseits in festen Traditionen steht und ebenfalls eine Grundlage seines Geschichtsbildes darstellt.

2.

O t t o in d e n T r a d i t i o n e n d e r

Historiographie

Ottos Art der Geschichtsschreibung hängt nicht nur von seiner gesellschaftlichen Stellung und von seinem Bildungsgang ab, sie bewegt sich zwangsläufig auch in längst ausgefahrenen und bewährten Bahnen, die seine Historiographie selbst wie schon deren M o t i v e bestimmen und denen er allenfalls eigene Akzente aufsetzen kann 153 . In der Forschung herrscht denn auch weitgehend Einigkeit darüber, daß Ottos wahre Leistung nicht schon in der Chronographie selbst liegt. Völlig traditionell ist das Motiv, das Otto bereits in seinem Brief an Friedrich Barbarossa der Widmungsfassung der Chronik voranstellt154: Sie soll dem Kaiser Beispiele für seine Regierung, für die Kriegskunst ebenso wie für die Rechtsprechung, liefern155, ein um so wichtigeres Vorbild, als die Könige selbst über den weltlichen Gesetzen stehen und

153

Über die Grundlagen, die erst eine geordnete Geschichtsschreibung hervorrufen, vgl. M e l v i l l e , System und Diachronie. - Zu den Prinzipien der Geschichtsschreibung Ottos vgl. Μ i e r ο w, Two Cities Theory S. 100 ff. 1M Zu Absicht und Aufbau des Werks nach dem Prolog und den beiden Begleitbriefen an Friedrich und Rainald von Dassel vgl. H a i d (Bd.45), S.36ff.; zu den hier dargelegten Aufgaben des Geschichtswerks und zur antiken Tradition vgl. L a m m e r s, Weltgeschichte S.75ff. Zum Widmungsbrief der Chronik vgl. Girolamo A r n a l d i , Cronache con documenti, cronache „autentiche" e publica storiografia, in: Fonti medioevali e problematica storiografica, Rom 1976/77, S.351 ff. 155 Chr. (S. 1,8 ff.): Parui ergo Ubens et lubens vestro imperio tanto devotius, quanta regiae excellentiae convenientius esse considero ob reipublicae non solum armis tutandae, sed et legibus et iudiciis informandae incrementum antiqua regum seu imperatorum gesta vos velle cognoscere. - Den Nutzen der Geschichtsschreibung zeigt auch das Beispiel des Perserkönigs Artaxerxes (Chr. S. 1,13 ff.), der dank der Belehrung durch Annalen die Rechtsprechung verbesserte.

50

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

nur Gottes Gericht unterliegen 156 , so daß die Geschichtsschreibung zugleich eine kritische Funktion erfüllt und Maßstäbe setzt. Diesen Aspekt der Anleitung zur Tugend nimmt Friedrich Barbarossa dann mit Bezug auf die Chronik in seinem Auftragsschreiben an Otto für die Gesta wieder auf ( G F S. 82,6 ff.) 1 5 7 . Das Beispiel tatkräftiger Kaiser soll den Herrscher also zur virtus, zur Tugend oder auch Tapferkeit, anleiten und ihm helfen, Untugenden zu meiden; jedenfalls kann er aus der Geschichte lernen. Wenn O t t o dieses, der Tradition entnommene Motiv 1 5 8 gerade der Widmungsfassung voranstellt, so wird man es zwar nicht als einen inhaltsleer gewordenen Topos abtun dürfen, aber doch als den Aspekt seiner Geschichtsschreibung ansehen müssen, der dem Kaiser am vertrautesten ist, jedoch nicht den ursprünglichen Anlaß für die Chronik bildet. Die eigentlichen Motive liegen tiefer, und bereits das Verständnis der Geschichte als Exempelsammlung zielt auf mehr als nur eine gute (weltliche) Regierung ab, denn die Beispiele wollen den König zu einem gottesfürchtigen Verhalten anleiten (Chr. S. 1,26 ff.) 1 5 9 . Von Anfang an schwingt in der Geschichtsschreibung des Freisinger Bischofs also ein theologisches Element mit; selbst in den Gesta Frederici, die sich mit dem Römischen Reich ein eher diesseitsgerichtetes, traditionelles Thema vorzugeben scheinen, fehlen nicht theologische Erörterungen 1 6 0 , und

156 Ebda. (S. 1,21 ff.): Preterea cum nulla inveniatur persona mundialis, quae mundi legibus non subiaceat, subiacendo coerceatur, soli reges, utpote constituti supra leges, divino examini reservati seculi legibus non cohibentur. - Zu dieser aus dem römischen Recht stammenden Formel vgl. L a m m e r s , Weltgeschichte S.97f., und Thomas S z a b o , Römischrechtliche Einflüsse auf die Beziehung des Herrschers zum Recht. Eine Studie zu vier Autoren aus der Umgebung Friedrich Barbarossas, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 53, 1973, S.36ff. Nach S z a b o S.45ff. ist Otto noch nicht in Paris, sondern erst später mit dem römischen Recht bekanntgeworden. Zur Kenntnis des Justinianischen Rechts vgl. auch Chr. 5,4 (S. 233,13 ff.). 157 V g i . L a m m e r s , Weltgeschichte S.76. 158 Vgl. L a c r o i x S. 167ff. 159 Wir werden noch sehen, daß Ottos ethische Tendenz sich auf weit Höheres ausrichtet (unten S. 88 f.). L a m m e r s, Weltgeschichte S. 75 ff., beschränkt die „Pädagogik der Geschichte" hier eher auf den politischen Aspekt (vgl. aber seine Anm. S. 77/7), um dann (S. 81 ff.) von einer völlig anderen Pädagogik in den Gesta zu sprechen. Immerhin entstammen diese Äußerungen aber Ottos Brief an Friedrich, den der Bischof dem Widmungsexemplar der Chronik (wenngleich erst 1156) beifügt! 160 GF1 prol. (S. 120,5f.): dum et id ipsum Romani imperii prerogative non sit extraneum rebus simplicioribus altiora interponere.

1.2. Otto in den Traditionen der Historiographie

51

gerade hier widmet O t t o ein langes Kapitel dem metaphysischen Problem der Vergänglichkeit ( G F 1,5); wenn Staber (S. 108) in den Gesta eine größere Weltlichkeit feststellt, so bleibt das jedenfalls ein äußerlicher, darstellungsbedingter Unterschied 1 6 1 . Als

Historiograph

bleibt O t t o

an die Überlieferung

gebunden.

Traditionell sind daher auch seine Anschauungen von der Arbeitsweise des Historikers als eines Vergangenheitsforschers, der den Tatsachenbericht in den Mittelpunkt stellt 1 6 2 . V o r allem spielt das im

bistoria-Begriii

selbst implizierte Augenzeugenmotiv 1 6 3 immer noch eine Rolle, und O t t o bedauert, daß er nicht mehr wie frühere Geschichtsschreiber selbst Gesehenes und Gehörtes berichten kann, sondern sich auf das Urteil anderer verlassen m u ß 1 6 4 , und er kennzeichnet - wie vor ihm Regino von P r ü m (a. 813 - S. 73) - in der Chronik deutlich die Stelle, von der an er nicht mehr auf schriftliche Quellen angewiesen ist, sondern sich auf Gewährsleute und eigene Beobachtungen stützen kann 1 6 5 . O t t o beeilt 161 In der praktisch angewandten Geschichtsphilosophie liegt die Eigentümlichkeit des ottonischen Geschiehtswerks; die Gesta bilden deshalb nicht, wie F e l l n e r S. 172 meint, einen Rückschritt, denn Otto wollte ja nicht reine Geschichtsphilosophie schreiben. 162 Vgl. F u n k e n s t e i n S.94f. 143 Die Erklärung des griechischen ιστορέω als videre vel cognoscere ist durch Isidor von Sevilla (Etymologiae 1,41,1, ed. W. M. L i η d s ay, 1911, ND. Oxford 1962) dem Abendland überliefert und findet sich gerade bei Schreibern des 12. Jahrhunderts wieder, etwa bei Hugo von St. Viktor (De scripturis et scriptoribus sacrispraenotatiuneulae Kap. 2,3, Migne PL 175, Sp.12: video et narro); vgl. dazu S c h u l z S. 16ff., Laetitia B o e h m , Der wissenschaftstheoretische Ort der historia im Mittelalter. Die Geschichte auf dem Wege zur Geschichtswissenschaft, in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung (Festschrift Johannes S p ö r 1), München 1965, S. 672 ff., und Leonid A r b u s o w , Colores rhetorici. Eine Auswahl rhetorischer Figuren und Gemeinplätze als Hilfsmittel für akademische Übungen an mittelalterlichen Texten, Göttingen 21963, S. 109 und S. 121. Das Augenzeugenmotiv ist Bestandteil zahlreicher Prologe historischer Werke (vgl. Einhards Vita Karoli, Liudprands Antapodosis oder Thangmars Vita Bernwardi). Zu den Quellen mittelalterlicher Historiker vgl. L a c r ο i x, L'historien S. 45 ff.; danach sind Augenzeugenbericht und mündliche Uberlieferung wertvoller als schriftliche Vorlagen. 164 GF 2,43 (S. 370,22 ff.): Nam antiquorum mos fuisse traditur, ut tili, qui res ipsasprout geste fuerunt sensibus pereeperant, earumdem scriptores existerent. Unde et historia ab histeron, quod in Greco videre sonat, appellari consuevit. Tanto enim quisque ea que vidit et audivit plenius edicere poterit, quanto nullius gratia egens hac illacque ad inquisitionem veritatis non dreumfertur dubie anxius et anxie dubius. Durum siquidem est scriptoris animum tamquam proprii extorrem examinis ad alienum pendere arbitrium. 165 Chr. 7,11 (S. 323,9 ff.): Hucusque tarn ex Orosiiquam Eusebii et eorum, qui post ipsos usque ad nos scripserunt, libris lecta posuimus. Ceterum quae secuntur, quia recentis memoriae sunt, α probabüibus viris tradita vel a nobis ipsis visa et audita ponemus. -

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

sich, die Zuverlässigkeit seiner Informanten herauszustellen166, ist sich aber bewußt, daß in dieser Abhängigkeit die größte Gefahrenquelle verborgen liegt und Irrtümer sich nicht völlig ausschließen lassen167. Der Augenzeugenbericht ist deshalb so wertvoll, weil er am meisten dem W a h r h e i t s p r i n z i p entspricht, das Otto als die Pflicht des Geschichtsschreibers (officium scriptoris) schlechthin bezeichnet168. Die Wahrheit bildet den Mittelweg, den der Geschichtsschreiber einhalten muß, um nicht „nach rechts oder links" von seinen Prinzipien abzuweichen169. Immer wieder hat man den Bischof von Freising wegen seiner in dieser Einstellung wie in der Geschichtsschreibung selbst hervortretenden Objektivität gepriesen. Haid (Bd. 45) S. 39 bezeichnet eine hohe Auffassung, unbedingte Wahrheitsliebe, Objektivität und Pragmatismus als Ottos Normen. Staudinger S. 15 ff. schreibt ihm eine bewußte Objektivität zu, die sich in seinem Wahrheitsstreben und seinem persönlichen Zurücktreten, in der Angabe seiner Quellen und den Literaturhinweisen sowie in dem Lob von in seinen Augen eigentlich bösen C ο h e η S. 9, wertet diese Stelle eher als Beweis dafür, daß Otto von diesem Moment an Zeitgeschichte schreibt, die sich nicht mehr auf „fertige" Quellen stützen kann. itt vgl. auch Chr. 1 prol (S. 10,4 ff.), wo er betont, daß er keine Lügen schreibt, sondern den Schriften zuverlässiger Gewährsleute (probati viri) folgt. - Vgl. S c h u 1 ζ S. 34 f. 147 Vgl. GF1,62 (S. 260,21 ff.): Quod enim sancti et sapientes viri, corruptibili came arcumdati, frequenter in talibus fallantur, et novis et antiquis probatur testimonüs (mit Bezug auf die Theologie Gilberts). Vgl. B r e z z i , Ottone S.289f.; F u n k e n s t e i n S.93f.; Hermann S c h n e i d e r , Das kausale Denken in deutschen Quellen zur Geschichte des 10., 11. und 12. Jahrhunderts, Gotha 1905, S. 70 ff; zum Wahrheitsprinzip mittelalterlicher Geschichtsschreiber vgl. S c h u l z S.5ff. (eine ähnliche Wendung findet sich bei Wilhelm von Tyrus); vgl. auch Odilo E n g e l s , Artikel: Geschichte (Mittelalter), in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd.2, 1975, S. 610 ff. - Das Wahrheitsprinzip liefert den Anlaß für einen beliebten Topos, die Gefahr für den Schreiber, im Brief an Rainald (Chr. S. 5,10 ff.): Itaque non indignetur vestra discretio nec sinistre, ut dixi, imperialibus auribus interpretetur, si in historia nostra contra antecessores velparentes suos ad observandam veritatem aliqua dicta fuerint, cum melius sit in manus incidere hominum quam tetrae fucatum superducendo colorem faciei scriptoris amittere offidum. - Dieser Gefahrentopos findet sich besonders häufig in Streitschriften (vgl. Wido von Osnabrück, Liber de controversia inter Hüdebrandum et Heinricum imperatorem, MG Libelli de lite 1, S. 462, oder Honorius Augustudunensis, Summa gloria, ebda. 3, S. 63). L h ο t s k y, Historiographie S. 55, und D e r s., Fuga et Electio, in: Aufsätze und Vorträge Bd. 1, München 1970, S. 85 ff., nimmt die Wendung wörtlich und bezieht sie auf die für Kaiser und Reich wenig schmeichelhafte Version der Chronik, die Otto nun Friedrich Barbarossa überreicht. 169 Chr. 6,18 (S. 278,21 ff.) zu unterschiedlichen Ansichten über das Königtum Heinrichs I.: Nos vero medium in bis limitem servantes, in quantumque possumus ac ex eorum dictis conicere valemus veritatis Seriem tenentes, nec ac dexteram nec ad sinistram declinare Deo largiente studebimus.

1.2. Otto in den Traditionen der Historiographie

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Menschen wegen herausragender Taten zeigt. Staudinger betont aber, daß dieses Bemühen um Objektivität, das Leistungen grundsätzlich anerkennt, keineswegs eigener Standortlosigkeit entspringt; Ottos feste Uberzeugung von der richtigen Weltordnung lasse ihn andererseits auch bestimmte Tatsachen verschweigen: Er schreibe immer sine ira, aber nicht immer sine studio (S. 18). In diesem Sinne wird es verständlich, wenn Ottos Wahrheitsstreben persönliche Urteile und Stellungnahmen, wie wir sie schon kennengelernt haben, nicht ausschließt, und man hat den Bischof wegen seiner Stauferfreundlichkeit sogar als „Tendenzschriftsteller" bezeichnet (Voelker S. 77); auch Voelker beschränkt diese Charakterisierung aber auf den Politiker Otto; als Schüler Augustins, als Ethiker, bleibe er ehrlich (S. 81). Während Nörenberg sich bemüht, Ottos Entstellungen der historischen Tatsachen zugunsten seiner königlichen Idealfigur Friedrich Barbarossa nachzuweisen, ist Brezzi, Ottone S. 256 ff., von seiner Ehrlichkeit überzeugt, denn Otto sei Theoretiker und Idealist; sein Gestabericht sei durchaus zuverlässig (Ders., Fonti S. 120 f.). Man wird Otto ein ehrliches Wahrheitsstreben, nämlich nach der ewigen Wahrheit in der göttlichen Weltordnung, nicht absprechen können; „Objektivität" aber läßt sich trotz aller Beteuerungen nur in beschränktem Maße erwarten, da Otto aus bestimmten, ja auch persönlich und gesellschaftlich bedingten Normen heraus Geschichte schreibt und „Wahrheit" deshalb schon mit bestimmten Werten verbindet, die nicht unserer Vorstellung von einer „historischen Wahrheit" entsprechen. Da wir gerade nach Ottos Absichten fragen, nimmt eine etwaige Tendenz seinem Werk keineswegs seinen Quellenwert. Hier geht es nicht um ein Urteil, sondern darum, die Kriterien herauszuarbeiten, die Ottos Geschichtsinterpretation beeinflussen. Eine Entscheidung wird Otto nun nicht erst bei der Darstellung umstrittener Fakten, sondern bereits bei der Wahl seiner Gegenstände abverlangt. Die notwendig zu treffende Auswahl 170 wird von der Absicht der Belehrung, in erster Linie aber wiederum von dem Wahrheitsdrang bestimmt 171 . Sie besteht, wie alle doctrina, aus fuga et electio, aus einem 170 Vgl. Chr. 1 prol. (S. 10,8): pauca de multis posuenm, und S. 9,27ff.: Nec iuste me reprehendendum arbitror, sipost tantos tantaeque sapientiae aceloquentiae viros impentus scribere presumpstrim, dum et ea, quae ipsi copiose profuseque dixerunt, compendia stringere et ea, que post ipsorum tempora ecclesiae Dei profutura seu contraria a civibus mundi huius acta sunt, quamvis inculto stilo executusfuenm. - Über den Unerfahrenheitstopos, den Otto hier einfließen läßt, vgl. A r b u s o w , Colores rhetorici S. 104ff., und Gertrud S i m o n , Untersuchungen zur Topik mittelalterlicher Geschichtsschreiber bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Archiv für Diplomatik4, 1958, S. 111. 171 Brief an Rainald (Chr. S. 5,8ff.): Sic et cronographorum facultas habet, quae purgando fugiat, quae instruendo eligat; fugit enim mendacia, eligit veritatem.

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Erwählen und Verwerfen der Tatsachen in dem reichen Feld des vergangenen Geschehens (Chr. S. 4,12 f.), und erfordert damit auch eine gewisse Kritik 172 . Otto erhebt hier die Geschichtsschreibung (Chronographie) - nicht aber, wie Lhotsky feststellen will, die Geschichte 173 zum Rang einer wissenschaftlichen Disziplin (doctrina) und vergleicht sie wegen ihres Auswahlprinzips mit der Grammatik, der Logik und der Geometrie (Chr. S. 4 f.), da sie den gleichen Grundsätzen folgt 174 . Gleichzeitig hält sich der Bischof - trotz des Umfangs der Chronik! - mit seiner Auswahl an das in der Frühscholastik aufkommende Prinzip der lehrbuchhaften Kürze (compendio stringere)175, das neben dem ethischen Nutzen überhaupt erst ein neues Geschichtswerk rechtfertigt (Anm. 1/170). Und schließlich will die Chronik die Darstellungen der Vorgänger bis in die eigene Zeit fortsetzen (ebda.). Ottos eigenes Leitziel für sein Geschichtswerk ist also eine den Prinzipien der Geschichtsschreibung, vor allem dem Wahrheitsprinzip, verpflichtete Chronik, die die Tradition sichtet, aus ihr das Wesentliche auswählt und sie bis in die Gegenwart fortführt. Geschichtsschreibung wird hier zu der Kunst, das vorgegebene Tatsachenmaterial durch Selektion und Kombination jeweils eigenständig und neu zu gestalten 176 . Der tenor hystoriae schafft dabei die Ordnung, die verhindern soll, daß der Leser eine confusa series rerum pretentarum vorfindet (Chr. 1 prol. - unten Anm. 1/302).

172 Ottos Kritikfähigkeit heben vor allem C o h e n und F e 11 η e r hervor; zu methodischen Fehlern vgl. H a i d (Bd. 45) S. 41 f. 175 L h o t s k y , Historiographie S.55ff. und Fuga et electio S.88ff.: Otto stellt die Geschichte mit den sieben artes liberales gleich. 174 Alle diese Disziplinen haben gerade die Wahrheitsfindung zum Ziel; man kann deshalb nicht, wie F u η k e η s t e i η S. 93 f., die Chronographie als die ars definieren, die vornehmlich diese Aufgabe verfolgt. - Zur mittelalterlichen Geschichtswissenschaft vgl. Bernhard G u e n e e , Y a-t-il une historiographie medievale? Revue historique 258, 1977, S. 261-75. 175 Vgl. auch Chr. 2,30 (S. 101,21 ff.): ea quae ab ipsis (nämlich von den vier Weltreichen) velfortiter vel aliter gesta sunt, quia a multis large diserteque sunt edita, nos brevitatis causa compendio stringamus. - Vgl. auch Chr. 2,32 (unten Anm. 1/301). - Häufig bricht Otto die Erzählung mit dem Verweis auf ausführlichere Quellen ab, die der wissensdurstige Leser zu Rate ziehen kann (vgl. Chr.2,47 - S. 125,4ff.; 2,48 - S. 125,18; 2,50 - S. 128,27ff.); vgl. S t a u d i n g e r S . 16. - Zum Ideal der Kürze vgl. S c h u 1 ζ S. 108ff. 176 Das stellt Μ e 1 ν i 11 e S. 63 f. als Kennzeichen der geschichtsschreiberischen Tätigkeit heraus. Aufgabe des Historikers ist es, die varietas temporum nach eigenen Maßstäben zu verarbeiten; dabei ist er an die diachronische Betrachtungsweise gebunden und sucht eine möglichst systematische Art der Darstellung (S. 316 ff.).

1.2. Otto in den Traditionen der Historiographie

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Der Chronist ist dabei einmal von der gewählten Literaturgattung, zum andern von seinen Quellen abhängig. Mit seiner Chronik stellt Otto sich bewußt in die Tradition der W e 11 c h r ο η i s t i k 177 , die allein einen umfassenden Überblick über die gesamte Geschichte, wie der Bischof ihn anstrebt, gestattet. Damit bestimmen sich Darstellung und Gliederung des dargebotenen Stoffs, nicht aber die Prinzipien der Geschichtsschreibung selbst, die auch in den Gesta Frederici unverändert bleiben (unten S. 275 ff.); auch hier schreibt Otto „Geschichte", die immerhin bis in die Zeit Heinrichs IV. zurückreicht; die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Werken überwiegen die Unterschiede zwischen einer Welt- und einer Zeitgeschichtsschreibung bei Otto 1 7 8 ; zumindest verteilen sie sich nicht unterschiedslos auf Chronik und Gesta 179 . Das zweite Element, das seine Geschichtsschreibung entscheidend beeinflußt, ist die Wahl und Verarbeitung der Q u e l l e n , denn der mittelalterliche Historiker und besonders der Weltchronist kann sein Werk nicht ohne gründliche Vorlagen erstellen, und die Kompilation bildet einen wesentlichen Teil seiner Arbeit. Otto, der bewußt Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie miteinander verbindet, hätte diese Leistung kaum vollbringen können, wenn die Weltchronistik nicht inzwischen auf eine lange Tradition zurückgeblickt hätte. Hinsichtlich seiner Geschichtstheologie zeigt er sich vor allem von zwei Schriften, nämlich De civitate Dei des Kirchenvaters Augustin und den Historiae adversus paganos des Orosius abhängig 180 .

177

Vgl. darüber v o n d e n B r i n c k e n , Weltchronistik, bes. S.232ff. Zu diesen Unterschieden vgl. Franz-Josef S c h m a l e , Mentalität und Berichtshorizont, Absicht und Situation hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber, Historische Zeitschrift226, 1978, S. 4 ff. Eine andere Charakterisierung von chronographia und kistoriographia gibt Μ e 1 ν i 11 e S. 308 ff. - Vgl. auch unten S. 74 f. 179 Diese These vertritt L a m m e r s , Weltgeschichte, bes. S.84f. - Als Zeithistoriker würdigt C o h e n Otto von Freising. 178

180

Chr. 1 ρτο\. (S. 9,8 ίί.): Sequorautem in hocoperepreclarapotissimum Augustmum et Orosium qcclesiae lumina eorumque de fontibus ea, quae ad rem propositumve pertinent, haunre cogitavi. - Zu diesen Quellen vgl. H o f m e i s t e r S . 708 ff. und Β r e ζ ζ i, Ottone S. 225 ff. Μ ο h r S. 286 f. sieht in der Tatsache, daß der Bischof Augustin und Orosius in den Briefen an Friedrich und Rainald von Dassel nicht mehr erwähnt, einen Verzicht auf die ursprüngliche Absicht, die Ideen beider Kirchenväter miteinander zu verbinden. Tatsächlich war ein solcher Verweis jedoch gar nicht nötig, weil der Prolog an Isangrim, der diese Gedanken vertritt, ja auch in der Widmungsfassung erhalten blieb.

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Beide Werke sind in einer bestimmten historischen Situation, nämlich nach dem Einfalt des Westgoten Alarich in Rom im Jahre 410, verfaßt worden, als die Vorstellung von einer „Roma aetema"m erschüttert wurde. Augustin und Orosius wollten nun - in apologetischer Absicht und auf geschichtlicher Basis die Anklagen der zahlenmäßig zwar schwachen, aber gerade in den hohen gesellschaftlichen Kreisen der Senatsaristokratie noch einflußreichen Heiden gegen die Christen entkräften und das Christentum als die einzig wahre Religion verteidigen. Augustin182 beweist zu diesem Zweck zunächst die Ohnmacht der heidnischen Götter (De civitate Dei, Buch 1-10) und hält ihr den gewaltigen und einheitlichen Geschichtsplan des Christengottes entgegen, der seine gesamte Schöpfung durch die Providentia bis an das vorherbestimmte Ziel der Ewigkeit leitet. Der Kirchenvater entwirft hier das Geschichtsbild einer in die zwei Gemeinschaften des Gottes- (ävitas Dei) und Weltstaates (civitas terrena) geteilten Menschheit. Orosius183 dagegen schreibt im Auftrag Augustins eine Weltgeschichte, in der er - ebenfalls auf geschichtstheologischem Hintergrund das Unglück der Vergangenheit herausstellt, um dann aus der relativen Milde der Gegenwart zu beweisen, daß gerade dem Christentum diese „glücklichen Zeiten" zu verdanken sind. Otto von Freising greift auf diese beiden „klassischen" Entwürfe zurück. Das zeigt sich bereits im Titel: „De duabus civitatibus" ist Augustin entlehnt 184 , während das Motto der Widmungsfassung, „De mutatione rerum", Orosius folgt 185 . Letztlich schließt sich auch die Einteilung der Chronik in acht Bücher an Orosius an, dessen sieben Büchern irdischer Geschichte Otto ein achtes über die Endzeitvorgänge folgen läßt; die einzelnen Einschnitte aber wählt er - nicht nur aufgrund

181 Vgl. dazu F r a n c i s P a s c h o u d , Roma aeterna. fitudes sur le patriotisme Romain dans l'occident latin a l'epoque des grandes invasions, These Lausanne. Neuchatel 1967. 182 Zum Geschichtsbild Augustins vgl. Alois W a c h t e l , Beiträge zur Geschichtstheologie des Aurelius Augustinus (Bonner Historische Forschungen 17), Bonn 1960; Paolo Β r e ζ ζ i, Analisi ed interpretazione del ,De civitate Dei' di sant'Agostino, (Quaderni della cattedra Agostiniana 2) Tolentino 1960; G. L. Κ e y e s, Christian Faith and the Interpretation of History: Α Study of St. Augustine's Philosophy of History, Lincoln/Nebrasca 1966; R . A . M a r k u s , Saeculum: History and Society in the Theology of St. Augustine, Cambridge 1970; zuletzt A.P. Ο r b a n , Ursprung und Inhalt der Zwei-Staaten-Lehre in Augustins „De civitate Dei", Archiv für Begriffsgeschichte 24,1980, S. 171-94. Die jüngste Gesamtwürdigung Augustins bietet Kun F1 a s c h, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980. 183 Zum Geschichtsbild des Orosius vgl. Benoit L a e r ο ix, Orose et ses idees (Universite de Montreal. Publications de l'Institut d'etudes medievales 18), Montreal-Paris 1965, und G ο e t z, Orosius. 184 Nur scheinbar nimmt Otto bereits im Titel eine Änderung gegenüber den Ideen Augustins vor, indem er von zwei Staaten spricht; vgl. dazu unten S.226f. 185 Vgl. v o n d e n B r i n c k e n , Weltchronistik S.223.

1.2. Otto in den Traditionen der Historiographie

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der fortgeschrittenen Zeit - anders 186 . Augustin und Orosius bilden Ottos Hauptquellen für die gesamte vor- und frühchristliche Geschichte, vor allem aber für das Geschichtsbild selbst. Orosius hat Otto von Freising eine bereits verarbeitete Chronik der Weltgeschichte bereitgestellt. Er bildet auch das einzige Vorbild für ein ganz unter geschichtstheologischen Gesichtspunkten geschriebenes historiographisches Werk. Sein Einfluß ist daher auch als Geschichtstheologe größer, als man gemeinhin annimmt187. Deshalb kann man nicht mit Fellner (S. 161) Augustin als Quelle für die Geschichtsphilosophie, Orosius dagegen als Vorlage für die Geschichte oder auch mit von den Brincken, Weltchronistik S. 221, Augustin als Quelle für die Heilsgeschichte, Orosius aber für die Weltgeschichte bezeichnen, wenngleich sachlich etwas Richtiges darin enthalten ist: Liefert Orosius das Material für die Geschichte der Weltreiche, so ist Otto bei der Darstellung der Geschichte des Gottesvolkes neben der Bibel ganz auf Augustin angewiesen (vgl. etwa Chr. 2,47), doch einerseits behandelt der Bischof von Freising den Kirchenvater hier ebenso als „Chronik" wie seine anderen Vorlagen, andererseits entnimmt er auch Orosius heilsgeschichtliche Elemente, vor allem das Prinzip der mutabilitas, das er zum zentralen Gedanken seiner Geschichtsschreibung macht. In der Deutung der Ereignisse folgt er beiden Vorlagen, und er faßt die Geschichte der Weltreiche und der beiden Staaten zu einer Einheit zusammen. Ottos eigene Leistung ist zweifellos gerade in der Anwendung der augustinischen Ideen auf die Geschichtsschreibung, in der historischen Betrachtung der „Zweistaatenlehre" zu sehen. Darin liegt aber zugleich eine Umwandlung, die die Frage der Abhängigkeit Ottos von seinen Vorlagen aufwirft. Besonders Bernheim und sein Schüler Nörenberg sowie Hashagen (S. 97 ff.) haben den Einfluß Augustins auf Otto in allen Bereichen des Denkens hervorgehoben, während man in jüngerer Zeit (Koch) stärker die Eigenständigkeit des hochmittelalterlichen Bischofs betont (vgl. unten S. 112 ff.). Eine endgültige Antwort in dieser Frage der Abhängigkeit ist noch nicht gefunden, doch scheint Ottos Eigenständigkeit sich a) in einem ganz bestimmten Verständnis der augustinischen Ideen und b) in deren Anpassung an die gegenwärtigen Bedürfnisse zu äußern (vgl. Kapitel IV über die Civitas-Lehre). Neben De civitate Dei und den Historiae adversum paganos benutzt der Freisinger Bischof noch die Kirchengeschichte des Eusebius (in der Übersetzung

im Vgl. B r e z z i , Ottone S.230f. Zur Symbolik der Bücherzahl vgl. F o l z , Augustin S. 333; zum Zusammenhang zwischen Bucheinteilung und Epocheneinteilung K l i n k e n bergS.72. 1 , 7 Übertrieben ist andererseits die Feststellung von M a r k u s S. 164f., Ottos Geschichtssicht verdanke fast alles Orosius, fast nichts Augustin.

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Rufins, die er allerdings dem Hieronymus zuschreibt)188 sowie die Historia tripartita (des Cassiodor) als Quellen für die Geschichte der alten Kirche. Auch sie bilden eine Ergänzung der eher „profan" ausgerichteten Geschichtsschreibung des Orosius; sie charakterisieren das Bemühen des Bischofs, verschiedenartige, sich gegenseitig ergänzende Quellen heranzuziehen. Man kann sagen, daß diese spätantiken Quellen das theologische Geschichtsbild Ottos geprägt haben, so daß er nach ihrem Verstummen nur mehr Vorlagen für den historischen Ablauf benötigte (freilich auch nichts anderes mehr vorfand) 189 . Hier kommt ihm die für mittelalterliche Verhältnisse erstaunlich objektive, beinahe kritische und - obwohl zeitlich ein Produkt des Reformstreitzeitalters - eher neutralisierende Weltchronik Frutolfs von Michelsberg, sehr entgegen190. Sie bildet Ottos Hauptquelle für alle Epochen der Geschichte, obwohl der Bischof sie nicht ein einziges Mal erwähnt, den Verfasser dieser anonym überlieferten Chronik allerdings auch nicht kennen konnte. Im Grunde ist Ottos Chronik ohne dieses chronologische Gerüst gar nicht denkbar 191 , und auch manche Deutung Ottos kommt schon bei Frutolf vor, der sie meist wiederum Orosius entnommen hat. Der Freisinger Bischof ergänzt nun diese Vorlage durch weitere, einzelne Zeitabschnitte genauer behandelnde Quellen; für die Karolingerzeit stehen ihm Regino und sein Fortsetzer Adalbert, für die Epoche Konrads II. Wipo, danach Hermann von Reichenau zur Verfügung (für die dazwischen liegende Zeit der späteren Ottonen muß er sich mit Frutolf begnügen). Ausgesprochen häufige Berichte über die Zustände in Trier 192 lassen schließlich auf eine Trierer Quelle (vielleicht die Gesta Treverorum) schließen, können aber ebensogut auf Ottos persönliche Beziehungen zu dieser Stadt zurückgehen 193 . Häufig vermerkt Otto ausdrücklich das Ende seiner jeweiligen Quelle (so bei Orosius, Chr. 4,22 - S. 213,22, den Verfassern der Historia tripartita Theodoritus, 188

Vgl. Chr. 4,6 (S. 193,16 ff.) und 4,21 (S. 212,5 ff.). Zu den Quellen vgl. H a i d (Bd.45) S.34f. und L a m m e r s , Einleitung S. XXXIVss.; zu den Quellen der Gesta vgl. Β r e ζ ζ i, Fonti S. 105-21, zu ihrem Quellenwert H a i d (Bd.45) S.70ff. 190 Uber Frutolf vgl. Franz-Josef S c h m a 1 e in der Einleitung zur Ausgabe (Freiherrvom-Stein-Gedächtnisausgabe Bd. 15, Darmstadt 1972, S. 11 ff.). 1.1 Vgl. S c h m a l e , in: Wattenbach-Schmale Bd.l, S.52. 1.2 Vgl. Chr. 1,8 (S.47,10ff.); 3,14 (S. 151,23ff.; 152,9ff.); 3,43 (S. 175,18f.); 4,7 S. 194,2 ff.); 7,12 (S. 323,19 ff.). - Zu den Eigenarten der Trierer Geschichtsschreibung vgl. Heinz T h o m a s , Studien zur Trierer Geschichtsschreibung des 11. Jahrhunderts, insbesondere zu den Gesta Treverorum (Rheinisches Archiv 68), Bonn 1968. 1.3 Erzbischof Poppo von Trier (1016-46) war nach Otto ein Bruder des babenbergischen Markgrafen Adalbert (vgl. Karl Lechner, Die Babenberger. Markgrafen und Herzöge von Österreich 976-1246, Wien-Köln-Graz 1976, S.55f.; vgl. H o f m e i s t e r S.116f.) Adalberts Sohn Leopold (der Bruder des Großvaters Leopolds III.) wurde in Trier bestattet (Chr. 6,32 - S. 298,17ff.); vgl. dazu Richard L a u f n e r , Zu Begräbnis und Grabstätte des Babenberger Markgrafen Liutpold, in: Festschrift Friedrich Η a u s m a η η, hg. von Herwig E b n e r , Graz 1977, S.325-37. 189

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Socrates und Sozomenes, Chr. 4,23 - S. 214,24 ff., und bei Isidor, Chr. 5,9 - S. 240,32). Danach verstummen solche Hinweise. Fellner (S. 161) wertet die Angabe der Quellen als Zeichen einer über den zeitgenössischen Standard hinausragenden kritischen Methode. Dann bliebe freilich zu fragen, weshalb Otto nie die Werke Frutolfs und der anderen mittelalterlichen Geschichtsschreiber erwähnt: Wie seinen Zeitgenossen scheint es auch ihm nur auf die Versicherung der Autorität seines Berichts anzukommen, und vorbehaltlose Autorität war nur den alten Werken der Kirchenväterzeit eigen.

Aus seinen Quellen stellt Otto ein neues Geschichtswerk mit eigenem Gepräge zusammen. Er hätte sich dieser Mühe nicht unterziehen müssen, wenn er damit nicht auch eine andere Intention als seine Vorgänger verfolgt hätte: Die mittelalterliche Chronographie erweitert er um deren geschichtstheologische Deutung; hier hat Otto keine zeitgenössischen Vorbilder, und erst dadurch wird auch nach der bedeutenden Chronik Frutolfs überhaupt noch ein neues Geschichtswerk notwendig: Er sieht seine Aufgabe also in der Fortführung der patristischen Ansätze bis auf seine eigene Zeit - und nur sie sind bewußt im Prolog angesprochen (oben Anm. 1/170); gleichzeitig unterscheidet er sich aber ausdrücklich auch von ihrer Art der Darstellung (Chr. 2 prol. - S. 68,23 ff.): Nemo autem a nobis sententias aut moralitates expectet. Hystoriam enim, in qua avium Babyloniae vicissitudines ac labores dviumque Christi inter eos progressus et profectus texantur, non disputantis more, sed disserentis ordine prosequi intendimus.

Eine disputatio, eine apologetische Erörterung des Für und Wider, wie Otto sie in seinen Quellen Augustin und Orosius vorfindet, ist in seiner durchweg christlichen Zeit nicht mehr notwendig. Er muß die Menschen nicht mehr zum Christentum bekehren, wohl aber ihnen den Weg zum Heil aufzeigen. Ottos moralitates sind also eher im Sinne einer tropologischen Auslegung als einer moralisierenden Geschichtsschreibung zu verstehen, denn eine ethische Zielsetzung verfolgt die Chronik durchaus (vgl. unten S. 88). Die apologetisch-polemische Absicht ist einer moralisch-läuternden gewichen194. Otto geht es um den belehrenden Vortrag (dtsserere), um eine geordnete Darlegung der allgemein gültigen

1,4

So S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 11; vgl. F e 11 η e r S. 162 f. und F u n k e n s t e i n S.95. vgl. auch Walter R e h m , Der Untergang Roms im abendländischen Denken. Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung und zum Dekadenzproblem, Leipzig 1930, S. 34.

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Erkenntnisse, und zwar in einer historiographischen Form 1 9 5 . Darin liegt das „System" Ottos, das Melville als spezifisches Kennzeichen jeder Geschichtsschreibung erkannt hat. Hier zeigt sich seine Historiographie aber auch von frühscholastischen, nach Ordnung strebenden Einflüssen bestimmt. Trotz aller Abhängigkeit liefert Ottos Werk eine eigenständige Verarbeitung der Gedanken Augustins und Orosius', ja Otto steht nicht nur auf eigenem historiographischen, sondern auch auf eigenem metaphysischen Boden 196 . Die Theorien der Kirchenväter werden in die Vorstellungen des 12. Jahrhunderts integriert und zeigen deutliche Parallelen zu den Geschichtstheoretikern seiner Zeit, zu Hugo von St. Viktor 197 oder - eine weniger bekannte Tatsache - zu Honorius Augustudunensis. In diesen Parallelen wie in der Abhängigkeit von den geschichtstheologischen Entwürfen der Spätantike überhaupt zeigt sich, daß Ottos Kompilation sich nicht in den traditionellen Motiven der Geschichtsschreibung erschöpft, daß es ihm um mehr als um einen Abriß der Weltgeschichte, nämlich um eine D e u t u n g d e r h i s t o r i s c h e n F a k t e n geht. Die persönlich anmutenden Stellungnahmen des Bischofs gewinnen damit eine ganz andere Funktion: Wahrheitsprinzip als Anspruch auf der einen und subjektive Kommentare als Bestandteil der Geschichtsschreibung auf der anderen Seite bilden für Otto deshalb keinen Gegensatz, weil er davon überzeugt ist, die Wahrheit durch seine Kommentare herauszustellen (vgl. oben S. 52 f.) 198 . Diese bilden ein ganz charakteristisches Element der Chronik 199 wie der Gesta, denn der

1 , 5 In diesem zuletzt angesprochenen Sinn versteht Joachim E h l e r s , Gut und Böse in der hochmittelalterlichen Historiographie, in: Die Mächte des Guten und Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhundert über ihr Wirken in der Heilsgeschichte, hg. von Albert Z i m m e r m a n n , 3erlin-New York 1977 (Miscellanea Mediaevaliall), S.35, den Unterschied zwischen beiden Ausdrücken: Otto will den Geschichtsablauf nicht begrifflich, sondern im Zusammenhang der Ereignisse erkennbar machen. So K o c h S.349. Vorsichtiger hatte F e l l n e r S. 164, wenngleich mit wenig eindeutigen Begriffen, argumentiert: Otto entwickelt Augustins Philosophie weiter; erst er sei Geschichtsphilosoph, Augustin dagegen historischer Philosoph. 1 , 7 Vgl. L a m m e r s, Einleitung S. XLV Anm. 98 und S. XXVII. " » Vgl. S t a u d i n g e r S.17f. I M Wenn Τ r ο 11S. 76 f. zum Beispiel fehlende Personenbeschreibungen in der Chronik auf die Absicht der Vergangenheitsschilderung zurückführt, übersieht er die Tendenz der Schrift: Gerade die „schablonenhaften" Personenbeschreibungen passen zu der ethischen Absicht.

1.2. Otto in den Traditionen der Historiographie

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Bischof von Freising schreibt Geschichte nicht als Selbstzweck, sondern mit der Absicht der Belehrung und Einflußnahme (vgl. oben S. 49 f.)200. Wenn Otto, wie er sagt, dennoch keine sententiae aut moralitates liefern, sondern Geschichte schreiben will (Chr. 2 prol. - oben S. 59), so bedeutet das kaum den Verzicht auf eine ethische Funktion seiner Geschichtsschreibung, und der Bischof fällt an zahlreichen Stellen tatsächlich ja deutliche Urteile. Die Wendung ist nicht auf den Inhalt, sondern auf die Art der Darlegung zu beziehen: Der Bischof greift nicht bestimmte Beispiele heraus, um an ihnen allgemeine Wahrheiten zu begründen 201 , sondern er schreibt durchgängig Geschichte, um sie in ihrem geordneten Verlauf gleichsam für sich selbst sprechen zu lassen. In diesem Sinn verzichtet er auch auf eine Verurteilung einzelner Menschen und zeigt stattdessen die Ethik des Gesamtplans auf: Die Moralität seiner Geschichtsschreibung geht also tiefer und macht diese gewissermaßen selbst zur „Sentenz". Eine solche Historiographie ist nicht möglich ohne fertige, geschichtstheologische Uberzeugungen: Über die traditionelle Form der Geschichtsschreibung schiebt sich ein festes Geschichtsbild. Nirgends sonst sind Geschichtsdenken und Geschichtsschreibung von den Zielen und der Darstellung her so eng miteinander verzahnt wie bei Otto von Freising, dessen Stellungnahmen den eigentlichen Sinn der Geschichte aufzeigen wollen; die Funktion seiner Geschichtsschreibung sieht Otto von Freising in theologischen Fragen. Wir kommen damit zu unserer Ausgangsfrage, dem Verhältnis von Historiographie und Geschichtstheologie, zurück.

200

Zweifellos geht es Otto, wie C o h e n S.9 darlegt, um den Platz der eigenen Gegenwart in der Heilsgeschichte, doch sind ihm deshalb Motive und Standpunkte nicht sekundär, denn sie hängen eng mit jenem Ziel zusammen. 201 Er liefert, mit anderen Worten, keine historische Sentenzensammlung als Entsprechung der Sammlungen aus Bibel und Kirchenvätern im Stil eines Anselm von Laon (den Otto - falls er nicht Anselm von Canterbury meint - neben Berengar von Tours und Manegold von Lautenbach zu den großen Gelehrten und Wegbereitern der Gelehrsamkeit seiner eigenen Zeit feiert) (Chr. 5 prol. - S. 227,18 ff.).

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

3. D e r t h e o l o g i s c h e H i n t e r g r u n d : O t t o s G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g als h i s t o r i o g r a p h i s c h e Theologie Nicht zufällig - und darin liegt O t t o s eigentliche Leistung begründ e t 2 0 2 - integriert die Chronik des Freisinger Bischofs ein in unseren Augen eher geschichtstheologisches als historisches Element, nämlich Augustins Civitas-Lehre, völlig in die historiographische Tradition der Weltchronistik: D a s 12. Jahrhundert macht sich wieder Gedanken über die jahrhundertelang eher unreflektiert von den Kirchenvätern übernommenen Vorstellungen vom Ablauf und Sinn der Geschichte und über den Standort der eigenen Zeit innerhalb der Gesamtentwicklung, und es greift dazu auf die systematischen Gesamtbilder der Spätantike, der Zeit der Kirchenväter, zurück. Beide Werke des Bischofs, Chronik wie Gesta,bezeugen eindrucksvoll, welchen Rang die Geschichte im Denken des 12. Jahrhunderts einnimmt; G e s c h i c h t s t h e o l o g i e und Geschichtserzählung verbinden sich hier zu einer, wenngleich in dieser F o r m einzigartigen, natürlichen Einheit 2 0 3 , in der die Geschichtsschreibung von einem bestimmten Geschichtsbild geleitet wird, dieses aber auch ihrerseits beeinflußt 2 0 4 . O t t o zeigt das schon äußerlich sehr bewußt einmal an den zahlreichen Kommentaren zu einzelnen Ereignissen, am deutlichsten und ausführlichsten in seinen den einzelnen Büchern vorangestellten Prologen 2 0 5 , die im G r u n d e Geschichtsinterpretationen darstellen und den Erkenntniswert der Faktenerzählung ausdeuten, zum andern an der Struktur der Darstellung selbst: Der Bischof liefert in acht Büchern 2 0 6

So S p ö r l , Weltbilds. 12. Nach M o h r S.285 ist Ottos erstrebte Synthese von Theologie und Geschichte mißglückt. Mißglückt scheint mir jedoch eher M ö h r s Deutung, die einmal Theologie und Geschichte mit Civitas-Lehre und Weltreichslehre gleichsetzt (dazu unten S.202f.); wir werden sogleich sehen, daß Otto selbst hier ganz andere Inhalte im Auge hat. Zum andern „erstrebt" der Bischof keine Synthese; der Zusammenhang von Theologie und Geschichte ist ihm vielmehr selbstverständlich und schlägt sich entsprechend in seinem Werk nieder. 2 0 4 Zu eng sieht F ο 1 z, Augustin S. 331, den Sinn der Chronik allein in der Erklärung des Niedergangs der wehlichen Gewalt. 2 0 5 Vgl. H a i d (Bd. 45) S. 42. - Otto lernt diese Eigenart bei Orosius kennen, doch sind seine Kommentare von anderen Inhalten getragen. 206 Otto selbst gibt eine Gliederung der Chronik im Prolog (Chr.S. 10,18 ff.). 202

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1.3. Der theologische Hintergrund

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eine einheitliche, durchgängige Geschichtsschreibung von der Paradiessetzung der ersten Menschen (Chr. 1,2) bis zur ewigen Zukunft 207 , bezieht also die außer- und nachirdischen Zustände - von „Ereignissen" kann man hier eigentlich nicht mehr reden - in den allgemeinen Geschichtsablauf ein 208 . Damit hängt es zusammen, daß man immer wieder von einer eschatologischen Ausrichtung der Geschichtsschreibung Ottos gesprochen hat 209 . Otto kann die Zukunft in sein historisches Werk einbeziehen, weil die Geschichte darauf zuläuft und weil der Mensch darüber durch die göttlichen Weissagungen unterrichtet ist. Das trifft auch für die außerirdischen Mächte zu. Schmidlins Vorwurf (Weltanschauung S. 23), Otto klammere die Engel aus der Geschichte aus, trifft nicht grundsätzlich zu. 210 Zwar läßt Otto, anders als Augustin, seine Geschichte erst in der irdischen Sphäre mit der Vertreibung aus dem Paradies beginnen, verzichtet also auf eine Darstellung der Ursprünge der beiden Staaten im Reich der Engel, doch wird immerhin der menschliche Aufstieg mit dem Abfall der Dämonen erklärt (vgl. unten S. 169 f.), diese „Vorgeschichte" also vorausgesetzt. Otto kennt darüber hinaus auch ein unmittelbares Geschichtswirken der Engel; die Funktionen der einzelnen Engelstände (unten S. 177 f.) sind geradezu auf den Eingriff der himmlischen Wesen in die Geschichte auf Gottes Befehl hin ausgerichtet (Chr. 8,30). Das wird recht konkret deutlich, wenn Gott Loth durch einen Engel warnen läßt (Chr. 1,9 - S. 48,14 ff.) und die im Anschluß an Orosius (Hist. 6,22,5) berichtete Verkündigung der Geburt Christi durch einen Engel erfolgt (Chr. 3,6 - S. 141,25 ff.). Ebenso deutlich bezeugt Otto das Wirken des Teufels und der Dämonen (vgl. unten S. 270 f.)211: Müller, Hand Gottes S. 129 f., irrt also mit seiner Feststellung, anders als bei Augustin, der die Geschichte als Schauplatz gottferner Kräfte empfinde, mache bei Otto kein Teufel Gott das Feld der Geschichte streitig; die Dämonen sind lediglich in Gottes Regierung eingeordnet (dazu unten S. 168 f.).

207 Vgl. F ο 1 z, Augustin S. 332. Es geht nicht an, (wie G u t k a s S. 77 f.) das 8. Buch als Ausfluß einer pessimistischen Grundanschauung zu deuten. 208 Vgl. das Schlußwort Chr. 8,34 (S. 456,9 ff.) über das Wirken der divina sapientia: A fine igitur ad finem, id est a principio usque ad consummationem, unde Alfa et Omega vocatur, fortiter attingit, hoc est utrisque diversa meritorum stipendia iuste distribuit. Vela fine bonorum ad finem malorum. - M ü l l e r , Theologie S. 18 ff., bezeichnet das Zitat als Schlüsselstelle für Ottos eschatologisches Geschichts- und Gottesverständnis. 209 Vgl. M ü l l e r , Theologie S. 16f.; S t a b e r , Eschatologie S. 114; im 8.Buch, sagt F e l l n e r S. 169, zeigt sich Ottos Hauptziel, die Erzählung des Endes, am deutlichsten. 210 Das stellt schon S t a u d i n g e r S . 3 7 fest. 211 Vgl. R a u h , Antichrist S.323ff. - Das Dämonenkapitel (Chr. 1,26; vgl. unten S. 168 f.) steht bezeichnenderweise im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Geschichte von den fabulae, doch ist die Kenntnis über Dämonen gerade auch aus historiae gewonnen.

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Es mag überraschen, daß Otto trotz seines Ausblicks auf die nachirdische Ewigkeit, den Schmidlin zu Recht als einen notwendigen Abschluß der Geschichtsdarstellung bezeichnet 212 , und trotz seines Glaubens an ein Geschichtswirken übermenschlicher Kräfte nicht auch die vorirdische Schöpfungsgeschichte, die Augustin so ausführlich behandelt, in den Geschichtsablauf einbezieht, es sei denn, er hat sie einfach als bekannt vorausgesetzt. Hat er bewußt auf deren Darstellung verzichtet, so darf man das als Anhaltspunkt dafür werten, daß Otto sich stärker als der Kirchenvater auf die Zukunft hin orientiert, denn hier begnügt er sich nicht mehr mit den doch ebenfalls ausführlichen Erläuterungen des Bischofs von Hippo. Otto muß seinen Lesern ja nicht mehr wie dieser aus der Schöpfung beweisen, d a ß es ein solches Ziel in der Ewigkeit überhaupt gibt, weil seine Zeit daran nicht mehr zweifelt. Wohl aber gilt es nach wie vor, dem Menschen bewußt zu machen, was er tun muß, um dieses Ziel zu erreichen; deshalb ist der Blick auf die irdische Geschichte, mit dem Otto beginnt, nötig. Auch daran zeigt sich, daß Ottos Geschichtsschreibung von einer bestimmten Absicht geleitet ist.

Gegenstand und Art der Geschichtsschreibung liefern also erste Anhaltspunkte für das Geschichtsbild Ottos, um gleichzeitig neue Fragen aufzuwerfen. Um die philosophischen und theologischen Grundlagen der Geschichtsanschauung des Bischofs zu erkennen, haben wir zunächst den Zusammenhang zwischen Theologie und Geschichte zu betrachten, der sowohl die Voraussetzungen als auch die Funktion der Geschichtsschreibung erhellt. Danach wird die Frage nach dem Geschichtsbegriff zu stellen sein, dessen „ottonische" Definition erst eine Abgrenzung dessen zuläßt, was das „Geschichtsbild" eigentlich umfaßt. Schließlich sind die Methoden und Grundinhalte dieses Geschichtsdenkens zu untersuchen. Erst dann sind die Tendenzen der Historiographie Ottos aufgearbeitet, so daß wir zu einer detaillierteren Darstellung des Geschichtsbildes gelangen können. a) Theologie der Geschichtsschreibung: Heilsgeschichte als Gotteserkenntnis Der Sinn einer historischen Betätigung liegt nach dem Schlußwort Ottos (Anm. 1/208) weder in dem Wissen um die Vergangenheit an sich, noch dient sie, wie heute Geschichtsforschung betrieben wird, in erster Linie der Erklärung der Gegenwart: Ottos Historiographie ist überhaupt 212 Josef S c h m i d l i n , Die Eschatologie Ottos von Freising, Zeitschrift für katholische Theologie 29, 1905, S.445f.

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nicht primär auf die Vergangenheit ausgerichtet, ist nicht lediglich nobilissima in posterorum memoria (Chr. S. 3,6 ff.); sie sieht ihr Objekt vielmehr in dem W i r k e n G o t t e s 2 1 3 in bezug auf seine Geschöpfe, in den gesta virorum fortium Deique (unten Anm. 1/248). Sie betrachtet daher das Sein schlechthin über alle Zeiten hinweg, ein Sein, das sich in der Zeit, also in dem Abschnitt der irdischen, zeitabhängigen Geschichte, zu einem (menschengemäßen) Werden, zu einer Entwicklung, ausgestaltet. Ottos Geschichtsschreibung beschäftigt sich also mit Gott u n d dem Menschen in ihrer wechselseitigen Beziehung. Die eigentlich geschichtswirkende Kraft ist dabei Gott und nicht der Mensch, der lediglich als Gottes Geschöpf erscheint. Wenn der mittelalterliche Historiker in die Vergangenheit zurückblickt, so interessiert ihn daher weniger das (eigenmächtige) Handeln als vielmehr das S c h i c k s a l d e s M e n s c h e n von seinen Anfängen bis zu seiner endgültigen Bestimmung, ein Schicksal, das in allen seinen Phasen von Gott vorherbestimmt ist 214 . Der Mensch soll, wie Staudinger (S. 44 und S. 113) sagt, nicht eine Ordnung schaffen, sondern Gottes Ordnung erkennen. Damit ist die Aufgabe, ist die Absicht des Geschichtsforschers aber in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt. Wie die Bibel wird auch die Geschichte selbst zur göttlichen Offenbarung215, weil sie von Gott gelenkt ist. Die Betrachtung der Vergangenheit liefert damit Aufschlüsse über den Willen Gottes bezüglich der Menschheit, über die Zukunft des Menschen216 und - wie wir bei Otto sehen werden - über die Position der Gegenwart im Gesamtablauf der Geschichte, die von Gott planvoll 213 Ottos Interpretation der Gottesurteile in der Geschichte muß deshalb zugleich seine politische Haltung widerspiegeln. Zum Gottesbild vgl. unten S. 99 ff. 214 Vgl. K o c h S . 347. Es ist deshalb mißverständlich, wenn Κ ο c h S. 337 dennoch im Menschen das eigentlich in der Geschichte handelnde Subjekt erblickt (vgl. dazu unten S. 129 f.). 215 Vgl. S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 45 f., und F ο 1 z, Augustin S. 335 (»L'histoire est ainsi la revelation de Dieu«). - Zum grundsätzlichen Bewußtsein der Möglichkeit neuer Offenbarungen im 12.Jahrhunden vgl. Johannes B e u m e r , Der theoretische Beitrag der Frühscholastik zu dem Problem des Dogmenfortschritts, Zeitschrift für katholische Theologie74, 1952, S.216ff. - Hugo von St. Viktor, De sacramentis fideil,i,i (Migne PL 176, Sp.217), unterscheidet zwischen der ratio und der revelatio (Offenbarung) als Quellen der Gotteserkenntnis. 214 Otto folgt hier noch den gleichen Motiven wie Augustin, De civitate Dei 7,7, (S. 283,12 ff.): in omni enim motu actionis suae qui non respiat initium non prospicit finem. Unde necesse est α memoria respiciente prospiciens conectatur inttntio; nam cut exciderit quod coeperit, quo modo finiat non inveniet.

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gelenkt wird. Die Geschichte erhält dadurch einen ungeheuer wichtigen Stellenwert im Heilsplan Gottes bezüglich seiner Geschöpfe. G o t t e s e r k e n n t n i s , cognitio divinitatis217, ist nämlich das Endziel des menschlichen Lebens (vgl. unten S. 179) ebenso wie das Erkenntnisziel des Weisen (sapiens), der solchen Fragen nachgeht, bereits in dieser Welt (wenngleich ihm hier Grenzen gesetzt sind). Diesem Ziel dient auch die Geschichtsschreibung Ottos von Freising. Die Suche nach Gotteserkennntis entspringt letztlich einer p h i l o s o p h i s c h e n F r a g e s t e l l u n g 2 1 8 , und so kann es nicht überraschen, wenn Otto die für Friedrich bestimmte Chronik dem Kanzler Rainald von Dassel mit der Boethius entnommenen Bemerkung zusendet, in der Philosophie stecke der größte Trost im Leben219, wenn er gerade die Philosophen als amatores sapientiae neben die Theologen stellt (damit sind hier die Sibyllen gemeint) (Chr. S. 75,12 ff.) und in seine Chronik ein langes Kapitel über die griechischen Philosophen wie Piaton und Aristoteles einfügt (Chr. 2,8) 220 , zumal die Logik des letzteren der Wissenschaft zur Erkenntnis der Wahrheit und zur Vermeidung von Falschem dient (vgl. oben S. 42) 221 , also gerade auch der Geschichtsschreibung mit ihrer Aufgabe von fuga et electio nützlich ist. In Ottos Vorstellungswelt berühren sich scholastisches und historiographisches Denken. Den Exkurs über die Wandelbarkeit des Geschöpfs (GF 1,5) versteht der Chronist ausdrücklich als philosophische Betrachtung (philosophari) (GF 1,4 - S. 128,8 f.), deren Sinn es (nach einem Vergilvers) ist, causas rerum cognoscere (S. 128,10)222. Zu Recht ist der Bischof von Freising deshalb immer wieder als Geschichtsphilosoph gewürdigt worden223. 217 Vgl. Chr. 8,33 (S. 452,5f.): Vide, quod fruitionem beatitudinis cognitionem dixit esse divinitatis (in einem Kommentar zu Johannes 17,3). 218 Vgl. S t a u d i n g e r S . 7 f. ; S p ö r l , Weltbild S. 13. 219 Chr. S.4,3ff.: Cum iuxta Boetium in omnibus philosophiae disciplinis ediscendis atque tractandis summum vitae positum solamen existimem, vestrae nobilitatis personam eo familianus ac iocundius amplector, quo ipsius studio vos hactenus insudasse in eaque adprtme eruditum esse cognosce. 220 Zur Wertschätzung der Philosophie bei Otto vgl. H a s h a g e n S . 6 ff.; über Otto als Philosophen handeln S c h m i d 1 i n, Philosophie, und F ο 1 z, Temoin S. 70 ff. 221 Vgl. G l a s e r S.20. 222 Vgl. auch Chr. 8,4 (oben Anm. 1/143). 223 Vgl. oben Anm. 1/6. Den ursächlich philosophischen Gehalt der Schriften Ottos betont Κ ο c h S. 321 ff.

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Man darf freilich nicht übersehen, daß philosophia (und auch theologia) als zeitgenössische Begriffe nicht modern zu deuten sind (zu stark pocht zum Beispiel Schmidlin, Philosophie S. 158, auf die moderne Scheidung der Wissenschaften), eine Tatsache, auf die besonders Müller, Theologie S. 8 ff., hingewiesen hat: Danach ist philosophia der weitere Begriff, der die Bemühung um Erkenntnis schlechthin bezeichnet und hier auch ein kontemplativ-monastisches Leben einschließt224, theologia dagegen der engere Begriff, der allein auf die Erkenntnis des Göttlichen zielt. „Philosophie" behält aber stets einen religiösen Sinn und bemüht sich, ganz im Sinne des oben festgestellten Gebrauchs der ratio, um tiefer©· Einsicht des Glaubens (ebda. S. 14). Wichtiger noch als Müllers Unterscheidung der Begriffe ist vom zeitgenössischen Sprachgebrauch her eine andere: Philosophia wird im 12. Jahrhundert zum Sammelbegriff für das gesamte Lehrgebäude des (Schul-) Wissens225, für „Wissenschaft" schlechthin, und Otto selbst reiht sich in diese Vorstellung ein, wenn er in dem zitierten Brief an Rainald von Dassel (Anm. 1/219) von disciplinae philosophiae spricht und im Anschluß an das Boethiuszitat die Grammatik als deren unterste Stufe bezeichnet. Das Ziel bleibt freilich das gleiche, denn das gesamte Schulwissen des Mittelalters dient letztlich theologischen Zwecken. Man wird Otto also sowohl im zeitgenössischen wie im modernen Sprachgebrauch als Philosophen bezeichnen können, muß sich aber bewußt bleiben, daß der mittelalterliche Philosoph stets im Dienste der Religion wirkte: Die Frage nach den causae rerum konnte nur in Gott enden. Die Frühscholastik hat zwar die Voraussetzungen für eine Verselbständigung der weltlichen Wissenschaften geschaffen, und so unterscheidet Otto zwischen theologia und philosophia von ihrem Gegenstand her 2 2 6 , und der Philosophie fehlt die letzte Einsicht, die nur der Glaube vermitteln kann (oben S. 45 ff.); in ihrem Erkenntnisziel aber sind beide letztlich identisch: Ottos philosophischer Ausgangspunkt wird infolge der klaren Festlegung auf das Objekt „ G o t t " zu einem theologischen Problem 227 .

224 Etwa Chr.4,10 (S. 196,25); 4,14 (S.200,30f.). Schon Hashagen S.6f. stellt fest, daß es Otto stets um die Stellung der Philosophie zum Christentum und zur höheren Weisheit geht. Nach R a u h S. 306 f. sind sapiens und religtosus verwandte Begriffe. 225 Vgl. Hugo von St. Viktor, Didascalicon II, 1-28 (Migne PL 176, Sp. 751 ff.); vgl. dazu Ehlers, Hugo von St. Viktor S. 37 ff. (Schema S. 38), Β a r ο η, Science S. 49 ff., C h e η u, Theologie S.202ff., und Grabmann, Scholastische Methode Bd.2, S.235ff.; zu ähnlichen Einteilungen ebda. S. 28 ff. 226 GF1,50 (S.226,11 ff.); vgl. oben S.46. Schmidlin, Theologe S.96f., zieht allerdings eine zu scharfe Trennung zwischen beiden Wissenschaften. 227 Eine Identität von Theologie und Philosophie findet sich seit der Aufnahme philosophischer Lehren in das christliche Gottesbild (dazu unten S. 99 ff.) und geht letztlich

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Es ist daher müßig zu fragen, ob Otto nun Geschichtsphilosoph oder Geschichtstheologe war 2 2 8 , und es ist sicherlich verfehlt, wenn Koch (S. 323) feststellen will, O t t o schreibe bewußt als Philosoph, der vom Glauben absieht, da er von ratio statt von fides, vom sapiens statt vom Gläubigen spricht. Wie die ratio im Dienst des Glaubens steht und stets noch Wahrheiten unbeantwortet läßt, die wir nur mit Hilfe der fides verstehen können (oben S. 45), so fließen philosophische und theologische Betrachtung in der Frage nach der cognitio veritatis zusammen. Dort aber, wo Otto zwischen Theologie und Philosophie unterscheidet, stellt er sich, wie Fellner (S. 159) richtig bemerkt, auf die Seite der Theologen 2 2 9 , und das gerade an der Stelle, die Koch (S. 328 f.) als Beweis dafür anführt, daß Otto sich einer philosophischen Terminologie bedient, indem er genitura bewußt von dem christlichen Ausdruck creatura abhebt 2 3 0 ! Koch übersieht außerdem in seinem Plädoyer für Ottos philosophische Denkweise, daß der Bischof hier gerade die Erkenntnisgrenzen der ratio anspricht! Müller, Theologie S. 15 ff., begründet andererseits noch ausdrücklich, weshalb Otto a u c h Geschichtstheologe und nicht nur Geschichtsphilosoph ist, nämlich wegen der Anwendung theologischer (exegetischer) Methoden und des aus dem Glauben vorgegebenen Rahmens der Heilsgeschichte, der besonders im 8. Buch der Chronik deutlich wird. Der theologische Hintergrund des patristischen und mittelalterlichen Geschichtsdenkens aber ist heute unbestritten. Müller versucht

auf Aristoteles zurück (vgl. W. Β u r k e r t, Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, 1974, Sp.72Iff.). - Zum frühscholastischen Gebrauch der Begriffe vgl. jetzt Gangolf S e h r i m p f , „Philosophi" - „philosophantes". Zum Selbstverständnis der vor- und frühscholastischen Denker, Studi mediaevali 111,23, 1982, S. 697-727: Die frühscholastischen Denker sind dem Inhalt ihrer Schriften nach theologi, der Methode nach aber philosophantes, die sich an den antiken (heidnischen) philosophi orientieren. 228 Vgl. S c h m i d l i n , Weltanschauung S. 17: Otto war ebensosehr Geschichtsphilosoph wie Geschichtstheologe. Zum Begriff vgl. J. D a n i e l ο u/A. Η aid er/H. V o r g r i m l e r , Artikel „Geschichtstheologie", Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 4, 1960, S.793ff., und T. R e n d t o r f f , Artikel „Geschichtstheologie", Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, 1974, Sp.439ff. (mit sehr weitgefaßter Definition). Erst in der heutigen Geschichtstheologie, die die Geschichtsmächtigkeit des Menschen anerkennt, gewinnt der Begriff wieder eine engere, auf das Heilsgeschehen ausgerichtete Bedeutung (vgl. dazu aus protestantischer Sicht Wolfhart P a n n e n b e r g , Heilsgeschehen und Geschichte, in: D e r s., Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 2 1971, S. 22-78). Die heutige Geschichtstheologie sucht die (objektive) Geschichte nicht mehr als göttliches Wirken schlechthin zu begreifen, sondern den Heilscharakter i η der Geschichte aufzuzeigen; sie spricht deshalb lieber von einer „Theologie der Geschichte". Zum Charakter der patristischen Geschichtstheologie vgl. Henri-Irenee M a r r o u , Theologie de l'histoire, Paris 1968. 2 2 9 GF1,5 (S. 136,19ff.): Non enim hic ad effandum de theologica et ineffabili generatione seu nativitate attollimur, sed tantum de ea, que aphilosophis genitura, a nobis factura seu creatura did solet, disputationem instituimus. 230 K o c h S . 329 Anm. 23 versteht Theologie hier nicht als einen technischen Begriff und übersetzt nos mit „wir Christen", nimmt sich damit aber selbst die Berechtigung, einen unterschiedlichen Sprachgebrauch verschiedener Wissenschaften zu konstatieren.

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überflüssigerweise, die theologischen Aspekte des Geschichtsbildes herauszuarbeiten, nachdem er doch selbst den inneren Zusammenhang zwischen Philosophie und Theologie herausgestellt hat; wer Otto verstehen will, muß diese Komplexität beachten. Müllers Argumente sind auch zu formal; der eigentlich theologische Aspekt der Werke liegt vielmehr in der unlösbaren Verknüpfung der Geschichte mit Gott, die dann am deutlichsten - und das ist auch immer wieder betont worden (vgl. Müller, Theologie S. 16 f.) - in der Eschatologie sichtbar wird.

Wenn Otto seine philosophisch-theologische Fragestellung nun auf historischem Wege behandelt und eine Chronik schreibt, so zeigt sich auch darin, daß die G e s c h i c h t e innerhalb dieses philosophischtheologischen Systems liegt und in diesem Rahmen eine ganz bestimmte Funktion erfüllt, indem sie der Fragestellung und Antwort des Philosophen eine zeitliche Komponente hinzufügt 231 : Der Erkenntnisgegenstand des Philosophen in der Gegenwart wird nun als Endziel des Menschen in die Zukunft verlegt; ihm ist eine spezifisch historische Dimension eigen, weil dieses Ziel nur über eine lange Entwicklung zu erreichen ist. Geschichtsschreibung vermag philosophische Fragestellungen zu beantworten, weil Gott dem Menschen durch die Geschichte etwas sagen will, ihn zur Erkenntnis führt und ihm diesen Weg zum Ziel zeigt232. Der Blick des mittelalterlichen Denkers ist nach vorn, auf das Ende, gerichtet: Gott hat den Menschen zum Heil erschaffen und ihm das Heil versprochen; es ist Aufgabe des Historikers, den Weg dorthin herauszuarbeiten. Unter einer solchen Zielsetzung, die die ganze Entwicklung vom teleologischen Standpunkt des göttlichen Heilsplans her betrachtet, wird die Geschichte des Menschen zu einer einheitlichen H e i l s g e s c h i c h t e . Die in der geschichtstheologischen Forschung eingebürgerte, als solche aber nicht zeitgemäße Unterscheidung zwischen „Heilsgeschichte" und „Profangeschichte", die sich an der früheren römischen Kaiserzeit orientiert, in der sich eine

231 Vgl. M o r r i s o n S.217f.: Otto findet die neuplatonische Weltdeutung eines Augustin, Boethius und Pseudo-Dionysios Areopagita in der Geschichte bestätigt. 232 Vgl. Chr. prol. 1 (S. 7,10ff.): Die Geschichtsschreiber haben tragediae calamitatum überliefert (eine Anspielung aufOrosius):Congr«4 sane acprovida dispensatione creatoris id factum credimus, ut, quoniam homines vani terrenis caducisque rebus inherere desiderant, ipsa saltim vicissitudine sui deterreantur, ut a creatura ad creatorem cognoscendum per transitoriae vitae miseriam mittantur. - Für Otto besteht ein enger Zusammenhang zwischen sapientia (dem Ziel des gläubigen Philosophen) und potentia (dem wichtigsten Inhalt von Geschichte); vgl. Chr. S. 8,3f.: Sed quid mirum, si convertibüis est humana potentia, cum labilis sit etiam mortalium sapientia?

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christliche von einer heidnischen Geschichte abheben läßt, ist dann den Inhalten des christlichen Geschichtsbildes unangemessen, wenn „Heilsgeschichte", wie hier aufgezeigt werden sollte, vor allem das göttliche Handeln am Menschen 2 3 3 , „Profangeschichte" aber Weltgeschichte (im Sinne einer „weltlichen Geschicht e " ) bedeutet. Für den mittelalterlichen Denker geschieht jedes heilsgeschichtliche Ereignis zunächst ebenfalls in der Welt, ist also Teil der Weltgeschichte, wie umgekehrt die gesamte Weltgeschichte Heilsgeschichte ist, weil Gott sie auf das Heilsziel zulenkt und jedes einzelne Ereignis sich in seinem Namen vollzieht 234 . Von ihren konkreten Inhalten her sind Heilsgeschichte und Weltgeschichte also identisch; jene ist nichts anderes als der Aspekt, unter dem hier die Weltgeschichte betrachtet wird, sie tritt erst durch die Sinngebung aus ihr h e r a u s , Heilsgeschichte ist also die Betrachtung der Weltgeschichte als „gottgewollte Abfolge der Epochen" 2 3 6 . D a die gesamte mittelalterliche Geschichtsdeutung die Geschichte allein unter diesem Aspekt behandelt hat, erübrigt sich eine Unterscheidung; sie hätte nicht einmal im Sinne einer (durchaus denkbaren) Differenzierung vom Ende her zwischen „Heils- und Unheilsgeschichte", wie sie die Civitas-Lehre anbietet - eine Unterscheidung, die immerhin der eigentlichen Bedeutung von „Profangeschichte" als der Geschichte der „Nichtgeweihten", der Heiden, näherkommt 2 3 7 - einen Sinn, da hier nur eine Aspektverlagerung vorliegt: „Profangeschichte" wäre die Geschichte derer, die das Heil nicht erreichen; auch sie bleiben aber zunächst in den gleichen historischen Ablauf integriert. O t t o selbst macht das sehr deutlich, wenn er die Synopse, die er bei Frutolf wie schon bei Hieronymus vorfindet, auflöst und die Geschichte des Volkes Israel mit der Entwicklung der übrigen Reiche zu einer einzigen Chronik verarbeitet. Die Aussage, O t t o sehe die Geschichte als Heilsgeschichte, bedeutet jedenfalls mehr

233 Diese Definition gibt Η. 0 1 1 , Religion in Geschichte und Gegenwart Bd. 3, 1959, Sp. 187. Der Begriff „Heilsgeschichte" wurde zeitweise - vor allem im 19. Jahrhundert allerdings verflacht zu einer Geschichte, in der Jesus Christus im Mittelpunkt steht; (unter diesem Aspekt schreibt noch Hans Urs v o n B a l t h a s a r , Theologie der Geschichte. Ein Grundriß, Einsiedeln 41959, seine moderne Geschichtstheologie); vgl. W. L o h f f , Artikel „Heil, Heilsgeschichte, Heilstatsache", Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, 1974, Sp. 1031 ff. Zum religionswissenschaftlichen Aspekt des Heils vgl. Rainer F l a s c h e , Heil - heilig - profan. Schlüsselbegriffe der Religionswissenschaft? Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 30, 1978, S. 346-51. 234 Vgl. L a m m e r s , Weltgeschichte S.87, und C h e n u , Theologie S.89 (im ^.Jahrhundert gab es noch keine „Profangeschichte"). 235 L o h f f Sp. 1032 definiert: ein Motiv der Zusammenschau geschichtlicher Erfahrung unter dem Aspekt des Heils (d. h. des Gesamtausdrucks des religiös vermittelten Gutes). 236 So O t t Sp. 188. - Nicht aber ist Heilsgeschichte, wie A. D a r l a p p , Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 5,1960, Sp. 156, es auffaßt, eine abgesetzte Geschichte innerhalb der Profangeschichte ( D a r l a p p spricht von einem „koextensiven Verhältnis"). 237 In diesem Sinn unterscheidet etwa Hugo von St. Viktor zwei soaetates (De sacramentis legis naturalis et scriptae, Μ i g η e PL 176, Sp. 40 D); in seiner Chronik trennt er die Geschichte der regna mundi von der Geschichte des Gottesvolkes ab, jedoch bezeichnenderweise nur in der Zeit des Alten Testaments. Vgl. Roger B a r o n , La Chronique de Hugues de Saint-Victor, Studia Gratianal2, 1967, S. 168 f. und 177 ff.

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als die Aufzählung der wichtigsten Heilsstationen238, auch wenn deren Bedeutung außer Zweifel steht; selbst die Hinordnung der vorchristlichen Geschichte auf Christus (so Müller S. 133) ist nur Teil und logische Folge des historischen Heilsdenkens (und bereits Augustin geläufig). Heilsgeschichte bedeutet auch für Otto die Annäherung a l l e r Geschichte an das Heil in der Zeit239. Mit der Charakterisierung der gesamten Geschichte als Heilsgeschichte ist der wichtigste Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtstheologie aufgezeigt: Die Geschichte, die innerlich durch das Wirken Gottes zusammengehalten wird, ist letztlich theologisch bestimmt. Indem die Geschichtsschreibung den unveränderlichen Willen Gottes und die Entwicklung der Menschen zu ihrem von Gott gesteckten Ziel aufzeigt, leistet sie einen Beitrag zur Theologie 240 . Die ganze Chronik versteht sich als eine theologisch-philosophisch ausgerichtete Historiographie, weil sie bemüht ist, in der Ereigniserzählung einen geschichtstheologischen Hintergrund und Sinn aufzudecken 241 , und sie kann das wiederum nur, weil sie die Geschichte selbst als einen notwendigen Bestandteil der Theologie betrachtet, gleichsam als den Bereich, der den göttlichen Heilsplan in seiner historischen Entwicklung zum Gegenstand hat. Geschichtsschreibung ist gewissermaßen ein A s p e k t d e r T h e o l o g i e : Da Gott sich in der Geschichte historisch (das heißt auch: dem der Zeit unterworfenen Menschen gemäß) zu erkennen gibt, ist jede Geschichtsbetrachtung „historische Theologie" 242 , die Lehre von Gott oder besser: vom göttlichen Willen - denn Gott selbst ist unveränderlich und daher unhistorisch (vgl. unten S. 122 f.) - in seiner geschichtlichen Dimension, nämlich in seiner Wirkung auf die 238

Vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 136: Die Geschichte ist Heilsgeschichte, weil die Weh von Gott erschaffen, durch Christus erlöst, in der Kirche geeint ist und im Jüngsten Gericht ihr gottgesetztes Ende findet. 239 So L a m m e r s, Weltgeschichte S. 87. 240 Die Nähe der historia zur Theologie als Hilfswissenschaft zur Gotteserkenntnis hat bereits S ρ ö r 1, Grundformen S. 20, hervorgehoben. 241 Dieses wichtige Motiv fehlt bei L a e r ο ix, L'historien, bei der Aufzählung der Gründe für eine mittelalterliche Historiographie; vgl. richtig E n g e l s in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, 1975, Sp.623. 242 Vgl. Hans W o l t e r , Die geschichtliche Bildung im Rahmen der Artes liberales, in: Artes liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters, hg. von Josef K o c h (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters5), Leiden-Köln 1959, S. 59ff.; E h l e r s , Hugo S. 51 ff., spricht von einer „theologischen Qualität der Geschichte". Vgl. Β r u η η e r, Abendländisches Geschichtsdenken S. 510: Geschichte wird zu einem Stück Theologie.

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Welt und auf die Menschen, denn nur an ihrer Geschichte, an ihrem Schicksal, läßt sich Gottes Plan ablesen. In diesem Sinn zählt Ottos Historiographie durchaus zur theologischen Literatur243. Hinter einer solchen Feststellung steckt weit mehr als eine bloße Betonung der geistlichen Intention der Chronik, wie sie Staber (S. 111 ff.) hervorhebt (der im Gegensatz dazu auch den weltlichen Charakter der Geschichtsschreibung herausstellt). Staber beurteilt den „geistlichen Charakter" zu äußerlich nach moralischen Werturteilen und rechtfertigenden Kommentaren und schränkt ihn im übrigen zu sehr auf die Eschatologie ein. Wie wir inzwischen wissen, hat die gesamte Geschichte (und nicht zuletzt auch das Weltliche!) theologischen Charakter. Man wird daher kaum, wie Staber (S. 106 ff.), Eschatologie und Philosophie als Rechtfertigung der eines Geistlichen eigentlich unwürdigen historischen Betätigung ansehen dürfen. Otto ist vielmehr Zeuge dafür, wie eng seine Zeit Geschichte und Theologie miteinander verbunden sieht. Die eigentliche Funktion der Geschichtsschreibung erwächst erst aus ihrem Charakter als „geschöpfhafte Gottesbetrachtung" durch Auswertung der Geschichte als einer göttlichen Offenbarung. Historiographie und Geschichtstheologie berühren sich in ihrem Gegenstand, der historia. Wir müssen also als nächstes Ottos Geschichtsbegriff untersuchen und gleichzeitig darauf achten, wieweit Otto selbst den dargestellten heilsgeschichtlichen Aspekt der Theologie begrifflich reflektiert.

b) Historia: Inhalt und Leistung der Geschichte „Geschichte" begrifflich abzugrenzen, stellt uns zunächst vor gewisse Schwierigkeiten, denn es scheint so, als müsse man gemäß Ottos Abgrenzung der irdischen von der künftigen Geschichte (Eschatologie) zwischen einem engeren und einem weiteren Geschichtsbegriff unterscheiden. Die ältere Forschung hat sich die Entscheidung leicht gemacht und ihren eigenen Geschichtsbegriff, der sich auf das Geschehen der Vergangenheit beschränkte, zugrundegelegt (wie wir sehen werden, sogar mit einem gewissen, aus Ottos Awiorw-Definition zu rechtfertigenden Recht). Die Geschichtstheologie sprengt ihrer Ansicht nach den historischen Rahmen. Man hat sie zwar als denkerische Leistung gewürdigt, dabei aber den inneren Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtstjieologie unterschätzt. 243

S. 312.

Vgl. M ü l l e r , Theologie S.30; S t a b e r , Eschatologie S. 112; R a u h , Antichrist

1.3. Der theologische Hintergrund

73

(1) Wenn Otto, der ja nach eigenen Angaben Geschichte schreibt, im Rahmen seiner heilsgeschichtlichen Fragestellung seine Chronik um das 8. Buch erweitert und seine historiographische Weltgeschichte mit der eschatologischen Ewigkeit zu einem einzigen Ablauf verbindet, so begreift er offensichtlich dieses gesamte Geschehen als eine einzige, zusammenhängende Entwicklung und verbindet auf diese Weise irdische Geschichte und Ewigkeit. In seiner Programmerklärung im Prolog der Chronik sagt Otto, er wolle das Schicksal der beiden dvitates

zu einer

historia (nämlich der Chronik) „zusammenweben", also eine Geschichte schreiben, die irdisches und nachirdisches Leben zusammenfaßt (Chr. prol. 1 - S . 8,26 ff.): Quia ergo per haec et buiusmodi mundiprobatur versibilitas, necessarium ratus sum ad petitionem tuam, frater karissime Isingrime, bistoriam texere, per quam largiente Deo erumpnas avium Babyloniae, gloriam etiam regni Christi post banc vitam sperandam, in bac expectandam ac pregustandam Ierusalem civibus ostenderem. Beides bildet für O t t o eine Einheit, wenn er auch nicht von „Geschichte" spricht 2 4 4 , und er verteidigt ausdrücklich diesen Zusammenhang 2 4 5 : Ein Hinausgreifen über die irdische Zeit wird nicht nur durch das Vorbild Augustins in seiner Schrift De ävitate Dei, sondern auch durch die biblischen Bücher selbst gerechtfertigt, qui, dum mistico

sensu et deifica sapientia sintgravidi, diversas tarnen mortalium erumpnas et bellorum tempestates continent (S. 392,19ff.). Mystischer und historischer Sinn gehören zusammen: In jedem biblisch-historischen Ereignis steckt eine tiefere Bedeutung, die sich ergründen läßt und die irdische Geschichte eng mit der ewigen Wahrheit verbindet. (2) O t t o selbst unterscheidet andererseits auch sehr deutlich zwischen beiden Zuständen, kann doch nach dem obigen Zitat die Ewigkeit vorerst nur erwartet und „vorgekostet" werden. Allein die Tatsache, daß der Chronist sich zu einer Rechtfertigung seines 8. Buchs gezwungen sieht, beweist, wie wenig selbstverständlich zumindest die Darstellung der zukünftigen Ewigkeit in einem historiographischen Werk ist, und O t t o 2 M Anders L a m m e r s, Einleitung S. X L I : Auch das 8. Buch gehört für Otto zweifellos zur historia. 245 Chr. 8 prol. (S. 392,5 ff.): Nunc eis respondendum videtur, qui forte hunc nostrum laborem tamquam inutilem evacuare conabuntur, quasi tot altemantium malorum historicis narrationibus tarn ardua et archana scripturarum documenta non digne commisceamus.

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

geht hier ja auch durchaus eigene Wege. Wie schon Augustin fehlt dem Bischof von Freising für die Gesamtheit der menschlichen Entwicklung ein eigener Begriff; seine Terminologie bleibt zwangsläufig traditionell; die historia beinhaltet allenfalls den vergänglichen Teil dieses Gesamtablaufs 246 , die series verum gestarum (GF prol 1 - S. 120,11 f.) 247 oder die gesta virorum fortium gesta Deique24S oder auch die humana miseria (Chr. 1,5 - S. 43,20). (3) Historia nennt Otto vor allem aber das spezielle Geschichtswerk, die Geschichtsdarstellung (wie bereits in dem obigen Beispiel) 249 . Bereits Isidor (Etymologiae 1,41) hatte die historia nicht als res gestae, sondern als narratio rei gestae, per quam ea, quae in praeterito facta sunt, dinoscuntur, definiert, und die Theorie des Mittelalters hat diese Begriffsbestimmung übernommen 250 . Bezeichnenderweise verwendet Otto den historia-Begriff sowohl für seine Chronik 251 wie für die Gesta Frederia. Hier spricht er von der Chronik als prior historia (1 prol. - S. 114,13 f.; 1,11 - S. 150,4; 1,21 - S. 164,7; 1,24 - S. 168,17), während er die Gesta selbst „Chronica" (vgl. oben Anm. 1/10), daneben aber ebenfalls historia nennt (1 prol. - S. 118,25). Offensichtlich gibt es zwischen Chronik und Gesta nicht einen solch grundsätzlichen historiographischen Unterschied, daß Otto sie auch begrifflich hätte auseinanderhalten müssen252, mit der Wendung prior historia unterscheidet er seine beiden Werke lieber nach der Abfassungszeit als nach inneren Kriterien; beide scheinen also eine durchaus ähnliche Funktion innerhalb der historischen Wissenschaft zu erfüllen. Chroniken und Historien sind im Zeitverständnis nicht unbedingt zwei verschiedene 244

Vgl. Chr. 2 prol. (S. 68,24 ff,); 2,30 (S. 101,18 ff.) - Zum mittelalterlichen Geschichtsbegriff vgl. E n g e l s in: Geschichtliche Grundbegriffe2, S.610ff. 247 Vgl. GF 1 prol. (S. 118,28): series gestorum. 248 Im Brief an Friedrich heißt es (Chr. S. 2,25 ff).: Honesta ergo erit et utilis excellentiae vestrae historiarum cognitio, qua et virorum fortium gesta Deique regna mutantis et cui voluerit dantis rerumque mutationem patientis virtutem acpotentiam considerando sub eius metu semper degatis ac prospere procedendo per multa temporum curricula regnetis. - Vgl. auch GF1 prol. (S. 114,2 f.). 249 Vgl. B r e z z i , Ottone S.220f.; allgemein zu dieser Erscheinung Karl K e u c k , Historia. Geschichte des Wortes und seiner Bedeutungen in der Antike und in den romanischen Sprachen, Diss. Münster 1934, S. 57ff. 250 Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis fidei prol. Kap. 4 (Migne PL 176, Sp. 185A). Meines Erachtens leitet B o e h m , Historia S.672ff., zu Unrecht einen dreifachen Geschichtsbegriff im Sinne einer bestimmten Erkenntnisweise, eines literarischen Genos und des realen Faktums aus Isidor ab. 251 Vgl. im Brief an Rainald von Dassel (Chr. S. 5,17f.): Preterea, quo ordine currat baec historia, breviter exponam, ut hoc cognito qualitas operis facilius pateat. 252 Vgl. S t a u d i n g e r S.21.

1.3. Der theologische Hintergrund

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Gattungen, wie man oft meint 253 . „Geschichtsschreibung" (historia) umfaßt für Otto alle Gattungen historischen Inhalts und nicht nur die Chronographie (oben Anm. 163): Auf der Suche nach einem Grund für die unrichtige Meldung des Orosius, die heidnischen Schriftsteller hätten die Zeit vor Ninus unterschlagen (Otto hat nämlich Nachrichten über diese Zeit bei Josephus gefunden), vermutet der Bischof (unter anderem), man ( = Orosius) habe damals mit scriptores wohl nur die Chronographen bezeichnen wollen, die ihr Werk in chronologischer Reihenfolge hielten (Chr. 1,3 - S. 41,1 ff.); seiner eigenen Zeit ist eine solche Einengung des Begriffs folglich fremd.

Wenn Otto unter historia also eher traditionell das Weltgeschehen oder vielmehr dessen historische Darstellung versteht, so entbehrt der Begriff doch nicht des metaphysischen Zusammenhangs, um den es hier geht. Schon die Definition der Geschichte als die „Taten tapferer Männer und Gottes" leitet erneut auf die höhere Ebene über. Otto entfernt sich nur scheinbar von dieser Zweisphärigkeit, wenn er in den Gesta die Taten eines Herrschers, Friedrich Barbarossas, beschreiben will, der mehr als alle seine Vorgänger ein eigenes Geschichtswerk verdiene254: Trotz eigener Verdienste macht letztlich nämlich nicht die eigene Kraft, sondern die fortuna Friedrich zu einem erfolgreichen König255; auch hier ist Gott am Werk. Die Fortuna des Mittelalters ist keineswegs mehr die altrömische Göttin (vgl. W. F. Otto, R E 13,1910, Sp. 12 ff.) und auch nicht der geschichtliche Zufall (vgl. die Fortuna-Kritik Augustins, De civitate Dei 4,18 f. und 5,1 ff.), sondern eine christlich umgedeutete Macht, in der die göttliche Vorsehung wirksam wird 256 . 253 Vgl. dazu jetzt Bernard G u έ η e e, Histoires, annales, chroniques. Essai sur les genres historiques au Moyen Age, Annales ESC.28, 1973, bes. S.lOlOf.; vgl. auch L a c r o i x , L'historien S.34ff. Dagegen versteht M e l v i l l e S.309ff. chronographia (als Deskription des Geschehens in der Zeitlichkeit) und historiographia (als Darlegung eines abgeschlossenen historischen Sachverhalts in seiner Komplexität) als zwei verschiedene, allerdings auch nebeneinander in einem Werk anwendbare Leitvorstellungen. 254 GF1 prol (S. 118,14 ff.): indignum ratus sum, augustorum clarissime Friderice, ceterorum regum seu imperatorum gestis enumerates tua silentio subprimere, immo, ut verius dicam, dignissimum putavi priorum virtutibus tuas sicut auro gemmam superponere. Inter omnes enim Romanorum prindpes tibi pene soli hoc reservatum est Privilegium, ut, quamvis α prima adolescentia bellicis desudasse cognoscaris officiis, obscenum tibi nondum vultum fortuna verterit. - Vgl. Η a i d (Bd. 45) S. 66 f. 255 Vgl. auch GF 1,47 (S. 218,23 ff.): Attamen, ne Frederiaprincipis, qui inpresentiarum est, fortuna, que ei ab adolescentia etiam in periculis gravibus usque ad presentem diem numquam ad plenum nubilosum vultum ostendit, silentio tegatur, unum de omnibus et pro omnibus, que nobis in eadem via acciderunt, casum ponere volui. 254 Zur Tradition des Fortunabildes vgl. Alfred D ö r e n , Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Vorträge der Bibliothek Warburg2, 1922/23, S. 71-144, und Hans F.

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Sie erstreckt sich, wie im obigen Beispiel, sowohl auf das persönliche oder geschlechtergebundene Glück (entsprechend der antiken Felicitas) als auch auf den Charakterzug einer (scheinbaren) Launenhaftigkeit257. Otto entnimmt den antiken Vorstellungen von der Fortuna vor allem die volubilitas-Idee (Plinius, Naturalis historia 2,22 f.): Fortuna wird also zum Ausdruck des Wechselhaften, des Wandels von Glück und Unglück, innerhalb des planvollen Wirkens der divina Providentia (vgl. unten S. 126 f.). Der Bischof von Freising hält historisches (irdisch-menschliches) Faktum und seine überirdisch-göttliche Ursache grundsätzlich auseinander, während die Bezüge zwischen beiden Elementen zugleich wesentlicher Bestandteil seines Geschichtsbildes sind; in diesem Sinn ist auch die seiner Darstellung eigene Verbindung von reiner Geschichtsschreibung und theoretischen Kommentaren zu verstehen. Die zahlreichen Exkurse im 1. Buch der Gesta (1 prol.; 1,5; 1,55; 1,66) 258 , die man - noch deutlicher als die eher verständlichen theologischen Spekulationen der Chronik - früher gern als überflüssig abtun wollte259, sind ein charakteristischer Ausdruck dieser Geschichtsauffassung. Staudinger (S. 28 ff.) hat gegenüber älteren Lehren gezeigt, daß diese „Exkurse" vom Selbstverständnis Ottos her eng mit seiner Geschichtsschreibung verbunden sind und jeweils auf den konkreten, historischen Zusammenhang verweisen. Darüber hinaus haben sie die wichtige Funktion, Mißverständnisse bezüglich einzelner Begriffe oder Berichte auszuschalten. Daß die philosophischen Erörterungen ebenso wie das 8. Buch der Chronik oder der Ausblick auf das Mönchtum wesentlicher Bestandteil der ottonischen Geschichtsschreibung sind, wird heute nicht mehr bestritten (vgl. Staudinger S. 26 ff. gegen Hashagen). Sie bieten im Gegenteil die Möglichkeit, Ottos Geschichtsbild genauer zu bestimmen. Η a e f e 1 e, Fortuna Heinrici IV. Imperatoris. Untersuchungen zur Lebensbeschreibung des dritten Saliers (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 15), Graz-Köln 1954, S.49ff. (dazu korrigierend Friedrich L o t t e r , Zur literarischen Form und Intention der Vita Heinrici IV., in: Festschrift Helmut B e u m a n n , Sigmaringen 1977, S.321 ff. und 328 f.). 257 Diese beiden Bedeutungen stellt Herwig W o l f r a m , Fortuna in mittelalterlichen Stammesgeschichten, MIÖG 72, 1964, S. 1-33, heraus. - In eigenwilliger Interpretation sucht F.P. P i c k e r i n g , Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung und epische Dichtung im Mittelalter und in der Neuzeit (Philologische Studien und Quellen 39/80), 2 Bde., Berlin 1967-76, die mittelalterlichen Geschichtsbilder nach der Betonung des Fortuna-Motivs oder der Providentia Dei in „boethische" und „augustinische" Geschichtsbilder einzuteilen; Ottos Chronik ist danach augustinisch, die Gesta sind boethisch (Bd. 2, S. 104 ff.). Tatsächlich vereinigen sich beide Motive in fast allen Geschichtswerken. 258 Vgl. dazu Μ ο r r i s ο η S. 221 ff. (die Exkurse behandeln Themen, die Otto sehr am Herzen liegen). 2 5 9 So H a s h a g e n S.22 und S c h m i d t in, Weltanschauung S. 71, und D e r s . , Philosophie S. 157, der von unorganischen philosophischen Exkursen spricht.

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1.3. Der theologische Hintergrund

N e b e n den res gestae bezieht O t t o nach dem Vorbild Lucans und Vergils auch res fabulosae ein (GF 1 prol. - S. 120,7 f.) 240 , unterscheidet aber (mit der antiken, durch Isidor überlieferten Rhetorik-Lehre) zwischen Fabeln und Geschichte: Ulysses wird nicht nur in fabulae, sondern auch in historiae erwähnt (Chr. 1,26 S. 59,17ff.); Fabeln sind um der Götter willen erdichtet oder von den Dämonen vorgegaukelt (S. 60,6 ff.), jedenfalls nicht wahr! Erwähnenswert sind schließlich auch die ethnographischen Exkurse über die Ungarn (GF 1,33) oder die Langobarden (GF 2,14), in denen Otto in erster Linie wohl einen Vergleich mit seiner Heimat anstrebt 2 und die wie die Erdbeschreibung zu Beginn der Chronik (Chr. 1,1) zugleich den Zusammenhang von Zeit und Raum verdeudichen. W i r k e n s o l c h e E i n s c h ü b e also gar n i c h t s o f r e m d , w i e ältere, an der p o l i t i s c h e n G e s c h i c h t e interessierte H i s t o r i k e r es e m p f a n d e n , s o läßt sich d e m g e g e n ü b e r d o c h n i c h t abstreiten, daß a u c h O t t o selbst sie n i c h t m e h r als G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g i m e i g e n t l i c h e n Sinn versteht, s o n d e r n d u r c h aus z w i s c h e n d e r h i s t o r i s c h e n E r z ä h l u n g u n d d e n t h e o r e t i s c h e n S p e k u l a t i o n e n , die w i r als G e s c h i c h t s t h e o l o g i e b e z e i c h n e n , u n t e r s c h e i d e t 2 6 2 . I m m e r w i e d e r läßt er s e i n e n K o m m e n t a r e n i n der C h r o n i k e i n historiam

b z w . ad historiae

allem

bezug

in

auf

die

Seriem letzten

revertamur Dinge,

theologische

( H ä r e s i e n ) , O r d e n s l e b e n u n d selbst d i e civitas nicht mehr zur eigentlichen In d e n Gesta Frederia dictio 260

v o n d e r altiora

Streitigkeiten

Dei-Symbolik gehören

historia.

h e b t sich d i e H i s t o r i o g r a p h i e als plana

velut

ad

folgen263; Exegese, vor

pbilosophica

oratio

historica

ab 2 6 4 . O t t o s G e s c h i c h t s -

Vgl. v o n M o o s S. 150. Vgl. GF 1,33 (S. 194,19): sicut aput nos moris est. Vgl. auch Ottos sympathisierende Bemerkungen über Bayern und Regensburg (GF2,45) und über Worms (GF2,48). 242 Vgl. F u n k e n s t e i n S . 9 4 f . 2M Vgl. beispielsweise Chr. 3,16 (S. 155,33 f.) nach einer kurzen apokalyptischen Ausdeutung eines Pauluswortes (Otto trennt hier also sogar die endzeitlichen Ereignisse von der historia ab); 4,4 (S. 191,2 f.) nach einem Kapitel über die Entwicklung der civitas Dei; 4,19 (S. 210,26 f.) nach der Darstellung des Ketzerprozesses gegen Johannes Chrysostomos; 7,9 (S. 321,9 ff.) nach einer Klage über die wirren Zeiten und der Erwähnung der geistlichen Ritterorden; vgl. GF1,56 (S. 248,8) nach der Darstellung der Trinitätslehre Gilberts von Poitiers. - Wenn Otto in den Gesta Sätze wie: Sed ut ad id unde digressi sumus bzw. digressus est stilus redeat/redeamus nach in unseren Augen durchaus historischen Einschüben wie der ritterlichen Tat eines Troßknechts (GF2,25 - S. 328,1) oder dem Wirken Arnolds von Brescia ( G F 2 , 3 0 - S. 342,13) einfügt, so wird daran deutlich, wie eng (politisch) er seine eigentliche historiographische Aufgabe eingrenzt. 2(4 GF 1 prol. (S. 120,2 ff.): Nec, si α plana historica dictione ad evagandum opportunitate nacta ad altiora velut pbilosophica acumina attollatur oratio, preter rem eiusmodi estimabuntur, dum et id ipsum Romani imperii prerogative non sit extraneum rebus simplicioribus altiora interponere. - Vgl. H a s h a g e n S . 5 . 241

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

werke enthalten ganz bewußt beide Elemente, um, wie der Bischof es ausdrückt, einen breiten Leserkreis zu gewinnen und sowohl die Freunde der series rerum gestarum wie der sublimitas subtilitatis anzusprechen 265 , aber auch, weil beides, wie hier gezeigt werden sollte, innerlich zusammengehört: Die unübersehbaren, natürlichen Zusammenhänge zwischen dem historischen Ereignis und seiner Deutung im göttlichen Weltplan rechtfertigen eine (noch ungewohnte) Zusammenfassung auch in einem Werk, das Otto immer noch als historia bezeichnen kann 266 . Nicht der spekulative Stoff an sich spricht gegen die Aufnahme in ein Geschichtswerk, sondern die Zeit, die zur Verarbeitung nötig ist, fehlt dem beschäftigten Menschen: Die negociosa officia (nämlich die Geschäfte eines Bischofs), sagt Otto (Chr. 8 , 7 - S. 400,14 ff.), schließen tiefgründige Spekulationen wegen Mangels an Muße aus; zu seinem 8. Buch habe er nur gelegentlich die nötige Ruhe gefunden.

Geschichte und göttliche Ordnung, Geschichtsschreibung und Geschichtserklärung sind nicht identisch, aber sie gehen auseinander hervor und werden erst zusammen sinnvoll: Die vom Menschen wahrgenommene Geschichte (historia) fordert die Interpretation, die Deutung in bezug auf ihren Sinn und ihre Funktion im göttlichen Heilsplan, geradezu heraus. Einen solchen Zusammenhang hat Otto nicht erst konstruiert. Weil die Geschichte göttliche Offenbarung ist, enthält sie stets einen immanenten „mystischen Sinn" (oben S. 73). Geschichte (als Aspekt der Theologie) rückt damit in die Nähe der biblischen Offenbarung, von der sie sich allenfalls nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit unterscheidet; Geschichtsschreibung (als theologische Arbeitsweise!) ist der biblischen E x e g e s e eng verwandt, die aus dem Wortlaut der Schrift einen geistlichen, nämlich einen übertragenen (allegorischen), ethischen (tropologischen) oder auf Gott bezogenen (anagogischen) Sinn erschließt; und bezeichnenderweise nennen Ottos Zeitgenossen jenen Wortlaut der Bibel

265 GF1 prol (S. 120,11 f.): Sic enim non solum hi, quibtts rerum gestarum audiendi Seriem inest voluptas, sed et illi, quos rationum amplius delectat subtilitatis sublimitas, ad eiusmodi legenda seu cognoscenda trahuntur. 266 S t a u d i η g e r S. 28 ff. hebt hervor, daß Otto sich auf Vergil beruft, der ebenfalls ein theologisch ausgerichtetes Werk schrieb. Nach F u η k e η s t e i η S. 93 ff. betrachtet Otto die Vereinbarkeit von Geschichte und Reflexion als Charakteristikum seiner eigenen Zeit.

1.3. Der theologische Hintergrund

79

ebenfalls historia267. Diese Bedeutung des historia-Begritts ist längst bekannt268, der über die Begriffsgleichheit hinausgehende inhaltliche Bezug zur Geschichtsschreibung ist jedoch bisher kaum gesehen worden269. Ottos Geschichtsspekulation, seine Geschichtstheologie, ist Geschichtsexegese. Mit der Kennzeichnung simplicior - alterior (Anm. 1/264) trifft der Bischof zugleich eine Wertung und räumt der philosophisch-theologischen Spekulation einen höheren Rang ein, ohne damit den grundsätzlichen Wert der Geschichtsschreibung in Frage zu stellen. Diese steht nämlich nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der Arbeitsfolge her auf einer niedrigeren Stufe, denn erst auf ihrer Grundlage kann eine theoretische, eine geschichtstheologische Erörterung sinnvoll sein, und ohne diese bleibt die Chronographie wertlos 270 . Geschichtstheologie ist sozusagen die notwendige zweite Stufe der bloßen Historiographie, die in sich noch wenig Wert hat; sie stellt nichts anderes dar als eine von theologisch-ideologischen Prämissen geleitete Interpretation der Geschichte, deren Methode, der wir uns jetzt zuwenden wollen, ebenfalls von der Theologie her bestimmt ist271. Wir verstehen nun, weshalb Otto seinem Werk den traditionellen historia-

267 Grundlegend zum Komplex der Schriftauslegung ist Henri d e L u b a c , Exegese medievale. Les quatres sens de l'ecriture, 2 Bde., Paris 1959-64. Vgl. auch Beryl S m a 11 e y, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford 1952 (ND. Notre Dame/Indiana 21970). Zu Ottos exegetischen Neigungen vgl. S c h m i d 1 i η, Theologe S. 100 ff., und A r b u s ο w, Liturgie S.9. Die Theorie des vierfachen Schriftsinns war gerade im 12. Jahrhundert sehr verbreitet. Einige Beispiele: Hugo von St. Viktor, De tribus maximis arcumstantiis prol. (ed. G r e e n S.491); De sacramentis fidei 1 prol.4 ( M i g n e PL176, Sp.l84f.); De scripturis Kap. 3 (PL 175, Sp. 11 f.); Honorius, De animae exsilio Kap. 12 (M i gn e PL 172, Sp. 1245); Expositio in Cantica Canticorum Kap. 1,1 (ebda. Sp. 359). 268 Vgl. B o e h m , Historia S.687ff.; Joachim E h l e r s , „Historia", „allegoria", „tropologia" - Exegetische Grundlagen der Geschichtskonzeption Hugos von St. Viktor, Mittellateinisches Jahrbuch 7,1972, S. 153-60; C h e η u, Theologie S. 64 ff.; Arno S e i f e r t , Historia im Mittelalter, Archiv für Begriffsgeschichte 21, 1977, S. 243 ff. 269 S e i f e r t S. 44 streitet ihn sogar ab. 270 Das wird vor allem in der Schule von St. Viktor betont; vgl. Hartmut F r e y t a g , Quae sunt per allegoriam dicta. Das theologische Verständnis der Allegorie in der frühchristlichen und mittelalterlichen Exegese von Galater 4,21-31, in: Verbum et Signum, Bd. 1: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung, München 1975, S. 42; vgl. auch Marie-Dominique C h e n u , Les deux äges de l'allegorisme scripturaire au moyen age, Recherches de Theologie ancienne et medievale 18,1951, S. 24; Ε h 1 e r s, Hugo, S. 52 ff. (die historia ist fundamentum omnis doctrinae). 271 Vgl. Erich A u e r b a c h , Typologische Motive in der mittelalterlichen Literatur (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln 2), Krefeld 21964, S. 12 ff.

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I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Begriff zugrundelegen kann, ohne auf seinen weitreichenden Anspruch einer Auslegung zu verzichten. Eine Untersuchung seines Geschichtsbildes muß ihren Gegenstand jedenfalls sehr weit fassen und diese theologischen Zielsetzungen der Geschichtsschreibung einbeziehen, wenn sie Ottos Ideenwelt gerecht werden will.

c) Methodik der Geschichtsdeutung: Vom Sichtbaren zum Unsichtbaren - Ottos Figuralismus Ottos geschichtstheologische Chronographie vollendet nur, was Geschichtsschreibung ohnehin zu leisten vermag, denn in dieser Mittlerstellung zwischen Geschichte (historia) und Geschichtstheologie, die in ihrem Gegenstand als res gesta Dei, als göttlich gelenkte Heilsgeschichte, identisch werden (oben S. 71), erhält die Geschichtsschreibung, zumal wenn sie sich so eindeutig als Interpretation versteht wie Ottos Historiographie, ihre besondere Funktion als Mittel der Gotteserkenntnis; die Ereignisse selbst gewähren freilich selten einen direkten Einblick, sie deuten typologisch und allegorisch, durch ihren misticus sensus27Z, auf die Wahrheit und bedürfen daher eben noch der Interpretation: Der Geschichtsschreiber ist aufgerufen, aus den Ereignissen den göttlichen Willen herauszulesen und aus dem sichtbaren Ablauf die verborgene Zukunft, die unsichtbare Welt Gottes zu erschließen: „Per visibilia ad invisibilia" heißt Ottos Schlagwort, das er Augustin entnimmt und das den Erkenntniswert der Geschichte beschreiben soll273. Sobald diese Methode in systematischer Anwendung zu geschichtsphilosophischen Ergebnissen gelangt, wird sie seit Dempf (Sacrum Imperium S. 229 ff.) als

272 Misticus bedeutet bei Otto stets: allegorisch (vgl. A r b u s o w , Liturgie S. 9). Zu Hugo von St. Viktor vgl. B a r o n , Science S. 167ff. 273 Vgl. Chr. 4 prol. (S. 180,3 f.); 2,8 (S. 78,1 ff.) über das Forschen der griechischen Philosophen!; 8,20 (S. 419,4 ff.); 8,33 (S. 451,23). Invisibüis ist dabei stets auf Gott bezogen! Zur Vorlage vgl. Augustin, Civ. Dei 10,14 (S. 424,8f.): ut a temporalibus ad aetema capienda et a visibilibus ad invisibilia surgeretur. - Auch Hugo von St. Viktor will per similitudines visibüium verum ...ad invisibilia gelangen (De vanitate mundi Kap. 2, M i g n e PL176, Sp.715A; Commentaria in Hierarchiam caelestem Kap. 1,5, ebda. 175, Sp. 933); vgl. E h l e r s , Hugo S. 40 f. und S. 65. Das „Figurale" (similitudo) ist hier bereits in der Definition angesprochen.

81

1.3. Der theologische Hintergrund

S y m b o l i s m u s bezeichnet 274 , ein Begriff, der zwar nicht unzeitgemäß ist, aber doch nicht ganz trifft, weil das Symbol im mittelalterlichen Denken (anders als in unserem Verständnis) eine eigene Wirklichkeit besitzt, „real" und Repräsentant des Wahren ist 275 . Eine symbolische Weltdeutung ist gerade im 12. Jahrhundert, vornehmlich in Deutschland, beliebt geworden; ihre bedeutendsten Vertreter sind Rupert von Deutz, Gerhoh von Reichersberg und Hildegard von Bingen. Auch Otto denkt zwar „symbolisch", ist aber nicht Symbolist in dem Sinn, daß er die Welt ausschließlich symbolisch deutet 276 . Dempfs Unterscheidung zwischen der scholastischen Methode, die Widersprüche in der Tradition abzugleichen und eine kausale Weltordnung zu erfassen sucht, und der symbolischen Methode, die nach der Bedeutung der sinnreichen Ordnung für die jenseitige Welt fragt, jene Unterscheidung zwischen einer „wissenschaftlichen Metaphysik" und einer intuitiven geistig-religiösen Haltung, trifft auf Otto, der beide Wege in seinem Werk zu vereinigen weiß, schon gar nicht mehr zu. Scholastische Methode mit dem Primat der Vernunft und exegetische Methode mit der Hingabe in mystische Meditation schließen sich für Otto nicht aus (vgl. auch Glaser S. 22 f.), sie setzen sich nur gegenseitig Grenzen. Es ist überhaupt fraglich, ob der zuerst von Leclercq aufgezeigte Gegensatz zwischen monastischer und scholastischer Theologie nicht zu streng gesehen ist; für eine Klassifizierung der Literatur ist er jedenfalls wenig geeigner , vor allem die Historiographie läßt sich nicht mehr recht zuordnen (Beumer S. 555 Anm. 32). Treffender hat Lammers figuralen

deshalb von einem typologischen

Geschichtsdenken

gesprochen als dem

und

Versuch,

historische Szenen allegorisch und anagogisch aufzuschließen 2 7 9 . 274 Dempf beschränkt die Symbolik auf die anagogische Auslegung der Geschichte. Zur Entstehung des Symbolismus aus der Bibelexegese vgl. R a u h S. 9 ff., zu seiner Leistung Chenu, Theologie S.167ff. und B e i n e r t S.120f. 275 vgl. dazu C h e η u, Theologie S. 177 und 181; Erich A u e r b a c h , Figura, Archivum Romanicum 22,1938, S. 462; jetzt Gerhan B. L a d η e r, Medieval and Modern Understanding of Symbolism: A Comparison, Speculum 54, 1979, S. 223-33. 276 Vgl. B r e z z i , Ottone S.283. 277 L e c l e r c q , bes. S.213ff.; vgl. dazu Wolfram von den S t e i n e n , Monastik und Scholastik, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89, 1958/59, S.243-56; vgl. auch Joachim E h l e r s , Monastische Theologie, historischer Sinn und Dialektik. Tradition und Neuerung in der Wissenschaft des 12. Jahrhunderts, in: Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia9), Berlin-New York 1974, S.58-79, und Chenu, Theologie S. 343 ff. 278 Vgl. dazu Johannes B e u m e r , Zum Einteilungsprinzip der frühscholastischen Literatur, Scholastik40, 1965, S. 537-57. - M a g r a s s i S . 4 5 betont, daß Ruperts Methode zwar antidialektisch, aber ebenso neu und fortschrittlich ist. 279 L a m m e r s , Einleitung S.LVIIIss.: „Die figurale Deutung nimmt eine wirkliche Geschichte, sagen wir ein historisches Geschehnis als reale Prophetie für ein anderes wirkliches, historisches Ereignis. Das anzeigende reale Geschehnis ist die Figur; das Gemeinte, das präfigurierte Ereignis ist die Erfüllung." Zur „figura" vgl. A u e r b a c h ,

82

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Ottos figurales Denken spiegelt sich sehr deutlich auch in einigen Miniaturen der Jenaer Handschrift wider2 , etwa bei der Darstellung der Menschheitsgeschichte (dazu Lammers, Geschichtsbild S. 178 f.) oder der Weltreiche; die Parallelität der Herrscherbilder (Augustus, Karl der Große, Otto der Große) (dazu Lammers S. 191 f. und S.203) sowie die Geburt Abrahams und Christi (dazu Lammers S. 193 f.) sind ebenfalls figürlich zu verstehen. Otto selbst erläutert die methodischen Grundlagen des figuralen Denkens anläßlich der Zerstörung Babylons im Jüngsten Gericht (Chr. 8,20 - S. 419,4ff.; nach Apoc. 18,21): Talis locutio apud Grecos simbolica dicitur, ubi videlicet divina scriptura d e re invisibili vel spiritali loquens collatione facta materialibus seu visibilibtts signis utitur (Sperrungen von mir). In der materiell-sichtbaren Erscheinung (hier: der Bibel) steckt also ein unsichtbar-geistiger Sinn, den das Symbol, die collatio erschließt, und gerade darauf beruht ja auch Ottos

(Vergleich) 281 , „exegetische

Geschichtsschreibung". Das Beispiel Babylons zeigt deutlich, wie für Otto Geschichte zur Allegorie werden kann (Chr. S. 419 ff.): Die wörtliche Auslegung (ad litteram) von Is. 21,9 und 13,19ff. sowie Ier. 51,7f. stellt die geschichtliche Stadt (in historia) unter König Cyrus vor; das historische Faktum ist dabei zugleich significatio für eine vollere und wahrere Erfüllung, zumal bisher nur ein Teil der Voraussagen wörtlich eingetreten ist282. (Restat, ut, etsi quaedam ibi ad litteram impleta fuerint, reliqua plenius et verius in significatio illius consummari credantur). An das Jeremiaswort knüpft Otto schließlich die dritte, tropologische Auslegungsart an (S. 422: Gold als sapientia). Das Beispiel lehnt sich nicht - wie viele andere Ausführungen im 8. Buch - an Augustin an; der Freisinger Bischof folgt hier vielmehr der Gewohnheit seines eigenen Jahrhunderts! In übertragener Weise deutet Otto auch die Zahlen bei der Interpretation des Engelfalls (Chr. 8,32 - S. 449,8 ff.: quod est dicere, ut non numerum litteralem, sed Figura, passim; D e r s., Typologische Motive S. 10 ff.; zur innerweltlichen Typologie Ottos vgl. R a u h , Antichrist S.317f. - Zum Unterschied zwischen Symbolistik und Typik vgl. A u e r b a c h , Figura S.471, und Wilhelm K ö l m e l , Typik und Antitypik. Zum Geschichtsbild der kirchenpolitischen Publizistik (11.-14.Jahrhundert), in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung (Festschrift Johannes S p ö r l ) , München 1965, S.279. 280 Vgl. L a m m e r s , Geschichtsbild S.212. Die Miniaturen sind abgebildet in L a m m e r s ' Ausgabe (Tafel 1-14). Es handelt sich um Federzeichnungen (14 Tafeln mit 31 Szenen) in brauner Tinte; Miniaturen zum 8. Buch fehlen, da der Codex Jenensis zunächst nur die ersten sieben Bücher enthalten hat (vgl. L a m m e r s , Geschichtsbild S.209f.). 2 , 1 Vgl. dazu L a d n e r , Symbolism S.223ff. 282 Otto untersucht (S.421 f.), welche der Aussagen bereits eingetroffen sind.

1.3. Der theologische Hintergrund

83

iuxta significationem numeri mysticum sensum respiciatf**, und symbolisch ist, wie Dempf (Sacrum Imperium S. 249 f.) bemerkt, bereits die Struktur des Werks, wenn Otto in sieben Büchern sieben Untergänge und sieben Übergänge des Reichs schildert 284 . Figurales Denken (in typum futurorum) (Chr. 1,10 - unten Anm. IV/124) innerhalb der Geschichte belegen die Parallelen zwischen Josua und Jesus (Chr. 1,20 - S. 54,11 f.: forma Christi) sowie zwischen den Patriarchen und der Kirche (Chr. 1,10 - unten S. 212) oder zwischen Babylon und Rom (unten S. 141 f.) , den Höhepunkt des Figuralismus aber bildet die CivitasLehre, die Babylon als Figur der civttas mundi (vgl. Chr. 1,4 - S. 42,11 ff.) und Jerusalem oder denpopulus Dei als Figur der civitas Dei betrachtet (vgl. Chr. 1,20) und in beiden eine Figur für die ewige Verdammung bzw. Vollendung erblickt.

Solche allegorischen Bezüge zu erkennen, erfordert ein hohes Maß geistiger Überlegung. Wie die Logik, stellt auch die von Gott offenbarte Geschichte, die bewußt auf Späteres und Höheres deutet, Wege der Gotteserkenntnis bereit: Figuralismus als Geschichtsauslegung tritt bei Otto nicht etwa in einen Gegensatz zur ratio, zu einem logisch-rationalen Weltverständnis, vielmehr ist der tiefere Sinn der Geschichte nur mit Hilfe der Vernunft zu erfassen286. (Wieder verbinden sich in Otto zwanglos „scholastische" und „monastische" Elemente). Ist Geschichtsdeutung auf die Vernunft angewiesen, dann erreicht der Geschichtsschreiber, der gewissermaßen einem Zwang zur Interpretation unterliegt, wiederum feste Grenzen 287 , weil der Mensch nicht alle Ratschlüsse Gottes begreifen kann, so daß trotz aller verfeinerten Methoden manches „Unsichtbare" vorerst unzugänglich bleiben wird. (Zur ontologischen Erklärung dieses Sachverhalts vgl. unten S. 120 f.). Otto geht in seinen Ausführungen nicht so weit wie Anselm von Havelberg, der behauptet, niemand d ü r f e erkennen, wie Gott wirklich ist 288 . Der Bischof 283

Ich folge hier der Ausgabe von L a m m e r s ; bei Hofmeister lautet der (wenig sinnreiche) Text: quod est dicere, ut non numerum, sed litteralem, sed iuxta significationem numeri mysticum sensum respiciat. 284 Vgl. damit Ottos eigenen Plan (Chr. S. 10,18 ff.). 285 ]} e r p ar allelismus der historischen Ereignisse und Gestalten bildet Ottos Weg, aus der Geschichte Zukunftsprognosen zu entwickeln (Stab er S. 120). 284 Vgl. R a u h , Antichrist S.307f.; zu Hugo von St. Viktor vgl. B a r o n , Science S.217. 287 Vgl. Chr. 3 prol. (S. 131,11 ff.) zur Frage, weshalb Christus so spät in die Welt kam: Comprehendere itaque occulta consilia Dei non possumus et tarnen plerumque de his rationem reddere cogimur. 288 Anselm von Havelberg, Dialogi 1,13 ( M i g n e PL188, Sp.ll59C, S a l e t S. 114/ 16).

84

I.

Tendenzen im Werk Ottos von Freising

von Freising begnügt sich - wie später Alan von Lille 28 ' - mit der Feststellung der menschlichen Unfähigkeit, Gott in angemessener Weise zu benennen. Eine Erklärung dafür hat H u g o von St. Viktor gesucht, der drei verschiedene Sehweisen unterscheidet: Das Auge der Kontemplation ist nach dem Sündenfall erloschen, das Auge der Vernunft getrübt; so bleibt dem Menschen im Sündenstand nur das Auge des Fleisches unversehrt erhalten 290 .

Die Methode per visibilia

ad invisibilia,

die auf dem figuralen

Charakter des Sichtbaren beruht, hat nämlich zur Folge, daß Otto das Himmlische mit irdischen Beispielen und Begriffen beschreiben291, menschliche Gründe für die göttlichen Ratschlüsse geben muß 292 , die außerhalb seines Verständnisses liegen (Chr. 3 prol. - S. 131,14 ff.) 293 : Quid? Rationem reddemus de his, quae comprehendere non possumus? Rationes reddere possumus, sed humanas, cum tarnen rationes comprehendere non possimus divinas. Sicque fit, ut, dum de theologiäs loquimur, cognatis de his sermonibus carentes verbis nostris, qui homines sumus, utamur.

Sobald Geschichtsdeutung zur Theologie, zur Gotteserkenntnis führt, ist sie nur über unzureichende Begriffe zu erfassen, eine Tatsache, die noch für das Verständnis der Civitas-Lehre von entscheidender Bedeutung sein wird (nicht zufällig wendet der Bischof die figurale Methode besonders häufig im 8. Buch an). Sie hat Grenzen, ohne ihren Aussagewert zu verlieren, macht sie doch den „unaussprechlichen Gott" aussprechbarer294: Das Licht der Sonne gibt bereits einen Vorgeschmack auf das ewige Licht Gottes (Chr. 8,33 - S. 452,15 ff.), und die Bewunderung ruhmreicher Könige läßt schon ahnen, mit welcher Freude die Seligen die Schau Gottes genießen werden (S. 452,23 ff.).

289

Vgl. G ö s s m a n n , Glaube S.49. Hugo von St. Viktor, De sacramentis fidei Kap. 1,10,2 ( M i g n e PL 176, Sp.329f.). Vgl. G r a b m a η π, Scholastische Methode Bd. 2, S. 265. - Zu Hugos Drei Augen-Theorie vgl. auch S p r a n g e r S.30ff. und B a r o n , Science S. 192f.; vgl. auch unten Anm. III/222. 291 Neben dem Himmlischen aber auch das verborgene Innere: Die unterschiedliche Mönchskleidung symbolisiert die innere Absicht (Chr. 7,35 - S.371 f.); vgl. L a m m e r s , Edition S. 564 Anm. 122 a. 292 Vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 114f.; C h e n u , Theologie S. 100ff. 293 Dieser Gedanke ist, wie M ü l l e r , Hand Gottes S. 114f., hervorhebt, keinem Historiker vor Otto gekommen und geht letztlich auf Augustin zurück. 294 Chr. 3 prol. (S. 131,22 ff.): Indeest, quod, cum Deus dicatur ineffabilis, farinosmulta tarnen in laude sua velit. Cum ergo dicatur ineffabilis, secundum quendam modum videtur esse effabilis. - Vgl. dazu M ü l l e r , Hand Gottes S. 115. 290

1.3. Der theologische Hintergrund

85

Der Figuralismus ist gewissermaßen Ottos Ausweg aus der Einsicht, daß der ratio Grenzen der Gotteserkenntnis gesetzt sind, weil sie sich menschlicher Begriffe bedienen muß, ein Ausweg, der dem exegetisch geschulten Theologen, der zudem noch Geschichtsschreiber ist, naheliegen mußte: Der Mensch erfaßt das Ubermenschliche (das Metaphysische) in „Bildern" (wie der Civitas-Lehre!) und figuralen exempla der einzig wahren Wirklichkeit; die Figur ist gleichsam die Übertragung jener Wirklichkeit auf den menschlichen Verstand, der Figuralismus die Methode einer Gotteserkenntnis, die anders nicht möglich wäre. „Bild" bedeutet für den Realisten Otto freilich nicht bloßes nomen (Symbol), sondern besitzt eine Realität, die „Konkretheit" alles Geschöpflichen (dazu unten S. 119 f.). Es erschließt auf einem legitimen Weg die Bereiche, von denen die Geschichte selbst nur mittelbar kündet. Per visibilia ad invisibilia zu gelangen, ist nämlich nur deshalb möglich, weil unsere irdische, gegenständliche Welt bereits ein unvollkommenes Abbild der himmlischen Vollkommenheit darstellt, das an ihr teilhat (vgl. unten S. 115 f.). (Otto stellt sich somit auch das Jenseits gegenständlich vor) 295 . Die Kirche (in ihrem irdisch entwickeltsten Zustand unter der Herrschaft Christi) ist Spiegel des ewigen Reiches Christi (Chr. 4,4 - S. 189,24 ff.; vgl. unten S. 133); ihre verschiedenen ordines der Würdenträger spiegeln die unterschiedlichen Grade der ewigen Seligkeit296, die Stände der himmlischen Kurie wider297. Die Gegenwart läßt jenen Ruhm per speculum et in enigmate erkennen (Chr. 8,33 - S . 452,8f. nach l.Kor. 13,12)2'8.

Die Geschichtsexegese erschließt einen Teil der wahren Vollkommenheit, Otto ist nicht stärker Historiker als Symbolist 299 , sein Figuralismus

2,5

Vgl. die Beschreibung des ewigen Lebens; unten S. 176 f. Chr. 8,29 (S. 440,13 ff.): Quod etiam in presenti videmus, ttbi in una ecclesia diversis in dignitatum ordinibus alium alio clariorem, alium alio superiorem conspicimus. Quam ad instar illius curiae distinctam Dominus Moysi loquens ostendit, cum ait:, Vide, ut omnia facias iuxta exemplar, quod tibi monstratum est in monte' (Ex. 25,40). 297 Chr. 8,31 (S. 447,7 ff.) nach dem Kommentar Hugos von St. Viktor zu Dionysios Areopagita (Lib. 2, Μ i g η e PL 175, Sp. 947 C): Et est dictum, quod, sicut ,in presenti per dona gratiarum et gradus dignitatum' proportionaliter, hoc est differenti et ordinata participatione, ,disponimur', sic in caelistis curiae contubemia promoveamur. 298 Dieser innere Zusammenhang über die Figur mindert die Diskrepanz zwischen irdischen Begriffen und ihrem jenseitigen Inhalt (dazu unten S. 219 ff.). 299 So Β r e ζ ζ i, Ottone S. 283.

86

I.

Tendenzen im Werk Ottos von Freising

ist vielmehr selbstverständlicher Bestandteil seiner Geschichtsauffassung.

d) Inhalt der Geschichte: Von der Wandelbarkeit zur Stabilität Erkenntnis des göttlichen Willens liefert die Geschichte aber noch in einer viel augenfälligeren Weise als in der Sichtbarmachung des Unsichtbaren, und das figurale Denken bildet nicht einmal die hervorstechendste Methode in Ottos Geschichtswerk, das noch eine weitere, mindestens ebenso wichtige Funktion erfüllt300: Das Sichtbarmachen der invisibilia läßt den Menschen das Ziel, das Gott der Geschichte gesetzt hat, erkennen; der Historiker will darüber hinaus mit dieser Methode erreichen, daß der Mensch dieses Ziel auch erstrebt, und ihm den Weg zu Gott eröffnen. Dazu muß er ihm den Charakter der irdischen Geschichte klarmachen: Otto will mit seiner Chronik, wie er sagt, nicht die Neugier befriedigen, sondern die Katastrophen (calamitates) der Geschichte und das wechselvolle Schicksal historischer Größen, die miseriae mutabilium casibus rerum alternantium, aufzeigen301. Geschichtsschreibung, sagt der Bischof hier noch einmal sehr deutlich, ist nicht Selbstzweck (das Faktengerüst als solches haben andere vor ihm ja bereits sorgfältig und zufriedenstellend - luculenter - erarbeitet), sondern sie verfolgt den Ablauf, die Tendenz der Geschichte (tenor bistoriaef02: Wie Orosius will Otto nicht Kriegstaten verherrlichen (eine Tradition, die freilich auch noch nicht abgerissen ist, wie die Schilderungen des Italienzugs Friedrich Barbarossas in den Gesta beweisen), sondern das Elend der Kriege, die 300 M ü l l e r , Theologie S. 15, stellt fest, daß Otto nicht gerade ein typischer Vertreter des Symbolismus ist. 301 Chr. 2,32 (S. 105,7 ff.): Quod quia alii satis luculenter per ordinem executi sunt, nos brevitatis causa, presertim cum non curiositatis gratia, sed ad ostendendas caducarum rerum calamitates scribamus, hystoriam stringere volumus. Non enim, ut exemplo illorum, qui fortiterse gessisse arbitrati sunt, alios ad bella accendamus (vgl. Oros. Hist. 3 prol.), sed ut in bellis variisque alternantium rerum casibus mutabilium miserias ostendamus, bellorum ac rerum mutantium Seriem teximus. 302 Vgl. Chr. 1 prol. (S. 9,20 ff.): Quorum (= Augustins und Orosius') vestigia sequendo sie de utraque dicere proposuimus, ut tenorem hystoriae non omittamus, quatinus et religiosus auditor, quid in mundanis rebus ob innumeras mutationum miserias abhorrendum sit, animadvertat ac studiosus seu curiosus indagator non confusam rerum preteritarum Seriem inveniat.

1.3. Der theologische Hintergrund

87

mutationes der Vergangenheit, vor Augen führen, die in ihrer nicht abreißenden Folge zu dem unentrinnbaren historischen Gesetz der mutabilitas werden303. Geschichte ist für Otto Wandel, ein dauerndes Auf und Ab304, und es ist seit langem erkannt, daß die mutabilitas rerum im Mittelpunkt der Geschichtsphilosophie Ottos steht und zugleich das wichtigste Motiv für die Chronik bildet305; nicht immer ist man sich jedoch ihrer positiven Funktion bewußt gewesen: Otto folgt der Darstellungsweise des Orosius, indem er eine „Unglücksgeschichte" schreibt306, nicht aber dessen apologetischer These von den „glücklichen christlichen Zeiten" 307 ; seine Geschichtstheologie ist wie die Augustins eschatologisch: Der Wandel wird nicht durch das Christentum, sondern erst im Jenseits überwunden. Orosius erschließt aus der mutabilitas der Vergangenheit die Besserung der Zeiten in der Gegenwart, Otto dagegen die Tendenz aller irdischen Geschichte, die erst in der Ewigkeit überwunden wird, und er gewinnt aus dieser Erkenntnis eine moralische Zielsetzung: Otto arbeitet die Wandelbarkeit heraus, um den Menschen zur Ewigkeit bewußt zu machen und seinen Weg zu Gott zu ebnen, indem er ihn die mutationes verachten lehrt (vgl. Anm. I/302)308. Denn stets verweist die Vergänglichkeit auf das Ewige und Himmlische, das sich gerade durch immutabilitas auszeichnet309, und die Geschichts-

303

Das Prinzip der mutabilitas als zentraler Aspekt des ottonischen Geschichtsdenkens mag hier, wo es um das Wesen der Historiographie geht, noch unerklärt bleiben. Wir wissen seit Κ ο c hs Forschungen, daß Otto dafür sehr wohl auch eine metaphysische Begründung bereithält (dazu unten S. 122 ff.). 304 Vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 113. 305 Vgl. H a s h a g e n S . 26ff.; S c h m i d Ii n, Weltanschauung S. 39; F e l l n e r S . 167ff.; Κ ο c h S. 347ff.; Β r e ζ ζ i, Ottone S. 221 ff. 306 Vgl. die Abwandlung des orosianischen „Exclamare hoc loco dolor exigit" (Hist. 5,5,1) als Einleitung zu Klagekommentaren mit Chr. 2,51 (S. 128,30 f.) zum Tod Casars und Chr. 4,31 (S. 222,31 ff.) zum Untergang Westroms. - Der Gedanke der mutabilitas rerum humanarum an sich, den Orosius hervorhebt, ist aber auch Augustin nicht fremd; vgl. De civitate Dei 17,13 (S. 235,10 ff.). - Neben Orosius ist auch der Einfluß Lucans zu erwähnen; vgl. dazu v o n M o o s S . 148 ff.: Die Lucanrezeption im Mittelalter steht im Zusammenhang mit der Vorstellung vom Aufstieg und Niedergang der Reiche (ebda. S. 161) und entspringt der Verunsicherung der hochmittelalterlichen Gesellschaft. 307 Vgl. dazu L a c r ο i x, Orose S. 161 ff., und G ο e t z, Orosius S. 98 ff. 308 Zum „Contemptus mundi" vgl. R a u h S.335ff. 309 Chr. 5,36 (S. 261,3 ff.) zum Zerfall des Frankenreichs: Cum ergo ,mundus transeat et concupiscentta eius' (1. Joh. 2,17), ab ipsa migrandum ad Deum vivum, qui est immobilis et incommutabilis manet, ad eiusque beatam et etemam civitatem quis dubitaveritf Igitur

88

I.

Tendenzen im W e r k O t t o s von Freising

Schreibung (res gestae) verleiht dem Menschen die Einsicht (ratio!), die ihn dorthin führt 310 : Aus dem geschichtlichen Wissen, der historiarum cognitio (Chr. S. 2,26), erwächst mit der Erkenntnis der mutatio rerum (Chr. S. 1,6 f.) nämlich der Einblick in die Vergänglichkeit aller irdischen Geschichte, die dem Menschen das Streben nach stabilitas eingeben und ihn auf die Ewigkeit (eternitas) hinlenken soll, indem er ein gutes, nämlich ein demütiges Leben führt 311 : Otto erklärt die Geschichte, wie Klinkenberg (S. 67) feststellt, aus einer Spannung zwischen zeitlicher Weltlichkeit, Wandelbarkeit, Sünde einerseits und überzeitlicher Weltentrücktheit, Standhaftigkeit, Tugend andererseits. Die Geschichtsschreibung erhält hier selbst eine Funktion in dem Heilsplan, den sie aufzeigen will, denn sie erzieht zur Tugend und weist den Weg zum Ziel312; auch wenn Otto selbst betont, er wolle Geschichte und keine sententiae aut moralitates schreiben (vgl. oben S. 59), enthält sein Geschichtswerk, wie Klinkenberg (S. 66) mit Recht hervorhebt, neben seiner metaphysischen Grundlage und seinem kognitiven Inhalt eine primär e t h i s c h e T e n d e n z 3 1 3 , deren Adressat die Menschen der Gegenwart sind und die über den moralischen Zweck, der jeder Geschichtsschreibung innewohnt (vgl. oben S. 50 f.), weit hinausgeht: omnibus regnis mundi imminutts, cum et Francorum, qui ultimi Romam habere meruerunt, ex quo divisum est, minoratum apparet regnum, nos, qui ad ostendendas mutationes rerum res gestas scribimus, hac regni mutatione tanquam sufficients argumento ad regni caelestis immutabilitatem misst huic quin to operifinem imponamus. 310 Vgl. auch Chr. 2,43 (S. 119,1 ff.): Sufficiunt ad comprobandam mortalium mutabüitatem mala quae posuimus, multisque de ävibus mundi dictis ad cives Christi ac Christiana tempora festinandum arbitramur. Meminisse enim lectorem volumus nos ad ostendendas mutabilium rerum miserias conflictationes seculiponere expromisso debere, quatinus earum consideration ad regni Christi quietem permanentemque sine fine felicitatem transeundum rationis intuitu ducamur. 311 Chr.7,24 (S.348,10ff.) zum wechselvollen Schicksal KonradsIII.: Quae varietas humanarum rerum ex ubertate gratiae Dei descendens ad vitandam superbiam ac humüitatem appetendam nos indtare debet. Et quid aliud tarn misera mortalium conditio, nunc de inopia ad regnum, nunc ad inopiam de regno trahens et crucians hominem, quam contemptumpresentiumparit et ad etemorum stabilitatem, quae nec mutatur nec transit, nos mittitf - Vgl. S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 53 ff., und M ü l l e r , Theologie S. 61 ff. Zum Demutsideal vgl. ebda. S. 11 ff. und S t a u d i n g e r S . 12f. 312 Vgl. S c h m i d l i n , Weltanschauung S.58: Die Geschichtsschreibung hat einen didaktischen und einen asketischen Zweck; sie belehrt und ermahnt. 313 Vgl. schon H a s h a g e n S . 33: Die apologetische Tendenz des Orosius ist bei Otto durch eine ethische ersetzt. Zum Moralismus des Bischofs von Freising vgl. auch R a u h S.305f.; zur pädagogischen Tendenz seiner Geschichtsschreibung L a m m e r s , Weltgeschichte S. 83 f.

1.3. Der theologische Hintergrund

89

Gegenüber der gesamten bisherigen Historiographie, die ihren ethischen Charakter damit begründete, Vorbilder und Ideale vorzustellen und zur Nachahmung zu empfehlen (eine Tendenz, die auch O t t o s Werk ja nicht völlig verloren hat, wie die Widmung an Barbarossa zeigt) und allenfalls Schändliches zur Abschreckung aufzunehmen 3 1 4 , sieht O t t o selbst das eigentlich N e u e seiner Geschichtsschreibung darin, daß sie die abschrekkende Wirkung, die eine Unglücksgeschichte ausübt, ins Positive wendet, den Blick auf die Z u k u n f t freigibt und das Handeln der Menschen u m der Ewigkeit willen beeinflußt. Weniger die Ereignisse an sich bilden exempla - obwohl O t t o auch historische Vorbilder (wie Regulus) 315 anerkennt-, sondern sie belehren den Menschen, indem sie ihm aus der Geschichte heraus den richtigen Weg zeigen. Ottos ethische Tendenz deckt sich durchaus mit der geschichtstheologischen Funktion von Geschichtsschreibung, sie geht auf in seinen religiösen Überzeugungen, auf denen sein gesamtes Werk beruht. Der Historiograph zeigt in der Geschichte die Veränderungen auf, die der Philosoph metaphysisch erklärt (darüber unten S. 122 ff.); beide aber verfolgen einzig einen religiösen Zweck, indem sie dem Menschen den Weg zum Ziel der Ewigkeit ebnen. Die mutabilitas-ldee ist nicht neu, von Otto aber erstmals konsequent in der Geschichte aufgezeigt worden. Die theoretische Grundlegung hat bereits Hugo von St. Viktor geliefert, der die sttccessio mutabilitatis als ein Kennzeichen des saeculum nach dem Sündenfall begreift316 und dabei eine dreifache mutabilitas des Ortes, der Form und der Zeit unterscheidet317; auch hier soll die Wandelbarkeit den Menschen zur Einsicht in das Ewige führen 318 . Honorius Augustudunensis hat die Zeit (tempus) als vidssitudo return definiert319, und, wie Otto, ein Streben von der volubilitas zur stabilitas gepredigt320, und die Idee der Wechselhaftigkeit 314

GF1 prol. (S. 114,2 ff.): Omnium qui ante nos res gestas scripserunt hec, ut arbitror, fuit intentio virorum fortium clara facta ob movendos hominum ad virtutem animos extollere, ignavorum vero obscura facta vel silentio subprtmere vel, si ad lucem trabantur, ad terrendas eorundem mortalium mentespromendo ponere. Vgl. S c h u l z S.81. 315 Chr. 2,34 (S. 107,29ff.): Vides, quot modis in bis verbis ad exemplum pacientiae contemptumve mortis ac dolens amore virtutum incitamur. - Doch sind auch virtutes natürlich nur Mittel zum Zweck. 316 Hugo, Adnotationes elucidatoriae in Pentateucbon Kap.7 ( M i g n e PL 175, Sp. 36 B). 317 Hugo, De sacramentis fidei Kap. 1,3,15 ( M i g n e PL 176, S.221); Didascalicon Kap. 7,19 (ebda. Sp. 827D). 318 Vgl. E h l e r s , Hugo S.83; zur Veränderlichkeit im Weltbild Hugos vgl. auch L i c c a r o S.85ff. 319 Honorius, Imago mundi Kap.2,3 ( M i g n e PL172, Sp. 147A). 320 Ebda. Kap. 3 prol (Sp. 165 A).

90

I.

Tendenzen im Werk Ottos von Freising

der Welt findet sich auch bei Gerhoh von Reichersberg321, sie ist im 12. Jahrhundert also weit verbreitet und hat einen ethisch-eschatologischen Charakter angenommen: Vor allem bei Otto werden mutabilitas und irdische Geschichte zu untrennbaren Begriffen. Die Tendenz, die mutabilitas

der Geschichte aufzuzeigen, hat Otto zu

Unrecht den V o r w u r f d e s P e s s i m i s m u s eingebracht 322 , und man hat schon früh auch auf die positive Ausrichtung seiner Weltverachtung verwiesen. Schmidlin (Weltanschauung S. 41 ff.) spricht von einem „Stimmungspessimismus" Ottos als einem hoffenden Pessimismus, der in die Zukunft blickt . Nach Spörl (Grundformen S. 47 ff.) ist der Pessimismus der Chronik letztlich doch positiv gerichtet; und zumindest in den Gesta ist er in Zuversicht umgewandelt324. Müller (Hand Gottes S. 112 ff.) kehrt die Behauptung sogar um und will bei Otto - mit einem nicht gerade glücklichen Ausdruck - einen „metaphysischen Optimismus" finden (schließlich liegt gerade in den metaphysischen Grundlagen das negative Element der Welt, der Wandel, begründet). Die Überzeugung einer dauernden Wandelbarkeit der Welt ist prinzipiell, sagt Müller (S. 113), nicht aber Ausdruck eines reinen Pessimismus, sondern Aufgabe, das Ewige zu erstreben. Ottos Moralismus, schreibt Rauh (S. 305) vermittelnd, ist ein verneinender, insofern er vor der Hingabe an das Vergängliche warnt, er ist ein bejahender, insofern er die Uberwindung des Vergänglichen in der Beständigkeit des Glaubens lehrt. Nach Melville kannte das Mittelalter aus seiner Geschichtsanschauung heraus kein wirkliches Niedergangsbewußtsein, weil zwischen der Erfahrung der Vergangenheit und der Erwartung der (ewigen) Zukunft keine Kongruenz bestand. Gerade Otto von Freising führt die Wechselhaftigkeit des Geschehens zum Blick auf ein glücklicheres Jenseits (S. 128 ff.); nicht ein Niedergang, sondern mutationes kennzeichnen das irdische Geschehen (S. 132). Neuerdings scheint von Moos (S. 147 ff.) die pessimistische Haltung Ottos (in Anlehnung an Lucans „Pharsalia", der er die Vorstellung vom contemptus mundi 321 Vgl. Gerhoh von Reichersberg, Expositio in Ps. 88 (M i g ne PL 194, Sp. 917 A); dazu M e u t h e n , Gerhoh, S.20f. 322 So Η a s h a g e η S. 22, der von einem „christlichen Pessimismus" spricht. Man kann aber nicht wie Η a s h a g e η S. 24 ff. Augustin oder gar Orosius, der doch die Theorie der glücklichen tempora christiana verteidigt, als Quellen für den Pessimismus Ottos in Anspruch nehmen. Vgl. auch R e h m S. 33, F e 11 η e r S. 168 f. und Β r e ζ ζ i, Ottone S. 249. Η a r t i η gs S. 105 f. psychologisiert, Ottos Pessimismus sei ein Nie-Befriedigt-Sein, das aus seiner geschichtstheologischen Aufgabe erwachse. 323 Vgl. auch M ü l l e r , Theologie S. 17. 324 Johannes S p ö r l , Das Alte und das Neue im Mittelalter. Studien zum Problem des mittelalterlichen Fortschrittsbewußtseins, Historisches Jahrbuch 50, 1930, S. 504. 325 Gert M e l v i l l e , Zur geschichtstheoretischen Begründung eines fehlenden Niedergangsbewußtseins im Mittelalter, in: Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, hg. Reinhart K o s e l l e c k und Paul W i d m e r (Sprache und Geschichte2), Stuttgart 1980.

1.3. Der theologische Hintergrund

91

und vom Untergang des Römischen Reichs entnimmt), wieder stärker betonen zu wollen; Lucans Idee der Tragödie in der Geschichte spielt vor allem in den lamentationes am Ende der einzelnen Chronikbücher eine Rolle.

Gegen einen Pessimismus Ottos lassen sich gewichtige Argumente anführen: Man hat zu Recht betont, daß Ottos „Weltflucht" nicht eine Weltverneinung bedeutet; seine mutabilitas-Theorie soll den Weg zur Ewigkeit weisen, nicht aber die Rolle der irdischen Dinge auf diesem Weg leugnen (Staudinger S. 22); Otto betont, wie Müller (Hand Gottes S. 114) bemerkt, ausdrücklich, daß Gott die Welt nicht gehaßt hat326. Die Heiligen, sagt Otto in der Chronik, lieben das irdische Leben, sie ziehen diesem nur das himmlische vor 327 ; die Wertschätzung der irdischen Geschichte wird anscheinend also nur im Vergleich zur ewigen Seligkeit gering. In den Gesta mahnt der Bischof nicht nur, im Glück nicht übermütig zu werden, sondern auch sich vom Unglück nicht brechen zu lassen328. Im gegenwärtigen Unglück findet er zudem noch einen Trost darin, daß es der Vergangenheit auch nicht besser ergangen ist329. Die mutabilitas wird dadurch zwar nicht gemildert, doch ein Wandel - und daran glaubt Otto bereits in der Chronik - muß auch eine Veränderung zum Guten ermöglichen, und offensichtlich macht Otto entscheidende Unterschiede zwischen guten und schlechten Zeiten: In seinem Schreiben an den Kaiser entschuldigt er sich, daß die turbulenten Zeiten ihn eher eine Unglücksgeschichte in der Art einer Tragödie denn eine Chronik haben schreiben lassen330; tragediae calamitatum haben auch die 326 Chr. 7 prol. (S. 308,4ff.): Quod sine odio vel invidia provenire non solum ex hoc, quod ab optimo iuxta Platonem longe invidia relegatur, sed et per hoc, quod auctor et creator omnium nichil eorum quae fecit odire potest, innuitur. - Vgl. auch M ü l l e r , Theologie S. 16 f. 327 Chr. 3,43 (S. 177,6 ff.): Sancti enim dum camemsuam odio habere non possunt, vitam diligunt, sed ei caelestem vitam ac amorem Dei preponunt. 328 Vgl. S t a u d i n g e r S.24. 329 Chr. 2 prol. (S. 68,9 ff.): Denique dumpreteritarum temporum calamitatum reminiscimur, instantis quodammodo pressurae quoquo modo oblivisdmur. 330 Chr. S. 2,30 ff.: Unde nobilitas vestra cognoscat nos hanc historiam nubilosi temporis, quod ante vos fuit, turbulentia inductos ex amaritudine animi scripsisse ac ob hoc non tarn rerum gestarum Seriem quam earundem miseriam in modum tragediae texuisse et sie unamquamque librorum distinetionem usque ad septimum et octavum, per quos animarum quies resurrectionisque duplex stola significatur, in miseria terminasse. - Otto übernimmt den tragedia-Begriff Rufin und wendet ihn auf die an Orosius angelehnte Unglücksgeschichte an. - Vgl. GF1,47 (S.218,18 f.): nos, qui non hac vice tragediam, sed iocundam scribere proposuimus hystoriam.

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

92

Geschichtsschreiber vor ihm überliefert (Chr. 1 prol. - S. 7,1 ff.). Dieses Zitat besagt aber, was kaum beachtet wurde, daß historia eigentlich n i c h t tragedta ist, und Otto wollte Geschichte schreiben! Die Gesta erzielen demgegenüber von vornherein eine iocunda historia (GF1,47 - S. 218,18 f.); wegen der gewandelten Zeit Friedrich Barbarossas will Otto nun gegenüber seinem ersten Werk die Ausdrucksweise ändern (stilum vertere — S. 114,16 f.): Der Tenor der Geschichtsschreibung ist also in hohem Maß abhängig von der Zeit, an die sie sich wendet, denn Darstellung und Wertung richten sich danach aus. Zu einseitig hat man die These vom Pessimismus Ottos aus der Chronik abgeleitet, während sich die Haltung des Bischofs in den Gesta grundlegend geändert habe (darüber unten S. 275 ff.). Der geschichtsstheologische Aspekt, die ethische Tendenz, die Ausrichtung auf das Ziel aber bleiben auch in den Gesta erhalten. Die amaritudo animi (Anm. 330) gegenüber der Vergänglichkeit, aus der heraus die Chronik entstanden ist, kann deshalb als eine Grundhaltung Ottos angesehen werden, die vom Irdischen weg zur Ewigkeit strebt, in ihrem Grad aber von dem jeweiligen Charakter der Gegenwart abhängt. Die mutabilitas (zum Guten hin) kann also auch Hoffnungen wecken. Von einem grundsätzlichen Pessimismus Ottos kann man selbst in der Chronik schon wegen des hoffnungsvollen Ausblicks kaum sprechen, führt doch gerade das Unglück das hohe Ziel der Ewigkeit vor Augen 331 ; unter diesem Aspekt kennt Otto durchaus den Fortschrittsoptimismus, den Hartings (S. 105) abstreitet (vgl. unten S. 133 ff.). Im Grunde sehnt sich der Bischof auch in dieser Welt nach glücklichen Zeiten, wie er sie in den Gesta erreicht sieht. Er sucht den Sinn des Unglücks zu ergründen, aber er zweifelt nicht einen Augenblick daran, d a ß es einen gottgegebenen Sinn auch für das Böse gibt332. Im göttlichen Heilsplan wird also auch das Unglück „gut", und Otto glaubt an d a s

331

Vgl. H a r t i n g s S.102ff. Chr. 7 prol. (S. 308,17ff.): Nullum enim malum auctor bonitatis et fons pietatis fieri permittere credendus est, preter id, quod, quamvis in se ipso noceat, Universitätι prodest.... Sic et regnorum mutationes et ad ultimum inminutiones quis fructus sequatur, Deo, aput quem nichil inutiliter effluere potest, relinquamus. - Zu diesem Problem vgl. M ü l l e r , Theologie S.25ff., der jedoch nicht eigentlich zum Verständnis Ottos gelangt; M ü l l e r , Hand Gottes S. 127; F ο 1 z, Augustin S. 336; E h l e r s , Gut und Böse S. 31 ff. (Gott läßt das Böse um der menschlichen Freiheit willen zu). 332

1.3. Der theologische Hintergrund

93

G u t e . In den Gesta gibt er dieser Anschauung zur Rechtfertigung des gescheiterten zweiten Kreuzzugs (wiederum auf philosophischer Basis) ein ausführliches, theoretisches Fundament in einer Erörterung des bonum-Begriffs333, die sich letztlich erneut an der menschlichen Unfähigkeit orientiert, das göttliche Wesen (die bonitas) zu erkennen (GF 1,66): Aus der Sicht des Geschöpfs gibt es zwei Arten des bonum, nämlich 1. das bonum, das aus sich selbst heraus gut, also gut schlechthin als eine Gabe der Natur und damit in den Augen aller Menschen gut ist; in rationalen Geschöpfen ist dieses Gute ein Geschenk der göttlichen Gnade

(concessum donum gratie) (GF 1,66 - S. 266,23 f.); 2. das bonum, das in bezug auf etwas, also seinem Nutzen nach gut, damit aber nicht für alle gleich gut ist334. Die Pariser Handschrift (Uberlieferung C = Widmungsfassung) faßt Ottos Ausführungen am Rand schematisch zusammen:

Simpliciter et ipse^Summum bonum denominatione Nativum bonum I simpliciter bonum: Secundum quod bonum: univoce datum nature equivoce utile ι ; — ι — . virtus anime: virtus corporis: foralias simplialias secundum sobrium, iustum tis, velox citer: Passio quid: bibere Christi aquam - Ethiops Ethiops niger albus dente Ottos bonum-Theorie zeigt weitreichende Auswirkungen auf die Geschichtstheologie, da schlechthin nichts als malum gelten kann, auch wenn dem einzelnen manches als Übel erscheinen muß und soll: In Gottes Geschichtsplan hebt sich alles Böse in seinem guten Zweck auf.

333 In der Historiographie bildet das wiederum eine Ausnahme; vgl. Ehlers, Gut und Böse S. 34. - Zum Exkurs vgl. M o r r i s o n S . 225 f. 334 GF 1,66 (S. 268,11 ff.): Sicutergo, cum simpliciter aliquid bonum dico, nature datum, quod velut univoce de suis speciebus predicatur, intelligo, sie, cum secundum quid aliquid bonum assero, utilitatem potius quam nature fontem intueor.... Item eadem ratione, quod alten speciei bonum, alten asseritur malum. - Ganz ähnlich unterscheidet Hugo von St. Viktor, De sacramentis fidei 1,4,17 (Migne PL176, Sp.241C) ein bonum secundum se (= substantialiter) und ein bonum ad aliquid (= accidentaliter et denominative).

94

I.

Tendenzen im Werk Ottos von Freising

Damit relativiert sich Ottos mutabilitas-Lehre, da auch die Vergänglichkeit einen guten Zweck im Heilsplan erfüllen muß (vgl. Anm. 1/334), der noch durch die Funktion der Erziehung zur stabilitas gestärkt wird. Wenn Otto dennoch über den Wandel der Zeiten klagt, dann also kaum, weil dieser grundsätzlich zum Ablauf der Geschichte gehört, den Gott so gewollt hat und der folglich gut ist. Vielmehr dürften ihn Zweifel quälen, weshalb es gerade um seine Zeit so schlimm steht. Otto sucht nach dem Weg einer Besserung335. Seine Klagen sind nicht Symptome seines Pessimismus, sondern seiner Suche nach Erklärung, Ausdruck der Zweifel einer Aufbruchsepoche 336 . Die eschatologische Geschichtsbetrachtung Ottos verliert nämlich keineswegs ihren Gegenwartssinn; in den Ereignissen der Vergangenheit erblickt der Chronist auch Figuren seiner eigenen Zeit. Nicht zufällig erinnert er nach der Schilderung vom Untergang Babylons, des ersten Weltreichs, an die augenblicklichen Nöte Bayerns durch den Einfall Welfs (Chr. 2 pol.) 337 : Der Bischof von Freising sieht also gewisse Gemeinsamkeiten, die gerade vor dem Hintergrund seiner figuralen Geschichtsbetrachtung darauf schließen lassen, daß er seine Gegenwart als Umbruchszeit betrachtet. Es ist ihm zweifellos wichtig, den Standort der eigenen Zeit in der Heilsgeschichte zu bestimmen, und wir werden dem Gegenwartsbild Ottos noch besondere Aufmerksamkeit zu schenken haben. sSDamit sind die wichtigsten Tendenzen und die spezifischen Eigenarten der Geschichtsschreibung Ottos von Freising dargelegt. Man hat immer wieder den C h a r a k t e r s e i n e r H i s t o r i o g r a p h i e in kurzen Zügen zu kennzeichnen gesucht und ihre Leistung zu Recht in ihrem geschichtstheologischen Hintergrund, in der Verbindung von Philosophie und Geschichte gesehen (Schmidlin, Weltanschauung S. 7).

335 Er findet ihn zunächst offensichtlich im weltweit verbreiteten Mönchtum (vor allem der Zisterzienser, denen er selbst angehört), das bisher immerhin ein Aufrechterhalten der Welt bewirken konnte (dazu unten S. 271 ff.). 336 Eventuell hat den Bischof auch die Tatsache gequält, daß er keine ausreichende Erklärung zu finden vermochte. 337 Nach H a s h a g e n S . 2 3 und S.31 sind die Nöte Bayerns überhaupt verantwortlich für Ottos „Pessimismus".

1.3. Der theologische Hintergrund

95

Ottos Ziel seien nicht die Tatsachen, sondern die gestaltenden Ideen (ebda. S. 16); der Bischof schreibe stets als Philosoph Geschichte (ebda. S. 14). Er wollte eine Philosophie der Weltgeschichte verfassen (Fellner1 S. 157); seine Größe wurzelt in seiner Geschichtstheologie (Haid Bd. 45, S. 101). N u r Staudinger (S. 114) erblickt weniger darin als in dem Weiterdenken der Geschichte, die ihn zu der zugrundeliegenden Ordnung führte, das eigentlich Spezifische im Werk Ottos .

Sind in diesen Antworten auch die Akzente etwas unterschiedlich verteilt, so ist man sich doch einig darüber, daß die philosophische Geschichtsbetrachtung den Wert der Historiographie Ottos von Freising ausmacht339 (bloße Geschichte haben auch andere geschrieben). Und sie bildet auch sein eigentliches Anliegen. Der Bischof fragt, wie Lhotsky es ausdrückt, nach den Ursachen des Elends in der Welt340. Wir haben die Grundlagen dieses Unternehmens inzwischen verstehen gelernt. Otto schafft mit seinem Werk vor dem Hintergrund seiner adligen Herkunft und reichskirchlichen Aufgabe, seiner frühscholastischen Bildung341 und zisterziensischen Prägung und vor allem seines an die katholische Dogmatik gebundenen Glaubens eine sich an traditionellen Formen und Nonnen orientierende, standortgebundene Geschichtsschreibung, die er nun aber nicht nur - wie andere vor ihm - christlichen Maßstäben anpaßt, indem er „die Hand Gottes in der Geschichte" (Müller) aufzeigt, sondern der er entscheidende, über die Tradition weit hinausführende Motive verleiht, indem er der chronikalischen Darstellung das gesamte theologische Fundament seiner Geschichtsanschauung zugrundelegt und beide zu einem einheitlichen Werk verbindet, ohne die Bahnen der Historiographie zu verlassen (deshalb kann Brezzi, Ottone S. 288, behaupten, Otto schreibe keine systematische Philosophie der Geschichte). Das Ergebnis ist eine Chronik, in der der innere Zusammenhang zwischen der Geschichte und ihren bewegenden Kräften, zwischen der Geschichtsschreibung und ihrem theologischen Gehalt,

338 Darin ist aber gerade das Geschichtstheologische der Chronik zu sehen; S t a u d i η g e r faßt den gleichen Gedanken lediglich genauer. 339 Nicht aber die philosophischen Exkurse an sich, wie H a s h a g e n S.22 richtig bemerkt. 340 Alphons L h o t s k y , Otto von Freising. Seine Weltanschauung, in: D e r s., Aufsätze und Vorträge Bd. 1, München 1970, S. 70 f. 341 Vgl. S p ö r l , Weltbild S. 12f.: Grammatik, Rhetorik, Philosophie gestalten Ottos Historiographie.

96

I. Tendenzen im Werk Ottos von Freising

ständig gegenwärtig ist. Es ist daher zu modern gedacht, wenn Folz (Temoin S. 70) behauptet, es gebe letztlich keine Synthese zwischen dem Historiker und dem Philosophen Otto; der Bischof von Freising sei nicht Geschichtsphilosoph, sondern Philosoph und Historiker zugleich. Geschichtsbild und Geschichtsschreibung gehören vielmehr so eng zusammen, daß sie sich kaum noch trennen lassen, weil sie sich gegenseitig bedingen. Gerade darin liegt das Eigentümliche der Anschauungen dieser Zeit. Man wird der Zeitgebundenheit Ottos nicht gerecht, wenn man an ihm, der seine Zeitgenossen als Historiker zweifellos überragt342, nun moderne Züge entdecken will (vgl. etwa Cohen). Ebenso mißverständlich aber ist es, Ottos Geschichtsbetrachtung, seine Begründungen - etwa bei der Erklärung politischer Entwicklungen aus dem Charakter der Menschen heraus - als heute wenig überzeugend hinzustellen: Staber (S. 116ff.) vermißt eine kausale Geschichtsbegründung und entdeckt dafür eine teleologische343. Das Zeitgemäße dieser Geschichtsdeutung liegt aber gerade darin, daß Otto in der teleologischen Begründung die eigentliche Kausalität erblickt! Die Frage nach geschichtlichen Faktoren oder Kategorien läßt sich nur aus Ottos Geschichtstheologie heraus beantworten; Stabers Ansatz von der Eschatologie her trifft ein wichtiges Element, aber nicht die eigentliche Ursache (Gott), denn auch die Eschatologie ist für Otto noch Geschichte und von Gott bestimmt. Die Schwächung des Reichs und die Stärkung der Kirche, wie Otto sie feststellt (vgl. unten S. 263), stehen vielleicht in keinem Zusammenhang, den w i r historisch nennen würden (so Staber S. 125), für Otto aber in d e m Zusammenhang der von Gott gelenkten Geschichte überhaupt. Ob die moderne Geschichtsbetrachtung in der causa efficiens, die mittelalterliche aber in der causa finalis den Sinn der Geschichte findet, wie Staber (S. 121) behauptet, dürfte zudem auch bei modernen Geschichtstheoretikern umstritten sein. Die Lösung, von einer „innerweltlichen Kausalität" zu sprechen (so Müller, Theologie S. 25 zu Chr. 3,35) trägt zum Verständnis Ottos wenig bei, weil sie für Otto gar nicht losgelöst vom göttlichen Wirken existieren kann. Ottos Geschichtsschreibung, die Grill als eine Frucht der monastischen Kultur bezeichnet 344 , ist von ihrer Absicht her geschichtsphilosophisch geprägt 345 ; an die Stelle der apologetischen Kommentare des 342 S c h m i d l i n , Weltanschauung S.21, lobt Ottos historischen Blick, der sich im Verständnis für die politischen Wandlungen äußert. 343 Schon S c h n e i d e r hat in seiner Arbeit über das „kausale Denken" festgestellt, daß Otto das Geschehen von einem höheren Standpunkt aus betrachtet (S. 70f.): Gottes Wille werde zum Weltgesetz (S. 105f.); vgl. auch S c h m i d l i n S. 17 und S.44. 344 Vgl. G r i l l , Bildung S.319. 345 Vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 135: Otto fragt in erster Linie nicht, wie es gewesen ist, sondern wozu etwas geschehen ist.

1.3. Der theologische Hintergrund

97

Orosius, die Gottes Wirken beweisen wollten, treten Kommentare über das Wesen und Ziel der Geschichte überhaupt, tritt die Ausdeutung der Geschichte als göttlicher Offenbarung. Geschichtsschreibung selbst ist Ausdruck eines theologischen Verlangens: Unter der im Glauben wurzelnden Voraussetzung, daß alle Geschichte Heilsgeschichte, Offenbarung des göttlichen Heilsplans, ist, liefert jede Geschichtsschreibung (wenn auch mit begrenzten Mitteln) Anhaltspunkte zur Erkenntnis des göttlichen Wesens und des Heilsweges der Menschen und gewährt damit Einblicke in Wahrheiten, die andernfalls verborgen bleiben müßten: Geschichte ist Theologie, Geschichtsschreibung ist Exegese, wobei das wörtliche ( = historische) Verständnis unvollständig bleibt ohne die Auslegung, die Geschichtsdeutung; Geschichte (historia) wird in den Händen des Geschichtstheologen anagogisch (Gotteserkenntnis) und tropologisch (Ethik des Heilsplans) ausgewertet. Ihre Leistung besteht vor allem in dem Bewußtmachen des wesentlichen Inhalts aller Geschichte, dem Gesetz der mutabilitas. Die bei Otto einmalige, aber bewußt intendierte346 Kombination von theoretischer Geschichtstheologie und praktischer Historiographie fügt der religiösen (Mission) eine ethische Tendenz hinzu347, die mit ihrem Verweis auf die ewige Stabilität eschatologisch ausgerichtet ist; Geschichte läßt bei Otto nicht nur erkennen, d a ß Gott wirkt, sondern w i e Gott wirkt und was Gott will, und sie zeigt damit dem Menschen, wie er sich zu verhalten hat 348 : Geschichtsschreibung wächst mit ihrem Anspruch, den Menschen auf den richtigen Weg zu führen, zu einer „theologischen Heilspädagogik" heran. In der Darlegung der Tendenzen des ottonischen Geschichtswerks sind wesentliche Inhalte des Geschichtsbildes schon angesprochen worden, weil Otto von seiner Absicht der Historiographie her bereits ein Geschichtsbild (in Form einer bestimmten Deutung der Ereignisse) liefern will. Der Uberblick war dennoch nötig, um diese Absichten klarzulegen. Die Grundzüge der Geschichtstheologie sind nun im 346 Vgl. B r e z z i , Ottone S . 2 8 9 f . - D e G h e l l i n c k S . 3 3 4 , bezeichnet die Chronik als das originellste Werk des 12. Jahrhunderts. 547 Vgl. B r e z z i S.287. 348 Es ist deshalb zumindest äußerst mißverständlich, Otto eine „Geschichtsfeindlichkeit" vorzuwerfen (so R a u h S.309). R a u h selbst erkennt S.311 die Nützlichkeit einer Beschäftigung mit der Geschichte an.

98

I.

Tendenzen im Werk Ottos von Freising

einzelnen in ihrer ganzen Systematik zu betrachten. Nach den bisherigen Feststellungen dürfte es einleuchten, daß deren Darstellung sich nicht mehr (wie in fast allen älteren Werken) 349 auf die Civitas-Lehre und allenfalls auf Eschatologie und Geschichtsperiodisierungen beschränken kann, sondern zunächst die Voraussetzungen der Geschichte, Ottos Gottesbild und seine Auswirkungen auf den Geschichtsablauf mit den metaphysischen Hintergründen der mutabilitas-Vorstellungen untersuchen muß (Kap. 2), bevor sie sich dem Ablauf selbst zuwenden kann (Kap. 3). Die Civitas-Lehre (Kap. 4) wird überhaupt erst vor diesem Hintergrund verständlich. Abschließend werden wir einen Blick auf das Gegenwartsbild Ottos mit seinen politischen Idealen werfen (Kap. 5).

349 Vgl. B e r n h e i m S . 13 ff. ; H a s h a g e n S . 22 ff. (noch am differenziertesten): H a i d (Bd. 45) S. 101 ff. und S. 132 ff. - Die geschichtstheoretischen Anschauungen dienen hier durchweg noch als Grundlage für die kirchen- und staatspolitischen Vorstellungen (den einzigen Teil des Geschichtsbildes, der den Historiker interessiert!).

II. DIE GRUNDLAGEN DES GESCHICHTSABLAUFS Geschichte, das haben die vorangegangenen Bemerkungen gezeigt, ist nach der Vorstellung Ottos von Freising (wie auch der übrigen christlichen Geschichtstheologen) nicht ohne Gott möglich; Gott ist, wie Schmidlin es ausdrückt, die „erste Voraussetzung der Geschichte" 1 . Geschichte ist außerdem (nach dem Abschluß der biblischen Uberlieferung im Alten und Neuen Testament) d i e Offenbarung Gottes dem Menschen gegenüber (oben S. 64 ff.). „Offenbarung" (revelatio) wird dabei im Mittelalter noch weit weniger eng gefaßt als heute2 und bezeichnet alle Formen der unmittelbaren oder mittelbaren Gotteserkenntnis, alle Einblicke in die einzige, ewige Wahrheit, die auf Gott selbst zurückzuführen sind. Die höchste Autorität kam dabei selbstverständlich der Bibel zu, als deren Urheber Gott selbst galt. Ihr gegenüber mußten alle anderen Erkenntnisquellen in ihrem Gehalt zurücktreten 3 . Der nachbiblischen Geschichte aber haftete ein hoher Erkenntniswert an, einmal weil auch sie von Gott gelenkt, zum andern, weil sie in der Bibel bereits präfiguriert, also grundsätzlich schon enthalten war; man mußte sie freilich erst interpretieren, auslegen. Alle Offenbarung ist nämlich der Exegese, der geistlich-allegorischen Deutung, zugänglich. Die „Geschichte" (bistoria) aber ist gerade Teil dieser Exegese und (als Wortsinn) notwendige Voraussetzung für eine geistig-allegorische Deutung (oben

1

S c h m i d l i n , Weltanschauung S. 18; vgl. auch M ü l l e r , Hand Gottes S. 114. Vgl. darüber Michael S e y b ο 1 d u. a., Offenbarung. Von der Schrift bis zum Ausgang der Scholastik (Handbuch der Dogmengeschichte 11 a), Freiburg-Basel-Wien 1971. Zum biblischen und modernen Offenbarungsbegriff vgl. Wolfhart P a n n e n b e r g (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1963. 3 Unterschiedlich wird das Verhältnis zwischen Offenbarung und Vernunft gesehen; während die Offenbarung für Abaelard Vernunfterkenntnis ist, unterscheidet Hugo von St. Viktor zwischen Vernunft und der Offenbarung als Quellen der Gotteserkenntnis ( S e y b o l d S. 101 ff.). 2

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

100

S. 78 f.). H i s t o r i s c h e s W i s s e n dient der G o t t e s e r k e n n t n i s ; Gotteskunde,

w i r d gleichbedeutend

Theologie,

mit Geschichtstheologie,

zumal

G e s c h i c h t e , wie w i r festgestellt haben, eigentlich n u r den d y n a m i s c h e n A s p e k t dieser Gottesvorstellung darstellt (oben S. 71 f.). D a s Gottesbild ist also wesentlicher Bestandteil des Geschichtsbildes, das auf theologischen

Voraussetzungen

fußt 4 .

Für

das

Geschichtsverständnis

des

Bischofs sind v o r allem zwei E l e m e n t e wichtig, nämlich 1) das W i r k e n G o t t e s als bewegende Kraft in der Geschichte und 2 ) das W e s e n G o t t e s , das O t t o v o m W e s e n der G e s c h ö p f e abhebt 5 . Im christlichen Gottesbild des Mittelalters sind verschiedene Traditionen zusammengeflossen 6 : Die Grundlage bildet das biblische Gottesbild, vor allem des Alten Testaments, von einem einzigen und persönlichen Gott, der sich eben in der Geschichte fortwährend seinem Volk offenbart; von hier ist also der historische Aspekt des Gottesbildes übernommen, sind alle Erkenntnisse, die sich aus der Geschichte selbst gewinnen lassen, vorgeprägt. Das Neue Testament fügt dem die Lehre von der Trinität und die Vorstellung des gnädigen Gottes hinzu, die sich mit dem platonischen Prinzip der „Gutheit" des Göttlichen trifft, das selbst zwar von einem völlig anderen ontologischen Verständnis ausgeht, später jedoch von Augustin in seiner Lehre von summum bonum christlich umgedeutet wird. Christus selbst ist Offenbarung Gottes. Zur biblischen Tradition tritt bald

4 Die theologische Grundlegung des Geschichtsbildes, die vorher zumeist als unhistorisches Beiwerk am Rande geschichtlicher Untersuchungen geblieben war, hat ausführlich M ü l l e r , Theologie, aufgezeigt. Zuvor hatte schon S c h m i d l i n der Theologie des Bischofs einen eigenen Aufsatz gewidmet, sich aber weitgehend auf eine Darstellung der philosophischen Gottes- und Trinitätslehre beschränkt. S c h m i d l i n hat auch in seinem großen Werk über Otto von Freising (Weltanschauung S. 18 ff.) „die materialen Faktoren der Geschichte" in einem eigenen Kapitel behandelt. 5 Die Unterscheidung zwischen Wesen und Wirken der Gottheit dient der Verständlichmachung des Problems und soll aufzeigen, daß in der Geschichte zwei Aspekte wirksam werden; sie kennzeichnet noch nicht die göttliche Natur, in der beide Elemente zusammenfallen. 6 Zum Gottesbild vgl. W. B u r k e r t / W . H . S c h m i d t / H . G r o s s / B . K ö t t i n g / K . F1 a s c h, Historisches Wörterbuch der Philosophie 3,1974, Sp. 721 ff.; J. Κ1 e i n, Religion in Geschichte und Gegenwart2, 1958, Sp. 1741 ff.; W. P a n n e n b e r g , ebda., Sp. 1717ff.; A. D e i s s l e r / F . J . S c h i e r s e / K . R a h n e r , Lexikon für Theologie und Kirche4, 1960, Sp. 1076 ff.; zur Übernahme philosophischer Lehren durch die christlichen Apologeten vgl. Wolfhart P a n n e n b e r g , Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchrisdichen Theologie (1959), in: D e r s . , Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 2 1971, S.296-346, und E.P. M e i j e r i n g , God Being History. Studies in Patristic Philosophy, Amsterdam-Oxford-New York 1975; zu den Einflüssen römischer Religion auf das Christentum (vor allem über Lactanz) vgl. Antonie W1 ο s ο k, Römischer Religions- und Gottesbegriff in heidnischer und christlicher Zeit, Antike und Abendland 16, 1970, S. 39-53.

II. 1. Der Geschichtsablauf im Zeichen des göttlichen Wirkens

101

das naturverbundene Gottesbild der antiken, vor allem der griechischen Philosophie, die, ausgehend von der Frage nach dem Urgrund (άρχή) der Existenz der Welt, Gott ontologisch zu begreifen sucht und ihn als das höchste Sein ( = das höchste Wesen) beschreibt, ihn damit (trotz essentieller Bindung) endgültig im Neuplatonismus der späteren Antike (wie schon in der christlichen Apokalyse) auch räumlich vom Geschöpf trennt und ihm einen andersartigen, nämlich rein geistigen und transzendenten Charakter zuschreibt. Es war die Aufgabe der frühchristlichen Apologeten (Tatian, Theophilos, Irenaus) gewesen, den Gott der Offenbarung - und das heißt: der indirekten Offenbarung in der Geschichte7 - mit dem Gott der Philosophen, der ebenfalls monotheistisch verstanden wurde, zu verschmelzen und diesen zugleich von der Bindung an die Welt zu befreien, indem man die voraussetzungslose Wirklichkeit Gottes durch die These der creatio ex nibilo, der Schöpfung der Welt aus dem Nichts als freiem göttlichen Willensakt, der auch das Material erst schaffen mußte, stützte8. Auf diese Bemühungen gehen die Anleihen aus verschiedenen Systemen zurück9. Wenn Ottos Darlegungen eine Unterscheidung vom Wesen und Wirken Gottes zulassen, so treten hier diese ursprünglichen Elemente noch zutage, doch ist dem Bischof deren Identität, die er auch schon bei Augustin vorfand, bereits so selbstverständlich geworden, daß sich seine auf logischem Wege gewonnene Gottesbeschreibung zwanglos in die Offenbarung einfügt, ja dank der Einschätzung der menschlichen ratio als Mittel der Gottes- und Glaubenserkenntnis geradezu selbst zur Offenbarung wird.

1.

D e r G e s c h i c h t s a b l a u f im Z e i c h e n des Wirkens

göttlichen

Den deutlichsten Einblick in Ottos Gottesbild gewährt eine Stelle im Prolog des 7. Buchs der Chronik, wo - in einer sogenannten Appropriation 10 - Eigenschaften und Wirken Gottes mit der jeweils vermittelnden 7 So P a n n e n b e r g , Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: D e r s., Offenbarung als Geschichte, S. 91 ff. ' Dabei blieb man sich der Beziehung Gottes zur Schöpfung, die sich deutlich in der Lenkung der Welt zeigt, bewußt. 9 Die ersten Zusammenfassungen des christlichen Gottesbildes als Synthese biblischer und philosophischer Gedanken stammen aus der alexandrinischen Schule, von Clemens und vor allem von Origines (vgl. De principiis 1,1,9; ed. Henri C r o u z e l und Manlio S i m o n e t t i , Sources Chretiennes 252, Paris 1978, S. 108f.). 10 Vgl. J . A u e r , Lexikon des Mittelalters Bd. 1, 1979, Sp.810f.; zur Appropriation in der Theologie des (späteren) 12. Jahrhunderts und ihrer Tradition vgl. Ludwig Η ö d 1, Von der Wirklichkeit und Wirksamkeit des dreieinen Gottes nach der appropriativen Trinitätstheologie des 12.Jahrhunderts (Mitteilungen des Grabmann-Instituts der Universität München 12), München 1965. Die klassische Form der Appropriation lautet: potentia -

sapientia - bonitas.

102

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

Kraft (die zugleich Wesensattribut ist) so verbunden werden, daß sich ein „Quadrat der Trinitas" ergibt: 11 Eigenschaft:

Wesensattribut:

Wirken:

potens

- maiestas

- creare (Schöpfung)

(Macht)

(Majestät)

sapiens (Weisheit) - Providentia (Vorsehung)- gubernare benignus (Milde) - gratia

(Gnade)

(Lenkung)

- conservare (Bewahrung)

Jedes der drei göttlichen Attribute bewirkt als „tatkräftiger Wesenszug" gewissermaßen ein geschichtsmächtiges Handeln, so daß Gott den Menschen in dreifacher Weise entgegentritt: als mächtiger Schöpfer, als weiser Lenker und als milder Bewahrer der Schöpfung 12 . (1) Gott ist der allmächtige S c h ö p f e r , der alles andere erst aus dem Nichts geschaffen hat 13 ; in diesem Akt zeigt sich seine wahre Macht (potentia) und Majestät (maiestas), wird er zum Urgrund alles Seins; ohne Gott gäbe es keine Welt, keine Menschen, keine Zeit, also keine Geschichte. Selbst gut (bonus), ist Gott der Geber alles Guten bzw. aller Güter (bona) (GF 1 prol. - S. 118,26), folglich ist das Gute im Geschöpf nur eine davon abgeleitete Gnadengabe Gottes (GF 1,66 - S. 266,23 f.).

11 Chr. 7 prol. (S. 307,11 ff.): Proinde non iuxta quosdam Deum negligere mundum, sed potentissima maiestate quae non erant creasse, sapientissima Providentia creata gubernare, benignissima gratia gubernata conservare ex hoc liquido datur intelligi, quod quilibet sapiens et bonus propria benefacta dUigit et amplectitur. - Vgl. Orosius, Hist. 2,1,1 f., der aber ein anderes Ordnungsschema wählt. 12 Eine ganz ähnliche Charakterisierung des göttlichen Wirkens gibt Hugo von St. Viktor, Excerptiones allegortcae 2,2 (Migne PL 177, Sp.203f.) und De sacramentis fidei 1,3,26 (PL 176, Sp.227): potentia creat, sapientia gubernat, benignitas conservat; vgl. L i c c a r o S.39. 13 Chr. 8,13 (S.411,3 ff,): Potest quippe omnipotens, qui cuncta creavit ex nichilo, mira eos (nämlich die Lebenden zur Zeit des Weltuntergangs) celeritate in ipso raptu morte dissolvere statimque ad vitam revocare. - Mit der Erschaffung aus dem Nichts (vgl. Augustin, De dvitate Dei 12,1, S. 512,26 ff.) hebt sich das christliche Gottesbild von dem der heidnischen Philosophen ab, die in der Materie den Urstoff erblickten. - Zur Geschichte des Schöpfungsglaubens vgl. Leo S c h e f f c z y k , Schöpfung und Vorsehung (Handbuch der Dogmengeschichte II, 2 a), Freiburg-Basel-Wien 1963.

I I . l . D e r Geschichtsablauf im Zeichen des göttlichen Wirkens

103

O t t o urteilt hier gleich in zweifacher Weise a l s , . R e a l i s t " (im philosophischen Sinn), einmal, indem das Konkrete (die bona) seine Existenz erst aus der ursprünglichen Wirklichkeit des bonum schlechthin erhält, zum andern, indem dieses Gut (als Plural des Neutrum-Adjektivs) sich - im Sinne eines gemäßigten Realismus mit seiner Lehre der universalia in re - in den Dingen (bona) konkretisiert. Darin zeigt sich, daß der Universalienstreit, der meist zu sehr als bloßer philosophischer Lehrstreit verstanden wird, tatsächlich in theologischen Grundanschauungen wurzelt: Das bonum, von dem sich alles ableitet, ist Gott selbst. Den sogenannten Realisten - und sie bestimmen im 12. Jahrhundert das Feld - geht es um mehr als die Wirklichkeit der Begriffe (Universalien), nämlich um die Vorstellung, daß alles konkrete Sein seinen Ursprung der wahren Realität Gottes als der absoluten Wahrheit verdankt.

(2) Gott ist sodann der vorsehende und alles bis ins einzelne regelnde L e n k e r seiner Schöpfung, ohne dessen Willen nichts auf Erden geschieht14. Von daher ist Müllers Behauptung, bei O t t o finde sich viel öfter ein permittere als ein Bewirken Gottes, die Welt sei also eigenständig 15 , zumindest mißverständlich, und das um so mehr, als auch Müller (S. 119) die Absolutheit Gottes gerade bei O t t o hervorhebt. Das tatsächlich im Prolog des 3. Buchs der Chronik, in dem es um den Zeitpunkt der Geburt Christi geht, sich häufende permittere bezieht sich auf das liberum arbitrium des Menschen (vgl. unten Anm. III/154), das Gottes Wirken nicht ausschließt, aber dem Geschöpf einen Handlungsspielraum läßt (vgl. unten S. 129 f.). D i e lenkende K r a f t in der G e s c h i c h t e ist die divina

Providen-

tia,^, die sich vornehmlich auf den Geschichtsplan als Ganzes bzw. den immerwirksamen Willensakt der göttlichen Vorsehung und Sorge für seine Schöpfung bezieht17; dort, wo Otto konkret wird, spricht er eher v o n nutus,

consilium

o d e r iudicium

Deixi.

D i e divina

Providentia

als

14 Chr. 2,36 (S. 110,26 ff.) zur Größe Roms: Quod quidem Romani diis suis Urbem defensantibus asscribebant, nos vero occultis ac profundis iudiciis Dei, sine cuius nutu nec folium in terram cadit, attribuere possumus, qui hanc urbem inter totpericula et discrimina servare ac paulatim proficere in totiusque orbis dominium crescere voluit. - Vgl. auch GF2,12 (S. 304,3 f,): Gott ist rector etplasmator omnium, sine quo nichil bene incboatur. Zu Ottos absolutem Glauben an einen jederzeit in den Geschichtsverlauf eingreifenden göttlichen Willen vgl. H a s h a g e n S.17 und S t a u d i n g e r S.35; vgl. auch M ü l l e r , Theologie S.24. 15 So Μ ü 11 e r, Hand Gottes S. 130 ff., der dennoch feststellt, Gott bleibe den Seinen mit den Gaben seiner Liebe nah, wenn er die Welt in ihre eigene Freiheit entlasse. 16 Vgl. M ü l l e r , Theologie S.24 („sein ewig aktueller Wille"). 17 Vgl. Anm. II/20; vgl. GF2,26 (S. 330,18 f.). 18 Nutu Dei zum Beispiel Chr. 3,11 (S. 147,23 ff.) zu Schutzmaßnahmen des Tiberius für die Christen; vgl. auch oben Anm. 11/14, unten Anm. II/23; zu Gottes Wirken vgl. auch Chr. 4,10 (S. 197,10 ff.) zum Tod Julians.

104

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

übergeordnete Kraft verleiht dem Geschichtsablauf nun einen ganz bestimmten Charakter19: (a) Die Geschichte ist von Gott p l a n m ä ß i g gelenkt; Providentia Dei und indicium Dei schließen Zufälle (fortuiti casus) als außerhalb göttlicher Einwirkung liegende Ursachen aus20; vielmehr sind alle Ereignisse bereits von Anfang an von Gott vorherbestimmt21, und sein Wirken wird sogar in Ereignissen sichtbar, die sich gegen die Christen richten22. Im Mittelpunkt der göttlichen Lenkung stehen - wie schon bei Orosius - die weltlichen Gewalten, die potestates, und vor allem die bedeutendsten unter ihnen, die regneP. Ottos Geschichtsbild ist ein politisches, das in der Herrschaft der Reiche den eigentlichen Inhalt des historischen Ablaufs erblickt, demgegenüber alle weiteren Entscheidungen sekundär, nämlich durch die Gewalt eben dieser Reiche herbeigeführt sind : Die regna werden gleichsam zum Vollstrecker des

19

Vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 143 f. Vgl. Chr. 1,20 (S. 54,15 ff.) zum Auszug des Gottesvolkes aus Ägypten: Nonfortuitis casibus, sed Deiprovidentiae dividentis inter lucem et tenebras asscribendum reor, quod area tempus egressionis filiorum Israel ex Aegypto - vel iuxta alios mansionis in terrapromissionis - novis et inauditis, ut modo retulimus, mundus inferbuit sceleribus. Vgl. auch Chr. 2,14 (S. 83,3 f.) zum Tod des Cyrus: necfatali eventui, sed Dei occultis iudidts tnbuenda; Chr. 3 prol. (S. 134,10 ff.) über die Herrschaft des Augustus zur Zeit der Geburt Christi: Ν on ergo fortuitis casibus nec deorum falsorum cultui, sed Deo vero ... asscribendum reor, quod ad tantum fastigium prineipatusque monarchiam ex humili ac pauperi statu Romanorum res publica crevit (nach Orosius, Hist. 6,1,5 f.). 21 So die Entwicklung des Gottesstaates Chr. 4 prol. (S. 180,4ff.): Dominus enim, qui dvitatem suam ante constitutionem mundi preordinatam ad tempus latere voluit, tempore, quo deeuit, exaltare disposuit. - Vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 131. 22 Vgl. Chr. 3,15 (S. 153,32 ff.) zur ersten Christenverfolgung unter Nero: Quod non sine consilio Dei factum credimus, ut videlicet civitas sua talem hostem primo haberet, quem ob flagitiorum suorum scelera civitas etiam mundi abhorreret, cut nichil preter honestatem inhonestum videbatur, 23 Chr. 7 prol. (S. 307,26 ff.): Si ergo Deus quae fecit düigit, nichilque eorum quae fluni sine eius nutu fieri potest, si potestates omnes ordinat, multo magis regna, per quae alia minora disponit, eorumque mutationes fieri permittit. - Otto folgt hier erneut den Gedanken des Orosius (Hist. 2,1,2 f.): quis enim magis düigit, quam ille quifecit? quis autem ordinatius regit, quam is qui et fecit et diligit? quis uero sapientius et fortius ordinäre et regere facta potest, quam qui et facienda prouidit et prouisa perfecit? quapropter omnem potestatem a Deo esse omnemque ordinationem, et qui non legerunt sentiunt et qui legerunt recognoscunt. quod si potestates a Deo sunt, quanto magis regna, a quibus reliquae potestates progrediuntur. 24 Vor allem F u n k e n s t e i n begreift Ottos Geschichtsauffassung als eine Geschichte der Macht. 20

II.l. Der Geschichtsablauf im Zeichen des göttlichen Wirkens

105

göttlichen Willens auf den unteren Ebenen. Die mutationes, die die irdische Geschichte so maßgeblich bestimmen (vgl. oben S. 86 ff.), sind folglich in erster Linie darin zu suchen, daß sich diese Reiche in der Weltherrschaft ablösen. Es ist nur konsequent, wenn Otto hier die von Hieronymus und Orosius überlieferte Weltreichslehre (vgl. unten S. 139 ff.) mit dem gezielten Aufstieg Roms von einem niedrigen Stand bis zum pnncipatus und zur monarchia übernimmt25. In christlicher Zeit löst die Kirche, das Reich Christi, in gewisser Weise die Weltreiche ab, indem sie das Römische Reich einbezieht: Christus erweist sich dadurch als Herr des Erdkreises26. (b) Die Geschichte weist also einen geordneten Verlauf auf 27 , in dem alles, auch das Böse (malum), einen S i n n hat und sich in die Heilsgeschichte einfügt28, weil es dem Nutzen (utilitas) der Gesamtheit (universitas) dient; wenn aber alles einen Sinn und Nutzen besitzt, muß es in irgendeiner Weise gut sein, so daß Gott nicht als Schöpfer des Bösen betrachtet werden darf29. Mit der Unterscheidung des bonum simpliciter und des bonum secundum quid (oben S. 92 f.) stützt Otto diese Lehre philosophisch ab und macht Gut und Böse (je nach dem Nutzen bzw. Schaden) vom Gesichtspunkt abhängig: Was manchen als böse erscheint, bewirkt für andere Gutes, weil es ihnen nützt 30 ; es gibt kein malum ohne irgendeinen Nutzen, und jedes einzelne Ereignis trägt auf diesem Wege zum Gelingen des Gesamtplans bei. Mit dem Hinweis auf die utilitas alles Seins findet Otto auf seine Weise eine Erklärung des augustinischen Zwiespalts, weshalb Gott Schöpfer aller Güter

25

Chr. 3 prol. (S. 134,10 ff.) nach Orosius, Hist. 6,1,5 f. (oben Anm. 11/20). Vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 123ff.; vgl. dazu unten S. 166f. und S. 198f. 27 Otto übernimmt zum Beispiel von Orosius das Schema der bereits in den zehn ägyptischen Plagen vorgezeichneten zehn Christenverfolgungen, denen zehn Strafen folgten (Chr. 3,45). 28 Selbst der Antichrist handelt im göttlichen Auftrag (Chr. 8,3 - S.396,14ff.): Mittet ergo eum (nämlich den Antichrist) Dominus, quia maliciam corde conceptam non amplius, quam et quantum ipse permittet, exercere valebit. - Den Sinn des Antichristen sieht Otto in der Prüfung der Kirchen (unten Anm.III/191). Vgl. damit A u g u s t i n , De civitate Dei 11,17 (S. 485,4 ff,) zum Wirken des Teufels, 22,1 (S. 553,21 ff.) zu den Grenzen der Macht der Dämonen, 2,23 (S. 86,33 ff.) und 18,18 (S. 278,16 ff.). 29 Chr. 7 prol. (S.308,17ff.) (oben Anm. 1/332). 30 So brachte das malum des jüdischen Volkes den Heiden das Licht der Wahrheit; Chr. 7 prol. (S. 308,20 ff.): Quod in malo Iudaicae gentis consideraripotest, quia illo excecato populo universitas gentium lumen veritatis accepit. 26

106

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

(bona)31, aber nicht des Bösen ist 3 2 ; er faßt hier Augustins Erklärung, Gott wende das Böse zum Guten (De civitate Dei 11,17), genauer. Seine Argumentation wird freilich dann problematisch, wenn sie eine Kausalfolge voraussetzt und das Böse als notwendige Bedingung für das damit bewirkte Gute versteht, wenn also (Anm. 30) die Verblendung des jüdischen Volkes nicht nur Ursache, sondern Voraussetzung für die Ausbreitung des Glaubens war, die ohne jene nie stattgefunden hätte; dann würden auch die Menschen ohne den Engelfall gar nicht zur Seligkeit gelangen können. Otto hat die Gefahr, die in seiner Argumentation liegt, nicht gesehen; ihm liegt eine solche Ausdeutung fern, weil ja die gesamte Entwicklung bereits von Anfang an in Gottes Geschichtsplan vorgezeichnet war; und darin war von vornherein das Böse einbezogen, sagt Augustin (De civitate Dei 5,9) - und Otto scheint ihm darin zu folgen - weil Gott alles Geschehen schon vorhergewußt und entsprechend eingerichtet hat. (c) G o t t e s W i r k e n ist g e r e c h t ; auch w e n n d e m M e n s c h e n der Sinn nicht i m m e r einleuchtet, ist ein solcher d o c h v o r a u s z u s e t z e n 3 3 . I m m e r wieder weist O t t o - übrigens fast ausschließlich i m Z u s a m m e n h a n g mit Todesfällen - auf das iustum

iudicium

Dei

h i n 3 4 ; er zweifelt auch d o r t

nicht am Sinn der D i n g e , w o er ihn nicht ergründen k a n n 3 5 . G o t t hat also nicht n u r mit der Schöpfung die G e s c h i c h t e überhaupt in G a n g g e s e t z t ; er prägt auch ihren gesamten Verlauf, i n d e m er ihr einen Sinn gibt u n d sie n a c h einem geordneten Plan ablaufen läßt, dessen A u f r e c h t e r h a l t u n g sein ständiges Eingreifen erfordert. (3) G o t t ist schließlich der gnädige K o n s e r v a t o r seiner Schöpfung, indem er den M e n s c h e n , deren E x i s t e n z u n d deren Kenntnis überhaupt

31 Der Gegensatz scheint im Lateinischen weniger streng als im Deutschen, da bona, die Güter, gleichzeitig „das Gute" bezeichnen (vgl. oben S. 103). 32 Augustin hatte die Spannung damit erklären wollen, daß das Böse gar nicht existiere, weil es keine Substanz habe, sondern nur Mangel an Gutem sei (De ävitate Dei 12,6). Zu seiner Lehre vom Bösen vgl. G. Ρ h i 1 i ρ s, La raison du mal d'apres saint Augustin, Löwen 1927, und R. J o l i v e t , Le probleme du mal d'apres saint Augustin, Paris 1936. 33 Alles geschieht iusto eius (= Dei) iudicio causaque, quae, etsi nos latent, utilissima tarnen creditor (Chr. 7 prol. - S. 308,15 ff.). 34 Vgl. Chr. 1,2 (S. 38,9) zur Vertreibung aus dem Paradies; 3,12 (S. 148,26 ff.) zum Tod des Pilatus; 4,4 (S. 189,7ff.) zum Schicksal der Juden nach der Ermordung Christi; 4,6 (S. 193,7) zum Tod des Arius; 4,16 (S. 203,10) zum Tod des Valens (nach Orosius, Hist. 7,33,14 oder Frutolf S. 119,45); 4,20 (S. 211,5) zum Tod Mascezels; 4,28 (S. 220,30 ff.) zum Tod Attilas; 4,30 (S. 222,10) zu Odoaker; 5,9 (S. 242,24f.) zum Tod des Heraklius; 7prol. (S. 308,15) zu Gottes Wirken; 7,17 (S. 333,18 f.) zum Schicksal der Salier; 7,21 (S. 343,4) zur Niederlage Belas. 35 So S t a u d i n g e r S . 9 f .

II.l. Der Geschichtsablauf im Zeichen des göttlichen Wirkens

107

erst seiner Gnade zu verdanken sind36, mit seiner gratia37 den richtigen Weg zur Demut weist38 und dafür sorgt, daß der göttliche Geschichtsplan eingehalten wird; deshalb greift er immer wieder zugunsten der Christen insgesamt39 oder einzelner Menschen in den Geschichtsablauf ein: Bei aller Gerechtigkeit ist Gott doch barmherzig40. Die Gesta Frederici enthalten zahlreiche Beispiele für ein konkretes Eingreifen Gottes in die aktuelle Geschichte, vor allem zugunsten der Staufer: So zeigt die divina gratia dem Herzog Friedrich von Schwaben bei der Belagerung durch Heinrich den Stolzen einen rettenden Ausweg auf den Kirchturm41, und nutu Dei, saluti principis exercitusque sui previdentis, entgeht Friedrich Barbarossa der Falle der Veroneser an der Etschbrücke (GF 2,41-S. 364,17 f.). Gottes Eingreifen zugunsten guter Christen scheint geradezu programmiert: Otto erwartet eine göttliche Rache durch Friedrich für die jüngst erlittene Niederlage gegen die Ungarn an der Leitha42. Auf der anderen Seite schreibt er auch die Überschwemmung, die das Heerlager der christlichen Kreuzfahrer verwüstet, dem Wirken Gottes zu43, und er nimmt den Fehlschlag des zweiten Kreuzzugs als

56 Chr. 3 prol. (S. 134,35ff.): Sub potenti itaque manu Domini regna mutantis ac pro voluntate sua cut voluerit miserentis humiliemur ipsiusque misericordiae, si quid sumus, qui per nos nichil sumus, ipsius grattae, quidquid dicimus, qui per nos nichil scimus, asscribentes ceptum opus prosequamur. 37 Die divina gratia wird so zu einem entscheidenden Faktor der Heilsgeschichte bei Otto (vgl. unten S. 162 ff.); vgl. dazu M ü l l e r , Theologie S. 31 ff., der von einer regelrechten „Gnadentheologie" des Bischofs spricht. Die Bedeutung der Gnade für das Geschichtsbild war vorher kaum beachtet worden (ebda. S. 94). 38 Chr. 7,24 (S. 348,10 ff. - oben Anm. 1/311). 39 Eine völlig andere Deutung als Orosius (Hist. 7,4) gibt Otto dem Zerwürfnis· zwischen Tiberius und dem Senat, der Christus nicht als Gott anerkennen wollte: Das Christentum sollte nicht von Heiden bestätigt werden. Orosius hatte der Weigerung des Senats aus machtpolitischen Gründen erst die Strafe Gottes in Gestalt des verbitterten und tyrannischen Tiberius folgen lassen. 40 So Μ ü 11 e r, Theologie S. 28. 41 GF1,20 (S. 162,13 ff.): Dolum itaque cognoscens ad divine tantum gratie se vertit adiutorium. Qua opitulante per abdita quedam cubiculi penetralia tunc sibi primo quasi celitus ostensa ecclesiam intromit, turrim, que ecclesie contigua erat ascendit. - Zur Episode vgl. V o e l k e r S . 3 2 f . 42 GF1,34 (S. 198,16ff.): Cuius rei et tarn dedecoris facinoris ultio nondum facta Deo opitulante a victrice presentis imperatoris dextrafutura expectatur. - Otto verschweigt das Christentum der Ungarn und stellt nachdrücklich die barbarische Lebensweise heraus. 43 GF 1,48 (S. 220,28 f.): Divinam id animadversionem potius quam naturalem inundationem esse considerantes amplius attoniti fuimus.

108

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

gerechte Strafe für die Sünden und Laster der Kreuzfahrer hin44: Gnade also auf der einen, Strafe auf der anderen Seite. Stets aber wendet sich Gott an die Christen; der Gedanke eines „überparteilichen" Gottes aller Menschen kommt Otto nicht. Der Freisinger Bischof ist viel zu überzeugt von der Heilsgewißheit der Christen, als daß er wegen der Strafgerichte Gottes die Entwicklung des Christentums selbst (und damit sein eigenes Geschichtsbild) in Zweifel ziehen würde. Gott, der die Geschichte als eine Entwicklung zum Heil von vornherein festgelegt hat, würde niemals gegen seinen eigenen Heilsplan handeln. Ein Kreuzzug m u ß in seinem Sinn sein und würde, von frommen Christen geführt, zweifellos der Erweiterung der Grenzen und dem leiblichen Wohl dienen (Anm. 47). Wohl aber verhindern menschliche Sünden eine geradlinige Entwicklung und fordern Gottes Strafe heraus; erst dadurch gelangen scheinbar Rückschläge wie der Mißerfolg des Kreuzzugs in die Geschichte, doch steckt auch in ihnen noch die Tendenz zur Besserung der Welt und der Menschen (Gottes Strafgerichte sind Teil der Gnade)45: Wenn Otto in dem obigen Beispiel (Anm. 11/43) zwischen dem göttlichen Tadel und einer „natürlichen Überflutung" unterscheidet, so will er damit kaum bestreiten, daß Naturkatastrophen ebenfalls dem himmlischen Wirken entspringen (vgl. Anm. 11/14); er will vielmehr offensichtlich hervorheben, daß ein solch gezielter Eingriff Gottes eine warnende Botschaft an die Christen enthält, die sich folglich fragen müssen, was Gott ihnen hat mitteilen wollen (Otto deutet die Überschwemmung zunächst allgemein als Zeichen der göttlichen Macht und der Unbeständigkeit menschlicher Fröhlichkeit)46; der Fehlschlag des gesamten Unternehmens muß aber auch einen Nutzen haben, weil alles im Gesamtplan nützlich und gut ist, und der Geschichtsschreiber ist aufgerufen, diesen Sinn im Heilsplan zu ergründen; nicht zufällig schließt Otto die langen Ausführungen über das bonum secundum quid gerade an

44 GF1,66 (S.270,20ff.): Quamvis, si dicamus sanctum ülum abbatem (nämlich Bernhard von Clairvaux) spiritu Dei ad excitandos nos afflatum fuisse, sed nos ob superbiam lasciviamque nostram salubria mandata non observantes merito verum personarumve dtspendium deportasse, non sit a rationibus vel antiquis exemplis dissonum. - Vgl. auch

Hashagen S.32f. 45 Vgl. auch Müller, Theologie S. 63 f.

44 GF1,48 (S.222,20ff.): quanta divine celsitudinis esset potentia quamque iocunditatis nihil firmi habens velox momentum, luce clarius appareret.

humane

II. 1. Der Geschichtsablauf im Zeichen des göttlichen Wirkens

109

das Scheitern des Kreuzzugs (gewissermaßen als Rechtfertigung) an; er ist davon überzeugt, daß das Unternehmen trotz seines politischen Fehlschlags zum Heil vieler Christenseelen beigetragen hat 47 , glaubt also fest an den Ablaßcharakter der Kreuzzugsteilnahme. Die &o««m-Theorie deutet zugleich aber an, daß Otto auch eine weit kompliziertere Kausalität des göttlichen Wirkens nicht ausschließt und daß die wahren Gründe der begrenzten menschlichen Verstandeskraft weithin verborgen bleiben48. Gott bewirkt die Geschichte49; ohne seine Schöpfung ist Geschichte gar nicht vorstellbar, ohne seine Lenkung ist sie nicht so denkbar, wie sie tatsächlich abläuft, da er immer wieder in das aktuelle Geschehen eingreift; dabei liegt ihm das Wohl, vor allem aber das Heil der Christen am Herzen, und er achtet sorgfältig auf den störungsfreien Ablauf des Heilsplans. Gottes allmächtige Lenkung ist, wie Staudinger (S. 34 ff.) ausführt, die eigentliche Voraussetzung für die Universalität des christlichen Geschichtsbildes; sein Wirken erklärt die Existenz einer einzigen, zeitlosen Wahrheit, so daß selbst heidnische Philosophen ihr bereits nahekommen konnten (vgl. oben S. 43). Geschichte ist Ausdruck des göttlichen Wirkens, das Geschichtsbild Teil des Gottesbildes. Aus dem zielstrebigen göttlichen Wirken allein lassen sich freilich weder die Sünden der Menschen als die Ursachen, die Gottes Eingreifen herausfordern, noch (davon abhängig) der Charakter der irdischen Geschichte überhaupt, Ottos Zentralgedanke der Vergänglichkeit, erklären: Nicht nur der Schöpfer, auch die Schöpfung bestimmt das Wesen der Geschichte.

47 GF1,66 (S. 270,11 ff.): Ex quo fit a simili propter eandem causam de predicta nostra expeditione, quod si non fuit bona pro düatatione terminorum vel commoditate corporum, bona tarnen fuit ad multarum salutem animarum, sie tarnen, ut bonum non pro dato nature, sed pro utili semper acapias, ... 48 Die zitierte Deutung (Anm. 11/44) schließt mit dem Satz: quamquam et spiritus prophetarum non semper subsit prophetis (S. 270,26 f.). Nach S c h m a l e ist das ironisch gemeint, jedenfalls ist Ottos Antwort alles andere als eindeutig, und es bleibt bereits unsicher, ob er mit dem propheta den Initiator des Kreuzzugs, den auch an anderer Stelle nicht gerade positiv beurteilten Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux (oben Anm. 1/124) meint (so H o f m e i s t e r S.753) oder aber auf seine eigene Kreuzzugsinterpretation anspielt und die menschliche Deutung überhaupt relativieren will. 49 Vgl. zusammenfassend M ü l l e r , Theologie S.94: „Gott ist der unwandelbar thronende Herr der Geschichte, ohne dessen Willen nichts geschieht, ohne dessen Gnade nichts Bestand hat."

110

II. D i e Grundlagen des Geschichtsablaufs

2. D e r U n t e r s c h i e d z w i s c h e n S c h ö p f e r und G e s c h ö p f als V o r a u s s e t z u n g d e r G e s c h i c h t e Gottes Geschichtswirken ist Ausfluß der göttlichen Eigenschaften, des göttlichen Wesens (oben S.102), das sich menschlicher Betrachtung daher ebenfalls - teilweise- durch die Geschichtsdeutung öffnet. Gott selbst allerdings kennt keine Veränderung und ist daher geschichtslos; die mutabilitas ließe sich allenfalls als göttliches Gericht deuten, nicht aber aus dem unveränderlichen Willen Gottes erklären. Zu den Voraussetzungen der Geschichte gehört deshalb neben der bewegenden Kraft Gottes auch eine „bewegte Kraft", das Geschöpf, das der Veränderlichkeit der Welt unterworfen ist: Ohne das Geschöpf gibt es also ebenfalls keine Geschichte. A u c h darin zeigt sich die D e n k s t r u k t u r des Realisten, d e m Schöpfung und G e s c h ö p f eine nahezu untrennbare Einheit bilden; nicht zufällig bezeichnet creatura den Schöpfungsakt ebenso wie das Geschaffene (vgl. C h r . 1 prol. - o b e n A n m . 1 / 2 3 2 ; G F 1 , 5 - S . 136,22).

Wie schon Augustin sieht Otto in dem ontologischen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf eine wesentliche Voraussetzung für den Geschichtsablauf50. Anders als der Kirchenvater erklärt der Bischof von Freising mit diesem Gegensatz aber nicht nur die Tatsache, daß es überhaupt eine Geschichte gibt, sondern er begründet damit seine mutabilitas-Theorie, legt also dar, weshalb sich der historische Ablauf gerade so und nicht anders entfaltet. Während er in der Chronik nur gelegentlich unterscheidende Eigenschaften anspricht, widmet er diesem Gegensatz in den Gesta ein eigenes philosophisches und mit Zitaten aus den griechischen Philosophen (meist in der Übersetzung des Boethius) gespicktes Kapitel51. 50 Die räumliche Trennung zwischen Gott und den Menschen, die Transzendenz Gottes, (noch im Zustand der Seligkeit), zeigt sich in Ottos Interpretation des neuen Jerusalem, das „vom Himmel herabkommt" (Chr. 8,26 - S. 433 f.): Für O t t o sind die Worte nur dann verständlich, wenn unter „Himmel" hier Gott gemeint ist. 51 Darüber vgl. S c h m i d 1 i n, Philosophie S. 407 ff., F ο 1 ζ, Temoin S. 71 ff. (mit einer knappen, treffenden Übersicht) und vor allem K o c h S.324ff., an dessen Ergebnisse sich die folgenden Bemerkungen weitgehend anlehnen; kurzgefaßt auch S c h m a l e (Edition S. 128f. Anm.30) und (einseitig verkürzend) K l i n k e n b e r g S.64. Zur Methode der spekulativen Grammatik vgl. M o r r i s o n S . 2 3 3 f f . , zum Exkurs ebda. S . 2 2 6 f f .

II.2. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

111

Die geschichtsträchtige Kreatur wird dabei auf die , , Ρ e r s ο η " (persona), also auf Engel und Menschen beschränkt 5 2 , denn O t t o definiert den Begriff mit Boethius 5 3 oder Gilbert von Porree, dessen Boethiuskommentaren 5 4 er in seiner Ontologie weitgehend folgt, als unteilbares Wesen der rationalen Natur ( =

des rationalen Geschöpfs) 5 5 ; die unteilbare

Substanz (das Wesen) ist nämlich nur in der Verbindung mit einer rationalen Natur Person (S. 2 4 4 , 7 ff.). Für Gilbert wie für Otto ist die Person res per se una, von daher also Individuum (GF 1,55 - S. 240,6), doch ist nicht jedes Unteilbare schon Person (De Trinitate 1,10,12 - S. 81); sie ist, obwohl aus Teilen zusammengesetzt, „unteilbar", weil ein anderes subiectum ihr nie gleich sein und sie sich nicht mit einem anderen unteilbaren Ding zu einem neuen vereinigen kann56. Über Gilbert hinaus, der als „individuell" das eindeutig, eine Ubereinstimmung in allen Merkmalen mit einem anderen Ding ausschließende Bestimmte versteht, dehnt der Historiker Otto diese Definition auch über alle Zeiten aus und betont die Unvergleichlichkeit eines Individuums während der ganzen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschichte (Gilbert scheint eher die Merkmale aller Zeiten zu einem Individualbegriff zu sammeln)57.

52 GF 1,56 (S. 246,10 f.): Restat, ut hicangelus et hie homo tantum plenarie in naturalibus persone vocantur. — Den ontologischen Zusammenhang des Zitats mit unserem Thema zeigt das Ende des Exkurses (S. 248,2 ff.), das die Definition in Bezug zum Wesen Gottes setzt. Otto zitiert in diesen Sätzen zwar, scheinbar reserviert (vgl. S. 248,7 f.), die Lehre Gilberts, doch zeigen seine eigenen Erklärungen (vgl. unten Anm. 11/80), daß er selbst völlig auf diesen Grundlagen fußt. 53 Boethius, Contra Eutychen et Nestorium Kap.3 (ed. C. P e i p e r , Leipzig 1871, S. 193). 54 Vor allem In Boethium De Trinitate, ed. Nicholas Μ. Η a r i η g, in: Nine Mediaeval Thinkers, hg. von Reginald Ο ' D ο η η e 1 (Studies and Texts 1), Toronto 1955, S. 32-98; In Boethium De hebdomadibus, ed. H a r i n g , Traditio9, 1953, S. 182-211; In Boethium Contra Eutychen et Nestorium, ed Η a r i η g, Archives d'histoire Doctrinale et Litteraire du Moyen Age 29, 1954, S. 241-357 (zur persona Kap. 2 - S. 275 ff.). 55 GF1,56 (S. 244,22 ff.): ,Persona est rationalis nature individua substantia'. Patet igitur, quod non omne Individuum est persona, quia non omnis individua substantia est rationalis natura. - Ahnlich definiert Hugo von St. Viktor, De sacramentis fidei 11,1,11 (Migne PL 176, Sp.406 A): Persona est individuum rationalis substantiae. 56 Vgl. dazu Nikolaus Η ä r i n g , Sprachlogische und philosophische Voraussetzungen zum Verständnis der Christologie Gilberts von Poitiers, Scholastik 32,1957, S. 384 ff., und E l s w i j k S. 188f. und S.375ff. 57 Diesen Unterschied hat Κ ο c h S. 342 f. herausgearbeitet. Freilich darf man ihn nicht überbetonen, da Otto an dieser Stelle die Gedanken Gilberts wiedergeben will, und auch er als Beispiel für das individuum nicht von Plato, sondern von der Platonitas spricht, also verallgemeinert. Vgl. auch F ο 1 z, Temoin S. 72.

112

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

Ottos Abhängigkeit von Gilbert gerade in diesen Fragen ist immer wieder festgestellt worden (vgl. oben S. 40); ihre Untersuchung ist wichtig für ein Verständnis der Eigenständigkeit der Ideen des Freisinger Bischofs. Vor allem Bernheim (S. 7 f.) und Hashagen (S. 97) hatten eine völlige Abhängigkeit Ottos in der Ontologie angenommen, während Schmidlin, Philosophie S. 312 ff. und S. 407 ff. 58 , und Fellner (S. 165 f.) ihm eine gewisse Eigenständigkeit zugestehen wollten. Schon Bernheim hatte eingeräumt, daß der Bischof von Freising sich die Gedanken Gilberts in einem solch hohen Maß angeeignet hat, daß er sie völlig frei wiederzugeben vermag59; Schmidlin gesteht Otto in wichtigen Aspekten wie der Unterscheidung zwischen genuin und nativ (unten S. 114 ff.) Originalität zu 60 . In seinem im einzelnen durchgeführten Vergleich kommt Koch dann (S. 349) sogar zu dem Ergebnis, daß Otto auf durchaus eigenen metaphysischen Grundlagen fußt. Zweifellos verdankt Otto, der hier im Grunde einen eigenen Kommentar, eine Erklärung zu den Boethiuskommentaren Gilberts verfaßt, dem Lehrer von Chartres sehr viel, aber er hat dessen Gedanken bereits innerlich verarbeitet und selbständig weiterentwickelt. Er gebraucht nicht nur eigene Begriffe, sondern weitet Gilberts Vorstellungen über das Wesen der Natur 61 zu einer systematischen Wesensabgrenzung von Schaffendem und Geschaffenem aus. Dabei interessiert ihn nicht mehr so sehr wie Boethius und Gilbert der Unterschied zwischen Natur und Person (speziell bezogen auf die Doppelnatur, humanitas und divinitas, Christi), sondern, wie Augustin, der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf 62 , den er für den Geschichtsablauf nutzbar macht, indem er die Geschichtsträchtigkeit des rationalen Geschöpfs (im absoluten Gegensatz zu Gott) auf ontologischem Weg erweist und dabei zunächst von der Einteilung alles Seienden überhaupt ausgeht (vgl. Koch S. 331). Otto vermeidet vor allem die Anwendung philosophischer Erkenntnisse auf die Trinitätslehre63 (einem Hauptproblem der Frühscholastik), die Gilbert einen Ketzerprozeß eingebracht hat 64 .

58 Otto habe nichts Neues finden, sondern das Gefundene weiteren Kreisen zugänglich machen wollen, hier aber auch eigene Gedanken entwickelt; rein ottonisch sei die etymologische Ableitung des universale und die Abstufung der Allgemeinbegriffe nach ihrer Komprehension (S. 320 ff.). 59 Vgl. auch K o c h S.328. 60 Vgl. auch F ο 1 z, Temoin S. 72. 61 Vgl. De Trinitate 1,3 (S.50ff.). 62 Vgl. auch Κ o c h S . 3 3 7 . 63 Vgl. dazu H a r i n g , Case S. 18ff., der eine Häresie Gilberts abstreitet (Gilbert unterscheidet nicht eigentlich zwischen Deus und divinitas), und vor allem E l s w i j k S.277ff.; zur Beurteilung ebda. S.362ff. (vgl. auch Anm. 11/66). - Gerade Fragen der Gottesvorstellung mußten stets neu in bezug auf ihre Übereinstimmung mit der kirchlichen Lehre untersucht werden, da die Dogmatik hier einen weiten Spielraum ließ. 64 Darüber GF 1,55; vgl. Anm. 1/116; vgl. auch Chr. 8,34 (S. 455,12 ff.). Auch Abaelard hatte Elemente der Logik im Sinne des Nominalismus (sententia vocum), die propositio, assumptio und conclusio, auf die Trinität bezogen (GF1,50 - S. 226,11 ff.). Manche Theologen, schreibt Otto bereits in der Chronik (Chr. 8,34 - S. 455,18 ff.), nennen Gott

II.2. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

113

Die Ergebnisse der Logik sind eben nicht auf Gott, der über den menschlichen Verstand hinausgeht, anwendbar. Die gesamten Häresiestreitigkeiten um den Gottesbegriff Abaelards und Gilberts (GF 1, 49-62) beruhen darauf, daß zwischen Gott und dem Menschen ein völliger Unterschied besteht; wer Gott aber mit menschlichen Begriffen zu beschreiben sucht, vergreift sich leicht in der Wortwahl; selbst der größte Verteidiger der kirchlichen Lehre, Bernhard von Clairvaux, ist dieser Gefahr nicht entgangen (GF 1,59). Gilberts auf Gott übertragene Unterscheidung zwischen esse und subsistens (essentia), zwischen essentiellem (Gott-Sein) und funktionalem Sein (Gott-Vater-Sein), verteidigt auch Otto ausdrücklich mit einem Augustinzitat (GF 1,55 - S. 238,19 ff.), doch er urteilt vorsichtiger, und die Unterscheidung zwischen der Person (persona) und ihren Eigenschaften (proprietates personarum), zwischen Deus und Divinitas (Folz, Temoin S. 74), die man Gilbert vorgeworfen hatte (GF 1,53 - S. 236,30 f.) 65 , erkennt er nicht mehr an, sondern hält sich wieder an die Lehre der Kirche, hatte doch der Papst eine Unterscheidung von natura und persona in der Theologie verboten (GF 1,62-S. 260,9 ff.) 66 . Otto vermeidet den persona-Begnii daher für das Göttliche und spricht betont von einer Drei-Einheit 67 , ohne mit Gilbert auf die Wesensunterschiede der drei göttlichen Personen hinzuweisen 68 : Da überhaupt nur ein Nicht-Simplex Individuum sein kann (S. 242,33 f.) - und Gott ist, wie wir gleich sehen werden, „einfach" - beschränkt Otto die „Person" gänzlich auf den Bereich des Geschöpflichen.

eben nicht singularis vel solitarius wegen der Trinität. Gilbert selbst entging der Häresie, indem er zwischen den theologischen Personen Gottes und dem göttlichen Wesen schlechthin einen Unterschied machte und seine logische Unterscheidung nur auf die Personen anwandte (GF1,56 - S.240,19ff.). Die Zerstrittenheit der Forschung (vgl. G a m m e r s b a c h S . 3 5 f f . ) zeigt, wie schwer Gilberts tatsächliche Haltung zu fassen ist; wahrscheinlich wollte Otto mit seinen Ausführungen tatsächlich nur Mißverständnisse richtigstellen. Zum Unterschied, den Otto selbst zwischen Abaelard und Gilbert macht und zu seiner Wertschätzung des Bischofs von Poitiers vgl. G a m m e r s b a c h S . 1 3 1 f f . ; z u den Gegensätzen zwischen beiden Denkern vgl. E l s w i j k S. 427 ff. 65 Gilbert leugnete eine Ubereinstimmung der personalis proprietas des Vaters und des Sohnes (GF1.56 - S.246,19f.). Vgl. S c h m i d i i n , Theologe S. 106ff. und S. 161 ff. 66 Gott i s t die divina essentia·, er ist nicht nur Gott d u r c h die divina essentia. Es scheint deshalb kaum richtig, Ottos Abgrenzung (wie F e l l n e r S. 166 es macht) in einer begrifflichen Scheidung zwischen subsistentia als Göttlichkeit und substantia als Gott zu suchen; die Unterscheidung von essentiellem (esse) und funktionalem Sein (subsistens) würde Otto ja auch gar nicht von Gilbert entfernen. Zu Gilberts tatsächlich durchaus orthodoxer Lehre vgl. H a r i n g , Christologie S.373-98. 67 Zu Ottos Trinitätslehre vgl. S c h m i d 1 i n, Theologe S. 161 ff. (vor allem S. 174 ff.), und F o l z , Temoin S. 77ff.; zu Ottos Bericht über den Häresieprozeß ebda. S.78ff. 68 GF1,5 (S. 130,7ff.); vgl. unten Anm. 11/78. Gerade dieser Unterschied scheint auf Otto zurückzugehen, denn Gilbert geht noch von der singularitas des Individuum aus (GF1,56 - S.242,30f.). Vgl. etwa De Trin. 1,10,12 (S.81): Quamvis enim, quidquid est Individuum, est singulare, et quidquid est persona, est singulare et individuum, non tarnen omne singulare est individuum. Nec omne singulare vel individuum est persona.

114

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

Der wesentliche Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf besteht, wie bereits aus der Chronik (Chr. 7 prol. - unten Anm. 11/80) hervorgeht, darin, daß Gott im Gegensatz zum Geschöpf aus sich selbst heraus und in sich selbst existiert, daß er sein Wesen, sapientia und bonitas, aus sich selbst heraus besitzt, weil ihm - wie schon bei Augustin 69 - Leben und Sein dasselbe bedeuten 70 ; G o t t i s t , , g e n u i n " 7 1 , wird Otto in den Gesta sagen, das heißt gener ans et non gentium (GF 1,5 - S. 128,16f.), von keinem anderen geschaffen; d a s G e s c h ö p f aber i s t , , η a t i ν ' < 7 2 , das heißt natus aut genitus, notwendig von einem anderen, nämlich von dem genuinen Schöpfer geschaffen und abgeleitet (S. 128,18) 73 . Unter generatio versteht Otto nämlich den Beginn des Seins, den ingressus de non esse ad esse, und speziell den Beginn des eigenen Seins, den ingressus in proprietatem: Im nativum kommt die „Verneinung" (negatio = das Nicht-Sein) vor der Bejahung (affirmatio = das Sein) (S. 130,1 ff.) 74 .

69

Vgl. Augustin, De civitate Dei 8,6 (S. 330,9 ff.): quia non aliud Uli est esse, aliud vivere, quasipossit esse non vivens, nec aliud Uli est vivere, aliud intellegere, quasipossit vivere non intellegens; nec aliud est illi intellegere, aliud beatum esse, quasi possit intellegere non beatus; sed quod illi est vivere, intellegere, beatum esse, hoc est illi esse. 70 Chr. 8,10 (S. 405,13 ff.): Habet quippe solus Deus vitam in semet ipso, qui ex se, a se, in se vivens aliunde vivere non accipit, cui est vivere quod esse, nec aliud esse quam vivere, quia ipse est vita, et sic vita, quod ab eo omnis vita. - Vgl. F ο 1 z, Temoin S. 74. - Gegenüber Augustin beschränkt sich Otto auf die beiden ersten Elemente esse und vivere und schließt in diesem Zusammenhang, in dem es ihm um das Leben geht, die geistige Ebene (intellegere) aus. 71 S c h m a l e übersetzt (nach K o c h ) treffend „ursprünglich", ein Begriff, der das göttliche Wesen besser charakterisiert als das negative „ungeschaffen"; „genuin" impliziert darüber hinaus aber als Nebenbedeutung: „wahrhaft". Das Göttliche ist das eigentlich Wirkliche (im Sinne des Realismus); vgl. unten S. 116. 72 S c h m a l e und K o c h (S.338) übersetzen „entstanden" ( K o c h auch: „gezeugt"). 73 Diese bei Otto vereinfachte Einteilung der Natur, die letztlich auf (Pseudo-) Dionysios Areopagita zurückgeht, wurde im 9. Jahrhundert von Johannes Scotus Eriugena (De divisione naturae 1,1, Μ i g η e PL 122, Sp. 441B) ausgearbeitet: Er unterscheidet 1. die schaffende, aber nicht geschaffene Natur, 2. die geschaffene und schaffende Natur, 3. die geschaffene, aber nicht schaffende Natur, 4. die weder geschaffene noch schaffende Natur. Das Werk hat (samt dieser Einteilung) im 12. Jahrhundert dann Honorius Augustudunensis in seinem Clavisphysicae verarbeitet; vgl. dazu Marie-Therese d ' A l v e r n y , Le cosmos symbolique du XII e siecle, Archives d'histoire Doctrinale et Litteraire du moyen äge 28, 1953, S.31-81. Zu Otto vgl. auch F o l z , Temoin S.72. 74 Vgl. F o l z , Temoin S.73.

II .2. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

115

Da das Genuine keine generatio, also keinen Anfang und damit überhaupt keine Zeitenfolge kennt, ist es ewig, ein Wesenszug, der nur auf die Göttlichkeit zutrifft (dazu unten S. 121)75. In gewisser Hinsicht liefert die Argumentation also zugleich einen logischen, wenngleich von den üblichen Formen abweichenden Gottesbeweis77, und bezeichnenderweise schließt Otto hier eine Erläuterung der Trinität an (S. 130,7ff.)! Die Gottesvorstellung gewinnt Otto wegen der beschränkten Geisteskraft des Menschen weniger aus einer direkten Beschreibung als aus der negativen Darstellung dessen, was Gott - im Vergleich zu seinen Geschöpfen - nicht ist78, wenngleich er, wie wir gleich sehen werden, sich bemüht, zunächst positiv beschreibende Begriffe für das Göttliche zu finden. N u r Gott ist gut und weise aus seiner essentia heraus, das Geschöpf ist weise und gut nur aufgrund göttlicher Verleihung; daher ist nur Gott „wahrhaft gut" 79 , während der Mensch seinen Ursprung und sein Wesen, seine Weisheit und Güte erst in Gott hat und sein Sein erst der Gnade Gottes verdankt 80 . Als Produkt des Schöpfergottes besitzt das Geschöpf kein wahrhaft eigenes Wesen; vielmehr sind seine guten Eigenschaften nur (vom Schöpfer) abgeleitet, eigentlich nur dem Namen nach vorhanden, denominatione bonitatis bonus, sagt O t t o in der Chronik (Anm. 80) ebenso wie in den Gesta (Anm. 79) (vgl. unten S. 127 f.).

75 GF 1,5 (S. 130,5ff.): Genuinum est igitur carens generatione, carens principio, quale aput nos unum tantum invenitur, etemitas videlicet, soli divinitati accomoda. - Vgl. K o c h S. 338. 76 Vgl. dazu D. S c h l ü t e r , Artikel „Gottesbeweis", Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Sp. 818-30. Zur Geschichte der Gottesbeweise vgl. Georg G r u n w a l d , Geschichte der Gottesbeweise im Mittelalter bis zum Ausgang der Hochscholastik (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 6,3), Münster 1907. 77 Die Argumentation erinnert an Augustin (De libero arbitrio 11,3,7-15, ed. William M. G r e e n , CSEL74, Wien 1966, S.38ff.), doch Otto argumentiert nicht historisch mit der Existenz zeitloser Gesetze, sondern ontologisch von der Ursprünglichkeit Gottes her. 78 Vgl. GF 1,5 (S. 130,23 ff.): Cum enim ad contemplanda celsa divinitatis attollimur, eo quod intellectus noster, in quo sedeat, non habet, tamquam de re incerta palpitantes melius negando quam affirmando, id est quid non sit quam quid sit, conspicimus. Zur negativen Theologie Ottos vgl. S c h m i d 1 i n, Theologe S. 103 ff. 79 GF 1,66 (S. 266,17 ff.): Nichil vere did bonumpotest, illo solo excepto, qui non aliunde, sed ex se habens quod est, et verissime esse et verissime bonus esse dkitur, iuxta illud: ,Nemo bonus nisi solus Deus' (Luc. 18,19). Cetera vero ab eo non ex ipsius essentie sectione, sed ex eiusdem bonitatis denominatione bona dicuntur. 80 Chr.3 prol. (oben Anm. 11/36); vgl. Chr. 7 prol. (S.307,17ff.): Quod si homo id mutabilitati subiacens, partidpatione sapientiae sapiens, partkipatione, immo denominative bonitatis bonus, facere novit, quanto magis Deus solus inmutabilis solus sua sapientia sapiens, solus sua bonitate bonus et idcirco solus bonus, facere credendus est!

116

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

„Denominativ" bedeutet nach Boethius, dem Otto hier folgt, allerdings nicht nur eine transfiguratio

nominis (Otto sagt: tropus), sondern eine participatio,

Teilhabe am Wesen Gottes81, und Otto setzt ausdrücklich beide Begriffe gleich (Anm. 80)! Sein sogenannter Begriffsrealismus (oben S. 110), der dem Konkreten nicht eine Wirklichkeit abspricht, ihm diese aber nur als Ableitung von der wahren Realität, als Teilhabe an Gott, zugesteht, erweist sich als eine theologische Grundanschauung (vgl. oben S. 103), die auf der letztlich aus dem Neuplatonismus stammenden Vorstellung einer hierarchisch gestuften Seinsordnung beruht, die in Gott ihren absoluten Gipfel erreicht; nur Gott kann also „wahrhaft", „genuin" im eigentlichen Wortsinn sein, und wir begreifen jetzt, weshalb Otto gerade diesen Begriff wählt,. wenn er eigentlich von der Ursprünglichkeit Gottes redet. Teilhabe am Ursprung heißt Ableitung, und Otto kann hier den unüberwindbaren Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf hervorheben82; begriffliche Ableitung (denominatio) bedeutet umgekehrt stets aber auch Teilhabe des Abgeleiteten am Ursprung; Otto weist also zugleich auf das wesenhaft Gemeinsame, Gleichartige, hin, ohne daß beide jemals identisch würden. Er betont folglich die Zusammenhänge zwischen Schöpfer und Geschöpf und setzt beide in einen dauernden, über den Schöpfungsakt selbst hinausgreifenden ontologischen Bezug, der zugleich die Rückkehr zum Ursprung, zur Wahrheit, einschließt (nur wegen dieser Ableitung lassen sich aber überhaupt Aussagen über den dem menschlichen Verstand sonst unzugänglichen Gott machen, läßt sich Gott in den Geschöpfen erkennen)83. Aus den beiden Grundwesenszügen genuin und nativ leiten sich drei jeweils einander entgegengesetzte und einander ausschließende E i g e n s c h a f t e n des Schöpfers und der Geschöpfe ab 84 :

81

Darauf macht K o c h S . 333 ff. aufmerksam. Diese unüberbrückbare Kluft betont auch M ü l l e r , Theologie S. 20. 83 Die Lehre von der partictpatio als Existenzgrund des Abgeleiteten stammt letztlich aus der neuplatonischen Vorstellung, daß Gott die gesamte Ordnung hierarchisch gestuft und dem Geschöpf damit Anteil am wahren Sein gegeben habe (die partkipatio bewirkt erst die Existenz). Die Theorie hat Pseudo-Dionysios dem Christentum und danach Johannes Scotus Eriugena dem lateinischen Mittelalter überliefert; sie ist gerade im 12. Jahrhundert von Gilbert wiederaufgegriffen worden. 84 GF1,5 (S. 128,11 ff.): Quicquid est, genuinum est aut nativum. Sicut autem genuinum non potest esse non simplex, et, ut ita dixerim, non singulare, non solitarium, ita nativum non potest esse non compositum, non conforme, non concretum. - Vgl. ebda. (S. 132,27ff.): Patet igitur ex opposite per negationem, quod divina essentia nec conformis est nec concretioni subiacet. Quare, ut verba naturalia in divinam vertantur predicationem, sicut simplex, sic et singularis et solitaria dicatur, ut simplex contra compositionem, singularis contra conformitatem, solitaria dividat contra concretionem. - In gewisser Weise schließt die simplicitas aber auch conformitas und concretio aus (etwa bei dem einfachen spiritus, der nur aus Formen, nicht aber aus subsistentes zusammengesetzt ist, deshalb aber auch nicht plenarie simplex genannt werden kann) (S. 138,21 ff. - unten Anm. II/91). Simplkitas ist also eigentlich ein umfassender Begriff. 82

II.2. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

117

Der Schöpfer ist

das Geschöpf

- simplex, (einfach) - singularis, (einzigartig)

- compositum, (zusammengesetzt) conforme, (gleichartig oder artgleich) - concretum, (innig zusammengewachsen) 85 .

- solitarius, („alleinig" oder: eins)

(1) Das Geschöpf ist compositum, weil ein anderer es „komponiert", es zusammengesetzt und geschaffen hat, es also geboren ist, einen Ursprung und einen Beginn hat 86 ; nur wer „einfach" (simplex) ist wie die divinitas, ist nicht geschaffen und daher selbst Anfang 87 . Das Geschaffene kann nicht einfach sein, weil es einerseits aus dem subsistens (später auch subiectum), nämlich der physischen Existenz als konkreter Realität, der wesensspezifischen, aber noch nicht für sich allein existenzfähigen Substanz 88 , und andererseits aus der „Form" (forma) oder Natur, dem wesenhaften, substantiellen Sein besteht, das erst das volle, „unversehrte" Sein (integrum esse) ausmacht 89 ; es ist aus dem Sein als der Existenz (id quod est) und dem Wesen (esse) zusammengesetzt (S. 136,26 ff.). 85

Aussagekräftiger als die hier gegebenen Übersetzungen, die sich meist an Κ ο c h und S c h m a l e anschließen, sind die im folgenden behandelten Erläuterungen Ottos. Vgl. dazu K o c h S . 339 ff. w GF 1,5 (S. 136,14 ff.): nunc, qualiter omne nativum compositum, conforme, concretum intelligatur, dicendum restat. Omne quippe, quod natum est, ab alto sine dubio originem sumit. Nichil enim a se nasci potest. Quod autem ex alio est, prinapium non est. Ergo est hoc et hoc; ergo simplex non est; compositum est igitur. Vgl. oben Anm. 11/79). Gilbert hat sich in seinen erhaltenen Schriften auf diesen ersten Gegensatz beschränkt. 87 GF1,5 (S. 130,12 ff.): Sola ergo divinitas principio carens simplex esse necessariis probatur rationibus. Quidquid enim componitur, ab alio componi necessarium est. Nulla enim res, sicut se non gignit, ita nec se componit. Quod autem ab alio componitur, ab alio esse necesse est. Divinitas vero ab alio non est. Ab alio componi ergo nequit. Simplex igitur est. 88 Ottos substantia-Bepiti bezeichnet weniger die Materie als bereits das Wesen (ebenso wie subsistens); vgl. Gilbert, De Trinitate 1,9,4 (S. 76): subsistens ...est ilia substantia, quae est aliquid. - Vgl. K o c h S.339 und S c h m a l e , Edition S. 132 Anm.40. K l i n k e n b e r g S. 64 gibt K o c h falsch wieder, wenn er im subsistens bereits das aus physischen Teilen und Formen zusammengesetzte Ding erblickt. 89 GF 1,5 (S. 138,9 ff.): Nullum itaque subsistens simplex, nulla forma, que sit integrum esse, potest esse non composita. - Der Satz, den Otto aus Boethius und Gilbert ableitet, ist ursprünglich von Origines (De principiis 1,1,9) und schon vorher von Aristides und vor allen von Irenäus aus dem Neuplatonismus in die christliche Theologie eingeführt worden. Im Rahmen seiner Einheitstheorie hatte auch Tertullian betont, daß Gott ungeschaffen und nicht zusammengesetzt ist.

118

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

Otto greift hier Gilberts Unterscheidung zwischen id quod est (wie corpus oder homo) und id quo est (wie corporalitas oder humanitas) auf: Gilbert unterscheidet zwischen dem subsistens (id quod est), in quo est subsistentia, und der subsistentia (esse), quae est in subsistente (De hebdomadtbus Kap. 7 - S. 189); auch für ihn besteht alles Sein (esse) notwendig aus Form (GF 1,56 - S. 244,4 f.); im göttlichen Wesen fällt dieser Unterschied dagegen zusammen (Gilbert, De Trinitate 1,3,4 ff., S. 51 f.) 90 . Das Wesen gibt der Existenz erst die spezifische Form, es „informiert" sie 91 , während bei einem einfachen Wesen beides zusammenfällt 92 . Erst dieser „Informationsvorgang", die Formgebung, macht das einfache zu einem wesenhaften Sein (substantiate esse: S. 132,20). Die Bestandteile können jeweils nur aus Gleichartigem gebildet werden, die Form ist aus Formen, das subsistens

aus subsistentes

(der Körper aus Körpern)

zusammengesetzt; Otto unterscheidet also eine compositioformarum eine compositio subsistentium;

und

eine Mischung ist unmöglich, doch erst

beide Elemente zusammen ergeben ein Geschöpf, weil sie einander nicht ersetzen können 93 . (2) Die „ F o r m " oder „ N a t u r " , die dem Geschöpf das spezifische Sein verleiht, macht es gleichartig, ex substantiali

similitudine

conforme

(S. 138,28 f.; vgl. S. 132,1 ff.) 94 , so daß es aufgrund seiner Wesensähnlichkeit jeweils mit anderen Geschöpfen in Handlung (actus) und Natur

90 Zu Gilbert vgl. S c h m i d 1 i n, Philosophie S. 407 ff.; Η a r i η g, Case S. 5 ff.; C h e η u, Theologie S. 101 ff. und Ε1 s w i j k S. 154 ff. - Esse und id quod est sind nach Gilbert aber nicht zusammengesetzt (compositus), sondern durch gegenseitige participatio verbunden (habitus) (Ε 1 s w i j k). 91 GF 1,5 (S. 138,4 ff.): Omnem igitur formam ad hoc, ut integre subsistentem informet, compositam esse necesse est et esse hoc et hoc. Subsistentes quoque ex suhsistentibus constare nulli dubium est. Omne enim corpus ex corporibus constat. - Vgl ebda. (S. 138,21 ff.): Verbi gratia: Ut corpus corporeitate esse, colore aliquid esse dicitur, sie et spiritus creatus, cum alio sit, alio sapiens sit, quamvis copulatione partium carens simplex esse videatur, tarnen, quia formam ex formis compositam habet, et ex concretione huiusmodi forme et subsistentis plenarie simplex did non potest. Omne igitur nativum compositum. 92 Vgl. Gilbert, De hebdomadibus Kap. 12 (S. 192 f.). 93 GF1,5 (S. 136,23 ff.): Sed notandum, quod compositio alia formarum, alia est subsistentium; formarum ex formis, subsistentium ex suhsistentibus. Nulla enim forma subsistentium nec subsistens formarum compositionem admit tit. ...et cum sub nulla genere conveniant compositionemque, ut dictum est, alterum alterius non admittat, alterum tarnen sine altero esse nequit. 94 Den Begriff der similitude hat Otto ebenfalls von Gilbert übernommen; vgl. De Trinitate 11,1,14 (S.91): Die Menschen sind conformitate similes, et simüitudine sunt conformes.

II.2. D e r Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

119

übereinstimmt: Geschöpfe gleicher Art sind artgleich (konform). So haben Plato und Sokrates die humanitas als Natur ihrer Wesenssubstanz und als Wesenssubstanz ihrer Form gemeinsam; beide sind deshalb als „Mensch" zu bezeichnen 95 . Die conformitas bezeichnet also letztlich das Spezifische einer Gattung in bezug auf seine Natur (Form) 96 . Dabei genügt eine potentielle Gleichartigkeit, auch wenn sie in der Wirklichkeit nicht vorkommt: So gibt es zwar nur eine Sonne, doch könnte es ohne Widerspruch zur Natur mehrere Sonnen geben; also ist auch die Sonne nativus (S. 132,23 ff.).

Die divina essentia dagegen ist einzigartig (singulare), das heißt in ihrer Art einzig, weil es einen zweiten, allmächtigen Schöpfergott nicht gibt und niemals geben kann 97 und weil Gott sein Wesen mit niemandem sonst teilt 98 . (3) Weil forma und subsistens so verschiedenartig sind, spricht Otto lieber von einer concretio als von einer compositio (S. 136,30 ff.) 9 9 ; die Konkretheit besteht also in der Zusammensetzung aus Verschiedenartigem. Das concretum ist das spezifische Produkt der „Information", der Verbindung von forma und subsistens. Das Geschöpf ist konkret, weil es ein „Subjekt" (im eigentlichen, von subicere abgeleiteten Wortsinn), nämlich das der Form unterworfene subsistens (substantia), besitzt.

9 5 GF1,5 (S. 130,26 ff.): In nativis igitur omnem naturam seu formam, que integrum esse subsistentis sit, vel actu et natura vel natura saltem conformem habere necesse est. Verbi gratia: humanitas Socratis actu et natura conformis est humanitati Piatonis, dum secundum omnes partes et omnimodum effectum, quod quidam formam substantie et substantiam forme vocant, tarn in isto quam in illo inveniatur. Unde, quamvis Socrates et Plato ratione partiendi in numerum veniant, ut duo dicantur homines, tarnen ratione assimüandi unus possunt did homo. 9 6 In den Vorausbemerkungen zu Gilberts Trinitätslehre macht Otto deutlich, daß der jeweiligen Gemeinsamkeit der Natur eine Stufenfolge entspringt: Die größte Ähnlichkeit liegt in der Körperhaftigkeit (corporeitas), eine kleinere in der Beseeltheit (animalitas), die kleinste in der Menschlichkeit (humanitas) (GF1,56 - S. 242,9 ff.). 97 G F 1,5 (S. 134,4 f.): Nec igitur actu nec natura conformis est, quia necfuit nec est nec esse potent alius Deus, alius creator, alius omnipotens. 9 8 Ebda. (S. 130,20ff.): Hec eadem divina essentia, eo quod nec actu nec natura conformen habeat, singularis esse probatur. 9 9 Der Unterschied zwischen beiden Begriffen ist nur schwer faßbar; vgl. dazu K o c h S. 339 ff. und S c h m a l e , Edition S. 128 f. Anm. 30, die Ottos compositio als das „Zusammengesetztsein überhaupt" interpretieren, während die concretio eher ein spezielles „Zusammengewachsensein" (das „Zusammen von Form und physisch Existentem") bezeichnet.

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II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

Hat die conformitas das Gemeinsame der Geschöpfe herausgestellt, so gewährleistet die concretio eine Differenzierung, für die die vielen (unwesentlichen) Äußerlichkeiten, die Akzidenzien, verantwortlich sind100. Zur Zusammensetzung der species sind nämlich bestimmte Formen, die Teile (partes), nötig, unter denen Otto - die wesentlichen (generates), die das Spezifische einer Gattung (eben die conformitas) ausmachen, - die beiläufig absondernden (differentiales) und - die diese lediglich begleitenden (accidentales) Teile unterscheidet 101 . In dieser Menge der Akzidenzien, die das substantielle Sein begleiten, und nicht nur in der Vereinigung von Form und Existenz (subsistens), besteht eben die Konkretheit 102 . Deshalb ist die universitas in eine Vielheit von species differenziert (GF 1,66 - S. 266,32 ff.).

Gott dagegen ist „allein" (solitarius), das heißt: „einheitlich", aus einem einzigen Sein, reine Substanz, die nicht erst „informiert" werden muß, weil sie schon wesenhaft, reine Form, ist. Weil Gott nicht aus Teilen besteht, sondern Natur und Substanz identisch sind, ist das göttliche Wesen überhaupt nicht „spezifisch" beschreibbar103, denn es ist aufgrund seines Charakters keiner logischen Operation, weder der Bestimmung (diffinitio) noch der Unterteilung in species (divisio) und schon gar nicht dem Beweis (demonstratio) oder der Auflösung (resolutio) zugänglich104

100 GF1,5 (S. 138,27ff.): De conformitate et concretione supra probatum est, quod videlicet ex substantiali similitudine conforme, ex eo quod subiectum informet multitudinemque post se accidentium trahat, concretum dicatur. 101 Ebda. (S. 132,5 ff.): Partes autem hicvoco easformas, que ad componendam speciem aut in capiteponuntur, ut generates, aut aggregantur, ut differentiales, aut eas comitantur, ut accidentales. - Die Unterscheidung ist wohl Gilbert, De Trinitate 1,3,10 (S. 53) entnommen, aber von Otto genauer spezifiziert. 102 Ebda. (S. 132,18 ff.): Concretio etiam in naturalibus non solum coadunationeforme et subsistentis, sed et multitudine accidentium, que substantiate esse comitantur, considerari potest. 103 GF 1,5 (S. 134,6ff.): Concretionem non recipit, cum nec subiectum, quod informet, habeat, nec aliquam comitantiam accidentium admittat. Quare nec substantia proprie did potest. Substantia enim potest quodam modo subiectum vocari, forma vero nullo modo subiectum esse potest. Hoc vero cum iuxta philosphum necpassionibus nec motui subiciatur, ex hoc aut ex illo constans, sed quidquid est, unum est, et ideo vere est, et fortissimum, nullo nitens, multo melius forma dicitur. Omne namque esse ex forma est. Non est ergo hoc et hoc, est hoc tantum: pulcherrimum et fortissimum. 104 GF1,5 (S. 134,13ff.): nach Boethius, In Categoriis Aristotelis B.I ( M i g n e PL64, Sp. 166A); anders K o c h S.333.

II.2. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

121

(auf ontologischem W e g erklärt O t t o hier, weshalb der Mensch G o t t letztlich nicht begreifen kann, w a r u m die logische Wissenschaft nicht auf die Theologie anwendbar ist); das göttliche Wesen ist aber — und O t t o drückt das durch die Superlative aus (S. 134,15 ff.) - jeweils vollendet. Aus diesen Überlegungen, die allein durch die ratio, nicht durch den sensus zu begreifen sind (vgl. unten A n m . 11/121), leitet O t t o - und zwar wiederum in Abgrenzung v o m Geschöpflichen - erst die Aussagen über das Wesen Gottes ab, deretwegen er das ganze Kapitel überhaupt eingeschoben hat, und er gewinnt hier auf logischem W e g Erkenntnisse 1 0 5 , die er inhaltlich bereits in der C h r o n i k vorausgesetzt hat: G o t t allein ist ewig (eternus)106, lich (incommutabilis)107

unwechselhaft (invariabilis) von N a t u r aus (naturaliter),

und unveränderweil er unteilbar

(S. 134,22 f.) ist und sich nicht auflösen kann 1 0 8 . Wenn Otto hier ohne weiteres von einem logischen Beweis zu einer ontologischen Überlegung überleitet, so beweist er damit wieder einmal den Begriffsrealismus der Schule Gilberts 109 , dem das bezeichnete Wesen nur ein Abbild der (metaphysischen) Wirklichkeit ist, die sich zugleich aber darin widerspiegelt und es wirklich macht 110 . Die Feststellung des göttlichen Wesens hat eine lange Tradition und konnte, da in Gott Wesen und Sein zusammenfallen, letztlich auf die griechische Ontologie 105 GF1,5 (S. 134,26ff.): Unde necessario ex simplidtatis, singularitatis, solitaritatis, ut ita dicam, natura resolutionis necessitudinem excludit, ut iure solum eternum, invariabile, incommutabile et sit et naturaliter esse credatur. 106 Vgl. Chr. 8,16 (S.414,10f.): verus et subtilis ab aeterno disaetor; Chr. 8,26 (S. 433,5 f.): (Deus) in identitate sua eternaliter et incommutabiliter semper uno eodemque modo permanens; vgl. auch GF1,5 (Anm. 11/75). 107 Vgl. Chr. 3,12 (S. 148,26 ff.): (Deus) immobilis manens; Chr. 7 prol. (Anm. 11/80): Deus solus inmutabilis; Chr. 8,26 (Anm. 11/106); Chr. 5,36 (oben Anm. 1/309): (Deus vivus), qui est immobilis et incommutabilis manet. 108 Hugo von St. Viktor, Didascalicon 7,17ff. (Migne PL176, Sp.825ff.), beschreibt Gottes Wesen ähnlich als simplex, universus, immutabüis, aetemus und bonus. 109 Dazu K o c h S . 330 und S. 333 Anm. 28. Den engen Zusammenhang von Logik und Metaphysik hebt auch S c h m i d l i n , Philosophie S. 323, hervor, der (S. 316ff.) bei Gilbert eine mehrschichtige Universalienformel vorfindet: ante rem in den Subsistenzen, in re in den Dingen, post rem in der Abstraktion durch den Verstand; erneut zeigt sich, wie problematisch eine Klassifizierung nach der Universalienfrage ist, die gar nicht Gilberts eigentliches Problem darstellt (vgl. Ε1 s wi j k S.200ff., zur Forschung G a m m e r s b a c h S. 29 ff.). 110 Vgl. damit auch Ottos Brief an Friedrich Barbarossa, den der Bischof re et nomine Paaficus nennt (Chr. S. 2,18). Vgl. auch unten Anm. III/102 zu Pippin. - Im Gegensatz zu Abaelard steht Otto bezüglich der Trinitätslehre auf dem Boden der kirchlichen Dogmatik, die mit den drei nomina auch drei res unterschieden sieht (GF 1,50 - S.226,13ff.).

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II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

zurückgreifen (Parmenides verstand das Seiende als ungeworden, unvergänglich, unbeweglich und unveränderlich; Heraklit sah den Logos als ein geistiges Wesen an), die von den christlichen Apologeten, nicht immer richtig verstanden, aufgenommen wurde. Den neoplatonischen Gedanken der Unkörperlichkeit haben vor allem Aristides, Irenäus und Clemens in die christliche Theologie übertragen. In Ottos Aufzählung unberücksichtigt bleibt das an anderer Stelle der Chronik (oben Anm. 11/80) hervorgehobene Prinzip der Güte (bonitas) Gottes, das Plato in die Philosophie eingeführt und vor allem Augustin, der Gott als das summum bonum versteht, hervorgehoben hat. In der Unwandelbarkeit liegt also das eigentliche Kennzeichen des Schöpfers 1 1 1 , während das zusammengesetzte Geschöpf sich stets in der Gefahr der Auflösung befindet und deshalb in hohem Maße veränderlich ist. Otto empfindet die Unveränderlichkeit und Geschichtslosigkeit Gottes einerseits und sein Geschichtswirken als Schöpfer, Lenker und Bewahrer andererseits keineswegs als Gegensatz 112 . Nach Müller, Theologie S. 29, löst Otto die Spannung zwischen Unwandelbarkeit und Allwirksamkeit Gottes in der Geschichte in einem hohen persönlichen Gottesbild auf: Gottes Unwandelbarkeit erweist sich in der Berührung mit der Welt als Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Das bedeutet aber ontologisch: Da Gott ohne Teile und ohne das „Pendant" eines zweiten Gottes ist, ist er nach keiner Seite hin vergleichbar, gibt es keinen Unterschied zwischen Wesen und Sein, zwischen Wesen und Wirken: Gottes Allwirksamkeit i s t also seine Unveränderlichkeit113, zumindest - und das kommt als eine weitere Erklärung hinzu - in der beschränkten Sicht des Menschen, der nicht eigentlich fähig ist, das Göttliche zu erfassen (GF 1,5 - S. 130,24). Jedenfalls „wirkt" Gott nicht in unserem Sinn, sondern ohne alle Affekte 114 . Der geschichtsphilosophische Exkurs sprengt keineswegs den Rahmen des Geschichtswerks (allenfalls die Chronographie), denn O t t o begründet hier von logisch-metaphysischer Seite her seine geschichtstheologi-

Vgl. dazu M ü l l e r , Theologie S. 20 ff. Zu der darin enthaltenen Spannung vgl. H a s h a g e n S . 17 und, korrigierend, aber noch ohne eigentliche Erklärung, S t a u d i n g e r S . 3 5 f . - Zur Tradition vgl. P a n n e n b e r g , Gottesbegriff S.329ff.: Schon die frühen Apologeten überbrückten den Gegensatz zwischen der Unveränderlichkeit Gottes und seinem geschichtlichen Handeln durch den Gedanken der Vorsehung. Augustin ist auf das Problem in De Genest ad litteram Kap. 8,20 ff. (ed. Joseph Ζ y c h a, C S E L 28,1, Prag-Wien-Leipzig 1894, S. 258 ff.) eingegangen. 115 Diesen Zusammenhang betont die aristotelische Lehre vom unbewegten Beweger. 114 Chr. 7 prol. (S. 308,4 ff.); vgl. M ü l l e r , Theologie S. 23. - Den Satz hat Origines in die christliche Theologie eingeführt. 111 112

II.2. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

123

sehen Überzeugungen; der theoretisierende Philosoph erklärt aus dem Wesen des zusammengesetzten, artgleichen und zusammengehaltenen Geschöpfs die verborgene Ordnung, die Gott den geschichtlichen Ereignissen zugrundelegt 115 : das P r i n z i p d e r mntabilitas (oben S. 86 ff.), das die Entwicklung alles Irdischen (wir können jetzt besser sagen: alles Geschöpflichen) bestimmt und das den Menschen zwingt, die Geschichte mit ihrem dauernden Wandel wie ein Fieberkranker, der keine Ruhe findet, an sich vorüberziehen zu lassen116, ein Prinzip, das Otto in der Chronik mit allem Nachdruck aufzeigen wollte, das aber ebenso die Gesta bestimmt (vgl. GF 2,32 - S. 346,19 ff.)117. In gewisser Hinsicht rechtfertigt der Bischof überhaupt erst in seinem Gesta-Kapitel (GF 1,5) die historische Argumentation der Chronik vom Sein und Wesen aller Dinge her, erweist er die zuvor aus der historischen Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse nun auf philosophischem Weg als richtig118: Der aus den vier auseinanderstrebenden Elementen zusammengesetzte Körper der Geschöpfe ist einer dauernden Bewegung der Formen, einem fluxus formarum, unterworfen, und zwar, wie Koch (S. 344) richtig bemerkt, nur der akzidenziellen Formen, denn das Geschöpf behält ja seine spezifische Gestalt bei. Diese Bewegung der Formen, die dem „Subjekt" (also dem informierten subsistens) keine Ruhe läßt, kann sich nur in zeitlicher Abfolge vollziehen, zieht also - und

115

So K o c h S.346ff. - Den engen Zusammenhang zwischen Philosophie und Geschichte bei Otto hatten bereits H a s h a g e n S . 1 7 und S c h m i d 1 i n, Philosophie S. 416, erkannt. Vgl. B r e z z i , Ottone, S.276: Otto sieht in jedem historischen Moment eine Einheit von Universalem und Besonderem, eine Synthese von Faktum und Idee. 116 Vgl. Ottos Programm im Brief an Friedrich (Chr. S. 1,5 ff.) und Chr. 5,36 (S. 260,1 ff.): Considerare Dei iudicia mundique volubilitatem etiam nolentes compellimur. Ecce enim, ut supra dixi, in modum caeli, quod ab Oriente ad occidentem vertitur, simul cum tempore res mundanas rerumque potestates volvi cemimus. Et ne putaremus mortales res in aliqua mundi parte statum invenisse, ibi etiam defectum eas pati ac more febricitantis, ... quocumque se vertennt, nichil stabilitatis habentes dolores ac labores repperisse conspicimus. 117 Wie sehr Ottos Denken vom Prinzip der mutabüitas der Geschöpfe geprägt ist, zeigt auch sein Kommentar zu einem Berthold von Zähringen, der als Gegner der Staufer sonst nicht gerade verherrlicht, aber doch geachtet wird, zugeschriebenen Zitat (GF1,8 S. 146,23 ff.): ,Dic, die! scio enim, quod semper leta tristia vel tristia precedunt leta.' Mit solchen Worten pflegte dieser nämlich die Botschafter schlechter Nachrichten zu empfangen. Otto lobt diese natürliche Einsicht eines im Grunde ungebildeten Mannes (sine litteris naturali perdpiens ingenio), der die volubüitas nativorum erkannt hat. 118 So K l i n k e n b e r g S.65f.

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II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

hier erklärt sich ihre Bedeutung für die Geschichte - einen fluxus morarum, eine zeitliche Veränderung, ein Werden und Vergehen, nach sich und unterwirft das Geschöpf der Zeit (tempus), so daß es eine stabile Gegenwart kaum noch wahrnehmen kann 119 : Aus dem Fluß der Formen folgt zwangsläufig ein Fluß der Zeit 120 , eine dauernde Veränderung aller der Zeit unterworfenen Geschöpfe, folgt eben die mutabilitas nature, die sich in der Geschichte auswirkt 121 . Als Geschöpf ist der Mensch dieser dauernden Veränderung unterworfen 122 ; als das am meisten zusammengesetzte, aus entgegengesetzten subsistentes bestehende Wesen ist er sogar am meisten von der Gefahr der Auflösung bedroht 123 , die sich aber in einem Wandel und nicht in einem völligen Zerfall auswirkt, denn als „Person" (und als konkretes Wesen)

119 Daß es keine Gegenwart als zeitliche Dauer gibt, hat bereits Augustin gelehrt (Confessions ll,14ff., ed. Martin S k u t e l l a , Leipzig 1934, S.275ff.). 120 Vgl. S c h m i d i i n , Philosophie S.416. 121 GF1,5 (S. 140,12 ff.): Verbicausa: Corpore ex IIII elementis compacte, igne sursum, terra deorsum, aqua et ere quasi e regione distrahentibus sibique hoc modo partibus dissidentibus, quid inequaUs esse poteritf Id ipsum etsi non sensus, ratio tarnen in compositione forme percipit. Accedit ad hoc, quod non solum forma, que substantiate est esse, ex formis est composita, sed quod ipse forme componentes, nunc nascentes, nunc occidentes, neque umquam in existendi conditione constant! et rata perseverantes subiectum quiescere non permittunt. Unde, decedentibus aliis, alte semper sine intervallo succedunt. Quem celerrimum fluxum formarum cum sequatur fluxus morarum, tempus tarn acutum emergit, ut eius instans vix vel numquam conspici queat. Bene ergo α tarn mutabilitatem nature quam more considerantibus dictum est: „Melius est ad summum quam in summo", quia, cum amplius, quo crescat, non habeat, decrescere necesse est. Sicut autem a medicis precipitur, ut bone habitudines, cum in summo fuerint, solvantur, sie non inmerito a probatis animarum medicis suadetur, ut mens, que rerum prosperitate in summo posita elevari assolet, malorum intuitu reprimatur. - Zum Zitat vgl. K o c h S . 325 f. 122

GF 1,4 (S. 128,4f.): „Melius est ad summum quam in summo". Cum enim ,bomo natus ad laborem' (lob 5,7), ,brevi vivens tempore' (lob 14,1), natura tamquam ex multis composita ad dissolutionem tendente, numquam in eodem statu manere valeat, si in summo fuerit, mox eum declinare oportebit. 123 GF1,5 (S. 140,1 ff.): Inter omnia vero nativa nichtl magis compositum invenitur quam homo, qui non solum ex esse compositum habet esse vel subsistentem ex subsistentibus, sed et ex oppositis compactus subsistentibus oppositorum subsistentium iuneturam et eorumdem diversarum subsistentiarum compositionem reeipit. Quare haut mirandum, si ex tota et tanta compositione compactus facilius resolutioni subiacet. ... tanto vehementius ad dissolutionem tendimus, quanto dissidentius ex oppositas partibus constamus. - Vgl. S c h m i d 1 i n, Philosophie S. 416; Β r e ζ ζ i, Ottone S. 280.

II.2. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

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bleibt d e r M e n s c h unteilbar, bildet also eine Einheit ( e t w a v o n Seele u n d Leib)124. Mit seiner Erklärung des menschlichen Wesens von der elementaren Zusammensetzung her fußt O t t o auf der Naturlehre seiner Zeit 1 2 5 , nach der alle Körper aus den vier Elementen bestehen 126 und im Menschen, der - nach einem erst im 12. Jahrhundert wiederbelebten Gedanken des Johannes Scotus Eriugena - einen Mikrokosmos bildet, ein völliges elementares Gleichgewicht herrscht 1 2 7 , und er kann das um so mehr, als auch die Naturwissenschaftler wie Otto das „Geschaffene" vor Augen haben 1 2 8 und alle Bewegungen auf die Wirkung der elementaren Qualitäten (Wärme, Kälte, Trockenheit, Feuchtigkeit bzw. Schwere, Leichtigkeit) zurückführen 129 . O t t o benutzt die physische aber als Argument für die ontologische Zusammensetzung, er erklärt die Bewegung nicht aus den Eigenschaften (wie etwa Bernhard Silvestris) oder aus der Lebensweise (wie Urso von Salerno), sondern aus dem Auseinanderstreben der Teile, der forrnae comitantes, neben denen es auch Gleichbleibendes, „Konformes", gibt. Otto will nicht die bewegende Kraft erkennen, sondern die Vergänglichkeit aufzeigen, und vor allem kann es ihm nicht darauf ankommen, ein „Eigenwirken" der Körper herauszustellen, das eine unmittelbare Beziehung zu Gott letztlich überflüssig machen würde 1 3 0 , sondern er legt den Akzent gerade auf die Passivität des Geschöpfs, das dieser Bewegung hilflos unterworfen ist.

124 K o c h S.344ff. hebt hervor, daß gerade die vielfache Zusammensetzung den Menschen zur einzigen irdischen Person und damit zur Krone der Schöpfung macht. 125 vgl. dazu jetzt S t ü r n e r , besonders S.20-65; zur Kosmologie Ottos vgl. bereits S c h m i d l i n , Philosophie S.418ff. 126 Vgl. Honorius Augustudunensis, Elucidarium Kap.59 (ed. L e f e v r e S . 3 7 1 ) , Liber octo quaestionum Kap.l ( M i g n e PL 172, S p . l l 8 6 C ) , Kap.3 (Sp. 1188C/D); vgl. M a u r m a n n , Himmelsrichtungen S. 19ff.; zum Mikrokosmos vgl. C h e n u , Theologie S.34ff. und d ' A l v e r n y , Cosmos symbolique; zu Johannes von Salisbury S p ö r l , Grundformen S. 96. 127 Vgl. Wilhelm von Conches, Glosae super Platonem Kap.52 (ed. E. J e a u n e a u , Textes Philosophiques du Moyen Äge 13,1965, S. 121 f.) und Philosophia mundi Kap. 1,22 f. ( M i g n e PL172, Sp.55); dazu S t ü r n e r S.38f. Honorius, Imago Mundi Kap. 1,82 ( M i g n e PL 172, Sp.140). Zum Einfluß des Weltbildes auf das Menschenbild vgl. M a u r m a n n , Himmelsrichtungen S.57ff. Zu den christlich-anthropologischen Vorstellungen des Mittelalters vgl. auch Reinhard S p r e n g e r , Adel - Bürger - Bauern. Der anthropologische Hintergrund der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung, Kastellaun 1978, besonders S.22ff. 128 Die Naturvorstellungen finden sich nicht zufällig vor allem in Kommentaren zur Schöpfungsgeschichte (Hexaemera). Zum Zusammenhang zwischen mittelalterlichen Schöpfungsgeschichten und naturwissenschaftlichem Weltbild gerade im 12. Jahrhunden vgl. Johannes Z a h l t e n , Creatio mundi. Darstellungen der sechs Schöpfungstage und naturwissenschaftliches Weltbild im Mittelalter (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 13), Stuttgart 1979. 129 Zu Ottos Elementen-Lehre vgl. auch Chr. 8,9 (S. 404,7 ff.) und 8,13 (S. 409 ff.). 130 So S t ü r n e r S.63f. über die Naturwissenschaftler des 12.Jahrhunderts.

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II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

Daß das Gesetz der Auflösung nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern für die gesamte Menschheit gilt, ergibt sich aus der Konformität der Geschöpfe, die sich in jeweils gleiche species einteilen. Daß Otto die Ontologie tatsächlich geschichtsphilosophisch verstanden wissen will, zeigt sich neben dem Bezug zu tempus und mutabilitas nicht zuletzt auch an dem Anlaß zu dem Kapitel: Der gesamte ontologische Exkurs knüpft nämlich an eine hochmütige Bemerkung Heinrichs IV. im Sachsenkrieg nach seiner Schlappe vor der Harzburg (GF 1,4) an. Die Geschichte besteht also in einem Werden und Vergehen, in einer wechselnden Folge von Aufstieg und Fall, wie er in der Chronik mehrfach konkret faßbar wird 131 . Das deutlichste Beispiel für den Fall eines Herrschers bildet die tragedia... miseriarum Heinrichs IV. (Chr. 7,12 - S. 324,3 f.), der vom opulentissimus ac potentissimus rex zum Bettler (egens) wurde, ein miserabile mortalibus relinquens exemplum (S. 323,14 ff.). In Ottos eigener Zeit läßt sich damit der Fall Heinrichs des Stolzen vergleichen, nachdem er Konrad immer wieder vergeblich um Erbarmen gebeten hatte132. Otto zieht zur Veranschaulichung des wechselhaften Schicksals das antike Bild der Fortuna mit dem Schicksalsrad (vgl. dazu oben Anm. 1/257) heran133, hebt aber dessen christlichen Charakter ausdrücklich hervor, indem er die Fortuna der Philosophen (damit ist offensichtlich Boethius gemeint) tatsächlich als den geschichtswirkenden göttlichen Willen entlarvt (vgl. oben S.75f.) 1 3 4 . Das durch Boethius (De consolatione philosophiae Kap. 11,2, ed. Ludwig Bieler, Corpus Christianorum 94, Turnhout 1957, S. 19 f.) dem Mittelalter

131 Beispiele bei Κ ο c h S. 348. - Schon H a s h a g e n S . 27 bemerkt, daß Otto gern den Fall von Herrschern zum Aufzeigen der Unglücksgeschichte benutzt. 132 Chr. 7,23 (S. 345,10ff.): Et mirum dictu, princeps ante potentissimus et cuius auctoritas, ut ipse gloriabatur, ,a muri usque ad mare' (Ps. 71,8), id est a Dania usque in Siciliam, extendebatur, in tantam in brevi humilitatem venit, ut pene omnibus fidelibus et amias suis in Baioaria a se deficientibus clam inde egressus, ΙΙΙΓ" tantum comitatus sociis, in Saxoniam veniret. 133 Vgl. GF 1 prol. (oben Anm. 1/254) und GF 1,47 (oben Anm. 1/255), wo Otto von der fortuna Friedrich Barbarossas spricht. 134 Vgl. Chr.6,9 zum Schicksal Karl III. (S.271,3ff.): Hic tarn misenimus et iuxta pbilosopbos fortunae in modum rotae nunc summa nunc ima vertentis ludus, secundum rei vero veritatem iuxta Dei regna mutantis nutum anceps rerum status ad declinandam mundi miseriam veramque vitam appetendam nos provocare posset.

II.2. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

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überlieferte Bild der Fortuna mit dem Schicksalsrad (vgl. Dören S. 77 ff.) wurde gerade im 12. Jahrhundert wieder aufgenommen (Haefele S. 63). Als göttliches Wirken erweist Otto die Fortuna auch in den Gesta, wo er glaubt, ut iurefortuna culpanda velpotius divina patientia sit ammiranda, weil ein so schönes Land wie Ungarn einem so barbarischen Volk verliehen ist (GF 1,33 - S. 192,26 ff.). Otto spricht von Fortuna offensichtlich besonders gern, wenn das göttliche Wirken, das dem Menschen durchaus nicht immer erklärlich ist, dessen Erwartungen entgegenläuft! Auch als Geschichtswirken Gottes hat die Fortuna den Charakter der Launenhaftigkeit behalten. Konrad III. hebt eine Belagerung auf, um sich nicht infide fortune fidei se incaute committere (GF 1,18 - S. 158,17{{.); fortuna nennt Otto auch das Mißgeschick (die Niederlage) Lothars III. in Böhmen (GF 1,21 - S. 164,9), und durch miseirimo fortunae rotatu sieht er in der Chronik bereits Troja zerstört (Chr. 1,26 - S. 58,19 f.). Andererseits leitet die fortuna Friedrich Barbarossas eine neue, glückliche Zeit ein (oben Anm. 1/255), doch Otto fügt sogleich hinzu, daß Gott, der bonorum omnium dator, Friedrich zum guten Beginn ein noch besseres Ende gewähren möge (GF 1 prol. - S. 118,26 ff.), ist sich also der Unbeständigkeit des Schicksals bewußt: fortuna wird bei ihm zu einem zweiten Begriff, zu einem Symbol für die mutabilitas rerum.

Das Schicksal des als Geschöpf veränderlichen Menschen ist Inhalt der irdischen mutabilitas, der Geschichte, die tatsächlich von dem umwandelbaren Gott gelenkt wird. Neben den Menschen hatte Otto nun auch die E n g e l als „Person" gekennzeichnet. Sie nehmen in seinem ontologischen Schema eine merkwürdige Sonderstellung ein, da sie mit ihrer Unveränderlichkeit eine im Grunde göttliche Eigenschaft besitzen. Otto scheint dadurch den kunstvoll errichteten, zwangsläufig aus der „negativen" Gottesdarstellung erwachsenen135 absoluten Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf wieder aufzulockern. Tatsächlich aber handelt es sich auch hier - ganz entsprechend der Güte des Menschen (oben S. 115) - um eine durch die Gnade Gottes verliehene, abgeleitete Eigenschaft, so daß die Engel nur invariabiles genannt werden k ö n n e n 1 , nicht wahrhaft (von Natur aus), sondern nur durch Übertragung (transumptive) unveränderlich sind (GF S. 136,7ff.); ihr Wesen ist nicht proprietas, nicht eigen, sondern tropus, bildhafte Übertragung. Die Engel haben damit zwar am göttlichen Wesen Anteil und übertreffen durch ihre Unveränderlichkeit die Menschen, sie verlieren aber nicht ihre Geschöpflich-

135

Vgl. GF1,5 (S. 132,27f.): ex opposite per negationem; vgl. M ü l l e r , Theologie

S. 20. 136

Ebda. (S. 134,29ff.): Cetera namque, si qua sunt, que variationem non susdpiunt, ut angeli, non ex propria natura, sed ex opificis sui gratia, a cuius invariabilitate ipsi invariabiles denominantur, hoc habere probantur. - Vgl. M ü l l e r , Theologie S. 33 f. - Ahnlich äußert sich Rupert von Deutz; vgl. Κ a h 1 e s S. 164.

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II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

keit, denn sie besitzen diese Eigenschaft nicht aus sich selbst heraus. Ottos Zeitgenossen gehen noch einen Schritt weiter und gestehen den Engeln neben der göttlichen Ewigkeit (aevum bzw. aeternitas) und der menschlichen Zeit (temporale tempus) eine eigene „Zeit", die aeternitas (Honorius) bzw. perpetuitas (Hugo), zu 137 . Ottos mußte mit einer solchen Erklärung dem Geschöpf die Möglichkeit geben, unveränderlich und ewig zu werden, wenn er das dem Menschen versprochene ewige Leben in seinem metaphysischen System unterbringen wollte. Die aus dem grundsätzlichen, absoluten Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf abgeleiteten Eigenschaften des Menschen erweisen sich damit freilich nicht als unabwendbar naturbedingt, sondern lassen sich durch Gottes Willen verändern (vgl. unten S. 174 zum Ende der Welt) und beziehen sich im Grunde nur auf die Natur des Menschen im irdischen und damit im geschichtlichen Zustand, der Otto hier eben interessiert: Nur hier wirken sich die spezifisch „nativen" Eigenschaften des Geschaffenen aus. Otto setzt damit zugleich aber Schöpfer und Geschöpf in einen (über den Schöpfungsakt hinausgreifenden) dauernden Bezug zueinander! Das Vorbild der Engel ist dem Menschen zudem Ansporn auf dem Weg zur Seligkeit, weil er erkennt, daß das Geschöpf die Teilhabe an der Unveränderlichkeit Gottes erlangen kann. O t t o bleibt also auch hier nicht bei dem metaphysischen Aspekt der Geschichtsschreibung stehen, sondern fügt, wie Klinkenberg in bezug auf die Chronik gezeigt hat 1 3 8 , eine ethische Aufgabe hinzu 1 3 9 : E r will in seinem Geschichtswerk nicht nur den Wandel aufzeigen und philosophisch erklären, sondern dem Menschen, der in seiner geschöpflichen Bedrohung dringend eine Hilfe braucht, dadurch die Orientierung verleihen und ihn veranlassen, nach stabilitas

in einer ewigen Ordnung zu

streben 140 . O t t o räumt dem Menschen folglich die Möglichkeit ein, handelnd einzugreifen; zwar ist eine mutabilitas

alles Geschaffenen

grundsätzlich unvermeidbar, doch innerhalb dieses historischen Rahmens läßt sich das gesetzmäßige Auf und A b der Geschichte offenbar

137 Vgl. Honorius Augustudunensis, Imago mundi Kap.2,1 ff. ( M i g n e PL 172, Sp. 145f.); Hugo von St. Viktor, Didascalicon Kap. 1,7 (ebda. 176, Sp. 745 D). 138 K l i n k e n b e r g S.66; Vgl. auch M ü l l e r , Theologie S.59f. 139 Nach S t a u d i n g e r S . 32 f. darf die Schlußfolgerung „in die bonorum ne inmemor sis malorum" (GF 1,5 - S. 142,2 f.) durchaus als Mahnung an den Kaiser aufgefaßt werden, der nun eine glückliche Zeit herbeigeführt hat! Mit der gleichen Wendung hebt Otto kurz darauf noch einmal die Beispielhaftigkeit der Grundsätze Bertholds von Zähringen hervor (GF 1,8 - S . 146,28 ff.). 140 M ü l l e r , Theologie S. 24, bemerkt, daß hier neben dem geschichtlichen Gesetz der translationes und dem philosophischen vom unhaltbaren Höhepunkt das biblische Gesetz enthalten ist, nach dem Gott die Hoffärtigen stürzt und die Demütigen erhöht.

II.2. D e r Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf

129

beeinflussen; Heinrich IV., den Otto den Tiefpunkt des Reichs erklären läßt, sieht einen Zusammenhang zwischen dem Verfall (Abstieg) zur Zeit des Investiturstreits und dem schlechten sittlichen Lebenswandel dieser Epoche 141 . O t t o erkennt demnach auch menschliche Leistungen in der Geschichte an 1 4 2 . Gott gewährt dem Menschen eine gewisse Eigenständigkeit 1 4 3 insofern, als dieser für sein sittliches Handeln selbst verantwortlich ist. D o c h liegt eine gefährliche Einseitigkeit in der Formulierung Kochs (S. 327), die Geschichte als solche werde vom Menschen gemacht, denn hier wird übersehen, daß für O t t o göttliche Unzeitlichkeit und geschichtliches Wirken durchaus vereinbar sind (vgl. oben S. 122): Selbstverständlich ist die Geschichte letztlich von G o t t (allein) bewirkt und sogar vorherbestimmt. Auf der anderen Seite kann man nach Kochs Ausführungen kaum noch der These Spörls 1 4 4 zustimmen, der Mensch spiele in dem Prozeß der Verwirklichung der civitas Dei keine Rolle, sondern sei lediglich Werkzeug in der göttlichen Vorsehung 1 4 5 . Beide Standpunkte begreifen einen Teil des ottonischen Geschichtsbildes, ohne den inneren Zusammenhang zwischen beiden Wirkkräften zu erkennen: D e r mittelalterliche Denker unterscheidet im geschichtlichen Ereignis nicht grundsätzlich ein Wirken Gottes von dem Wirken des Menschen, weil Gott, so gegensätzlich O t t o ihn auch zum Geschöpflichen sieht, allgegenwärtig und allzeitlich ist; der Mensch kann (für sich) sein eigenes Schicksal und - je nach seiner StelluAg - sogar das Schicksal der Welt beeinflussen, und doch wirkt Gott in ihm oder auch gegen ihn 1 4 6 ! Alle Geschichte, alles Werden ist erst aus Gottes Heilsplan oder, wie Staudinger sagt, aus der Weltordnung zu verstehen. Kochs Belege für das entscheidende Handeln des Menschen (S. 327 Anm. 15) enden tatsächlich sämtlich in dem Hinweis auf das Göttliche bzw. Ewige! N u r innerhalb des abgesteckten Rahmens des göttlichen Geschichtsplans besitzt der Mensch eine gewisse Handlungsfreiheit, in die Gott aber bei Mißbräuchen wieder eingreift, um seine Ordnung aufrechtzuerhalten, indem er dem Bösen einen Sinn gibt (vgl. oben S. 105 f.), ohne dem Menschen zu schaden. Das wird vollends deutlich, wenn O t t o im Prolog zum 3. Chronikbuch

141 GF 1,8 (S. 144,17ff.): Es gab weder eine gebührende Achtung (reverentia) vor den Eltern noch eine geziemende Unterordnung (subiectio) unter den Herrn; Eide wurden gebrochen und Gesetze verletzt. 142 Vgl. Chr.2,37(S. 111,19ff.)zum Kampf gegen Hannibal: Considerari hoc loco potest, cum quanta non solum fortitudine, sed et prudentia Romani orbem terrae suum fecerint. 143 Otto erkennt die „Sekundärursachen" im Weltplan Gottes an, formuliert M ü l l e r , Hand Gottes, S. 114. 144 S ρ ö r 1, Grundformen S. 49, und D e r s., Civitas Dei S. 310. 145 Als Werkzeug Gottes sieht auch L a m m e r s , Einleitung S.XLIV, den Menschen, dem eine autonome oder heroische Größe in der providentiell entworfenen Geschichte fehlt. 146 Das Prädestinationsproblem stellt sich Otto, der an die freie Entscheidung des Menschen glaubt, nicht.

130

II. Die Grundlagen des Geschichtsablaufs

auf den freien Willen zu sprechen kommt, um zu erklären, weshalb Christi Ankunft sich erst so spät ereignet hat (vgl. darüber unten S. 145 f.): Die Handlungsfreiheit, die Gott dem Menschen zugesteht, sagt er, ist kein Anlaß, Gott zu tadeln, aber es ist aufs höchste zu preisen, wenn jemand dank göttlicher Gnade gehindert wird, etwas zu tun, was seinem Heil entgegenwirkt147. Die Erkenntnis des göttlichen Wirkens ist aber das Ziel, das Otto sich mit seiner Geschichtsschreibung gesetzt hat (vgl. oben S. 64 ff.)148. Bezeichnenderweise beginnt er das besprochene Kapitel (GF 1,5) mit der Darstellung des doch viel schwierigeren und sogar aus der Negation, also letztlich aus der menschlichen Natur, begründeten göttlichen Wesens, bevor es „übrigbleibt" (restat), über die Geschöpfe zu reden (S. 136,12 ff.). Der ethische Charakter der Geschichtsschreibung Ottos von Freising endet nicht in einem Tugendspiegel; Otto kommt es vielmehr auf die (rationale) Erkenntnis an; Gott will, daß der Mensch seinen Willen erkennt, damit er lernt, danach zu handeln, Gottes Willen zu erfüllen! Ottos Geschichtswerke wollen den Menschen auf diese Aufgabe vorbereiten, indem sie den Sachverhalt erklären. Wie Augustin geht es Otto nicht um das Handeln des Menschen an sich, sondern um das richtige Handeln, das Voraussetzung ist, um das Ziel, die stabilitas, zu erreichen. Das Geschöpf wird dabei zwar Gottes Allmacht und seine eigene Ohnmacht erkennen 1 4 9 . Der Mensch kann aber - und darauf kommt es Otto als theologischem Ethiker an - durch sein sittliches Handeln wenn nicht d i e , so doch seine eigene Heilsgeschichte beeinflussen, sofern er nämlich seine Aufgabe erfüllt 150 . Bei allen Bemühungen, die Geschichte aus dem Wirken und Wesen Gottes, die Veränderlichkeit aber aus der Natur der Geschöpfe zu erklären, steht der Weg zum Heil im Mittelpunkt. Uber die allgemeine ontologische Begründung der Geschichte hinaus erhält der einzelne Mensch hier eine Funktion im Ablauf der Heilsgeschichte, die nun eingehender zu betrachten ist.

147 Chr. 3 prol. (S. 132,6 ff.): Non enim, si homines permittit facere, quod ipsi tarnen facere volunt, ab eis est iuste arguendus, sicut e contra ab eis, quibus gratuitam gratiam offerens a talibus, quae contra salutem suam facere volunt, arcendo acprohibendo, ne quae proponunt perficiant, plurimum est laudandus ac diligendus. Vgl. M ü l l e r , Theologie S. 27. 148 Das ist gegenüber K o c h , der von der „theoretischen Seite" einer „verborgenen Ordnung" spricht, die Gott allein bekannt ist (S. 346 f.), zu ergänzen. 149 GF1,48 (S. 222,20ff.): quanta divine celsitudinis esset potentia quamque humane iocunditatis nihil firmi habens velox momentum, luce clarius appareret. 150 Deshalb betont Otto, wie K o c h S . 346 richtig vermerkt, so sehr das individuum im Geschichtsablauf (allerdings ontologisch als das Unteilbare verstanden).

III. DER GESCHICHTSABLAUF ALS ZIELGERICHTETE ENTWICKLUNG U N D HEILSORIENTIERTE AUFGABE DES MENSCHEN

Der Mangel jeglicher stabilitas macht die irdische Geschichte insgesamt zu einem miserrimus status1, in dem das Geschöpf (als nativus) sich dauernd ändert, weil es wächst und vergeht2. Dieser Zustand kann nicht Selbstzweck sein (Otto verwendet für ein solches Verhältnis zur Welt das augustinische adhaerere), zumal er vorübergehend (transitorius) ist3: Er hat für den christlichen Geschichtsschreiber sowohl einen Beginn als Ursache wie auch ein Ende als deren Aufhebung.

1. B e g i n n u n d E n t w i c k l u n g i n d e r G e s c h i c h t e Otto, der die irdische Geschichte, für sich betrachtet, wegen des dauernden Wandels mit dem Psalmisten als ein „Tränental" fvallis lacrimarum) begreift, versteht sie im Rahmen des gesamten menschlichen Daseins als eine zielgerichtete Entwicklung 4 . In der Mitte der Chronik 1

Chr. 6,9 (S. 270,29 ff.) zum wechselvollen Schicksal Karls III.: Vide rerum bumanarum miserrimum statum. Rex iste, qui in divisione orientalis regni inter fratres minimam portionem acceperat, ad tantum primo fastigium, ut tarn Orientalin quam occidentalia regna cum Romano susceperit imperio, ad tantam postremo deiectionem venit, ut panis quoque egeret. 2 Chr. 8,9 (S. 403,27ff.): et non miraberis rem stabilissimam, sed creaturam, ad creatoris sui incommutabilitatis et identitatis comparationem perire, veterascere, commutari debere, cuius puritatis intuitu res mundissimae non mundae iudicantur. 3 Chr. 2,14 (S. 83,15 ff.): Quid ad baec dicemus, qui mundo inherere volumus? Ne dicam cemere, palpare etiam, quam misera sit mortalium conditio, possumus, et ipsis tarnen caducis ac transitoriis tamquam robustis ac permanentibus adberemus. 4 Vgl. darüber vor allem F u n k e n s t e i n S.93-113.

132

III. Der Geschichtsablauf

(Chr. 4,4 - S. 188,11 ff.) schiebt er anläßlich des Berichts über die Konstantinische Schenkung unter dem Aspekt der civitas Dei noch einmal einen kurzgefaßten Abriß der Heilsgeschichte ein 5 , um deutlich aufzuzeigen, daß die Geschichte trotz all ihrem Wandel eine lineare Entwicklung zu ihrem gottgewollten Ziel darstellt: Intueri tarnen libet, quam miro et ineffabili modo civitas Christi inter rives mundi progressa paulatim crescendo ad tantum fastigium profecerit. Ut enim altius repetam, primo homine create ac α delictis paradisi lapso in hac valle lacrimarum vestigium cognoscendae veritatis misericors Deus reliquit. Ab hoc dum hominum genus traduceretur, quibusdam in cognitione veritatis manentibus, plurimis autem exorbitantibus, reservatis civibus suis reliquos aquis diluvii perdidit. Dum ergo rursum ab his genus hominum propagatur, obliteratapaulatim in eis cognitione veritatis error crescere cepit in tantum, ut circa tempora derimi a Noe Abrahae, excepto ipso uxoreque sua, paucos invenias cives Ierusalem. Ab ipso quoque utriusque civitatis cives, a filio etiam suo Ysaak duos, quos dixi, populos ortos invenies. A tercio vero Iacob, qui et Israel, natos repperies XII prinripes populi Dei, qui ab ipso vocatus est Israel. Hic in Egyptum descendens, cum inter cives mundi diu peregrinaretur ac in ipsa peregrinatione sua in multum crevisset populum, prodigiis ac signis ad terram patrum suorum accepta in itinere tanquam viatico lege inducitur multisque bonis ibi temporalibus acceptis, quamvis processu temporum reges potentissimos haberet, nunquam tarnen monarchiam regni obtinuit. Cum vero Dominus civitatem suam dilatare vellet et ab illo populo in omnes gentes diffundi, peccatis suis exigentibus regnum debilitari ac ipsum captivari permisit populum. Ipse vero in gentibus, quas ad fidem suam vocaturus erat, regnum Romanorum, quod ceteris dominaretur, constituit. Quod dum ad Optimum statum summumque imperii apicem proferisset, Christum filium suum carnem susripere voluit. Qui cum iuxta Evangelium in propria venisset et α suis non receptus, quin immo ab eis contumeliose tractatus, cruci etiam affixus fuisset, iusto iudicio, assumptis de illo populo electis, ceteri excecantur ac datis induriis, cum non resipiscerent, miserabiliter captivati in omnes disperguntur gentes. Dominus ergo civitatem suam de illo populo ad gentes transferens primo humiliari, contempni, multis malis atteri... voluit. Sed quiaflagella, dum modum excedunt, tanquam medicina ultra modum sumpta animum potius frangunt quam emendent, desolatam et humiliatam, ut supra dixi, tempore quo decuit exaltavit ecclesiam. Ut etiam securior de regni caelestis promissione fieret, regnum ei temporale regnorum omnium maximum tradidit. Sicque, ut dixi, paulatim civitas Dei crescens ad summum apicem ac monarchiam profecit. Et notandum, quod ante incamationem suam civitas eius ad plenum honorata non fuit, postmodum vero,

5 Solche Kurzabläufe scheinen charakteristisch für die Schriften des 12. Jahrhunderts; vgl. Hugo von St. Viktor, De vanitate mundi Kap. 3 (M i g η e PL 176, Sp. 723 ff.), De area Noe mystica Kap. 4 (ebda. Sp.686ff.), De sacramentis legis naturalis et scriptae Dialogus (ebda. Sp.40f.).

III. 1. Beginn und Entwicklung in der Geschichte

133

cum assumptam carnem ad caelos attolleret, et quasi accepto regno, iuxta parabolam regnum suum, quod est ecclesia, ad summum fastigium, quo altius nichil in terra, provexit, ut per hoc civibus mundi se non solum Deum caeli, sed et dominum orbis ostenderet civesque suos patriae dulcedinem ex peregnnationis prosperitate doceret appetendam. Otto betrachtet, wie wir gesehen haben, die Geschöpflichkeit des Menschen als eine notwendige Voraussetzung für die mutabilitas der Geschichte, als letzte Erklärung aber reicht sie, wie das Beispiel der ebenfalls geschöpflichen, doch bereits jetzt unveränderlichen Engel zeigt, noch nicht aus (oben S. 127 f.). Die irdische Geschichte mit all ihrer Vergänglichkeit ist vielmehr F o l g e d e s S ü n d e n f a l l s , dem, wie Otto später ergänzt, aus freiem Entschluß ein Abfall des „zehnten Teils" der Engel von Gott vorausgegangen war6 und mit dem der Mensch sich selbst seiner ursprünglichen Bestimmung, des Paradieses, beraubte (vgl. auch Chr. 1,2 und prol. 3 - S. 132,27 ff.) 7 ; fortan konnte er das Ziel der Ewigkeit nur noch erstreben, aber nicht mehr aus eigener Kraft erreichen. Die vicissitudines.verum, denen Rom (als Stadt) zum Opfer fiel, sagt Otto noch in den Gesta, stellen ein ewiges, von Gott als Strafe verhängtes Gesetz und unabänderliches Schicksal des Menschen dar (GF 2,32 S. 346,19 ff.: etemalex^ab auctore omnium sancätam cunctis sub lunari globo degentibus sortem). Als dann auf Erden bereits der Wille zur Wahrheitserkenntnis sank, ließ Gott mit der Sintflut ein zweites Strafgericht folgen, das nur Noah mit seiner Familie überlebte (vgl. auch Chr. 1,3), und nach einer erneuten Verirrung unter ihren Nachkommen leitete er mit Abraham noch einmal einen völlig neuen Anfang ein, von dem aus die ctvitas Dei sich langsam, aber unaufhaltsam ausdehnte und sich zunächst über das Volk Israel, dann - mit dem Erscheinen Christi -

6 Chr. 8,32 (S. 449,1 ff.): cum reprobae illiuspartis globus a Deo exorbitans, a creatwnis suae dignissima perfectione ad propriae voluntatis motum declinans superbiendo corruit. 7 Dazu M ü l l e r , Theologie S. 49 f. - Während Otto nur die Tatsache des Sündenfalls feststellt, suchen seine Zeitgenossen nach Erklärungen; nach Hugo von St. Viktor, De sacramentis fidei 1,7 ( M i g n e PL 176, Sp.287ff.) zum Beispiel führte der Ungehorsam des Menschen gegen Gottes Gebote zum Verlust der iustitia, denn er bedeutete die Aufgabe des appetitum iusti, das den Menschen durch Verdienst zur Gerechtigkeit leiten sollte. Ähnliche Erklärungen gibt Hugo dann für das Erlösungswerk Christi. - Zur vornehmlich im wörtlichen Schriftsein verstandenen Vorstellung vom Paradies im 12.Jahrhundert vgl. Reinhold R. G r i m m, Paradisus coelestis - Paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200 (Medium Aevum. Philologische Studien 33), München 1977, S. 129-73.

134

III. Der Geschichtsablauf

über die ganze Welt verbreitete und schließlich sogar das römische Kaisertum als höchste Gewalt auf Erden in sich aufnahm. Auf diese Entwicklung wird im Rahmen der Civitas-Lehre des Bischofs noch im einzelnen einzugehen sein. Hier sind zunächst die allgemeinen Grundzüge, die Otto über den Geschichtsablauf aufstellt, wichtig: Zumindest die Geschichte der ävitas Christi als die eigentliche Heilsgeschichte8 erweist sich als eine einzige, große und, auch in bezug auf die Zahl der Gottesbürger, fortschrittliche und zielbetonte und in einem allmählichen, aber stetigen Wachstum begriffene E n t w i c k l u n g von kleinsten Anfängen bis zur weltweiten Ausdehnung9. Μutabilitas auf der einen u n d F o r t s c h r i t t auf der anderen Seite bilden für Otto offensichtlich keinen Widerspruch, denn sie spielen sich gewissermaßen auf zwei verschiedenen, wenngleich ineinander verwachsenen Ebenen ab. Das Auf und Ab. der irdischen Menschheitsgeschichte - und besonders der politischen Gewalten (regna) - verhindert weder eine fortschreitende Annäherung an das Ende der Geschichte noch ein ständiges Anwachsen der Zahl der überhaupt „heilsfähigen" Menschen, die das Ziel, das Heil, und den Weg dorthin erkannt haben und ihm zustreben; es behindert nicht einmal die kontinuierliche Zunahme des über die Generationen tradierten und sich auf diese Weise immer mehr ansammelnden Wissens (als Voraussetzung für die Gotteserkenntnis!), so daß die Menschen einer späteren Zeit jeweils mehr erkennen können als ihre Vorläufer10; je weiter die Welt fortschreitet, desto mehr sehen und 8 Vor allem F u n k e n s t e i n S . 96 f. betont nachdrücklich, daß der Fortschritt bei Otto eine Zunahme des Heilswissens bedeutet. ' Unter diesem Eindruck behauptet M ü l l e r , Hand Gottes S. 149, Otto gehe es mehr um das Ganze in der Geschichte als um Einzeldeutung (in seiner Geschichtsschreibung fließt allerdings beides zusammen). 10 Chr. 5 prol. (S. 226,14 ff.): Inter prima elementorum rudimenta ac gramaticae artis precepta audire Solent pueri, quod, ,quanto iuniores, tanto' sint ,perspicattores' (nach Priscian). Quod non inconvenienter dictum puto, dum et priorum, qui ante nos sapientiae studuerunt, scriptis et institutis informamuracprocessu temporum et experientiis rerum tanto maturius, quanto in provectiori orbis aevo positi edocemur, per nos quoque his, quae ante nos inventa sunt, comprehensis eodem, quo et Uli, spiritu nova invenire possumus. ... Hinc est, quod multae antecessores nostros, preclarae sapientiae ac excellentium ingeniorum viros, latuerunt causae, quae nobis processu temporum ac eventu rerum patere ceperunt. - Vgl. B r e z z i , Ottone S.282, M o r r i s o n S.216f. und G ö s s m a n n , Antiqui S.57f. - In ähnlicher Weise leitet Anselm von Havelberg, Dialogi 1,13 ( M i g n e PL 188, Sp. 1160A; S a l et S. 116) sein Fortschrittsbewußtsein von dem Glauben an ein Erkenntniswachstum, an die cognitio veritatis, ab. Vgl. F i η a, Analecta praemonstratensia 34, S. 33 f. Die Lehre

III. 1. Beginn und Entwicklung in der Geschichte

135

erfahren die Menschen selbst, was sie zuvor nur als Prophezeites glauben konnten 11 . Die Überzeugung von der zunehmenden Erkenntniskraft der rationalen Geschöpfe, die Otto mit einem Aristoteleszitat begründet12, führt jedoch keineswegs zu einer Uberschätzung des zeitgenössischen Gelehrten, der sein Wissen ja auch den Vorarbeiten vieler Generationen verdankt, und die Autorität früherer Denker bleibt gewahrt (vgl. oben S. 44 ff.), denn maximus ist dem Freisinger Bischof (mit Aristoteles) stets das prindpiumli, und Otto vergißt nie, daß das Wissen der Gegenwart Teil der gottgewollten, fortschrittlichen Entwicklung ist. Gott hat die Welt allmählich „aufgebaut" (Chr. 3 prol. - S. 133,12 f. nach EusebiusRufinus 1,2,18ff.): Mit dem Gesetz (lex) wuchs die societas hominum, während die doctrina philosophorum zugleich die Weisheit förderte. Das geistige und gesellschaftliche Wachstum der Menschheit, die erst allmählich gelernt hat, bestimmte Dinge zu verstehen und in einer bestimmten Weise zu leben, erklärt nicht zuletzt auch die relativ späte Ankunft des Erlösers Jesus Christus 14 , denn der Mensch mußte erst in einer allmählichen Entwicklung reif werden für dieses große Ziel, für die Aufnahme der novae leges Christi und der altiora vitae praecepta}5. Otto verbindet den religiösen Fortschritt (civitas Dei) also mit einem gesellschaftlichen16, politischen17 und wissenschaftlichen, der ein Wachstum des Gottesstaates im Grunde erst bedingt. einer immer reicher werdenden Verwirklichung der Gotteserkenntnis findet sich zuerst bei Irenaus (vgl. C a m p e n h a u s e n S.206). 11 Chr. 5 prol. (S. 227,27ff.): Nos vero non solum credere, sed et videre quae premissa sunt possumus. Da dieser Satz auf das Ende der Welt bezogen ist, verbindet sich Ottos Fortschrittglaube mit einem Endzeitbewußtsein (dazu unten S. 264 ff.). 12 Chr. 2,8 (S. 76,16 f.): ,prius elaborata particulariter augentur ab eis, qui accipiunt postea'. 13 Chr. 2,8 (S. 76,19 f.). Man fühlt sich an das Bild erinnert, das Johann von Salisbury seinem Lehrer Bernhard von Chartres zuschreibt: Die Gelehrten der Gegenwart seien wie Zwerge auf den Schultern von Riesen, nämlich der antiken Philosophen, und könnten dennoch weiter sehen (Metalogicon 3,4, ed. Clemens I. W e b b , Oxford 1929, S. 136). Vgl. dazu Edouard J e a u n e a u , „Nani gigantum humeris insidentes". Essai d'interpretation de Bernard de Chartres, Vivarium 5, 1967, S. 79-99. 14 Vgl. auch F u n k e n s t e i n S. 105f. 15 Dazu unten S. 145f.; vgl. M ü l l e r , Theologie, S.47f., und S c h m i d l i n , Weltanschauung S. 94 f. 16 Otto führt (Chr. 1,6 - S.44,17ff.) das Cicero-Zitat (De inventione 1,2, ed. E. S t r o e b e l , 1915, ND. Stuttgart 1965, S.2) an, nach dem die Menschen anfangs noch wie Tiere lebten, ohne Religion (Glauben an eine Gottheit), ohne Verstand für die Pflichten des Menschen, ohne rechtmäßige Ehe und ohne einheitliches Recht.

III. Der Geschichtsablauf

136

Schon Staber (S. 122 ff.) hat sich gegen die Meinung gewandt, die Parallelisierungen von Kosmos und Geschichte (der Weltenlauf von Ost nach West entspricht einem Tag) verhinderten ein aus einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise erwachsenes, echtes Fortschrittsdenken des Bischofs (das nicht schon durch die „Primitivmythen des tierähnlichen, ungeselligen Zustands" begründet wird). Staber erkennt eine Entwicklung innerhalb der Kirche im Zusammenhang mit der Eschatologie an: Aus dem Parallelismus der vier Weltreiche folgert er den Aufstieg der politisch-geistlichen Macht des Papsttums. Damit gehören aber auch die Weltreiche zu diesem Fortschritt: Otto unterscheidet nicht zwischen einer historischen und einer teleologischen Entwicklung! Ein „Grundgesetz des historischen Fortschritts" hat Otto nach Staber (S. 126) auch im Mönchtum als einer Elite für die Gemeinschaft geahnt, ein Phänomen, das sich für den Freisinger Bischof tatsächlich deutlich in die historische Entwicklung (die eine fortschrittliche ist) eingliedert. Für Otto ist jede historische Entwicklung letztlich teleologisch, ist jeder historische Fortschritt auf das Heilsziel - und hier liegt der wahre Fortschritt - ausgerichtet! Auf der anderen Seite ändert dieser heilsgeschichtliche Fortschritt des Gottesstaates

nicht den Grundcharakter

der irdischen

Geschichte;

schließlich bleibt dieses Geschehen Straf- und Bußzeit für die Sünde und damit eine Ubergangszeit bis zur eigentlichen Bestimmung; deshalb sind auch die Bürger der civitas mutabilitas

Dei,

solange sie in dieser Welt pilgern, der

unterworfen. Geschichte ist für O t t o also Entwicklung in

jeder Beziehung, irdisches Geschehen ist Ereignisablauf im Sinne eines dauernden Wandels (den der Chronist unter anderem an den sich ändernden N a m e n 1 8 und Zuständen 1 9 erkennt), Geschichte insgesamt ist Heilsgeschichte im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung auf ein Ziel zu: Die Menschheit schreitet durch eine der Veränderlichkeit unterworfene Welt dem Heil entgegen 2 0 . Wie bei Orosius ist O t t o s Geschichte einem Wandel unterworfen 2 1 , der eine fortschrittliche Entwicklung einschließt, jedoch nur

noch

17 Vgl. auch Chr. 1,6 (S. 44,7 ff.): Ninus konnte seine Herrschaft leicht errichten, weil die Menschen noch rüdes et agrestes nec armis tutati nec bellis exercitati nec rerum bellicarum scientia prediti fuerant (sinngemäß nach Augustin, De civitate Dei 18,22, und einem wörtlich wiedergegebenen Eusebius-Rufin-Zitat: 1,2,19). 18 Chr.6,11 (S.272,8f.): orientalis Francia, quod modo Teutonicum regnum vocatur. 19 Chr. 6,15 (S. 274,27 f.) über die Belagerung Adalberts im Castrum Bamberg, ubi nunc nobilis episcopatus fundatus cemitur. 20 Vgl. Lammers, Weltgeschichte S.87. 21 Vgl. Chr. 2,30 (S. 101,23 ff.): Auch Rom war fast nie ohne äußere Kriege, innere Übel oder Seuchen.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

137

bedingt in eine „glückliche christliche Zeit" einmündet; wie bei Augustin zielt der wahre Fortschritt auf das ewige Heil ab, während die historischen Zeiten irdisch und damit veränderlich bleiben und die Bürger des Gottesstaates folglich einer Pilgerschaft durch diese veränderliche Welt unterworfen sind; zugleich aber nimmt ihre Erkenntnis und damit auch ihre Zahl ständig zu. Bei Orosius hat weniger die wachsende Zahl der Christen als die Tatsache, daß diese unter dem besonderen Schutz Gottes stehen, zu einer Besserung der Zeiten geführt; bei Otto tritt dieser Schutz zurück zugunsten einer Ausrichtung auf das Ende und auf die Gesamtheit des Geschichtsablaufs, den er - wiederum in Einklang mit Augustin und vor allem mit Orosius - in seiner ganzen Ordnung und Planmäßigkeit vorführt.

2. G e o r d n e t e r V e r l a u f d e r G e s c h i c h t e : Zeiteinteilungen und Weltreichslehre Der Fortschritt in der Geschichte stellt nun nicht eine kontinuierliche Entwicklung ohne besondere Zäsuren dar, vielmehr zeigt der zitierte Geschichtsabriß, daß Otto bestimmte, gravierende Einschnitte sieht, und er sucht die Geschichte danach in immer neue Einteilungsschemata zu zergliedern: Im Rückgriff auf traditionelle Vorbilder verwendet Otto die chronologischen Einteilungen in drei Zeiten und sechs Weltalter, vor allem aber die Lehre einer Abfolge von vier Weltreichen 22 . (1) D r e i Z e i t e n (status, temporal: Bereits in dem Kurzabriß der Heilsgeschichte (Chr. 4,4) bildet die Ankunft Christi auf Erden einen entscheidenden Einschnitt, der die Geschichte (der ctvitas Dei) gleichsam in eine erste Stufe der Belehrung bis zur Geburt Christi und eine zweite Stufe des Aufstiegs bis zum irdischen Gipfelpunkt (summum fastigium in terra) einteilt; eine dritte Stufe der Vollendung nach dem Jüngsten Gericht wird indirekt, in der Erwartung der Menschen, angesprochen 24 . 22

Demgegenüber treten Einteilungen, die sich nicht aus dem Geschichtsablauf selbst ergeben, zurück; vgl. F u n k e n s t e i n S. 110. 23 Vgl. Matthäus B e r n a r d s , Geschichtsperiodisches Denken in der Theologie des 12. Jahrhunderts, Kölner Domblatt 26/27, 1967, S. 121 f.; C h e η u , Theologie S. 76. 24 Vgl. F o l z , Augustin S.333; Β er η ar d s S. 122.

138

III. D e r Geschichtsablauf

Dieses Schema entspricht der traditionellen Gliederung in die drei Epochen ante gratia, sub gratia und post presentem vitam, die auf Paulus zurückgeht und die Otto bereits bei Augustin vorfindet 25 und dann im Prolog zum letzten Buch selbst anwendet (unten S. 225 f.); es wird bei der Beurteilung der Civitas-Lehre noch eine wichtige Rolle spielen. (2) S e c h s W e l t a l t e r (aetatesf6: Ein anderes, im wesentlichen ebenfalls augustinisches Gliederungsprinzip bildet die aetas-Lehre27, die die ältere Zeit stärker zergliedert und die erst seit Christus wieder mit der Drei-Zeiten-Lehre übereinstimmt. Otto lehnt sie bewußt an das apokalyptische Bild der sieben Posaunen an (Apoc. 8,6ff.) 2 8 : Die irdische Geschichte verläuft in Erwartung des siebten Posaunenstoßes, der die „Schlafenden erweckt", nämlich des 7. Zeitalters der Ruhe, „wie manche meinen", in sechs Zeitaltern, in denen jeweils Enoch, Noah, Abraham und die Patriarchen, Moses, David und die Propheten sowie Christus und die Apostel mit ihren Nachfolgern als Prediger (predicatores) hervorragen. Otto übernimmt das traditionelle Schema, das gerade im 12. Jahrhundert wieder eine große Rolle zu spielen beginnt 29 ; doch er ändert 25 Wenn auch nicht im „Gottesstaat"; vgl. etwa Enchiridion 31,118 (ed. E. E v a n s , Corpus Christianorum 46, Turnhout 1969, S. 112 f.), De trinitate 4,4,7 (ed. W. J. Μ ο u η tain, ebda. 50, Turnhout 1968, S. 170), De doctrina christiana 2,16,25 (ed. William M. G r e e n , CSEL 80, Wien 1968, S. 52); vgl. W a c h t e l S . 5 5 . - Z u Anselm von Havelberg vgl. S p ö r l , Grundformen S.25. 26 Vgl. B e r n a r d s S. 119ff. und C h e n u , Theologie S.73ff.; S o u t h e r n , Transactions V,21, 1971, S. 160 ff. 27 Vgl. Η a s h a g e η S. 35 ff.; S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 26 ff.; F ο 1 z, Augustin S.333, nennt das die „symbolische oder geistliche Einteilung der Geschichte" (im Gegensatz zur Weltreichslehre). 28 Chr. 8,14 (S. 411,23 ff.): Sunt qui VI tubas ante novissimam sanctospredicatores, qui per VI mundi aetates verbo sacrae exhortationis torpendia corda nunc quasi concisius insonando premiorum promissis allexerint, nunc velud asperius increpttando minis in terrore penarum preculserint, intelligant, quales in prima Enoch, in secunda Noe, in tertia Abraham et patriarchae, in quarta Moyses, in quinta David et prophetae, in sexta Christus et apostoli eorumque sequaces fuere. At septimam, quam et novissimam, vocem ad excitationem dormientium emissam, tanto terribilius concrepantem, quanta presentius et quasi realius ea, quae antepredictafuerunt, ipso effectu prodentem, vocant. - Eine ähnliche Auslegung dieses Bildes liefert Gerhoh von Reichersberg in seiner 1141/42 entstandenen Schrift ,Liber de ordine donorum spiritus sancti'; vgl. dazu Μ e u t h e n, Gerhoh S. 121 f. 29 Zu Rupert von Deutz vgl. Wilhelm Κ a m 1 a h, Apokalypse und Geschichtstheologie. Die mittelalterliche Auslegung der Apokalypse vor Joachim von Fiore (Historische Studien 285), Berlin 1935 ((ND. Vaduz 1965), S.88ff. und 96ff.; zu Gerhoh von Reichersberg M e u t h e n , Gerhoh S. 120ff.; zu Hugo von St. Viktor E h l e r s , Hugo S. 136ff., und B a r o n , Chronique S. 178.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre die aetas-Lehre

139

gegenüber Augustin und den meisten Zeitgenossen,

indem er auf eine Angabe der zeitlichen Grenzen verzichtet

und

stattdessen die hervorragenden Persönlichkeiten i n n e r h a l b der einzelnen aetates - als die „Posaunenbläser", die Prediger des apokalyptischen Gleichnisses - herausstellt 30 , den Akzent also von der chronologischen Einteilung auf eine Charakterbeschreibung verlegt, und darüber hinaus ein voraugustinisches Schema wieder aufgreift und Moses anstelle der Babylonischen Gefangenschaft als neuen Einschnitt (zwischen Abraham und David) annimmt 3 1 . Geändert ist vor allem auch die Funktion der aetas-Lehre:

O t t o deutet nicht (wie üblich) das Offenbarungszitat auf

den Geschichtsverlauf hin aus, sondern zieht die ausgebildete detai-Lehre als Erläuterung für die Beschreibung eschatologischer Verhältnisse heran, als er den Sinn des Pauluswortes (1. Kor. 15,51) von der novissima

tuba

untersucht! Das Schema spielt also für die Chronik selbst keine Rolle 3 2 ; ihren Lesern aber ist es inzwischen selbstverständlich geworden, da O t t o es als bekannt voraussetzen kann. Auf frühere Berechnungen greift Otto auch bei der Angabe des Weltenbeginns (Weltära) zurück: In Chr. 3,6 (S. 141,17ff.) folgt er den Zahlen des Aphrikanos (5500 Jahre vor der Geburt Christi), die danach nur noch Hippolyt (auf den bereits Ottos aetas-Abfolge zurückging!), Hilarian, Sulpicius Severus, Jordanes und Fredegar übernommen haben . (3) V i e r

Weltreiche

(regna):

Die größte Bedeutung für den

tatsächlichen Ablauf der irdischen Geschichte gewinnt die Abfolge der

30 Häufig fallen sie freilich mit den Scheidepunkten der aetates zusammen, und wir können erkennen, daß Otto Noah, Abraham, David nicht an das Ende eines Zeitalters stellt, sondern mit ihnen jeweils eine neue aetas eingeleitet sieht, der er sie nämlich zuzählt. 31 Vgl. dazu allgemein Roderich S c h m i d t , Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, Zeitschrift für Kirchengeschichte 67, 1955/56, S. 288-317, besonders S. 300 ff. (zu Otto S. 310): Das Schema ist voraugustinisch und findet sich etwa bei Origines und Hippolyt (ebda. S. 306 ff.). - Im 12. Jahrhundert kehrt dieses Schema mit Moses im Speculum virginum, bei Anselm von Havelberg und Richard von St. Viktor wieder; vgl. Matthäus B e r n a r d s , Zur Geschichtstheologie des „Speculum virginum", Revue benedictine65, 1965, S. 278 f. 32 Vgl. v o n den B r i n c k e n , Weltchronistik S.223: Die aetdtej-Gliederung ist für Otto von untergeordneter Bedeutung. Wenn K l i n k e n b e r g S . 72 feststellt, daß Buchanfänge und heilsgeschichtliche Epochen nicht oder erst im 7. Buch zusammenfallen, so zeigt auch das, wie wenig Bedeutung Otto diesem System im Grunde beimißt. 33 Vgl. dazu v o n den B r i n c k e n , Weltchronistik S.235 und TafelIV; D i e s . , Weltären, Archiv für Kulturgeschichte 39, 1957, S. 139 f.

140

III. Der Geschichtsablauf

vier Weltreiche34, der principalia regna oder auch regna mundi {S. 82,12), die die oberste Stufe der politischen Macht (potestas) bilden (vgl. oben S. 104 f.) und die Otto der Danielvision von der vierteiligen Statue, die durch einen Stein zerstört wird, entnimmt, die offensichtlich seine eigentliche Quelle darstellt35. Die Reihenfolge (Babylonier - Meder/ Perser - Griechen - Römer) übernimmt Otto von Hieronymus 36 , doch nicht ohne zugleich das abweichende Schema des Orosius (Babylon Afrika - Makedonien - Rom) zu zitieren, dem er auch die Bindung der Reiche an die vier Himmelsrichtungen entlehnt37. Otto selbst betrachtet die regna in seinem Brief an Rainald von Dassel38 als ein Gestaltungsprinzip der Chronik 39 . Die Regna-Lehre besitzt zweifellos eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für den Versuch einer Geschichtseinteilung, auch wenn sie (wegen der Dauer des Römischen Reichs) auf den ersten Blick gar nicht das Gliederungsprinzip der Chronik zu bilden scheint 40 ; im Zusammenhang mit der gleich zu besprechenden 34

Vgl. S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 28 ff.; F ο 1 z, Augustin S. 333 f., der hier von einer „historischen Einteilung der Geschichte" spricht (vgl. oben Anm. III/27) (in seiner Besprechung vernachlässigt F o l ζ den orosianischen Einfluß); Fritz L a n d s b e r g , Das Bild der alten Geschichte in mittelalterlichen Weltchroniken, Diss. Basel. Berlin 1934, S. 71 ff. 35 Chr.2,12 (S.81,4f.): de regnorum mutatione prophetico spiritu scripsit Apocalipsin. 36 Hieronymus, Commentaria in Danielem Kap. 1,2,31 ff. (ed. Franz G l o r i e , Corpus Christianorum latinorum 75 A, Turnhout 1964, S. 793 ff.). 37 Chr. 2,13 (S. 82,3 ff.): Primum et quartum, quae supra memoravi, regna sunt potentissima Babyloniorum ac Romanorum, quorum uno cadente in Oriente, mediis Persarum et Grecorum intervenientibus, alterum, ut sepe iam dixi, surrexit in occidente. Quamvis nonnulli Persarum regnum simul sicut Medorum ac Chaldeorum Babylonico annumerantes secundo loco Affricanum inter IUP' mundi principalia regna posuerint regnum, ut sic secundum ΙΙΙΓ" mundi cardines mundi quoque IIIF' regna constituant, orienti scilicet Babylonicum, austro Affricanum, septentrioni Macedonicum, occidenti Romanum tribuentes. - Diese Stelle ist eigens bei der Erwähnung Daniels hinzugefügt! Zur Monarchie und zur Überschneidung der Weltreiche vgl. Chr. 3,2 (S. 138,5 ff.). 38 Chr.S. 5,17ff.: Preterea, quo ordine currat haec historia, breviter exponam, ut hoc cognito qualitas operis facilius pateat. Quatuor principalia regna, quae inter caetera eminerent, ab exordio mundi fuisse in finemque eius secundum legem tocius successive permansura fore ex visione quoque Danielis perdpi potest. Horum ergo prineipes secundum cursum temporis enumerates, primo scilicet Assirios, post, subpressis Cbaldeis, quos inter ceteros historiographs ponere dedignantur, Medos et Persas, ad ultimum Grecos et Romanos posui eorumque nomina usque ad presentem imperatorem subnotavi, de ceteris regnis incidenter tantum et ob ostendendam rerum mutationem disputans. 39 Vgl. v o n d e n Β r i η c k e n , Weltchronistik S.223. 40 Nach Η a s h a g e η S. 37 ff. versucht Otto eine Einteilung nach Regna- und Translationslehre; beides scheint ihm aber letztlich unbrauchbar.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

141

Translationslehre (unten S. 148 ff.) wird sie aber auch hier, wenngleich nicht allein, wirksam: Das zweite Buch beginnt mit dem Untergang Babylons und dem Aufstieg Roms, es endet mit der Ermordung Casars; das dritte Buch beginnt mit der Errichtung der Monarchie durch Augustus und der Geburt Christi und endet mit Konstantins Regierungsantritt und einem Rückblick auf die Christenverfolgungen, das vierte beginnt mit der Bekehrung Konstantins, also dem Eintritt der politischen Gewalt in die Geschichte des Christentums; es endet aber nicht mit dem Untergang Roms (Chr. 4,31), sondern mit dem Aufstieg der Franken, das fünfte Buch schließt mit deren Niedergang, das sechste mit der Bannung Heinrichs IV. durch Gregor VII., in der Otto den Stein des Danielgleichnisses, der das letzte Reich zerstört, wiederzuerkennen glaubt (dazu unten S. 259 ff.), bzw. mit dem Tod Gregors VII 41 . Otto selbst hat diese Einschnitte sehr bewußt gewählt 42 .

Unter den vier Weltreichen hebt der Bischof noch einmal mit Orosius (Hist. 2,1,6) die beiden regna hervor, die Augustin als einzige erwähnt, nämlich Babylon als das erste und Rom als das letzte Reich. Otto folgt Orosius auch in der Darstellung des pater-filius-Verhältnisses43, das das Perser- und Griechenreich zu bloßen tutores und pedagogi macht 44 , sowie der Parallelen zwischen beiden Reichen 45 einschließlich der großen

41 Vgl. F o l z , Augustin S.334, der freilich Translationen bald am Ende, bald als Mittelpunkt der einzelnen Bücher anspricht und so die Gliederung dem Schema anpa£t. 42 Vgl. seine Erläuterung im Prolog (Chr.S. 10,18ff.). 43 Chr.2 prol. (S.67,20ff.): Quam quidem hystoriam usque ad defectum primae sequentisque inicium, quam Romam dico, Babyloniae Deo opitulante utcumque complevi. Has enim germinas esse civitates non solum ex hystoriograforum dictis, qui huius tili regnum quasi patri filium, mediis ac brevibus Medorum seu Persarum ac Macedonum regnis, tamquam parvuli filii tutoribus, non iure hereditatis, sed successione temporis intervenientibus, successisse tradiderunt, sed et ex prinäpis apostolorum epistola, qui α Roma scribens eam Babyloniam vocat(l.Petr. 5,13). 44 Erst nach ihrem Untergang kann Rom in propria auctoritate ac libertate bestehen (Chr. 2,29 - S. 100,20ff.); vgl. Chr. 2,27 (S. 99,22 ff.): Dum ergo in primeva, velut in infantia, maneret conditione, duo, quae modo nominavimus, regna, Persarum scilicet et Grecorum, quasi tutores et pedagogi huius fuerunt. His itaque cadentibus et velut morientibus regnum Romanorum, quod iam ad robustam pervenerat etatem, utpote magisterii iugo excusso libere per se cepit regnare dominiumque suum iure hereditatis recognoscere. - Otto wendet hier orosianische Gedanken auf das hieronimianische Schema an (wobei er curator außerdem durch pedagogi ersetzt). Zum Vater-Sohn-Verhältnis vgl. auch Chr. 2,2 (S. 70,16 f.). 45 Chr. 4,31 (S. 223,10ff.) zum Untergang Roms: Et vide, quod, sicut supra dixi, non solum ortus eius, sed et finis Babylonico similis apparet imperio. Ilia post non multos annos conditionis suae gentes cepit subicere. Haec similiter, cum ad robustam venit aetatem, paulatim crescendo ac primo vicinas urbes subvertendo, post ad ulteriora se extendendo ad tocius orbis pedetemptim apicem venit. Sed sicut nemo repente fit summus vel preapitanter

142

III. Der Geschichtsablauf

Bedrohungen der Herrschaft durch den Meder Arbaces bzw. den Goten Alarich 46 . Diese Parallelität zwischen Rom und Babylon (später noch zwischen Rom und dem Frankenreich) stellt auch die Zusammenordnung der Miniaturen in der Jenaer Handschrift (fol. 20a/13b/54a) heraus 47 . Otto erweitert die zahlreichen Parallelen, die er Orosius entnimmt 48 , indem er die späteren Translationen einbezieht 49 und auf die im Petrusbrief angesprochene Austauschbarkeit der Namen verweist (Anm. 111/43). Anders als Orosius (Hist. 2,3,6) kann Otto anläßlich des Untergangs Westroms die Parallelen auch auf das Ende der beiden Reiche ausdehnen (Anm. III/45) 5 0 . Orosius hatte gerade hier die unterschiedliche Entwicklung herausgestellt, weil er an ein ewiges Rom glaubte. Stärker noch als er betont der Freisinger Bischof den organischen Charakter der Reiche, und im Rahmen seiner organologischen mutabilifrtt-Lehre legt er besonderen Wert auf einen Vergleich hinsichtlich ihres Aufstiegs zum Höhepunkt und ihres Abstiegs (de summo infimus), auf das Werden und Vergehen, das die regna - wie die ganze, in aetates gegliederte Weltgeschichte 51 - mit dem Menschenleben gemeinsam haben: den Aufstieg von der infantia bis zur robusta aetas, dem der allmähliche Abstieg bis zum senectus folgt; immer wieder verwendet

de summo infimus, ita predicta Urbs, cum, ut dixi, in summo, quo altius in terra non potuit, fastigiofuit, humiliari deberet, cepit paulatim vires perdere et quasi iam in senili aetate posita defectum honoris, quem in robusta contraxerat aetate, pati. - Vgl. unten Anm. 111/93 (Fortsetzung). Zur Zerstörung Roms durch die Goten in der Darstellung Ottos vgl. auch R e h m S.35ff. 46 Chr. 4,21 (S. 212,8 ff.) nach Orosius, Hist. 2,3,2 ff. 47 Vgl. L a m m e r s , Geschichtsbild S. 187f. und S. 197 zur Parallelität der Belagerung Babylons durch Cyrus und Roms durch Odoacar. L a m m e r s spricht (S. 211 f.) von einer „dualistischen Gruppierung" der Bilder, bezieht das (irrig) allerdings eher auf die beiden civitates. Vgl. unten S. 157 f. 48 Vgl. auch Chr. 3,6 (S. 141 f.) nach Orosius, Hist. 7,2; vgl. unten S. 144. 49 Chr. 6,22 (unten Anm. 111/87). Sogar zwischen den Christen in Rom und den Mohammedanern in Babylon zieht Otto Parallelen (Chr. 7,3: Papst - Kalif), um auf die Ähnlichkeit zwischen Baylon und Rom zu verweisen. 50 Vgl. auch F u n k e n s t e i n S.lOlf. 51 Die ersten fünf Weltalter bezeichnet er noch als tenera etas mundi (Chr. 3 prol. S. 133,13). Kurz klingt auch Vergils Lehre von Roms goldener aetas an, die der aetas ferrea weicht (Chr. 1,25 - S. 58,7 ff.). - Zum Vergleich des Staates mit einem Organismus im Mittelalter vgl. jetzt Tilman S t r u ν e, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 16), Stuttgart 1978 (zu Augustin, der hier Ottos Vorbild ist, S. 45 ff.).

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

143

Otto Begriffe des Menschenalters für die Reiche52, deren Geschöpflichkeit er damit herausstreicht: Otto wendet hier seine (in den Gesta begründete) Lehre vom Werden und Vergehen alles Geschaffenen (vgl. oben S. 122 ff.) auf die vier Weltreiche an; die Zahlenparallelen, die bei Orosius noch im Mittelpunkt stehen, sollen diese These lediglich bekräftigen. (4) D a s R ö m i s c h e R e i c h in s e i n e r h e i l s g e s c h i c h t l i c h e n F u n k t i o n : Im vierten und letzten Weltreich, in Rom, zeigt sich nun zugleich, daß die Abfolge der Regna nicht nur dem historischpolitischen Aspekt der Schöpfung entspricht, sondern sich in den göttlichen Plan des heilsgeschichtlichen Ablaufs eingliedert53; Otto übernimmt - nun wiederum in vollem Einklang mit Orosius 54 und gegen die Absichten Augustins55 - die Lehre einer „Romtheologie": Rom, das den Griechen die Herrschaft nach und nach entrissen hat (Chr. 2,40 S. 113,33 ff.), erfüllt innerhalb der Entwicklung der Weltreiche eine Doppelfunktion; es bildet nämlich nicht nur den Abschluß in der Abfolge der vier Regna, sondern erscheint - im Abriß der Weltgeschichte (Chr. 4,4 - oben S. 132) - zugleich als Nachfolger des populus Dei Israel, als Gottesvolk, dessen geschichtliche Aufgabe die Zusammenfassung der Christen in einem Reich war, als der Glaube sich vom jüdischen Volk auf alle gentes ausbreitete. Mit dieser Bestimmung hatte Gott bereits die

52 Vgl. Chr. 2,10 (S. 79,21 f. nach Frutolf S. 55,69): Haec prima aetas quasi infantia populi Romamfuit. Vgl. auch Chr. 2,27 (oben Anm. HI/44) und Chr. 4,31 (Anm. HI/45). Im Gegensatz zu den anderen Geschichtsschreibern des Mittelalters könnte Otto hier, wie R e i η e r S. 247 f. bemerkt, den Untergang eines Reichs auf ganz natürliche Weise erklären, ohne daß er nach Sünden suchen muß, die diesen bewirkt haben (tatsächlich verbinden sich bei ihm aber beide Elemente). 53 Zur providentiellen Rolle des Römischen Reichs (Rom als der geschichtliche Raum für die zum christlichen Glauben Berufenen) vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 117, und C h e η u, Theologie S. 84 ff. Den providentiellen Charakter des Römischen Reichs gibt selbst S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 70, zu, der die Regna sonst zum Weltstaat zählt. Zur Wertschätzung Roms bei Otto vgl. auch P o z o r S . 17f. 54 F e 11 η e r S. 163 f. irrt, wenn er die Beachtung, die Otto (angeblich im Gegensatz zu Augustin und Orosius!) Rom schenkt, darauf zurückführt, daß erst das Mittelalter die heidnische Zeit als Vorbereitung des geistlichen Rom ansehen konnte, denn dieser Gedanke ist bereits bei Orosius ausgeprägt, der im heidnischen Rom keineswegs, wie Fellner meint, das essentiell Böse sieht. Vgl. Adolf L i ρ ρ ο 1 d, Rom und die Barbaren in der Beurteilung des Orosius, Diss, (ms.) Erlangen 1952, S.46ff. und S.63, und G o e t z , Orosius S.80ff. 55 Vgl. dazu M a r k u s S.53ff.

144

III. Der Geschichtsablauf

Gründung des regnum Romanorum verbunden, und da er Rom langsam gedeihen und über die ganze Welt wachsen lassen wollte, beschützte er es schon in heidnischer Zeit (gegen Hannibal)56. Vollends sichtbar wird die Rolle Roms als Heilsträger in christlicher Zeit auf dem Höhepunkt des Reichs unter Augustus, als die civitas Dei von den Juden auf Rom übertragen wurde (vgl. unten S. 197f.): Christus, der sich, wie schon Orosius (Hist. 6,22,6 ff. und 7,3,4) feststellt, als römischer Bürger einschreiben ließ57, machte die civitas mundi Rom zu seiner civitas5*. Konsequenterweise übernimmt Otto von Orosius auch eine Kurzfassung der sogenannten Augustustheologie: Wie Abraham im 42. Regierungsjahr des Ninus geboren wurde, so Christus im 42. Jahr des Augustus 59 . Das Reich Christi wurde darüber hinaus durch das Reich des Augustus vorgezeichnet (fuit prenuntium), als dieser gerade an einem 6. Januar (Epiphanias)60, an dem Tag also, an dem die Drei aus dem Morgenland Christus als rex regum anbeteten, in dreifachem Triumph in Rom empfangen und mit dem Augustustitel ausgezeichnet wurde (Chr. 3,6 - S . 142,6 ff. nach Orosius, Hist. 6,20,2 ff.), während gleichzeitig61 als prophetische Voraussetzung des im Heiligen Geist Gesalbten ein

56 Chr. 2,36 (S. 110,28 ff.): (Deus), quihancurbem inter totpericula et discrimina servare ac paulatim proficere in totiusque orbis dominium crescere voluit. - Vgl. auch Chr. 3 prol. (oben Anm. 11/20); vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 117. 57 Dabei ist Bezug genommen auf die von Augustus befohlene, biblisch bezeugte Steuer(Zensus-) Zählung; vgl. Chr. 3 prol. (S. 133,33 ff.). 58 Chr. 3,6 (S. 143,4ff.): Cum enim civitas illa (= Rom) in perfidia posita procul dubio civitas fuent mundi, quare ei civitatis Deiprinceps et auctor natus asscribi voluit, nisi quod per hoc ostendebat se ad hoc venisse, ut de civitate mundi miro et ineffabili modo faceret avitatem suamf - Vgl. auch S t a u d i η g e r S. 58 f. Zu dieser Verbindung von Weltreichsund Civitas-Lehre im Römischen Reich vgl. M o h r S.278ff. 59 Chr. 3,6 (S. 141,31 ff.) nach Orosius, Hist. 7,2,13 ff., der allerdings vom 43. Jahr des Ninus spricht; Otto erspart sich mit den geänderten Zahlen eine längere Erklärung, zu der Orosius noch gezwungen war (Christus wollte gleichsam in das 43. Jahr hineingeboren werden). Schon Frutolf S. 94, dem Otto hier offensichtlich folgt, hatte die Geburt Christi in das 42. Jahr des Augustus gesetzt. - Eine Miniatur im Codex Jenensis (fol. 38b/39a) setzt Augustus und Christus - wie schon vorher (fol. 10b) Ninus und Abraham - parallel (vgl. dazu L a m m e r s , Geschichtsbild S. 180f., der die Figuren als Repräsentanten der beiden civitates deutet). 60 An dieser Stelle beweist Otto nach A r b u s ο w, Liturgie S. 20, aus der Epiphaniasliturgie die irdische Herrschaft Christi. 61 Otto rückt die bei Orosius auf zwei verschiedene Rom-Ankünfte des Herrschers verteilten Ereignisse durch die unbestimmte Zeitangabe Ulis diebus zusammen.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

145

Ölbach 62 durch Teile Roms flöß (S. 142,30 ff. nach Orosius, Hist. 6,20,6 f.). Mit Orosius und über Orosius hinaus sucht Otto das zeitliche Zusammentreffen der Geburt Christi mit der Errichtung der römischen Kaiserherrschaft aus der (Heils-) Geschichte zu begründen (Chr. 3 prol.) 63 . Christi Ankunft fällt in die Zeit des Augustus (und nicht eher!) 64 zunächst deshalb, - weil Gottes Wege unerforschlich sind (S. 131,1 ff.), - sodann aber, weil der Verlust des Heils eine Strafe für den Sündenfall der Menschen bedeutete und diese lernen sollten, daß sie ohne die Gnade Gottes nichts vermögen 65 , - weil Christus auf dem Höhepunkt des Römischen Reichs, das die ganze Welt geeint hatte, und zugleich zu Beginn der 6. aetas geboren werden wollte 66 , denn er kam zur Tilgung der Ursünde Adams, der gerade am 6. Schöpfungstag geschaffen worden war (S. 132,27ff.); - schließlich greift Otto in seiner Begründung auf den Fortschrittsgedanken (oben S. 134 ff.) zurück: Die Frühzeit der Menschheitsgeschichte (also die ersten fünf Weltalter!) war noch nicht reif für den Empfang Christi, einmal weil die Menschen noch nicht gemeinschaftlich (socialiter) und unter Gesetzen leben, also keinen einheitlichen Staat bilden konnten, wie Rom ihn jetzt darstellte, zum andern weil ihnen zuvor sowohl die Tugenden für einen sittlichen Lebenswandel als auch der Verstand zur

62

Der orosianische fons olei (Hist. 6,20,6) wird hier zu einem rivulus olei ausgewei-

tet. 63 Nach Η a s h a g e π S. 71 f. ist die apologetische Frage des Orosius für Otto zu einer erkenntnistheoretischen Frage geworden. 64 Vgl. auch S t a u d i n g e r S.36; H a r t i n g s S.30f.; F u n k e n s t e i n S.105f.; S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 95. 65 Chr. 3 prol. (S. 132,14 ff.): Itaque si tot secuta retroacta non adpeccata impellendo, sed quod suum erat non largiendo, ad hoc, ut supervenientibus seculis exemplo priorum, quid fugiendum esset, unde gratias salvatori suo referrent, ostenderet; si, inquam, eos ad hoc voluntati suae deseruit, ut et ipsi, quid sine eo possent, cognoscerent et redempti, quid ex gratia salvatoris haberent, addiscerent: sicut ab Ulis iuste non potuit culpari, sic his maximam materiam dedit, unde iure debeat amari. 66 Ebda. (S. 132,24ff.): Est preterea ratio, quare hocpotissimum tempore, VI' videlicet etate ac unito ad Romanorum Imperium mundo universoque sub Augusto Cesare descripto, Christus nasa voluit. Cum enim pro primi parentis, qui paradysi delicias postponens ex proprii arbitrii voluntate hanc terram maledictionis inhabitare maluit, culpa abolenda incamari voluit, VI" id etate potissimum fieri conveniens fuit, quia et ipsum VI" die creavit. Danach beginnt das 6. Weltalter also nicht primär wegen der Ankunft Christi, sondern wegen der Weltherrschaft des Augustus!

III. D e r Geschichtsablauf

146

Erfassung der W a h r h e i t fehlten 6 7 ; sie w a r e n veritatis non capaces, ac legum

inexpertes

iusticiae

(S. 1 3 3 , 8 f.), weil sie societas (die V o r a u s s e t z u n g für

die Bildung einer dvitas)

u n d ratio (die V o r a u s s e t z u n g für die E r k e n n t n i s

der W a h r h e i t ) entbehrten 6 8 . E r s t die E r r i c h t u n g des R ö m i s c h e n Reichs und

die L e h r e

der P h i l o s o p h e n

machten

die W e l t

schließlich

zur

A u f n a h m e Christi bereit 6 9 ! Politische und geistige A r g u m e n t e fließen hier z u s a m m e n . R o m bildet gewissermaßen eine V o r a u s s e t z u n g dafür, daß das neue G e s e t z ( C h r i s t i ) verstanden wird. O h n e an einheitliche G e s e t z e und an eine einheitliche ( K a i s e r - ) H e r r s c h a f t g e w ö h n t zu w e r d e n , hätten die Menschen

Christi

Lebensregeln

gar

nicht

begreifen

können70;

die

Glaubenseinheit entwickelte sich aus der Staatseinheit, in der m a n bereits die Vereinigung v o n imperium

u n d lex erfahren h a t t e 7 1 : O t t o ü b e r n i m m t

hier den orosianischen Einheitsgedanken (Einheit v o n Glaube, Staat u n d W e l t ) 7 2 . D e r F r i e d e , der damals herrschte, gestattete den A p o s t e l n z u d e m die z u r A u s b r e i t u n g des Glaubens erforderliche Reisefreiheit 7 3 .

67 Chr. 3 prol. (S. 132,32 ff.): Nec in primeva bominum etate idfacere debuit. Homines enim ex transgressoribus parentibus nati viciataque per inobedientiam natura proniores et accliviores ad malum facti necdum ratione utentes, ferino magis ac beluino more, obliterato in eis naturali bono, oberrantes non socialiter vivere, non legibus informari, non virtutibus adornari, non rationis vi ad cognoscendam veritatem illuminari didicerant. 68 Der weltgeschichtliche Ablauf und die Anwendung der Vernunft bestimmen folglich die Heilsgeschichte. " Chr. 3 prol. (S. 133,14 ff.): Deinde paulattm crescente ac proficiente tarn ex societate bominum simul commanentium quam ex collatione eorundem ad leges condendas sapientia pbilosophorumque mediante doctrina, cum, ut dixi, iam totus mundus tarn virtute Romanorum inclinatus quam sapientia pbilosophorum informatus fuisset, essentque bominum ingenia ad altiora vitae precepta habUia capessenda, salvatorem omnium in came apparere novasque mundo leges condere decuit. - Vgl. H a r t i n g s S.31. 70 Vgl. Μ ü 11 e r, Hand Gottes S. 117 f. 71 Chr.3 prol. (S. 133,23 ff.): Hie iam, quod supra distuli, solvendum puto, quare unius urbis imperio totum orbem subici, unius urbis legibus totum orbem informari Dominus orbis voluerit. Primo, ut dixi, ut ad maiora intelligenda promptiores ac capatiores essent mentes bominum. Secundo, ut bis modis unitis unitas commendaretur fidei, quatinus unius urbis terrore ad unum bominem colendum homines universi constricti unam quoque fidem tenendam caelestemque in ea non bominem tantum, sed auctorem omnium colendum ac adorandum Deum addiscerent. - Die Parallelsetzung des Glaubens mit dem terror der politischen Gewalt scheint nahezulegen, daß Otto eine Zwangsbekehrung im Auge hat. 72 Vgl. dazu G o e t z , Orosius S. 107ff. 73 Chr.3 prol. (S. 134,7ff.): Pax idcirco mundo tunc nova reddita fuit, ut novi regis ministri liberius orbem terrae peragere salutiferaque vitae precepta Seminare possent (nach Orosius, Hist. 6,1,8).

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

147

Otto widmet diesen Vorgängen das gesamte Kapitel Chr. 3,14, in dem er die Ausbreitung des Glaubens durch die Apostel im einzelnen aufschlüsselt: Paulus bekehrte Griechenland, Johannes Asien, Andreas Achäa, Matthäus Äthiopien, Thomas und Bartholomäus die beiden Indien, Symon und Taddäus Ägypten und Mesopotamien, Persien und Skythien, Philippus die Hierapolis, Jakobus die Juden in Jerusalem, Jakobus II Spanien. Der Bischof begreift die Ausbreitung des Glaubens also recht wörtlich, eine Vorstellung, die gerade im 12. Jahrhundert weit verbreitet ist (Honorius, Hugo) 7 4 .

Ottos Begründung der Parallele Christus - Augustus, die den orosianischen Entwicklungsgedanken noch mit neuen Argumenten stützt, stellt den Aufstieg und die weltweite Ausdehnung Roms noch einmal deutlich in diese, dem göttlichen Heilsplan folgende Entwicklung: Rom war das Weltreich, das die Geburt Christi und die Ausbreitung des Glaubens vorbereiten und sichern sollte75. Weshalb diese Rolle nun gerade Rom und keinem anderen Reich zufiel, bleibt allerdings unerklärbar 76 , es sei denn, man wolle es im nachhinein damit begründen, daß Petrus und die Päpste ihren Sitz in dieser Stadt nahmen 77 . Die Argumentation bietet ein schönes Beispiel für das teleologische Geschichtsdenken des mittelalterlichen Menschen, der - anders als noch Augustin, der das Reich der Römer als irdischen Lohn für ihre Tugenden wertete (De civitate Dei 5,15)78 - die historische Entwicklung von der schließlichen (göttlichen) Bestimmung her interpretierte und aus diesem Bewußtsein der göttlichen Vorherbestimmung heraus die Kausalkette umkehren konnte: Die römischen Bischöfe wurden nicht zu Päpsten der

74

Über die möglichen Quellen vgl. H o f m e i s t e r , Edition S. 150 (Anmm.). S c h m i d l i n , Weltanschauung S.70f., stellt heraus, daß Otto sich mit seiner Uberzeugung von der providenziellen Bestimmung der Größe Roms von Augustin unterscheidet. 76 M ü l l e r , Hand Gottes S. 117f., übersieht, daß Otto, dem das Rombewußtsein des Orosius nicht mehr so selbstverständlich ist, hier eine eigene Begründung für die Rolle Roms sucht. 77 Chr. 3 prol. (S. 134,14 ff.): Quare autem ülipopulo vel Uli urbi hancpotius quam aliis gratiam contulerit, discutere non possumus, nisi forte ex principis apostolorum mentis, quem ibi sessurum previdit, super quem etiam ecclesiam suam se fundaturum promisit, factum dicam, ut videlicet locus, qui propter prinapis apostolorum kathedram super universam principaturus foret ecclesiam, in gentium quoque, unde fideles congregandi erant, ante proficeret monarchiam. - Vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 117 ff., Ρ ο ζ ο r S. 17 f.; zu Rom als Sitz der Apostelfürsten vgl. auch Chr. 3,14 (unten Anm. IV/55). 78 Zu diesem Unterschied vgl. S t a u d i n g e r S . 4 9 f . 75

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III. Der Geschichtsablauf

Gesamtkirche, weil sie in der Hauptstadt des Reichs residierten79, sondern ihretwegen hatte Gott überhaupt erst das Römische Reich erstarken lassen80. Otto bewahrt durch das Argument einer ungebrochenen Kontinuität von der politischen Herrschaft zur päpstlichen Autorität 81 das Bild der Stadt Rom in seinem traditionellen Glanz 82 , wenngleich er dafür allenfalls einen „ästhetischen" Grund findet 83 : Es ist einfach schön (pulchre igitur), daß das caput antea... mundi später zum caput ecclesiae wurde (S. 134,22 ff.) 84 . (5) D i e T r a n s l a t i o - L e h r e : Doch nicht nur die Stadt Rom erlebt auf diese Weise eine Kontinuität, auch das Römische Reich selbst dauert als viertes und letztes Weltreich für Otto noch unvermindert fort,

79 Ähnliche Zusammenhänge erkennt Otto sonst durchaus an: Die Sitze der beiden mächtigsten Nachfolgestaaten des Alexanderreichs, Alexandria und Antiochia, wurden später allein zu Patriarchaten (Jerusalem und Konstantinopel erhielten den Rang erst nachträglich); Chr. 3,2 (S. 137,4ff.). 80 Die eigentliche Kausalität zu bestimmen, ist freilich nicht ganz einfach: Der Primatanspruch der Päpste stützte sich von Anfang an auf die Tradition; es bleibt zu klären, wieweit erst die Rückbesinnung auf die römische Tradition, für die Otto hier Zeuge ist, die schließliche Universalgewalt der Papstkirche gefördert hat. 81 Über Ottos Wertschätzung des Papstes vgl. auch GF1,30 (S. 188,10 ff.). Otto scheint sogar das Argument der römischen Kirche zu übernehmen, daß der Papst gar kein schlechtes Leben führen kann (Chr. 6,23 - S. 286,15 ff.): In einigen Chroniken findet er die Behauptung vor, Papst Johannes XII. habe ein tadelnswertes Leben geführt: Cui reif idem accomodate durum videtur, quia Romana fcclesia hoc speciale Privilegium sacerdotibus suis asscribere solet, quod meritis Petri supra firmam petram fundati nulla eos inferorum porta vel tempestatum turbo ad exicialem ruinam involvat. - Bei Ottos Reverenz gegenüber den Päpsten fällt es schwer, aus diesem Kommentar Ironie herauslesen zu wollen, doch spricht er kurz darauf selbst von dem schändlichen Leben (flagiatiosa et turpis vita) der - allerdings schismatischen - Päpste (Chr. 6,32 - S. 299,5 ff.). 82 Das ist um so bedeutungsvoller, als Otto in der Verlegung des Regierungssitzes, in der mutatio sedis!, das Schicksal eines Reichs besiegelt sieht; vgl. zu Konstantinopel Chr. 4,31 (S. 223,22ff.): Accessit etiam ad miseriarum cumulum, quae semper caducarum rerum interitus est, sedis mutatio sub Constantino facta. 85 Vor allem widerspricht es dem metaphysischen Gesetz der Wandelbarkeit: Deshalb betont Otto gleich im Anschluß, daß Rom nur ad tempus erhöht wurde und einst erniedrigt wird (S. 134,28 ff.). 84 Otto ist Zeuge des hochmittelalterlichen Rombilds, das die Bedeutung der Stadt stärker auf die Apostelfürsten und nicht - wie noch die karolingische Zeit - auf die antike Tradition zurückführt; seit Otto dem Großen sah man das Verhältnis zur Antike nur noch als Analogie. Vgl. dazu Elisabeth P f e i l , Die fränkische und deutsche Romidee des frühen Mittelalters (Forschungen zur mittelalterlichen und neueren Geschichte 3), München 1929, besonders S. 131 ff., 213 f. und 225.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

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wenngleich die Träger der Herrschaft inzwischen mehrfach gewechselt haben: Trotz des Untergangs des Weströmischen Reichs, der anzeigt, daß Rom sich bereits im Greisenalter befindet (Chr. 4,31 - oben Anm. 111/45), hält Otto an seiner Weltreichslehre mit dem Fortbestand des Imperium Romanum fest und zählt die römischen Kaiser von Augustus bis zur Gegenwart, zu Konrad III. als 93. Herrscher (Chr. 7,34 - unten Anm. V/137), fortlaufend durch (vgl. Anm. 111/38). Ottos Zählung ist dabei freilich nicht ganz einheitlich: Ludwig der Fromme ist (auch nach seiner eigenen Kaiserliste am Ende des 7. Buchs und in Abweichung von der Vorlage Frutolf) 70. (Chr. 5,33 - S. 258,3), Lothar aber 73. Kaiser (Chr. 6,2 - S. 262,31). Karl der Kahle und Karl III. werden dann als 74. bzw. als 75. Augustus vorgestellt, danach ist erst Otto I. wieder der 77. (mit Arnulf) bzw. der 84. Herrscher (unter Einbeziehung der italischen Kaiser) (Chr. 6,22 - S. 285,7ff.); von dieser zweiten Zahl geht Otto im folgenden aus. Heinrich III. wird dann bei seinem Regierungsantritt (Chr. 6,32 - S. 297,23) und anläßlich der Kaiserkrönung irrtümlich noch einmal als 90. Herrscher gezählt (Chr. 6,33 - S. 300,17); Heinrich V. ist danach 92. Kaiser (Chr. 7,11 - S. 322,21), aber auch Lothar III. ist als 92. Herrscher genannt (Chr. 7,17 - S. 333,16 f.). Der Bischof erreicht die Kontinuität 85 durch seine nach biblischen und patristischen Vorläufern gerade im 12. Jahrhundert wiederaufgegriffene Translationslehre 86 , die er an verschiedenen Stellen erläutert87: Die Herrschaft des Römischen Reichs hatte sich danach — wie einst die babylonische Gewalt auf die Meder übergegangen war (Chr. 1,31) - von

85

Η as h a g e n S. 38 f. übersieht, daß die Translationslehre nicht auf das Ende des Römischen Reiches deutet, sondern gerade sein Fortleben sichert. 86 Vgl. dazu grundsätzlich G o e z , Translatio Imperii (zu Otto S. 111 ff.). Nach Anfängen in der karolingischen Zeit wurde die Translationslehre erst in der Weltchronistik des späten 11. und des 12. Jahrhunderts voll ausgebildet. 87 Chr. 1 prol. (S. 7,26 ff.): Ab Urbe quippe ad Grecos, a Greas ad Francos, α Francis ad Lonbardos, a Lonbardis rursum ad Teutonicos Francos derivatum non solum antiquitate sennit, sed etiam ipsa mobilitate sui... sordes multiplices ac defectus varios contraxit. Vgl. Chr. 6,22 (S. 285,13 ff.) zur Kaiserkrönung Ottos des Großen: Exhinc regnum Romanorum post Francos et Longobardos ad Teutonicos vel, ut aliis videtur, rursum ad Francos, unde quodammodo elapsum fuerat, retranslatum est. Cui opinione accomodatum videtur, quod regnum Romanorum iuxta maiores nostros Babyloniorum imperio similem ortum et progressum habere dicitur. Sicut ergo illud duabus famosis mutationibus, Medorum scilicet et Persarum, succubuisse constat, sie et istud item duabus tantum, Grecorum et Francorum, subiacere debere volunt.

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III. Der Geschichtsablauf

Rom auf die Griechen, dann auf die Franken 88 , weiter auf die Langobarden und schließlich auf die Deutschen (oder, wie andere sagen, zurück auf die Franken) verlagert89. Otto übernimmt die Translationslehre auch in den Gesta (GF 2,16 - S . 312,5 f.), wo er aus der Tatsache, daß das imperium Romanum ad Francos derivatum est, Reichsrechte in Italien wie das Fodrum oder das Ruhen der lokalen Amtsgewalt im Falle der Anwesenheit des Kaisers ableitet. In einer von Otto wenn nicht erfundenen, so doch stilisierten Rede Friedrich Barbarossas (GF 2,32 - S. 346 f.)90 nimmt auch der Kaiser die Translationslehre auf: Bei ihm (penes nos) sei nun die Herrschaft, das imperium, weil nämlich der römische robur nobilitatis und die alten römischen Tugenden (gloria, gravitas senatone dignitatis, dispositio tabernaculorum, virtus et disciplina equestris ordinis) von den Griechen auf die Franken übertragen worden seien (S. 346,21 ff.): Die Eroberung Roms durch Karl den Großen und Otto den Großen (S. 348,9 ff.) wird hier zusätzlich ethisch begründet 91 . Die Übertragung der Herrschaft von Rom auf neue Träger gleicht in ihren Symptomen zwar der Ablösung der Weltherrschaft durch ein neues Reich, bewahrt im Gegensatz dazu aber mit dem Namen auch den Bestand des älteren Reichs92: Es bleibt der (römische) Name oder eher: die „Spur" eines Namens (in der doppelten Bedeutung als „geringes Maß" und als „Fährte", „Weg") - das vestigium nominis zieht schon begrifflich eine Parallele zum vestigium cognoscendae veritatis (Chr. 4,4 oben S. 132) und stellt dadurch die Bedeutung des Namens für den Geschichtsverlauf deutlich heraus (vgl. unten S. 162 f.) - während die Übertragung derpotestas der Ablösung eines regnum doch so sehr ähnelt, daß Otto die Translation der römischen Herrschaft auf die Franken ohne

88

Zur Erklärung des Frankennamens erwähnt Otto neben der Deutung Frutolfs aus feritas und nobilitas auch die Abstammung von den Trojanern über Franco (Chr. 1,25 S. 56,26 ff.), weist diese aber als „Fiktion" zurück (Chr. 1,26 - S. 59,15 f.). Daß Otto den Einschub bereits unter der Geschichte Trojas bringt, zeigt, wie sehr er die Entwicklung auf die Franken zugeschnitten sieht. 89 Otto spricht von einer retranslatio; vgl. F u n k e n s t e i n S . 1 0 2 f. 90 Zur Rede vgl. N ö r e n b e r g S.63ff. 91 Vgl. dazu Ρ ο ζ ο r S. 25 ff. und Β r e ζ ζ i, Ottone S. 306 f. 92 Vgl. Chr. 5,36 (S. 260,15ff.): ha nimirumpotestas temporalis a Babilone devoluta ad Medos, inde ad Persas, post ad Grecos, ad ultimum ad Romanos et sub Romano nomine ad Francos translata est. - Vgl. Anm. HI/87.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

151

weiteres mit dem Untergang Babylons und dem gleichzeitigen Aufstieg Roms vergleichen kann93. Die Translatio auf die Griechen vollzog bereits Konstantin mit der Verlegung des Regierungssitzes nach Konstantinopel (Chr. 4,5 - S. 191,10 ff.), während der Name noch römisch blieb. Mit der Übertragung der Herrschaft auf die Franken erlosch das griechische „Kaisertum", wenngleich Otto weiterhin von imperatores spricht (vgl. Staudinger S. 60 f.). Bei der Translation der Herrschaft von den Franken auf die Langobarden denkt der Freisinger Bischof an die italischen Kaiser Wido, Berengar und ihre Nachfolger; er beschränkt also die Weltherrschaft offensichtlich jeweils auf die Kaiserwürde! Wenn er andererseits - in einem eigenen Zusatz zu Frutolf - den Beginn karolingischer Herrschaft (das regnum der Karolinger) bereits mit Pippin ansetzt, mit dessen Regierung zugleich das regnum von Konstantinopel zu sinken begann94, so unterscheidet er den Aufstieg zur Weltherrschaft von der eigentlichen, mit dem Kaisertum verbundenen Translation95: Die Königsherrschaft Pippins bildete bereits einen historischen Wendepunkt, und auch die Päpste leiteten ihre Rechte gegenüber den Königen davon ab, daß sie Pippin eingesetzt hatten. Die translatio der Weltherrschaft von den Griechen auf die Franken aber fand erst mit dem Kaisertum Karls, des „neuen Augustus" 96 , statt: Der Byzantiner Leo war 68., Karl 69. römischer Imperator97. Bezeichnend sind auch die Κ a i s e r 1 i s t e η, die Otto seiner Chronik nachstellt, wegen der zahlreichen Abweichungen aber kaum aus dem eigenen Werk abgeleitet hat; sie nennen nicht die römischen Konsuln, wohl aber die altrömischen Könige98! Die Liste der oströmischen Kaiser endet bei Karl dem 93 Chr. 4,31 (S. 223,24ff.): Et sicut ibi regno ad Medos translate solo nomine mansit Imperium, sie et isto ad Grecos sen ad Francos derivato Urbis tantum antiquae dignitatis ac nominis manet vestigium Sed quia de rerum mutationibus regnorumque imminutionibus ad ostendendos mortalium casus mundique instabiles rotatus scribere propositi, sicut supra dixisse me memini, cum Roma parturiretur, Babylonia finem aeeepit, sie et modo, dum regnum Francorum, ut ita dixerim, seminaretur, Roma sub Augustulo suo in ultima senectute, id est a condicione sua M°CC°XX° VIΓ anno, barbaris tradita occasum minatur. Vgl. Chr. 4,32 (S. 224,29 f.). 94 Chr.5,25 (S.253,14f.): . . . cum iam, ut sepe dixi, Francorum regno crescente Romanum decresceret. 95 Von einer Translation von Rom auf die Franken unter Karl dem Großen spricht auch Hugo von St. Viktor, Excerptiones allegoricae 9,23 ( M i g n e PL 177, Sp.276A). 96 Vgl. die figürliche Ähnlichkeit der Herrscherbilder im Bilderzyklus der Jenaer Handschrift. 97 Das Kaisertum Karls war würdig, weil in Byzanz eine Frau herrschte (Chr. 5,29 S. 255,17 ff.). 98 Zum Unverständnis der mittelalterlichen Chronisten gegenüber der römischen Republik vgl. Heinrich F i c h t e n a u , Vom Verständnis der römischen Geschichte bei deutschen Chronisten des Mittelalters, Festschrift Percy Ernst S c h r a m m Bd.1, Wiesbaden 1964, S.407ff.; Alphons L h o t s k y , Die altrömische Geschichte bei mittelalterlichen Autoren, Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 92,7, Wien 1955, S. 83 f.; Hans L i e b e s c h ü t z, Das zwölfte Jahrhundert und die Antike, Archiv für Kulturgeschichte 35, 1953, S.270.

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III. D e r Geschichtsablauf

Großen und zeigt damit die Translation auf die Franken an, nach der sich die Kaiserzählung richtet und die sogar noch ausdrücklich vermerkt wird (Imperium transfertur ad Francos). Bereits Pippin und Karl der Große werden aber auch schon als Könige und patricii jeweils unter dem oströmischen Kaiser genannt.

Otto verknüpft also die Translation der Weltherrschaft (imperium) mit dem Kaisertum. Das imperium Romanum ist zu jeder Zeit existent, doch die Träger der Weltherrschaft wechseln mit den imperatores der verschiedenen Völker, und die tatsächliche territoriale Ausdehnung ist demgegenüber sekundär. So besteht das imperium Romanum schließlich im Reich Lothars I., der es noch einmal unter seine Söhne teilt, so daß der Titel sich zuletzt an „ein Drittel eines Drittels", das Teilreich Ludwigs II., gebunden sieht". Otto führt die zahlreichen Vergleiche, die Orosius zwischen Babylon und Rom gezogen hat, weiter, indem er Parallelen zwischen Karolingern und Ottonen, zwischen dem „fränkischen" und dem „deutschen" Imperium Romanum, hinsichtlich ihres Aufstiegs zur Herrschaft zieht 100 . Wie Meder, Perser und Griechen nur eine Übergangsfunktion hatten, so werden in diesen Vergleichen auch die Langobarden übergangen101: Sowohl Karl (Martell) wie der Sachsenherzog Otto („der Erlauchte") übten eine Königsherrschaft ohne Titel aus; ihre beiden Söhne, Pippin und Heinrich, nahmen jeweils den Königstitel, deren Söhne wiederum, Karl der Große und Otto der Große, den Kaisertitel an 102 . Solche Parallelen bekräftigen die enge Bindung zwi-

9 9 Chr. 6,1 (S. 262,26 ff.): Vide, ad quantum defectum Romanum imperium devenerit, ut in tres partes Francorum regno diviso terciae partis tercia pars fuerit. 100 Anders als Orosius sucht Otto die Ähnlichkeit nicht in zahlenmäßigen, sondern in funktionalen Parallelen. 101 Die nur gelegentliche Einbeziehung der Langobarden hängt damit zusammen, daß einige Kaiserkataloge sie aufzählen, andere dagegen nicht (vgl. Chr. 6,22 - S. 285,23 ff. sowie vorher zu Arnulf Chr. 6,13 - S. 273,28 ff.); die Kaiserlisten ergänzen bei Arnulf iuxta quosdam und lassen die langobardischen Kaiser nach der Bemerkung Iuxta Romanos Longobardi folgen. - Vgl. P o z o r S . 3 0 f . 102 Chr. 6,24 (S. 286,24ff.): Vide regnum Teutonicorum cum regno Francorum affine et quodammodo cognatum principium habere. Ibi primus Karolus sine regis nomine regis honorem gerebat. Hic Magnus Otto, Saxonum dux, regibus adhuc ex Stirpe Karoli manentibus regni summam administrabat. Illiusfilius Pippinus non solum re, sed et nomine rex cepit esse et did. Huius simili modo filius Heinricus regis nomine meruit honorari. Illius filius Karolus Magnus non solum regnum, sed et imperium capto Desiderio primus obtinuit ex Francis. Istius filius Otto Magnus post multos triumphos primus ex Teutonias post Karolos capto Berengario Romanis imperavit.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

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sehen den Reichen, die die erst in dieser Zeit wiederauftretende Einsicht hervorruft, daß Franken und Deutsche noch ein- und dasselbe (Römische) Reich beherrschen, dessen Universalität Otto immer wieder hervorhebt 103 . Deshalb kann er noch in den Gesta Frederici „Römische Geschichte" schreiben, denn alle Erzählungen über fremde Völker und Reiche gehen auf „eine Quelle", auf Rom als Mittelpunkt der Herrschaft, zurück 104 . Deshalb auch erhält das Reich einen so wichtigen Platz in Ottos Historiographie 105 . Im Gegensatz zur Abfolge der Weltreiche in älterer Zeit bleiben die Nachfolgereiche des Romanum Imperium also römisch. Dabei bezieht Otto den römischen Charakter der Franken nicht nur auf die Herrschaft selbst, sondern auch auf die (sprachlich abgeleitete) Volkszugehörigkeit, denn er weiß nicht mehr, daß die französisch sprechenden Franken ursprünglich ein germanischer Stamm waren 106 . Die neuen Träger der Herrschaft scheinen die Traditionen gewissermaßen zu sammeln 107 : Das Deutsche Reich ist deutsch, fränkisch und römisch zugleich. Man kommt dem Freisinger Bischof kaum näher, wenn man von ihm fordert, er hätte ein eigenständiges Deutsches Reich, das den fränkischen Charakter abgelegt hat, anerkennen müssen, zumal die Wendung regnum Teutonicum im Reich selbst erst seit dem späten 11. Jahrhundert glaubhaft belegt ist; Mohr (S. 283 f.) wertet solche Überschneidungen als Zeichen der Ratlosigkeit Ottos vor den historischen Tatsachen. Tatsächlich hat das Deutsche Reich römische und fränkische Traditionen in einem Maße aufgenommen, daß es Otto weiterhin als

103 Vgl. S t a u d i n g e r S.49f. Chr.6,17 (S.277,19ff.): Sicut autem Merovingis deficientibus ac Karotis succedentibus regnum tarnen mansit Francorum, sie et Karotis decedentibus ex alia familia seu lingua in uno tarnen regno Ottones subintroiere. 104 G F 1 prol. (S. 120,1 f.): dum omnium regnorum vel gentium ad Romane reipublice statum tamquam ad fontem recurrat narratio. - Vgl. oben Anm. 1/160. 105 Das hebt besonders S p ö r l hervor (vgl. unten S.292f.); vgl. auch C h e n u , Theologie S.85f.; F o l z , L'idee d'empire S. 111 ff.; Erik B a c h , Imperium Romanum. Etude sur l'ideologie politique du Χ Ι Γ siede, Classica et Mediaevalia 7, 1945, S. 138 f. 106 Chr. 4,32 (S. 225,23 ff.): Videtur mihi inde Francos, qui in Galliis morantur, a Romanis linguam eorum, qua usque bodie utuntur, accommodasse. Nam alii, qui area Rbenum ac in Germania remanserunt, Teutonica lingua utuntur. Quae autem lingua eis ante naturalis fuerit, ignoratur. - Vgl. S t a u d i n g e r S . 6 8 . 107 S t a u d i η g e r S. 64 ff. weist darauf hin, daß das Deutsche Reich nicht nur über die fränkische, sondern auch über die byzantinische Tradition an Rom anknüpft. - Aus Chr. 5,36 (oben Anm. 1/309) ist übrigens nicht unbedingt zu schließen, daß die Franken die letzten Träger des Imperium sind (so S t a u d i η g e r S. 61); mit ultimi meint Otto hier eben die letzten, von denen er gesprochen hat.

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III. Der Geschichtsablauf

Römisches u n d als Fränkisches Reich erscheint, auch wenn die Herrschaft inzwischen auf ein anderes Geschlecht übergegangen ist: Ein - wenngleich immer noch universal geprägtes - Nationalbewußtsein kommt in dieser Zeit noch nicht im Reich, sondern, gerade in Abhebung davon, in Frankreich auf 108 , und es ist schon bezeichnend, wenn Hugo von St. Viktor, dem Otto von Freising in seinen Gedanken sonst so nahesteht, nicht die Kaiser, sondern die französischen Könige als Nachfolger der Karolinger betrachtet 109 . In Chr. 6,17 diskutiert Otto, ob man vom Reich der Ottonen als einem regnum Francorum oder einem regnum Teutonicorum sprechen soll: Das regnum Teutonicorum bildet danach einen Teil des Fränkischen Reichs in der Ausdehnung des Karlsreichs 110 . In G F 2,13 (S. 304,8) spricht Otto von den reges Francorum, qui et Teutonicorum, setzt also Fränkisches und Deutsches Reich gleich. (Als erster deutscher König gilt ihm Otto I.). Indem er nun das Fränkische Reich mit den Karolingern, das Deutsche Reich aber mit den Ottonen (Sachsen) verbindet, zeigt er an, daß es sich bei dieser Übertragung um eine translatio des Herrschergeschlechts handelt, während das Reich selbst (wenn auch nicht im gleichen Umfang) erhalten bleibt. Ganz entsprechend hatte sich bereits der Ubergang von den Merowingern zu den Karolingern vollzogen, den Otto j a ausdrücklich mit dem neuen Wechsel vergleicht (oben Anm. III/102) . Schließlich verstärkt sich der fränkische Charakter des Deutschen Reichs dadurch, daß Otto mit Heinrich III. (über dessen Mutter Gisela) wieder einen Karolinger an der Regierung sieht (Chr. 6,32 - S. 297,24 ff.)!

108 Vgl. dazu Laetitia B o e h m , Gedanken zum Frankreich-Bewußtsein im frühen 12. Jahrhundert, Historisches Jahrbuch 74, 1954, S. 681-87. Einen Vergleich strebt Karl Ferdinand W e r n e r , Les nations et le sentiment national dans l'Europe medievale, Revue historique 244, 1970, S. 285-304, an. Zu früheren Ansätzen eines Nationalgefühls in Frankreich vgl. jetzt Bernd S c h n e i d m ü l l e r , Karolingische Tradition und frühes französisches Königtum, Wiesbaden 1979. 109 Vgl. dazu E h l e r s , Hugo S.94ff. 110 Vgl. S t a u d i n g e r S . 6 7 f., der auf ein noch vorhandenes Zusammengehörigkeitsgefühl bei Otto schließt. Vgl. zu Ottos Argumentation Eckhard M ü l l e r - M e r t e n s , Regnum Teutonicum. Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im früheren Mittelalter (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 15), Berlin 1970, S. 15ff., dem sich auch Carlrichard B r ü h l , Die Anfänge der deutschen Geschichte (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 10, 1972,5), Wiesbaden 1972, S. 173 f., anschließt: Der Begriff regnum Teutonicum war überhaupt noch recht jung und von Italien aus in das Reich selbst eingedrungen (M ü 11 e r - Μ e r t e η s S. 44 ff.); er wurde hier erstmals gegen Ende des 11. Jahrhunderts in den Niederaltaicher Annalen angewandt (ebda. S. 87 ff.). Die Auffassung von einem „Deutschen Reich" war also zu Ottos Zeit noch umstritten. Zu Otto vgl. auch Wolfgang G i e s e, Der Stamm der Sachsen und das Reich in ottonischer und salischer Zeit, Wiesbaden 1979, S. 66 ff. 111 Als Translation wurde dieser Ubergang bereits in karolingischer Zeit aufgefaßt; vgl. G ο e ζ S. 56.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

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Otto von Freising ist der erste Historiker, der Weltreichslehre und Translationsgedanken systematisch miteinander verbindet, indem er die Nachfolgestaaten des römischen Reichs als Translationen dieses letzten Weltreichs versteht112. Die translatio imperii verlagert die eine Weltherrschaft gleichsam auf immer neue, aber doch im Römischen Reich geeinte Träger (vgl. Chr. 5,36); der Translatio-Gedanke bedeutet folglich Ablösung und Bewahrung der Herrschaft zugleich, Machtübernahme eines neuen Volkes oder Geschlechtes in einem dem Namen nach und damit für den „Realisten" Otto tatsächlich noch fortbestehenden Imperium Romanum. Daraus erwächst eine Doppelnatur dieser Idee: Einerseits bewirkt die Translation der römischen Herrschaft etwa .auf Karl oder Otto einen neuen Höhepunkt, andererseits aber muß sich der allmähliche Abstieg, der mit dem von Otto stark herausgestellten Fall Westroms begann, nach dem Gesetz des Werdens und Vergehens alles Geschaffenen fortsetzen: Rom, sagt der Bischof, hat seinen Zenit überschritten und kann nun nur allmählich schwächer werden (paulatim vires perdere)Ui. Will man diese beiden Auffassungen in Übereinstimmung halten, dann können die Translationen nur relative und vorübergehende Höhepunkte bilden, die den dauernden Abstieg der Herrschaft letztlich nicht aufhalten. Wir werden darauf bei der Besprechung des Gegenwartsverständnisses bei Otto von Freising zurückkommen. Die Doppelnatur der Reiche geht letztlich auf Ottos geschichtstheologische Grundlegung zurück und betrifft nicht nur die Translatio-, sondern die gesamte Regna-Lehre 114 : Die geordnete zeitliche Abfolge der Weltreiche bildet als ordo historiaem zweifellos einen Teil des göttlichen

112

So P. Α. ν a η d e η Β a a r, Die kirchliche Lehre der Translatio imperii Romani bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, (Analecta Gregoriana 78) Rom 1956, S. 62 ff. 113 Chr. 4,31 (oben Anm. 111/45). - Urbs Roma und orbis Romanus stehen hier in einem unlösbaren Zusammenhang. - Bereits zur Schlacht bei Pharsalus mit dem Untergang der Cäsargegner greift Otto das Lucanzitat des in sich zusammenstürzenden Reichs auf (Chr.2,49 - S. 127,9ff.); vgl. v o n M o o s S. 152ff. 114 Nach S t a u d i n g e r S . 6 0 f . gibt es auch hier nicht vier, sondern nur ein Imperium, das durch Translationen immer weiterverliehen worden ist. 115 Vgl. Ottos Schreiben an Rainald (oben Anm. 111/38); vgl. Β a u e r S. 29. - Hugo von St. Viktor, De area Noe morali Kap.4,9 ( M i g n e PL 176, Sp.677B) unterscheidet einen dreifachen ordo: des Ortes, der Zeit und der Würde (dignitas), die alle in der Geschichte (series rerum gestarum) zusammenlaufen und durch die divina Providentia gelenkt sind; zum planmäßigen Geschichtsverlauf bei Hugo vgl. E h l e r s , Hugo S. 71 ff.

156

III. Der Geschichtsablauf

Geschichtsplans, und der Heilscharakter des Römischen Reichs (oben S. 143 ff.) hat das eindrucksvoll bestätigt. Auf der anderen Seite aber bleiben die Reiche auf die irdische Zeit beschränkt116 und unterliegen als Teil der Schöpfung dem Gesetz der Veränderlichkeit: Otto schließt das erste Buch mit der Bemerkung, er habe über die mutatio Babylons berichtet und wolle nun die vicissitudines der Meder, Perser, Griechen und Römer schildern (Chr. 1,32 - S. 66,24 ff.); seinem Bericht über die Translation der Herrschaft von Babylon auf die Meder schließt er eigens einen Kommentar über die mutabilitas verum an (Chr. 1,32 - unten Anm. III/145); auch das Römische Reich mußte schließlich das gleiche Schicksal erleiden, das es den anderen Völkern bereitet hatte117. Der Wandel (mutabilitas rerum) wird nicht „überstrahlt" von der sich wiederholenden translatious, sondern diese ist wesentlicher Teil der Vergänglichkeit: Die Ablösung der Regna und die Translationen bilden für Otto die mutationes par excellence119 und sollen dem Menschen die mutabilitas der Welt deutlich vor Augen führen 120 , ist doch der Kampf um die Herrschaft stets mit gewaltigen Kriegen verbunden 121 .

116 Μ ο h rs Ansicht, Otto habe Regna- und Civitas-Lehre in Übereinstimmung bringen wollen, geht von falschen Voraussetzungen aus; dazu unten S. 202 f. Die Translationen sind auch nicht Ausdruck der Minderung der civitas mundi, wie M ü l l e r , Hand Gottes S. 124, meint, da man Ottos „Weltstaat" nicht mit den Weltreichen gleichsetzen darf. 117 Chr. 4,30 (S. 222,8ff.): Itaque cum Romanum Imperium, quod ceteris mundi regnis obfuscatis solum regnare videbatur, cum et ipsipeccatis exigentibus iusto Dei iudicio ea, qua aliis mensum erat gentibus, mensura remetiendum fuit. 118 So S p ö r l , Civitas Dei S.319. 119 Vgl. Ottos Schreiben an Rainald (oben Anm. 111/38), Chr. 6,22 (oben Anm. 111/87) und Chr. 4,31 (oben Anm. 111/93); vgl. Chr. 6,17 (S. 278,2 f.) zum Übergang von den Karolingern auf die Sachsen: humanam miseriam variumque rotatum ostendunt. 120 Vgl. vor allem Chr. 4,31 (S.222,31 ff.) zum Fall Westroms: Exclamare contra rerum mutabilium miserias tempore et loco exigente cogimur. Ecce enim regnum illud maximum ac potentissimum, quod solo nomine gentes ante terrebat, orbem concutiebat, iam paulatim decrescendo et ex prima irruptione, quae sub Alarico facta est, dehonoratum, postmodum in concukationem barbaris patuit. Et ut apertiora quae diximus fiant, misera Urbs primo ab Alarico, secundo a Giserico capta tantum ac populata, nunc vero ab Odoacro non solum capta, sed iure principis in potestatem ac Imperium per XIIII annos lacrimabiliter subacta invenitur. - Im folgenden vergleicht Otto Babylon und Rom (oben Anm. 111/45). 121 Vgl. Chr. 2,49 (S. 127,13 ff.) zu den römischen Bürgerkriegen: Videres lacrimabilem ac miserabüem pugnam, cives toctus orbis dominos in se divisos cum tocius orbis viribus ad invicem dimicare; vgl. Chr. 2,51 (S. 129,7 ff.): omnibus bene ordinatis ac compositis intestino ac civilo mala in se ipsam ruens miserabiliter eviscerabatur (nach Orosius, Hist. 6,14,3). Zum Krisencharakter der translatio vgl. auch v o n Μ ο ο s S. 156 f. und R e h m S. 37.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

157

D i e Veränderlichkeit der W e l t spielt sich gleichsam „ g e o r d n e t " , nach einem

erkennbaren

Plan ab. D i e

mutationes,

w i e sie sich in

der

Translationslehre zeigen, sind v o n G o t t g e w o l l t u n d bewirkt 1 2 2 , u n d gerade diese Planmäßigkeit des Geschichtsablaufs läßt d e n ordo

historiae

erkennen u n d enthüllt damit einen Teil des göttlichen Willens: D e m M e n s c h e n offenbart sich das W i r k e n G o t t e s in e i n e m g e s e t z m ä ß i g e n Ablauf des spezifisch irdischen, d e m W a n d e l u n t e r w o r f e n e n G e s c h e hens 1 2 3 . Aussagekräftig für das Geschichtsbild gerade in bezug auf die Regna-Lehre ist auch der Bilderzyklus der Jenaer Handschrift, besonders nachdem Scheidig (S. 99) auf den engen Zusammenhang zwischen Chroniktext und bildlicher Darstellung hingewiesen und den Zyklus als ein zeitgenössisches Werk erwiesen· hat, das wahrscheinlich in Schäftlarn als Kopie des Widmungsexemplars an Friedrich Barbarossa entstanden ist und somit in enger Beziehung zu Otto selbst steht 124 , und seit Lammers (Geschichtsbild S. 210 ff.) die Kongruenz der Bildaussagen mit der Geschichtsdeutung der Chronik herausgearbeitet hat. Der Zyklus stellt - neben den heilsgeschichtlichen Anfängen der Geschichte, dem Paradies und der Sintflut (fol. 10a)125 - vornehmlich den Aufstieg und Fall (Symbol der „schwebenden Krone" über dem Haupt) 126 der Weltreiche dar 127 , 122 Chr. 4,35 (S. 259,10ff.): Igitur cum regnum Francorum, ad quod post innumeras, quas supra dixi, mutationes regnum Romanorum devenerat, cum et ipsum ad ostendendas mortalium miserias ac instabiles mundi rotatus auctor omnium Deus in illo, ad quem profecerat, statu manere nollet, in se ipsum miserabüiter dividi ac per hoc desolari et imminui permisit. 125 Vgl. G o e z S . 119. - S c h m i d l i n , Weltanschauung S.35ff. und nach ihm S ρ ö r 1, Civitas Dei S. 303 f., sprechen von drei festen Gesetzen in der Geschichte, dem Gesetz der Vergänglichkeit aller Dinge, dem Gesetz des Elends (das allerdings im ersten Gesetz aufgeht) und dem Gesetz der räumlichen Bewegung von Osten nach Westen (dazu unten S. 158 f.). 124 Vgl. auch L a m m e r s , Geschichtsbild S. 173. 125 L a m m e r s, Geschichtsbild S. 178 f., zeigt, wie Otto in dieser Zeichnung die gesamte Menschheitsgeschichte von der Erschaffung über die Sünde zum Gericht, das im Titulus angesprochen ist, zusammenfaßt. 126 Hier zeigt sich, welchen Wert Otto den Insignien als Symbolen für die Herrschaft beimißt. 127 Nicht folgen kann ich L a m m e r s, wenn er aus der Darstellung der Weltreiche Andeutungen auf die civitas terrena herausliest: Wenn ein solcher Zusammenhang auch nicht völlig auszuschließen ist, so liefern die Zeichnungen selbst dafür doch keinen Anhaltspunkt. Offensichtlich geht es Otto hier weniger um die beiden civitates als um das Prinzip der mutabüitas. Treffender ist L a m m e r s ' Hinweis (S.212), in den Zeichnungen herrsche eine ausgesprochen politisch-historische Perspektive vor; der Zyklus, so schließt L a m m e r s S.214, stammt von dem Reichsfürsten, nicht von dem Mönch und Gelehrten Otto (wenngleich gerade die mutabilitas-LehTe Ausdruck der Gelehrsamkeit Ottos ist!). Vgl. oben S.48.

III. Der Geschichtsablauf

158

den Bau (fol. 10a) und Fall Babylons (fol. l l a / 2 0 a ; dazu Lammers S. 180 ff.), den Fall Karthagos (fol. 20b), den Bau (fol. 20a; dazu Lammers S. 187 f.), Höhepunkt (fol. 20b/38b: Cäsar/Augustus) 1 2 8 und Fall der Stadt Rom (fol. 53b: Einnahme durch Odoakar; dazu Lammers S. 197), deren Restaurierungsversuch in jüngster Zeit durch den Widerstand des Papstes vereitelt wurde (fol. 91b; dazu Lammers S. 208); den Aufstieg (fol. 54a) und die Translation der Herrschaft auf die Franken (fol. 67b: Karl; dazu Lammers S. 198 ff.) 1 2 9 sowie den Niedergang des Fränkischen Reichs (fol. 68a; dazu Lammers S. 200 f.); die Translation auf die Deutschen (fol. 78 b; dazu Lammers S. 201 ff.) sowie den Kampf zwischen Kaiser und Papst (fol. 79a; dazu Lammers S. 203 ff.) 1 3 0 und zwischen Vater und Sohn (fol. 91b; dazu Lammers S. 206 f.). Innozenz II. als Abschluß des Zyklus symbolisiert gleichsam den Ubergang der Herrschaft auf die Papstkirche (schon vorher stellt eine Zeichnung - fol. 39b - das Ende der Christenverfolgung dar): Mit den Translationen weisen auch diese Miniaturen auf den mutabilitas-ChArakter aller Geschichte hin 1 3 1 . (6) Die O s t - W e s t - W a n d e r u n g : der

Welt

Prinzipien

folgt

nun

(regna):

nicht Mit

nur

seiner

D i e planmäßige E n t w i c k l u n g

zeitlichen Lehre

und

politischen

einer (dreifachen)

(aetates)

Ost-West-

W a n d e r u n g 1 3 2 fügt O t t o der zeitlichen eine räumliche O r d n u n g hinzu, wie sie ja auch schon die geographische L a g e ( H i m m e l s r i c h t u n g e n ) der W e l t r e i c h e b e s t i m m t hatte ( o b e n A n m . I I I / 3 7 ) 1 3 3 ; und bezeichnenderweise spricht der B i s c h o f auch hier v o n transLztiones,

u m den Z u s a m -

128 Dazu L a m m e r s S. 189ff., der hier (wie auch sonst gelegentlich) seine Schlüsse stärker aus der Chronik selbst als aus den Tituli der Bilder zieht. 129 Repräsentationsbilder der Herrscher (Augustus, Karl, Otto) symbolisieren jeweils diese Translatio der Herrschaft (vgl. L a m m e r s S . 203: Die Herrscher präfigurieren sich nacheinander). 130 Gegen L a m m e r s ' Deutung, daß diese Szenen das Ende der Zeiten symbolisieren sollen, spricht die Tatsache, daß noch zwei weitere Bildszenen folgen. 151 Vgl. L a m m e r s S. 182f. und S.210ff. 132 Diese zeitgenössische Lehre findet sich vor allem bei Hugo von St. Viktor (De vanitate mundi II, M i g n e PL176, Sp.720; De area Noe morali 4,9, ebda. Sp.677f.; Excerptiones allegoricae 1,23, M i g n e PL177, Sp.202; Didascalicon 3,2, M i g n e PL176, Sp.767, ed. B u t t i m e r S.52); vgl. dazu E h l e r s , Hugo S. 123ff. (zu Otto S. 134f.) und Ernst B e n z , Ost und West in der christlichen Geschichtsanschauung, Welt als Geschicht e l , 1935, S.488-503. - Eine direkte Abhängigkeit Ottos (so H a s h a g e n S.30; F o l z , Augustin S. 335) läßt sich nur schwer nachweisen; man wird darin vielleicht auch eine weiter verbreitete Ansicht vermuten müssen. 133 St ab er, Eschatologie S. 123 spricht von einem gleichzeitigen und gleichsinnigen Lauf von mundus und saeculum. In diesem Zusammenhang erhält auch die kurze Erdbeschreibung, die Otto - wie schon Orosius - seiner Chronik voranstellt (Chr. 1,1), eine erhöhte Bedeutung.

III.2. Zeiteinteilungen und Weltreichslehre

159

menhang solcher Ordnungskategorien von vornherein

herauszustel-

len 1 3 4 : (1) Zunächst ist mit den Weltreichen die Herrschaftsgewalt (potentia) im Laufe der Menschheitsgeschichte von Osten (Babylon) nach Westen ( R o m ) gewandert; unter Karl dem Großen wiederholte sich diese translatio

von O s t (Griechen) nach West (Franken) innerhalb des

Römischen Reichs, des omnium

regnorum

maximum

( C h r . 5,32 - S.

2 5 7 , 2 5 ff.). (2) Gleichzeitig bewegte sich die Wissenschaft (sapientia)135

allmählich

von ihrem Ursprungsort im O s t e n (Babylon) über Ägypten, Griechenland (die Philosophen!) 1 3 6 und R o m zu ihrem Endpunkt im Westen (Gallien und Spanien). Die überlieferungsbedingte Zunahme des Wissens (oben

S. 134 f.) verteilt

sich

also

auch

geographisch

auf

einander

ablösende (Kultur-) Träger. Die Beispiele zeigen, daß O t t o bei der sapientia wieder die Wahrheitserkenntnis im A u g e hat.

Chr. 5 prol. (S. 227,1 ff.): Et sicut supra dixi, omnis bumana potentia vel sapientia ab Oriente ordiens in occidente terminari cepit. Et de potentia quidem humana, qualiter a Babiloniis ad Medos et Persas ac inde ad Macedones et post ad Romanos rursumque sub Romano nomine ad Grecos derivatum sit, sat dictum arbitror. Qualiter vero inde ad Francos, qui occidentem inhabitant, translatum fuerit, in hoc opere dicendum restat. Sapientiam autemprimo in oriente, id est in Babylonia, inventam ac inde in Egyptum, eo quod Abraham tempore famis illuc descendit, translatum fuisse Iosephus in primo Antiquitatum libro ostendit. ... Dehinc derivatam ad Grecos philosophorum tempore idem auctor innuit. ... Deinde earn ad Romanos sub Scipionibus, Catone ac Tullio et precipue circa cesarum tempora, poetarum grege diversa carmina condnente, acpost ad ultimum occidentem, id est ad Gallias et Hispanias, nuperrime a diebus illustrium doctorum Berengarii, Managaldi et Anshelmi translatum apparet. - Vgl. G o e z S. 118. 135 An anderer Stelle auch säentia (Anm. III/140). Uber den Zusammenhang von potentia und sapientia vgl. oben Anm. 1/232. Zum Gedanken einer translatio studii im Abendland vgl. S t a b e r S. 122 ff., G ο e ζ S. 117 ff., Etienne G i 1 s ο η, Les idees et les lettres, Paris 1932, S. 183 ff., D e r s., La Philosophie au Moyen Age, Paris 21944, S. 193 f. und A. G. J o n g k e e s , Translatio studii: les avatars d'un theme medieval, in: Miscellanea Mediaevalia in memoriam Jan Frederik N i e r m e y e r , Groningen 1967, S.41-51 (zu Otto S.43f.). 136 Griechenland, das „eher Gesetze als Brot hatte", gilt Otto traditionell als Hort der Weisheit; vgl. Chr. 1,16 (S. 51,11 ff.): Grecia, quae ceteras precellit gentes sapientia; Chr. 1,27 (S. 62,5 f.).: tarn ingenio quam eloquio ceteris Grecipreferantur gentibus; es ist fons philosophiae (Chr. 3,14 - S. 150,13; vgl. Chr. 2,19 - S. 89,3 ff.). Athen ist (nach Augustin, De civitate Dei 18,9) nobilissima illa: liberalium artium philosophorumque maximorum nutrix (Chr. 1,17-S. 52,25 ff.). Noch Otto berichtet, Griechen und Römer haben sich wegen ihrer affinitas morum et linguae von den barbari, den anderen, abgehoben, tamquam rationis acumine et oris venustate minus utentes (Chr. 1,27 - S. 62,1 ff.). 134

160

III. Der Geschichtsablauf

(3) Neben potentia und sapientia unterliegt schließlich noch die Frömmigkeit (religio) der Ost-West-Entwicklung; sie ist - in Gestalt des Mönchtums - von ihrem Ausgangspunkt in Ägypten allmählich in das Frankreich und Deutschland der Gegenwart gewandert137. Otto stellt hier gewissermaßen die (heils-)geschichtswirkenden Kräfte der irdischen Geschichte vor: Es sind die reges (potentia), die doctores (sapientia) und die religiosi (religio). Mit potentia, sapientia, religio ist bereits das im 13. Jahrhundert beliebte, erstmals wohl von Alexander von Roes 1 3 8 entwickelte Schema imperium, Studium, sacerdotium vorweggenommen 1 3 9 , das die drei Grundpfeiler dann allerdings auf verschiedene Zentren innerhalb Europas verteilt: das Kaisertum auf das Reich, die Wissenschaft auf Frankreich (Paris), das Priestertum auf Rom und Italien (Papstkirche). Statt der Priesterkirche stellt Otto das Mönchtum in den Vordergrund.

Wie schon der translatio-Begriii nahelegt, ist auch die Ost-WestWanderung nicht nur Symbol der Ordnung und des göttlichen Geschichtswirkens, des ordo historiae, sondern zugleich - wie die Regna-Lehre - Zeichen für die dauernde Veränderung, die volubilitas, und damit für die Unvollkommenheit (defectus) der irdischen Zustände, die dennoch von Gott sicher gelenkt werden 140 . Die Ordnung des Geschichtsablaufs hat noch einmal den Entwicklungsgedanken herausgestellt: Zeit, Herrschaft und geschichtsbestim-

137 Chr. 7,35 (S. 372,30ff.): Manent autem, sicut olim in Egypti, sie et nunc in Galliae Germaniaeque partibus habundantius, ut in hoc haut mireris potentiae seu sapientiae ab Oriente ad occidentem translationem, cum de religione itidem factum eniteat. - Das Mönchtum spielt bei Otto in der eigenen Zeit eine ganz besondere Rolle (dazu unten S. 271 ff.). Β e η ζ S. 501 ff. hebt dagegen eher eine Ost-West-Wanderung des Kirchenprimats hervor. 138 Alexander von Roes, Memoriale Kap. 25 (ed. Herbert G r u n d m a n n und Hermann H e i m pel, MG Staatsschriften des späteren Mittelalters 1, 1958, S. 126 f.). 139 So L a m m e r s , Einleitung S. LVs. Zur Ideengrundlage dieses Schemas vgl. Alois D e m ρ f, Sacerdotium, Imperium, Studium. Menschheitsbewußtsein im Mittelalter, Studium generalel4, 1961, S.683-92, zur späteren Tradition Herbert G r u n d m a n n , Sacerdotium - Regnum - Studium. Zur Wertung der Wissenschaft im 13. Jahrhundert, Archiv für Kulturgeschichte 34, 1952, S. 5-21 (vornehmlich zu Alexander von Roes). 140 Das ist, soweit ich sehe, bisher nirgends beachtet worden. Vgl. Chr. 1 prol. (S. 8,18 ff.): Egiptus quoque magna ex parte inhabitabilis narratur et invia. Hinc translatam esse scientiam ad Grecos, deinde ad Romanos, postremo ad Gallos et Hyspanos diligens inquisitor rerum inveniet. Et notandum, quod omnis humanapotentia seu scientia ab Oriente cepit et in occidente terminatur, ut per hoc rerum volubilitas ac defectus ostendatur.

III.3. Sinn und Aufgabe des Geschichtsablaufs

161

mende Kräfte bewegen sich auf einen Endpunkt zu, indem sie sich verändern, weil sie - als Teil der Schöpfung - dem Prinzip der mutabilitas unterworfen sind. In dieser Eigenschaft, nicht schon in ihrem historischen Dasein selbst, sieht Otto den Sinn des Geschichtsverlaufs für den Menschen, dem aus der Einsicht eine entscheidende Aufgabe zufällt.

3.

S i n n und A u f g a b e des G e s c h i c h t s a b l a u f s

Der geordnete Verlauf einer sich dauernd wandelnden Geschichte macht dem Menschen sowohl Gottes lenkende Hand wie das Prinzip der irdischen Ruhelosigkeit bewußt: Mit dem Sündenfall, der den Menschen in diese Welt mit ihrer Vergänglichkeit setzte, war der Beginn einer im Wandel begriffenen Geschichte geschaffen, die es von nun an zu überwinden galt141. Der Mensch leidet unter der mutabilitas (Otto verwendet das Bild des sich dauernd drehenden Rades), er strebt daher der stabilitas und der constantia zu und erhält hier seine heilsgeschichtliche Aufgabe142, wird sein Ziel jedoch erst in der Zukunft, in der ewigen Seligkeit143, erreichen (Chr. 1 prol. - S. 6,10ff.) 144 : Sepe multumque volvendo mecttm de verum temporalium motu ancipttique statu, vario ac inordinate proventu, sicut eis inherendum a sapiente minime considero, sie ab eis transeundum aemigrandum intuitu rationis invenio. Sapientis enim est officium non more volubilis rotae rotari, sed in virtutum constantia ad quadrati corporis modum firmari. Proinde quia temporum mutabilitas stare non potest, ab ea migrare, ut dixi, sapientem ad stantem et permanentem etemitatis civitatem debere quis sani capitis negabitf Haec est civitas Dei Ierusalem caelestis, ad quam suspirant in peregrinatione positi filii Dei confusione temporalium tamquam Babylonica captivitate gravati.

Otto stellt diese Erkenntnis seiner Chronik gleichsam programmatisch voran. Das irdische Leben wird zu einer Pilgerschaft (peregrinatio), die,

Vgl. Chr. 6,9 (oben Anm. 11/134). Mutabilitas und stabilitas haben, wie M ü l l e r , Theologie S. 95, feststellt, neben dem ontologischen und ethischen auch einen theologischen Aspekt: stabilitas ist die Heiligkeit. 143 Vgl. Chr. 8,33 (S. 451,28 ff.): Quod enim aliud est vita etema quam ipsa beatitudo ? Si enim esset vita temporaria, beata non esset, quae de termino sollicita foret. 144 Vgl. R a u h S . 3 3 5 . 141

142

162

III. Der Geschichtsablauf

mit ihrer Vergänglichkeit145, relativ abgewertet als eine babylonische Gefangenschaft erscheint; sie bildet als Stand der Buße, als Strafe für den Sündenfall einen gewiß notwendigen Entwicklungsabschnitt, aber niemals die letzte Erfüllung146! Aufgabe und Mittel zu ihrer Überwindung ist die theoretische (ratio) und praktische (constantia virtutum) Abkehr von der Vergänglichkeit (transitoriae res) und Veränderlichkeit des Zeitlichen (motus rerum temporalium) durch Tugendübung und Hinwendung zum ewigen Ziel, zur civitas eternitatis. Der Weise, der sich der Tugend verschreibt, handelt auch historisch richtig, weil ihm die Zukunft gehört147: Sittliches Handeln (als Folge rationaler Erkenntnis!) trägt einen eschatologischen Charakter, denn es leitet den Menschen auf seinem Weg zum Heil. Drei G n a d e n g a b e n G o t t e s erlauben es dem Menschen, sein Ziel zu erkennen und zu erstreben: (1) Da ist zunächst jene S p u r v o n W a h r h e i t s e r k e n n t n i s (vestigium cognoscendae veritatis), die der barmherzige Gott einigen Menschen auch nach der Vertreibung aus dem Paradies belassen hat. (Chr. 4,4 - oben S. 132); vestigium bezeichnet dabei den kleinen „Rest", der an Wahrheitserkenntnis verblieben ist, vor allem aber den „Weg" dorthin, die „Spur", der der Mensch zu folgen hat. Dieser ist zu dem Zweck mit Verstand (ratio) begabt, damit er seinen Schöpfer und die Wahrheit148 zu erkennen vermag; und aus dem gleichen Grund ist ihm die

145 Vgl. Chr. 1,32 (S. 66,3 ff.)zum Untergang Babylons: Exaggerare hoc loco mutabilium rerum miserias non est necesse (nach Orosius, Hist. 2,6,13, jedoch an anderer Stelle; vgl. H a s h a g e n S.27). Ecce enim potentissimum istud regnum, quamvis nondum penitus destructum, mutatione tarnen sui omnimodis sibi minatur interitum. Quid ergo dicemus, qui rebus transitoriis inherere cogitamus, dum eas mutari, mutatas Labi, postremo omnino deleri videmusi Quod quidem in Babylonia Deo adiuvante ostendemus impletum et in universo mundo procul dubio ex multis scripturae locis evidentissimisque indicüs expectamus implendum. 146 Dazu unten S. 228 f. 147 So K l i n k e n b e r g S.68. - Ahnliche Gedanken über die Aufgaben des sapiens finden sich in einem anonymen Kommentar zur Augustinusregel aus dem 12. Jahrhundert; vgl. dazu Stefan W e i n f u r t e r , Vita canonica und Eschatologie. Eine neue Quelle zum Selbstverständnis der Reformkanoniker des 12. Jahrhunderts aus dem Salzburger Reformkreis (mitTextedition), in: Secundum regulam vivere. Festschrift P. Norbert Β ac km und, Windberg 1978, besonders S. 153 ff. 148 Als imago Dei hat der Mensch materiam investigandae veritatis auch in sich selbst (Chr. 7 prol. - S. 307,7 ff.). - Ähnlich wie Otto bezeichnet Hugo von St. Viktor,

III.3. Sinn und Aufgabe des Geschichtsablaufs

163

aufrechte Haltung verliehen, die ihn gen Himmel blicken läßt 149 : Wieder ist Gotteserkenntnis das eigentlich Entscheidende, und die ratio, der der Bischof von Freising eine so bedeutende Rolle beimißt (oben S. 43 ff.), ist streng auf den Heilsweg bezogen. Es ist bezeichnend, daß nach dem Sündenfall nur einige (quidam) Menschen die Wahrheitserkenntnis behalten haben, also fähig sind, den Weg zu finden. Otto meint damit nicht schon diejenigen, die die göttliche Gnade zur Erlösung führt, sondern alle, die dank ihrer ratio überhaupt den richtigen Weg erkennen (dazu unten S. 232 f.). Stabilitas ist nicht zufällig gerade das Ziel des Weisen (sapiens), also desjenigen, der die wahre Bestimmung mit Hilfe der ratio begreift 150 , und er ist bezeichnenderweise mit demjenigen identisch, der den Weg zur Erlösung findet 151 . Es ist die ratio, die den „unsagbaren" (ineffabilis) Gott, auf menschlich unvollkommene Weise, „sagbar" macht (Chr. 3 prol. - S. 131,22 ff.). Ottos Geschichtswerk wäre nun als Ausdruck einer solchen Theorie überflüssig, wenn die ratio sich auf theoretische Spekulationen über die Wahrheit beschränkte und sich nicht vor allem auch auf die praktische Erfahrung bezöge, indem sie den Wahrheitsgehalt der göttlichen Offenbarung, also auch (und gerade) der von Gott planmäßig gelenkten Geschichte erarbeitete, die, wie Otto immer wieder betont, eine Abkehr von den irdischen Dingen lehrt und sich damit als Erziehungsmittel Gottes erweist (vgl. oben S. 88 f.) 152 . Die

Excerptiones allegoricae Kap. 1,1 (Migne PL 177, Sp. 193), cognitio veritatis und amor veritatis als Gnadengaben an den Menschen. Zur Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen im 12. Jahrhundert vgl. Luwig H ö d l , Zur Entwicklung der frühscholastischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, in: L'homme et son destin d'apres les penseurs du moyen age (Actes du premier congres international de philosophie medievale 1958), Louvain-Paris I960, S. 347-59. 149 Chr. 7 prol. (S. 307,2 ff.): Omnis homo capax ad hoc rationis est, ut auctorem suum Deum cognoscatfactaque sua ceco corde non transeat, surdis auribus non audiat. Dertique ad hoc aeatum hominem esse forma quoque corporis non in modum ceterorum animantium acclinis, sed caelum respiciendo sublimis probat. Über das Wissen als Gnadengabe Gottes vgl. oben Anm. 11/36. 150 Über den Zusammenhang von ratio und sapientia vgl. auch Chr. 7 prol. (S. 307,2 ff.). 151 Schließlich zählt Otto vor allem Theologen und Philosophen zu den Weisen (Chr. 2,8 - oben S.66). - Wie Honorius in seiner kurzen Imago mundi neben den politischen Größen stets die großen Denker als Vorbilder erwähnt, führt auch Otto immer die Weisen der Geschichte (Augustin, Boethius usw.) an. 152 So S c h m i d l i n , Weltanschauung S.51 ff.; vgl. auch L a m m e r s , Einleitung S.XLVII; M ü l l e r , Theologie S.24; F o l z , Augustin S.336.

164

III. Der Geschichtsablauf

Erkenntnis des wankelmütigen Charakters der Geschichte führt zur Verachtung der Welt und zur Liebe Gottes und bewahrt vor der verdienten Verdammung 153 . Insofern ist Spörl, Civitas Dei S. 309 f., zurückzuweisen, der den entscheidenden Unterschied zwischen Augustin und Otto darin sehen will, daß bei dem mittelalterlichen Historiker der pädagogische Wert der Geschichte zurücktritt zugunsten eines Eigensinns der historischen Ereignisse, nämlich der visionären Schau des wahren Imperium ckristianum! Spörl verwechselt hier einmal das transzendente Ziel der Geschichte mit ihrer irdischen Vollendung und übersieht außerdem, daß eben dieser „Eigensinn" erst das Erziehungsmittel bildet: Ziel der Geschichte ist die Ewigkeit, ihr Sinn deren Erkenntnis als absoluter Wert des Seins überhaupt.

(2) Die Erkenntnis allein nützt nun wenig ohne den Willen, ihr zu folgen; deshalb ist dem Menschen neben der ratio das liberum arbitrium verliehen, das zwar auch die Voraussetzung für seinen Fall und die Herrschaft der civitas mundi bildet, in erster Linie aber ein eigenes, freiwilliges Handeln erlaubt 154 : Der Mensch hat die Möglichkeit der freien Entscheidung (für oder gegen Gott), er muß seinen Entschluß dann jedoch vor Gott verantworten; mit der Freiheit ist also eine Verpflichtung verbunden; je mächtiger (also auch freier) der Mensch ist, so ermahnt Otto den Kaiser, desto größer ist auch seine Sünde (Chr. S. 2,6 ff.). Otto greift mit dem liberum arbitrium einen augustinischen Grundgedanken mit seinen geschichtstheologischen Konsequenzen auf, setzt dessen Kenntnis aber bei seinen Lesern gleichsam voraus, ohne ihn - wie seine Quelle oder manche seiner Zeitgenossen 155 - im einzelnen zu entwickeln. Der freie Wille bleibt bei ihm auch nicht, wie bei dem Kirchenvater, auf die Glaubensentscheidung beschränkt, sondern wirkt sehr konkret in historische Tatbestände hinein, wenn die Geistlichen von

153 Chr. 5,9 (S. 242,32 ff.) zum Tod des Heraklius: Haec omnia ad contemptum mundi amoremque Dei, qui et sperantes in se remunerat ac contempnentes condempnat, nos provocate deberent. - Selbst ein factum tarn mirabile quam miserabile wie die Niederlage des Cyrus gegen eine Frau (Thameris) führt ad amorem Dei contemptumque mundi (Chr. 2 , 1 4 - S . 83,3 ff.). 154 Chr. 3 prol. (S. 131,27ff.): Igitur si Deus ... divitias bonitatis suae volens ostendere ecclesiae suae diutissime in propriae libertatis arbitrio civitatem mundi permisit temporaliter florere, culpandus non est, tarn quod eam propriae voluntati deseruit, quam quod electis suis istius comparatione castigatis divitias bonitatis suae ostendit. 155 Vgl. vor allem Honorius Augustudunensis, Inevitabile und De libero arbitrio; Alger von Lüttich, De libero arbitrio; Bernhard von Clairvaux, De gratia et libero arbitrio.

III.3. Sinn und Aufgabe des Geschichtsablaufs

165

Tortona, die Friedrichs Gnade erbitten, sich darauf berufen, daß sie eher durch die divina Providentia als durch ihr eigenes arbitrium in einer aufsässigen Stadt gewohnt haben (GF 2,26 - S. 330,18 ff.). Die Erwähnung der divina Providentia verbürgt, daß arbitrium an dieser Stelle ebenfalls im heilsgeschichtlichen Sinn zu verstehen ist. Entgegen der Argumentation dieser Geistlichen bemühen sich jedoch alle mittelalterlichen Theologen seit Augustin, die sich mit dem Problem beschäftigt haben, um den Nachweis, daß freier Wille und göttliche Lenkung keinen Gegensatz bilden 156 ; das Argument der Geistlichen von Tortona ist deshalb nicht stichhaltig, weil der Mensch trotz aller göttlichen Lenkung selbstverantwortlich ist, und konsequenterweise erhört der Kaiser ihre Bitten nicht.

(3) Der Weg zum Heil führt schließlich notwendig (und ausschließlich) über den G l a u b e n an den Erlöser Christus 157 und die christlichen Gebote 158 . Otto nimmt jenes bekannte Bild auf 159 , nach dem der christliche Glaube dem sicheren Schiff gleicht, das die Christen durch das Meer des Lebensweges zum rettenden Hafen der Ewigkeit trägt, so daß sie nicht gezwungen sind, wie Fische im unsicheren Wasser zu schwimmen 160 . Welche Bedeutung Otto dem Glauben, gerade auch gegenüber der ratio, dort beimißt, wo beide auseinanderzufallen drohen, haben wir bereits beobachten können (oben S. 43 ff.), und er versteht/iJes streng im Sinne der kirchlichen Dogmatik! Bereits der Ritus spielt für ihn, der sich in seinem Taufverständnis bewußt von manchen Zeitgenossen

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Für Augustin, der sich von den Pelagianern abheben will, ist der Wille auf die Glaubensentscheidung bezogen und auf das Gute, die recta vita, ausgerichtet. Die Prädestination wird zu einem Vorherwissen Gottes abgeschwächt (vgl. De civitate Dei 5,9 S. 202 ff.; 14,11 - S . 29,1 ff.). Nach Honorius, der auf Anselm von Canterbury zurückgreift, geht die Freiheit auf in dem Wunsch, das Richtige zu tun, also Gottes willen zu erfüllen (Inevitabile, Μ i g η e PL 172, Sp. 1200 C). 157 Chr. 3 prol. (S. 130,28 f.): Per me tantum salubriter itur, ad me veraciter pervenitur, in me vitaliter permanetur. 158 Chr.4,18 (S. 206,2ff.): mihi tarnen, qui Christiana regula stringor, necessarium erit credere praeter haec neminem salvari posse. 159 Vgl. Augustin, Enarratio in ps.103, Sermo4,4 (ed. D.E. D e k k e r s u. P. F r a i p o n t , Corpus Christianorum, Ser. lat.40, Turnhout 1906, S. 1524); vgl. dazu M ü l l e r , Theologie S. 61. 160 Chr. 6 prol. (S. 261,28 ff.): Civesergo Christinon morereptiliumsalomergivelinfidis eius procellis inprovide se credere, sed navi, id est ligno crucis, fide navigare manusque per dilectionem operando exercere inpresenti oportet, utper hums vitae viam adportum patriae securi valeant pervenire. - Zum Bild des Meeres (als antichristliches Element) vgl. R a u h S.334.

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III. Der Geschichtsablauf

(wie Hugo von St. Viktor oder Bernhard von Clairvaux) abhebt161, eine entscheidende Rolle für das Heil, denn für den Freisinger Bischof ist eine Erlösung ohne christliche Taufe undenkbar162. Wie für seine Zeitgenossen163 wird Christus für Otto zum Mittelpunkt der Geschichte. Das C h r i s t u s b i l d Ottos von Freising hat Müller, Theologie S.39ff., behandelt: Danach hat Christus natürlich als Erlöser den Sündenfall des ersten Menschen aufgehoben und das Heil erneut ermöglicht 164 , doch sieht Otto in ihm weit mehr noch den Lehrer der Gnade, den neuen Gesetzgeber und das Tugendvorbild, das den Menschen den Weg zeigt (ein Zeichen, wie Müller S. 54 sagt, von Ottos seelsorgerischer Tendenz). Ottos Erlöservorstellung ist vor allem durch die Demut Christi geprägt, der den Menschen gerade hierin zum Beispiel wird; demgegenüber treten hohepriesterliche Funktion, Sühnetod und sakramentale Gemeinschaft im Christusbild zurück (Müller S. 48). Im Vordergrund der Chronik aber steht nicht das theologische Christusbild, sondern die historische Ausprägung der Wirkung Christi, sein (göttliches) Königtum (während die menschliche Natur vernachlässigt wird); über Orosius hinaus hebt Otto bei der Erläuterung der Augustustheologie die Herrschaft Christi schon auf Erden hervor 165 . Christus bildet die höchste Stufe der Monarchie (apex monarchiae: Chr. 3,6 - S. 142,23 ff.). Schon mehrfach hat man festgestellt, daß der hochmittelalterliche Bischof das „Reich Christi" sehr historisch versteht und in der Kirche wiederfindet (vgl. Chr. 4,4 - oben S. 133:

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Chr. 4,18 (S. 205,11 ff.); vgl. Η ο f m e i s t e r, Edition S. 205 Anm. 2); G r i 11, Bildung S.288ff. und S.298f. Hugo von St. Viktor, De sacramentis fidei 2,6,7 ( M i g n e PL 176, Sp. 452 ff.) äußert sich allerdings sehr vorsichtig; vgl. auch C ο η g a r, Lehre von der Kirche S. 99 f. - Zum Taufverständnis des 12. Jahrhunderts vgl. A . L a n d g r a f , Die frühscholastische Definition der Taufe, Gregorianum 27, 1946, S. 200-219 und 353-83. 162 Damit folgt Otto jedoch der überwiegenden Mehrzahl der zeitgenössischen Theologen; vgl. Johannes B e u m e r , Ekklesiologische Probleme der Frühscholastik, Scholastik 27,1952, S. 183 ff.; dieselbe Meinung hat auch Augustin vertreten; vgl. C o n g a r S.4. 163 Vgl. vor allem Κ a h 1 e s S. 11 ff. und Μ a g r a s s i S. 125 ff. zu Rupert von Deutz; zur Wirkung der Sakramente Κ a h 1 e s S. 47 ff. Hugo von St. Viktor teilt die gesamte Geschichte danach in ein opus conditionis und ein opus restaurationis; vgl. De sacramentis fidei I, prol. 2 ( M i g n e PL 176, Sp. 183); De vanitate mundi Kap.2 (ebda. Sp. 176); De scripturis Kap.2 (PL175, Sp. 11); vgl. E h l e r s , Hugo S.40; Hugo teilt sogar seine Chronik nach diesem Schema ein; vgl. B a r o n , Chronique S. 177. 164 Dieser Aspekt steht etwa bei Hugo von St. Viktor (als opus restaurationis) im Mittelpunkt. - Nach M ü l l e r , Theologie S. 66 f., symbolisiert die Himmelfahrt Christi die Erlösung als Aufnahme der Menschen in den Himmel, trägt also eine geschichtstheologische Bedeutung. 165 Chr. 3,6 (S. 142,15 ff.) zu den Parallelen zwischen Babylon und Rom (vgl. oben S. 141 f.): Quod quidem tuncprefigurabatur, sed iam completum esse, Christum scilicet non solum in caelis regnare, sed et in terris regibus omnibus imperare, luce clarius cernitur. - Vgl. A r b u s ο w, Liturgie S. 20 (Christus als Augustus).

III.3. Sinn und Aufgabe des Geschichtsablaufs

167

regnum suum, quod est ecclesia)166. Der Christ ist seinem König Christus zu Gehorsam und fides (= Treue = Glaube) verpflichtet! Hier werden lehnsrechtliche Züge in Ottos Gottesbild sichtbar. Christus spielt für den Ablauf der gesamten Weltgeschichte, in die er direkt (als König) wie indirekt (als Leitbild) hineinwirkt, also eine ganz besondere Rolle . Das zentrale Ereignis seiner Geburt belegt Otto bewußt (im Stil Frutolfs, aber mit teilweise abweichenden Zahlen) mit der Angabe aller denkbaren Ärenzählungen (Chr. 3,6 - S. 141,19 ff.), denn es bildet das wichtigste Datum der Weltgeschichte. Otto kommt es bei seiner Darstellung des Christusbildes offensichtlich einmal auf die historische Entwicklung (das Königtum Christi), zum andern aber auf den Weg zum Heil, die recta via, an, während das Erlösungswerk Christi - ganz anders als bei Hugo von St. Viktor - weitgehend zurücktritt168, aber doch ständig vorausgesetzt wird. Man wird aus den Beobachtungen Müllers also kaum Folgerungen in bezug auf Ottos Theologie ziehen können, wohl aber auf die Absicht, die der Bischof mit seinem Geschichtswerk verbindet. Vernunft, Entscheidungsfreiheit und Glaube sind Ausfluß der Gnade Gottes, ohne die die Seligkeit überhaupt nicht zu erlangen ist. Sie bilden die notwendigen Voraussetzungen, um dieses Ziel zu erkennen, zu erstreben und zu erreichen, geben also dem Menschen die Möglichkeit der Erlösung, ohne diese schon zu garantieren, denn nicht alle erkennen die Wahrheit; die Mohammedaner zum Beispiel sind weit vom Heil entfernt, weil sie Christus für einen Menschen halten, aber Mohammed als höchsten Propheten und sogar als Gottes Sohn verehren (Chr. 7 , 7 - S. 317,19 ff.) 169 . Nicht alle, die den Weg erkennen, vermögen ihm sodann auch zu folgen: Es ist die Aufgabe des Menschen, von den Gnadengaben Gottes einen richtigen Gebrauch zu machen, um sich das Heil zu erwerben. Dabei spielen die Tugenden und guten Werke eine wichtige Rolle, ebenso entscheidend aber ist für Otto, der sich hier von seinen

164 Vgl. etwa M ü l l e r , Hand Gottes S. 121 ff.; vgl. unten S. 246). Die Vorstellungen von Christus als König im Spätmittelalter verfolgt Jean L e c 1 e r c q, ί'ίάέε de la royaute du Christ au moyen äge (Unam sanctam 32), Paris 1959. 167 Die seltsame Spannung zwischen Demut und Majestät Christi ist zeitgenössisch und steht dem Motiv des gekreuzigten Königs Christus in der romanischen Kunst sehr nahe ( M ü l l e r , Theologie S.54f.). 168 Wie schon beim Sündenfall verzichtet Otto auch hier auf Erklärungen (vgl. oben Anm. III/7); Honorius, Eucbaristion Kap.4 ( M i g n e P L 172, Sp. 1252) zieht eine Parallele zwischen der verbotenen (Apfel) und der rettenden Speise (Abendmahl). 169 Trotz seiner Teilnahme am Kreuzzug hat Otto also nicht gerade ein genaues Verständnis vom Islam.

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III. Der Geschichtsablauf

Zeitgenossen abhebt, die Grundhaltung, über die Gott schließlich urteilt170. Erneut fügt sich die Chronik in diese Aufgabe des Menschen ein, der aus der Geschichte, die den Späteren das abschreckende Beispiel der jeweils älteren Zeiten entgegenhält, zwei Lehren ziehen soll: Für die Zukunft gilt es, die aeterna stabilitas zu sichern; die Geschichte belehrt hier über den göttlichen Heilsplan. Um dieses Ziel zu erreichen, muß der Mensch aber auch in der Gegenwart ein entsprechendes Leben führen 171 . Bei seiner Beschreibung der Seligkeit betont Otto immer wieder, daß die menschlichen Verdienste in presenti vita (Chr. 8,29 - S. 440,22) über den Grad der beatitudo im ewigen Leben, die differentia progressionum et incrementa illuminationum (Chr. 8,31 - S. 447,4 f.), entscheiden172. Die Geschichte lehrt den Menschen, sich vom Hochmut ab- und der Demut zuzuwenden (oben S. 86 f.)173, für die Christus das überragende Beispiel bildet: Die mutabilitas gereicht auf diese Weise manchem durchaus zum Heil; die Umwälzungen unter den Kaisern Mauritius (Chr. 5,7), Heraklius (Chr. 5,9), Karl III. (Chr. 6,9 - oben Anm. 11/134) und auch Heinrich IV. dienten nach einer nicht unbegründeten Meinung wohl der Prüfung dieser Herrscher 174 . Der „Weg des Leidens" ist Christusnachfolge, Teilnahme am Leidensweg Christi, und führt auf den „Weg der Demut", über den man den „Weg der Verherrlichung" erreicht175. Auf diesem Weg hindern den Menschen die D ä m o n e n (die abgefallenen Engel), die zwar nicht in die göttliche Schöpfung einzuwirken und die menschliche Natur zu verändern, wohl aber den Geist (und damit den Willen) des

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Chr. 8,22 (S. 427,2 f.): Qui scrupulus facilius enodatur, si Deum non solum operum, sed et cordium esse scrutatorem intueamur. 171 Vgl. ähnlich Hugo von St. Viktor, De vanitate mundi Kap.4 ( M i g n e PL 176, Sp.740); zu Gerhoh von Reichersberg vgl. M e u t h e n S.22f. 172 Vgl. vor allem Chr. 8,31 (S. 447,11 ff.): Iuxta ipsius enim Domini testimonium, qui in modico fidelis est, supra multa constituetur, et qui bene ministrat, gradum bonum acquiret, quiafideles dispensatores fcclesiae tanto amplius coronantur in caelis, quanto magis verbo et exemplo gregem Domini pascentes desudaverunt in terris. 173 Chr. 7,24 (oben Anm. 1/311). Zur Demut vgl. M ü l l e r , Theologie S.59ff. 174 Vgl. Chr. 7,11 (S. 322,25ff.): Sunt tarnen, qui credant ei ad probationem, non ad dampnationem banc temptationem area finem suum contigisse, affirmantque ipsum elemosinis ac multis misericordiae operibus α Domino meruisse, ut excessus eius laseivaque ex fastigio regni conversatio hoc modo in presenti puniretur. 175 So M ü l l e r , Theologie S.56ff. Die Nachfolge Christi nimmt der mutabilitas den Schrecken, sagt M ü l l e r , der aber den Weg der Kirche, nicht des einzelnen Menschen verfolgt.

III.4. Das Ziel des Geschichtsablaufs im ewigen Leben

169

Menschen zu beeinflussen vermögen 1 7 6 . Die Dämonen wissen und können viel

pertnissu Dei, und zwar tarn ex subtilitate naturae quam ex antiquitate temporis et experentia rerum (Chr. 1,26 - S. 60,31 ff.); Otto erkennt ihnen also eine vom Menschen verschiedene Beschaffenheit zu, begreift sie zugleich aber als der Zeit unterworfene Wesen, die Erfahrungen sammeln! Da sie sowohl aves mundi wie cives Christi zu schaden trachten , sind sie zu meiden. Wie die Dämonen können aber auch die mali nur soviel Schaden anrichten, wie Gott ihnen erlaubt (Chr. 8 , 3 - S . 396,5 ff.).

Der Mensch behält in solcher Prüfung seine Entscheidungsfreiheit, und so führt dasselbe Ereignis (res) den Törichten zum Laster, den Weisen aber zum Wunsch nach ewigem Leben (Chr. 4,4 - S. 190,14 ff.). Die Geschichte der aetates und der regna mit ihrer mutabilitas strebt demselben Ziel zu, das sich auch der einzelne Mensch in seinem Leben mit seinen von Gott verliehenen Möglichkeiten und mit Hilfe der göttlichen Barmherzigkeit, die den richtigen Weg zur Wohnung im Himmel weist, für das ewige Leben sichern muß (Chr. 2,14 - S. 83,19 ff.).

4.

D a s Z i e l des G e s c h i c h t s a b l a u f s im e w i g e n

Leben

Otto erklärt - wie Augustin (De civitate Dei 22,1) - das Ziel, den (Wieder-) Aufstieg des Menschen, sehr konkret aus den heilsgeschichtlichen Anfängen: Gott will die durch den Abfall der Engel gelichtete civitas Dei durch die erwählten Menschen wieder auffüllen 178 ; daß es sich dabei gemäß der Überlieferung um ein Zehntel der Mitglieder handeln soll, bedeutet nach Otto allerdings keine genaue Zahlenrelation, sondern symbolisiert die Tatsache, daß die Menschen einen der zehn ordines der

176 Chr. 1,26 (S.60,24ff.): Ex his ergo ac similibus apparet demones quidem hominum naturam mutare non posse, sed occupatis Ulis corporis partibus, per quas ratio operari solet, mentem hominis obfuscare cementiumque oculos, ut hoc putent, ocultis machinamentis ac abditis naturae seminibus fasdnare. 177 Ebda. (S. 60,33 ff.): unde non solum cives mundi deapiant, sedetcivibus Christi, siab ipso non prohiberentur, noceant. 178 Chr. 8,31 (S. 448,19ff.): in illa civitate numerum electorum futurum ostendens, quantis ibi sanctorum remansit angelorum.

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III. D e r Geschichtsablauf

Erlösten bilden (vgl. unten S. 176 f.)179 und ihren Aufstieg, die Wiedergewinnung ihrer im Sündenfall verlorenen Seligkeit, dem Elend der abgefallenen Engel verdanken180. Dennoch klingt auch hier die biblische und von Augustin hervorgekehrte Lehre181 an, daß Gott alles nach Maß und Zahl geordnet hat; auch wenn dem Menschen Näheres nicht bekannt ist, so ist es doch sicher, daß Gott die Zahl und die Zuordnung der Erwählten eindeutig festgelegt hat182. Das große, durch Christus eingeleitete Restaurationswerk, in dem Gottes Gnade erst eigentlich zur Geltung gelangt, erhält hier einen gegenständlichen, „historischen" Charakter als Abschluß einer langen, mit der Schöpfung einsetzenden Entwicklung und einer durch den Sündenfall hervorgerufenen Strafpilgerung durch das saeculum. Otto verleiht dieser Überzeugung beredten Ausdruck, wenn er - in dieser Form einmalig in der gesamten Chronistik- seinen sieben Büchern der Chronik ein achtes über den dritten status der Menschheitsgeschichte, über die civitas aeterna, anfügt und diese damit deutlich in den heilsgeschichtlichen Ablauf integriert, und auch hier entwickelt er genaue Vorstellungen. Er beginnt mit einer Schilderung der eschatologischen

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Otto spricht an dieser Stelle die im Mittelalter so beliebte Zahlensymbolik an; vgl. dazu Guy B e a u j o u a n , Le symbolisme des nombres ä Pepoque romane, Cahiers de Civilisation medievale4, 1961, S. 159-69, und vor allem Heinz M e y e r , Die Zahlenallegorese im Mittelalter. Methode und Gebrauch (Münstersche Mittelalter-Schriften 25), München 1975. 180 Chr. 8,32 (S. 448,22 ff.): Sed inquiripotest, cum decima dragma tamquam angelorum parsperditaper homines restaurari debeat, quomodo tantusfiat numerus electorum, quantus ibi remansit angelorum. Ebda. (S. 449,27 ff.): Predictus ergo denarius vel centenarius, quia, ut dictum est, non ad numerum, sed ad significatum numeri nos mittit, nec ad hoc cogit, ut decimam partem seu centesimam corruisse credamus, nec ad hoc impellit, ut tantundem restaurandorum, quantum lapsorum numerum fore confiteamur, sed hoc tantum ostendit, quod illorum miseria istorum felicitate, illorum inperfectio istorum perfectione suppleatur. Zum Problem vgl. C h e n u , Theologie S.52ff. - Die Vorstellung geht auf Augustin, De civitate Dei 22,1 (S. 552 ff.), zurück und wurde gerade im 12. Jahrhundert wieder aufgegriffen; vgl. Honorius Augustudunensis, Inevitabile ( M i g n e PL172, Sp. 1211 ff.) und Liber duodecim quaestionum Kap. 3 f. (ebda. Sp. 1180). 181 Vgl. Augustin, De civitate Dei 11,30 und 12,18; Ders., De Genest ad litteram 4,3 (ed. Joseph Z y c h a , CSEL 28,1, Prag-Wien-Leipzig 1894, S.98f.). 182 Chr. 8,32 (S. 451,6 ff.): hoc tantum credentes, quodin libro sapientissimaeprescientiae Dei, quam nullum fugit profundum, nullum fallit secretum, certus est numerus electorum et verax corona pro meritis singulorum.

III.4. Das Ziel des Geschichtsablaufs im ewigen Leben

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Ereignisse183: Vor dem Weltuntergang wird die fortschrittliche Entwicklung noch einmal unterbrochen, und eine vorübergehende Erniedrigung des Gottesstaates wird die Ankunft des (durchaus historisch gesehenen) Antichristen einleiten184, der (nach Orosius) die elfte und letzte Christenverfolgung bringt (Chr. 3,45 - unten Anm. IV/189). Otto sammelt die Bibelstellen über den Antichristen 185 ; dieser stammt aus dem Geschlecht Dans (Chr. 8,1), dem Sklavengeschlecht 186 , und wird verkleidet und heuchelnd (per omnia in hypocrisi veniens), nämlich unter dem Schein der Frömmigkeit, auftreten 187 und sich einen Mächtigen (potens), vielleicht sogar den Kaiser selbst 188 zum Gehilfen nehmen, um die Gläubigen zu quälen: Manche, sagt Otto, verbinden das Wiedererscheinen Neros mit der Zeit des Antichristen (Chr. 3,16 - S. 155,30ff.); er sieht jedoch den Antichristen nicht im Kaiser selbst. Zu dieser Zeit brechen auch die Juden hervor, die einst Artaxerxes am Kaspischen Meer angesiedelt hat (Chr. 2,23 - vgl. Orosius, Hist. 3,7). Der Antichrist, den Otto vom Teufel unterscheidet, obwohl auch er, wie einst der Teufel, wegen seines Anspruchs der göttlichen Schöpfertätigkeit der superbia verfallen ist (Chr. 8,4 - S. 397,21 ff.) und sich hochmütig als Gott gebärdet, ist das

183 Zur Eschatologie im einzelnen vgl. S c h m i d i i n , Eschatologie; B ü d i n g e r (besonders S. 357 ff.); Η a s h a g e η S. 12 ff.; Η a i d (Bd. 45) S. 205 ff.; L a m m e r s, Weltgeschichte S.89f.; H a e u s l e r S.40f., der Ottos Exegese eher für eine selbständige Weiterentwicklung des Tradierten hält. - Zur Charakterisierung der Eschatologie im Denken Gottes vgl. S t a b e r, Eschatologie und M ü l l e r , Theologie S. 16 f. 184 Chr. 8 prol. (S. 391,29ff.): quae harte gloriam civitatis suae humiliatio, quae harte ruinam civitatis perversae momentanea sub Antichristo precedat elatio. 185 Dazu S c h m i d 1 i n, Eschatologie S. 449 ff.; Η a i d (Bd. 45) S. 207 f.; vor allem R a u h S.348ff.; H a e u s l e r S.34ff.; Richard Kenneth E m m e r s e n , Antichrist in the Middle Ages. A Study of Medieval Apocalypticism, Art and Literature, Manchester 1981, S.58f. Ottos Lehre vom Antichristen steht der Auffassung Gerhohs von Reichersberg in vielen Punkten entgegen; B ü d i n g e r S.344 betrachtet das Buch des Reichersberger Abtes geradezu als Entgegnung auf Ottos Lehre. Zu Unstimmigkeiten in der Lehre vgl. R a u h S. 360 f. 186 Gerade gegen diese Lehre, die sich vorher nur bei Irenaus findet (vgl. H a e u s l e r S. 34 f.), wendet sich Gerhoh, De investigatione Antichristi Kap. 1,2 (MG Libelli de lite 3, S. 309 f.). 187 Die Heuchelei als Bedrohung des Glaubens ist bezeichnend für Ottos Zeitalter, das sich selbst als Epoche der falsi fratres versteht; vgl. unten S. 212. - Seit Tyconius ist man der Ansicht, daß der Antichrist aus der Kirche selbst hervorgeht (vgl. R a u h S. 108). 188 Chr. 8,3 (S. 397,7ff.): Si qui vero unum eum potentem utpote Romanorum imperatorem ad hoc asscire contendunt et hurte bestiam dictum, non calumpnior. - Diese Idee geht auf die Tiburtinische Sibylle zurück (R a u h S. 143 und S. 531). Ganz anders urteilt der Ludus de Antichristo (ebda. S. 365 ff.), in dem der Kaiser dem Antichristen gerade am längsten von allen Herrschern Widerstand leistet. Ottos Vorstellung bildet auch im 12.Jahrhundert eher die Ausnahme (vgl. H a e u s l e r S.37 und S. 174).

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III. Der Geschichtsablauf

genaue Gegenbild Christi; anstatt zu erlösen, verführt er, die scheinbaren Schwächen der christlichen Doktrin ausnützend, die Törichten durch irdische Verlockungen, die Weisen aber durch Appelle an die Vernunft 189 , bedroht er das Heil der einen also durch die Verführung zu einem nicht christengemäßen, heilsbewußten Leben, das Heil der anderen durch Anstachelung zum Zweifel am richtigen Glauben überhaupt (Chr. 8,4 - oben Anm. 1/143). Der Antichrist ist die „negative Schlüsselfigur" der Geschichtstheologie (so Rauh S. 532). Die bestimmenden Grundzüge seines Antichristbildes hat Otto mit anderen Autoren gemeinsam; zu Recht aber betont Rauh (S. 346 f.) den eschatologischen Charakter seines Antichristen; anders als Tyconius, der die mittelalterliche Antichristvorstellung entscheidend geprägt hat (dazu Rauh S. 102 ff.), und als viele seiner Zeitgenossen190 verzichtet Otto auf eine figurale Auslegung, sucht er den Antichristen nicht bereits vor der Endzeit im geschichtlichen corpus diaboli; der Bischof von Freising betrachtet die Geschichte auch nicht wie Rupert von Deutz (Rauh S. 233 ff.) oder Honorius Augustudunensis (ebda. S. 256 ff.) als Kampf zwischen Christus und Antichristus, und er benutzt die eschatologische Gestalt des Antichristen nicht als Mittel einer Gegenwartskritik: Ottos Antichrist ist, wie bei Augustin (Rauh S. 121 ff.) oder bei Adso von Montier-en-Der (ebda. S. 156 ff.), eine einmalige historische Figur am Ende der Zeiten. Wenn Rauh (S. 350) Ottos Antichristen andererseits - im Vergleich mit der eher historisch gezeichneten Figur Adsos - als ein Wesen von gespenstischer Unwirklichkeit bezeichnet, dann mißversteht er die typische Historizität des Teuflischen. Rauh verkennt überhaupt das Wesen, die Realität, des figuralen Denkens (vgl. oben S. 80 ff.), wenn er (S. 528) die Kontinuität von Geschichte und Eschatologie im Mittelalter „nur" durch den Symbolismus, das heißt mit Hilfe von Sinnbildern, hergestellt sieht, da solche „Sinnbilder" durchaus ihren historischen Charakter behalten und ihrerseits nur als Abbilder einer vollendeten Wirklichkeit zu verstehen sind (vgl. dagegen seine durchaus treffende Erklärung der methodischen Herkunft des Symbolismus S. 9 ff.). Einseitig ist auch die Charakterisierung des ottonischen Antichristen als „die Verkörperung der Historia profana" (Rauh S. 536), da die „Profangeschichte" selbst Teil der Heilsgeschichte ist (oben S. 69f.); wohl aber ist der Antichrist Teil der civitas mundi (so Rauh S. 536). Bei der Betrachtung der „Figuren" des Antichrist (Pharao, Nero) spricht Rauh (S. 321 ff.) zu Recht von einem „latenten Symbolismus". Seine Zusammenstellung ist demgegenüber zu sehr von der Prämisse geprägt, daß civitas mundi und corpus Antichristi identisch sind. Indem Rauh (S. 333 ff.) auch die mutabilitas mundi als Zeichen des Antichrist wertet, erweckt er (von seinem Thema her) doch zu sehr den irrigen Anschein, als sei die gesamte

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Chr. 8,4 (S. 398,3 ff.): Sapientes ergo argumentis ac ratione inducens, stultos rerum temporalium delitiis alliciens, utrosque falsis promissionibus seducet. 1,0 Vgl. Β e i η e r t S. 343 ff.; zu Rupert von Deutz außerdem R au h S. 205, zu Anselm von Havelberg ebda. S. 282 ff., zu Gerhoh von Reichersberg ebda. S. 425 ff., C l a s s e n , Gerhoch S. 215 ff. und Μ e u t h e n, Gerhoh S. 135 ff.

III.4. Das Ziel des Geschichtsablaufs im ewigen Leben

173

Geschichtstheologie Ottos auf den Antichristen ausgerichtet, wenngleich ein gewisser Zusammenhang natürlich nicht abzustreiten ist. In erster Linie aber wird der Antichrist als der historische Widersacher vor dem Weltuntergang verstanden. Als historische Gestalt erfüllt auch der Antichrist eine heilsgeschichtliche Funktion, denn der Kampf gegen ihn stärkt den Glauben der Kirche191, und immer wieder betont Otto, daß der Sinn dieser letzten irdischen Ereignisse darin besteht, die Furcht des Menschen vor dem Gericht wachzuhalten (vgl. Chr, 8,7 - S. 400,8 ff.). Dreieinhalb Jahre wird die Herrschaft des Antichristen dauern (Chr. 8,6 S. 399,5 f.)192. Gege η ihn wirken zur gleichen Zeit zwei immer noch lebende Zeugen der älteren Zeitstufen, Enoch aus der Zeit ante legemm und Elias aus der Epoche sub lege (Chr. 8,5) m ; ihre Ermordung durch den Antichristen leitet dessen Untergang (und den Fall des ganzen Weltstaates) ein, dem die Bekehrung aller Juden folgt. Die Vernichtung des Antichristen gleicht der Vernichtung der Ägypter im Roten Meer (Chr. 3,45 nach Orosius, Hist. 7,27). Erst jetzt beginnt das Ende der Zeiten, obwohl Otto anscheinend auch den Antichristen schon zum 3. status rechnet (S. 391,25 ff.); Chr. 8,7 verzeichnet aber ausdrücklich einen Bruch zwischen dem Antichristen, der noch zur Welt zählt, und dem ultimum tempus, das zur Ewigkeit hinüberführt195. Die irdische Welt (seculum) wird durch ein reinigendes

191

Chr. 8,3 (S. 396,16ff.; vgl. zuvor oben Anm. 11/28): Sed querendum est, quare Dominus civitatem suam tarn inmaniter tribulari permittat, cur eius hosti tantam malefaciendi efficatiam tribuat. At non est mirum, si Dominus ecclesiam suam de nichilo suscitatam et ad summum in terra fastigium, ut supra diximus, exaltatam ante ultimae tnbulationis bravium, ne longo dissoluta otio in amore sui conditoris torpeat, excitatam gravissima prius exerceat palestra. 1.2 Vgl. auch Hugo von St. Viktor, De saaamentis fidei Kap.2,17,5 ( M i g n e PL 176, Sp.598B). 1.3 Enoch war seinerzeit der Welt entrückt und bis zu den ultima fcclesiae tempora an einem unbekannten Ort versteckt worden (Chr. 1,2 - S. 38,16 ff.). 1.4 Elias soll lebend in einem Wagen gen Himmel gefahren sein und dort weiterleben (Chr. 1,29 - S. 64,4 ff.). - Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen (und auch zu Augustin, De civitate Dei 20,29) glaubt Otto nicht an eine Neuankunft, sondern an ein Dauerleben des Elias (vgl. auch Chr. 1,2 - S. 38,19: vivus); zur Umgestaltung Augustins vgl. auch B ü d i n g e r S . 339f. 1.5 Die Handschriften aus Wien, Mainz und Straßburg (Überlieferung Β 2/3) fügen hier eine „Interctsio" ein und nennen das Ende des Kapitels (Chr. 8,7) „Prolog zum 8. Kapitel" mit der Überschrift „De futura vita".

174

III. Der Geschichtsablauf

Feuer vernichtet (Chr. 8,8) 196 , aber nicht völlig ausgelöscht (ad non esse), um nicht als anderes (aliud esse), sondern als ein verändertes Sein (aliter esse) mit von grundauf, nämlich vom Bösen zum Guten, geänderten Charakter wiederzuerstehen (Chr. 8,9) 197 . Verändert wird also nicht die substantia, die Wesenssubstanz (vgl. oben Anm. 11/88), sondern die Gestalt (figura): Das Geschaffene erhält eine neue, gereinigte Form (bleibt aber geschaffen)! Mit der Tilgung der Schuld wird gleichsam das Paradies in seiner ursprünglichen Gestalt wiederhergestellt198. Mit diesen Gedanken erläutert Otto zugleich, wie der Zustand der Seligkeit, der metaphysisch noch unerklärt geblieben war, für den Menschen als Geschöpf überhaupt denkbar ist, da die geschaffene Natur ja spezifisch (naturhaft) veränderlich ist; der Bischof hatte bisher nur auf die Gnade Gottes und das Beispiel der Engel verweisen können199. Hier nun ergänzt er, daß man sich den Ubergang als eine Änderung der forma unter Beibehaltung des subsistens (denn subsistens und substantia sind für Otto ja identisch) vorstellen müsse: Der Mensch bleibt Geschöpf, hat allerdings eine grundlegende Wandlung (transitio)200 durchgemacht und ein völlig verändertes Sein (aliter esse) erhalten201. Rein philosophisch freilich reicht auch diese Erklärung kaum als Beweis aus, da nichts von einer Stabilisierung der formae accidentales, die die Veränderung bewirken, verlautet: Die Aufhebung der Veränderlichkeit läßt sich letztlich nur durch den Willen Gottes begründen. Der Reinigung der Welt folgt die allseits bezeugte, durch den siebten Posaunenstoß eingeleitete Auferstehung der Toten (Chr. 8,14) 202 , die in 196 Dazu S c h m i d l i n , Eschatologie S.454ff. - Das Feuer erfüllt hier eine ähnliche, aber intensivierte Funktion wie das Wasser der Sintflut (S. 402,4 ff.). 197 Zusammenfassend Chr. 8,9 (S. 403,8 ff.): Sic ergo caelum et terra, dum transire dicuntur, nequaquam de esse ad non esse vergere velud abolenda, quod esset transire ad aliud esse, sed de hoc statu ad aliter esse, id est ad alium pulchriorem longeque excellentiorem, commutanda et transfiguranda asseruntur. 198 Ebda. (S. 404,2 ff.): Erit igitur non abolita substantia, sed mutata figura ,caelum novum, et terra nova', novo usui novo decore, novis corporibus decenterpreparata omnique inequalitate ac squalore deterso ad instar paradisi Dei purificata. - Vgl. S c h m i d l i n , Philosophie S.420f. ™ G F 1,5 (S. 134,29 ff.); vgl. oben S. 127 f. 200 Die Erklärung vom Begriff transire her (l.Joh. 13,1), der sich diversis modis verstehen läßt, entspringt letztlich dem exegetischen Versuch, zwei biblische Uberlieferungen in Ubereinstimmung zu halten, nämlich die Prophezeiung (Eccl. 1,4), die Erde bestehe ewig, und die Ankündigung (Ps. 101,27), Himmel und Erde würden vergehen (Chr. 8,9). 201 Chr. 8,9 (S. 402,19 ff.): Dicimus enim transire diversis modis: Est namque transitus de non esse ad esse vel de esse ad non esse vel de esse ad aliter esse. - Vgl. unten S. 234. 2 0 2 Dazu S c h m i d l i n , Eschatologie S. 456 ff. Otto spricht (nach Augustin, De dvitate Dei20,6) von einer doppelten resurrectio, nämlich 1) der Seele (resurrectio a morte animae),

III.4. Das Ziel des Geschichtsablaufs im ewigen Leben

175

ihrer etas iuvenilis und einer harmonisch schönen und gleichmäßigen Gestalt zu einem neuen „Frühling" 203 erweckt werden, wie Augustin bezeugt. Christus richtet, majestätisch inmitten der Heiligen thronend 204 , die Auferstandenen nach ihrem eigenen Gewissen und seinem Vorherwissen (prescientia conditoris)205. Dieses Gericht, glaubt Otto, wird noch auf der (allerdings inzwischen gereinigten) Erde stattfinden (Chr. 8,18). In dem letzten Status der Menschheitsgeschichte, der civitas aeterna, sind Gute und Böse geschieden206. Die Strafe der Verworfenen 207 besteht in einem ewigen Feuer (Chr. 8,20), das brennen, aber nicht leuchten wird, so daß dennoch Dunkelheit herrscht (Chr. 8,25), und das die verschiedenen Sünder je nach dem Grad ihrer Verworfenheit verschieden schlimm empfinden (Chr. 8,21). Deshalb erübrigt sich auch ein eigener Ort für weniger hartgesottene Sünder, ein Purgatorium (Chr. 8,24). Die Strafe der Bösen ist ewig, weil diese auch in der Ewigkeit den bösen Willen nicht ablegen (Chr. 8,22 - S. 427,4ff.) 208 , ja sie besteht überhaupt darin, daß die Verdammten weiterhin Böses planen, aber nicht mehr auszuführen vermögen; eine echte Reue, glaubt Otto, gibt es bei ihnen nicht (Chr. 8,28). Otto vermeidet eine genaue Aufstufung von neun ordines der Verdammten; er sucht überhaupt nur eine grundsätzliche Klärung und 2) des Körpers (de corruptione ad incorruptionem) (Chr. 8,10 - S. 404,29 ff.). Die Auferstehung setzt, wenn „Lebende und Tode" nicht figurhaft zu verstehen sind, den vorherigen Tod aller voraus (Chr. 8,13). 203 Otto hebt die Parallele zum Jahresablauf deutlich hervor: qui singulis annis mundum estivali fervore decoqui, autumpnali siccitate decoctum arefieri, biemali algore arefactum emori, veris benigna humiditate redivivo virore tamquam de morte suscitan conspicimus (Chr. 8,11 - S. 407,11 ff.). - Zur Allegorese der Jahreszeiten in der Heilsgeschichte vgl. Barbara M a u r m a n n - B r o n d e r , Tempora significant. Zur Allegorese der vier Jahreszeiten, in: Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung Bd. 1, München 1975, S. 98 ff. 204 Ein Teil der Guten ist also selbst Richter, ein Teil der Bösen dagegen schon gerichtet (Chr. 8,17), so daß es insgesamt vier Gruppen gibt: Die Guten unterteilen sich in Richter und Gerichtete, die Bösen zerfallen in Gerichtete und bereits Verdammte. 205 So deutet Otto die libri und das „Buch des Lebens" der Apokalypse (Chr. 8,16 S. 414,8 ff.). - Zum Gericht vgl. S c h m i d 1 i n, Eschatologie S. 460 ff. 206 Otto sieht diese Trennung in den Prophezeiungen über das isolierte Babylon offenbart (Chr. 8,20). 207 Dazu S c h m i d l i n , Eschatologie S.464ff. 208 Vgl. H a s h a g e n S . 1 5 . - Zur Auffassung der Zeitgenossen vom Purgatorium vgl. Jacques L e G ο ff, La naissance du Purgatoire, Paris 1981, bes. S. 181 ff.

176

III. Der Geschichtsablauf

übergeht - wenngleich auch bedingt durch mangelndes, durch die göttliche Autorität abgestütztes Wissen - jede konkrete Schilderung; er verzichtet also hier - etwa mit einer möglichst drastischen Beschreibung der Höllenqualen - auf jenen Abschreckungseffekt, den er sich in seiner Geschichtsschreibung dauernd im Hinblick auf die mutabilitas zunutze gemacht hat. Weit mehr Raum widmet der Bischof dem Zustand der Seligkeit209, der civitas Christi des neuen Jerusalem, das nicht wörtlich zu verstehen ist: Das ewige Leben ist nicht irdisch, sondern himmlisch; wenn das neue Jerusalem „vom Himmel herabkommt" (Apok. 21,2), so bedeutet das die tatsächliche Verwirklichung, die noticia und experientia dessen, was bisher nur in der scientia vorhanden war (Otto verwendet hier die Brautmetapher; Chr. 8,26 - S. 434,1 ff.). Die Erlösten werden wirkliche, aber unverwesliche Körper aus Fleisch und Blut haben (Chr. 8,27). Alle Erinnerung an Schmerzliches, alle eigene Erfahrung (experientia), wird ausgelöscht und durch gottgegebene Weisheit (sapientia) ersetzt, die nun das Verhältnis zu allem Vergangenen gestaltet (Chr. 8,28 - S. 439,22 ff.), so daß die Seligen vollkommene Freude empfinden können (S. 439,8 ff.). Otto stellt sich die ewige Seligkeit als einen Staat (respublica) vor (so nämlich interpretiert er die tabernacula der Apokalypse), eine curia, die, durch Nächstenliebe geeint, in verschiedene Abteilungen zerfällt210 (deshalb gebraucht der Psalmist den Plural)211. Die Erwählten sind zwar alle in einem einzigen Haus, aber doch „in verschiedenen Wohnungen" untergebracht, sie genießen deshalb zwar eine gemeinsame Seligkeit,

209 Darüber S c h m i d l i n , Eschatologie S.470ff. - Ottos Bericht geht vielfach auf Augustin, De civitate Dei Buch 22, zurück. Eine konkrete Vorstellung vom ewigen Leben entwickeln auch Hugo von St. Viktor, De sacramentis fidei 2,18 ( M i g n e PL 176, Sp. 609 ff.), und De vanitate mundi Kap. 2 (ebda. Sp. 718 ff.) sowie Honorius Augustudunensis, Elttcidarium Buch3 (PL172, Sp. 1157ff.; L e f e v r e S.443ff.). 210 Chr. 8,26 (S. 435,4f.): Sunt et tabernacula Dei tabernacula regnantium in caelestis patriae curia. - Zur Vorstellung des Jenseits in mittelalterlichen Visionen als Königshof vgl. Peter D i n z e l b a c h e r , Reflexionen irdischer Sozialstrukturen in mittelalterlichen Jenseitsschilderungen, Archiv für Kulturgeschichte 61, 1979, S. 16-34. 211 Ebda. (S. 435,15 ff.): Quia vero in caelesti curia diversa sanctorum angelorum contubemia karitatis nexu unam faciunt rem publicam, bene, quae psalmista tabernacula dixerat, hic tabemaculum vocantur. - Vgl. außerdem Chr. 8,31 (S. 446,30 ff.).

III.4. Das Ziel des Geschichtsablaufs im ewigen Leben

177

jedoch, je nach ihrem Verdienst, in verschiedener Weise 212 . Je größer sein Glaube und seine Gottesliebe in presenti vita, desto näher wird der Mensch in Ewigkeit Gott, dem splendor divini luminis, sein (Chr. 8,29 S. 440,18 ff.). Die aufsteigenden Menschen werden nämlich gemäß ihren geistigen Fortschritten und Gaben in die neun ordines der Engel eingegliedert (Chr. 8,31) 213 . Otto übernimmt bewußt das System des Pseudo-Dionysius Areopagita214, der die Engel in drei Hierarchien zu je drei ordines unterteilt, von denen nur die erste Hierarchie das göttliche Licht unmittelbar genießt, während es auf die übrigen jeweils weitergespiegelt wird (noch im ewigen Leben hält Otto also an der platonischen, gestuften Seinsordnung mit ihrem Abbildcharakter alles niederen Seins fest) (Chr. 8,30 - S.441,9ff.): Hierarchie: 1.

2.

Ordo (nach Chr. 8,30 - S. 441,7ff.): - Seraphim - Cherubim

Funktion (nach Chr. 8,30 - S . 442,28 ff.): perfecta dilectio cognitionis cognitio veritatis

- Throne

discretio iudicis

- Herrschaften (dominationes)

Formulierung der Befehle

- Gewalten (potestates)

Weiterleitung der Befehle

- Kräfte (virtutes)115

Befehl zur Ausführung

ständig unmittelbar zu Gott; keine auswärtigen Dienstleistungen •< Mittler zwischen der > ersten und der dritten Hierarchie

212 Chr. 8,29 (S. 440,5 ff.): Verum est igitur, quod singuli singulos denarios acdpiunt, et verum est, quod diversas mansiones inhabitantes, alius alio clarior existat, quia omnes quidem in unam beatitudinem recipientur, sed pro qualitate meritorum diversas ibi mansiones sortientur. - Ebda. (S. 440,29ff.): Pro diversitate igitur operum et capadtate singulorum varia et una beata tarnen omnium erit gloria sanctorum. 213 Nach anderer Auffassung werden die Menschen den Engeln als zehnter Ordo angegliedert; vgl. Honorius Augustudunensis, Libellus octo quaestionum Kap. 1 ( M i g n e PL 172, Sp. 1185C/D); Hugo von St. Viktor, De sacramentis fidei Kap. 1,5,30 (ebda. 176, Sp.260D> 214 Otto folgt Dionysios Areopagita in der Übersetzung des Johannes Scotus Eriugena, doch - wegen einiger Abweichungen - wohl nicht dem ursprünglichen Text, sondern dem Kommentar Hugos von St. Viktor; vgl. dazu B ü d i n g e r S . 3 6 2 f f . 215 In der ersten Aufzählung vertauscht Otto die dionysische Reihenfolge (potestates, virtutes) und macht sich damit die Argumentation Gregors des Großen zu eigen (vgl.

178 3.

III. Der Geschichtsablauf - Fürstentümer (prindpatus) - Erzengel

Entscheidung über die zu Entsendenden Gesandte

auswärtige Dienstleistungen

- Engel In der Reihenfolge 216 der Hierarchie folgt Otto - entgegen der geltenden zisterziensischen wie auch der Freisinger Liturgie, die sich an Isidor (Etymologiae 7,5,2) anschließt - Dionysios Areopagita, fügt aber (S. 444,1 ff.) hinzu, andere und damit ist vor allem Gregor der Große gemeint - setzten die Fürstentümer an die 5., die Gewalten aber an die 6. und die Kräfte an die 7. Stelle 217 , indem sie dem Sprachgebrach folgen, weil ein Fürstentum mehr sei als eine Macht: Das Schema betrifft letztlich gar nicht den Zustand der Seligkeit, sondern der irdischen Zeit, als die Engel noch in das Weltgeschehen eingreifen mußten, doch scheint das Otto in diesem Augenblick wohl nicht bewußt zu sein.

A r b u s o w , Liturgie S. 34 ff.); im folgenden (S. 443,23 ff.) hält er sich wieder an die Vorlage, verteidigt (S. 444,7 f.) aber ausdrücklich die abweichende Folge (Usu enim nostro plus est potestate agere quam virtute). 216 Vgl. dazu A r b u s o w , Liturgie S.34ff. 217 Zum Vergleich seien die Reihen nebeneinandergestellt: Reihe 1: Otto; Reihe 2: Johannes Scotus, Expositiones in Ierarchiam Coelestem Kap. 7-9 (ed. J. Β a r b e t, Corpus Christianorum, Cont. Med.31, Turnhout 1975, S.92/118/134) = Hugo von St. Viktor, Commentaria in hierarchiam caelestem S. Dionysii Areopagitae Kap. 6,7; 7,8, 9,9 (M i gn e PL 175, Sp. 1034/1073/1087), und De sacramentis fidei 1,5,30 (ebda. 176, Sp. 260) = Dionysius Areopagita (ed. G. H e i l , Sources Chretiennes 58, Paris 1958, S. 105ff./ 119 ff/128 ff.); Reihe3: Gregor der Große, Homil. in evang. 2,34,7/10 ( M i g n e PL76, Sp. 1249ff.) = Bernhard von Clairvaux, De consideratione 5,4,7 (Opera Bd. 3, S.472) und Sermo super Cantica Canticorum 19 (ebda. Bd. 1, S. 108 ff.) = Honorius Augustudunensis, Liber duodecim quaestionum Kap. 2 (M i g η e PL 172, Sp. 1179); Reihe4: Isidor, Etymologiae 7,5,4 (ed. W.M. L i n d s a y , Oxford 1911): 1 2 3 4 Seraphim Ser. Ser. (Σεραφιμ) Ser. Cher. Cherubim (Χερουβιμ) Cher. Cher. Thront Thr. Pot. (Θρονοι) Thr. Dominationes Dom. Princ. (Κυριοτήται) Dom. Potestates/Virtutes Virt. Wirt. (Δυνάμεις) Princ. Virtutes/Potestates (Εξουσίαι) Dom. Pot. Pot. Prindpatus Thr. Princ. (Αρχαι) Virt. Archangeli Arch. Arch. (Αρχαγγέλοι) Arch. Angeli Ang. Ang. (Αγγέλοι) Ang.

179

III.4. Das Ziel des Geschichtsablaufs im ewigen Leben „Seligkeit" bedeutet für O t t o A u f h e b u n g der Zeitlichkeit 2 1 8 , saeculum

des

mit seiner Veränderlichkeit, bedeutet ewige R u h e und Stabili-

t ä t 2 1 9 . Sie besteht darin, daß G o t t selbst unter den Seligen w o h n t , daß diese ihn sehen k ö n n e n (noticia

visionis).

O t t o b e t o n t hier wieder das

B a n d der G o t t e s ( e r ) k e n n t n i s 2 2 0 . D a r ü b e r hinaus ist die Seligkeit patio

an G o t t ( C h r .

8,26 -

S. 4 3 3 , 2 ff.). D i e eigentliche

partici-

Strafe

der

G o t t l o s e n besteht darin, daß sie G o t t nicht sehen! Mit der Betonung der visio Dei als dem höchsten und letzten Ziel des Menschen gliedert sich Otto - unabhängig davon, ob hier ein direkter Bezug zu Hugo von St. Viktor vorliegt - in das Streben seines Jahrhunderts ein, Gott erkennen zu wollen. Im Jenseits wird dieses Ziel, dem die Menschen dieser Zeit auf verschiedenen Wegen nahezukommen suchen, vollständig erreicht: Während Otto die Gottesschau damit heilsgeschichtlich als letztes Ziel der historischen Entwicklung darstellt 221 , postuliert (der Mystiker) Hugo sie bereits als Inhalt der dritten und höchsten Stufe geistiger Betätigung, der contemplatio (nach der cogitatio als dem konkret-bewußten Erfassen und der meditatio als der inneren Verarbeitung des so Erfaßten), die zur unmittelbaren Anschauung (visio) des Göttlichen führt 2 2 2 . M i t der G o t t e s s c h a u ist erfüllt, was die M e n s c h e n in diesem L e b e n schon anstreben, aber niemals wirklich erlangen k ö n n e n 2 2 3 , eine Seligkeit Vgl. L a m m e r s , Weltgeschichte S.87. M ü l l e r , Theologie S.32ff. hebt den Aspekt der Heiligkeit (verbunden mit der Unveränderlichkeit) hervor: Die Unwandelbarkeit wird gnadenhaft der neuen Schöpfung zuteil. 220 Vgl. Chr. 8,33 (S. 451,24f.): Est igitur beatitudo sanctorum visio conditoris sui; ebda. (S. 453,2 f.): Est ergo beatitudo videre Deum. Vgl. Chr. 8,26 (S. 435,34 ff.): illa vero civitate, ubi sie divina contemplatio omnes in id ipsum conglutinans beatificat, ut intemo et eterno gaudio perfecte suffusos foras evagari non oporteat, ,ipsipopulus eius erunt, et ipse Dens cum eis erit eorum deus' (Apok. 21,3). - Vgl. M ü l l e r , Theologie S. 32 f. - Vgl. auch Hugo von St. Viktor, De sacramentis fidei Kap.2,18,16 ( M i g n e PL176, Sp.613ff.). 221 Vgl. auch Honorius Augustudunensis, Inevitabile ( M i g n e PL 172, Sp. 1203B). S c h m i d l i n , Eschatologie S.481, spricht von einer mystischen Versenkung in die Glückseligkeit der Ewigkeit. 222 Hugo, In Salomonis Ecclesiasten homiliae\ ( M i g n e PL175, Sp. 116f.); vgl. E h l e r s , Hugo S.42. Auch Honorius, Liber duodeeim questionum 10 ( M i g n e PL 172, Sp. 1183 A) und Scala coeli major Kap. 3 (ebda., Sp. 1231B) unterscheidet drei Arten des Sehens, ein körperliches, ein geistiges (per similitudo) und ein intellektuelles Sehen, das der Kontemplation des Wesens (essentia) göttlicher Wahrheit gilt. - Diese Einteilung geht bereits auf Augustin, De Genesi ad litteram Kap. 12,11 (ed. Joseph Z y cha, CSEL28,1, 1894, S. 392 ff.), zurück. 223 Chr. 8,33 (oben Anm. 1/217) ebda. (S. 452,15ff.): Quanto desiderio in tenebrispositi desideramus hunc solem, quanto studio optamus banc lucem f Ebda. (S. 453,7 ff.): Quod quia in hac vita plene haberi non potest, illi caelesti civitati digne reservatur. 218

219

180

III. Der Geschichtsablauf

ohne alle leiblichen Sinne in geistigem Genuß, in der alle äußeren Freuden nur ad ornatum, nicht aber notwendig zugefügt sind (Chr. 8,33 S. 453 f.). Diese Seligkeit beendet den motus perturbationis (Chr. 8,34 S. 456,7 ff.). *

Der Geschichtsablauf vollzieht sich nach Otto in einer dualistischen Spannung zwischen einer heilsorientierten Bestimmung und einer langen, durch den Sündenfall bewirkten und der veränderlichen Natur alles Geschaffenen unterworfenen Entwicklung zum endgültigen Ziel; er ist geprägt von seinen Grundlagen, dem Wirken Gottes, das sich im ordo historiae niederschlägt, und von seinem „nativen" Charakter, der die mutabilitas bewirkt. Steht die Veränderlichkeit wiederum im Mittelpunkt des Geschichtsablaufs, so kreist Ottos Geschichtsdenken eher um ihren Gegenpol, die stabilitas, die es - über den Weg der Geschichte und mit den von Gott verliehenen Möglichkeiten des Menschen - zu erreichen gilt: Ottos Geschichtsbild ist teleologisch ausgerichtet; die Erfüllung der Heilsbestimmung liegt in der Zukunft der ewigen Seligkeit, der die Geschichte zustrebt, die aber nur ein Teil der Menschen erreichen wird. Ottos geschichtstheologische Historiographie ist geprägt von dem Wissen um Erlösung oder Verdammung, Uberwindung oder Verewigung der mutabilitas, und von dem Bemühen, den richtigen Weg aufzuzeigen und die Mitmenschen über die Bewußtseinsbildung zum richtigen Leben anzuhalten. Sein Geschichtsbild, das damit in seinen Grundzügen behandelt ist, wird nun überlagert von dem augustinischen Bild der beiden civitates, das sich in seiner Anschaulichkeit zwar ganz in diese eher abstrakten Züge der Geschichtstheologie einfügt, in der Forschung aber ein ungleich höheres Interesse gefunden hat und oft als der eigentlich geschichtstheologische Inhalt der Schrift gewertet worden ist. Die sich nun anschließende Analyse der Civitas-Lehre wird dagegen immer wieder auf die erarbeiteten Grundlagen, Ziele und Aufgaben des Geschichtsablaufs und seiner historiographischen Darstellung bei Otto von Freising zurückgreifen müssen und bereits dadurch aufzeigen, daß auch die Zweistaatenlehre nur von diesen Voraussetzungen her zu verstehen ist.

IV. DIE CIVITAS-LEHRE OTTOS VON FREISING

1. P r o b l e m e d e r C i v i t a s - L e h r e : F o r s c h u n g s b i l a n z Im Rahmen seines figuralen Denkens betrachtet Otto von Freising die gesamte in der Chronik dargestellte Weltgeschichte bekanntlich unter dem Aspekt der augustinischen Lehre von den zwei civitates, der ävitas Dei, zu der er sich hingezogen fühlt1, und der civitas terrena, die er lieber civitas mundi nennt2. Er setzt, wie schon Brezzi (Ottone S. 228) feststellt, die Existenz dieser Staaten voraus. Trotz vielfältiger Beschäftigung mit der „Zweistaatenlehre" ist bisher in zwei wichtigen Punkten keine Einigung erzielt worden. (1) Umstritten ist einmal die Frage der Abhängigkeit Ottos von seinen Quellen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die „Renaissance" des 12. Jahrhunderts tatsächlich in einem Rückgriff auf die patristische Tradition bestand, bei dem man auf der Suche nach neuer Abgrenzung auch Neues schuf und gewissermaßen eine „lautlose" Anpassung der Tradition an die eigenen Vorstellungen vornahm. Darin liegt gerade das Neuartige des 12. Jahrhunderts, denn das Frühmittelalter hatte sich in den meisten Fragen des Geschichtsbildes auf die Auswahl und Überlieferung des patristischen Gedankenguts beschränkt, weil es sich noch völlig mit der Tradition identifizierte3. Ein Vergleich mit diesen Vorlagen läßt nun die zeitspezifischen Merkmale des hochmittelalterlichen Geschichtsbil1 Otto spricht bezeichnenderweise von aves nostn (zum Beispiel Chr. 1,19 - S. 54,4 ff.); vgl. S t a u d i n g e r S.37 2 Dieser Dualismus bildet die Eigentümlichkeit des ottonischen Geschichtsbildes (L a m m e r s, Weltgeschichte S. 87 f.). F ο 1 ζ, Augustin S. 336, nennt die Civitas-Lehre das „fin objective" der Geschichte; S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 60, spricht von der civitas Dei als der Quintessenz der gesamten historischen Entwicklung. 3 Vgl. M ü l l e r , Hand Gottes S. 137ff.

182

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

des erkennen. O t t o s Civitas-Lehre geht auf Augustins Schrift De civitate Dei zurück (vgl. oben S. 55 ff.), doch schon die Zielsetzung unterscheidet sie von der apologetischen Tendenz des Kirchenvaters (oben S. 59 f.), wenngleich darin noch nicht notwendig auch ein Wandel der geschichtstheologischen Überzeugungen enthalten ist. Erst ein Vergleich beider Denker gestattet es, die spezifisch hochmittelalterlichen oder sogar „ottonischen" Elemente der Civitas-Lehre aufzuspüren. Die Frage der Abhängigkeit Ottos von Augustin ist bereits mehrfach behandelt, aber von Anfang an höchst unterschiedlich beantwortet worden 4 . Die ältere Forschung begnügte sich dabei mit eher pauschalen Urteilen: Gegenüber Bernheims These einer völligen Abhängigkeit (S. 17 f.) und Hashagens Lehre einer Übernahme, jedoch selbständigen Verarbeitung augustinischer Gedanken (S. 64 ff. und S. 97 ff.) stellte Schmidlin (Weltanschauung S. 10 f., 24 und 60 ff.) eher einzelne Unterschiede heraus. Später betonte auch Spörl (Grundformen S. 39 ff. und S. 43) die Eigenständigkeit des Bischofs von Freising, der den augustinischen civitas Dei-Begriff mit dem staufischen Reichsgedanken verschmolzen habe. Spörls Ansatz leitete eine Reihe von Untersuchungen ein, die beide Geschichtsdenker im engeren Vergleich einander gegenüberstellten, doch ebensowenig zu einem einhelligen Ergebnis gelangt sind: Gegenüber Spörl bestritten E. F. Otto (S. 259 f.), der allerdings bewußt die Gemeinsamkeiten hervorheben wollte, und vor allem Hartings jeden Unterschied zwischen beiden Denkern. Hartings gelangte in einem detaillierten Vergleich aller Einzelaspekte der Civitas-Lehre zu dem Ergebnis, daß sich alle Vorstellungen Ottos von Freising bereits bei Augustin vorgezeichnet finden; lediglich in der Darstellung, in dem Einspannen der Lehre in die Weltgeschichte, zeige Otto eigene Ansätze (S. 22 f.). Demgegenüber stellte Spörl, der Ottos eigene Leistung - sicher zu Recht - in der Anwendung der augustinischen Idee auf die Geschichtsschreibung erblickte (Spörl, Weltbild S. 12), in einem neuerlichen Aufsatz (Civitas Dei S. 307 ff.) noch einmal recht erhebliche Unterschiede fest, die sich vor allem in einem konkreten Verständnis der beiden Civitates manifestieren. Die Meinungen gehen also erheblich auseinander und scheinen sich gegenseitig zu modifizieren: Zeigt Hartings' Vergleich, daß Otto sich keineswegs so radikal von seiner Quelle entfernt haben kann, wie Spörl das annimmt, so wird auf der anderen Seite eine sklavische Abhängigkeit schon dadurch fraglich, daß Otto in seinen ontologischen Vorstellungen, wie Koch (S. 349) gezeigt hat, auf durchaus eigenem metaphysischen Boden steht und sich in manchen Fragen mehr an Gilbert von Porree (und Boethius) als an Augustin anlehnt. Ein Vergleich der Civitas-Lehre bei Otto und Augustin hängt außerdem von einem angemessenen Verständnis beider Denker ab und setzt folglich eine umfassende und klärende Darlegung ihrer Staatenlehren voraus; bei so manchem Vergleich hat man den

4 Einen Überblick über die älteren Ansichten geben H a r t i n g s S. 14ff. und H a i d (Bd. 45) S. 132 ff.

IV. 1. Probleme der Civitas-Lehre

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Kirchenvater jedoch recht einseitig verstanden. Vor wenigen Jahren hat nun Grabe 5 die Frage noch einmal aufgegriffen und die bisherigen Positionen an den Quellen überprüft: Ausgehend von der Feststellung, daß Hartings ihr Ergebnis einer völligen Kongruenz der Gedanken in einer verfehlten Argumentation allein aus der Intention des Bischofs von Freising ableitet, untersucht Grabe, ob Otto seinen Vorsatz, Augustin und Orosius getreu zu folgen, auch eingehalten hat (S. 34 f.). Zu Recht kritisiert er, daß die bisherigen Vergleiche auf einem völlig uneinheitlichen Verständnis der Zweistaatenlehre Augustins beruhten (S. 35 f.), und gelangt bei seinem eigenen Vergleich (S. 36 ff.) zu dem Ergebnis, daß Otto dem Kirchenvater nur in der vor- und frühchristlichen Zeit (S. 52 ff.) und wieder in der Eschatologie (S. 60) gefolgt ist, während er sich in der Zeit von Augustin bis zu seiner Gegenwart (S. 54 ff.) erheblich von seiner Vorlage entfernt habe. Mit dieser Differenzierung ist ein Fortschritt in der Beurteilung Ottos von Freising erreicht worden, doch bleibt weiterhin die Frage nach den geschichtstheologischen Grundlagen dieses Wandels offen.

Man muß Ottos Schrift andererseits auch in der Tradition der Übernahme augustinischer Lehren sehen. Das Werk des Kirchenvaters über den Gottesstaat war im Mittelalter weit verbreitet6, und entsprechend häufig finden sich Anspielungen auf die beiden Staaten7; vor allem die Deutung der biblischen civitas Dei als ecclesia ist völlig selbstverständ5 Norbert G r a b e , Die Zweistaatenlehre bei Otto von Freising und Augustin. Ein Vergleich, Cistercienser-Chronik 80, 1973, S. 34-70. 6 Vgl. dazu das großangelegte Werk der Wiener Akademie: Die handschriftliche Uberlieferung der Werke des heiligen Augustinus, bisher 5 Bde., (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 263/267,276/281,289,292,306,350), Wien 1969-79. 7 Hier können nur wenige Hinweise gegeben werden. Die Lehre wird schon bei den Zeitgenossen Augustins erwähnt und als bekannt vorausgesetzt (vgl. Paulinus von Nola, Ep. 28,1, CSEL29, S.242; Prosper Tiro, Expositio in ps. 133,13, M i g n e P L 5 1 , Sp.380; Ders., Liber sententiarum ex operibus Augustini delibatarum Kap. 156, ebda. Sp. 449 A, und Kap. 222, Sp. 458 B). In karolingischer Zeit nimmt zum Beispiel Agobard von Lyon, Ep. 3, Kap. 6 (MG Epp5, S. 160) auf die civitas-Lehre Bezug, um ein Gesetz Gundobads zu verurteilen, weil es von einem Häretiker erlassen ist. Später greifen Manegold von Lautenbach, Liber contra Wolfelmum Kap. 23 (ed. Wilfried H a r t m a n n , MG Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 8, S. 102), und Bonizo von Sutri, Liber ad amicum Buch 1 (ed. Ernst D ü m m 1 e r, MG Libelli de lite Bd. 1, S. 572,3 ff.), das Schema im Zusammenhang mit dem Kirchenstreit zwischen Königtum und Priestertum auf. Im 12. Jahrhundert geht Rupert von Deutz, Commentarii in XII prophetas minores: In Ηabac. 2 (Μ i g η e PL 168, Sp. 615C/D), kurz auf den Kampf zwischen Babylon und Jerusalem im Alten Testament und ihren späteren Sinnbildern, Rom (unter Nero) und die Kirche, ein; vgl. auch Petrus Lombardus, Commentarium in ps. 71, v. 16 ( M i g n e PL191, Sp.665), und Collectanea in epistolis Pauli apostoli: In ep. ad Galatas Kap. 4, v. 22-24 (ebda. 192, Sp. 150); Gerhoh von Reichersberg, Commentarium in ps. 45, ν. ί ( M i g n e PL 193, Sp. 1575), Ps.47, v. 2 (Sp. 1583), Ps. 64 (Brief an den Kardinalpriester Heinrich; MG Libelli de lite Bd. 3, S.439).

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

lieh geworden 8 . Doch begnügt man sich in der Regel mit solchen kurzen Andeutungen auf eine wohlvertraute Idee. Zusammenhängende und etwas selbständigere Darstellungen der Civitas-Lehre finden sich, soweit ich sehe, erst im 12. Jahrhundert wieder. Im Rahmen einer Predigt zur Kirchweihe (Sermo 83, Migne PL 171, Sp. 733 f.) geht der Bischof Hildebert von Le Mans ausführlich auf das Bild der civitas Dei als der collectio beatorum ein. Er betrachtet die Gottesstadt als einen seit Beginn der Welt andauernden und anwachsenden, aber noch nicht vollendeten, ewigen Bau, der im Himmel errichtet wird, dessen Steine, die Gläubigen (fideles), aber auf Erden „zugehauen" werden. Sie bilden die Dienerschaft (familia) Gottes; wer fleißig bei dem Bau mitwirkt, erwirbt sich das Königreich, während gleichzeitig zahlreiche Gegner den Bau zu verhindern suchen, so daß es täglich zum Streit kommt. In einer anderen Predigt (Sermo 113, ebda. Sp. 864 ff.) handelt Hildebert unmittelbar über das Problem der beiden civitates: Regnum Dei und regnum diaboli bilden zwei familiae, die sich seit dem Beginn der Welt unablässig bekämpfen. Wie bereits in einer weiteren Predigt zur Kirchweihe (Sermo 85, ebda. Sp. 739 ff.) beschreibt der Bischof dann die Stadt Jerusalem, die (himmlische) Kirche, im einzelnen9. Hildebert von Le Mans hat das augustinische Schema zu einem originellen Bild umgewandelt, ohne es doch inhaltlich entscheidend zu verändern. Traditioneller geht Rupert von Deutz vor, wenn er zwei generationes der reprobi und electi seit Kain und Abel unterscheidet10. Wie Hildebert betrachtet er die ävitates also von ihrer endgültigen Bestimmung her. Auch Honorius Augustudunensis kennt zwei populi der electi und reprobi (Inevitabile, Migne PL 172, Sp. 1211 f.), also der endgültig Erwählten und Verworfenen; er verfolgt den unterschiedlichen Weg der tugendhaften cives Hierusalem. und der lasterhaften 8 Vgl. schon Cassiodor, Expositio in ps. 136,1 (Corpus Christianorum latinorum98, 1958, S. 1231); Pseudo-Alkuin, Confessio fidei Kap. 3,26 (M i g η e PL 101, Sp. 1072 C); im 12.Jahrhundert Ps.-Haimo (von Halberstadt), Explanatio in Ps.45 ( M i g n e PL 116, Sp. 354 C); Glossa ordinaria: Uber leviticus 14, v.40 (ebda. 113, Sp.338D), aus der Schule von Laon; Rupert von Deutz, De gloria et honore füii hominis Buch 7 (ebda. 168, Sp. 1476 A); Garnerius von St. Viktor, Gregorianum Kap. 13,1 (ebda. 193, Sp. 389 f.). - Vgl. B e i n e r t S. 184ff. 9 Das ewige Jerusalem beschreiben auch Bruno von Segni, Sententiae Kap. 1,6 (M i g η e PL 165, Sp. 891 ff.), Rupert von Deutz, Commentarii in Apocalypsim Kap. 12 (ebda. 169, Sp. 1194 ff.), Richard von St. Viktor, In Apocalypsim Kap. 7,2 (ebda. 196, Sp. 860 ff.) und vor allem Hildegard von Bingen, Scivias (M i g η e PL 197; Teil III ed. Adelgund F ü h r k ö t t e r , Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 43 A, Turnhout 1978). Eine wohl aus der Schule Hugos von St. Viktor stammende Schrift (De claustro animae Buch 4, M i g n e PL 176, Sp. 1129-82) beschreibt die άvitas Hierusalem in ihrer historischen, mystischallegorischen (Kirche), tropologischen (Seele) und himmlischen Gestalt. 10 De victoria verbi Dei Kap. 2,21 (ed. Rhaban Η a a c k e, MG Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 5,1970, S. 69 f.); vgl. auch Kap. 6,7 (S. 190). - Zu Ruperts Lehre vgl. K a h l e s S. 152ff., M a g r a s s i S.142ff.

IV. 1. Probleme der Civitas-Lehre

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cives Babylon, die stets in Zwietracht miteinander leben (ebda. Sp. 1218 ff.), obwohl sie vermischt sind (Speculum ecclesiae: In conventum populi, ebda. Sp. 1093 f.): Der Kampf begann mit dem „himmlischen Bürgerkrieg", als der Teufel sich gegen Gott auflehnte, vom Erzengel Michael aber auf die Erde verbannt wurde, wo der Krieg nun fortgesetzt wurde: Honorius verfolgt ihn in der Geschichte (Sp. 1094 f.: Kampf des Pharao und Babylons gegen das Gottesvolk). Die civitas Hierusalem (Sp. 1095 f.) versteht Honorius als einen voll funktionierenden Staat mit allen Organen: Patriarchen, Propheten und Apostel sind die Regenten (rectores), die Prälaten dienen als Senatoren, die Märtyrer als Soldaten und die Gläubigen als Bürger. Sehr konkret beschreibt auch Hugo von St. Viktor den Kampf der beiden Staaten: Er unterscheidet zwei kultische Familien um Christus und den Teufel, die mit den - dem zeitlichen Wandel unterworfenen - Waffen ihrer Sakramente gegeneinander kämpfen; die familta Christi verteidigt sich dank der göttlichen Gnade nur mit Hilfe ihrer Geduld gegen die Angriffe (De sacramentis legis naturalis, Migne PL 176, Sp. 33; De sacramentis fidet Kap. 1,8,11, ebda. Sp. 312)11. Nach einer Predigt Hugos (Miscellanea 1,48, Migne PL 177, Sp. 496 f.) errichten die beiden populi zwei civitates, die sich seit ihren Anfängen in Kain und Abel um ihre Könige, den Teufel und Christus, scharen; sie bestehen aus den amatores mundi und den amatores Dei, zwischen ihnen herrscht ein ständiger Krieg, der Kampf zwischen Himmel (Jerusalem) und Erde (Babylon). Bei Anselm von Havelberg (Dialogi Kap. 1,7ff., Migne PL 188, Sp. 1149ff.; Salet S. 68 ff.) und Gerhoh von Reichersberg12 bewirkt das Schema der verschiedenen Verteidiger und Widersacher des Glaubens in der Geschichte immerhin eine Zweiteilung der Menschheit. Gerhoh (Commentarium inps. 64, MG Libelli de lite Bd. 3, S. 443) kennt zwei geistliche civitates (spiritualiter) der Guten und Bösen, die in ihrem Wesen (cupiditas - Caritas) und in ihrem Ziel (desiderium) einander entgegengesetzt, ansonsten aber vermischt sind. Ahnlich beschreibt Petrus Lombardus (Commentarium inps. 136, Migne PL 191, Sp. 1199ff.) die beiden dvitates der Guten und Bösen; der Teil Jerusalems, der aus Menschen besteht und zum ewigen Leben prädestiniert ist, lebt in der Gefangenschaft Babylons, das sein ganzes Streben auf den irdischen Staat und den irdischen Frieden richtet. Nach Wolbero von St. Pantaleon schließlich (Commentani in Cantica canticorum Kap. 1, v. 9, Migne PL 195, Sp. 1062 f.) bilden die beiden civitates der Gläubigen und Ungläubigen die Reiterei Christi und des Teufels; sie befinden sich in einem ständigen Kampf, weil sie einander entgegengesetzt sind: Die Gottesbürger suchen das Heil in der Zukunft, die cives diaboli dagegen auf Erden; die jetzige Kirche ist noch aus Guten und Bösen gemischt, so daß beide Staaten gewissermaßen in einem einzigen bestehen!

11 Nach E h l e r s , Hugo S.77, verwertet Hugo die civitates als exempla mit ethischer Tendenz. 12 Zu Gerhoh vgl. M e u t h e n , Gerhoh S. 126ff.; zu seiner Schrift De aedificio Dei ( M i g n e PL 194, Sp. 1193ff.) ebda. S. 112.

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

Aus diesen Beispielen wird deutlich, daß man die augustinische Lehre vielfach aufgegriffen, aber eigenständig verarbeitet und interpretiert hat, doch wird das Thema meist relativ kurz abgehandelt, und es ist entweder aus der Bibelexegese erwachsen oder zur Verdeutlichung theologischer Sachverhalte herangezogen. Nirgends kündigt sich der Versuch an, die Entwicklung beider Staaten systematisch zu verfolgen: Die Aufgabe, die civitates wie Augustin noch einmal im Verlauf der gesamten Weltgeschichte aufzuzeigen, hat sich erst Otto von Freising gestellt. Bei den übrigen Autoren klingt gelegentlich die Frage der Zusammensetzung beider dvitates an (Hildebert, Hugo), vorherrschend aber ist das Motiv der Auseinandersetzung zwischen beiden Staaten, das nahezu überall aufgegriffen und auf verschiedene Weise interpretiert wird. In Anlehnung an Augustin geht man meist auf die „ewigen" civitates der Erlösten und Verdammten zurück, verfolgt aber ebenso ihren Kampf in der Geschichte, für den es konkrete Beispiele gibt; andererseits sind die Staaten im Sinne Augustins auf Erden noch miteinander vermischt. (2) Das führt uns zu der zweiten umstrittenen Frage der CivitasLehre. Sie zielt auf das Wesen der beiden civitates ab und berührt damit das Kernproblem der „Zweistaatenlehre" überhaupt: Sind die civitates historisch nachweisbar oder handelt es sich um transzendente Gemeinschaften? Die Klärung der Beziehungen Ottos zu dem großen Kirchenvater hängt nicht zuletzt erst von den Untersuchungsergebnissen dieser zweiten, daher vorrangig zu behandelnden Frage ab, ist aber ständig im Auge zu behalten. Der Streit um den Charakter der beiden civitates bei Otto von Freising ist (fast) so alt wie die entsprechende Frage bei Augustin und bewegt sich zwischen zwei extremen Deutungen: Für die einen sind die beiden Staaten rein e m p i r i s c h e , also geschichtlich erfaßbare Gebilde, für die anderen sind es m e t a p h y s i s c h e G e m e i n s c h a f t e n , die sich erst in der Ewigkeit wirklich manifestieren13.

13 Als „klassische" Exponenten beider Richtungen werden immer wieder Karl H o l l , Augustins innere Entwicklung (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 1922,4), und Heinrich S c h o l z , Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustins „De civitate D e i " , Leipzig 1911, angeführt. Die Theorie der mystischen Staaten hat weit mehr Anhänger gefunden, wenngleich S c h o l z selbst eigentlich nur das Schwergewicht auf diesen Aspekt legen wollte.

IV. 1. Probleme der Civitas-Lehre

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Deutlicher als in der Augustinforschung hat man bei Otto jedoch scheinbar schon früh (Bernheim 1885; Hashagen 1900) erkannt, daß die Frage nicht rein alternativ zu entscheiden ist, daß Ottos civitas-Begriii vielmehr mehrdeutig, nämlich einmal empirisch, ein anderes Mal mystisch zu verstehen ist, ja Bernheim (S. 15 ff.) nahm sogar einen dreifachen, im Laufe der Geschichte wechselnden (und damit durchaus konsequent angewandten) civitas Dei-Begriff an: (1) In der Zeit des Alten Testaments war die civitas Dei die mystischtranszendente Gemeinschaft der Heiligen, (2) seit Christus aber die konkret-empirische Kirchengemeinde und (3) seit Theodosius ein corpus permixtum. Einen ähnlichen Wandel des Verständnisses, aber mit anderen zeitlichen Einschnitten, stellte Hashagen fest, der zudem Bernheims dreifachen Begriff zu einem zweipoligen Gegensatz vereinfachte: Der Bischof gehe zunächst von einem mystischen Verständnis aus14, identifiziere die civitas Dei dann aber in dem Volk Israel und später in der Kirche mit historischen Gemeinschaften, um am Ende noch einmal zu seiner mystischen Auffassung zurückzukehren 15 . Bei einer so strikten Anwendung waren im Grunde auch hier die Voraussetzungen für eine strenge Trennung zwischen einem empirischen und einem mystischen civitas-Verständnis gegeben, und schon bald entschied man die Frage wieder alternativ: Schmidlin (Weltanschauung S. 68 ff.), der nicht mehr vom Kirchenbegriff, sondern vom Geschichtsantagonismus zwischen der civitas Dei und der civitas mundi ausging, glaubte, bei Otto ein rein empirisches Verständnis der Staaten zu erkennen, da der Bischof von den drei immanenten Gegensätzen der Civitas-Lehre Augustins, nämlich (1) himmlisch-irdisch (ewig - zeitlich), (2) geistlich-weltlich (Kirche - Staat), (3) gut - böse (civitas Dei - civitas diaboli) den ersten und letzten aus der Geschichte (!) ausschließe und hier nur die Antithese Kirche und Weltstaat aufgreife (ebda. S. 62ff.): Otto versteht danach die civitas Dei konkret-historisch als christliche Kirche (S. 71 ff.), die zudem ein corpus permixtum bildet (S. 76). Erst in der im 8. Buch dargestellten Endzeit werden die civitates zu mystischen Gebilden (S. 102 f.). Mit der Abgrenzung empirisch = historisch und mystisch = transzendent hat Schmidlin gegenüber den älteren Annahmen eines schwankenden Verständnisses klarere Verhältnisse geschaffen; er gelangte aber zu seiner Lösung, indem er die endzeitliche Entwicklung streng von der „Geschichte" abtrennte, eine Deutung, die Ottos Geschichtsbegriff (oben S. 72 ff.) nicht gerecht wird. Noch stärker hat Spörl (Grundformen S. 42; Civitas Dei S. 312) in seinem Vergleich zwischen Augustin und Otto den empirischen Charakter der Staaten freilich in sehr einseitiger Auslegung Augustins - hervorgehoben: Otto sei der erste Geschichtsdenker, der „die Civitas Dei nicht ausschließlich als Idee einer auf

14

So auch wieder G r a b e S. 53 mit Bezug auf die alttestamentlichen Patriarchen. H a s h a g e n S.51 ff. (zusammenfassend S.66) begreift allerdings die „empirischen Staaten" sehr politisch-institutionell, wenn er (S. 61) das Mönchtum bereits zu den mystischen Gemeinschaften rechnet. Die gleiche Meinung vertritt auch F ο 1 z, Augustin S. 337. 15

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

Erden nicht konkretisierbaren Gemeinschaft der nach dem Geiste Lebenden versteht", sondern in der Hinordnung bestimmter Völker und Personengruppen auf die dvitas Dei ganz konkrete Gemeinschaften vorfindet, die sich im „Romanum Imperium Christianum" vollenden; nicht in der Kirche, sondern im Reich (das damit zugleich einen mystischen Zug erhält) sehe Otto also den Gottesstaat verwirklicht16. Eine Realisierung auf Erden - und darin liegt nach Spörl das eigentliche Kennzeichen der civitas-ldee des Freisinger Bischofs würde tatsächlich den metaphysischen Aspekt überflüssig machen, doch sieht Spörl die Dinge zweifellos zu einfach: Die Idee der mutabilitas alles Irdischen steht einer Vollendung des Gottesstaates auf Erden entgegen; Ottos Darstellung der eschatologischen Zustände im 8. Buch der Chronik (oben S. 169 ff.) lehrt außerdem deutlich genug, daß der Bischof hier mit anderen Verhältnissen rechnet. Hatte Schmidlin die Ewigkeit von der Geschichte abgetrennt, so übergeht Spörl sie ganz. In historischer Zeit aber finden beide sehr konkrete Repräsentanten der civitas vor. Auf der anderen Seite hat man die beiden Staaten überhaupt als metaphysische Gebilde verstehen wollen: Gerade weil keines der beiden Prinzipien auf Erden rein verwirklicht ist, Schloß Hartings (S. 69), daß die dvitates - wie bei Augustin metaphysische Gebilde darstellen müßten17, die in ihrem Wesen stets gleich blieben und nicht zeitweise auch empirischen Charakter annähmen, wie Bernheim und Hashagen meinten; „empirisch" sei nur die Mischung (dvitas permixta) erkennbar (S. 71); metaphysisch freilich ließen sich die Staaten nicht vorstellen, und deshalb träfe eine Konkretisierung allenfalls in bezug auf einzelne Bürger zu: dvitas könne daher nicht „Staat", dvitas Det nicht „Kirche" bedeuten (S. 42). Hartings stellt also die Interpretation des düito-Begriffs selbst in Frage18. Von einem auch nur annähernden Konsens hinsichtlich der CivitasLehre Ottos von Freising kann nicht die Rede sein; die Frage nach dem empirischen oder metaphysischen Charakter der beiden Staaten bedarf also einer erneuten Prüfung, für die die kurze Forschungsbilanz bereits Anhaltspunkte liefert: (1) Schmidlin und Spörl hätten kaum zu ihren Ergebnissen gelangen können, wenn Otto nicht immer wieder konkrete Gemeinschaften mit den Staaten identifiziert hätte 19 ; der Streit ging eher um das „letzte" als um das ausschließliche Verständnis des Freisinger Bischofs, wobei man offenbar zu leicht geneigt war, grundsätzliche Abgrenzungen vorzuneh16

Danach auch G r i l l , Bildung S.317f. Als rein metaphysische Größe versteht auch v o n d e n B r i n c k e n , Weltchronistik S. 227, die ottonischen civitates. 18 Vgl. unten S. 192 f. " Selbst H a r t i n g s S. 42 ff. stellt immerhin fest, daß sich Erscheinungsformen und Rang der civitates ändern! 17

IV. 1. Probleme der Civitas-Lehre

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men, ohne nach den jeweiligen Hintergründen zu fragen. Man wird noch einmal die historischen Manifestationen betrachten müssen, um die Streitfrage aus dem Wege zu räumen, hat dabei aber zugleich nach den Gründen und Kriterien ihrer Gemeinschaftsbildung zu fragen, um eventuelle Anhaltspunkte für ein mystisches Verständnis zu gewinnen. (2) Wenn die angesprochenen Lösungsversuche allesamt nicht befriedigen können, so scheint das nicht zuletzt an der Verabsolutierung jeweils eines der beiden Charaktere zu liegen. Nicht zufällig hatten Bernheim und Hashagen ja einen mehrfachen awtai-Begriff angenommen, den sie dann - in voneinander abweichenden Ansätzen - an die historische Entwicklung banden, ohne nach eventuellen Zusammenhängen zwischen beiden Auffassungen zu fragen; schließlich benutzt Otto stets die gleichen Begriffe der ctvitas Dei und ävitas mundi. Erst Eberhard Otto (S. 258) stellte 1938 den inneren Zusammenhang heraus, wenn er in der an Augustin angelehnten Civitas-Lehre Ottos von Freising ein durch den Glauben an den unmittelbaren Einbruch des Göttlichen in die irdische Wirklichkeit getragenes „Ineinander von empirischer und transzendenter Haltung" entdeckte und damit den krassen Gegensatz zwischen empirischen und metaphysischen Gemeinschaften lockerte. Die Forschung hat seinen Ansatz gelegentlich aufgegriffen, aber nicht weiterentwickelt. Folz, Augustin S. 336 ff., entdeckte bei Otto eine bald mystische, bald historische Sicht des Gottesstaates: Der Bischof denke stets an die Gemeinschaft der Heiligen, die sich aber im Laufe der Zeiten in den Vätern, dem Volke Israel und in der Kirche manifestiere. Müller spricht von einer „spannungsvolle^) Einheit von eschatologisch heiliger Civitas und sichtbarer Ecclesia . Eine schlüssige Erklärung für diese „Doppelsphärigkeit" aber hat man bisher nicht gesucht, und die neueren Ansätze der Augustinliteratur blieben von der Ottoforschung unbeachtet: Hier haben sowohl Kamiah 21 wie Ratzinger 22 Augustins civitates als empirische u n d metaphysische Gemeinschaften aufgefaßt und die Bezüge zwischen beiden Ebenen untersucht. Kamiah (S. 141) sieht in der empirischen Kirche (als Gottesstaat) die eschatologisch verstandene geschichtliche Gemeinde, während Ratzinger in seiner Gegendarstellung an Stelle des eschatologischen stärker den sakramentalen Bezug hervorhebt: Die Kirche feiert 20

Μ ü 11 e r, Theologie S. 93/96. Wilhelm Κ am Iah, Christentum und Geschichtlichkeit. Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins „Bürgerschaft Gottes", Stuttgart-Köln 2 1951. 22 Joseph R a t z i n g e r , Herkunft und Sinn der Civitas-Lehre Augustins, in: Augustinus Magister Bd.2, Paris 1954, S. 965-79 (abgedruckt in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter S. 55-75). 21

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

und ist zugleich Leib des Herrn. So sehr beide Erklärungsversuche auch auseinandergehen, sie teilen doch die Uberzeugung von einer gegenseitigen Durchdringung zweier Sphären (so Wachtel S. 119), die sich in der modernen Augustinforschung durchgesetzt hat 2 3 .

Eine Untersuchung der civitas-Idee darf nicht von vornherein von der Alternative „empirisch - mystisch" ausgehen, sie muß vielmehr auch die Möglichkeit in Rechnung stellen, daß Otto die beiden Staaten sowohl empirisch wie mystisch begreift, bzw. muß prüfen, ob diese Begriffe überhaupt angemessen sind, indem sie nach dem Verhältnis etwa zwischen der ewigen civitas Dei und ihrer irdischen Entsprechung fragt und die Kriterien sowohl ihrer Verbindung wie ihrer Abgrenzung erarbeitet. Dabei wird man auch den civitas-Begriff selbst noch einmal kritisch durchleuchten müssen 24 . Im folgenden ist also zu untersuchen, a) was Otto unter der civitas überhaupt versteht (Kapitel 2), b) welche konkreten Erscheinungsformen der civitates er registriert (Kapitel 3 und 4), c) wie es zu ihrer Bildung kommt, was die avitates also eigentlich ausmacht (Kapitel 5), d) wie er das Verhältnis der beiden Staaten zueinander sieht (Kapitel 6) und e) welche Bindungen zwischen den irdisch-empirischen Erscheinungsformen der civitates und ihrer mystisch-transzendenten Verwirklichung bestehen (Kapitel 7). f) Erst danach kann die Frage der Abhängigkeit Ottos von Augustin noch einmal aufgegriffen werden (Kapitel 8). Es wird sich bald zeigen, daß sich die gesamte Staatenlehre aus den geschichtstheologischen Vorstellungen heraus, die nun bereits dargelegt sind, erklären läßt. 23 M a r k u s S. 120ff. spricht von einer Durchdringung des Sakralen und Profanen im saeculum, die zu einer ständigen Spannung und Dualität zwischen der Kirche, qualis nunc est und qualis tunc erit, führt. Nur die Kirche hält diese Verbindung aufrecht, während das Reich, zumindest bei dem späteren Augustin, allein dem Weltlichen verhaftet ist. 24 Dieser Ansatz schließt sich an eine (noch nicht veröffentlichte) entsprechende Untersuchung über Augustin an, wo auf dieser Grundlage eine Erklärung gefunden ist, die mir die Probleme der civitas-Idee zu lösen scheint. Die Frage bei Otto ist kurz behandelt bei Hans-Werner G o e t z , „Empirisch" - „metaphysisch"? Zum Verständnis der Zweistaatenlehre Ottos von Freising, Augustiniana 30, 1980, S. 29-42.

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IV.2. Otto «'ui'to-Begriff 2.

Ottos

cifiiits-Begriff

Mit der Zweistaatenlehre übernimmt O t t o von Augustin auch die Terminologie, wenngleich er fast durchgängig den augustinischen Begriff civitas terrena

d u r c h die W e n d u n g civitas mundi,

einen ebenfalls, aber

n u r gelegentlich von Augustin verwendeten Ausdruck, ersetzt 2 5 . In diesem von Otto vorgenommenen Begriffswechsel darf man vielleicht wieder eine Frage des Weltbildes erblicken; wie für einige seiner Zeitgenossen26 umfaßt die Schöpfung mit dem mundus (Kosmos) für Otto mehr als nur die Erde (terraf7, ohne daß sie ihren „irdischen" Bezug verliert, wie schon die Wendung mutabilitas mundi zeigt. Ganz entsprechend seiner Philosophie (oben S. 110 ff.) stellt Otto nicht mehr so sehr den Gegensatz zwischen Himmel und Erde, Gott und dem Erdverhafteten (Deus - terrenusfl8, sondern zwischen Gott und der geschaffenen Welt (mundus) in den Vordergrund. An die Stelle des augustinischen Adjektivs (terrenus) tritt hier ein Substantiv: Der personifizierte mundus steht nun „Gott" gleichsam als Herr einer civitas gegenüber (civitas terrena war schon bei Augustin die Bezeichnung für diejenigen, die die Welt verabsolutiert und ihren Bezug zum Schöpfer mißachtet haben). Eine solche Deutung muß freilich hypothetisch bleiben, da Otto selbst den Begriff der civitas mundi nicht erläutert und an anderer Stelle mundus durchaus auch mit terra gleichsetzt29. Möglicherweise hat er doch nur eine moderne Entsprechung für Augustins civitas terrena finden wollen, zumal terrenus im Mittelalter nur spärlich verwendet wurde 30 . 25

Η a r t i η g s, die die Übereinstimmung der Gedanken Ottos und Augustins herausstellen will, übergeht diesen Unterschied. 26 Nach der Philosophia mundi Wilhelms von Conches (Kap.4,1, M i g n e PL172, Sp. 85) und der Imago mundi des Honorius Augustudunensis (Kap. 1,1, ebda. Sp. 121) besteht der mundus aus den vier Elementen terra, aqua, aer und ignis. Dagegen erfaßt Hugo von St. Viktor, Excerptionum allegoricarum libri Kap. 1,3,1 (M i g η e PL 177, Sp. 209 D) mit mundus nur die Erde (Asien, Europa und Afrika) und andererseits De sacramentis leg. nat. (PL 176, Sp. 18 f.) mit terra auch alle vier Elemente. 27 Otto spricht von der constitutio mundi (Chr. 4 prol. S. 180,5); zur eschatologischen Reinigung der Welt (mundus: Chr.8,8 - S.401,10ff.) gehören terra u n d caelum (S. 402,3 f.)! - Die Überlieferung Β2 fügt zum Weltbild (Chr. 1,1) ausdrücklich hinzu, daß der mundus Himmel und Erde und die dazwischenliegenden Schichten umfaßt (S. 37,5 ff.). 28 Er lebt in der Wendung una mundialis, alia caelestis (unten S. 215) fort. Mundialis bedeutet für Otto aber auch „weltlich" als Gegensatz zu „geistlich" (Chr. 4 prol. - S. 182,3): mundialis dignitas, quae regalia dicuntur. 29 Chr. 1,1 (S. 37,1 ff.); 3,6 (S. 142,28) in ausdrücklicher Abweichung von Orosius; auch die vier Weltreiche kennzeichnet er als regna mundi (Chr. 4,30 - S. 222,8 ff.). 30 Einzelne Belege finden sich in: Latinitatis italicae medii aevi... lexicon imperfectum, Bd. 3—4, Brüssel 1957-64, S. 269; vgl. D u C an g e, Glossarium mediae et infimae latinitatis, hg. von Leopold F a v r e , Bd.8, S.76.

192

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

Bereits in dem civitas-Begriff selbst liegt eine Ursache für die kontroversen Deutungen der Zweistaatenlehre, denn offensichtlich verwendet Otto - wie schon Augustin - einen der Wirklichkeit geläufigen Begriff in übertragenem Sinn, auf den die gängige Übersetzung „Staat" nur noch bedingt paßt. Man hat viele Ubersetzungsvorschläge gemacht, um die Ambivalenz des civitas-Begriffs besser zum Ausdruck zu bringen als in der traditionellen Wendung der „Zwei-Staaten-Lehre". Hartings (S. 45 ff.), die überhaupt alle Mißdeutungen der ottonischen Lehre auf die sorglose Übersetzung von civitas als „Staat" zurückführen möchte, schlägt daher die Ubersetzungen „Genossenschaft", „Bürgerschaft", „Gemeinschaft" und vor allem „Gesellschaft" vor, um die beiden civitates einerseits und Kirche und Staat andererseits auch begrifflich voneinander zu trennen (allerdings in der Uberzeugung, daß der Bischof unter den civitates nur die metaphysischen Größen versteht). Das Unbehagen gegenüber der traditionellen Übersetzung rührt im Grunde von der Überzeugung her, daß Otto mit den civitates irgendwie „Kirche" und „Staat" (als Gegensatz) anspricht; das aber ist, wie wir noch sehen werden, nicht der Fall. Die Einwände, die auch schon gegen Augustins Lehre erhoben worden sind 31 , wollen weniger die grundsätzliche Eignung des civitas-Begriffs als Symbol anzweifeln, sondern gründen sich eher auf die Andersartigkeit des modernen Staatsbegriffs32, die Übersetzung „Staat" widerspräche also der Lehre nur vom modernen Verständnis des Begriffs her 33 . Es ist 31 Vor allem Κ a m 1 a h, Christentum S. 155 ff., möchte civitas als „Bürgerschaft", dvitas Dei als „Bürgerschaft Gottes" verstanden wissen; dagegen W a c h t e l S. 133ff. 32 Es ist lange darüber gestritten worden, ob man überhaupt von einem „mittelalterlichen Staat" sprechen könne (vgl. darüber Otto B r u n n e r , Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, WienWiesbaden 4 1959, S. 111 ff. und S. 146ff.; zum mittelalterlichen „Staatsbegriff" als einer „personalen Herrschaft" vgl. Walter S c h l e s i n g e r , Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in: Herrschaft und Staat im Mittelalter, hg. von Hellmut K ä m p f , Darmstadt 1956, S. 135ff.; zur spezifischen Gestalt eines „Personenverbandsstaates" bei gleichzeitiger Kontinuität staatlicher Elemente zum modernen Staat vgl. Theodor M a y e r , Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter, ebda. S. 284 ff.; zur Neuorientierung der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte vgl. Hanna V o l l r a t h in: S t r a y e r , Mittelalterliche Grundlagen S. IXss. 33 Nicht zuletzt wegen dieses andersartigen Staatsbegriffs sprechen einige Historiker (wie S ρ ö r 1 oder M o h r ) lieber von der „Zweireichslehre", doch verliert der Reichsbegriff wesentliche Züge der dvitas-Vorstellung. Die Diskussion ist m. E. müßig und nur entstanden, weil ein neuzeitlicher Staatsbegriff (des 19. Jahrhunderts) in die Vergangenheit übertragen wurde. Selbstverständlich hat es im Mittelalter eine „staatliche Ordnung" gegeben und ebenso selbstverständlich beruht sie auf ihren eigenen Grundlagen, die jeweils mitzudenken sind.

IV.2. O t t o

civitas-Begriff

193

deshalb zunächst zu fragen, was „civitas" in der zeitgenössischen Bedeutung (sowohl bei Augustin wie bei Otto) überhaupt meint. Der civitas-Begriff ist den antiken Herrschaftsverhältnissen verhaftet und bezeichnet in erster Linie die Stadt als Stadtstaat in ihrem lokalen (Stadtgebiet), rechtlichen (Bürgerrecht), vor allem aber personalen Bezug (populus als Bürgerschaft), auch als Religionsgemeinschaft (wenngleich der offizielle Sprachgebrauch das Gemeinschaftsgefühl nicht besonders herausstellt)34: civitas impliziert also einen räumlich überschaubaren, doch autonomen, staatlichen und selbstverwalteten Bereich (nach dem Vorbild Roms), der sich vornehmlich personal, durch seine Bewohner, konstituiert. Noch Augustin verknüpft civitas- und populus-Deiimticm miteinander35 und überträgt den Begriff erst von hier auch auf größere (zunächst nichtrömische!) Reiche und sogar auf die Welt36, und die christliche Tropologie verwendet ihn (seit Tertullian) für die unsichtbare Kirche und das himmlische Jerusalem (als civitas Dei). Dieses Bedeutungsspektrum behält der riuitei-Begriff im Mittelalter37 (und auch bei Otto) bei und bleibt vornehmlich auf die Stadt (einschließlich Stadtgemeinde und Bürgerrecht) bezogen, deutet häufig sogar auf bestimmte Arten von Städten wie die (galloromanische) Provinzstadt und damit die Bischofsstadt mit ihrem Umland 38 . Daneben bezeichnet civitas häufiger auch den befestigten Platz, die „Burg 39 , ohne seine „abstrakte" Bedeu34 Vgl. Ernst K o r n e m a n n , RE Suppl. 1, 1903, Sp.300ff. s.v. „Civitas". Der Thesaurus linguae latinae Bd. 3, Sp. 1229ff. gibt folgende Bedeutungen: I corporaliter: - universitas avium, - notio loci (urbs, oppidum), - platonisch: mundus; II de statu singulorum avium: loa notabiliores. 35 Die civitas ist eine einträchtige Menschenmenge (De civitate Dei 1,15; vgl. 15,8). Vgl. Werner S u e r b a u m , Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Uber Verwendung und Bedeutung von res publica, regnum, imperium und status von Cicero bis Jordanis (Orbis antiquus 16/17), Münster 1961, S. 188ff.; vgl. O r b ä n S. 171 ff.; R a t z i n g e r S.65ff.; W a c h t e l S. 135 (civitas als personale Einheit in einer Stadt bei Gemeinsamkeit von Recht und Religion). Nach S ρ ö r 1, Civitas Dei S. 300, ist der augustinische Begriff viel allgemeiner als die Bedeutung „Polis". 36 Vgl. S u e r b a u m S.202: civitas und regnum haben die gleichen Grundlagen. 37 Vgl. dazu P a p e im Mittellateinischen Wörterbuch Bd.2, 1973, Sp.661 ff. 38 Honorius vergleicht die einzelnen artes mit civitates, deren Beschreibung einzelner Teile deutlich den Stadtcharakter erkennen läßt (De anime exsilio et patria, Μ i g η e PL 172, Sp. 1241 ff.). Zu Otto vgl. GF1.39 (S.206,31 ff.): Tausende aus Köln, Mainz, Worms, Speyer, Straßburg aliisque vicinis civitatibus, oppidis seu vicis nahmen das Kreuz; vgl. auch GF2,14 (S.308,21) u.ö. zu den italienischen Stadtstaaten. 39 Vgl. Walter S c h l e s i n g e r , Burg und Stadt, in: D e r s . , Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters Bd. 2, Göttingen 1963, S. 92-147, und D e r s . , Über

194

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

tung „ S t a a t " (im Sinne v o n res publica, Implikation regnttm)40

d o c h zugleich mit der k o n k r e t e n

ganz z u verlieren 4 1 .

N i c h t nur die U n t e r s c h i e d e zwischen „ m i t t e l a l t e r l i c h e m " u n d „ m o dernem",

vom

Sakralen gelösten „ S t a a t " ,

Eigenart des zeitgenössischen civitas-Begriffs

sondern gerade auch

die

haben ein U n b e h a g e n bei

seiner gängigen Ü b e r s e t z u n g hinterlassen. D e r H i n t e r g r u n d aus T r a d i tion und B e d e u t u n g s w a n d e l schwingt aber zweifellos mit, w e n n O t t o den augustinischen civitas-Begriff

aufgreift, der die „Staatlichkeit" in einem

z w a r weit gefächerten, d o c h spezifischen Sinn widerspiegelt. dvitas

mundi

Wenn

u n d civitas Dei auch S y m b o l c h a r a k t e r tragen, so orientie-

ren sich die Begriffe d o c h am Sprachgebrauch der eigenen Zeit, bleiben sie civitates, Städte, u n d nicht zufällig zeigt O t t o eine besondere Vorliebe für die S y m b o l e „ B a b y l o n " und „ J e r u s a l e m " 4 2 , die den abgeschlossenen städtischen B e r e i c h in sich, aber auch, als pars p r o t o t o , das ganze R e i c h bezeichnen. Civitates civitas-Begriii

sind also Städte mit staatlichem C h a r a k t e r ; der

paßt u m so m e h r auf die Zweistaatenlehre, als O t t o sich

auch die E w i g k e i t als eine staatlich geordnete Gemeinschaft vorstellt (oben S. 1 7 6 f . ) 4 3 .

mitteleuropäische Städtelandschaften, ebda. S. 43; Belege bei Ρ a ρ e Sp. 661 ff. Zum Bild der dvitas (Christi) als einem festgefügten Bauwerk bei Otto (etwa Chr. 2,25 - S. 98,26; 3,14 S. 151,20 f.) vgl. M ü l l e r , Theologie S. 86 f. 40 Zu Ottos Gleichsetzung von dvitas und regtium vgl. unten Anm. IV/109. Vgl. auch Chron. 3,2 (S. 137,4 f.) über die Diadochenreiche. 41 P a p e Sp.663; vgl. GF2,14 (S.308,13f.) über das Langobardenreich. Für die übertragene Bedeutung civitas Dei führt P a p e nur Otto von Freising als Beispiel an. 42 Vgl. H a r t i n g s S.47. - Die Allegorie entstammt ebenfalls Augustin; doch erst im 12. Jahrhundert rückt Jerusalem auch in den Mittelpunkt des Weltbildes; als Sinnbild der Ewigkeit hat es dagegen eine lange Tradition; vgl. dazu Robert Κ ο η r a d, Das himmlische und das irdische Jerusalem im mittelalterlichen Denken. Mystische Vorstellung und geschichtliche Wirkung, in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung (Festschrift Johannes S p ö r l ) , Freiburg-München 1965, S.523-40; vgl. auch Anna-Dorothee v o n den B r i n c k e n , „...ut describeretur universus orbis". Zur Universalkartographie des Mittelalters, in: Methoden in Wissenschaft und Kunst des Mittelalters, hg. von Albert Z i m m e r m a n n (Miscellanea Mediaevalia7), Berlin 1970, S.267f. - Hildegard von Bingen beschreibt die Heilsstadt des himmlischen Jerusalem in ihren Visionen; vgl. dazu M a u r m a n n , Himmelsrichtungen S.80ff. - Zur inneren Verbindung von „Stadt" und „civitas" Babylon bei Otto vgl. auch Chr. 1,9 (S. 48,19 ff.). 43 Einen noch engeren gemeinschaftlichen Zusammenhalt nimmt Hugo von St. Viktor an (vgl. oben S. 185), wenn er nicht von civitates, sondern von zwei familiae spricht.

IV.3. Manifestationen der civitates

195

Da Otto die seinen Zeitgenossen selbstverständlichen, konkreten Implikationen des owto-Begriffs bewußt für seine Symbolik ausnutzt, scheint mir der Terminus „Staat'VStadt" durchaus angemessen, wenn man ihn „mittelalterlich" versteht und sich klar macht, daß (a) dieser Staat - anders als im modernen Sprachgebrauch - kein rein politisches Gebilde darstellt, sondern alle Lebensbereiche einschließlich der Gesellschaft (societas) und vor allem der Glaubensgemeinschaft umfaßt und (b) der civitas-Dei-Gedznke mit seinem figuralen Charakter diese Vorstellung auf eine höhere Wirklichkeit projiziert44. Wichtiger für eine Wesensbestimmung als die Frage, ob die beiden civitates überhaupt „Staaten" bilden, scheint mir eine Untersuchung der Kriterien, die ävitas Dei und civitas mundi in den Augen des Bischofs von Freising jeweils zu „Staaten" (in seinem Sinn) oder zu Gemeinschaften machen. Dazu ist zunächst festzustellen, in welchen konkreten Gemeinschaften sich die beiden civitates manifestieren.

3.

M a n i f e s t a t i o n e n d e r civitates

in d e r

Geschichte45

Im Kapitel 4,4 der Chronik gibt Otto anläßlich seines Berichts über die Konstantinische Schenkung einen kurzen, bereits oben (S. 132 f.) behandelten Abriß der Geschichte der civitas Dei, um deren fortschreitende Entwicklung deutlich zu machen, und er führt hier noch einmal zusammenfassend vor Augen, was seine kommentierenden Bemerkungen bereits aufgedeckt haben, daß er sich nämlich - in grundsätzlicher Übereinstimmung mit Augustin 46 - in der Lage fühlt, die civitates sehr genau zu unterscheiden und konkreten geschichtlichen Gemeinschaften zuzuordnen, während er - anders als Augustin - auf eine Darstellung des (metaphysischen) Ursprungs der beiden Staaten im Engel- und Sündenfall verzichtet 47 . Betrachten wir zunächst den Gottesstaat. 44

Ähnlich G r a b e S. 37 über den ävitas Dei-Begriff Augustins. Vgl. d a z u H a s h a g e n S . 5 1 ff.; S c h m i d l i n , WeltanschauungS.80ff.; Η a r t i n g s S. 27 ff. - Otto entnimmt diese Berichte Augustin und fügt sie in seine meist Orosius folgende Weltgeschichte ein. 46 Jedenfalls ist Otto selbst der Uberzeugung, der Kirchenvater habe bezüglich der ävitas Dei konkret dargelegt, quomodo inter mundi cives semper profecerit, quique eins cives vel principes quibus prinäpum seu avium seculi temporibus extiterint (Chr. 1 prol. S. 9,12 ff.). 47 Vgl. S c h m i d l i n , Weltanschauung S. 81 (siehe oben S. 63 f.). 45

196

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

Adams Söhne waren die ersten Bürger der beiden dvitates (Chr. 1,2); nach Abels Tod repräsentierten S e t h u n d s e i n e N a c h k o m m e n , die (nach einem Josephus-Zitat) die disdplina rerum caelestium begründet hatten (S. 39,5 ££.), denpopulus Dei, und Enoch war bereits der sechste Bürger (civis) des Gottesstaates (Chr. 1,2), dem später zweifellos Noah angehörte, der vor der Sintflut gerettet wurde (Chr. 4,4); dessen Söhne Sem und Ham waren primi post diluvium cives civitatum (Chr. 1,4 - S. 41,14 f.)48. Zu den wenigen Mitgliedern des Gottesstaates zählte in der Folgezeit vor allem Abraham, der eigens, um die cives Babyloniae zu meiden, in das Land auszog, das als huius, de qua agimus, civitatis typus esse bekannt ist (Chr. 1,7 - S. 46,8 ff.)49; seine Söhne Isaak und Ismael waren ebenso wie Isaaks Söhne Jakob und Esau utriusque civitatis... primi cives (Chr. 1,10 - S. 49,1 ff.), ja die drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob gelten als principes des Gottesstaates (S. 49,14 f.). Seit Jakob war die civitas Dei auf Erden identisch mit dem V o l k I s r a e l , das nahezu einzig den Glauben an Gott bewahrte50. Die Gottesgemeinschaft umfaßte dennoch nicht notwendig alle Israeliten; unter den Königen Israels, sagt Otto (Chr. 1,29 - S. 63,21 f. nach Augustin, De civitate Dei 17,23), findet man keinen, unter den Königen Judas nur wenige cives Ierusalem, doch beide regna hatten - und darauf kommt es dem Bischof an - cives regni Christi in ihren Reihen (S. 63,27ff.)51. Wie deutlich Otto in dieser Zeit die beiden dvitates auseinanderhalten kann, läßt sich schon aus einer kurzen Bemerkung ablesen, die er dem Bericht über die Propheten folgen läßt (Chr. 1,29 - S. 64,14f.): Sed tarn ad dves mundi revertamur'2. Israel hatte vor allem in der Zeit der Propheten plurimi... dues regni Christi aufzuweisen (Chr. 2,7 - S. 74,25 ff.); nach den letzten Propheten Haggai, Sacharja und 48

Der dritte Sohn Japhet fällt stets aus dieser Typologie heraus; Augustin (De civitate Dei 16,2 f.) zählt ihn, der in den Zelten seines Bruders Sem wohnte, wohl ebenfalls zum Gottesstaat. 49 Sein Bruder Loth lebte „wie ein (tamquam) Bürger Jerusalems" in der Sündenstadt Sodom (Chr. 1,9 - S. 48,11 f.). 50 Chr. 2,46 (S. 122,25 ff.): Quoniam autem Iudeorum mentionem fecimus, in quibus tunc tantum iuxta prophetam, exceptis paucis, qualis fuit lob, notus fuisse Dens creditur, qualiter post prophetas et relaxatam captivitatem usque ad id temporis civitas Dei fuerit, paucis aperiam. - Vgl. auch Chr. 2,1 (S. 70,4 f.). 51 Vgl. schon H a s h a g e n S . 5 4 . 52 Mit ganz ähnlichen Wendungen hatte er auch zwischen Geschichtsschreibung und Spekulation unterschieden (oben S. 77).

IV.3. Manifestationen der

civitates

197

Maleachi und den Hohepriestern Serubabel (Zorobabel) und Jesua aber gab es nur noch wenige äves Hierusalem wie Jesus Sirach oder die Makkabäer (Chr. 2,16 - S. 86,5 ff.), unter denen sich die einzigen Märtyrer des Alten Bundes (primi antiquae legis martires) befinden (Chr. 2,26 - S. 99,12). Freilich ist die Bestimmung der civitas Dei auch eine Quellenfrage und wird nach dem Verstummen der Propheten erheblich erschwert53; Otto ist überzeugt, daß die Anzahl der Gottesbürger tatsächlich auch nach der Babylonischen Gefangenschaft 7 000, die Zahl der Begleiter des Elias, nicht unterschritten habe und bis an das Ende der Welt nie unterschreiten werde54. Die Quellenlage ändert sich grundlegend mit der Geburt Christi, und Otto wird - über Augustin hinaus, der auf eine Bestimmung der einzelnen Mitglieder verzichtet, sobald er in die eigene Zeit gelangt - hier wieder recht konkret: Christus, der Gründer (auctor) der civitas Dei (Chr. 1,29 - S. 63,4), wollte seinen Staat vom Volk Israel, das er damit gleichzeitig für seine Sünden bestrafte, auf alle (noch heidnischen) Völker (gentes) ausbreiten, und er gründete dazu die Kirche (Chr. 4,4). Die Baumeister und principes civitatis suae (Chr. 3,10 - S. 145,24) waren die Apostel, denen die Ausbreitung zu verdanken ist, unter ihnen vor allem Petrus, der sich Rom, die Herrin der Welt, aussuchte55. Seit dieser Zeit sieht Otto die civitas Dei auf Erden in der Kirche manifestiert, und mit ihrer allmählichen Ausbreitung über die ganze Welt dehnte sich folglich auch der Gottesstaat aus56. Civitas Dei und civitas mundi werden identisch mit C h r i s t e n und Heiden, und erst dieses Verständnis von der institutionalisierten Kirche als Gottesstaat erklärt Ottos Behauptung, die Christenverfolgungen hätten die civitas Dei - die Vorlage Orosius 53 Chr.2,47 (S. 124,8f.): Qui vero his diebus äves Christi fuerint, non facile perpendi potest. Iam enim prophetae siluerant. 54 Ebda. (S. 124,22 ff.). In Kapitel 1,29 deutet Otto die 7000 Begleiter des Elias und Elisa als „unendlich viele" (S. 64,9 ff.). 55 Chr.3,14 (S. 150,5ff.): Cum igitur civitas Christi et Imperium, quodpene in Iudea tantum ante nativitatem eius fuit, dilatandum in omnes gentes foret, apostoli, utpote principes et architects huius civitatis, in omnem terram verhum vitae predicaturi exeunt, in finesque orhis terrae disperguntur. Hinc Petrus aliorum princeps toäus orhis dominant sortitur Romam. - Otto zählt genau auf, welche Provinzen die einzelnen Apostel missioniert haben (oben S. 147); zur Rolle Roms vgl. oben S. 143ff. 56 Chr. 3,22 (S. 162,8 ff.): Igitur cum civitas Dei, quae est ecclesia, longe lateque per orhem terrae diffunderetur, . . . - Einzig an dieser Stelle setzt Otto Kirche und Gottesstaat direkt gleich; vgl. M ü l l e r , Theologie S. 72.

198

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

spricht hier von Christiani! - bedroht 57 (während ein „mystischer" Staat ja eher durch die Märtyrer bereichert worden wäre) (vgl. unten S. 199 f.). Die Ausbreitung des Gottesstaates vom populus Dei Israel auf alle Völker erreichte ihren Höhepunkt, als die ecclesia auch die kaiserliche Herrschaft (monarchia) ergriff und damit zum summum fastigium auf Erden vordrang (Chr. 4,4). Ohne jeden Zweifel spielt Otto hier auf die Bekehrung Konstantins an58, doch beinhaltet monarchia mehr als die Person des Herrschers (ein Königtum hatte es ja auch schon in Israel gegeben): Mit Konstantins Übertritt zum Christentum trat das gesamte Reich in die civitas Dei ein; Gott gab dem mächtigsten Mann überhaupt, auf den die ganze Welt blickte, Glauben und Liebe ein, so daß nicht nur eine Friedensherrschaft das Zeitalter der Christenverfolgungen ablöste (Chr. 3,45) und der Gottesstaat nicht mehr unter den schweren Bedrohungen seitens der heidnischen Kaiser zu leiden hatte59, sondern der christliche Herrscher die Kirche zudem reich beschenkte und diese nun über Könige, die sich vor ihr beugten, gebot und sie richtete60; als Vorgeschmack auf das Himmelsreich stieg die ecclesia selbst zum regnum... temporale regnorum omnium maximum, zur irdischen Herrschaft, auf (Chr. 4,4 - oben S. 132); indem Gott seinen Staat zum Weltreich machte, erwies sich der Herr des Himmels endgültig als 57 Chr. 3,24 (S. 165,3 f.): Ea tempestate gravissima apud Gallias persecutio civitatem Christi urguebat. - Vgl. Chr. 3,39 (S. 174,13 ff. nach Orosius, Hist. 7,23,6): Is (= Aurelian) nonus a Nerone civitatem Dei, erga quam tarnen in principio benignior extiterat, afflixit. Zur Gleichsetzung von civitas Dei und Christiani vgl. auch Chr. 4,2 (S. 186,36 ff.) über die Christenverfolgung des Licinius. 58 Vgl. Chr. 5 prol. (unten Anm. IV/81): una (= civitas)... usque ad adventum Christi ac inde ad Constantinum paulatim progressa profecerit. 59 Chr.4,3 (S. 187,9ff.; vgl. Eusebius-Rufinus 10,1-3):... virisimpiisetpersecutoribusa terra sublatis iustisque de angustia liberatis velut nube detersa letus dies ubique terrarum civitati Dei coruscare cepit. 60 Chr. 4 prol. (S. 180,12ff.): Cum ergo Dominus multis temptationibus acpersecutionibus attritam vellet exaltare ecclesiam, personam potissimum, per quam id habilius facere posset, elegit. Proinde Romanorum imperatorem, ad quem tunc universus respiciebat orbis, ad idfaäendum ordinavit eique non solum fidem, qua ab errorum tenebris discedendo ad veram lucem cognoscendam veniret, sed et dilectionem, qua civitatem suam multis honoribus exaltaret, multis facultatibus ac possessionibus locupletaret, dedit. Et ut cognoscas non fortuitis casibus, sed Dei profundissimis aciustissimis iudiciis idfactum, videpridie latitantem ac quemlibet infimae conditionis virum fugientem in brevi tantae auctoritatis fieri, ut regibus imperet, de regibus iudicet; vide tantae a seculo venerationis haberi, ut veniant curvi vestigiaque pedum eius in solio sedentis adorent orbis domini (nach Jes. 60,14).

IV.3. Manifestationen der civitates

199

Herrscher auch über die Erde (vgl. oben S. 166 f. zu Christus). Die Hoheit der Kirche aber ist aus der Konstantinischen Schenkung erwachsen (Chr. 4,3; dazu unten S.25Iff.), als der Kaiser dem Papst (Silvester) die Reichsinsignien und die Herrschaft über den gesamten Westen verlieh, während er selbst sich nach Konstantinopel zurückzog (obgleich Otto sich bewußt bleibt, daß es andere, weniger weitreichende Interpretationen dieses Vorgangs gibt). Als zeitliche Erscheinungsform des Gottesstaates fällt die Kirche mit der civitas Dei zusammen61; Otto scheint zwar, wie Müller (Theologie S. 72 ff.) betont, beide Begriffe nur in bestimmten Zusammenhängen synonym zu verwenden, da dem civitas D«-Begriff einerseits das konkrete Bedeutungsspektrum von „ecclesia" (auch als Einzelkirche) fehlt (vgl. dazu unten S. 246 f. ) und diese den Gottesstaat andererseits nur in der Zeit nach Christi Geburt darstellt; da jedoch auch die alttestamentlichen Gottesbürger in ihrem Heil von Christus abhängen (deshalb zitiert Otto die vielen Weissagungen der Propheten über die ecclesia), scheint es mir sinnvoller, die Gemeinsamkeit anstatt, wie Müller, die Abgrenzung beider Begriffe hervorzuheben, und man darf nicht vergessen, daß für Otto und seine Zeitgenossen auch die Einzelkirche dieselben allegorischen Implikationen auf das Gottesreich trägt63: Ecclesia spiegelt - zumindest allegorisch - stets den Gottesstaat wider; im 7. Buch der Chronik verdrängt ecclesia den civitas Dei-Begriff nicht nur wegen der konkreten Bedeutung, wie Müller feststellt, sondern vor allem, weil die Kirche jetzt den Gottesstaat verkörpert und weil in der Zeit der civitas permixta (dazu unten S. 203 ff.) eine Unterscheidung beider civitates gegenstandslos geworden ist. So erklärt es sich, daß Otto fortan keine Gemeinschaften mehr als Teile der civitas Dei aufzählt, statt dessen aber ausgiebig einzelne hervorragende Bürger, die magni civitates Deipnncipes bzw. cives, verzeichnet 64 . Ihre Reihe beginnt mit Johannes dem Täufer, dem maximus ille civitatis Dei civis (Chr. 3,10 - S. 145,28), und der erste Märtyrer Stephanus (Chr. 3,11 - S. 147,26 f.) ist ebenso magnus civitatis Dei princeps wie der erste Papst Clemens (Chr. 3,19 - S. 159,19 f.), der die Weisheit des Gottesstaates gefördert hat. Zu den hervorragenden Mitgliedern zählt Otto also einmal

Zur Auffassung der Zeitgenossen vgl. B e i n e r t S. 184ff. H a r t i n g s S.49 hatte dagegen überhaupt bestritten, daß ecclesia die civitas Dei bezeichnen könnte, die sie als rein metaphysische Größe versteht. 63 Vgl. Ekkart S a u s e r , in: Josef Andreas J u n g m a n n , Symbolik der katholischen Kirche, Stuttgart 1960, S. 57 ff. 64 Bereits in alttestamentlicher Zeit gab es solche „großen Bürger" wie Enoch (Chr. 1,2), die drei Patriarchen oder David (Chr. 1,29 - S. 63,2). Viel häufiger als Augustin spricht Otto von den cives im einzelnen statt von der Gemeinschaft der civitas. 61

62

200

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

die Märtyrer 6 5 , denen bereits die ewige Mitgliedschaft sicher ist, denn nicht die (irdische) civitas Dei ( = die Kirche) hat sie durch ihren T o d verloren, sondern die himmlische hat sie für ewig aufgenommen 6 6 . Z u m andern reiht der Mönchsgelehrte O t t o unter die großen Gottesbürger solche Christen ein, die die Kenntnis (notitia), die Weisheit und Bildung der civitas Dei

erweitern 6 7 : Vita et scientia bilden das Ideal, dessen

Beherrschung die großen cives civitatis Christi

zum Vorbild für alle

Menschen macht. Obwohl Otto nur die bedeutendsten (insignes) Mitglieder des Gottesstaates aufführt 68 , ergibt sich insgesamt doch eine stattliche Reihe von Gottesbürgern, die beweist, welche konkreten Aussagen der Bischof über die Zusammensetzung der beiden civitates für möglich hält: Als preclari principes bezeichnet er die Bischöfe Dionysios von Korinth, Melito von Sardes und Apollinaris von Hierapolis (Chr. 3,24 - S. 164,31 ff.); ein magnus princeps war auch der Märtyrer Alexander (Chr. 3,34 - S. \7l,\0); pre clara lumina civitatis Dei sind Otto Sixtus in Rom und Cyprian in Karthago (Chr. 3,37 - S. 172,17ff.), Gottesbürger waren auch Leidende, die wegen ihres Glaubens vertrieben wurden wie die Bischöfe Paulinus von Trier, Dionysius von Mailand, Eusebius von Vercelli und Hilarius von Poitiers (Chr. 4,8 - S. 194,12 ff.), dann Miletius von Antiochia, Maris von Chalkedon, Basilius von Cäsarea und Gregor von Nazianz, die sich dem heidnischen Kaiser Julian widersetzten (Chr. 4,10 - S. 196,14 ff.). Die Bischöfe Martin (von Tours) und Ambrosius (von Mailand) nennt Otto civitati Dei utilissimi sacerdotes (Chr. 4,19 - S. 210,25 f.) 69 . Gottesbürger waren auch Benedikt von Nursia (Chr. 5,4 - S. 235,23 ff.) und Papst Gregor der Große (Chr. 5,7 - S. 238,7f.); später, zur Zeit Pippins, sieht Otto in Bonifatius und den Bischöfen Rupert von Salzburg und Corbinian von Freising (die er freilich zeitlich falsch einordnet), clarissimi regni Christi principes (Chr. 5,23 S. 250,18 ff.) und schließt damit auch das Frankenreich in den Gottesstaat ein. Mit der frühkarolingischen Zeit, mit Corbinian, dem Kirchenpatron von Freising!, bricht O t t o die lange Reihe individueller Bestimmung von Vgl. Chr.3,35 (S. 171,36f.): Die Märtyrer als cives Christi. Vgl. Chr.3,43 (S. 175,30££.) zur Christenverfolgung Diokletians: Unde quot milia sanctorum his diebus civitas Dei non secundum opinionem illorum perdiderit, sed iuxta rei veritatem eternaliter victuros in sinu suo collegerit, enumerare nemo possit. 67 Vgl. S t a u d i n g e r S . i l . 68 Chr. 5,4 (S. 235,29ff.): Qui vero tunc alii principes aut cives civitatis Christi vita et scientia insignes fuerint, si quis scire vult, legat Dialogum Gregorii. - Vgl. G r a b e S. 52 f., der darin eine ständische Gliederung sieht. 69 Zuvor (Chr.4,18 - S.204,17ff.) schon berichtet Otto über die Zeit des Theodosius: Floruerunt autem tunc illustres viri, moribus, vita ac scientia graves, nämlich Martin von Tours, Ambrosius vom Mailand, Severin von Köln, der Priester Hieronymus und schließlich Augustin. 65

66

IV.3. Manifestationen der civitates

201

Gottesbürgern ab; offensichtlich fehlt dem Bischof in der eigenen Epoche des fränkisch-deutschen Reichs die Fähigkeit, die hervorragenden Mitglieder des Gottesstaates herauszustellen; nur Gott, sagt er, kann zwischen Guten und Bösen unterscheiden, die Kirche vermag nur zu beurteilen, was offenkundig (manifestus) ist70; eine solche „Manifestation" aber fehlt in der Gegenwart71. Es ist deshalb verfehlt und widerspricht den Intentionen Ottos, wie Völker (S.26ff.) einzelne Personen dieser Zeit (etwa Konrad III. oder Heinrich den Stolzen) den beiden civitates zuzuordnen 72 . Eine pauschale, wenn auch nicht mehr personelle Aussage macht Otto erst wieder am Ende des 7. Buchs in seinem zu den eschatologischen Ereignissen überleitenden Bericht über das weltweit verbreitete Mönchtum (dazu unten S. 271 ff.), denn nun betrachtet der Bischof die Ordensmitglieder als vere civitatis Dei cives7i. *

Nur scheinbar weniger konkret wird Otto bei der Identifizierung der civitas m und ι im Laufe der Geschichte; er kann in der älteren Zeit auf eine genaue Aufzählung verzichten, weil dem Weltstaat im Grunde alle Gemeinschaften angehörten, die er nicht als civitas Dei ausweist, also auch die großen heidnischen Weltreiche vergangener Zeiten, während die civitas mundi nach Christus zusammenschmolz. Zu Recht ordnet Schmidlin (Weltanschauung S. 68 f.) die vier großen, heidnischen regna (oben S. 139 ff.) der civitas mundi zu, wird doch „Babylon" sogar zu deren Sinnbild!, doch trifft seine Behauptung, die Weltstadt sei identisch mit den vier Weltmonarchien, auf das Rom der christlichen Zeit, das den Rahmen für den Gottesstaat der Christen darstellt (vgl. oben S. 143 ff.), nicht mehr zu 74 ; 70 Chr. 7 prol. (S. 309,29ff.): Non enim discemi possunt (nämlich: boni et mali) in presenti, fcclesia tantum ,quae manifesta sunt' iudicante, Deo solo, qui novit, qui sint eius,... merita singulorum pensante. 71 Schon daraus ergibt sich, da£ eine Identifikation der beiden Staaten mit „Reich" und „Kirche" völlig unhaltbar ist. 72 V ö 1 k e r S. 30 setzt voraus, daß Ottos Parteinahme bereits die Zugehörigkeit zu den civitates erkennen läßt. 73 Chr. 7,34 (S. 368,15ff.): presertim cum tarn ex peccatorum nostrorum multitudine quam tumultuosissimi temporis feculenta improbitate haut diu stare posse mundum putaremus, nisi sanctorum mentis vere civitatis Dei avium, quorum in toto orbe copiosa varie et pulchre distincta florent collegia, sustentaretur. - Vgl. K l i n k e n b e r g S . 7 1 . 74 Das gibt auch S c h m i d l i n , Weltanschauung S. 70, selbst zu. Als Vertreter der civitas mundi betrachtet auch L a η d s b e r g S. 71 f. die Weltreiche.

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

vielmehr haben die regna mit Christus, der die civitas mundi zu seiner civitas machte75, ihren Charakter grundlegend geändert, und der Umschwung ist vollends im christlichen Reich seit Konstantin vollzogen. Schmidlin mißversteht Otto deshalb gründlich, wenn er (S. 71) im Imperium auch nach der Christianisierung Roms noch den Vertreter des Weltstaates erblickt76. Der Bischof von Freising will gar keine grundsätzliche Zuordnung der Reiche zu den civitates treffen; die Zugehörigkeit hängt vielmehr von dem jeweiligen Charakter ab und kann sich, wie das römische Beispiel zeigt, ändern. Daß Otto im Falle Roms jedoch konkrete Aussagen macht, entzieht auch der These Spörls den Boden, der der umstrittenen Frage der Zuordnung ausweicht, indem er die regna als Vorläufer des christlichen Imperiums und als Gliederungsprinzip der Heilsgeschichte einer eigenen (dritten) und im Grunde wertfreien, aber doch zur civitas Dei tendierenden Sphäre zurechnet 77 . Schon Staudinger (S. 58 f.) hat die These einer Wertfreiheit mit dem Hinweis zurückgewiesen, daß das regnum als Institution zwar weder gut noch böse sei, sich aber durch seine Glaubensentscheidung zuordne: Otto kennt ebensowenig eine „dritte Sphäre" wie ein konstantes Verhältnis zwischen civitates und regna. Deshalb legt auch Mohr zu moderne Maßstäbe an, wenn er in dem aus dem Hang des Bischofs zum Symbolismus erwachsenen Bemühen, die augustinische Civitas-Lehre mit der orosianischen Weltreichslehre zu verbinden, einen notwendig mißlungenen Versuch sieht, weil es sich hier um nicht vereinbare Systeme, nämlich ein irrationales und ein reales, handele. Tatsächlich sind die beiden dvitates für Otto sehr wohl auch historische Gebilde, und die Kongruenz von „Babylon - Jerusalem" (civitates) und „Babylon - Rom" (regna) wäre für den Bischof von Freising nicht eine Verbindung von Theologie und Geschichte (so Mohr S. 279), zumindest nicht im modernen Wortsinn: Wenn Weltreich und historische civitates in Rom zur Deckung gelangen, so ist das einem historischen Ereignis, der Bekehrung Konstantins, zu verdanken 78 , und die mutabilitas als Kennzeichen irdischer Geschichte ist dadurch nicht aufgehoben (Mohr S.227f. sieht auch darin einen Widerspruch) 79 ! Möhrs Kritik an Otto ist also - zumindest 75

Chr. 3,6 (oben Anm. 111/58) und 3 prol. (oben Anm. HI/66). Vgl. auch Karl H o l z h e y , Babylonisches bei Otto von Freising, in: Wissenschaftliche Festgabe zum 1200-jährigen Jubiläum des hl. Korbinian, hg. von J. S c h l e c h t , München 1924, S. 280. - In die Tradition des Bösen sind die Reiche dagegen bei Gerhoh von Reichersberg gestellt; vgl. dazu M e u t h e n , Gerhoh S. 130ff. 77 S p ö r l , Grundformen S.42, und D e r s . , Civitas Dei S.311; danach auch L a m m e r s , Einleitung S. LV. 78 Mit der Konstantinischen Schenkung war aber nicht das irdische Reich im himmlischen aufgegangen, wie Μ ο h r S. 284 meint. 79 Μ ο h r S. 284 betont zwar richtig, daß wir an Otto nicht moderne, logische Maßstäbe anlegen dürfen, findet die Widersprüche bei ihm aber zu kraß, als daß man noch an ein modernes Mißverständnis seiner Ideen denken könnte. Wenn Mohr die Widersprüche bei Otto schließlich mit seinem Chiliasmus begründen will (aus der Chronik spreche die Unsicherheit des Geschichtstheologen, nachdem 1000 Jahre seit Christus abgelaufen seien), so fehlt auch dafür - abgesehen von der Tatsache, daß seit dem Jahr 1000 anderthalb Jahrhunderte vergangen sind! - jede Textgrundlage. 76

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IV.4. Die civitas Dei als civitas permixta

aus der Sicht des Historikers - unberechtigt; der Zusammenhang zwischen civitates und regna läßt sich nicht mit einer pauschalen Formel, sondern nur aus der geschichtlichen Entwicklung heraus erklären. Es erscheint mir eher fraglich, ob Otto die beiden Lehren, die er unabhängig voneinander in der Tradition vorgefunden hat, überhaupt in eine grundsätzliche Beziehung zueinander setzen wollte. Ebensowenig bringt der Bischof die aetas-Lehre (oben S. 138 f.) mit den civitates in Zusammenhang: Er modifiziert nicht im Laufe des 7. Buchs der Chronik seine Haltung, indem er die aetates plötzlich nicht mehr als Entwicklung des Weltstaats anerkennt (so Mohr S. 290), da er sie nie einseitig der civitas mundi zugerechnet hat, und sie stehen folglich jetzt auch nicht in Verbindung mit den Mönchsorden, sondern teilen nach wie vor die „Zeit" ein! Die irdischen Manifestationen der beiden Staaten, die bis zur Geburt Christi streng voneinander getrennte Gemeinschaften bilden, laufen und hier liegt die Lösung der Mißverständnisse - im christlichen R o m aufeinander zu, und es ist sicher kein Zufall, daß Otto jetzt nicht mehr von civitas Dei und civitas mundi, sondern von boni und mali spricht (Chr. 7 prol. - oben Anm. IV/70). Gerade in diesem Prolog zum 7. Buch legt Otto eine grundlegende Wandlung des Gottesstaates, der Kirche, dar, die mit Theodosius in eine neue Phase eingetreten ist und sich fortan in einer civitas permixta manifestiert.

4.

D i e civitas

Dei

a l s civitas

permixta

Nach einer Zeit der durch die Häresie des Arius verursachten inneren Spaltung wuchsen christliche Kirche und römischer Staat, die sich bereits mit der Bekehrung Konstantins einander angenähert hatten, unter Theodosius endgültig zu einer Einheit zusammen. Damit ging der ehemalige Weltstaat im Gottesstaat auf 80 , so daß es fortan nur noch eine einzige dvitas, die (mittelalterliche) Kirche, gab 81 . Das ist Ottos berühmte

80 Lammers, Weltgeschichte S.88, will das als Folge der Schwierigkeit des Geschichtsschreibers verstanden wissen, den Dualismus der Staaten empirisch nachzuweisen. 81 Chr. 5 prol. (S. 228,3 ff.): Porro de duabus avitatibus, qualiter una in alia latendo usque ad adventum Christi ac inde ad Constantinum paulatim progressa profecerit, supra sat dictum puto. A Constantino vero exterioribus malis ad plenum sopitis cepit intestinis malis

204

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

Lehre von der civitas permixta, die wiederum nur verständlich ist, weil der Bischof die Staaten sehr konkret geschichtlich begreift: Die Regierung des Theodosius bedeutet gleichsam das historische Ende oder besser: das Ende der historischen Bedeutung der civitas mundi, die sich nun dem Gottesstaat eingliedert 82 . Otto gibt hier selbst zwei Anhaltspunkte als mögliche Begründungen dafür, weshalb er den Beginn des einen Staates, der eine Zeit des vollkommenen Friedens und der vollkommenen Freude für den Gottesstaat einleitete83, erst mit der Herrschaft des Theodosius und nicht schon mit der Bekehrung Konstantins ansetzt: non solum populus, sed etpnncipes, exceptispaucis, katholocifuere. Dabei dürfte jedoch der erste Grund, das Verbot der heidnischen Kulte, mit dem Theodosius bekanntlich das Christentum zur obligatorischen Staatsreligion machte, kaum ausschlaggebend sein, da Otto es in seinem Bericht über Theodosius nicht einmal erwähnt; wie an dieser Stelle ist für den Bischof auch sonst - etwa hinsichtlich der germanischen Könige (unten Anm. IV/99) - die Christianisierung des Volkes mit der Bekehrung des Herrschers abgeschlossen84. Entscheidend scheint vielmehr, wie Otto ausdrücklich hervorhebt, daß es nach Konstantin noch eine Reihe häretischer Kaiser gegeben hat (über die er durch Orosius bestens unterrichtet ist)85; der spanische Priester hat überhaupt - anders als Augustin - Konstantin noch nicht zu positiv dargestellt, sondern das wahre Herrscherideal erst in Theodosius erblickt86. Die civitas permixta ist also aus der endgültigen, durch die Augustustheologie (oben S. 143 f.) bereits vorbereiteten Vereinigung von christlich-katholischer Kirche und römischem Staat, also letztlich der Exponenten beider civitates87, hervorgegangen und bedeutet eine Zusammenfassung von weltlicher und geistlicher Gewalt in der einen Gemeinschaft

instigante diabolo, auctore Arno, cooperantibus rerum dominis augustis, graviter angi usque ad Theodosium seniorem. At deinceps, quia omnis non solum populus, sed et principes, exceptis paucis, katholici fuere, videor mihi non de duabus civitatibus, sed pene de una tantum, quam ecclesiam dico, bystoriam texuisse. 82 Otto setzt die una ecclesia mit Theodosius an, obwohl die Bekehrung der Germanen noch aussteht; tatsächlich beginnt sie also erst s e i t Theodosius. 83 Chr. 4,18 (S. 204,15 ff.): His diebus avitas Christi sopitis tarn forensibus quam dvilibus malts plenum gaudium pacemque perfectam habere cepit. 84 Entsprechend spielen dann in bezug auf die Auswirkungen auf die una ecclesia nur die exkommunizierten Könige eine Rolle (Chr. 7 prol. - unten Anm. IV/89). 85 Vgl. auch F u n k e n s t e i n S.211 Anm. 187. 86 Vgl. L i p p o l d , Orosius, christlicher Apologet und römischer Bürger, Philologus 113, 1969, S. 98 Anm. 6, und G ο e t z, Orosius S. 96. 87 Vgl. aber F u n k e n s t e i n S . 99, der zu Recht betont, daß die civitas permixta nicht die Vermengung von Gottes- und Weltstaat ist.

IV.4. Die ävitas Dei als ävitas

permixta

205

aller Christen in der Kirche (die ävitas Dei verwirklicht sich in der Kirche und nicht im christlichen römischen Reich, wie Spörl meint)88. Die dvitas permixta, die sozusagen einen „Kirchenstaat" bildet, wird von zwei Personen, einer priesterlichen und einer königlichen, wird von Papst und Kaiser regiert89. Der Bischof wendet hier den orosianischen Einheitsgedanken (Einheit von Römertum und Christentum)90 auf die augustinische Civitas-Lehre an und will mit der ävitas permixta nach seinen eigenen Worten die Einheit und nicht etwa, wie die Erfahrungen des Investiturstreits nahelegen könnten, eine Spaltung der Kirche in zwei Gewalten hervorheben. Der Mischstaat ist eine Manifestation des Gottesstaates; es ist deshalb völlig unmöglich, wie Schmidlin (Weltanschauung S. 71) im Imperium noch in kirchlicher Zeit den Vertreter des Weltstaates erblicken zu wollen91: „Staat" und „Kirche" sind jetzt eben nicht mehr mit den ävitates identisch, beide sind Bestandteil des Gottesstaates92. Otto hat auch die Lehre von der ävitas permixta in Ansätzen schon bei Augustin vorgefunden93, der die Vermischung durchaus als ein typisches Kennzeichen der christlichen Zeiten (und nicht etwa der gesamten irdischen Zeit!) versteht, doch der Freisinger Bischof ändert und ergänzt sie: Während der Kirchenvater nichts von einem einzigen Staat in der Kirche weiß, sondern eine Vermischung gerade deshalb annimmt, weil sich die ävitates in der Gegenwart nicht mehr als historisch-empirische

88 Vgl. oben S. 187f.; vgl. auch L h o t s k y , Otto von Freising S. 74. Richtig E. O t t o S. 263: Das Reich steht in der Kirche, nicht umgekehrt; Kaiser und Papst sind beide in der Kirche (S.266). 89 Chr. 7 prol. (S. 309,18 ff.): Nemo autempropterhaecverba nos Christianum imperium ab ecclesia separare putet, cum duae in ecclesia Dei personae, sacerdotalis et regalis, esse noscantur, memineritque nos supra dixisse α tempore Theodosii senioris usque ad tempus nostrum non iam de duabus civitattbus, immo de una pene, id est ecclesia, sed permixta, historiam texuisse. Quod temperamentum propter bereticos vel excommunicato! ex regibus posuimus. Altos enim Christianam fidem, etiamsi opere quae credunt non secuntur, in ecclesia secundum presentem statum computandos esse nemo, qui sagenam Domini malos et bonos continere sat, dubitat. - Vgl. G r a b e S. 57. 90 Vgl. dazu G o e t z , Orosius S. 107ff. 91 Allenfalls deuten häretische (meint Otto vielleicht simonistische?) und exkommunuzierte Herrscher darauf hin, daß die civitas permixta erneut bedroht ist. 92 Vgl. auch M ü l l e r , Theologie S. 71. 93 De civitate Dei 1,35 (S. 51,25ff.): Perplexae quippe sunt istae duae ävitates in hoc saeculo invicemque permixtae, donec ultimo iudicio dvrimantur. Ebda. 15,22 (S. 106,11 ff.): Das liberum arbitrium des Menschen führt zu einerpermixtio et ... utriusque confusio civitatis. - Vgl. H a r t i n g s S.71 ff. und G r a b e S.50.

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

Gemeinschaften abzeichnen94, und mit der untrennbaren Vermengung außerdem den negativen Aspekt der confusio (einem Begriff, der „Babylon" übersetzt und eigentlich die civitas terrena kennzeichnet!)95, herausstellen will, bezieht Otto die civitas permixta auf die konkrete Gemeinschaft der um die weltliche Gewalt erweiterten Kirche, auf die einträchtige Einheit der Christenheit als dem gegenwärtigen Exponenten des Gottesstaates, den er zweifellos als Fortschritt wertet. Das Aufgehen der civitas mundi in der einen Kirche bedeutet freilich noch nicht (was gelegentlich übersehen wird), daß bereits ein vollkommener Endzustand erreicht ist96. Einmal gibt es, wie schon die Anspielung auf die exkommunizierten Kaiser (Anm. IV/89) andeutet, immer noch einzelne Personen oder ganze Gruppen, die außerhalb des Gottesstaates stehen und die Otto veranlassen, lieber vonpene una civitas zu sprechen, nämlich Exkommunizierte, Heiden und Juden (civitas Iudeorum infidelium et gentiliumlf7; doch fallen sie für den Abendländer Otto, wenn nicht zahlenmäßig, so doch ihrer Bedeutung nach kaum ins Gewicht und sind zudem eigentlich „geschichtslos", da der Geschichtsschreiber selbst unter weltlichen Aspekten nichts Erinnerungswürdiges über sie zu berichten weiß 98 ; sie können die Vorstellung der einen ecclesia also nicht prinzipiell bedrohen. Wichtiger ist das Bild, das Otto von der Kirche selbst entwirft; wie bei Augustin ist die civitas permixta nämlich auch deshalb vermischt, weil darin gute und böse Menschen (boni et mali), Erwählte und Verworfene (electi et reprobi)

94 Die Vermischung in hoc seculo bezieht sich auch bei Augustin auf die empirische Ausgestaltung; S c h m i d l i n , Weltanschauung S.67, erfaßt deshalb den Unterschied zwischen beiden Denkern nicht, wenn er bei O t t o eine Vermischung der historischen, bei Augustin dagegen der mystischen avitates annimmt; letztere bleiben für den Kirchenvater natürlich getrennt, sind aber nicht erkennbar! 95 Vgl. De avitate Dei 16,4 (S. 130,1); 16,10 (S.139,8f.); 16,11 (S. 142,10ff.); 18,41 (S. 319,9 f.). 96 Vgl. oben S. 161 f. Das regnum Christi, das hier bereits in der katholischen Christenheit verwirklicht wird (so L a m m e r s, Weltgeschichte S. 88), ist jedenfalls noch nicht das endgültige Reich. 97 Vgl. S c h m i d l i n , Weltanschauung S. 77. 98 Chr. 5 prol. (S. 228,23 ff.): Manet tarnen adhuc perfida Iudeorum infidelium et gentilium civitas, sed regnis nohilioribus a nostris possessis, Ulis iam non solum ad Deum, sed et ad seculum ignohilihus, vix aliqua ab eis gesta stilo digna vel posteris commendanda inveniuntur. - Vgl. G r a b e S. 57.

IV.4. Die civitas Dei als civitas

permixta

207

gleichermaßen zusammenleben". Es wäre daher falsch, wollte man nur in den Guten Gottesbürger erblicken100. Die Vermischung allein auf die Verbindung von Kirche und Imperium zu beschränken 101 , würde eine unzulässige Akzentverschiebung in Ottos Lehre bedeuten, und es ist Müllers Verdienst (Theologie S. 78), die Vermischung von Guten und Bösen als einen wesentlichen Aspekt der civitas permixta herausgestellt zu haben. Man kann aber, ebensowenig, wie Müller oder Staudinger (S. 39 und S. 46 in Auseinandersetzung mit Kaegi und anderen), bestreiten, daß erst die oben beschriebene - Einbeziehung des regnum in die ecclesia durch die Bekehrung des Kaisers diesen Mischstaat geschaffen hat, denn „Böse" hat es auch vorher in der civitas Dei, etwa im Volk Israel, gegeben 102 .

Die civitas permixta, die bereits in der Frühzeit vorgezeichnet war, als die Erzväter Adam, Noah und Abraham zu Beginn der ersten drei aetates jeweils zwei Söhne als Exponenten der beiden Staaten hatten103, bildet nicht den vollendeten Staat der Erlösten, sondern eine fortgeschrittene Erscheinungsform in der Entwicklung des Gottesstaates von Theodosius bis zur eigenen Gegenwart (Anm. IV/89) 104 , in der die civitas mundi immer mehr „eingeschläfert" (sopita) und am Ende ganz „vertrieben" (exterminata) wird und untergehen muß (Anm. IV/99). Der Mischstaat ist die historische Konkretisierung der civitas Dei im größten Teil des 2. 99 Chr. 5 prol. (S. 228,13 ff.): Non enim, quamvis electi et reprobi in una sint domo, has avitates, ut supra, ditas dixerim, sed proprie unam, sed permixtam tanquam grana cum paleis. Unde in sequentibus libellis non solum Romanorum augustis, sed et aliis nobilium regnorum regibus Christianis f actis, cum ,in omnem terram et in fines orbis terrae exierit sonus' verbi Dei (Rom 10,18), tanquam sopita civitate mundi et ad ultimum plene exterminanda, de civitate Christi, sed quamdiu peregrinatur, utpote sagena missa in mare, bonos et malos continente, ceptam hystoriamprosequamur. - Vgl. Augustin, De civitate Dei 18,49 (S. 333,7ff.): In hoc ergo saeculo maligno ... multi reprobi miscentur bonis et utrique tamquam in sagenam evangelicam colliguntur et in hoc mundo tamquam in mari utrique inclusi retibus indiscrete natant, donecperveniatur ad litus, ubi mali segregentur a bonis et in bonis tamquam in templo suo ,sit Deus omnia in omnibus'. 100 Vgl. richtig M ü l l e r , Theologie S.79. 101 Wie zum Beispiel S p ö r l , Grundformen S.43, und v o n d e n B r i n c k e n , Weltchronistik S.227. 102 So auch F u n k e n s t e i n S . 9 8 f . 103 Chr. 1,10 (S. 49,4ff.): Et nota, quod inter harum trium aetatum primordia ab uno patre editos hos cives invenies, ut per hoc fide una preditos, uno fonte genitos, utrosque uno sinu populos longe retroactis seculis contentura fore monstraretur ecclesia. - Vgl. H a r t i n g s S. 74. 104 Es ist deshalb völlig unnötig und seither auch nicht mehr aufgegriffen, in der civitas permixta wie B e r n h e i m einen eigenen, dritten croitas-Begriff zu sehen (vgl. oben S. 187).

208

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

Status 105 . Otto kann Augustins permixtio utriusque civitatis deshalb als eine historisch faßbare Einheit verstehen, weil er, anders als der Kirchenvater 106 , die beiden Staaten nicht mit Gut und Böse gleichsetzt, sondern, vielleicht wie Orosius 107 , institutionell begreift. Lammers (Einleitung S. LVIss.) sieht den schroffen augustinischen Gegensatz zwischen den beiden civitates bei Otto grundsätzlich gemildert108, weil der Weltstaat Teil der Heilsgeschichte und Figur des Ewigen ist und weil die regna dem imperium christianum zustreben, doch würden diese Gründe nicht ausreichen, da das Böse auch als Teil des göttlichen Geschichtsplans böse bleibt (vgl. Ottos Dämonenlehre oben S. 168 f.) und daher in Ewigkeit verdammt ist; gemildert, ja aufgehoben wird der Gegensatz tatsächlich erst in der historischen Zusammenfassung beider Staaten in der einen dvitas permixta, die Ottos Anschauung einen ganz spezifischen Akzent verleiht, der ihn von dem augustinischen Dualismus abrücken läßt. Die Lehre spielt also eine große Rolle im Denken des Bischofs, und es ist deshalb kaum richtig, daß Otto den Begriff der civitas permixta, den er tatsächlich nur in den reflektierenden Prologen verwendet, offensichtlich vermeiden will, wie Spörl (Civitas Dei S. 316 f.) behauptet, geben doch gerade die Prologe sein Geschichtsbild konzentriert wieder. Wenn sich die Wendung selbst auch nur an zwei Stellen findet (Anm. IV/89 und IV/99), so ist der Tatbestand der Vermischung doch öfter angesprochen109 und kehrt noch in den Gesta wieder, wenn Otto feststellt, daß aus der Ubereinkunft zwischen Kaiser und Papst una res publica mit zwei principales curiae erwächst (GF 2,30 - S. 342,13 ff.). *

Der Uberblick über die einzelnen, dem historischen Wandel unterworfenen Manifestationen der dvitas Dei bis hin zur dvitas permixta lehrt, daß Otto die beiden Staaten weder als „rein soziologische" Größen, wie Hartings (S. 38 f.) - mit einem nicht gerade glücklichen Begriff für die „Liebesgemeinschaft aller Gottverbundenen" - meint, noch als rein 105 So Funkenstein S.99. Dagegen glaubt Rauh S.314, die civitates seien in der dvitas permixta noch vorhanden, aber nur schwer auseinanderzuhalten. 106 Vgl. De dvitate Dei 12,1 (S. 512,3 ff.): duae potius dvitates, hoc est sodetates,..., una in bonis, altera in malis; vgl. auch ebda. 18,54 (S. 345,20 ff.) und 15,7 (S. 68,30 ff.). 107 An der einzigen Stelle, an der Orosius den dvitas Dei-Begriff verwendet (Hist. 1 prol.9), grenzt er ihn von den Heiden ab! 108 Von einem Dualismus zwischen Gut und Böse ist auch bei Hugo von St. Viktor nichts mehr zu spüren; vgl. Ehlers, Hugo S.90. 109 Vgl. Chr. 5 prol. (Anm. IV/81) und Chr. 8 prol. (S. 390,16ff.): Wie Christus die sakramentale Gemeinschaft der Guten und Bösen regnum suum nennt, ist für uns hic presens status (Lammers übersetzt mißdeutig mit „diesseitigem Reich") dvitas eius. (Civitas und regnum werden hier gleichbedeutend!). Otto spricht von einer temporalis commixtio aufgrund der communio sacramentorum (S. 391,2 f.).

IV.4. Die dvitas Dei als dvitas

permixta

209

metaphysische Gebilde (vgl. oben S. 189) begreift, sondern sie mit konkreten, historisch faßbaren Gruppen identifiziert. Hartings (S.69ff.) irrt folglich, wenn sie eine empirische Manifestation allenfalls bei der Feststellung einzelner Bürger, nicht aber für ganze Institutionen zuläßt; bei einzelnen Personen geht es Otto ja nicht um einfache „Bürger", sondern um principes des Gottesstaates 110 . Die vermischte Kirche, als sichtbare Gemeinschaft aller Christen und nicht etwa als transzendente „Gemeinschaft aller Gotteskinder" (communio sanctorumJ111, ist für ihn d i e civitas Dei der christlichen Zeit, wobei ecclesia - nach typisch mittelalterlicher Auffassung - seit Theodosius den Staat einschließt (Otto trennt wie seine Zeitgenossen regnum und sacerdotium, aber nicht regnum und ecclesia voneinander). Lammers (Edition S. 498 Anm. 6a) übersetzt ecclesia treffend mit „Christenheit", doch resultiert auch dieser Ausweg allein aus der eingeschränkten Bedeutung des heutigen Kirchenbegriffs; für den mittelalterlichen Menschen impliziert ecclesia grundsätzlich (wie bei Augustin) den „Leib Christi" als die (jeweils auch konkrete) „Gemeinschaft der Gläubigen" 1 1 2 . Müller (Theologie S. 79) möchte deshalb gegen Lammers die Übersetzung „Kirche" beibehalten . Als konkrete dvitas permixta umfaßt sie eben noch Gute und Böse 1 1 4 .

An der Historizität der civitates in der Anschauung des Bischofs von Freising kann kein Zweifel bestehen; die civitates sind für Otto wandelbare historische Größen: Gottesstaat und Weltstaat machen eine Entwicklung durch! Umstritten bleibt nur noch, ob und wie diese Manifestationen mit etwaigen metaphysischen Gemeinschaften verknüpft sind. Um das Wesen der geschichtlichen Wirklichkeit der Staaten zu erfassen, sind zuvor aber noch zwei weitere Aspekte zu behandeln, 110 Auch H a r t i n g s gibt übrigens die Existenz irdischer „Abbilder" der wahren avitates zu (S.74ff.), wenn sie (S.42) feststellt, daß sich bei aller Konstanz n u r Erscheinungsformen und Rang ändern. 111 So H a r t i n g s S.42. 112 Vgl. darüber B e i n e r t S. 158 ff., 205 ff. und 407 f.; Johannes B e um er, Zur Ekklesiologie der Frühscholastik, Scholastik 26, 1951, S. 383 ff. 113 Die Unterscheidung zwischen Christenheit und Kirche ist eine Folge der Kirchenreform und des Investiturstreits, als man das Königtum aus geistlichen Funktionen herausdrängen wollte, kann sich zunächst aber noch nicht durchsetzen; vgl. Gerhart B. L a d η e r, The Concepts of „Ecclesia" and „Christianitas" and their Relation to the Idea of Papal „Plenitudo potestatis" from Gregory VII to Boniface VIII, in: Sacerdozio e regno da Gregorio VII a Bonifacio VIII, Rom 1954, S. 49-77; C o n gar, Die Lehre von der Kirche S. 68. Für Otto sind beide Begriffe noch kongruent. 114 Vgl. B e i n e r t S.208.

210

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

nämlich das Verhältnis der beiden Staaten zueinander und die Frage, auf welcher Grundlage sie sich überhaupt zu empirischen Gemeinschaften ausbilden.

5.

Civitas

Dei u n d civitas mundi Verhältnis zueinander

in i h r e m

Das Verhältnis der beiden civitates zueinander läßt besonders deutlich Ottos Änderungen an der augustinischen Zweistaatenlehre erkennen 115 . Der Kirchenvater hatte vor allem zwei Berührungspunkte gesehen: die Pilgerschaft des Gottesstaates und die Auseinandersetzung mit dem Weltstaat. Das irdische, auf Höheres ausgerichtete Dasein des Gottesstaates ist eine peregrinatio in der Fremde, weil die civitas Dei auf der Erde nie ihre Heimat (patria) finden kann; es ist zugleich - und daraus erwächst erst die permixtio! - eine Pilgerschaft unter den Mitgliedern der civitas terrenanb, weil die societas der Gottesbürger nämlich eine rein kultische Gemeinschaft bildet, die von ihrem Wesen her nicht fähig ist, die für dieses Leben notwendigen politischen Institutionen zu schaffen, und deshalb auf die Organe des Weltstaates angewiesen bleibt: In der Pilgerschaft durch dieses saeculum gliedert sich die civitas Dei in allen weltlichen Dingen dem Weltstaat ein und unterwirft sich den Gesetzen und vor allem dem Frieden irdischer Staaten117. Augustin hat hier offensichtlich seine eigene Gegenwart vor Augen. Otto übernimmt den 115

H a r t i n g s S.54ff. unterscheidet (wie S c h o l z bei Augustin) einen dreifachen Gegensatz im Verhalten der cives a) gegenüber Gott, b) gegenüber den Dingen der Welt und c) untereinander. Hier interessiert vor allem der dritte Aspekt. 116 Vgl. De dvitate Dei 1,35 (S.51,11 ff.): Haec et alia ... respondeat inimids suis redempta familia domini Christi et peregrina civitas regis Christi. Meminerit sane in ipsis inimids latere dves futuros, ... sicut ex illorum numero etiam Dei civitas habet secum, quamdiu peregrinatur in mundo, conexos communione sacramentorum, nec secum futuros in aeterna sorte sanctorum, qui partim in occulto, partim in aperto sunt. 117 De dvitate Dei 19,17 (S. 384,23 ff.): Civitas autem caelestis velpotius pars eius, quae in hac mortalitate peregrinatur et vivit ex fide, etiam ista pace necesse est utatur, donee ipsa, cui talis pax necessaria est, mortalitas transeat; ac per hoc, dum apud terrenam dvitatem velut captivam vitam suae peregrinationis agit, iam promissione redemptionis et dono

IV.5. Civitas Dei und civitas

mundi

211

augustinischen peregrinatio-Gedznkenm als eine Pilgerschaft durch das saeculum in Erwartung des höheren Ziels119, sieht darin aber keinen Angelpunkt mehr für das Verhältnis der beiden Staaten zueinander, sondern löst ihn zwangsläufig von der Idee einer Vermischung, da er die dvitas Dei nicht als eine nur kultische Gemeinschaft, die sich den staatlichen Gesetzen anderer unterwerfen muß, sondern als eine durchaus lebensfähige Institution mit eigenen Gesetzen begreift 120 ; die Vermischung, die in der dvitas permixta wieder zum Tragen kommt, ist dagegen auf eine Verbindung von Staat und Kultgemeinschaft zurückzuführen, und bezeichnenderweise versteht Otto die dvitas permixta als den Gottesstaat, der sich selbst regiert! (Von daher erweist sich die Übersetzung Gottes„staat" bei dem Bischof von Freising als treffender denn bei dem Kirchenvater). Mit der Zusammenfassung beider Staaten in der konkreten Gemeinschaft der Kirche scheint auch die augustinische Vorstellung eines unüberbrückbaren Gegensatzes und einer dauernden (allerdings einseitig vom Weltstaat ausgehenden) A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen den beiden dvitates gemildert121; das ist aber eine Folge der geschichtlichen Entwicklung der Staaten, denn bis dahin bildet die Auseinandersetzung auch bei Otto einen wesentlichen Grundzug der Verhältnisses der dvitates zueinander, und zwar weniger als ein Ringen zweier Prinzi-

spiritali tamquam pignore accepto legibus terrenae dvitatis, quibus haec administrantur, quae sustentandae mortali vitae adcommodata sunt ... (S.386,4ff.): Utitur ergo etiam caelestis dvitas in bac sua peregrinatione pace terrena et de rebus ad mortalem hominum naturam pertinentibus humanarum voluntatum composttionem. - Vgl. Β r e ζ ζ i, Analisi S.87ff.; O r b ä n S.189ff. 118 Bereits das Volk Israel pilgerte in Ägypten (Chr. 4,4 - S. 188,28 ff.). 119 Vgl. Chr. 1 prol (S. 8,26 ff.) zum Plan seines Werkes: Quia ergo per haec et buiusmodi mundi probatur versibilitas, necessarium ratus sum ad petitionem tuam, frater karissime Isingrime, bistoriam texere, per quam largiente Deo erumpnas civium Babyloniae, gloriam etiam regni Christi post banc vitam sperandam, in hac expectandam ac pregustandam Ierusalem civibus ostenderem. Proposui vero prioris conflictationes et miserias, quantum Deus dederit, usque ad tempus nostrum deducere, de spe quoque sequentis, quantum ex scripturis colligere potuero, non tacere, sed et avium eius in hacperegrinantium memoriam facere. 120 Vgl. G r a b e S.55f. 121 Die Geschichte hat gewissermaßen die augustinische Differenzierung überholt. Vgl. G r a b e S. 49 f. und S. 58: Augustins Herzstück, der Dualismus, ist bei Otto so gut wie aufgehoben.

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

pien122, sondern als ein Kampf, den der Gottesstaat zu bestehen hat123: Wie es in den Söhnen Abrahams vorgezeichnet ist124, wird die civitas Dei ständig durch die civitas mundi bedroht, die auch aus all denen besteht, die sich Gottes Befehlen widersetzen (Chr. 1,4- S. 42,11 ff.)! Der Kirche selbst drohen in zeitlicher Folge drei Gefahren, zuerst durch die Tyrannen in den Christenverfolgungen der heidnischen römischen Kaiser - Otto übernimmt von Orosius (Hist. 7,27) die Parallelisierung der zehn Verfolgungen mit den ägyptischen Plagen vor dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten (Chr. 3,45) - , dann durch die Ketzer, und hier denkt Otto vornehmlich an die häretischen Kaiser mit arianischem Bekenntnis125, und schließlich durch die Heuchler, und zweifellos spricht Otto damit wie manche seiner Zeitgenossen126 die eigene Gegenwart an; eine letzte Verfolgung setzt unter dem Antichristen ein, bei der noch einmal alle Eigenschaften der vorangegangenen Gefahren, Gewalt, Betrug und Täuschung, zusammengefaßt und gesteigert werden127. Erst am Ende der Zeiten siegt der Gottesstaat gründlich über den Weltstaat128. Der Bischof von Freising erreicht mit diesem System der Bedrohungen zugleich eine Periodisierung der Kirchengeschichte, wie sie auch von seinen Zeitgenossen, Rupert von Deutz, Honorius Augustudunensis,

122

So S p ö r l , Civitas Dei S.310. So S c h m i d i i n , Weltanschauung S.61. Es scheint dagegen etwas schwach, wenn H a r t i n g s das dualistische Prinzip der beiden Staaten (S.21 ff.) dann (S.67ff.) auf ein „unsoziales Verhalten" der dvitas terrena gegenüber der civitas Dei beschränkt. 124 Chr. 1,10 (S. 49,1 ff.): Fuerunt autem duo prefati fratres post datam circumcisionem utriusque civitatis, unde agere cepimus, primi cives, posteriorque a priore persecutionem in typum futurorum passus est. 125 Vgl. auch Chr. 7 prol. (oben Anm. IV/89); durch die Häresien erleidet die dvitas Dei intestina mala (Chr.4,8 - S. 194,22ff.); vgl. M ü l l e r , Theologie S.57f. 126 Vgl. Anselm von Havelberg, Dialogi 1,10 ( M i g n e PL 188, Sp.ll52ff.; S a l e t , S. 84ff.); dazu F i η a (Bd. 34) S. 30 ff.; Gerhoh von Reichersberg, Commentarium in Ps. 19 (M i g η e PL 193, Sp. 948 ff.), Comm. in Ps. 75 (M i g η e PL 194, Sp. 402) (Vgl. Μ e u t h e n, Gerhoh S. 127ff.); Honorius Augustudunensis, Expositio in Cantica Canticorum, 1,6 ( M i g n e PL 172, Sp.371 f.). 127 Chr. 8,1 (S. 393,19ff.): Sicut ex scriptum sacra docemur, civitas Christi primo violentam a civitate mundi sub tyrannis infidelibusque regibus, secundo fraudolentam hereticorum, tercio fictam hypochritarum tempore persecutionem passa, Ultimam tarn violentam quam fraudolentam fictamque ac omnium gravissimam sub Antichristo passura erit. - V g l . R a u h S. 316. 128 Vgl. L a m m e r s , Weltgeschichte S.88. - Das Kampfmotiv betonen auch Ottos Zeitgenossen; vgl. oben S. 184 ff. 123

IV.6. Die Konstituierung der civitates

213

Gerhoh von Reichersberg, Hugo von St. Viktor oder Anselm von Havelberg vorgelegt wird129: Bei Otto wird sie durch einen Wandel im Verhältnis zwischen civitas Dei und civitas mundi hervorgerufen, der jeweils neue Epochen mit eigenen Merkmalen schafft130. Hat die civitas permixta den schroffen Gegensatz zwischen beiden civitates zweifellos gemildert (oben S. 208), so ist er doch keineswegs aufgehoben, sondern latent in die civitas Dei hineingetragen131: Hatten Tyrannen und Häretiker noch außerhalb der Kirche gestanden, so gehören die Heuchler dazu. Dadurch vollzieht sich - in einer Zeit, in der die Christenheit nicht mehr von außen bedroht ist, sondern sich in einer Expansionsphase befindet - die Auseinandersetzung eher unterschwellig; erst am Ende der Zeiten wird sie wieder mit aller Deutlichkeit hervorbrechen. Otto sieht das Verhältnis der beiden Staaten zueinander als einen zeitlichen Veränderungen unterworfenen, oft inneren Kampf, der letztlich einem inneren Gegensatz entspricht, der sich hier als historisch erweist. Der „Kampf" der civitates ist - wie bei Augustin dank der Vermischung (nämlich der Zusammenfassung beider in einem Gottesstaat) keine Auseinandersetzung zwischen ihren Manifestationen. Die Ursache des inneren Gegensatzes wie auch der historischen Spielformen der beiden Staaten wird eine Untersuchung der Kriterien sichtbar machen, die Otto eine Identifizierung der Repräsentanten des Gottesstaates von den einzelnen Bürgergenerationen der Frühzeit bis zur civitas permixta erlaubt haben.

6. D i e K o n s t i t u i e r u n g d e r

civitates

Die Frage, welche Kriterien die Zugehörigkeit historischer Gemeinschaften zu jeweils einem der beiden Staaten bewirken, welche spezifi129

Zu den ersten drei Autoren vgl. Be i n e r t S. 321 ff.; zu Gerhoh außerdem M e u t h e n , Gerhoh S . l l l f f . ; zu Hugo E h l e r s S. 136ff.; zu Anselm F i n a , Analecta Praemonstratensia34, 1958, S.34ff., und S p ö r l , Grundformen S.26f.; vgl. auch G ö s s m a n n , Antiqui S. 54 ff. 130 Zugleich wird der Weg des Leidens der Kirche zu ihrer Vollendung eine echte und nachempfundene Christusnachfolge (so Μ ü 11 e r, Theologie S. 59). 151 Vgl. K l i n k e n b e r g S.69.

214

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

sehen, gemeinschaftsbildenden Elemente die beiden civitates also erst formen, berührt sowohl das Wesen der Staaten wie die Gründe für einen Wandel ihrer historischen Erscheinungsform. Beginnen wir wieder mit Augustin. Der Kirchenvater hatte die civitates als Menschenmengen definiert, die durch ein gemeinsames, zielgerichtetes Band zusammengehalten werden 132 und organische Gemeinschaften, societates, bilden133. Otto setzt dieses Gemeinschaftsgefühl, das wie bei dem Kirchenvater letztlich nur in der civitas Dei positiv auf das Ziel der Ewigkeit gerichtet ist, während die civitas mundi sich eher negativ aus dem Mangel eines solchen Bewußtseins konstituiert 134 , gleichsam voraus, wenn er vom corpus Christi oder von den membra diaboli spricht (Chr. 8,34 - S. 456,3 ff.)135. Augustin versteht das einigende Band zweifellos teleologisch: Durch ihre Ausrichtung auf ein gemeinsames (End-) Ziel - und das heißt letztlich durch die Entscheidung für oder gegen Gott (oben S. 164) wachsen die Staaten zu kohärenten Gemeinschaften zusammen; diversa fide, diversa spe, diverso amore (De civitate Dei 18,54 - S. 345,20 ff.), unterscheiden sich die beiden civitates, die historisch das gleiche Schicksal erleiden, in ihrem Glauben, ihrem Ziel (Hoffnung), ihrem Verhältnis zu Gott (Liebe), auch in ihrem Kult 136 : Die civitas Dei ist auf Gott und das Heil ausgerichtet, während die civitas terrena ihr Heil bereits in dieser Welt sucht137. Dem Bischof von Freising ist diese Deutung nicht

132

De civitate Dei 15,8 (S. 73,27ff.); zum populus ebda. 19,24 (S. 400,5 ff.). Ebda. 10,6; 16,10 u. ö., vor allem 12,1 (duae civitates, hoc est societates) und 15,1; vgl. H a r t i n g s S.46. 134 H a r t i n g s S . 6 7 f f . stellt entsprechend fest, daß Ottos dvitas mundi wie Augustins civitas terrena zur Vereinzelung neigt und nur die civitas Dei zur Gemeinschaftsbildung strebt. Tatsächlich ist diese aber Kennzeichen der dvitas überhaupt; allenfalls gilt eine solche Theorie für den eschatologischen Aspekt der beiden Staaten (bzw. tritt bei O t t o eine Vereinzelung erst in der Zeit des Niedergangs der civitas mundi auf). Daß letztlich nur der Gottesstaat eine wahre Gemeinschaft bilden kann, zeigt schon Ottos unterschiedliche Behandlung des Ausgangs der civitates (oben S. 175 ff.). Im Hinblick auf historischpolitische Gemeinschaften aber hatte Augustin gerade und allein dem Weltstaat die Fähigkeit zur Staatsbildung zugestanden (oben S. 210f.). 135 Dazu M ü l l e r , Theologie S. 82 ff. 136 Vgl. dazu W a c h t e l S.148f. 137 Vgl. etwa De civitate Dei 14,28 (S. 56,24ff.): Fecerunt itaque civitates duas amores duo, terrenam sdlicet amor sui usque ad contemptum Dei, caelestem vero amor Dei usque ad contemptum sui. Denique ilia in se ipsa, haec in Domino gloriatur. - Vgl. G r a b e S. 49. 133

IV.6. Die Konstituierung der civitates

215

fremd 138 ; schon zu Beginn der Chronik (Chr. prol. 1 - S. 6,22 ff.) gibt er eine erste Charakterisierung der beiden civitates, indem er deren verschiedene Bezeichnungen zusammenstellt, während er im übrigen eher durchgängig von civitas Dei bzw. civitas Christi und civitas mundi spricht: Nach den Aussagen der katholoci saiptores gibt es duae civitates, -

una temporalis, una mundialis, una diaboli, Babyloniam hanc,

-

alia eterna, alia caelestis, alia Christi, Hierusalem illam.

Noch einmal sei gegen Schmidlin betont, daß „himmlisch" („ewig") und „irdisch" („zeitlich"), nicht aber „geistlich" und „weltlich" Wesensgegensätze der beiden Staaten darstellen; wenn die civitaspermixta schließlich gerade deshalb einen einzigen Staat bildet, weil gut und böse sich hier nicht auf unterschiedliche Gemeinschaften verteilen lassen, so sieht Otto auch darin ein Unterscheidungsmerkmal von Gottes- und Weltstaat; bei Zugrundelegung eines solchen dreifachen Gegensatzes (oben S. 187) verhält es sich also genau umgekehrt, als Schmidlin annimmt, der in „geschichtlicher Zeit" nur geistlich und weltlich als Gegensätze anerkennen will (Weltanschauung S. 62). Danach wären ja in der historischen Ausgestaltung der Staaten eigentlich alle Laien von der civitas Dei ausgeschlossen! Tatsächlich wunderte sich Bernheim (S. 22 f.) noch darüber, daß bei O t t o auch Laien Mitglieder des Gottesstaates sein können!

Da der Wesensgegensatz „zeitlich" und „weltlich" auf der einen, „ewig" und „himmlisch" auf der anderen Seite sich nicht grundsätzlich auf die Lebenswelt der beiden Staaten beziehen kann, die ja beide, wenngleich in sehr verschiedener Form, in die Ewigkeit eingehen, begreift auch Otto die civitates von ihrem unterschiedlichen Ziel (nicht aber von ihrer endgültigen Gestalt) her: Die civitas Dei setzt sich aus den Menschen zusammen, die - und hier gliedert sich die Civitas-Lehre wieder in Ottos Vorstellung vom Geschichtsablauf überhaupt ein (oben S. 165 f.) - das Heil, das Gott der Menschheit beschieden hat, erstreben. Sichtbares Unterscheidungsmerkmal ist deshalb der richtige G l a u b e , der ja Voraussetzung zur Erlangung des Heils ist und die Gemeinschaft 138 Vgl. H a r t i n g s S.54ff., die in ihren Beispielen jedoch von ihrer eigenen Konzeption abweicht, indem sie historische Vorgänge als Belege für diese „Geistreiche" verwendet, ohne daß jeweils von der avitas Dei oder civitas mundi die Rede wäre! Die civitas terrena strebt nach H a r t i n g s (S.62f.) wie bei Augustin nach materiellen, die civitas Dei nach ideellen Gütern.

216

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

formt 139 . (Deshalb können Heiden nicht Mitglieder der dvitas Dei sein, auch wenn Otto vereinzelt Ausnahmen zu machen scheint)140. Die Funktion des Glaubens innerhalb des Gottesstaates offenbart, daß die irdischen Erscheinungsformen in Beziehung zu religiösen, heilsgeschichtlichen Zielen stehen, nach denen sie sich ausrichten. Im Gegensatz zu Augustin faßt Otto aber das gemeinschaftsbildende Element des Glaubens konkreter, äußerlicher. Das zeigt sich bereits am societasBegriff: Das Gesetz (lex) schafft die Gemeinschaft; die nova lex, die Christus in die Welt gebracht hat, führt also zwangsläufig zu einer nova societas (Chr. 3 prol. - oben S. 135). Mit der Einbeziehung des Gesetzes dem Fundament des Staates141 - bleibt Otto im Umkreis der dvitasTerminologie; lex Christi aber meint das christliche Gesetz als religiöse Richtschnur des Neuen Testaments (nova lex): Zur dvitas gehört das Gesetz, zur civitas Dei das Gesetz Gottes. Die irdische Erscheinungsform des Gottesstaates ändert sich also mit der gewandelten Glaubensgrundlage142: Die Verkündigung des Neuen Gesetzes, des Neuen Testaments, erklärt die oben festgestellte Entwicklung, die Ausbreitung des Gottesstaates vom Volk Israel auf alle Christen. Der Freisinger Bischof wendet hier Augustins Staatsdefinition auf die konkreten Verhältnisse und Manifestationen der dvitates an. Wenn er mit den mali nun Elemente in die dvitaspermixta einschließt, bei denen kaum von einem wahren Glauben, vom amor Dei im augustinischen Sinn gesprochen werden kann, so dringt Otto weit weniger in die Tiefe als der Kirchenvater mit seinem Merkmal der Gottesliebe. Tatsächlich gibt er in 139

K l i n k e n b e r g S . 69 definiert die dvitas Dei als die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen, die dvitas diaboli als den Staat der Ungläubigen. 140 Darüber L a m m e r s , Edition S. 113 Anm. 27. Jedenfalls kann man nicht von einer allgemeinen Toleranz Ottos gegenüber den Heiden in vorrömischer Zeit sprechen (so S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 86 f.), nur weil er - als Historiker - ihre Geschichte erzählt. 141 Zu Augustin vgl. S u e r b a u m S. 173ff., zu Orosius ebda. S.222ff. und G o e t z , Orosius S. 89. 142 Nach Hugo von St. Viktor bewirkt dieser Wandel der lex eine Gliederung in die Zeit des Naturgesetzes, des geschriebenen Gesetzes und der Gnade; kennzeichnend ist der Wechsel der Sakramente (vgl. De sacramentisfidei 1 , 1 1 , 3 - M i g n e PL 176, Sp. 343f.); vgl. dazu E h l e r s , Hugo S.60. Anselm von Havelberg beweist den Wandel aus den verschiedenen Opferformen in der Geschichte (Dialogi 1,3 - M i g n e PL 188, Sp. 1144; Sal et S. 46 ff.). Zur Geschichtsformung der Sakramente bei Rupert von Deutz vgl. K a h l e s S.47ff.

IV.6. Die Konstituierung der

ävitates

217

seinem kurzen Überblick über die Geschichte der ävitas Dei (Chr. 4,4 oben S. 132 f.) ein anderes, offenkundigeres Kriterium zur Unterscheidung der irdischen Erscheinungsformen beider Staaten an: Die ävitas Dei manifestiert sich im nachparadiesischen Zustand in Seth, Noah, Abraham, Jakob und dem Volk Israel und schließlich in der Kirche, und sie schließt die übrigen irdischen Gemeinschaften aus, weil all jene Gottesbürger die cognitio veritatis besaßen: Nach der Vertreibung aus dem Paradies blieb dem Menschen nämlich ein vestigium cognoscendae veritatis (S. 188,13 ff.; vgl. oben S. 162f.), die Menschheit aber teilte sich in zwei Gruppen, quibusdam in cognitione veritatis manentibus, plurimis autem exorbitantibus (S. 188,17 f.)143! Nach der Sintflut wuchs der Irrtum, obliterata paulatim in eis cognitione veritatis (S. 188,21), erneut auf ein gewaltiges Ausmaß an. In der Folgezeit, sagt Otto an anderer Stelle und beweist damit, daß es sich hier um eine durchgängige, nicht nur in diesem Kurzabriß (Chr. 4,4) angewandte Vorstellung handelt, wurde die Kenntnis Gottes allein vom Volk Israel bewahrt (notus fuisse Deus creditur)m: Bereits das Wissen um das richtige Ziel gründet die ävitas Dei in ihren irdischen Erscheinungsformen und bestimmt die Mitgliedschaft im Gottesstaat; Irrtum (error) ist dagegen das Kennzeichen des Weltstaates. Irrtum liegt auch dann vor, wenn die Gotteskenntnis nicht zum Glauben führt; mit heidnischen Zeugnissen über Moses belegt Otto, daß die Weltbürger die Wahrheit teilweise durchaus gekannt haben, ihr aber nicht gefolgt sind 145 . Daher gehören auch nicht alle Israeliten zum Gottesvolk (oben S. 196 f.). Die Bürger Babylons, sagt Staudinger (S. 36), sind deshalb nicht etwa zu bedauern, sondern sie sind schuldig, weil sie ihre Kenntnis der Wahrheit nicht verwertet haben. Entsprechend nimmt Babylon alle die Bürger auf, die sich der göttlichen Bestimmung (ordinatio) widersetzen (Chr. 1,4 - S. 42,11 ff.).

Wir erinnern uns, daß in der Wahrheitserkenntnis, Gotteserkenntnis, der Sinn der ottonischen Geschichtsschreibung überhaupt liegt (oben S. 64 ff.) und daß sie eine der Gnadengaben Gottes an den Menschen darstellt, um die Seligkeit zu erwerben (oben S. 162 f.), und aus der Bedeutung des Wissens um Gott und das Heil erklärt es sich, weshalb der 143

Seths Nachkommen etwa schufen die disciplina rerum caelestium! Chr. 2,46 (oben Anm. IV/50). 145 Chr.1,18 (S. 53,8 ff.): Haec idcirco de hystoriis gentium ponere volui, utostenderem cives Babyloniae ad dampnationis suae cumulum veritatis assertores scisse quidem, sed erroris mendatia non deseruisse. 144

218

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

Bischof gerade auch die Förderer der Bildung zu den großen Gottesbürgern zählt (oben S. 200). Dieser zentrale Begriff bestimmt also auch die historische Gestalt der beiden civitates. Zweifellos hängt diese Vorstellung mit Ottos Wertschätzung der sapientia zusammen (oben S. 43 f.), ist es doch gerade der Weise, der, aus seiner (historischen) Kenntnis heraus, den Blick auf die Ewigkeit richtet und den Weg zur Gotteserkenntnis findet (oben S. 161 ff.). Gotteskenntnis aber war in der bisherigen Geschichte jeweils bestimmten Gemeinschaften eigen. Wir erkennen nun, weshalb Otto so konkrete Angaben über die Manifestationen der Staaten machen kann 146 : Gotteskenntnis ist sehr wohl empirisch feststellbar (am Kult, den Augustin besonders hoch wertete)147, und entsprechend historisch, nämlich wirklich und zugleich dem Wandel unterworfen, sind die Manifestationen der civitates. Mit der Kenntnis - und hier erst unterscheidet sich die civitas Dei wirklich von der civitas mundi - wird aber auch das Verhalten geprägt: Der Gottesstaat richtet sich (wie der Weise) auf die Ewigkeit aus. Die Frage „Empirisch oder metaphysisch?" war als Alternative völlig falsch gestellt. Die historisch nachweisbaren Erscheinungsformen der civitates sind ohne jeden Zweifel wirklich (in dieser Welt), sind nicht metaphysische Gemeinschaften, die erst im Jenseits Wirklichkeit werden und hier lediglich in der Vorstellung oder im Wissen Gottes (als „Geistreiche") existieren. Sie verfügen aber ebenso sicher über, wenn man so will, „mystische" Bindungen zu ihrer endgültigen Bestimmung im Jenseits, zu ihrem Ziel (zumindest ist das der civitas Dei bewußt). Die Ausgangsfrage der Otto-Forschung ist folglich umzukehren, die Civitas-Lehre ist von eben jener Zusammensetzung der „mystisch-empirischen civitates" her zu bestimmen. Da Otto die sichtbaren Staaten nicht mit ihrer Vollendung im Jenseits identifiziert, sondern bewußt zwischen einer ewigen civitas Dei coelestisus und einer irdischen civitas Dei peregrinans unterscheidet, sind die Zusammenhänge 146

Diese offenkundige, aber entscheidende Feststellung ist bisher, soweit ich sehe, nirgends nachvollzogen worden, weil man sich zu sehr von anderen Gesichtspunkten leiten ließ. 147 Bei Hugo von St. Viktor werden die ävitates durch die Bindung an die Sakramente gebildet (die civitas diaboli benutzt dabei die falschen Sakramente). 148 Augustin hatte diesen Begriff vor allem auf den „nichtpilgernden Teil" des Gottesstaates, die Engel, bezogen, eine Differenzierung, die Otto an keiner Stelle anspricht.

IV. 7. Civitas Dei peregrinans

und civitas Dei

219

coelestis

zwischen beiden Formen zu untersuchen, die Gründe für die Doppelsphärigkeit herauszuarbeiten, die es Otto erlauben, trotz der Unterschiede schon hier von einem Gottesstaat zu sprechen. In diesem ekklesiologischen Problem 149 steckt die eigentliche Kernfrage nach dem Wesen der civitates und nach Ottos Interpretation der augustinischen Zweistaatenlehre.

7. Civitas Dei peregrinans u n d civitas coelestis: Die Frage nach dem Wesen der

Dei civitates

Schon bei Augustin sind die civitates der himmlischen wie der irdischen Sphäre gleichzeitig verbunden 150 . Ewigkeit und Zeit sind für den Christen schon aufgrund der Heilserwartung und des Heilsziels aufeinander bezogen; für Ottos Zeitgenossen, vor allem für Rupert von Deutz 151 , wird diese Verbindung durch Christus und die Sakramente hergestellt, durch die die Ewigkeit „in die Zeit einbricht" 152 . Otto selbst gibt drei verschiedene Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen irdischem und ewigem Gottesstaat: Es bestehen Bindungen a) terminologischer Art: Der Bischof verwendet den gleichen Begriff (civitas Dei) für beide Sphären; b) teleologischer Art: Die irdische Gottesstaat richtet sich auf das ewige Ziel hin aus; c) historischer Art: Der ewige Gottesstaat ist Ziel einer langen Entwicklung. a) Die Begrifflichkeit als Ausdruck ontologischer und figuraler Bezüge Wenn Otto von einem Gottesstaat auf Erden spricht und das „Reich Christi" mit der Kirche identifiziert, obwohl beide von der Vollendung Vgl. Β e i η e r : S. 408: Das ekklesiologische Problem des 12. Jahrhunderts war nicht, wie die Kirche sichtbar war, sondern wie die weltliche Kirche in den Himmel kommen konnte. 150 Vgl. W a c h t e l S. 119; O r b ä n S. 181 ff. 151 Vgl. K a h l e s S.47ff. 152 Ebda. S. 84.

220

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

noch weit entfernt sind, so liegt es nahe, die Gründe dafür zunächst in seiner besonderen Begrifflichkeit zu suchen. Wir haben bereits oben (S. 83 ff.) erkannt, daß er sich gezwungen sieht, alles Himmlische mit menschlich-geschöpflichen Denkweisen (rationes humanae) wiederzugeben (Chr. 3 prol. - S. 131,14 ff.), da es die menschliche Vorstellungs- und damit Ausdruckskraft übersteigt. Die Grenzen der ratio, die ihrerseits wiederum nur eine Folge des gewaltigen Unterschieds zwischen Schöpfer und Geschöpf sind (oben S. 110 ff.), hemmen auch ein letztes Verständnis der civitas Dei coelestis: Nicht der pilgernde Gottesstaat ist unzutreffend, sondern umgekehrt die himmlische avitas Dei ist unzureichend, von menschlichen Vorstellungen her, bezeichnet153! Sie ist höher und jenseitiger, als ein Begriff auszudrücken vermag, eben „göttlich", während „Gottesstaat" - und hier liegt eine erste Rechtfertigung der Terminologie - die irdische Gemeinschaft durchaus trifft, da diese konkret ist. Nichtsdestoweniger zweifelt Otto nicht an der wahren Wirklichkeit des lediglich unzureichend bezeichneten himmlischen Gottesstaates: Das nomen impliziert für den mittelalterlichen Denker, zumal den Begriffsrealisten, stets die eigentlich gemeinte Sache (res), wenn es auch notwendig menschlichen Ursprungs ist (vgl. oben S. 85); indem er die Unvollkommenheit der menschlichen Vorstellungskraft erkennt, gibt er zugleich zu, daß das Bezeichnete selbst vollkommen ist (so scheint mir das leidige Universalienproblem zeitgemäßer erfaßt); die eigentliche Wirklichkeit liegt im Ewigen, von dem das Irdische, das Geschöpf, wie Otto glaubt, „denominiert" 154 , das heißt (begrifflich) abgeleitet ist. Die terminologische Ableitung würde freilich nur einen recht äußerlichen Zusammenhang zwischen himmlischem und irdischem Gottesstaat schaffen können, wenn Denomination für Otto nicht zugleich P a r t i z i p a t i o n , Teilhabe am Sein, bedeutete (und deshalb ist die pilgernde civitas Dei erst so konkret-wirklich). Der begrifflichen Ableitung entspricht also eine ontologische (vgl. oben S. 115 f.): Der himmlische

153 Würde man bei dieser Feststellung stehenbleiben, so müßte man Otto geradezu als Nominalisten bezeichnen. Wir werden aber sogleich sehen, daß diese (traditionellen) Kategorien der Universalienlehre hier nicht passen. 154 Vgl. oben S. 115 f. (der Mensch ist denominatione bonitatis bonus, der Engel tropus.

IV.7. Civitas Dei peregrinans und civitas Dei coelestis

221

Gottesstaat ist, wenngleich rein sprachlich ein Produkt menschlicher Unfähigkeit, Höheres zu benennen, als das Wahre zugleich Ursprung und Ziel des irdischen, der sein Sein erst von der civitas Dei coelestis ableitet und damit nicht die Verwirklichung selbst, aber dennoch wirklich ist, wie die irdischen Erscheinungsformen beweisen155. Das Ewige aber läßt sich - gerade wegen der unvollkommenen menschlichen Ausdrucksweise - nur mit Hilfe von „Bildern" erfassen, wird doch alles Geistige und Unsichtbare nur in seinen Ableitungen, den sichtbaren Symbolen greifbar (oben S. 80 ff.). Hier liegt ein Grund, weshalb Otto seine gesamten metaphysischen Geschichtsvorstellungen überhaupt in die Symbolik der Civitas-Lehre einkleidet, die darüber ja nicht ihren Wirklichkeitsgehalt verliert156. Bereits der vom Neuplatonismus beeinflußte Augustin hat von einer irdischen civitas Dei sprechen können, weil er in ihr ein Abbild, den Schatten, ihrer ewigen Verwirklichung erblickte157, und Ähnliches klingt auch bei Otto an158. Wie schon die dvitas ein - da Otto sich das ewige Leben als staatliche Gemeinschaft vorstellt (oben S. 176 f.)159, durchaus angemessenes - Bild darstellt, wie die Namen „Babylon" und .Jerusalem" figuratio für die ewige Verdammung bzw. das ewige Leben sind160, so ist das Neue Jerusalem, so interpretiert der Bischof den Psalmisten (Ps. 121,3), nicht als, sondern wie (ttt) eine civitas erbaut, non nostro more nec nostns lapidibus, sed divina

155 Hier geht es allein um ein Verständnis der Denkweise Ottos, der an diese Ableitung glaubt. Es bleibt deshalb ohne Belang, daß der Bischof tatsächlich, wie er ja auch zugibt, weltliche Vorstellungen auf das himmlische Reich überträgt. An dem inneren Zusammenhang beider Sphären ändert das nichts, doch hat gerade diese uns fremde Denkweise zu Mißverständnissen beigetragen. 156 Sie ist nicht eine Konstruktion, mit der er die Geschichte zusammenhält, sondern die Realität, das eigentlich Gemeinte in der Geschichte, sagt S t a u d i η g e r S. 37. 157 Vgl. De civitate Dei 15,2 (S. 60,3ff.): Umbra sane quaedam civitatis huius et imago prophetica ei significandae potius quam praesentandae servivit in terris; ebda. (S. 61,2 ff.): Pars enim quaedam terrenae civitatis imago caelestis civitatis effecta est, non se significando, sed alteram, et ideo serviens. 158 Den Abbildcharakter irdischer Gemeinschaften hebt besonders Η a r t i η g s S. 74 ff. hervor, doch sie beschränkt den Zusammenhang auf diesen einen Aspekt und bestreitet die reale Wirklichkeit dieser Abbilder (als civitates). 159 Vgl. S ρ ö r 1, Grundformen S. 47: Das himmlische Reich ist die konkrete Fortbildung des letztlich im Transzendenten verankerten Reichsgedankens. 160 Vgl. Chr. 1,4 (S. 42,11 ff.): Haec (nämlich das Babel des Turmbaus) est illa Babylon, figurans earn, cuius sunt cives omnes, qui ordinationi Dei süperbe resistere conantur ac per hoc ,confusione digni' (Prov. 18,13) ab aeterno iudice reputantur.

222

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

virtute vivisque ex lapidibus ipsam edificandam declaravit (Chr. 8,26 S. 432,25 if.). Die civitas Dei peregrinans aber ist - gerade wegen ihrer Ableitung - Figur des ewigen Gottesstaates, sie stellt somit den Zusammenhang beider Sphären her und ist folglich zu vergleichenden Aussagen über das Himmlische fähig. Das irdische Jerusalem, schreibt Otto in seinem Kreuzzugsbericht (Chr. 7,7 - S. 316,2 f.), trägt den Typus des himmlischen Gottesstaates, über den die Chronik handelt, in sich, die Kirche wird zu einem Spiegel der himmlischen civitas Dei (oben S. 85) und leitet daraus eine recht reale Verwirklichung des Reiches Christi ab161. Wenn Otto den gleichen Begriff verwendet, so folgt er nach eigenen Worten außerdem dem biblischen Wortgebrauch 162 . „Empirischer" und „mystischer" Charakter der civitas Dei (oben S. 186 ff.) sind zu Recht begrifflich aufeinander bezogen und nicht zu trennen, weil sie - auf verschiedenen ontologischen Ebenen und das heißt: in verschiedenen Erscheinungsformen - dieselbe Gemeinschaft, das Reich Christi, bezeichnen, ohne jedoch identisch zu werden. Doch Otto bleibt nicht bei dieser philosophischen Erklärung stehen, sondern ergänzt sie durch die teleologische Ausrichtung des pilgernden Gottesstaates auf sein Ziel.

b) Die Ausrichtung des irdischen Gottesstaates auf das ewige Ziel Der Gottesstaat ist auf seiner Pilgerschaft durch die Geschichte (oben S. 210 f.) dem Wandel alles Irdischen unterworfen, denn seine Erscheinungsformen ändern sich (oben S. 195 ff.), und wir haben bereits die Gründe dafür bestimmt. Wenn Otto dennoch die civitas Dei schlechthin als ewig und himmlisch bezeichnen kann (oben S. 213 ff.), so geschieht das im Hinblick auf das Ziel (finis), das nicht nur das Ende bezeichnet (denn den Weltstaat nennt Otto in demselben Zusammenhang „temporalis", obwohl er ebenfalls in die Ewigkeit, allerdings in eine ewige Verdammung, übergehen wird), sondern vor allem die Zielrichtung, die 161

Chr. 3,6 (oben Anm. III/165). Chr. 8 prol. (S. 390,10 ff.): Denique quod qcclesia non solum cum Christo regnans, sed et in presenti horreo granum et paleam continens regnum Christi vocetur, in Evangelio manifestissime hahes (Mt. 13,41), übt de regno suo scandala, quae nulla profecto in illa caelestipatria tranquillissima etfelicissima forepoterunt, auferenda predicuntur. - Vgl. dann oben Anm. IV/109 und unten Anm. IV/203. 162

IV. 7. Civitas Dei peregnnans und civitas Dei coelestis

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Ausrichtung, angibt; mit gleichem Recht überträgt der Bischof die aus seiner Geschichtsschreibung gewonnene Erkenntnis der Veränderlichkeit auf die Civitas-Lehre und ordnet der civitas mundi, die mit ihren Gesetzen der Welt, dem mundus, verhaftet bleibt (und daher erst ihren Namen empfängt), die mutabilitas, der civitas Dei aber eine (gewisse) stabilitas zu 163 , wenn diese auf Erden auch noch relativ sein mag: Wir, die Menschen, die wir in der Welt leben, sagt Otto, sind in dauernder rotierender oder fallender Bewegung befangen, wir gehen zugrunde, aber die civitas Dei als solche - und die Wendung fundata supra firmam petram (nach dem gerade im Investiturstreit häufig gebrauchten Evangelienzitat Mt. 16,18) weckt wiederum Assoziationen zur Petruskirche, zur Papstkirche! - bleibt unbewegt und ewig164, denn sie wird, obwohl sie in der Welt lebt, durch die Übel der Welt nicht erschüttert 165 . Mit ihrer Stabilität ist diese pilgernde civitas Christi zweifellos - und wieder greifen irdische und transzendente Sphären ineinander - auf die Ewigkeit (aeternaliter), auf das Jenseits, ausgerichtet (Otto spricht bezeichnenderweise gleich bei seiner ersten Erwähnung der stabilitas von der civitas Dei Ierusalem caelestis166, und wenn er bei der Beschreibung der römischen Bürgerkriege beteuert, er wolle sich nun schnell von den cives mundi abund den cives Dei, den christlichen Zeiten, zuwenden, so sieht er in dieser konkreten Aussage zugleich auch eine Hinwendung zum Ewigen, denn so will er sein Versprechen, über die felicitas sine fine zu schreiben,

163

Vgl. K l i n k e n b e r g S.66ff., der (S.72ff.) gerade in der Rückverlegung der stabilitas in das Leben (Mönchtum) die Eigenständigkeit Ottos erblickt, der sich hier von Augustin losringt. 1M Chr. 2,25 (S. 98,20 ff.) zum Tod Alexanders des Großen, der doch das Persische Weltreich zerstört hatte: Regni Macedonum monarchia, quae ab ipso cepit, ipso mortuo cum ipso finitur. Nos vero hoc non adtendimus, qui mundum diligimus, qui ipsi tanquam aeternae rei ac permanenti inherere volumus. Cadimus cum cadente, labimus cum labente, volvimur cum rotante, postremo perimus cum pereunte. Civitas autem Christi fundata supra firmam petram malis ac tempestatibus mundi non concutitur, immobilisque ac inconcussa manens aeternaliter regnare, aeternaliter coronari meretur. - Zur Verwendung des Matthäus-Zitats in Streitschriften vgl. Max H a c k e l s p e r g e r , Bibel und mittelalterlicher Reichsgedanke. Studien und Beiträge zum Gebrauch der Bibel im Streit zwischen Kaisenum und Papsttum zur Zeit der Salier, Diss. München, Bottrop 1934, S. 22 und S. 45. 163 Da der Sinn dieser Worte nicht sein kann, daß es hier gar keine mala und tempestata gibt, meint Otto offensichtlich, daß diese der dvitas Christi nichts anhaben können. 166 Chr. 1 prol. (oben S. 161).

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

einlösen) 167 . Was zugrundegeht, wie in dem zitierten Beispiel das Reich Alexanders des Großen, (und das betrifft die gesamte irdische Geschichte), kann letztlich nicht der Ewigkeit angehören, nicht Teil der civitas Chnsti sein, die die Zeiten überdauern wird. Zur „Weltbürgerschaft" wird die Wanderung durch das saeculum jedoch erst dann, wenn sie keine Pilgerschaft mehr ist, wenn der Mensch die Welt also „wie das Ewige und Bleibende" verehrt (tanquam aetemae rei ac permanenti inherere) und der mutabilitas verfällt, „mit ihr fällt", passiv (labimur - volvimur!) von ihr bestimmt wird; erst dann wird er mit der Welt untergehen. Er verdient dagegen die ewige Krönung, wenn er sich von der Vergänglichkeit abund der Ewigkeit zuwendet (vgl. oben S. 161 f.). Nicht amorpresentium, sondern desiderium aeternorum muß das Ziel des Menschen sein 168 ; wie Augustin verlangt Otto eine A b k e h r v o n d e r L i e b e z u r W e l t , als ob sie schon etwas Ewiges und Dauerndes sei, und verknüpft so im Glauben die konkrete Wirklichkeit mit der endgültigen Bestimmung (Heil) durch die Ausrichtung auf dieses Ziel, die dem Gottesbürger schon jetzt eine Aufgabe zuweist; dieselbe Aufgabe, die der Mensch überhaupt im Geschichtsablauf zu erfüllen hat (oben S. 167 ff.), gliedert ihn in die civitas Dei ein; nicht nur sein Wissen (oben S. 213 ff.), sondern auch sein Verhalten prägt den Gottesstaat 169 . Der einzelne Mensch hat Anteil an der stabilitas, wenn er sich ihr zuwendet und sie zu seinem Ziel macht, und er sichert damit die Kontinuität der pilgernden civitas Dei, die auf diese Weise noch einmal Anteil an der Ewigkeit gewinnt, weil sie diesem Ziel zustrebt. Auf Erden noch den irdischen Gesetzen unterworfen, ist der pilgernde Gottesstaat dank der Ausrichtung seiner Bürger auf das ewige Heil bereits civitas Dei; er lebt in der Hoffnung, in der expectatio auf die Vollendung auf einer unvollkommenen Stufe, die einen Vorgeschmack (pregustatio: Anm. IV/119) erlaubt 170 , aber nicht die Vollendung selbst

Chr. 2,43 (oben Anm. 1/310). Das können die Christen sogar von den heidnischen Philosophen lernen; Chr. 2,34 (S. 108,15 ff.): Restat igitur, utnos, qui in qcclesia esse cemimur, exemplo gentium, secundum quodphopheta ait: ,Erubesce, Sydon, ait mare' (Is. 23,4) de malis operibus erubescamus ac de amore presentium ad aeternorum desiderium conversi rapiamur. Das ist entscheidender als das Aufweisen guter Werke bzw. deren Mangel, auf die H a r t i n g s S.59 hinweist. 170 Vgl. K l i n k e n b e r g S . 7 0 . 167

168

IV.7. Civitas Dei peregrinans und civitas Dei coelestis

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darstellt (wie auch wahre Gotteserkenntnis erst im Jenseits erreicht werden kann)171, sondern sich erst ihrem Ziel zuentwickelt.

c) Der Entwicklungsgedanke: Drei status des Gottesstaates Der ontologische (Teilhabe) und teleologische Zusammenhang (Ausrichtung) zwischen der pilgernden ävitas Dei und ihrem himmlischen Urbild ist historisch nur aus dem Entwicklungsgedanken, aus dem Fortschrittsdenken Ottos von Freising zu erklären: Der Bischof begreift die Geschichte der ävitas Dei - und daß es sich um eine „Geschichte" handelt, beweisen die Wandlungen, in denen die Träger des Gottesstaates einander ablösen - als eine fortschreitende Entwicklung, in deren Verlauf sich die Gottesbürger vermehren (progressus et profectus)in. Fortschritt bedeutet hier nicht mehr wie bei Orosius eine allumfassende Besserung der Zeiten allein um der unter Gottes besonderem Schutz stehenden Christen willen173, denn die Welt bleibt veränderlich; Fortschritt - und damit in gewisser Weise eben auch Stabilität (oben S.222f.) - meint vielmehr zunehmende und dem Ziel immer näher rückende Gemeinschaftsbildung innerhalb der societas des Gottesstaates, inmitten einer der mutabilitas unterworfenen Welt. Ottos Fortschrittsglaube (oben S. 133 f.) bezieht sich unmittelbar und ausschließlich auf die civitas Dei:174 Da das wachsende Gemeinschaftsgefühl (societas) und die steigende Erkenntniskraft (ratio) die Wahrheitserkenntnis (ad cognoscendam veritatem) fördern (Anm. 111/67), haben sie zwangsläufig ein W a c h s t u m des G o t t e s s t a a t e s zur Folge, der sich (auf Erden) ja gerade durch diese Elemente konstituiert! Für Otto, der die gesamte Geschichte als eine gestufte Entwicklung betrachtet (oben S. 137 f.), leitet jeder grundlegende Wandel der Manifestation des Gottesstaates einen neuen status, eine der drei Weltzeiten ein, die das Wachstum der civitas Dei und den Niedergang der civitas mundi

171 Vgl. oben S. 176 ff. - Vgl. auch Chr. 8,26 (S. 433,22 ff.). In solchen Gedanken sieht Otto freilich nur eine Möglichkeit der Auslegung von Apoc. 21,2. 172 Chr. 2 prol. (oben S.59); vgl. dazu oben S.134f. 173 Darüber G o e t z , Orosius S.98ff. und S. 117ff. 174 Vgl. B r e z z i , Ottone S. 298 ff.

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

widerspiegeln; der himmlische Gottesstaat gliedert sich dabei als 3. Status in diese Entwicklung ein (Chr. 8 prol. - S. 391,8ff.) 175 : Civitatis perversae triplex eque secundus tempore gratiae fuit et miser, secundus miserior, tercius abiectus, secundus prosper, tercius tercius perfectus.

status invenitur, quorum primus ante gratiam, est, tercius post presentem vitam erit. Primus miserrimus. Ε contra alterius partis primus beatus, vel primus humilis, secundus mediocris,

(1) Der erste Status (ante gratiam), der bis zur Geburt Christi dauerte, stand völlig im Zeichen der Vorherrschaft der civitas mundi; Otto nennt ihn deshalb den status miser, den elenden, doch zugleich noch am wenigsten elenden Zustand des Weltstaates, als die civitas Dei noch erniedrigt (abiectus) und (ge)demütig(t) (humilis), nämlich mit wenigen Mitgliedern in der civitas mundi verborgen (una in alia latendo usque ad adventum Christi), lebte176: Nach dem Sündenfall gab es nur wenige Mitglieder, deren Zahl bis zur Sintflut noch weiter abnahm; gemessen an der Mitgliederzahl, bedeuteten Noah und dann wieder Abraham offensichtlich Tiefpunkte des Gottesstaates (Chr. 4,4); seit Jakob beschränkte sich die civitas Dei auf das Volk Israel177, das in Ägypten gewaltig anwuchs; bis auf diese wenigen Israeliten aber waren fast alle Menschen irregeleitet und vom Teufel, dem „Herrn der Welt" ( = des Weltstaates!) gelenkt; über die cives Christi ist kaum etwas zu berichten, weil die cives mundi das Weltgeschehen völlig bestimmt haben178. Wenn Spörl, Grundformen S. 42, feststellt, Otto räume der dvitas diaboli von Anfang an mehr Raum ein als Augustin, so gilt das gerade vom ersten Status, den

175 Vgl. H a s h a g e n S.62; G r a b e S.58; L a m m e r s , WeltgeschichteS.86f.-Mohr S. 291 f. begreift die gesamte hier dargestellte Status-Lehre als Ergebnis einer Wandlung der Überzeugungen Ottos, doch hat der Bischof auch sie ja in denselben Traditionen (Augustin) vorgefunden, denen er von Anfang an folgt. M o h r verstrickt sich übrigens selbst in Widersprüche: Einerseits glaubt er an einen Gesinnungswandel Ottos während der Abfassung des 7. Buchs der Chronik (S. 288 f.), ist also bereits das 8. Buch Ausdruck der gewandelten Anschauungen Ottos (S. 291), andererseits hat erst das Scheitern des 2. Kreuzzugs seinen Vorstellungen den Boden entzogen (S. 292). 176 Chr. 5 prol. (oben Anm. IV/81). 177 Chr. 2,46 (oben Anm. IV/50). 178 Chr. 3 prol. (S. 130,5ff.): Prioribus enim de civibus Christi pauca, multa vero de mundi civibus dicendi materiam habui, quia a primo homine ad Christum totus pene orbis, exceptis de Israelitico populo paucis, errore deceptus, vanis superstitionibus deditus, demonum ludicris captus, mundi illecebris irretitus sub prindpe mundi diabolo militasse invenitur. - Vgl. S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 84.

IV. 7. Civitas Dei peregrinans und civitas Dei coelestis

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Otto eben als Epoche des Weltstaates begreift. Im übrigen verliert die Behauptung, die sich auf den unterschiedlichen Titel („De duabus civitatibus" statt: „De civitate Dei") stützt (vgl. oben S. 56), im Laufe der Entwicklung ihre Richtigkeit. Ein solches Vorgehen unterscheidet Otto auch noch nicht von Augustin. Gegen Spörls Argument hat bereits Hartings (S. 23) eingewandt, auch Augustin habe, wie er in seinen Retraktationen beteuert, ein Werk über beide Staaten geschrieben, es aber nur nach dem besseren benannt, und habe im übrigen die civitas terrena recht umfassend behandelt. (2) Der zweite Status (tempus grattae) brachte mit der Lehre Christi eine grundlegende Erweiterung der Gotteskenntnis und eine Zeitenwende 179 : Die civitas Dei breitete sich über die ganze Erde 180 , von dem einen Volk (Israel) auf alle Völker bis an die Grenzen des Weltkreises aus181 und errang schließlich unter Konstantin auch die Vorherrschaft in der irdischen Geschichte, während der Weltstaat allmählich schwand 182 und schließlich ganz in der Kirche, in dem einen Staat der civitas permixta (oben S. 203 ff.), aufging. Grabe S. 58 und Lammers S. 86 f. setzen den Beginn des 2. Status erst mit dem Ende der heidnischen Fürsten an (vgl. unten Anm. IV/192), doch weist das Gliederungsprinzip andererseits eindeutig auf eine Wende seit Christus (vgl. oben S. 137); wenn man nicht unterschiedliche Epocheneinteilungen für die Geschichte des Welt- und Gottesstaates annehmen will, bleibt nur zu schließen, daß Otto bewußt nicht genauer differenziert, weil für ihn Christentum und christliches Kaisertum in einer unabänderlichen Kausalkette zusammenhängen und ihm die civitas permixta als eine zwangsläufige Folge der christlichen Ära erscheint. Melville (Niedergangsbewußtsein S. 134) spricht - allerdings gegen Ottos eigene Einteilung - sogar von vier Epochen, indem er die Zeit von Christus bis Theodosius und die Zeit der civitas permixta als jeweils eigenständige Phasen interpretiert. Hat Otto die vorchristliche Zeit als Epoche der civitas mundi gekennzeichnet, so spricht er seit Christus von einem Zeitalter der civitas Deim, in dem der Erlöser selbst (in seiner Kirche) herrscht und sein Reich (regnum) auf Erden errichtet (vgl. oben S. 166 f.). Deshalb bedeutet 179 Vgl. Chr.3 prol. (S. 130,1 ff.): . . . presertim cum ad Christiana tempora tarn venerimus, donante Deo tanto libentius, quanto de civitate Dei ob nasäturamfidem uberius dicere potero, ... 180 Chr. 3,22 (oben Anm. IV/56). 181 Chr. 3,14 (oben Anm. IV/55). 182 Chr. 4,5 (S. 191,12 ff.: Vide regno Christi crescente regnum mundi paulatim imminui. - Vgl. auch Chr. 5 prol. (oben Anm. IV/81). - Vgl. F u η k e η s t e i η S. 106 f. 183 Vgl. Chr. 2,43 (oben Anm. 1/310).

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

dieser (gegenwärtige) Zeitabschnitt einen status miserior für den Weltstaat, dem selbst in seiner „Heimat" das Regiment entgleitet, während er sich für die civitas Dei zu einem Zustand des Gedeihens (status prosper), zum „mittleren" Ubergangszustand, auswächst. Otto läßt aber keinen Zweifel daran aufkommen, daß eine Realisierung der endgültigen civitas Dei auf Erden - und hier verbinden sich mutabilitas- und civitas-Idee nicht zu erreichen ist 184 . Bereits der Begriff mediocris für diesen Status besagt, daß noch ein dritter Zustand folgen wird, der über eine „Mittelmäßigkeit" hinausgeht. Die Verwirklichung der civitas Dei auf Erden, die Spörl (Civitas Dei S. 312) bei Otto gerade gegenüber Augustin feststellen will (oben S. 187 f.)185, ist tatsächlich nur eine weitere Stufe des Fortschritts in der Entwicklung des Gottesstaates: Die Vermischung der civitates, die bei Augustin in erster Linie, wie Spörl erkannt hat, die Unvollkommenheit gegenüber der endgültigen Trennung ausdrücken soll (De civitate Dei 1,35), wird bei Otto zu einem Fortschrittsprinzip, das die Kirche mit ihrer irdischen Vorherrschaft dem Ziel näherbringt, ohne daß sie hier schon angelangt wäre. Die civitas Dei der ersten beiden Status ist, wie Otto ausdrücklich betont, bei allerprosperitas, necadhuc, ut infuturo erit, gloriose perfectus et beatus (Chr. 8 prol. - S. 391,14 ff.), und der Bischof bezeichnet die Ansicht, Christi Reich werde sich auf Erden verwirklichen, selbst als irrig (Chr. 8,26 - S. 431,30 ff.)186. Deshalb geht auch Klinkenberg (S. 72 ff.) zu weit, wenn er aus der Stabilität der civitas Dei auf Erden im Mönchtum eine völlige Loslösung von Augustin erschließt und folgert, Otto verlege die siebte aetas der quies, die ewige Ruhe, in die Welt187. Otto bezeugt nirgends einen Zusammenhang zwischen seiner aetas-Lehre und dem Mönchtum; seine Gegenwart bildet noch nicht die „Epoche der Heiligen" (so Klinkenberg S. 75); vielmehr zeigt gerade das 7. Buch, wie wir noch sehen werden (unten S. 266 ff.) , die neu auftretenden Spannungen auf! Vorsichtiger äußert sich Funkenstein (S. 110): Der latente Gegensatz zwischen den sechs Zeitaltern und dem parallel laufenden 7. Zeitalter werde nun im Mönchtum offenbar. Die Folgerung, für die spiritualisierte Kirche bedeutete das Endgericht nur noch eine Stabilisierung ihrer schon auf Erden erreichten perfectio und quies, scheint aber überspitzt, denn der Übergang geht nicht ohne entscheidende Veränderungen vor sich (unten S. 229); außerdem kann man nicht die gesamte Kirche mit der von Otto bezeugten quies des Mönchtums gleichsetzen. Auch Grabe (S. 59 f.) scheint eine Vorwegnahme des 3. Status durch die geistlichen Orden anzunehmen, wenngleich er nicht mehr von einer 184

Vgl. H a r t i n g s S.69f. Vgl. auch oben S. 161 ff. - Gegen S p ö r l vgl. bereits S t a u d i n g e r S . 42 f. (für Otto gibt es kein irdisches Ziel der Geschichte) und M ü l l e r , Theologie S. 67. 186 Vgl. M ü l l e r , Theologie S. 80. 187 Den Widerstand der Teufelsbürger wertet K l i n k e n b e r g in diesem Sinn als einen aussichtslosen Verzweiflungskampf vor dem Ende ab. 188 Gegen K l i n k e n b e r g s Lehre vgl. bereits T ö p f e r S.26f. 185

IV. 7. Civitas Dei peregrinans

und civitas Dei

coelestis

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Verwirklichung, sondern von einer Antizipierung spricht. Die Idee einer Verwirklichung des Gottesstaates auf Erden sieht Grabe erst durch Ottos Erfahrungen aus dem Investiturstreit erschüttert, doch bleibt zu bedenken, daß der Bischof seine Chronik ja bereits unter diesem Eindruck begonnen hat, dadurch also kaum eine Änderung seiner Vorstellungen eingetreten sein kann!

(3) Erst der dritte Status (post presentem vitam) wird die Vollendung bringen, nachdem Christus im Jüngsten Gericht die beiden civitates geschieden (Chr. 8,15 - S. 412,20 f.) und zur Rechten und Linken aufgestellt hat (Chr. 8,16 - S. 413,23 ff.); jetzt erlebt die civitas Christi ihre wahre Erhöhung, ihren glückseligen oder vollkommenen (beatus vel perfectus) Zustand, während die civitas mundi nach dem Untergang des Antichristen in ihrem status miserrimus zugrundegeht 189 ; für den Gottesstaat beginnt die lang erstrebte, stabile Ewigkeit und die wahre cognitio Dei, für den Weltstaat die Strafe der ewigen Verdammung, des ewigen Todes (oben S. 175)190, wie Otto sie schon zu Beginn der Chronik prophezeit191. Das Ende (finis) der civitas Dei ist - in der Doppelbedeutung des Wortes - ihr „Ziel", das Ende der civitas mundi dagegen perditio (Chr. 7,35 - S. 373,32 ff.). Der dritte Status bedeutet deshalb nicht nur eine „Zeit" der Vorherrschaft des Gottesstaates wie in der Gegenwart, sondern seiner Herrschaft schlechthin. In der ewigen avitas Dei, der „Wohnung" der Erwählten, genießen Engel und Menschen, die „Wände" dieser Wohnung, gemeinsam die ewige Seligkeit (Chr. 8,30 S. 441,1 f.). Der dritte Status der Civitas-Lehre entspricht völlig Ottos eschatologischem Geschichtsbild (oben S. 169 ff.). Ψ

189 Vgl. obenS. 170ff.;vgl. Chr.3,45 (S. 179,21 ff. nach Orosius, Hist. 7,27): Sicutautem Pharao insequendo populum Dei ad mare Rubrum, quae XV persecutio fuit cum exeratu suo funditus est deletus, sie civitas mundi, quae modo multis modis divina ultione percussa est et percutitur, cum capite suo Antichristo XIid est novissimam ac omnium periculosissimam, persecutionem movebit ibique percusso Antichristo funditus delebitur. Civitas autem Christi exaltata exaltabitur ac in etemum cum ipso regnatura feliciter consummabitur. - Chr. 8,21 (S. 425,12) spricht Otto von miserrimus ille et infelkissimus status des Weltstaates, der den ewigen Tod bedeutet. 190 Vgl. Chr. 8,20 (S. 418,15 ff.): Discussa enim, ut dictum est, in iudicio ambarum causa, illa(= civitas Dei) pro qualitate meritorum coronabitur, ista (= civitas mundi) cum capite suo diabolo prineipeque ac seduetore suo Antichristo etemis penis condempnabitur. 1,1 Chr. 1,9 (S. 48,20 ff.): cives Babyloniae mundique amatores, inter quos nunepremitur ac conculcatur fcclesia; in extreme iudicis examine cum auetore suo igne puniendos aeterna iustosque ab eis separates in caelestis regni habitaculum assumendos fore.

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

Der Bischof von Freising begreift auch die Geschichte der civitates historisch: Die Weltgeschichte, die mit der Heilsgeschichte durchaus identisch ist (vgl. oben S. 69 f.), entwickelt sich auf ihrem Weg zum Heil in der Gestalt der beiden Staaten, die eine (sprunghafte) Entwicklung über drei Weltepochen durchmachen und mit jedem Status einen völlig neuen Zustand erreichen 192 . Beide civitates stehen dabei in einem reziproken Verhältnis zueinander 193 : Die civitas mundi nimmt in dem Maße ab, wie die civitas Dei, die in der civitas permixta sogar einen irdischen Höhepunkt erreicht, wächst 194 . Der Entwicklungsgedanke gibt uns die deutlichste Erklärung für das Verhältnis von irdischer und ewiger civitas Dei: Der Gottesstaat strebt seinem himmlischen Ziel entgegen, erreicht es aber erst im dritten Status nach einer langen, vom Fortschritt geprägten,historischen Entwicklung über mehrere Erscheinungsformen. Irdische und himmlische civitas Dei werden also nie wirklich identisch, so daß man nicht die Unterschiede auflösen darf (wie Spörl), hängen aber als aufeinanderfolgende Repräsentanten des Gottesstaates im Geschichtsablauf eng miteinander zusammen, und Otto kann behaupten, die ecclesia als regnum Christi, die sich in diesem Leben ausbreitet, gehe nach der Verurteilung der Gottlosen in die Ewigkeit ein (Chr. 2,4 - S. 72,1 ff.); schon die ecclesia kann deshalb dvitas Dei genannt werden, weil das eigentliche Gottesreich als ein himmlisches noch gar nicht existiert, sondern erst am Ende der heilsgeschichtlichen Entwicklung steht. Die Kirche wird durch die Civitas-Lehre in eine Entwicklung (nach vorn und hinten) hineingestellt 195 . Ottos Civitas-Lehre erklärt sich folglich zwanglos aus seinem Geschichtsbild. Mit seiner Abgrenzung der „mystischen civitates" (im dritten Status) von den historischen Staaten der irdischen Zeit ist Schmidlin dem Verständnis Ottos schon nahegekommen, dennoch wird er dem Bischof von Freising nicht gerecht, weil dieser auch (und gerade) den transzen1 , 2 Chr. 8 prol. (S. 390,3 ff.): Cum enim dvitas Christi seu regnum eius secundum presentem statum vel futurum gcclesta dicatur, aliter se modo, quamdiu bonos et malos in uno gremio fovere cemitur, habet, aliter tunc, cum solos bonos in supemi sinus gloria servabit, habitura erit, aliter antequam ,plenitudo gentium introiret' (Rom 11,25), sub prinapibus gentium vivens, se habuit. 1 9 3 Das zeigt sich bereits in der Gegenüberstellung der einzelnen status (Chr. 8 prol. oben S. 226). 1 9 4 Vgl. Chr. 4,5 (oben Anm. IV/182). 1 9 5 Zu dieser Tendenz der Frühscholastik vgl. B e u m e r , Ekklesiologie S.382.

IV. 7. Civitas Dei peregrinans und civitas Dei coelestis

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denten Zustand als „empirisch", als - zu gegebener Zeit - wirklich empfindet; Spörl hatte diesen Realitätscharakter erkannt, aber fälschlich schon in den zweiten Status legen wollen. Von der Gesamtentwicklung her gesehen, gibt es keine „metaphysischen Staaten", gibt es neben den irdischen Erscheinungsformen des Gottesstaates nicht jetzt schon eine überirdische Gemeinschaft (lediglich geht die einstige ewige civitas Dei über das menschliche Verständnis hinaus), und schon gar nicht lösen „mystische" und „empirische" Gemeinschaften einander mehrfach ab (Bernheim, Hashagen) 196 . Einen (ständig wirksamen) „mystischen" Zug erhält der pilgernde Gottesstaat vielmehr durch seine zielgerichtete geistige Ausrichtung und historische Entwicklung, seine ontologische Teilhabe und seine Figuration in bezug auf den Endzustand, der alles Irdische überwindet. Jeder Status ist Figur des nächsten, entwicklungsgeschichtlich vollkommeneren Zustands: Wie Abraham und das Volk Israel, der Gottesstaat im ersten Status, den typus civitatis huius, de qua agimus, also der Kirche, bilden 197 , so zeichnet diese und die civitas Dei auf Erden überhaupt den himmlischen Gottesstaat vorweg. Deshalb kann die ecclesia auch schon in die vorchristliche Zeit übertragen werden 198 . Unsere Erklärung wirft eine neue, letzte Frage auf. Die Integration von pilgernder und ewiger civitas Dei durch Teilhabe, Figuration und Ausrichtung ist trotz aller Änderungen noch augustinisch; hinzu tritt jetzt aber der Entwicklungsgedanke; Otto läßt es nicht, wie Augustin, mit der Polarität „irdisch - transzendent" bewenden, sondern nimmt drei Entwicklungsstufen an. Wenn der Entwicklungsgedanke die Zusammenhänge zwischen irdischer und himmlischer civitas Dei bestimmt und der ewige Gottesstaat sich erst im dritten, nachirdischen Zustand manifestiert, dann richtet sich die pilgernde civitas Dei nach einem Ideal aus, das erst - und darin liegt der vielbeschworene „mystische" Zug - als Ziel existiert, nicht aber schon jetzt, der menschlichen Vorstellungskraft noch unerreichbar, vorhanden ist; da die civitas Dei eine jeweils konkrete

Wenn die ältere Forschung einen mehrdeutigen civitas-Begriff angenommen hat, so geht das auf die verschiedenen Entwicklungsstufen zurück. 1 . 7 Chr. 1,7 (S. 46,9f.); 1,20 (S. 54,12f.). Ebenso trägt Josua die forma Christi (Chr. 1,20 - S . 54,1 I f f . ) . - V g l . M o r r i s o n S.211. 1 . 8 Zur „Ecclesia ab Abel" vgl. Β e u m e r, Ekklesiologie S. 379 ff., und Yves C ο η g a r, Ecclesia ab Abel, in: Abhandlungen über Theologie und Kirche. Festschrift für Karl A d a m , Düsseldorf 1952, S.79^108.

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IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

menschliche Gemeinschaft bildet, bleibt zu klären, inwieweit der zweifache grundlegende Wandel die Mitglieder betrifft, wie sich also die pilgernden Gottesbürger zu den in Ewigkeit Erlösten verhalten.

d) Gottesbürgerschaft und Heilsaussichten Wenn Otto von Freising den Gottesstaat stets als empirische Manifestation nachweisen, der Mensch aber seines Heils nicht sicher sein kann, dann sind die jeweiligen Gottesbürger, die sich aus der Kenntnis Gottes und des Ziels zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, offensichtlich noch nicht mit den in Ewigkeit Erlösten gleichzusetzen: Der Bezug zwischen irdischer und himmlischer civitas Dei ergibt sich nicht aus einer Identität der Mitglieder, die Zugehörigkeit zum Gottesstaat bedeutet also noch nicht Erlösung; die ewigen Staaten lassen sich nicht einfach in die geschichtliche Zeit zurückprojizieren199, weil auch innerhalb der konkreten civitas Dei keineswegs alle Mitglieder berechtigte Heilsaussichten haben200. Gerade die Vermischung in der civitas permixta beweist, daß deren Bürger, die Christen (Anm. IV/89), des himmlischen Gottesreichs noch keineswegs sicher sein können201; Otto folgt nicht denjenigen Theologen, die schon hier einen strengen Unterschied machen und die malt gar nicht erst zur ecclesia zählen202. Nur Gott kennt die Auserwählten203; lediglich bei einigen wenigen (den pnncipes civitatis Dei), wie den 199 Das scheint Honorius mit seiner Unterscheidung electi - reprobi anzunehmen (Inevitable, M i g n e PL172, Sp. 1219). 200 Deshalb genügt es nicht zum Verständnis der Civitas-Lehre, wenn man, wie M ü l l e r , Theologie S. 36 f., die civitates lediglich nach der Zuwendung bzw. dem Entzug der göttlichen Gnade unterscheidet, obwohl darin, vor allem im Endzustand, ein wichtiges Element zu sehen ist. 201 Vgl. F o l z , Augustin S.337. 202 Anklänge an entsprechende Lehren finden sich vielleicht in der früher Hugo von St. Viktor zugeschriebenen Summa Sententiarum Kap. 6,7(M i g η e PL 176, Sp. 143 f.) über den Weg der Wirkung von Sakramenten, oder bei Honorius, Eucharistion Kap. 7 (Migne PL 172, Sp. 1254 C) und Eluädarium Kap. 1,26 (Sp. 1128 C; Lefevre S. 393). Ein Ausschluß aus der Kirche wird auch in diesen Beispielen allenfalls vorsichtig angedeutet. Im allgemeinen zählt man im 12. Jahrhundert auch die Sünder zur Kirche, wenngleich eine Tendenz zur Differenzierung erkennbar wird; vgl. dazu B e u m e r , Ekklesiologische Probleme S. 190 ff., und Β e i η e r t S. 205 ff. (mit Anm. 24). 203 Chr. 8 prol. (S. 390,20ff.): Neque enim subtilitatem eorum in hoc sequimur, qui utrum mali in fcclesia manentes veraciter sacramentis communicent an exterius tantum ea acdpiant, sollerter inquirunt, vel, si item mali qcclesia, quae corpus Christi est, did propter

IV.7. Civitas Dei peregrinans und civitas Dei coelestis

233

Märtyrern, ist auch für die Menschen bereits erkennbar, daß sie das Heil erlangen werden 204 . Entscheidend ist auch hier der Entwicklungsgedanke. Sichtbare und unsichtbare civitas Dei sind deshalb nicht identisch, weil ihre Bürger in den einzelnen status - mit der veränderten Gotteskenntnis - wechseln: Wie der Gottesstaat mit dem zweiten Status von den Juden auf die Christen überging, so werden erst im dritten Zustand, nach der Scheidung im Jüngsten Gericht, die boni (electi) auch die cives Christi sein205! Dorthin gelangt aber nur, und hier schließt sich der Kreis, wer Kenntnis vom wahren Ziel hat und es erstrebt, wer an Gott glaubt (oben S. 165 ff.); die Gottesbürgerschaft auf Erden ist also Voraussetzung, wenngleich keine Garantie, für das Heil 206 : Die pilgernde ävitas Dei besteht nicht aus den Erlösten, sondern aus den „potentiell Heilsfähigen" 207 ; die electi aber stammen aus dem Kreis ihrer Pilger. *

Damit haben wir ein letztes Bindeglied zwischen irdischer und himmlischer civitas Dei gefunden. Anders als Augustin kennt Otto ein „mystisches" (weil nicht sichtbares) Gottesreich der Erlösten noch nicht in historischer Zeit, sondern erst als Ziel der Geschichte. Die empirischen Manifestationen des Gottesstaates sind, wenngleich von der wirklichen civitas Dei abgeleitet wie das Geschöpf vom Schöpfer, für Otto n i c h t (wie für Augustin) bloßes A b b i l d n e b e n d e r w a h r e n (der temporalem commixtionem ac sacramentorum communionem debeant, acutissime disputant. Sed communem sacrae scripturae usum simplici oculo intendendo omnes in ecclesia fidem tenentes catholicam civitatem Christi vocamus, Deo, qui solus novit, qui sint eius, iudtcium discussionemve singulorum relinquentes. - Vgl. Chr. 7 prol. (oben Anm. IV/70). 204

Vgl. Chr. 3,43 (oben Anm. IV/66). Das trifft auch auf die (wohl deshalb mehrfach als „mystisch" bezeichnete) Väterzeit des Alten Testaments zu. Bezeichnenderweise stellt Otto in der Frühzeit der Kirche nicht - wie Augustin - einzelne cives, sondern principe! civitatis heraus, da er in allen Christen bereits Bürger des Gottesstaates sieht. 205 Auch für Hugo von St. Viktor bricht mit Heiden, Juden und Christen jeweils eine neue Zeit an; vgl. E h l e r s , Hugo S. 136ff. 206 Glaube und Taufe gelten im 12. Jahrhundert allgemein als Voraussetzung für das Heil; vgl. Β e u m e r , Ekklesiologische Probleme S. 184ff.; es gibt kein Heil außerhalb der Kirche (ebda. S. 197 ff.). 207 Das ist zugleich Ottos Lösung der umstrittenen Frage nach der Bestimmung zum Heil. Zum Problem an sich vgl. Johann A u e r , Heilsuniversalismus und Praedestinationspartikularismus im Mittelalter, in: Universalismus und Partikularismus im Mittelalter, hg. von Paul W i l p e r t (Miscellanea Mediaevalia5), Berlin 1968, S. 1-19.

234

IV.

Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

„mystischen") civitas Dei, sondern sie b i l d e n d e n G o t t e s st a a t in seinen frühen Entwicklungsstufen: In jedem Status gibt es eine Trägergemeinschaft der Gottesstaatsidee, die der Vollendung zustrebt und mit ihr, wie wir gesehen haben, in vielfacher Weise verbunden ist. Diese Vorstufen der himmlischen civitas Dei, die alten Väter, das Volk Israel und die Kirche, enthalten (neben vielen anderen) bereits alle endgültigen Bürger in ihren Reihen. Der Weg zur Ewigkeit aber führt mit der Scheidung von Guten und Bösen notwendig über einen erneuten, grundlegenden Wandel: Die irdische civitas Deiperegrinans ist von ihrer Vollendung nicht nur räumlich, „himmelweit", geschieden, sondern auch metaphysisch durch jenen entscheidenden transitus ad aliter esse getrennt (Chr. 8,9 - oben Anm. III/201). Die Civitas-Lehre wird nur von den metaphysischen Vorstellungen Ottos her verständlich, denn der grundlegende Gegensatz zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Zeit und Ewigkeit, der sich - wie im Falle der Engel - nur durch göttliche Verleihung himmlischer Eigenschaften mildern läßt, verlangt die Aufhebung des irdischen Zustands als Voraussetzung für eine Verwirklichung des Ziels. Analog bleiben die Mitglieder des Gottesstaates Menschen, nehmen aber gewissermaßen eine neue Form, einen neuen Charakter, an, indem sie boni werden. *

Mit der Darlegung der Civitas-Lehre ist auch die Frage nach dem Charakter der civitates beantwortet: Sie sind „doppelsphärig", weil auch Otto im „metaphysischen", das heißt jenseitigen Zustand das wahre, aber künftige Ziel erblickt und weil inzwischen die konkreten empirischen Manifestationen, die Otto in geschichtlichen Institutionen wiederfindet, auf diese ewige Vollendung weisen, von der sie sich ontologisch ableiten und nach der sie sich teleologisch ausrichten. Die Ewigkeit bildet das stets gegenwärtige Ziel der civitas Dei peregrinans, die dank dieser Ausrichtung ihrer Mitglieder, dank der abgeleiteten Teilhabe sowie vor allem der Tatsache, daß die Geschichte Offenbarung Gottes ist und exegetisch ausgelegt werden kann, Figur des ewigen Gottesstaates ist. Die Doppelsphärigkeit aber löst sich zugleich auf in ein zeitliches Nacheinander: Die Vollendung gliedert sich - als dritter Status - chronologisch in die Entwicklung der civitas Dei ein, die auf jeder Stufe einen - und nur einen - Repräsentanten des Gottesstaates kennt. Zwischen „metaphysisch"

IV. 8. Augustin und Otto von Freising

235

und „historisch" besteht von daher für Otto gar kein grundsätzlicher Unterschied, und das Jenseits wird, obgleich es zeitlos ist, gewissermaßen, nämlich als vollendeter, und das heißt vor allem: stabiler, unwandelbarer Abschluß einer langen Entwicklung, geschichtlich verstanden. Ottos Civitas-Lehre hat sich in allen Punkten als kongruent mit seinem Geschichtsbild erwiesen; sie ist überhaupt erst aus den philosophischen Überzeugungen des Bischofs verständlich, die deshalb vorangestellt werden mußten: Ottos Geschichtsphilosophie beschränkt sich nicht, wie früher gelegentlich angenommen wurde 208 , auf die Zweistaatenlehre, noch läßt sich diese bei einem Theologen des 12. Jahrhunderts von der eigentlichen Philosophie abtrennen 209 .

8.

A u g u s t i n und O t t o von

Freising

Wenn wir abschließend noch einmal auf die zweite umstrittene Frage, die Abhängigkeit des Freisinger Bischofs von Augustin, zurückkommen, so können wir uns auf eine Reihe von Anhaltspunkten stützen, die sich im Laufe der Darstellung ergeben haben; es genügt also, hier mit Verweis auf die obigen Ausführungen die wichtigsten Grundzüge des Verhältnisses beider Denker in bezug auf die Civitas-Lehre zusammenzufassen. Zunächst kann es nicht überraschen, wenn die Civitas-Lehren bei Augustin und Otto von Freising im Rahmen der Geschichtstheologie viele der Gemeinsamkeiten aufweisen, auf die Hartings so eindringlich hingewiesen hat, schreiben doch beide aus der gemeinsamen Erfahrung der Krise heraus 210 , und der Bischof von Freising hat die Civitas-Idee ja 208 B e r n h e i m behandelt unter der Überschrift „Ottos Geschichtsphilosophie" (S. 13ff.) ebenso wie später H a i d (Bd.45, S. 101 ff. und S. 132ff.) und noch L a m m e r s , Weltgeschichte S. 86 ff., nur die Civitas-Lehre. Vgl. Η a s h a g e η S. 22 f. (vor allem S. 44), der zur Geschichtsphilosophie neben der Civitas-Lehre nur noch den Pessimismus und die Einteilungsschemata der Geschichte zählt, die Eschatologie aber ausschließt, weil hier „nur" der transzendente, nicht der historische Aspekt betrachtet wird (S. 64); „Geschichtsphilosophie" ist H a s h a g e n also im Grunde nur die „empirische Seite" der CivitasLehre. 2 0 9 K o c h , der den Philosophen Otto ergründen will, berührt die Civitas-Lehre, wohl nicht nur von seinem Thema her, überhaupt nicht. 2 1 0 Vgl. H a s h a g e n S . 9 9 ; S c h m i d l i n , Weltanschauung S. 9 f.

236

IV.

Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

überhaupt erst, und zwar unmittelbar, dem Werk des Kirchenvaters entnommen. Mancher Unterschied ist konstruiert worden, während Otto selbst sich als Fortsetzer des Kirchenvaters versteht (Chr. 1 prol. S. 9,8 ff.) 211 . Die Unterschiede scheinen jedenfalls nicht in die metaphysischen und geschichtstheologischen Grundlagen der Civitas-Lehre hineinzureichen; gemeinsam bleibt beiden Denkern der historische Rahmen von der Schöpfung über die vom Sündenfall geprägte Weltzeit (saeculum) zum Jüngsten Gericht, das die endgültige Scheidung von electi und reprobi bringen wird: In dieser eschatologischen Bestimmung liegt der Ursprung der beiden Staaten, von dieser Vollendung her wird die irdische Geschichte als eine Entwicklung der civitates zu ihrem Ziel verstanden. Ottos eigene Interpretation hat ihren Schwerpunkt in diesem zeitlichen Bereich der auf Erden pilgernden Staaten, doch wäre es, wie wir gesehen haben, verfehlt, die civitates bei Otto mit Spörl überhaupt als empirisch, bei Augustin dagegen als metaphysisch anzusehen. Die Problematik einer solchen Einteilung dürfte inzwischen bewußt geworden sein. Auch Augustin kennt im übrigen durchaus irdische Realisationen der civitates, wenn er darin auch keine Selbstverwirklichung, sondern Schatten und figurae der ewigen Staaten erblickt (vgl. oben S. 221) 2 1 2 , und auch in diesem letzten Punkt weiß sich Otto mit dem Kirchenvater einig; die unvollkommene Sehweise des Menschen verhindert seiner Ansicht nach ein letztes Verständnis der ewigen Staaten, während die manifesten irdischen civitates andererseits niemals vollkommen sein können, wie Spörl meint. Dagegen spricht schon Ottos zentrale Idee einer mutabilitas auf Erden, die nur vom Schöpfer selbst beseitigt werden kann und die der Bischof mit Bezug auf die civitates seiner Chronik sogar programmatisch voranstellt (Chr. 1 prol. - oben S. 161). Allenfalls kennt er eine abgeleitete Stabilität im irdischen Gottesstaat (oben S. 222 ff.).

Vgl. G r a b e S . 34. Anders noch K e y es S. 159 und 172, der allerdings die ganze Lehre zu einem „Bühnenstück" über die „Göttliche Komödie" verflacht und die eigentlichen Probleme gar nicht anspricht. Eine vermittelnde Haltung nimmt B r e z z i , Analisi S.99f., ein: Die augustinische Stadt ist keine platonische Idee, sondern Realität, aber nicht empirisch sichtbar. Nach W a c h t e 1S. 119 ist Augustins civitas Dei zugleich eine historische und eine eschatolögische Gemeinschaft, nach M a r k u s S. 119ff. ist die Kirche die historisch sichtbare Form des Gottesstaates in einer ständigen Spannung zwischen ihrer jetzigen und ihrer künftigen Gestalt. 211

212

IV.8. Augustin und Otto von Freising

237

Vom Aspekt der irdischen Erscheinungsformen der beiden Staaten her wird man Ottos Civitas-Lehre eher als eine Ergänzung des augustinischen Konzepts um die christliche Zeit betrachten dürfen, wobei die Änderungen von der inzwischen weitergelaufenen Geschichte mitbestimmt werden, und so dürfte der Bischof selbst sein Werk tatsächlich verstanden haben: Er scheint, wie Grabe feststellt, die christliche Geschichte neu zu interpretieren, während er sich in der vorchristlichen Zeit und in der Eschatologie eng an Augustin anlehnt; mit Seiner Vorstellung von der Kirche als einer dvitas permixta, in der beide Staaten vereinigt sind, wandelt Otto das augustinische Konzept deutlich ab; doch entwickelt er seine Lehre immerhin noch aus der Idee des Kirchenvaters von einem corpus permixtum2ii, von einer Vermischung der irdischen Kirche aus Guten und Bösen, aus der Uberzeugung, daß in der Gegenwart Augustins die Grenzen aufgerissen sind und die civitates sich nicht mehr mit sprachlichen, nationalen, rechtlichen, religiösen oder institutionellen Gemeinschaften der Menschen decken214. Otto faßt diese Vielheit erneut unter der einen Gemeinschaft der dvitas Dei zusammen; doch auch er vermeidet wie Augustin konkrete Aussagen über die Heilsaussichten einzelner Menschen, sobald er sich mit seiner Geschichtsschreibung der eigenen Gegenwart nähert: Entscheidend für Ottos Vorstellung ist noch nicht die Idee der dvitas permixta als eine konsequente Weiterführung der augustinischen Lehre empirischer Erscheinungsformen der dvitates, entscheidend sind vielmehr die Kriterien, die den Bischof von Freising, bei allem Selbstverständnis als Fortsetzer Augustins, schließlich doch zu einer spezifischen Auffassung führen. Als das eigentliche Problem der Civitas-Lehre haben wir die verschiedenartigen Zusammenhänge zwischen den irdischen Staaten und ihrer ewigen Vollendung herausstellen können, und hier liegen auch die Ansätze für eine eigenständige Deutung des Freisinger Bischofs. Sie sind vielleicht weniger grundsätzlich, als man gemeint hat, aber doch kennzeichnend für die im Laufe der Zeit gewandelten Auffassungen, und sie gehen andererseits sehr wohl wiederum unter die Oberfläche einer

213

So W a c h t e l S. 113; diesen Begriff benutzt Augustin selbst allerdings nicht. Zur Vermischung vgl. auch Μ a r k u s S. 59 ff. 214

De civitate Dei 19,17 (S. 385,26 ff.).

238

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

lediglich historischen Weiterentwicklung der Weltgeschichte, denn Otto begnügt sich nicht mit jener zeitlichen Ergänzung der augustinischen Lehren, sondern er interpretiert diese aus seiner eigenen, christlichen Zeit heraus und modifiziert dabei tatsächlich Augustins Lehre in erheblichem Maße. In dieser Beziehung zeigt er sich wieder einmal auch von Orosius abhängig, obwohl dieser die avitates selbst nicht behandelt: Otto schreibt gewissermaßen in dem „scholastischen" Bemühen, die Lehren beider Kirchenväter in Einklang zu halten, und entwirft über diesen Versuchen sein eigenes System. Ein wesentlicher Unterschied zu Augustin zeigt sich bereits in der Sichtweise beider Denker, die die Civitas-Lehre von unterschiedlichen Aspekten her betrachten: Während der Kirchenvater seine Idee von der Eschatologie, von der Ewigkeit her entwickelt und die irdischen Erscheinungsformen davon ableitet215, will Otto, der diese ontologische Ableitung kennt (oben S. 219 ff.), umgekehrt mit Hilfe der sichtbaren Formen z u m Ziel, zur unsichtbaren Ewigkeit, vordringen: Der augustinische Piatonismus, der die Welt als bloßes Abbild des Ewigen betrachtet, ist abgelöst von einem exegetisch-figuralen Denken, das in diesem „Abbild" den Weg zum ursprünglichen „Bild" sucht. Für Otto ist das gleichzeitig eine Konsequenz aus der Erkenntnis, daß der Mensch unfähig ist, das Göttliche wirklich zu erfassen. Die irdischen civitates sind dabei nicht mehr, wie bei Augustin, allein wegen ihrer Unvollkommenheit, sondern wegen ihres Aussagegehaltes „Figur" und besitzen in sich eine größere Realität, sie sind, wie Herding (S. 136) es ausdrückt, nicht mehr bloß Idee, sondern „Substanz": Die „Figur" ist eine historische Figur, ein historisches Gebilde, das sich anagogisch und tropologisch auslegen läßt. Der Gegensatz zwischen Schöpfendem und Geschaffenem, der bei Augustin eher eine Frage des Unterschieds zwischen göttlicher und menschlicher Sichtweise darstellt 216 , wirkt bei Otto konkret in die Geschichte zurück.

215

Vgl. G r a b e S. 47. Ähnlich betrachtet wieder Rupert von Deutz die Geschichte „von oben" her, aus der Sicht Gottes; vgl. K a h l e s S.180. 216 Gott, der keiner zeitlichen Veränderung unterworfen ist, sieht alles gleichzeitig, in der Art einer unveränderlichen „ewigen Gegenwart" (st&bilis et sempiterna praesentia); vgl. De civitate Dei 11,21 (S. 488,29 ff.). Diese Lehre wird im 11. Jahrhundert von Petrus Damiani, De divina omnipotentia Kap.6 ( M i g n e PL145, Sp.604f.), im 12.Jahrhundert von Honorius Augustudunensis, Inevitabüe (ebda. 172, Sp. 1199B), aufgegriffen.

IV. 8. Augustin und Otto von Freising

239

Doch Otto begnügt sich nicht mit dieser Feststellung der Historizität der civitates, er entwickelt diesen Gedanken noch weiter: Für ihn ist, wie wir gesehen haben, der ewige Gottesstaat eine Frage der Zukunft, die sichtbaren civitates sind also für den Augenblick die einzigen Gemeinschaften (vgl. oben S. 233 f.); für Otto existieren noch keine civitates der bereits Erlösten und Verworfenen 217 , sondern n u r historische Größen anders als bei Augustin 218 werden Engel und Dämonen hier auch nicht in einen Bezug zu den beiden Staaten gesetzt 219 - weil er von der menschlichen Sicht ausgeht und im Gegensatz zu dem Kirchenvater die civitates nicht gleichzeitig vom Aspekt des göttlichen Vorherwissens und der Prädestination betrachtet; Otto muß folglich nicht stets die ewige Gemeinschaft als existent mitdenken, wenn er von der irdischen spricht, und erst daraus erklärt sich die eigentümliche Konkretheit seiner Civitas-Lehre, die Augustins irreale Vorstellung einer im wahren Glauben geeinten Gemeinschaft verläßt. Der Gottesstaat wird in der Kirche zu einer Institution 220 , die nicht mehr auf die weltstaatliche Organisation angewiesen ist wie bei Augustin (vgl. oben S. 210 f.), der die Kirche zwar grundsätzlich als Repräsentanten der civitas Dei anerkennt 221 , aber auf eine andere, nicht staatlich, sondern religiös geprägte Ebene verlagert: Diese Trennung von „Kirche" und „Staat", von einer Ebene des Glaubens und einer Ebene der Institution 222 , ist bei Otto aufgehoben, der den „Staatscharakter", der in der civitas-Idee steckt

217

Vgl. G r a b e S. 38 zu Augustin. Vgl. etwa De dvitate Dei 10,7 (S.412,15ff.); 11,9 (S.472,4ff.); 11,33 (S. 509,10ff.); 12,1 (S.511,26ff.); 12,9 (S.525,25ff.); 15,2 (S.61,2ff.); 19,17 (S.384,23ff.). 2 " Otto übergeht auch den Engelfall als eigentlichen Ursprung der civitates; vgl. H a s h a g e n S.50; S p ö r l , Civitas Dei S.311, und F u n k e n s t e i n S.104. Auch darin zeigt sich, daß er sich weniger für die Ursprünge als für das Ziel interessiert. Vgl. oben S. 63 f.). 220 S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 24, hebt hervor, daß wie bei Augustin nicht der einzelne, sondern die soziale Integration interessiert, wenngleich die historischen Persönlichkeiten kraftvoller aus der Geschichte heraustreten als bei dem Kirchenvater: Das Individuum verschwindet nicht als Mittel des Ganzen, sondern es bildet dessen integrierendes Glied. 221 Vgl. W a c h t e l S. 111 ff.; M a r k u s S.119f. 222 M a r k u s spricht von einer Entsakralisierung (S. 151) und einer Säkularisierung des Reichs (S. 173). Wenn er (S. 179 f.) auch eine „Säkularisierung der Kirche" (im Sinne einer Bindung an das saeculum) annimmt, so beweist das nur, wie historisch auch der Kirchenvater schon denkt, doch ist damit nur e i n Aspekt seines Denkens erfaßt. Zu Unrecht leugnet M a r k u s (S. 181), daß die Kirche auch das Königreich Gottes ist. 218

240

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

(oben S. 191 ff.), konsequent auf die Civitas-Lehre überträgt und die dvitates nicht auf religiöse Gemeinschaften beschränkt; die Kirche als civitas trägt selbst staatlichen Charakter und hat in der dvitas permixta, in der das Reich in die Kirche integriert ist (und nicht umgekehrt), die orosianische Einheit von Kirche und Reich verwirklicht und sogar die Führung in der Welt übernommen. Der Glaube an die Historizität der dvitates wird hier durch ein Fortschrittsdenken ergänzt. Als historische Größen, deren metaphysischer Aspekt in den Bezügen zur Endzeit steckt (oben S. 219 ff.), haben die dvitates eine Richtung; sie machen folglich eine Entwicklung durch, die über verschiedene Zeitstufen (status) zum Ziel führt (oben S. 225 ff.), und erleben dabei ein stetiges Wachstum der dvitas Dei auch innerhalb des augustinischen procursus, der irdischen Zeit. Otto wendet hier das Fortschrittsprinzip des Orosius, das sich am Wachstum der Kirche und an ihrer Herrschaft in der dvitas permixta messen läßt, auf die augustinische Civitas-Lehre an, behält aber den moralisch-eschatologischen Aspekt bei (vgl. oben S. 88 f.). Die Kirche, die für Otto und seine Zeit eine sichtbare, reale Größe darstellt223, wird dabei zu d e m Repräsentanten des Gottesstaates im 2. Status (vgl. oben S. 234), die ewigen dvitates werden in den historischen Ablauf integriert: Aus dem augustinischen Nebeneinander von konkreter und metaphysischer Existenz der Staaten wird bei Otto ein Nacheinander von Entwicklungsstufen, die figural aufeinander bezogen sind. Ermöglicht wird der Entwicklungsgedanke durch Ottos Konsequenzen in der Mitgliederfrage (oben S. 232 f.), weil der Bischof von Freising nämlich im Gegensatz zu Augustin nicht boni und mali mit den dves der beiden Staaten gleichsetzt; die Mitgliedschaft zum pilgernden Gottesstaat ist lediglich Voraussetzung für den Erwerb der ewigen Seligkeit. Die dvitates selbst konstituieren sich nicht mehr wie bei Augustin aus der Prädestination, der der Mensch durch eine recta vita gerecht wird, sondern allein durch die Gotteskenntnis (oben S. 213 ff.), die gleichfalls der Entwicklung unterworfen ist und deren Grundlagen sich folglich in den einzelnen Status wandeln und jeweils neuartige dvitates produzieren: Die Mitgliedschaft im irdischen Gottesstaat wird auf das Wissen um das wahre Heil reduziert. 223

Vgl. B e u m e r , Ekklesiologische Probleme S.208.

IV. 8. Augustin und Otto von Freising

241

*

Die figurale Geschichtsvorstellung, die die Wirklichkeit als ein konkretes, aber unvollkommenes Abbild der Vollendung begreift und als Erkenntnismittel benutzt, ist bei Otto zu Ende gedacht und in den historischen Zusammenhang eingegliedert. Ihr Ergebnis ist - wie bei Ottos Zeitgenossen224 - eine konkrete Vorstellung von institutionalisierten wandelbaren civitates. Immer wieder hat man daher pauschal festgestellt, daß der Bischof von Freising „historischer" denkt als Augustin. Bereits Schmidlin (Weltanschauung S. 74 f.) sprach von einer historischen Ausprägung der ottonischen civitas Dei, doch verliert sein Urteil dadurch an Gewicht, daß er den eschatologischen Charakter der Staaten von vornherein ausgeklammert, sich ihm das Problem also gar nicht in dieser Form gestellt hat. Aber auch nach Hashagen (S. 50) denkt Otto historischer, und nach Folz (Augustin S. 336 f.) beugt er die augustinischen Ideen „en fonction des faits historiques" und steht damit der historischen Wirklichkeit näher (ebda. S.332); nach Müller (Hand Gottes S. 138) macht Otto einen Schritt auf die Welt und die Geschichte zu, nach Lhotsky transponiert er die civitas Dei von der moralischen Sphäre Augustins in die geschichtliche 225 .

Otto historisiert und konkretisiert die augustinische Idee (so Spörl, Weltbild S. 12), er macht sie zur Substanz (Herding S. 136). Wir wissen jetzt, daß dieses historische Verständnis der Staaten aus Ottos Tendenz gespeist wird, die Konstituierung der civitates neu zu gestalten und ihre Vollendung in eine Entwicklung einzuordnen, die vom Ziel bestimmt, aber aus der Gegenwart, aus menschlicher Sicht, verfolgt wird und in der die historia den Weg zur Wahrheitserkenntnis weist. Ottos Ansatzpunkt bildet dabei die Entwicklung der christlichen Kirche seit Augustin. Die Unterschiede zum Kirchenvater bleiben aber keineswegs auf die Zeit der civitas permixta beschränkt, wie Grabe meint, sie sind hier nur augenfälliger. Otto hat sie aus seinen Erfahrungen heraus auf die gesamte Civitas-Lehre übertragen und somit ein neues Bild geschaffen, das er nun konsequent anwendet. Auch der 3. Status der Vollendung bleibt bei ihm

224 Am wenigsten noch bei Gerhoh von Reichersberg; vgl. M e u t h e n S . 2 6 f f . Bei Hugo ändern sich die familiae mit ihren „Waffen", den Sakramenten (vgl. oben Anm. IV/142). 225 L h o t s k y , Otto von Freising S. 75. Der Begriff „moralisch" ist dabei unglücklich gewählt, da er gewiß auch auf Otto zutrifft.

242

IV. Die Civitas-Lehre Ottos von Freising

folglich nicht rein augustinisch (so Grabe S. 60), vielmehr werden die civitates hier ebenfalls zu konkreten und im Grunde staatlichen Institutionen ausgestaltet (vgl. oben S. 176). Otto hat die augustinische Lehre den veränderten Zeitanschauungen angepaßt. Die „Historisierung" der Civitas-Lehre macht seine Ideen zugleich aber anfälliger für mögliche Wandlungen und Weiterentwicklungen der Geschichte als die stärker „zeitlose", jedenfalls von der politischen Entwicklung unabhängige Lehre Augustins, und tatsächlich ist die neue Bestimmung erst aus einem solchen Wandel, dem Investiturstreit, erwachsen, der den Menschen die veränderte Situation erst bewußt und eine neue Orientierung bezüglich des eigenen Standorts erforderlich gemacht hat. In einem letzten Kapitel ist daher noch das Gegenwartsbild des Bischofs von Freising zu behandeln, in dessen Mittelpunkt der Kirchenstreit selbst steht. Nach der Darstellung der Civitas-Lehre läßt sich das leidige Problem der Kirchenvorstellung Ottos von Freising nun treffender angehen.

V.

DAS GEGENWARTSBILD OTTOS VON FREISING

1. O t t o s K i r c h e n b i l d : D e r P r o b l e m k r e i s P a p s t u n d K a i s e r , sacerdotium und regnum Mit der Deutung der Kirche als ävitas Dei rückt - anders als etwa in der Schule von St. Viktor 1 - das Kirchenbild in den Mittelpunkt des Gegenwartsbildes Ottos von Freising2. Seitdem die oberste weltliche und die oberste geistliche Regierungsgewalt, seitdem Kaiser und Papst in einem Reich, in einer ävitas permixta, vereinigt sind, ist das Problem des Verhältnisses zwischen beiden Gewalten, ist auch die Rangfrage akut geworden, und das um so mehr, als die Beziehungen im sogenannten Investiturstreit, in der Auseinandersetzung zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. und ihren Nachfolgern, in eine Krise geraten waren und eine heftige Diskussion ausgelöst hatten3. Im Wormser Konkordat wurde, mehr oder weniger endgültig, die Investiturfrage, nicht aber das Problem des Rangverhältnisses beider Gewalten gelöst, denn die Diskussion ging weiter. Otto von Freising, der in seiner Chronik die Entwicklung der Kirche, des Repräsentanten der ävitas Dei, verfolgt, kann sich dieser

1 Hier steht eher Christus selbst im Zentrum; vgl. dazu Jean C h a t i l l o n , Une ecclesiologie midievale: L'idee de l'Eglise dans la theologie de l'ecole de Saint-Victor au ΧΙΓ siecle, Irenikon22, 1949, S. 115-38 und 395-411. - Vgl. allerdings E h l e r s , Hugo S. 176, der betont, da£ auch bei Hugo von St. Viktor die Kirche der Kontinuitätsträger in der Geschichte ist. Christus und seine Kirche gehören letztlich untrennbar zusammen. 2 S c h m i d 1 i n, Weltanschauung S. 25, bezeichnet die Kirche als „Achse der Weltgeschichte". 3 Die grundlegende Behandlung dieser Streitschriftenliteratur bietet immer noch Carl Μ i r b t, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894; zu größeren Zusammenhängen vgl. Wilhelm K ö l m e l , Regimen Christianum. Wege und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses (8.-14. Jahrhundert), Berlin 1970.

244

V. Das Gegenwartsbild Ottos von Freising

Frage nicht entziehen, ja in gewisser Weise scheint die kritische Situation sein Geschichtswerk erst veranlaßt zu haben 4 , und so suchte vor allem die ältere Forschung - meist unter Überschriften wie: „Die kirchenpolitischen Vorstellungen Ottos von Freising" - die Stellung des Bischofs zu diesem Problem zu erforschen; die Frage stand meist sogar im Mittelpunkt der gesamten Untersuchung, wenngleich man sich seit Bernheim des Zusammenhangs mit der Geschichtstheologie bewußt blieb 5 . Dabei ging es in erster Linie um eine E i n o r d n u n g O t t o s von Freising in die verschiedenen kirchenpolitischen Parteiungen des Investiturstreits, die Bernheim (S. 25) als „mönchisch" (Theorie einer völligen Trennung von weltlicher und geistlicher Gewalt), „hierarchisch" (Unterordnung des Staates unter die Kirche) und „laienfreundlich" (Gleichberechtigung der beiden Gewalten in ihrer jeweiligen Sphäre) bezeichnet hatte, ohne daß man hier allerdings zu einem einhelligen Ergebnis gelangt wäre 6 . Bernheim selbst betont den Kompromiß zwischen der hierarchischen und der laienfreundlichen Anschauung, während die mönchische Vorstellung, noch in den Gesta Frederici, weitgehend zurücktritt (S. 40); eine klare kirchenpolitische Haltung sei freilich schon deshalb nicht zu erwarten, weil auch Ottos «•w'i