Das Glück, Mensch zu sein: Erhellende Aufklärung und aufklärende Verklärung 9783495998755, 9783495998748

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Das Glück, Mensch zu sein: Erhellende Aufklärung und aufklärende Verklärung
 9783495998755, 9783495998748

Table of contents :
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Einleitung
I.
II.
III.
IV.
A. Verklärende Philosophie
1. Naturwissen: Vorsokratiker
1.1 Natürliches und übernatürliches Naturwissen
I.
II.
III.
1.2 Thales
I.
II.
1.3 Xenophanes
I.
II.
III.
1.4 Heraklit
I.
II.
III.
1.5 Anaxagoras
I.
II.
2. Sophistisches Wissen: Protagoras
I.
II.
III.
3. Ideenwissen: Platon
I.
II.
III.
IV.
V.
4. Denken des Denkens: Aristoteles
I.
II.
III.
5. Mythologisch-philosophisches Wissen
I.
II.
III.
6. Wissen und Glauben: Hegel
I.
II.
III.
IV.
7. Urwissen
7.1 Schelling
I.
II.
7.2 Guénon
I.
II.
7.3 Evola
I.
II.
7.4 Heidegger
I.
II.
III.
IV.
7.5 Geistiger Rassismus nach Evola und Heidegger: Dugin
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
B. Verklärende Religion
1. Der Glaube an Gott
I.
II.
2. Glaubenswahrheiten
I.
II.
III.
3. Religiöse Verklärung
I.
II.
III.
IV.
V.
4. Religiöser Nihilismus
I.
II.
III.
IV.
V.
5. Glaubenskunst
I.
II.
III.
IV.
6. Glaubensbedürfnis
I.
C. Aufklärung durch Vernunft: Kant
1. Entzaubernde Aufklärung – im Interesse des Verstandes- und Vernunftwesens Mensch. Exemplarisch: Die Unmöglichkeit des ontologischen Gottesbeweises
I.
II.
2. Verführende Aufklärung – im Interesse der Vernunft
2.1 Was soll ich tun?: Kant
I.
II.
2.2 Alle. Der allgemeine Standpunkt
I.
2.3 »jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste ist«
I.
II.
III.
IV.
2.4 Autonomie als Selbstermächtigung der Vernunft
I.
2.5 Das »eigentliche Selbst«
I.
II.
2.6 Entindividualisierung
I.
II.
2.7 Selbsterhaltung der Vernunft
I.
II.
2.8 Lebensunlust
I.
II.
D. »Dialektik der Aufklärung«: Adorno / Horkheimer
I.
II.
III.
IV.
V.
E. Aufklärung durch das Leben
1. Erhellende Aufklärung im Interesse des zu lebenden Lebens
1.1 Der geschichtliche Mensch
I.
II.
1.2 Jahwes Gebote
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
1.3 Der Nächste
I.
II.
III.
1.4 Kants selbstverschuldete Unmündigkeit
I.
II.
1.5 Wagnis der Lebenskunst
I.
II.
III.
IV.
1.6 Das Selbst des Lebenskünstlers
I.
II.
III.
IV.
1.7 Schöpferische Hybridität
I.
II.
III.
IV.
2. Anthropodizee
2.1 Die Rechtfertigung Gottes durch Gott. Ein Versehen Voltaires
I.
II.
2.2 Die Rechtfertigung des Menschen durch Gott
I.
II.
2.3 Die Rechtfertigung des Menschen durch den Menschen
I.
II.
III.
F. Aufklärende Verklärung
1. Glück
1.1 Glück im Unglück – Glück im Glück
I.
II.
1.2 Das Glück, Mensch zu sein
I.
II.
III.
1.3 Das Glück, geboren zu sein
I.
II.
III.
1.4 Sich auf Tod und Leben verstehen: Nietzsche
I.
II.
1.5 Das Glück, örtlich zu leben
I.
II.
III.
1.6 Das Glück, zeitlich zu leben
I.
II.
III.
1.7 Das Glück, nicht allein zu sein
I.
II.
III.
IV.

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Rainer Marten

Das Glück, Mensch zu sein Erhellende Aufklärung und aufklärende Verklärung

https://doi.org/10.5771/9783495998755 .

https://doi.org/10.5771/9783495998755 .

https://doi.org/10.5771/9783495998755 .

Rainer Marten

Das Glück, Mensch zu sein Erhellende Aufklärung und aufklärende Verklärung

https://doi.org/10.5771/9783495998755 .

© Coverbild: Helga Marten

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99874-8 (Print) ISBN 978-3-495-99875-5 (ePDF)

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1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet https://doi.org/10.5771/9783495998755 verlag-alber.de .

Vorwort

Metaphysische Philosophie, wie sie bei den Vorsokratikern ihren Anfang nahm, und christliche Religion haben vereint den geistigen Menschen der westlichen Welt verklärt: Ihre schöpferische Gestal­ tung des Humanum hat es zu einem Divinum gemacht. Die Geistig­ keit des Menschen ist Teil der Geistigkeit Gottes geworden. Dieses Buch möchte darüber aufklären, was in diesem Verklären eigentlich geschieht. Das schließt die Aufklärung darüber ein, daß Metaphysiker und Christ über sich selbst nicht aufgeklärt sind. Sie wissen nicht, wollen und können nicht wissen, daß sie in ihrem Denken und Glauben an keine Realität rühren, sondern selbst schöpferisch tätig sind und nach der Art des Künstlers nichts anderes tun als verklären. Die Aufklärung über beides, wie sie hier durchgeführt wird, ist eine erhellende, keine entzaubernde. Das schließt ein, daß sie für Verklä­ rung Partei ergreift, allerdings einzig für über sich selbst aufgeklärte Verklärung, nicht aber für Philosophie und Religion, die ihr Verklären ignorieren. Verklärung ist nicht weniger ein erstes Bedürfnis des Menschen als es Aufklärung ist, die der Bewältigung, dem Erhalt und der Erleichterung des Lebens dient und zu Wissenschaft und Technik führt. Zum Zwecke der erhellenden Aufklärung sind geistige und geistliche Positionen ausgewählt, die exemplarisch demonstrieren, wie die große philosophische und religiöse Tradition Europas das Humanum verfehlt, das ein Humanum und kein Divinum ist. Diese Aufklärung ist drängender denn je, da Ideologen des technologischen Fortschritts ernsthaft damit begonnen haben, die Güte des Menschen an der Güte von Maschinen zu messen. Den Abschluß bildet eine ausführliche Probe aufklärender Verklärung, die dem Menschen gilt, der wir sind: dem Menschen, wie er leibt und lebt, verklärt als sein Glück.

5 https://doi.org/10.5771/9783495998755 .

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Verklärende Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Naturwissen: Vorsokratiker . . . . . . . . . . . . 1.1 Natürliches und übernatürliches Naturwissen 1.2 Thales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Xenophanes . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Anaxagoras . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

15 15 18 21 23 29

2. Sophistisches Wissen: Protagoras . . . . . . . . . . . . .

30

3. Ideenwissen: Platon

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

4. Denken des Denkens: Aristoteles . . . . . . . . . . . . .

44

5. Mythologisch-philosophisches Wissen . . . . . . . . . .

46

6. Wissen und Glauben: Hegel

. . . . . . . . . . . . . . .

52

7. Urwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Guénon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Evola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Geistiger Rassismus nach Evola und Heidegger: Dugin

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B. Verklärende Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der Glaube an Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

2. Glaubenswahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

3. Religiöse Verklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

4. Religiöser Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

7 https://doi.org/10.5771/9783495998755 .

Inhaltsverzeichnis

5. Glaubenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Glaubensbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Aufklärung durch Vernunft: Kant . . . . . . . . . . .

127

1. Entzaubernde Aufklärung – im Interesse des Verstandesund Vernunftwesens Mensch. Exemplarisch: Die Unmöglichkeit des ontologischen Gottesbeweises . . . .

127

2. Verführende Aufklärung – im Interesse der Vernunft . . . 2.1 Was soll ich tun?: Kant . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Alle. Der allgemeine Standpunkt . . . . . . . . . . . 2.3 »jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste ist« . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Autonomie als Selbstermächtigung der Vernunft . . . 2.5 Das »eigentliche Selbst« . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Entindividualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Selbsterhaltung der Vernunft . . . . . . . . . . . . . 2.8 Lebensunlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. »Dialektik der Aufklärung«: Adorno / Horkheimer .

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E. Aufklärung durch das Leben . . . . . . . . . . . . . .

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1. Erhellende Aufklärung im Interesse des zu lebenden Lebens 1.1 Der geschichtliche Mensch . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Jahwes Gebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der Nächste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Kants selbstverschuldete Unmündigkeit . . . . . . . 1.5 Wagnis der Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Das Selbst des Lebenskünstlers . . . . . . . . . . . 1.7 Schöpferische Hybridität . . . . . . . . . . . . . . .

155 155 157 165 168 170 174 178

2. Anthropodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Rechtfertigung Gottes durch Gott. Ein Versehen Voltaires . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Rechtfertigung des Menschen durch Gott . . . . 2.3 Die Rechtfertigung des Menschen durch den Menschen

184

8 https://doi.org/10.5771/9783495998755 .

134 138 139 141 142 144

184 187 190

Inhaltsverzeichnis

F. Aufklärende Verklärung . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Glück im Unglück – Glück im Glück . . . . 1.2 Das Glück, Mensch zu sein . . . . . . . . . 1.3 Das Glück, geboren zu sein . . . . . . . . 1.4 Sich auf Tod und Leben verstehen: Nietzsche 1.5 Das Glück, örtlich zu leben . . . . . . . . . 1.6 Das Glück, zeitlich zu leben . . . . . . . . 1.7 Das Glück, nicht allein zu sein . . . . . . .

196 196 197 198 201 202 205 207

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Einleitung

I. Das Erste, was Philosophie und Religion verklären ist das Wissen. Das von ihnen erschaffene verklärte Wissen ist in Anbetracht des »gesun­ den Menschenverstandes« und das heißt des bewährten menschlichen Realitätssinnes kein von Menschen wißbares Wissen. Es beansprucht, das wahrhafte Wissen vom wahrhaft Wahren und Wirklichen zu sein, wodurch es alles alltägliche und wissenschaftliche Wissen, das einem Zweck dient, um einen ganzen Himmel überragt. Es ist das freie Wissen, das als Wissen am Wissen bereits genug hat, ist das Wissen des Göttlichen, das eigentlich Sache des Gottes selbst ist.1 Der Homo philosophicus und der Homo religiosus der europäischen Tradition zeigen sich von Anfang an als Wesen der Selbstverklärung: Sie beanspruchen eine menschliche Möglichkeit, die keine menschliche Möglichkeit ist. Was bringt Menschen wachen Sinnes dazu, auf diese Weise dem Irrationalen zu huldigen? Für den Philosophen kann der Grund dafür allein in der Geis­ tigkeit des Menschen selbst liegen. Das Denkvermögen als das Ver­ mögen der Gedanken kommt aus sich selbst auf sich selbst zurück. Denkt es sich frei von allen menschlichen Verpflichtungen, dann hat es sich autark gemacht. Seine Freiheit hat die Bedeutung von Reinheit gewonnen. Das Denkvermögen, das sich selbst genügt, ist reiner Geist. Damit aber hat sich das Realitätsbewußtsein radikal geändert: Die Gedanken sind jetzt das Reale, das Beobachtbare, Erfahrbare, Erlebbare dagegen ein Nichts. Der Metaphysiker erschafft mit dem Gedanken Gottes das »am meisten« und das heißt am höchsten »Wiß­

Sehr eindrücklich erklärt sich Aristoteles, unaufgeklärt über sein Verklären, zum philosophischen Wissen als einem göttlichen Wissen (Aristoteles, Metaphysik A 2, 983a5 ff.) Für den Bezug des Christusgläubigen zu seinem Gott als einem wissenden siehe beispielhaft 1.Joh. 2,20; 3,14; 5,19: »Wir wissen, daß wir von Gott sind ...«, dessen Schreiber nicht weniger über sein Verklären unaufgeklärt ist. 1

11 https://doi.org/10.5771/9783495998755 .

Einleitung

bare«.2 Der für das Verklären typische Maximumbegriff ist, im Falle des positiven Verklärens, stets auch ein Optimumbegriff.3 Einmal bei sich selbst und frei für sich selbst, ist dem Gedanken erzeugenden Geist nichts Wirkliches, das wahrnehmbar und erfahrbar ist, wirklich genug. Das vom Geist erfaßte, das ist, wie es der erhellend Aufklä­ rende sagt, das vom Geist erzeugte Wirkliche, ist wirklicher, wenn nicht einzig wirklich. Aristoteles hält zum Beispiel den Artbegriff Mensch für wirklicher (mâllon esti) als das menschliche Individuum.4 Das setzt freilich voraus, daß Aristoteles als metaphysischer Verklärer agiert: der Begriff soll kein Abstraktum sein, sondern für den Gedan­ ken des »Seins« (ousia) stehen, der den Gedanken des Wesens des Menschen meint, eben Wirklichkeit als Werk reiner Vergeistigung, wie sie nur als eine Schöpfung des Geistes für den Geist zu denken ist. Dem frei und autark gewordenen Geist, wie er dem Philosophen als einem metaphysischen Seins- und Wesensdenker (Ontologen) zugehört, ist die Welt, in der er lebt, nicht wirklich genug, der Mensch, der ihm begegnet, und der Mensch, der er selber ist, nicht Mensch genug. Die Fragen »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?« und »Wie menschlich ist der Mensch?« werden durch ihn zu komplementären Fragen. Die Antwort auf sie hat sich der selbstverklärte reine Geist vorbehalten, weil einzig er durch seine Selbstanmaßung weiß, woran alles Wirkliche als Wirkliches sein Maß nimmt: Der reinste, höchste und beste, das ist der göttliche Geist, ist die wirklichste Wirklichkeit. Das gilt für die Philosophie von den Vorsokratikern über Platon und Aristoteles bis zu Hegel und Schelling und noch für die Metaphysik im 20. und 21. Jahrhundert, für die durch Altes und Neues Testament fun­ dierte, kirchlich verwaltete christliche Religion von ihren Anfängen bis heute.

II. Nüchtern betrachtet, haben weder metaphysische Philosophie noch christliche Kirche einen plausiblen Grund, sich mit der Wissenschaft im Widerstreit zu wähnen. Geistiges Verklären hat mit wissenschaft­ lichem Theoriebilden und Experimentieren nichts gemein. GeistigAristoteles, Metaphysik A 2, 982b2 ff. Aristoteles, Metaphysik B 2, 996b8–14. 4 Aristoteles, Metaphysik B 1, 995b31. Bonitz übersetzt »mehr Realität«, Tricot »plutôt l'existence«. 2

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Einleitung

geistliches Erdenken und Erdichten ist etwas total anderes als zum Beispiel naturwissenschaftliches Wissen zu generieren, um techni­ sches Können zu erweitern. Doch die beiden großen europäischen Mächte der Verklärung, unaufgeklärt über sich selbst, wie sie es sind, haben für sich selbst die Gewißheit erlangt, daß Wissenschaft ihr Feind ist, ihr Todfeind. Platon hat im hohen Alter ein philosophisches Gesetz formuliert, daß demjenigen, der mit keiner Macht des Geistes dazu zu bewegen ist, die höchste Verklärung, das ist die Verklärung der Wirklichkeit in eine göttliche, geistig zu teilen, zum Tode zu verurteilen ist.5 Galileo Galilei mußte, zwangsvorgeführt vor die Reinerhalter der christlichen Verklärung, seiner wissenschaftlichen Einsicht in den Heliozentrismus abschwören. Das kurze berühmte Nachwort zum Schwur »und sie (die Erde) bewegt sich doch« genügte, um ihn für immer mundtot zu machen. Die letzten neun Jahre seines Lebens war er Gefangener der Inquisition. Soweit und solange der sich verklärende Geist in sich die Über­ zeugung festigt, der Sachwalter des wissenderen Wissens, ja des höchsten Wissens zu sein, kann er nicht darauf verzichten, in der Realitätsfalle gefangen zu sein. Notwendig wähnt er, daß die in reiner Geistigkeit gestalteten Gedanken von höchster Realität sind. Liest man im 8. Kapitel der Sprüche, verfaßt im 5./4. Jh. v. Chr., daß Gott als Allererstes die Weisheit geschaffen hat, noch vor dem Weltlauf (pro aiônos), vor dem Meer und der festen Erde, dann ist diese unübertreffliche Weisheit deutlich eine Schöpfung verklärender Kräfte. Nun vereint diese Weisheit ausdrücklich auch noch Klugheit, Geistesbildung, Verständigkeit, Wissen, Einsicht und Erkenntnis selbst sinnlicher Art (aisthêsis). Was für ein großartiger Gedanke, dem Schöpfer des Weltlaufs und der Erde die Fülle der Weisheit an die Hand zu geben, die den Fokus auf Gerechtigkeit hat, damit nicht nur Höhen, Täler und Ebenen mit Grenzen zu Gewässern entstehen samt Lebewesen, die sie bewohnen, sondern diese Wohnstatt auch, was die Menschen betrifft, der Empathie Raum und Zeit gibt, einer Gottesfurcht, die der Liebe und Gerechtigkeit günstig ist. Mit Realität hat diese Verklärung nichts zu tun, auch nichts mit Utopie und regula­ tivem Ideal. In dem verklärt-verklärenden Glauben an einen Volksgott befangen, wird so die Verklärung allein weiter ausgestaltet. Anstatt dem Nichtwissen des Menschen um sich selbst bewußt künstlerisch Gestalt zu verleihen, wird hier, wie historische Erfahrung zeigt, etwas 5

Platon, Nomoi X, 909a8.

13 https://doi.org/10.5771/9783495998755 .

Einleitung

geschaffen, das sich als verbindliches Wissen um höchste Realität mißbrauchen läßt, wenn es doch in den »Kanon« des Glaubens-Muß als Muß des Wirklichkeitswissens aufgenommen ist. Philosophie und Religion ist es gelungen, sich nachhaltig der Aufdeckung ihres Künstlertums mit geistiger und physischer Gewalt zu entziehen.

III. Metaphysische Philosophie und christliche Religion kommen in dem ihnen eigenen Verklären zur Darstellung, um für sie durchsichtig wer­ den zu lassen, was sie mit ihrem Denken und Glauben in Wirklichkeit tun. Über ihre Selbstverklärung aufgeklärt, wird sie ihr neu gewonne­ nes kritisches Selbstbewußtsein selber am besten beurteilen lassen, ob und gegebenenfalls was von ihren Verklärungen, jetzt als Kunstwerke verstanden, noch Bestand hat, ja von neuer geistiger Wirkkraft ist. Daß monotheistische Philosophie und monotheistische Religion ihre Zeit gehabt haben, darf kein Urteilsspruch allein des herrschenden Zeitgeistes sein, für den generell keinerlei Verlangen nach geistigen Verklärungen besteht. Nicht weniger muß das Wort all derer gelten, die es verstehen, als Denk- und Glaubenskünstler durch geistige Verklärungen einem grundständigen eigenen Bedürfnis gerecht zu werden. Sich bewußt auf die freie verklärende Gestaltung von Nicht­ wissen und Nichtwißbarem einzulassen, könnte für die Verklärenden und alle die, die mitschöpferisch an diesen Verklärungen teilhaben, geistig belebend wirken, ja Begeisterung hervorrufen.

IV. Das Buch mit seiner kritischen Sympathie für Verklärung endet mit einem Verklären, das selber aufklärend ist. Es gilt, den Menschen als glücklich zu verklären, um ihn über sein Glück aufzuklären. Wie es in seiner Vielfalt dargestellt wird, ist es das Glück, das Humanum selbst in der Hand zu haben.

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A. Verklärende Philosophie

1. Naturwissen: Vorsokratiker 1.1 Natürliches und übernatürliches Naturwissen I. Philosophie beginnt in Europa im 6. Jh. v. Chr. an den Küsten Kleinasiens und Unteritaliens mit der Thematisierung von Natur. Die »Physiologen«, wie Aristoteles sie nennt, die Naturwissenschaftler, »sagen« in Büchern »Über die Natur«, was der Anfang »von allem«, das heißt von aller Natur ist. Sie unternehmen keinen Versuch, Natur zu hinterfragen, bezweifeln nicht die Wirklichkeit von ihr. In seiner »Vorlesung über Natur« erklärt Aristoteles gut anderthalb Jahrhunderte später: »Der Versuch aufzuweisen, daß es Natur gibt, wäre lächerlich, da es ganz offensichtlich viele Naturdinge gibt.«6 Die Evidenz naturhafter Wirklichkeit ergibt sich aus ihrer Wahrnehm­ barkeit: Wer ein technisch gefertigtes Ding wie ein Bett sieht, sieht als seine naturhafte Grundlage Holz, wer ein Standbild sieht, ent­ sprechend Erz. Das sind aristotelische Beispiele. Wer »in die Natur« geht, etwa in einen Bergwald, der sieht Naturgewächse aus Holz, sieht fließendes Wasser und ruhendes Gestein. Was er da alles sieht, erkennt er als von je besonderer Natur. Es gibt nicht nur Naturdinge und Naturereignisse wahrzunehmen und eben zu erkennen, gibt es doch eben auch technische Dinge, die zu erkennen verlangt, sich auf ihren Nutzen zu verstehen. Aber die Grundlage der Dinge dieser Welt ist offenbar Natur als die ihnen jeweils eigene Stofflichkeit. Menschliche Sinne sind Werkzeuge (Organe) auch und gerade der Naturerkenntnis. Gesichtssinn und Tastsinn vermitteln die Iden­ tifizierung von Holz und Erz. Feuer ist zu sehen, in seiner Wirkung zu beobachten, in seiner Hitze zu spüren. Bewegte Luft, wie es ein 6

Aristoteles, Physik B 1, 193a3 f.

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A. Verklärende Philosophie

Windhauch ist, nimmt das Naturwesen Mensch wahr. Vom Wasser weiß er, weil er Regen gespürt, im See geschwommen und das Meer befahren hat. Er riecht die duftende Blume, er schmeckt die Süße des Apfels. Daß er das Leben selbst, das pure Am-Leben-sein als eine »gewisse natürliche Süße«7 empfindet, erreicht dann freilich kein spezielles Sinnesorgan mehr. Durch seinen übertragenen Sinn ist Süße zu einem Wort aus dem Sprachschatz der Verklärung geworden. Das liegt bei Naturerfahrungen, wie die Erfahrung, am Leben zu sein, eine ist, leicht zusammen, und dies durch den schöpferischen Menschen. Wer den Naturlaut eines Vogelrufs hört, und hört ihn als etwas Schönes, tut von sich aus etwas zum Gehörten hinzu. Schon weil bei sinnlich vermitteltem Wissen stets Sprache im Spiel ist, kann Naturerkenntnis durch Wahrnehmung nur in Kooperation mit geistigen Kräften statthaben. Wird Impression bei einer identifizie­ renden Bezugnahme zur Expression, dann ist die geistige Mitarbeit evident. Der philosophische Zugriff auf Naturwissen erkennt dieses Fazit unmöglich an. Mitarbeit am Erkennen und der Wissensgewin­ nung aus dem, was sinnliche Wahrnehmung vermittelt – nein, der philosophische Geist versteht sich, sowie er auftritt, als autark. Er will nichts feststellen, sondern erklären. Nicht das Faktum zählt, das Daß, sondern allein das Was, das für ihn das Wesen ist, die geistig zu schätzende Essenz.

II. Nicht jeder der in den Blick genommenen Vorsokratiker, dieser »Phy­ siologen«, ist sich im Klaren darüber, gar nicht Naturwissenschaftler sein zu wollen. Des näheren betrachtet, ist keiner von ihnen darauf aus, Kenntnisse der Natur zu gewinnen, um sie für sich nutzen zu können. Ihnen geht es vielmehr darum, Natur zu vergeistigen. Sie wollen das, was sie sich als Natur vornehmen, deuten, um Mensch und Natur in ein geistiges Verhältnis zu bringen, das ihn zu sich selbst finden läßt. Bereits in der frühen Thematisierung der Natur nimmt der Mensch die Frage auf, die er sich selbst ist. Seine Herausforderung sieht er darin, die Welt, in der er sich vorfindet, schöpferisch so zu gestalten, daß er mit ihr vertraut und in ihr heimisch werden kann. Das hat mit dem Naturwissenschaftler so gut wie nichts gemein, der, bei aller möglichen Befriedigung von Neugier durch Kenntniserwei­ 7

Aristoteles, Politik Gamma 6, 1278b30.

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1. Naturwissen: Vorsokratiker

terung, doch der Sicherung des Lebens dient und sich dadurch nicht nur durch eine Erleichterung und Verfeinerung des Lebens verdient macht, sondern mehr noch durch Schutz vor der Natur. Das philosophische Denken merkt von der ersten Stunde an, daß es über die eigene lebenspraktische Bedingtheit hinaus, sobald es schöpferisch wird, ein unbedingtes Denken denken kann, ja muß. Aus der Zurücknahme rein auf sich selbst, aus dieser erdachten Reinheit, ergibt sich mit logischer Konsequenz, daß es ein absolutes Denken gibt, das notwendig höher, besser und vermögender, ja eben mächtiger und gewaltiger als es selbst ist. Philosophie hat den einzigartigen Weg gefunden, das Rätsel, das der Mensch sich selbst ist, so aufzugreifen, daß er es löst. Eigentlich ist das unmöglich. Kundschaftet er seine Selbstgegebenheit aus, dann findet er keine Sinngebung mitgegeben. Doch dieses Unvermögen verwandelt er für sich in ein Vermögen, indem er sich selbst desavouiert und das eigene Unvermögen durch das Erdenken einer höchsten Wirklichkeit in ein Vermögen wandelt. Gott ist das gelöste Rätsel des Menschen. Kann er erst einmal das Denken Gottes denken, dann festigt er damit zwar seine Selbsterniedrigung, befreit sich aber zugleich von ihr, indem er sich vom Menschen, der wir sind, löst, um »reinen Geistes« doch mit dem Geist Gottes sein Unvermögen in eine höchste Gestalt retten zu können, die es, ins absolut Positive gewandt, als Wirkliches verkör­ pert. Überraschen Philosophen mit der bedenkenlosen Existenz von Gott und Göttern und detailliertem Wissen von Macht und Gewalt ihrer absoluten Geistigkeit, dann folgen sie nur der immanenten Logik ihrer Selbstvergeistigung.

III. Die menschliche Denkkraft (nous, ratio), die sich selbst als rein erdenkt, wird durch diese Selbsterklärung und Selbstgestaltung zum ersten und bis ins 21. Jh. führend bleibenden Übernatürlichen der europäischen Philosophie. Der übernatürliche Mensch aber, der kein Mensch mehr ist, dieser göttliche Mensch, der Geist als das Göttliche im Menschen selbsthaft für den ganzen und eigentlichen Menschen genommen,8 ist als das erdachte Wesen, das er ist, der eine philoso­ phische Gott. Wie der philosophische Gedanke Gottes in der anfäng­ 8

Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 1177b26 ff.

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A. Verklärende Philosophie

lichen Philosophie auftritt, ist er ein reines Erzeugnis der Denkkunst, das für metaphysische Philosophie nicht zur Disposition steht. Sagt Platon von den Hellenen und Barbaren, daß sie alle an die Existenz von Göttern glauben,9 dann ist das für den Philosophen kein Legiti­ mationsgrund, ebenfalls auf existierendes Göttliches zurückgreifen zu können. Nein, sein Gott, der denkende Gott, das Wesen, das der reinsten und besten Denkkraft ist, wird nicht geglaubt (nomizein), das heißt auf religiöses Brauchtum zurückgeführt. Er ist vielmehr Inbe­ griff der einzigartigen geistigen Übernatur des Menschen. Diese Übernatur ist maßgeblich im Spiel, wenn Philosophie damit beginnt, etwas »über Natur« zu sagen. Es ist für sie eine systemische Bedin­ gung, nicht Naturwissenschaft zu sein.

1.2 Thales I. Thales von Milet (um 625–547 v. Chr.), der älteste der Vorsokratiker, preist sein Glück, ein Mensch und kein Tier zu sein.10 Glück, gr. tychê, das, was einem zugefallen ist, kann ein Glücksfall (eutychia) oder ein Unglücksfall (dystychia) sein. Reizte der Naturphilosoph sein Glück voll aus, dann bedeutete es für ihn nicht, wenigstens kein Tier, wenn schon kein Gott zu sein. Vielmehr wüßte er vom Tier, daß ihm als die Natur, die es ist, eine Übernatur schlechthin versagt ist. Von sich selbst dagegen verstünde er es sehr wohl, seine Übernatur, das ist seine reine Geistigkeit, zu aktivieren, und auf Zeit nicht mehr menschlicher, sondern göttlicher Mensch zu sein. Sind metaphysische Philosophen göttliche Menschen und Philosophie, wie Aristoteles sagt, ein göttlich Ding (theion pragma), dann ist es doch versöhnlich, daß Philosophen jeden Tag, zum Beispiel beim Einnehmen von Mahlzeiten und zu Schlafenszeiten menschliche Menschen sind. Daß Philosophen wie Thales von Gott und Göttern sprechen, um dem als absolut rein und mächtig erdachten Geist einen Namen zu geben, ist natürlich den allbekannten Mythologien geschuldet, aber auch der öffentlichen Macht, die keine Gottlosigkeit duldet. Asebieklageschriften waren ein bewährtes Mittel, unliebsame Zeitgenossen aus dem Weg zu räumen. 9 10

Platon, Nomoi X, 886a. Dioginis Laertii. Vitae philosophorum Bd.1, ed. H.S. Long, Oxford 1964, 1,33. S. 14.

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Tier – Mensch – Gott, dieses vertikal ausgerichtete Ordo-Den­ ken, das alle Metaphysik prägt, weiß sich schon bei Thales ganz aufseiten des Göttlichen. Damit ist entschieden, daß das eigentliche Erkenntnisinteresse dem Nichtwahrnehmbaren gilt. Der philosophi­ sche Physiologe ist nicht von gespaltener Natur, teils Aufklärer, teils Verklärer. Sein Zugriff auf Natur hat im Ganzen und Wesentlichen das Verklären im Sinn. Naturerkenntnisse können nur Beiläufiges sein, wenn menschlicher Geist einmal darauf eingeschworen ist, in allem göttliche Kraft am Werke zu sehen. Er will Besseres wissen, als wissenschaftlich zu wissen ist, und weiß es auch schon besser. Was ist schon die Vorhersage einer eingetroffenen Sonnenfinsternis, die Thales nachgesagt wird, gegen seine Einsichten, daß der Kosmos beseelt und alles aus Wasser entstanden ist! Epische Mythologie wird durch philosophische Mythologie abgelöst,11 nicht durch wissen­ schaftliche Aufklärung, sondern durch denkkünstlerische Verklärung des zu sich selbst befreiten Geistes. Wie es später Platon formuliert, sind Denkkraft (nous) und Überlegungskraft (dianoia) dazu fähig, die Gattung des für Menschen gänzlich Unwahrnehmbaren geistig zu erfassen.12

II. Thales hat seine Sternenkunde (damals Astrologie, bei den Römern bereits Astronomie genannt) als Naturwissenschaft betrieben. Bedeutsamer war ihm jedoch ein Wissen von Natur, das kein natur­ wissenschaftliches ist. Daß er mit dem nichtwissenschaftlichen Wis­ sen als Wissen kein Problem hatte, lag daran, daß er es selbst als Wissen zu verantworten wußte: Er baute eine in sich stimmige geistige Welt. Prinzip der Gestaltung des Übernatürlichen und Über­ wirklichen ist das Schön- und Gut- und dabei Ins-Höchste-reden. Die geistige Überwelt soll dem menschlichen Geist ein angemessenes Zuhause sein, um sich in ihm selbst feiern zu können. Thales wählt für sein Schön- und Gutreden wie Metaphysiker nach ihm bis in jüngste Zeit den Superlativ. So ist Gott für ihn das »Älteste« des Wirklichen, sein Werk der »schönste« Kosmos, der Raum, den er umfängt, der 11 Zum Mythologieprogramm des deutschen Idealismus von 1796 siehe unten S. 51 und S. 117 f. 12 Platon, Nomoi X, 898e.

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»größte«, sein Geist (nous) der »schnellste«, die Notwendigkeit des göttlich Geschehenden die »stärkste«, die Zeit, in der alles geschieht, das »Weiseste«, da sie »alles« entdeckt. Ist für christliche Metaphy­ siker Gott der Inbegriff aller positiven Prädikate, dann läßt sich bereits bei Thales verfolgen, was der Mensch dem ihn unendlich überlegenen Geistwesen im Einzelnen positiv zudenkt.13 Der Kosmos ist beseelt und voller Götter.14 Thales weiß das, weil er es denkt. Durch spekulatives Denken vergeistigt sich die Natur vor seinen allein für Nichtwahrnehmbares geeigneten Augen und verwandelt sich in Übernatürliches. Der einzigartige Geist-Gott hat keine menschlich allzumenschlichen Züge wie die homerischen, steht auch nicht für eine besondere Naturkraft, wie Zeus, der es regnen und blitzen, wie Demeter, die es wachsen läßt. Seine Natur ist ja keine natürliche, sondern einzig die übernatürliche. Und so steht es auch mit Thales’ Wasser, das er zum Anfang (archê) von allem erklärt.15 Es ist nichts Natürliches. Zwar scheint seine Begründung, warum er sich geistig entscheidet, Wasser als das Alleranfänglichste zu bestimmen, auf die Natur des Wassers zurückzugreifen: das Wasser ist bewegend-bewegt und spontan, Erde dagegen passiv, aber spricht damit allein Charakteristika des Wassers an, nicht die Materie. Spricht der Dichter Simonides davon, daß Gott den einen Typ der Frau »aus Fuchs«, den anderen »aus Biene gemacht« hat, dann meint er auch nicht die Tiere, sondern Eigenschaften von ihnen.16 Thales’ Gedanke des Wassers als des Anfangs und Grundes von allem dient der Vergeistigung und Vergöttlichung der Natur. Geradezu vorbildhaft für Naturphilosophen war er ein Verklärer, kein Aufklärer.

13 Thales, »A. Leben und Lehre«, in: H. Diels / W. Kranz, Die Fragmente der Vorso­ kratiker (F.d.V.) Bd. l, 6. Aufl., Berlin 1951, S. 71,9 ff. 14 Ebd., S. 68,28 f. 15 Thales, Fragment A 27, in: F.d.V. Bd 1, S. 68. 16 Siehe dazu Hermann Fränkel, Dichtung und Philosophie im frühen Griechentum, New York 1951, S. 339 ff.

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1.3 Xenophanes I. Xenophanes aus Kolophon in Kleinasien (580–485 v. Chr.), Mitbe­ gründer der Kolonie Elea in Unteritalien und der eleatischen Philo­ sophenschule, hat auch ein Buch »Über Natur« verfaßt, in dem er erklärt, daß alles, was wird und wächst, aus Erde und Wasser ist.17 Er vermehrt damit nicht die geistige Allbegründung des Thales um ein Zweites, das Eigenschaften von Erdigem hat. Für ihn ist das Wasser Wasser, die Erde Erde. Er hat naturwissenschaftliche Kenntnisse, daß zum Beispiel Wolken nicht aus sich zu regnen vermögen, sondern das Wasser dazu aus dem Meer haben. Auch praktisches Allgemeinwissen erinnert er, daß etwa zum Weinmischen nicht der Wein zuerst in den Becher kommt, sondern auf das Wasser gegossen wird. Als Heimat­ vertriebener, der in ganz Hellas unterwegs ist und noch dazu über neunzig Jahre alt wird, hat er reiche Welt- und Lebenserfahrung. Doch die den Menschen nachgebildeten Volksgötter und Götter der Epen lassen ihn nicht los, weil er es, was es mit Gott auf sich hat, entschieden besser weiß, ja allein die Wahrheit zu beanspruchen hat. Unversehens wird er rein geistig: Alles naturhaft Wirkliche entsteht, wächst und vergeht. Aber der Gott, so weiß es Xenophanes, der eine und größte unter Göttern und Menschen, verharrt, bewegt sich nicht, bleibt »im Selben«.18 Da ist sie wieder: die Entrückung kraft reinen Geistes ins Übernatürliche. Natur kennt keine absolute Unbewegtheit. Das absolute Bleiben kann der reine Geist nur dem reinen Geist zudenken. Bleiben (menein) ist das Grundwort der metaphysischen Seinslehre (Ontologie): Was wahrhaft, und eben übernatürlich ist, bleibt. Damit ist der göttliche Geist nicht als untätig gedacht, im Gegenteil. Die höchstvermögende Denkkraft ist fortwährend in Tätigkeit, und dies höchst machtvoll: »sonder Mühe erschüttert er (der Gott) alles mit des Geistes Denkkraft«.19 Das ist der Tagtraum aller Metaphysik, mit dem reinen Geist »nach draußen« zu gelangen, aus der eigenen Reinheit heraus, um auf das einwirken zu können, was nicht reinen Geistes ist. Nun läßt Xenophanes seinen einen Gott nicht nur ganz Denktätigkeit 17 18 19

Xenophanes, Fragment B 29, in: F.d.V. Bd. l, S. 136. Thales, Fragment B 26, in: F.d.V., Bd. l, S. 135. Thales, Fragment B 25, ebd.

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sein, sondern auch ganz Sehen und ganz Hören.20 Das liest sich bei diesem ersten Denker des Seins und Bleibens ganz so, als habe er seinen unbewegten und unbewegbaren Gott mit Empfangsorganen für Bewegtes ausgestattet, das in Wellen ankommt. Ja, das muß wohl so gedacht sein: Der unbewegte Geist Gottes bleibt im Selben, wenn er immer auch schon draußen ist, um alles zu sehen und alles zu hören. Wer etwas sieht und etwas hört, bewegt sich nicht, läuft nicht dahin und dorthin.

II. Götter im Plural, wie Homer und Hesiod sie poetisch inszenieren, verklären die Welt des Menschen, auch wenn sich in einem machtvol­ len Gott wie Zeus bereits der Monotheismus ankündigt. Aber auch dieser eine Gott, der auf höchster Ebene den Ehebruch vorführt, für den Menschen Höchststrafen vorsehen, ist noch voller Verklärungs­ potential für Leben, wie der Mensch es zu leben hat. Philosophischer Monotheismus kann jedoch davon absehen, den ganzen Kosmos, angefangen mit allen Gestirnen, als göttlich beseelt und göttlich geschönt zu verklären. Xenophanes hat mit seinem Kampf gegen die Volksreligion, der für ihn, wie er den Gott dachte, erfolgreich war, nichts geschaffen, was für eine neue Volksreligion taugte. Dafür macht er aber besonders deutlich, wie es um einen Gott reinen philosophi­ schen Geistes genauer steht: Er stellt die reine Selbstverklärung des Geistes dar; den Geist, der zu nichts anderem mehr taugt und dient, als rein und ganz er selbst zu sein – das Übernatürliche an und für sich. Wer soll, wer kann sich an dieser rein noologischen Schöpfung erfreuen? Das war selbstverständlich nicht die Frage von Xenopha­ nes. Der wußte nichts von seinem verklärenden Wirken, sondern suchte klaren Geistes den völkischen Anthropozentrismus bei den Gottesvorstellungen in einen noologischen Zentrismus umzuwan­ deln, der einzigen Möglichkeit eines philosophisch verantwortbaren Theozentrismus. Indem Xenophanes dem durch philosophischen Geist erschaffenen Gott eine erste Gestalt gab, hat er mit seiner Selbstverklärung dieses Geistes auch die Selbstverklärung des Philo­ sophen eingeleitet. Werden später Metaphysiker nach dem wahren Menschen gefragt, dann ist es für sie stets der Mensch, der reinen Geistes ist, der einzig göttlich zu nennende Mensch, der Philosoph. 20

Thales, Fragment B 24, ebd.

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III. Die mit dem verklärenden Entwurf des einen und größten Got­ tes21 einhergehende Selbstverklärung des Philosophen kann für den »gemeinen Menschen«, den Bürger, nicht gut ausgehen. Redet er sich unter Menschen zuhöchst gut, dann schließt das ein, den Nicht­ philosophen unter Menschen zuhöchst schlechtreden zu müssen. Da Höhe und Erhabenheit unter Menschen für den Philosophen allein durch Geisteskraft zu erringen sind, bietet sich für eine menschli­ che Diskriminierung der Nichtphilosophen keine Menschengruppe exemplarischer an als die, die es vortrefflich mit der Körperkraft hält: die Olympioniken. Diesen Gefeiertsten einer Polis gilt vorzüglich sein Schmäh.22 Dabei läßt der Philosoph seinem Selbstbewußtsein freien Lauf: Auch der größte Olympionike »ist nicht so würdig wie ich«. Das haben auch noch Kant, Schelling und Heidegger so gedacht: Die Würde des Menschen liegt in seinem Geiste, und zwar in seinem reinen, rein sich selbst zugewandten Geiste. Metaphysik lebt von ihrer ersten Stunde an von der Befriedigung des Bedürfnisses geistiger Selbstverklärung.

1.4 Heraklit I. Heraklit aus Ephesos in Kleinasien (544–483 v. Chr.) hat, aus einem Herrscherhaus stammend, aller weltlichen Herrschaft entsagt, dafür aber umso entschiedener eine geistige beansprucht. Er beginnt seine Schrift »Über Natur« mit einer »Publikumsbeschimpfung«: Es hätte sich seiner Lehre (logos) niemand als würdig erwiesen.23 Für das, was er als Lehre vortrage, gewännen die Menschen nie ein Verständnis. Das heißt, daß einzig er sich auf sie verstehe. Er nämlich sage, »wie es sich verhält« und damit nichts als die Wahrheit. Sein Logos ist nichts weniger als der Logos von allem (Diels/Kranz übersetzen mit »Sinn«), genauer: der Logos/Sinn von allem Geschehen. Wer wollte, wenn sich dieser Anspruch als überzeugend erwiese, dem Autor dieser Schrift das Prädikat »göttlich« versagen, überschreitet er doch 21 22 23

Xenophanes, Fragment B 23, in: F.d.V., Bd. l, S. 135. Xenophanes, Fragment B 2, ebd., S. 128 f. Heraklit, Fragment B 1, ebd., S. 150.

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eindeutig die Grenzen menschlicher Geisteskraft? Heraklit erklärt, die mächtigste Natur sei das »ewig lebendige Feuer«. Als göttlicher Denker trägt er allein die volle Verantwortung für seine Lehre. Die »Logik« seines Denkens ist selbst schon die Beweisführung für ihre Wahrheit. Sein verklärendes Erklären, das kein Dunkel ungeklärt läßt, hat ihm zu Unrecht den Beinamen »der Dunkle« eingebracht. Ist das Gedachte auch schon das Gewußte, dann kennt denkende Erhellung keine Grenzen: Diesen Kosmos, den selben für alles, schuf weder einer der Götter und Menschen, sondern er war ewig, ist und wird sein ewig lebendi­ ges Feuer.24

Eine heiße Welt, möchte man meinen. Doch nein, Heraklit ist kein Naturforscher, sondern ein Naturdenker. Die von ihm gelehrte Natur ist nicht von physischer, sondern von gedanklicher Natur. Das Prädi­ kat »ewig-lebendig« spricht dem Feuer keine zeitlich-endliche, das wäre natürliche Natur zu, sondern eine übernatürliche. Und doch läßt Heraklit es brennen, dies aber wieder nicht physisch, sondern moralisch: als Strafe für Straftäter, die sie nach dem Tode erreicht. Er hatte Teilnehmer an »unheiligen« religiösen Gebräuchen im Sinn: die »Schauenden« (Epopten) des Demeterkults sowie die Bakchen und Mänaden des Dionysoskults.25 Da er es selbst ist, der das Göttliche denkt und damit weiß, ist es ihm generell vertraut, wie es sich mit dem Göttlichen in Wahrheit verhält, nicht aber das gemeine Volk mit seinen speziellen Gottheiten geweihten Gebräuchen, die für ihn reiner Götzendienst sind.26 Bemerkenswert bleibt, wie selbstverständlich für einen mit dem Übernatürlichen paktierenden Denker beim Tod eines Menschen nicht alles von ihm ins Grab geht, so daß für ihn »alles vorbei« sein könnte, sondern etwas durch Strafe Belangbares bleibt, gewöhnlich Seele benannt. Der Metaphysiker ist als solcher Moralist. Er unterscheidet zwischen Gut und Schlecht, Belohnungswürdigem und Strafwürdigem. Noch für Platon und Kant ist es von erster Bedeutung, von der Unsterblichkeit der Seele auszugehen, damit sie, war sie eine schlechte, nicht der Strafe entgehe. Die gedankli­ che Erfindung einer die Zeitlichkeit und Endlichkeit des Menschen überschreitenden Gerechtigkeit, die einzigartig garantiert, daß es im Letzten unter Menschen unausweichlich gerecht zugeht, teilen 24 25 26

Heraklit, Fragment B 30, ebd., S. 157 f. Heraklit, Fragmente B 14 und 15, ebd., S. 154 f. Heraklit, Fragment B 5, ebd., S. 151 f.

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bekanntlich auch Religionen. Überraschend ist, daß sie ebenfalls der Gedanke leitet, es gebe nichts Geeigneteres als Feuer, um den auf das Pneumatische reduziert vorgestellten Menschen zu peinigen. Um diese komplexe Erfindung unentrinnbarer Bestrafung plausibler zu machen, hat man dem Menschen in der Welt der Toten eine eigene Art von Soma angedichtet. Müßte der verbliebene »Hauch« des Lebens reiner Geist sein, ließe sich selbst eine übernatürliche Hitzeempfindlichkeit schwerlich vermitteln.

II. Das von Heraklit gedachte Feuer ist nichts von Menschen Beherrsch­ bares. Es selbst ist das alles Verursachende und Beherrschende. Es überragt jede Herkunft und Zukunft des Menschen, ist ihm doch sowohl die Welteinrichtung als auch das Weltgericht und damit das größte denkbare Gesamtwerk als das einzigartig ihm eigene zuge­ dacht. Heraklit hat es vollendet verstanden, die Freiheit zu nutzen, die sich ein Nachdenkender nimmt, um durch eigene Gedanken Erkennt­ nis und Wissen der höchsten und letzten Dinge zu erschaffen.27Damit das Feuer, das er denkt, die Welt einzurichten vermag, denkt er ihm »Wendungen« zu, als deren erste er das Meer anführt. Wie es sein Gedankengebäude braucht, kann ihm das Wasser einmal der »Tod« des Feuers sein oder eben auch in der Gestalt des Meeres eine Wendung (tropos) seiner selbst. All seine Gedanken zu Meer und Erde, Wasser und Seele führen ihn nicht von seinem Leitgedanken ab, daß es das ewig-lebendige, göttliche Feuer ist, das den Kosmos zu der Gesamtheit des Geschehens macht, die er ist. Spricht Heraklit auch im Plural von Menschen und Göttern, die er durch den Abgrund ihrer Verschiedenheit untrennbar miteinander verbunden weiß, so hält er es doch maßgeblich mit dem einen Gott, der für ihn, aus der poeti­ schen in die philosophische Mythologie übernommen, Zeus heißt. Es ist der einzige Gott, der aus dem Norden, nicht aus dem Osten nach Griechenland kam. Wie Heraklit ihn gedanklich aufgreift, um den »logischen« Mythos zu erzählen, hat er nichts mit den homerischen Göttern des Olymps gemein, nichts mit einem Gott unter Göttern, und sei es auch der höchste und mächtigste. Der philosophische Gott, wie ihn der »Physiologe« zeichnet, ist kein Sonderstück im Ganzen des Geschehens, sondern ist es im Ganzen selbst. Zum höchsten 27

Heraklit, Fragmente B 31, ebd., S. 158; B 63, ebd., S. 164.

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Gedanken geworden, ist Feuer keines der Naturphänomene mehr, sondern das Eine, Gott und Zeus genannt, das mit dem Blitz gleichzu­ setzen ist, der das All steuert, zugleich mit dem ewig lebendigen Feuer, das als das Ganze des Geschehens gedacht ist, nicht des physischen, sondern des logischen und moralischen. Das »unlöschbare Feuer«, das der Jesus des Matthäusevangeliums für jeden vorsieht, der ihm nicht folgt, dieses auf ewig strafende Feuer, kann sich mit dem von Heraklit gedachten Feuer nicht messen. Dieses Feuer ist unmöglich das Mittel für einen Zweck, ist nichts, was eine herrschende Macht einsetzt, um durch ein für peinlichste Strafe geeignetes Mittel die Strafe zu vollziehen. Heraklits Feuer ist aus sich das Strafende, ist aus sich Richter und Gericht (krisis). Dem Feuer als dem Allgeschehen entgeht kein einzelnes Geschehen, das ein Einzelner zu verantworten hätte. Es kommt an alles heran, um es zu richten und zu strafen.28 Zum »logischen« Mythos des Philosophen gehört unabdingbar, daß es im Ganzen gerecht zugeht. Das »allein Weise« wird einzig durch Zeus verkörpert.29 Das Feuer, wie er es ist, als Blitz und ewig lebendiges, ist »verständig und klug« (phronimon).30 Was für ein Verklärungspotential: die Vernunft des Ganzen dem Feuer zu übereignen! Heraklit gebraucht kein könnte, müßte, sollte, er spricht katego­ risch. Was er denkend entwirft, ist keine Utopie, sondern gedachte Realität. Diese ist freilich nicht auf wissenschaftliche Weise verifi­ zierbar, ja nicht einmal auf eine allgemein-philosophische (spekula­ tive). Die Logik seines Logos ist seine eigene, geprägt durch seine denkerische Phantasie. Sein Denkkunstwerk läßt sich nicht abtun als »Metapherngestöber« (Celan), dem alle Wahrheit fehlt. Künstleri­ scher Metapherngebrauch ist von eigener Wahrheitsfähigkeit, sofern von einer Wahrheit der Kunst zu reden ist wie auch von einer Realität der Kunst. Ist Feuer, das etwas physisch Brennbares zur Asche macht, die grundlegende Bedeutung des Wortes, dann ist die Rede vom ewig-lebendigen Feuer eine Metapher. Feuer lebt nicht. Verlöscht ein Feuer, weil es sein Werk getan hat, dann stirbt es nicht, wird es von keiner Lebenskraft verlassen.31 Der Gedanke eines ewig-lebendigen Feuers hat seine Erfüllung darin, daß er ein erstes menschliches Heraklit, Fragment B 66, ebd., S. 165. Heraklit, Fragment B 32, ebd., S. 159. 30 Heraklit, Fragment B 64, ebd., S. 165. 31 Feuer ist kein Organismus. Siehe Erwin Schrödinger, Was ist Leben?, 2. Aufl., München 1951. 28

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Bedürfnis befriedigt: das der Sinngebung. »Das Ganze«, dem der Mensch zugehört, erhält einen Sinn. Alles, was für den Menschen in seinem Leben und Sterben relevant ist, zeigt sich jetzt geistig verklärt: Alles Geschehen folgt einer weisen und vernünftigen Ordnung und erweist sich am Ende als gerecht. Daß es sich so verhält, steht nicht aus, ist nicht endlos vertagt, sondern ist so, ist durch den schöpferisch denkenden Geist verbürgte geistige, nicht physische Realität. Hera­ klits Denken befriedigt für alle, die durch es fasziniert und geistig bewegt sind, ein Kunstbedürfnis. Geistige Verklärung wirkt im Geiste der Menschen nicht gleich dem Opium, das ein Mensch einnimmt, um geistig wegzutreten. »Berauschen« sich nach übernatürlichem Denken (Metaphysik) Dürstende am Denken Heraklits, dann sagt das, daß sie in höchster Wachheit zu einem Gleichklang mit einem Großmeister der Denkkunst gelangen. Wird freilich Heraklits Logos zur verpflichtenden Doktrin, »Herakliteisches Denken« (Heidegger) zum Königsweg für die Erlangung geistiger Wahrheit erklärt, dann schlägt die Realitätsfalle zu: die Metaphysikbedürftigen beginnen zu verkennen, daß ihr Bedürfnis ein künstlerisches ist, das durch frei gedachte geistige Verklärung befriedigt wird, nicht aber durch eine Lehre, die bei Abweichungen von ihr mit Sanktionen droht. Prinzipiell muß die Möglichkeit bestehen, daß eine Form geistiger Verklärung ihre Zeit gehabt hat und ihr Wirkungspotential ausgeschöpft ist. Darüber befinden allein die geistig Verklärungsbedürftigen, keine geistige Obrigkeit, die sich am Kunstcharakter jeden geistigen Verklä­ rens versieht.

III. Als Denker des Übernatürlichen konnte auch Heraklit der logischen Folge nicht entgehen, den natürlichen Menschen zu diffamieren, ohne den auszunehmen, der unter Menschen das Ansehen hat, ein höchstvermögender Repräsentant menschenmöglicher Geistigkeit zu sein. Als Verklärer und damit als Parteigänger der Metaphysik hat der Denker Heraklit die Entwürdigung des Menschen, der wir sind, voll mitgetragen. Die schönredende Metaphysik sieht nicht nur häßlich aus, wenn sie Missionierungsunwilligen mit Höllenqualen droht. Sie wird auch selbst Opfer ihres ins Höchste Redens. Die sich ins Denken des Übernatürlichen steigernde menschliche Denkkraft gibt der gedachten göttlichen Denkkraft alles Denkvermögen und behält davon nichts für sich. Die logische Folge ist Selbstdiffamierung:

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Der weiseste der Menschen wird gegenüber Gott als Affe erscheinen in Weisheit, Schönheit und allem anderen.32

Da ist es wieder: das Tier, freilich nicht in der Gestalt eines Schmet­ terlings oder Adlers, sondern in der des ihm ähnlichsten und dadurch vergleichbar unähnlichsten Lebewesens. In seiner Geistigkeit, so urteilt der Metaphysiker, gleicht der Mensch im besten Falle einem häßlichen Tier, wird der Mensch an Gott gemessen. Gott – Mensch – Tier, dieser Ordo erweist sich stets als Grundmuster metaphysi­ schen Denkens: grobe Tierheit zur einen Seite, reinste Geistigkeit zur anderen. So präsentiert sich die philosophische Mythologie als eine ästhetische und moralische: Tierheit ist als Menschenteil der Inbegriff des Häßlichen, Göttlichkeit der Inbegriff des Schönen. Ent­ sprechend verhält es sich mit dem Inbegriff des Schlechten und dem des Guten. Das Grundsatzurteil der Metaphysik ist damit gefällt: Der »eigentliche« Mensch ist kein Lebewesen, sondern ein Geistwesen. Will der Mensch das sein, wozu er bestimmt ist, dann hat er keine Wahl: Er hat sich von seiner Tierheit abzuwenden und ganz auf seine Geistigkeit hin zu entwerfen. Allein dann zählt er zu den »Guten«, ja zu den »Besten«.33 Die diffamierende Unterscheidung der Menschen zwischen den der Tierheit und den der Gottheit Zugewandten versteht sich seit Heraklit bevorzugt als eine quantitative, als die zwischen »den Vielen« und »den Wenigen«: […] die Vielen freilich liegen da vollgefressen wie Vieh.34

Die Vielen denken nicht, sind nicht spekulativ. Durch Heraklits verklärende Gedanken wären sie »verwundert«, das heißt wie vor den Kopf gestoßen, ohne etwas »begreifen« zu können.35 Heraklit erforscht nicht Naturdinge, Naturerscheinungen und Naturereignisse, auch nicht den Menschen als Natur- und Lebewe­ sen. Sein spekulativer Ansatz liegt im Übernatürlichen als der vom Philosophen schöpferisch gedachten Position, von der aus alles als »Natur« in Betracht Gezogene Vergeistigtes und Verklärtes ist. Das Tier gibt ihm die Vorlage dafür, sich vom Natur- und Lebewesen Mensch abzuwenden, der Geistgott die Vorlage, sich ganz dem ästhe­ Heraklit, Fragment B 83, ebd., S. 169. Heraklit, Fragmente B 104, ebd., S. 174; B 29, ebd., S. 157. 34 Heraklit, Fragment B 29, ebd., S. 157. 35 Heraklit, Fragment B 17, ebd., S. 155; siehe auch Immitation C 24, ebd., S. 188, 20.22; vgl. Fragmente B 2, ebd., S. 151; B 104, ebd., S. 174. 32

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tisch und moralisch ins Übernatürliche erhöhten Geistwesen Mensch zuzuwenden. Mit dem Blitz des Zeus, mit dem ewig-lebendigen Feuer hat sich Heraklit selbst seinen geistigen Kosmos geschaffen, in dem er als wahrhaft Wissender und wahrhaft Gerechter das Schiedsgericht hält über den vergeistigten Menschen, der sich nach seiner Logik allein im gedachten Gegensatz von Geist und Ungeist, von Gott und Tier erfassen läßt.

1.5 Anaxagoras I. Anaxagoras aus Klazomenai in Kleinasien (499–427 v. Chr.) trägt den Beinamen des Gottlosen (atheos). Nicht gottbegeistert, nicht von Gott inspiriert zu sein (entheos, enthusiastisch) war politisch, das meint nach der Verfassung der Megalopolis Athen, strafwürdig. Als Wissenschaftler ist Anaxagoras nicht dem Gebot gefolgt, das Wirkli­ che schönzureden. Was Sonne, Mond und alle Sterne anbelangt, hat er für das Empfinden der Verklärungsbedürftigen diese Himmelskörper häßlichgeredet. Das trifft den im Prinzip wissenschaftlichen Versuch der Aufklärung, alle Dinge am Himmel als glühende Steine zu erklären, und dies auch mit Vermutung über ihre Größe. So schätzt er die Sonne für größer als die Peleponnes ein.36 Damit riskiert er sein Leben. Die Verklärung zum Atheisten ist eine negative, eine den vom allgemeinen und politisch verbindlich gemachten Empfinden Abweichenden vernichtende.

II. Wie Thales durch seine erfolgreiche Vorhersage einer Sonnenfinster­ nis nicht zum Wissenschaftler wurde, so auch Anaxagoras nicht durch seinen Aufklärungsversuch über die (wahre) Natur der Gestirne. Seine geschichtliche Bedeutung hat er als metaphysischer Philosoph erlangt und damit als ein Meister der geistigen Verklärung. Er denkt keinen Gott, dafür aber eine Vernunft, die keinem von Menschengeist geschaffenem Geistgott nachsteht. Von seiner spekulativen Vernunft­ 36

Anaxagoras, A. Lehre 42, in: F.d.V., Bd. 2, Berlin 1952, S. 16, 17.

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lehre37 war der athenische Staatsmann Perikles (490–429 v. Chr.) begeistert, was ihren Autor vor einer Verurteilung bewahrte, der athe­ nische Philosoph und Gegenaufklärer Platon (427–347 v. Chr.) heftig enttäuscht.38 Anaxagoras ist sich jedoch seiner Sache sicher. Er ver­ steht sein Denken als ein Erkennen, für einen Zugang zur Wahrheit, der menschlicher Sinnlichkeit versagt ist.39 Auf umsichtige Weise macht er sich·ans Schön- und Inshöchstereden: Die denkend-erken­ nende Vernunft (nous) versteht er als unendliche und autokratische. Sie sei mit nichts vermischt, sondern einzig selber bei sich selbst. Auch die Superlative bleiben nicht aus, ohne die Übernatürliches sprachlich offensichtlich nicht zu bewältigen ist. Der gedachte Nous ist das »Feinste« und »Reinste«, das die »größte« Kraft hat. Dieser ins Ahu­ mane verkehrten und zuhöchst ins Übermenschliche gesteigerten Vernunft fehlt jedoch das für frühes verklärendes Denken Wichtigste und Gängigste: sie ist nicht göttlich, ist nicht Gott. Das summiert sich mit den Gestirnen als glühenden Steinen: Anaxagoras ist ein Gottlo­ ser und verdient es somit nicht, als echter und rechter Philosoph akzeptiert zu werden.

2. Sophistisches Wissen: Protagoras I. Sophisten verklären nicht. Sie gehen in ihrem Erklären und Urteilen vom Menschen aus, der Mensch und nichts darüber hinaus ist. Die Erkenntniskräfte des Natur- und Lebewesens Mensch sind nicht für Übernatürliches bestimmt. Über sein zum sinnlichen Sehen und Erkennen fähiges Auge hinaus weiß er nichts von einem geistigen Auge, fähig, Übersinnliches zu sehen und zu erkennen. Sophisten sind, wie der heute dafür übliche Terminus lautet, geborene Agnosti­ ker.40 Historiker sehen das 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland für einen solchen geistigen Umbruch als geradezu prädestiniert an. Anaxagoras, Fragmente B 11 bis B 14, ebd., S. 37 ff. Platon, Phaidros 270a; Phaidon 97b-d et.al. 39 Anaxagoras, Fragment B 21, a.a.O., S. 43. 40 Nach dem Shorter Oxford English Dictionary (London 1964) war es der Naturfor­ scher und Darwinist Thomas Henry Huxley (1825–1895), der Großvater von Aldous Leonard Huxley, dem Autor von Brave New World (1932), der 1870 den Terminus Agnostic einführte, der sich auf den Unknown God bezieht. 37

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2. Sophistisches Wissen: Protagoras

Der Sieg über die Perser hatte die Griechen auf Dauer von jeder zwangsweisen Übernahme orientalischer Kulte bewahrt. Auch die in Griechenland verbreiteten orphischen Kulte wurden zurückgedrängt. Demokrit (460–371 v. Chr.) weist darauf hin, daß nur eine Minderheit von Gebildeten (logioi) die Hände hoch zu dem hält, was die Hellenen jetzt Luft nennen, als sei es Zeus.41 Der Sophist Protagoras aus Abdera in Thrakien (480–410 v. Chr.) sagt klar, warum die Gebildeten gut daran tun, die Gottesanrufung zu unterlassen. In seiner Schrift Über Götter führt er aus, daß vieles hindere, etwas von ihnen zu wissen, allem zuvor ihre Nichtoffenbarkeit (adêlotês), das heißt ihre Nichtwahrnehmbarkeit. Der Agnostiker sagt nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit: Ich vermag weder zu wissen, daß sie sind, noch daß sie nicht sind, auch nicht, was gegebenenfalls ihre Gestalt wäre.42

Götter wie Zeus und Poseidon, Apollon und Dionysos stellen einen kritischen Punkt für das Verklären dar: Kein Mond und kein hoher Berg werden verklärt, kein mächtiger und kein kräftiger Mensch, kein Brot und kein Wein, sondern etwas Ungreifbares und Unsichtbares. Die Existenz als solche wird verklärt. Götter existieren, so halten es Theisten, ohne sich selbst darüber klar zu sein, weil sie absolut Verklärtes sind. Im Dialog Theaitetos läßt Platon seinen Sokrates mit appellativer Argumentation den zur Philosophie begabten, wissens­ hungrigen jungen Theaitetos in die absolute Gegnerschaft zu Protago­ ras geraten, der Wissen, das nicht auf Wahrnehmung beruht, keine Chance gibt. Sein »Argument« besteht darin, daß er die Sache einfach umkehrt: Er gibt einem Wissen, das auf Wahrnehmung beruht, keine Chance. Seine Begründung: Menschen nehmen die Temperatur von Winden verschieden wahr; was dem einen kalt erscheint, kann ein anderer als warm empfinden. Das durch seine Wahrnehmung sichere Wissen um die Existenz des Mondes, ohne seine Göttlichkeit zu sehen, und das entsprechend sichere Wissen um die Existenz des Berges Olymp, ohne auf ihm Götter hausen zu sehen, wird nicht diskutiert. Aber dann den Spieß auch noch umzudrehen, daß man nur um die Existenz dessen wissen kann, was nicht wahrnehmbar ist, bezeugt die im nüchternen Zustand nicht faßbare Energie des

41 42

Demokrit, Fragment 30, in: F.d.V. Bd. 2, S. 151. Protagoras, Fragment B 4, ebd., S. 265.

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A. Verklärende Philosophie

absoluten Verklärungswillens.43 Allein das Denken von Gedanken wie den Gedanken von Gott und Göttern schafft Wissen, das unbe­ zweifelbar jetzt und für immer Wissen ist, Wissen von Wirklichkeit, Wissen von Existierendem. Bei Platon, wie noch zu zeigen sein wird, sind es die »Ideen«, reine Gedanken (nooumena), die das Ganze des wahrhaft Wirklichen bilden. So konnte auch dieser herausragend gelehrte Philosoph, der sich einen Sophisten, einen Weisheitslehrer nannte, der für seine Lehre Geld nimmt, zu den Atheisten zählen, denen in Athen die Exilierung drohte.

II. Muß Protagoras nicht mit Übernatürlichem rechnen, nicht mit Gott und Göttern, dann kann es für ihn kein höheres Wesen geben als den Menschen. Damit ist der Mensch sich für sich selbst das Maß. Es gibt nichts Übermenschliches, an dem er sein Maß zu nehmen hätte. So ist der berühmte, weil einen geistigen Skandal auslösende »Homo-mensura-Satz« nicht mehr als eine Konsequenz seiner Kritik gesicherten Wissens: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, des Wirklichen, daß es wirklich ist, des Unwirklichen, daß es unwirklich ist.44

Platon, der diesen Satz selbst zitiert und damit überliefert hat, war sich, wie er im Agieren seines Sokrates zeigt, seiner Bedeutung nicht voll bewußt. Als ein Meister des Verklärens war er nicht bereit und fähig, die aufklärende Kraft des Satzes zu erkennen und anzuerken­ nen. Jahrzehnte später, in hohem Alter, formuliert er auf geradezu plumpe Weise den Gegen-Satz: Der Gott möchte uns wohl am meisten das Maß aller Dinge sein, und das weit mehr als, wie sie sagen, irgendein Mensch.45

Der Verklärer kann und will nicht die Wahrheit des aufklärenden Satzes sehen. In Sachen des monotheistischen metaphysischen Gottes agiert er einseitig als verklärender Denkkünstler, der in wissenschaft­ licher Aufklärung allein den Gegner sieht, das geistig nicht Duldbare. Mit Gott als dem höchsten Verklärungsgedanken ist ihm alles wahr­ 43 44 45

Platon, Theaitetos 152a ff. Protagoras, Fragment B 1, F.d.V., S. 263. Platon, Nomoi IV, 716c.

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2. Sophistisches Wissen: Protagoras

haft Wirkliche allein noch als Verklärtes, als rein Geistiges denkbar. Aber auch Protagoras ist einseitig in seinem Wirklichkeitsbegriff, obgleich er selbst darauf gestoßen sein müßte, daß das Unwirkliche, das für unwirklich zu erklären ist, doch etwas wirklich Unwirkliches ist, etwas Unwirkliches, von dem Wirkung ausgeht. Platon stieß im Sophistes darauf, daß eine Lüge doch etwas Wirkliches ist, obgleich sie Nichtwirkliches als etwas vorgibt, das wirklich ist, eben eine wirkliche Lüge (ontôs pseudos), die von großer Wirkung in der Realität sein kann. Der Agnostiker mit Bezug auf Gott und Götter macht es sich zu einfach, mit dem Unwissen um eine gesicherte, wissenschaftlich anerkannte Realität schon das Ungewußte los zu sein. Der einsei­ tige Aufklärer hat keinen Sinn für die Verklärungsfähigkeit und Verklärungsbedürftigkeit, ja für die mögliche Macht, mit der geistig Verklärtes auf ihn einwirken kann.

III. Das Aufeinandertreffen von wissenschaftlicher Aufklärung und phi­ losophischer Verklärung, wie es in Griechenland seit dem 6. Jahrhun­ dert v. Chr. zu beobachten ist, kennt nur einen Sieger: die verklärende Philosophie. Das ist an erster Stelle nicht erhellend für Wissenschaft und Philosophie, sondern für den Menschen: Verklärung ist ihm unverzichtbar. Metaphysische Philosophie hat von früh an die Mehr­ heit auf ihrer Seite, damit auch das Gemeinwesen, den Staat. Stets hat sie es als eine ihrer ersten Aufgaben verstanden, für Einheit in den eigenen Reihen zu sorgen. Werden durch sie Nichtverklärende geäch­ tet, dann sind es in ihren Augen entartete Philosophen, die in ihrem Erklären und Begründen ohne den höchsten Verklärungsgedanken auskommen. Der den Pythagoreern zugerechnete Philosoph Hippon aus Samos46, der keine Schriften hinterlassen hat und über den man von seiner Lebenszeit nur weiß, daß er jünger war als Empedokles (490–422 v.Chr.), ist doch eines allbekannt: Er war Atheist. Und was hat ihm den Beinamen »der Gottlose« eingebracht? Es war das Unterfangen, einen durch Wahrnehmung als gegeben gewußten Stoff zu bestimmen, der Urstoff und Urgrund von allem zu sein. Hippon braucht keinen philosophisch gedachten Gott, ja sein Stoff Siehe F.d.V., Bd. l, S. 385. 387. Siehe auch Wilhelm Christ, Geschichte der griechi­ schen Literatur bis auf die Zeit Justinians, 2. Aufl., München 1890, S. 357, Anm. 3.

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A. Verklärende Philosophie

muß keine Eigenschaften wie klug und verständig haben. Ihm reicht das Feuchte (to hygron), Wasser (Thales) und Luft (Anaximines) in Einem.47 Hippons Urstoff ist ein Gedanke, nichts Wahrnehmbares, weil er als ein Prinzip gedacht ist. Aber er ist ein wissenschaftlicher Gedanke (Hypothese), kein metaphysischer. Für den verklärenden Philosophen ist das ein Sakrileg. Platon läßt seinen Athener, der Gott für das Maß von allem erklärt, den Gedanken weiter ausspinnen, daß ein Besonnener, der dieser Erklärung zustimmt, ein Gottesfreund ist, ja ein dem Gott Ähnlicher. Wer dagegen den Menschen das Maß aller Dinge sein läßt, der ist auf signifikante Weise dem Gott unähnlich und im Zwiespalt mit Gott. Da es um das Höchste und Letzte der verklärenden Philoso­ phie geht, kann Platon seinen Athener dabei nicht haltmachen lassen. Philosophische Atheisten sind ungerecht, schlecht und häßlich, allem zuvor unwahr. Das Nichtgreifbare, Körperlose, dem mit dem nötigen Erkennt­ nisvermögen für seine Existenz als Natur- und Lebewesen als zeitli­ cher auf der Erde ausgestatteten Menschen absolut Entrückte erweist sich im geistigen Sichmessen dem gegenüber, was Lebenserfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis vorzubringen haben, als absolut überlegen. Die Ausbildung philosophischer Mythologie, die mit dem philosophischen Gottesgedanken beginnt, manifestiert, daß bei der geistigen Verständigung des Menschen über sich selbst aufs Ganze gesehen die verklärende Denkkraft gegenüber der aufklärenden die stärkere ist, auf nicht absehbare Zeit dazu bestimmt, die herrschende und allgemein verbindliche zu sein. »Gottlos« (atheos) als Kampfbe­ griff ist ein, um es zu wiederholen, negativ verklärender Begriff. Die Hybridität des Menschen, die sich in der Hybridität seiner Geisteskraft spiegelt, die ihre Wurzeln sowohl im Natürlichen als auch im Übernatürlichen hat, ist, wie die siegreiche metaphysische Philosophie vorführt, nicht in Balance. Menschen haben Gedanken, bilden Begriffe. Ein gedachter Gedanke ist wirklich ein Gedanke, ein gebildeter Begriff ein Begriff. Beides ist nichts den Vermögen des Menschen Entrücktes, auch wenn es sich um Körperloses und nicht Wahrnehmbares handelt. Selbst der Begriff des Überwirklichen ist als Begriff dem Menschen zugänglich, ist er ja vom Menschen gebildet. Platon jedoch denkt anders. Er tut das auch in der Absicht, sophistisches Wissen als Wissen schlechtweg zu 47

Hippon, Lehre A 6, F.d.V., S. 385,26.

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2. Sophistisches Wissen: Protagoras

desavouieren. Um allein Geistigem die Chance zu geben, »wahrhaft« Wirkliches zu sein, wählt er den einfachsten Weg, indem er der Bildung eines Begriffs und eben dem Denken eines Gedankens eine übernatürliche Kraft zuschanzt: Bildet ein verklärender Philosoph einen Begriff, dann sei nicht allein der Begriff wirklich, sondern nicht weniger das durch ihn Begriffene. Damit überbietet er jede Möglichkeit von Lebenserfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis. Diese Methode von Vergeistigung und geistiger Verklärung rückt philosophisches Wissen in eine Höhe, die Wissen, wie es die alltäg­ liche Lebenserfahrung und wissenschaftliche Forschung erbringt, in eine Niederung verweist, in der ihm die Anerkennung als Wissen seitens des Philosophen vorenthalten bleiben muß. Messen einander der Geist des Sophisten und der Geist des wahrhaft Philosophieren­ den, wie er bei Platon heißt, dann ist philosophisches Wissen dem sophistischen absolut überlegen, entzieht ihm also notwendig die Anerkenntnis als Wissen. Bei der Herstellung der unversöhnlichen Differenz von Sophist und Philosoph spielt der Gedanke Gottes eine maßgebliche Rolle. Für Protagoras ist es nicht entscheidbar, ob der Begriff Gottes ein leerer oder ein erfüllter ist. So, wie der Gott gedacht ist, kann er für ihn unmöglich erkannt und gewußt werden in der Form einer Existenz, die über die Existenz des Begriffs hinausgeht. Aber genau das macht Gott zum Glücksfall für den verklärenden Philoso­ phen. Gerade weil er dem Menschen, der bei Sinnen und Verstand ist, absolut nicht zugänglich ist, hat metaphysisches Denken freie Fahrt. Platon braucht keinen ontologischen Gottesbeweis: Sein Gedanke Gottes als des zuhöchst Wirklichen und am meisten Gerechten ist selbst der Beweis für die absolute Existenz des Gedachten. Darum ist der existenzschaffende Gedanke Gottes für die Metaphysik bis heute unverzichtbar geblieben. Für einen Aufklärer wie Protagoras ist es unmöglich, die Position des verklärten Philosophen als die herrschende und allgemein verbindliche zu erschüttern. »Gottlos« (atheos) als Kampfbegriff ist ein, um es zu wiederholen, negativ verklärender Begriff. Wie die Denkkraft (nous) eines Protagoras und eines Platon sich miteinander messen, erweist sie sich, gleichsam als wurzelhaft, hybrid. Wie Platon es selbst ins Bild bringt: die Einen halten es mit der Unfaßlichkeit des Himmels, die Anderen mit der Faßlichkeit der Erde.48 Die in dem von Platon ironisch »Giganten­ kampf« genannte Auseinandersetzung zwischen verklärenden Phi­ 48

Platon, Sophistes 246a.

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A. Verklärende Philosophie

losophen und aufklärenden Sophisten, zwischen »Idealisten« und »Materialisten« ist, wie die siegreiche Metaphysik vorführt, nicht in Balance. Wie diese Kontrahenten jeder für sich einseitig denken und die Hybridität des Menschen, die ihn des Natürlichen und des Über­ natürlichen bedürfen läßt, verkennen, kann sie auch gar nicht anders als unausgewogen sein.

3. Ideenwissen: Platon I. Deshalb muß man auch versuchen, von hier nach dort zu fliehen so schnell wie möglich.49

Es geht um die Flucht aus dem Hier des Menschen in seiner Sterblich­ keit, Schlechtigkeit und Unwissenheit in das Dort des Gottes. Dieses Muß (chrê), diese Notwendigkeit besteht für die Wenigen, die sehr Wenigen. Die wahrhaft Philosophierenden sind angesprochen, die bereits auf dem Weg des Guten und Gerechten sind. Das Wahre aber fassen wir sprachlich folgendermaßen: Gott ist nie­ mals und in nichts ungerecht, sondern soweit überhaupt möglich am gerechtesten.50

Mit der nötigen Flucht aus der hiesigen Menschenwelt in das Dort Gottes ist dem wahrhaft Philosophierenden, der sich auf dem Wege des Guten und Gerechten befindet, nichts anderes zugedacht, als Gott soweit nur möglich ähnlich zu werden. Das Wahre, das es zu erkennen gilt, sind wahre Weisheit und Tugend. Absolute Fluchthilfe leistet der Superlativ, das Nonplusultra. Der gerechteste der Menschen, das ist der nach Art des Platonischen Sokrates Philosophierende, trifft auf Gott als den unübertrefflich Gerechten. Die asymmetrische Ähnlich­ keit (der Philosoph ist Gott, nicht Gott dem Philosophen ähnlich) spricht sich im Gleichklang des Superlativs aus. Wer am gerechtesten ist, tut nicht ohne Unterlaß Gerechtes. Das Sein des unübertrefflich Gerechten, griechisch ousia, hat die Bedeutung von Vermögen: Er ist nichts als gerecht, das heißt, er vermag nichts als Gerechtes; seinem Wesen nach kann er nur gerecht sein. So entspricht er dem Urbild alles 49 50

Platon, Theaitetos 176ab. Ebd., 176bc.

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3. Ideenwissen: Platon

Gerechten: dem Gerechten selbst (dikaion auto), und das heißt der Idee des Gerechten. Wer gerecht handeln will, nimmt sich nicht eine gerechte Handlung zum Vorbild, sondern schaut auf das Urbild, auf die Idee, eben auf das Gerechte selbst. Nur so verliert Gerechtigkeit jede Anschaulichkeit und wird zum rein geistig »Geschauten« und damit »wahrhaft Gewußten«. Das ist Platons philosophische Heraus­ forderung: Wahrhaftes Wissen ereignet sich im tugendhaften, rein geistigen Schauen der Idee, ereignet sich einzigartig für den, der Gott ähnlich ist. Galt auch das Zitieren von Aristoteles für lange Zeit als ein Zitieren ex auctoritate, was bedeutete, das letzte Wort zu haben, so ist es doch Platons Ideendenken, das die maßgebende Tradition der europäischen Philosophie geprägt und zu einer zutiefst verklärenden gemacht hat. Nicht ohne guten Grund ist für den Platoniker Schelling (1775–1854) Platon göttlich.

II. Platons Denken ist fest entschieden und radikal. Was er als Gespräch und gemeinsame Wahrheitssuche inszeniert, zeigt eine Gesprächs­ führung, die am Ende den Konsens erreicht. Entschiedenheit und Radikalität gelten dem wahren Sein und dem wahren Wissen. Beides ist in eins der leitende Gedanke seines Philosophierens, der nicht zur Disposition steht. Einsichtigen Mitunterrednern bleibt nichts als die Zustimmung, gerne die emphatische: von »sehr wohl gar auch« über »ganz gewiß« bis zu »am allerwahrsten«. Das »seiender­ weise seiende Sein« (ousia ontôs ousa, ontôs on) und das Wissen, das im rein geistigen Schauen das rein zu Denkende selbst schaut und berührt, bedingen einander. Der gottähnliche Philosoph kennt keine Skepsis, keine Ungewißheit. Verbleibende Fragen werden »auf morgen« vertagt und dann ideal beantwortet. Platons Sokrates läßt am Schön- und Gut-, Wahr- und Gerechtreden niemanden vorbei. Das Hohe, mit sinnlichen Augen nicht Sichtbare, kann gegen das Niedere, mit sinnlichen Augen Sichtbare im rein geistigen »Kampf« unmöglich verlieren. Platons Sokrates gelingt es in seinem philosophischen Eifer (spoudê), ewiges und für jeden Geist verbindliches Wirkliches in Ansatz zu bringen, das dank seiner absoluten Reinheit und Einheit von unerschütterbarer Verläßlichkeit ist. Das sind die Ideen (ideai, eidê), dem Wort nach sichtbare Gestalten, wie sie erdacht sind, reine

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A. Verklärende Philosophie

geistige Anschauungen der reinen und tugendhaften Denkseelen. Ideen gibt es von allem, was sich schönreden läßt, von nichts aber, was, wie Haar und Kot, häßlich ist, von nichts auch, was diffus, nicht aber Eines und Reines ist. Wahres Wissen von wahrem Wirklichen gibt es allein durch intuitives Erfassen. Das ist ein mystischer Akt, ein ekstatischer, außerhalb der Zeit, jäh aus dem steilen Hohen (exaiphnês), ein Unmittelbarkeitsereignis der Denkseele. Das ist das offene Geheimnis aller Metaphysik, das wahre Wunder, das sie vollbringt, dem Menschen Unmögliches möglich sein zu lassen: das Erkennen des Unerkennbaren, das Wissen des Unwißbaren. Die Ideen sind keine Begriffe. Ihr Seinsstatus, der höchste, liegt klar über dem der Begriffe.51 Lautet die Definition des Kreises »Linie, die in jedem ihrer Punkte vom Mittelpunkt gleich weit entfernt ist«, dann konkurriert dieser Logos nicht mit dem Seinsstatus des Vermögens, einen Kreis einen Kreis sein zu lassen. Jeder in der sichtbaren Wirklichkeit gebildete Kreis, ein Abbild des Kreises selbst, ist »voller Widersprüche«, das heißt: hat genau besehen vieles nicht der absoluten Vollkommenheit Entsprechendes. Macht wiederum die Idee der Schönheit, das Schöne selbst, es möglich, daß etwas in der sichtbaren Welt schön ist, dann ist es doch, gemessen an der Idee, eigentlich nicht schön. Sein Seinsstatus ist gemessen an dem der Idee, so weit geht Platon tatsächlich, der des Nichtseins (mê on). Die Idee der Ideen, die einzigartige Idee, ist natürlich im nötigen Einklang mit der Göttlichkeit dieses Idealismus die Idee des Guten. Was aber hat ein Idealist wie Platon von sich aus zu Gott zu sagen? Platons Sokrates weiß Rat: Er will und muß mythologisieren, aber anders als die Dichter. Doch etwas Grundlegendes kann er von ihnen übernehmen: die Muster (typoi), nach denen diese ihr dichterisches Mythologisieren richten »müssen«. Als Dichter nehmen sie sich die Freiheit, ihre Götter falsch und irreführend auszuschmücken, aber das reine Was des Gottes, nicht das Wer muß gegeben sein. Mit seiner phi­ losophischen Mythologie als dar logischen und vernünftigen gelingt dem Gesprächsführer die bündigste »Theologie« der Metaphysik. Dem Grundsatz verpflichtet, Gott so darzustellen, wie er wirklich ist (sc. in seiner Überwirklichkeit), argumentiert Platons Sokrates wie gewohnt appellativ:

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Platon, Siebter Brief 341cd.

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3. Ideenwissen: Platon

Sokrates: Ist nun der Gott nicht wirklich gut und auch so zu nennen? Adeimantos: Wie denn sonst? Sokrates: Aber nichts vom Guten ist doch schädlich; oder? Adeimantos: Nein, scheint mir.52

Nachdem das Gutsein Gottes als absolutes Prädikat, das ihm zukom­ men muß, hinreichend ausgereizt ist, werden noch zwei weitere absolute Prädikate, die notwendige Prädikate Gottes sind, angeführt: sein Einssein und sein Wahrhaftigsein. Diese Theologie überspringt mit Notwendigkeit die Existenzfrage. Für die Logik dieser philoso­ phischen Mythologie ist die Typisierung der überwirklichen Gestalt Gottes selbstevident. Der wahrhaft Philosophierende hat ihn genau so zu denken, weil er ihn genau so für sich braucht. Die idealisti­ sche Metaphysik kennt und akzeptiert keine andere Methode als die der Petitio principii: Das zu Beweisende ist selbst der Beweis. In der idealen Gottesgestalt erfüllt sich Platons Ideendenken sein eigenes Bedürfnis.

III. Platons Sokrates sucht jugendlich-wache, aber noch unverbildete Seelen für ein Hingezogensein zum wahrhaft Wirklichen zu bilden. Die nach Höherem streben sollen, brauchen keine Märchen, keine Götter- und Heldensagen, um durch poetische Verklärung die Ent­ wicklung ihres Seelenlebens zu fördern. Ja ganz im Gegenteil. Diese Poesie würde sie für die geforderte philosophische Tugendhaftigkeit vollends untauglich machen. Das für Philosophen als verpflichtend entworfene höhere Menschsein mißt sich an der Idealgestalt Gottes, vor allem an seinem vollendeten Gutsein. So ist es von zwingender Logik, daß Platons idealistische Mythologie im Konzept der Idee des Guten ihre absolute Verdichtung erfährt. Sie ist erdacht als Idee der Ideen, die noch über das Sein der Ideen hinausreicht. Sie ist der Seinsgrund und zugleich Erkenntnisgrund für alles wahrhafte Sein. Ist von ihr das Gutsein gleich dem Schönsein der Idee des Schönen zu behaupten, dann muß es genauer heißen: Sie ist ewig gut, in jeder Hinsicht gut, nur gut (sie ist ja reine Einheit), einzig gut, wodurch sie Gott an Gutsein gleichkommt, ja Gott in der Gestalt des Guten selbst ist. Angelsächsische Philosophie hat mit der Frage nach der 52

Platon, Politeia II, 379ab.

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A. Verklärende Philosophie

Selbstprädikation der Ideen auf ein Problem hingewiesen.53 Wird mit dem einzigartigen Gutsein etwas über die Idee des Guten ausgesagt? Ist »absolut gut« das Prädikat der Idee des Guten? Nein. Die sprach­ liche Explikation des Seins der Idee des Guten mag zwar an dem Anschein, eine Selbstprädikation vorzuführen, nicht vorbeikommen. In der Sache ist sie nicht gegeben. Das liegt an der Absolutheit des Prädikats, die den Rahmen des Prädizierens sprengt. Ihr Gutsein ist eins mit der Idee des Guten, ist nicht »etwas«, das ihr zukommt. Die Idee des Guten ist ein reines geistiges Was (ousia, essentia, Wesen) ohne Etwas. »Die Idee des Guten ist absolut gut« sagt nichts anderes als »Die Idee des Guten ist die Idee des Guten«. Doch wie steht es mit dem Gutsein des Gottes der philosophi­ schen Theologie? Ihm wird ja zudem Wahrhaftigkeit und Einheit zugesprochen. Absolut eines ist aber die Idee des Guten auch. Das gehört zur Grundausstattung der Idee. Die Diskussion des absolut Guten in der Politeia54 hat kein Problem mit der absolut richtigen Sprachformulierung (Orthologie), wie sie am absolut Einen demons­ triert wird.55 Die Wahrhaftigkeit Gottes freilich, die ihn absolut verläßlich und treu sein läßt, könnte dazu verleiten, an ein Wesen mit ausgeprägter Individualität zu denken. In Wahrheit bieten seine Züge (topoi) jedoch keine Überraschung. Sie nennen allein das unbe­ dingt Erforderliche, um eine Gestalt zu formen, in der sich der zum Wahren Hingezogene als in seinem Idealbild spiegelt. Die Seelen der »ohne Falsch« Philosophierenden haben mit der geistigen Prägung der Seelen der Vielen, falls gegeben, nichts gemein. Sie sind abso­ lute Elite, sind den Göttern ähnlich (im Dialog Phaidros gebraucht Platon den Plural), ja bisweilen gottgleich.56 Als Enthusiasmierte (entheoi) sind sie nicht in der Welt des Menschen. Die Vielen sind in die Höhle eingeschlossen und finden nicht den Weg hinauf zu der einen Öffnung, um durch sie hinaus des blendenden Lichts des Überwirklichen teilhaftig zu werden.57 Metaphysik ist Lichtmetaphy­ sik: Das Überwirkliche ist für geistiges Sehen, Erkennen und Wissen überbelichtet. Eine Sonne erscheint, die nicht von dieser Welt ist. 53 Siehe Rainer Marten, »Selbstprädikation« bei Platon, in: Kant-Studien, Bd. 58 (1967), S. 209–226. 54 Platon, Politeia II, 377c-379a; VI, 508d-509b. 55 Zu den intellektuellen Versuchen einer Orthologie des Einen bei Platon und Plotin siehe Rainer Marten, Lob der Zweiheit, Freiburg/München 2017, S. 11–47. 56 Platon, Phaidros 246d-249d. 57 Platon, Politeia VII, 514a ff.

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3. Ideenwissen: Platon

Das Überwirkliche ist nicht im Himmel, sondern über ihm. Der »über­ himmlische Ort« läßt die göttergleich dorthin Gelangenden auf den Rücken des Himmels zu stehen kommen.58 Jetzt ist philosophisches Verklären ganz in seinem Element. Selbst hier, am höchsten Ort geistigen Schauens, Metaphysik weiß es nicht besser, werden zur emphatischen Veranschaulichung Superlative gebraucht, kommt ein absolutes Prädikat zum Einsatz: das Schöne selbst im Verein mit dem Hervorleuchtendsten und Liebreizendsten (nur an dieser Stelle gebrauchte Superlative).59 Der Ideendenker weiß anderes als der Dichter, weil er anders weiß. Der Dichter weiß, daß er dichtet und was er dichtet. Der Ideendenker setzt sein Wissen als ungleich bedeutsamer und als der zur Tugendhaftigkeit bestimmten Denkseele adäquat an. So sagt er einfach, was er denkt, weil er weiß, daß er genau das denkt, wie es sich mit dem rein Geistigen verhalten muß. Der appellativ in seinem Sein vergewisserte Philosophengott und der wahrhaft Philosophie­ rende in seiner als unabdingbar erkannten Gottähnlichkeit weisen den Weg: Es muß zum denkbar Schönsten und Besten stehen. Der idealistische Philosoph ist sich der Wahrheit seines Wissens, weil von ihm generierten, gewiß. Er hat es nur vor dafür empfänglichen Ohren zu äußern: Den überhimmlischen Ort aber hat noch nie einer von den Dichtern hier besungen, noch wird ihn je einer nach Würden besingen. Er ist aber so beschaffen – denn ich muß es wagen, das Wahre zu sagen, zumal da ich von der Wahrheit zu reden habe60

IV. Das eigentliche Leben ist das seelische, an dem der Leib in nichts Anteil hat. Diese Grundüberzeugung trägt Platons Idealismus im Ganzen. Die Seele ist das eigentlich Belebende. Sie ist älter als der Leib; sie ist unsterblich. Der Beweis dafür ist, daß es gar nicht anders sein kann, soll das eigentliche Leben ein rein denkendes sein. An den überhimmlischen Ort gelangen einzig Denkseelen in ihrem reinen verklärenden Denken. Wie das dann genauer mit der 58 59 60

Platon, Phaidros 247c. Platon, Phaidros 250d. Platon, Phaidros 247c.

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A. Verklärende Philosophie

Liebe zur Schönheit zugehen soll, in der die Liebe zur Weisheit ihren lebendigsten Ausdruck findet, läßt Platon nicht seinen Sokrates von sich aus entwickeln, sondern erfindet dazu eine Priesterin aus Mantinea. Da als zu wahrhaft Philosophierenden zu Erziehende nur junge Männer in Frage kamen, mußte sie vorführen, wie sich sinnlichleibliche Päderastie in geistig-seelischer vollendet.61 Ist Lieben ein Begehren von Schönem nach Schönem und ein Zeugen von Schönem im Schönen, dann hat sich allein der Same zu ändern: von einem biologischen in einen »logischen«, in den der schönen Reden (kaloi logoi). Daß sich der Denkende leichthin von den schönen Leibern abwendet und den schönen Seelen zuwendet, versteht sich für die Priesterin von selbst. Wer will schon, sobald er entdeckt, daß alle schönen Leiber sich als schöne gleichen, bei der Vielheit bleiben, wenn im Denken die eine und einzig wahre Schönheit zu erreichen ist? Kein Metaphysiker nach Platon hat ihn je in seinem verklärenden Schön- und Zuhöchstdenken und dem entsprechenden Schön- und Zuhöchstreden überholt, auch nicht in der Offenkundigkeit, das tun zu wollen und tun zu müssen. Das gibt seiner Philosophie ihre ganz eigene Wahrheit. Platon war für das geistige Europa ein Geschenk. Für mehr als zwei Jahrtausende hat er es mit Leben erfüllt.

V. Platonismus beginnt schon zu Platons Lebzeiten. Sein Sekretär Phil­ ippos von Opus (nach 400 v. Chr. geboren) hat nicht nur die zwölf Bücher der Nomoi ediert, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch das den Nomoi beigefügte dreizehnte Buch, die Epinomis, selbst verfaßt. In diesem Dialog erweist er sich nicht nur als einer, der seinen Platon kennt, sondern der ihn auch im wörtlichen Sinne vergöttert. Für ihn ist der Mensch, den sein Denken zum höchsten Wissen, das heißt zur über menschliches Wissen hinausreichenden Weisheit führt, ein »von Natur« göttlicher und besonnener, was besagt: einer der »Wenigen«.62 Der Autor geht von der alles tragenden Überzeu­ gung aus, daß Denken, das zur Weisheit führt, das bei weitem größte Gut ist, das Gott, der Urheber alles Guten, den Wenigen zugänglich 61 62

Platon, Symposion 206a-210b. Epinomis (ed. Ioannes Burnet), gr., 5. Aufl., Oxford 1950, 992c.

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3. Ideenwissen: Platon

macht.63 Das klingt überzeugend: Göttliches läßt sich nur Göttlichen schenken, den von Natur Bevorzugten, die kraft ihres Wesens für Göttliches empfänglich sind. Dazu übernimmt der Verfasser der Epinomis Platons intuitives Wissen, daß die Seele älter ist als der Leib, was, wie Philippos von Opus sekundiert, heißt, daß sie göttlicher als er ist. Das läßt auch den Leib zu einem Abglanz des Göttlichen werden, was den Autor als begeisterten Pantheisten verrät. Das alte Wort »Alles ist voller Götter«64 ist für ihn ein Lieblingswort. Platon argumentiert: Der Anfang (archê) ist unentstanden, da notwendig alles Entstandene aus dem ersten Anfang entsteht.65 Damit hat er die Unentstandenheit der Seele bewiesen, denn sie ist für ihn das einzige sich selbst aus sich selbst Bewegende, das alles andere bewegt, und dies, versteht sich, ewig und auf vernünftige Weise. Der Athener der Epinomis beginnt unmittelbar mit dem »Anfang des Anfangs«, was für den Gottbegeisterten allein heißen kann, mit dem Entstehen der Götter. Das ist nicht Platons Theologie, die benedizierend-ver­ klärend den einen Gott erdenkt. Das Göttliche an den Göttern der Epinomis ist dann aber doch gut platonisch einzig ihre Geistigkeit und Vernünftigkeit. Das Göttliche der Denkseele steht auch für ihn über allem, sie, die alles bewegt und beseelt. Im Nu ist alles voller Götter. Allem voraus sind Sonne, Mond und Sterne durch ihre vernünftige Bewegtheit als Gottheiten ausgewiesen. Wer das nicht erkennt und weiß, ist einer von den Vielen, die von der Einsichtigkeit, Tugendhaf­ tigkeit und Glückseligkeit (eudaimonia) der Wenigen ausgeschlossen sind. Schicksalsgöttinnen (Moiren) haben sie auf den Pflichtteil der allgemeinen Gottesdurchdrungenheit gesetzt: auf die Einhaltung der Gottesverehrung als Bürgerpflicht. Der Verfasser der Epinomis hat Platons Ideenwissen gut verstan­ den: In seiner Vergeistigung alles wahrhaft Wahren und Wirklichen strebt es die Einsicht an, daß eigentlich Vernunft das Wißbare in allem ist. Das Schön- und Zuhöchstreden dient dieser Einsicht. Allein im schlechtweg Vernünftigen erkennt der von allem Menschlichen gereinigte und ins Göttliche gesteigerte Geist sich selbst. Die Krönung des philosophischen Idealismus kann nur sein, daß der Geist der Wenigen, wo immer er vergeistigend wirkt, sich ganz zuhause weiß.

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Ebd., 976e. Thales, Fragment A 22, in: F.d.V., Bd. l, S. 79. Platon, Phaidros 245d.

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A. Verklärende Philosophie

4. Denken des Denkens: Aristoteles I. Aristoteles war Aufklärer. Er hat die Meteorologie begründet und Blitz und Donner naturwissenschaftlich, ohne mythologischen Rück­ griff auf Zeus erklärt. Er hat etwas vom Menschen verstanden, der ganzheitlich Mensch ist und nicht bloß als Denkseele rein geistig existiert. Zwei Bücher der Nikomachischen Ethik geben ein bis heute bedeutsames Zeugnis vom Gedanken der Freundschaft als dem der gelingenden Lebensteilung. Das hat Aristoteles nicht gehindert, mit Herz und Vernunft ein Metaphysiker zu sein, ein philosophischer Ver­ klärer und Mythologe. Im Protreptikos, seinem mit philosophischem Überschwang verfaßten Frühwerk, erklärt er Denken (phronein) für das Wünschenswerteste, wünschenswerter als alle sinnlichen Kräfte, selbst als die des Auges, ja wünschenswerter noch als das Leben selbst.66 Die Geisteskräfte allein, das Vermögen der Vernunft und des diskursiven Denkens (nous und phronêsis) verbürgten dem Men­ schen Göttlichkeit und Glückseligkeit: Entweder Philosophieren oder vom Leben Abschied nehmen. Die Geisteskraft ist der Gott in uns. Wer nicht verklärt-verklärend philosophiert, liefere seine mit dem Leib verbundenen Geisteskräfte notwendig dem Geschwätz und leerer Rede aus.67

II. Die geistige Nähe zu seinem Lehrer Platon, die Aristoteles so lebendig in seiner Frühzeit bezeugt, bewahrt er bis ins Alter. Daß er in manchen Punkten entschieden zu ihm auf Distanz geht, widerspricht dem nicht.68 Im Entscheidenden bleiben sie sich einig: Die Denkseele ist 66 Aristoteles, Protreptikos, gr., in: Aristotelis Fragmenta selecta (ed. W.D. Ross), Oxford 1955, S. 37. Zu einer Rekonstruktion der Schrift in deutscher Sprache siehe Ingemar Düring, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, die zitierte Stelle dort S. 423. 67 Aristoteles, Protreptikos, S. 47; Düring, S. 429. 68 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 4. Die grundlegende Kritik an Platons Idee der Ideen, der Idee des Guten, die Aristoteles’ Kategorienlehre nötig macht, führt er hier durch mit der Bemerkung, daß philosophische Wahrheitspflicht höher einzuschätzen sei als seine Freundschaft zu »den Männern«, die die Ideenlehre eingeführt haben.

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4. Denken des Denkens: Aristoteles

der eigentliche Mensch. Sie ist göttlich, sie ist unsterblich.69 Doch beide üben sich gleicherweise in Vorsicht. Platons Wort kann man sich nicht oft genug wiederholen, um den eigenen Geschmack zu erproben, den man an seinem Plädoyer für reine, unvermischte Geistigkeit gewinnt: »So nahe wie möglich am Gestorbensein leben«.70 Das ist das verzweifelte Ja zum »Kerker« Leib. Der Mensch, der denkt, lebt. Er hat den Tod noch nicht »hinter sich«. Er braucht den Leib. Das kommt Platon als Optionisten für reine Geistigkeit höchst ungelegen, aber er ist eben doch nicht allein Verklärer, sondern auch – für einen Moment unabweisbarer Einsicht – Realist. So erzeugt er mit seinem Vorbildphilosophen ein Geistphantom, das sich, so nah als nur irgend möglich, auf Gott zubewegt. Auch Aristoteles zieht zurück. Der Mensch, so geistig er auch ist, ist nicht vollkommen göttlich, ist nicht unsterblich. Er bemüht sich allein so weit und so energisch es nur geht, um Unsterblichkeit. Zu seinem größten Bedauern muß er damit ein Ziel all seiner Bemühungen als unerreichbar akzeptieren: die Autarkie. Was für eine Seligkeit muß es sein, keiner Freunde mehr zu bedürfen, ja keine mehr gebrauchen zu können, weil sich selbst genug zu sein. Doch Aristoteles verschafft sich Genugtuung dadurch, daß er vom Menschen abläßt, dem nur für einen Moment – nicht gleich Gott für immer – die Göttlichkeit gelingt,71 indem er sich mit dem Gedanken Gottes zu schaffen macht, um dieses höchste Wesen philosophischer Verklärung in seinen gestalterischen Möglichkeiten auszuschöpfen.

III. Der reife Aristoteles bleibt seiner jugendlichen philosophischen Begeisterung nichts schuldig. In sein Konzept Gottes, dieses geistig absolut über den Menschen hinausgehenden Wesens, legt er alles, was sich an Denkbarem dazu finden läßt. Gott lebt, ja er lebt lustvoll, jedoch einzig und allein geistig. Dazu genügt, daß er Tätigkeit (ener­ geia) ist, und zwar reine geistige Tätigkeit. Daraus wurde bei Thomas von Aquin (1225–1274) der actus purus, die reine unvermischte Tätigkeit, als maßgebliche Bestimmung des Gottes der scholastischen, für den katholischen Glauben verbindlichen Theologie. Gott denkt 69 70 71

Aristoteles, Nikomachische Ethik X.7, 1177b31–1178a8. Platon, Phaidon 67e. Aristoteles, Metaphysik Lambda 7, 1072b25.

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– das ist seine ganze Tätigkeit. Als höchste Denkkraft denkt er das Höchste. Das aber ist er selbst. Gott denkt sich selbst. Niemand kennt und erkennt ihn. Er ist identisch mit seinem Sein (suum esse), er allein kennt sich. »Und es ist das Denken ein Denken des Denkens« – der göttliche Denker denkt göttliches Denken. Autark, wie er ist, existiert, west und wirkt er aus sich selbst und für sich selbst. Durch Höchst­ prädikate wird das energetische Selbstsein Gottes noch eigens gegen jede mögliche Konkurrenz abgesichert: Es ist das beste, lustvollste, ewige Leben. Auch der Superlativ des verklärenden Prädikats »schön« darf dem, woraus alles seinen Anfang nimmt, nicht fehlen, wie einige Philosophen fälschlich meinen. Der ewig tätige, vollkommene Geist-Gott, der alles bewegt, ohne selbst in Bewegung zu sein, der den Himmel bewegt, ja überhaupt die Natur (physis) – welches gedachte Mehr an Gott und an Geist sollte da noch ausstehen können? Was hat sich Aristoteles wohl dabei gedacht, solch einen Gott zu denken? Die Frage ist falsch gestellt. Sie muß richtig heißen: Wie hat Aristoteles gedacht, um zu diesem Gedanken Gottes zu gelangen? Für erhellende Aufklärung kann die Antwort nur lauten: konsequent. Die absolute Trennung des Denkbaren vom Wahrnehmbaren,72 die den Geist-Gott von allem Physischen trennt und den Gedanken eines reinen Geistes ganz auf sich selbst losläßt, folgt einfach der Logik und der von ihr vorgezeichneten gedanklichen Konsequenz, daß solch ein geistiges Ungetüm erzeugt und wie in höchstem Gedankenflug als Nistplatz erreicht wird. Was an ihm, der Schönheit von Sinnlichem vergleichbar, schön sein soll, ist für den nichtmetaphysischen Philo­ sophen nicht ersichtlich. Aber es herrscht ja auch der Superlativ, und der ist in der Philosophie des reinen, gehirnlosen Geistes bewußt jedes menschliche Verstehen übersteigend.

5. Mythologisch-philosophisches Wissen I. Der Monotheismus von Xenophanes und Heraklit, Platon und Aristo­ teles manifestiert die Einsicht übernatürlichen Denkens, daß die voll­ kommene Geisteskraft und Geistestätigkeit am rationalsten mytholo­ Aristoteles, Metaphysik Lambda 7, 2073a3 ff.: »da es ein gewisses ewiges und unbewegtes und von allem Wahrnehmbaren abgesondertes Wesen gibt«.

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5. Mythologisch-philosophisches Wissen

gisch zu denken, das heißt einem Gott zuzudenken ist. Das ist für die geistige Öffentlichkeit der Magna Graecia ohne weiteres plausibel und harmoniert mit der Logik dieser Philosophie: Der größte und mächtigste Geist, der das geistige Potential des Menschen um einen ganzen Himmel übersteigt, ist der höchste und mächtigste Gott, der eine Gott. Schöpferisches Denken erzeugt ihn, Denkkunst, die sich mythologischer Poesie bedient. Ist für den Metaphysiker die Natur zum Geist ein Anderes, dann gilt für sie dasselbe: Da über Natur philosophiren so viel heißt, als die Natur schaffen […]73

Verklärende Philosophie erschafft »Menschenwerk«. Verbleibt sie in der abstrakten Sprache der Geistphilosophie, dann lassen sich die Begriffe Grund und Vernunft, die für die Schöpfung eines höchsten und mächtigsten Geistes unerläßlich sind, zwar bis zu Urgrund und reine Vernunft steigern, aber das ist zu wenig an Emphatik, um diese Begriffe für nachhaltigen philosophischen Enthusiasmus hell genug leuchten, ja wirklich strahlen zu lassen. Dazu bedarf es der Mytholo­ gie, der poetischen Versinnlichung. Gott als vergeistigtes Auge und Ohr, als vergeistigtes Naturphänomen, als vergeistigter Wohltäter und Strafender, nicht zuletzt als unbewegter Beweger, der lustvoll, sich selbst denkend lebt – das sind belebende Versinnlichungen, weil das zuhöchst Gedachte nicht nur wahr und gut, sondern auch schön sein soll, nicht nur noetisch, sondern auch »ästhetisch«. Der metaphorische Gebrauch von Sehen als Denken (geistiges Sehen) hat Platons Sokrates dazu geführt, von »Ideen« (eidê, ideai) zu sprechen, wenn von überwirklicher Wirklichkeit die Rede ist. Als »sehend« Gedachtes hat es Aussehen und Gestalt. Spekulatives Philosophieren eröffnet sich als solches vergeistigter Ästhetik und damit auch Erotik. Verklärende Philosophie ist überwirkliche Liebe, philosophisch ver­ klärte Schönheit das »Hervorleuchtendste und das Liebreizendste«.74 Platon nutzt Mythen zur Verdeutlichung seiner Gedankenfüh­ rung, etwa den Mythos von den verschiedenen Weltperioden im Poli­ tikos. Das bezeugt seine Nähe zum Mythos. Doch daß das verklärende Denken und damit, wie gedacht, das verklärende Erkennen und Wis­ sen selbst mythologisch ist, stellt einen gänzlich neuen Sachverhalt vor. In idealistisch-philosophischer Mythologie wird nichts erzählt, 73 F.W. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), in: Schel­ lings Werke (Manfred Schröter), 2. Hauptband, München 1927, S. 5. 74 Platon, Phaidros 250e.

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nichts bebildert. Der Zusammenfall der Überwirklichkeit mit dem Göttlichen ist das einzigartige Schöpfungsereignis philosophischer Mythologie. Aus der Perspektive des Gipfels metaphysischen Den­ kens, vom einen Geist-Gott her, versteht sich der Gang des Denkens, der zu ihm führt, und dies mit Notwendigkeit, als das Ganze philoso­ phischer Mythologie. Sie ist eine Mythologie der Vernunft, freilich nicht der »vernehmenden«, und der klassischen Logik folgenden, sondern der schöpferisch gebrauchten.

II. Das philosophisch-mythologische Wissen, das dem verklärenden Philosophen eignet, kulminiert in dem Wissen, daß der Begriff Gott ein erfüllter ist: Es gibt Götter, und sei es, daß allein an den einen gedacht ist, an den Geist-Gott. Doch damit nicht genug. Platon macht deutlich, daß es das Gott-Wissen nicht ohne das Gott-Glauben gibt, ja beides für eins angesehen werden muß. Wer weiß, daß es Götter gibt, glaubt daß es Götter gibt. Platons Sokrates vor Gericht pocht darauf, daß in einem Asebieprozeß die Anklage, nicht fromm und gottesfürchtig und eben ein Gottloser zu sein, schon allein dadurch zurückgewiesen werden kann, daß man an Götter glaubt, auch wenn es nicht die des Staates sind. Es kommt auf den Gottesglauben als solchen an. »Nomizein«, das hier gebrauchte griechische Wort für Glauben, hat die nähere Bedeutung, als Sitte anerkennen, als Brauch haben. Wie verklärende Philosophie sich auf Gott versteht, wird es für sie Brauch, den höchsten Grund, die höchste Macht, den höchsten Geist (einschließlich der höchsten Seele) für göttlich zu erklären. Führt Platon auch seinen Gottesbeweis in Nomoi X von der Seele als dem ersten sich aus sich selbst Bewegenden, so genügt doch der einfache Hinweis auf das Denken, das den Gott denkt, um den Glauben an Gott nachzuweisen.

III. Das mythologisch-philosophische als übernatürliches Wissen, das, wie die »Gottlosen« bezeugen, schon bei den Griechen nicht alle Philosophen als Wissen teilten, hat seine Vorherrschaft als Wissen verständlicherweise nicht halten können. Zwar hat das »christliche Abendland« durch die Verbindlichkeit seines Glaubens, dessen theo­

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5. Mythologisch-philosophisches Wissen

logische Fundierung durch griechische Philosophie geprägt war, das verklärt-verklärende Wissen mit aller Macht als das einzig wahre und wirkliche hochzuhalten gesucht, aber Aufklärung und Fortschritt der Wissenschaften konnte das nicht aufhalten. Das mythologische Wissen, wie es philosophisch und religiös als Wissen in Anspruch genommen wurde, hatte sich die Realitätsfalle, in der es gefangen war, selbst gebaut. Anstatt die übernatürliche Wahrheit und Wirklichkeit, für die es einsteht und womit es operiert, einzig für eine »höhere« Wahrheit und Wirklichkeit der Kunst zu nehmen, hat es alltägliches Wissen und wissenschaftliches Wissen, das sich am natürlichen Realitätssinn orientiert, seinem Urteil unterworfen. Der Damm hat nicht gehalten. Die Einsicht, daß es für menschliches Leben, für die Geschichte des Menschen und für den entstandenen Kosmos als Sinngeber einzig und allein den Menschen gibt, der sich auf das Verklären versteht und der der Verklärung bedarf, nichts aber an und für sich einen Sinn hat, ist in der Neuzeit unter den wacheren Geistern Allgemeingut geworden. Die vereinseitigende Aufklärung nahm ihre Chance wahr, die menschliche Lebens- und Vorstellungswelt in Besitz zu nehmen. Mag gelehrte Metaphysik auch weiterhin Geister enthu­ siasmieren, christliche Religion gelingend gelebt werden, so beginnt doch wissenschaftlich-technologischer Fortschritt im Verbund mit frühkapitalistischem Finanzwesen durch seine Wohltaten die Men­ schen zu überzeugen. Was auf der einen Seite als Sinnentleerung auftritt, zeigt sich auf der anderen Seite als außerordentlicher Zuge­ winn für Form und Gehalt des öffentlichen und privaten Lebens. Das war an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Stunde der deutschen mythologischen Philosophie, der deutschen Erbschaft der philosophischen Mythologie der griechischen Antike. Gilt der Grundsatz des Idealismus, daß philosophisches Denken als Denken von Ideen schöpferisch ist und Realität schafft, dann schließt der deutsche Idealismus, wie ihn die Philosophen Hegel und Schelling wirkungsgeschichtlich gestaltet haben, an Platons Idealismus nahtlos an. Sie sind vereint in der Meisterschaft, ihr geistiges Verklärungsbe­ dürfnis selber zuhöchst zu befriedigen. Die Tübinger Stiftler Hölderlin, Hegel und Schelling waren einigen Sinnes, gegen die Aufklärung, gegen Kants Kritik der reinen Vernunft, dem menschlichen Geist die Freiheit der Phantasie zurück­ zugeben und neu mit geistiger Sinngebung zu beginnen, mit poe­ tisch-philosophischer Verklärung der »Welt« durch Mythologie. Die Spitze geistiger und geistlicher Verklärung, der Mythos Gott, mußte

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neues Leben gewinnen, ganz so, als sagten sie bereits Heideggers Wort voraus: »Nur noch ein Gott kann uns retten«.75 Das Fragment einer längeren Abhandlung, ein doppelseitig von Hegel beschriebenes Folioblatt, gibt überraschende Einblicke in dieses retrorevolutionäre Vorhaben. »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«, wie Franz Rosenzweig das Fragment benannt hat, ist um 1796 verfaßt. Als Autoren hat man Schelling, Hölderlin und Hegel oder auch alle drei gemeinsam vermutet. Es ist reichlich diskutiert worden. Im gegebenen Zusammenhang interessiert der Wille zur Aussöhnung von Aufgeklärten und Unaufgeklärten, der als der von Philosophen und Volk gemeint ist. Auszugehen ist vom Menschen, der als metaphysisches Wesen ein moralisches ist. Aufgabe des Metaphysikers als des mit entgrenz­ ter Vernunft freien Denkers ist es, die Welt so zu denken und das heißt geistige Realität werden zu lassen, wie sie für Moralität nötig ist. Das verlangt, der experimentierenden Physik »einmal wieder Flügel geben«. Um der moralischen Welt zu genügen, muß sie spekulativ werden, was in diesem Falle heißt, dem schöpferischen Denken von Ideen gleich zu werden. Die »Physik im Großen« ist gemeint, die metaphysische, keine physische. Spekulatives Denken macht Natur zu einem – geistigen – »Menschenwerk«. Zu den Ideen »von einer moralischen Welt« gehören Gottheit und Unsterblichkeit, metaphysi­ sche Vernunft und »absolute Freiheit aller Geister«. Diese sind für die programmatischen deutschen Idealisten alles andere als Freigeister. Wie sie in der intellektuellen Welt leben, tragen sie die Ideen von Gott und Unsterblichkeit in sich. Zum Schluß wird noch die philoso­ phische Trias von Wahrheit, Güte und Schönheit angeführt, wobei die: Bemerkung von Bedeutung ist, daß Wahrheit und Güte allein in der Schönheit »verschwistert« seien. Das ist der Auftakt zur Versöhnung von Aufgeklärten und Unaufgeklärten. Die Philosophie des Geistes müsse versinnlicht werden und als »ästhetische Philosophie« zur Geltung kommen. Diese Idee ist der Religion entnommen. In der christlichen Religion werden religiöse Bilder auch als »Bibel fürs Volk« verstanden, ja erfolgreich genutzt. Das hat seinen Nachklang im Erfolg von Comics unter Analphabeten. Öffnen sich dem Volk für das Wort Gottes nicht die Ohren, dann doch vor der Schönheit des Besonders erhellend zu dem Unternehmen der drei Tübinger Stiftler, gegen Kant die Vernunft wieder zu entgrenzen und es neu mit Gott und dem Unendlichen zu wagen, um dem »großen Ganzen« Sinn zu verleihen, schreibt Karl-Heinz Ott in sei­ nem Buch Hölderlins Geister, München 2019, S. 13 ff.

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5. Mythologisch-philosophisches Wissen

Göttlichen die Augen. Begabt mit geistlich-metaphysischer Sehkraft, steht nunmehr das Volk dem Verklärungspotential des spekulativen Idealismus offen. Damit gilt es für diesen als aufgeklärt. Die Versöh­ nung der Aufgeklärten und Unaufgeklärten als die von Philosophen und Volk hat innerhalb der von Menschen verklärten übernatürlichen Geisteswelt statt. Die »allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geis­ ter« herrscht. Anstatt aber das Gedachte dieses Denkgebäudes ein Gedachtes sein zu lassen, glauben die deutschen Idealisten, mit dem Schlußstein doch die Realitätsfalle festigen zu müssen, indem sie die idealistisch gestaltete versöhnte moralische Welt für ein Ereignis erklären, das sich in realer Zeit ereignen »muß«, und dies als das Finale der vollends moralisch gewordenen Welt: Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit seyn.

Das ist der letzte Satz des Fragments. Er resümiert, was die geistige Vereinigung der Aufgeklärten und Unaufgeklärten, der mythologi­ schen Philosophie und des vernünftigen Volks im Letzten vermag: eine – verklärend gesehen – vom Himmel her gestiftete Religion zu einem Werk des modernen Homo sapiens zu machen. Der Mensch soll nicht als funktionierendes Teil eines Ganzen gesehen werden, wie es in einem Lied der chinesischen Kulturrevolution heißt: »ein Rädchen bin ich«, und zwar in einem mechanisch funktionierenden Staate, kein Staatsbürger. So proklamieren deutsche Idealisten bereits um 1800, der Mensch sei keine Maschine. Aber eben bereits zu dieser Zeit bedarf es des Ideen denkenden Idealismus, um das zu sehen und zu sagen. Die Idee des absolut freien Geistes steckt dahinter, des religiösen Menschen, der seine Religion für sein eigenes Werk erklärt und damit sein erstes geistiges Bedürfnis befriedigt: die Verklärung der Welt als vollends moralische und schöne. Diese Koinzidenz der monotheistischen Mythologie und der Mythologie der Vernunft in den Augen des philosophisch und poe­ tisch Verklärenden läßt dem wissenschaftlich-technologischen Fort­ schritt in der ideal-moralischen Welt schlechtweg keinen Platz. Man will vor jede Aufklärung zurück, zumal vor Kants Kritik der Gottesbe­ weise. An eine Balance von Aufklärung und Verklärung ist nicht mehr zu denken. Das mythologische Wissen wird für absolut erklärt. Die herrschende Realität ist die ideale: die göttliche und rein vernünftige.

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6. Wissen und Glauben: Hegel I. Hegel (1770–1831) hat eine Geistesgeschichte von seltener Einfach­ heit und Planmäßigkeit gedacht: Gottes Geist vor der Schöpfung, während der Schöpfung und nach der – veränderten – Rückkehr zu sich selbst. Es ist die bekannte Dialektik vom Ansich zum Fürsich und zurück zum Anundfürsich. Eine finale Geschichte zeigt sich, die zyklisch verläuft. Als die Geschichte des idealistisch gedachten und christlich geglaubten Gottes kann sie nur Heilsgeschichte sein. Das Heil, das sie verkündet und bringt, ist das des geistig-geistlichen Menschen, wie er im freien Geist des idealistischen Philosophen realisiert ist. Wie sie der Philosoph erzählt, ist sie von Anfang bis Ende Mythologie, die Mythologie göttlicher und philosophischer Vernunft. Der Idealist Hegel hat von der Freiheit des Geistes intensiv Gebrauch gemacht. Unbehindert von Verstand und kritischer Ver­ nunft schafft sein Denken sogleich ein Meisterwerk, das es selbst unwiderlegbar macht: den »Begriff des spekulativen Begriffs«. Das ist der Begriff als Idee im Sinne des metaphysischen Idealismus. Wie Platon den Begriff der Idee gedacht hat, ist sie kein Begriff, sondern das Begriffene: »die Sache selbst« (to pragma auto).76 In Hegels Sprache: Der spekulative Begriff ist der »konkrete«. Das zeigt, daß Hegels Freiheitsbegriff keine Usurpation darstellt, sondern schlicht eine Erklärung ist, freilich eine Erklärung, die nichts erklärt und begründet, sondern im Sinne einer Verkündigung das ab sofort absolut Verbindliche öffentlich macht. Jetzt hat es jeder zu wissen: Unmögliches ist möglich, ja wirklich: idealistisch gedachte Gedanken schaffen ideale Realität. Die moralische Welt ist vollends wirklich. Kants Nachweis, daß die metaphysischen Gottesbeweise nichts tau­ gen, ist beseitigt, ist widerlegt. In der Vorrede zur ersten Ausgabe seiner Wissenschaft der Logik (1812) beklagt Hegel das desaströse Ergebnis, das Kants Aufklärung gezeitigt habe: Die Metaphysik ist »aus der Reihe der Wissenschaften verschwunden«. Doch er ist sich sicher, über das nötige geistige Rüstzeug zu verfügen, sie neu zu höchstem Ansehen führen und ihr in den Wissenschaften eine Monopolstellung sichern zu können. 76

Platon, Siebter Brief 341c7.

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6. Wissen und Glauben: Hegel

Hegels Hauptsorge als spekulativ-verklärender Sinngeber war es, den ontologischen Gottesbeweis nicht nur zu rehabilitieren, sondern, im Bilde gesprochen, zum unerschütterlichen Grund der Metaphysik zu machen. Dazu mußte er nur mit eigenen Gedanken und Worten einen Gedanken Platons wiederholen, der die höchste Idee, die Idee des Guten (nur Gott ist wahrhaft gut), zum Grund der Realität alles übernatürlich Wirklichen und zugleich zum Grund seiner Erkenntnis machte.77 Hegel genügt dafür seine Bestimmung des spekulativen Begriffs als des konkreten. Das ist vorbildliche Beweisführung metaphysischer Art: Der Begriff Gottes ist, gedach­ terweise, konkret, also ist der gedachte Gott Realität. Mit einem konkreten Begriff ist gedacht und gesagt, daß alles von ihm Begriffene wahr und wirklich ist, angefangen mit der Existenz des Begriffenen.78 Aus dem, was Kant eine Chimäre ist, ein bloßes Gedankending, macht Hegel rein durch Setzung das »Substantielle« und »Reelle«.79 Das ist das logische Gerüst der idealistischen Retrorevolution: Die mythologische Vernunft bleibt als Denkkraft ganz bei sich selbst. Für sie gibt es kein Wissen, das sich als Wissen auf etwas berufen könnte, das außerhalb ihrer läge. Das Wissen der mythologischen Vernunft wird aus ihr selbst zum Wissen. Mit der revolutionären Umdeutung von Wissen bekommt auch die Idee von Gottesbeweisen einen anderen Sinn. Führt die Mytholo­ gie der Vernunft religiösen Glauben und philosophisches Wissen zur Koinzidenz, dann muß Gott bewiesen und seine Existenz gewußt sein. Von der Religiosität der Gläubigen aus betrachtet sind Glauben und Wissen unvereinbar. Was einer weiß, kann er nicht mehr glauben. Religiöser Glaube ist ein Vertrauen, dem der Apostel Paulus mit Recht seine subjektive Selbstgewißheit nimmt: »auf Hoffnung hin«. Auch der Christus, den das Johannesevangelium zeichnet, weiß um die besondere Natur des Glaubens, wie sie religiösen Gemütern eignet: »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!« Der ungläubige Thomas wollte den Tatsachenbeweis, bevor er glaubt. Doch das ist widersinnig. Weil Hegel mit Wissen anderes im Sinn hat, ist auch der

Platon, Politeia VI, 508e. G.W.F. Hegel, Die Beweise vom Dasein Gottes, hsg. von Georg Lasson, Leipzig 1930, S. 62 f.; S. 76. 79 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I. Teil, hsg. von Georg Lasson, Leipzig 1948, S. 29. 77

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durch übernatürliche Logik geführte Gottesbeweis etwas anderes.80 Hegels verklärendes Verständnis eines Begriffs als spekulativ und konkret, das ein aufgeklärter Philosoph, der bei Verstand und Ver­ nunft ist, unmöglich teilt, macht es ihm unmöglich, Kants Kritik der Gottesbeweise zu widerlegen. Er denkt und redet an ihr vorbei: (der) Beweis reduziert sich in der Tat darauf, daß der Begriff durch sich selbst real ist. Konkreter Begriff ist Geist, seine Realität der Geist.81

II. Hegel weiß sich im Recht. Wie er den Gottesbeweis führt, kommt Gott selbst ins Spiel. In der Vollendung der Mythologie der Vernunft ist die Vernunft, der der Philosoph zu folgen beansprucht, die göttliche. Der geistige Mensch im »Reich des Gedankens« ist in eins der Homo philosophicus und der Homo religiosus. Die vom menschlichen Geist geschaffene Welt der Moralität ist die göttliche. Vernunft-Mensch und Vernunft-Gott der Mythologie der Vernunft sind keine Mona­ den, sondern ein Verhältnis: Mensch zu Gott, Gott zu Mensch.82 Ist für Hegel der Mensch »wesentlich Bewußtsein«,83 weil dies die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, vollends geistig, vernünftig und moralisch zu sein, dann kann er für Hegel doch unmöglich ein Subjekt sein, das für sich selbst nichts als seine Subjektivität ist. Es denkt ja, denkt nicht gleich dem aristotelischen Gott einzig das eigene Denken, sondern denkt über sich hinaus. Wie es die Logik von Hegels idealistischem Denken will und braucht, kommt als »über sich hinaus« allein das höchste Zudenkende in Frage, die höchste Idee (Begriff). Das ist der konkrete Begriff Gottes. Damit ist der zuhöchst verklärende Realitätsbezug eröffnet: Mensch zu Gott, Gott zu Mensch. Koinzidieren für den freien Geist Denken und Glauben, damit auch Wissen und Glauben, dann koinzidieren doch nicht Gott und Mensch. Beider Verhältnis ist es, das das mythologische Reich der Vernunft konstituiert. Der freie Geist denkt und glaubt nicht, was er will, wenn das hieße, daß er dem Zufall Raum gäbe und willkürlich 80 G.W.F. Hegel, Die absolute Religion, hsg. von Georg Lasson, Leipzig 1929, a.a.O., S. 37 ff. 81 G.W.F. Hegel, ebd., S. 38 Anm. 3. 82 G.W.F. Hegel, Die Beweise vom Dasein Gottes, a.a.O., S. 46. 83 G.W.F. Hegel, Die Beweise vom Dasein Gottes, ebd., S. 3.

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6. Wissen und Glauben: Hegel

verführe. Der freie Geist des Menschen braucht den Geist Gottes, um der Geist zu sein, der er ist.

III. Der Philosoph Hegel weiß, was er macht, er denkt schöpferisch, er sagt Ja zur Poesie. Mit seinem mythologischen Reich der Freiheit, der Vernunft und Moralität ist ihm ein Kunstwerk gelungen, das seinesgleichen sucht. Doch die bewundernde Zustimmung zu seinem Gebrauch der Freiheit der Kunst, in diesem Falle der Freiheit des Denkens und Glaubens, bedarf einer Einschränkung. Die Realität, die der idealistische Philosoph denkt, ist übernatürlich, nicht natürlich. Sie hat Gültigkeit im Reich der Gedanken und nirgends sonst. Das hätte er mit aller Deutlichkeit klarstellen müssen, um damit zu über­ zeugen, sich nicht in seiner selbstgebauten Realitätsfalle gefangen zu haben. Sobald Hegels »Beweisführung« argumentativ verfährt und nicht rein thetisch bleibt, wird sie verfänglich. Das aber ist durchgängig der Fall. Zwar bleibt Hegel, wenn er Gott und Mensch in ein Verhältnis bringt und so die Grundlage für die Mythologie der Vernunft schafft, stets beim Geist-Menschen, der nicht forscht und beobachtet, ißt und trinkt, sondern sich ohne jede Selbstkritik durch den gesunden Menschenverstand absolut frei weiß und entsprechend verhält. Das hindert ihn aber nicht, die durch absolute geistige Freiheit geschaffene übernatürliche Realität auf eine Weise für verbindlich zu erklären, daß nichts anderes mehr für den Menschen als das absolut frei Geschaffene eine Geltung als Realität erhält. Die Realitätsfalle schnappt in aller Offensichtlichkeit zu. Der Gedanke des rein geistigen Verhältnisses von Mensch und Gott zeigt das exemplarisch. Typisch für Hegels Argumentieren ist, daß er sich dabei gedank­ lich nicht anstrengt, sondern mit einfachsten Mitteln vorliebnimmt, die ihm für eine demonstratio ad hominem geeignet erscheinen. Menschliche Subjektivität macht das Verhältnis des Erkennens zum Erkannten zu etwas Einseitigem. Damit jedoch der erkennende Mensch in seinem Verhältnis zum erkannten Gott nicht einseitig in seiner Subjektivität befangen bleibt, genügt Hegel ein schlichtes Emphatikon. Das Erkennen muß nur ein »wahrhaftes« sein, damit seine Subjektivität aufgeboben ist. Es genügt, damit die »andere

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Seite« mit im Spiel ist, »das Verhalten Gottes zu dem Erkennen«.84 In vollendet denkkünstlerische Form gebracht heißt das: Es gibt keine Schranke zwischen dem Geist des Menschen und dem Geist Gottes, wie eine vermeinte Vernunft kritisch anmerken könnte, weil der Geist Gottes im Menschen ist. Dem spekulativen Gedanken würdig muß genauer von »Gottes Selbstbewußtsein, welches sich in dem Wissen des Menschen weiß« die Rede sein.85 Das ist gezielt gegen die »Aufklärung« gesagt, die die »eines sich Vernunft nennenden Verstandes« ist.86 Mit der Argu­ mentation für den Gedanken eines Endzwecks der Weltgeschichte gibt sich Hegel keinen Deut mehr Mühe. Will er »die Vernunft in der Geschichte« nachweisen, dann kommt es ihm nicht in den Sinn, etwas mit Vernunft Nachvollziehbares vorzuführen. Dem Schwur der Tübinger Stiftler, dem Ganzen wieder einen Sinn zu geben, bleibt Hegel als Sachwalter philosophischer Vernunft treu, die freilich eine höhere als die des »zur Vernunft Kommenden«, weil notwendig von kritischer Eingrenzung nicht belangbare ist. Was er betreibt, ist nicht bloße Kontingenzbewältigung, sondern klare Kontingenzüber­ wältigung. »Nichts kam, wie es kommen mußte« ist der Grundsatz jeder seriösen Geschichtsbetrachtung. Von durchgängiger vernünf­ tiger Folge in den Geschehensabläufen, die auf ein vernünftiges Ziel hinauslaufen, zeigt sich dem Historiker keine Spur. Doch ver­ gleichbar dem Emphatikon »wahrhaft«, das ausreicht, dem ansonst Unerkennbaren den Status des Erkennbaren zu verleihen, reicht jetzt der Komparativ »höher« aus, um zu beweisen, daß es im Ganzen der Geschichte höchst vernünftig zugeht. Um das Geschehen voller Zufälligkeiten, Unvernunft und Vernunftlosigkeit gänzlich aus dem Blickfeld zu rücken, bedarf es eines einzigen geistigen Schritts hinauf: zum »höheren Standpunkt«. Vernunftoptionisten sprechen sonst von der philosophisch in Anspruch genommenen Vernunft als dem »allge­ meinen Standpunkt«. Jetzt ist es der »höhere«, weil Hegel genau jene Vernunftoptionisten übertreffen und überwinden will, allen voran den Grenzzieher des freien Geistes Kant. Von ihrem höheren Standpunkt aus muß die höhere Vernunft nichts mehr begründen und beweisen, weil die eingenommene Höhe genügt, alles Idealische als absolut und eben real zu setzen. So stellt Hegel denn ohne weiteres dem tatsäch­ 84 85 86

G.W.F. Hegel, Die Beweise vom Dasein Gottes, ebd., S. 43 Anm. Ebd., S. 49. Ebd., S. 49.

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lichen Geschichtsverlauf verklärend »den Gedanken einer höheren Notwendigkeit, einer ewigen Gerechtigkeit und Liebe« gegenüber, »den absoluten Endzweck, der Wahrheit an und für sich ist«.87 Hegel greift zu der übernatürlichen Beweismethode, die das Musterbeispiel dafür ist, keine wissenschaftliche zu sein: zur Petitio principii (begging the question). Er tut das, weil er sich seiner Sache absolut sicher ist, und weil ihm auch keine andere zur Verfügung steht: Das Zubeweisende wird durch das Zubeweisende bewiesen. Das ist die einzige Beweismethode, die den deutschen Idealisten Hegel und Schelling offensteht – und von der sie auch reichlich Gebrauch machen.88 Warum ist »in der Geschichte« Vernunft, wenn sie von einem höheren Standpunkt aus betrachtet wird? Antwort: Weil sie von einem höheren Standpunkt aus betrachtet wird. Jetzt kann logisch und ontologisch nichts mehr fehlgehen. Die Verklärung ist perfekt.

IV. Notiert Hegel »de(n) einfache(n) Gedanken der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist«,89 dann sieht erhellende Aufklärung darin einen Selbstwiderspruch des hegelschen Systems: Das »absolut freie Wesen«, von dem im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idea­ lismus die Rede ist, hat sich in der von ihm konstruierten Realitäts­ falle gefangen. Die frappierende Einfachheit dieser Notiz leugnet die Hybridität des Menschen, der der Verklärung und der Aufklärung bedarf, des geistig-geistlich überhöhten Lebens, aber eben doch auch des tatsächlich gelebten Lebens. Hat Kants Gedanke eines absolut guten Willens den Philosophen zur Konstruktion einer lebensprak­ tisch wertlosen Gesinnungsethik geführt, die einzig sich selbst als die vermeinte reine praktische Vernunft feiert, so macht Hegel den denkenden Geist unfrei: Er kann nur den Midas spielen – was immer er auch anrührt ist vernünftig. Unvernunft hat die Möglichkeit der Realität verloren. Ist Hegels System unfähig, zwischen der gedachten und der geschehenen Weltgeschichte zu unterscheiden, dann sollte 87 G.W.F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hsg. von Georg Lasson, Leipzig 1920, S. 2. 88 Zu Schelling siehe Rainer Marten, Denkkunst. Kritik der Ontologie, um ein Nach­ wort erweiterte Neuausgabe, Freiburg/München 2018, S. 296–298. 89 G.W.F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 4.

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er sie besser gedanklich ganz auf sich beruhen lassen. Hinzu kommt, daß Hegel Homo philosophicus und Homo religiosus in eins ist. Nur dadurch ist der Endzweckgedanke für ihn unverzichtbar. Allein eine von Gott initiierte und darum mythologisch erzählte Geschichte hat Finalität. Menschliche Vernunft kann Geschichte unabsehbar weiterhin geschehen lassen. Wird für die Vernunft der Endzweck zur Conditio sine qua non einer Weltgeschichte, dann ist göttliche Vernunft im Spiel. Die Vernunft in der Weltgeschichte innerhalb der gedachten Welt der Moralität zu denken und gedanklich zu feiern ist eines. Ein ganz anderes ist jedoch der Versuch, die ideale Setzung rückwirkend auf die geschehene und geschehende Geschichte abzubilden. Auch nur den Versuch zu machen, damit zu überzeugen, führt zu einer Art Denksport. Den jeweiligen Folgen von Zufällen, von unberechenbarem Naturgeschehen und unberechenbarem menschli­ chen Handeln gilt es als Momente einer finalen Gesamtvernunft zu deuten. Die christliche Heilsgeschichte wußte das gut zu meistern: Der Gott bezwang die fortwährende Unvernunft des Menschen, das sind seine Verfehlungen an Gottes Willen, nicht durch Vernunft, das wäre ein vergebliches Unterfangen gewesen, sondern durch sein Herz: er opferte für den »sündigen« Menschen sein Liebstes, seinen eingeborenen Sohn. Gott bezwingt in der Religion den Menschen nicht durch Vernunft, sondern durch sein Herz. Im Alten Testament läßt der Gott, der erst das gegen ihn handelnde Volk vernichten will, dann doch Gnade vor Recht ergehen. Er handelt unvernünftig, weil nicht rechtmäßig. Doch er hat einen unwiderlegbaren Grund, warum er es fertigbringt, das eigene Herz der eigenen Vernunft vorzuziehen: »Weil ich ein Gott bin«.90 Der absolut freie Geist ist nicht frei zur Unvernunft, wie sie der geschichtliche Mensch alltäglich lebenspraktisch wirksam werden läßt. Er ist jedoch – in der Perspektive des erhellend Aufklärenden – an und für sich irreal. Das macht seine verklärende Potenz aus. »(D)er Geist ist nur für den Geist«.91 Damit setzt sich der Geist von der Natur ab. Hegels gedachter Geist, auch als der des Menschen, gehört damit nicht zur Natur des Menschen, die die Weltgeschichte prägt. »Natur ist nicht Wissen. Gott ist der Geist; die Natur weiß nichts vom Geiste.«92 Wer sich wie Hegel der Gefahr aussetzt, den Gedanken 90 91 92

Hosea 11. G.W.F. Hegel, Die absolute Religion, S. 4. Ebd., S. 95.

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des Absoluten zu fassen und eben absolut zu denken, kann einen Dualismus wie den von Natur und Geist nicht stehen lassen, zumal er ihn ja allererst selbst hervorgebracht hat. In Anbetracht von Gott und Mensch leistet das bei Hegel schon ganz von selbst die Sprache, indem er die »Natur« Gottes und die »Natur« des Menschen nicht für Natur nimmt, sondern für Geist: Der Geist ist daher der lebendige Prozeß, daß die an sich seiende Einheit der göttlichen und der menschlichen Natur für sich, daß sie hervorgebracht werde.93

Das ist der Dualismus: Natur und Geist, das Relative und das Abso­ lute, Erscheinung und Idee. Ist aber die Rückkehr des Geistes zu sich selbst an ihr Ende gelangt, sind Gott und Mensch im absoluten Geiste eins, dann ist jeder Dualismus verschwunden. Die Geschichte Gottes und die göttliche Heilsgeschichte des Menschen haben sich in eins vollendet. Einmal im Absoluten angelangt, hat der Geist dort seine Bleibe. Seine Prozessualität ist zur absoluten Ruhe der Vollendung gekommen. – Das ist alles so gedacht und gesagt. Der tragende Gedanke dazu aber, daß das Endliche schon im Unendlichen ist (der Mensch in Gott), und das Unendliche im Endlichen (Gott im Menschen), ist für erhellende Aufklärung reines Wortgeklingel. So etwas läßt sich sagen, wie Aristoteles feststellt, aber nicht einmal annehmen.94 Absolutes Denken, das sich in der Gedankenwirklich­ keit einigelt, hat jeden Übergang zur Lebenswirklichkeit gekappt. Daß es zuvor die Lebenswirklichkeit (die geschehene und geschehende Weltgeschichte) »aufgehoben« und in die Gedankenwirklichkeit mit­ genommen habe, ist leeres Denken. Absolutes Denken, das sich an der Lebenswirklichkeit versucht, ist der Tod geistigen Verklärens. Die übernatürliche Geschichte der natürlichen aufzuoktroyieren, ist ein absoluter Mißgriff. Hegel denkt unbeirrt vom Denken aus, vom Begriffsdenken als einem Realitäts-, weil Ideendenken. Wissenschaft kann für ihn ausschließlich Metaphysik sein. In dem Systemprogrammpapier heißt es, »daß die jezige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist, oder seyn soll, nicht befriedigen könne«. Damit ist gesagt, daß Metaphysik Kunst ist, die mit ihrer Geistnatur unmög­ lich eine Konkurrenz zur Naturwissenschaft »im Kleinen« darstellt, 93 94

Ebd., S. 38. Aristoteles, Metaphysik Gamma 3, 1005b18–26.

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die wirklich Wissenschaft ist. Doch Hegel ist den Wissenschaften, die den Wirklichkeitsbereich ihres Wissens nicht selber schaffen, sondern vorgegeben haben, nicht nur entfremdet; er duldet sie auch nicht, jedenfalls nicht neben sich. Der Philosoph und Psychologe Friedrich Eduard Beneke (1798–1854) ist ein prominentes Opfer seiner geisti­ gen Unduldsamkeit. Seine Kritik am Idealismus Hegels, die für ihn durch seine »Erfahrungsseelenlehre« unausweichlich ist, beantwortet die Fakultät auf Druck Hegels mit dem Verbot seiner Vorlesungen. Erst nach Hegels Tod erhält er eine außerordentliche Professur.95 Doch Hegel folgte damit ja nur einer bewährten Tradition philoso­ phischen und religiösen Verklärens, die eigene Position ideologisch zu verabsolutieren und jede entgegenstehende Position unter Straf­ androhung zu stellen. Das zeugt von einem grundständigen Selbst­ mißverständnis des Verklärens. Verklärende Metaphysik ist Kunst und keine Wissenschaft. Hegel hat sich selbst zu seinem Künstlertum bekannt, zugleich aber eingefordert, als führende Kraft der höchsten Wissenschaft anerkannt zu werden. Es genügt, zum Beschluß noch einmal auf das Selbstmißverständnis des religiösen Glaubens hinzu­ weisen, das jedem Versuch, das Dasein Gottes zu beweisen, zugrun­ deliegt. Zum Geheimnis (Mysterium) des religiösen Glaubens gehört unabdingbar, Glauben und kein Wissen zu sein. Wer wachen Bewußt­ seins im neuen Paradies neben Gott sitzt (Geist neben Geist), kann nicht an das Dasein Gottes glauben; er ist ja da. Religiöser Glaube, der kein theoretisches Für-wahr-halten, sondern praktisch fruchtba­ res Vertrauen ist, braucht den verborgenen Gott. Bescheinigt ein her­ ausragender Hegelschüler seinem jetzt von ihm kritisierten einstigen Lehrer »das vollendetste System, das je noch erschienen« geschaffen zu haben,96 dann ist mit der Güte des Systems noch nichts über die Brauchbarkeit dieser Philosophie für die Verständigung des Men­ schen über sich selbst als Mensch gesagt. Der das System lobpreisende intime Kenner der hegelschen Philosophie wendet sich jedenfalls von ihr ab.

95 Reinhard Mehring hat zu diesem Fall und seinem Berliner Kontext ein Buch geschrieben: Landwehrkanal, Freiburg/München 2019. 96 Ludwig Feuerbach, Zur Kritik der hegelschen Philosophie, hg. von Wolfgang Harich, Berlin 1955, S. 29.

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7. Urwissen Die Frage, wie es zu einem wahren, übernatürlichen Wissen kommt, muß für den Philosophen sein Gedanke der Seele beantworten. Seele (gr. psychê) ist dem Verständnis des griechischen Wortes für Seele nach der Lebenshauch (pnoê pychês). In der christlichen Mythologie bläst ihn der den Menschen schaffende Gott dem fleischlich geformten Adam ein.97 Stirbt ein homerischer Held, dann haucht er sein Leben aus. Mit der Seele verläßt ihn das Leben.98 Aber bereits für den Philosophen Parmenides (um 540 – nach 480 v. Chr.) gehört die menschliche Seele in die Mythologie der Vernunft: Seele und Geist/ Denkkraft sind für ihn »dasselbe«.99 Seele ist in der griechischen Philosophie die Denkseele, das Organ des Erkennens und Wissens. Sie beherrscht damit auch die sinnlichen Kräfte. Der Mensch sehe durch die Augen, aber mit der Seele – so klärt Platon den Sachverhalt, um Erkenntnis und Wissen ganz Sache seiner Geistigkeit sein zu lassen, ohne eigenständige Beteiligung der Sinnlichkeit.100 Um das Belebende und das mit Geist Versehende seinen Vorrang vor der Leiblichkeit und Sinnlichkeit des Menschen zu sichern, scheint damit alles getan zu sein. Stirbt ein Mensch, verläßt ihn die Seele, dann lebt er nicht mehr, denkt er nicht mehr. Der Leib verrottet. Was aber geschieht mit der Seele? Eigentlich ist es gesagt: Die Seele, die das Leben bedeutet, ist tot; sie ist nicht mehr. Das stimmte gut mit der aristotelischen Unterscheidung von Stoff und Form zusammen. Stoff gibt es nicht ohne Form, Form nicht ohne Stoff. Für ihn ist die Seele die Form (die wesensbestimmende Form) des leibhaft lebenden Menschen. Doch menschliches Verklärungsbedürfnis kommt mit diesem Verständnis nicht zurecht. Schon früh hat poetische Mytho­ logie lebende Tote geschaffen. Die Unterwelt ist voll von ihnen. Menschliche Seelen hausen dort mit einer ganz eigenen Art von Leib. Den brauchen sie ja auch, wenn religiöse und philosophische Verklärungsmodelle so weit reichen, daß Seelen auch nach Ende des Lebens peinigend bestraft werden können müssen. Platon löst das Problem für seinen Idealismus mit einem einfachen Komparativ: Die

1. Mose 2,7. Ilias. 99 Parmenides, Fragment A 22, in: F.d.V. Bd. l, S. 218. 100 Platon, Theaitetos 185e ff. 97

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Seele ist älter als der Leib.101 Das meint: Die Seelentätigkeit, das Denken, Erkennen und Wissen, geht jeder »Einkerkerung« in einen Leib voraus. Somit ist nicht mehr daran zu denken, daß die Seele eines leibhaften Erdenlebens mit seinen Erfahrungen und Erkenntnissen bedürfte, um über wahres Wissen verfügen zu können. Das bringt sie, wie es zu denken ist, notwendigerweise bei der Geburt eines Menschen schon mit. Der idealistische Wundergedanke steht damit klar vor Augen: Die Seele eines Menschen ist, wie nach dem Tod, schon vor der Geburt vollends Seele. Daß das aller Erfahrung widerspricht, nimmt er gerne in Kauf, da es ihm in seinem Denken ausschließlich um Übernatürliches geht, für das sein übernatürliches Denken Verantwortung übernimmt, nicht aber um die natürlichen Erkenntnisse und Erfahrungen eines Men­ schen, der auf der Erde lebt. Wie man die bildende Kunst eines Phidias nicht dadurch widerlegen kann, daß keine seiner Idealgestalten in der Lebenswelt realisiert sind, so auch Platons denkende Kunst nicht, daß man ihr Entsprechendes nachweist. Die Denkseele, die für sich besteht, kann und will nur eines: denken! Nimmt man den Philosophen wörtlich, dann liebt sie das Denken, das reine Denken der reinen Gedanken, was bei Platon heißt, der Ideen. Die philosophische Denkseele ist vor, während und nach ihrer Leibverbundenheit verliebt in das ihrem Denken zu verdankende reine Wissen. Seine Reinheit bestimmt sich maßgeblich daraus, daß es zu nichts nütze ist. Anders als wissenschaftliches Wissen ist es kein Wissen von etwas, das in der Lebenswirklichkeit Realität hätte. Als die Manie, die sie für Platon ist, hat sie alles Recht, die Selbstverliebtheit der Denkseele in ihr reines Wissen zu demonstrieren, ist es doch von einer Leuchtkraft und Schönheit, die dem übersinnlichen Auge nichts anderes darbietet als vollkommene Moralität. Die Trias des Wahren, Guten und Schönen steht im Blick. Diesen Blick läßt sie auch niemals ruhen. Es ist ein Blick des Ewigen in das Ewige. »Älter« als der Leib, ist die Seele nicht für eine bestimmte Zeit, sondern von Ewigkeit her älter als der Leib. Mit diesem Blick vor aller Zeitlichkeit kommt sie auf die Welt der Lebenswirklichkeit, und, wie Platons Anamnesislehre weiß, bleibt er ihr während des Erden­ lebens unverlierbar in der Erinnerung. So bringt die Denkseele ins

101 Platon, Epinomis 980de. Was Platons Sokrates zur Anfänglichkeit und Ewigkeit der Seele zu sagen hatte, findet sich hier zusammengefaßt.

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7. Urwissen

Leben ein Wissen mit, das in keiner Zeit seinen Anfang genommen hat: Es ist Urwissen.

7.1 Schelling I. Für den Platoniker Schelling hat »Urwissen« überraschenderweise eine nationale Note: es sei nämlich das einzigartig dem »deutschen Gemüth« gerecht werdende Wissen der »deutschen Wissenschaft«.102 In der ersten der Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802), die den Titel trägt »Ueber den absoluten Begriff der Wissenschaft«, legt Schelling seinen Herren Studenten dringend nahe, über ihre wissenschaftlichen Interessen am Einzelnen und Besonderen ja nicht das Allgemeine aus den Augen zu verlieren, das Allgemeine und Absolute. Damit ist der Metaphysiker auch schon beim Göttlichen. Die Vorlesung ist im Ganzen darauf angelegt, bündig den Nachweis zu liefern, daß »wirkliche und wahre Erkenntniß« ohne religiösen Glauben, ohne Offenheit für die Offenbarung Got­ tes, nicht zu erlangen ist. Schelling möchte seine Hörer von ihren speziellen wissenschaftlichen Interessen befreien und in höhere, ja höchste geistige Bereiche führen. Wie für Platon ist auch für ihn mathematisches Wissen eine Vorschule metaphysischen Denkens: Es »läutert den Geist zur rein vernünftigen Erkenntniß, die des Stoffes nicht bedarf«. Doch idealistische Philosophie bleibt dabei eben nicht beim »rechnenden Verstand«. Sie ist ungleich höher angesiedelt: Sie ergreift den ganzen Menschen, berührt alle Seiten seiner Natur und erhebt ihn in das Reich des Allgemeinen und Absoluten.103 Gerade im deutschen Idealismus zeigt Philosophie einmal mehr ihr auffälliges Vergnügen, sich an sich selbst zu begeistern. Befreit zu sich selbst, kennt der Gedanke der Idee nurmehr sein Eigeninteresse, sich selbst zu versichern und zu vergewissern, in denkkünstlerischer Vollendung dem Absoluten zu genügen. Im Selbstbewußtsein des zur geistigen Führerschaft Berufenen, der über das Wissen der Welt hinausführt, wird damit einem göttlichen Bildungsauftrag Folge geleistet. Diese 102 F.W.J. Schelling, Über das Wesen der deutschen Wissenschaft (1811), in: Schellings Werke, hg. von Manfred Schröter, Bd. IV, München 1927, S. 377–394. 103 F.W.J. Schelling, ebd., Bd. III, S. 234 f.

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philosophische Selbstbegeisterung ist Treibstachel des Gedankens der Idee: Es ist die Idee des an sich selbst unbedingten Wissens, welches schlechthin nur Eines und in dem auch alles Wissen nur Eines ist, desjenigen Urwissens, welches […] in den ganzen unermeßlichen Baum der Erkenntniß sich ausbreitet.104

II. Jenseits alles Erkennens und Wissens, das ohne Religiosität möglich und lebenspraktisch wirksam ist, verdichtet die gedachte Gottesnähe alle Methodik und Logik der geistigen Tätigkeit zur Petitio principii. Schellings Denkmuster hat in der Tradition der Metaphysik längst seine Bewährungsprobe bestanden. Erklärt er Urwissen als das »Wis­ sen alles Wissens«, so ist das genau die Formel, die in ihrer Dichte dem gemeinten Wissen gar keine Wahl läßt: Das subjektive Wissen ist eins mit dem als objektiv Gewußten. Es ist ein Wissen, das sich als die Realität weiß. Cusanus (1401–1464) hat sich in seinem Gottesdenken die Definition vorgenommen, und dies genauer, wie es einzig erfolg­ versprechend ist, die Definition der Definitionen.105 Die Dichte des Ausdrucks entspricht der Dichte des Begriffs: Die alles definierende Definition ist notwendig Selbstdefinition (suipsius definitio) und damit »nichts anderes« als das Definierte. Die Selbstdefinition der Alldefinition ist durch keine Logik widerlegbar. Schelling folgt akkurat diesem Denkmuster. Für ihn wohnt das Urwissen »ursprünglich« im »absolut-Idealen«. Damit existiert es nicht etwa fern von uns oder gar ohne uns. Im Gegenteil: Es ist »uns selbst […] eingebildet, und unser Wissen in seiner Totalität ist bestimmt, ein Abbild jenes ewigen Wissens zu seyn«.106 Verhält es sich so, dann kommen die Wissenschaften in der Tat um einen ganzen Himmel verfehlt mit ihren Interessen. Hat das vom Philosophen zum wahren erklärte Wissen im absolut Idealen sein Zuhause und existiert es nur im Denken der Ideen als reale Gestalt des ewigen und ewig vollkommenen Urwissens, dann ist diese Selbstversetzung ins wahre Wissen auf Geisteshöhe F.W.J. Schelling, ebd., Bd. III, S. 237. Cusanus, Directio speculantis seu de non aliud, in: Opera omnia, Bd. 13, hg. von Ludwig Baur / Paul Wilpert, Leipzig 1944, Kap. l. 106 F.W.J. Schelling, a.a.O., Bd. III, S. 238 f. 104 105

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mit jeder vollendeten Esoterik. Das ist den Rosenkreuzern nicht fern, deren Wissen die »Urlehre« ist: »›das Licht, das Adam vor dem Fall erhielt‹«.107 Doch Schelling ist Denk- und Glaubenskünstler genug, um sein Absolutheitsdenken selber zu verantworten, dies freilich in ausdrücklicher Zustimmung zu der durch Platon angestoßenen Tradition idealistischen Denkens. Seines schöpferisch mitgedachten metaphysischen und mitgeglaubten christlichen Gottes gewiß, kann er jenseits aller Erfahrung ein Kunstwerk schaffen, das gegen jede Kritik immun ist. Wer sein Gedankengebäude mit einem Fundament versieht, das von der Natur des Absoluten ist, macht es zu Unhin­ terfragbarem. Diesem Kunstwerk, das die Identität von Begriff und Wirklichkeit darstellt, hat er sprachlich die Form gegeben: Die Natur des Absoluten ist: als das absolut Ideale auch das Reale zu seyn.108

Für Schelling besagt das, daß er seinen Idealismus auf Gott gründet. Die Mythologie der Vernunft, die die Gleichsetzung des Idealen und Realen vollzieht, kann nur eine philosophische sein, wenn sie zugleich auch eine divine ist. Das absolut Ideale, wie es für Platon genau kein Begriff sein soll, sondern »wahrhaft wirkliches seiendes Sein«,109 ist bei Schelling im Letzten durch den religiösen Glauben abgesichert. Philosophisch verweist er allerdings wieder auf das »Wissen alles Wissens«, auf das Urwissen. Da es »schlechthin untheilbar« ist, muß es »ganz und durchaus Realität und Idealität« sein.110 Damit ist wissenschaftliches Wissen, wie es auf vielfältige Weise der Mensch für sein Leben und Handeln braucht, vollends diskreditiert. Die ihren Wissenseifer nicht gänzlich auf die rein geistige Existenz ausrichten, die Unmögliches ohne Widerspruch als möglich denken läßt, werden zu »seichten Köpfe(n)« und »Nützlichkeitsapostel(n)«, die das Leben entgeistigen und entzaubern. Der absehbare Einwand, daß gemein­ schaftlich und gesellschaftlich, ja auch jedes individuell zu lebende Leben weltlicher Tätigkeiten bedarf, beantwortet der Urwissenschaft­ ler im Voraus idealistisch: Er verlegt das Handeln nicht anders als das Wissen ins Ursprüngliche, ein Lieblingstopos metaphysischer Logik. Folgte Handeln dem Wissen, das zu einem Mittel geworden ist, dann 107 108 109 110

Julius Evola, Das Mysterium des Grals (1934), Gaggenau 2015, S. 188. F.W.J. Schelling, a.a.O., Bd. III, S. 241. Platon, Phaidros 247b7. F.W.J. Schelling, a.a.O., Bd. III, S. 241.

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wäre es zweckorientiert – beides veräußerlichte sich. Damit es dazu nicht kommt, hat der Idealist vorgesorgt: Wie es kein wahres Wissen gibt, welches nicht mittelbar oder unmit­ telbar Ausdruck des Urwissens ist, so kein wahres Handeln, welches nicht, und wär’ es durch noch so viele Mittelglieder, das Urhandeln und in ihm das göttliche Wesen ausdrückt.111

Da im Idealismus einzig der Geist handelt, Denken als Handeln verstanden, kann der Gedanke der Urhandlung nichts anderes zu fassen suchen als den geistigen Selbstvollzug des Absoluten: Der Geist ist sich in seiner Reinheit und Einheit selbst genug. Bedeut­ sam für Schelling ist die in der Urhandlung gedachte Einheit von idealistischer Philosophie und christlicher Religion. Im Sichwissen des Wissens und Denken des Denkens weiß sich der Idealist eins mit dem göttlichen Wesen. Damit ist das geistige Ur des Idealismus hin­ reichend geklärt. Was Schelling des weiteren zu Sein und Wesen, Daß und Was, Vernunft- und Glaubenswahrheiten, ja zur Unterscheidung zwischen dem, was Gott gefällt, und dem, was er will, zu sagen hat, ist dagegen zweitrangig.112

7.2 Guénon I. Erfahrungen des Ersten Weltkriegs haben das geistige Europa in erheblichem Ausmaß neu für Metaphysik empfänglich gemacht. 1927, im selben Jahr wie Martin Heideggers Sein und Zeit und Adolf Hitlers Mein Kampf, Band 2, erscheint La crise moderne des Franzosen René Guénon (1886–1951).113 In diesem Buch geht es um die reine metaphysische Lehre (la pure doctrine métaphysique) F.W.J. Schelling, ebd., Bd. III, S. 244. Siehe dazu als späteres Statement die Lesung am 17. Januar 1850 in Berlin Ueber die Quelle der ewigen Wahrheiten, in: F.W.J. Schelling, Bd. V, München 1928, S. 757– 772. Sie handelt vom Reich der Wesenheiten als dem Reich der Möglichkeiten und der Wissenschaft, »die diese Möglichkeiten unterscheidet und erkennbar macht, indem sie denkthätig dieselben aus der Potentialität heraustreten und in Gedanken wirklich werden läßt«. (S. 758). 113 Paris, 2. Aufl. 1946. 111

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und das absolute Wissen (la connaissance absolue).114 Von Beruf Orientalist, wirbt Guénon als radikaler Gegner der Moderne für den Hinduismus. So wurde das Buch Advaita (Die Nichtzweiheit) von Shankara (um 800 n.Chr.) wieder aktuell, das für Hindus die ver­ bindliche Auslegung der Bhagavadgíta ist.115 Nach traditioneller Art der Metaphysik konzentriert sich seine Gegnerschaft auf das Wissen der Wissenschaften. Guénon weiß von einem Urwissen, das nicht Menschen induktiv durch vereinte sinnlich-geistige Erkenntniskräfte erworben haben, sondern das durch übernatürliche Kräfte dem All zugehört, dem All in göttlicher, nicht in menschlicher Perspektive. Will der Mensch an ihm teilhaben, so kann er nicht Mensch bleiben. Das ist von größter Bedeutung an diesem Antimodernismus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: die Diskrepanz zwischen wesen­ haftem metaphysischen und wesenlosem physischen Wissen führt zu einer Inversion des Humanismus. Da tut sich ein Abgrund zwischen dem HUMANISMUS auf, der der des wahren und überzeitlichen Menschen ist, und dem Humanismus, der sich am geschichtlichen, kulturell entwickelten Menschen orientiert, einer Kultur, die ihn nicht die »Welt überwinden« läßt. So spricht sich Guénon folgerichtig gegen jegliches »humaniser« aus und damit gegen alle »interpreta­ tions purement humaines«, angefangen mit dem Humanismus der Renaissance. In ihm erkenne sich der profane Geist der Moderne, der den Menschen von einem übernatürlichen Ursprung trennt. Moderne Philosophie wie Kants Rationalismus, der für diesen Humanisten »dans l'humain pur et simple« und damit bei dem von allem wahren WISSEN abgekoppelten Menschen ist, wird nur noch überboten von dem auf Anwendung und Nutzen fixierten Pragmatismus, den er »véritablement dans l'infra-humain« ortet.116 Der geistige Einsatz für wahres Wissen erhält seinen Impuls aus dem Einsatz für den wahren Menschen. Das Wissen der Wissenschaf­ ten ist das Wissen der unwesentlichen Vielen, das wahre Wissen das der wesentlichen Wenigen: Wahres Wissen findet sich eben nur beim wahren Menschen.117

René Guénon, La crise moderne, ebd., S. 53. Siehe dazu Rainer Marten, Lob der Zweiheit, Freiburg/München 2017, S. 48–64. 116 René Guénon, La crise moderne, a.a.O., S. 71. 117 Zhuangzi, Das Buch der Spontaneität, aus dem Englischen übersetzt von Stephan Schuhmacher, 2. Aufl., Oberstdorf 2013, S. 92. 114

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In dem Hauptbuch des Daoismus, bekannter unter dem Titel Das wahre Buch vom südlichen Blütenland von Zhuang Zi (um 369–286 v. Chr.), das auf den Lehren von Lao Zi (4. Jh. v. Chr.) beruht, will der chinesische Philosoph Menschen durch bildreiche Rede dazu bewegen, ins rein Geistige aufzubrechen: weg von den Vielen, hin zu den Wenigen. Für den vergeistigten wahren MENSCHEN, so sagt er es ihnen, »ist das Leben nur eine aufgesetzte Zyste, ein anhängender Tumor, und der Tod ist das Aufplatzen eines Geschwürs, das Auslaufen eines Abszesses«. Davor zitiert er die Liedverse: Du bist schon zurückgekehrt zum Wahren, / während wir, ach je, noch Menschen sind!118

Genau so sieht es noch im 20. Jahrhundert der für die reine meta­ physische Lehre engagierte Orientalist. Für ihn ist es der Geist der Moderne, der die Hierarchie beseitigt, die für den wahren Menschen und sein wahres Wissen verbindlich ist. Ohne die absolute Verklärung durch metaphysischen Mystizismus sieht er die wahre HUMANITÉ für verloren an.

II. Der Mensch, der wir sind, der sein endliches Leben auf der Erde unter Menschen lebt, ist, gemessen am übernatürlichen Ursprung des MENSCHEN, kein MENSCH. Dieser Gemeinplatz der Antimoderne findet seine Entsprechung in dem Urteil, daß wissenschaftliches Wis­ sen nicht nur kein für den wahren MENSCHEN relevantes, sondern das reine Antiwissen ist. In dem Kapitel »Science sacrée et science profane« führt Guénon aus, daß sich Wissenschaften ausschließlich mit minderer Realität befassen. Die moderne Wissenschaft betreibe nichts als »Experimentalismus« im Dienste des Positivismus und Agnostizismus. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt wie der in der Zahnmedizin ist für den »übernatürlichen« Menschen Guénons ohne jede Bedeutung. Als reiner Geist ist er der Leiblichkeit und Zeitlichkeit wirklich enthoben. Nach guter metaphysischer Tradition gilt ihm das Jähe der Unmittelbarkeit und Augenblicklichkeit der »intuition intellectuelle« als Vollzugsform wahrer EXISTENZ. Sie ist die »unmittelbarste«, die mit einem einzigen Schlag (d'un seul coup) erfolgt. Diese übernatürliche Unmittelbarkeit und Augenblicklichkeit 118

Zhuangzi, ebd., S. 100 f.

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enthebt den EXISTIERENDEN der Individualität. Das reine Verhält­ nis zum EINEN, zum einen GOTT und einen SEIN, traditionell das höchste und allgemeinste Prinzip, macht jede geistige EXlSTENZ gleich. Die metaphysische Unterscheidung der Vielen und der Weni­ gen verliert alles Quantitative: Es werden ja, genau besehen, nicht Menschen unterschieden, sondern MENSCH und NICHTMENSCH, WISSEN und NICHTWISSEN. Im Selbstbewußtsein der Teilhabe an der absoluten Überlegen­ heit der göttlichen Übernatur über die profane Natur vervollkommnet Guénon seine hinduistische Deutung des Menschen. Wie er sich dazu das Prinzip der Nicht-Zweiheit zu eigen macht, ist sein Denken von vornherein gegen jede Kritik immun und von jeder Notwendigkeit der Argumentation befreit.119 Das rein intellektuelle und höchste Wissen steht im Blick.120 Die Intuition in ihrer unüberbietbaren Unmittelbar­ keit ist über die Unterscheidung von Subjekt und Objekt hinaus. Beides sei ein und dasselbe, woraus folge, daß WISSEN und SEIN auf fundamentale Weise ein und dasselbe Ding sind, zwei untrennbare Aspekte einer single reality. Die Mentalität des Westens sei unfähig, Verwirklichung ohne Handlung zu denken und in der Theorie (im wahren Wortsinn von theôrein, schauen, genommen) das zu sehen, was die reale Einheit von Subjekt und Objekt bewirkt. Demgegenüber seien die metaphysischen Lehren des Ostens vollkommen. Allein im mystischen Denken käme der Westen dem Osten nahe. An der Übernahme östlicher Mystik wie der daoistischen und hinduistischen hat es im Westen in der Tat nicht gemangelt. Das grundlegende Selbstverständnis der Metaphysik ist für Guénon, keinerweise von Voraussetzungen auszugehen.121 Ist die Gewißheit eine unmittelbare, so sind WISSEN und Wissen, wahr und falsch klar geschieden. Orthodoxie und Heterodoxie seien für geistige Traditionen des Ostens schlicht an der traditionellen Lehre zu messen, wobei für den Hinduismus die Veda (wörtlich: Wissen) das absolute Kriterium vorgibt. Was in vollkommener Übereinstimmung mit der traditionellen Lehre steht, ist wahr, Abweichungen sind an ihrer Absurdität und Widersprüchlichkeit zu erkennen. Heterodoxie René Guénon, Allgemeine Einführung in das Studium der hinduistischen Lehren (Original: Introduction Générale a l'Ètude des Doctrines Hindoues, 1921), zur Hand: engl. Übers., Introduction to the Study of the Hindu Doctrines, 2. Aufl., Hillsdale N.Y. 2004. 120 René Guénon, Introduction, ebd., S. 114. 121 René Guénon, Introduction, ebd., das Kapitel »Orthodoxy and Heterodoxy«. 119

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hat keine Chance, sich durchzusetzen, ja sich überhaupt zu Wort zu melden. Sollte dennoch einmal Falsches sich dem absoluten Wissen der Tradition entgegenstellen, so wird sie es verstehen, sich notfalls mit Gewalt das Wahrheitsmonopol zu sichern. Metaphysik, die sich dank ihrer methodisch unausweichlichen Selbstimmunisierung unangreifbar weiß, erlaubt keine Gegenrede. Für den Hinduismus ist der Körper schmutzig, der Geist rein. Der auch durch Waschungen nicht zu säubernde Körper erfährt durch zwischenmenschliche Intimität ein Höchstmaß an Verschmut­ zung. Davor ist der entindividualisierte geistige MENSCH absolut gefeit. Er ist EINER, der mit der Subjekt-Objekt-Beziehung such die Geschlechtlichkeit überwunden hat. Wie aber bereits Zhuang Zi zu bedenken gibt, ist der Mensch, der sich auf den Weg zum MEN­ SCHEN macht, der Mann. Entindividualisiert, wie er ist, kennt er keinen Geschlechtstrieb mehr, hat er alle Freundschaften gekündigt, ist aber doch auf Männlichkeit bedacht, sofern sie die Herrschaftlich­ keit des MENSCHEN betont. Der HUMANISMUS ist männlich. Das ist bedeutsam für die Härte des Geistigen, die jede »Vermensch­ lichung« ausschließt, und sich für den Menschen, der wir sind, stets als unmenschlich ausnimmt.

7.3 Evola I. Einer der vielen, die sich durch René Guénon anregen ließen, war der italienische Philosoph Julius Evola (1898–1974). In seinem Buch Heidnischer Imperialismus,122 das ihn bekannt macht, spricht er sich für das übernatürliche Urwissen aus, das dem übernatürlichen Urmenschen eignet, der der himmlische und männliche ist. Das Kapi­ tel »Die nordisch-solare Urtradition« setzt unmittelbar mit »unserer Wahrheit« ein, die er nicht als Mythos verstanden wissen will, näm­ lich bei der ältesten Vorgeschichte. Keine Evolutionsgeschichte steht im Blick, kein Homo erectus. Anders als der »positivistische Aber­ glaube« hält er es ganz mit der metaphysischen wahren WAHRHEIT und dem wahren WISSEN. Der metaphysische Superlativ »älteste« zeigt »geschichtlich« das Menschliche noch ganz im Verbund mit 122

Leipzig 1933. Ital. Original: Imperialismo pagano (1928).

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dem Göttlichen an. Auch der »Ort« dieser übernatürlichen Vorzeit wird durch einen metaphysischen Superlativ angezeigt: »die äußerste Thule«, die ihren Namen von der Sonne, von Apollon hat. Es ist der Ort, der dem Himmel am nächsten ist, heiliger »als jede andere Gegend«. Der metaphysische Rassist ist damit beim komplexen Ur »unserer« geistigen Eigentlichkeit angelangt: im Land des Lichts und des Glanzes der männlichen Sonne, nicht des weiblichen Mondes. Von hier geht die mächtige »Urkultur« der nordischen »Urrasse« aus, der »urarischen«. Transzendente Männlichkeit, göttliche Helden verkörpern wahres MENSCHSEIN, mit einem Wort die »Urkräfte unserer Rasse«, die Feind alles Semitischen ist. Die berufenen Wenigen jeder Metaphysik mit ihrem Anspruch auf geistige Herrschaft, die auch politische und militärische Herr­ schaft einschließen kann, ist bei Evola die von Urzeiten her auser­ wählte Rasse. Da für ihn die arische Urrasse eigentlich zur geistig-see­ lischen Herrschaft bestimmt ist, kämpft sie auch den entscheidenden Kampf um die Herrschaft mit geistig-seelischen Mitteln. Da kein Volk reinrassig ist, plädiert er für die geistige Wahl der Rasse. Dadurch haben die meisten Italiener in seinen Augen die Chance, die arisch-römische Rasse zu wählen, von der im italienischen Volke »wichtige Kerne […] im Geiste, in der Seele und sogar im Körper vorhanden sind«.123 Für die Italiener waren es nach seiner Ansicht die Kriegserlebnisse des Ersten Weltkriegs (1915–1918), die mit einer »faulen Denkungsart« ein Ende gemacht und zu geistigem Erwachen, innerer Erhöhung, ja zu einem heldischen Bewußtsein geführt haben: zur »höhere(n) Rasse«, zur »Rasse der Seele«, zur »Rasse der Front­ kämpfer«. Auf das Heldische wird nicht von ungefähr rekurriert, gilt doch für diesen Rassenlehrer, daß die Rasse nach ihrem geistigen Aspekt »männlich«, »väterlich« oder »olympisch« genannt werden kann, nach ihrem organisch-stofflichen aber »weiblich«, »mütterlich« oder »tellurisch«.124 Wieder gilt Kriegserfahrung als Grund, sich Metaphysischem zu übereignen. Der Kampf um die Macht der höheren Rasse ist als metaphysi­ scher ein Kampf um die Macht des wahren WISSENS. Bei Evola sind es der männlich-kämpferische arische Römer und arische Deutsche, deren Geist Front macht gegen die Wissenschaften. Für ihn ist 1928 Julius Evola, Grundrisse der faschistischen Rassenlehre, Leipzig o.J. (ital. Original: Mito del sangue, 1938), Kap. 8 »Das neue Italien – Die Rasse und der Krieg«, S. 97. 124 Ebd., S. 43.

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die Stunde gekommen, das Wissen der Wissenschaften endgültig aus dem Sonnenreich des arisch-nordischen wahren WISSENS zu verbannen. Vom höchsten, durch übernatürliches Licht seiner selbst genügsamen Wissen aus gesehen, herrscht strikte Hierarchie: Das niedere und niedrigste Wissen ist das der Masse, zu dem das wis­ senschaftliche Wissen zählt, das Wissen eines Albert Einstein und Sigmund Freud eingeschlossen. Das höchste Wissen ist das der geistigen Elite, die die »natürliche Aristokratie der Weisheit« bewahrt. Für den geistigen Rassisten zeigt sich damit nicht nur der Unterschied physischer und metaphysischer Erfahrungen, sondern auch der des semitischen und des arischen Wissens. Dem Wissen vom Typ des semitischen gehe es nicht um das »Seiende«, das ist das ›Unverrück­ bare«, sondern um den »Fortschritt«, um die »Moderne«. Dazu taugen Zahl und Quantität. Die »Irrealität des modernen Geistes« (!) spalte ihn vom Leben ab. »Seine Wissenschaft fügt sklavisch Abstraktion an Abstraktion«, »mechanisiert« die ganze Welt. Der Massenmensch wird bedient, die Indifferenz herrscht, das Kollektiv, die Demokratie, der Sozialismus, die Entpersönlichung.125

II. Der elitäre geistige Charakter von Evolas neuem Helden erweist sich notwendigerweise als kriegerisch, als unterwerfend und zerstörend. Die Überlegenheit der ur-arischen Ur-Rasse bleibt nicht gänzlich in die übernatürliche, übermenschliche und überrationale Wirklichkeit eingebunden, sondern widmet sich auch den für sie notwendigen Auf­ gaben auf der Erde unter Menschen. Die metaphysischen Kräfte, die ihrer Natur nach nichts als siegreich sind, haben sich unter physischen Bedingungen zu bewähren. Am klarsten wird das in dem Vortrag »Die arische Lehre von Kampf und Sieg«, den Evola im Dezember 1940 im Kaiser-Wilhelm-Institut in Rom auf Deutsch gehalten hat.126 In ihm faßt er den Gedanken seines Hauptwerks Rivolta contra il mondo moderno (1934)127 zusammen. Streng gelesen geht es in ihm einzig um den Heldentod im Kampf für Gott. Damit ist eine einzigartige Verbindung hergestellt zwischen Erde und Himmel: Der Julius Evola, Heidnischer Imperialismus, ebd., das Kapitel »Wissenschaft gegen Weisheit«. 126 Im Original veröffentlicht Wien 1941. 127 Dt.: Erhebung wider die moderne Welt, Stuttgart 1935. 125

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irdische Krieg wird zum eigentlich himmlischen Krieg. Unterwerfung, Zerstörung, Auslöschung erhalten die höchste Rechtfertigung, in Evolas Fall durch Odin / Wotan. Das Thema des gerechten Kriegs ist ausgeschaltet. Jetzt gibt es zwei Arten von Krieg, die nahtlos zusam­ mengehören: den physischen und den metaphysischen. Evola spricht vom »kleinen heiligen Krieg« und vom »großen heiligen Krieg«. Krieg ist heilig, nicht gerecht; er ist gottgefällig. Die höchstbegründete Überlegenheit der eigenen Ur-Rasse will die »Tathandlung«, braucht sie. Die Überlegenheit ist geistig, nicht notwendig physisch. Darum kann auch keine Niederlage auf dem physischen Schlachtfeld den Sieg auf dem metaphysischen Schlachtfeld verhindern. Der größte Ruhm, der absolute, ist nicht im kleinen, sondern im großen heiligen Krieg zu erringen durch den, der sich für den höchsten Gott geopfert hat. Julius Evola ist ernst zu nehmen. Das Schema seiner Metaphysik und die Absicht derselben gleichen jeder Metaphysik der westlichen und östlichen Tradition. Das gewöhnliche Leben ist zu verabschieden. Menschsein ist ab sofort rein geistiger Natur. Gegen die Wissenschaf­ ten wird ein höheres und höchstes Wissen in Anschlag gebracht, das als absolutes keines weiteren Nachweises bedarf, sondern sich als Wissen rein aus sich selbst versteht. Es geht gegen die Veräußer­ lichung des menschlichen Weltaufenthalts, positiv gewendet: um Verinnerlichung, Vertiefung und Erhöhung (Erhabenheit), um geis­ tige und göttliche Existenz. Ihn nicht ohne Witz einen »OperettenOkkultist(en)« zu nennen,128 wird ihm im Vergleich mit anderen Metaphysikern nicht gerecht. Was Rationalität und Irrationalität anbelangt, hält Evola den Vergleich mit jedem anderen aus. Der Gott Abrahams, der auch der Gott Hegels war, hat keinen begründbaren Anspruch darauf, der einzig wahre Gott der Metaphysik zu sein. Evola bedient nur eine eigene Klientel, die noch heute nicht ohne geistige und politische Bedeutung ist. Um die Besonderheit seiner heutigen Klientel kenntlich zu machen, genügt es, auf Evolas Protagonisten Steve Bannon zu verweisen.129

128 129

Wikipedia zitiert Umberto Eco. Wikipedia zu Stephen Bannon.

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7.4 Heidegger I. Als überraschender philosophischer Vertreter eines Urwissens ist der einen deutschen, genauer schwäbischen »Auftrag« übernehmende Seinsdenker aus Meßkirch anzuführen. Seine absolute Gegnerschaft zu den Wissenschaften macht er im Alter von dreißig Jahren publik. Er behält sie bis zum Ende seines Lebens bei. Seine Seinsmetaphysik, die die ekstatische Existenz als die des reinen Daß ohne Was feiert, erhebt die den Wissenschaften zu verdankende Technik, die in die Welt »hineinwütet«, in den Rang eines übernatürlichen Seinswesens und Seinsgeschicks und macht sie damit zum wahren Ausdruck der »Seinsvergessenheit« und »Seinsverlassenheit«. Der »andere Anfang«, der sich, wie er prophezeit, mit dem absoluten Ende von Wissenschaft und Technik »ereignet«, bringt die neue heile Welt. Sind erst einmal die Garanten menschlicher Selbstentfremdung und Veräußerlichung geschichtlich passé, dann sind auch die Spuren technischer Zerstörung verschwunden. »Verwüstung« und »Selbst­ zerstörung« »unseres eigenen geschichtlichen Wesens« haben ihre geschickhafte Zeit gehabt.130 Mehrfach spricht Heidegger von der »unversehrten Erde«, als wäre sie sein Traumbild des Menschheitsparadieses deutscher Nation. Die Zeit der Wenigen ist angebrochen, der durch Blut und Geist Auserwählten. Wissenschaft und Technik endgültig zu überwinden, hat nicht zum Ziel: daß eine wimmelnde Masse erhalten und ihr Lebensstandard – auch nur das wirtschaftliche Auskommen – gesichert bleibt.131

Alle Institutionen und Mittel, große Populationen am Leben und in Ordnung zu halten, erübrigen sich: Wir brauchen keine Technik und keine Politik, keine Kultur und keine Moral (Erziehungssystem) – als Ziele und Elemente des Da-seyns. Wir brauchen Lehrer, die lernen können. Wir brauchen dem zuvor die Jünglinge, die aus langsamem Wachstum reifen, das Wesen des Vaterlandes wissen und bauen zu lernen. 130 Martin Heidegger, Anmerkungen I – V (Schwarze Hefte 1942–1948), GA Bd. 97, Frankfurt am Main 2015, S. 21; 37. 131 Ebd., S. 21.

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Das Wesen des Vaterlandes ist das Abendland. In ihm werden die Deutschen erst deutsch und erkennen die Mutter von Allem: die unversehrte Erde.132

Die Deutschen, die seinsgeschichtlich erst deutsch werden, um dar­ aufhin die DEUTSCHEN zu sein, sind kein biologisches, sondern ein übernatürliches Volk. Es sind die WENIGEN, und selbst von den deutschen Dichtern und Denkern nur die WENIGSTEN. Ihnen allein denkt er die seinsgeschichtliche Heimkunft zu, die nicht als die Heimkunft des deutschen Volkes gemeint ist, sondern·als die seines geistigen Wesens.

II. Im Kriegsnotsemester 1919 nutzt Heidegger die Entwicklung der Idee der Philosophie als Urwissenschaft, um den Kampf gegen die Moderne als absolut notwendig zu begründen.133 Die Wissenschaft vor aller Wissenschaft, die keine Wissenschaft sein und werden, sondern das Vor und Ur behalten will, forscht und experimentiert nicht, stellt keine Theorien auf, kennt keine Untersuchungsgegenstände, ja überhaupt keine Gegenstände, auch keine Tatsachen. Es geht um ein »Minimum an Aussagbarkeit«, weil nur unmittelbares Erleben, der Unmittelbar­ keit der Intuition gleich, wahrheitsfähig ist. Die Urwissenschaft hat eine urwissenschaftliche Methode, keine wissenschaftliche: Wir stehen an der methodischen Wegkreuzung, die über Leben oder Tod der Philosophie überhaupt entscheidet, an einem Abgrund: ent­ weder ins Nichts, d.h. der absoluten Sachlichkeit, oder es gelingt der Sprung in eine andere Welt, oder genauer: überhaupt erst in die Welt.134

Das kann nur Einer denken und sagen, für den Aufklärung eine Vergiftung des wahren GEISTES ist und der sich zur absoluten Verklärung entschlossen hat, zur Philosophie als Gegenaufklärung. Ja, die übernatürliche Welt der unversehrten Erde, diese »weltende Welt«, wie er sie nennt, ist jenseits der Möglichkeit, »ewig Sachen

Ebd., S. 52. Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA Bd.56/57, 2. Aufl., Frank­ furt a.M. 1999, S. 15–17; 63–76. 134 Ebd., S. 63. 132

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zu erkennen«.135 Die urwissenschaftliche Methode des Zugangs zur wahren WELT ist, wie in aller Metaphysik, die Intuition (»schauend zu verstehen«) in ihrer Unmittelbarkeit und Augenblicklichkeit. So ist es in der Tat der Zauber der Silbe »Ur«, der spekulative Geister wie Schelling und Guénon, Evola und Heidegger darin vereint, den Wissenschaften etwas für sie gänzlich Unbegreifliches vorzusetzen und als »Bollwerk« ihrer Äußerlichkeit, Positivität und Agnostizität, wie sie der Masse der Vielen Rechnung trägt, entgegenzusetzen. Die Wissenschaften sind nicht zu bessern, nicht zu retten. Sie bleiben in metaphysischer Sicht heillos der Vielfalt des unter Raum- und Zeitbe­ dingungen »Erkennbaren« ausgesetzt, was jede »direkte Erfahrung« (Evola) und das heißt jede wahre ausschließt.

III. Heidegger hat nach Aufkündigung seiner Teilhaberschaft an der katholischen Glaubenswelt als Metaphysiker sein Reden von Gott, Göttern und Göttlichem verständlicherweise nicht aufgegeben. Ist auch in seinem Hauptwerk Sein und Zeit nicht von einem für ihn rele­ vanten Gott die Rede, so ist es doch ein durch und durch krypto-theo­ logisches. Der Denker eines übernatürlichen Seins, das als »Sein sel­ ber« ein Agens ist, das mit »Stößen« Seinsgeschichte in jähen geistigen Momenten sich geschickhaft als·Seinsdenkgeschichte ereig­ nen läßt, kann als der Abendländer, zu dem er sich berufen erklärt, nicht des Göttlichen entbehren. Der jüdisch-christliche Schöpfergott, der jüdische Volksgott und der Christengott werden für ihn nur dadurch nicht belanglos, daß sie seinem Denken entgegenstehen. Er wehrt sie als Fremdkörper für sein eigenes Heilsdenken ab. Hält er es nicht erkennbarerweise mit Evolas Odin, so sind es doch ausdrücklich griechische Götter, die er für kompatibel mit seinem Seinsdenken halt. Sein Kriterium ist·das »Sein selber«, das reine Daß ohne jedes Was. So steht es nun mit dem Gott seiner Herkunft genau nicht. Mit reich­ lich Was behaftet, ist er Seiendes, jedoch kein jeder Seinsbestimmtheit entrücktes Ereignis. Die weibliche Gottheit, bei der der Seinsdenker Heraklit im Tempel zu Ephesos seine Schriften hinterlegte, und die Göttin, von der der Seinsdenker Parmenides spricht, hat er dagegen, fast möchte man sagen wider besseres Wissen, für »wesende« Gott­ 135

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heiten erklärt. Sie sind nicht das Sein selber, aber dieses reine ereig­ nishafte jähe Sein läßt die Gottheiten wesen. Gern hat er darauf ver­ wiesen, daß Göttliches bei den Griechen schon immer über ihm »Waltendes« kannte: die Moira, das ist das Geschick im Sinne des Zugeteilten. Die Moira steht über Göttern und Menschen, die Moiren spinnen dem Menschen sein Geschick. Stets blieb sein Seinsgedanke mit dem Gottesgedanken verbunden, weil im ereignishaften Wesen eines Gottes für ihn die Macht des Geschicks zum Austrag kommt. Was wäre Metaphysik ohne Gott! – das gilt auch für die Metaphysik des Seins. Nicht mehr der gläubige Katholik von einst, spricht er auch noch als gefeierter Seinsphilosoph wie selbstverständlich von Gott und Göttlichem. So reüssiert er in den 50er Jahren des 20. Jahrhun­ derts mit dem Gedanken des »Gevierts«, das sind »die einigen Vier, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen«.136 Aus der Perspektive der eigenen Heimat und Herkunft greift er den Griechen geläufige Bestimmungen wie Sterbliche (brotoi, thnêtoi) und Göttli­ che im Sinne von Unsterbliche (athanatoi) auf und vereint sie zu einem ländlichen Sittengemälde. Was aber soll der Plural Göttliche, Unsterbliche? Als Metaphysiker ist Heidegger notwendig Monothe­ ist. Dazu steht er auch. Dennoch weiß er sich in seinem Seinsdenken frei, was er nicht zuletzt in seiner Auslegung philosophischer grie­ chischer Texte beweist. Wie er das Verhältnis von Denken und Dichten bestimmt, erweist er sich als frei für das Erdenken. Auch im SPIEGELGespräch, das er am 23. September 1966 in seiner »Hütte« in Todt­ nauberg führte, brachte er wieder, wie selbstverständlich, Gott ins Spiel. Angesichts der die Seinslosigkeit von Welt und Mensch ins Absolute steigernden Kräfte der Gegenwart sah er keine menschliche Möglichkeit mehr. die Seinsnacht aufzuhellen: »Nur noch ein Gott kann uns retten«.137 In der Nazizeit der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts notiert er, nachdem vom »gottausgesetzten geschichtlichen Dasein eines Volkes« (des deutschen) die Rede war: »Uns rettet nur noch die Umkehr in das noch nicht entsprungene (ursprüngliche) Wesen der Wahrheit«.138 Der Retter, der sôtêr, ist das der Heiland seiner Kindheit 136 Martin Heidegger, Das Ding, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 176. 137 DER SPIEGEL, Nr. 23, 30. Jg., 31. Mai 1976, S. 209. 138 Martin Heidegger, Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931–1938), GA Bd. 94, Frankfurt am Main 2014, S. 172.

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und Jugend, der Erlöser der Christen? Nein, das darf ja nicht wieder ein »seiender« Gott sein, der in alle Ewigkeit existiert. Ein Gott steht in Rede, nicht der Gott, ein noch nie dagewesener. Hölderlin ist es für ihn, mit dessen Dichtung sein Denken »in einem unumgängli­ chen Bezug« stehe, der »den Gott erwartet«,139 den kommenden der Erfüllung des deutschen »Auftrags«. Heidegger denkt durchgängig eschatologisch. Der kommende Gott ist für ihn der »letzte«, der nur ein deutscher sein kann, ein wesender, versteht sich, kein seiender.

IV. Heidegger hat Evola exzerpiert und demnach gelesen. So teilt er denn auch einen höchst merkwürdigen Gedanken mit ihm, daß nämlich der höheren Rasse der Sieg über die niedrigere garantiert sei.140 Sie könne zwar im physischen Krieg eine Niederlage erlei­ den, unmöglich aber im entscheidenden metaphysischen Krieg. Ein Gedanke Heideggers, zwei Jahre später geäußert, kann das erhellen. Im Stalingradwinter 1942/43141 hält Heidegger eine Vorlesung über Parmenides. In der anzuführenden Stelle geht es um das »geschicht­ liche Volk«, das das geistige Volk der Griechen war, jetzt das geistige Volk der Deutschen ist. Auf ihm ruhe das Geschick des Abendlandes und das in ihm mitgedachte Heilsversprechen. Dazu führt Heidegger in einer Vorlesungsstunde aus: Daher gilt es zu wissen, daß dieses geschichtliche Volk, wenn es überhaupt hier auf ein »Siegen« ankommt, schon gesiegt hat und unbesiegbar ist, wenn es das Volk der Dichter und Denker ist, das es in seinem Wesen bleibt, solange es nicht der furchtbaren, weil immer drohenden Abirrung von seinem Wesen und so einer Verkennung seines Wesens zum Opfer fällt.142

Das »Wissen«, das Heidegger hier vorführt, ist ein typisch metaphy­ sisches: ein seiner selbst schlechthin gewisses. Zu dieser Stelle und den folgenden zweieinhalb Seiten gibt es einen Zusatz, den Heidegger SPIEGEL-Gespräch, S. 214. Siehe oben S. 73. 141 Seit November 1942 war die 6. deutsche Armee in Stalingrad eingekesselt. Nach­ dem 146.000 Soldaten gefallen waren, kapitulierte der Rest von 90.000 am 31. Januar / 2. Februar 1943. 142 Martin Heidegger, GA Bd. 54, S. 114. 139

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nicht vorgetragen hat. In ihm insistiert er darauf, daß es für den Menschen, der zur »Wahrung der Wahrheit des Seins« bestimmt ist, darauf ankomme, den griechischen Anfang der Seinsgeschichte zu »retten«, was einzig den Deutschen herausfordert, seiner völkischen »Bestimmung«143 gerecht zu werden. Das aber heiße: anfänglich denkend in die Auseinandersetzung und die Zwiesprache mit dem Anfang eingehen, um die Stimme der künftigen Stimmung und Bestimmung zu vernehmen. Diese Stimme wird nur dort erfahren, wo Erfahrung ist. Die Erfahrung aber ist in ihrem Wesen der Schmerz, in dem das wesenhafte Anderssein des Seienden gegenüber dem Gewohnten sich enthüllt. Die höchste Gestalt des Schmerzes aber ist das Sterben des Todes, der das Menschsein opfert für die Wahrung der Wahrheit des Seins. Dieses Opfer ist die reinste Erfahrung der Stimme des Seins.144

Das also ist nach Heidegger die höchste metaphysische Heldentat: das Todesopfer des völkisch Berufenen für das Sein, das allererst dem Gott die Möglichkeit eröffnet, sein Wesen zu sein. »Wer ist der Gott? der älteste, uralte Knecht des Seyns?«145 Es ist immer wieder erstaunlich, womit Befriediger des metaphysischen Bedürfnisses Erfolg haben, in diesem Falle Welterfolg. Eint Evola und Heidegger der geistige Rassismus, dann bringen sie dafür von sich aus etwas Gemeinsames mit: den Widerwillen gegen die Moderne und ihre geistige Ödnis, die sich für beide in ihr auftut – Demokratie, kleinbürgerliche Moral, technologischer Fort­ schritt. Dagegen setzen sie die Hierarchie der licht- und seinshaften Geistesmächte, das Übernatürliche und Göttlich-Übermenschliche. Ist es für Heidegger der Deutsche, gemeint ist der deutsche Dichter, der in Hölderlins Dichtung seine Wesensorientierung hat, und der deutsche Denker, der sich am Seinsdenker des reinen Daß orientiert, dem einzig legitimen Nachfolger der von ihm zu Seinsdenkern erklär­ ten frühen griechischen Philosophen, für Evola der Ur-Arier in der gegenwärtigen Gestalt römischer und deutscher Arier, dann teilen sie auch darin ihr metaphysisches Ansinnen, wahres Menschsein geistigen Eliten vorzubehalten, die geistig berufenen Völkerschaften

143 144 145

Martin Heidegger, GA Bd. 94, S. 66: »Auftrag des Deutschen«. Martin Heidegger, GA Bd. 54, S. 249 f. Martin Heidegger, GA Bd. 97, S. 118.

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entstammen. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges notiert Heidegger für sich: »Aber wir können nicht zu den Vielen gehören.«146 Er selbst hat nie seine Philosophie gelebt, weil eine ekstatisch denkende Existenz auch gar nicht zu menschenmöglichem Existieren taugt, war aber seinem philosophischen Anspruch nach sehr wohl ein Einzelner und Einsamer, und dies als Preis dafür, Einer der Wenigen, ja ein Einzigster zu sein, der keinen individuellen Menschen, sondern das Wesen des Menschen repräsentiert: Seltsam ist, wie der Mensch an seinem eigenen Wesen vorbeiirrt und sich selbst in die Wüste jagt.147

Der Eschatologe Heidegger blickt auf ein Seinsereignis vor, das eine Singularität ist. Die damit jäh ereignete »weltende Welt« überholt an Heilsversprechen alles, was dem christlichen Glauben seine Hoff­ nung gibt. Läuft die ins Unabsehbare vertagte Wiederkehr Christi samt seinem »letzten Gericht« ins schlechthin Ungewisse, dann hat Heidegger dagegen Absehbares im Sinn. Die absolute Vernichtung der Moderne ist damit prophetisch angesprochen. Obwohl für ihn sonst jede meßbare Zeit »vulgär« ist, beginnt er mit Jahreszahlen für das Ereignis der »Letze« zu spielen, auch wenn er dem Ende von Allem (Alten) mehr Zeit läßt, als Paulus es einst getan hat, der ja ganz aus der Naherwartung heraus seine Gemeindebriefe schrieb. Sollte mit der spekulativen Philosophie Heideggers, die sich nicht anders als die von Evola im rein Übernatürlichen bewegt, die Metaphysik und das Denken Gottes vollenden, dann verdichteten sich die mehr als zwei Jahrtausende großer und kleiner Denkkunst bei ihm zu einem Bild aus dem Heimatkundeunterricht im deutschen Südwesten: Noch seltener sind diejenigen, die wissen, daß die Einkehr des Seyns in die Wahrheit das stillste Ereignis ist, das nur aus der Unscheinbarkeit gehütet und im Ungesprochenen gedacht werden darf. Und wenn nun dies, nämlich der ungesprochenen Sage des Ereignisses zu warten, hütend sie kommen zu lassen und bewahren in die Heimkunft zur unversehrten Erde unter dem ruhigen Himmel des nährenden Landes, wenn dies das Wesen eines, nämlich unseres Volkes wäre, dann müßte erst diesem Volk das Vertrauen in sein Wesen geweckt und die Zuge­ hörigkeit in sein Wesen gezeigt werden.148 146 147 148

Ebd., S. 35. Ebd., S. 28. Ebd., S. 46.

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Heidegger ist bis zu seinen Prophezeiungen hin als Seinsdenker unbe­ irrbar. In den Schwarzen Heften wiederholt er des öfteren, wie sehr er sich gewiß ist, auf dem richtigen Weg zu sein. Als Gegenaufklärer und Bekämpfer der Moderne, die ganz den Wissenschaften und dem technologischen Fortschritt ergeben ist, versteht er sich bewußt und zu Recht als Verklärer: Was lärmt, leuchtet nicht. Was nie zum Leuchten kommt, vermag nicht zu verklären. Nur was verklärt, hat Kraft.149

Heidegger weiß, was er tut: Die als ein Seinsereignis prophezeite Welt, die in ein paar hundert Jahren und damit in absehbarer Zeit den »anderen Anfang« wahr macht, ist eine entgegen jeder realistischen Zukunftserwartung des Menschen vollends verklärte. Diente den Autoren der »Genesis« das Land zwischen Euphrat und Tigris zum Bild vom Paradies, dann Heidegger sein Heimatland bis hinauf zum oberen Lauf der Donau, von ihm mit Hölderlin Ister genannt. Von dort kamen seine Vorfahren. In Wiederholung seines Jugendglau­ bens wird ihm das Herkunftsland zum Zukunftsland. Anders als die christliche Heilsgeschichte hebt Heideggers Seinsgeschichte nicht in den Himmel ab, sondern bleibt auf der Erde. Das eint Heidegger mit Evola: Mit dem Ende der wissenschaftlichen Welterklärung und technischen Weltgestaltung vergeistigt sich die Erde als Wohnstatt für den zur Herrschaft berufenen geistigen Menschen. Himmel und Erde werden nicht zur Alternative, im Gegenteil. Im Heimkunftsland wie im Herkunftsland vereinen sich Himmel und Erde, vereinen sich Divinum und Humanum, werden Himmels- und Erdgeist Eins. Evolas »ultima Thule« gibt der Realität dieses Einsseins einen Namen, wie auch Heideggers »Spiegel-Spiel der weltenden Welt«.150

7.5 Geistiger Rassismus nach Evola und Heidegger: Dugin I. Die Idee rassischer Überlegenheit und Auserwähltheit, wie sie philo­ sophische Antimodernisten im frühen 20. Jahrhundert proklamiert 149 150

Martin Heidegger, GA Bd. 94, S. 263. Martin Heidegger, Das Ding, a.a.O., S. 179.

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haben, gewinnt im 21. Jahrhundert neu an verklärender Wirkmacht. Unter ausdrücklicher Berufung auf Evola und Heidegger geht es einmal mehr um die Rettung des Wesens des Menschen. Treibende Kraft ist das Sinnbedürfnis. Nicht der Sinn des je eigenen Lebens steht im Vordergrund, sondern der des »Ganzen«: die irdische Existenz des Menschen. Im Selbstverständnis metaphysischer Geistigkeit und Heiligkeit ist ganzheitliche Sinnhaftigkeit an eine auserwählte Rasse, ein auserwähltes Volk und ein auserwähltes Land gebunden. Auf die Einigkeit von Blut und Boden kommt es an, von Herz und Seele. So wird das Auserwählte zum Ganzen, zum Ganzen des verklärten eigentlichen Humanum.

II. Menschlichem Leben und Handeln einen Sinn zu geben, vermag einzig der Mensch. Tut er es, gibt er dem Dasein des Menschen auf der Erde einen Sinn, dann kann dieser für den sinngebenden Rassisten nur er selbst sein, er selbst in der Auserwähltheit seiner Rasse, seines Volkstums, seines Landes und der Geschichte seiner Landnahme. Ein solcher Sinngeber übernimmt sich gezielt in dem, was sich als menschliches Handeln verantworten läßt. Von dem, was er tut und läßt, muß er ja nichts mehr als er selber verantworten. Jetzt handelt er im Auftrag einer Macht, die ungleich mächtiger und maßgeblicher als die eigene ist. Ganz allein durch ihn hat sie für ihn die Strahlkraft des Heiligen erhalten. Mit Heiligem läßt sich nicht rechten. Es ist für nichts zu belangen, hat sich für nichts zu rechtfertigen. Es ist der Widerstrahl der höchsten Macht, die es geheiligt hat und zu heiligen gebietet, einer Macht, die nicht greifbar, weil ins Über-Menschliche entrückt ist. Das ist der Königsweg, höchstverantwortlich ohne Eigenverantwortung zu handeln – im Dienste von Übernatürlichem. Idealistische Realität kommt ins Spiel, realer gedacht und gewußt als alle dem im Leben bewährten Reali­ tätssinn zugängliche. Alles Eigene samt dem als eigen Vermeinten wird ihm heilig und göttlich. Wer, verklärend-verklärt, von höchster übernatürlicher Wirkmacht einen Auftrag übernimmt, verwandelt sein Selbstbewußtsein in Sendungsbewußtsein. Damit verändert sich die Praxis grundlegend. Mit der Grenze zum Über-Menschlichen sind auch die Grenzen zum Un-Menschlichen gefallen. Jede Sinngebung des Menschen, in der er sein Selbst an ein Divinum übereignet, segnet sein sinnerfülltes Handeln in allen seinen Formen, und seien sie noch

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so willkürlich und unmenschlich, ab. Metaphysisches Handeln, das seiner Sinnhaftigkeit unerschütterlich gewiß ist, überschreitet bereits im Ansatz die Grenzen des Humanum.

III. Der russische Philosoph und Kremlberater Alexander Dugin (geb. 1962) hat sich in seinen Büchern als der kompromißloseste geistige Kriegsführer gegen jede Form von demokratisch-liberaler Moderne bekannt gemacht. Da er gänzlich auf spirituelle Realität im mensch­ heitlichen Endkampf des Guten gegen das Böse setzt, kann er seinen geistigen Gegner, der auf dieser einen Erde sein Gegner ist, im Absoluten festmachen: im »absolut Bösen«. Das ist der »Westen«, nicht der »Westen als solcher«, sondern der »moderne Westen«.151 Der Inbegriff dieser feindlichen Himmels- und Erdengegend sind für Dugin die USA: Das große Böse hat sich auf amerikanischem Boden eingenistet. Vom Zentrum der Hölle aus beginnt nun die letzte Revolte, das Große Erwa­ chen.152

Allein schon die Sprache verrät, daß Irrationalität nicht mehr durch Rationalität ausbalanciert wird, ja überhaupt eine Einschränkung findet. Dugin ist radikal einseitig. Die Kraft des Geistes hat der Ver­ klärung zu dienen, nichts sonst. Dieser Vorsatz des Vergeistigens ist in Anbetracht des Humanum alles andere als harmlos. Das Verklären, wie es als Weihen und Heiligen gemeint ist, macht es sakrosankt: höchst heilig und unverletzlich. Der Krieg gegen die Mächte der Hölle ist der heilige Krieg des Guten gegen das Böse, der jedes Mittel, das dem Sieg über es dient, heiligt. Das Autodafé eines Giordano Bruno und einer Jeanne d’Arc waren höchstheilige Akte und Freudenfeste des Guten. »Putins Rußland«, wie Dugin es nennt, sieht er auf dem Weg zum Guten, das heißt auf dem Weg zum Sieg über das Böse. Dabei hält er es mit Evola: Ein geistig und geistlich geführter Krieg kann Zitiert aus Alexander Dugin, Das Große Erwachen gegen den Great Reset, London 2021, das aktuellste Buch Dugins, das zum Teil bereits 2015 verfaßt, von dem aber über die Hälfte im Jahre 2021 geschrieben wurde und mit dem Trump »gestohlenen« Wahlsieg Bidens beginnt. Auch alle weiteren hier angeführten Zitate stammen aus diesem Buch. 152 Ebd., S. 54.

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nur heilig und kann nur siegreich sein, nicht notwendig, aber doch am besten auch als auf der Erde geführter physischer. Stolz verweist er darauf, daß dieses Rußland über Atomwaffen verfüge. Doch sein Land des Guten befinde sich im Krieg »nicht mit den USA als solchen«, sondern allein mit der einen Hälfte, den Demokraten, diesen dem Westen seine Seele, seine Identität raubenden Demokraten unter Biden, nicht aber mit den »Trumpisten«, die für die Identität der guten USA stehen.153

IV. Dugin ist philosophisch versiert genug, um zielsicher den Graben abstecken zu können, der in der geistig-kulturellen Tradition des Westens das Gute vom Bösen durch einen Abgrund trennt. Platons Gedanke der Idee als des eigentlich Wirklichen ist für ihn in diesem Feld der einzigartig maßstabsetzende Ausgangspunkt für alles Gute. Der Idealismus ist der wahre Realismus – das ist die Quintessenz, in der das heilige Abendland zu seiner Identität gefunden habe. Spiritueller Realismus, der nichts Beobachtbares und Erkennbares, nichts Physisches und Materielles, ja eben nichts wissenschaftlich Zugängliches und Überprüfbares für wirklich gelten läßt, sei einzig und allein für wahre Realitätserfassung offen. Das ist traditionelle Metaphysik in reinster Form, wie sie bereit René Guénon als das geistig absolut Verbindliche wiederherstellen wollte. Philosophie, die sich aus dem Sacrificium intellectus speist – das ist idealistische Phi­ losophie von Platon bis zu den Deutschnationalen Fichte, Schelling und Hegel. Die deutschen Idealisten führen meisterhaft vor, wie Verstand und Vernunft sich über sich selbst hinwegsetzen, um alles groß zu Denkende (Platons megista), ist es nur rein gedacht, und dies als die reine Bedeutung des Begriffsworts (Platons Orthologie), für das ein­ zig Wirkliche zu erklären: für das wahrhaft Wirkliche, das in Wahrheit Überwirkliches und damit Nichtwirkliches ist. Wie gefährlich dies rein Gedachte ist, läßt sich freilich nicht in philosophischen Debatten erfahren, sehr wohl aber dort, wo das rein gedachte Gute gegen 153 In dem Artikel »Der Philosoph hinter Putin« in Die Tageszeitung vom 7. März 2022 wird darauf hingewiesen, daß über Dugin Heideggers Denken Eingang in die Ideologie der deutschen Identitären gefunden hat.

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7. Urwissen

das rein gedachte Böse sein rein gedachtes wahres Wirkliches mit tödlicher physischer Gewalt zum Sieg zu führen sucht. Den Geist des Guten findet Dugin auch in der Religion, der, was die Identität des Westens anbelangt, in der katholischen Kirche bewahrt sei. Da gilt ihm Thomas von Aquin als Garant dafür, daß der Mensch seine Tiefe behält und nicht dem Fortschritt verfällt und der Wahrheit, wie sie als wissenschaftlich gesichert gilt. Der heilige Thomas ist der »Realist«, für den Wunder und Engel das eigentlich Reale sind, die Kirche, die die Gläubigen vereint, der Leib Christi. Als die Frage aufkam, ob man noch Engel und Teufel für den christlichen Glauben brauche, war es in der Tat dieser Scholastiker, der neu die Möglichkeit und Notwendigkeit des Teufels nachwies. Auf seine Argumente berief man sich, als die kirchliche Institution der Inquisition damit begann, aus Frauen Hexen zu machen und zu töten. Für Dugins Sendungsbewußtsein ist es typisch, das Verklärungs­ potential der katholischen Kirche auf das Freundliche und Einladende zu beschränken. Hexenverfolgung mit historisch gesicherten Opfer­ zahlen – das wäre Aufklärung, wäre Geist des Bösen. Die reine Verklärung ist die unerläßliche Voraussetzung für den reinen Geist des Guten. Junge Frauen zu foltern, um sie als Hexen verbrennen zu können, ist für den katholischen Glauben wohlgetan, weil es ein Handeln zugunsten des Glaubens ist. Doch das für erfolgreich angesehene Mittel ist nicht das Ziel des Glaubens, ist, von wohlmei­ nender dritter Seite aus beurteilt, ein Kollateralschaden, nicht mehr. Ziel ist die verklärende Vereinnahmung der Seelen. Dazu bedarf es der realen Wunder: der Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, der Auferstehung des Toten mit seiner leblosen Leiblichkeit in den Himmel, der nicht der gestirnte Himmel der Erde ist, sondern jenseits des Kosmos und alles Materiellen im rein Pneumatischen liegt.

V. Der Mystiker und der Mythologie zugeneigte Denker Dugin bewährt sich auch als Geopolitiker. Die Erde ist für ihn nicht nur bedeutsam als das im Religiösen Andere zum Himmel, sondern auch als das machtpolitisch Andere zum Wasser. Das Wasser ist das Atlantische, sind die teuflischen USA: die Erde ist das Eurasische Land, ist das heilige Rußland. Realismus und Mystizismus, der aufgeklärte und der verklärende Blick verbinden sich: Die Erde ist fest, das Wasser nicht.

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Um in der Erde das Bleibende, eben das Sein zu erkennen, im Wasser das Vergängliche, eben das Nichts, nimmt Dugin, ganz im Sinne von Evola, Himmelsrichtungen hinzu: den Norden als das Heilige, den Süden als das Verweichlichte. Dugin ist auch von Guénon beeinflußt. Sein Wissen jenseits des wissenschaftlichen ist ein kosmisches. Sah Schelling die Deutschen für Urwissen als besonders geeignet an, dann lag darin auch das Wissen beschlossen, daß wahrhaft menschliches Menschsein als geistiges sich im Deutschen vollendet. Dugin denkt nicht weniger nationalistisch: Die wahre Heiligkeit des irdischen Menschen ist dem russischen Volk vorbehalten. Deswegen kann ein Kampf für das Gute gegen das Böse, soweit sich dabei das Eurasische und Atlantische bekämpfen, im wesentlichen allein der Kampf Ruß­ lands sein, was den Auftrag einschließt, den modernen Westen zu besiegen und zumindest Europa soweit in die Gewalt zu bekommen, um ihm seine philosophische und religiöse Selbstverklärung zurück­ geben zu können. Leitbegriff für die zu erringende Freiheit vom Bösen ist das Volk, das, in Heimat und nächster Umwelt geborgen, seine Tradition mit dem ganzen Reichtum ihrer verklärenden Rituale lebt. Heidegger folgt Hitlers Ankündigungen in Mein Kampf (1927), wenn von ihm Januar 1934 auf der ersten Seite der Freiburger Studentenzeitung zu lesen war: Bleiben wir in der südwestlichen Grenzmark der Verlagerung des politischen Willens der Deutschen nach dem Nordosten gewachsen? Werden wir diesem Geschehen schöpferische Kräfte zuführen? Oder sollen wir mit dem ganzen Westen langsam überaltern? Das ist die Entscheidung für die künftige politische Einsatzfähigkeit der Volkskraft unseres Landes. Die Entscheidung fällt je nachdem es gelingt, das unverbrauchte Alemannentum aus der überlebten Bürgerlichkeit und harmlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat umzuerziehen zum Mitwollen des nationalsozialistischen Staatswillens.154

Dugin führt den Kriegsführer Putin, wenn er ihm einflüstert, »Putins Rußland« müsse am Ende das ganze Rußland sein, die ganze heilige russische Erde, das ganze heilige russische Volk. Sein heiliger Krieg muß und kann sich nicht rechtfertigen. Rechtfertigungen von Praxis setzen Individuen voraus, die logisch 154

Siehe Verf., Heidegger lesen, München 1991, S. 99.

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7. Urwissen

konsequent argumentieren. Doch Dugin will auf der Seite des gehei­ ligten Guten rein die Verklärung dominieren lassen, die bewußt jede Form von Aufklärung bekämpft und somit für eine volksweit nicht als Dummheit gewußte Dummheit eintritt. Die katholischen Priester reden lateinisch. Das Volk, gemeint ist das treue Kirchenvolk, soll sie nicht verstehen, kann sie nicht verstehen. Als für heilig und geistig erklärte Körperschaft soll es diesseits jeder entwickelten Individualität bleiben, und bleibt es auch. Akzeptabler, ja eben wün­ schenswerter christlicher Glaube des Westens muß ein katholischer sein, ein gänzlich allgemeiner, von keinem Individuum zu verant­ wortender, und damit ja kein von Luther inspirierter, sich selbst in Sekten zerlegender. Schon Heidegger hatte ihm vorgemacht,155 daß mystisches Sein von einem Individuum zwar propagiert, aber nicht gelebt werden kann, wenn er im Juli 1924 ausgerechnet vor protestantischen Theologiestudenten klarmacht, daß eine zuhöchst ekstatisch-transzendierende Existenz individuiert, indem sie entin­ dividualisiert.156 Antiindividualismus als Kritik des Stärkeren und Vitaleren, der nichts als eigene Interessen im Sinn hat und jeden Vorteil für sich wahrnimmt, ist durchaus angebracht. Adam Smiths »verborgene Hand«, die den Egoismus für das Gemeinwohl wirken läßt, ist eine wissenschaftliche Lüge. Doch bei Dugin ist es die Summe seiner geistigen Feinde, die jeden einzelnen zu einer Ausgeburt der Hölle macht. Zur Kennzeichnung der Feinde von Dugins und Putins Rußland gehört unabdingbar, daß sie antispirituell und antisakral, daß sie aufklärerisch, wissenschaftlich und materialistisch sind.

VI. Für die erhellend Aufklärenden ist der Widerstreit im Wissen von besonderer Bedeutung, der im Rekurs auf ein höheres und tieferes Wissen, als es das wissenschaftliche ist, zutage tritt. Wissenschaft­ liches Wissen ist gewußtes Wissen, und dies zumindest auf Zeit. Wissen, das unter Urwissen firmiert, ist dagegen Unwissen, und dies auf immer. Jede Sinngebung für das Leben und Handeln, die sich aus geistiger Transzendenz herleitet, basiert auf dem Nichtswissen von Dugin nennt nach den deutschen Idealisten und Nietzsche Heidegger als von ihm geschätzten Philosophen. 2011 veröffentlichte er auf Russisch das Buch Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie. 156 Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit, Tübingen 1995, S. 27. 155

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A. Verklärende Philosophie

Nichtwißbarem, als für zuhöchst und zutiefst vermeintem Gewußten. Wird für die Durchsetzung von Nichtwißbarem als Gewußtes Krieg geführt, und dies nicht allein geistig, sondern auch mit von Menschen gefertigten tödlichen Waffen, dann zeigt der fortschrittsfeindliche heilige Krieger keine Skrupel, zugunsten der Tötung der Freunde des Fortschritts vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt Gebrauch zu machen. Das tut er auch sonst, wenn es um die Erhaltung des eigenen Lebens und die Verbesserung eigener Lebensumstände geht. Kriege, wie sie Evola und Dugin zu Hauptpunkten ihres geisti­ gen Gesamtprogramms machen, sind Angriffskriege, keine Verteidi­ gungskriege. Wie sie ihr rassisch, völkisch, heimatlich und kulturell Eigenes auslegen, haben sie Feinde rein von Natur aus. Das aber sind Feinde, die es notwendig zu vernichten gilt, weil nur das Eigene gut ist. Das führt dazu, daß Rassisten sich von Natur aus in der Gefahr wähnen, das Eigene zu verlieren. Darum verstehen sie die von ihnen geforderten wie geführten Angriffskriege als Verteidigungskriege. Sie wollen mit ihnen ja nicht mehr und nicht weniger erreichen, als das Eigene endgültig zu schützen, zu welchem Ziel allein Angriffskriege als Vernichtungs- und Unterwerfungskriege führen. In der durch Selbstverklärung erworbenen Gewißheit, fähig und einzigartig wür­ dig zu ein, mit dem ihnen Eigenen das Ganze zu repräsentieren, ist der Geist seiner selbst sicher, für nichts als das Gute »ins Feld zu ziehen«. Heiligen, mit metaphysischer, Verstand und Vernunft außer Kraft setzenden Notwendigkeit geführten Kriegen tut es keinen Abbruch, wenn sie neue Marken des Unmenschlichen setzen.

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B. Verklärende Religion

1. Der Glaube an Gott I. Der Gott monotheistischer Religionen hat allem zuvor Eines im Sinn: Er will geglaubt werden. Er muß es ja auch, denn ohne Glauben an ihn gäbe es ihn nicht. Den einzig möglichen Gottesbeweis erbringt der Glaube an Gott, und dies rein dadurch, daß und insofern der Gläubige an Gott glaubt, daß und insofern er allein für ihn bestimmte rituelle Handlungen vollzieht. Mit diesem Einen hat der monotheistische Gott noch ein Weiteres im Sinn: Er will und muß geglaubt werden, unverwechselbar Er und kein anderer. Wird ein an ihn Glaubender abtrünnig und glaubt an einen anderen Gott, dann erweckt das seine Eifersucht, obgleich Er diesen »anderen« gar nicht für einen Gott, sondern für einen Götzen ansieht. Existiert Er allein als geglaubter, dann ist Er aus existenziellen Gründen ein eifersüchtiger Gott.157 Die Schreiber heiliger Texte, diese Mitdichter an mündlicher und schriftlicher Überlieferung, die mitverantwortlich für das Erdichtete sind, verfahren höchst einfühlsam und einsichtig. Was aber überzeugt einen Gläubigen, daß der Gott, der da geglaubt werden will und muß, auch wirklich der Gott ist, den er nun seinerseits glauben will und muß? Gleiches fragt sich das Volk, dessen Treue zu seinem Gott prinzipiell zur Disposition steht. Erwirkt die Einsozialisierung in einen religiösen Glauben keine felsenfest Treue, sondern bleibt für den Gläubigen eine Wahl, dann kann es nach menschlicher Wählart nur die Frage nach dem besseren Gott sein. Das ist für den Gläubigen eine Frage seines lebensgeschichtlich und zeitgeschichtlich bedingten Glaubensbedürfnisses. Es gibt Zeiten, in denen ganz offensichtlich nicht der gütigere, sondern der mächtigere Gott die erste Wahl ist.158 Glaubt der Gläubige, dank Gott den Feind in der Gestalt eines anderen 157 158

5. Mose 32,16. 2. Mose 14,11; Psalm 24,8.

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B. Verklärende Religion

Menschen oder Menschenvolks besiegt zu haben, dann ist das für ihn ein aktueller Gottesbeweis, wiederum sola fide, nämlich dafür, daß der eigene Gott der glaubwürdigere, weil im Sichmessen von Gott und Gott überlegene ist. In hoc signo vinces – nach der geglaubten Legende, daß diese Worte mit einem Kreuz vor einer Schlacht im Jahre 312 n. Chr. am Himmel erschienen, die den prochristlichen römischen Kaiser siegen ließen und damit den Sieg des Christenglaubens über anderen Glauben im Römischen Reich und in ganz Europa einleitete, ist ein sehr menschlicher Beweis für den mächtigeren Gott als den zu Recht geglaubten Gott. Aber ein Gottesbeweis ist eben auch allein als Glaubensbeweis möglich, in diesem Falle der Glaube an Gott als Bewährung des Gottvertrauens. Sich als der mächtigere, wenn nicht mächtigste Gott zu erweisen, reicht für den Glaubenden nicht zu, um unverbrüchlich in seinem Glauben zu bleiben. Im Sichmessen der Götter spielt sich etwas vor den Augen des Gläubigen ab, nicht aber, was ihn unmittelbar selbst ergreift. Die Schreiber heiliger Texte erwiesen sich in ihren·Gott­ bezeugungen als Menschenkenner: Erst Gottesfurcht macht den geglaubten Gott für den Glaubenden zu dem, der ihn zu einem Gottesglauben anstößt, der nur der Glaube an ihn in seiner Unver­ wechselbarkeit sein kann. Wer keinen anderen Gott fürchtet als seinen Gott, braucht keinen anderen Gott, weiß von keinem anderen: Mich, Mich allein sollt ihr fürchten.159

Verhält es sich so, dann ist nicht das Furchterregende in der Lebens­ welt, das den Menschen übernatürlichen Beistand suchen läßt, das eigentlich Furchterregende, sondern der zu glaubende Gott ist es, und eben dies als der höchste Beistand in den Fährnissen des Lebens. Der Gott des Neuen Testaments steht darin dem Gott des Alten Testaments nicht nach. Das meint nicht die Furcht der Jünger, denen Jesus in seinem Reden, Tun und Erscheinen unheimlich wird,160 sondern die Drohungen in seiner Werbung für das Geglaubtwerden: Er muß geglaubt werden. Wer dem nicht nachkommt, begeht eine Sünde, die mit ewiger Verdammnis bestraft wird.161 Jesus, wie er als der geglaubt wird, der als Christus aus dem Himmel wiederkehrt Koran, Sure 2,41, in: Bernhard Uhde (Hg.) (trad. A.M. Karimi), Freiburg/ Basel/ Wien 2009, S. 8. Vgl. 2. Mose 14,31; Hiob 1,1; Psalm 111,10. 160 Markusevangelium 9,6. 161 Matthäusevangelium 25,41 et al. Für mich oder gegen mich, des Himmels oder der Hölle ist die Parole Jesu, die das Evangelium beherrscht. 159

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1. Der Glaube an Gott

auf die Erde, tut dies als Herr des »letzten Gerichts«, das nur zwei Urteile kennt: höchste Wonne oder fürchterlichste Pein. Zur Aufzäh­ lung der Eutychien im Matthäusevangelium (Bergpredigt) gehören notwendig die im Lukasevangelium aufgezählten Dystychien: zum ewigen Lachen das ewige Weinen. Für den an Gott Glaubenden, der sich des Mitschöpfertums seines Glaubens nicht bewußt ist, muß das eine erregende Aufklärung sein: Die Furcht, die zu Gott führt, ist die Furcht vor Gott. Gott ist groß – das ist der Grundtenor der Rede von Gott in den monotheistischen Religionen: Er ist groß und mächtig, groß und furchterregend (phoberos).162 Er hat, wie er sich dem Gläubigen offenbart, »große und furchtbare Dinge« getan.163 Das bringt die Verfasser heiliger Schriften nachgerade ins Schwärmen: Gottesfurcht ist aller Weisheit, Erkenntnis, Fröhlichkeit Anfang (archê), ist Quelle des Lebens.164 Den Anfang der Beziehung von Gott und Mensch, Mensch und Gott machen nicht fürsorgende Liebe (agapê) und Gnade (charis), Mitleid und Barmherzigkeit, Weltnot und Weltangst, son­ dern die furchterregende Größe und Mächtigkeit Gottes.165 Was für eine Auskunft über den Menschen! Braucht er, der göttlicher Hilfe bedürftig ist, ein festes Verhältnis zu Gott, dann gerät ihm der absolute Schrecken zum festesten Bindemittel. Daß der Gläubige in seinem Glaubensleben zumeist den gütigen Gott braucht, hebt das Bedürfnis nach Furcht und Schrecken nicht auf, auch beim Christusglauben nicht, wenn doch schöpferischer Glaube ihm die Drohung mit fürch­ terlichstem Feuer in den Mund legt, gegen all die gewendet, die es ihm nicht abnehmen, der Messias zu sein.

II. Ein weises jüdisches Wort lautet: »Es kommt nicht darauf an, daß Gott existiert, sondern daß er geglaubt wird«. Daß am religiösen Glauben der Glaube das Wertvollste ist, erweist sich beim Verlust des Glaubens, geht doch mit ihm der beherzt Gläubige sich selbst verloren. Aber auch für Gott hängt alles am Geglaubtwerden. Geht Siehe u.a. 5. Mose 10,17; Koran, a.a.O., Sure 31, S. 341. 5. Mose 10,21. 164 Psalm 111,10; vgl. Hiob 28,28; Sprüche 1,7; Sirach 1,12. 165 Wiederholt findet sich in Bibelübersetzungen »der große und schreckliche (krata­ ios, ischyros) Gott«. 162

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B. Verklärende Religion

ihm der Glaube seines Volkes verloren, ist er kein Volksgott mehr. Erlischt allgemein der Gottesglaube, gibt es keinen Gott mehr. Darum wird der Gläubige von seinem Gott am ernstesten und härtesten nicht Liebesprüfungen unterzogen, sondern Glaubensprüfungen. Für den Muslim ist das Leben eine einzige Glaubensprüfung. Er besteht sie, indem er sich fünfmal am Tag vor Gott niederwirft, Almosen gibt und an die Freuden im Paradies glaubt, deren er sich im Diesseits nach Möglichkeit enthalten soll. Auch wenn er dabei bezeugt, daß er die Härten und Unglücksfälle meistert, in seiner Erfüllung der Gebote nicht nachlässig und unwillig wird, ist das eine noch geradezu weiche Prüfung gegenüber dem, was sich der jüdisch-christliche Gott an Prüfungen erdenkt, und dies gar noch mit Hilfe des Satans. Die Geschichten von Hiob, von Abraham und Isaak erzählen das auf dramatische Weise. Wie der gefürchtete Gott den Gläubigen auf die Probe stellt, will er nichts darüber erfahren, wie dieser es mit dem gewichtigen Gebot »Liebe deinen Nächsten als dich selbst!«166 hält, sondern wie keine Demütigung, schmerzliche Behandlung, Beraubung, ja herzbrechende Forderung es vermögen, den Gläubigen von seinem Glauben an den Gott abzubringen, den er ja nicht allein fürchtet, sondern dem er auch zu danken hat. Ist Gottesfurcht auch der Anfang des Gottesglaubens, so besteht der an Gott Glaubende seine Glaubensprüfungen doch nicht aus Furcht vor Gott. Die Glaubensstärke beruht vielmehr auf dem intims­ ten Glaubensgehalt, der den Bund von Gott und Mensch als Bund besiegelt, auf der Treue und Verläßlichkeit Gottes, die für den jüdi­ schen Glauben der Inbegriff der göttlichen Wahrheit (emmeth) sind. Allmacht, Allwissen, Allgüte – das alles steht nicht im Vordergrund, wenn es um den Bund von Gott und Mensch, Mensch und Gott geht. Da zählt allem zuvor die Ewigkeit, als Trost zum Menschen gesprochen, sein »alle Tage«.167Der unerschütterliche Glaube braucht einen unerschütterlichen Grund, den es in der physischen Welt nicht gibt. Allein dank religiöser Poesie gibt es für den Gläubigen einen festesten Halt, der noch den festesten Halt im zeitlichen Leben, die Gewißheit des eigenen Todes, übertrifft. Der geglaubte und in den Glaubensprüfungen des Lebens bewährte unerschütterliche Gott, der alle Macht in der übernatürlichen Welt hat, das ist das Grundbedürf­ nis des Menschen, der an den einen Gott glaubt. 166 167

3. Mose 19,18. Matthäusevangelium 20,20.

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2. Glaubenswahrheiten

2. Glaubenswahrheiten I. Religiöser Glaube kann nicht falsifiziert werden. Die Beziehung der glaubenden zur geglaubten und der geglaubten zur glaubenden Unerschütterlichkeit liegt gänzlich im Übernatürlichen. Daß Jesus gekreuzigt und begraben wurde, ist die Behauptung einer historischen Tatsache. Sie ist prinzipiell falsifizierbar, weil das zu ihr gehört, um wahr sein zu können. Daß aber Christus Jesus auferstanden ist, zeigt unmißverständlich an, daß kein Historiker spricht, sondern ein Gläubiger: Er glaubt an den Gesalbten, an Jesus, der Christus ist, als Messias. Auch er hält sich an eine Tatsache, aber an eine, die keine historische ist und unmöglich eine historische sein kann. Nicht allein die leibhafte Auferstehung, sondern bereits Kreuzigung und Beerdi­ gung, sollen es die von Gottes Sohn sein, sind Glaubenstatsachen. Glaube ist schöpferisch; er schafft Tatsachen. Als solche können sie nicht falsifiziert werden, und zwar prinzipiell nicht. Der Glaube, der sie geschaffen hat, ist in sich ihre Verifikation. Der an Christus als Gottes Sohn Glaubende mag in der Kirchenbank sitzen oder auf dem Motorrad, sofern er dieses religiösen Glaubens ist, gehört er der Glau­ benswelt zu, nicht der Lebenswelt. In dieser ist nichts aufzuspüren, das sola fide existiert. Darum hat der Gläubige in der physischen Welt und für sie auch nichts zu beweisen. Wer in fruchtbarer Caritas und Diakonie die Glaubenswelt unmittelbar in der Lebenswelt vor sich zu haben meint, wird sich der Einsicht nicht widersetzen können, daß in dem fruchtbaren Tun nichts Übernatürliches zu erkennen ist, weil dazu überhaupt keine Möglichkeit besteht. Daß der Glaube an Übernatürliches ein Handeln in der gemeinsamen Lebenswelt motiviert, läßt den Menschen, der dieses Handeln bewundert und lobt, in ihm nichts Übernatürliches erkennen. Er sieht tatsächliches Geschehen in der Lebenswelt, aber keine Glaubenstatsachen. Die gibt es allein für den Gläubigen, der über ihre einzigartige Methode der Verifikation verfügt, eben über den Glauben: Diejenigen aber, die glauben, wissen, dass die Wahrheit von ihrem Herrn ist.168

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Koran, a.a.O., S. 7.

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B. Verklärende Religion

In der übernatürlichen Beziehung von an Gott Glaubendem und geglaubtem Gott können Glauben und Wissen, was Wahrheit betrifft, nicht differieren: Was von Gott geglaubt wird, wird von ihm gewußt; was von ihm gewußt wird, wird von ihm geglaubt. Wer an Gott glaubt, kann sich in Anbetracht des Geglaubten nicht täuschen: denn ich weiß (oida), an wen ich glaube, ....169

Die metaphysische Welt des Homo religiosus, zu der er sich als sie Bewohnender nie anders als mitschaffend verhält, läßt ihn ihr gegen­ über keine Perspektiven einnehmen und keinen täuschenden Spiege­ lungen ausgesetzt sein. Mit untrüglicher Selbstgewißheit steht er in ihr in Bezug zu WAHREM und nichts als diesem. Wer den geglaub­ ten Gott Himmel und Erde geschaffen haben läßt, kann unmöglich darin fehlgehen, daß Gott das getan hat. Glaubenstatsachen haben weder Möglichkeit noch Notwendigkeit, vor naturwissenschaftlicher Gerichtsbarkeit zu bestehen und sich als Glaubenstatsachen zu recht­ fertigen. Der einzig mögliche Gerichtshof für die Glaubenswahrheiten einer Schaffensgemeinschaft ist die zuständige Orthodoxie. Wie in der Demokratie ist es die Mehrheit der von Gläubigen Delegierten, die der Orthodoxie ihre Legitimation verschafft und damit zur gültigen Orthodoxie macht. Daß nicht die Mehrheit entscheidet, sondern dafür höhere geistige Mächte im Spiel sind, zeichnet die Mehrheit aus, die in einer anderen Welt abstimmt. Es stellt ein erhebliches Selbstmißverständnis religiösen Glaubens dar, wenn Evangelikale gegen Natur- und Geschichtswissenschaft zu Felde ziehen. Hat es im Weltall Milliarden von Jahren gebraucht, bis auf dem Planeten Erde die Evolution des Lebens den modernen Homo sapiens zum Ergebnis hatte, so für den jüdisch-christlichen Glauben vor ein paar tausend Jahren fünf Tage. Das widerspricht sich nicht, weil beide Rech­ nungen unterschiedlichen Tatsachenbereichen zugehören, die ihre Verifikationsmethoden unmöglich teilen. Das setzt freilich voraus, daß religiöser Glaube von jeglichem Realitätsmißverständnis befreit ist. Versteht sich das dem Glauben gleiche Wissen gegenüber dem wissenschaftlichen als das WISSEN der verklärten WIRKLICHKEIT, dann bedarf es der erhellenden, nicht der entzaubernden Aufklärung, daß die vom Glauben geschaffene übernatürliche Welt eine verklärte ist. Die Aufklärung religiösen Glaubens über seine verklärende Natur ist unverzichtbar, soll der Mensch dazu kommen, ohne Widerspruch 169

2. Timotheus 1,12.

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2. Glaubenswahrheiten

im Gemüt und im Geiste zu seinen beiden Grundbedürfnissen zu stehen: zu Aufklärung und Verklärung. Wie großartig wäre es gewesen, der Meisteraufklärer über christ­ lichen Glauben, Ludwig Feuerbach, hätte erhellend und nicht ent­ zaubernd aufgeklärt. Dieser Hegelschüler, dessen Hegelkritik dem Kritisierten an philosophischer Klarsicht bei weitem überlegen ist,170 konnte und wollte in einer Religion wie der christlichen keine Sonderund Hochform der Poesie sehen. Er spricht vom »kindisch-phantasti­ schen Sinne unserer christlichen Mythologie, die sich jedes Ammen­ märchen der Historie als Tatsache aufbinden läßt«.171 Erwiese sich freilich christlicher Glaube als aufklärungsresistent und verbliebe er in seiner Unterscheidungsunfähigkeit von Lebenstatsachen und Glau­ benstatsachen, verspielte er von sich aus sein poetisches Potential und Feuerbach behielte am Ende Recht.

II. Der Glaube an den einen Gott, wie er glaubend hervorgebracht und im Glauben gebraucht wird, ist, im Bild gesprochen, nicht der des Kopfes, sondern der des Herzens. Monotheistischer Gottesglaube hat nicht vorrangig, wenn überhaupt die theoretische Bedeutung des Für-wahr-haltens, sondern die praktische des Vertrauens. Die Juden haben dafür das Wort emmeth, wie schon bemerkt, die Treue und Verläßlichkeit Gottes als seine Wahrhaftigkeit. Darum ist der alberne Einwand gegen Gottes Allmacht, daß er doch nicht lügen könne, den Augustin mit dem Argument entkräften will, daß Gott nur das könne, was er können will, schlicht ein Mißverständnis des Glaubens. Der Gläubige hat mit der Logik des Einwands schlechterdings nichts zu tun, weil er nicht den Gott betrifft, den er glaubend schafft und im Glauben braucht. Sein Glauben als Vertrauen baut auf den absolut verläßlichen Gott und damit auf seine unverbrüchliche Treue: Ja, aufrichtig ist das Wort des Herrn und alle seine Taten in Treue.172 170 Ludwig Feuerbach, Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839), hg. von Wolfgang Harich, Berlin 1955. 171 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Köln 2014, S. 9 (aus dem Vorwort zur l. Aufl., Leipzig 1841). 172 Psalm 33,4. Eig. Übers. im Anhalt an Bibel in gerechter Sprache, 3. Aufl., Gütersloh 2007, S. 1070.

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B. Verklärende Religion

Glauben als Vertrauen schafft ein wechselseitiges Treueverhältnis: Die eine Treue bedingt die andere. Den monotheistischen Glauben gäbe es nicht, wenn die Götter nicht so wären, wie sie geglaubt werden. Gerät ein Glaubender aus gegebenem Anlaß in Zweifel an der Treue Gottes, dann ist die Rekapitulation der ganzen Fülle seines Glaubens an ihn der Weg, aus dem Glauben heraus jeglichen Zweifel am Glauben zu überwinden.173 Wissenschaftliche Erkenntnisse sind in der Regel Forschungser­ gebnisse. Religiöser Glaube forscht nicht, wenn das hieße, zu experi­ mentieren und die Methode des trial and error anzuwenden. Die Welt des christlichen Glaubens kennt auch keine Brüche und Zufälle. Sie ist eine Welt des Glanzes und des Lichts, eine Welt der Offenbarung, die im wahren Sehen des Glaubens alles als Werke Gottes sehen läßt. Der Christus mit Dornenkrone am Kreuz verdüstert dieses Bild nicht, ist er doch der Vorschein der Auferstehung ins ewige Licht. Durch die Gewißheit der Wahrheit der Frohen Botschaft weiß sich der Christusgläubige als Teilhaber einer Heilsgeschichte mit ihrem großen Finale. Für ihn, weil er glaubt, geht alles zum Guten aus. Mag es im Leben auch noch so unheil zugehen, so ist doch, bleibt der Glaube fest, alles wohl gefügt und von Gottes Zusage durchherrscht.

III. Stehen die Welt des Glaubens und die Welt des Lebens zu Zeiten in krassem Widerspruch, dann muß das überraschenderweise den Glau­ ben nicht in Frage stellen; es kann ihn stärken. Kirchenlieder, gedichtet und vertont, um als Gemeindegesang den Glauben zu bekräftigen, wollen nie weniger als alle Gläubigen, in welcher Gegenwart auch immer, in die Fröhlichkeit und Dankbarkeit des Glaubens einbezie­ hen. »Nun danket alle Gott« ist solch ein Lied aus den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts. Es singt davon, daß Gott »große Dinge« an »uns« tut, und zwar an »allen Enden«. Das wird gesungen im Dreißigjähri­ gen Krieg, der weite Teile Deutschlands verwüstet und bis zur Hälfte der Bevölkerung kostet, und dies noch lange vor dem »Frieden« (1648), der als vertraglich beschlossener noch auf lange hin keine friedlichen Zustände schafft. Ist solch ein übernatürlicher »Dank« für irdisches Geschehen und Ergehen, das Greuel und Elend in unbe­ kanntem Ausmaß brachte, nicht obszön, ja pervers? Auch die Rück­ 173

Hervorragend vorgeführt im Psalm 77.

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2. Glaubenswahrheiten

kehrer aus Kriegsgefangenschaft in Sibirien nach dem Zweiten Welt­ krieg hatten bei ihrer Ankunft im Durchgangslager Friedland dies Dankeslied zu singen. Victor Klemperer, ein deutscher Jude, berichtet in seinen Tagebüchern unter dem Datum vom 19. August 1942 vom Begräbnis eines ermordeten Juden auf dem jüdischen Friedhof in Dresden, in einer Zeit, in der die massive Judenverfolgung und Juden­ vernichtung voll im Gange ist, von einem in Anbetracht der Lebens­ wirklichkeit unbegreiflichen Glaubensverhalten. Zum Psalm, den der, der »in Talar und Käppi fungiert«, liest, bemerkt er: Der Psalm scheint mir an sich unsittlich, in seinem nackten Egoismus, in der Hurra-ich-lebe-Stimmung. »Du, Herr bewahrst mich, tausend fallen zu meiner Rechten, zehntausend zu meiner Linken. Du errettest mich vor der Pest« usw. usw. Das am Sarge? Aber der Tote ist doch unter den tausend und zehntausend. Und nur gar diese Toten [es sind noch mehrere frische Gräber zu sehen von Ehepaaren, die wegen drohender Ermordung Selbstmord begangen hatten] vor der Pest gerettet? Ich verstehe das ganz und gar nicht.174

Wer das »so schön« und »so tröstlich« findet, zeigt für ihn ein »völlig infantiles Wesen«. Er hat als zwangsemeritierter Ordinarius für Romanistik die früh einsetzenden Bespuckungen und Verhöhnun­ gen, von 1942 bis 1945 die tägliche Bedrohung, von der Gestapo zum Ermordetwerden abgeholt zu werden, bewußt ohne religiösen Glauben durchgestanden. Er hatte eine Geistigkeit des Esprit und der Aufklärung als Humanum im Sinn, war auch nicht von ungefähr ein Spezialist für französische Literatur des 18. Jahrhunderts. Eine Verklärung des absoluten Schreckens kam für ihn nicht in Frage. Ein jüdischer Geistlicher verklärt Auschwitz. Er tut das in einem Moment des Jahres 1942, da das Holocaust-Verbrechen seinen Höchstgang eingeschaltet hat. Die Trauerfeier gilt soeben in Ausch­ witz Vergasten. Der Geistliche will nichts als Trost spenden. Er spricht zu Trauernden, die, im wörtlichen Sinne, morgen und übermorgen vergast werden können. Er wählt für seinen Tröstungsversuch den Psalm 91. Der ist voll von Schutz und Schirm durch den Höchsten. Da mag die Pest in der Finsternis und die Seuche am hellichten Tage wüten, Nattern und Drachen seinen Weg säumen – er schreitet über sie hinweg, ja zertritt sie. Es gibt nichts, wirklich nichts, was ihm etwas anhaben und die Sättigung durch ein langes Leben verwehren könnte. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942–1945, 10. Aufl., Darmstadt 1998, S. 292.

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B. Verklärende Religion

Dieser Geistliche hat keine Auferstehung von den Toten auf der Hinterhand. Er spricht für dieses Leben, für das bis zu seinem guten Ende zu lebende. In dieser Situation der allgemeinen Bedrohung der Juden durch ein hochgradig organisiertes Ermordungssystem, in diesem Falle der Dresdner Juden, zum Psalm 91 zu greifen, muß als der Mißgriff, der er ist, ein Akt gedankenloser Gewohnheit oder der Verzweiflung gewesen sein. Bei unmittelbar erlebbarem Geno­ zid erscheint die abenteuerliche Ungefährdetheit eines Einzelnen, der sich nicht um das Geschick der Anderen zu kümmern hat, als »unsittlich«, um nicht zu sagen übelste Moral. Gerade die äußerst vereinzelten Geretteten haben ja in nicht geringer Zahl Zweifel an ihrem Noch-leben-dürfen bekommen. Sie haben es nicht ertragen, daß ausgerechnet sie lebendig der Hölle entronnen sind. Einem Gott haben sie das nicht verdanken wollen. Was sich hier zeigt, sind unzweifelhaft Grenzen der Verklärung. Das aber ist nicht bedeutungslos für die Macht der Verklärung über­ haupt, sofern es sie grundlegend in Frage stellt. Das Wunderwerk und Kunstwerk, das religiöser Glaube zu schaffen vermag, ist in seinem Verklärungspotential nicht mächtig genug, um bei allem, was in menschlicher Lebenswirklichkeit vorfällt, wirksam werden zu können. Verklärung ist nicht bloß, sondern ist sogar Verklärung, aber sie ist eben auch nichts anderes als Verklärung. Das Jahrtau­ sendereignis des Auschwitzverbrechens hat für religiösen Glauben die Notwendigkeit gebracht, sich als Verklärung der Aufklärung zu stellen, was nichts anderes besagt, als sich darüber aufklären zu lassen, Verklärung zu sein: Verklärte Realität mag REALITÄT sein, aber sie ist nicht Realität. Adams Sündenfall ist kein Märchen, auch die Verklärung Christi nicht. Aber was sind sie dann? Wie sie der Glaube erschafft, sind sie zum Glauben da. Im zu Glaubenden kommen direkt oder indirekt Bedürfnisse des Menschen auf ihre Kosten. Nicht die Phantasie wird bewegt, sondern etwas, das eine bewährte Metapher nach »Innen« verlegt. Ein Stück geheimer Anthropologie kommt ans Licht. Für den Aufklärer Feuerbach ist es das menschliche Gemüt, das mit seinen Bedürfnissen dem Gott die Gestalt eines absoluten Lebensversiche­ rers gibt. Im Psalm 91 sendet er seinen Engel aus, der dafür sorgt, daß ein Einzelner gegen jede Gefahr des Lebens gefeit ist. Das ist kein schlechtes Stück Aufklärung. Aber sie erhellt nicht den schöpferischen Charakter des Glaubens in seiner besonderen Art, Glaubenskunst mit Lebenskunst zu verbinden. Dieser entzaubernde Aufklärer will das

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3. Religiöse Verklärung

»kindisch« Phantastische des religiösen Glaubens entlarven. Doch wie gesagt, die Glaubenstexte erzählen keine Märchen, was auch für den Psalm 91 zutrifft, der mit Recht in seiner Sittlichkeit hinterfragt wird. Daß in der Gestaltung Gottes das menschliche Gemüt mit seinen Bedürfnissen maßgeblich im Spiel ist, bedeutet, entgegen Feuerbach, gerade nicht, daß der Wunsch nach »Gemütlichkeit« sich im jüdischen und christlichen Gott spiegelt.175 Religion ist kein Zeichen menschli­ cher Faulheit, die sich einen Gott schafft, damit der das macht, für das man nicht länger selber aufkommen will. Ganz im Gegenteil. Schöp­ ferische Religion ist eine äußerste Selbstherausforderung des Men­ schen, sich einen bei weitem festeren Halt zu geben, als ihn ihm seine Mitmenschen und sein eigener Tod zu geben vermögen. Es ist das Wagnis einer Kunst, die Unmögliches möglich macht, welche unmög­ liche Möglichkeit in ihrer lebenspraktischen Fruchtbarkeit zeigt, daß sie den einzigartigen Beweis für Möglichkeit liefert: die Wirklichkeit. Schöpferischer Glaube delegiert nicht menschliche Fähigkeiten an Gott, sondern läßt durch Gott Fähigkeiten für sich wirksam werden, die seine Natur übersteigen. Evangelische Pastoren waren und sind zu hören, die mit Bezug auf wirkliches Geschehen, das geschieht, ohne verhindert zu werden, von der Ohnmacht Gottes predigen. Ein italienischer Bischof war zu hören, der den Überlebenden in einer erdbebenzerstörten Stadt die Wirklichkeit des Geschehens erklärte: »Gott war nicht da«. Die Wirklichkeit von Auschwitz macht die Unerforschlichkeit der Gerech­ tigkeit Gottes als Erklärungsgrund zuschanden. Gott als Creatio schöpferisoben Glaubens in Anbetracht entsetzlichen Geschehens verteidigen zu wollen, ist ein groteskes Selbstmißverständnis des religiösen Glaubens. Die Grenze religiöser Schöpferkraft zeigt sich, die Grenze religiöser Verklärung.

3. Religiöse Verklärung I. Paulus, der erste christliche Theologe, sendet an die da und dort in christlichem Glauben Versammelten Botschaften, um sie in ihrem 175

Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, a.a.O., 1. Teil, Kap. 13 et al.

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B. Verklärende Religion

Glauben zu lenken und zu stärken. Weil er sich zu diesem Tun gesandt weiß, wird er zum Stifter der christlichen Religion, im Hinblick auf die späteren Evangelisten zu ihrem Mitstifter. Er selbst erklärt sich als »ein Apostel nicht von Menschen, auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Christus Jesus und Gott, den Vater«.176 Für Paulus ist dabei klar, daß Jesus sich nicht selbst zum Apostel und Hohepriester gemacht hat, darum aber auch nicht an sich selbst als den Messias glauben kann. Jesus glaubt nicht, Christus, der Gesalbte zu sein, sondern ist es, weil er seinem Vater glaubt, der ihn »gemacht« hat.177 Der Jesus des Matthäusevangeliums hat, wie auszuführen war, allem zuvor das Ziel, als Messias geglaubt zu werden, also das zu sein, was er im Vertrauen auf den, der ihn gemacht hat, ist.178 Der Christus­ glaube, wie Paulus ihm verbindliche Gestalt gibt, ist ein eminenter Gott-Vater-Glaube. Das erst macht das den christlichen Glauben prägende genealogische Bild verständlich: Als Kinder Gottes sind die Christusgläubigen Christi Brüder. Wer aber ein Bruder des Messias ist, kann unmöglich noch länger ein gewöhnlicher Mensch sein. Der Religionsstifter Paulus hat klar gesehen, daß der zu glau­ bende Vatergott Heilige braucht, Menschen, die dazu ausersehen sind, Christi Brüder zu sein. Der christliche Glaube ist in sich gedoppelt: Er ist der Glaube an Jesus als den Messias und Bruder der Heiligen, und er ist der Glaube an Christi Glauben an seinen Vater. Für die Gläubigen, die die Heiligen sind, setzt das voraus, daß sie in ihrem Vater-Sohn-Glauben Gleichgestaltete (symmorphoi) des Ebenbildes (eikôn) seines Sohnes sind.179 Dies Ebenbild ist von keinerlei sinn­ licher Gestalt. Der durch den Geist Gottes geheiligte Mensch ist ein geistiges Wesen, das der Theologe im Übernatürlichen zuhause weiß. Die von Gott Berufenen sind in ihrer Gottgleichheit einzig zum geistigen Sehen und Heiligen Gottes fähig.

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Galater 1,1; vg1. Römer 1,1; 1. Korinther 1,1. Paulus verweist auf die Psalmen 2,7 und 110,4 (Hebräer 5,1–6). Hebräer 3,1. Römer 8,29.

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3. Religiöse Verklärung

II. Das mittelhochdeutsche Wort »verklaeren« hat die Bedeutung erhel­ len, verklären, erklären, erläutern.180 Luther verwendet es (Schreib­ weise verkleren) zur Übersetzung der im Neuen Testament gebrauch­ ten Wörter doxazein (Vulgata: glorificare), metamorphoein (Vulgata: transfigurare) und metaschêmatizein (Vulgata: reformare). Als Über­ setzung der Verherrlichung (Glorifizierung) Gottes, von der das Johannesevangelium spricht, ist das Wort unmittelbar eingängig, als Wort für Verwandlung und Umgestaltung (Transfiguration und Transformation) steht es für eine proleptische Übersetzung: Es nimmt das Ergebnis der Veränderung der Gestalt vorweg: Helligkeit, glei­ ßendes Weiß, strahlende Schönheit. Die Verwandlung Jesu, wie sie das Matthäusevangelium erzählt,181 ist exemplarisch geworden für das Wunder, daß Übernatürliches für einen überlichten Augenblick ins Natürliche einbricht. Religiöse Verwandlungsmythen, die sich in vielen Religionen finden, sind mit nichtreligiösen, wie den von Ovid erzählten, nicht vergleichbar. Gläubige Geistigkeit, gläubige Schöpferkraft ist im Spiel. Verwandelt (Luther: verklärt) sich vor den Augen seiner Jünger Jesus, der in Menschengestalt vor ihnen steht, urplötzlich in Sonne und lichtes, nicht greifbares Gewand, dann kündet sich den Jüngern etwas geradezu Ungeheures an: ihre eigene Verwandlung, die ihr Sehen zu einem geistigen macht und sie selbst entsprechend zu Geist. Die Dramatik des Beziehungsverhältnisses von Gott und Mensch, Mensch und Gott, wie es für den Gläubigen durch seinen Glauben wirklich und wirksam ist, kündet sich an. Dieser religiöse Verwandlungsmythos hat seinen Ursprung in der alt­ jüdischen Apokalyptik mit ihrem eschatologischen Heilsversprechen. Dem Gläubigen, der es vermag, geistiger Zeuge eines übernatürli­ chen Ereignisses zu sein, der Verwandlung einer Menschengestalt in eine Gottesgestalt, macht der Apostel Paulus in ältester Tradition

180 Matthias Lexers, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart 1959, s.v., S. 272. 181 17,2 ff. In den synoptischen Evangelien (Markusevangelium 9,2 ff. und Lukasevan­ gelium 9,28 ff.), die den Verwandlungsmythos wiederholen, weicht in letzterem der Wortlaut ab. Es ist wörtlich von keiner »Metamorphose«, sondern von einem »Anderswerden« der Gestalt die Rede, das Luther auch so übersetzt. Hier fehlt als Folge der Umgestaltung auch die Sonne; allein das strahlende Weiß des Gewandes wird wiederholt.

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Hoffnung, selbst einmal seine eigene Gestalt mit ihrem »nichtigen Leib« zu guter Letzt in eine strahlende göttliche zu verwandeln.182 Vollzieht philosophisch-metaphysische Spekulation eine Verklä­ rung der Wirklichkeit in rein geistige Überwirklichkeit, dann vollzieht religiöse Spiritualität ganz entsprechend eine Verklärung der Wirk­ lichkeit, allem zuvor der Lebenswirklichkeit, in eine geistig-geistliche Überwirklichkeit. Von Philosophen und Theologen erfordert das eine ganz besondere présence d'esprit: Sie müssen den Moment bemerken, in dem sie von ihren natürlichen Erkenntniskräften zu den übernatür­ lichen wechseln. Das ist der Moment, in dem Denken und Glauben schöpferisch werden. Der Evangelist, der beispielhaft einen religiösen Verwandlungsmythos erzählt, und damit als Mitstifter eines solchen Mythosglaubens auftritt, unterläßt einen Hinweis an seine Leser, daß allein übernatürliche Augen die Verwandlung, Umgestaltung und Veränderung sehen können, von der er erzählt. Er stellt dieses Wunder so dar, als ereigne es sich vor den leiblichen Augen der Begleiter Jesu. Da aber muß der Theologe Bedenken haben. Wer nicht dazu berufen ist, als Geheiligter Christi Bruder und Gottes Kind zu sein. ist notwendig gleich allen, die mit leibhaften Augen sehen und mit leibhaftem Gaumen schmecken, Agnostiker. Die Natur kennt nichts Übernatürliches. Alle Lichtgestalten, die übernatürlich strahlen, verlangen nach übernatürlichem Sehen, um in Erscheinung treten zu können. Jesu Verwandlung ist die geistige Vorschau seiner künftigen bleibenden Vergeistigung. Durch Sprache anschaulich dargestelltes Übernatürliches läßt leicht übersehen, daß das beabsichtigte Mitverstehen ein Sacrificium intellectus erfordert. Die übernatürliche Umgestaltung wird von ihr nicht im Rahmen einer fiktiven Dichtung berichtet, sondern stellt etwas von Natur Unmögliches als ein durch seine für wahrnehmbar ausgegebene Wirklichkeit Evident-Mögliches vor. Wem übernatür­ liche Umgestaltungen begegnen, ist nicht mehr bei Verstand. Der Gläubige, der von ihnen »verständig« liest und hört, merkt gar nicht, was er durch seinen Glauben mit seinen geistigen Kräften eigentlich anstellt. Ohne Bedenken wird er zum Mitverklärer von allem, was zur »Frohen Botschaft« gehört. Metamorphoein, ja, er ist mit Eifer, eben Philipperbrief 3,21. Markus Kleinert, dem Autor von Andere Klarheit. Versuch über die Verklärung in Kunst, Religion und Philosophie, Göttingen 2021, ist das altjüdische apokalyptisch-eschatologische Heilsversprechen der endgültigen Umgestaltung der menschlichen Gestalt in eine göttliche ein reales Versprechen künftiger Realität.

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mit Glaubenseifer, bei einer Umgestaltung und Verwandlung von in der Natur unmöglicher Art.

III. Hellenistische Mystik und christliche Religion haben etwas herausra­ gend Gemeinsames: Der Mensch soll nicht der bleiben, der er ist. Er sei dazu bestimmt, sich in ein gottgleiches Wesen zu verwandeln und das heißt umzugestalten. Die leibhaft-lebendige Welt sei zu verlassen. Er gehöre zur geistigen Welt. Religiöser Glaube als verklärende Aktivität folgt der Devise: Weg vom geschaffenen Menschsein, zurück zum Schöpfer! Zeigt Mystik die Möglichkeit, Schritt für Schritt den Weg der Gottwerdung zu gehen, um als Frommer bei der »Vergot­ tung« zu enden,183 so christlicher Glaube, vom fleischlichen Erdenle­ ben zum pneumatischen Himmelsleben wechseln. Für Theologen wie Paulus und Karl Barth hat so der Tod keine Lebensbedeutung mehr. Jetzt schafft der »letzte Tag«, der der »Tag des Gerichts« ist, letzte Fakten: ewiges Wohnen im Himmel oder auf ewig hinabgestoßen in die Hölle.184 Das ist die Frohe Botschaft einer, so oder so, vom Menschsein erlösten Menschheit. Religiöse Verklärung wird bestärkt durch ihr inverses Pendant. Macht übernatürliche Verklärung es dort hell und licht, wohin keiner mit leibhaftigen Augen schaut, dann macht ihr inverses Pendant es dort dunkel und finster, wo in der Regel Sinne, Gemüt und Verstand ungetrübt in ihrem Element sind. Religion macht Leute wie uns zu Wesen, »die durch ein Jammertal gehen«.185. Jammer und Elend, Mühsal und Drangsal, Dunkel und Finsternis186 – die inverse Verklärung bietet alles auf, um dem Leben, das der geschichtliche Mensch seit Jahrtausenden auf dem Planeten Erde führt, mit den Signa der Unwürdigkeit und Unerträglichkeit zu versehen. Kernpunkt dieser theologischen Verdunkelungs- und Verfinsterungsstrategie ist die Erfahrungstatsache, daß wir in der Lebenswelt leben, die keine Geisteswelt ist. Karl Barth macht das im Rückgriff auf Paulus und die durch ihn gesetzte Feindschaft zwischen »Fleisch« und »Geist« Siehe Gerhard Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. IV, Stuttgart 1942, Art. morphê ktl., S. 764. 184 Matthäusevangelium 11,23. 185 Luthers Übersetzung von Psalm 84,7. 186 Siehe Psalm 25,16–18 und 107,10–14.

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(pneuma) wunderbar klar. »Fleischeswelt« kontra »Geisteswelt«. Die »vergehende« Welt, die »alte«, sei ganz auf den Tod gerichtet, gänzlich dem Todesschicksal verfallen, weil in ihr Menschen geboren werden, leben, lieben und sterben, auch nicht immer friedfertig sind, die kommende Welt dagegen ist ewiges Leben und ewiger Frieden. Es ist die Welt des Seins, die keine Vergänglichkeit kennt. Und was wäre auch ein großer Theologe ohne absolute Sicherheit und Gewißheit: Die »objektive Wahrheit der neuen Welt« hält Barth in Bann und läßt ihn der Fleischeswelt einen letzten Stoß geben.187 Auch die metaphysische Verklärung hat ihr inverses Pendant von Heraklit und Platon bis Adorno und Heidegger. Metaphysik ist Lichtmetaphysik, ihre Inversion Finsternismetaphysik: Die Verdüsterung der Welt erreicht nie das Licht des Seyns.188

IV. Sind die Bedingungen für eine Revolution nicht gegeben, geht es also dem Volk noch nicht schlecht genug, dann sind sie herzustellen – so soll es Josef Stalin gedacht und gesagt haben. Vergleichbares hat Paulus in seinem Eifer für die religiöse Revolution im Sinn gehabt, die als eine anthropo-theologische gemeint war. Setzt nämlich der Apostel alles auf die Entfleischlichung und Vergeistigung des Menschen, dann lesen sich seine Glaubensappelle so, als wollte er seine Briefempfänger nur von einem überzeugen: Die Lage des Glaubensvolkes auf Erden ist absolut unerträglich, die Bedingungen für eine Revolution voll gegeben: Wir wissen (!), daß die ganze Schöpfung ein einziges gemeinsames Seufzen und Leiden ist – bis jetzt.189

Das sieht ein Karl Barth genauso. In Der Römerbrief zitiert er voller Zustimmung einen Theologen aus dem 19. Jahrhundert, der die »Gemeinheit der Gesinnung« von Menschen anprangert, die ohne christliche Religion mit dem Leben auf der Erde zurechtkommen. Muß also die »Schöpfung«, das meint den »geschaffenen« und seßhaft Karl Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 303 f.; 307 f.; 316. Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens (1947), Pfullingen 1954, S. 7. Adorno operiert entsprechend mit dem Begriff »Verblendungszusammenhang«. 189 Römerbrief 8,22, eig. Übers. 187

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gewordenen Menschen samt seiner irdischen Lebenswelt und Lebens­ art, muß sie weg? Ja, genau das verlangt die für Paulus absolut nötige Revolution. Daß Gott den ersten, als Mann vorgesehenen Menschen aus Erde formte und aus seiner Rippe eine Frau baute (ôkodomêsen) – das darf für die gläubig Hoffenden nicht länger verbindlich sein, auch als mythisches Bild nicht. Mann und Frau – das war »bis jetzt«, und zwar als erfüllte Bedingung für eine Revolution. Das nämlich war das Seufzen und Leiden, war die Sünde. Das große Wort der Genesis »und ihr werdet sein ein Fleisch« ist für Paulus zum schlimmsten Wort für vollendete Hurerei geworden, für gottlose Sünde190. Der sündenfreie Mensch, auf den sich die gläubige Hoffnung auszurichten hat, ist der körper- und geschlechtslose, der mit dem absoluten Übermenschen Gott ein und desselben Geistes ist. Eine creatio continua Gottes wird »ab jetzt« gänzlich für eine Vergeistigung und Vergöttlichung des Menschen gebraucht, nicht aber für eine »Bewahrung der Schöpfung«. Der revolutionäre Christ muß zurück zu Gott, dies aber unmöglich als der, den Gott formte, machte und baute (plattein, poiein, oikodomein). Eine »leibhaftige Auferstehung« ist kontraproduktiv geworden. Die christliche Religion ist eine eschatologische. Sie hat einen letzten Tag erdichtet, an dem es für den Gläubigen einzig darauf ankommt, daß er in den Augen des göttlichen Richters Geist – und sonst nichts ist.

V. Die echte Transzendenz, keine bloß innere, die mit dem Schama­ nentum konkurriert, sondern die in dem Faktum besteht, daß der Mensch den Menschen überwunden hat, der wir sind, und wirklich jenseits von ihm liegt – eine solche wunderbare Transzendenz, die der Christusglaube als seinen höchsten Gehalt weiß, läßt dem redlichen Theologen allein die Chance, zwei Ecksteine des Glaubens unlöslich miteinander zu verbinden: (1) Der menschliche Geist gewinnt die Unmittelbarkeit mit Gott zurück und wird Eins mit dem Geist Gottes. (2) Die Absolutwerdung des menschlichen Geistes in Einheit mit der Absolutheit des göttlichen wird gläubig-hoffend auf den letzten Tag und das heißt ins Unendliche vertagt. Karl Barth hat diese Redlichkeit gezeigt. So spricht er von »›unserem Geiste‹ als dem 190

Siehe Rainer Marten, Lob der Zweiheit, a.a.O., S. 220.

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Repräsentanten der kommenden (kursiv R.M.) Gotteswelt«.191 »Wir sind Kinder Gottes [...], weil der Geist es sagt«. Freilich wird »(n)ur in der neuen Welt alles das möglich und wahr«. Dann nämlich »steht er wieder im direkten, ursprünglichen Verhältnis zu seinem Schöpfer«, wird »unsere Unmittelbarkeit zu Gott wieder aufgerichtet«.192 Er beruft sich ausdrücklich auf Paulus,193 wenn er den Geist selber als die rettende Hoffnung benennt: »›(U)nser Geist‹ […] rettet uns nur, sofern er in beständigem Lauschen und Spähen auf das Reden und Verhalten des absoluten Lebensgeistes ist«.194 Andere Theologen kommen nach ausführlicher Darstellung des Verhältnisses von innerem und äußerem Mensch, von Geist und Fleisch bei Paulus (auch Galater 6,6 wird zitiert: »wer auf den Geist sät, / wird vom Geist ewiges Leben ernten«) zu dem Resümee: »Die Hoffnung auf ewiges Leben gründet also auf dem Geist, der die Gemeinschaft des Menschen mit dem lebendigmachenden Gott her­ stellt und so die Gewissheit begründet, dass die sterbliche Existenz an Gottes eigener Lebendigkeit Anteil haben wird.«195 Diese Theologen sehen die Kraft christlicher Religiosität nicht darauf gerichtet, die Welt zu retten, sondern den Menschen. Der zu rettende Mensch aber ist Geist, nichts sonst. Dabei ist an eine Revolution gedacht: Der »Tag für Tag« erneuerte innere Mensch,196 der am letzten Tag für gerecht befundene Mensch, ist eine Neuschöpfung (kainê ktisis) Christi.197 Ist der Leib (sôma) eines Christusgläubigen ein Tempel für den in ihm wohnenden heiligen Geist, dann ist dieser »Leib« weder männlich noch weiblich, ja ohne Fleisch (sarx).198 Darauf verstehen sich Theologen, die für das Mysterium fidei engagiert und selber Mystiker sind, leichthin von einem menschlichen Leib zu reden, in dem nichts als Gottes Geist ist. Das ist maßgeblich: Christus als geglaubter Messias rettet nicht den Menschen, der wir sind, sondern den Geist des Christusgläubigen, der mit Gottes Geist Eins ist. Der Römerbrief (1919), a.a.O., S. 320. Alle Zitate ebd., S. 320. 193 Römerbrief 8,24 und 8,16. 194 Karl Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 339. 195 Reinhard Feldmeier / Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, Tübingen 2011, S. 233. 196 2. Korinther 4,6. 197 2. Korinther 5,17. Siehe dazu R. Feldmeier / H. Spieckermann, Der Gott der Leben­ digen, a.a.O., S. 489–491. 198 1. Korinther 6,15–20. 191

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4. Religiöser Nihilismus

4. Religiöser Nihilismus I. Wie sich die Welt der Ideen den Ideen Denkenden verdankt, so die Gotteswelt den an Gott Glaubenden. Ein vergleichbarer Zwiespalt tut sich auf. Die Welt der Ideen ist der Welt entrückt, in der die Ideendenker leben. Ebenso ist »die beste aller Welten«, eine andere kann die Gotteswelt gar nicht sein, der Welt entrückt, in der die Gottgläubigen leben. Das ist so gewollt; das ist von Notwendigkeit so. Da kommt die »Aufklärung« zu spät, anders gesagt, da kommt Aufklärung mit falsch angesetzter Logik, wenn sie den Gläubigen verspottet, der in seinem Glauben zwei Welten zum Austrag bringt: die geglaubte Gotteswelt und die gelebte Lebenswelt. Die Weltdiskre­ panz der metaphysisch Denkenden und der religiös Glaubenden ist von fundamentaler Bedeutung für die metaphysischen Denker und die religiös Gläubigen. Beide Male geht es um die Fundierung eines Bedingungsverhältnisses: Die Lebenswelt bedingt die Zielsetzung des schöpferischen Denkens und Glaubens; die jeweils geschaffene Überwelt bedingt die Beurteilung der Lebenswelt. Der Raum, der durch das wechselseitige Bedingtsein entsteht, schafft die Möglichkeit für einzigartige Entwicklungen, die, traditionell gesprochen, Entwick­ lungen von seelischen Kräften sind. Dem Ideen Denkenden ist die Entwicklung der Seelenkraft des Denkens vorbehalten, die ihn in die Überwelt der Ideen führt, ihn selbst vergeistigend; dem an Gott Glaubenden ist die Entwicklung der Seelenkraft des Glaubens vorbe­ halten, die ihn in die Überwelt Gottes führt, ihn selbst vergeistlichend. Metaphysik und monotheistische Religion eröffnen dem seelisch begabten Menschen einen Weg und mit ihm eine Geschichte. Der Weg ist, je nachdem, ein Weg der Klärung, Reinigung, Steigerung, Heilung. Er führt, wie es Philosophen und Theologen sagen, ja wollen, aus dem Nichtigen ins Seiende, aus dem Falschen ins Wahre, aus dem Unreinen ins Reine, aus dem Heillosen zum Heil, nicht zu vergessen, daß der Weg aus dem Natürlichen ins Übernatürliche den Wechsel vom Zeitlichen ins Ewige einschließt. Damit ist klar: die seelisch Begabten des Denkens und Glaubens bedürfen eines ausgeprägten Sinnes für Nichtiges.

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B. Verklärende Religion

II. Eine gefestigte monotheistische Religion, die ihre heiligen Stätten und heiligen Schriften hat, dazu Wortführer des rechten Glaubens, wirkt, solange sie lebendig ist und gelebt wird, unablässig an einer Theologie und an einer Anthropologie. Das in der Spiritualität des Menschen aufgeführte Verhältnis von Mensch und Gott, Gott und Mensch, ver­ langt immer neu die Klärung des Menschseins in seinem Verhältnis zum Wesen Gottes, und die des Gottseins in seinem Verhältnis zum an den Gott glaubenden Menschen. Da es sich um ein absolutes Überhöhungsverhältnis handelt, kann das Gefälle kein anderes als ein absolutes sein. Die Selbstauslegung des schöpferisch Gläubigen vollzieht sich entsprechend in der absoluten Differenz zweier Pole, als Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung. Die Selbsterniedrigung muß eine radikale sein, um der absoluten Selbsterhöhung den nötigen Fundus zu geben. Der an den Gott Glaubende steht für beides in eins: für die divin inspirierte Anthropologie und die human inspi­ rierte Theologie. Christliche Religion, wie sie der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom und Karl Barth in seiner Auslegung des Römerbriefs anthropologisch theologisieren, hat einen nihilistischen Grundzug: Der Mensch, der das Humanum in seinem zeitlichen Leben auf der Erde sucht, ist, gemessen am theologisch gesicherten Divinum, ein Nichts. Das erinnert an den »griechischen Lebenspes­ simismus« eines Theognis (6. Jh. v. Chr.), der »das Beste« für den Menschen darin sah, nie die Sonne gesehen und das heißt, nicht gelebt zu haben.199 Es genügt ja schon der Verwandlungsmythos, der die vorübergehende Verwandlung Jesu erzählt. Da erscheint mit der wahren Gestalt Gottes eine wahre Sonne, die die Erdensonne, die dem Menschen Licht und Wärme gibt, zu einem Nichts macht. Nicht nur christliche Theologen suchen den, der an Christus glaubt, darauf einzustimmen, daß die ihm bestimmte Wirklichkeit allein die Überwirklichkeit ist, sondern auch christliche Dichter mit dem Ansehen, Botengänger Gottes zu sein: Das Licht kommt nicht vom Mondenschein, Nicht von der Sonnen Strahlen, Es fällt auch nicht vom Blitz hinein, Der all’s im Hui kann malen. 199

Näheres siehe unten S. 199 f.

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4. Religiöser Nihilismus

Das ist das Licht der Herrlichkeit, Die wesentliche Sonne, Die Flamme der Durchleuchtigkeit, Gott selbst und seine Wonne.200

Das Licht der Erdensonne ist eigentlich kein Licht, ihre Wärme eigent­ lich keine Wärme. Geistiges Licht bringt Erleuchtung. Christliche Religion, wie sie die wechselseitige Bedingtheit von Gott und Mensch spirituell vergeistigt, zeigt unverkennbar eine Verwandtschaft mit dem daoistischen Nihilismus, der im »Palast des Nichts« (Zhuang Zi) die Nichtigkeit alles auf Erden »Wirklichen« feiert. Der gläubige Christ ist ein Kind Gottes, des Vaters, auch wenn Jesus dessen »einge­ borener« Sohn genannt wird. Als Gläubiger und in die Gemeinschaft der Heiligen Aufgenommener ist er nicht das Kind seiner Eltern. Eine auf übernatürliche Weise wirkliche Verbrüderung hat für ihn einzig mit dem Sohn Gottes statt, Er ist ohne Geschlecht. Die irdische Sonne erstrahlt und erwärmt ihn nicht, schon gar nicht die irdische Liebe. Der Mensch ist nichts und nichtswürdig, seine Lebenswelt ebenso – so steht es jetzt. Das gilt für jedes zeitliche Jetzt, das war, ist und kommt. Das gegen jede Möglichkeit des Verstehens geglaubte ewige Jetzt hat der Theologe parat, um den von ihm vertretenen religiösen Nihilismus als sinnvoll zu verantworten: Die Schöpfung befindet sich jetzt mit uns in einem Provisorium, sofern ihre wahre Natur jetzt so wenig in Erscheinung tritt als die unsrige. Was uns jetzt von ihr sichtbar wird, das sind Kräfte und Stoffe, Werden und Vergehen, Organisation und Dekomposition, Ringen ums Leben und Leiden und Untergehen im Kampf ums Dasein. Das alles aber ist »Nichtigkeit« (Römer 8,20), Entleerung, grenzenlose Armseligkeit gegenüber dem eigentlichen Sein der Dinge.201

Und was wäre das eigentliche Sein der »Dinge«? Barth urteilt hier gleich Platon, einem Meister der metaphysischen Seinslehre: Das Wesen aller Dinge in dieser Welt ist das mê on, das Nichts.202

Dieses für ein erstes Hören völlig irre Urteil wird sogleich verständ­ lich, wenn man sich auf die Grundüberzeugung aller philosophischen

200 Angelus Silesius, Die ewigen Freuden der Seligen, Strophe 9, in: A.S., Sämtliche poetische Werke, 3. Aufl., München 1949, Bd. 3, S. 270. 201 Karl Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 326. 202 Karl Barth, Der Römerbrief, ebd., S. 131 Anm. 35.

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und religiösen Vergeistiger einläßt: »Unser Sein ist im Geiste […].«203 Für den griechischen Seinslehrer ist Sein ein Bleiben (menein). Das Körperliche bleibt nicht, das der sinnlichen Wahrnehmung Zugängli­ che nicht. Menschen, die auf der Erde leben, sehen mit ihren leiblichen Augen, wie sie es empfinden und sagen, Schönes: schöne Mädchen beispielsweise und schöne Singvögel. Nichts davon ist wirklich schön, sagt Platon, gemessen am Schönen selbst, das in jeder Hinsicht schön, das für immer schön, ja das eben einzig schön ist, ist alles von Menschen als schön Beurteilte eigentlich gar nicht schön, ja, was Schönheit anbelangt, ein mê on, ein Nichts. Was Platon für selbsthaft schön erklärt, ist die gedachte Schönheit, die rein geistige, die jenseits allen sinnlichen Wahrnehmens und Empfindens von rein geistiger und das heißt gedachter Existenz ist. Der Theologe begibt sich genau auf dieses metaphysische Niveau, wenn er alles Wirkliche aus dem zeitlichen Jetzt verjagt.

III. Es gibt Christen, darunter auch christliche Theologen, die sich für »gute« Christen halten, aber das auf der Erde gelebte Leben lieben. Damit sind sie, wie Barth urteilt, von »gemeiner Gesinnung«. Echte Christen können für ihn unmöglich mit dem zu lebenden Leben ins Reine kommen. Der Widerspruch von Leben und Tod, an dem sie ihre Christenpflicht naiv festhalten läßt, steht unüberwindlich dagegen. Sie folgen der »Frohen Botschaft«, daß eigentliches Leben204 keinen Tod kennt, von keiner Vergänglichkeit heimgesucht wird, kein Alter und damit keine Lebensalter kennt, nichts von Geschlechtlichkeit weiß, von Fortzeugen und Gebären. Ganz im Sinne von Platons Meon (Karl Barths bevorzugte Schreibweise) ist menschliches Leben kein Leben, eben kein wirkliches im Sinne eines überwirklichen. Das läßt das Bekenntnis zu einem erfüllten christlichen Leben in »dieser Welt« (Paulus) als emphatisch fehlgeleitet erscheinen. Josef Stalin wird, wie schon erwähnt, das Wort zugeschrieben: »Wenn die Bedingungen für die Revolution nicht gegeben sind, muß man sie herstellen.« Gemeint ist die Veränderung des gesellschaftlichen Lebens in ein gänzlich anderes, das in keinem Jenseits liegt, sondern die bisherigen Formen Ebd., S. 307. Siehe den Artikel zaô, zôê, in: Gerhard Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. II, Stuttgart 1935. 203

204

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gesellschaftlichen Erdenlebens des Lebewesens Mensch von Grund auf revolutioniert. Für den Christen sind die Bedingungen für eine »Umkehr«, die dem Ruf »Denkt um!« (metanoeite) folgt, jederzeit gegeben. Der geglaubte Gott und die geglaubte Heilsgeschichte sor­ gen vor, daß sie jedem Christen, der sich als solcher verstehen darf, in seine Glaubenskraft eingeschrieben sind, in seine Seele, in sein Herz oder wie man sonst noch sagt. Dem Christen geht die Bedrängnis und Betrübnis (stenochôria, thlipsis), auch Angst und Furcht, nie aus. Das ist ja die Conditio sine qua non seines Christseins: die Teilhabe an der menschlichen Erbsünde und damit an dem menschlichen Erbtod. Er bedarf der Erlösung, die in keiner menschlichen Geselligkeit und glücklichen Lebensrunde statthat, sondern in der geglaubten Tatsache, daß Gottvater seinen eingeborenen Sohn in den Tod gegeben hat zur Rettung des Menschen, gemeint ist die Erlösung von den Sünden, allem zuvor von der als Mensch ererbten, dann auch von den selber »erworbenen«. Das Sigel, dass die Erlösung geschehen ist, besteht in keiner geglaubten Gegenwart Gottes, sondern kann allein das geglaubte »letzte Gericht«, wenn es gesprochen hat, geben. Neben Sündenangst (Karl Barth) und Todesangst tritt die Höllenangst.

IV. Bereits im Alten Testament ist die Nichtigkeit des Menschen vor Gott ausgemachte Sache. Das einzige »Recht«, das ein auf die Glaubens­ probe gestellter tiefgläubiger Hiob vor seinem Gott hat, ist, sich vor ihm in den Staub zu werfen. Der Gläubige hat dem geglaubten Gott seine Ohnmacht zu zeigen und seine rechtliche Nichtswürdigkeit zu bekennen. Obwohl der Christusglaube, wie Paulus ihn theologisiert, ungleich abstrakter und rigoroser ist als der Volksglaube Israels, gel­ ten Nichtigkeit und Nichtswürdigkeit des Gläubigen gleichermaßen. Ist für beide Formen geistig-geistlicher Unterwerfung das Nicht und Nichts des Gläubigen an seiner irdisch-zeitlichen Vergänglichkeit festgemacht, dann ist doch der Umgang des Gläubigen mit seinem Gott entscheidend für die heilsgeschichtliche Bestimmung seiner Nichtigkeit: Er hat Schuld, er hat ein göttliches Verbot übertreten, er hat sich an Gott vergangen, er ist sündig geworden. Der des religiösen Glaubens bedürftige und zu ihm entschlossene Mensch übertreibt nicht erstlich seine lebenszeitliche »Nichtigkeit«, als wäre sein Leben,

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weil zeitlich, überhaupt nichtig, sondern vor allem seine Sündhaftig­ keit: die ganze Absurdität und Unmöglichkeit der Tat Adams,205

die der Jahwe- und Christusglaube braucht, damit der Gläubige sich seiner Nichtigkeit und in eins Gottes Seinswirklichkeit geistiggeistlich vergewissern kann. Schöpferischer Nihilismus und schöpfe­ rischer Surrealismus bedingen einander. In dieser Sache erweist sich allerdings das Alte Testament der Geschichte des Menschen und seiner Lebenswirklichkeit näher als das Neue Testament. Die Vertreibung des Urpaares aus dem Paradies wird bei Paulus und Karl Barth zu einer Versetzung ins Nichts, während die Genesis erzählt, daß dies Paar auf der Erde seßhaft wird zur Paarung und Vermehrung, »bestraft« durch Schmerzen bei der Geburt und Mühen beim Anbau auf dem Acker, was dieser frühen Selbstauslegung des Menschen ein Stück his­ torischer Wahrheit verschafft: Aus einem himmlischen Park gelangt der Mensch dahin, wohin er gehört, auf irdisches Bauernland. Von Paulus’ Einspruch, daß das Paar gedacht sei, ja nicht eines Fleisches, sondern mit Gott eines Geistes (pneuma) zu sein, wären die Autoren der Genesis höchlich befremdet gewesen. Mit seinem Seßhaftwerden beginnt der Mensch Religionen zu stiften und sich sprunghaft zu vermehren. Damit rückt ein Geschehen in den Vordergrund: das Vergehen von allem Zeitlichen und der Neubeginn von allem Zeitlichen. Die Tage, Monde und Jahre demons­ trieren das, die Jahreszeiten auf dem Feld, die auf jeden Winter einen neuen Frühling folgen lassen, die Lebensalter, die den Altgewordenen neue Jugend beigesellen. Es ist erstaunlich, daß der Mensch sich mit diesem Perpetuum nicht abfinden, schon gar nicht identifizieren will. Selbst Totenkulte führten und führen den Menschen nicht zu einem allgemeinen Einverständnis mit der Vergänglichkeit menschlichen Lebens in seiner individuellen Einzelnheit. Das Bewußtwerden und Bewußtsein der eigenen Natur mit dem darin eingeschlossen Erfah­ rungswissen um das Weitergeben von Leben und eigenen Tod führen ganz offensichtlich selbst, ja gerade in Hochkulturen nicht zur kultur­ prägenden Bejahung der eigenen Natur. Menschenweit übernehmen es Religionen, einem Bedürfnis nachkommend, den Menschen davon zu überzeugen, daß seine Natur nicht die wahre ist. Dieselbe liege vielmehr in seiner Übernatur. Religion hat stets wie aus einer Einsicht 205

Karl Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 297.

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gehandelt, ihr eigenstes und einziges Potential, das Verklären, nur zur Wirkung bringen zu können, wenn es als Aufklärung auftritt, als unbedingter Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch.

V. Die Tatsache, daß der moderne Homo sapiens in seiner höchsten Ent­ wicklungsform auf Distanz zur eigenen Natur geht, ist denkwürdig. Sie ist die feste Grundlage für die, wie es der erhellend Aufklärende sieht, überraschende Hybridität des Menschen, ein, im Bilde gespro­ chen, Wesen der Erde und ein Wesen des Himmels zu sein, nicht des Erdenhimmels, sondern des Überhimmels. Mit der Distanz zur eigenen Natur erhält das verklärende Glauben und Denken gegenüber dem aufklärenden Erfahren, Erleben und Erkennen seine ganz eigene lebenspraktische Bedeutung. Die Radikalität dieses Schritts in der kulturellen Evolution des Menschen zeigt sich in aller Klarheit darin, wie der Theologe des sehr speziellen christlichen Monotheismus sich seiner annimmt. Er läßt aus sich den Ontologen sprechen: Seiner Natur nach ist der Mensch ein Nichts. Allein die Ausrichtung auf seine Übernatur gibt Hoffnung, doch wahrhaft Wirkliches zu sein. Das maßgebliche Programm des selbsterklärten Apostels und theologischen Mitstifters der christlichen Religion ist es, den Menschen aus der Knechtschaft der Vergänglichkeit (phthora) zu befreien.206 Da für ihn die Vergänglichkeit des Lebendigen kein Tatbe­ stand der Evolution ist, hat er als Verklärer, der als Aufklärer auftritt, die künstlerische Freiheit, sie als Knechtschaft zu »erklären«: An ihr ist der Mensch schuld, der sich als historisch verklärter mythischer Mensch am geglaubten Gott vergangen hat. Der schuldige Mensch ist so der sündhafte. Damit ist die Bahn frei für die Verklärung der Geschichte des Menschen zur Heilsgeschichte: zur Befreiung von Sündhaftigkeit, in die die Befreiung von Vergänglichkeit eingeschlos­ sen ist. So ist der religiöse Glaube, der die Natur des Menschen verklärend in eine Übernatur aufhebt, absolut notwendig, soll die Geschichte ein Ganzes sein: die Befreiung vom Tod, der der Sünde Sold, als die Befreiung zum ewigen Leben. Niemand hat das, unter Berufung auf Paulus, klarer gesehen als der frühe Karl Barth: 206

Römerbrief 8,21.

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Das dunkle Verhängnis, das, bisher naiv ignoriert, über mir hing, ist hereingebrochen und hat von meinem Wissen und Wollen Besitz ergriffen; ich kann es nicht mehr leugnen, daß ich gegen Gott in Rebel­ lion begriffen bin und daß Gott mich verwerfen muß. Und mit dem naiven Freiheitsgefühl ist nun auch jenes »Leben« dahin, das ich genoß, bevor mir die Heiligkeit Gottes erschienen war (7,9a). Ich bin nun kein Lebendiger mehr, sondern ein Sterbender. Denn der Sünde muß ja der Tod folgen. Meine freie Seele ist hineingerissen in den Strudel von Vergänglichkeit und Nichtigkeit, der vom Falle Adams ausgeht auf die ganze Welt (5,12). Im Schuldbewußtsein erstirbt das bisherige naive Lebensbewußtsein.207

Der das schreibt, macht kein Theater. Er meint es ernst. Religiöser Glaube wie der christliche macht, theologisch durchdacht, die Erde zu einem Tollhaus, zu einem Ort der Verdüsterung, Bedrängnis und Verwirrung, zu einem Sündenpfuhl. Barth denkt und empfindet nicht anders, als es Paulus, Luther und Pascal bekundet haben, ja eben die ganze Mitstifterschaft dieser Erlösungsreligion. Das Verklärungspo­ tential der »Frohen Botschaft« gründet mit absoluter Notwendigkeit auf der nihilistischen Verklärung menschlicher Lebenswirklichkeit. Hier, im Zeitlichen, ist kein Mensch froh, kann und darf keiner froh sein. Die Freude, die die Frohe Botschaft verspricht, ist einzig für das Dort vorgesehen, für die Ewigkeit, die die endgültige Verwandlung der nichtigen natürlichen Natur in die seinsmächtige Übernatur bedeutet. Sie hat zur Voraussetzung, daß das Urteil im Letzten Gericht gnädig ausfällt.

5. Glaubenskunst I. Religiöser Glaube ist schöpferisch. Die »Schöpfung«, wie sie jüdischer und christlicher Glaube glaubt, ist eine Schöpfung des Glaubens. Religiös Geglaubtes ist prinzipiell Unmögliches. Darum ist religiöser Glaube von Natur ein Wunderglaube. In allem Geglaubten spiegelt sich Glaubensbedürfnis, das seiner Natur nach ein Wunderbedürfnis ist. Zur Grundschulung des gläubigen Christen als Glaubenskünstler 207

Karl Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 272.

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5. Glaubenskunst

gehört, nicht auf das Sichtbare zu sehen, sondern auf das Unsichtbare, nicht auf das Zeitliche, sondern auf das Ewige.208 Alles Übernatürliche verdankt sich menschlicher Schöpferkraft. Unsere Natur ist durch das Vermögen ausgezeichnet, Übernatürliches hervorzubringen, wie es auch die Denkkunst beweist. Wer sich durch eine Musikaufführung als entrückt erfährt, um daraufhin von Über­ himmlischem zu sprechen, gebraucht eine Metapher. Er macht eine Grenzerfahrung, überschreitet aber keine Grenze, sondern bleibt in der einen Welt, und weiß das auch. Zum Glaubenskünstler dagegen gehört der Glaube, das Geglaubte in einer anderen Welt zu wissen: über allem Hör- und Sichtbaren, über allem Natürlichen und Vernünf­ tigen. In der jüdisch-christlichen Tradition sammelt sich das Überna­ türliche im wundervermögenden Gott. Er ist nicht von »dieser« Welt, ist kein Teil der »Schöpfung«. Das macht ihn nicht abwesend, sondern erhaben (hypsos), wohnt er ja auch im übernatürlichen Himmel (hypsos), von wo aus er sein Verhältnis zum gläubigen Menschen gestaltet. Der Glaube hat die Abgelöstheit (Absolutheit) Gottes von allem Natürlichen mit dem Glanz des Heiligen versehen, der jede profane Zugänglichkeit verwehrt. Alles, was gläubige Schöpferkraft an Überweltlichem und Übernatürlichem sinnlich-geistig zugänglich macht, ist Heiliges, das heiligt und geheiligt wird. Es ist ausgegrenzt vom Profanen, Nichtgeweihten und Nichtgeheiligten. Der Geist Got­ tes heiligt, der heilige Geist heiligt, der Mensch, der gläubigen Geistes ist, heiligt. Als der, der die gläubig verfaßten heiligen und geformten Gottesworte zu verantworten hat, lebt er in einer heiligen Welt: Orte sind heilig, der Tempel, ein Berg, eine Stätte, eine Stadt, ein Land. Zeiten sind heilig, die, wie den Sabbattag der gläubigen Juden, Gott gesegnet (eulogizein) und geheiligt (hagiazein) hat. Allem zuvor, so initiiert der Gläubige seinen Glauben, ist das gelingende Verhältnis von Gott und Mensch geheiligt, angefangen mit der Heiligung des Namens des »Herrn«, der dreifach heilig ist, und mit der Heiligung des gläubigen Menschen durch Gott, der ihn »durch und durch« heiligt (hagiasai hymas holoteleîs),209 so daß er an Geist, Seele und Leib untadelig bleibt bis zur Wiederkunft Christi. Die gemeinsame über­ weltliche Heiligkeit von Gott und Mensch wird durch den Glauben unmittelbar verifiziert. Notieren die der christlichen Glaubenskunst zuarbeitenden Evangelisten Matthäus und Lukas »dein Name werde 208 209

2.Korinther 4,18. 1. Thessalonicher 5,23.

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geheiligt«210, dann hat ein entsprechendes Heiligen in der durch den Glauben geschaffenen überweltlichen Welt wirklich statt. Die »Heilige Schrift« von der Genesis bis zur Apokalypse ist mit ihren Notaten der Heiligkeit, des Heiligens und Geheiligtwerdens selbst das Mysterium, sofern sich in ihr gläubige Schreiber und gläubige Leser begegnen. Vereint bilden sie die erhöht-wirkliche (entprofani­ sierte) Welt der jüdischen und christlichen Religion. An Gott als den Schöpfer von Himmel und Erde und an Christus als den Erlöser (»Retter«) zu glauben, gehört zu den tragenden Bausteinen der ver­ klärten Lebenswelt religiös Gläubiger. Dem Glaubenskünstler gelingt es wirklich, glaubensgeschult, wie er ist, nicht das Sichtbare, sondern das Unsichtbare zu sehen, nicht das Zeitliche, sondern das Ewige. Das ist Künstlerschaft und kein Selbstbetrug, sofern er es mit der Verantwortung als Künstler hält: Der religiöse Glaube schafft an einer Welt der Kunst, an einer verklärten Welt, die er nicht mit der Welt vertauscht und verwechselt, für die sein Realitätssinn gültig bleibt. Glaubenskunst nimmt es an lebenspraktischer Bedeutung mit der Lebenskunst als der Kunst, Leben gelingend miteinander zu teilen, auf, falls sie nicht sogar gelegentlich von noch größerer Stärke ist. Das setzt freilich voraus, daß der Gläubige, der frei am gelebten Glauben mitwirkt, sich nicht auf die als verbindlich vorgezeichnete Spur eines Ontotheologen wie Paulus begibt, auf eine verfestigte Orthodoxie, die unauflöslich mit der Realitätsfalle verbunden ist, unwillig und unfähig, für das Schöpfen aus ihrem Verklärungspotential künstleri­ sche Verantwortung zu übernehmen. Lieber nimmt sie es in Kauf, religiösen Nihilismus zu demonstrieren.

II. Das christliche Glaubensbekenntnis zählt Grundlegendes von dem auf, was ein Christ glaubt, und das heißt für wahr hält. Das hat Bedeutung für die Identität der christlichen Glaubensgemeinschaft. Was jedoch ein Christ mit heiligem Namen anruft, als heiligen Ort betritt und als heilige Zeit durchlebt, hält er nicht für heilig, sondern er bürgt dafür, und dies einfach dadurch, daß er durch seinen Glauben die Heiligkeit von Name, Ort und Zeit verifiziert. Der schöpferische Glaube hält das Geglaubte nicht für wahr, sondern macht es wahr. Er ist selbst der truth-maker. Praktizierte schöpferische Gläubigkeit 210

Matthäusevanglium 6,9; Lukasevangelium 11,2.

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für ein Illusionstheater anzusehen, ist ein kognitivistisches Mißver­ ständnis religiösen Glaubens. Das legt er freilich selbst nahe, wenn er anstatt künstlerische Verantwortung für seine Glaubenshandlungen zu übernehmen, Dinge im Namen des Glaubens vollbringt, die nach politischer Verantwortung verlangen, die militärische eingeschlossen, nach wissenschaftlicher und moralischer. Bereits die Gesetzgebung für Asebieprozesse, wie schon das antike Griechenland beweist, lie­ gen außerhalb jeder möglichen künstlerischen Verantwortung, nicht weniger das wissenschaftliche Ansinnen heutiger Evangelikalen, die ohne Sinn für Verklärung ihr rigoristisches und einfältiges Unwesen treiben, für die Kreuzzügler von einst mit ihrem politischen Ansinnen und nicht zuletzt für selbsternannte Hüter der Rechtgläubigkeit, wie sie in Inquisitionsprozessen und Hexenverfolgung ihrem vorgebli­ chen Disziplinierungswillen freien Lauf ließen in der praktischen Gestaltung von Menschenverachtung und Befriedigung sadistischer Bedürfnisse. Religiöser Glaube, der in der Realitätsfalle steckt, ist eine bleibende Gefahr für menschliche Gemeinschaften und Gesellschaf­ ten. Der Glaubenskunst sind die der Kunst eigenen Grenzen gesetzt. In diesem Falle geht es nicht um Mögliches in der Welt, sondern um Mögliches allein jenseits dieser Welt. Es geht um Wunder, die nach keiner Vernunft verlangen, um eine Erklärung zu finden.

III. Der Hegelschüler und Hegelkritiker Ludwig Feuerbach (1804–1872) hat, anders als Hegel, über Religion nachgedacht, sie hinterfragt, und nicht einem eigenen systemischen Ansatz gefügig gemacht. Hegel will in seinem idealistischen Überschwang Verklärung und Aufklärung so zusammenführen, daß Verklärung nicht mehr Verklärung und Aufklärung nicht mehr Aufklärung ist.: … – wir müßen eine neue Mythologie / haben, diese Mythologie aber muß / eine Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch d.h. mythologisch machen, haben sie für / das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß / sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich aufge­

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klärte und Unauf- / geklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, und / das Volk vernünftig […]211

Feuerbach dagegen verfährt rein aufklärend, dies aber in der Absicht, dem religiösen Glauben gerecht zu werden und damit auch den Gläubigen. Der Autor, in dessen philosophischer Sozialisation der Philosoph Ludwig Feuerbach nicht vorkommt, der seine Schriften zur Religion im Jahre 2021 erstmals zur Hand nimmt, findet in ihnen ganz überraschend einen Verbündeten. Der Gläubige ist es, er allein, der die Verantwortung für seinen Glauben und das in ihm Geglaubte hat. Er ist es, der durch den Glauben allein das Verhältnis von Gott und Mensch, Mensch und Gott mit Leben erfüllt. Feuerbach erkennt klar, daß beim religiösen Glauben der Glaube das alles Tragende ist. Von möglichen und notwendigen Gottesbeweisen keine Spur. Das war Hegel, der, nicht zuletzt mit »Die Beweise vom Dasein Gottes« zur Genüge bewiesen hat, mit vollem Bewußtsein in die Existenzfalle zu gehen. Die Zauberei des ontologischen Gottesbeweises, die ihn in seinem gesamten Werk umtreibt, zielt auf etwas für religiösen Glauben nicht nur Irrelevantes, sondern ihm Zuwiderlaufendes. Feuerbachs Schriften zum Christentum im Besonderen und zur Religion im Allgemeinen212 sind ein wahrer Fundus der Aufklärung über die den Menschen auszeichnende Religiosität und dabei ein beeindruckendes Plädoyer für die Menschlichkeit des Menschen. Ihm gelingt es, überzeugend die Einsicht zu vermitteln, das eigentliche Wunder am christlichen Wunderglauben sei dieser Glaube selbst.213 Feuerbach zeigt in immer neuen Ansätzen, wie es Gefühl, Empfin­ dung und Gemüt (»Gemütlichkeit«) sind, die den Menschen nicht einseitig zu einem sich für seine Selbsterhaltung selbst instrumenta­ lisierenden Wesen werden lassen, sondern begleitet ihn auf seinen verschlungenen Wegen, sein Bedürfnis nach Mystik zu befriedigen. Anstatt aber dieses menschliche Verhalten lebenspraktisch positiv zu werten, wird Feuerbach selber einseitig. Er bleibt für wahres mensch­ 211 Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (um 1796), Biblio­ theca Augustana. 212 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841), Köln 2014; ders., Das Wesen der Religion (1846), Leipzig 2019. 213 Siehe Rainer Marten, Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie von Philosophie und Religion (2005) das Kapitel »Die Möglichkeit, Wunder zu schauen und Wunder zu tun: Altes und Neues Testament« (S. 161–176); ders., Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben (2013) die Kapitel »Mit Gott – ohne Gott« und »Mysterium fidei – Geheimnis des Lebens« (S. 113–146).

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liches Verhalten bei der, wie sie Karl Marx nennen wird, »wirklichen Wirklichkeit«, anstatt des schöpferischen Charakters von religiösem Glauben gewahr zu werden, für den es keinen Grund gibt, sein Wirken zugunsten gelingenden Lebens einzustellen. Feuerbach weiß es selbst: Lebt der Glaube vom Verklären, dann hört er auf das, was »nicht mehr den klaren schlichten Worten der Vernunft, sondern vielmehr mit dem heiligen Empfindungsworte: Gott betont wird.«214 Feuerbach wäre mehr Zutrauen zu seiner hellsichtigen Aufklärung zu wünschen gewesen, daß sie nicht entlarvend und entzaubernd, sondern vielmehr erhellend ist, und dies nicht zuletzt für den Gläubigen: Der Glaube ist aber nichts andres als die zuversichtliche Gewißheit von der Realität, d.i. unbedingten Gültigkeit und Wahrheit des Subjektiven im Gegensatz zu den Schranken, d.i. Gesetzen der Natur und Vernunft.215

Das ist der springende Punkt: das Absolute. Wie Feuerbach es ver­ steht, geht jeder Christusgläubige notwendig in die Realitätsfalle, die die ontotheologische Orthodoxie der paulinischen Theologie verbind­ lich vorgibt. Doch das theologisch als absolut Gemeinte relativiert sich ganz von selbst, wenn die monotheistischen Religionen nicht an der Einsicht vorbeikommen, daß es eine Mehrzahl von absoluten Wahr­ heiten gibt. Feuerbach hat die Orthodoxie der Theologen mitgespielt und nicht frei auf das Schöpferische des Glaubens gesetzt, obgleich er selbst eingesehen hat, daß der geglaubte Gott eine Schöpfung des Glaubens ist. Das Absolute als menschliche Schöpfung – was sollte es auch anderes sein, wenn nicht eine Schöpfung der Denkkunst und der Glaubenskunst? Der Glaube ist nichts andres als der Glaube an die Gottheit des Men­ schen.216

Auch diese hellsichtige Aufklärung ist für den Gläubigen im besseren Falle eine Erhellung seines Glaubens, um ihn selbst als Glaubens­ künstler zu verantworten.

IV. Monotheistische Religion ist eine Hochform von Kunst – noch über alle Möglichkeiten hinaus, die sich in Wort und Bild, Ton und Bewe­ 214 215 216

Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, a.a.O., S. 183. Ebd., S. 240. Ebd., S. 241.

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gung den Künsten bieten. Die Glaubenskunst geht auch noch über die Denkkunst dadurch hinaus, daß sie mehr bewegt, begeistert und befruchtet, was am besten metaphorisch durch das Herz angesprochen ist. Glaubenskunst bewährt sich als eine außerordentliche Form von Lebenskunst. Religiöses Glauben als Vertrauen (als pisteuein, nicht als nomizein) ist der Weg, nicht im Geistig-Geistlichen eingesperrt zu bleiben, sondern lebenspraktische Bedeutung zu gewinnen: Ver­ trauen in das Leben. Das aber heißt: den Glauben leben – als Künstler.

6. Glaubensbedürfnis I. Die klarste Auskunft über religiöses Glaubensbedürfnis gibt keine Psychologie, keine historische und soziologische Wissenschaft, son­ dern der geglaubte Gott. In ihm sammelt sich alles, was der Glau­ bensbedürftige sich an zum Glauben Nötigen, und das ist das zu glauben Nötige, als Glaubenskünstler erschafft. »Unendlich über den Menschen hinaus« ist die Devise dieses Schaffens. Anders als bei der Maschine, die ungleich vermögender ist als der Mensch, geht es um kein relatives Mehr, um nichts Komparativisches wie das »schneller« und »effizienter« der Maschine, sondern um ein absolutes Mehr, um unendlich mehr. Die Maschine, die der Mensch baut, um ihr mehr zuzutrauen als sich selbst, ist prinzipiell für Mögliches und Machba­ res gedacht, das im Bereich des vom Menschen Vorstellbaren und Wollbaren liegt. Der geglaubte Gott dagegen ist sogleich mit dem für Menschen Unvorstellbaren und schlechthin Unmöglichen bedacht. Er darf in keiner Hinsicht zu etwas geraten, das in seinem Wesen und Handeln begreifbar wäre, ja berechenbar und belangbar. Das Glaubensbedürfnis sprengt bereits mit seinem ersten künstlerischen Akt die Endlichkeit alles Menschlichen und richtet sich an dem einen Wesen auf, das dem Menschen in allem unendlich überlegen ist. Der Allmächtige und Allwissende, der die Liebe, die Güte, die Gerechtig­ keit selbst ist, steht über ihm, dessen Wirkmacht einzigartig daran hängt, daß sie Verstand und Vernunft, dieser Mitgift des endlichen Menschen, unzugänglich ist und bleibt. Für die Allmacht und alles weitere dem Menschen schlechthin Unmögliche ist die Conditio sine qua non, unbegründbar, unberechenbar, unverstehbar und unbegreif­

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bar zu sein. Könnte der an Gott Glaubende mit dem Geglaubten argumentieren und rechten, wäre er seinen Glauben und mit ihm den Geglaubten los. Der geglaubte Gott ist notwendig ein »verborgener Gott«, einzig offenbar als das in nichts Offenbare.217 Zitiert der Prediger zum Ende eines christlichen Gottesdienstes Philipper 4,7: »Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft …«, dann weiß der damit geistig-geistlich zufrieden gestellte Kirchgänger vermutlich nicht, auf welches Glaubensabenteuer er sich da genauer einläßt: auf den Zufall, der kraft Glauben zu einem Ausdruck höchsten Willens geworden ist. Religiöser Glaube als Gottvertrauen ist, die Absolutheit Gottes recht verstanden, nicht das Vertrauen, daß alles Gute von Gott kommt, sondern das Vertrauen, daß alles, was von Gott kommt, gut ist. Da aber alles, was kommt, für den Rechtgläubigen von Gott kommt, ist alles gut. Das so zu halten, ist für gläubiges Vertrauen eine stets neue Herausforderung, wenn dem, was einem widerfährt, partout nicht anzusehen ist, was daran gut sein soll. Doch der Glaube schafft das. Leibnizens Gedanke von der existierenden Welt als der besten aller Welten ist als der eines streng- und rechtgläubigen Protestanten ein Zeichen für die geradezu ungeheure Schaffenskraft, die im Gottver­ trauen steckt. Ist Gottes Wirken schlechthin unbegreiflich, dann muß auch das Vertrauen in sein Wirken für den Vertrauenden schlechthin unbegreiflich sein. Die Verborgenheit Gottes ist glaubensnotwendig. Erkennt und anerkennt der Gläubige in allem, was ist und kommt, in Eins Willen und Gerechtigkeit Gottes, dann darf dabei nichts von Gott selbst offenbar werden. Für den christlichen Glaubenskünstler bleibt es ständige Aufgabe, im Bestehenden und Sichereignenden nie mehr und nie weniger als Gottes Werke und Taten (erga, poiêmata) zu sehen. Alles für Leben und Sterben Relevante weiß er in seinem schaffenden Glauben dem »unsichtbaren« (ouk êdeiman) Gott zuzu­ schreiben. Nun hat der Glaube dem geglaubten Gott aber Gefühle verliehen. Er zeigt sich für aufmerksames Glaubensverhalten in der Form von Opfer und Gelübde, Hilfs- und Dankgebet »empfänglich«. Freilich ist Gott nicht bestechlich, unmöglich mit durchschaubarer Absicht in seinem Willen »umzudrehen«. Gerade die Gefühle zei­ gen seine Undurchschaubarkeit und Unbeirrbarkeit. Die fürsorgende Liebe Gottes, die Gnade (charis) genannt wird, ist solch ein Gefühl, 217

Jesaja 45,15: Israels Gott ist ein Deus absconditus.

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ebenso sein Zorn (orgê). Legt Gott Zeugnis von seinem Mitleid und Erbarmen mit dem Menschen ab, dann wird diese Liebe für den Glaubenden doch nie kalkulierbar. Läßt etwa Gott gegenüber seinem Volk Gnade vor Recht ergehen, wie es in großer Aufmachung bei dem Propheten Hosea zu lesen ist,218 dann liest sich das so, als wenn Gott sich selbst damit überraschte. Die Entscheidung, anstatt das Volk zu vernichten, es in seiner Untreue weitermachen zu lassen, rührt an sein Selbstbewußtsein: Überwältigt vom Mitleid rechtfertigt er sein Tun, das die Gnade über die Gerechtigkeit siegen läßt, sich selbst gegenüber: »Denn ich bin ein Gott und kein Mensch«.219 Gott ist Zufall. Das ist provokativ formuliert, um wach zu machen für die Einsicht, die sich hier dem Nachdenken über Gottesglauben bietet. Lebensrelevante Zufälle sind in ihrem Äußersten Glücksund Unglücksfälle. Wird aus einer zufälligen Begegnung ein Bund fürs Leben, dann war das doch wohl für beide ein Glücksfall. Nein, die Geschichte läßt sich auch anders erzählen. Mann und Frau, um die es hier geht, haben sich im Hause von Nationalsozialisten am Heiligabend erstmals gesehen: Haustochter und soldatische Einquar­ tierung. Sie war fromme Christin, er wurde frommer Christ. Das ließen sie im Nachhinein nicht als Zufall gelten. Für beide war es unbeirrbar »Fügung«. Der Weihnachtsbaum war ein Julbaum gewesen – an der Spitze mit einem Sonnenrad aus Messing. Doch die »Fügung« war ebenso unbeirrbar durch die gläubige Wahrheit bestimmt, daß die Fügung der Lebensgemeinschaft unter dem Christ­ baum stattgefunden habe. Als den Mann das Unglück traf, relativ früh an einem unheilbaren Krebs zu sterben, und sie gut vierzig Jahre in Witwenschaft verbrachte, die letzten drei Jahre in Demenz, da war zu allen wachen Lebzeiten der Witwe weiter alles Fügung. Als dann in der Demenz mit der Zeit jede Möglichkeit der Frömmigkeit und Gläubigkeit schwand, »lebte« sie Erinnerungen vor aller betonten Gläubigkeit. Soweit das fromme Leben reichte, stand Gott an der Stelle des Zufalls. In seinem Geglaubtsein ließ er keinen Zufall zu. Er stand für Fügung. Ohne die großen Zufälle im Leben zum Guten und Schlechten gäbe es kein Glaubensbedürfnis von der Art des im Christenglauben erfüllten. Der Zufall eröffnet als Zufall die Möglichkeit zur spontanen Sinngebung des Geschehens durch Glauben an eine höchste, alles 218 219

Siehe dazu Rainer Marten, Lob der Zweiheit (2017), a.a.O., S. 154–164. Hosea 11,9.

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6. Glaubensbedürfnis

erfassende, dem Menschen sein Heil eröffnende Wirkmacht. Der Zufall als Glaubensstifter ist Begründer der Heilsgeschichte. Welches Material sollte williger sein als der Zufall, um daraus alles Geschehen zum Moment einer Heilsgeschichte zu machen? Heilsgeschichten haben die Form des Dialektischen: vom Guten über das Schlechte neu zum Guten, zum ganz neuen Guten. Daß alle göttliche Fügung, so schlimm es auch lebenspraktisch um die Erfahrung der Zeiten bestellt sein mag, zum Guten ist, macht Gott in seinem Wollen und Wirken offenbar. Voltaires Candide wandelt im Offenbaren, das heißt in dem, was unzweifelhaft zum Guten ist. Doch diese Offenbarung ist absolut formal. Der Gehalt des Geschehens läßt den Gott schlechtweg verborgen sein. Man bekommt von ihm unmöglich eine Erklärung, geschweige denn Rechtfertigung für das Unbegreifliche, nicht selten Unerträgliche, was da alles »zum Guten« sein soll. Es ist nicht mutig und selbstverachtend, nein, es ist toll, wie weit Menschen die Befrie­ digung ihres Glaubensbedürfnisses getrieben haben. Der verborgene Gott rettet alles in ein »zum Guten«. Der gefestigte Glaube bleibt unbeirrt bei der Offenbarkeit des Heilsgeschehens. Die gestandene Christin und der gestandene Christ sind weder Optimisten noch Pessimisten. Sie benedizieren alles, wissen sie sich ja auch, sind sie Auserwählte, als Gebenedeite. Das Glaubensbedürfnis ist auf fruchtbarste Weise zwiespältig: Es braucht die unnahbare Ferne, aber auch die spürbare Nähe des geglaubten Gottes. Unbewußt sorgt der Gläubige so für die absolute Trennung zwischen einer für ihn notwendigerweise unzugänglichen Subjektivität und einer notwendigerweise zugänglichen Objektivität Gottes. Die im Glauben erschaffene Objektivität bezeugt das Heils­ geschehen, die entsprechend geschaffene Subjektivität sorgt für die absolut notwendige Unerforschlichkeit der Wege Gottes.220 Die Weisheit, die Erkenntnis, die Gerechtigkeit Gottes, nichts von dem, was für die Befriedigung des Glaubensbedürfnisses relevant sein kann, darf dem Gläubigen im geringsten einsehbar werden. So tut der schöpferische Glaube alles, Gott gegen jede Möglichkeit eines menschlichen Einspruchs zu immunisieren. Wie sonst sollte Gott der Zufall in der Form des Herrn alles Geschehens sein, der gnädige und der zürnende Herr? Gott, der der Zufall in seiner göttlichen Verwandlung ist, ist das absolut notwendige Wesen: das ens necessarium. Nur der an sich und aus sich selbst notwendige 220

Römerbrief 11,33. Wörtlich: Nichtaufspürbarkeit.

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B. Verklärende Religion

Gott kann der Zufall sein, der dem Glaubensbedürftigen sein Glück wissen läßt, das gewollte Kind Gottes zu sein, nicht aber das zufällige »Kind« des Urknalls und der Evolution des Lebens. Das schöpferische Glaubensbedürfnis versucht damit das Kunststück fertigzubringen, anstatt die menschliche Autonomie als Mensch wahrzunehmen, sie durch Gott wahrnehmen zu lassen: Alles, was geschieht, geschieht so, als erfolge der Anstoß dazu durch die eigene Autonomie: Sie ist, wie der eigene Wille, Gott übereignet. Da die damit in Gang gesetzte Heilsgeschichte ihren Weg von Unschuld, Schuld, Sühne und neuer Unschuld nimmt, gehört zum Glaubensbedürfnis ganz offensichtlich das Schuldigwerdenwollen. Die Selbstentlastung durch Gottesglauben hat ihren Preis: die Gotteskindschaft will gelebt sein. Da aber wird aus dem unschuldigen Kind notwendig das sündige, das heißt sich an Gott verfehlende. Das Schuldigsein ist ein geniales Moment des christlichen Glaubensbedürfnisses. Kann der Gläubige angesichts des Entsetzlichen des Geschehenden nicht herausbekom­ men (Paulus: anexereuêtos), was darin noch eine Gerechtigkeit Gottes sein kann, dann tönt doch auch schon das »selber schuld«. Wie könnten Zufälle, die Unglücksfälle sind, besser und nachdrücklicher ihren Zufallscharakter verlieren als dadurch, daß sich die moralische Schuldfrage auftut. Der Gläubige, von seiner Autonomie entlastet, hat in Gott die Figur, die ihm den Zufall des Geschehens nimmt und ihn selbst in die Kausalität des Geschehens als Verursacher, zumindest Mitverursacher einbezieht. Ein Äußerstes des christlichen Glaubensbedürfnisses ist es, mit Gott Eins zu werden. Mit Gott das Leben zu teilen analog seiner Teilung mit anderen Menschen, gehört unmöglich zu diesem Bedürf­ nis. Zwar kennt der Eine selbst seinen Nächsten nie genau, so bleibt doch die Verborgenheit Gottes das stärkste Indiz für seine bleibende fundamentale Andersheit. Sieht der Gläubige im Gott-Mensch-Ver­ hältnis ein Rechtsverhältnis, wie es der Sprachgebrauch im Alten und Neuen Testament nahelegt: Testament im Sinne von Bund (diathêkê), dann sind ihm freilich keine besonderen Rechte vor Gott eingeräumt. Gottes Teil an dem Bund von Gott und Mensch, Mensch und Gott, ist die Unverbrüchlichkeit seiner Zuwendung zum Menschen. Man kann darum das Rechtsverhältnis ein total asymmetrisches nennen. Soll der geglaubte Gott dem Glaubensbedürfnis gerecht werden, dann kann die Unterwerfung unter den Willen Gottes, soll er der notwendig verborgene bleiben, nur eine absolute sein. Wäre Gott auch

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6. Glaubensbedürfnis

nur im Geringsten von der Art eines menschlichen Bündnispartners, entspräche er unmöglich den Bedürfnissen des Glaubens. Daß der Gläubige »im Bunde« mit Gott mit ihm unmöglich das Leben teilt, entspricht voll dem Glaubensbedürfnis, das zutiefst nicht das Bedürfnis nach einem göttlich zu lebenden Leben ist, sondern das nach Geborgenheit, Ruhe und Frieden. Alle philosophischen und reli­ giösen Menschheitsrettungsprogramme sind eschatologischer Natur. Entsprechend ist das Glaubensbedürfnis in seinem Tiefsten ein escha­ tologisches. Das Reich Gottes, wie es aus diesem Bedürfnis heraus geglaubt wird, ist das Reich des Friedens und damit auch das der Gerechtigkeit, sind sich doch beide am nächsten: Gerechtigkeit und Frieden »küssen« einander.221 Das sind nicht Gerechtigkeit und Frie­ den, die ein üppiges Leben gewährten, sondern, wenn überhaupt noch Leben im Spiel ist, dann geistiger Natur, weshalb Paulus das Reich Gottes, das das der Gerechtigkeit und des Friedens ist, auch noch als das der Freude im heiligen Geiste bestimmt.222 Bereits die selig machende Aufnahme im Schoße des in der Ewigkeit wirken­ den Abrahams hat alle Züge des Eschatologischen. Kein Glück der Lebendigkeit zeigt sich, sondern das der endgültigen Geborgenheit und des ewigen Friedens.223 Dem das widerfährt (Lazarus), war das Leben eine einzige Qual. Das frühe Buch der Könige, in einer Zeit kriegerischer Gewalttätigkeit in dem noch nicht von Israeliten vollständig eroberten Kanaan verfaßt, erzählt von einem Israeliten, der nach einem »von Angesicht zu Angesicht« mit dem Boten Gottes einen Altar errichtet, den er »Gott ist Friede« (»Adonaj Schalom«) nannte.224 Das Glaubensbedürfnis richtet sich gegen die Agonalität des Lebens und damit auch gegen das Leben. Wie sich das Bedürfnis in dem geglaubten Gott erfüllt, steht der Gott im Vordergrund, der für den »Frieden Gottes« steht. Wer glaubt, hat Frieden. »Die Gottlosen haben keinen Frieden.«225 Damit zeigt sich das jüdisch-christliche Glaubensbedürfnis in seinem Tiefsten und damit auch in seinem Höchsten als das Bedürfnis nach einem ewigen Leben in Ruhe und Frieden, das dem nach einem ewig seligen Totsein gleicht.

221 222 223 224 225

Psalm 85,11. Römerbrief 14,17. Lukasevangelium 16,22–26. Richter 6,24. Jesaja 48,22.

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C. Aufklärung durch Vernunft: Kant

1. Entzaubernde Aufklärung – im Interesse des Verstandesund Vernunftwesens Mensch. Exemplarisch: Die Unmöglichkeit des ontologischen Gottesbeweises I. Der Gedanke des Absoluten, der die Einheit des unbedingt Idealen und des unbedingt Realen zu denken vorgibt,226 beschämt mensch­ liche Redlichkeit. Er ist die Grundlage des Denkens des aufs Neue verklärenden Gegenaufklärers Schelling. Ihm ist jedes Sacrificium intellectus willkommen, sofern es dazu beiträgt, die Entzauberung der Welt des Geistes aufzuhalten, ja rückgängig zu machen. Durch und durch Platoniker, weiß er um seinen starken Rückhalt in der Tradition des Idealismus. Die Idee ist das Wirkliche, das wirklichere und wahrere Wirkliche als das Wirkliche »dieser Welt«. Platons Gedanke, daß allein die gedachte Sache die Sache selbst ist, und allein durch sie das sachlich »Nachbenannte« das Recht hat, den Namen der Sache zu tragen, ist zu seinem eigenen Gedanken geworden. Hat für Platon ein junger Mensch allein dadurch die Chance, als schön erachtet zu werden, sofern er am Schönen selbst, an der Idee, teilhat, ohne dadurch an deren wahre Schönheit heranreichen zu können, dann ist das ganz Schellings Geist geworden: allein die Verklärung ist mächtig genug, der Aufklärung geistig Überzeugendes entgegenzusetzen – für Verklärung zugängliche Gemüter vorausgesetzt. Bringt Schelling seine geistige Grundüberzeugung sprachlich in die Form: »Die Natur des Absoluten ist: als das absolut Ideale auch das Reale zu sein«,227 dann will er nichts mehr davon wissen, daß er damit nicht mehr und nicht weniger als einen Begriff des Absoluten formuliert, ohne jede Garantie, daß der so geformte Begriff nicht für immer ein leerer ist. 226 227

F.W. Schelling, Sämtliche Werke, Bd. III, a.a.O., S. 238. Siehe oben, S. 65.

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C. Aufklärung durch Vernunft: Kant

Sollte der »deutsche Idealist« Schelling sich gewiß gewesen sein, durch sein Philosophieren die Vernunft im Widerspruch zu Kant wieder voll entgrenzt zu haben, dann war das eine irrtümliche Gewißheit. Die Diffamierung der vielfältigen Wissenschaften als niedere, weil nützliche, konnte in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit nicht Bestand haben. Haben künstlerische Kreise Münchens es auch zuwege gebracht, daß auf der Statue an einer Isarbrücke »das dankbare bayrische Volk« Schelling als den »großen Philosophen« grüßt, dann hat doch das der Technik gewidmete Deutsche Museum an der Isar die Deutung des Zeitgeistes übernommen. Oskar Miller war es, der durch technische Kenntnisse in letzter Minute das Scheitern der Aufrichtung der riesigen Bavaria auf der Theresienwiese verhinderte und dafür vom bayrischen König geadelt wurde. Als Mitgründer und Gründer der AEG (1884) und des Deutschen Museums (1903) hat er München als Stadt der Kunst keinen Schaden angetan, es aber in Balance gehalten als Stadt der Wissenschaft und Technik. Dem philosophischen Idealismus ist es dagegen eigen, sich selbstherrlich in seine Einseitigkeit zu versteifen. Das ließ Kants Aufklärung über die Grenzen der Vernunft über Schelling hinaus aktuell bleiben.

II. Kant hat die Unmöglichkeit des ontologischen Gottesbeweises gültig nachgewiesen. Ein Querdenker wie Hegel hat keine Möglichkeit gehabt, dem etwas Gültiges entgegenzusetzen. Ein spekulativer Den­ ker verbietet es sich im eigensten Interesse, vernünftig zu argumen­ tieren. Was Hegel als Beweis dieses unseligen »Beweises« vorbringt, ist das einfache Produkt der Petitio principii: Das Zubeweisende ist die Grundlage des Beweises. Das besagt in diesem Falle: Weil der Begriff Gottes gedacht ist, ist es unmöglich ein leerer Begriff. Das ist für den Berufsstand derer, die auf gesichertes Wissen aus sind, das jeden des Verstandes und der Vernunft Mächtigen als Wissen überzeugt, zuvörderst das Wissen, das den Menschen über sich selbst als Mensch aufklärt, eine Schmach. Daß ein Aussagesatz nicht über sich selber etwas aussagt, ist selbstverständlich. Diese Selbstverständlichkeit teilt der Begriff, der nicht mehr und nicht weniger begreift, als seinen Gehalt, eben, was er begreift. Unmöglich begreift er, wie von außen, als wäre er noch etwas anderes als der in seinem Gehalt abgeschlos­ sene Begriff, sich selbst. Daß Existenz kein »reales Prädikat« ist,

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1. Entzaubernde Aufklärung – im Interesse des Vernunftwesens Mensch

notiert bereits Kant. Die über Jahrzehnte gehende Diskussion »Is existence a predicate?« in der philosophischen Zeitschrift Mind228 kannte Hegel nicht. Die aber hätte er sich auch sparen können. Ein tauglicher Begriff versammelt durch seine Nichtwidersprüchlichkeit als möglich Freigegebenes, das seiner Wirklichkeitsfähigkeit dadurch keineswegs sicher ist. Immer noch gilt der alte Satz, daß das Wirkliche als solches seine Möglichkeit beweist. Vom logischen Möglichkeits­ begriff aber auf Wirklichkeit zu schließen, auf bereits bestehende oder künftige (wie Adorno), ist schlicht ein Fehlschluß. Kant gibt sich alle Mühe, auch den leisesten Zweifel an der Unmöglichkeit des ontolo­ gischen Gottesbeweises auszuräumen.229 Bereits zu Anfang sagt er in wenigen Sätzen das, was für jeden, der vernünftigen Argumenten zugänglich ist, ausgereicht hätte, diesen ominösen Beweis, der das »Idealische und bloß Gesichtete« und damit ein »bloßes Selbstge­ schöpf ihres (R.M.: der Vernunft) Denkens« als ein »wirkliches Wesen« annimmt, für immer als eine historische Rarität ad acta zu legen. Wer bei der »reinen Kategorie« bleibt, gelangt über die logische Möglichkeit nicht hinaus. Die Aussage »Der monotheistische Gott existiert nicht« (nach Willard Van Orman Quine wäre besser zu for­ mulieren: »Etwas, das sich wie ein monotheistischer Gott verhält, existiert nicht«) stellt keinen Widerspruch dar. Der Versuch, durch freizügiges Denken einem ens necessarium Existenz zu verschaffen, muß scheitern. Ein starkes Argument Kants zu guter Letzt ist, daß »das Merkmal der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse immer nur in der Erfahrung gesucht werden muß«.230 Das analytische Urteil bleibt formal bei der logischen Widerspruchsfreiheit. Das syntheti­ sche Urteil erst wird konkret.

228 Siehe Rainer Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen. Untersuchungen zur ontologischen Basis sprachlicher Verständigung, Berlin 1972. 229 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1952, S. A583-A602. 230 Ebd., S. A602.

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C. Aufklärung durch Vernunft: Kant

2. Verführende Aufklärung – im Interesse der Vernunft 2.1 Was soll ich tun?: Kant I. Kant setzt voraus, daß das die Frage eines vernünftigen Wesens ist, in diesem Falle die des vernünftigen Menschen. Er setzt damit voraus, daß seine Vernunft diese Frage stellt. An wen und was richtet sie aber ihre Frage? Für Kant gibt es nur eine Möglichkeit: Sie fragt die Vernunft. Wie Kant die Frage »Was soll ich tun?« inszeniert, stellt sie nicht mehr und nicht weniger als eine Selbstbefragung der Vernunft dar. Und was antwortet die Vernunft auf die Frage, die sie sich selbst stellt? Kant hat die verbindliche Antwort durch den Begriff des Interesses der Vernunft vorgezeichnet: Du sollst am Interesse der Vernunft, die genauer die reine praktische ist, teilhaben.231 Das ist bedeutsam, da befremdend: Kant unterstellt einer geisti­ gen Kraft des Menschen ein eigenes Interesse und macht sie dadurch zu etwas selbsthaft Tätigem. Üblicherweise bedient sich der Mensch seiner sinnlichen und geistigen Kräfte. Hat etwa die Sehkraft auch ein eigenes Interesse: das Interesse am Sehen? Platon sagt, daß der Mensch wohl durch das Auge, aber mit der Seele sieht. Demnach hätte die Sehkraft kein eigenes Interesse: Kraft ihrer sieht der Mensch, aber wie sollte sie selbst am Sehen Interesse haben? Kant muß demnach die Geisteskraft Vernunft anders einschätzen als die Sinneskraft Sehkraft. Sollte er etwa meinen, daß nicht der Mensch die Vernunft in den Dienst nimmt (man denke an die beratende Vernunft bei Aristoteles), sondern die Vernunft den Menschen? Das bleibt vorerst eine Frage. Doch jetzt muß gesagt werden, was denn das Eigeninteresse der Vernunft ist. Das hat sie bereits verraten durch ihre Antwort auf die Frage nach dem Tunsollen: Sie soll an sich selbst Interesse nehmen.

231 I. Kant. KrV, ebd., A804–807. Kritik der praktischen Vernunft (KpV), Akademie Textausgabe, Bd. V, S. 79 f.

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2. Verführende Aufklärung – im Interesse der Vernunft

II. Kant schafft, wie er selber sagt, einen corpus mysticum232, vergleichbar dem Leib Christi als Kirche, die alle Gläubigen eint: die Einheit von der einen reinen Vernunft und den vielen Vernünftigen. Gibt es die aber: Ist sie vorstellbar, ist sie nachweisbar? Nein, das meint selbst Kant nicht: Das corpus mysticum der reinen Vernunft wäre die »moralische Welt«. Doch das bringt Kant nicht von seiner Idee eines Eigeninteresses der reinen Vernunft ab, im Gegenteil. In der »Grund­ legung« erfindet er einen guten Willen, der mit der reinen praktischen Vernunft koinzidiert, was die Vollkommenheit seiner Güte garantiert, es versteht sich: sub specie rationis. Der aber ist gänzlich in der von der Sinnenwelt radikal getrennten Verstandeswelt zuhause. Dadurch ist er frei von allem Bösen und Triebhaften der Sinneswelt und mit ihr von allem Sollen, das allein in sie hineingesprochen ist. Fazit: »Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen«.233 Wer dem corpus mysticum angehört, will aus freien Stücken nichts anderes tun, als was in der reinen intelligiblen Welt vernünftig getan ist, und dies in keinem anderen Interesse als dem der Vernunft. Er kann auch gar nicht anders handeln, da er über nichts als reine praktische Vernunft verfügt, über die in der Geisteswelt universell-einheitliche. Damit ist besiegelt, daß das Eigeninteresse der Vernunft, wie es die moralische Welt beherrscht, kein Interesse vertreten kann und vertreten will, das vom Menschen ausgeht, der seine Erfahrungen gemacht hat, was im Leben mit Anderen gut für ein gedeihliches Miteinander ist und was nicht. Es ist ein Glanzstück der verführenden Aufklärung Kants, anzunehmen, »daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe […]) […] den Gebrauch der Freiheit eines ver­ nünftigen Wesens überhaupt bestimmen«.234 Kant nimmt es billigend in Kauf, daß die Anteilnahme des rein vernünftigen »Wesens« am Interesse der reinen praktischen Vernunft in der Welt, in der der Mensch lebt und handelt, bei allem guten Willen nicht notwendig zu etwas Gutem führt. Ihm genügt, daß die Maxime des Willens die rein vernunft-moralische ist, ungeachtet dessen, ob sie sich praktisch KrV, A808. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), Akademie Textausgabe, Bd. IV, S. 455. 234 KrV, A807. 232

233

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C. Aufklärung durch Vernunft: Kant

durchsetzt und wie sie gegebenenfalls in der Lebenswelt ankommt. Die Vernunft interessiert, nicht das Leben.

2.2 Alle. Der allgemeine Standpunkt I. Spricht Kant von allen vernünftigen Wesen, dann meint er nicht alle Menschen, die in der Regel spätestens im Alter von neun Jahren ihr Vernunftvermögen entwickelt haben. Menschen sind für ihn nicht vernünftig, sondern zur Vernunft bestimmt. Ein Vernunftreich auf Erden ist Zukunftsmusik, wenn nicht schlechte Utopie. Der sprin­ gende Punkt ist: Menschen sind unterschieden, sind zum Beispiel, um ein für menschliches Leben maßgebliches zu nennen, männlich und weiblich. Doch die reine Vernunft verlangt die Neutralität, das neutrum: keiner von beiden. Für Kant gibt es keine männliche und weibliche Vernunft, wohl aber findet sich in einer frühen Schrift von 1764 die delikate Ansicht, daß Männer für Vernunftmoralität eher geeignet seien als Frauen. Entgegen jeder physiologischen Anthropologie fingiert Kant eine reine Vernunft, der kein Fühlen und Empfinden beigesellt ist, eben eine Vernunft, die ganz der intel­ ligiblen Welt zugehörig ist, einer Welt, die ein Noumenon, etwas, wie man will, bloß oder sogar Gedachtes ist. Nein, in der moralischen Welt, in diesem corpus mysticum, befinden sich keine Menschen, sondern allein entindividualisierte reine Vernunft. Es gibt, für rein vernünftige Moralität, keine Vielheit von Standpunkten, sondern nur einen: den allgemeinen, den neutralen. Das ist ausdrücklich nicht der des gemeinschaftlich und gesellschaftlich lebenden Menschen, sondern der einer fingierten, absolut gleichmachenden Intelligibiltät, die unterschiedslos alle in ihr Anwesenden rein vernunft-moralisch handeln wollen läßt.235 Kant ist in seinem Gebrauch des Wortes »alle« nicht nur ein Metaphysiker, sondern ein ausgesprochener Mystiker: Durch ihn ist der Mensch, der Mensch ist, verschwunden. Mit dem All der rein vernünftigen Wesen können unmöglich alle vernünftigen Menschen gemeint sein. Zur reinen Vernunft geworden, es versteht sich: zur einen praktischen, sind Geistwesen erdacht, die jede Art von Vielheit 235

I. Kant, GMS, S. 452.

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2. Verführende Aufklärung – im Interesse der Vernunft

verloren haben. Aufgehoben ins All-Eine, sind sie Eins. Der Plural »Alle« hat seinen Sinn verloren. Noch ein bedeutender philosophi­ scher Zeitgenosse erliegt dem Zauber des kantischen Moralkonzepts, wenn er sich auf »alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft« bezieht, was in einer »traditionalistische Moral von vornherein« ein »auf alle« besagt, und dies in universalistischer Erweiterung.236 Das hat schon sein Lehrer Heidegger für alle Verwesentlichungen des Menschen vorgeführt, die als·reine Vergeistigungen gemeint sind. Dieser Lehrer freilich wagt es, die reine Vergeistigung als »Individua­ tion« zu verstehen, die die »Eigentümlichkeit« hat, »daß sie alle gleich macht«. Das versucht er dadurch plausibel zu machen, daß er das Sein Aller als reines »Wie« versteht, »in dem alles Was zerstäubt«.237 Völlig »gleichmäßig« zu existieren und das heißt zu agieren, gleichmäßig auch nur mit einem Anderen und gar mit allen – das ist nicht Sache eines lebenden Menschen, das ist Mystik pur. Im übrigen ist es ein herausragendes Kennzeichen des Menschen, der sich geistig zum All-Einen aufmacht, keine Freunde zu haben, weil sie Gift für ihn wären.238 Wie Kant im Reich der Freiheit des schlechthin vernünftigen Willens alle Mitmenschlichkeit ausschaltet, entspricht er ganz dem, was chinesische Mystik für den »höchsten Menschen« vorsieht: Er hat das Leben überwunden. Ihm ist dann die absolute Tatenlosigkeit zugedacht, das Ruhen im DAO. Kant dagegen denkt noch an die Möglichkeit, das, was im Reich der reinen Geister an moralischem Potential aufgebaut ist, im wirklichen Leben wirksam werden zu lassen. Doch die Vermittlung des Intelligiblen mit dem Sensiblen, wie er es trennt, hat er nie geschafft. Der Mystiker Kant und der Mystiker Zhuang Zi kennen beide zwei Standpunkte. Bei Kant heißt es: »einmal, so fern es (ein vernünftiges Wesen) zur Sinnenwelt gehört, […] zweitens als zur intelligibelen Welt gehörig«, bei Zhuang Zi: »Vom Standpunkt der Sonderung betrachtet, gibt es Einzeldinge, […] vom Standpunkt der Gemeinsamkeit betrachtet sind alle Wesen Eins«.239 Kant läßt das vernünftige Wesen auch den Standpunkt der Sin­ nenwelt einnehmen, was anzeigen soll, daß der rein Vernünftige aus der Geisteswelt wieder zu ihr zurückkann. Der Meister des Daoismus weiß es besser: Einmal im All-Einen, hat er in ihm sein LEBEN, das 236 237 238 239

Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1944, S. 279. Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit, Tübingen 1995, S. 27. Siehe Rainer Marten, Lob der Zweiheit, a.a.O., S. 65–90. I. Kant, GMS, S. 452. Zhuang Zi, Das wahre Buch …, a.a.O., S. 84.

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C. Aufklärung durch Vernunft: Kant

mit dem Leben nichts gemein hat, weil es mit Liebe und Tod, Zeugen und Gebären schlechtweg nichts zu tun hat und nie wieder haben will.

2.3 »jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste ist«240 I. Kants Ausführungen zur fortschreitenden Aufklärung des Menschen­ geschlechts zielen auf die Notwendigkeit der Freiheit, von reiner Ver­ nunft und vernünftigem Denken öffentlich Gebrauch zu machen. Sie sind ein engagiertes Plädoyer dafür, den Menschen von der Subordi­ nation unter jedwede »Vormundschaft« und »Obervormundschaft«, die dem öffentlichen Gebrauch der eigenen Vernunft entgegensteht, zu befreien. Es ist ein wohlbedachtes Plädoyer der Vernunft für Vernunft mit der Absicht, den Menschen durch »mechanische Werk­ zeuge«, wie es »Satzungen und Formeln« sind, nicht zur »Maschine« werden zu lassen. Wie aber soll der Mensch im Rahmen der vorgege­ benen Ordnungen frei sein? Soll er gegen politische, militärische und geistliche Obrigkeiten und Vormundschaften aufbegehren? Soll er revoltieren? Nein, das will Kant auf keine Weise. Wie er es formuliert, muß der Untertan dem Regenten gehorchen (man erinnere nur Kants Unterschrift unter die Widmung der Kritik der reinen Vernunft: »Ew. Exzellenz untertänig gehorsamster Diener«), der Soldat dem Vorge­ setzten, der Gläubige der geistlichen Obrigkeit. So wird von Kant der Befehlsnotstand als Rechtfertigungsgrund für Kriegsverbrechen aus­ drücklich bejaht. Das ist pragmatisch: Ja keine Revolution. Kant zeigt, daß es ihm rein um die Freiheit der Vernunft und des vernünftigen Denkens geht, »öffentlich« zu wirken. Wäre denn aber ein vernunft­ begründeter Ungehorsam wie Befehlsverweigerung ein öffentlicher Gebrauch der Vernunft? Nein, nach Kant ist dies ein »privater«. Als Öffentlichkeit kommt für ihn allein das »Publicum« in Frage, noch treffender gesagt die »Welt«. Die mediale Welt ist gemeint, was zu seiner Zeit besagt: »das ganze Publicum der Leserwelt«. Wer aber macht schon am Schreibtisch einen öffentlichen Gebrauch der eigenen Vernunft, der auch wirklich ein Gebrauch der Vernunft im Sinne Kants ist? Das ist, wie es Kant schon für sich selbst weiß, der Mensch in der Gestalt des »Gelehrten«. 240

I. Kant, Was ist Aufklärung?, Akademie Textausgabe, Bd. VIII, S. 41.

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2. Verführende Aufklärung – im Interesse der Vernunft

II. Der Hauptmann, der dem Oberst den Befehl nicht verweigern darf, weil hier seine private eigene Vernunft agiert, hat die Chance, am Schreibtisch, und dies eben als Gelehrter, seine vernunftbegründe­ ten Bedenken öffentlich zu machen. Wie aber Kant sagt, ist der »Hauptpunkt« der Aufklärung für ihn, in »Religionssachen« der von Menschen selbst verschuldeten Unmündigkeit nachzugehen, weil sie die schädlichste und entehrendste ist. Das aber erfordert, daß der Geistliche nicht länger »privat« im Sinne seines kirchlichen Auftrags vor Gläubigen agiert, sondern am Schreibtisch öffentlich wird: als Gelehrter. Das »Credo quia absurdum est« ist eine alte religiöse Einsicht. Am Ende des Gottesdienstes preist der Pastor das »höher als alle Vernunft«. Glauben als Sacrificium intellectus schmeckt keinem guten Gläubigen, sehr wohl aber Kant. Er ließe sich auch durch keinen Papst Benedikt XVI. und keinen Jürgen Habermas darin unsicher machen, daß der Geistliche »als Gelehrter« Glauben und Wissen (rein vernünftige Einsicht) nie anders als sicher auseinanderzuhalten weiß. Cuius regio, eius religio – der Landesherr bestimmt den Glauben seiner Untertanen. Zur Zeit Kants ist es in den protestantischen und katholischen Gegenden üblich, daß die besondere religiöse Kultur einsozialisiert wird. Haben Katholiken und Protestanten miteinander Probleme, ja unierte und lutherische Protestanten, dann verdanken sie das nicht erstlich ihrem Gemüt und ihrer Einsicht, sondern ihrem Landesherrn. Religiöser Glaube ist für den in ihm Aufgewachsenen so gut wie ausschließlich ein Zuhause, etwas, das nicht reflektiert und hinterfragt, sondern gelebt wird. Das aber sei nun schädlichste und entehrendste Unmündigkeit. Wer glaubt, denkt nicht, räsoniert nicht. Kant ist um die Vernunft besorgt, nicht um das Leben. Glaube, der gelebt wird, stößt ganz von selbst jede auf reine Rationalität zielende Aufklärung ab, weil er der Poesie des Glaubens und eben des Geglaubten ergeben ist, einer Verklärung der Welt und des Lebens, die von fruchtbarer lebenspraktischer Bedeutung für ihn ist. Kant argumentiert in Religionssachen ausschließlich gegen die Vormünder, die den durch sie unmündig Gemachten der Freiheit des eigenen Denkens berauben. Das führt dazu, daß Kant selber nicht den religiösen Glauben hinterfragt und dadurch auf die Einsicht verzichtet, daß er eine Hochform der Poesie ist, an der der Gläubige schöpferisch mitwirkt. Der Gläubige will glauben, weil er den Glauben braucht. Zu glauben, ist eine Freiheit des Menschen, nicht der Vernunft, der

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C. Aufklärung durch Vernunft: Kant

Freiheit des belebenden Geistes, zu verklären. Was der Gläubige durch seinen Glauben für sich und im Verein mit Anderen schafft, sind Bilder von höchster lebenspraktischer Wirksamkeit: Gesprächsräume eröffnen sich, Gefühlsräume, Visionsräume. Der Gläubige schafft sich so Lebensräume der anderen Art.241.Religiöser Glaube nimmt sich die Freiheit der Kunst, die Freiheit einer besonderen Hochform von Lebenskunst, die allerdings nicht ganz ungefährlich ist. Bleibt die wechselseitige Selbstübereignung von Liebenden, wie sie bereits im Hohelied gepriesen wird, klar wie verklärt eine Sache des Menschen, so kann die gläubige Selbstübereignung an Gott, die mit der Selbstauf­ gabe des Eigenwillens verbunden ist, zu Fundamentalismus führen, zu einem Glauben ausarten, der nicht mehr verklärend, sondern blind und blindwütig ist. Nein, Kant hat überhaupt keinen Sinn für den möglichen Segen des Glaubens, sondern allein für seine durch Vormundschaft und Obervormundschaft garantierte Faulheit und Feigheit des Menschen, sich von aller entlastenden Obrigkeit, die, gegen Kant, in Wahrheit eine Form gelebter Kultur ist, zu entledigen und dank eigener Denkkraft die Sache der Religion, so oder so, selber zu übernehmen – »privat« und nach Möglichkeit auch »öffentlich«.

III. Durch seine effiziente Widerlegung der Gottesbeweise hat Kant, unbewußt und ungewollt, religiösem Glauben neu den Weg bereitet. Gläubige, die auf einen bewiesenen Gott hoffen, womöglich selber geistig an ihm arbeiten, leben und wirken in einem Selbstmißver­ ständnis ihres Glaubens. Religion, wie der Mensch sie geformt hat, will das Unbegreifliche, will den deus absconditus, den Gott, mit dem nicht zu rechten und zu richten, also auch nicht zu argumentieren ist. Im Glauben hat das »bessere Argument« nichts zu suchen. Zielt der leitende Blick in Jürgen Habermas’ späten großem Buch darauf, wie das Wissen in der Fortentwicklung der Philosophie mit der Zeit allen religiösen Glauben aufzehrt, dann hat auch er, wie Kant, sich keine Gedanken gemacht, daß das Leben des Menschen nicht nur Wissen, sondern auch produktives Nichtwissen braucht. Der Papst des Konsens-Denkens übersieht systemisch, daß menschliches Leben voller Widersprüche ist und auch Widersprüche braucht, übersieht 241 Zum Großteil wörtliches Zitat aus Rainer Marten, Pandemie und Religion, in: Hohe Luft. Zeitschrift für Philosophie, Heft Juli 2020, S. 52 f.

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2. Verführende Aufklärung – im Interesse der Vernunft

vor allem die lebenspraktische Bedeutung des Dissens von Wissen und Glauben, von vernünftig-technischer Regulierung und künstleri­ scher Gestaltung menschlicher Ungebundenheit. Die Vernunft zum Ersten und Letzten zu machen, was garantie­ ren kann, daß der Mensch verantwortlich handelt, ist fatale Ideologie, zeugt von einer Einseitigkeit, die unmöglich dem Menschen gerecht wird. Religiöser Glaube, der sich als schöpferisch und selbstverant­ wortet weiß, hat sein ganz eigenes Recht, den Menschen lebensprak­ tisch zu stärken und zu leiten. Wie verquer für ein zureichendes Verständnis des Menschen Kants Option für reine Vernunft als eigentliches menschliches Selbstsein ist, zeigt sich eklatant an seiner Konzeption des Gewissens. Das ist für ihn nicht lebenspraktisch durch Mitwisserschaft im Handeln Erworbenes, sondern nichts anderes, als wenn reine Vernunft selbst zur Vernunft riefe. Papst Paul VI. hatte immerhin gegen die Gebote der Kirche vergewaltigten Frauen die Gewissensfreiheit gelassen, die kriminell und durch äußerste Inhumanität entstandene Frucht abzutreiben. Kant, der in seinem Elternhaus strengster religiöser Vormundschaft unterworfen war, hat sich allein durch den vermeintlichen Gebrauch reiner Vernunft davon freizumachen gewußt, durch diesen Gebrauch als den eigenen und öffentlichen (schriftlichen), und dies vor der »Welt«, vor dem als allgemeine Vernunft entworfenen »Publicum«. Besser hätte er daran getan, sich auf den Gebrauch eines eigenen, durch lebenspraktischen Umgang mit anderen Selbsten gewachsenes und in ihm sedimentier­ tes Gewissen zu berufen. Gewissen als zureichender Grund für das Gelingen des Humanum im Gelingen des Miteinander gibt es allein durch Lebenserfahrung, nicht aber in dem für die reine Vernunft erdachten Apriori, jenem Vor-aller-Erfahrung, das ein Vor-allemLeben meint.

IV. Bezeugt für Kant einzig der öffentliche Gebrauch der eigenen Vernunft die Vernunft, die gegen alle Obrigkeit und Vormundschaft die Freiheit gewonnen hat, dann spricht er mit seinem aufklärerischen Appell zum Mündigwerden einen stark begrenzten Kreis von Bürgern an. Nur Subordinierte kommen für ihn in Frage, die es in der bürgerlichen Gesellschaft bereits zu etwas gebracht haben. Personen, die einen Posten haben, ein Amt bekleiden, einen gehobenen Beruf ausüben, sind fähig, die eigene Vernunft öffentlich zu gebrauchen, da es dazu

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gehört, sie »als Gelehrte« tätig werden zu lassen. Der Philosoph der reinen Vernunft hat seine eigenen »Wenigen«. Die »Vielen«, wie es die Mägde und Knechte der ostelbischen Junker sind, die »gemeinen« Soldaten, ja auch die gemeinen Glieder der Religionsgemeinschaften bleiben zur Unfreiheit des Privatgebrauchs der eigenen Vernunft ver­ urteilt: Räsoniert nicht, sondern plagt euch!, räsoniert nicht, sondern gehorcht!, räsoniert nicht, sondern glaubt! Paradebeispiel für seine Republik der Wenigen, weil allein als Gelehrte in Frage Kommenden ist der »Offizier«. Ein Offizier gehorcht seinen Vorgesetzten; er muß es, ja er soll es. Aber, ohne eine Revolution zu wagen, macht er sich frei von seinen Vorgesetzten – am Schreibtisch. Am wichtigsten aber ist für den pietistisch disziplinierten Aufklärer der »Geistliche« als Gelehrter. Die schädlichste und entehrendste Unmündigkeit hat er am eigenen »Leib« erfahren. Als ein entschieden um die Vernunft Besorgter weiß er, wie stark, als wäre es unwiederbringlich, die Ver­ nunft unter gläubiger Vormundschaft verloren gehen kann. Kant hat keine Gedanken zur Verantwortlichkeit des Künstlers entwickelt, hat aber auch Metaphysik und Religion nicht hinterfragt, um den Gedanken finden zu können, der in beidem menschliche Künstlerschaft am Werk sieht. Das ist jedoch bei ihm kein Manko, sondern systemisch bedingt und nur konsequent. Wer die vernunftfä­ higen Wesen in die reine Vernunft heimführen will, hat keinen Sinn für Leben und Tod, für Lebenskunst und Glaubenskunst, nicht einmal für Denkkunst, auch wenn er sie selbst ungewußt und ungewollt aus­ übt.

2.4 Autonomie als Selbstermächtigung der Vernunft I. Vernunft bei Kant ist rein selbstbezogen. Das ist die Art jedes meta­ physisch vergeistigten Selbst. Das führt im Falle der Selbstgesetzge­ bung dazu, daß die Vernunft als die gesetzgebende niemand anderem ein Gesetz gibt als sich selbst. Ist sie für das einzigartige moralische Gesetz, für den kategorischen Imperativ, gesetzgebend, dann ist sie es auch und niemand anderes, der sich ihm unterwirft.242 Der absolut gute (rein vernünftige) Wille, der mit der reinen praktischen Vernunft 242

GMS, S. 440.

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koinzidiert, muß darum als ein frei wollender und doch zugleich sollender behauptet werden.243 Die Verabschiedung von Leben und Lebenswelt ist eine vollständige. Nur dann, wenn sie gänzlich zur »intellektuellen Welt (zählt)«,244 ist sie sie selbst. Kants reine Vernunft handelt, das heißt ist praktisch, dies aber nicht anders, als dass sie auf sich selbst einwirkt und nichts sonst. Das Handeln ist solcherweise ein rein vergeistigtes, was auch das rein vernünftige Wollen einschließt. Die Praxis einzigartiger Moralität, wie Kant sie konstruiert, verlangt nicht, um ihre vollkommene Mora­ lität zu beweisen, in der »Welt« praktisch wirksam zu werden. Das ist die Stunde der Gesinnung. Sie genügt, auch wenn der Mensch, dessen Vernunft und vernünftigen Willen sie als rein auszeichnet, sie als Glied der Lebenswelt nicht zu ihren Gunsten umzusetzen vermag, würde sie doch dadurch nichts an Moralität gewinnen. Die Selbstermächtigung der Vernunft zum Herrn aller Dinge, die die Würde und das Wesen des Menschen belangen, ist reinste Usurpation. Das Humanum an einer introvertierten, rein geistigen Gesinnung sein Genügen haben zu lassen, will den Menschen dazu verführen, sein ganzes Eigeninteresse als das der Vernunft zu begrei­ fen, einer Vernunft, die ein reines und damit übernatürliches Gedan­ kending ist. Schon das Schachspielenkönnen als beliebtes philosophi­ sches Beispiel für vernünftiges Denkenkönnen, beweist, daß Vernunft im Leben nicht ohne Affekt und Temperament zum Einsatz kommt.

2.5 Das »eigentliche Selbst«245 I. Marcel Prousts »Selbst beim Friseur« könnte sein eigentliches Selbst gewesen sein, geht es doch um das Erscheinungsbild der eigenen Persönlichkeit im Öffentlichen und Privaten. Doch dies »könnte« bleibt ein Irrealis. Sollte bei dem Autor der Recherche und ihrer Hauptfigur von einem herausragenden Selbst zu reden sein, dann wäre es in seiner Künstlerschaft aufzuspüren, in seinem dramatischen Weg als Künstler zur Vollendung der Kunst. Sein künstlerisches 243 244 245

GMS, S. 449. GMS, S. 451. I. Kant, GMS, S. 458–461.

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Vorhaben war die Vergeistigung »wahrer Empfindungen«, um für Impressionen die treffende Expression zu finden. Bei einem Rennläu­ fer wie Paavo Nurmi wieder käme für ein eigentliches Selbstsein das sportliche Ethos und leibliche Selbstsein ins Spiel. Kant jedoch hat anderes im Sinn, ganz anderes. Eigentliches Selbstsein wird von ihm nicht Menschen zugedacht, die mit großem Ernst und voller Kraft ihrem Leben ein eigenes Gewicht geben, sondern einzig der Vernunft: Sie, und nur sie ist eigentliches Selbstsein. Glaubt Kant, damit das eigentliche Selbstsein des Menschen bestimmt zu haben, dann muß er doch wissen, daß dieser »Mensch« sein Zuhause einzig im mundus intelligibilis hat, nicht aber in der Lebenswelt, in der keine abstrakte, dem Leben undienliche Gesinnung die Chance hat, besonders gewürdigt, ja überhaupt gewürdigt zu werden.

II. In der Vernunft als dem Göttlichen im Menschen das »wahre Selbst« des Menschen zu sehen, diese widersinnige Bestimmung des Men­ schen, hat Tradition.246 Daß der Mensch zwei Teile hat, die man auseinandernehmen kann, diese das Menschsein verkehrende Deu­ tung des Menschen, wird bei Kant noch einmal verfestigt. Aristoteles spricht vom Zusammenganzen (synholon) von Leib und Seele, als sei der Mensch daraus zusammengesetzt. Der bloß menschliche Mensch, der sich nicht um Unsterblichkeit nach Art des Göttlichen bemüht, ist der ganze Mensch, der in philosophischer Sicht zu überwinden sei. Der Mensch soll das nicht Menschenartige, ja nicht Menschenmögli­ che wahrmachen. Diese für den Realitätssinn sich selbst diffamierende Widersinnigkeit wird von dem als Aufklärer auftretenden Kant nicht nur nicht als das herausgestellt, was sie ist, sondern noch einmal systemisch voll in Form gebracht. Der Leib wird von ihm klarer und bestimmter von menschlichem Selbstsein ausgeschlossen denn je. Sein eigentliches Selbst, die reine Vernunft, kennt keine Rührung, darf ja keine zeigen. Das eigentliche Selbst trauert nicht, wenn jemand stirbt, merkt das gar nicht. Freut sich ein Mensch darüber, weil ihm Gutes getan wurde, dann darf das das eigentliche Selbst nicht Aristoteles bestimmt in der Nikomachischen Ethik X,7 das rein geistige Leben als das des Menschen, der am meisten Mensch ist, und das ist der, der das Göttliche, das in ihm ist, lebt, dies aber nicht »als Mensch«. F. Dirlmeier u. E. Rolfes übersetzen das Göttliche im Menschen, das am meisten Mensch ist, mit »das wahre Selbst«. 246

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beeindrucken, ja nicht, weil es sonst um seine rein-moralische Gesin­ nung gebracht wäre. Das eigentliche Selbst dient der Vernunft in der Gestalt ihrer Selbstermächtigung: gesetzgebend und sich dem Gesetz unterwerfend, aber ja nicht Menschen, die ihr Leben leben.

2.6 Entindividualisierung I. Wer den Standpunkt der reinen Vernunft einnimmt, ist weder jung noch alt, weder Mann noch Frau. Er ist in jeder Hinsicht neutral, und dies wie alle anderen, die diesen Standpunkt, den universellen, einnehmen. Der Mensch, wenn er denn noch Mensch ist, der diesen Standpunkt mit allen, die Gleiches tun, teilt, ist nicht Einer von Vielen, aber auch nicht Einer von Wenigen. Ist er dann aber überhaupt noch zählbar? Nein, es gibt nicht einmal numerische Unterschiede. So bleibt nur, daß er als ein universell Georteter nicht jemand, sondern niemand ist. Wer mystisch denkt, und Kant tut das, muß, wie die Tradition lehrt, rasch mit dem Nichts zur Hand sein. Meister Eckhart erweist sich als christlicher Mystiker dadurch, daß er den Menschen predigt, aus ihrer Seele alles herauszutun, was menschlich ist, alle eigenen Regungen, Gefühle, Wünsche, ja alles Wollen, damit nur Gott darin Platz habe. Genau so verfährt Kant mit seiner reinen Vernunft: Alle selbsthaften Fähigkeiten und Eigenheiten, die sein lebensteili­ ges Dasein bestimmen, werden eliminiert, alles Konsonante und Dissonante verschwindet im Unisono des All-Einen. Wie Aristoteles glaubt Kant damit das Übernatürliche des Menschen zu erreichen, das keinen Lebensbedingungen unterworfen bzw. ausgesetzt ist: das reine Menschsein im Sinne seiner reinen, nicht für Lebensaufgaben bestimmten Geistigkeit. Die geistige Freiheit, die er diesem Noume­ non zuspricht, ist nicht mehr und nicht weniger als die geistige Freiheit, die er sich genommen hat, dieses Gedankending zu denken.

II. Die absolute Gleichmacherei des Menschen im rein Geistigen, kreiert notwendig einen Menschen, der nur im All-Einen zuhause sein kann. Habermas, soweit er in seiner Vernunftoption von Kant inspiriert ist, sieht darum keine Not, ja keine Möglichkeit, Kompromisse zu

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schließen und es damit indirekt bei einem Dissens zu belassen. Die raison ist une, unanime et unique – sie hat unmöglich Streit mit sich selbst, ganz anders als das Selbst des lebendigen Menschen, das ein zerrissenes sein kann. Ist der MENSCH (der wahre Mensch) im Daoismus absolut tatenlos, so hält Kants Auslagerung menschlichen Selbstseins ins All-Eine auch hierin mit. Der rein Vernünftige tut nichts, sondern bewährt sich als solcher, universell ununterschieden handeln zu »wollen«. In diesem Wollen liegt aber, wie Kant hinreichend ausführt, keinerlei voluntative Kraft, sondern einzig die reine Vernunft unter dem Decknamen des absolut guten Willens. Wird Kant redlich gele­ sen, dann ist diesem Wollen jegliche Willenskraft abzusprechen, da es sich um eine reine Denkkraft handelt: um die selbstbezügliche der reinen Vernunft. Wille setzt Eigenheit, setzt Individualität voraus. Jeder bekundete Wille ist eine Form von Selbstbehauptung: Ich will, nicht die Vernunft. In jedem Winkel des Systems reiner praktischer Vernunft zeigt sich das Phantom eines Interesses der Vernunft, die genau nicht die Vernunft des Menschen ist, deren er sich bedient, um seine Interessen zu verfolgen, die nicht die eines liberalistischen Utilitaristen sein müssen, sondern auch die gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Interessen sein können.

2.7 Selbsterhaltung der Vernunft I. Ist das Selbst Vernunft und Vernunft das Selbst, dann kann es nur ein selbsthaftes Interesse geben: die Selbsterhaltung der Vernunft. Sie erhält sich aber dadurch, daß sie in ihrer geistigen Tätigkeit keinen Schaden nimmt oder gar ausgeschaltet wird. Beides ist für sie ja auch unmöglich: Indem sie ihr Interesse wahrnimmt, als reine Vernunft reine Vernunft zu sein und zu bleiben, wagt sie nichts, setzt sie sich selbst nicht aufs Spiel. In ihrer Interessennahme ist sie schlicht das, als was sie gedacht ist. Sie bleibt abstrakt und hat nie das Problem, ob etwas Konkretes, ein praktischer Fall, unter sie subsumierbar ist oder nicht. Als allgemeiner Standpunkt hat sie keine Not und keine Möglichkeit, sich in etwas Konkretes, lebenswirklich und individuell Besetztes hineinzufinden. Sie ist ohne Klugheit, ohne Lebensweisheit. Sie weiß nicht, was hier und jetzt für den Einen

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und Anderen zu tun und zu lassen ist, sondern weiß allein, daß es vernünftig ist, vernünftig zu sein. Reine Vernunft, wie Kant sie konzipiert, ist nicht selbstverliebt, hat keinen Gefallen an sich selbst. Denkt Kant an ein moralisches Gefühl und einen moralischen Sinn,247 dann hat er eine einzigartige »Triebfeder« nicht empirischer und nicht individueller Art im Sinn: die Allgemeingültigkeit der Maxime.248 Ist die eigene Glückseligkeit »am meisten verwerflich«, dann läßt die Allgemeingültigkeit der Maxime als »gnugsamer Bestimmungsgrund des Willens« an das Glück im All-Einen denken, an ein universelles Glück, das niemandes Glück ist, sondern das rein in der Reinheit der Vernunft besteht. Nimmt die Ver­ nunft an ihrer Allgemeingültigkeit Interesse und damit an sich selbst und ihrer Selbsterhaltung, dann ist es »allein rein«.249 »Selig sind, die reinen Herzens sind« (hoi katharoi têi kardiai),250 nein, das wäre die andere Metaphysik, die religiöse: der übernatürliche, sündenfreie Mensch, mit nicht verstocktem und törichtem, sondern mit weisem Herzen, das voller Freude und Wonne ist, ein Herz, das mit der Schau Gottes belohnt wird. Jahwe zeigt Gefühle, selbst Christus verhält sich affektiv.251 Im Gott des Alten und des Neuen Testaments findet sich, dank gläubiger Schöpferkraft, Menschenkunde, Kenntnisse des lebendigen Menschen. Das moralische Gefühl, mit dem Kant seine reine Vernunftmoral zu beleben sucht, ist nichts anderes als das reine Interesse der reinen Vernunft an sich selbst.

II. Zu was und zu welchem Ende will und soll reine Vernunft erhal­ ten werden? Für Kant und all die, die ihm in Sachen praktischer Philosophie bis ins 21. Jahrhundert im Prinzip folgen, geht es um den Erhalt der universellen Gemeinschaft der Menschen als dem All-Einen der Vernunft. Welch schöner Ausblick: ein für immer einiges Reich freier vernünftiger Geister. Alle sind in Eins frei, und dies einfach darum und dadurch, daß diese geistige Gemeinschaft niemanden kennt und zuläßt, der eigene Interessen hat, der also 247 248 249 250 251

I. Kant, GMS, S. 441 u. Anm. Ebd., S. 468. Ebd., S. 460 Anm. Matthäusevangelium 5,8; vgl. Psalm 51,12; Sprüche 20,9. Markusevangelium 10,21.

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ein Individuum mit seinen Eigenheiten ist. Kommt Kant und seinen Nachfolgern bei ihrem Geist-Menschen doch wieder unversehens der lebendige Mensch durch, dann ist das ein Selbstmißverständnis ihres systemisch gebauten Ganzen: Die Rückwirkung der Welt der Vernunft auf die Welt der gelebten Verhältnisse, die selbstverständlich die poli­ tischen Verhältnisse einschließen, ist nicht möglich. Läßt man den Prediger der reinen praktischen Vernunft mit dem größten Gut des universellen »Menschen«, dem kategorischen Imperativ, in der Welt der Menschen auftreten, dann muß das notwendig lebensfremd, mehr noch: lebensfeindlich wirken, um von der Abstrusität des Unterfan­ gens einmal abzusehen. Kants Reich der reinen Vernunft in seiner Universalität ist ein Reich der Freiheit, dies aber eben auf Kosten der Freiheit des Individuums. Der Gebrauch der Freiheit der Vernunft führt zu einer »objectiven Nöthigung« (Pflicht), moralisch einzig um der Erhaltung des Moralgesetzes willen zu handeln, nicht aber zugunsten der Erhaltung des Menschen. Philosophische Mystiker von Zhuang Zi über Kant bis Heidegger, die allein dem Nichtindividuum ein eigentliches Menschsein zutrauen, zeichnen zwar eine beeindru­ ckende universelle geistige Existenz, die jedoch praktisch nicht nur ohne jede Bedeutung, sondern darüber hinaus für jeden, der mit Menschen zu tun hat, einen verwirrten und abartigen Eindruck macht.

2.8 Lebensunlust I. Der lebensteilig lebende Mensch wird bei Kant zum »sinnlich affi­ cirte(n) Subject«252 und damit zu etwas mit Unselbsthaftigkeit und Uneigentlichkeit Infiziertem. Das teilen alle Mystiker: Der Mensch in seiner »übersinnlichen Existenz« hat Leben und Welt überwunden, Er ist gegenüber dem »sinnlichen Dasein« »erhaben«. Doch diese »Erhabenheit«, in der das Erreichen der »höheren Bestimmung« sein Selbstgefühl gewinnt, bat ihren Preis: Das Leben macht keine Lust mehr. Die »Unlust« herrscht,253 die Unlust zu leben und zu handeln. Ihres »sinnlichen Daseins« bewußt zu sein, heißt für Menschen, der »Abhängigkeit von ihrer so fern sehr pathologisch afficirten Natur 252 253

I. Kant, KpV, ebd., S. 80. Ebd.

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bewußt« zu sein, weil der vergeistigte höhere Mensch »etwas ganz anderes als das Leben« achtet: das Gesetz der Selbsterhaltung der Ver­ nunft. Für den, der sich dieser Achtung verpflichtet weiß, »(hat) das Leben vielmehr mit aller seiner Annehmlichkeit gar keinen Werth«: Er lebt nur noch aus Pflicht, nicht weil er am Leben den mindesten Geschmack findet.254

II. Liegt die Würde des Menschen einzig und allein in der reinen Ver­ nunft und ihrer »Achtung fürs moralische Gesetz«,255 in der die geistig-universelle Gesinnung zum Ausdruck kommt, dann ist damit auch schon der Mensch ohne Würde bestimmt: Es ist der Mensch, der sein Leben lebt, es in Gemeinschaft mit Anderen lebt und an diesem Leben hängt. Das Leben des Menschen, das sich auf das Leben entwirft, gilt Kant als ohne Würde. Gilt die höchste »intellectuelle Achtung« dem moralischen Gesetz, dann die höchste »intellectuelle Verachtung« dem gelebten Leben.256 Lustvolles Leben – das muß dem Kant am Schreibtisch, nicht dem geselligen Kant »bei Tische«, einen intellektuellen Schauder eingejagt haben. All seine öffentlich eingesetzte metaphysische Verführungsgewalt hat nur Eines im Sinn, »Publicum« und »Welt« als der Aufklärer, der er ist, in das von ihm kunstvoll errichtete Reich des Übersinnlichen zu entführen, das Reich der rein geistigen, tatenlosen moralischen Praxis.

254 255 256

Ebd., S. 88. Ebd., S. 73. Ebd., S. 75.

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I. Die Befreiung Deutschlands durch die vereinten militärischen Kräfte Englands, Frankreichs, Russlands und der USA vom terroristischen nationalsozialistischen Verbrecherregime hat zu keiner Revolution des philosophischen Denkens geführt. Die Aufklärungsunternehmen der Philosophie verliefen in Deutschland nach dem Krieg in vorge­ prägten Bahnen. Es ging um mehr als eine zeitbedingte Bestandauf­ nahme der »geistigen Situation«, wie sie Karl Jaspers 1931 vorgelegt hatte, aber die eigene Position wurde nicht zur Disposition gestellt, obgleich, so möchte man denken, die Herausforderung zur Neubesin­ nung auf das Humanum einzigartig war. Was als philosophischer »Aufbruch« nach dem Krieg in Deutschland Aufsehen erregte und Schule machte, war ein »linker« (linkshegelianischer) und ein »rech­ ter« (am »deutschen Auftrag« festhaltender). Frankfurt als der Ort der Frankfurter Schule und Freiburg als der Ort Heideggers kristallisier­ ten sich heraus als die bevorzugten Orte des philosophischen »Neu­ beginns«. Damit hatte spekulative Philosophie mit hohem Verfüh­ rungspotential die Führung der geistigen Besinnung in Deutschland übernommen. Die Frankfurter Schule dokumentierte ihren Aufklä­ rungswillen mit dem von Horkheimer und Adorno gemeinsam ver­ faßten Buch Dialektik der Aufklärung, das auf Deutsch 1947 erschien, Heidegger mit seinen »Bremer Vorträgen«, die er 1949 unter dem Titel »Einblick in das, was ist« hielt.

Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: T.W.A., Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt a.M. 1981.

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II. Die an philosophischer Dichte kaum zu übertreffende Dialektik der Aufklärung erhält ihren Gesamtimpuls durch eine Theorie der Frei­ heit, die sie als sichere Voraussetzung einbringt, und mit spekulativer Um- und Weitsicht zur Darstellung bringt. Das Spekulative hängt dabei am spekulativen Begriff von Herrschaft. Herrschaft, als reiner Begriff genommen, verspricht, wie es zuvor schon die Idealisten des deutschen Idealismus hielten, Realität, in diesem Falle freilich, höchst dialektisch, die reale Aufhebung der Herrschaft, die sich wie von selbst als Unterdrückung versteht. Existiert politische Herrschaft wie die des Nationalsozialismus oder wie die, die den von jeder Barriere befreiten Kapitalismus fördert, dann ist für diese recht unterschiedli­ chen Formen der »Unterdrückung« eines mit Sicherheit garantiert: ihr Ende. Das gedanklich Hochgestimmte, das bei aller Demonstra­ tion der herrschenden grundfalschen Realität dies Aufklärungsbuch durchzieht, gleicht dem christlichen Heilsversprechen: der Erlösung, ein »Standpunkt«, den Adorno für erwägenswert in Betracht zieht.258 Die »bürgerliche Gesellschaft« mit ihrer Form von Herrschaft bürgt den Autoren der Dialektik der Aufklärung dafür, daß das »Ganze« Lüge und Unrecht ist. Dadurch verbietet es sich aufs strengste, in politischer Gegenwart, die nach dem Ende des »Dritten Reiches« die Bonner Republik ist, irgendetwas Gutes zu sehen.259 Die »Kritische Theorie« als Theorie der zwangsläufig kommenden Freiheit besteht für die Gegenwart darauf, daß das Ganze, das jedes seiner Teile bestimmt, ausnahmslos das Unwahre, Ungerechte und Schlechte ist. Malt ein Maler in den Nachkriegsjahren eine Stadtland­ schaft, dann gilt das kritisch-theoretische Gebot, ausnahmslos die Unwahrheit, Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit von Ort und Zeit darzustellen.260 Das erinnert an das infame Wort von der »Gemein­ heit der Gesinnung«, auf dieser Erde leben zu können und nicht in den Himmel zu müssen, das Karl Barth als christliches positiv zitiert. »Die Anrufung der Sonne ist Götzendienst«261 – die Autoren 258 Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (195l), Frankfurt a.M. 1973, S. 333. 259 D.d.A.; in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, (1987), 4. Aufl. 2014, S. 249. 260 Siehe dazu Rainer Marten, Mein Zeitgeist (2021) S. 78 zu einer Rede von Adorno in den 60er Jahren vor jungen Künstlern in Baden-Baden. 261 »Für Voltaire«, in: D.d.A., S. 250.

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machen also wahrhaft Ernst aus ihrer ideologischen Einseitigkeit und Kurzsichtigkeit. Ingeborg Bachmanns »nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein« vergißt, geht es nach den kritischen Theoretikern, den »verdorrten Baum«, der allein etwas von der »Majestät des Tags« ahnen läßt. Auch, ja gerade unter der Sonne gibt es kein primäres Glück, sondern allein das Glück des »Verschonten«. Adornos »der Baum, der blüht, lügt«262 spricht für sich. Blühen als Zeichen lebendigen Gelingens darf es zu Zeiten bür­ gerlicher Herrschaft nicht geben, kann es nicht geben. Helmut Kohls »blühende Landschaften« sind demnach ein falsches Versprechen in zweifacher Hinsicht gewesen: faktisch falsch und kritisch-theoretisch (ideologisch) falsch. Wären diese Landschaften, wie es gemeint war, zur Blüte gelangt, hätten die dortigen Menschen generell und eben unausweichlich in der »Lüge« gelebt. Wem es an seinem Ort gut geht, lügt – das will christliche und linke Wahrheit sein.

III. Erklärt Aufklärung das Gute ungeachtet seiner lebenspraktisch wirk­ samen Güte zur Lüge, dann ist sie weder erhellend noch entzaubernd, sondern verführend. Sie verführt gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit kritisch eingestellte junge Menschen zum Glauben an ein in erlebbarer Zeit »kommendes« »Reich der Freiheit«.263 Die die herrschenden Verhältnisse prägenden Verhältnisse von »Proleta­ rier« und »Bonze«, »Unteren« und »Oberen«, »Beherrschten« und »Herrschenden«, »Unterdrückten« und »Unterdrückern« haben in ihm ihre Zeit gehabt. Obwohl es durchgängige Lebenserfahrung ist, daß in einer Gruppe jeweils Einer das erste und letztes Sagen hat (Platon hat das seinen Sokrates vorführen lassen, der Sozialpsycho­ loge Horst-Eberhard Richter hat dafür in seinem Buch Die Gruppe Gründe angeführt), hatte die Frankfurter Schule kein Problem damit, ihre heilsgeschichtliche Prophetie weiter auszumalen: Jetzt herrscht der »herrschaftsfreie Dialog« (Jürgen Habermas), der dem »besseren Argument« seine Chance gibt. Platon hat dagegen im Dialog Gorgias vorgeführt: Gibt es im Augenblick nichts »Anderes« und das heißt nichts Besseres zu sagen, dann sei das die Wahrheit auf Zeit. Gerade 262 263

Minima Moralia Nr. 5. Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 63 ff.

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bei dieser Einsicht aber bleibt sein Sokrates der Dialogführer. Er ist es, der stets verhindert, daß eine falsche Meinung zum Zuge kommt. Haben Mitunterredner am Ende das Wort, dann ist es das der Zustimmung zu seinen appellativen »Fragen«. Soll ein Reich der Freiheit keine recht- und gesetzlose Anarchie bedeuten, dann setzt das voraus, daß alle, die miteinander leben und handeln ein durchgängiges Interesse an allseitiger Verständigung haben und über die Methode verfügen, eine solche Verständigung auch herbeizufüh­ ren. Das aber verweist nur auf die Ignoranz des grundlegenden Problems einer koinê eirênê des Verstehens. Ist überhaupt daran zu denken, daß ein sich einander Verstehen und sich miteinander Verständigen zu einer allgemeinen und dauerhaften Friedfertigkeit der Zusammenlebenden führt, ja wäre eine solche das höchste gesell­ schaftliche Ziel?264 Menschliches Zusammenleben, das zugunsten seines Gelingens auf Verständigung zielt, hat nicht nur nicht de facto, sondern hat auch nicht notwendig einen allgemeinen Konsens, und dabei gar einen für immer gültigen und gefestigten im Sinn, weil es sich um einen Streit der Selbstbestimmung handelt, der davon lebt, immer wieder aufzuleben. Es gibt aber kein Ende dieses Streits, weil es kein Ende der Geschichte gibt. Das sehen freilich die kritischen Theoretiker anders. Deutlichstes Zeichen dafür ist, daß sie den Gang der Geschichte als den von Hegels Vernunft zu einem Endzweck sehen. Doch diese Vernunft, die die theoretischen Kritiker resistent gegen alle geschichtliche Erfahrung und zu Sachwaltern des Kontrafaktischen macht, läßt allein die gedachte Notwendigkeit gelten, die in jener denkkünstlerisch erdachten Vernunft liegt. Was Platon, Polybios und Cicero als Peripetie der Verfassungen diskutie­ ren, wird im Prinzip nicht enden. Der lebendige Mensch ist der geschichtliche, der sich in seinen besten Kräften stets neu in den Streit der Selbstbestimmung wagt, was bedeutet, daß er den Dissens wagt, austrägt und gegebenenfalls auch aushält. Die Ärmsten der Armen haben dem Tango Zeiten gelingenden Lebens abgewonnen, Liebe in Zeiten der Unterdrückung. Ausgebeutete haben Hochzeiten gefeiert, haben das Leben gefeiert, die Geburt neuen Lebens und den Tod, wie er einen jeden ereilt. Nur der Ideologe wird das Glück, das sie als Glück lebten, in seiner Wahrheit verneinen und als Lüge denunzieren. Siehe Rainer Marten, »Zum Problem einer koinê eirênê des Verstehens«, in: ders, Existieren, Wahrsein und Verstehen. Untersuchungen zur ontologischen Basis sprachli­ cher Verständigung, Berlin/New York 1972, S. 35l-364, Reprint 2019.

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Die Frankfurter inklusive Jürgen Habermas hängen der absurden Idee einer weltlichen Eschatologie an, daß »alles« nirgendwo anders enden soll, muß und kann, als in einer umfassenden Freiheit der Friedfertig­ keit, Aggressionslosigkeit und Unterschiedslosigkeit der Interessen. Die Erfahrung, daß die Welt des Menschen seit jeher aus den Fugen war, lassen sie nicht als Indiz dafür gelten, daß sie auch unabsehbar aus den Fugen bleiben wird. Sie sehen sich ihrer geistigen Arbeit allein dadurch einen Sinn geben, daß die von ihnen gewollte und ver­ waltete »vernünftige Vernunft«, auch die wahre, wirkliche, echte und eigentliche zu nennen, »am Ende« den Sieg davonträgt. Sie »denken«, wie gesagt, an ein »Reich der echt vernünftigen Freiheit«, an eine »echt vernünftige Weltregierung«, die sich dem »echt vernünftigen herrschaftsfreien Dialog der Vernunft mit sich selbst« verdanken. Ob dann von einer »klassenlosen Gesellschaft« die Rede sein soll, von einer »autoidentischen«, »absolut konsensistischen«, ja »entindi­ vidualisierten« und »entdifferenzierten«, mag dahingestellt bleiben.

IV. In der Vorrede zu dem nicht hebräisch überlieferten, apokryphen Buch Tobit (Luther: Tobie), das die katholische Kirche kanonisiert, die evangelische nicht, schreibt Luther: Ists ein Geschicht / so ists ein fein heilig Geschicht. Ists aber ein Geticht / so ists wahrlich auch ein recht / schön / heilsam / nützlich Geticht und Spiel / eines geistreichen Poeten.265

So gut wie aller religiöse bekenntnishafte Glaube und alle orthodoxe Theologie stecken in der Realitätsfalle – auch Luther. Allein die Erwägung, das Buch Tobit könnte historische Realität sein, zeigt, wie selbstverständlich die nichtapokryphen Schriften des Alten Testa­ ments für ihn samt allem heiligen Geschehen und göttlichen Walten keine Schöpfungen menschlicher Spiritualität sind, sondern »robus­ ten Realitätssinn« haben, wie Bertrand Russell ihn nennt. Luther ist immerhin bereits auf halbem Wege, religiösen Glauben und religiöse Schriften als Poesie zu verstehen, wenn er betont, daß im Religiösen das Werk von Poeten denselben Dienst für Religiosität erweisen kann wie das in der Realitätsfalle gefangene Wort von der Kanzel. 265 D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrift Deudsch. Wittenberg 1545 (hg. von Hans Volz), München 1972, Bd. II, S. 173.

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D. »Dialektik der Aufklärung«: Adorno / Horkheimer

Aufklärung ist entweder entzaubernde Aufklärung, die sich ganz der Realitätsfalle widmet, in der sich der bekenntnishaft Gläubige befindet, oder ist erhellende Aufklärung, die keiner Entzauberung dient, sondern vielmehr der Einsicht in die wahre Kraft schöpferischen religiösen Glaubens, der an dem durch poetische Texte vorgezeichne­ ten Glauben mit seiner Aneignung des Glaubens zum Mitschaffenden wird. Die homerische Odyssee ist als das Epos, das es ist, nichts Aufzuklärendes. Wer sich von ihm bezaubern läßt, erfährt in vielfa­ cher Hinsicht Aufklärung, erhellende Einsicht, damit aber nichts, was wieder in Mythologie zurückschlägt.266 Wie Tragödiendichtung philosophischer und für die Kenntnis des Menschen von sich selbst bedeutsamer ist als das Bereitstellen historischer Fakten,267 so gilt das auch für die Epen: Sie zeigen uns den Menschen nicht im Einzelnen und Besonderen, sondern exemplarisch. Die Verschlagenheit des Odysseus, die erotische Unersättlichkeit der Kalypso, die eheliche Treue der Penelope. Die Muse ist es, die Muse des Dichters, die den Zorn des Achill singt, den an die Grenze des Menschlichen reichenden, den exemplarischen Zorn – nicht als durchschnittliches menschliches Zornverhalten, sondern als den Menschen über seine äußersten Möglichkeiten aufklärenden. Wer Romane liest, bekommt komprimierte menschliche Lebenserfahrung vorgeführt, exemplari­ sche, die über die eigenen Möglichkeiten alltäglicher Erfahrungen hinausreicht. Für die christliche Tradition ist die Genesis die Urfassung menschlicher Selbstauslegung – des Menschen als eines geschlechtli­ chen Wesens, als eines familiären, auf der Erde lebenden, die Natur beherrschenden und der Verklärung bedürftigen Wesens. Weil der Mensch nicht nur ein geistiges, sondern, damit verbunden, ein geist­ liches (spirituelles) Wesen ist, gehört zu seiner Aufklärung durch schöpferische Fiktionen zuinnerst dies, daß er ihrer bedarf.

V. Alle Systeme des deutschen Idealismus, wie auch immer sie sich auf »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« (von Hegels Hand 1796/97) berufen könnten und wollten, sind, wie erhellende Aufklärung es sieht, in der Realitätsfalle gefangen. Die 266 267

Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 21. Aristoteles, De arte poetica (ed. I. Bywater), Oxford 1949, 1451b5–7.

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D. »Dialektik der Aufklärung«: Adorno / Horkheimer

Gleichsetzung des rein Geistigen mit dem wahrhaft Wirklichen, wie sie für die Systeme von Schelling und Hegel die nicht zur Disposition stehende Grundlage bildet, lebt »argumentativ« von sprachlicher Emphatik, die ihr Bestes tut, dem »mythologischen Vernunftglau­ ben« als dem Ziel aller Ziele gerecht zu werden. Sie sind festen Glaubens, im Umgang mit Religion unmöglich in die Realitätsfalle geraten zu können, weil sie Religion nicht als etwas »Positives«, sondern »idealistisch« auffassen. Wirklichkeit, es versteht sich: die wahre und·wirkliche, ist geistige Wirklichkeit. Dieses Denken hat es tatsächlich geschafft, das von Kant gültig Widerlegte268 in bewußter Einsichtslosigkeit wirkungsgeschichtlich neu mächtig werden zu las­ sen. Der ontologische Gottesbeweis, den Kant als Erster so genannt hat, ist der Schlußstein der von Philosophie errichteten Realitätsfalle. Anselm von Canterbury, der ihn in die Philosophie einführte, ging von dem Begriff Gottes aus, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, und der doch auch größer ist, als daß er gedacht werden könnte. Die damit erdachte Vollkommenheit, Unermeßlichkeit und Mächtigkeit Gottes, zusammengefaßt im Begriff der Begriffe, garan­ tiert die Notwendigkeit der Existenz Gottes, weil sonst der Begriff nicht der wäre, als der er konzipiert ist. Damit feiert die Methode der Petitio principii ihren frühen philosophischen Triumph: Das zu Beweisende wird zum Beweisgrund.269 Das identitätsphilosophische spekulative Denken des deutschen Idealismus hat nie eine andere Beweismethode geübt: er hat, sein Erfolg beweist es, keiner anderen bedurft und hätte auch mit keiner anderen reüssiert. Hegel, für den er »allein der wahrhafte« Beweis des Daseins Gottes ist, hat sich in aller Kürze seiner angenommen, wie um die Realitätsfalle der Religionsphilosophie unverzichtbar und unentrinnbar zu machen. In der »Ausführung des ontologischen Beweises in den Vorlesung über Religionsphilosophie vom Jahre 1831«270 heißt es: Gott ist der Inbegriff aller Realitäten, sagt man; eine derselben ist nun auch das Sein: so wird das Sein mit dem Begriffe verbunden. Dieser Beweis hat sich bis auf die neuere Zeit erhalten; […]

Siehe oben, S 128. Siehe oben S 64. 270 G.W.F. Hegel, Die Beweise vom Dasein Gottes, hg. von Georg Lasson, Leipzig 1930, S. 174. 268

269

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D. »Dialektik der Aufklärung«: Adorno / Horkheimer

Kurz gefaßt: Der Begriff Gottes enthält das Sein Gottes, also ist das (Da-)Sein Gottes bewiesen. Daß der Begriff Gottes das Sein Gottes enthält und damit beweist, wird zur Grundlage des Beweises des Daseins Gottes genutzt. Der Trick liegt darin, daß Hegel bei »Inbegriff aller Realität« von einem »in sich bestimmten Unendlichen«(ebd.) ausgeht, das als Nicht-Endliches auch nicht vergänglich ist. Bei ihm müsse »die Realität dem Begriff entsprechen«. Einen Begriff so zu begreifen (definieren), daß er als existierender Begriff auch für seinen Gehalt als existierend steht, daß er also eigentlich gar nicht Begriff, sondern vielmehr die »Sache selbst«, des Idealisten Platon to pragma auto271 ist, führt einen Kunstgriff der Denkkunst vor von spekulativer philosophischer Kraft, aber damit ist unmöglich etwas bewiesen. Wie steht es allein schon mit dem Begriff eines »Inbegriffs aller Realitäten«? »Alle« Realität existiert nicht, sondern ist ein work in progress. Und warum soll noch dazu Gott (ein Gott!?) dieser Inbegriff sein? Hegels Antwort: »Sagt man«. Ja, Hegel beginnt mit Anselm, als wenn das irgendetwas belegte und bewiese. An all dem zeigt sich klar, daß Denkkunst, wie es die idealistische Spekulation ist, sehr wohl zum Erdenken taugt, nicht aber schöpferisch sein kann gleich der Glaubenskunst. Gott ist allein durch den schöpferischen Glauben an Gott zu verifizieren, durch Glauben, das signifikant kein Wissen ist. Ein rational bewiesener Gott in der vorgeführten Beweisart ist nichts, das einem religiösen Glauben und Gottvertrauen stattgäbe. Die Autoren der Dialektik der Aufklärung hätten gut daran getan, als erstes die Aufklärung über den »ontologischen Gottesbeweis« zu betreiben. Das hätte sie auch dazu geführt, sich über sich selbst aufzuklären, soweit sie in der Realitätsfalle gefangen sind, die sich der Mythologie von Hegels Vernunftglauben verdankt. Bester Beweis für diesen Tatbestand ist Adornos ebenso emphatischer wie unvernünfti­ ger Begriff des Möglichen.

271

Platon, Siebter Brief 341c7 et al.

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E. Aufklärung durch das Leben

1. Erhellende Aufklärung im Interesse des zu lebenden Lebens 1.1 Der geschichtliche Mensch I. Anders als das organische Leben läßt sich das gelebte Leben nicht in einer gültigen Definition festschreiben. Es ist, wie der geschichtliche Mensch seine Lebensgeschichte schreibt, in fortwährender Entwick­ lung. Für die biologische Evolution, die den modernen Homo sapiens zum Ergebnis hatte, war er evidenterweise nicht verantwortlich. Mit dem Beginn der kulturellen und zivilisatorischen Evolution hat er sel­ ber die Verantwortung übernommen. Darin aber liegt eine prinzipielle Überforderung. Der Mensch kann die Entwicklung seiner selbst, die von ihm ausgeht, steuern, gut oder schlecht, aber er verfügt nicht darüber, daß Entwicklung statthat. Die Lebenserfahrungen, lebt er nur einigermaßen bewußt, nehmen unaufhörlich zu, ebenso die Kennt­ nisse. Empirie als Basis von Wissenschaft erweitert und vertieft sein Wissen. Klugheit und Schlauheit bilden sich aus, Witz und Weisheit. Es ist, als bliese ein Wind der Geschichte ohne Einhalt den Menschen über jeden Stand des Geschehens hinaus. Hochkulturen und Hoch­ zivilisationen, wo immer sie entstanden, verdanken sich wesentlich einer evolutionären Eigendynamik. Bei der berühmt-berüchtigten »neuen Barbarei«, die als Gefahr beschworen und als Faktum erlebt wird, mag mit Recht der Mensch als der Verantwortliche angeklagt werden. Doch es gilt zu bedenken, ob nicht jede durch Kultur und Zivilisation neu entstehende Möglichkeit von Humanität von neu entstehenden Möglichkeiten der Inhumanität begleitet wird. Dann ist es der Mensch, der, wie durch sich selbst getrieben, das Humanum aufs Spiel setzt.

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E. Aufklärung durch das Leben

II. Der sich seiner Freiheit bewußte geschichtliche Mensch ist in Anbe­ tracht des Humanum der Herausforderung ausgesetzt, den Gebrauch, den er von ihr macht, selber zu verantworten. Sich ihr mit Erfolg stellen zu können, setzt voraus, daß er willens und fähig ist, sich als Lebenskünstler ins Spiel zu bringen. Die Kunst, Leben gelingend zu teilen. beruht auf gemeinsamen Lebenserfahrungen des Gelin­ gens und Mißlingens. Wissen ist lehrbar, Erfahrung nicht. Lebens­ erfahrung, die zum Guten ist, muß jeder selber machen. Allein so besteht die Möglichkeit, daß aus Lebenserfahrung ein Lebenswissen wird, die gemeinsame Lebenserfahrung zu einer Mitwisserschaft, Gewissen genannt. Das in immer neuen Gemeinsamkeiten von Lebenserfahrung erworbene Gewissen ist die Quelle der Fähigkeit, als Lebenskünstler zu handeln. Keine von außen und oben gesetzten Handlungsnormen erwecken den Künstler gelingender Lebensteilung zu seinem Tun, sondern sein durch Umgang mit anderem menschli­ chen Selbstsein gereiftes Selbst. Das Gewissen als Sediment vielfacher Mitwisserschaft des Gelingens verhält sich nicht diktatorisch, sondern wirkt mit der Kraft des Erinnerns, Ratgebens und Begeisterns. Diese Kraft stützt sich am besten auf Helfer, die seit der Antike Tugenden heißen, das sind im Leben erworbene, durch das jeweilige Naturell geförderte »Haltun­ gen« (Aristoteles: hexeis). Eine aktuelle praktische Situation fordert den Lebenskünstler nicht gänzlich neu heraus, sich als solcher zu entdecken und bereit zu machen. Selbstbeherrschung, Besonnenheit, Wahrhaftigkeit sind, wem sie eignen, etwas Stabiles. Die Freiheit, die sich mit keiner anderen abstimmt, und den Stärkeren ungehemmt seinen Vorteil gegenüber Schwächeren auskosten läßt, ist, sobald Leben zu einer Kunst wird, gebändigt. Da jedoch nicht jeder in einer menschlichen Population willens ist, als Lebenskünstler zu agieren, und dies in alten wie in neuen und neuesten geschichtlichen Zeiten nicht, bleibt das Humanum etwas, das jederzeit in Frage steht. Wie ist dem, so fragen sich die um es Besorgten, am nachhaltigsten zu begegnen?

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1. Erhellende Aufklärung im Interesse des zu lebenden Lebens

1.2 Jahwes Gebote I. Den Menschen zu sagen, was für ihr Zusammenleben ganz allgemein zum Guten, ja zum Besten ist, kann nur eine Instanz: menschliche Lebenserfahrung. Was der biblischen Erzählung nach auf dem Berge Sinai einem Menschen, der für Menschen verantwortlich ist, auf zwei steinernen Tafeln, die von Gottes Hand beschrieben sind, von seinem wundertätigen himmlischen Herrn überreicht wird, ist zu einer Anzahl von Geboten (LXX: prostagmata) verdichtete menschli­ che Lebenserfahrung. Das gilt nicht nur für die Tafel, die gelingenden Umgang von Mensch und Mensch reformuliert, sondern auch für die, die dasselbe für den Umgang von Mensch und Gott tut. Wer sollte auch sonst wissen, was dem Menschen zum Guten, ja zum Besten gereicht? Schöpferischer Glaube, der den Menschen sich für sich selbst entdecken läßt, schafft mit dem geglaubten Gott nicht nur einen Spiegel seiner durch die Praxis des Menschseins wach gewordenen Wünsche und Hoffnungen, die sich in der Rede von Güte, Liebe und Gerechtigkeit artikulieren, von Treue, Barmherzigkeit und Gnade, sondern auch einen Spiegel seines Gewissens, das sich in all den Momenten gelingenden Zusammenlebens gebildet hat. Läßt philosophische und theologische Besinnung auf die Bestimmung des Menschen das Humanum zu einem Divinum geraten, dann verdankt sich das der Tatsache, daß schöpferischer Glaube zum Leitbild seiner Schaffung Gottes das vollkommene Humanum nimmt. Die Gebote, die der monotheistisch gläubige Israelit sich durch seinen Gott zuspre­ chen läßt, können in ihren Variationen gar nichts Anderes, weil nichts Besseres sagen als: Sei menschlicher Mensch! Das machen die Gebote Jahwes zu einem Merkbuch der Menschlichkeit. Recht verstanden sind die »Zehn Gebote« für den Menschen eine autonome, keine heteronome Gesetzgebung. Weit eher als daß sie dem Menschen vorschreiben, wie er zu leben hat, schreiben sie es ihm nach. Entsprechendes gilt für alle politische Gesetzgebung, die in gemeinschaftliches und gesellschaftliches Leben eingreift. Da menschliche Lebensart für Entwicklungen offen ist, gilt für jedes politische Gesetz, vom Tag seiner Setzung an, für eine womögliche Revision offen zu sein. Bestimmtes Handeln kann im Zuge einer allgemeinen neuen Lebensart seine Strafwürdigkeit verlieren. Dann ist die Politik gehalten, dem gelebten Leben zu folgen und Gesetze

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E. Aufklärung durch das Leben

entsprechend zu berichtigen oder aufzuheben. Das ist bedeutsam für Jahwes Gebote: Ist der durch sie gegebene Grundriß des Humanum von bleibender Gültigkeit?

II. Das erste von sechs Geboten Jahwes, die dem gelingenden menschli­ chen Miteinander gelten, sagt: Ehre deinen Vater und deine Mutter …

Die Ehre und Wertschätzung der eigenen Herkunft, soweit sie zwei Menschen zu verdanken ist, ist angesprochen, und damit unmittelbar auch die eigene Ehre und Wertschätzung. Geht es um Gott als den Vater, dann ist der zu ehren und zu preisen, zu lieben und zu heiligen, zu fürchten und anzubeten. Das auf die leibhaften Eltern zielende Gebot ist jedoch nicht einmal von einem Liebesgebot begleitet. Das ist kein Manko. In diesem Gebot geht es um mehr als die gelingend gelebte Intimität zwischen Eltern und Kind, Kind und Eltern: Es geht um die Herkunft der eigenen Existenz und die Bewahrung ihrer bleibenden Bedeutung für den, der sich ihr verdankt. Das Ehrgebot, das das Kind anspricht, zielt auf die Öffentlichkeit des gelebten und zu lebenden Lebens, um sie mit dem Urakt seines Entstehens zu verbinden: Ehre Vater und Mutter – ohne sie gäbe es dich nicht. Behalte sie in Ehren ein Leben lang. Ehre durch ihre Ehre dich selbst. Das Gebot, den Vater zu ehren, hält sich an den Vater als Vater, nicht an den Vater als ehrenhaften Mann. Tut der Vater Schändliches, gerät er in Unehre (atimia), dann scheint sich die delikate Frage zu stellen, ob Sohn und Tochter nicht gehalten sind, diesen in der Öffentlichkeit eintretenden Ansehensverlust mitzutragen und ihr Ehrerbieten ihm gegenüber einzustellen. Doch das widerspräche jeder Lebenserfahrung. Der Vater bleibt Vater, mein Vater, und damit bleibt er der von mir zu Ehrende und Geehrte. Alttestamentler sehen in Jahwes Geboten den autoritativen Willen Gottes verdichtet und für die Israeliten verpflichtend gemacht,272 doch der erhellend Aufklä­ rende sieht das grundlegend anders: Einzig und allein lebenspraktisch Bewährtes wird zum Gebot gemacht. Nicht weil Vater und Mutter zu ehren ein absolutes Gebot wäre, muß es auch dann seine Geltung behalten, wenn ein Vater sein öffentliches Ansehen vollends verspielt 272

H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, a.a.O., S. 246 f.

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1. Erhellende Aufklärung im Interesse des zu lebenden Lebens

hat, sondern weil es für die zum Ehren angehaltenen Kinder höchst ratsam ist. »Rühme dich nicht der Schande Deines Vaters,273 das sagt: Lobe dich nicht öffentlich als einen Ehrhaften, der über seinem Vater als einem Ehrlosen steht. Für Jesus Sirach, der seine »Weisheitslehre« im ersten Drittel des 2. Jahrhunderts vor Christus verfaßt, ist es unabweislich, daß die Ehre eines Menschen bleibend der Ehre seines Vaters entstammt. Die Ehre des Vaters, die unablöslich mit der Ehre seines Kindes verknüpft ist, versteht sich demnach nicht aus dessen öffentlichem Ansehen. Der Vater als Erzeuger steht im Blick, als Wohltäter von Natur. Vergreifen sieh Autoren der Evangelien, wenn sie den »heiligen Zorn« des Gottessohns so drastisch wie nur möglich erdichten, im Ton, dann verfehlen sie notwendig den Geist von Jahwes Geboten: So jemand zu mir kompt vnd hasset nicht seinen Vater / Mutter / Weib / Kind / Brüder / Schwester / auch dazu sein eigen Leben / der kan nicht mein Jünger sein.274

Die feministische Bibelübersetzung275 sucht das durch eine Fehlüber­ setzung zu glätten: »hassen« (misein) wird durch »hintansetzen« ›korrigiert‹. Doch das ist der rigorose Jesus der Evangelien, wie er auch im Matthäusevangelium auftritt. Die Forderungen an den Gläubigen und den für den Glauben zu Werbenden sind nie anders als unbedingt. Da hat menschliche Lebenserfahrung keinen Platz mehr. Ein Jesus, der sich das Recht nimmt, zu sagen »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich«, kann unmöglich ein versöhnlicher Mensch sein.

III. Das zweite dem gelingenden menschlichen Miteinander geltende Gebot sagt: Morde nicht! (Ou phoneuseis)

Die Übersetzung »Du sollst nicht töten!« ist bewußt irreführend. Jeder Leser des Alten Testaments weiß, daß Jahwe immer wieder einmal Menschen ausdrücklich befiehlt, Menschen zu töten: Jesus Sirach 3,10. Lukasevangelium 14,26. Martin Luther, Die gantze heilige Schrift, Bd. II, a.a.O., S. 2111. 275 3. Aufl., Gütersloh 2007. 273

274

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E. Aufklärung durch das Leben

Will sie aber (die feindliche Stadt) nicht friedlich sich mit dir verglei­ chen, sondern mit dir Krieg führen, so belagere sie. Und wenn der Herr, dein Gott, sie dir preisgibt, so sollst du alles, was darin männlich ist, mit der Schärfe des Schwertes schlagen.276

Auch das ist Lebenserfahrung. In jenen Zeiten wußte man nur zu gut, wie zu handeln ist, um überwältigten Feinden nicht die Chance zu geben, sich später zu rächen. Anstatt Tötung ganz allgemein und Tötung im Krieg zu ächten, hat Jahwe sein Volk in effektiver Kriegsführung beraten. So spricht denn auch dieses zweite Gebot nicht von Töten, sondern eindeutig von Blutgier und Mord. Die gilt es zu ächten, und dies allem zuvor im engsten Lebenskreis: Wenn aber einer seinem Nächsten feind ist und ihm auflauert, ihn überfällt und totschlägt, und er flieht dann in eine dieser Städte, so sollen die Ältesten seines Ortes ihn von dort holen lassen und dem Bluträcher ausliefern, dass er sterbe.277

Die Ermordung des Nächsten ist die radikalste Aufkündigung von Sozialität. Nicht von ungefähr wird eine Aufzählung von allerlei Gravierendem, was einer gelingenden Sozialisation im Wege steht, positiv mit der Zuwendung zum Nächsten abgeschlossen: »Liebe dei­ nen Nächsten als dich selbst«.278 Kein Lebensrat kann einleuchtender sein als der, den engsten Lebenskreis vor der größten denkbaren Schädigung zu bewahren.

IV. Das dritte dem gelingenden menschlichen Miteinander geltende Gebot sagt: Brich nicht die Ehe!

Ehe, das ist in Kulturen, die Rechtsverhältnisse ausgebildet haben, die naturgemäße Verbindung von Mann und Frau als eine legitimierte und institutionalisierte. Sie dient der Unantastbarkeit der intimsten Lebensgemeinschaft. Wird in Häusern gelebt, dann ist das Haus der Eheleute das der Familie, die ihrer Natur nach eine Milchgenossen­ schaft ist. Hat auch die eheliche Verbindung ihre Verbindlichkeit als 276 277 278

5. Mose 20,12. 5. Mose 19,11 f. 3. Mose 19,11–18.

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1. Erhellende Aufklärung im Interesse des zu lebenden Lebens

Rechts- und nicht als Liebesgemeinschaft, so ist doch menschliche Emotionalität und Affektivität unübersehbar mit im Spiel. In der Regel hebt das Verlangen des Männlichen nach dem Weiblichen und des Weiblichen nach dem Männlichen, das in der Ehe zu einer verbindlichen Einzelheit gerät, die Allgemeinheit des Verlangens des einen Geschlechts nach dem anderen nicht auf. Die Versuchung der Eheleute, sich nicht allein ehelich, sondern, bei Gelegenheit, auch außerehelich zu paaren, ist eine prinzipielle. Das Gebot, einer entsprechenden Versuchung auf keinen Fall nachzugeben, hat seinen Ursprung in der Ehe selbst, in der Familie und ihrem Haus. Der Nahbereich menschlichen Lebens, aus dem sich menschliche Gemeinschaften und Gesellschaften aufbauen, ist die gelebte Erfahrung, daß es für alle Bewohner des »Hauses« zum Guten und Besten ist, im Einzelnen und im Allgemeinen, wenn die Ehe nicht von außen als das verbindliche Verhältnis, das sie von sich aus ist, zerstört wird. Erklärt die Tora (wörtlich: Gebot) Ehetreue zur verbind­ lichen Norm, und dies ohne weitere Begründung, dann ist das für den Alttestamentler nur allzu verständlich, weil Vorkommnisse wie der Ehebruch »das Zusammenleben einer Gemeinschaft nachhaltig schädigen«. Für ihn ist mit dem Gebot nichts anderes gefordert als das, »was sich in langer Tradition bewährt hat and deshalb auf die Evidenz der Erfahrung bauen kann«.279 Hält sich der gesetzgebende Jahwe an menschlich Bewährtes, dann ist sein Gebaren doch nicht rein autoritativ. Im antiken Athen hatte der betrogene Ehemann das Recht, den Ehebrecher auf der Stelle zu töten. Die betrügende Frau verlor Bür­ gerrechte, der Ehemann auch, wenn er sich nicht von ihr trennte.280 Die Atimie war damit ausgesprochen, das heißt, sie wurden für ehrlos erklärt. Aristoteles nennt in einem Atemzug »Ehebruch, Dieb­ stahl und Mord« Handlungen, die »schon ihrem Namen nach die Schlechtigkeit in sich schließen«.281 Ein andermal führt er bei einer Aufzählung heimlicher Handlungen neben Ehebruch unter anderem Giftmischerei, Meuchelmord, falsches Zeugnis, Freiheitsberaubung, Verstümmelung auf.282 Das göttliche Gebot, nicht die Ehe zu brechen, reformuliert damit die allgemeine menschliche Einsicht, daß Ehe­ bruch ein strafwürdiges Verbrechen ist, das es in seiner zerstörenden 279 280 281 282

H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, a.a.O., S. 428. D.F. Lübcker, Reallexikon des classischen Alterthums, Leipzig 1867, s.v. Aristoteles, EN II 6, 1107a11 ff. Aristoteles, ebd., V 2, 1131a6 ff.

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E. Aufklärung durch das Leben

Kraft für gelingendes menschliches Miteinander mit jedem anderen strafwürdigen Verbrechen aufnehmen kann. Ehebruch liegt vor, wenn ein Ehemann mit einer anderen als seiner Ehefrau, und eine Ehefrau mit einem anderen als ihrem Ehe­ mann schläft. Das ist der Rigoristik des Neuen Testaments nicht genug. Sie setzt die einschlägige Sündhaftigkeit und mit ihr das Gott Zuwiderhandeln bereits als eine Möglichkeit ohne Interaktivität durch. Sie will den unnachsichtigeren Gott vorführen, der sein Urteil über menschliches Verhalten fällt, ohne Rücksicht auf menschliche Erfahrungen. Das erfordert, die Gebote Jahwes zu übertrumpfen. Die überholende Gegenstellung zu den Geboten des Alten Testaments kündet sich in einem jeweiligen »Ich aber sage euch« an, mit dem er seine Rechtsprechung über menschliches Verhalten von jeder Rücksicht auf menschliche Lebensart freihält: Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.283

Das ist noch schlimmer als Kants gute Gesinnung, die diesem Optio­ nisten für reine Vernunft und reinen vernünftigen und damit absolut guten Willen genügt, um einen Menschen vollends moralisch für gut zu erklären, auch wenn er in der Welt nichts Gutes bewirkt. Die reizvolle Erscheinung einer schönen Frau, die im Manne unwillkürlich die Männlichkeit erweckt, als eine der Hölle würdige Sünde – ferner vom gelebten und zu lebenden Leben können menschliche Gedan­ ken gar nicht sein, auch wenn es geschichtliche Wahrheit ist, daß menschliche Lebenserfahrung und mit ihr die Parameter gelingenden Miteinanders dem Wandel unterzogen sind: EHEBRUCH, außerehel. Geschlechtsverkehr eines Ehegatten; in Deutschland seit 1969, in der Schweiz seit 1989 u. in Österreich seit 1996 nicht mehr strafbar.284

V. Das vierte Gebot auf der zweiten Gesetzestafel sagt: Stehle nicht! 283 284

Matthäusevangelium 5,28. dtv-Lexikon, Gütersloh/München 2006, s.v.

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1. Erhellende Aufklärung im Interesse des zu lebenden Lebens

Lösen sich die staatlich gesetzten und durchgesetzten Rechtsverhält­ nisse auf, erstickt die Demokratie an einem Übermaß an Freiheit, vergleichbar der Oligarchie, die an einem Übermaß von Reichtum erstickt, dann erweist sich die individuelle Ungebundenheit namens Anarchie als die schlimmste aller politischen Verhältnisse.285·Zum gelingenden Miteinander gehören gewahrte Rechtsverhältnisse – das hat die kulturelle Evolution zu einer allgemeinmenschlichen Lebenserfahrung gemacht. Die ungebändigte und für das Miteinander unabgesprochene Freiheit setzt Liebe und Treue selbst im nächsten Lebenskreis außer Kraft: Man schwört und lügt, man mordet und stiehlt, man bricht die Ehe und übt Gewalttat.286

Wird Jerusalem, »die treue Stadt, die voll des Rechts war«, zur »Dirne«, dann wohnen anstatt Gerechtigkeit Mörder in ihr, ihre Obe­ ren sind zu Gesellen der Diebe geworden: »Sie alle lieben Bestechung und jagen Geschenken nach«.287 Staatliche Korruption als politisches Grundübel ist allgemeine Lebenserfahrung bis heute. Diebstahl spielt dabei eine signifikante Rolle.

VI. Die beiden noch folgenden Gebote Lege kein falsches Zeugnis ab wider deinen Nächsten! Begehre nicht deines Nächsten Frau! führen ebenfalls unabdingbare Voraussetzungen gelingenden menschlichen Zusammenlebens an. Jahwe greift wiederum auf nichts anderes zurück als auf menschliche Lebenserfahrung und auf das im gelingenden Miteinander gebildete Gewissen. Jeder Mensch, der bei Sinnen und bei Verstand ist, weiß auch ohne Kenntnis der in staatlichen Gesetzen formulierten Strafandrohungen, daß die Zerstö­ rung der Aura des Vertrauens des eigenen engsten Lebenskreises ein Verbrechen ist: ein Verbrechen am gelingenden Leben. Für den erhellend Aufklärenden ist es kein Wunder, daß sich Jahwe als kenntnisreicher Anwalt des Humanum auch in den vier 285 286 287

Platon, Politeia, VIII 260e-262e. Hosea 4,2. Jesaja 1,21 ff.

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E. Aufklärung durch das Leben

Geboten, die in die erste Tafel eingeschrieben sind, die Gebote, wie sich der Mensch zu Gott und zum Göttlichen zu verhalten hat, bewährt. Der Mensch, der seinen festen Lebenshalt nicht im Letzten in einem Anderen sucht und findet, mit dem zusammen er alt werden will, auch nicht in dem ihm gewissen Tod, sondern in einem ganz Anderen, der alle Natur überragt, kann und soll nur Einer sein. Schöpferischer religiöser Glaube ist in seiner voll entwickelten Form Monotheismus. Das »Alles ist voller Götter« hat dann seine Zeit gehabt. Dabei ist in diesem Glauben das Verhältnis von Mensch zu Gott und von Gott zu Mensch so angelegt, daß nicht nur der Mensch die Einzigkeit des geglaubten Gottes braucht, sondern der so gebrauchte Gott auch für sich selbst. Das läßt ihn seine Anbetung und Verehrung in symbolischen Gestaltungen und eben in Götzen­ bildnissen unter Verbot stellen. Der Glaube brächte sich um sich selbst, wenn er diesen wechselseitigen Eins-zu-Eins-Bezug nicht in jeder Hinsicht hochhielte, was sich als Nächstes in der namentlichen Anrufung zu bewähren hat. Nicht nur für den Gläubigen, sondern auch für den Geglaubten ist das wechselseitige Verhältnis notwendig eine Höchstleistung des Verklärens. Die namentliche Anrufung des »Höchsten« hat im Rahmen das Heiligens zu geschehen, will der Gläubige sich nicht seinen Glauben verderben. Daraus ein Gebot des Geglaubten zu machen, belegt einmal mehr die Schöpferkraft religiösen Glaubens. »Und ruhte am siebten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte.«288 Am siebten Tag hört Gott mit der Arbeit (wörtlich: Maloche) auf. Aufhören (hebr. sabbat) mit dem Schaffen, weil die Welt geschaffen ist, macht Gott, der den siebten Tag segnet und hei­ ligt, diesen zu einem Ruhetag für den Menschen, zu einem Feiertag.289 Lobt Gott sich alle Tage seines Schaffens für sein eigenes Werk: »Und er sah, daß es gut (LXX: kalon) war«, dann treffen sich im Sabbatgebot Gotteslob und Lob der Gläubigen für das vollendet Geschaffene. Die gebotene Ruhe ist die gelebte Form der vollendeten Arbeit an der Erschaffung des Menschen und der Erde, die seine Wohnstätte ist. Im Ruhen der Arbeit für die Selbsterhaltung feiert der Mensch sich selbst als dankbarer Bewohner der Erde. Die Gebote Jahwes, die dem Verhalten des Menschen als seinem Geschöpf zum Schöpfer

288 289

1. Mose 2,2. Siehe H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, a.a.O., S. 258.

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1. Erhellende Aufklärung im Interesse des zu lebenden Lebens

gelten, sind auf ganz besondere Weise menschliche: das Humanum in übernatürlicher Verklärung.

1.3 Der Nächste I. Jeder Mensch ist Besonderes und Einzelnes. Seine Kennzeichnung als Gattungswesen macht aus keinem etwas Allgemeines, schafft nichts Allgemeines, das den Einzelnen verpflichtete, ihm gleich zu sein und in ihm aufzugehen. Der Mensch lebt, von Ausnahmen wie einem Eremiten (Ein-Siedler) abgesehen, die die Regel bestätigen, in Gemeinschaft und Gesellschaft: Er lebt mit Anderen zusammen: in einem Land, in einer Ansiedlung, in einem Haus. Die Lebenstei­ lung mit Anderen ist eine unmittelbare und eine vermittelte. Die einen Anderen sind ihm nah, die anderen Anderen fern. Unter den Nahen gibt es auch Nächste: Familie, gemeinsam Aufwachsende und Arbeitende, Freunde, nicht zuletzt sich in fürsorgender und erotischer Liebe Nahekommende. Kein Mensch ist in auch nur einem Moment seines Lebens reiner Geist, reine Vernunft, weil diese Reinheit im Leben unmöglich zu realisieren ist. Der gesunde Mensch, der im Miteinander eine eigene Stelle einnehmen und sein Verhalten selbst verantworten kann, ist nie nur bei Vernunft und Verstand, sondern stets auch bei Sinnen. Die Rede vom Anderen als einem Nächsten läßt den Einen in einem Verhältnis auftreten, in dem der Eine und der Andere einander gleich sind: Sie sind sich Nächste. Die reine Konkretion herrscht: menschliches Zusammengehören und Miteinandersein, wenn nicht als das Humanum, dann doch als ein Vorschein davon. Die einfa­ che Rede vom Nächsten überspielt alle abstrakten Entwürfe einer menschlichen Sinngebung, die in einem »Wesen« des Menschen gipfelt, das schlechthin allgemein und nicht von dieser Welt ist, in einer »Wesensbestimmung«, die ein »echtes« Menschenleben ad calendas graecas vertagt. Das Leben des Einen und Anderen, die einander Nächste sind, hat nicht in einem reinen Geisterreich statt, nicht im All-Einen, in dem Leben und Welt überwunden sind. Im Dasein der Nächsten zeigt sich nicht weniger als die Konkretion des Humanum an, die alltägliche Sinnerfüllung, daß der Mensch für den Menschen da ist.

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E. Aufklärung durch das Leben

II. Liebe deinen Nächsten als dich selbst.290

Fürsorgliches Verhalten zum Nächsten als Gebot, nicht als gegebene Konkretion einander Nächster!? Wer ein »Nächster« ist, kann dem­ nach fraglich sein, kann ein Rechtsproblem stellen. Und so ist es auch in der Tat. Sind Fremde, die fremd und neu in ein Haus, in eine Ansiedlung, in ein Land gelangen, die der Fürsorge bedürfen, auch schon Menschen, für die das Humanum konkret zu werden hat, daß der Mensch für den Menschen da ist? Du sollst den Fremden lieben als dich selbst.291

Damit ist klar: Tritt Nächstenliebe als Gebot auf, dann ist der Nächste nicht über eine meßbare Nähe definiert, aber auch nicht über das Blut, sondern er ist praxisdefinit: Der Geliebte ist der Nächste. Fürsorgende Liebe ist schöpferisch, sie macht aus Menschen, die zusammenleben, einander Nächste. Mit den rein durch das Zusammenleben Nahen und Nächsten und selbst mit den dem Blut nach Nächsten kann es anders stehen. Plane nichts Böses gegen den, der nahe bei dir wohnt.292

Räumliche Nähe des Zusammenwohnens schützt nicht nur nicht vor dem einander Feindsein, sondern kann Grund für es sein: Der berühmte, die Gerichte in aller Welt beschäftigende Streit der Nach­ barn. Gefährlicher, nämlich lebensgefährlicher ist jedoch zumeist die Nähe des Bluts, wofür das Vorzeigebeispiel seit der Geschichte von Kain und Abel die Brüder sind. Das Alte Testament ist voll der Appelle, daß Brüder sich vertragen mögen, auch wird geraten, dem Bruder nicht zu trauen. Brüder sind ja von Natur Konkurrenten, angefangen mit der Konkurrenz um die Gunst der Eltern. Das Gebot, seinen Bruder nicht im Herzen zu hassen,293 hat gute Gründe. Es gibt im Endeffekt den Rat, den Nahbereich des Zusammenlebens nicht zu zerstören. Das Neue Testament dagegen, nicht auf gelingendes Zusammenleben bedacht, sondern auf die absolute Macht Jesu über die Seelen und Herzen der seine Frohe Botschaft Annehmenden, läßt 290 291 292 293

3. Mose 19,18. 3. Mose 19,34. Sprüche 3,29. 3. Mose 19,17.

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die Strafandrohung, die er mit dem Gebot verbindet, einmal mehr ins Maßlose geraten: Wer aber zu seinem Bruder sagt: du Tor! (môre), der ist des Höllenfeu­ ers schuldig.294

Theologen haben sich verständlicherweise mit diesem Wort schwer­ getan. Aber sie mußten es als ein echtes Wort des Evangeliums annehmen. Die »Zungensünde«, wissen sie, wiegt schwerer als die Versündigung an Besitz. Das aber reicht noch nicht, um eine Zornrede wider den Bruder mit der himmlischen, ja eben höllischen Kapital­ strafe zu versehen. Das ist und bleibt »höhere« Gerechtigkeit. Das Wort Nächster, wie es in der Rede von der Nächstenliebe spricht, entstammt dem Wortschatz der Verklärung, und dies als ein Wort des schöpferisch handelnden Menschen. Wie menschliche Würde praxisdefinit ist, und nicht im Menschen als eine abstrakt gereinigte Geisteskraft dingfest zu machen ist, so verhält es sich auch beim Nächsten im gelingenden Miteinander. Die Würde des Menschen sei im Prinzip »unantastbar«, wenn auch nicht de facto – so will es das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im ersten Satz seines ersten Artikels. Prinzipien sind Absichtserklärungen, keine Tatsachenfeststellungen. Die Zugehörigen zu geistlichen Orden der katholischen Kirche wurden »Ehrwürden« genannt. Sie waren Gewürdigte und trugen anerkannte Insignien ihrer Würde. Es ist für jeden Menschen bedeutsam und für jeden Menschen, welchen Stand er auch in der Gesellschaft hat, möglich, gewürdigt zu werden, und dies zumeist für seine gesellschaftliche Relevanz, und, wenn es ganz hochkommt, für seine bezeugte Menschlichkeit. Die Würdigung von Menschen ist eine Form von Verklärung, die lebenspraktisch von höchster Bedeutung ist. Entsprechend verhält es sich mit dem zum Nächsten verklärten anderen Menschen. Er wird tätig geliebt. In ihm erkennt der Liebende sich selbst. Ist ein Anderer seines selbst­ verantwortlichen Menschseins noch nicht oder nicht mehr mächtig, springt der ihn fürsorglich Liebende ein, ihn mit Selbsthaftigkeit zu belehnen.295 Wer in Würde zur Welt kommen, in Würde altern und sterben soll, muß ein Nächster für Nächste sein.

Matthäusevangelium 5,22. Siehe Rainer Marten, Das letzte Selbst, in: Till Velten, Sprechen über Demenz, Freiburg 2015, S. 123–129. 294

295

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III. Auch ferne und fernste Menschen können für bewußte Augenblicke zu Nächsten werden. Die Verbindung zu ihnen muß nicht mehr als nachrichtlich erworbenes Wissen sein, wenn es genügt, das eigene Gewissen zu berühren und mit ihm die Sensibilität für das Huma­ num. Es handelt sich dann um Schicksale, die einem urplötzlich nahegehen, etwa um Schicksale von Kindern, deren Kindheit durch die Corona-Seuche nachhaltig beschädigt wird, oder um Migranten, die auf dem Weg zu einem erträglichen Leben zu Tode kommen. Das für Augenblicke konkretisierte Wissen übersteigt jedes bloße Zurkenntnisnehmen. Nähe herrscht, Mitwisserschaft, sobald einem das schicksalhafte Geschehen bewußt wird. Nicht Mitleid und Empa­ thie regieren, nein, da teilt einer urplötzlich Leben mit Fernen und Fernsten, wenn auch auf asymmetrische Weise. Das Menschsein fühlt sich, spürt sich verletzt. Wem auf diese Weise Fernes nahegeht, wird freilich in der Regel nicht selbsthaft aktiv, herrscht ja auch unterschwellig in seinem Innersten ein Entlastungsgefühl. Er ist nicht selbst dabei, ein Kind tröstend zu streicheln, einen Migranten aus dem Wasser ins Boot zu ziehen. Die politische und caritative Antwort auf die bewußt gewordenen Schicksale hat er ausdrücklich oder unausdrücklich delegiert. Das entwertet diese Nächsten nicht, macht sie nicht eindeutig zu Fernen und Fernsten, sondern verleiht ihnen die Bedeutung, Vorschule menschlicher Solidarität zu sein.

1.4 Kants selbstverschuldete Unmündigkeit I. Kants Vernunftmoral verbietet Freiheitsgebrauch und Selbstbestim­ mung, die unverzichtbar für die Menschlichkeit des Menschen sind. Sein Vorsatz, sich um die reine Vernunft, nicht aber um den leben­ digen Menschen zu kümmern, setzt systemisch Zwänge frei für die Gestaltung der Moraltheorie, die auf inakzeptable Weise in das eingreifen, was Sache menschlicher Selbstverantwortung ist.

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Für Kant sind die Menschen genuin und generell Lügner.296 Da reine Vernunft ein genuines und generelles Lügenverbot erfordert und erläßt, entdeckt sich sein philosophischer Ansatz und speziell der der Moraltheorie als einer, der bewußt auf Distanz zum Menschen geht. Aber er entdeckt noch weit mehr, und dabei allem zuvor dies, daß er sich als Anwalt der reinen Vernunft allein im Allgemeinen aufzuhalten und den allgemeinen Standpunkt einzunehmen weiß. In diesem Falle macht es ihn unfähig und unwillig, zwischen Lüge und Lüge zu unterscheiden. Das hat ihn dazu verführt, den jeder lebens­ beratenden Vernunft spottenden Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797) zu verfassen. In ihm bekräftigt er das generelle, gleich einem Naturgesetz keine Ausnahme zulassende Verbot der Lüge hinsichtlich des Einschlusses der lebensrettenden Notstandslüge. Als wäre es des Guten nicht genug, konstruiert er auch noch einen absurden Zufall, der das Unterlassen der Notstandslüge zur Lebensrettung werden läßt. Eine absolute Handlungsanweisung, die ihre Sinnhaftigkeit, ja gar Plausibilität auch auf Zufälle stützt, hat sich von jeder Rationalität verabschiedet. Die Notstandslüge ist ural­ tes bewährtes Menschenrecht.297 Es ist kaum zu fassen, mit welcher Rigidität Kant hier sein »Naturgesetz« gegen praktische Situationen als solche in Stellung bringt, um dem Humanum, das Vernunft nie anders als in Verbindung mit Emotion und Affekt am Werk zeigt, keine Chance zu lassen.

II. Hier ist die Stelle, noch einmal auf Kants Verneinung des Menschen­ rechts zurückzukommen, über sein Leben selbst zu verfügen. Für ihn hat der Mensch, wie zu erinnern, aus einem höchst kuriosen Grund kein Recht darauf, ein unerträglich gewordenes Leben selbst zu beenden. Er meint nämlich, daß das unmöglich zu rechtfertigen sei, weil es einen Widerspruch enthalte. Man könne nicht erst leben wollen, später dann aber, wenn es einem paßt, sterben wollen – das wäre ein Selbstwiderspruch des Willens, der als Lebenswille agierte. Es zeigt sich: reine Vernunft kennt keine Lebensalter, keine Endlich­ keit des Lebens, die in der Folge von Jugend, Reife und Alter das 296 Siehe Rainer Marten, Menschliche Wahrheit (2000), a.a.O., das Kapitel »Alle lügen (Kant)«, S. 289–292. 297 Siehe Rainer Marten, ebd. 5,4 »Die Notstandslüge«, S. 311–314.

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Leben erst auf seine Blüte zugehen, dann, weiter im Bilde gesprochen, Früchte tragen und seine Ernte einbringen läßt, um schließlich nach und nach von allen Lebenskräften verlassen zu werden. Sind die Tage des Lebens gelebt, ist das Leben des Lebens satt geworden (Luthers »lebenssatt«), dann koinzidiert zumeist das nicht länger leben Können mit dem nicht länger leben Wollen. Wer partout das Nachlassen der Natur (in alten Kirchenbüchern häufig als Todesursache notiert) nicht wahrhaben und eben nicht sterben will, zeigt sich ohne Einverständnis mit dem Leben, das seiner eigensten Natur nach ein endliches ist, und zeigt sich entsprechend nicht im Einverständnis mit seinem Tod. Leben, das im Einverständnis mit sich selbst gelebt wird, will, ist die Zeit dafür gekommen, sterben. Der Widerspruch, den Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten konstruiert, ist die reine Fehlkonstruktion, Zeugnis einer systemisch bedingten theoretischen Lebensfremdheit katexochen. Das Humanum ist es, das die Notstandslüge rechtfertigt und den selbstverfügten Tod. Kant verbietet dem Menschen kategorisch, in diesen für die Menschlichkeit des Lebens und Sterbens höchst bedeut­ samen Sachverhalten, von seiner Mündigkeit Gebrauch zu machen.

1.5 Wagnis der Lebenskunst I. Leben ist, auch für den Menschen, ja gerade für ihn, durch und durch empirisch. Jeder bewußte Moment des Lebens ist ein Moment der Lebenserfahrung. Durch seine Empirizität ist Leben ein unausgesetz­ ter Lern- und Erkenntnisprozeß. Nichts ist absolut vorbestimmt, nichts stellt sich mit absoluter Sicherheit ein, und dies schon darum nicht, weil die durchgängige Empirizität des Lebens durch den schöp­ ferischen Menschen die Gestalt einer durchgängigen Dialogizität gewinnt: Auf jede Herausforderung (Frage) des Lebens sucht der Lebenskünstler eine Antwort zu formen. Wie der Mensch als Leben­ der handelt, stellt er keinen psychosomatischen Apparat dar, dessen Verhalten hinreichend durch das Reiz-Reaktions-Schema gedeutet werden könnte. Er hat die nötige Distanz zu sich selbst, um Künstler zu sein, Lebenskünstler, der in seinem Schaffen auf das Humanum zielt: auf das gemeinsame Bestehen des Wagnisses, das das Leben ist. Leben läßt sich nicht anders als so, daß Leben aufs Spiel gesetzt

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wird. Das freilich geschieht beim zurechnungsfähigen Menschen nicht gedanken- und besinnungslos. Er handelt als Lebenserfahrener, der vom frühsten Leben an Erfahrungen nicht allein für sich macht, sondern in Gemeinsamkeit mit Anderen, mit der Mutter als dem in der Regel gegebenen Idealfall oder sonst einer eindeutigen Bezugs­ person, soll ein für das Leben tauglicher Anfang statthaben. Wie Pfleger und an Demenz Erkrankter ein ungleiches Erfah­ rungsverhältnis darstellen, so auch das von Mutter und Kind. Das Neugeborene verfügt·noch über kein entwickeltes Selbst, keine aus­ gebildeten lebenskünstlerischen Fähigkeiten, der Demente entspre­ chend nicht mehr. Das Wagnis der Lebenskunst ist wesentlich durch die Gemeinschaft von Lebenskünstlern vorgezeichnet. Die eigene Karriere stellt eine Herausforderung, eine Naturkatastrophe, aber nichts im Leben von Menschen übertrifft die Herausforderung durch andere Menschen. Menschen sind für einander die Quelle größter Freude und größten Leids. Das Wagnis der Lebenskunst besteht genau darin, Leben so aufs Spiel zu setzen, daß die Kunst das Humanum als Ziel im Blick behält, nicht aber, und sei es zweckbedingt für das Humanum, das Inhumanum.

II. Lebensteilung, die auf Lebenserfahrung beruht und zur Sache von Lebenskünstlern geworden ist, vereinheitlicht den Menschen nicht. Sie nimmt ihm nicht nur nicht seine Individualität, sondern läßt gerade seine Eigenheiten und Verschiedenheiten ins Spiel und zum Austrag kommen – bis hin zur Gegensätzlichkeit. Steht in einem gelingenden Miteinander unmöglich jeder Konsens zur Disposition, so auch unmöglich jeder Dissens. Die Idee der vereinheitlichenden reinen Vernunft im Verein mit dem rein vernünftigen Willen ist in der Perspektive des Praktischen eine Fata Morgana, eine schlechte Theorie und Utopie. Die Idee eines rein vernünftigen Weltstaates, die alle am Monopol der Gewalt Beteiligten ein und dieselbe »Vernunft« teilen ließe, ist nichts anderes als die Horrorvision der Implosion aller Staatlichkeit. Das berühmte Zusammenrücken der Menschen, sobald sie sich global als Menschen bedroht wissen, gibt es nicht und wird es nie geben. Nicht von ungefähr hat man es gerne hingenommen, wenn ein Adam Smith den Egoismus zum Mysterium des Altruismus verklärt. Die Evolution hat Egoismus zu einem Konstitutivum der menschlichen Natur gemacht. Das hat nicht zur Folge, daß jede

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Handlung unmittelbar egoistisch ist. Den größten Gewinn für das Eigeninteresse an gelingender Lebensteilung kann einer dadurch machen, daß er die Interessen des Anderen über die eigenen stellt. Das nämlich ist ein deutliches Signal an den Anderen, daß es ihm als dem Werbenden um eine dauerhafte Beziehung geht, motiviert durch positive Affekte und Emotionen. Ist dem, der so verfährt, bewußt, daß er so zu seinem Vorteil handelt, dann entwertet dies das Verhalten nicht. Warum sollte ein Herz nicht alle im Humanum verlaufenden Wege nutzen, zum begehrten anderen Herz zu gelangen?

III. Menschliche Populationen sind heutzutage und auch schon zu Zeiten Kants in der Regel staatlich und rechtlich geeint. Ihre Glieder sind aufgefordert, im Rahmen dieser Vorgabe miteinander auszukommen, ja füreinander förderlich zu sein. Leiten den Menschen Interessen der Lebenskunst, das sind Interessen des gelingenden Miteinander und Füreinander, dann entstammen die Gesetze, die er sich im Interesse des menschlichen und staatlichen Zusammenhalts gibt, der Lebenser­ fahrung. Wie das Leben einen Menschen mit der Gewißheit des Todes in die Ungewißheit das Lebens hineinführt, hat es von Anfang an bis zum Ende und zur Vollendung den Charakter des je Besonderen und Einzelnen, nicht aber entsprechend den des Allgemeinen. Dem Einen ist jeder Mensch, mit dem er lebt, ein Anderer, sei es ein gleichartiger, sei es ein andersartiger. Die Andersheit des Menschen gewinnt mit dem Augenblick der Geburt ihre lebenspraktische Bedeutung. Das Neugeborene ist hilflos. Es bedarf Anderer, die als Helfende anderer Art sind: tatkräftig, erfahren und natürlich anderen Lebensalters. Ein­ ander entsprechende Bedürfnisse bilden die erste gelingende Einheit menschlichen Miteinanders: das Hilfebedürfnis und das Bedürfnis zu helfen. Die entindividualisierte Einheit des Menschen, wie sie Kants Gedanken der reinen Vernunft und Heideggers Gedanke der nack­ ten Existenz vorsieht, wird bewußt den Realitäten des menschli­ chen Lebens nicht gerecht. Der Mensch ist für den Menschen, der Mensch ist gegen den Menschen – das sind die extremen antithe­ tisch formulierten Grundpositionen des Menschen im Miteinander. Allgemeine Vernünftigkeit aller Vernunftfähigen und zum Gebrauch der Vernunft Bereiten sowie allgemeine rein geistige Existenz aller zu authentischen, jede Besonderheit und Einzelnheit abweisenden

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Existenz Entschlossener gehen grundlegend fehl in der Konzeption des Humanum. Auch Vorstellungen von allgemeiner Freundschaft und Brüderlichkeit, von allgemeiner fürsorgender, ja gar allgemeiner geschlechtlicher Liebe werden ohne jede Einsicht, wie das für den Menschen gut, schön und möglich sein sollte, erzeugt, ganz zu schweigen vom geistig-existenziellen Aufgehen im All-Einen, eine daoistische Vorstellung, die durch Heideggers Einfluß bei einigen deutschen Philosophen beliebt geworden ist. Das Wagnis der Lebenskunst ist es, das Wagnis des Lebens einzugehen und so das Gelingen des Miteinander aufs Spiel zu setzen. Das Wirkungsfeld der Lebenskunst ist die Realität des Lebens, weswegen diese Kunst auch einen Sinn für Pragmatik hat. Es ist keine Fatalität, unter den Bedingungen Mensch zu sein, wie sie der geschichtliche Mensch als menschliche Möglichkeit und Wirklichkeit bezeugt. Das Leben des Menschen, der wir sind, als Ergebnis der bio­ logischen Evolution ist für ihn ein Wunder, wenn er es bejaht, und das bleibende Rätsel seiner selbst. Auch als Ergebnis der kulturellen Evo­ lution steht es mit dem Menschen nicht anders. Eine der geschichts­ mächtigsten Initiativen der Lebenskunst war ihre Überschreitung der Natur ins Übernatürliche und dabei die übernatürliche Gestaltung von Gottheiten, die in der des einen Gottes gipfelte. Diese verklärende Leistung der Lebenskunst ließ das Wagnis des Lebens nicht länger ein Vabanque-Spiel sein. Der festeste Halt im Leben war gegründet, ein stärkerer Halt, als es der Tod ist, weil er die volle Lebensbejahung ermöglichte, allerdings die eines übernatürlichen Lebens. Damit aber ist das Ja zum Leben zu teuer bezahlt. Mit dem einen Gott als dem ganz Anderen ist es nun auch der ganz andere Mensch, der sich bejaht, sind es nicht mehr wir. Als Lebenskünstler das Wagnis des Lebens ein­ zugehen, des Lebens, das unser Leben ist, bleibt ein Vabanque-Spiel, muß es bleiben. Für das Wagnis der Lebenskunst haben Verklärung und Aufklärung in Balance zu bleiben. Damit aber hat Lebenskunst mit ihrem Verklärungspotential bei dem in der Erde zu begrabenden Menschen zu bleiben, nicht aber sich für einen in den Himmel versetzt Werdenden zu verwenden. Für Lebenskunst macht die Verleihung eines Ehrentitels Sinn, nicht das Umgeben mit einem Heiligenschein. Bereits heute sind für eine signifikative Minderheit Exkursionen ins Übernatürliche, die aus lebenspraktischen Gründen unternommen werden, zu einer hypotrophen Form der Verklärung geworden.

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IV. Erwarten Genetiker bis in eine Million Jahre eine Entwicklung der menschlichen Großhirnrinde, durch die sich unsere Aggressivität entscheidend mindert, dann stellt sich die Frage, ob das überhaupt gut wäre. Der Mensch, der wir sind, hat die Natur, die er zum Leben braucht, sofern er nach auf Lebenserfahrung gegründeten rechtlichen Vorgaben sein Leben lebt und sich als Lebenskünstler aufs Spiel setzt. Das macht es möglich, daß Konsens und Dissens zum Austrag kommen, Freundschaft und Feindschaft, Liebe und Haß, Macht und Ohnmacht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, ohne daß die Einheit des Miteinander nachhaltig beschädigt und zerstört würde. Selbst wenn die seit dem Jahre 2020 in Wellen verlaufende Corona-Krise zeigt, daß eine globale Katstrophe die Menschen nicht auf Dissens verzichten läßt, auf Feindschaft und Haß, auf Zustände, die von fern an alte Religionskriege erinnern, dann ist das als eine gewaltige Herausforderung der Lebenskunst in ihrer humanen, politischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Dimension doch keine Über­ forderung, die sie an sich verzweifeln ließe. Sie läßt sich nicht vom Alarmismus menschlicher Selbstzerstörung verleiten, sondern bleibt realistisch: Wir sind so, und es ist gut, daß wir so sind, wie wir sind. Das Wagnis der Lebenskunst besteht darin, den Menschen, wie er ist, und somit seine geschichtlich gewordene Realität zu bejahen und alle Kunst darauf zu verwenden, daß dem Gelingen des Mitein­ ander die größere Chance gegeben ist. In den staatlich und rechtlich geeinten Populationen geht es unterschiedlich zivilisiert zu. Selbst heute noch werden in Staaten durch politisch-polizeiliche Macht bewährte Rechtssysteme auf Zeit außer Kraft gesetzt. Lebenskunst muß sich das Recht, ihre Kunst in dem für ein allgemeines Gelingen nötigen Umfang auszuüben, gegebenenfalls eigens erarbeiten, auch erkämpfen. Das Humanum ist eine creatio continua und eine lotta continua, weil wir so sind, wie wir sind. Der ewige Frieden ist dem Tod beschieden, nicht dem Leben.

1.6 Das Selbst des Lebenskünstlers I. Das Selbst des Lebenskünstlers ermißt sich als Selbst am Selbst anderer. Selbstsein ist erfahrene Distanz: Distanz zu anderem Selbst

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und zu sich selbst. Das Selbst des Menschen ist es, das im Umgang mit Menschen Widerstand erfährt und selber Widerstand leistet. Das Selbst im menschlichen Einander ist je ein Halt: Halt im Sinne von Halt geben und Einhalt gebieten. Ohne Selbstsein, ohne selbsthaftes Handeln gäbe es kein Für-, Mit- und Gegeneinander. Das Selbst, indem es anderes Selbst braucht, um sich als Selbst zu erfahren, wird zu etwas Einzelnem und Unverwechselbarem. Anstatt wie Kant es sieht und will, via Vernunft den allgemeinen Standpunkt einzu­ nehmen und im selbsthaften Sein und Handeln schlechtweg mensch­ lich·Allgemeines einzubringen, wird der Lebenskünstler durch sein entwickeltes Selbst wach für die eigene Einzigartigkeit und für die Einzigartigkeit anderen Selbstseins. Ihre höchste lebenspraktische Mächtigkeit und Fruchtbarkeit gewinnen selbsthafte Einzigkeit und Individualität in der Liebe, sowohl in der geschlechtlichen als auch in der fürsorglichen. Beide Male führt Lebenskunst zur wechselseitigen Verklärung: Der Pflegende hängt Bilder von Gepflegten bei sich auf, Liebende vom Geliebten. Das tödliche Liebesweh wegen unerwiderter Liebe der Caroline von Günderrode (1780–1806) ist Zeugnis·dafür, wie sehr das menschliche Geschlechterverhältnis in der Kunstform der verklärenden Liebe aus dem allgemeinen Hang zur Befriedigung des Geschlechtstriebs ein vollkommenes Humanum macht. Meint Kant, daß in ehelicher Liebesbeziehung bei vollendet leiblich-seeli­ scher Intimität der Eine und Andere doch allein die Tierheit heraus­ lassen, dann weiß er nicht, wovon er spricht. Meint geschlechtliche Liebe Liebe, und kein okkasionelles Vergnügen, dann hat der Vollzug der Intimität keinen Selbstverlust zur Folge, im Gegenteil. Aber auch die einmalige geschlechtliche Intimität von Zweien, die von keiner Verbindung zwischen Eros und Thanatos wissen will, von keinem höchsten Wagnis des Selbst des Lebenskünstlers, kann das selbsthafte Ergreifen einer menschlichen Möglichkeit von Lust sein, die keine tierische ist. Bedeutete sie freilich Ehebruch, wäre es mit der ehelichen Liebe vorbei. Auch sie ergreift die Möglichkeit lustvoller Intimität, um in Freuden das Leben zusammen zu feiern, und erschöpft sich nicht etwa in der gemeinsam gewollten Weitergabe von Leben. Diese Lust um der Lust willen ist dann aber die einer unverwechselbaren Einzigkeit des Einander. Die vollkommene Willfährigkeit der einan­ der Liebenden in ihrer erotischen Intimität ist bewußt selbsthafter Natur und ein grundlegender Vollzug des Humanum.

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II. Jeder Mensch ist einzigartig. Keiner gleicht einem anderen so, daß er für derselbe genommen werden könnte. Das liegt am Selbst, das lebenspraktisch alles Allgemeine und Besondere individualisiert: zu etwas Eigenem macht. Das Allgemeine und Besondere des Lebens und des Todes, des Glücks und des Unglücks werden durch das eigene Selbst zu Eigenheiten im wörtlichen Sinne. Gelingende Lebensteilung führt nicht zu einem Ganzen mit Teilen gleicher Art, im Gegenteil. Die Teilung des Lebens ist es gerade, die die Ungleichheiten belebend und fruchtbar, ja für ihre schöpferischen Möglichkeiten·frei werden läßt. Maler und Komponisten, im Verein mit Dirigenten und Orchestern, Tänzer und Romanciers schaffen als die einer Zeit und einer Kultur nie Gleiches, das einem gleichen Empfinden und gleichem Tempera­ ment entspringen müßte, einem gleichen Gedanken und gleichen Ausdrucksvermögen. Das lebendige, ganz eigens entwickelte und sich selbst eine unverwechselbare Geschichte gewordene Selbst ist es, das sich seine Eigenheiten schafft und geschaffen hat. Die Frage der Eigenheitlichkeit fängt mit dem Menschsein eines Menschen an. Mensch zu sein, weil dem Menschengeschlecht zuge­ hörig, genügt nicht für·Menschsein als Eigenheit. Die selbsthafte Übernahme und Gestaltung ist dazu erforderlich.

III. Die metaphysische Vorstellung eines Wesens und einer Wesensbe­ stimmung des Menschen basiert notwendig auf reiner Vergeistigung. Die geringste Spur von Sinnlichkeit und Lebenspraxis ließe den Gedanken des Allgemeinen als den des vollkommen Entindividuali­ sierten nicht zu. Das Wesen des Menschen steht somit für ein Selbst ohne Eigenheiten. Kants reine Vernunft kann nur unterschiedslos sein, wie auch Heideggers eigentliche Existenz. Was der Existenzphilosoph da an Jähem und Ekstatischem im Sinn hat, verleiht dem eigentlichen Selbst,298 das dabei im Spiel ist, bei all seiner Auf-sich-Bezogenheit gerade keine Individualität: Sie (die Individuation) individuiert so, daß sie alle gleich macht.299 298 299

Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 129. Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit, a.a.O., S. 27.

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Das »eigentliche Selbst«, wie es von metaphysischen Wesensdenkern als reine Geistform des Menschen konzipiert wird, trägt keinerlei menschliche Züge. Die Unfähigkeit dieser eigentlichen Selbste zu Bezeugungen von Empathie ist aber nicht unmenschlich zu nennen, ist doch das gedachte Menschenwesen in keinem Falle Mensch. Als Hinweis genügt, daß dies gedachte Wesen geschlechtslos ist. Dem philosophisch konzipierten Geistwesen Mensch ergeht es nicht anders als dem religiös geglaubten: Die pneumatische Existenz im Himmel kennt keine geschlechtliche Intimität.

IV. Eigenheiten des Selbst können in ihrer Herausbildung durch natürli­ che Mitgift begünstigt und eben durch Natur präfiguriert sein. Zu dem, was sie sind, und zu ihrer lebenspraktischen Wirkung gelangen sie allein im Umgang des Selbst mit anderem Selbst. Das eigene Selbst braucht, um das eigene zu sein, das eigene Selbst eines Anderen. Zur Individualität gehören im Prinzip zwei, die sich füreinander in ihrem unverwechselbar eigenen Selbstsein manifestieren. Artikuliert sich ein Selbst als Ich, um seine Position in einer praktischen Situation anzuzeigen, dann ist es ein bereits eigenes im Verhältnis zu dem eines entsprechenden Du. Individualität ist praxisdefinit. In der Autobio­ graphie, mit der ein Autor sich einem Publikum als das Selbst, das er ist, zu entdecken vorgibt, handelt er notwendig von seinen Eigenhei­ ten, ob er sie stolz vorzeigt oder schamvoll verbirgt oder überhaupt erst bei dem Versuch ist, sie für sich selbst zu entdecken. Kants eigentliches Selbst im Sinne des rein vernünftigen und Heideggers eigentliches Selbst im Sinne des »nackten Daß« der Existenz sind allgemeine Kennzeichnungen, die ausschließlich auf Allgemeines zutreffen können und wollen. Ganz anders die Eigenheiten des Selbst – werden sie namentlich benannt, dann hat der allgemeine Name nichts Allgemeines zu benennen, sondern unüberschaubar Einzelnes, das in seiner allgemeinen Gleichheit von ausnahmsloser individueller Ungleichheit ist. Weiblich als Eigenheit verstanden, als Eigenheit eines Menschen, die sein Selbst prägt, sofern er sie selbsthaft als Eige­ nes übernimmt, gibt nicht zweimal dasselbe zu verstehen. Gelebte Weiblichkeit ist in jedem Einzelfall unvergleichlich. Klischees von Weiblichkeit, »typisch weiblich«, »Ach, die Frauen« vermögen daran nichts zu ändern. Bei aller Gleichheit bleiben stets Nuancen, die das Sichgleichende nicht zum Selben werden lassen. Von der Nympho­

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manin bis zur Frau, die ihre Fraulichkeit und Weiblichkeit verneint, ist nichts vollkommen gleich. Das Selbst des Lebenskünstlers ist schöpferisch. Das »Nicht-ganz-gleich« genügt der Freiheit des Künst­ lers, etwas Singuläres zu schaffen. Die Ungleichheit jeder gelebten Eigenheit ist konstitutiv für sie. Allein dadurch hat sie Bedeutung für das – ungleiche – Individuum selbst und für anderes eigenheitliches Selbstsein, das Umgang mit dem singulären Individuum hat. Das gilt für alle gelebten Eigenheiten. Ein fröhlicher Mensch ist keinem ande­ ren mit fröhlicher Natur gleich. »Vom Mütterchen«, schreibt Goethe, habe er·»die Frohnatur, die Lust zu fabulieren«. Welche Unvergleich­ lichkeit zeigt sich da in der Gleichheit einer Eigenheit des Selbst!

1.7 Schöpferische Hybridität I. Der Lebenskünstler schafft sein Werk als Angehöriger zweier Welten, die für sich keine Verbindung haben und allein durch ihn vermittelt sind: der Welt der Aufklärung und der Welt der Verklärung. Es sind nicht Kants zwei Welten, von denen dieser in seinem Philosophieren nicht loskommt: mundus sensibilis atque intellibilis (geistige und sinnliche Welt). »Eigentlich« ist für ihn ja, wie ausgeführt, der Mensch allein Angehöriger der geistigen Welt, weil er in ihr allein frei ist, was für ihn ausschließlich heißt, frei dazu, sein eigentliches Selbst zu sein: sein absolut guter, weil rein vernünftiger Wille. Nein, mit dieser Verdoppelung der Welt des Menschen hat der Lebenskünstler nichts zu schaffen. Er verabschiedet sich nicht von der Lust am Leben, von Affekten und Emotionen, um einer Gesinnung zu sein, die ohne lebenspraktische Relevanz einzig der Selbsterhaltung der Vernunft dient. Hat christliche Theologie für die kritische Frage, wie es denn bei Jesus Christus mit dem Verhältnis von Gottsein und Menschsein stehe, die Antwort gefunden »ganz Gott, ganz Mensch«, so beantwortet erhellende Aufklärung vorweg eine entsprechende Frage zum Lebenskünstler mit »ganz Aufklärer, ganz Verklärer«.

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II. Zu Beginn seiner Schrift Über die Würde des Menschen300 geht Gio­ vanni Pico della Mirandola (1463–1494) auf die Ansicht von Arabern und Persern ein, daß es auf dieser Welt nichts Bewunderungswürdi­ geres gebe als den Menschen. Soweit das Wunder in der menschlichen Geistes- und Erkenntniskraft, ja selbst in seiner Funktion als Zwi­ schenraum (interstitium) von stehender Ewigkeit und fließender Zeit und damit als verbindende Kraft der Welt gesehen wird, genügt das Pico della Mirandola nicht. Für ihn ist es die einzigartige Unbestimmt­ heit der menschlichen Natur, die zu etwas Bestimmten zu machen seiner Freiheit überlassen sei. Das sei das Glück des Menschen: es in seinem Ermessen liegen zu haben, das zu sein, was er zu sein wünscht. Das ist künstlerische Freiheit. Wie der Künstler Mensch sich als rohe Natur vorfindet, sei er weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich. Von dermetaphysischen Tradition geprägt, sieht dieser Aufklärer den Menschen in seiner Position zwischen Gott und Tier. Der sich als Künstler selbst gestaltende Mensch hat die Wahl zwischen irdischem und himmlischem Lebewesen, zwischen Tier und Engel. Wer der Schönheit einer Kalypso verfallen ist, sei ein Tier, wer ganz dem Geistigen und der Weisheit zugewandt ist, habe sein wahres Zuhause bereits im Himmel. Wird Kindern etwas zur Wahl geboten, dann wollen sie gerne, wie Platon im Sophistes bemerkt, beides haben. Doch der Sinnenlust hingegebenes Tier und den Geis­ tesfreuden zugetaner lebendiger Geist ist eine Alternative, die nicht in ein und demselben Menschen praktisch zum Austrag kommen kann. Hat man Max Scheler (1874–1928) vorgeworfen, sich selbst nicht an die von ihm propagierte Ethik gehalten zu haben, dann soll seine Antwort gewesen sein: »Ein Wegweiser geht auch nicht dahin, wohin er zeigt«. Damit aber sagt er nur, daß er seine Philosophie nicht gelebt hat. Sie war ein bloßes Gedankenexperiment. Die Frage bleibt, ob künstlerische Freiheit nicht dazu taugt, anstatt eine Wahl zu treffen, vielmehr dem menschlichen Bedürfnis zu entsprechen, in zwei Welten zuhause zu sein. Philosophie hat aber nicht nur, in Verkennung menschlicher Künstlerschaft, sinnliche und geistige Lust zu einer Alternative gemacht (Platon, Philebos!), sondern auch wissenschaftliches Wis­ Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, lat./dt., hg. von August Buck, Hamburg 1990.

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sen und philosophisches Wissen, Welterkenntnis und rein geistige Erkenntnis. Für die Philosophie, meint Heidegger, gehe es dabei um die Entscheidung von »Leben oder Tod«: Wer einen Sinn für Sachlichkeit habe, sei für die Philosophie verloren.301 Wer will schon, in der Tat, im Denken ganz auf die geistig-ekstatische Existenz fixiert, die Teilhabe am wissenschaftlich-technischen Fortschritt dankbar im Sinn behalten, zumindest soweit es um den Fortschritt in der Medizin geht. Die Wissenschaftsfeindlichkeit aller idealistischen Philosophie und rechtslastigen Kritik der Moderne zeigt sich ideologisch blind gegenüber der Tatsache, daß Wissenschaft und Denkkunst kein Ent­ weder-oder darstellen, sondern, den Bedürfnissen des Menschen entsprechend, ein Sowohl-als-auch.

III. Revolutionäre denken alternativ im Sinne von »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«: Altes soll abgelöst werden, Bestehendes und allemal Übles (kakon), das einem besseren, wenn nicht wahren Menschsein im Wege steht. Heute wird die digitale Revolution propagiert und sie ist auch schon am Zuge. Mit ihr wendet sich der Mensch keinem Gott zu, auch keinem Tier, sondern der Maschine. Es geht um Daten­ erfassung, Datensichtung und Datennutzung. Darin ist die Maschine der bessere Mensch, ja geradezu ein Übermensch. Philosophen und Theologen können sich die Digitalisierung in ihrer Berufsausübung zunutze machen. Doch die Revolutionäre der Digitalisierung haben mit der Maschine mehr im Sinn: an ihr soll sich der Mensch mit seinen Fähigkeiten messen. Die Zukunft des Menschen wird mit den in Zukunft hergestellten und in Gebrauch genommenen Maschinen ver­ bunden. Neue, andere und eben bessere Maschinen, ihre Entwicklung kann exponentiell verlaufen, gelten als alternativlos für den techno­ logischen Fortschritt und damit auch alternativlos für ein besseres künftiges menschlichen Leben und das heißt Menschsein. Die an das Analoge gebundene menschliche Anschaulichkeit ist von der durch das Digitale optimierten maschinellen Anschaulichkeit abgelöst. Wie Karl Marx und Ludwig Feuerbach mit einem Bedürfnisverlust rechne­ ten, weil sie nicht zu der Einsicht fähig waren, daß religiöser Glaube 301 Martin Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, a.a.O., S. 63. Siehe oben S. 75.

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Kunst ist, so gehen auch die Revolutionäre des Digitalen davon aus, daß der durch sie betriebene Fortschritt alles abdeckt, was der Mensch zur Verbesserung seines Lebens zu erwarten hat, allem voran die Steigerung der Annehmlichkeiten des Lebens. Daß sie damit beden­ kenlos einen Bedürfnisverlust einkalkulieren, der an Radikalität nicht zu überbieten ist, wird ihnen gar nicht bewußt. Die Idee, daß die in Konkurrenz mit dem Menschen siegreiche Maschine dem Menschen überhaupt erst die rechte Zeit für Muße und Muse verschaffe, geht in die Irre. Der Neoliberalismus, der die Digitalisierung begleitet und antreibt, ist von eigener Verführungsmacht, die den Nutzer des durch Maschinen erreichten Fortschritts mit seinen Produkten ganzheitlich in den Bann zieht.302

IV. Die Hybridität des Menschen verdankt sich ihm selbst. Der geburtli­ che Mensch ist Natur, ist gelebte Unmittelbarkeit. Die Kunst, Mensch zu sein und selbsthaft das eigene Leben zu führen, ist in ihrem Kern die Kunst der Aufhebung der naturhaften Unmittelbarkeit: der Selbstdistanzierung. Von den Lebewesen kann allein der Mensch sich selbst nah, fern und fremd sein. Selbstnähe und Selbstferne sind Formen der Selbstdistanz, der aufgehobenen Unmittelbarkeit der Natur. Kunst braucht Distanz, der Künstler schafft Distanz, den Raum jeglichen Selbstbezugs.303 Das alte Wort Seele (Psyche) taugt am besten dazu, diesem von Selbstsein erfüllten Raum des Selbst einen Namen zu geben. Seele ist das, was das rein Naturhafte des Menschen überhöht.·Sie wird nicht von oben durch etwas Höheres, als der Mensch ist, in ihn gesenkt, sondern entwickelt sich von Geburt an mit ihm und durch ihn. Mit dem Beginn der Selbstbildung ist das Selbst auch schon selber an der seelischen Entwicklung beteiligt. Der Mensch selbst ist es, der seine Seele entfaltet und gestaltet. Darf man von einer Interaktion zwischen Schwangerer und Embryo ausgehen, dann ist auch an embryonale Vorstufen der menschlichen Seele zu 302 Siehe Rainer Marten, Mein Zeitgeist, a.a.O., 1. Kap. »Der mächtigste Geist der Zeit«, S. 15–40. 303 Die Bedeutung der Selbstdistanz für Seelenbildung ist bereits in der spekulativen Lebensphilosophie gesehen worden. Siehe Helmuth Plessner, Die Stufen des Organi­ schen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften IV, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2016, S. 373 – 385 et al.

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denken. Die Seele entwickelt sich durch lebenspraktisches Verhalten von Selbst zu Selbst, zum eigenen und zum Selbst signifikant Anderer. Vollzieht sich auch die Bildung der Seele im Rahmen phylogenetischer Vorgaben und unter dem Einfluß der Lebensumstände, so liegt doch, die Fähigkeit zu selbsthaftem Handeln vorausgesetzt, die Verantwor­ tung für das, wozu die Bildung der Seele geführt hat und wie sie sich entsprechend verhält, maßgeblich an dem, dessen Seele sie ist. Der Mensch ist eine Schöpfung der Natur und eine Schöpfung seiner selbst. Mit der Geburt ist er der Hybridität überantwortet und mit ihr einer doppelten Bedürftigkeit: den Bedürfnissen des natürlichen Organismus und den Bedürfnissen der Seele. Körperliche und seelische Reifung können harmonisch und disharmonisch ver­ laufen. Akzeleriert die körperliche Reifung, gerät der ganze Mensch aus der Balance. Gleiches gilt für den Umgang mit der differenten Bedürftigkeit für die Selbsthaftigkeit eines Menschen zeit seines Lebens. Fehlt seelische Entwicklung, verkümmert die Seele, dann fehlt dem Selbst die Kraft zur Selbstbeherrschung und künstlerischen Selbstgestaltung. Er ist nicht frei für sich selbst. Der geburtliche Mensch, soweit ganz Natur, ist nicht frei. Eindeutige Bezugspersonen gleichen diesen Fehl durch ihre Fürsorglichkeit auf Zeit aus. So geben sie erste Anstöße zur seelischen Entwicklung. Erst eine entwickelte Seele macht Freiheit möglich und nötig. Das ist bedeutsam für den Umgang mit der Diversität der Bedürfnisse und für das Verhältnis von biologischem und seelischem Entwicklungsstand. Drohen utopiegesättigte ideologische Vernunftoptionen den Menschen auf die absolute Gleichheit seiner abstrakt-reinen Geistig­ keit zu verkürzen, technologischer Fortschritt auf seine allgemeine Berechenbarkeit, dann wird die schöpferische Bewahrung mensch­ licher Hybridität ein Desiderat erhellender Aufklärung. Für den Lebenskünstler ist menschliches Leben eine verklärte Größe. Dazu bedarf es nicht notwendig der Religion, die das ganz andere Leben verspricht, das ewige und rein pneumatische. Es genügt das Liebes­ lied, das im Alten Testament aufbewahrt ist, das »Lied der Lieder«, das nichts von der Unsterblichkeit der Seele weiß, sehr wohl aber von einer das rein naturhafte Leben überhöhenden Kraft der Seele: … den meine Seele (psychê) liebt.304

304

Hohelied 3,1 ff.

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Seele ist eine physiologisch nicht faßbare Größe. Wer dem Menschen eine Seele zuspricht, verklärt ihn, gibt ihm eine höhere Wirklichkeit, die er selbst als die höhere verantwortet. Er handelt, wie das die Sprechakttheorie sagt, performativ, nicht konstativ. Er spekuliert nicht, schafft kein bloßes Gedankending, sondern erzielt Wirkung. Ist es die Seele, die liebt, dann ist auch Liebe als Liebe nichts physio­ logisch Faßbares. Nicht anders als Seele gehört Liebe zum Wortschatz der Verklärung. Wer sagt »Ich liebe dich« handelt sprachlich perfor­ mativ, nicht konstatierend. Die Liebeserklärung, wie sie im Hohelied in Vorfreude auf erotische Erfüllung gemacht wird, bringt als die erklärte Liebe der Seele alles andere als die Tierheit des Menschen ins Spiel. Sie verklärt den Geliebten und die Liebende. Wechselseitig wird auf das sinnlich-leiblich Erregende Bezug genommen, dies aber voller Poesie und damit Überhöhung. Kein urteilender Verstand steht Pate, keine vernunftbewahrende Gesinnung. Die wechselseitig höchste Bejahung des Einen und Anderen, in der sich beide voll einander eröff­ nen, zur Schau stellen und einander übereignen, zielt auf den Rausch, der ungleich höher ist als jeder Weinrausch: der Liebesrausch.305 Kants »Geschlechtswerkzeuge« verwandeln sich durch den verklärtverklärenden Gesang (»Lied der Lieder«!) in paradiesische Flora und Fauna. Die im Liebesrausch praktizierte Bejahung des Einander ist unablösbar von einer Bejahung des Lebens. Sie hat nicht im Geiste (als gedachter Wille und gedachte Gesinnung) statt, sondern im Leben als Leben. Erotisches Verlangen ist für Kant ein »Brünstigsein«, das »mit der moralischen Liebe eigentlich nichts gemein (hat)«.306 Da für Kant Freiheit etwas rein Gedachtes ist, unzertrennlich mit dem Gedanken der reinen Vernunft verbunden, lebenspraktisch wirksame Moral dagegen allein als Pflicht auftritt, könnte moralische (erotische) Liebe allein bedeuten, daß Mann und Frau bzw. Frau und Mann mit ihr einer Vernunftpflicht nachkommen, eine Pflicht, die für homoerotische Verbindungen nicht denkbar ist. So muß er darauf bestehen, daß reine Vernunftmoral ihren Preis hat: Lebensunlust stellt sich auf Dauer ein, der Verlust am »Geschmack« des Lebens. Daß wahre Lust allein in idealer Geistigkeit, nicht aber im gelebten Leben zu erfahren sei, ist Tradition einer Philosophie, die Leib und Sinne aus dem menschlichen Selbstsein verbannt hat. Der Denkkünstler Platon hat die absolut reine, schmerzfreie Lust gedacht, 305 306

Hohelied 5,1; vgl. 1,4. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, a.a.O., Bd. VI, S. 426.

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die als Lust »lustvoller« ist als alle Lust, an der Sinnlichkeit und Leiblichkeit auch nur im geringsten beteiligt sind, und damit die einzig wahre und schöne, weil wirklich lustvolle.307 Die Geistseele sei erst dann frei, wenn sie vom Leib geschieden und der Lebende tot ist. Darum die Empfehlung dieses Geistfreundes an den Lebenden: möglichst so zu leben, als wäre er im Leben schon tot.308 Kant geht noch einen Schritt weiter. Er argumentiert nicht, daß Sinnenlust als Lust nicht mit der geistigen mithalten könne, sondern erklärt sie für Sünde: sie versündige sich am Gesetz der Selbsterhaltung der Vernunft. Durch praktizierte Geschlechtlichkeit, und sei sie ehelich und liebevoll, verliere der Mensch das, was ihn zum Menschen macht, womit er jede Rechtfertigung als Mensch verloren habe. Gäbe es für Romeo und Julia im Augenblick, da sie die Lerche hören, einen Weg zur Erlösung von ihrer Sünde, dann könnte das nach Kant allein die feste Entschlossenheit sein, in Zukunft nur so handeln zu wollen, daß ihr Handeln als Grundlage einer allgemeinen, ausnahmslos ver­ bindlichen Gesetzgebung taugt. Der dafür nötige allgemeine Mensch mit dem absolut »guten« Willen verlangte von beiden die Aufgabe ihrer Individualität, die, zur Individualität ihrer Liebe geworden, die Aufgabe ihrer Liebe bedeutete. Kants aufklärerisch gemeinte, in Wahrheit aber verklärende metaphysische Moraltheorie hat keinen Anteil an der schöpferischen Gestaltung menschlicher Hybridität. Das Hohelied und Shakespeares Dichtung von Romeo und Julia dagegen entdecken auf bewegende Weise überhöhte Realität als die andere Heimat des Menschen.

2. Anthropodizee 2.1 Die Rechtfertigung Gottes durch Gott. Ein Versehen Voltaires I. Voltaire stellt, für Christen auf entzauberndste Weise, Gottes Schöp­ fung in Frage. Dazu muß er nur auf ihre evidenten Mängel verweisen, die sich notwendig zeigen, sobald man aus menschlicher Perspektive 307 308

Platon, Philebos 53c1 f. Platon, Phaidon 67e.

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2. Anthropodizee

Vollkommenheit zum Maßstab nimmt. Einmal läßt er einen Men­ schen, der ohne Falsch ist, fragen: Aber zu welchem Zweck (fin) ist diese Welt geschaffen worden?

ein andermal: Warum ist ein so sonderbares Tier wie der Mensch hervorgebracht worden?309

Beide Male bekommt er keine Antwort, weil es keine gehaltvolle gibt. Die eine wie die andere lassen sich bloß verneinen: Weder Welt noch Mensch sind zu irgendeinem Zweck, ja Endzweck »geschaffen« worden. Die Weltentstehung folgt keinem Plan, ebensowenig wie die Evolution des Lebens, die den modernen Homo sapiens zum Ergebnis hat. Auf hohem geistigen und schriftstellerischen Niveau glaubt Voltaire leichtes Spiel mit der christlichen Religion zu haben: Gott hat Mist gebaut. Damit aber versieht sich dieser Aufklärer genau daran, daß es zu religiösem Glauben wie dem christlichen gekommen ist, weil die Welt so ist, wie sie ist, nämlich seit eh und je und in alle absehbare Zukunft »aus den Fugen«, und das ist, was sie ist: ein sinnloser Zufall. Voltaire versieht sich an der schöpferischen Kraft und lebenspraktischen Fruchtbarkeit religiösen Glaubens. Der Glaube gibt der Welt und dem Menschen einen Sinn, dem Gläubigen einen letzten, absolut festen Halt. Kernpunkt des Glaubens ist die unerforschliche Gerechtigkeit Gottes, die durch nichts, was Gott macht und zuläßt, in Frage gestellt werden kann. Jeder Versuch einer Theodizee ist im Ansatz ein Selbstmißverständnis des Glaubens. In allem, was an für den Menschen Relevantem geschieht, rechtfertigt sich der Gott durch sich selbst, der als voll verantwortlich für das Geschehen geglaubt wird: So, genau so sieht Gottes unergründliche Gerechtigkeit aus. Das gibt dem Gläubigen die Kraft, die Welt in ihrem Wie und Was auszustehen: Glauben heißt: die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushal­ ten.310

309 Voltaire, Candide oder der Optimismus, dt./frz., Wiesbaden 2006, Kap. 21, S. 205; Kap. 30, S. 239. Eigene Übers. 310 Karl Rahner, in: Gotteslob, Verlag Herder, Freiburg, eingeführt 2013/14, unter dem Lied Nr. 380.

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Voltaires Versuch, entzaubernd aufzuklären, ist glaubensunkundig und lebensfremd, ist, bei all seinem brillanten Witz, ein Stück abstrak­ ter Rationalität.

II. Was für den Menschen gut ist, und was an ihm gut ist, entscheidet in gläubiger Sicht das »letzte Gericht«. Zum Geglaubtsein des Urteils, das am »Tag des Herrn« ergeht, das allein die Alternative Himmel oder Hölle kennt, gehört es, nicht vorhersehbar zu sein. Sagt Christus zu den »törichten« Jungfrauen, die nach den »klugen« kommen, »Ich kenne euch nicht« (ouk oida hêmas), dann war diese Verdammnis, die sie auf ewig vom Leben in Liebe und Freude ausschließt, völlig überraschend. Fabula docet: Gott kann hart sein, endgültig hart. Bei seiner Gerechtigkeit ist es klug, auf alles gefaßt zu sein. Die Übel der Welt und Unglück im Leben sind die Impulse für schöpferischen Glauben. Es ist wirklich kurios, ausgerechnet dies gegen christlichen Heilsglauben verwenden zu wollen. Gottes Gerechtigkeit ist mit Gottes Liebe, Gnade und Barm­ herzigkeit der christlich geglaubte Gott, das, womit schöpferischer religiöser Glaube die höchste, ihm absoluten Halt gebende Macht identifiziert.311 Dieser Glaube wird durch keine für das Leben bedeut­ samen Ereignisse und Zustände falsifiziert. Religiöser Glaube ist seiner Natur nach nicht falsifizierbar,312 ist ja der Glaube die einzige Methode der Verifikation Gottes, seines Wesens und seiner Taten. Rechtfertigte der Glaube Gott, dann ist es nicht der gläubige Mensch, der das vollbrächte, sondern der schöpferisch geglaubte Gott. Gott ist durch den Glauben und für den Glauben in all seinem Tun und Lassen die reine Selbstrechtfertigung. Ist denn aber der von Menschen geglaubte Gott wirklich derart fest und unverbrüchlich, verläßlich und 311 Siehe Rainer Marten, Gerechtigkeit?, in: Christof Landmesser / Enno Edzard Pop­ kes (Hrsg.), Gerechtigkeit verstehen. Theologische, philosophische, hermeneutische Per­ spektiven, Leipzig 2017, S. 89 – 102; ders., Die Deutung gelingenden Lebens als des maßgeblichen Humanum, in: Klaus Baumann (Hg.), Theologie der Caritas. Grundlagen und Perspektiven für eine Theologie, die dem Menschen dient, Würzburg 2017, S. 29–42. 312 Rainer Marten, Wahre Hoffnungen? Eine Frage an Hermeneutik und Religion, Vor­ trag Evang.-Theol. Fakultät der Universität Zürich 2010, in: R.M., Nachdenken über uns, Freiburg/München 2018, S. 219–238.

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2. Anthropodizee

treu? Zeigt er nicht etwa Gefühle, bereut er nicht sogar Dinge, die er getan hat?313 Der gläubige Psalmist beantwortet das für den Glauben: Herr, deine Gerechtigkeit ist gleich den Bergen Gottes.314

Luther schreibt daneben: »Das ist fest und unzerstörbar«.

2.2 Die Rechtfertigung des Menschen durch Gott I. Der moderne Homo sapiens, der allzeit staunen mag, daß es ihn gibt, und daß er so ist, wie er ist, wäre höchlich verwundert, ja befremdet, sich dafür rechtfertigen zu sollen. Als Ergebnis der Evolu­ tion des Lebens könnte er dagegen sehr wohl darüber ins Grübeln kommen, daß diese Evolution ausgerechnet zu ihm als ihrer bislang höchsten Entwicklungsstufe gelangt ist. Das würde in ihm die Neugier wecken, zu welchen anderen Entwicklungen des Lebens es gekom­ men ist, falls solche anderweitig im Weltall stattgefunden haben sollten. Den geschichtlichen Menschen für rechtfertigungsbedürftig und rechtfertigungsfähig anzusehen, bedarf notwendig einer überna­ türlichen Sichtweise. Gilt auch im Metaphysischen Logik, dann muß durch den Men­ schen, der es nötig hat, gerechtfertigt zu werden, Unrecht geschehen sein. Gerechtfertigt werden, hieße dann, sich neu als Gerechter wis­ sen dürfen. Es muß eine Schuld von ihm genommen worden sein: Das Unrecht gilt nicht mehr. Rechtfertigen, das klingt nicht danach, daß er genug gebüßt und das Strafmaß erreicht hat. Nein, einen Ungerechten und Schuldigen zu rechtfertigen, das klingt, recht gehört, ganz ungeheuerlich, nämlich nach höherer Gerechtigkeit, als sie unter Menschen in von ihm gesetzten Rechtsverhältnissen möglich ist. Und in der Tat: Der zu rechtfertigende Mensch ist eine Gestalt schöpfe­ rischer christlicher Poesie. Er gehört nicht »dieser« Welt und ihrer Geschichte an, sondern der Welt der Heilsgeschichte, die aus dem »alten« Menschen, dem Ungerechten, den »neuen« Menschen macht, den Gerechten. Die Rechtfertigung des Menschen hat notwendig die Macht der gestalterischer Verklärung. 313 314

1. Mose 6,6 et al. Psalm 36,7.

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II. Die christliche Heilsgeschichte führt das Drama von Mensch und Gott auf: die Trennung von Mensch und Gott und die neue Vereinigung von Mensch und Gott. Zwei Menschen sind dabei die Akteure: Der erste Mensch, das ist der alte Adam, wie ihn die Genesis erzählt, und der neue Adam, das ist der Mensch gewordene Sohn Gottes, wie ihn vor allem der Apostel Paulus deutet. Im alten Adam ist die Menschheit die von Gott getrennte, weil er ein Gebot Gottes mißachtet hat (Karl Barth: diese »unmögliche« Tat). Im neuen Adam ist die Menschheit wieder mit Gott geeint, weil Christus sein Blut dafür gegeben hat, daß Gnade vor Recht ergeht. Der alte Adam ist der Mensch, der des Todes ist, der neue Adam ist der Mensch, der des – ewigen – Lebens ist. Der erste Mensch hatte durch seine Sünde, von jener Frucht zu kosten, die ihm die Augen für seine Geschlechtlichkeit öffnete, was ihm von Gott verboten war, sein Leben verwirkt. Er hatte kein Recht auf Leben mehr, es versteht sich: auf ewiges Leben. Der zweite Mensch, im Sinne des zweiten Adam als das ihm von Gottvater zugedachte Opfer für die Erlösung des Menschen von seinem Todeslos, gab mit seiner Gerechtigkeit dem Menschen in der Gestalt des neuen Menschen das Recht auf Leben zurück, auf Leben, das strafloses todloses Leben ist, das auch ohne Geschlechtlichkeit ist. Die Rechtfertigung des Menschen durch Gott ist die Rechtferti­ gung seines Lebens (dikaiôsis zôês).315 Für Luther ist der Römerbrief, wie er in seiner »Vorede auff die Epistel S.Paul an die Römer« sagt, das »Hauptstück des neuen Testaments«. Er ist es für ihn wegen der »Rechtfertigungslehre«, die durch ihn zum stärksten Impuls für die Schaffung eines eigenständigen protestantischen Glaubensbewußt­ seins geworden ist, zu einer theologischen Orthologie, die sich klar von der Predigt der »guten Werke« der katholischen Theologie, die sich auf die Evangelien stützt, abhebt. Sola fide, allein durch Glauben, nicht durch Werke. Sünde ist für Paulus, wie Luther erklärt, allein der Unglaube. Die Rechtfertigung des menschlichen Lebens durch Gott, wie sie protestantisches Glaubensgut ist, setzt das gelebte und zu lebende endliche Leben des Menschen in absolutes Unrecht. Abraham und Isaak starben »alt und lebenssatt«, der geprüfte Hiob war auch hoch­ betagt, als er seine Tage vollends gelebt hatte (plêrês hêmerôn). 315

Römerbrief, 5,18.

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2. Anthropodizee

Das gelebte Leben war ihnen des Lebens wert. Schon daran läßt sich ermessen, was für eine dramatische Neuerung die christliche Heilsgeschichte ist, die vom durch Sünde geschlechtlich gewordenen Adam zur neuen Geschlechtslosigkeit führt. Das Fazit der paulinischlutherischen Rechtfertigungslehre: Sie zielt klar auf eine absolute Erschütterung der Menschenwelt. Wir seien zu Unrecht auf der Erde und gehörten nach göttlicher Gerechtigkeit, die sich aus dem heilge­ schichtlichen Zusammenspiel von Gottvater und Gottsohn einstellt und wirksam wird, in den Himmel. Mit dem Menschen, der wir sind, mit dem geschichtlichen Menschen hat diese Lehre nichts zu tun, nichts im Sinn. Es geht allein um die Vollendung der Konstruktion der durch schöpferischen Glauben ins Auge gefaßten Heilsgeschichte. Es geht in nichts um den modernen Homo sapiens, sondern einzig um Göttliches, den durch Gott gerechtfertigten Menschen eingeschlos­ sen. Die Rechtfertigung des menschlichen Lebens durch göttliche Gerechtigkeit, die das irdische Blut des Gottessohns als Opfergabe des die Heilsgeschichte inszenierenden Vaters einschließt, stellt nicht mehr und nicht weniger als die Selbstbezogenheit göttlichen Handelns dar: die Selbstrechtfertigung Gottes in seinen »Brüdern« (Christus) und »Kindern« (Gottvater). Diese Aufklärung hat Voltaire versäumt, der glaubt, durch den Hinweis darauf, daß die Welt aus den Fugen ist, was sie ja vor aller Augen immer schon war und weiterhin sein wird, den christlichen Glauben um seine Essenz zu bringen. Er hat sich am Schöpferischen des Glaubens versehen, das dem Groß- und Starkgläubigen, der das Gegenteil zum »Kleingläubigen« (oligopistos) darstellt, die Schlechtigkeit der Welt, wie er sie erfährt, zu einem Bild göttlicher Gerechtigkeit werden läßt, die ihm das Recht auf ein ewiges Leben im Himmel verleiht. Ein Realist wie Voltaire kann einen gläubigen Christen unmöglich aufklären, weil er keinen Sinn für Verklärung hat. Den Groß- und Starkgläubigen verderben die unsäglichen Übel der Welt nicht seinen Glauben, sondern stärken ihn nur. Bei der Heilsgeschichte kommt es auf die Güte ihres Finales an, aber auf keine Güte des Unterwegs. Das ist ja der Unterschied des Neuen zum Alten Testament: Die Orthodoxie eines Paulus und Luthers repetiert nicht den Schöpfer, der am Ende jedes Schöpfungstages sagt »Und er sah, daß es gut (kalôn) war«, sondern läßt Christus sich des menschlichen Elends annehmen, dies freilich mit der »Frohen Botschaft«, daß alle, die an ihn glauben, von der unheilen Erde in den heilen Himmel umgesiedelt werden.

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2.3 Die Rechtfertigung des Menschen durch den Menschen I. Der Mensch bedarf keiner Rechtfertigung. Von der Evolution des Lebens zu fordern, sie solle doch bitte rechtfertigen, was sie da mit dem modernen Homo sapiens zustande gebracht hat, wäre ein absurdes Unterfangen. Der Mensch bedarf ebenso wenig einer Rechtfertigung, daß es ihn gibt, wie eine Supernova und ein schwarzes Loch. Hinter all dem steckt eine komplexe causa efficiens, aber es ist keine Spur einer causa finalis in Sicht, es sei denn der Künstler Mensch erdichte und erdenke eine solche. Der schöpferische Gedanke, einer Rechtfer­ tigung zu bedürfen, und der der Mächte, die ihm zu einer solchen verhelfen, existiert allein durch die Freiheit des Menschen, sich seiner geistigen Kräfte entsprechend zu bedienen. Von der Evolution her gesehen und das heißt in der Perspektive des Realgeschehens ist der Mensch ein Zufall. Es mußte ihn nicht geben. Der Mensch ist kein ens necessarium, kein – absolut – notwendiges Wesen. Die erste Voraussetzung dafür, die Rechtfertigung seiner Existenz und seines zu lebenden Lebens zu erfahren, besteht darin, daß er aus freien Stücken sich selbst notwendig wird. Nehmen Gott und reine Vernunft Interesse an der Rechtfertigung des Menschen, dann ist es ihr je eigenes Interesse. Sofern hinter Gott und Vernunft als am Menschen Interesse Nehmenden der dichtende und denkende Mensch steht, zeigt dieser bereits selbst Wunsch und Interesse, nicht der Zufall zu bleiben, der er ist. Für erhellende Aufklä­ rung ist klar zu sehen, daß der Mensch es ist, der die Rechtfertigung seiner selbst und seines Lebens braucht. Wird er entsprechend sich selbst notwendig, dann ist es der je Einzelne: Er wird sich selbst notwendig, sein Leben wird ihm notwendig – für sich und für Andere. Dadurch werden ihm auch Andere notwendig wie er ihnen. Hatte er zuvor sich in das Eigeninteresse Gottes hineingedichtet und in das Eigeninteresse der reinen Vernunft hineingedacht, dann ist er es nunmehr er selbst, allein er selbst, der Interesse an sich nimmt.

II. Wer sich selbst und wem sein Leben notwendig wird, ist je ein Einzelner, dies aber nicht so, daß ihm das rein für sich gelingt. Wie er das allein schöpferisch vermag, antizipiert er für seinen das Leben

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verändernden Schritt auch schon Öffentlichkeit – gemeinschaftliche und gesellschaftliche. Pflegebedürftige Menschen, ob ganz jung oder alt und krank, sind zu keinem schöpferischen Tun fähig – noch nicht, nicht mehr. Sie werden jedoch von Lebenskünstlern in die Selbstrechtfertigung des Menschen und seines Lebens mitgenommen und dadurch in allgemein Menschliches einbezogen. Das schöpferisch hervorgebrachte Recht auf das eigene Leben, und der damit gewon­ nene Geschmack an ihm, wirkt sich schöpferisch auf Gemeinschaft und Gesellschaft aus. Es geht ja um das hier und jetzt zu lebende Leben, nicht aber um messianisch oder vernunftutopisch vertagtes. Es geht nicht um ein ganz anderes Leben, das allein als geglaubtes in absoluter Zeitlosigkeit und damit Unerreichbarkeit existiert, auch nicht um ein rein geistiges Leben, das dem zu lebenden Leben keinen Geschmack mehr abgewinnen kann. Der Lebenskünstler, der für gemeinschaftliches Gelingen tätig wird, übergibt sich keinem Willen Gottes und handelt um keines Gesetzes willen. Er ist frei und bleibt frei. Allein er kann die Frage beantworten, was er eigentlich damit vorhat und was er eigentlich dazu vorbringt, wenn er sich und sein Leben vor sich selbst rechtfertigt. Der Mensch hat sich seit fünftausend Jahren biologisch so gut wie nicht mehr verändert. Die biologische Evolution kann für abgeschlos­ sen gelten. Seiner selbst und seiner physiologischen Natur bewußt geworden, hat er unmöglich vor, diese Natur zu rechtfertigen, wenn das die Form hätte: Dann wollen wir doch aus diesem Zufall und dieser Sinnlosigkeit das Beste machen. Von Religion und Metaphysik als usurpatorischen Rechtfertigungsmächten zurückzugehen zur Natur, als neben Gott und Vernunft dritter Rechtfertigungsmacht, die durch ihren archaischen Charakter herausragte, hieße, die Frage, die der Mensch sich selbst ist, nicht zu stellen. Das Leben so weit und so gut wie möglich »auszuleben«, taugt nicht als Antwort auf die Men­ schenfrage, schon gar nicht zur Gestaltung ihrer Unbeantwortbarkeit. Das fragliche Ausleben wäre ja kein hedonistisches Prinzip, das das Lusthaben am Leben zu seinem ersten Rechtfertigungsgrund machte, sondern weit eher ein vitalistisches Prinzip. Der Vitalere bekäme Recht, der Stärkere. Das »Recht« des Stärkeren, das als Erster Platon expressis verbis am Anfang seiner Politeia als ein alles Recht bedro­ hendes Unrecht herausgestellt hat, ist die nachhaltigste Wirkkraft der physiologischen Natur des Menschen, angereichert mit den Fähig­ keiten, gerissen und rücksichtslos zu sein. Noch im 21. Jahrhundert findet sich überall unter Menschen der Stärkere, der bereit ist, seine

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herausragende Vitalität zum eigenen Vorteil, und sei es ein vermein­ ter, zu nutzen. Die kulturelle Evolution, die mit dem Seßhaftwerden des Menschen den entscheidenden Anstoß genommen hat, den Men­ schen zu verändern, ihm nämlich Lebenschancen zu geben, die über die Reproduktion des Lebens und seine Faktizität hinausreichen und eine höhere Wirklichkeit bilden, hat so die Frage nach dem Humanum gestellt. Die Rechtfertigung des Menschen und seines Lebens konnte überhaupt erst durch eine entwickelte Glaubens- und eine entwickelte Denkkunst für den Menschen Thema werden. Schöpferische Kräfte des Gemüts und des Geistes sind es, die den Menschen herausfordern, sich vor sich selbst zu verantworten. Erhellende Aufklärung sieht in der Frage einer Anthropodizee ihre Aufgabe darin, die Auslagerung der Rechtfertigungsmächte ins Übernatürliche zurückzunehmen und sie dem schöpferischen Menschen zu überstellen, der es versteht, aus sich selbst und für sich selbst aus dem Leben ein Kunstwerk zu machen. Er geht dann nicht länger mit seinem Kunstschaffen fremd, was aus dem Humanum ein Divinum oder ein Noumenon werden läßt. Die einzigartige Kunst aber, die den Menschen sich ganz auf sich selbst richten läßt, um aus dem Gelingen des Humanum mit allem Recht anthropozentrisch den Blick ins All zu richten, ist die Kunst, das Leben gelingend zu teilen. Sie steht allen Menschen offen. Das meint jedoch nicht, daß sie zur Wahl stünde. Das ist die Vorstellung von Vernunftoptionisten in der Nachfolge Kants, die der Überzeugung sind, daß es erster Akt der Autonomie der Vernünftigen ist, sich als Mitglied einer universellen Moralgemeinschaft zu erklären, die auf ein durch reine Vernunft bestimmtes Handlungsdiktat eingeschworen ist. Lebenskunst ist die initiale Begabung eines jeden, weil in der wechselseitigen Zugewandtheit, mit dem Saugen an der Mutterbrust angefangen, die wechselseitige Zugeneigtheit von Natur aus angelegt ist: Der Mensch ist von Natur gesellig und gemeinsam genießend (»genossenschaftlich«). Das Teilen der Lebenslust beginnt, im Bilde, mit dem ersten Schrei des Neugeborenen. Menschliches Gelingen, wie es zu allen Zeiten und an allen Orten durch das Bejahen und Feiern des Lebens bezeugt ist, dieses immer schon Gelingen des Humanum ist die einzig mögliche und einzig wirkliche Rechtfertigung des Men­ schen und seines Lebens – vor sich selbst und seinem Gewissen, das sich der Mitwisserschaft der großen und kleinen Momente lebens­ künstlerischer Praxis verdankt.

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III. Geschieht die Selbstrechtfertigung des Menschen einzig durch prak­ tische Humanität, dann sind Inhumanität, aber auch Ahumanität von jeder möglichen menschlichen Selbstrechtfertigung ausgeschlos­ sen. Die Anthropodizee hat nichts zu schaffen mit den Untaten des Menschen, die gelingende Lebensteilung hintertreiben und zerstören. Mögen Morde noch so »gut« motiviert, ja selbst legitimiert sein, so sind sie unmöglich menschlich zu rechtfertigen. Dasselbe gilt für vom Menschen gewollte und praktizierte Ahumanität, wie sie in der Auslagerung des menschlichen Selbst an von ihm gefertigte Maschi­ nen vorgesehen, wenn nicht bereits in Gang gesetzt ist. Ergreift der technologische Fortschritt vom Menschen selbst Besitz, dann erlischt jedes Bedürfnis nach Verklärung, nach Überhöhung der Wirklichkeit. Der Lebenstechniker als Antipode des Lebenskünstlers überspringt die kulturelle Evolution und erklärt die »technische Evolution« zur Fortsetzung der biologischen.316 Der Mensch lagert sein Selbst an den Computer aus, genauer an den Quantencomputer und seine als exponentiell zu erwartenden Verbesserungen, um jede Form seines menschlichen Unvermögens, insbesondere betreff Datenverar­ beitung, in ein maschinelles Hochleistungsvermögen umzuwandeln. Mit einer Selbstübereignung an die Maschine wie dieser hat der Mensch die Möglichkeit einer Rechtfertigung seiner selbst und seines Lebens vergeben. Die Maschine ist es ja, die ihn und sein Leben bestimmt, nicht eine dem Eigenen zugehörige lebenskünstlerische Spontaneität. Das Ereignis der »Singularität«, das den Menschen, wie es sein Prophet weiß und will, für immer verändert, werde durch die Installation der ultraintelligenten Maschine bewirkt. Er sieht und sagt es für das Jahr 2045 voraus.317 Der heutige Chor der einmal mehr den »neuen Menschen« Propagierenden, bereits vom Apostel Paulus bis zu den Ideologen des Bauhauses war oft von ihm zu hören, weiß ihn auf eigene Art zu benedizieren, gilt er für ihn doch auch als der letzte Mensch, für den das »immer besser« des Lebens endgültig auf plus ultra geschaltet ist. Für das neue Zeitalter auf eine Formel gebracht heißt das: »Seine Technologien werden uns in die 316 Ray Kurzweil, Menschheit 2.0. Die Singularität naht, 2. Aufl., Berlin 2014, S. 8. Orig.: The Singularity is near: when humans transcend biology, Copyright Ray Kurzweil, 2005. 317 Klappentext von Ray Kurzweils Menschheit 2.0.

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E. Aufklärung durch das Leben

Lage versetzen, ein längeres Leben und mehr Lebensqualität zu genie­ ßen«.318 Ahumanität als Transhumanität. Der Prophet der nahen Singularität klagt, daß die Menschen nicht wahrhaben wollen, nicht länger an den »normalen« Lebenszyklus gehalten zu sein, was heißt, »dass sie nicht mehr leiden und sterben müssen«.319 Projektierte Ahumanität dieser Art ist nicht weniger von einer Rechtfertigung durch den Menschen, der am Humanum orientiert ist, ausgeschlossen als demonstrierte Inhumanität. Menschliches Gelingen, das sich in der Feier des Lebens als der Feier des Miteinander bezeugt, ist ältestes Menschengut, wie wir es von den Jägern und Sammlern wissen.320 Die durch ein Selbstmißverständnis wissenschaftlichen Wissens gegründeten transhumanen Phantasien führender Geister im Silicon Valley falsifizieren sich mit dem Gang der Zeit von selbst.

318 Bernd Vowinkel, Wissen statt Glauben! Das Weltbild des neuen Humanismus, Berlin 2018, S. 341. 319 Ray Kurzweil, a.a.O., S. 328. 320 Siehe Thomas Widloks Publikationen zum Thema »Sharing«.

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F. Aufklärende Verklärung

Philosophische Aufklärung fügt sich nicht den geheimen und offen­ kundigen Wünschen des Menschen, ein ganz anderer zu sein in einer ganz anderen Welt und in einem ganz anderen Leben. Sie fällt unmöglich zurück in das Selbstverständnis von monotheistischer Religion und Metaphysik. Klärt sie jedoch diese Verklärungsmächte erhellend darüber auf, daß sie Zeugnisse des schöpferischen Men­ schen sind, dann bekundet philosophische Aufklärung nicht nur ein Verständnis für Religion und Metaphysik, sondern erkennt in ihnen Hochleistungen geistiger und spiritueller Kräfte, die den Menschen auszeichnen. So gesehen, gilt ihr Wirken keiner Flucht aus der Wirk­ lichkeit, sondern ihrer Überhöhung. Keine zweite Welt wird erdichtet und erdacht, sondern die eine ergänzt. Sie erhält ein zweites Gesicht: das durch die geistig-geistlichen Kräfte und für sie verklärte. Erhellende Aufklärung, die das Wirken verklärender Mächte bewußt nicht entzaubert, hat jedoch für sich entschieden anderes im Sinn: eine Verklärung, die die Wirklichkeit nicht überhöht, sondern in ihr selbst die wahre Verklärung entdeckt. Dazu ist freilich ein ganz eigener Realismus vonnöten. Anstatt gleich Religion und Metaphysik in eine Existenzfalle zu geraten, klärt sie den Menschen dadurch über sich selbst auf, daß sie die Sprache des Verklärens gebraucht, um ihn im Spiegel ihres Urteils sich selbst sehen zu lassen. Der durch Verklärung über sich selbst aufzuklärende Mensch ist unbeschadet der zeit- und lebensgeschichtlichen je besonderen Lebensumstände und Bedingungen, wie gut und übel sie auch sind, der Mensch, der geboren wird, aufwächst, Leben gestaltet, Leben weitergibt, altert und stirbt. Anstatt ihn aus übernatürlicher und utopischer Perspektive schuldig zu sprechen und für seine Unvollkommenheit verantwortlich zu machen, ja ihm mit Besserungsvorschlägen zu kommen, die, mit reichlich Könnte, Müßte, Sollte geschmückt, sein eigentliches Leben in ganz andere Zeiten und Welten verlegen, wird er über das Wunder seiner Existenz aufgeklärt, mit einem Wort: über sein Glück.

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F. Aufklärende Verklärung

1. Glück 1.1 Glück im Unglück – Glück im Glück I. Glück im Unglück ist echtes Glück. Hätte das Unglück alles wahrge­ macht, was in ihm an mit Einhergehendem und aus ihm Folgendem angelegt war, wäre es ein merklich größeres Unglück gewesen. Ein Glück war es, daß Zufall oder Vorsorge es kleiner gehalten haben, als zu befürchten war. Das Glück im Glück ist nicht das Andere zum Glück im Unglück. Als das vom Menschen wahrgemachte Glück ist es unvergleichlich. Glück will erkannt und daraufhin ergriffen werden – als ein währendes immer aufs Neue. Der Meister seines Glücks ist der Beglückte selbst. Glück ist eine Kunst. Ihr schwerstes Stück ist das Erkennen, die Conditio sine qua non, aber auch das Ergreifen kann höchste Anforderungen stellen. Glück, gegenwärtiges Glück – das verlangt Wachheit, Bereitschaft des Selbst, Hingebung. Mit Glück erkanntes und ergriffenes Glück ist ein rares Glück, so reich und so lang auch ein Leben gelebt werden mag. Das Glück im Glück, das zeitlich Gestalt gewinnt, ist und bleibt für das Leben das reine Wunder, das seine Kraft des Überraschens und Befeuerns dank Lebenskunst nicht verliert.

II. Der Chor der Geister, der den Menschen besingt, ist, aufs Ganze gesehen, ein Trauerchor. Liest man bei Platon vom Leib als Kerker der Seele, dann stellt er das Glück unserer Geistigkeit in Frage, liest man bei Johann Gottfried Herder vom Menschen als einem Mängel­ wesen, dann das unserer Leiblichkeit. Noch im 20. Jahrhundert hat es deutsche Philosophie für Aufklärung gehalten, dem Menschen die allgemeine Uneigentlichkeit seiner Existenz und ein Leben im Falschen vorzuhalten. Entgegen diesem ideologischen Feuerwerk der Entzauberung, jeweils mit Ausblick auf einen ganz anderen Men­ schen, der noch nie dagewesen ist und auch niemals da sein wird, öffnet aufklärende Verklärung dem Menschen, der wir sind, die Augen für das Wunder, das er ist: für das reiche Glück seiner Existenz.

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1. Glück

1.2 Das Glück, Mensch zu sein I. Das Glück des Menschen ist das Schwerste, was es überhaupt für ihn zu erkennen gibt: die eigene Unerkennbarkeit. Das nämlich ist genau das Glück, das den Menschen auszeichnet: daß seiner Selbst­ erkenntnis eine Grenze gesetzt ist, die – zum Glück – unaufhebbar ist. Zwei Barrieren sind es, die dem Menschen diese Erkenntnis zum Schwersten machen: an erster Stelle ist es die Erkenntnis, daß er sein Woher und Wohin, Warum und Wozu unmöglich erkennen kann, an zweiter Stelle die, daß dieses Unvermögen sein erkanntes Glück ist. Über das Glück, Mensch zu sein, ist damit im Prinzip alles gesagt, wenn nun noch der Hinweis folgt, es als Glück zu ergreifen und wahrzumachen.

II. Der geistige, auf Selbsterkenntnis bedachte Mensch hat von Anfang an alles getan, Barrieren vor der Erkenntnis seines Glücks zu errich­ ten, indem er an Fiktionen von Selbsterkenntnis arbeitete. Philoso­ phie und Religion haben sich mit Erfolg der Erkenntnis in den Weg gestellt, als Mensch sich selbst ein Rätsel zu sein und unabänderlich zu bleiben. Das waren aber gerade bereits Formen, das ganz eigene Glück wahrzunehmen, wenn die Unmöglichkeit einer letzten Selbst­ aufklärung zum Impuls wurde, sich selbst zu verklären. Gottesge­ danke und Gottesglaube sind höchste Zeugen dafür, wie der Mensch mit gleichsam verbundenen Augen die Gestaltung seines Glücks in Angriff nimmt und damit auf verklärende, ja eben selbstverklärende Weise wahrmacht. Der Mensch, der sich geistig um sich selbst sorgt, zeigt die Eigenart, den Zufall nicht aushalten zu können, den ihm die Versuche der Selbsterkenntnis als das eröffnen, was bei ihm der Fall ist. Kausa­ lität verhindert den Zufall nicht. Der von Physikern angenommene Urknall, der die Entstehung des Kosmos einleitet, dem der Planet Erde zugehört, wird als Folge von Ursachen angenommen, ohne jedoch damit eine höhere, nach eigenen Plänen vorgehende Macht vorauszusetzen. Die Entstehung des Kosmos, dem derzeit der Mensch zugehört, ist, soweit erkennbar und damit wissenschaftlich vertretbar, ein Zufall. Dasselbe gilt für die Evolution des Lebens auf dem Planeten

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F. Aufklärende Verklärung

Erde, die bis zur Entwicklung des modernen Homo sapiens geführt hat, der sich nun schon seit gut l00.000 Jahren auf der Erde am Leben hält. Die Zufälle Kosmos und Mensch – das will der geistige Mensch, wie er geschichtlich auftritt, partout nicht wahrhaben. Er ergreift zwar sein Glück, indem er es aber sogleich von Grund auf verändert: Aus Unerkennbarem wird fiktiv Erkanntes. Mit dieser schöpferischen Verklärung verklärt er sich selbst. Die frühen Selbst­ auslegungen des Menschen, die seinem Glück eine fiktive und dabei unglückliche Gestalt geben, wie es die Fragmente des Xenophanes und die Genesis tun, machen Zufälligkeit und Unerkennbarkeit zu einer hierarchisch geordneten geistigen Welt, in der Wesen philosophischer und religiöser Mythologie ihren Auftritt haben.

III. Aufklärende Verklärung dagegen hält sich an den Zufall, der der Mensch ist, nicht um ihn schöpferisch zu verneinen, wie es leitende Absicht von Metaphysik und Religion ist, sondern um ihn schöp­ ferisch zu bejahen. Zufälligkeit und absolute Grenze der Selbster­ kenntnis entdeckt sie als den Ursprung der Freiheit, sich selbst eine verbindliche Gestalt zu geben. Leitender Gedanke ist dabei der der freien Notwendigkeit: Der Mensch wird sich notwendig – für sich selbst und für Andere. Das Glück, Mensch zu sein, ist kein Glücksgefühl, sondern Glücksgewißheit: als Lebenskünstler frei zu sein, seine Notwendig­ keit wahrzumachen, und dies als Königsweg gelingender Lebenstei­ lung.

1.3 Das Glück, geboren zu sein I. Zum Leben gekommen zu sein, ist das spät, wenn überhaupt je erkannte Glück der Einmaligkeit. Vom Moment der Geburt an regiert das »Einmal und nicht wieder«. Jeder Augenblick zählt, jeder ist unwiederholbar. Es ist das Glück der Einmaligkeit des Individuums im Verbund mit der Einmaligkeit seines Lebens. Gelangt das Neuge­ borene dank um sein Glück besorgter, in Liebe ihm zugewandter Nächster zur eigenen Reife, dann ist das für den zum Menschen

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1. Glück

gereiften Menschen der Kairos, sich voll und ganz auf das Glück seiner Einmaligkeit zu entwerfen, um es wahrzumachen. Wieder steht kein Glücksgefühl auf dem Spiel, sondern Glücksgewißheit.

II. Die Welt, auf die ein Neugeborenes kommt, gerät nicht jedem Men­ schen zur Bühne, auf der er sein Glück, einmalig zu sein und einmalig zu leben, im Verein mit anderen Glücklichen aufführt. Dichter, die dem Drama Mensch auf der Spur sind, haben nicht nur tragisches Leben zur Darstellung gebracht und damit exemplarisch vorgeführt, wie Menschen mit einem schweren Schicksal umgehen, sondern das Auf-der-Welt-sein auch prinzipiell in Frage gestellt. Theognis (6. Jh. v. Chr.), ein Elegiendichter aus dem attischen Megara, der als Adliger politischen Einfluß und Vermögen bei einer demokratischen Revolution verlor, werden die beiden Distichen zugeschrieben: Von allem das Beste für Erdenbewohner ist es, nicht geboren zu sein, ja nicht die scharfen Strahlen der Sonne zu sehen, wenn aber geboren, so schnell wie möglich die Tore des Hades passie­ ren und unter viel aufgeschütteter Erde zu liegen.321

Diesem Dichter, der auch als Ratgeber für zu lebendes Leben auftritt, genügt die Verbindung des Lebens mit dem Licht des strahlenden Tagesgestirns, um sich in das bergende Dunkel und unter die Last der Erde hinwegzuwünschen. Der Tragödiendichter Sophokles (um 496–406) läßt den Chor im Ödipus auf Kolonos diese Verwünschung der Geburt aufgreifen: Nicht geboren zu sein, das ist der Gedanke (logos), der über alles siegt. Da du aber ans Licht getreten bist, ist der bei weitem zweitbeste Gedanke, schnellstmöglich dorthin zu gehen, woher du kamst.322

Es ist irritierend, bei Dichtern zu lesen, ein Mensch solle besser auf die schöpferische Gestaltung der Einmaligkeit seiner Individualität und seines Lebens verzichten, als sich den Fährnissen des Lebens auszusetzen. Nun zeichnet freilich Sophokles mit dem König Ödipus ein Leben von exemplarischer Tragik: Er wird, im Urteil seiner Zeit, Theognis, Elegien, gr., in: Anthologia lyrica graeca (ed. Ernestus Diehl), Fasc. II, Leipzig 1950, S. 28, vv. 425–428. 322 Sophokles, Ödipus auf Kolonos, gr., (ed. A.C. Pearson), Oxford 1950, vv. 1224–1227. 321

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F. Aufklärende Verklärung

auf höchste Weise schuldig, dies aber ungewußt und ungewollt. Doch der Appell des »Gedankens des Besten« richtet sich ohne Unterschied an alle. Neid und Aufruhr, Streit, Kämpfe und Mord, am Ende fehlen auch Alter und Tod nicht – das genügt, um allen klar zu machen, daß geboren zu werden nicht nur nicht lohnt, sondern den wahren Schrecken mit sich bringt. Im frühen 19. Jahrhundert bestätigt der italienische Dichter Giacomo Leopardi (1798–1837), daß, dieser Gedanke des für den Menschen Besten für alle gedacht ist: Niemals das Licht zu sehen dünkt mich das Beste. … sich aufzulösen, wie um nie gewesen zu sein, und künft’ge Tage für dunkle Grabesruhe einzutauschen, das scheint dem Geist ein Glück

Ganz klar: den einzigen Schutz (unico schermo) vor allem Übel bietet der Tod.323

III. Das Glück, geboren zu sein, kann nur das Glück menschlicher Einma­ ligkeit sein, das es ist, im Verein mit dem Glück, zu sterben. Ohne Tod gäbe es keine Individualität und Einmaligkeit des Lebens. Das Glück, zeitlich-endlich zu leben, existiert ebenfalls nicht als Gefühl, sondern als Gewißheit. Der eigene Tod ist konstitutiver Teil des eigenen Lebens. Noch über jeden lebensteiligen Anderen hinaus gibt er durch seine Gewißheit dem Leben seinen sichersten Halt. Das Lebensver­ trauen des Lebens ist, wie bewußt und unbewußt auch immer, liiert mit dem Todesvertrauen. Der Mensch, der weiß, daß er sein Leben nicht überlebt, und der von keiner Ideologie infiltriert ist, die bei ihm künstlich Todesfurcht und Todesangst erzeugt, nutzt nicht selten die Chance, sein Todesverhältnis auch dadurch als unverwechselbar zu gestalten, daß er sich mit schöpferischen Kräften darum bemüht, Zeugnisse seines einmaligen Lebens zu hinterlassen. Diese Mühe widerspricht nicht dem Glück, zu sterben, sondern entspricht dem Gedanken, die eigene Einmaligkeit auch für die Nachwelt fruchtbar zu 323 Giacomo Leopardi, Canti (1831) XXX: vv.27 – 61, in: G.L., Canti e Frammenti. Gesänge und Fragmente, ital./dt., übers./hg. von Helmut Endrulat, Stuttgart 1999.

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machen und so den eigenen Tod für das eigene Leben nicht das letzte Wort haben zu lassen. Das Ende des Lebens jedoch ist und bleibt die Vollendung seiner Einmaligkeit. Das »Fortleben« eines einmaligen Lebenswerkes gehört nicht zum Leben dessen, der es hinterlassen hat.

1.4 Sich auf Tod und Leben verstehen: Nietzsche I. Nietzsches Ja zum Tode enthält das Ja zum Leben. Das Leben läßt er nicht mit der Geburt, sondern mit der Zeugung beginnen. Das größte Glück des Lebens heißt bei ihm Zeugung und Tod. Glück gilt es zu feiern, wie es Hochzeitsfeier und Geburtstagsfeier tun. Ein neues Lebensjahr zu beginnen – was für ein Glück! Das größte Glück sind aber eben Zeugung und Tod. Darum gelten ihnen die »obersten Feste des Menschen«.324 Nietzsche hat philosophisch ein durchgängig entspanntes Verhältnis zu Tod und Leben. Allein wenn er sich mit dem Gott seiner Jugend auseinandersetzt, gerät er immer neu in Wallung. Menschliches Leben ist ihm nicht mehr und nicht weniger als die dem Menschen eröffnete Möglichkeit, schöpferisch das Humanum zu gestalten. Das aber bedeutet erstlich die Schaffung der günstigen Zeit, des Kairos. Dies Schaffen ist reine Menschensache. Nietzsche denkt, zum Glück des Menschen, anthropozentrisch, dies aber zum Glück des zum menschlichen Menschen gereiften Menschen, den er den »vollbringenden« nennt, wenn es um den »vollbringenden Tod« geht.325 Gelingt es dem Menschen, seinen Kairos zu schaffen, dann erreicht er sein Ziel, zur rechten Zeit zu leben, zur rechten Zeit jung und alt zu sein, und zur rechten Zeit zu sterben – nicht zu früh und nicht zu spät. Mit dem Ja zum Tod ist der Mensch »frei zum Tode, frei im Tode«. Er kommt nicht über ihn, sondern er geht auf ihn zu: Es ist sein Tod. Nietzsche hält sich an den jahreszeitlichen Rhythmus der Zeit, an Wachstum, Reife und Ernte: durch Reifen süß werden, nicht aber vor der Reife faul. Den Rhythmus der Lebenszeit dirigiert keine himmlische und keine natürliche Macht, sondern der schöpferische Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Werke Juli 1882-Winter 1883–84, in: F.N., Sämtliche Werke·(hg. von G. Colli u. M. Montinari) Bd. 10, Berlin 1980, S. 202; vgl. S. 136. 325 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: F.N., a.a.O., Bd. 4, S. 93. 324

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F. Aufklärende Verklärung

Mensch. Er macht nicht die Jahreszeiten, nicht die natürlichen Lebens­ zeiten, aber er macht das schöpferische Leben, das Jugend und Alter, Lebensnähe und Todesnähe ins Menschliche verklärt.

II. Das Mysterium des Lebens, an dem jeder Mensch wachen Sinnes und Geistes teilhat, daß individuelles Leben seine Zeit hat, das gleiche, wenn eben auch nicht dasselbe Leben jedoch »ewig« wiederkehrt, dieses Kreisen des Lebens, daß auf Zeugen, Gebären, Sterben neues Leben folgen läßt, dieses Mysterium mit seiner den Menschen über­ wältigenden Offenkundigkeit, hat Nietzsche in den Bann gezogen. Hat ihn dabei das Glück, gezeugt und geboren zu sein, auf die Spur der unauflösbaren Verknüpfung dieses Glücks mit dem Glück zu sterben geführt, dann hat er nicht entzaubernd aufgeklärt, sondern verklä­ rend-erhellend. Er hat das Geheimnis des Lebens nicht verraten, das Rätsel des Menschen, das er sich selbst ist, nicht gelöst. Im Gegenteil. Mit Zeugung und Tod als den obersten zu feiernden Festen hat er dem Geheimnis des Lebens die ihm gebührende Gestalt gegeben. Sein »Schaffender« weiß um das Mysterium vitae, wie es ihn selbst betrifft: Es ist der Gang der Natur: »Ja, Erde bist du, und zur Erde kehrst du zurück«.326 Der schöpferische Gestalter der eigenen Einmaligkeit hält sich an dies Wort der Genesis, ohne jedoch es als die Erniedrigung zu verstehen, die da gesagt ist, sondern um es verklärend zu überhöhen und in seiner unumstößlichen Wahrheit frei zu bejahen: Also will ich selber sterben, dass ihr Freunde um meinetwillen die Erde mehr liebt; und zur Erde will ich wieder werden, dass ich in Der Ruhe habe, die mich gebar.327

1.5 Das Glück, örtlich zu leben I. Ein Mensch nimmt mit seiner Gestalt einen Raum ein, den im selben Moment nichts Zweites einzunehmen vermag. Ob er am Ort bleibt 326 327

1. Mose 3,19. Übers. Bibel in gerechter Sprache, 3. Aufl., Gütersloh 2007. Friedrich Nietzsche, Zarathustra, a.a.O., S. 95.

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1. Glück

oder sich fortbewegt, ob er steht, sitzt oder liegt, stets ist er, und sei es noch so übergänglich, an einem bestimmten Ort. Nirgendwo zu sein, bedeutete eine Verneinung seiner Existenz, überall zu sein, eine Übersteigerung seiner Seinsmöglichkeit. Ubiquität ist einzig die örtliche Seinsweise des metaphysisch gedachten und religiös geglaubten Gottes. Die Bestimmtheit und Unverwechselbarkeit eines Ortes, an dem sich ein Mensch aufhält, verdankt sich jeweils zwei ineinandergreifenden Tatsachen: daß das Individuum hier ist, und daß das Hier diese Stelle in dem von Menschen lebenspraktisch genutzten Raum ist. Damit ist grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, daß der Ort den Menschen prägt und der Mensch den Ort. Die unaufhebbare Örtlichkeit der Existenz manifestiert das Glück der Distanz: Der Einzelne ist nicht – unmittelbar – Jeder, nicht Alles, sondern etwas Eigenes in je eigener praktischer Position. Ohne das durch die Örtlichkeit des Lebens gegebene Glück der Distanz gäbe es kein Ich und Du, Mein und Dein, Heimisch und Fremd, keine Nähe zu Anderen und Intimität mit Anderen. Die großen Drei der menschlichen Beziehungen, Philia, Agape und Eros, Freundschaft, Fürsorge und Liebe, hätten keine Chance. Im Glück, örtlich zu leben, erfährt ein Mensch auch das Glück der Realität. Wer für den Moment glaubt, nicht wirklich zu sein, sich dessen zumindest nicht sicher zu sein, der muß sich nur kräftig an etwas stoßen, um überzeugt zu werden, daß ihm jedenfalls die Realität von Anderem die eigene zu vermitteln vermag. Widerständigkeit ist Bezeugung von Realität. Gegenstände sind Widerstände. Ermöglicht das Glück, nicht Jeder zu sein, das Glück der Zuwendung und Zuneigung zueinander, so das Glück, nicht Alles zu sein, das Glück, das für gelingendes Leben unabdingbare Realitätsbewußtsein ausbilden zu können, und im Verein damit das der Ermöglichung von Objektivität, wie sie Sache der Wissenschaften ist. Sein Hier ist einem Menschen ebenso unveräußerlich wie sein Ich. Wo immer er sich befindet, ist auch sein Hier, um ihn gegenüber dem Dort zu positionieren. Er kann sein Hier erweitern bis zu dem Land, in dem er sich aufhält, ja bis zu einem »Hier auf der Erde«, um damit das Hier·von undifferenziert Anderen und Anderem in das eigene einzuschließen. Es bleibt das eigene, das sich gegenüber einem bestimmten oder unbestimmten Dort positioniert, auch wenn es für alles spricht, was auf der Erde ist. Das Hier, das nicht vom Ich weicht, ist der Garant dafür, daß Räumlichkeit und Örtlichkeit mit zum Selbstsein eines Menschen gehören.

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F. Aufklärende Verklärung

II. Die Sehnsucht des geistigen Menschen, wie er sich geschichtlich inszeniert hat vor sich und der Welt, läßt ihn sich dorthin versetzen, wo es Räumlichkeit und Örtlichkeit allein im metaphorischen Sinne gibt: an den »überhimmlischen Ort«, wo allein das »farblose« und »gestaltlose« wahrhaft Wirkliche aufzusuchen ist, wenn Rosse eine menschliche Seele mit dem Nous als ihrem Führer dorthin bringen. Das ist Platons Reich der Ideen, wo sich die Seele in der Kreisbahn (»Periode«) von einem rein Selbsthaften zum anderen »tragen« läßt: von der »Gerechtigkeit selbst« zur »Besonnenheit selbst« und »Wis­ senschaft selbst«, der Wissenschaft von dem farb- und gestaltlosen einzig wahrhaft Wirklichen.328 Dem philosophischen Gehalt nach ist damit gesagt, daß es in diesem Reich keine individuellen Sichten gibt. Die Gerechtigkeit selbst ist keiner Geschichte ausgesetzt, keinem Bedürfnis, sondern ist ewig ein und dieselbe, identisch mit sich selbst und dieselbe für alle, die geistig nach Gerechtigkeit fragen. Die Ideen im Plural unterscheiden sich dem Begriff nach, sind aber jenseits aller erfaßbaren Realität auf utopische Weise alle Eins. In diesem Reich gibt es weder Nähe noch Ferne. Die reine Unmittelbarkeit herrscht: das rein geistige »Berühren« und »Umfassen«, und dies auf zeitlose Weise im jähen Augenblick.329 Im reinen Geist gibt es kein Ich und Du, kein individuelles Hier. Alles ist, für Utopien alternativlos, Eins geworden. Der – gedachte – rein geistige Mensch hat seinen ortlosen Ort im All-Einen. Das ist das vermeinte Glück, im Augenblick reiner Geistigkeit vollständig enteignet und dabei allem zuvor vom eigenen Tod und eigenem Leben befreit zu sein.

III. Utopische Entwürfe reiner Geistigkeit sind von extrem solipsistischer Natur. Das entindividualisierte Aufgehen im All-Einen setzt die reinste Selbstbezogenheit voraus: sich ganz sich selbst zuzuwenden, ganz mit sich Eins werden. Dann ist kein Anderer mehr abzuweisen. Es gibt keinen mehr, insbesondere keinen Freund, der dem eigenen Selbst nahekäme. Er wäre, wie es Zhuang Zi sagt, »Gift« für die abso­ lute Selbstwerdung. Das ist der unheimlichste, den Menschen, der wir 328 329

Platon, Phaidros 247c-e. Platon, Siebter Brief 341cd.

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sind, vollends entwürdigende Zug von philosophischer Metaphysik und christlicher Religiosität: Die Vollendung des Menschen wird aus dem Humanum heraus ins Divinum versetzt, indem der gedachte und geglaubte Mensch sich das Göttliche, das diese Großmächte des Geistes in ihm als seinen besten Teil erkannt haben, geistig so zu eigen macht, daß er sich damit identifiziert. Der eigentliche Mensch ist seine Göttlichkeit, die bei allen ein und dieselbe ist. Damit ist das Humanum, das sich in gelingender Lebensteilung manifestiert, für tot erklärt. Der eigentliche Mensch, und meine er die göttliche Seele, verbindet sich mit niemandem, »bis daß der Tod sie scheidet«, denkt an keinen endgültigen Abschied voneinander. Er lebt ja ewig, wenn auch als reiner Geist, was dadurch als kompensiert gilt, daß es ein göttlicher ist. Die Möglichkeit des Humanum bedingt den örtlich lebenden Menschen, der auch der zeitlich lebende ist, bedingt das Glück, Mensch zu sein.

1.6 Das Glück, zeitlich zu leben I. Zeit ist Bewegung, Leben ist Bewegung – das haben beide gemein. Aber das Verhältnis ist asymmetrisch. Leben ist aufs Innigste mit Zeit verbunden, Zeit aber nicht mit Leben. Auch Anorganisches ist in Bewegung. Zeit ist älter als Leben. Hat Platon im Spätdialog Timaios Zeit noch als Abbild der Ewigkeit zu erklären versucht, dann gelingt Aristoteles in seiner Physikvorlesung die treffsichere Feststellung, daß Zeit Zahl der Bewegung ist, gezählte Zahl, nicht zählende. Zeit ist so für ihn das, was sich zwischen einem früheren und einem späteren Jetzt zählen läßt. Er sagt damit genau das, was noch heute für uns Zeit ist. Zum Zählen hat die Natur für den Erdbewohner Mensch Tage und Jahre als Maßeinheiten vorgegeben. Beides sind abgeschlossene und sich wiederholende Kreisbewegungen. Der Mensch hat sich an diese Maße gehalten, den Tag aber nach eigenem Gutdünken zur Bildung von weiteren Maßeinheiten geteilt und vervielfacht. Dabei bleibt für die Zeitlichkeit des Lebens maßgeblich, daß die Maße des Äon in der Bedeutung von menschlicher Lebenszeit330 Kreisläufen entnommen sind. Für den Zählenden lassen sich Tage und Jahre 330

Homer, Ilias 16,453.

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F. Aufklärende Verklärung

linear aneinanderreihen, entsprechend Stunden und Wochen. Für das zeitlich gelebte Leben zählt aber die Bewegung in der Form des Kreises.

II. Das Glück, zeitlich zu leben, ist der Rhythmus der Lebenszeit, das Leben in differenzierten, aufeinander folgenden Zeiteinheiten, die sich im jeweiligen Ganzen wiederholen. Die Zeit des Lebens ist eine belebende, nichts aber, was sich auf plane Weise ableben ließe. Doch der Mensch hat den Rhythmus der Lebenszeit nicht der Natur allein überlassen, sondern auch selber sein Leben zeitlich rhythmisiert. Hat die Natur noch die Dreiteilung des Tages vorgegeben: den hellen Teil des Tages für Arbeit und Geschäftigkeit, den ersten Teil der Nacht, den der Mensch mit seinen Lichtern erhellt, für die Geselligkeit, ihren zweiten für den Schlaf, so haben religiöse Kulturen mit festgelegten Feier- und Festtagen ihn aufs Reichste belebt. In Europa hat das christliche Kirchenjahr über Jahrhunderte dem Jahreslauf zusätzlich zur Abfolge der Jahreszeiten eine eigene, Geist und Sinne belebende Gestalt gegeben, eine durch Weihnachten, Karfreitag, Ostern und Pfingsten verklärte. Das Buch Kohelet (Prediger) des Alten Testaments enthält einen Katalog mit vierzehn Positionen, was alles durch den Menschen die Gunst der Stunde und damit auch, weil jedes Men­ schending (pragma) ein endliches Tun und Lassen ist, die Gunst des Endes und Wechsels hat. Der Frieden endet und der Krieg, das Lachen und Weinen, Umarmen und Sichmeiden. Zeit ist einmal die »große Zeit«, wie Sophokles sagt, in der alles geschieht und verläuft (ho chronos), Zeit ist zum andern die Gunst der Stunde und des Augenblicks (ho kairos), die sie für den Lebenden rhythmisch macht.

III. Mit der Einsicht, daß die gezählten Zeiten ihr Ende haben und zu einer anderen Zeit wechseln, daß keine Gunst der Stunde für immer geschaffen und gewährt ist, deutet sich bereits an, daß die Takte und Rhythmen der zu lebenden Zeit sich nicht endlos ablösen und wieder­ holen. Das Buch Kohelet notiert an erster Position: »Zeugen/Gebären (LXX: tekein) hat seine Gunst der Stunde und Sterben hat seine Gunst der Stunde«. Das Leben im Ganzen ist für den Menschen eine

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rhythmische Einheit. Schon während er das Glück des Geborenseins lebt, lebt er auf den rhythmischen Wechsel zu, weiß er um die End­ lichkeit des Lebens als einer Gunst, ja eben als eines Glücks, das im Wechsel zum Tod, die Gunst der Stunde zu sterben wahrnehmend, im Voraus sein Glück bestätigt weiß. Das Glück, zeitlich zu leben, voll­ endet sich als das Glück, endlich zu leben.

1.7 Das Glück, nicht allein zu sein I. Das Glück, nicht allein zu sein, ist das reichste und hat viele Namen. Sein tragender Grund ist, als Mensch keine Einheit zu sein, sondern eine Zweiheit: die Zweiheit von Mann und Frau. Verschiedenge­ schlechtliche Verbindungen sind, wie Aristoteles sagen würde, dem Wesen nach früher. Aus Heterosexualität haben sich Möglichkeiten der Homosexualität entwickelt, nicht umgekehrt. Mann und Frau sind nicht je die Hälfte des Menschen, nicht, wie es ein von Platon über­ lieferter Mythos erzählt, die Hälften eines vormaligen Ganzen. Die geschlechtliche Differenz ist es, worauf es ankommt, die »wesenhafte« Zweiheit, die sich der biologischen Evolution verdankt. Das Glück der Zweiheit ist das einer ganz speziellen Ich-DuBeziehung: Das Ich ist vom Du ungleich stärker affektiv eingenom­ men als das Ich von sich selbst. Das läßt die Selbsthaftigkeit eines Ich mit vollem Bewußtsein und aller Kraft zu einer selbstlosen werden. In der aktiven Zweiheit von Mann und Frau, allgemeiner gesagt, auch homosexuelle Beziehungen einschließend: von geschlechtlich einander Zugeneigten, manifestiert sich, daß die Evolution des Lebens den Menschen nicht als den natürlichen Egoisten hervorgebracht hat. Das »egoistische Gen« ist aufgrund der psychischen Evolution im Rahmen der kulturellen in Frage zu stellen. Der Mensch tut alles für den Menschen – mit Vorblick auf das zu gestaltende Humanum ist das der durch den Lebenskünstler verkörperte fruchtbare Anthropo­ zentrismus, daß der Mensch für den Menschen da ist, dies aber eben nicht für ein rein selbstbezogenes Ego, sondern für das Humanum in der Form gelingender Lebensteilung. Dieses Gelingen erfüllt sich nicht in den jeweiligen einzelnen Beziehungen, sondern ist auch von maßgeblicher Bedeutung für das Menschengeschlecht.

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F. Aufklärende Verklärung

Im Glück der selbsthaften Selbstlosigkeit äußert sich auch das der Dankbarkeit, dem Leben gegenüber dankbar sein zu können. Philia (nicht im Sinne der nützlichen, sondern der Freundschaft um ihrer selbst willen, wie Aristoteles unterscheidet) und Eros sind die höchsten, aber auch unabdingbaren Weisen menschlichen Glücks, das darauf baut, als einzelner Mensch keine Einheit zu sein, die exemplarisch für Menschsein stehen könnte. Feiert der Metaphysiker Heidegger die »wesenhafte Einsamkeit des Denkens«,331 dann bedeu­ tet ihm »einsam«: »gehörig dem Einen«,332 womit er das Sein als das einzig zu Denkende im Blick hat. Der Philosoph ist für ihn ein »Allein­ gänger«,333 »Alleingang« und »Allein-heit« als Zeichen eigentlicher Existenz.334 Der rein vergeistigte Mensch läßt sich einfach nicht anders denken, als daß er, wie im Daoismus vorgezeichnet, keinen zweiten neben sich und mit sich hat. Der denkende Alleingänger findet zu sich im All-Einen, bildhaft vorgestellt: ruht absolut untätig im Dao, auch als »Palast des Nichts« vorgestellt, weil sich in ihm schlechtweg nichts Dingliches und Widerständiges findet. Das ebenso solipsistische wie universalistische Denken der Metaphysik zielt sys­ temisch auf den Ausschluß der das Menschsein gründenden Zweiheit.

II. Das grundlegende Glück des Menschen, nicht autark zu sein, als Einzelner nicht sich selbst genügen zu können, findet seine Erweite­ rung über die geschlechtliche Liebe hinaus in der fürsorglichen Liebe. Menschen helfen einander – das ist konstitutiv für Menschsein. Hätte radikaler Egoismus, wie er sich im Plus ultra der Gewinnmaximierung austobt, gesellschaftlich wirklich die Macht übernommen, dann wäre kein Du einem Ich mehr näher als das Ich sich selbst. Es gäbe kein menschliches Leben mehr. Jeder Mensch erfährt es in seiner Entwick­ lung selber, daß da die Weitergabe von Leben, die das menschliche Geschlecht am Leben hält, ein gänzlich anderes Zeugnis ablegt. Eltern und Kinder sind die andere Zweiheit. Da geben, wie Aristoteles es gedacht hat, die Kinder ihren Dank für das Glück, am Leben zu sein, nicht an die eigenen Eltern zurück, sondern statten ihn dadurch ab, 331 332 333 334

Martin Heidegger, Anmerkungen II, in: HGA Bd. 97, a.a.O., S. 179. Ebd., S. 265. Martin Heidegger, Überlegungen II, in: HGA Bd. 94, a.a.O., S. 56. Ebd., S. 7; 20; 59.

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1. Glück

daß sie sich fürsorglich den eigenen Kindern zuwenden. Kinder zu haben ist eine herausragende Chance, das Glück zu erfahren, nicht allein zu sein.

III. Die Intimität der fürsorgenden Liebe und der erotischen Liebe sind ursprünglich verbunden mit der Intimität des Todes. Er ist ja der einzigartige Intimus, der einem Menschen zeitlebens einwohnt und dadurch seinem Leben Halt gibt, daß er ihm im Letzten Einhalt gebietet. Die Innigkeit des Lebenden mit seinem Tod ist jedoch keine naturgegebene. Sie verlangt den Künstlermensch: den Lebenskünst­ ler. Immer wieder hat es der seines Menschseins bewußte Mensch fertiggebracht, sich durch Nutzung geistiger und geistlicher Kräfte seines unüberbietbaren Intimus zu schämen. Hätte ihn allein schon Gilgamesch eines Besseren belehren können, so hat es der Mensch doch nie aufgegeben, in vollendeter Ineffizienz die Einheit von Leben und Tod aufzukündigen. Die Intimität seines Todes hatte ihn dazu gebracht, sich seines Menschseins zu schämen: ein Mensch zu sein, kein Gott. Für erhellende Aufklärung kann das nur besagen, daß zum Glück, Mensch zu sein, auch das Glück gehört, kein Gott zu sein. Zu den das Menschsein konstituierenden Zweiheiten von Mann und Frau, Eltern und Kind, gehört als dritte, ganz andere, die Zweiheit von Leben und Tod. Die Intimität ist es, die erotische Liebe, fürsorgende Liebe und Tödlichkeit des Lebens miteinander verbinden. Die Erfah­ rung des Humanum in der Tiefe menschlicher Verbundenheit gibt die Intimität des Todes nicht weniger frei als die Intimität der Liebe. Ist nämlich der Tod der Intimus je eines Lebenden, so ergreift Liebe doch unausweichlich die Chance der geteilten Intimität des Todes. Indem Liebende sich einander übereignen, übereignen sie auch je einander ihren Tod. Für den Liebenden hat der eigene Tod nur dadurch eine vergleichbare Bedeutung wie der Tod des Geliebten, daß er sich bewußt ist, welchen Schmerz er ihm mit seinem Tod bereiten kann. Die Liebe wird einzig stark durch die Todesgewißheit der Liebenden, der Tod durch die Liebesgewißheit der miteinander auf die Scheidung durch den Tod hin Lebenden. Zum Tod eines Menschen gehört von Grund auf, jemandem zu sterben, den der Schmerz des endgültigen Abschieds trifft. Menschliches Leben braucht diesen Abschied in seiner schärfsten Form, der den Abschied von sich selbst einschließt. Nur so überzeugt der Gedanke, daß der Tod fundierend zum Glück

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F. Aufklärende Verklärung

gehört, Mensch zu sein. Er allein ist der unstürzbare Garant der Einmaligkeit des Lebens.

IV. Das Glück, Mensch zu sein, findet seinen klarsten Ausdruck in dem Glück, nicht allein zu sein. Diese Verklärung des Menschen ist keine verzaubernde, sondern eine aufklärende. Sie macht ihm klar, was er an sich selbst hat, und verweist ihn so auf das, was er sich selbst schuldig ist: den Auftrag, Mensch zu sein, als einen Auftrag zu nehmen, der an seine Künstlerschaft ergeht. Das Glück, Mensch zu sein, in der Form des Glücks, nicht allein zu sein, ist, so das Glück gelingt, ein Werk der Lebenskunst. Der Mensch ist es, der für sein Leben, Lieben und Sterben schöpferisch einzustehen hat. Wird anderweitig erörtert, was sich wohl alles generell als Glück für den Menschen erklären läßt, dann steht zumeist an erster Stelle ein durch Gesundheit und Reich­ tum fundiertes Wohlbefinden. Damit kommt Glück als Glücksgefühl ins Spiel, überhaupt Zufriedenheit mit dem Leben, gerne verbunden mit geglückter Karriere und gesellschaftlichem Erfolg, Macht- und Ansehensgewinn. Das ist etwas anderes als das geteilte Glück, am Nötigsten und Fruchtbarsten schaffend mitzuwirken, was es für den Lebenskünstler verklärend mitzugestalten gibt: das Humanum, das signifikant kein Divinum ist.

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