Das Geheimnis gesunder Bewegung: Wesen & Wirkung Funktionaler Integration. Die Feldenkrais-Methode verstehen lernen [2nd Edition] 3873871130, 9783873871137

Die meisten erwachsenen Menschen besitzen nur eine sehr geringe Fähigkeit, Bewegungen ihres Körpers sinnlich wahrzunehme

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German Pages 188 [192] Year 1995, 2003

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Das Geheimnis gesunder Bewegung: Wesen & Wirkung Funktionaler Integration. Die Feldenkrais-Methode verstehen lernen [2nd Edition]
 3873871130,  9783873871137

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eheimni gesunder Bewegung

Thomas Hanno DasGeheimnis gesunder Bewegung

Wesen &Wirkung funktionaler Integration DieFeldenkrais-Methode verstehen lernen

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Miteinem Vorwort vonHans-Erich Czetaok

Thomas Honno

DasGeheimnis gesunder Bewegung Wesen & Wirkung Funktionaler Integration DieFeldenkrais-Methode verstehen lernen AusdemAmerikanischen vonUlrike Mühle

Junfermann Verlag• Paderborn 2003

Copyright© der deutschen Ausgabe: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn 1994 2. Auflage 2003 This translation published by arrangement with Alfred A. Knopf, Inc. Copyright © 1979, 1980 by Thomas Hanna Published in the United States by Alfred A. Knopf, Inc., New York Originaltitel: The Body of Life Übersetzung aus dem Amerikanischen: Ulrike Mühle

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: adrupa Paderborn

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http·/ /dnb ddb de abrufbar.

ISBN 3-87387-113-0

Inhalt

Einleitung zur deutschen Ausgabe: Hans-Erich Czetczok . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort ........................

.

9 17

Einführung: Was ist ein Soma? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

I.

Die vier Dimensionen des Somas . . . . . . . . . . . . . .

35

1. Räumliche Verzerrungen des lebenden Körpers . . . . Somatische Retraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37

Anmerkung: Die FunktiondesaufrechtenStehens (Standing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

Somatische Fixierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Anmerkung: Die Funktionder Vorwärts-Orientierung (Facing). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatische Lateralisierung . . . . . . . . . . . . . .

Anmerkung: Die Funktiondes Handhabens (Handling) . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitliche Verzerrung des lebenden Körpers . . . . . . . Somatische Ineffizienz . . . . . . . . . . . . . .

Anmerkung: Die Funktiondesz.eitlichenAbstimmens (Timing) . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Somatische Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Wesen des Lernens.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Somatische Erzieher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die sanften Pioniere . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73 81 92 105 105 121 129 131 147 147

MatthiasAlexanderund EisaGindler Intelligenz, geistige Gesundheit und Bewegung

156

JeanAyres und MarianChace Die Integration neuraler Funktionen . . . . . . .

165

MosheFeldenkrais III. Das Ursoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

Literatur

185

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dieses Buch ist jenen zwei Menschen gewidmet, die mich die Ehrfurcht vor der Erde lehrten:

Albert Camus



MosheFeldenkrais

Einleitung zur deutschen Ausgabe

Die nunmehr, nach einer Anlaufzeit von etwa vierzig Jahren, weltweit anerkannte Bewegungspädagogik des israelischen Kernphysikers Moshe Feldenkrais bildet den Hintergrund dieses Buches: die Feldenkrais-Methode. Es handelt sich hierbei um eine körperund bewegungsorientierte Arbeit, die die Einheit von Körper, Geist und Seele im Menschen konsequent methodisch umsetzt. Nach Feldenkrais ist die Einheit von Geist und Körper eine konkrete Realität. Sie sind keine in irgendeiner Weise verbundenen Dinge, sondern in ihren Funktionen ein untrennbares Ganzes. Mit Hilfe spezifischer Bewegungslektionen wird das, was Feldenkrais „organisches Lernen" nennt, neu angeregt und kann zu einer Verbesserung in allen Lebensbereichen führen. Organisches Lernen ist eine biologische Notwendigkeit, die beim Menschen besonders anschaulich bei Babys und Kleinkindern präsent ist. Diese Form des Lernens und die damit einhergehende Entwicklung geistiger Funktionen beim Kind hat besonders der Kognitionswissenschaftler Jean Piaget detailliert beobachtet und erforscht. Im Verlaufe des Lebens verliert der Mensch der westlichen Kulturen immer mehr die angeborene Fähigkeit dieser spezifischen Art des Lernens, was zu schweren psychophysischen Defiziten und Degeneration führen kann. Feldenkrais verstand seine Methode nicht primär als Therapie, sondern als eine Möglichkeit zur Erhöhung der Bewußtheit (awareness), die der Wiederherstellung beschädigter Menschenwürden und dem Erschließen menschlicher Potentiale behilflich sein soll. In diesen Dienst wollte er sein Werk gestellt sehen. Feldenkrais hatte die Vision des evolutionären Heraufkommens eines Homo humanus, des wahrhaft menschlichen Menschen. Dies sind konzeptionelle Bereiche, die den Rahmen zeitgenössischen therapeutischen Handelns weit überschreiten (vgl. Feldenkrais 1949, 1968, 1977, 1985, 1986;Czetczok 1992). Das vorliegende Buch von Thomas Hanna, einem Schüler von Moshe Feldenkrais, stellt einen grundlegenden Versuch dar, die Metastrukturen der Feldenkrais-Methode sowie weiterer körperund bewegungsorientierter Ansätze zu erhellen und zu ordnen. 9

Herausgekommen ist dabei ein zum eigenen Nachdenken anregendes Buch, das vielleicht in Teilen einmal ein Grundlagenwerk für verschiedene Disziplinen sein könnte. Thomas Hanna wurde 1928in Waco, Texas, geboren und promovierte in Religionsphilosophie an der Universität von Chicago. Seine Lehrtätigkeit begann er am Hollins-College, wo er Dekan der Fakultät für Philosophie wurde. 1965 bis 1973 war er Dekan der Fakultät für Philosophie an der Universität von Florida. Als zweiter Direktor des Instituts für Humanistische Psychologie organisierte er 1975 die erste professionelle Ausbildung mit Moshe Feldenkrais in San Francisco, aus der die ersten Feldenkrais-Lehrer in den USA hervorgingen. Zur gleichen Zeit eröffnete er das „Novato-Institut für somatische Forschung und Lehre'' in Kalifornien und gründete die Zeitschrift Somatics.Journalof the BodilyArts and Sciences.Mitarbeiter dieser Zeitschrift waren neben Moshe Feldenkrais auch Ashley Montagu, Karl H. Pribram, Carl Rogers, Alexander Lowen, von denen zahlreiche Beiträge in dieser Zeitschrift erschienen. Thomas Hanna ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze, von denen die meisten aber nicht ins Deutsche übersetzt sind: The Thoughtand Art of Albert Camus;The LyricalExistentialist;Bodiesin Revolt;Explorersof Humankindsowie Somatics(deutsch: Beweglich sein - ein Lebenlang,München: Kösel 1990) und das vorliegende, in den USA unter dem Titel The Bodyof Lifeerschienene Buch. Sein Werk weist ihn als einen humanistischen Existentialisten aus, nach eigenen Worten als einen Philosophen, der mit den Händen arbeitet. Er kannte Albert Camus, den er als seinen Lehrer bezeichnet und dessen Philosophie er in den USA bekanntgemacht hat. Als einen weiteren wichtigen Lehrer, der ihm half, ,,Aufschluß über die Welt zu bekommen", bezeichnet er Moshe Feldenkrais. Thomas Hanna verstarb viel zu früh bei einem schweren Autounfall im Juli 1990 in Kalifornien. Wie kommt es, so fragt Thomas Hanna, daß trotz des technologischen Fortschritts im Industriezeitalter, der den Menschen die Befreiung von schwerster körperlicher Arbeit brachte und gleichzeitig versprach, sie auch von den damit verbundenen Schmerzen zu befreien, wie kommt es da, daß über achtzig Prozent der Bevölkerung dieser industrialisierten und mithin zivilisierten Länder unter Rückenschmerzen leiden. Das ist eine Ironie, da in unserer gegen10

wärtigen technologischen Gesellschaft die Belohnung für die Befreiung von schwerster körperlicher Arbeit sich als Befreiung von solchen Körperbeschwerden bemerkbar machen sollte, schreibt Thomas Hanna in seinem Buch Beweglichsein - ein Lebenlang. Um diese Ironie noch zu unterstreichen fragt er weiter, wie es sein kann, daß die Medizin des zwanzigsten Jahrhunderts spektakuläre Erfolge hinsichtlich der Verlängerung unserer Lebenserwartung bis zu der von den Genen gesetzten Grenze erzielt, gleichzeitig jedoch so wenig erfolgreich bei der Bekämpfung der epidemieartigen Ausbreitung chronischer Schmerzsyndrome ist. Thomas Hanna hält der Schulmedizin vor, daß es ihr schon am Verständnis zur Erklärung dieser Schmerzen mangelt. ,,Wie kommt es, daß etwas so Schmerzhaftes, so Epidemieartiges, so sozial Schädliches und so Teures so wenig verstanden und so schlecht bewältigt wird? Wie kann es passieren, daß die medizinischen Wissenschaftler und die praktizierenden Ärzte, die Rückenschmerzen untersuchen und behandeln, unglücklicherweise unter den gleichen Rückenschmerzen leiden? Dies ist ein medizinisches Rätsel und als solches eine Quelle allgemeiner Verunsicherung." Genau wie Feldenkrais will Thomas Hanna zeigen, daß die in hochspezialisierte, technisierte Einzeldisziplinen zerfaserte Hochleistungsmedizin des zwanzigsten Jahrhunderts eine Sackgasse darstellt, die den Menschen nicht mehr als Ganzes sehen kann. Jedoch geht es Thomas Hanna nicht um eine Abrechnung mit der Schulmedizin. Diese ist ja auch nur ein Teilbereich und als solcher Ausdruck eines umfassenderen geistigen Prozesses. Bei Feldenkrais und Hanna wird vor allem eine Kritik unserer kulturellen Entwicklungen formuliert. Viele unserer kulturellen Errungenschaften in Erziehung und Technik haben, neben einigem Guten, meistens aber mehr neue Probleme geschaffen als zunächst absehbar sein konnte. Immer früher wird in die psychophysische Entwicklung eines Menschen eingegriffen, um ihn zu einem zu machen, der den anderen gleicht. ,,Der Prozeß der Akkulturation behindert und unterdrückt zunehmend die lebhafte Selbst-Bewußtheit des Kindes, während er gleichzeitig die Entwicklung der exterozeptiven Sinne fördert, mit dem Ergebnis, daß sich letztendlich ein Mensch entwickelt, der sich der äußeren Welt höchst bewußt, aber der inneren Welt seines 11

eigenen Körpers bemitleidenswert unbewußt ist. Dieser Mangel an Selbst-Bewußtheit ist keine geringe Sache. Es ist eine der größten Katastrophen für die moderne Gesellschaft." So mahnt Thomas Hanna im Vorwort dieses Buches. Die Entwicklung der modernen Hochleistungsmedizin, die nicht mehr den Menschen, sondern Krankheiten heilt, ist nur ein Ausdruck unserer kulturellen Verirrungen. Der Dienst am Menschen tritt nur zu oft in den Hintergrund zugunsten des Dienstes an der Maschine. Neue Entwicklungen wie künstliche Befruchtung, Embryonenforschung oder Möglichkeiten der Genmedizin bergen in sich neue, immer schwieriger zu entscheidende ethische Risiken mit unabsehbaren Folgeproblemen. Hanna spricht da sogar von kulturellen Katastrophen. Aufbauend auf den Arbeiten von Dr. Moshe Feldenkrais entwickelt Thomas Hanna in seinem Gesamtwerk Gedanken zur Problematik des Alterns in unserer modernen, indusbialisierten Kultur. Er hält die Analogie „Altern bedeutet Krankheit" für einen Mythos, den es aufzuklären gilt. Tatsache ist natürlich gegenwärtig, daß die meisten alternden Menschen auch immer schwereren Chronifizierungen entgegengehen, die sie von der Medizin abhängig machen. Aber dieser Umstand ist nicht naturgegeben, sondern eine Folge unseres von Kindheit an normierten Denkens und Wahrnehmens. In Beweglichsein- einLebenlangbehandelt Thomas Hanna die Thematik des Alterns in unserer Kultur sehr ausführlich. Auf dem Fundament der Bewegungslektionen von Moshe Feldenkrais hat er darin weitere Übungen für spezielle Funktionsstörungen entwickelt, die neben der Bearbeitung der spezifischen Störung, auch der vollen Entfaltung des individuellen menschlichen Potentials dienen. Bei solchen Betrachtungen beläßt er es nicht bei der oberflächlichen Erkenntnis, der moderne Mensch habe zuwenig Bewegung, müsse sich daher mehr davon beschaffen. Hanna analysiert die kollektiven Verhaltensweisen moderner zivilisierter Industriegesellschaften, die den gewachsenen, inneren, organischen, menschlichen Selbstorganisationsstrukturen auf hormonaler und sensomotorischer Ebene zuwiderlaufen, ja diese langsam zerstören. Ebenso die angebotenen therapeutischen „Lösungen", die oftmals Funktionsverluste auf lange Sicht chronifizieren lassen, da sie am Kern des Problems vorbeigehen. Hanna rezipiert in diesem Zusam-

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menhang die ethologischen Erkenntnisse von Nikolaas Tinbergen (1974) sowie die endokrinologischen Forschungen von Hans Selye (1974). Die Erkenntnis, daß es das streßbedingte „Anpassungssyndrom" gibt, ist vor allem den medizinischen Forschungen von Hans Selye zuzuschreiben. Die Methodik seiner Forschungen ist bis heute nicht unumstritten, da bei den von ihm entwickelten Tierversuchen Millionen von Tieren, hauptsächlich Mäuse, Ratten, Kaninchen und Katzen auf grausamste Weise zu Tode kamen (Ruesch 1978). Die Leistungen Selyes auf dem Gebiet der Endokrinologie führten zur Formulierung des generellen (allgemeinen) Anpassungssyndroms. Sie stellen möglicherweise die bedeutendsten Einzelergebnisse der medizinischen Wissenschaft seit der Theorie der bakteriell bedingten Erkrankungen und der Entwicklung der antibakteriellen Wirkstoffe dar. Die außerordentliche Bedeutung von Selyes Forschungen besteht in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, daß psychologische Faktoren ebenso bestimmend für die menschliche Gesundheit oder Krankheit sind wie physiologische Faktoren. Selye untersuchte vor allem den biochemischen Aspekt derStreßreaktion. Feldenkrais und Hanna erweiterten diese Erkenntnisse um die Tatsache, daß Streßreaktionen auch sensomotorische und propriozeptive Aspekte besitzen, die ebenso bedeutend sind wie der von Selye untersuchte biochemische Aspekt. ,,Die neuromuskuläre Anpassung an anhaltenden negativen Streß (Distreß) besteht in der Rückzugsreaktion, die primär in der vorderen Seite des Körpers auftritt. Die neuromuskuläre Anpassung an anhaltenden positiven Streß (Eustreß) besteht in der Handlungsreaktion, die im hinteren Körper abläuft. Einfacher ausgedrückt besteht die Rückzugsreaktion in dem Stop-, die Handlungsreaktion in dem Start-Reflex" (Hanna 1990,63). Der Verhaltensforscher Nikolaas Tinbergen widmete in seiner Nobelpreisrede 1973 diesem sensomotorischen Aspekt von kulturbedingtem Streß einen breiten Raum. Er wies von der ethologischen Seite her nach, daß kulturbedingter Streß die Ursache für die meisten chronisch-degenerativen Erkrankungen darstellt (vgl. Tinbergen 1974;Czetczok 1992). Wie kulturbedingter Streß dazu führt, daß ganz fundamentale Funktionen des Menschlichen langsam versagen und degenerieren,

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was diese primordialen Funktionen eigentlich sind, das entwickelt Hanna in seiner Theorie des „ Ursoma''. Der Begriff „primordial'' entstammt der Philosophie von Husserl und Merleau-Ponty und meint „uranfänglich", das Ur-Ich betreffend. Hanna beschreibt vier primordiale Funktionen:

Funktion

a) b) c) d)

Stehen (Standing) Vorwärts-Orientierung (Facing) Handhaben (Handling) zeitliche Abstimmung (Timing)

Er nachvollzieht die Phylogenese dieser grundlegenden somatopsychischen Funktionen von ihren allerersten Anfängen an, als das erste überhaupt mögliche Leben sich im Wasser zeigte, sich nach und nach unter dem Einfluß der Schwerkraft auf dem Festland ein Skelett bildete, bis hin zum aufrechten Gang des Menschen. Er macht die Zusammenhänge verständlich zwischen kulturbedingten degenerativen Veränderungen und diesen uralten, bewährten und notwendigen, dem Fortgang des Lebens auf diesem Planeten dienlichen funktionalen Strukturen. Jeweils parallel dazu faßt Hanna Funktionsverluste in jedem spezifischen Bereich in eine allgemeine diagnostische Kategorie:

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Dysfunktion

a) Somatische Retraktion b) Somatische Fixierung c) Somatische Lateralisierung d) Somatische Ineffizienz

Anhand von Fallbeispielen erläutert er Diagnose und Behandlung dieser Funktionsverluste. Er folgt darin der Methode der Funktionalen Integration von Moshe Feldenkrais (vgl. Feldenkrais 1985; Czetczok 1992). Dieses Buch ist wichtig auch zum Verständnis der FeldenkraisMethode und wird dazu beitragen, sie richtig einzuordnen: Nicht als Therapie nämlich, sondern als eine leicht gangbare Möglichkeit des Umlemens und der Abkehr von destruktivem Denken, was Konzepte konventionellen therapeutischen Handelns weit hinter sich läßt. Bad Salzuflen, im Sommer 1993

Hans-ErichCzetczok

Literatur Czetczok, H.E.: Die Feldenkrais-Methode. In: Bühring, MJKemper, F.H. (Hrsg.): Naturheilverfahren und unkonventionelle medizinische Richtungen. Grundlagen/ Methode/ Nachweissituation. Berlin/ Heidelberg/ New York 1992 Feldenkrais,M.: Body and Mature Behaviour. A Study of Anxiety, Sex, Gravitation and Leaming. London 1949;dt. Ausgabe bei Junfermann in Vorbereitung -, Der aufrechte Gang. Verhaltensphysiologie oder Erfahrungen am eigenen Leib. Frankfurt a.M. 1968 (Neuauflage unter dem Titel: Bewußtheit durch Bewegung. Frankfurt a.M. 1981, 3. Auflage)

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-,

Abenteuer im Dschungel des Gehirns. Der Fall Doris. Frankfurt a.M. 1977 -, Die Entdeckung des Selbstverständlichen. Frankfurt a.M. 1985 -, Das starke Selbst. Anleitung zur Spontaneität. Frankfurt a.M. 1989 -, Die Feldenkraismethode in Aktion. Paderborn 1993, 4. Auflage Ranna, Th.:Beweglich sein - ein Leben lang. München 1990 Leigh,W.S.:Zen-Körpertherapie. Rolf, Feldenkrais, Tanouye Roshi. Paderborn 1993 Ruesch,H.: Nackte Herrscherin. Entkleidung der medizinischen Wissenschaft. München 1985, 4. Auflage Selye,H.: Stress. München 1974 Tinbergen,N.: Ethology and Stress Deseases. In: SCIENCE 1974, Vol. 185, 20-27

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Vorwort

,,Was ist Leben?" ist eine der meistgestellten Fragen der Menschheit. In krisenhaften wie in friedlichen Zeiten stellt sie sich als ultimativer Versuch, einen Sinn des Daseins zu finden. Dieselbe Frage ist schon viele tausende Male beantwortet worden und auf tausend verschiedene Weisen - da es weder eine richtige noch eine endgültige Antwort gibt: Die Frage ist so komplex und vage, daß fast jede Antwort angemessen erscheint. Das soll nicht heißen, daß die Frage unbedeutend ist - es gibt vielleicht keine bedeutendere. Die Schwierigkeit ist aber, daß sie immer falsch gestellt wird. Zu fragen:,, Was ist Leben?" heißt, es wie etwas Abstraktes zu behandeln, als wäre es nichts anderes, als zu fragen: ,,Was ist Wahrheit?" oder: ,,Was ist Güte?" Der Ansatz der Frage ist falsch, da Leben nichts Abstraktes ist, sondern immer etwas sehr Konkretes, da es nur in einer ganz bestimmten Form existiert: in lebenden Körpern. Außerhalb von individuellen Körpern gibt es kein Leben. Leben kommt nur in verkörperter Form vor, und wenn wir Leben sehen und erfahren, geschieht dies immer durch die Betrachtung und Erfahrung eines lebenden Körpers. Wenn wir aufhören, Leben als etwas Abstraktes aufzufassen und anfangen, es in den Begriffen der besonderen, lebenden Körper zu sehen, in denen Leben sich ausprägt, beginnen Frage und die mögliche Antwort eine andere Bedeutung anzunehmen. Wenn wir die Frage entsprechend umformulieren und fragen:,, Was ist das Wesen eines Körpers, der Leben besitzt?" können wir dies in einem ganz besonderen Sinn beantworten. Was immer Leben abstrakt auch sein mag, wir wissen, daß die Art und Weise, wie Leben sich in lebenden Körpern manifestiert, in autonomer Bewegungbesteht. Der lebende Körper ist ein sich bewegender Körper- mehr noch, ein sich ständig bewegender Körper. Das ist das primäre Merkmal, an dem wir Leben erkennen und die „Lebenden, Quicklebendigen" von den ,,Toten" unterscheiden.• •

Im alten Englisch wird zwischen „quick" und „dead" unterschieden, wobei ,,quick" ,,lebendig., bedeutet, und zwar im Sinne von „that which moves" - das, was sich bewegt (vgl. Hanna 1979, 16).

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Die Bewegung eines Lebewesens ist einzigartig: Lebende Körper sind selbst-bewegend. Sie sind individuelle Bewegungssysteme, die sich in organisierter, koordinierter und folgerichtiger Weise bewegen. Um genau zu sein, müssen wir festhalten, daß Leben immer und überall in einer charakteristischen Form existiert: als organisierte Bewegungen eines individuellen Körpers. Daraus ließe sich schließen, das Leben zu verstehen bedeutet, zu verstehen, wie sich individuelle Wesen bewegen. Ich möchte nicht andeuten, daß sich dadurch die Frage: ,,Was ist Leben?" plötzlich vereinfachen läßt, aber sie läßt sich konkretisieren. Ein lebender, sich bewegender Körper ist alles andere als einfach, wie faktisch konkret er auch sein mag. Er ist, wie wir sehen werden, ein unermäßlich komplexes und rätselhaftes Phänomen. Aber wenigstens gibt uns diese konkrete Formulierung der Frage einen Anhaltspunkt, an dem wir ansetzen und versuchen können, sie zu analysieren. Dieses Buch befaßt sich mit Leben in dem konkreten Sinne, in dem wir alle es kennen: durch lebende Körper. Es beschäftigt sich vor allem mit den lebenden Körpern von Menschen, aber ebenso mit den Körpern aller Gattungen von Lebewesen. Je näher wir das Wesen organisierter Bewegung von individuellen Körpern betrachten, um so mehr wird deutlich, daß wir unter der obersten Schicht von Sprache und Kultur unseren tierischen Artgenossen weit ähnlicher sind, als wir je gewußt oder zuzugeben gewagt haben. Ich bin der Überzeugung, daß der Unterschied zwischen einer gesunden, voll funktionsfähigen Amöbe und einem gesunden, voll funktionsfähigen Menschen sehr gering ist, und daß die angewandten Modelle der Psychologie, Psychotherapie und Medizin weitgehend ungeeignet sind zum Verständnis des Menschen, da sie den entscheidenden Faktor physiologischer Bewegung außer Acht lassen. Die Identifizierung von Leben mit Bewegung kann noch einen Schritt weiter vorangetrieben werden, wenn wir folgende Möglichkeit berücksichtigen: Wenn Leben Bewegung bedeutet und Tod das Fehlen von Bewegung, müßte es zulässig sein, anzunehmen, daß mehr Bewegung mehr Leben bedeutet, weniger Bewegung weniger Leben. Ich glaube, daß dies tatsächlich der Fall ist, und in den ersten Kapiteln dieser Arbeit möchte ich umfassende Beweise dafür anführen, daß eine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit gleichbedeutend

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mit eingeschränktem Leben ist. Umgekehrt soll deutlich gemacht werden, daß eine Verstärkung der Effizienz von Körperbewegung bedeutet, die Vitalität von Menschen in allen ihren Funktionen zu stärken, ob physisch, geistig oder emotional. Diese Einsichten sind weniger das Ergebnis philosophischer Spekulation als praktischer Beobachtungen. Ich arbeite mit Menschen, die unter Verkrüppelungen, Lähmungen oder akuten Muskelschmerzen leiden; und zwar, indem ich sie mit meinen Händen lehre, den Spielraum und die Effizienz ihrer Körperbewegungen zu erweitern. Ich bin kein Arzt, der heilt, ich bin ein Lehrer, der lehrt, und im Verlaufe meines Unterrichts habe ich eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht: Die meisten erwachsenen Menschen besitzen nur eine sehr gering ausgebildete Fähigkeit, Bewegungen ihres eigenen Körpers sinnlich wahrzunehmen, und folglich eine nur unzureichende Fähigkeit, ihren Körper zu bewegen und zu kontrollieren. Die sensomotorischen Funktionen im Innersten des menschlichen Zentralnervensystems sind bei dem typischen Erwachsenen verkümmert. Außer unter besonderen Umständen erreicht der urbanisierte Mensch unserer Zeit das Erwachsenenalter mit einem nur minimal entwickelten sensomotorischen System und verliert dann während seines weiteren Lebens zunehmend die Fähigkeit, seinen Körper wahrzunehmen und effizient zu bewegen. Wir alle ziehen es vor, zu glauben, daß das Wachsen und Heranreifen eines menschlichen Individuums ein Wachstum von SelbstBewußtsein und Selbst-Bewußtheit mit sich bringt. Der wesentliche Unterschied zwischen zivilisierten Menschen und ihren primitiven Vorfahren wird in der Kultivierung von Selbst-Bewußtheit vermutet. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. In auf einfacheren Entwicklungsstufen lebenden Gesellschaften sind die sensomotorischen Funktionen und die propriozeptiven Fähigkeiten zur Eigenwahrnehmung hoch entwickelt. Diese neuralen Fähigkeiten körperlicher Selbst-Bewußtheit sind hochentwickelt aus dem einfachen Grunde, da das Überleben in einer primitiven Umwelt von ihnen abhängt. Bei dem urbanisierten Menschen aber tritt die entgegengesetzte Entwicklung auf. Die gegenwärtige Erziehung und Kultur zielen darauf ab, die Entwicklung der Fähigkeit zur Eigenwahrnehmung zu begrenzen und zu unterdrücken, so daß die Bewußtheit des 19

Individuums über sein eigenes physiologisches Wesen mit dem Erreichen des Erwachsenenalters so abgestumpft und verschleiert ist, daß das Gefühl entsteht, das Bewußtsein sei in einem fremdem Gehäuse untergebracht. Der Prozeß der Akkulturation behindert und unterdrückt zunehmend die lebhafte Selbst-Bewußtheit des Kindes, während er gleichzeitig die Entwicklung der exterozeptiven Sinne fördert, mit dem Ergebnis, daß sich letztendlich ein Mensch entwickelt, der sich der äußeren Welt höchst bewußt, aber der inneren Welt seines eigenen Körpers bemitleidenswert unbewußt ist. Dieser Mangel an Selbst-Bewußtheit ist keine geringe Sache. Es ist eine der größten Katastrophen für die moderne Gesellschaft. Er hat so katastrophale Auswirkungen, da der zunehmende Verlust unserer sensomotorischen Fähigkeiten garantiert, daß Frauen und Männer, wenn sie mittlere Altersgruppen erreichen, höchstwahrscheinlich - und immer zu ihrer Überraschung- feststellen müssen, daß ihre Wirbel verzerrt sind und sie Schmerzen im unteren Rückenbereich, Ischias und eine chronische Steifheit und Empfindlichkeit in Nacken und Schultern haben. Außerdem erlaubt der Mangel an sensomotorischer Selbst-Bewußtheit unbemerkten Belastungen und Anspannungen, sich über so weite Zeiträume aufzuspeichern, daß Schlaganfälle, Herzinfarkte und andere physiologische Zusammenbrüche ohne jede Vorwarnung auftreten. Mangel an Selbst-Bewußtheit ist nicht nur einfach ein moralisches Problem, es ist das wesentliche Problem der öffentlichen Gesundheitspflege der heutigen Gesellschaft. Unser kulturelles Programm ist ein Programm menschlicher Verminderung und Zerstörung, aber weil Kultur für die akkulturierten Menschen so wenig sichtbar ist wie das Wasser für die Fische, können wir nicht erkennen, daß diese Zusammenbrüche nicht die normalen und unvermeidlichen Ergebnisse des Alterns sind, sondern die anormalen und vermeidbaren Ergebnisse kultureller Konditionierung. Einfach ausgedrückt: Die typischen mentalen und physischen Krankheiten unserer Gesellschaft sind erlernt. Je näher wir einen lebenden Körper betrachten, um so weniger stabil erscheint er. Seine stabile Struktur ist rein illusorisch. Unterhalb dieses stabil erscheinenden Äußeren befindet sich ein Netzwerk geordneter Bewegungen, die ebenso unaufhörlich wie kom-

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plex sind. Dieses versteckte Bewegungssystem werden wir ergründen und versuchen zu verstehen. Unterhalb der Ebene unseres verbalen akkulturierten Bewußtseins befindet sich ein Reich, das wir erst langsam anfangen, zu erkennen und auszuloten. Ich nenne es das somatische Reich - somatisch,da es menschliche und alle anderen Lebewesen nicht nur in Begriffen von Körperstrukturen sieht, sondern in Begriffen von Körperfunktionen, nämlich Bewegung. Erst im Verlauf des letzten Jahrhunderts sind wir uns des somatischen Bereichs bewußt geworden, und erst während der letzten Generation hat dieser Bereich Wege praktischer Anwendung aufgedeckt. Diese Wege sind die Richtungen, die von somatischen Erziehern eingeschlagen werden, die mit Erfolg Veränderungen bei Menschen bewirkt haben in einer Weise, die zuvor nicht für möglich gehalten wurde. Ich möchte mich besonders mit der PraxisFunktionaler Integration beschäftigen, der effektivsten und klinisch spezifiziertesten Form somatischer Erziehung. Die Funktionale Integration, die von dem israelischen Wissenschaftler Dr. Moshe Feldenkrais entwickelt wurde, scheint bei erster Bekanntschaft eine Art von Zauberei zu sein. Was sie am menschlichen Körper erreicht, erscheint auf den ersten Blick unmöglich. Funktionale Integration ist weder Zauberei noch Wunder. Statt dessen ist es eine direkte Anwendung der Prinzipien somatischer Erziehung. Eine Reihe von Fallbeschreibungen in diesem Buch sollen das Wesen und die Wirkungen Funktionaler Integration veranschaulichen. Auf jede dieser Fallbeschreibungen folgt eine Erörterung der spezifischen somatischen Funktion, die die Geschichte erkennen läßt. Zum Abschluß werden wir bestimmte Schlüsse ziehen können, die uns ermöglichen, zu verstehen, warum diese „Wunder" bei Menschen vorkommen können, und das so beständig und vorhersagbar. Zuerst jedoch sollten wir einen kurzen Blick auf dieses vierdimensionale Kuriosum, das Soma, werfen und festhalten, wie bestimmte universale physikalische Kräfte sich in die ureigenste Struktur lebender Körper eingeprägt haben. Der somatische Bereich ist ebenso faszinierend wie überraschend. Außerdem eröffnet er uns einen Zugang zu einem praktischen Verständnis des Menschen, 21

einem Verständnis, das nach meiner Ansicht der Wegbereiter für eine neue Ära menschlicher Erziehung und Medizin sein kann.

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Einführung: Was ist ein Soma?

Der Baum aller Lebensformen ist unermeßlich groß und komplex. Wir, die menschliche Spezies, sind ein Zweig dieses Baumes. Ein Zweig ist nicht repräsentativ für den ganzen Baum, sondern eine sehr besondere seiner Entwicklungen, so daß wir, um den ganzen Baum zu verstehen, vermeiden müßten, ihn von dem besonderen Standpunkt des Zweiges zu betrachten und statt dessen die Sicht der Wurzeln und des Stammes wählen sollten. Die Lebensanschauung eines Zweiges ist offensichtlich eine Verzerrung, an der wir alle jedoch sehr hängen. Sie wird als Anthropomorphismus bezeichnet- das heißt: alle Dinge werden aus menschlicher Sicht betrachtet. Die Weisheit des Homo sapiens hat aufgrund dieser Verzerrung eine verwickelte Geschichte. Wir haben voller Zufriedenheit geglaubt, das Universum sei für uns erschaffen, genauso wie es einleuchtend erschien, daß alle Planeten ihr Zentrum in uns und unserer Erde fanden. Unsere naive Vorliebe, uns als Mittelpunkt der Welt anzusehen, aufzugeben, war langwierig und schmerzlich, und diese Neigung hat von Anfang an die Entwicklung eines kontrollierten wissenschaftlichen Verständnisses behindert. Da alle Lebewesen sich selbst als ihr eigenes Zentrum sehen, ist es ziemlich wahrscheinlich, daß jedes Lebewesen, wenn es sich ausdrücken könnte, den Lebensbaum aus seiner eigenen Sicht beschreiben würde - die Austern hätten ihre Fassung, die Algen und die Erdferkel. Diese Sichtweise des Zweiges wurde von der geduldigen und gewissenhaften Forschung Charles Darwins angegriffen. Der Zweig sah sich charakteristischerweise als Zentrum allen Lebens Gott selbst hatte es so angeordnet und diese Anschauung vollständig unterstützt. Solch eine Einstellung wird aber weder dem Ansehen Gottes noch der Wissenschaft gerecht, da beide prinzipiell nicht zu verengten Sichtweisen neigen. Unbestreitbar war es schmerzlich, zuzugestehen, daß sich die Sonne nicht um die Erde dreht, aber der Verlust dieser Selbstbestimmung des Menschen war gleichzeitig die wissenschaftliche Grundvoraussetzung dafür, daß Menschen den Mond betreten konnten. 23

Genauso schmerzlich ist es, Darwins Sicht anzuerkennen, daß die menschliche Spezies nicht das Vorbild und Maß allen Lebens ist, sondern eine seiner spezialisierten Formen. Darwin zerstreute jahrtausendealte Illusionen, die uns blind gemacht hatten für die vollere Natur unserer Identität mit dem Universum. Im wörtlichsten Sinne wurde die„ Wissenschaft vom Menschen" in dem Moment möglich, als der Mensch von der Mitte der wissenschaftlichen Bühne abrückte. Danach waren wir plötzlich fähig, uns selbst in Begriffen eines größeren Zusammenhangs zu sehen - in Begriffen des kosmologischen, physikalischen, chemischen und biologischen Kontextes, aus dem alles Leben entstanden ist. Diesen breiteren Kontext hat die Wissenschaft - auf Darwins Aufforderung hin-in den letzten hundert Jahren erforscht. Wenn wir die Atmosphäre und die Erde betrachten, und dann die Wurzeln und den Stamm, können wir ein Bild von uns selbst entdecken, das beträchtlich weniger verzerrt ist, ein Bild, das versucht, den vollen Beweiszusammenhang zu erfassen, ohne einzelne Aspekte auszuschließen. Die Forschung des vergangenen Jahrhunderts hat Darwins breiterer Sicht auf den Gebieten der Genetik, Biochemie, Biophysik, Verhaltensforschung, Anthropologie, Neurophysiologie und vieler anderer Substanz verliehen und sie bestätigt. Das erste, das dieser breitere Kontext uns deutlich macht, ist, daß Leben in der Form eines Körpers in die Welt eintrat. Es ist die Gestalt des Lebens, durch die unser erster Eindruck entsteht. Weil es aus dem physikalischen Universum entstand, nahm Leben eine Gestalt an, die entfernt jedem anderen Materiekörper ähnelte. Es sah genauso stabil aus wie ein physikalisches Objekt, und zwar weil es eine bestimmte Anzahl irdischer Atome benutzte, genau wie alle anderen irdischen Objekte. Auf den ersten Blick sah der Körper des Lebens wie ein physikalischer Körper aus, aber der radikale Unterschied bestand darin, daß er sich nicht wie eine einfache Ansammlung von Atomen verhielt. Er bewegte sich unabhängig, er reproduzierte sich selbst, tauschte selektiv Chemikalien mit seiner Umgebung aus, hielt zusammen als einzelnes System und war zu noch viel mehr fähig, wie wir noch entdecken werden. Der Körper des Lebens, das sich auf der Erde entfaltete, ist in Wirklichkeit keinem anderen Körper auf der Welt ähnlich und darf nicht mit den einfachen physikalischen Körpern der Welt ver-

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wechselt werden. Um eine solche Verwechselung zu vermeiden, ist es besser, einen älteren und angemesseneren Begriff zu benutzen: das Wort Soma(griech. aroµcx).*Im Griechischen nahm der Begriff Soma die folgende Bedeutung an: ,,der lebende Körper in seiner Ganzheit". Derselbe Begriff wird auch von Biologen benutzt, um den vollen lebenden Körper eines Lebewesens von seinen Chromosomen zu unterscheiden. Es ist das Soma, das aus jenen urzeitlichen Gezeitentümpeln hervorging. Die vom Leben gewählte Gestalt war nicht nur dreidimensional. Der Körper des Lebens war und ist vierdimensional, er besitzt Höhe, Tiefe, Länge und Zeit. Das Soma entwickelte sich als ein System, das unaufhörlich um Stabilität und Gleichgewicht ringt - eine Aufgabe, die in der Zeit stattfindet und niemals vollendet ist. In seinen inneren Funktionen wie seinen äußeren Aktionen setzt sich das Soma selbst die Zeit, das heißt, es mißt und koordiniert seine Bewegungen in zeitlicher Abfolge. Zu sagen, das Soma verfüge über ein Element von zeitlicher Abstimmung, bedeutet, daß das Soma kein Ding oder objekthafter Körper, sondern eigentlich ein Prozeßist. Ein Grund mehr, an dem Wort Somastatt an dem Wort Körperfestzuhalten. Letzteres deutet auf etwas Statisches und Stabiles hin. Ein Soma ist aber weder statisch noch stabil, es ist veränderlich und beweglich und paßt sich ständig neu an seine Umwelt an. Aber zu sagen, das Soma sei ein anpassungsfähiger Prozeß, der seine Aktionen zeitlich abstimmt, kommt der Aussage gleich, daß es ein integrales System ist. Den Prozeß einer Milliarde von Atomen als „es" zu bezeichnen, ist ein sicheres Zeichen dafür, daß eine Synthese höherer Ordnung stattgefunden hat. Das Soma des Lebens ist ein System, das sich durch die Zeit bewegt, und es ist das lebende System, das Bestand und Identität besitzt, trotz der Tatsache, daß während der Lebenszeit jedes Somas - ob ein- oder vielzellig - alle seine „physikalischen" Atome unzählige Male ersetzt werden. Das Soma besitzt eine zusammenfügende Integrität, die durch die Zeit hindurch zusammenhält. •

Dieses darf nicht mit dem vedischen Wort soma verwechselt werden, das von Aldous Huxley in seinem Buch Schöne neue Welt allgemein bekannt gemacht wurde und sich auf eine geistesverändemde Droge bezieht.

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Darüber hinaus bedeutet die Aussage, das Soma sei ein systemischer Prozeß, daß „es" über eine zentrale, für den gesamten Prozeß verantwortliche Kontrolle verfügt. Die zentrale exekutive Kontrolle eines neuralen Systems - strukturell ausgeprägt bei höheren Lebewesen - ist funktional bei den einfachsten, einzelligen Lebewesen vorhanden. Eine Amöbe z.B. besitzt weder Skelett noch Muskeln oder ein Zentralnervensystem innerhalb seiner Struktur, nichtsdestotrotz handelt sie, als ob dies vorhanden wäre. Sie bewegt sich und kann durch das Ausdehnen ihrer knochenlosen Pseudopodien ziemlich geschickt „gehen" - indem sie sie vorsetzt und dann buchstäblich ihren aus Protoplasma bestehenden Körper in den neuen, von den Pseudopodien geschaffenen Raum fließen läßt. Solche systemische Kontrolle zeigt, daß die Funktion des Nervensystems von Anfang an existierte. Eswaren aber noch Millionen von Generationen und Mutationen erforderlich, bis die neurale Struktur die neurale Funktion eingeholt hatte. Das Soma ist der Körper des Lebens und nichts auf der Welt läßt sich mit ihm vergleichen. Was für ein außergewöhnliches Wesen brachte das Leben auf die Welt: Das Soma erschien als ein wirbelnder, integrierter Prozeß von Atomen, der sich frei und unabhängig von der übrigen Welt verhielt. Noch ungewöhnlicher ist, daß die Identität des Somas so ausgeprägt war, daß seine Aktionen auf es selbstausgerichtetwaren.Der Körper des Lebens hatte seine eigenen Interessen und seine eigenenBedürfnisse, und seine ständige Bewegung zielte darauf ab, diese Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen. Er bildete das ursprüngliche kybernetische System, das heißt, er regulierte sich selbst. Ebenso wie das Soma kein „Körper" ist, ist es auch kein „ Verstand", ,,Geist", ,,Seele" oder irgendeine andere solcher menschlichen Projektionen. Das Soma ist mehr als alle diese religiösen und philosophischen Abstraktionen, die die Köpfe der Menschen verwirren; es war immer weit mehr als das, von den ersten Anfängen an. Dort, in der ersten Zelle, war das komplexe Geheimnis des Lebens bereits angelegt, zumindest implizit. Es mußte nur eine bestimmte, d.h. viele Äonen Zeit vergehen, bis diese ursprünglichen Geheimnisse anfingen, sich zu entfalten und sich explizit im Baum des Lebens zu strukturieren. Ebenso wie das Soma sein ursprüngliches Wesen im physikalischen Universum findet, aus dem es 26

seiner Natur gemäß hervorging, so werden wir, als menschliche Somas, unser ursprüngliches Wesen in dem frühesten Soma finden, aus dem wir entstanden sind. Das Soma ist kein Objekt, es ist ein Prozeß. In gleicher Weise ist das Leben nicht ein„ was", sondern ein„ wie". Das Soma und seinen Prozeß zu verstehen, heißt, das „ wie" des Lebens zu verstehen. Es ist die Gestalt des Lebens, die verrät, wie sehr Lebewesen Ausdruck des Universums und seiner physikalischen Gesetze sind. Diese Gesetze - vor allem die der Thermodynamik und der Gravitation - modellieren das Soma wie unsichtbare Hände. Diese Hände formen unvermeidlich lebende Materie zu einer Gestalt, die kompakt und ökonomisch ist: zu einem runden, dreidimensionalen Körper. Nach dem zweiten Gesetz der Thermodynamik sowie dem Gravitationsgesetz ermöglicht eine abgerundete Gestalt die ökonomischste Funktionsweise. Sie schreiben die gleiche Form für Atome wie für Sonnensysteme vor. Die erst in jüngster Zeit gemachte Entdeckung der molekularen Struktur des genetischen Etbes ermöglichte einen spektakulären Einblick in das Innerste des reproduktiven Systems. Die DNA-Moleküle, die den Code der genetischen Information ausmachen, bestehen aus langen Ketten von als Nukleotiden bezeichneten Bausteinen. Es wäre durchaus denkbar, daß sich diese Nukleotidenketten in jede beliebige Richtung ausdehnen würden, wie ein loses Seil, aber das passiert nicht. Statt dessen bilden die Nukleotiden Paare von Ketten, die sich umeinanderlegen in einer eleganten, engen Spirale. Das ist die Form der DNA: eine gerundete Struktur. Wir alle wissen, daß einzelne lebende Zellen tendenziell rundlich und kompakt sind- Mikroskope machen dies für uns sichtbar. Aber mit einem Elektronenmikroskop können wir Zellen noch viel tiefergehend erforschen. Und auf dieser winzigen Stufe sehen wir wieder denselben Versuch lebender Materie, die Form eines dreidimensionalen Somas anzunehmen. Das Hämoglobin in unseren roten Blutkörperchen ist z.B. ein typisches Einweißmolekül, aufgebaut aus Ketten von Aminosäuren. In dem großen Hämoglobinmolekül befinden sich genau 574, in vier Ketten angeordnete Aminosäuremoleküle. Wir könnten vermuten, daß sich diese Molekülketten in beliebige Richtungen be27

wegen würden und jede sich rein zufällig mit anderer organischer Materie verbindet. Diese langen Ketten winden sich jedoch in unglaublich komplexer Weise umeinander und bilden eine kugelförmige, dreidimensionale Struktur, die einem dicken Busch sehr ähnlich sieht. Unser Körper enthält Millionen dieser Hämoglobinbüsche, und es ist eine verblüffende Tatsache, daß jeder mit den anderenidentischist. Dies ist ein Beispiel für die außerordentliche Stabilität und Ordnung des Lebens. Im Falle unseres eigenen Körpers bilden die der Materie zugrundeliegenden und sie kontrollierenden physikalischen Gesetze in jederSekundevierhundertBillio-

nen genaugleicherHämoglobinbüsche, währendsie gleichzeitigjede Sekunde dieselbeAnzahl zerstören.Dies ist ein Beispiel dafür, wieviel Stabilität das Leben innerhalb eines instabilen Prozesses besitzt. Alles Leben hat die Tendenz, seine molekularen Elemente zu der dreidimensionalen Gestalt eines rundlichen Körpers zu formen. Dieser Prozeß findet auf der mikroskopischen Ebene der Moleküle und Zellen und auf der makroskopischen Ebene komplexer Körper von Lebewesen statt. Auf jeder Ebene ist es der gleiche somatische Prozeß. Atome haben unterschiedliche Formen, wie die verschiedenen Teile eines dreidimensionalen Puzzles, sie können sich nur in bestimmter Art und Weise an andere Atome anpassen. Und sie „passen" auf sehr konkrete und physikalische Weise. Etwas in die eine oder andere Richtung gedreht, verbinden sich zwei Atome nicht zu einem Molekül, aber genau richtig gedreht, so daß das Elektronengitter eines Atoms genau mit dem eines anderen ineinandergreift, ergibt sich plötzlich eine Anpassung- eine „Verbindung". Atome verbinden sich miteinander, um größere Strukturen, wie Moleküle, zu bilden, in ungefähr der Art, wie sich die Finger einer Hand mit denen der anderen zu einer festen Verbindung verschränken. Die Eiweißketten, die die primären Bestandteile lebender Körper bilden, haben alle eine dreidimensionale Form. Sie sind mikroskopische Somas - Protosomas, da sie ein Skelett, aber kein Fleisch besitzen. Einige Formen sind so beschaffen, daß sie mit einem bestimmten Element zusammenpassen, andere Formen passen nur zu einem davon verschiedenen Puzzleteil. Verschiedene atomare Verbindungen in der Kette ermöglichen es dem Protein, sehr spezifische Elemente aufzunehmen, sich an sie anzupassen und sich mit 28

ihnen auszutauschen. Jede Proteinkette ist speziell so aufgebaut, daß ihr eine bestimmte chemische Reaktion möglich ist. Sie wird sich nur mit bestimmten chemischen Nährstoffen austauschen, das zurückbehalten, was sie braucht und das ignorieren, was sie nicht brauchen kann. Die in dem winzigen Körper jeder Zelle untergebrachte chemische Fabrik ist überraschend einfach in ihrem Aufbau: Jede Proteinkette des produktiven Bereichs ist eine Kombination von Aminosäureresten, die zu einer von nur zwanzig verschiedenen Arten gehören. Und diese zwanzig chemischen Verbindungen finden sich bei allen lebenden Spezies, von den Bakterien bis zum Menschen. Jede der Millionen verschiedenen Spezies auf diesem Planeten ist aus demselben gemeinsamen Bestand an chemischen Möglichkeiten zusammengesetzt. Weil Leben universellen physikalischen Gesetzen gehorchen muß, formt es sich immer zu effizienten, ökonomischen Körpern. Die Zelle ist zweifellos kompakt und gut integriert. Sie kann rund sein wie ein Ball oder länglich und gestreckt wie eine Wurst, mit vielen Variationsmöglichkeiten dazwischen. Aber wie sie auch immer im Einzelfall aussehen mag, alle Zellen haben eine irgendwie gerundete Struktur, ordentlich zusammengefaßt von einer sie umschließenden Membran. Kinder lieben Ballons mit großen Ohren und langer Nase. Wenn sie die beiden Ohren zusammendrücken, wird die Nase größer. Wenn sie Ohren und Nase zusammendrücken, vergrößert sich das Gesicht. Teile des Ballons dehnen sich aus und ziehen sich zusammen, aber der Inhalt und der Druck des Ballons verändern sich nie, wenn das Kind ihn drückt, sie bleiben konstant und ausgeglichen. Das Universum als Ganzes erhält seine gesamte Energie auf diese Weise aufrecht. Die Energie mag von einem Ort zum anderen wechseln, aber innerhalb des gesamten Systems bleibt sie gleich. Sie bleibt gleich, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Die Bewegung der Energie vor und zurück nimmt den beteiligten Atomen etwas von ihrer Kraft. Die „freie Energie", die sie besaßen, wird aus den Atomen gesaugt in Form von Bewegung und Wänne, und diese Wärme ist, einmal in die unermeßliche Kälte des Äthers verausgabt, für immer verloren. Wenn Atome ihre freie Energie aufbrauchen, werden sie ruhiger. Ein auf der Kuppe eines Hügels

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thronender Felsblock verfügt über Energie für Bewegung, aber sobald er heruntergerollt ist, hat er diese freie Energie verloren. Er ist von der atomaren Zusammensetzung her immer noch derselbe Felsblock, aber seine Situation ist verändert. Er kann seine vorherige potentielle Energie nur wiedergewinnen, wenn zusätzlicheEnergie von außerhalb geliehen wird, um ihn wieder zurück nach oben zu rollen. Von allein wird der Felsblock niemals seinen Verlust ausgleichen können. Dies ist eine vereinfachte Darstellung der grundlegendsten physikalischen Gesetze: der Gesetze der Thermodynamik. Das erste Gesetz besagt, daß die gesamte Energie des Universums konstant bleibt, ganz genauso wie der Inhalt eines Luftballons. Das zweite Gesetz besagt, daß jedes Ereignis im Universum wie der Felsblock ist, der einen Hügel hinunterrollt - ist die freie Energie einmal verausgabt, kann sie nicht ersetzt werden. Das Universum verliert allmählich seine Wirkungskraft und diese abnehmende Tendenz wird Entropie genannt. Das dritte Gesetz stellt fest, daß der einzige Weg für die Materie, Entropie zu vermeiden, in einem völlig stabilen kristallinen Zustand am absoluten Nullpunkt besteht, wobei „Null" in diesem Fall bedeutet, daß sie völlig ohne Wärme und Bewegung ist. Das dritte Gesetz wird als ein allerdings in vielfältiger Weise durch Erfahrungen gestütztes Axiom zur Überwindung der Entropie angesehen, es ist jedoch keine Tatsache. Weder im Universum noch im Labor ist es möglich, den absoluten Nullpunkt völliger Unbeweglichkeit zu erreichen. Dieses zweite Gesetz der Thermodynamik ist beunruhigend, denn es besagt, daß die Entropie des Universums beständig zunimmt, daß das Universum sich erschöpft und langsamer und kälter wird, indem es seine freie Energie verausgabt. Wenn man sie näher betrachtet, ist Entropie eine sonderbare Sache. Es ist der Verlust einer bestimmten Ordnung oder Organisation. Eine bestimmte Anordnung von Dingen -wie der Felsblock auf der Spitze eines Berges - ist erforderlich, um Energie für Bewegung und Wärme zu schaffen - ist diese Anordnung einmal aufgegeben worden, ist damit auch die Energie ausgegeben. Statt methodisch angeordnet zu sein, zerfällt es in eine dem Zufall überlassene Unordnung. Bei näherer Betrachtung erscheint Entropie als die universelle Notwendigkeit physikalischer Ordnung, die zu Zufälligkeit verfällt, genau wie die

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Gezeiten des instabilen Universums vor- und zurückfluten, wobei sie Wärme aufbrauchen. Eines der grundlegenden Charakteristika der lebenden Zelle besteht darin, daß sie relativ wenig Entropie oder Zufälligkeit besitzt, tatsächlich wird Entropie umgekehrt, während Zellen sich teilen oder schnell wachsen. Von den ersten Anfängen an begegneten Organismen dem zweiten Gesetz herausfordernd und schafften es, die Situation zu bewältigen - und zwar sehr effizient. Sie erreichen dies mit Hilfe der Art, in der ihr Körper organisiert ist: Organische Körper haben eine ganz spezifische Ordnungsweise, nämlich eine Ordnung, die den Verlust an Ordnung minimiert. Diese organische Ordnung ist der dynamische „stabile Zustand", durch den Organismen ihre Lipide, Polysaccharide und Proteine aufbrechen, während sie sie ununterbrochen ersetzen. Der Umsatz ist enorm und ebenso komplex. Lebende Zellen sind komplexe Systeme, die mit einem offenen Austausch mit ihrer Umwelt befaßt sind, während sie einen inneren stabilen Zustand aufrechterhalten. Das Entropiegesetz lehrt uns, daß Ordnung eine Form von Energie ist. Demgemäß sucht Leben danach, seine zelluläre Ordnung durch kompliziert strukturierte Makromoleküle zu erhalten, die reich an Informationen sind und der Zelle erlauben, ~elbst-regulierend zu sein. Das organische Reich entstand als eine höhere Ordnung des inorganischen Reichs - eine Synthese höherer Ordnung, die Atome zu einem sich ständig variierenden Tanz versammelt. Dieser Tanz ist gleichermaßen geordnet wie komplex und unaufhörlich. Die Geschichte des Lebens ist eine Geschichte wachsender Ordnung und abnehmender Entropie - je komplexer der Tanz, um so effizienter das System. Weil Leben als eine Synthese höherer Ordnung von Elementen entstand, war es gezwungen, sich mit dem zweiten Gesetz der Thermodynamik zu arrangieren. Die Antwort des Lebens auf das Entropiegesetz besteht darin, eine Ansammlung von Atomen so zu organisieren, daß der angenommene Verlust an freier Energie nicht notwendigerweise aufuitt. Die chemischen Kräfte werden so organisiert, daß sie zu einem selbst-ausgleichenden nuklearähnlichen System wurden. In der lebenden Zelle fließt alles in alles andere in einer kontinuierlichen Abfolge gleichmäßiger Reaktionen zwischen

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den vielen Teilen der Zelle. Es ist ein nahezu reibungsloser Prozeß von solch enormer Effizienz, daß es nur einen geringen Einsatz von äußerer Energie erfordert, um die unglaubliche Maschine in Bewegung zu halten. Nach den Gesetzen der Thermodynamik und der Gravitation besteht die effizienteste und ökonomischste Form des Lebens in einer Kugel. Allgemein betrachtet sollten wir uns Somas als rundliche, von einer Membran umschlossene Wesen vorstellen. Und wenn wir unseren eigenen Körper betrachten, sehen wir dieselben strukturellen Bedingungen: eine runde längliche Gestalt in einer Umhüllung von Haut. Wenn wir andere Lebewesen, gleich welcher Gestalt, betrachten, können wir die unvergängliche Form des Somas in ihnen wiedererkennen. Auf den zweiten Blick stelle ich fest, daß mein Körper nicht nur ein einzelner Körper ist. Ich könnte ihn auch als eine Ansammlung einzelliger Körper ansehen. Er ist ein aus Somas bestehendes Soma. Wie kann das sein? Es ist möglich, weil alles Leben die Tendenz hat, sich selbst effizient zu „somatisieren", und dies ist deutlich sichtbar auf der vielzelligen Stufe von Körpern höherer Lebewesen, den Metazoen. Der Sprung vom einzelligen Leben zu dem vielzelliger Lebewesen scheint immens, bis wir uns die Forderungen des zweiten Gesetzes in Erinnerung rufen: Eine Gruppe einzelner Zellen kommt zu einer Synthese höherer Ordnung zusammen, falls diese Synthese effizienter und ökonomischer ist. Das zweite Gesetz der Thermodynamik ist ein zentraler Faktor der Evolution der Arten. Es war das zweite Gesetz, das die Entstehung des ersten Somas bedingte, der frühesten Zelle, und es war dasselbe Gesetz, das Zellen so zusammenschloß, daß sie eine Gemeinschaft bildeten. Eine Gemeinschaft von Zellen ist eine höhere Ordnung der physikalischen Elemente der Zellen, so daß zusammengenommen weniger Entropie auftritt. Und dies ereignet sich mit dem Sprung von einzelligen zu vielzelligen Körpern, nämlich dem Sprung von den Protozoen zu den Metazoen im Lebensbaum. Die Evidenz dieser höheren Ordnung ist in jede Zelle geprägt. Jede einzelne Zelle verfügt über den gesamten Chromosomencode des Lebewesens; die Zellen komplexer Lebewesen sind in typischer Weise mit der gleichen Spezies-Identität „gezeichnet". 32

Die Metazoen können eine effizientere Erhaltung der E~ergie gewährleisten, weil sie mit der Energie komplexer und mit größerer Stabilität umgehen können. Und je komplexer die Ordnung, um so effizienter ist das biologische System - das ist die biologische Regel. Die Evolution der Arten besteht in dem Vorkommen von immer subtileren und komplizierteren Wegen, Ordnung und Energie zu erhalten. Solche Überlegungen mögen zunächst eher unbedeutend für die alltäglichen Belange unseres Lebens und unseres Körpers erscheinen, aber sie sind es nicht. Sie sind unerläßlich für ein Verständnis unseres Lebens und Körpers. Um dies zu verdeutlichen, werden wir die typischen Fallgeschichten von Menschen betrachten, deren Körper ineffizient geworden ist und nicht länger ausreichend gut arbeitet. Etwas ist schiefgelaufen mit der Art und Weise, in der ihr Körper funktioniert. Sie selbst wissen nicht, warum dies passieren konnte, ihre Ärzte, Psychiater und Psychotherapeuten wissen es auch nicht. Ihre Leiden sind für alle ein Rätsel. Es ist unsere Aufgabe, dieses Rätsel zu lösen, und indem wir das tun, werden wir einige außergewöhnliche Dinge über den Körper des Lebens erfahren.

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I. Die vier Dimensionen des Somas

1. Räumliche Verzerrungen des lebenden Körpers

Somatische Retraktion Als ich Pat M. zum ersten Mal sah, befand er sich in einer verzweifelten Lage. Neun Monate lang hatte er beständig unter Schmerzen gelitten und sein Gesicht zeigte das: die Augen waren verengt, der Mund eine zusammengepreßte, verzerrte Linie und der Kopf war starr nach rechts hinten verkrampft, als zöge ihn jemand. Er bewegte sich nur sehr wenig und langsam; die geringste, unvermutete Bewegung brachte ihn dazu, vor Schmerzen im rechten Nacken und der rechten Schulter zusammenzuzucken. Obwohl er gelegentlich Schmerzen im unteren Rücken gehabt hatte, war er sich nie über andere Probleme in seinem Körper bewußt gewesen bis zum Juli des Vorjahres, als er in seinen Swimming Pool hechtete und dabei bemerkte, daß sich die Muskeln in seinem rechten Nacken plötzlich zusammen- und seinen Kopf unter extremen Schmerzen nach rückwärts zogen. Pat war der Leiter einer großen, sehr erfolgreichen Makleragentur und verfügte über eine Krankenversicherung, die ihm unbegrenzte ärztliche Diagnostik und Behandlung ermöglichte. Zunächst war ihm geraten worden, die Nackenschmerzen durch Ausruhen, Wärmeanwendung und Einnahme von Schmerzmitteln zu behandeln. Er versuchte dies, aber die unwillkürliche Kontraktion der Nackenmuskeln blieb unvermindert bestehen. Daraufhin begann sein Arzt mit einer medikamentösen Behandlung mit Muskel-Relaxanzien, die aber auch nur wenig Veränderung zu bewirken schien, und so wurde entschieden, ihn auf Beruhigungsmittel zu setzen, die ihn seiner Aussage nach benommen machten und es ihm erschwerten, dem Leistungsdruck in seinem Beruf entsprechend gerecht zu werden. Der nächste Schritt war direkter: Der Einsatz von elektrischer Stimulierung und Stimulierung durch Ultraschall mit dem Ziel, die Nackenmuskeln dazu bringen, sich zu entspannen. Aber auch dies 37

erwies sich als vergeblich und ihm wurde geraten, es mit Physiotherapie zu versuchen. Der Therapeut steckte ihn in einen Behandlungsapparat, der am Kopf zog und die Nackenmuskeln gewaltsam streckte. Das Ergebnis dieser Behandlungen war, daß der Nacken noch empfindlicher und der Kopf noch starrer zurückgezogen wurde. Nichts schien zu wirken und so wurde er von der Orthopädie zur Neurologie, dann zur Psychiatrie und zu anderen Fachbereichen verwiesen, bis - wie er mir erzählte - es ihm erschien, als ob er mehr als hundert Ärzte gesehen hätte, die ihm hundert verschiedene klinische Erklärungen gegeben hätten, von denen keine irgendeinen Unterschied ausmachte. So daß der, den ich an jenem Aprilnachmittag kennenlernte, ein sehr erfolgreicher, 38jähriger leitender Angestellter war, der jetzt eine Nackenstütze trug, stark unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln stand und verzweifelte Angst hatte, dauerhaft behindert und gezwungen zu sein, seine Arbeit aufzugeben. Ich forderte ihn auf, seine Nackenstütze abzunehmen und sich mit dem Rücken auf eine gepolsterte Liege zu legen. Ich legte ein kleines Kissen unter seinen Hinterkopf und Nacken, um es ihm bequem zu machen und hob seine Knie an, um ein Polster unter sie zu schieben, damit sie leicht erhöht lägen. Als ich ihn betrachtete, wie er mit im Winkel zurückgezogenem Kopf und erhobenen Schultern auf dem Rücken lag, erinnerte er mich an die Haltung von jemandem, der sich duckt, wie ein Kind, das, wenn es erschreckt ist, den Kopf zurückzieht und zwischen den hochgezogenen Schultern versteckt. Er sagte, daß er sich jetzt wohlfühlte und vorsichtig, um diese bequeme Lage nicht zu stören, fing ich an, seinen Körper sehr behutsam zu bewegen, in dem Bemühen, den Zustand des Muskeltonus in verschiedenen Gelenken festzustellen. Ich sollte erwähnen, daß wenn jemand steht, die allgemeine Anspannung seiner Muskulatur ziemlich hoch ist, daß sie sich aber entspannt, wenn er sich in horizontaler Lage befindet und nicht länger dem Zug der Schwerkraft Widerstand leistet. Zumindest wird sie bis zu einem gewissen Punkt entspannen: Auf dem Rücken liegend wird der Betroffene seine Muskeln nicht länger willkürlich bewegen, aber - und das ist der entscheidende Punkt - falls unwillkürliche Kontraktionen 38

dieser Muskeln vorhanden sind, kann man sie sofort entdecken, indem man die Gliedmaßen des Betroffenen bewegt. Falls trotz Entspannung aller willkürlichen Bewegung Aktivität in den Muskeln vorhanden ist, wissen wir, daß wir Muster unwillkürlicher Muskelkontraktion bei dem Betroffenen entdeckt haben, die sich vollziehen, ob er es möchte oder nicht und ob sie ihm bewußt sind oder nicht. Genau dies konnte ich bei Pat feststellen. Ich hob sein rechtes Bein an, wobei ich sein Knie beugte und begann dann bei senkrecht stehendem Oberschenkel das Bein langsam in einem kleinen Kreis zu bewegen. Da Pat entspannt war, hätte man annehmen müssen, daß das Bein einen geschmeidigen, mühelosen Kreis beschreiben würde. Aber das war nicht der Fall. Sobald ich das Bein bewegte, zuckte es und setzte der Bewegung Widerstand entgegen und wich damit ab von der Kreislinie, die ich zu beschreiben versuchte. Es war, als ob sich ein widerspenstiger Puppenspieler darin befände, der seine eigenen Vorstellungen davon hatte, wie das Bein bewegt werden sollte. Ich ging um den Tisch herum und hob Pats linkes Bein an. Als ich versuchte, mit ihm zu kreisen, trat der gleiche, unwillkürliche Widerstand auf. Dann hob ich seinen rechten Arm und begann eine leichte Bewegung des Schulterblattes. Hier waren das Zucken und der Widerstand viel ausgeprägter, und das Schulterblatt wirkte bleiern und schwer, ich konnte es gerade eben bewegen. Dann ging ich über zum linken Arm. Als ich ihn anhob, zuckte der Ellbogen und bewegte sich unruhig, als ob er die Bewegung bekämpfte. Das Schulterblatt war starr und unbeweglich, wie einzementiert. Vorsichtig berührte ich die rechte Seite des Trapezius-Muskels hinter dem Nacken. Er war zusammengezogen und starr. Diese kurze Bestandsaufnahme machte deutlich, daß - in gewissem Sinne - zwei Personen auf der Liege lagen. Eine war der sich seiner selbst bewußte, sich willkürlich bewegende Pat, der jetzt versuchte, sich vollkommen zu entspannen, die andere ein sich unbewußter, unwillkürlich bewegender Pat, der sich völlig unabhängig verhielt. Die Ursache des Problems war diese unbewußte, unwillkürliche Person. Sie war es, die sich duckte und damit eine beträchtliche Kontraktion des Nackens verursachte, eine geringere des unteren Rückens und eine allgemeine der Schulter- und Hüft39

gelenke. Als ich diese Untersuchung durchführte und dabei auf diese unwillkürlichen Aktivitäten achtete, war Pat überrascht zu erleben, was sein Körper machte. Bis zu dem Moment hatte er keine Ahnung davon, daß ein Großteil seiner Muskulatur seiner willkürlichen Kontrolle entschlüpft war. Ich ließ ihn sich dann auf die Seite legen, mit angezogenen Knien, den Kopf durch ein dickes Kissen gestützt. Ich tastete die längs der Wirbelsäule gelegenen paravertebralen Muskeln ab. Sie waren stark zusammengezogen und fühlten sich hart an, insbesondere in den oberen Regionen, die besonders auf der rechten Seite empfindlich wirkten. Die Wirbelsäule war weder elastisch noch gerade, im Nacken- und Lendenbereich war sie stark gekrümmt und dadurch insgesamt verkürzt. Es war offensichtlich, daß Pat wegen dieser chronischen Muskelanspannung nicht seine normale Größe besaß, wenn er stand. Seine gesamte Gestalt war in sich zusammengezogen, was ihn etwa einen Zoll kleiner machte. Ein Aspekt der Kunst Funktionaler Integration beinhaltet das Aufspüren etwaiger, unwillkürlicher Muskelaktivität, die den Spielraum und die Wirksamkeit von bewußten, willkürlichen Bewegungen begrenzen kann. Einmal aufgefunden, ist es möglich, ein spezifisches Muster in diesen unwillkürlichen Bewegungen auszumachen. Ein solches Muster versuchte ich zu finden, da es ein eindeutiger Beweis des Zustandes des Zentralnervensystems in seinen sensomotorischen Aktivitäten ist. Auf der bewußten Ebene war Pat unfähig, die Kontraktionen in seinem Nacken und in seinem unteren Rücken zu verändern, so daß es keinen Sinn hatte, diese Ebene seiner Funktionen anzusprechen. Aber falls Änderugen auf der unbewußten Ebene sensomotorischer Vorgänge erreicht werden könnten, könnte sich sein Zustand verbessern. So wandte ich mich also seinen sensomotorischen Funktionen zu, einem Bereich, indem Worte keine Wirkung zeigen konnten und in dem die sinnliche Wahrnehmung der Bewegung die einzige, verständliche Sprache ist. Wenn Muskeln unwillkürlich schmerzhaft zusammengezogen sind, ist das Letzte, was man tun sollte, zu versuchen, die Muskeln zu ziehen und dazu zu zwingen, locker zu lassen und sich zu strecken. Sie werden es nicht tun. Wenn man einen Muskel zwingt, sich zu strecken, ist das unmittelbare Ergebnis Schmerz und eine 40

verstärkte, unwillkürliche Kontraktion. Genau das war bei Pat geschehen im Verlaufe seiner vorhergehenden Behandlung und hatte seinen Zustand noch verschlimmert. Statt zu versuchen, die Muskeln längsseits des Rückgrats gewaltsam zu strecken, bewegte ich die Wirbel seitlich, indem ich jeden Wirbel etwa einen Zoll anhob und ihn dann zurückgehen ließ. Pat fühlte Bewegung in seinen ansonsten schmerzhaft unbeweglichen Wirbeln, aber dieses Bewegungsempfinden beinhaltete kein irgendwie geartetes Strecken der paravertebralen Muskeln entlang des Rückgrats. Es war eine angenehme Bewegung und fast sofort stieß Pat unwillkürlich einen Seufzer der Erleichterung aus, der mir bestätigte, daß der Gegenstand meines Bemühens - die unwillkürlichen Muster des sensomotorischen Systems - eine wesentliche Erleichterung erfuhren. Ich hob jeden einzelnen Wirbel vom Becken bis zu den oberen Brustwirbeln an, ließ Pat sich dann auf die andere Seite drehen und wiederholte diesen Vorgang. Danach forderte ich Pat auf, sich auf den Bauch zu legen, den Kopf nach rechts gedreht, in die einzige Richtug, in die er auf dem Bauch liegend bequem sein Gesicht wenden konnte. In dieser Lage konnte ich deutlich die zusammengezogene Krümmung des Lenden- und Nackenbereichs erkennen. Ich versuchte nicht, diese Krümmung zu korrigieren, sondern tat statt dessen das Entgegengesetzte. Ich unterstützte leicht die Krümmung des unteren Rückens, indem ich vorsichtig auf sie drückte. Pat seufzte wieder auf, da der Druck auf das untere Rückgrat und damit die Verstärkung der Krümmung die Wirkung hatte, die Arbeit der paravertebralen Muskeln, die selbst unwillkürlich das untere Rückgrat zusammenzogen, zu entlasten. Sobald ich anfing, diesen Muskeln die Arbeit abzunehmen, zeigte sich automatisch eine merkwürdige Reaktion: Sie fingen an, sich zu entspannen, da sie nicht selbst arbeiten mußten. Die Arbeit wurde für sie getan, so daß ihr Kontraktionsprogramm überflüssig wurde. Jedesmal, wenn ich drückte, wurde ein gewisses Maß an Entspannung erreicht, so daß ich am Ende der Sitzung fühlen konnte, daß die Muskeln im unteren Rücken und Nacken ein wenig nachgiebiger waren. Ihre unwillkürliche Programmierung war untergraben worden. Diese erste Behandlungsstunde mit Pat dauerte ca. 40 Minuten und ich sah ihn erst eine Woche später wieder. Als er wiederkam,

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trug er keine Nackenstütze mehr, hatte aufgehört, Schmerzmittel zu nehmen und erzählte überrascht, daß die Schmerzen zum ersten Mal in neun Monaten nahezu völlig verschwunden waren. Das ist die typische physiologische Reaktion, auf die die Anwendung Funktionaler Integration abzielt und die gewöhnlich auch erreicht wird. Obwohl der akute Schmerz sich völlig aufgelöst hatte, waren Steifheit und Empfindlichkeit immer noch vorhanden und mußten verringert werden. Während der nächsten vier Behandlungen machte ich Pat mit anderen angenehmen Bewegungsmöglichkeiten bekannt, und die Muskelanspannung ging beständig zurück, bis nur noch blieb, was er als „ prickelndes" Gefühl in seinem rechten Nacken beschrieb. Nach der fünften Behandlung war aber selbst das verschwunden. Jedoch nicht endgültig, denn in der folgenden Woche berichtete er, daß er das prickelnde Gefühl ansatzweise wieder gespürt hätte. Es war aufgetreten, während er an seinem Arbeitsplatz war - ein bedeutsamer, festzuhaltender Gesichtspunkt, da er sich zu Hause und während des Wochenendes vollkommen wohlfühlte. Am Ende unserer neunten Stunde war Pat über den Punkt, sich über Schmerzen Sorgen zu machen, hinaus. Statt dessen hatte er einen positiven Lebensabschnitt erreicht, in dem sein Interesse an Sport wiederaufgelebt war, und er spielte Baseball und Tennis und segelte ganz allein ein Boot. Die Umerziehung von Pats sensomotorischem System war ein Erfolg. Er hatte, wie es schien, die Kontrolle über seine Muskulatur wiedererlangt. Es kam jedoch ein Rückschlag, der - obgleich nur momentan äußerst signifikant war. Während des folgenden, vierwöchigen Sommerurlaubs war er körperlich so aktiv und vital wie kaum jemals zuvor in seinem Erwachsenenleben. Aber am Ende der ersten drei Wochen veranlaßte ihn eine Krisensituation zur Rückkehr in sein Büro. Er erzählte mir, daß er wieder ein Ziehen im Nacken gespürt hätte, als er im Auto auf dem Weg in die Stadt über die ihm bevorstehenden Schwierigkeiten in der Agentur nachgedacht hätte, und bis zum nächsten Tag wären die Schmerzen wieder da gewesen. Sie hatten nur 48 Stunden angehalten, und während seiner letzten Urlaubswoche hatte er sich wieder vollkommen in seinem Körper wohlgefühlt. 42

Die Beziehung zwischen Pats aufreibendem, stark angespannten Geschäftsleben und der unwillkürlichen Muskelanspannung war klar ersichtlich. Seine Aufgabe war es nun, zu lernen, während der besorgniserregenderen Momente seines Arbeitstages ruhig zu bleiben, worin er mit Hilfe eines Biofeedback-Trainings gute Fortschritte machte. Eine weitere faszinierende Tatsache stellte sich heraus. Mir war nicht klar gewesen, warum ausgerechnet der rechte hintere Nacken der Bereich war, in dem seine Muskelschmerzen auftraten, aber als ich während einer unserer letzten Stunden einige schwierige Nackenübungen mit ihm durchführte, unterbrach er plötzlich und meinte: Mein Gott, gerade ist mir etwas eingefallen, an das ich schon lange nicht mehr gedacht habe, das ich inzwischen völlig vergessen hatte. Mit vier Jahren hatte ich einen Polioanfall, der sich besonders auf meinen Nacken und diesen rechten Bereich hier konzentrierte. Das letzte Rätsel war gelöst. Wenn jemand bis zum Zustand völliger Erschöpfung unter Streß steht, ist es sein schwächster Punkt, der als erster angegriffen wird. Nicht nur Pats Reaktion auf diese Behandlungen war typisch, sondern auch sein erschöpfter Zustand an sich. Solche Kontrakturen, d.h. dauernde Verkürzungen des Nackens sind „normal" in unserer Gesellschaft, selbst wenn sie zu Zeiten völlig rätselhaft erscheinen. Manchmal ist die unwillkürliche Muskelaktivität so unerklärlich, daß der Betroffene sich wie von einer fremden Macht ,,besessen" fühlt. Ein Mann, mit dem ich gelegentlich zu tun hatte, hatte so starke Kontrakturen im oberen Teil seines Körpers, daß sein Gesicht starr und unbeweglich wurde. Er erzählte mir, daß es sich anfühlte, als ob eine Riesenhand sich seiner bemächtigt hätte und sein Gesicht wie ein Schraubstock zusammen preßte. Eine Frau, mit der ich arbeitete, bekam häufig „Anfälle", bei denen ihr Gesicht taub und ihr Kiefer starr wurde und sie schwere, hämmernde Kopfschmerzen in den Schläfen hatte. In beiden Fällen befreiten wenige Stunden gespannter Aufmerksamkeit für die spezifischen Muster ihrer unwillkürlichen Kontrakturen sie von der „Besessenheit" und gaben ihnen die Kontrolle über ihre Muskeln zurück. Das weniger Rätselhafte an diesen Fällen ist, daß sie mit schweren Retraktionen des Rückgrats verbunden sind, und daß in jedem einzelnen Fall die Betroffenen sehr unter schwerem, langanhal-

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tenden Streß gestanden hatten. In den gerade erwähnten zwei Fällen von „Besessenheit" war eine schwere Familienkrise der Grund. Bei einer Verkürzung des Rückgrats schrumpft der Betroffene zusammen. Seine Statur wird buchstäblich kürzer. Manchmal ist die Schrumpfung größer im Nackenbereich, manchmal auf den unteren Rücken konzentriert. Aber gleich wie es sich im einzelnen ausprägt, ist es ein weitverbreitetes Phänomen in allen urbanisierten Zivilisationen. In Großbritannien und Schweden durchgeführte Untersuchungen lassen erkennen, daß wenigstens die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung an irgendeiner Form von Rückgratschwäche leidet. Die am häufigsten zu beobachtenden Schäden treten im unteren Rücken auf; weniger häufig sind sie in Nackenbereich. Meinen eigenen Erfahrungen mit somatischer Retraktion zufolge ist nur in zwanzig Prozent der Fälle eine größere Kontraktion im Nacken vorzufinden. Gewöhnlich ist der meistbetroffene Teil der Lendenbereich, und zwar so deutlich, daß die als Kreuzschmerzen bezeichneten Beschwerden nahezu gleichbedeutend mit dem Beruf des Geschäftsmannes sind. Bryan H. war dafür ein gutes Beispiel. Er war ein vitaler, sechzig Jahre alter ehemaliger Geschäftsmann, der bei Beginn seines Ruhestandes einen so gewölbten unteren Rücken hatte, daß er sich im Sitzen nicht weit genug vorbeugen konnte, um seine Füße zu erreichen und seine Schuhe anzuziehen - nicht nur aufgrund der Schmerzen im Lendenbereich, sondern auch, weil seine zusammengezogenen Lendenmuskeln ihn daran hinderten, sich weiter zu beugen. Dieser Zustand hatte über zehn Jahre angedauert und war außerdem durch starke Schmerzen im rechten Hüftgelenk kompliziert. Bryans Nacken wies Verspannungen auf, aber das war gering verglichen mit der starken Rückgratverkrümmung nach vorn zwischen seinem ersten Lendenwirbel und dem Becken. Nachdem das Muster von Bryans unwillkürlicher Kontraktur erst einmal deutlich geworden war, setzten sich unsere Stunden folgendermaßen fort: Nach der ersten waren seine Lendenmuskeln entspannt und gestreckter und der Schmerz im rechten Hüftgelenk hatte sich zu einer geringen Empfindlichkeit verringert; nach der zweiten war der Lendenbereich weiter gestreckt und der Schmerz im Hüftgelenk völlig verschwunden; nach der vierten konnte Bryan sich vorbeugen und zum ersten Mal seit fünf Jahren die Füße 44

beriihren; nach der fünften konnte er den Boden abwechselnd mit der einen oder anderen Hand erreichen; nach der sechsten beriihrte er den Boden mit beiden Händen, was er seit zehn Jahren nicht mehr gekonnt hatte, sein unterer Rücken war länger und er verspürte keinen Schmerz und keine Empfindlichkeit irgendwelcher Art mehr, das war unsere letzte gemeinsame Stunde. Später rief er mich noch einmal an und erzählte, daß er die Lieblingsbeschäftigung seiner Jugend, das Wandern, wieder aufgenommen hätte. Jede Woche machte er mit einer Gruppe eine Sieben-Meilen-Wanderung mit Gepäck. Jemand, der nie die Erfahrung mit den Muskelkrämpfen, von denen Kreuzschmerzen normalerweise begleitet sind, gemacht hat, hat keine Vorstellung von der verheerenden Art dieser Schmerzen. Die Krämpfe können friihmorgens auftreten bei einem Mann, der sich über das Waschbecken beugt, um sein Gesicht zu waschen. Sie können vorkommen bei jemandem, der mit schweren Taschen ein Lebensmittelgeschäft verläßt. Typischerweise treten sie auf bei Müttern, deren unterer Rücken über die Belastungsgrenze hinaus beansprucht ist, wenn sie sich vomüberbeugen, um ihr Baby aufzunehnen. Sie passieren Menschen, die ihren Garten jäten. Plötzlich „reißt", ,,erstarrt" oder „schnappt" etwas im unteren Rücken und der Schmerz ist so intensiv und diffus, daß der Betroffene völlig unbeweglich ist und sich einige Tage lang nicht rühren kann. Die Krämpfe sind so überwältigend, daß der Betroffene nicht selten das Bewußtsein verliert und ins Krankenhaus eingewiesen werden muß. Die außergewöhnliche Art der Schmerzen, ob im Nacken oder unteren Rücken, ist so entnervend, daß alle normalen Funktionen ausgelöscht sind. Der Appetit ist vergangen, die sexuellen Fähigkeiten sind ausradiert, es ist kein Raum vorhanden für normale Emotionen oder normales Denken. Nicht nur allein der Rücken leidet unter Krämpfen, das gesamte Wesen des Betroffenen ist krampfartig um einen qualvollen Schmerz herum erstarrt. Offensichtlich ist es nicht einfach nur ein Muskelschmerz, und daher sind Menschen, die nie solche Lendenkrämpfe erfahren haben, unfähig zu verstehen, was sie bedeuten. Es erscheint ihnen, als ob der Betroffene die Schmerzen übertreibt, daß er vorgibt, hilflos und schwach zu sein, statt entschlossen dagegen anzukämpfen. 45

Was sie nicht verstehen, ist, daß der Betroffene nicht nur Schmerz erfahren hat, sondern einen Zusammenbruch der aufrechten Haltung. Die gesamte Wirbelsäule ist aufs Spiel gesetzt, weil die Krümmung des Nackens oder des unteren Rückens so extrem ist, daß das Gewicht des Kopfes oder - weit schlimmer - das des gesamten Rumpfes droht, die Krümmung so weit zu verstärken, daß die Nacken- oder Lendenwirbel schließlich brechen. Was der Betroffene erfährt, ist die bedrohliche Möglichkeit, sich Nacken oder Rücken zu brechen und gelähmt zu werden. Wie schon erwähnt, besitzt die Mehrheit der Erwachsenen in unserer Gesellschaft eine Retraktion des Rückgrats, gewöhnlich im unteren Rücken, und in jedem Fall haben diese Personen eine Lordose im Lendenbereich, verursacht durch die unbewußte und unwillkürliche Kontraktion der Streckmuskeln rechts und links vom Rückgrat. Die von Kreuzschmerzen Betroffenen haben einen Hohlrücken, einige besitzen einen leichten und andere einen auffallenden Buckel. Diese Biegung in der Mitte ihres Körpers bedeutet, daß, falls ein schweres Gewicht auf ihren Kopf gelegt würde, der Druck den Rücken veranlassen würde, sich noch weiter durchzubiegen, bis er buchstäblich brechen würde. Wenn man einen langen Stock nähme und ein größeres Gewicht auf seine Spitze plazierte, würde der Stock das Gewicht so lange leicht verkraften, wie seine Struktur eine gerade Linie bildete. Aber falls man den Stock krümmen sollte und ihn so von seiner strukturellen senkrechten Linie entfernen würde, und dann dasselbe Gewicht auf seine Spitze setzte, würde der Stock sich biegen und brechen. Das ist genau die Bedrohung, die der von Lenden- oder Nackenkrämpfen Betroffene erfährt: eine Bedrohung seines Lebens. Als ich Richard W. zum ersten Mal traf, sah er aus, als ob er im Sterben läge. Der Oberkörper des Sechzigjährigen war fast waagerecht vornübergebeugt und er ging mit langsamen, taumelnden Schritten. Er wirkte mitleiderregend. Seine Augen waren zusammengekniffen, nahezu geschlossen von zehn Jahren unaufhörlicher Schmerzen, seine Stimme heiser und seine Haut zusammengeschrumpft zu Falten und Runzeln. Und noch schlimmer als das, hatte er einen Hauch von Verzweiflung um sich, etwas, das man oft entdeckt, wenn man sich nahe mit leidenden Menschen beschäftigt und dessen sich Krankenschwestern oft in den Krankenzimmern 46

bewußt sind. Die Schmerzen in seinem unteren Rücken waren die letzten zehn Jahre hindurch durch das Auftreten von Ischiasschmerzen kompliziert worden, die sich in das linke Bein ausbreiteten. Auf Anraten eines Orthopäden hatte er sich einer Operation unterzogen, bei der die Kugel des linken Hüftgelenks durch eine Aluminiumkugel als Kopf des Oberschenkelknochens ersetzt worden war. Diese Veränderung in seiner Hüftstruktur änderte nichts am Funktionieren seiner Hüfte oder seines Rückens. Dieselben Schmerzen blieben bestehen und er humpelte in mein Büro als einer letzten Zuflucht. Bei der Untersuchung seines Körpers war ich nicht überrascht, festzustellen, daß sein gesamter Rumpf starr vor unwillkürlicher Muskelkontraktion war. Die Schulterblätter waren zu Unbeweglichkeit erstarrt, weder konnte die Wirbelsäule gebeugt noch die einzelnen Wirbel gedreht werden, die Hüftgelenke - insbesondere das linke - waren nahezu unbeweglich und die Muskeln an den Innenseiten seiner Oberschenkel waren so fest zusammengezogen, daß sich seine Beine nicht mehr als etwa sechs Zoll öffnen konnten. Ich ließ ihn sich auf die Seite legen und fuhr fort, auf seine Wirbel zu drücken und damit angenehme Bewegungen zu machen, ähnlich wie bei Pat M. beschrieben. Das Ergebnis dieser ersten Behandlung war, daß der lschiasschmerz vollständig verschwand. In der nächsten Woche arbeitete ich mit ihm, während er auf dem Bauch lag. Nach zwanzig Minuten mit Bewegungen, die darauf abzielten, die Streckmuskeln an den Seiten seines unteren Rückgrats zu lockern, war Richard in tiefen Schlaf gefallen. Die Entspannung der schmerzenden Muskeln nach Jahren des Leidens wirkte wie eine Wohltat. Die Entspannung bedeutete, daß die unwillkürliche Kontraktion bekämpft war und die Muskeln jetzt unter Richards willkürliche Kontrolle kamen. Womit ich Richard bekanntmachte, war Bewegung - leichte, normale Bewegung seiner Muskeln. Während der folgenden zwei Stunden veranlaßte ich ihn, vorsichtig zu versuchen, seinen Rumpf zu drehen. Zunächst konnte er sich weiter nach rechts als nach links drehen, dann erweiterten sich seine Fähigkeiten und wurden ausgeglichen. Am Ende der vierten Stunde konnte er aufrecht stehen, sein Rückgrat angemessen beugen und bewegen und - das allerbeste - er war frei von Schmerzen im Lendenbereich und das 47

Lahmen war nicht mehr wahrnehmbar. Richard fing wieder an, wie ein menschliches Wesen auszusehen. Seine Haut war nicht mehr lose, seine Augen waren zweimal so weit, seine Stimme hatte einen festen Klang und der verlorene Anhauch der Niederlage war verschwunden. Jetzt, da er das Vertrauen erlangt hatte, die Kontrolle über seinen Körper wiedergewinnen zu können, fragte ich ihn, welches spezielle Ziel er sich für die nächsten Stunden setzen wollte. Er meinte, er sei seit zehn Jahren nicht mehr in der Lage gewesen, ohne Hilfe seine Schuhe anzuziehen, und ob ich das wieder für möglich hielte. Ich sagte, wir würden es herausfinden. Ich arbeitete mit Richard noch fünf weitere Stunden, an deren Ende sein Rücken so geschmeidig war, daß er sich vorbeugen und beide Schuhe anziehen konnte. Eine solche Handlung mag vielleicht lächerlich einfach erscheinen, aber für ihn war sie ein Triumph. Als er beim Abschied aus der Tür ging, glänzten seine Augen, seine Haltung war aufrecht und er hatte ein breites Lächeln auf seinem Gesicht, das mich an Walter Beery erinnerte. Diese Fälle sind nicht so bemerkenswert, weil sie etwas Außergewöhnliches, sondern weil sie normal sind. Es gibt Hunderte ähnlicher Fälle. So normal die Reaktion von Richard, Bryan und Pat ist, so normal erscheint es ihnen auch selbst, ein solches Leiden bekommen zu haben. Es ist die vorhersehbare, erwartete Norm unserer Gesellschaft. Aber wir können nicht die mitleiderregende Tatsache leugnen, daß das „normale" Leben, das viele Menschen führen, ein Leben unbewußter Selbstzerstörung ist. Wenn sie sich dessen bewußt wären, würden sie es sich nicht antun, aber wie es ausieht, haben sie keine andere Wahl. Sie sind die unglücklichen Opfer einer Gesellschaft, in der eine regelmäßige und unerträgliche Belastung durch Streß bewußt als normal akzeptiert wird, während das Zentralnervensystem unbewußt bis zu dem Punkt mißhandelt wird, an dem es die Belastung nicht länger ertragen kann. Dann tritt der Zusammenbruch ein. Der Betroffene wird sich dessen bewußt und ist überrascht, daß sein Körper ihn irgendwie verraten hat. Die gerade beschriebenen Fälle sind Beispiele für somatische Retraktion - Retraktion und Schrumpfen nicht nur einfach des Körpers, sondern der gesamten Person. Was das Opfer bemerkt, ist, daß die Körperstruktur schmerzhaft verzerrt ist. Es ist dieselbe 48

strukturelle Beeinträchtigung, die auch von Ärzten, Psychiatern und Psychotherapeuten festgestellt wird, die versuchen, dieser Situation zu begegnen, indem sie etwas für die Körperstruktur tun. Das ist jedoch absolut sinnlos. Die Verzerrung der körperlichen Struktur ist nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Es ist der Moment, wenn die Desintegration der körperlichen Funktionenso lange und intensiv angedauert hat, daß das Gewebe den fortwährenden funktionalen Streß nicht länger ertragen kann. Somatische Retraktion ist ein funktionales Problem, die sensomotorische Reaktion des Zentralnervensystems. Als solches befindet es sich unterhalb der Ebene von Worten und des normalen Bereichs alltäglichen Bewußtseins. Sie entsteht allmählich und unaufhaltsam, die Muskeln werden immer starrer und die sensorische Bewußtheit wird immer gedämpfter. Die Verkümmerung der propriozeptiven Sinne und der inneren Körperbewußtheit ist eine so feststehende Tatsache in der menschlichen Entwicklung, daß die unbewußt programmierte Zerstörung des Körpers fortschreitet, ohne daß der Inhaber dieses Körpers sich dessen bewußt oder dazu in der Lage ist, es zu verhindern. Was unsere Kultur als normale Konsequenzen des Alterns akzeptiert, sind im Gegenteil die anormalen Konsequenzen unserer Kultur. Haben wir jedoch erst einmal die funktionale Entstehung dieser körperlichen Beeinträchtigung verstanden, erkennen wir, wie sie umgekehrt werden kann. Das Phänomen somatischer Retraktion ist ein sehr spezifisches Problem. Zu seiner Beschreibung habe ich die Worte sichduckenund schrumpfenbenutzt, da die neuromuskulären Funktionen genau dies tun in Reaktion auf unerträglichen Streß. Bei somatischer Retraktion ziehen die Funktionen den Körper nach innen, von der Peripherie zum Zentrum, und machen ihn kleiner. Nicht nur das Rückgrat wird durch die Muskelkontraktion um Lenden- und Nackenwirbel herum verkürzt, sondern auch Arme und Beine, Schulter- und Hüftgelenke ziehen sich zusammen, beugen sich nach innen und verengen die Körperweite. Die gleiche Reaktion des Duckens und Schrumpfens kommt bei allen Lebewesen vor, wenn sie erschreckt oder verwundet sind: Sie ziehen sich in sich selbst zurück, werden kleiner, gespannter und weniger sichtbar, als ob sie zu ihrem eigenen Schutz versuchen, zu verschwinden, indem sie sich vollständig nach innen zum Zentrum ziehen. Bei Vierfüßlern 49

bewirkt dieses Einziehen der vorderen und hinteren Gließmaßen ein Heruntergehen auf den Boden; geringe Größe und Sichtbarkeit bedeuten eine Überlebensgarantie im Angesicht der von dem Tier empfundenen nahen Bedrohung. Sich klein und bewegungslos zu verhalten, ist ein Weg, ,,sich tot zu stellen". Das Lebewesen wird taktisch unsichtbar, indem es sich durch Regungslosigkeit tarnt. Da alle Lebenwesen das Lebendigsein an Bewegung erkennen, wird der Angreifer durch das Fehlen von Bewegung zu dem Eindruck verleitet, es sei kein lebender Körper in der Nähe. Beim zweibeinigen Menschen ist die volle und klassische somatische Retraktion mit dem Krümmen und Anziehen der Gliedmaßen verbunden und dem Beugen des Rückgrats in den zwei Bereichen, in denen keine Rippen vorhanden sind, um das zu verhindern - dem Bereich der Nackenund Lendenwirbel, den am leichtesten zu biegenden Abschnitten des Rückgrats. Was ich soeben beschrieben habe, ist nicht nur eine menschliche Reaktion - in den in diesem Buch benutzten Begriffen ist es eine somatische Reaktion, was bedeutet, daß es die Art und Weise ist, in der alle lebenden Körper reagieren, wenn ihr Wohlergehen und Leben bedroht ist. Somatische Retraktion ist eine funktionale Reaktion auf eine Bedrohung. Wie wir noch sehen werden, nicht die einzige.

Anmerkung:

Die Funktion des aufrechten Stehens (Standing)

Die Schwerkraft ist die Kohäsions-, d.h. die bindende Kraft des Weltalls. Ohne sie hätte es nie ein organisiertes, rationelles, in Kreis(umlauf)bahnen geordnetes Universum gegeben -alles wäre auseinandergefallen. Schwerkraft ist überall vorhanden: selbst in den entlegensten Winkeln unseres immensen Universums regelt und ordnet sie den physikalischen Prozeß und bringt die Dinge in effiziente, runde Umlaufbahnen, in exakte Kreise - sie ist ein überall anzutreffendes Mittel zur Kontrolle der Bewegungsabläufe im Universum. Ohne die Schwerkraft wäre Bewegung dem Zufall überlassen, mit der Schwerkraft formt sie sich zu Kreisen. 50

Es gibt die Gesetze der Schwerkraft, aber die Schwerkraft ist kein Gesetz: Sie ist eine Energie - zudem eine sehr verwirrende. Sie ist eine unsichtbare Energie, die alle Körper miteinander verbindet. Die ,,Anziehungskraft" zwischen zwei oder mehr Körpern wird geschaffen durch diese Körper: Sie ist in den Körpern selbst und sie ist gleichermaßen in dem leeren Raum zwischen ihnen, und sie füllt die Leere des Raums aus mit ihrer verbindenden Anwesenheit. Sie ist dennoch eine immaterielle Energie. Lichtenergie ist nicht immateriell: Sie schnellt durch den Raum in Form von Lichtquanten oder Schwingungswellen, die man beide auffangen und messen kann. Elektromagnetische Energie ist gleichermaßen meßbar - ihre Wellen können von für ihre Wellenlänge empfindlichen Metallen oder Kristallen aufgefangen werden. Auch chemische Energie ist meßbar und darüber hinaus sogar sichtbar durch ein auf Molekülgruppen eingestelltes Elektronenmikroskop. Wärme ist eine weitere meßbare Form von Energie, die wahrnehmbar von einem Atom zum anderen fließt und sie dabei anregt. Schwerkraft bewegt sich weder in Wellen durch die Materie noch ist sie zusammengesetzt aus winzigen Punkten materieähnlicher Photone. Die Schwerkraft ist der Äther des Universums - immateriell, omnipräsent und omnipotent. Sie regiert die Welt und diktiert ihre grundlegenden Regeln. Sie stellt, wenn man so will, die weiteste Annäherung des Universums an das dar, was Theologen vielleicht eine ihm innewohnende Gottheit nennen: nämlich einen einheitlichen, allgegenwärtigen, gesetzgebenden und allmächtigen Gott. Ich denke, daß es nahezu unmöglich ist, sich eine Vorstellung von dem unfaßbaren Wesen der Schwerkraft zu machen, ohne ein quasi theologisches Konzept anzuwenden. Die somatische Sichtweise versucht Leben dadurch zu verstehen, daß sie zunächst die physikalischen Kräfte beschreibt, die den Körper des Lebens geformt haben. Wir wissen, daß die Gesetze des Universums die Gesetze des Lebens sind, daß durch das Verständnis der einen die anderen verständlich werden. Das Leben in Begriffen der drei Gesetze der Wärmelehre zu erfassen bedeutet gleichzeitig, etwas über dem Prozeß zu begreifen, durch den das Leben sich selbst auf immer effizientere Weise organisiert. Weit davon entfernt, das Phänomen des Lebens herabzuwürdigen und seiner Bedeutung zu berauben, führt eine solche Sichtweise zu der Er-

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kenntnis, daß das Leben in seiner Manifestation als SomaVorteileaus

diesenuniversellenGesetzenziehtundsiesichfür seinWachstumzunutze macht.Lebewesen haben eine Synthese höherer Ordnung aus den die Materie bestimmenden Gesetzen der Wärmelehre vollzogen und haben sie in ihren Prozeß eingeschlossen. Diese Bewußtheit kann für uns ebenso eine weitere Frage aufwerfen: Ist es möglich,daß LebewesenVorteilaus der Gravitationsenergie ziehenundsiefür ihreigenesWachstumnutzen?Ist es möglich, daß die Schwerkraft das Phänomen des Lebens nicht nur beherrscht und einschränkt, sondern im Gegenteil sein außergewöhnliches Unterfangen ermöglicht? Von einem rein menschlichen Bezugspunkt aus mag die Schwerkraft negativ erscheinen: Sie macht Dinge schwer, erzeugt Gewicht und Widerstand und wirkt erschöpfend. Aus der Sicht des Zweiges erscheint sie vielleicht als der Feind des Lebens, die wesentliche Beschränkung, gegen die er bei jedem ermüdenden Schritt aufwärts ankämpfen mußte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wie wir wissen, begann das Leben im Wasser, einer Umwelt, deren Tragkraft es dem ersten Soma ermöglichte, den abwärts gerichteten Zug der Schwerkraft aufzuheben und mit ihr zu spielen. Da es im Wasser schwamm, war das erste Soma frei: Es hatte kein Gewicht und konnte sich in jede gewünschte Richtung fortbewegen. Kein Atom ist dazu fähig, keine beliebige Molekularverbindung und kein Planet und auch keine Galaxie. Aber die ersten Somas waren ohne die geringste Schwierigkeit dazu in der Lage. Im Gegensatz zu allen anderen Körpern des Universums war der Körper des Lebens von den ersten Anfängen an niemals von der Schwerkraft niedergedrückt. Er nutzte die gravitationelle Kohäsionskraft der Wassermoleküle zur Aufrechterhaltung seiner dreidimensionalen Gestalt, damit es ihm freigestellt wäre, seine Energie anderweitig zu verausgaben. Nichts in der Evolutionsgeschichte des Lebens hat sich je der Schwerkraft gegenüber anders verhalten als wie zu einer neutralen, unterstützenden Kraft. Das wird unbestreitbar belegt dadurch, daß das Leben nicht im Wasser verblieb. Wenn die Schwerkraft eine Gefahr darstellte, wie konnte sich das Leben dann zu Formen entfalten, die die Tragfähigkeit des Wassers aufgaben und sich auf die feste Oberfläche der Erde begaben? Die Antwort ist naheliegend:

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Das Soma entwickelte eine Möglichkeit, sich an Land genauso tragen zu können wie im Wasser, und zwar, indem es seine eigene Skelettstütze schuf (als Ersatz für die Unterstützung des Wassers) und ein komplexeres neurales System, das das Soma auf der Erdoberfläche um einiges effizienter steuern konnte als im Meer. Dann, an einem bestimmten Punkt ihrer Landexistenz, wurden Somas fähig, zu fliegen - vielleicht anfangs durch ein Gleiten in der Luft wie ein Flughörnchen, das seine Glieder ausbreitet um einen Pelzmantel zu bilden und so quasi auf einem Luftkissen von Baum zu Baum gleitet. Von dem Zeitpunkt an war es nur eine Frage der allmählichen Mutation von Knochen und Gewebe zu leichteren und hohleren Strukturen, bis daß die Schwingen, mit den angemessenen Winkeln zwischen den Knochen und den entsprechenden Muskeln zu ihrer Bewegung, geschlagen werden konnten, und der Vogel konnte sich ebenso wie ein Fisch auf- und abwärts bewegen. Es ist ganz wesentlich, zu verstehen, daß bei der Evolution vom Meer zum Land und zur Luft sich nichts je änderte an der Beziehung des Somas zur Schwerkraft. Von den Anfängen bis heute war und ist das Soma tragfähig und innerlich gewichtslos; anderenfalls wäre es vor Millionen von Jahren auseinandergefallen. So schwer es auch aus unserer „zivilisierten" menschlichen Sicht zu verstehen sein mag, Somas haben kein „Gewicht", in sich selbst und für sich selbst haben sie die Schwerkraft immer als nützlich und unterstützend erkannt, genau wie die anderen Kräfte im Universum. Die Lebewesen könnten natürlich keinen Nutzen aus der Schwerkraft ziehen, wenn sie nicht eine Möglichkeit hätten, sie zu erkennen. Sie müssen über ein Organ verfügen, das fähig ist, die senkrechte Linie der Kraft wahrzunehmen, die beständig strahlenförmig vom Mittelpunkt der Erde ausgeht. Wie wir vielleicht vermuten können, besitzen die verschiedenen Lebewesen ziemlich unterschiedliche Gleichgewichtsorgane, durch die sie sofort feststellen können, wenn ihr Körper aus dem Gleichgewicht gerät. Das Gleichgewichtsorgan bei niederen, wirbellosen Lebewesen hat die Form einer Statozyste, ein rundes Organ, dessen innere Wände mit Sinneszellen besetzt sind. Auf dem Grund dieses Sinnesfeldes befindet sich eine kompakte, schwere kleine Kugel - ein Statolith (wörtlich: ein „stehendes Steinchen"). Wenn sich der Kopf des Lebewesens neigt, entfernt sich das Steinchen vom Grund der

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Statozyste und rollt gegen die Sinneszellen einer Seite, und läßt das Lebewesen so wissen, daß es nicht mehr aufgerichtet ist; wenn die Neigung sich zur anderen Seite bewegt, wird eine andere sensorische Mitteilung an das zentrale Neivensystem weitergegeben. Bei allen Somas entwickelten sich diese Gleichgewichtsorgane in Beziehung zu ihren übrigen Bewegungen. Sobald der Organismus spürt, daß der Statolith sich vom Zentrum entfernt, werden sofort automatisch Gegenbewegungen ausgelöst, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Bei einigen Lebewesen ist nur eine Statozyste vorzufinden, und zwar in der Mitte des Kopfes. Andere besitzen gepaarte Statozysten, die Bewegungen zur rechten und linken Seite anregen. Wenn zufällig eine Statozyste außer Funktion ist, wird das Lebewesen sich mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Seite neigen und sich vielleicht in Kreisen bewegen. Die meisten Lebewesen sind chemisch darauf programmiert, ihre eigenen Statolithen zu bilden. Sie sondern kalkartige Substanzen ab, aus denen diese Gleichgewichtssteinchen bestehen. Andere Lebewesen, besonders die Krustentiere, bilden ihre Statozyste in einer Spalte ihres Panzers, die eine Öffnung nach außen hat. Mit ihren Scheren nehmen sie ein Sandkorn auf und lassen es in die Öffnung fallen - ein sehr einfacher Weg, sich mit einem Gleichgewichtsinstrument zu versorgen. Aber da alle Krustentiere periodisch ihre Panzer verlieren, verlieren sie ebenso periodisch ihr Gleichgewichtsorgan. In Kenntnis dieser·Zusammenhänge führte ein Zoologe namens A. Kreidl ein einfallsreiches Experiment mit Garnelen durch, die gerade ihre Schalen verloren hatten. Er setzte sie in gefiltertes, völlig von Sand und anderen Partikeln freies Meerwasser. Statt mit Sand versorgte er sie mit winzigen Eisenpartikeln, die von den Garnelen umgehend aufgenommen und in ihre sich neu bildende Statozyste eingesetzt wurden. Die Eisenpartikel funktionierten ziemlich gut: Sie reagierten nicht nur auf die Anziehung durch die Schwerkraft, sondern - anders als die Sandpartikel - auch auf magnetische Anziehung. Kreidl hielt nun einen starken Magneten direkt über die Garnelen in dem Wissen, daß der die Statolithen aus ihrer Lage ziehen würde, geradewegs nach oben zum höchsten Punkt ihrer sensorischen Wände. Als die Garnelen diese veränderte Position 54

ihrer Gravitationssteinchen erkannten, ,,wußten" sie, daß sie mit dem Obersten zuunterst gekehrt waren. Und was passierte? Als der Magnet über die Garnelen gehalten wurde, drehten sie sich unverzüglich auf den Rücken und fühlten sich ziemlich im Gleichgewicht undnonnal. Bei den höheren, über Wirbel verfügenden Somas sind die Gleichgewichtsorgane viel verfeinerter und benötigen keine Steinchen. Bei diesen Lebewesen, einschließlich den menschlichen, besteht das Gleichgewichtsorgan aus von einer Flüssigkeit umgebenen Sinnesendungen. Wenn sich die Flüssigkeit während einer Bewegung vor- und zurückverlagert, regt sie verschiedene Sinneszellen an und informiert das Lebewesen so, wie weit es sich vom senkrechten Zentrum fortbewegt hat. Diese Vorrichtungen sind enonn sensible Meßinstrumente, selbst bei den niedrigsten Lebewesen. Die Wegschnecke - am ehesten ein Vertreter der niedrigsten Lebewesen - kann eine Veränderung ihrer senkrechten Balance aufspüren, wenn ihr Körper nur ein Drittel Grad geneigt ist. Wenn wir verstehen, in welcher Weise dieser urzeitliche Gleichgewichtssinn automatisch mit einem Programm körperlicher Bewegung verknüpft ist, können wir erkennen, wie wesentlich die aufrechte Haltung für das Soma ist. Die geringste Abweichung von der senkrechten Stellung- und der gesamte Mechanismus kommt in Bewegung, um das Gleichgewicht des Körpers wiederherzustellen. Und wenn wir uns ·ein zentrales Merkmal des Somas, seine „stabile Instabilität", ins Gedächtnis zurückrufen, verstehen wir sofort, daß die Schwerkraft und die Gleichgewichtsorgane einen deutlichen Hinweis darauf geben, wie sich das Soma stets selbst wieder stabilisiert. Weil Somas immer in Bewegung sind, verlieren sie ständig ihr Gleichgewicht. Sie entwickelten daher Methoden zur Wiederherstellung der senkrechten Balance, und diese Gravitationsprogramme sind Beispiele für die generelle Fähigkeit aller Somas, ihre Funktionen so zu stabilisieren und zu harmonisieren, daß sie höchst effizient sind. Dieses „primitive" Verhältnis zur Schwerkraft ist grundlegend für die körperliche Struktur des Somas und die Art, wie es funktioniert. An dieser aufrechten Funktion des Stehens können wir das Soma erkennen, kaum etwas anderes im Universum ist so unab55

lässig damit befaßt, sich selbst in eine aufrechte Haltung zurückzubringen, ganz gleich, wie oft es das Gleichgewicht verliert. Bestimmte frühe menschliche Reflexe zeigen uns, wie „primitiv" und mächtig die stehende Funktion ist. Der menschliche Säugling, dessen Rückgrat sich bildet, während er sich in der fötalen Lage befindet und der bei der Geburt keinerlei gegen die Schwerkraft gerichtete Reflexe besitzt, beginnt bald, mit dem Anheben des Kopfes zu experimentieren. Es ist immer beeindruckend zu beobachten, wie ein Baby, dessen Bewegungen und Muskeln kaum entwickelt sind, plötzlich seinen großen Kopf aufrichtet, während es auf dem Bauch liegt. Dieses Aufwärtsstrecken des Kopfes ist das Bemühen um eine senkrechte Haltung und das Gleichgewicht des Kopfes gegen die Schwerkraft. In der fötalen Position besitzt das Neugeborene keine Krümmung des Nackens oder unteren Rückgrats, aber sein Streben nach Bewältigung der Schwerkraft aktiviert die Streckmuskeln im Nacken und später die im unteren Rücken. Der Säugling entwickelt im Laufe der Zeit die normale Krümmung des Nacken- und Lendenbereichs, die typisch ist für die stehende Haltung des Erwachsenen. Im Alter von drei oder vier Monaten erforscht der Säugling auf dem Bauch liegend alle Möglichkeiten, seinen gesamten Nacken und Rücken zu krümmen, einschließlich der Art, die Beine vom Boden aufzuheben. Dies sind die ersten Bewegungen des Kindes zum Stehen und Gehen. Ohne die frühe Entwicklung der gegen die Schwerkraftgerichteten Streckmuskeln, würde das Baby weder lernen zu stehen, noch würden sich, wie wir gesehen haben, andere somatische Funktionen entwickeln, einschließlich der Wahrnehmungsdifferenzierungen normaler Intelligenz. Die gleiche Tendenz zum Strecken und Stehen gegen die Schwerkraft tritt bei Vierfüßlern auf, die alle eine tiefe Abneigung dagegen haben, ausgestreckt auf dem Rücken zu liegen. Automatisch versuchen sie sich aufzurichten - genau wie der menschliche Säugling - und auf dem Bauch zu liegen, woraufhin sich die Streckmuskeln in den Beinen und im Rücken zusammenziehen, um den Körper über den Boden zu erheben. „Gerade stehen" ist ein Zeichen für verantwortungsbewußtes Erwachsensein, und natürlich haben wir alle gelernt, aufrecht zu stehen, indem wir die Streckmuskeln anspannen, besonders die im Nacken und Rücken. Es gibt eine optimale Entwicklung dieser 56

gegen die Schwerkraft arbeitenden Streckmuskeln, die Bequemlichkeit und Effizienz beim Stehen gewährleistet. Unglücklicherweise können diese Muskeln unter gewissen Bedingungen zu Kontraktionen veranlaßt werden, die das Rückgrat über den Punkt optimalen Gleichgewichts bringen und so eine Überdehnung des Nackens und/ oder unteren Rückens bewirken. Das Resultat der Überdehnung ist eine extreme Krümmung des Rückgrats im Nacken- und Lendenbereich, die wir als somatische Retraktion beschrieben haben. Dieser Körperzustand steht in direktem Bezug zu intensivem und normalerweise langanhaltendem Streß. Ein verantwortungsbewußter Erwachsener zu sein, bedeutet, „auf eigenen Füßen stehen" oder „seinen Mann zu stehen", beides nur wenig verschleierte Befehle, den Nacken und unteren Rücken zu überstrecken. Der militärische Befehl zum Strammstehen mit angezogenem Kinn, herausgedrückter Brust, zurückgezogenen Schultern und durchgedrückten Knien ist dagegen sehr deutlich. Es ist der Befehl, das Rückgrat durch vorsätzliche Überdehnung zu verzerren. Die allgemeinste Reaktion auf Streß ist, ,,seinen Mann zu stehen", und wir tun das in der gleichen unbewußten, automatischen Weise, wie wir anfänglich in der frühen Kindheit unseren Rücken streckten. Es scheint, als ob wir gar nicht mehr anders auf Streß in unserer Umwelt reagieren könnten als dadurch, noch „gerader" zu stehen (d.h. durch Überdehnung), nachdem wir einmal unseren Platz in der Welt eingenommen haben, indem wir lernten, gerade (d.h. gestreckter) zu stehen. Aber „gerader" als gerade ist nicht im geringsten gerade; sondern besteht in der als Lordose bezeichneten Rückgratverkrümmung, an der die überwiegende Mehrheit der Erwachsenen leidet. Die durch die überflüssige Anstrengung des Überdehnens verursachte somatische Retraktion und Schrumpfung ist die charakteristische Art und Weise, in der angsterfüllte Menschen reagieren. Mit einer Bedrohung konfrontiert, ist die normale menschliche Reaktion ein energisches Zusammenziehen der Streckmuskeln, einer Reaktion, die das innere Gefühl verleiht, unerschrockener und verteidigungsbereiter an dem eingenommenen Platz verwurzelt zu sein. In „primitiven" menschlichen Gemeinschaften wird diese Reaktion wahrscheinlich nur solange anhalten, wie die Bedrohung tatsächlich vorhanden ist - normalerweise nur kurz. In hoch57

entwickelten menschlichen Gemeinschaften bewirken jedoch die anhaltenden Bedrohungen und Herausforderungen des Überlebens jedes einzelnen - ob real oder angenommen - eine andauernde Haltung furchtsamer somatischer Kontraktion. Solch eine Haltung hat letztlich, wenn sie über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten wird, schmerzhafte Krämpfe und allgemeine, arthritische Schmerzen zur Folge. Aber wenn die somatische Kontraktion eine furchtsame Haltung bedeutet, die den Körper über die Linie der senkrechten „Geradheit" zieht, wie haben wir dann ihre entgegengesetzte Form zu verstehen, bei der der stehende Körper seine „Geradheit" verliert, indem er nach vorne gekrümmt zusammenfällt? Wir müssen erkennen, daß es zwei Arten gibt, die optimale aufrechte Körperhaltung zu verlieren. Somatische Retraktion ist eine sehr energische Verzerrung des Körpers, die eine anhaltende, muskuläre Streckung verlangt, ein somatischer Kollaps dagegen ist genau die entgegengesetzte Verzerrung: Es ist ein Verlust an Energie und Muskelanspannung und ein nach-vorne-Klappen in eine gebeugte, fötale Haltung. Somatischer Kollaps ist die Körperhaltung, die bei sehr alten, bei schwachen, hirngeschädigten oder schizophrenen Menschen vorzufinden ist. Es ist die Haltung des Versagens und Fallens. Therapeuten haben beobachtet, daß nicht-paranoid Schizophrene in typischer Weise vornüber zusammengesackt sind und einen furchtsamen Widerstand dagegen entwickeln, den Kopf nach hinten geneigt in einer gestreckten Lage zu halten. Zusammengefaßt besteht die optimale und effiziente aufrechte Körperhaltung aus dem beständigen Balancieren zwischen zu viel und zu wenig Streckung - oder zwischen zu großer Auslieferung an die Schwerkraft und zu großem Widerstand gegen sie. Das optimale Gleichgewicht - das Feldenkrais die optimale Haltung (potent posture) nennt - wird die gleiche Anspannung von Streckund Beugemuskeln zeigen. Ein ausgeglichener senkrechter Stand bedeutet einen ausgeglichenen Grad an Muskelspannung. Von vom gesehen ist das Rückgrat dabei genau senkrecht. Von der Seite betrachtet hat das Rückgrat kompensatorische Krümmungen, die die folgenden Punkte des Körpers in einer perfekten senkrechten Ausrichtung zu halten vermögen: die Öffnung des Ohrs, die Kugel des Oberarmknochens, die Kugel des Trochanters, die Mitte des 58

Knies und die Mitte des Knöchels. Dies ist die optimale aufrechte Haltung, auf die hin sich das Kleinkind entwickelt, von seinen ersten Bemühungen seinen Kopf anzuheben, an. So wie die Wirbelsäule sicherlich ein zentrales strukturelles Merkmal des Körpers ist, ist der Vorgang des Stehens ein zentrales funktionales Merkmal. Noch bevor es menschliche Kultur und Sprache und bevor es Menschen auf diesem Planeten gab, war schon die Funktion des Stehens vorhanden, verkörpert in jedem einzelnen Soma. Zu leben heißt, sich zu bewegen, und das auf ganz bestimmte Weise. Somatische Bewegung ist nicht zufällig, sie hat bestimmte funktionale Konstanten, eine davon ist das Stehen, mit all den entsprechenden neuralen Mechanismen, die das Soma dazu befähigen zu stehen. Alle richtig funktionierenden Somas streben danach zu stehen. Eine senkrechte Stellung und Ausrichtung nach oben sind die eigentlichen Merkmale eines gesunden, effizient agierenden Somas. Weil das Stehen eine allgemeine somatische Funktion ist- und nicht nur eine körperliche Funktion - ist seine Anwesenheit ein Anzeichen für allgemeine Effizienz bei allen Aspekten unseres Verhaltens: Denken, Wahrnehmung, Emotionen, Urteilsfähigkeit usw. Jede Störung dieser allgemeinen Funktion bedeutet zwangsläufig eine allgemeine Störung aller Aspekte unseres Verhaltens. Es gibt z.B. keine psychologische Störung, die nicht von somatischen Beeinträchtigungen begleitet ist. Noch wird die Psychopathologie verschwinden ohne daß die somatische Beeinträchtigung verschwindet. Wilhelm Reich war der erste Psychoanalytiker, der die direkte Beziehung zwischen Neurose und Körper aufgezeigt hat. Er beobachtete, daß bei allen Neurotikern eine Störung ihrer sexuellen Funktionen vorhanden ist. Das ist unbestreitbar richtig, ebenso wie die Tatsache, daß jeder psychologische Zustand, ob gesund oder pathologisch, immer die Reflektion der sensomotorischen Aktivitäten ist, die in dem körperlichen System vorgehen. Und wenn wir eine Störung der stehenden Funktion vorfinden, werden wir sicher auch allgemeine Funktionsstörungen des gesamten menschlichen Systems feststellen. Unterhalb der Ebene der Worte und der Akkulturation, die im Mittelpunkt der Psychotherapie stehen, liegt der subverbale Bereich

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von Bewegung und sinnlicher Wahrnehmung, der die primäre Determinante von Gesundheit und effizientem Funktionieren ist. Alles Leben steht aufrecht gegen den senkrechten Zug der Schwerkraft, die wundersame Kraft, die den Körper des Lebens von seinen allerersten Bewegungen an gelenkt hat.

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Somatische Fixierung Das strukturelle Zentrum des menschlichen Körpers ist die Wirbelsäule, sein funktionales Zentrum das Zentralnervensystem. Strukturell und funktional sind sie identisch. Entlang des gesamten Rückgrats gehen die Bewegungsnerven von der Vorderseite der Wirbelsäule aus, verfächern sich zu den Muskelgeweben und veranlassen sie, sich zusammenzuziehen, wenn elektrochemische Reize durch diese Bewegungsnerven zu den von ihnen kontrollierten Muskeln ausgeschickt werden. Entlang der gesamten Rückseite der Wirbelsäule strecken sich die Sinnesnerven zu genau denselben Muskeln, Sehnen und Gelenken aus, und melden ihre Bewegungen, Beugewinkel, Grad der Kontraktion und andere Informationen zurück an das Zentralnervensystem. So hat die Wirbelsäule, neben ihrer strukturellen Aufgabe, das Gewicht des oberen Körpers zu stützen, die zentralisierte funktionale Aufgabe, die motorischen und sensorischen Reize zwischen den sensomotorischen Zellen in der Peripherie des Körpers und denen im Zentralnervensystem weiterzuleiten. Das Gehirn, das sich wie eine Blüte auf der Spitze der Wirbelsäule entfaltet, spiegelt dieselbe Dominanz der sensomotorischen Funktionen. Am oberen Ende der Großhirnrinde befinden sich die sensomotorischen Nervenstränge, die sich über die gerundete Oberfläche des Gehirns über und zwischen den Ohren ausstrecken. Diese Nervenstränge sind voneinander getrennt, die motorischen liegen im vorderen Bereich des Zentrums, die sensorischen im hinteren Bereich. Vom obersten Punkt des Gehirns entlang des gesamten Rückgrats finden wir den gleichen rationellen Aufbau: Bewegungs- und Sinnesnerven im Zentrum des lebenden Körpers, wobei sich die ersteren immer auf der Vorderseite, die letzteren auf der Rückseite befinden. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß das Gehirn eine geordnete Struktur mit einem vorderen, einem hinteren und zwei seitlichen Teilen besitzt. Wenn wir den Kopf eines Menschen betrachten, sehen wir gleichzeitig, wie das Gehirn strukturiert ist: Um sich vorwärts zu orientieren. Die Sehnerven gehen nach vorne zu den Augen, die Geruchsnerven gerade darunter führen zur Nase und die Hörsinne kommen aus den Schläfenlappen des Gehirns und 61

bilden die Ohren, die auch auf eine Vorwärtsorientierung hin strukturiert sind. Diese drei Sinne sind die Telezeptoren, die sensiblen Nervenendzellen. Sie vermitteln dem Gehirn Informationen darüber, was in einiger Entfernung um den Körper vorgeht. Diese Sinnesorgane sind demgemäß in einer vorwärts gerichteten Stellung fixiert, und sehen so die äußere Welt an. Die Augen haben einen gewissen Bewegungsspielraum, ebenso die Zunge, sie sind aber nichtsdestoweniger fest an den ihnen bestimmten Plätzen an der Vorderseite des Kopfes verwurzelt. Wenngleich diese telezeptiven Sinne permanent in eine Richtung fixiert sind, so hat die uns umgebende Welt einen Umfang von 360 Grad. Wenn wir wissen möchten, was um uns herum vorgeht, haben wir keine andere Möglichkeit, als den Kopf nach rechts oder links zu drehen und das Gesicht in die Richtung zu wenden, in die wir die Telezeptoren richten möchten. Das bedeutet, daß das strukturelle und funktionale Zentrum unseres Körpers - die Wirbelsäule - imstande sein muß, den Kopf in jede beliebige Richtung zu drehen, in die wir uns orientieren müssen. In einfacheren Gesellschaften, gleich ob sie in Wäldern oder offenen Ebenen leben, hängt das Überleben deutlich von der Fähigkeit ab, sich durch die Telezeptoren darüber bewußt zu sein, was auf allen Seiten um einen herum passiert. Die Fähigkeit, sich zu drehen und in jede Richtung zu sehen, ist nicht nur eine Überlebensfunktion von Menschen, sondern aller Lebewesen von den Amöben bis zu den Säugetieren. Nur kreisförmig strukturierte Lebewesen wie Seeanemonen oder Seesterne besitzen ein Gesicht und einen Körper, die fixiert und unbeweglich sind. Ihre Überlebenstechnik ist, wie bei Pflanzen, viel einfacher, da sie es vorziehen, fest an einem Ort zu verhaften. Aus zwingenden, biologisch offensichtlichen Gründen müssen demzufolge Menschen die Fähigkeit besitzen, den Kopf in jede gewünschte Richtung zu drehen. Durch die Wirbelsäule wird diese Überlebensfunktion möglich. Gleich unter dem Schädel und ihn stützend befinden sich sieben Halswirbel auf der Spitze von siebzehn Brust- und Lendenwirbeln, die alle die Möglichkeit zu unabhängiger Bewegung und Drehung besitzen. Zusammengenommen geben diese vierundzwanzig Wirbel dem menschlichen Rumpf und Kopf einen so enormen Spielraum an Drehbewegungen, daß es

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unvorstellbar erscheint, daß diese äußert flexible Struktur jemals ihre Fähigkeit zu drehen verlieren könnte. Doch ist dies möglich, und nicht aus dem Grunde, daß etwas mit der Struktur des Rückgrats nicht mehr stimmt, sondern mit seinen Funktionen, nämlich der Funktionsweise des Zentralnervensystems. Wenn dieses unbegreifliche Ereignis eintritt, ist der Mensch in Gefahr und seine Überlebenschancen sind plötzlich verringert. In einer solchen Situation befand sich der 55jährige Apotheker namens Larry F., der an einem Märzmorgen in mein Büro hinkte. Larrys Rumpf war in einem Winkel von 20 Grad gebeugt und er bewegte sich ähnlich wie eine Ente vorwärts, wobei sich sein Rumpf abwechselnd nach rechts und nach links vorschob. Er erzählte mir, daß die ärztliche Diagnose auf einen verschobenen fünften Lendenwirbel mit Ischias lautete, während er Schmerzen im linken Hüftgelenk spürte. Das rechte Hüftgelenk war ebenfalls extrem empfindlich. Weder normale ärztliche Behandlung noch Besuche bei einem Chiropraktiker hatten das Problem erleichtert. Als Apotheker war er den ganzen Tag auf den Füßen und mußte also in der Lage sein, bequem zu stehen. So wie die Dinge lagen, war er jedoch zu schmerzhaft behindert, um in seinem Beruf weiterzuarbeiten. Ich ließ ihn sich hinlegen, um die Bewegungen seines Körpers untersuchen zu können. Larry war klein und untersetzt und hatte einen gewaltigen Faßthorax. Während er auf seiner rechten Seite lag, drückte ich behutsam die rechte Seite seines Beckens, um zu sehen, wie leicht es sich vorwärts neigen könnte. Es bewegte sich nicht. Ich zog es zurück und auch in dieser Richtung war keine Bewegung vorhanden. Dann wandte ich mich seinen Armen zu, legte meine Hand hinter sein rechtes Schulterblatt und drückte wieder nach vorne. Es verweigerte ebenfalls jede Bewegung. Daraufhin nahm ich seinen Kopf mit beiden Händen um zu sehen, wie weit sich sein Hals drehen konnte. Und wieder war keine Bewegung vorhanden. Ich drückte auf seine Rippen, Knochen, die ziemlich weich und nachgiebig sind, wenn die Zwischenrippenmuskeln entspannt sind. Es war, als wenn ich auf einen Stahlkäfig drückte, seine Rippen waren zu Unbeweglichkeit erstarrt. Larrys gesamter Rumpf, vom Becken bis zum Kopf, war wie ein einziger Zementblock. Es war höchst ungewöhnlich. Ich fühlte mich, als ob ich auf eine leblose 63

Substanz drückte, eine Statue, die wie ein Mensch aussah aber aus Marmor bestand. Ich richtete meine Aufmerksamkeit dann auf seine Beine. Ich hob sein rechtes Bein langsam an und drehte es um wenige Grade. Es folgte der Bewegung, aber nur zuckend und schmerzhaft. Aber wenigstens war dort Bewegung vorhanden. Ich entdeckte, daß auch das linke Bein Bewegung zuließ. Als ich die Untersuchung seiner Bewegungsfunktionen beendet hatte, konnte ich feststellen, daß keine Bewegung vom Becken aufwärts vorhanden war, nur die Beine waren von den Hüftgelenken abwärts beweglich. Das funktionale Bild, das sich so ergab, war dies: über eine bestimmte Anzahl von Jahren hatte Larry seinen Rumpf fortlaufend immer weniger gebraucht und selbst aufgehört, seine Schulterblätter zu bewegen, wenn er seine Hände nach vorne streckte, um Verschreibungen auszufüllen. Aber wie war es möglich, sich überhaupt zu bewegen, wenn der Rumpf ein monolithischer, undifferenzierter Block war? Die Antwort liegt nahe: durch die Bewegung der Hüftgelenke. Wenn Lany die Hände vorstreckte, dann tat er dies, indem er seinen gesamten Rumpf aus den Hüften vorneigte. Wenn er sich nach rechts oder links drehte, dann indem er nur die Hüftgelenke und Knöchel bewegte. Wenn er ging, aktivierte er nur die Hüftgelenke. Zusammengefaßt fiel die ganze Last, den schweren oberen Rumpf zu bewegen, direkt den Hüftgelenken zu, deren Muskeln so überarbeitet waren, daß sie chronische Schmerzen auslösten. Er hatte keinen Ischias. Der Schmerz, den er fühlte, war kein Nervenschmerz, sondern das qualvolle, brennende Gefühl von Muskeln, deren Fasern so lange mißbraucht worden waren, daß die Muskeln äußerst wund wurden, wie bei einem Rekruten, der zu einem SO-Kilometer-Marschmit schwerem Gepäck gezwungen wird. Was konnte unter diesen funktionalen Bedingungen getan werden, um solch eine seltsame Kombination von Unbeweglichkeit des oberen und Mißbrauch des unteren Körpers zu revidieren? Es schien offensichtlich, daß die Hüftgelenke von ihrer ständigen Überarbeitung entlastet werden müßten und der einzige Weg, das zu erreichen, war durch das Wiedererwecken von Bewegung im Rumpf. Strukturell war nichts falsch an den Hüftgelenken, aber funktional stimmte nichts an der gesamten Wirbelsäule: Sie konnte keine Drehbewegungen ausführen. Es schien, als ob Lany über die 64

Jahre vergessen hatte, wie er seine Wirbel drehen konnte - al~ ob er von einer Art somatischer Amnesie befallen war. Muskeln, die sich nicht bewegen, sind Muskeln, die nicht sinnlich wahrgenommen werden. Es muß Bewegung vorhanden sein, damit die Sinnesendungen in Muskeln und Gelenken stimuliert werden. Das besagt, daß Larrys „Amnesie" nicht nur darin bestand, daß er vergessen hatte, wie die Muskeln des Rückgrats und des oberen Rumpfes bewegt werden können, er hatte auch vergessen, wie sich diese Muskeln anfühlten. Seiner sensorischen Bewußtheit über seinen Rumpf mangelte es an jedem Gefühl dafür, daß er siebzehn verschiedene Wirbel oder einzelne Rippen oder vom Brustkorb getrennte Schultern besaß. Seine propriozeptiven Fähigkeiten der Eigenwahrnehmung waren inaktiv. Innerhalb seines Rumpfes fühlte er fast nichts. Was er tatsächlich vorwiegend spürte, waren die ständigen Schmerzen in seinen Hüftgelenken. In objektiven physiologischen Begriffen war Larrys motorisches System weitgehend inaktiv. Aber eine rein objektive physiologische Sichtweise zeichnet ein unvollständiges Bild, zeigt nämlich nicht, daß dieser muskuläre Stillstand einen sensorischen Stillstand impliziert. Larrys Bewußtheit erhielt kein sensorisches Feedback von seinen Muskeln. Vom inneren Gesichtspunkt seines Bewußtseins her besaß er keinen Rumpf mehr. Er hatte nicht nur einfach aufgehört sich zu bewegen, sondern für ihn hatte er aufgehört zu existieren. Demzufolge fing ich während dieser ersten Behandlung an, ihn an die Existenz seines Rumpfes zu „erinnern". Während er auf der Seite lag, tastete ich mich zunächst entlang der Begrenzungen seines Schulterblattes, wobei ich die Muskeln des Schulterblattes, die zu anderen Teilen des Rumpfes ausstrahlen, berührte. Indem ich mich so um die gesamte Kante des Schulterblattes vorarbeitete, bewegte ich leicht Larrys Muskeln und aktivierte dabei die Sinneszellen. Innerlich, aus Larrys Sicht, skizzierte ich so ein neurales Bild seines Schulterblattes, ein Bild, daß er irgendwie vergessen hatte. Auf nonverbale Weise „zeigte" ich ihm sein eigenes Schulterblatt. Durch das Drücken auf die Muskeln und das Hervorbringen neuer sensorischer Information wird ein sehr spezifischer Prozeß in Gang gesetzt. Die sensorische Stimulation jener speziellen Muskeln geht direkt zu dem sensorischen Nervenstrang der Großhirnrinde,

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der neben dem motorischen Neivenstrang liegt. Diese Reizung der Sinnesendungen um das Schulterblatt herum gelangt zu den motorischen Neuronen, die die Muskeln in genau dem Bereich, den ich berührte, kontrollieren. Indem ich ein neurales Bild seines Schulterblattes skizzierte, stimulierte ich gleichzeitig die motorischen Neuronen zu Aktivität. Nachdem das neurale Bild erst einmal für ihn skizziert war, drückte ich auf die mittlere Begrenzung seines Schulterblattes und eine erstaunliche Sache passierte: Es bewegte sich. Nicht viel, aber es bewegte sich. Dann drückte ich in entgegengesetzter Richtung auf das seitliche Ende des Schulterblattes und es bewegte sich etwas zurück. Indem ich mir diese neue Beweglichkeit zunutze machte, drückte ich das untere mittlere Ende des Schulterblattes und bewegte es behutsam aufwärts und nach außen. Aus veränderter Position drückte ich dann das obere seitliche Ende des Knochens und es gelang mir, es abwärts und nach innen zu bewegen. Indem ich dieses Verfahren fortsetzte, bis ich mich um das ganze Schulterblatt herumgearbeitet hatte, war es mir möglich, in alle Richtungen Bewegung in das Schulterblatt zu bringen. Ich ließ ihn sich dann umdrehen und wiederholte diesen Vorgang an seiner linken Schulter mit dem gleichen Ergebnis. Ich lehrteLarry, seine Schultern wieder zu bewegen, indem ich ihn lehrte, daß er zwei Schulterblätter besaß. Die Lektion, die er lernte, war eine rein nonverbale, gerichtet an sein sensomotorisches System. Bevor er seine Schultern bewegenkonnte, mußte er die sensorische Bewußtheit erlangen, daß er Schultern hatte. Am Ende der ersten Behandlung hatte Larry angefangen, seine Schultern zu bewegen. Während der zweiten Stunde gab ich seinen Rippen und seinem unteren Rücken die gleiche Lektion, mit dem Ergebnis, daß sich die Wirbel zu bewegen und zu drehen begannen. Die Bewegungen des Rumpfes waren schwerfällig, aber er bewegte sich - und zwar weil Larry selbst ihn bewegte. Er war dabei, die sensorische Bewußtheit und die Bewegung wiederzugewinnen, die er verloren hatte. Er war sich bewußt geworden, daß er nicht einfach nur einen Rumpf besaß, sondern daß dieser in viele Teile differenziert war - zwei Schulterblätter, zwei Schlüsselbeine und mehr Wirbel, als er je zu besitzen geglaubt hatte. 66

Als er zu seiner dritten Behandlung kam, brachte er gute Neuigkeiten mit: Er stand aufrecht, hinkte kaum mehr und der Schmerz in seinen Hüften war verschwunden. Es wäre eine Untertreibung zu behaupten, er wäre zufrieden gewesen. In der folgenden Stunde arbeiteten wir daran, den Spielraum seiner Rückgratbeweglichkeit zu vergrößern, so daß er sich aus einer nach vorwärts ausgerichteten Position jeweils 80 Grad nach rechts und links drehen konnte, das heißt, er vermochte, seinen Rumpf fast in einen rechten Winkel zum Becken zu drehen, etwas, das noch nicht einmal alle Sportler können. Er verließ mich in gehobener Stimmung und mit großen Erwartungen. In Wirklichkeit mit zu großen. Ich versäumte, ihn davor zu warnen, daß die Ergebnisse Funktionaler Integration oft so sehr wie mühelose Zauberei erscheinen, daß meine Schüler sich häufig vor verfrühten Ambitionen nach sportlichen Höchstleistungen hüten müssen. Als er zur vierten Behandlung kam, hinkte er wieder und das linke Hüftgelenk tat ihm weh. Ich fragte ihn, was passiert sei. Kleinlaut gestand er, daß er das Ende seiner Hüftgelenksschmerzen - ausgerechnet - mit einer Runde Golf mit Freunden gefeiert hätte. Er hatte mit seinem Schläger einen mächtigen Schwung nach dem Ball genommen und dabei seinen gerade wieder erwachten Rumpf eine volle Drehung ausführen lassen, als er den Schläger durchschwang. Aber weder sein Rumpf noch sein Hüftgelenk waren schon auf solchen Enthusiasmus vorbereitet und seine Sinneszellen ließen ihn deutlich wissen, daß er einen Fehler gemacht hatte. Das Hüftgelenk war jedoch nicht schmerzhaft- nur empfindlich, und die Empfindlichkeit war nach achtundvierzig Stunden wieder vorbei. Nach zwei weiteren Lektionen, am Ende der sechsten Stunde, fühlte Larry sich wohl und beweglich, wieder vollständig in der Lage, Golf zu spielen. Nicht nur der Schmerz und die Unbeweglichkeit waren verschwunden, sondern er fühlte sich nach seiner Aussage in Stimmung und Beweglichkeit wie mit dreißig, als ob fünfundzwanzig Jahre ausgelöscht wären. Von einem medizinischen Standpunkt aus konnte Larry nicht geholfen werden, war er ein „unheilbar Kranker". Und die Tatsache, daß er in sechs Behandlungsstunden von einem behinderten zu einem halb athletischen Zustand gebracht werden konnte, muß ein Quell des Verwunderns für jeden sein, der nicht mit Funktionaler 67

Integration vertraut ist. Aber sobald solche Vorgänge wieder und wieder beobachtet werden, verblaßt die Verwunderung und eine andere Frage zu einer weiteren überraschenden Tatsache wirft sich auf. Larrys gesamtes Rückgrat war zu Unbeweglichkeit erstarrt gewesen, nicht in der Lage, sich zu drehen: Wie ist es einem Menschen möglich, zu „vergessen, wie man sich drehen kann#? In unserer Erörterung somatischer Retraktion wurde aufgezeigt, daß ein lebender Körper nach innen, von der Peripherie zum Zentrum schrumpft, wenn er dazu gezwungen ist, unter Bedingungen von Bedrohung, Angst oder starken Anforderungen zu funktionieren, das heißt, unter Bedingungen von intensivem oder anhaltendem Streß. Die äußere Ursache für den Streß ist der effektive Anlaß für die funktionale Reaktion - die körperliche Retraktion. In Larrys Fall bestand die auftretende somatische Beeinträchtigung nicht in einer Retraktion des Rückgrats, sondern eher in seiner Fixierung. Es war kein signifikantes Auftreten von Kontraktion in den Streckmuskeln der Nacken- und Lendenwirbel vorhanden. Das Erstarren des Rückgrats in eine Richtung, ständig nach vorwärts ausgerichtet, ist ein deutlich davon verschiedenes Ereignis, das mit der Bewegung des Körpers in einer anderen Ebene zu tun hat. Im Falle einer Retraktion ist die senkrechte Ebene der Gestalt des Menschen reduziert und nach unten verkürzt. Bei einer Fixierung ist die waagerechte Bewegungsebene des Menschen um das senkrechte Rückgrat herum reduziert und seitlich in seiner Drehung begrenzt. Ich habe entdeckt, daß wenn funktionale Verzerrungen auf verschiedenen Ebenen auftreten, dieses verschiedene Antworten auf unterschiedliche Situationen sind. Obwohl ich häufig mit Menschen arbeite, deren Körper sowohl somatische Retraktion als auch somatische Fixierung zeigt, sind diese zwei Zustände grundsätzlich voneinander verschieden. Falls Larry mich gefragt hätte, warum es passieren konnte, daß er irgendwie in einer bestimmten Haltung festgefahren war, unfähig, sein Rückgrat zu drehen, hätte ich ihn vielleicht aufgefordert, seine jetzigen, alltäglichen Bewegungen, Gewohnheiten und Gedanken mit denen von vor fünfundzwanzig Jahren, als er dreißig war, zu vergleichen. Ich hätte ihn aufgefordert, die Vielfalt seiner damaligen Aktivitäten mit der Anzahl seiner derzeitigen zu vergleichen. Ich hätte ihn gefragt, ob er glaubt, daß sein Leben während 68

der vergangenen fünfundzwanzig Jahre an größerer Vielseitigkeit und neueren Richtungen gewonnen hätte oder ob es enger und immer spezialisierter geworden wäre. Ich hätte ihn gefragt, ob seine jetzigen Ambitionen und Anfechtungen, seine Hoffnungen und Ängste in etwa so komplex und zahlreich wären wie im Alter von dreißig. Eine der Mythen vom Altern beinhaltet, daß wir nicht mehr alles das tun können, was wir vorher tun konnten. Aber die eigentliche Begleiterscheinung des Alterns ist, daß wir aufhören, all die Dinge zu tun, die wir einst taten. So wie unsere Suche nach einer Aufgabe sich in einem festen „Job" etabliert, unsere Suche nach einem Partner sich in der Ehe ansiedelt, wie sich unsere vielen Erwartungen in einer endlichen Anzahl von Erfüllungen manifestieren, sich unsere Ambitionen in beständigen Sicherheiten wiederfinden lassen und sich unser weiter potentieller Bewegungsspielraum auf ein enges Band gewohnheitsmäßiger Bewegungen reduziert, werden wir uns unvermeidlich dabei ertappen, in weniger Richtungen zu sehen und uns in engeren Bahnen zu bewegen. So wie unsere Lebensmöglichkeiten durchgesichtet, abgelegt und schließlich zu einer täglichen Routine von Gegebenheiten redigiert werden, werden unsere Lebensfunktionen begrenzt und spezialisiert. Larrys Leben war, genau wie das vieler Erwachsener, invariabel. Das akzeptierte, persönliche Ziel des „Erwachsenseins" ist, wie es scheint, sich niederzulassen und sich Sicherheit zu verschaffen, ein festes Lebensmuster zu entwickeln, das es uns erlaubt, der Unsicherheit der Freiheit und der .Ungewißheit neuer Ambitionen zu entkommen. In dem Maße, wie der individuelle Mensch zu dem allgemein akzeptierten Glauben verführt wird, daß persönliche Erfüllung in einer etablierten, sicheren, fest umschriebenen Lebensweise besteht, in genau dem Maße passen sich die Funktionen des eigenen lebenden Körpers an, werden einfacher, unkomplizierter und rigider. Larry hatte aufgehört, sich umzusehen. Er fühlte nicht mehr, daß es für ihn nötig war, sich umzusehen. Alles in allem, was ist Leben anderes, als aufzuhören, sich umzusehen und sich niederzulassen? Genau so funktionierte Larry. Sein Alltag war immer weniger abwechslungsreich und immer spezialisierter geworden. Auf die gleiche Weise, wie vierundzwanzig Wirbel nicht mehr wahrgenommen

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und bewegt worden und daher gewissermaßen zu einem einzigen, undifferenzierten Block zusammengeschmolzen waren, waren Larrys Bewußtheit und Handlungsspielraum zu einem in eine einzige Richtung gebrachten Leben reduziert worden. Und aus demselben Grund wurde Larry ambitionierter und abenteuerlustiger, sobald die Auswirkungen seiner gedankenlosen, nicht hinterfragten Akkulturation durch meine „Lektionen" auf der nonverbalen und daher subkulturellen Ebene seines sensomotorischen Erwachens untergraben worden waren. Er verfügte jetzt über mehr Möglichkeiten und er konnte sich weiter umsehen und Neues anstreben. Ich möchte damit andeuten, daß lebende Menschen, wenn man sie somatisch in Begriffen ihrer lebendigen Bewegungsfunktionen versteht, sich selbst „psychologisch'' in genau dem Maße zu erkennen geben, wie sie dies „physiologisch" tun. ,,Psyche" und „Körper" werden gleichzeitig von demselben lebenden Individuum, dem lebenden, menschlichen Soma bloßgelegt. Und das somatische Repertoire dieses Individuums kann wachsen und reicher werden, oder es kann sich vermindern und ärmer werden. Bei Matthäus gibt es dazu ein Gleichnis, das mit folgenden Sätzen endet: ,,Denn jedem, der hat, wird gegeben werden, und er wird Überfluß haben. Wer aber nicht hat, dem wird auch das, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft hinaus in die Finsternis draußen; da wird Heulen und Zähneknirschen sein." Und da wird auch keine Beweglichkeit der Wirbelsäule sein. Obgleich sie auch bei Frauen vorkommt, ist somatische Fixierung ein typisch männliches Phänomen. Es ist ein psycho-physiologischer Zustand, der in unmittelbarem Zusammenhang steht mit einem Mann, der sicher, zuverlässig und vollständig einer einzigen Rolle verschrieben ist. Im allgemeinen ist das persönliche Leben eines solchen Mannes nicht von seinem fachlichen, beruflichen zu unterscheiden. Er hat seine Lebensverhältnisse vollkommen an diese Rolle angepaßt, mit minimaler Störung durch persönliche Ungereimtheiten oder Unvorhersehbarkeiten. In gewisser Hinsicht ist es von Vorteil, somatisch fixiert zu sein, immer entschlossen in eine Richtung zu sehen: Der sich konsequent verhaltende Mann ist ein verläßlicher Mann. Man kann sich darauf verlassen, daß er weiterhin die gleichen Dinge tun wird und in der gleichen Richtung. Man 70

kann vermuten, daß Bankdirektoren so einen Mann für den idealen Bankangestellten halten. In der amerikanischen Kultur findet man somatische Fixierung häufiger in kleinen Städten und ländlichen Gemeinden, in denen feste und beständige Rollen ermutigt und belohnt werden. Daher haben Menschen, die somatisch fixiert sind, etwas „Altmodisches" an sich. Es ist eine Form rigiden Rollenspiels, die eher typisch für traditionell ausgerichtete, urbane Gesellschaften ist, ob europäisch oder asiatisch. In Europa z.B. ist es eine Form von somatischem Verhalten, das mehr von teutonischen als lateinischen Kulturen gefördert wird. Man begegnet sichtlich mehr „steifen" Leuten - mit steifem Rücken und Nacken - in diesen Kulturen. Besonders auffällig ist dieses Phänomen in Verbindung mit Königtum und Aristokratie. Der französische, italienische oder spanische Aristokrat, dazu geboren und ausgebildet, sich stolz mit seiner ererbten Rolle zu identifizieren, wird zu somatischer Fixierung erzogen und besitzt eine Haltung, die im scharfen Gegensatz zu der der weniger steifen Bürgerlichen derselben Kultur steht. Dort unter der Aristokratie findet man Frauen, die, was somatische Fixierung anbebifft, in der gleichen Lage wie die Männer sind. Die steife, geradeausgerichtete, ,,königliche" Haltung einer 60jährigen aristokratischen Französin, die das Oberhaupt ihrer Familie ist, hält jeden Vergleich mit der eines preußischen Junkers stand. Wenn ich mit Leuten arbeite, deren Rückgrat unbeweglich ist und nicht gedreht werden kann, fällt mir immer wieder auf, daß sie sich dieser Starrheit nicht bewußt sind. Wie bei allen Fällen somatischer Verzerrung, hat sich die sensomotorische Atrophie ohne ihr Wissen entwickelt. Einmal forderte ich einen SOjährigen Bankier auf, sein Becken nach links zu drehen. Ich beobachtete ihn und wartete auf seine Bewegung und wiederholte meine Aufforderung, da ich dachte, er hätte mich nicht verstanden. Er meinte: ,,Habe ich gerade getan." So sagte ich ihm:,, Versuchen Sie, Ihr Becken nach rechts zu drehen." Ich wartete, aber da war nicht die geringste Bewegung. Auf die Frage, ob er sich bewegt hätte, meinte er „Ja". In seiner eigenen Bewußtheit glaubte er, er hätte sich bewegt, weil er das beabsichtigt hatte, aber wenn die sensomotorischen Funktionen verkümmert sind, zählen Absichten nichts: Die Person ist effektiv gelähmt. 71

In der Orthopädie begegnen Ärzte manchmal einer ungewöhnlichen Krankheit, die ankylosierende Spondylitis - Wirbelsäulenversteifung - genannt wird, wobei sich „Spondylitis" auf eine schmerzhafte, rheumatische Arthritis des Rückgrats und „Ankylose" auf die all.mähliche Verwachsung des Rückgrats zu einer festen Knochenmasse bezieht. Es ist eine beängstigende und zugleich unerklärliche Krankheit, niemand hat bisher eine Ursache dafür gefunden. Die Krankheit tritt einfach auf, vielleicht durch genetische Veranlagung. Das Leiden beginnt in den Gelenken des Kreuzund Darmbeins im hinteren Becken und bewegt sich allmählich das Rückgrat hinauf, wobei es Schmerzen verursacht. Der Betroffene kann das Rückgrat immer noch beugen und strecken, aber es ist ihm nahezu unmöglich, es zu drehen. Mit fortschreitender Unbeweglichkeit des Rückgrats tritt eine Zerstörung von Knorpel und Knochen auf und die Ankylose beginnt - das heißt, die Wirbel fangen an, zu verwachsen und dabei die Wirbelsäule völlig versteifen zu lassen. Schließlich baut sich eine Verkalkung auf, bis daß die gesamte Wirbelsäule von einer Kalkhülle umgeben und das Rückgrat vollkommen unbeweglich ist. Die Krankheit ist nicht tödlich. Der Betroffene kann damit leben und ist in der Lage, zu gehen und begrenzte Bewegungen auszuführen. Aus somatischer Sicht sind alle Krankheiten ohne irgendeine bekannte Ursache faszinierend, da sie Faktoren aufzeigen, über die physiologische Medizin fast nichts weiß. Der vielleicht interessanteste Aspekt der Wirbelsäulenversteifung ist, daß die Opfer in 90 Prozent der Fälle Männer im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren sind - eine Häufigkeit, die stark vermuten läßt, daß die Unnachgiebigkeit und Nicht-Umkehrbarkeit somatischer Fixierung, als Ergebnis genetischer und / oder kultureller Faktoren, funktional mit der männlichen Rolle identifiziert werden kann. Wenn das der Fall sein sollte, zeigt es uns, daß das alte und traditionelle Ideal des resoluten, unumstößlichen, absolut verläßlichen männlichen Erwachsenen ein Ideal ist, daß nur durch einen beständigen Verschleiß an Bewußtheit und Bewegungsmöglichkeiten erreicht werden kann. Somatische Amnesie ist die Vorbedingung für somatische Fixierung. Daraus ergeben sich zwei Formen somatischer räumlicher Verzerrung: (1) somatische Retraktion, das heißt eine Einschränkung

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der senkrechten Linie, in welcher wir Menschen stehen; und (2) somatische Fixierung, das heißt eine frontale Starrheit. Diese zwei Verzerrungen des räumlichen Charakters des lebenden Körpers sind voneinander verschieden sowohl durch die Art, wie sie entstehen, als auch dadurch, wie sie sich schließlich manifestieren.

Anmerkung:

Die Funktion der Vorwärts-Orientierung (Fadng)

Einige der Charakteristika des Lebens sind so alltäglich, daß wir dazu neigen, sie zu übersehen. Das ist das Merkmal für ein primordiales Charakteristikum: Es ist etwas so Universelles, daß es gerade unterhalb der Schwelle unseres Bewußtseins liegt. Die Tatsache, daß alle Somas aufrecht stehen, im Gleichgewicht mit der Schwerkraft, ist ein solches Charakteristikum. Ein anderer gemeinsamer und universeller Charakterzug verschiedener Somas ist ihr Gesicht. Da Somas Strukturen sind, die funktionieren,wäre es vielleicht korrekter, zu sagen, daß die Funktionder Vorwärts-Orientierung ein grundlegendes Charakteristikum desLebensist. Es erschiene merkwürdig, würde uns auffallen, daß Lebewesen ein Gesicht haben, ohne zu realisieren, daß der Teil des Körpers, den wir Gesicht nennen, dazu bestimmt ist, die Welt anzusehen. Die Funktion der Vorwärts-Orientierung ist bedeutender als das Gesicht selbst, wenn wir einem der einfachsten Lebewesen, der Amöbe, glauben wollen. Amöben haben keine noch so geringe feste Struktur. Es gibt eine Membran, die das Protoplasma umschließt, aber kein Gesicht, keine Vorder- noch Rückseite. Aber trotzdem ist die Amöbe vorwärts auf die Welt orientiert. Wenn sie etwas will, bewegt sie sich darauf zu, indem sie kleine Hände und Finger, die Pseudopodien, ausstreckt und festsetzt. Sobald dieser vorgeschobene Halt gesichert ist, läßt die Amöbe ihr stoffliches Selbst vorwärts in den von ihr geschaffenen, neuen Raum fließen. Sie könnte sich ebensogut in irgendeine andere Richtung bewegt haben, denn sie ist nicht mit einer Körperstruktur belastet, die eine Vorder- und eine Rückseite hat - einen Kopf und einen Schwanz. Aber sie kommt ohne eine somatische Struktur zurecht, solange sie nur die soma73

tische Funktion besitzt. Sie bewegt sich vor in die Welt genau wie jedes andere Lebewesen. Es ist das Wesen des Somas, ,,auf die Welt zuzugehen", und das aus einem einfachen Grunde: Ein Soma ist immer in Bewegung. Wenn ein Soma sich bewegt, sieht es die Welt an und bewegt sich in sie vor- oder, wenn es auf Schwierigkeiten stößt, weicht es vielleicht vor ihr zurück und flieht. Bei einem so einfachen Wesen wie der Amöbe ist die Entscheidung über die Ausformung eines Kopfes und eines Schwanzes noch nicht getroffen. Die Funktion ist vorhanden, aber die Struktur fehlt noch. Nicht nur der Amöbe fehlen Kopf und Schwanz. Die gesamte Pflanzenwelt versucht, dies zu vermeiden, ebenso wie bestimmte runde oder strahlenförmige Lebewesen, wie Schwämme, Quallen und Seesterne. Selbst in ihrer eigenen Artenfamilie, den Protozoen, die mehr als ein Viertelmillion Spezies zählt, sind Amöben eine Ausnahme von der Regel, daß Somas eine Kopf-Schwanz-Struktur haben. Die anderen Gruppen einzelliger Lebewesen tendieren dazu, eine elementare Kopfstruktur zu zeigen, die die Bewegung leitet, und eine Schwanzstruktur, die nachfolgt. Es ist die Bewegung, die die Kopf-Schwanz-Struktur schafft. Es ist die Funktion, die die Struktur vorschreibt. Biologen sind mit diesem Wesenszug des Lebens vertraut. Wenn sie eine spezifische Körperstruktur sehen, fragen sie als erstes: Was ist ihre Funktion? Wofür ist das gemacht? Jede existierende Körperstruktur hat sich entwickelt und überlebt, weil sie der allgemeinen Funktion dient, dem Lebewesen zum Leben und zur Verbreitung seiner Nachkommenschaft zu verhelfen. So sollte unsere eigene erste Reaktion sein, wenn wir irgendein allgemeines anatomisches Merkmal beobachten: Was ist seine Funktion? Wenn wir unter Somas eine universale Tendenz zur Ausformung von Köpfen und Schwänzen sehen, dann wissen wir, daß dies eine überall anzutreffende und primordiale somatische Funktion anzeigt: die Vorwärtsbewegung. Andererseits wissen wir, wenn wir einfache Somas, wie Pflanzen, Schwämme und Seesterne beobachten, daß eine Vorwärtsbewegung für sie von geringem Belang ist. Sie sind eher mit einer Stelle verwachsen oder sie treiben wohl oder übel mit den Wasserströmungen. 74

Pflanzen benötigen keine unabhängige Bewegung zum Überleben; sie kommen sehr gut ohne sie zurecht. Eher als sich herumzubewegen und nach Nahrung zu suchen, stellen sich Pflanzen selbst in der Mitte eines adäquaten Nahrungsbereichs auf. Zu sagen, daß sie „sich selbst aufstellen", soll andeuten, daß Pflanzen, wie alle anderen Somas, die primordiale Funktion besitzen, aufrecht zu stehen, im Gleichgewicht mit der Schwerkraft: Sie strecken ihre Wurzeln abwärts und ihren Körper aufwärts. Die Fähigkeit, sich vorwärts zu bewegen, fehlt den Pflanzen nicht völlig; Pflanzen benötigen Sonne und Kohlendioxyd, und sie strecken sich diesen Notwendigkeiten entgegen. Z.B. macht Wein geniale Verrenkungen, um zu einem Lichtfleck aufzuklettem. Blätter und Blüten öffnen und schließen sich nicht nur mit dem Licht, sondern drehen sich und folgen dem Licht mit ihren „Gesichtern", wenn die Sonne sich von Osten nach Westen bewegt. Charles Darwin fand u.a. großes Vergnügen darin, den Biologen zu zeigen, daß die Trennungslinie zwischen Pflanzen und Tieren nicht sehr scharf ist. Schwämme veranschaulichen diese Mehrdeutigkeit. Bis vor zweihundert Jahren waren sich die Biologen sicher, daß Schwämme zu den Pflanzen gehören. Schließlich verwurzelten sie sich selbst zu feststehenden Objekten und sahen aus wie Pflanzen. Aber 1766 entdeckte John Ellis, daß Schwämme aktiv Wasserströme aus ihren Poren ausstoßen. Später wurde herausgefunden, daß es Schwämmen an einem für alle Pflanzen natürlichen Bestandteil fehlte, der Zellulose. Außerdem wurde sowohl ein rudimentäres Muskel- als auch ein rudimentäres Nervensystem vorgefunden. Daher sind Schwämme Tiere, aber so seltsame und pflanzenähnliche, daß sie als Parazoen klassifiziert werden - weder als vielzelliges Tier noch als Kolonie einzelliger Protozoen, sondern als ein merkwürdiges Mittelding. Darwin sah, daß die gleichen Funktionen bei Pflanzen vorhanden sind, wenngleich anders ausgeprägt. Im Gegensatz zur Annahme der Biologen wies er mit Genugtuung in den Gewächshäusern seines Besitzes in Down nach, daß Pflanzen wie die Venusfliegenfalle ein Magensystem zur Verdauung ihres Fangs besitzen! Somas bewegen sich entweder auf etwas zu oder von etwas weg, und die Körper von tierischen Somas spiegeln diese Bewegungsausrichtung wieder. Sie verlängernsich.Wenn ein Soma festverwurzelt 75

ist, ist seine effizienteste Form kreisförmig, aber wenn es sich bewegt, wird seine Form stromlinienförmig. Diese Stromlinienform bedeutet nicht nur eine Veränderung der äußeren Gestalt, sondern auch ebenso seiner inneren. Bestimmte Organe rücken zur„ Vorderseite" und liegen balanciert um eine zentrale Linie herum, den langen neuralen Strang, der sich später zum Rückenmark entwickelt. Die bevorzugte Gestalt aller entwickelten Somas ist ein langgestreckter Körper. Es hat einen Kopf am vorderen Ende, der den Sinnesapparat beherbergt, und dieser führt zurück durch das neurale Band zum Schwanz. Diese Gestalt paßt zu seiner Funktion, vorwärts zu gehen. Um zu einem Verständnis des Lebens zu gelangen, ist es entscheidend zu begreifen, daß das Leben selbst auf einfacher Stufe die Tendenz besitzt, sich vonoärts zu bewegen.Sowohl die elementare Struktur als auch die Funktion des Körpers des Lebens bezeugen beide die Tatsache, daß die Bewegung des Lebens weder relativ noch indifferent ist: Leben zielt darauf ab, sich vorwärts zu bewegen. Alle Somas bewegen sich vorwärts auf etwaszu. Daraus können wir schließen, daß Lebewesen selbst auf elementarster Stufe eine Art von Leitsystem besitzen. Daher befinden sich die Sinnesorgane im Kopf des gestreckten Körpers des Somas und sind im Gesicht freigelegt: Das Soma muß wahrnehmen, wohin es geht, um seinen Kurs korrigieren zu können. Daher ist etwas so Winziges und Einfaches wie ein einzelliges Paramaecium ein klassisches, sich selbst lenkendes kybernetisches System. Es gibt noch eine bemerkenswertere Konsequenz der Tendenz des Somas, sich vorwärts zu bewegen: Es besitzt ein sensomotorisches System. Selbst wenn vielleicht keine Nervenzellen vorhanden sind, ist die Sinnesfunktion in Kraft. Wenn auch vielleicht keine Muskelfasern vorhanden sind, ist die motorische Funktion der Kontraktion in Kraft. Es scheint, daß alle somatischen Funktionen somatischer Struktur vorausgehen. Bestimmte physikalische Gesetze, die mit der Synthese höherer Ordnung des Somas verbunden waren, bestimmen die Art der strukturellen Möglichkeiten, die sich entwickeln werden. Die gleiche generelle somatische Funktion kann tausendfach verschieden strukturellen Ausdruck finden. Eine Schlange, ein Vogel, ein Frosch und ein Affe sind alle dazu bestimmt, sich vorwärts zu bewegen, ihre Körperstruktur jedoch, ihr 76

Skelett, ihre Gelenke, Muskulatur, die Lage ihrer Sinnesorgane und der Aufbau ihres Zentralnervensystems sind ziemlich voneinander verschieden. Lassen Sie mich betonen, wie verblüffend es ist, daß alle diese entscheidenden somatischen Merkmale - Gestrecktheit, KopfSchwanz-Struktur, Intentionalität und ein sensomotorisches Leitsystem - aus einer einzigen primordialen Funktion entstammen, der Orientierung und Bewegung vorwärts. Dies ist um so erstaunlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß diese Funktion dem Soma von dem physikalischen Universum aufgezwungen ist. Jeder Körper in der physikalischen Welt muß drei räumliche Dimensionen besitzen: Länge, Tiefe und Weite. Die erste, dem Soma aufgezwungene räumliche Dimension habe ich bereits beschrieben: das aufstrebende Strecken von Gliedern und Körper gegen die Schwerkraft. Dies schuf die Funktion des aufrechten Stehens. Die zweite räumliche Dimension ist die der Tiefe, welche die erste von zwei horizontalen Ebenen bildet. Diese zweite räumliche Dimension garantiert, daß Somas eine mit Kopf und Schwanz versehene Körperstruktur bekommen. Dies ist eine äußerst nützliche Struktur, nicht nur weil sie stromlinienförmig, sondern auch, wie ein Pfeil, aufetwasausgerichtet ist - sie ist bereits in eine bestimmte Richtung aktiviert. Von einem rein strukturellen Gesichtspunkt bräuchte das Soma genausowenig auf etwas ausgerichtet wie rund oder rechteckig zu sein. Aber von einem funktionalen Gesichtspunkt ist eine solche gerichtete Struktur einleuchtend. Das Soma ist ein durch eine übergeordnete Synthese von Elementen ermöglichtes Energiesystem. Wir haben bereits festgestellt, ein wie effizientes, der Entropie entgegenwirkendes Energiesystem es ist. Es besitzt mehr Energie, als es benötigt, um einfach nur als Körper zu existieren. Da das Soma durch eine Art von Tragfähigkeit auf der Schwerkraft schwimmt, ist dieser Energieüberschuß verfügbar für Bewegung in der horizontalen Ebene. Aber entlang welcher horizontalen Ebene soll die Zusatzenergie des Somas ausgerichtet werden? Die Antwort darauf liegt nahe, da wir wissen, daß das Soma auf die Gesetze der Thermodynamik mit äußerst effizientem Vorgehen reagiert. Insofern als Bewegung in eine beliebige Richtung wie bei den Amöben eine Reorganisation der gesamten Körperstruktur bei jeder Bewegung erfordern würde, 77

ist es besser, sich auf eine Linie zu spezialisieren, die den Körper immer im Vorhinein für eine Bewegung nach vorwärts mobilisiert. Auch hat jedes mehr als einzellige Lebewesen ein Gesicht. Von der elementaren Biologie bis zur fortgeschrittenen Psychologie ist dasselbe somatische Gesetz maßgebend: Alle Lebewesen essen sich ihren Weg durch die Welt, ihr Verlangen führt ihren offenen Schlund zu der Nahrungsenergie, die sie benötigen. Das Gesicht ist der am meisten benötigte und sensibelste Teil eines Somas. Für andere Somas ist das Gesicht der ausdrucksvollste Teil des Somas. Jede Kreatur beobachtet das Gesicht der anderen, um deren Absichten zu erkennen. Tiere beobachten das Maul, das Zeigen der Zähne, den Bereich um die Augen, die Stellung der Ohren - all dies sagt ihnen, was das andere vorhat. In seinem Werk DerAusdruck der Gefühlebei Menschund Tierhat Charles Darwin als erster die typischen Bewegungen von Tieren beschrieben, die ihre Absicht zu fliehen oder anzugreifen anzeigen. Ein wütender Hund, der anzugreifen beabsichtigt, stellt seine Ohren nach vorne, hebt sein Hinterteil und öffnet sein Maul, um die Reißzähne zu zeigen. Ein furchtsamer oder fügsamer Hund legt seine Ohren an, glättet den Rücken und zieht die Ecken seines Mauls zurück. Konrad Lorenz und seine Mitarbeiter haben detaillierte Tabellen angelegt, in denen Kampf- und Fluchtverhalten bei einer großen Anzahl verschiedener Tiere präzise aufgezeichnet sind. Diese Studien der Verhaltensforschung bleiben glücklicherweise nicht bei nicht-menschlichen Lebewesen stehen, sondern schließen auch uns, die menschliche Spezies ein. In dieser Hinsicht ist die Verhaltensforschung einer der bedeutenden Lehrer einer somatischen Sichtweise, da sie menschliches Verhalten als bereits in früherem somatischen Verhalten vorgezeichnet beschrieben hat. Wir könnten sonst z.B. möglicherweise nicht erkennen, daß, wenn ein Mensch höhnisch lacht, er seine Eckzähne entblößt, genau wie ein Hund oder eine Hündin kurz vor dem Angreifen. Wir haben ein Gesicht, weil wir dazu bestimmt sind, uns vorwärts zu bewegen. Das ist keine psychologische, sondern eine somatische Tatsache. Alle Lebewesensehendas an, was sie wollen.Wenn ein Lebewesen sich nicht nach dem, was es will, orientierte, es nicht ansähe, sich nicht auf das, was es wollte, zubewegte, wüßten wir 78

unzweifelhaft, daß es krank oder verängstigt wäre. Für die Psychologie des Menschen ist es wichtig zu wissen: Sieht jemand die Welt direkt an? Sind Gesicht und Kopf gerade und aufrecht? Sieht er andere Leute direkt an oder wendet er die Augen leicht ab? Diese Fragen sind jeder organischen Stufe angemessen, von den Mäusen bis zu den Menschen. Die somatische Sichtweise versucht, der Geschichte des Lebens und seiner Vielschichtigkeitenbesser Rechnung zu tragen. Wir lernen über das Leben vom Leben, von seiner Mannigfaltigkeit und seiner breitstrukturierten Geschichte. Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty wendet geologische Begriffe auf die Geschichte des Lebens an. Er spricht von den „Sedimentbildungen" des Lebens, wobei eine Schicht allmählich eine andere überdeckt, wie die nach außen anwachsenden Kreise eines Baumstammes oder die allmähliche, schichtweise Anlagerung mineralischer Sedimente der Erde. Das Leben ist dem strukturellen Aufbau einer Zwiebel ähnlich, jede Schicht überlagert die vorhergehende Schicht und hüllt sie ein. Und das Leben ohne grobe Verzerrungen zu verstehen bedeutet, diese Zwiebel Schicht für Schicht zu schälen. Bei der Zwiebel wie bei dem entwicklungsgeschichtlichen Lebensbaum enthüllt jede Schicht eine darunterliegende, die ähnlich, aber ein wenig kleiner und einfacher ist. Jede Schicht zeigt eine Veränderung, wenn auch keine große. Nur dadurch, daß wir diese wachsenden Rückschritte im Ausmaß der Zwiebelschale verfolgen, beginnen wir, das Offensichtliche zu sehen. Und wie deutlich diese Fakten sind, wird bestätigt dadurch, wie konsequent sie ihren Weg direkt zurück zum Zentrum verengen. Die grundlegenden somatischen Gesetzmäßigkeiten - oder, wenn man so will, die Gesetzmäßigkeit des Lebens sind jene, die sich beständig durch alle Somas hindurch behauptet haben, von den einfachsten und frühesten bis zu den komplexesten und jüngsten Entwicklungen. Diese Gesetzmäßigkeiten zu kennen, heißt zu wissen, daß alle lebenden Geschöpfe bestimmte einfache und grundlegende Funktionsweisen besitzen. Das aufrechteStehen ist eine dieser elementaren Gesetzmäßigkeiten, die Vorwärts-Orientierungist eine andere. Sie sind uns so vertraute und offensichtliche Lebensfunktionen, daß wir ihre grundlegende Bedeutung einfach durch die Beobachtung beweisen 79

können, daß jedes andere Lebewesen ebenfalls aufrecht steht und sich vorwärts orientiert. Beim Menschen jedoch hat die Funktion der Vorwärts-Orientierung ein zusätzliches Merk.mal entwickelt: Die Fähigkeit, seine Bewußtheit in jede gewünschte Richtung zu lenken. Bei allen Schritten bewußter Aufmerksamkeit aktivieren wir die Gesamtheit unseres sensomotorischen Systems entlang einer Fallkurve und richten es auf etwas in der äußeren Welt oder, aus gegebenem Anlaß, auf etwas innerhalb unserer inneren Welt aus. Wir können das Bewußtsein zur selben Zeit immer nur in eine Richtung aktivieren, aus dem gleichen Grund, aus dem wir auch nicht gleichzeitig in mehrere Richtungen sehen können: Ein einzelnes, individuelles Soma, dessen System vollständig dazu aktiviert ist, sich in eine Richtung zu orientieren, hat in seinem System nichts übrig, um sich anders zu orientieren. Die Orientierung in eine neue Richtung erfordert eine Reorganisierung und Reaktivierung der Einheit des gesamten Systems. Während nicht-menschlichen Somas ein phylogenetisches Programm für die Art, wie sie sich orientieren werden, vererbt ist, haben die Menschen sich von solchen phylogenetischen Programmen losgelöst. Durch den Gebrauch von Sprache haben wir diese Programme biologischer Bestimmung ersetzt durch erzieherische Programme kultureller Ausrichtung. Somatische Erzieher haben uns dazu gedrängt, uns diese Freiheit zunutze zu machen, indem wir unsere Bewußtheit nach innen auf bestimmte innere Prozesse unseres Körpers richten. Diese Fähigkeit, das sensomotorische System zu aktivieren und dabei eine besondere Bewegung unseres Körpers zu isolieren, ermöglicht es uns, jene neu entdeckte Bewegung in den allgemeinen Prozeß unseres Zentralnervensystems zu integrieren und uns effizienter und anpassungsfähiger zu machen. Zu behaupten, die Funktionen des aufrechten Stehens und der Vorwärts-Orientierung seien primordiale Funktionen, läßt sie als sehr alt und weit entfernt erscheinen - was sie aber nicht sind. Ganz gleich, vor wie langer Zeit eine Funktion zuerst auftauchte, so lange sie überlebt, wird sie immer neu und jung sein. Die Funktionen des Lebens können nicht altern. Der ursprüngliche Körper des Lebens ist noch immer lebendig.

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Somatische Lateralisierung „Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß", lautet ein ebenso falsches wie allgemein bekanntes Sprichwort. Unwissenheit über die inneren Prozesse unseres Körpers kann uns zerstören und macht dies auch häufig. Eine weit bessere Maxime wäre die Inschrift am Tempel von Delphi: ,,Erkenne dich selbst." Normalerweise ist unsere Aufmerksamkeit ganz durch die äußere Welt in Anspruch genommen. Die anhaltenden Belastungen und Anforderungen unserer sozialen und physikalischen Umwelt können uns so dauerhaft von uns selbst ablenken, daß sich innere Anspannungen und Unausgewogenheiten langsam und unmerklich aufbauen. Oft sehen Klienten mit schmerzhaft verzerrtem Körper zu mir auf und fragen: ,,Wie konnte mir so etwas passieren?" Die Antwort muß selbstverständlich lauten, daß sich das Leiden, das sich schließlich schmerzhaft in ihr Bewußtsein drängt, die ganze Zeit entwickelt hat, knapp unterhalb der Schwelle ihres Bewußtseins. Wenn sie im Verlaufe dieses allmählichen Aufbaus ihre Aufmerksamkeit nach innen gerichtet hätten, hätten sie vielleicht bemerkt, was passierte. Aber Erwachsene machen nur selten Gebrauch von ihrer Fähigkeit zur Eigenwahrnehmung. Seine Aufmerksamkeit nach innen zu richten, ist ein mächtiger Mittler für Veränderung. Die Aufmerksamkeit zu konzentrieren ist nicht nur eine psychologische Aktivität passiver Wahrnehmung, es ist eigentlich eine positive physiologische Tat. Nach außen auf einen Baum zu blicken, beeinflußt den Baum nicht, aber nach innen in sich selbst zu sehen ist eine völlig andersgeartete Aktivität, die uns unzweifelhaft beeinflussen wird. Etwas Bemerkenswertes passiert, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unser Inneres richten. Wenn jemand für einen Moment anhält und seine Bewußtheit auf sein linkes Ohr konzentriert, rückt das Ohr ins Rampenlicht. Nur eine Sekunde früher war es in undifferenzierte Dunkelheit gehüllt, aber jetzt wird es von einem neuralen Scheinwerfer ausgeleuchtet, durch den es wie eine auffallende Gestalt gegen den diffusen Hintergrund des übrigen Körpers hervorgehoben wird. Die Bewußtheit auf einen Körperteil zu konzentrieren, ist eine ganz besondere sensomotorische Aktivität, weil sie 81

nicht nur das sensomotorische System in eine bestimmte Richtung mobilisiert, sondern gleichzeitig seine Ausrichtung in alle anderen Richtungen verhindert. Das bedeutet, daß es eine Aktivität ist, die die Gesamtheit des sensomotorischen Systems einbezieht und somit den Körper in seiner Gesamtheit. Ebenso, wie wir nur jeweils in eine Richtung sehen können, können wir auch unsere Bewußtheit nur jeweils in eine Richtung lenken. Dasjenige, dem wir unser Bewußtsein zuwenden, kann sowohl ungeheuer komplex als auch unendlich einfach sein, aber es ist immer nur eine einzige Sache. Eben durch diese Festlegung auf eine Richtung unter Ausschluß aller anderen wird die mobilisierende Kraft ausgerichteter Bewußtheit erreicht. Man muß sich nur an den Vorgang erinnern, ein „neurales Bild" von Lanys Schulter zu zeichnen, eine Handlung, die ihm nicht nur ermöglichte, sich seines Schulterblattes bewußt zu werden, sondern auch anzufangen, es zu bewegen. Höchstwahrscheinlich war es Ihnen und mir nicht bewußt, welchen Strumpf oder Schuh wir heute morgen zuerst angezogen haben. Es ist leicht vorstellbar, daß jemand sein ganzes Leben verbringen kann, ohne je zu bemerken, mit welchem Bein er immer zuerst seine Hosen anzieht. Nur wenige Menschen achten darauf, auf welchem Bein sie aus Gewohnheit stehen, noch sind sie sich bewußt, welcher Arm sich immer oben befindet, wenn ihre Arme gekreuzt sind, welches Bein oben liegt, wenn sie ihre Beine übereinanderschlagen oder welcher Daumen oben ist, wenn ihre Finger verschränkt sind. Dabei hat fast jeder eine konsequente, gewohnte Art, diese Dinge zu tun, und dies steht in direktem Zusammenhang mit der Tatsache seitlicher Dominanz - d.h. ob wir Rechts- oder Linkshänder sind. Normalerweise befindet sich bei einem Rechtshänder, wenn er die Hände verschränkt, der rechte Daumen oben auf dem linken. Normalerweise wird derselbe Rechtshänder zuerst sein rechtes Bein in die Hose stecken, ein Linkshänder macht das Gegenteil. Normalerweise wird ein Rechtshänder automatisch sein linkes Bein mehr mit seinem Gewicht belasten und das rechte locker lassen. Das kommt daher, daß für ihn das rechte Bein- und seine gesamte rechte Seite - ,,intelligenter'' als die linke ist. Wenn er einen Zeh in das Schwimmbecken stecken möchte, um zu sehen, wie kalt das Wasser 82

ist, wird er dazu den rechten Fuß benutzen, während er auf dem linken steht. Wenn er einen Ball tritt, dann mit seinem „schlauen" und besser kontrollierten rechten Fuß und er wird sich vom linken Fuß abdrücken. Ich sage normalerweise. Manchmal ist dies nicht der Fall und das kann auf Probleme hindeuten. Wenn ich jemanden zum ersten Mal sehe, fordere ich ihn immer auf, mit geschlossenen Augen stillzustehen, damit ich seine vertikale Haltung von vom sehen kann. Wenn jemand stillsteht, sieht man im allgemeinen eine gerade, senkrechte Linie, die von der Nase und der Kinnspalte über die Mitte des Brustbeins und den Nabel hinunter zur Mitte des Schambeins verläuft. Ebenso erwartet man die beiden Schultern auf einer ebenen, waagerechten Linie, genauso wie die zwei Seiten des Beckens. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Wenn ich jemanden betrachte, der so steht, daß er mich ansehen kann, stelle ich oft fest, daß die rechte Schulter ein wenig niedriger ist als die linke. Häufig ist der Kopf dieser Person ein bißchen nach rechts geneigt. Auch kann ich vielleicht, wenn ich sehr genau hinsehe, feststellen, daß sein rechtes Hüftgelenk höher als das linke steht, wodurch sich die rechte Hüfte näher zur rechten Schulter als die linke zur entsprechenden Schulter befindet. Auf einem Röntgenschinn würde ich noch weitere Vorgänge im Körper dieser Person sehen: Die Rippen rechts wären enger zusammengepreßt als auf der linken Seite, und das gesamte Rückgrat wäre in einer skoliotischen Krümmung gehalten. Außerdem, wenn ich ihn fragte, welches Bein ihm länger vorkäme, würde er höchstwahrscheinlich sagen, daß es das linke wäre und daß sein Schneider ihm immer erzählt hätte, daß sein rechtes Bein kürzer als sein linkes wäre. Wenn ich meine Hand auf seinen Rücken legte, um das Ausmaß der Verhärtung der paravertebralen Muskeln rechts und links der Wirbelsäule zu vergleichen, würde ich herausfinden, daß die Muskeln einer Seite deutlich straffer wären als die der anderen. Und wenn man alle diese Merkmale zusammenzählt, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß ein normal ausgebildetes Skelett immer in symmetrischem Gleichgewicht ist, wenn die davon ausgehenden Muskeln nicht sein Gleichgewicht verzerren, ergibt sich folgendes Bild: Das gewohnheitsmäßige - und normalerweise unbewußte - Muster der neuromotorischen Aktivitäten dieser Person veranlaßt die Muskeln seiner 83

rechten Körperseite, sich zusammenzuziehen und verlagert sein Gewicht vom linken auf das rechte Bein. Und wir müssen uns daran erinnern, daß wir keine statische Struktur betrachten, die wie ein Gebäude zur rechten Seite hinübergesackt ist. Wir betrachten im Gegenteil einen lebenden, sich bewegenden Menschen, dessen neurales System aktiv und beständig seinen Körper nach rechts hinüberzieht. Diese neurale Einseitigkeit ist ein Zustand, den ich als somatische Lateralisierung beschreiben möchte. Das Knochen-Muskel-System von Menschen, die ihr Gewicht auf ihre dominante Seite verlagert haben, steht unter beträchtlicher Belastung. Wenn Sie Rechtshänder sind, ist die rechte Seite Ihres Körpers stark zusammengedrückt, und letztlich fordert dieser Druck seinen Tribut - bei vielen Menschen als Schmerz in der rechten Schulter, bei anderen als Schmerz im rechten Nacken. Manchmal wird der rechte Knöchel oder das rechte Knie schwach und schmerzhaft, andere spüren eine Empfindlichkeit in der rechten Lendengegend. Viele haben hartnäckige Kopfschmerzen in der rechten Seite. Charlie H. hatte heftige Schmerzen in seinem rechten Hüftgelenk. Sie hatten ungefähr fünf Jahre früher angefangen und ihn - einen enthusiastischen Sportler - dazu gezwungen, jeden Sport aufzugeben. Schwimmen war die einzige sportliche Aktivität, der er ohne Beschwerden nachgehen konnte. Er sagte, daß die ärztliche Diagnose auf eine ernstliche Beschädigung des Gelenkknorpels der rechten Hüfte lautete. Sein Orthopäde hatte einen operativen Austausch des Hüftgelenks vorgeschlagen. Statt dessen beschloß Charlie, sich Silikoninjektionen geben zu lassen, die ihn für eine Weile von den Schmerzen befreiten, und als der Schmerz wieder auftrat, ließ er sich weitere setzen. Aber nach einer gewissen Zahl dieser Behandlungen wirkten die Silikonspritzen nicht mehr. Als er zum ersten Mal zu mir kam, litt er unter hartnäckigen Schmerzen und hinkte stark. So wie Charlie vor mir stand und mich ansah, sah er aus wie ein von einem starken, von links wehenden Wind gebeugter Mann. Sein Kopf war weit nach rechts unten geneigt, die rechte Schulter zwei ganze Zoll gesenkt, und selbst die rechte Seite seines Gesichts war zusammengepreßt. Er litt auch unter chronischen Kopfschmerzen. Er sagte, daß er Rechtshänder wäre. Ich versuchte herauszufinden, auf welchem Bein er stand, es war das rechte. Während er noch 84

stand, tastete ich die rechte und linke Seite seiner Wirbelsäule ab. Die Muskeln rechts waren wie ein Drahtseil, die links waren nachgiebig. Die rechten paravertebralen Muskeln waren zusammengezogen und verdrehten das Rückgrat nach rechts. Charlie war ein perfektes Beispiel für somatische Lateralisierung. Um ihm zu helfen, war ich gezwungen, einen Weg zu finden, seine Einseitigkeit in eine Zweiseitigkeit zu verwandeln - nämlich, seine Gewohnheit, auf dem rechten Bein zu stehen, zu ändern und sein Muskelsystem zu lehren, das Körpergewicht auf die linke Seite zu verlagern. Was Charlie machte, ist, daß er das rechte Hüftgelenk abnutzte, indem er es dazu brachte, das gesamte Gewicht seines Oberkörpers zu tragen. Trotz der Tatsache, daß er jetzt durch seine Einseitigkeit behindert war, war es ihm nie in den Sinn gekommen, zu versuchen, sein Gewicht auf den anderen Fuß zu verlagern. Der unsichtbare Wind, der ihn unaufhörlich zu einer Seite beugte, war für ihn nicht zu fühlen: Charlie war sich seiner seitlich geneigten Haltung nicht bewußt: Die Art zu verändern, in der jemand steht, ist insofern keine leichte Aufgabe, als es eine Modifizierung hunderter unwillkürlicher Muster von Muskelkontraktionen erforderlich macht. Man könnte denken, es würde ausreichen, Charlie in die Augen zu sehen und zu sagen: ,,Charlie, hör auf, dich auf den rechten Fuß zu stützen und steh gerade." Ich hätte dies tun können, aber es wäre zwecklos gewesen. Willkürlich und bewußt hätte sich Charlie wohl nach rechts lehnen können, aber in dem Moment, in dem er aufhörte daran zu denken, würden die unwillkürlichen Kontraktionen sofort wieder die Kontrolle übernehmen und ihn entschieden zurück nach rechts ziehen - und er würde es noch nicht einmal bemerken. Was getan werden mußte, war, diese unwillkürlichen Kontraktionen so zu verändern, daß er selbst, wenn er nicht daran dachte, automatisch in einem vertikalen Gleichgewicht stehen würde. Dies beinhaltete weder eine Veränderung von Charlies Willen oder seiner Muskeln an sich, sondern eine Änderung der neuralen Reize, die diese Muskeln anregen. Wenn ich Charlie ansah, sah ich ein verzerrtes Zentralnervensystem. Weil Funktionale Integration eine komplexe Kunst ist, wäre es nutzlos, zu versuchen, die spezifischen Schritte zu beschreiben, die zur Veränderung der Muster seiner Muskelkontraktion gemacht 85

werden mußten. Für den Moment reicht es aus, zu sagen, daß es mein Ziel war, den Muskeltonus in seiner rechten Körperhälfte zu verringern und den in seiner linken Hälfte zu erhöhen. Sobald die Muskelspannung rechts verringert wäre und aufhörte, seinen Rumpf nach rechts zu ziehen, würde es seinem Körper möglich, zu einem vertikalen Stand zurückzukehren. Die versteckten, autonomen Funktionsweisen seines sensomotorischen Systems und die halbkreisförmigen Kanäle bewirken, daß, wenn der Körper nicht länger durch unwillkürliche Kontraktion zu einer Seite gezogen wird, er sich wieder in die richtige Position im Verhältnis zur vertikalen Linie der Schwerkraft bringt, ganz ähnlich wie ein Stück Kork, das unten beschwert ist, zurückschnellen wird, sobald man aufhört, es auf einer Seite herunterzudrücken. Charlie fing an sich aufzurichten, aber nicht so schnell wie ein Stück Kork. Behutsam und langsame Arbeit war nötig, aber nach zwei Behandlungsstunden waren seine Kopfschmerzen verschwunden und er fing an, größere Strecken zu gehen. Er hinkte jedoch immer noch und die nach rechts geneigte Haltung und der hartnäckige Schmerz waren weiter vorhanden, wenn auch weniger stark. Nach der vierten Stunde hatte Charlie manchmal Tage, an denen er völlig schmerzfrei war. Sein Gesicht war jetzt weicher und länger auf der rechten Seite und das rechte Auge offener. Statt weiter hochgezogen, war die rechte Seite seines Beckens eher etwas gesenkt, aber er hielt immer noch seinen Kopf nach rechts geneigt und seine Schulter nach unten. Es wurde Zeit für einige feinere Abstimmungen, Zeit für eine bedachtsame Erziehung seiner Fähigkeiten zur Eigenwahrnehmung. Ich ließ ihn sich mit geschlossenen Augen hinstellen und sich so nach rechts und links wiegen, von einem Fuß auf den anderen. Ich forderte ihn auf, nach rechts zu schaukeln, sich dann zum Zentrum zurück zu neigen, bis daß er spürte, daß sein Kopf senkrecht wäre, und die Bewegung dann über diesen Punkt fortzusetzen, indem er nach links schaukelte. Ich beobachtete ihn, wie er dies ausführte, und was passierte, war sehr interessant. Ich sagte zu ihm: „Charlie, sagen Sie mir jedesmal, wenn Sie den senkrechten Punkt erreichen. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie spüren, daß Ihr Körper ganz aufrecht ist." Charlie tat dies. Das Faszinierende war, daß Charlie nie zu einem ganz senkrechten Stand kam. Er wiegte sich

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ausschließlich auf der rechten Seite vor und zurück, von ein wenig bis sehr weit nach rechts. Eine somatische Verzerrung ist nicht nur einfach eine Verzerrung der Körperstruktur, sondern eine Verzerrung unserer Bewußtheit über uns selbst in der physikalischen Welt. In gewissem Sinne ist es eine Verzerrung unseres Körperbildes. Charlies Körperbild war so einseitig, daß er weder eine aufrechte Körperhaltung noch die Beziehung seines Körpers zur Schwerkraft erfahren konnte. Eine somatische Verzerrung ist eine Verzerrung des Wesens eines Menschen - nicht von etwas, das Geist oder Körper genannt wird, sondern des gesamten lebendigen Wesens des Betroffenen. Wenn man die Beziehung zwischen Funktionen und Struktur des Menschen beobachtet und weiß, daß die Person, die vor einem steht, über eine bewußte Erfahrung verfügt, die - auf der nonverbalen Ebene sensomotorischer Funktionen - beständig von diesen funktionalen Mustern gefärbt ist, muß man erkennen, daß die lebendige Realität, die von individuellen Menschen erfahren wird, nicht im geringsten standardisiert ist. Was normal und gewohnt in der Erfahrung eines Individuums ist, kann völlig verschieden sein von dem, was für einen anderen normal ist. Aber keiner von diesen zwei Individuen weiß, wie verschieden ihre „Realitäten" sind, weil sie keine Vergleichsbasis haben. Sie kennen immer nur ihre eigene, persönliche Realität und keine andere. Während der Jahre meiner Arbeit mit anderen stieß ich wiederholt auf den unumstößlichen Beweis, daß eine große Zahl von Menschen ein Leben wie in der Hölle führen, aber nicht erkennen, daß dies so ist. Statt dessen sehen sie ihre täglichen Schmerzen, ihre Beeinträchtigung, Unausgewogenheit und ihre Konfusion als die Norm an. Viele Male hat mich der Betroffene plötzlich angesehen und gesagt: ,,Meinen Sie damit, daß ich mich wohlfühlen soll?" Dies ist immer jemand, der so lange ein elendes und unglückliches Leben geführt hat, daß er nichts anderes erwartet. Überhaupt, wie konnte er wissen, daß andere Erfahrungen möglich sind? Wir begegnen jeden Tag Hunderten von unseren Mitmenschen, die sich alle irgendwie ähnlich sehen, und wir nehmen an, daß die Erfahrung aller dieser Menschen gleich ist. Sie ist es aber nicht. Die bewußte Erfahrung verschiedener Indivi87

duen ist immens und manchmal phantastisch verschieden, aber weder sie noch jemand anderer werden dies je erfahren. Charlie war ein grundlegend einseitiger Mensch geworden. Er befand sich aus dem Tritt mit der Welt, weil er eine Seite seines Lebens aufgegeben hatte - seine linke Seite - und alles in die „intelligentere" rechte Seite investiert hatte. Als Boxer wäre er ein völliger Versager gewesen, weil er immer „die Rechte geführt", immer auf den schnellen K. O.-Schlag hingearbeitet hätte. Dies war eine einfältige, einseitige Einstellung zum Leben, die der Tatsache widersprach, daß Charlie ziemlich gebildet war. Als Besitzer eines Kraftfahrzeughandels war er mit dieser einfachen K. O.-SchlagTaktik erfolgreich. Aber sowohl in seinem persönlichen wie in seinem physiologischen Leben war er ein Krüppel, unfähig, sein Familienleben zu ordnen, das jetzt ein einziger Scherbenhaufen war, die Ehe vor der Scheidung stand, und unfähig, mit seinem Körper umzugehen, der sich auf einen völligen Zusammenbruch zubewegt hatte. Alle somatischen Verzerrungen reflektieren Probleme, die gleichzeitig Probleme des Körpers des Betroffenen als auch Probleme seiner Lebensverhältnisse sind. Im Kontext der Lebensfunktionen eines Menschen sind diese zwei Bereiche untrennbar. Somatisch gesehen, ist ein individueller Mensch weder nur Körper noch Geist und Psyche, sondern eigentlich ein lebender, selbstbewußter Mensch mit einer einzigen funktionalen Identität, die sich ebenso in seiner Bewußtheit wie in den Funktionen seines Körpers zeigt. Diese somatische Sicht, durch die Ausrichtung auf die funktionale Identität eines Menschen, enthüllt das integrale und systemische Wesen menschlicher Individualität in einer Art, die weiterführt als die fachspezifischen Sichtweisen der Physiologie und Psychologie. Wenn man lernt, Menschen auf diese integrale Weise zu sehen, ist man anfangs verblüfft über die Transparenz, mit der „mentale" und „physische" Leiden sich abzeichnen - wie bei binokularem Sehen -, um zu einem einzigen, volldimensionalen Bild zu verschmelzen. Somatische Verzerrungen sind funktionale Verzerrungen, und wenn wir erst einmal ihre schwerwiegende Bedeutung verstanden haben, erkennen wir, daß wir das „Niemandsland" der heutigen Medizin und Psychotherapie entdeckt haben, nämlich den Bereich

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von Krankheiten, die keine bekannte Ursache haben und für die es keine bekannte Therapie gibt. Weil der Arzt und der Psychotherapeut dazu neigen, sich auf die mutmaßlichen „körperlichen" oder ,,psychischen" Ausschnitte des Menschen zu konzentrieren, bzw. weil sie vielleicht den lebenden, integralen, individuellen Menschen, der vor ihnen steht, nicht erkennen können. Demzufolge können sie weder die „Ursache" dessen, was nicht stimmt, noch seine „Heilung" sehen. Das menschliche Soma ist ein funktionales System, das sich neu balanciert und sich neu harmonisiert, wenn sich ihm eine Chance dazu bietet. Bei funktionalen Störungen ist weder ein Austausch von Worten mit dem „Geist", noch ein Austausch von Chemikalien und Substanzen mit dem „Körper" erforderlich. Die Voraussetzung ist eine Veränderung der Bewußtheit des lebenden menschlichen Systems über seine eigenen Funktionsweisen. Das somatische System benötigt mehr Informationen über sich selbst und effizientere Kontrolle. Kurz gesagt benötigt das verzerrte menschliche Soma neue sensorische Informationen und neue motorische Kontrolle. Wenn wir dies weiter vertieft haben, wird- wie ich hoffe transparent und deutlich werden, daß sich unser von alters her entwickelter Körper nicht so dauerhaft und erfolgreich überlebt hätte ohne diese inneren Fähigkeiten zur Selbst-Regulierung und Selbst-Korrektur. Alle Somas besitzen diese Fähigkeiten, aber nur das menschliche Soma kann diese Fähigkeiten durch den Prozeß der Akkulturation und das Erreichen eines „Erwachsenenseins" unterdrücken. Als Charlie bewußter wurde dafür, wie er tatsächlich funktionierte, fing er an, besser zu funktionieren. Als er anfing wahrzunehmen, wann sein Körper nach rechts verzerrt war und wann gerade und auf einer Linie mit der Schwerkraft, fing er an, gerade zu stehen, hörte er auf, zu hinken und Schmerzen zu haben. Aber das war nicht alles. Ein somatisches Verständnis sagt uns, daß solch eine sensomotorische Veränderung auch ein verändertes Bewußtsein beinhaltet-was Psychologen vielleicht als eine Persönlichkeitsveränderung beschreiben. Charlies „Persönlichkeit" veränderte sich tatsächlich. So wie seine Haltung aufrechter wurde, wurde er sich auch neuer Dinge an sich selbst bewußt. Während einer Stunde sagte er: ,,Wissen Sie,

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meine Frau hat möglicherweise recht. Ich bin unsensibel." Charlie hatte angefangen, Bücher von C.G. Jung zu lesen. ,,Wissen Sie", sagte er, ,,es macht Sinn, daß ein Mann den ersten Teil seines Lebens damit verbringen kann, nur einen Aspekt seiner Persönlichkeit zu entwickeln und erst in mittleren Jahren entdeckt, daß es noch andere Aspekte gibt, die ebenso Teil seiner selbst, aber völlig unerschlossen sind. In dieser Weise habe ich angefangen, über mich selbst zu denken." Beatrice S. kam zu einer ähnlichen Einsicht, als sie anfing, ihr Gleichgewicht wiederzuentdecken. Sie war eine hervorragende Journalistin Ende zwanzig und kam zu mir wegen hartnäckiger Schmerzen im rechten Nacken. Der Nackenschmerz war über die letzten vier Jahre chronisch und innerhalb der letzten paar Monate unerträglich geworden. Wie man erwarten kann, war sie wie alle Menschen, die unter Verzerrungen ihrer somatischen Funktionen leiden, nach verschiedenen medizinischen Verfahren behandelt worden, einschließlich Nackenstützen, Leitungsanästhesie und Körpertherapie, aber ohne erkennbare Verbesserung. Danach hatte sie es mit chiropraktischen- und Akupressur-Behandlungen versucht, dann mit Entspannungstraining und Akupunktur - der ganzen Skala von Therapieformen. Jetzt stand sie vor mir, mit nach oben verspannten Schultern zur Abwehr der Nackenschmerzen, ihr Kopf war nach rechts gezogen, die rechte Schulter höher als die linke, der Rumpf gebeugt und das Gewicht schwer auf den rechten Fuß verlagert - und sie war Rechtshänderin. Nach zwei Behandlungsstunden berichtete Beatrice, daß die Schmerzen sich um die Hälfte verringert hätten. Als sie zur dritten Stunde kam, stand sie nahezu senkrecht und sie sagte, daß sich ihre rechte Seite stärker und wacher anfühle. Nach der vierten Stunde erzählte sie mir, daß sie anfing, sich auf der rechten Seite leichter und links schwerer zu fühlen. Das bedeutet, daß sie sich über die Entspannung der Muskeln auf der rechten Seite und den gestiegenen Muskeltonus auf der linken bewußt wurde. Während der sechsten Stunde fühlte sie sich glücklich und beschwerdefrei, und jetzt stellte sie mir eine merkwürdige Frage. Sie sagte: ,,Hat das, was Sie tun, irgendwelche Auswirkungen auf meinen Kopf? Ich meine, ich habe angefangen, alle möglichen Gefühle und Phantasien zu entwickeln, die sehr literarisch und poetisch

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sind. Es ist, als ob ein künstlerischer Teil von mir aufwachen würde." Ich war darüber sehr erfreut. Ich sagte ihr, daß ihre ernste rechtsseitige Dominanz nicht nur ein physischer Vorgang sei. Eigentlich bedeute es, daß sie nur die linke Hälfte ihres Gehirns unter fast völligem Ausschluß der rechten Hälfte benutzte. Sie war zur Genüge belesen, um zu wissen, daß die jüngste Hirnforschung die bedeutsame Tatsache aufgedeckt hatte, daß die linke Gehirnhälfte (die die rechte Seite der sensomotorischen Körperfunktionen kontrolliert) sich funktional von der rechten unterscheidet. Das linke Gehirn arbeitet in logischen, mathematischen, verbalen Abfolgen, während die rechte Seite des Gehirns ganz unterschiedlich funktioniert. Es kann hervorragend Bilder, Gestalten und ganze Einheiten begreifen. Die rechte Hemisphäre des Gehirns ist in vieler Hinsicht die „künstlerische" Seite. Die Modifizierung der somatischen Funktionen eines Menschen ist gleichzeitig eine Modifizierung des gesamten lebenden Systems. Aus genau diesem Grunde beinhalteten die Veränderungen an Beatrices Körper Veränderungen in ihrem Leben. Ihre Fortschritte waren weniger körperliche als somatische Verbesserungen. Ihr unbenutzter Teil war „wach" und„stärker" geworden, und sie fing an, sich mit neuen Vorstellungen über ihre Zukunft zu beschäftigen und mit der Frage, was sie aus ihrem Leben machen wollte. Sie war in ihrer journalistischen Arbeit außergewöhnlich qualifiziert, aber sie erkannte, daß, so lohnenswert es auch sein mochte, diese Art Arbeit doch Schinderei war. Beatrice hatte wie Charlie und viele andere, mit denen ich gearbeitet habe, entdeckt, daß sie nicht alle Teile von sich selbst benutzte. Sie hatte ihre Lebensumstände auf einen schmalen Grad an Kompetenz zurechtgeschnitten und eine einseitige Spezialisierung erreicht. Sie hatte sich selbst völlig der rechten Seite überantwortet und die linke aufgegeben, als wenn sie nutzlos wäre - was soviel bedeutete, wie daß sie zugelassen hatte, daß die linke Hemisphäre ihres Gehirns gewissermaßen die Funktionen des rechten Gehirns tyrannisierte und sie stark unterdrückte. Diese Verzerrung ihres Körpers und ihres Lebens hatte sie nur eine gewisse Zeit aufrechterhalten können, bevor das gesamte System angefangen hatte, zu91

sammenzustürzen und ihren Nacken in schmerzhafte Krämpfe zu versetzen. Eines kann man denen, die eine einseitige Lebensweise entwickeln, zugute halten: Sie sind entschlossen. Tatsächlich sind sie zu sehr entschlossen, sie kämpfen zu hart. Dies ist eines der beharrlichsten Persönlichkeitsmerkmale von Menschen, die somatisch lateralisiert sind. Sie sind hartnäckig und willens, vieles zu ignorieren und zu opfern, um hervorragende Leistungen zu vollbringen. Was sie opfern, ist eine Hälfte ihres organischen Wesens. Sie haben ihre Ganzheit geopfert. Sicherlich beinhaltet diese Lebensweise eine Art von Verzweiflung und eine „getriebene" Qualität, eine Überbewertung der Anerkennung, des Geldes oder der Macht, die sie zu erreichen suchen. Somatisch sind einseitige Menschen, wie ich finde, ,,gute Leute" mit einer wilden Entschlossenheit zu Leistung. Mit ihrem „K.0.-Schlag"-Angriff auf ihre Aufgabe können sie sehr effektiv sein, aber sie erkennen kaum, wie schwach ihre Fähigkeiten insgesamt sind, ausgefüllt zu leben. So wie sie sich ihrem Gleichgewicht nähern und ihre Einseitigkeit verlieren, werden diese Personen als Menschen weit stärker und kompetenter. Sie gewinnen an Vertrauen und Klarsicht darüber, wer sie sind und wo sie in Beziehung zur übrigen Welt stehen, so daß sie, ausgewogen und voll funktionsfähig, nicht das Ziel verfehlen, wenn sie etwas in Abgriff nehmen. Somatische Retraktion, somatische Fixierung und somatische Lateralisierung - sie alle sind Verzerrungen der Räumlichkeit des menschlichen Somas. Alle drei sind Verzerrungen von etwas so Altern und Offensichtlichem, daß es überrascht, festzustellen, daß das, wovon wir die ganze Zeit gesprochen haben, die drei Dimensionen des Raums sind: Länge, Tiefe und Weite.

Anmerkung:

Die Funktion des Handhabens (Handling)

Einige Züge des Lebens sind so elementar, daß sie rätselhaft erscheinen. Nehmen wir zum Beispiel etwas so Einfaches und Alltägliches wie die Art und Weise, in der ein Spiegel das Bild unseres Körpers wiedergibt. Wie wir vor dem Glas stehen, sehen wir vor uns unser

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Spiegelbild, perfekt in jeder Hinsicht, außer daß die rechte Seite sich links und die linke Seite sich rechts befindet. Die Umkehrung der zwei Seiten ist uns so vertraut, daß wir vielleicht nie auf die Idee kommen, die neugierige Frage zu stellen: Warum kehrt das Bild nicht auch oben und unten um, so wie es das mit rechts und links macht? Ist es der Spiegel, der dieses Kuriosum bewirkt? Ist es vielleicht eine Eigentümlichkeit der Lichtbrechung? Liegt es an unserer visuellen Wahrnehmung? Oder ist es etwas anderes? In Wahrheit kennen wir die Antwort auf dieses Rätsel, aber sie befindet sich so tief unter der Schwelle unseres Bewußtseins, daß wir sie vielleicht nie ausgesprochen hätten. Der Grund dafür, daß der Spiegel unsere Seiten vertauscht aber nicht oben und unten, liegt weder im Spiegel noch im Licht noch in unserer visuellen Wahrnehmung. Es hat mit der Art unserer Körperstruktur zu tun: Wir sind zweiseitig symmetrisch. Unser Spiegelbild hat eine unsichtbare senkrechte Achse, die unseren Körper gerade in der Mitte teilt und zwei identische Seiten erkennen läßt. Unser Körper ist mit einer senkrechten symmetrischen Linie gestaltet, die zwei Hälften schafft, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Aber zwischen oberem und unterem Teil unseres Körpers gibt es keine waagerechte symmetrische Linie, noch gibt es irgendeine Identität von oberer und unterer Hälfte. Zweiseitige Symmetrie ist nicht nur einfach ein Vorkommnis bei Menschen, sondern eine somatische Tatsache: Alles Lebendige tendiert dazu, zwei identische senkrechte Seiten zu besitzen. Oder annähernd identische. Bei näherer Betrachtung sind die zwei Seiten des menschlichen Körpers nicht genau gleich. Das Herz ist nicht in der Mitte, es befindet sich auf der linken Seite, was bedeutet, daß die linke Lunge kleiner als die rechte ist. Magen und Bauchspeicheldrüse sind ebenso auf der linken Seite, während die Leber und der Blinddarm rechts sitzen. Es scheint, daß das Leben sich darum bemüht, fast perfekt symmetrisch zu sein, aber nicht ganz. Wie wir bald sehen werden, ist dies an sich bedeutsam. Wir brauchen keinen Spiegel, um zu erkennen, daß eine Seite unseres Körpers das Spiegelbild der anderen ist, wir müssen nur hinsehen. Aber beim Sehen sollten wir uns daran erinnern, daß ein 93

Spiegelbild ein umgekehrtes Bild ist, als wenn man eine Seite Kohlepapier beim Zeichnen eines Bildes umdreht. Die Kopie ist in jedem Detail genau wie das Original, außer daß es seitenverkehrt ist. Wenn man mud geschrieben hat, zeigt sich durch das Kohlepapier bum. Wenn das Haar links gescheitelt war, zeigt die Kopie es rechts gescheitelt. Die Ringe der linken Hand erscheinen auf der rechten Hand im Spiegelbild. So braucht es einen Moment Überlegung, um zu erkennen, daß die spiegelbildliche Identität überhaupt nicht identisch ist. Zum vollständigen Beweis dafür können wir ein von vom aufgenommenes Bild eines menschlichen Körpers nehmen, es entlang der mittleren symmetrischen Achse zerschneiden, die linke Seite wegwerfen und nur die rechte behalten. Wir können dann eine Photokopie der rechten Seite machen, so daß wir zwei Seiten erhalten - zwei absolut identische rechte Seiten. Wenn wir diese nehmen und zusammenlegen, um ein vollständiges Bild zu erhalten, werden sie nicht zusammenpassen. Aus zwei absolut identischen Seiten können wir keinen ganzen Menschen machen, aus dem gleichen Grund, wie wir aus zwei identischen Buchstaben c kein o machen können, wenn wir nicht ein c umdrehen, um das o zu bilden. Was fehlt, ist spiegelbildliche Identität, mit einer Seite, die sich der zentralen Linie von rechts und einer anderen Seite, die sich der zentralen Linie von links nähert. Es sieht aus, als ob das Leben seine Körper aus zwei spiegelbildlichen Hälften formt, die entlang einer vertikalen symmetrischen Achse zusammengefügt werden. Da das der Fall zu sein scheint, wissen wir automatisch, daß zweiseitige Symmetrie in der genetischen Information enthalten ist, durch die Körper konstruiert werden. Ein seltsamer Beweis dafür findet sich bei Zwillingen, die manchmal asymmetrische Merkmale haben, die bei einem Zwilling in die eine, beim anderen in die andere Richtung gehen. Bei siamesischen Zwillingen ist diese Spiegelbildlichkeit besonders deutlich: der eine ist Rechts-, der andere ist Linkshänder; wenn ein Wirbel im Haar eines Zwillings das Haar mit der Uhr dreht, dreht sich das des anderen gegen die Uhr; die Fingerabdrücke der rechten Hand eines Zwillings passen am ehesten zu denen der linken Hand des anderen Zwillings, nicht zur eigenen linken Hand. Aber wir können das volle Ausmaß dieser Spiegelbildlichkeit erst erkennen, wenn wir sehen, daß ein siamesischer Zwilling immer „verlagerte Organe"

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hat. Die inneren Organe sind umgekehrt: Das Herz befindet sich rechts, die Leber links usw. Demzufolge besitzen alle Somas zwei mehr oder weniger identische Seiten, ebenso wie sie alle aufrecht stehen und sich vorwärts in die Welt orientieren. Mehroderwenigerimpliziert nicht völlige Identität. Als biologisch Forschende sind wir uns, sobald wir wissen, daß die zwei Seiten strukturell nicht identisch sind, voll der Wahrscheinlichkeit bewußt, daß sie auch funktional nicht identisch sind. Wie wir bereits wissen, ist das der Fall. Die zwei Seiten funktionieren nicht in gleicher Weise - insbesondere beim Menschen. Anders als bei den Menschen findet sich bei anderen Lebewesen keine Präferenz für eine Seite gegenüber der anderen. Ein Vogel sitzt vielleicht auf einem bevorzugten Bein, ebenso wie ein Hund vielleicht ein bestimmtes Bein vorsetzt, aber es gibt keine generelle Rechts- oder Linkshändigkeit bei nichtmenschlichen Lebewesen. Selbst bei den uns entwicklungsgeschichtlich am nächsten stehenden Vorfahren gibt es keine solche Präferenz; Menschen- und andere Affen haben keine spezifische Dominanz der einen über die andere Hand. Nur bei uns selbst ist seitliche Dominanz eine genetische Tatsache, und dies sollte uns auf die Möglichkeit aufmerksam machen, daß dominante Rechts- und Linkshändigkeit ein besonderes Merkmal der menschlichen Spezies ist. Nicht alle Menschen sind Rechtshänder, aber die überwiegende Mehrheit. Quer durch alle Kulturen sind Studien bildlicher und anderer Zeichen für die Dominanz einer Hand für eine Zeitspanne von fünftausend Jahren durchgeführt worden. Die Ergebnisse zeigen, daß wenigstens seit 3000 v. Chr. etwa 92,6 Prozent der Menschen Rechtshänder waren. Linkshänder waren immer eine kleine Minderheit und mußten in einer Welt leben, in der alles von Türknäufen bis zum Händeschütteln rechtshändig ist. Wenn der Linkshänder Chinese, Japaner oder Israeli ist, wird er das Glück haben, Bücher in der Weise lesen zu können, die für ihn am einfachsten ist, von rechts nach links. Ansonsten muß er sich mit Armbanduhren, Telefonzellen, Bleistiftanspitzern und Schneebesen abfinden, die ohne Rücksicht auf ihn entworfen sind. Und er muß sich abfinden mit uralten sprachlichen Traditionen, die - ziemlich deutlich - implizieren, daß right und droit und 95

rechts für jeweils Engländer, Franzosen oder Deutsche „korrekt", ,,gesetzlich" und „gerecht" bedeuten. Und daß Linkshänder sprachlich beschuldigt werden, ,,unheimlich", ,,linkisch", ,,unehrlich" und vielleicht „böse" zu sein. In früheren Jahrzehnten glaubte man von der linkshändigen Minderheit, daß sie ernstlich behindert wäre. Es wurde z.B. die Theorie aufgestellt, daß Stottern dadurch verursacht ist, daß ein linkshändiges Kind dazu gezwungen wird, rechtshändig zu werden. Es wurde auch vermutet, daß dieses emotionale Schwierigkeiten herbeiführt. Vor einem Jahrhundert trieb ein Psychiater namens Cesare Lombroso dieses anmaßend auf die Spitze, indem er andeutete, daß Linkshändigkeit ein Zeichen für kriminelle Entartung sei. Alle diese Theorien sind Unfug, aber sie veranschaulichen, wie mißtrauisch eine überwiegend rechtshändige Welt die belauerte Gruppe der Linkshänder(innen) betrachtet. Für ihren Teil haben die Linkshänder häufig den Verdacht, daß die rechtshändige Mehrheit die linkshändige Minderheit insgeheim um ihre Überlegenheit beneidet. Man brauche sich schließlich nur die Zahl linkshändiger, in der Sportwelt gefeierter Athleten anzusehen. Diese Theorie ist jedoch so unbegründet wie die unbeholfenen Theorien der Rechtshänder. Es steht außer Frage, daß der Linkshänder ebensogute Leistungen wie sein seitlicher Gegenspieler vollbringen kann, aber in keinem Fall ist er ihm überlegen. Den Vorteil, den er vielleicht in der Sportwelt hat, ist vollständig von der Tatsache abhängig, daß Rechtshänder nicht wissen, wie sie mit ihm umgehen können. Wenn ein guter linkshändiger Schlagmann im Baseball am Schlag ist, trifft der Spielführer eine ganz praktische Entscheidung: Er setzt einen linkshändigen Werfer ein. Da sie mehr an einem Erfolg als an der Theorie interessiert sind, wissen Spielführer und Trainer sehr gut, daß eine Rechts- oder Linkshändigkeit nur Überlegenheit gibt, wenn der gegnerische Athlet die entgegengesetzte Rechts- oder Linkshändigkeit besitzt. So verfügen Sportler und alle anderen Somas über eine (mehr oder weniger) zweiseitige Symmetrie und, abhängig von der jeweiligen Dominanz, kann eine Seite ebensogut wie die andere funktionieren. Wenn wir tiefer in diesen ziemlich mysteriösen Bereich der Zweiseitigkeit eindringen wollen, müssen wir das Innere des lebenden Körpers, insbesondere das Gehirn, näher betrachten.

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Bei allen Wirbeltieren (wie Fischen, Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren) gibt es eine zweiseitige Symmetrie des Gehirns: Eine Seite ist identisch mit der anderen. Zuerst scheint dies nicht überraschend, bis wir die Struktur des Gehirns der Wirbeltiere näher betrachten und erkennen, daß es nicht einfach ein Gehirn ist, sondern eigentlich aus zwei identischen Hemisphären zusammengesetzt ist, die miteinander verbunden sind. Die Wirbeltiere besitzen nicht ein, sondern zwei nebeneinander angeordnete Gehirne, die an der senkrechten symmetrischen Linie miteinander verbunden sind. Die Tatsache, daß es zwei Hemisphären der Hirnrinde gibt, hat die Gehirnforschung seit jeher fasziniert. Diese beiden Hälften grauer Materie sind an einem bestimmten Punkt zusammengefügt durch Millionen zäher weißer Fasern, die Informationen von einer Hemisphäre zur anderen weiterleiten, so daß sich die Hemisphären miteinander koordinieren können. Diese Fasern werden zusammengenommen als Gehirnbalken bezeichnet. Folglich kam die Frage auf, was passieren würde, würde dieser Balken operativ durchtrennt und somit die zwei identischen Gehirnhälften gespalten. Würde jede Koordination verlorengehen? Würde das Lebewesen völlig desorientiert oder möglicherweise vernichtet werden? Deshalb wurde in den S0er Jahren ein Experiment an einer Katze durchgeführt, deren Gehirnbalken glatt durchtrennt wurde. Nach der Operation schien die Katze normal zu sein, und so dachten sich die Forscher einen Versuch aus, um zu sehen, wie normal sie wirklich war. Sie befestigten eine Klappe über einem Auge der Katze, was bedeutete, daß das, was die Katze sah, nur in eine Gehirnhälfte gelangen würde; die andere Hemisphäre könnte wegen der Operation keine Informationen erhalten. Die Katze, die mit ihrer Augenklappe wie ein Pirat aussah, wurde in einen Experimentierkasten gesetzt, der zwei kleine Schwingtüren hatte. Hinter einer Tür befand sich Nahrung, hinter der anderen war eine Düse, die sofort einen irritierenden Schwall Luft ausstieß, wenn die Tür gedrückt wurde. Die Katze brauchte nicht lange, um zu lernen, welche Tür sie drücken und welche sie vermeiden mußte: Sie ging immer zu der Tür mit der Nahrung. Dann wurde die Katze aus dem Kasten genommen und die Klappe wurde über das andere Auge gezogen. Sonst wurde nichts 97

an der Katze verändert. Sie sah jetzt mit dem anderen Auge und wurde wieder in den Kasten gesetzt. Da die Katze bereits gelernt hatte, welche Tür die Nahrung verbarg, konnte man erwarten, daß sie direkt auf diese Tür zugehen würde, aber das machte sie nicht. Sie handelte, als ob sie noch nie zuvor in dem Kasten gewesen wäre und wußte auch nicht, welche Tür welche war. Sie tappte blind in die Tür mit dem Luftstoß, als wenn sie nie etwas gelernt hätte. Dieses merkwürdige Ereignis brachte die Forscher dazu, etwas anderes zu versuchen. Sie vertauschten die Türen, legten die Nahrung hinter die Tür, hinter der sich die Düse befunden hatte und umgekehrt. Die Katze, die immer noch die Klappe auf dem zweiten Auge trug, lernte schnell, sich in der Situation zurechtzufinden. Sie ging jetzt zu der anderen Tür, um die Nahrung zu finden und vermied dabei die mit dem Luftstoß. Dann ließen die Forscher den Kasten in demselben Zustand, nahmen nur die Katze heraus und deckten die Klappe wieder über das ursprüngliche Auge. Sie benahm sich, als wäre sie eine andere Katze. Sie ging immer wieder zur falschen Tür. Aber immer, wenn die Augenklappe vertauscht wurde, wußte sie plötzlich sehr wohl, zu welcher Tür sie gehen mußte. Sie entdeckten, daß die Katze, mit der Klappe auf einem Auge, ein Türsystem lernen konnte, mit der Klappe auf dem anderen Auge das entgegengesetzte Türsystem; aber die zwei Lernerfolge verbanden sich nie miteinander. Es gab effektiv zwei Katzen: die rechtsäugige Katze, die eine Sache, und die linksäugige, die die entgegengesetzte Sache kannte. Aber die rechtsäugige Katze verfügte über keine Kenntnis der linksäugigen Katze. Dies war ein beunruhigendes Ergebnis. Es erschien, als ob zwei Katzen von einem Körper Besitz ergriffen hätten, jede fähig, auf ihre eigene Weise die Kontrolle zu übernehmen und im Besitz einer eigenen Persönlichkeit. Damit ergab sich die beängstigende Frage: Wenn der Balken bei einem Menschen durchtrennt würde, würde dies bedeuten, daß zwei getrennte Persönlichkeiten entstünden, von denen die eine nicht wüßte, was die andere tat? Bedeutet die zweiseitige Symmetrie des Gehirns, daß wir zwei getrennte Wesen sind, die irgendwie miteinander verbunden sind? Tatsächlich eine beunruhigende Frage, die, könnte man denken, geringe Möglichkeiten hatte, beantwortet zu werden. Aber das wurde sie bald.

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1960 wies Dr. Joseph Bogen aus Los Angeles auf einen Weg hin, wie schwere Epilepsie kontrolliert werden könnte. Eine gründliche Durchsicht der Forschungsliteratur ergab, daß die für Epileptiker typische phasenverschobene Störung zwischen rechter und linker Hemisphäre in vielen Fällen mit einer Durchtrennung des Balkens kontrolliert werden könnte. Die erste Person, der durch diesen operativen Eingriff geholfen wurde, wurde von Bogen, Michael Gazzaniga und Roger W. Sperry Anfang der 60er Jahre untersucht, wobei Sperry einer der Forscher war, die die vorhergehenden Experimente mit der Katze durchgeführt hatten. Die erste Veröffentlichung ihrer Beobachtungen brachte der wissenschaftlichen Welt deutlich zu Bewußtsein, daß ein neues Kapitel der Hirnforschung aufgeschlagen worden war. Ihre anfänglichen Beobachtungen bestätigten, was die Katzenexperimente der fünfziger Jahre gezeigt hatten: Auf die Information, die eine Hemisphäre erhielt-visuell, taktil, propriozeptiv, auditiv und olfaktorisch (durch Seh-, Tast-, Körper-, Hör- und Geruchssinn) -, reagierte sie, ohne daß die andere Hemisphäre irgendeine Bewußtheit darüber hatte. Die Information übertrug sich nicht. Weitere Studien dieses Patienten enthüllten, daß trotz seiner scheinbaren Gelassenheit und seines normalen Verhaltens, einige erstaunliche Unterschiede in der Art, wie die zwei Hemisphären funktionierten, auftraten. Nach der glatten Trennung konnte man die Funktionen jeder Gehirnhälfte sozusagen in Reinkultur betrachten. So gesehen wurde plötzlich klar ersichtlich, daß die zwei Hemisphären in ihren Funktionen nicht symmetrisch gleich, sondern von Grund auf verschieden waren. Wie Sie sich vielleicht erinnern, werden Sinnesdaten, die in das rechte Auge oder die rechte Hand gelangen, generell zur entgegengesetzten Seite des Gehirns, der linken Hemisphäre, geleitet. Das gleiche kreuzweise Muster tritt in dem Falle auf, wenn Informationen in das linke visuelle Feld oder die linke Hand gelangen. Bei einem Test wurde dem Patienten ein Wort wie Löffel in seinem linken Gesichtsfeld (rechte Hemisphäre) gezeigt und er wurde gefragt, was er sah. Er antwortete, daß er nichts gesehen hätte. Dann aber, als seiner linken Hand eine Reihe von Gegenständen zur Untersuchung gegeben wurden, darunter ein Löffel, erkannte er ihn sofort. Er kannte weder das Wort noch konnte er es verbal und

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gedruckt erkennen, aber seine rechte Hemisphäre kannte den Umriß und die Beschaffenheit eines Löffels.Selbstverständlich wußte und erkannte er sofort das Wort Löffel,wenn es in seinem rechten Gesichtsfeld aufleuchtete. Lange vor diesen Experimenten war bekannt, daß die linke Gehirnhälfte zentral mit Sprache befaßt ist, aber es war nicht bekannt, in welchem Ausmaß. Bogen und sein Forschungsteam entdeckten, daß Sprache, Zählen und analytisches Denken spezielle Funktionen fast ausschließlich der linken Hemisphäre sind. Im Gegensatz dazu mangelt es der rechten Hemisphäre fast völlig an sprachlichen Fähigkeiten. Weil die Fähigkeiten der rechten Seite des Gehirns nonverbal sind, mußten spezielle Experimente erdacht werden, um das Wesen dieser Fähigkeiten auszureizen. Hier sind einige der Talente der rechten Hemisphäre, wie sie aufgezeichnet wurden: Die rechte Hemisphäre ist entscheidend für die räumliche Orientierung. Wenn die rechte Seite des Gehirns geschädigt ist, kann sich jemand leicht verlaufen; er kann weder Karten zeichnen noch sie benutzen; er kann die Größe, die Entfernung und die Richtung von Gegenständen nicht schätzen; er kann weder Umrisse akkurat kopieren noch schräge Linien richtig zeichnen; er kann keine Gesichter wiedererkennen, noch kann er unbekannte oder ungewohnte Formen behalten. Diese Besonderheit ist nicht beschränkt auf das Sehen, sondern betrifft genauso den Tast- und den Hörsinn. Eine Schädigung des rechten Gehirns vermindert die Fähigkeit eines Menschen, Melodien und Töne zu erkennen. Ein bedeutendes Untersuchungsergebnis der Hirnforschung beweist, daß eine Seite des Gehirns nicht nur einfach „dominant" über die andere ist, eigentlich hat jede Seite ihre Spezialisierung. Wenn ein Patient mit getrenntem Gehirn aufgefordert wird, etwas verbal zu beschreiben, führt automatisch die linke Seite diese Aufgabe aus, wenn er aufgefordert wird, etwas zu lokalisieren, wird seine rechte Hemisphäre in Betrieb gesetzt und der Betroffene zeigt mit dem Finger. Das menschliche Gehirn scheint strukturell symmetrisch zu sein, aber es ist grundlegend asymmetrisch in seinen Funktionen. Wir verfügen über zwei Wege, Dinge zu erkennen und zwei verschiedene Arten von Intelligenz. Bei manchen Gelegenheiten ist eine Art 100

nützlicher; zu anderer Zeit nutzt eher die andere. Diese gegensätzlichen Wege des linken bzw. rechten Gehirns, Informationen zu verarbeiten, sind mit Hilfe folgender Begriffe erfaßt worden: symbolisch analytisch rational aktiv abstrakt linear sequentiell

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räumlich synthetisch metaphorisch rezeptiv konkret nichtlinear multipel

Nach fünfzehn Jahren sorgfältiger Untersuchung dieser Gegensätze glaubt Joseph Bogen, daß die Funktionen der rechten und linken Hemisphäre einander am angemessensten durch die Begriffe ,,propositional" und „appositional" gegenübergestellt werden können, wobei ersteres in etwa bedeutet, etwas entschieden voranzustellen, letzteres, mit etwas zusammenzugehen, sich anzupassen. Zusammen bilden sie Kette und Schluß des Erkennens und Denkens. Bogens ausgereiftes Verständnis dieser Unterschiede ist ganz wesentlich mit einer Unterscheidung in Begriffen von Zeit verbunden. Die linke Hemisphäre organisiert Dinge in zeitlicher Abfolge. Jahre des Experimentierens stützen diese Sicht, daß die linke Seite Dinge eins nach dem anderen der Reihe nach verarbeitet, während die rechte Seite komplexe Informationen auf einmal im selben Moment verarbeiten kann. Das Geheimnis des linken Gehirns ist eine lineare, zeitliche Abfolge. Das Geheimnis des rechten Gehirns ist der nicht-lineare, nicht-zeitliche gleichzeitige Zugriff auf einen Gesamtzusammenhang. Die Forschung der Unterschiede der Hemisphäre schreitet unglaublich schnell voran, aber die bisherigen Erkenntnisse haben uns bereits ausreichend bestätigt, daß diese Symmetrie der zwei Seiten bei der menschlichen Spezies sowohl verletzt als auch transzendiert worden ist. Es gibt keinen Zweifel daran, daß Asymmetrie biologisch von Vorteil sein kann und daß der Mensch sich dahin entwickelt hat, diesen Vorteil zu nutzen. Während die Menschenaffen mit beiden Händen gleich geschickt sind, war und ist scheinbar immer die breite Mehrheit der Menschen vorherrschend rechts-

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händig - und ebenso rechts-äugig, rechts-füßig und benutzt sogar eher den rechten Kiefer beim Kauen. Menschen nehmen keine Probleme in Angriff, indem sie beide Hände benutzen. Sie verhalten sich selektiver. Sie gebrauchen eine Hand und eine Seite, um etwas spezialisierter auszuführen. Menschen haben, wie alle Somas, Fortschritte in Effizienz und Komplexität erzielt durch ein grundlegendes biologisches Hilfsmittel: Differenzierung. Darin besteht menschliche Lateralität, eineDifferenzie-

rung derFunktion,dieautomatischzweigetrennteFunktionenschafft. Weil es eine uralte, unsichtbare Achse senkrechter Symmetrie gibt, die die Struktur aller Somas teilt, haben Somas alternative Möglichkeiten, Dinge von einer Seite oder der anderen zu manipulieren. Das ist von Vorteil, weil es dem Soma doppelte Alternativen zum Manipulieren und Manövrieren zur Verfügung stellt. Die Begriffe manipulierenund manövrierenstammen von demselben lateinischen Wort: manus, das heißt „Hand". Wie wir gesehen haben, besteht die erste Funktion des Somas darin, aufrechtzu stehen;die zweite darin, sichvorwärtszu orientieren; und die dritte primordiale Funktion ist dasHandhaben. Alle Somas handhaben die Welt auf eine bestimmte Art Normalerweise ist diese Art zufällig und nicht spezifisch für eine Spezies, aber beim menschlichen Soma sind die zwei Seiten des Körpers und die zwei Seiten des Gehirns zweiseitig spezialisiert. (Und in den meisten Fällen gibt es geringe strukturelle Unterschiede im „Sprachzentrum" der linken Hemisphäre.) Wir sind damit auf etwas von möglicherweise enormen Konsequenzen gestoßen. Berücksichtigt man die Tatsachen: (1) daß Menschen die einzigen Lebewesen sind, die sich zu einer lateralen Spezialisierung entwickelt haben, (2) daß Menschen die einzigen Lebewesen sind, die Sprache gebrauchen, die fast immer durch die linke Hemisphäre gewährleistet ist, stellt man fest, daß dies nicht einfache Koinzidenzen sind: Sprache ist eine spezialisierte Art, in der die menschliche Spezies die Welt handhabt. In besonders hilfreicher Weise kann man sich die eigentümliche Tatsache von menschlicher Asymmetrie und seitlicher Spezialisierung am Beispiel eines Bogenschützens veranschaulichen. Der Bogenschütze gebraucht beide Hände. Die linke hält das Holz des Bogens und die Pfeilspitze, die rechte die Sehne und das Pfeilende. Beide Seiten und beide Hände funktionieren zusammen, wobei jede 102

eine spezielle Aufgabe erfüllt. Der rechte Fuß und die rechte Seite stemmen sich gegen den Boden, sie sind das stabile Zentrum der Handlung. Der linke Fuß und die linke Hand sind von diesem Zentrum weggestreckt, umkreisen und visieren das Ziel, so daß der Pfeil eine Linie bilden kann zwischen dem Auge und dem beabsichtigten Ziel. Die linke Seite des Bogenschützen (die rechte Hemisphäre) organisiert den Körper im Inneren, bis daß er auf das Ziel ausgerichtet ist. Die rechte Hand hält die Sehne und wird genau unter das rechte Auge gebracht, wobei sie fast Mund und Wange berührt. Das Zielen und Schießen mit einem Pfeil ist eine zweiseitige Handlung: Die linke Seite organisiert sich im Inneren, um Auge, Pfeil und Ziel auf eine Linie zu bringen. Das rechte Auge und die rechte Hand bleiben fixiert und zentriert und entscheiden über den genauen Moment, in dem die linke Seite in einer Linie mit Auge und Ziel steht. Dann wird der Pfeil abgeschossen. So wie das Soma sich mit dem Kopf voran in die Welt begibt, wird seine Flugbahn korrigiert und ausgerichtet durch die effiziente Koordinierung zweier sehr unterschiedlicher Hände. Diese Koordinierung von zwei verschiedenen Seiten und zwei spezialisierten Funktionen ermöglicht dem Menschen eine effizientere Funktionsweise. Zwei spezialisierte Funktionen zu einem einzigen koordinierten Prozeß zu integrieren - das zu erreichen ist die Aufgabe der zeitlich abstimmenden Funktion. Wenn es eine dieser spezialisierten Funktionen verlieren würde, würde das Soma an Effizienz verlieren und lateralisiert werden. Das Kapitel über somatische Lateralisierung hat gezeigt, welche Folgen es haben kann, wenn jemand alle seine Bemühungen in einen einseitigen Stand investiert. Der Körper bricht schließlich zusammen und das Selbstbild ist ernstzunehmend unausgeglichen, so sehr, daß man nicht länger effektiv und ohne Beschwerden leben kann. Die zwei Seiten des menschlichen Somas sind verschieden, und wir können uns glücklich schätzen, diesen Unterschied zu besitzen. Er gibt unserer Erfahrung und unseren Handlungen Gehalt. Wir können vielleicht eine weitere Entwicklung dieses Unterschiedes zwischen unseren zwei Seiten fördern, in dem Wissen, daß eine höhere neurale Funktion ihre Integration garantiert. Die zeitliche Funktion fügt diese Unterschiede zusammen und bindet sie in das 103

regelmäßige Repertoire unseres erweiterten Systems von Bewegung und Wahrnehmung ein. Die zwei Seiten des Lebens sind getrennt aber gleich, zusammen erlauben sie uns, auf leichte und effektive Weise mit der Welt umzugehen. Wenn wir vor unserem Spiegel stehen und lange genug diese zwei Seiten betrachten, entdecken wir vielleicht ein Geheimnis. Als wir uns gewundert haben, warum der Spiegel unsere zwei Seiten umkehrt, aber nicht oben und unten, waren wir nicht ganz akkurat. Der Spiegel kehrt die beiden Seiten nicht um. Unsere linke Seite bleibt auf der linken Seite des Spiegels und unsere rechte Seite bleibt rechts. Nichts hat sich verändert oder wurde vertauscht. Wir sehen eine perfekte Wiederspiegelung von uns selbst, wobei jede unserer Seiten ihren Platz behält. Aber wie kommt es dann, daß fast alle von uns unsere zwei Seiten im Spiegel vertauscht sehen? Die Antwort hängt mit unserer Kultur zusammen und der Art, in der sie uns dazu bringt, uns nach außen auf die Körperstruktur anderer Individuen auszurichten. Wir glauben, daß das Bild im Spiegel vertauschte Seiten hat, weil wir, ohne es zu bemerken, annehmen, daß wir jemand anderen sehen, eine andere Person, die vor uns steht. Unsere Kultur externalisiert unsere Wahrnehmung in solcher Weise, daß wir, selbst wenn wir uns selbst betrachten, geistesabwesend annehmen, daß das, was wir sehen, ein anderer als unser eigener Körper ist. Er ist es aber nicht. Was wir sehen, sind wir selbst, ist unser eigener Körper, dessen linke Seite links und dessen rechte Seite rechts vorausgesetzt werden kann. Es gab nie eine Umkehrung- wir haben nur in der Vorstellung gelebt, daß es eine Umkehrung gab. Auf diese Weise verzerrt unsere Kultur unsere Wahrnehmung. Wir können uns nicht als das, was wir sind, sehen. Anzunehmen, daß unser Spiegelbild jemand anderes ist, ist ein Zeichen dafür, daß unser Sinn von persönlicher Identität externalisiert und unser innerer Sinn von Identität verkümmert ist. Alles hängt davon ab, wie wir uns betrachten. Versuchen Sie es selbst. Sehen Sie in einen Spiegel. Sind Ihre Seiten verkehrt oder bleiben sie auf derselben Seite? Die Antwort wird Ihnen zeigen, wie gut Sie sich selbst kennen.

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2. Zeitliche Verzerrung des

lebenden Körpers

Somatische Ineffizienz Wenn ein Karatekämpfer ein zwei Zoll starkes Brett mit seiner Handkante zerschlagen will, muß er dazu seine Bewegungen zeitlich abstimmen. Eine komplexe Abfolge von Muskelkontraktionen vollzieht sich: Das Zwerchfell zieht sich stark zusammen und Luft wird ausgestoßen, alle Beugemuskeln auf der Vorderseite des Körpers ziehen sich zusammen, zwingen die Beine stark abwärts und bringen den Rumpf vor und nach unten: dieses Krümmen des Rumpfes nach vom geschieht nicht plötzlich, sondern durch aufeinanderfolgende Kontraktionen kräftiger Muskeln um das Rückgrat, die die Kontraktion eines Wirbels nach dem anderen in einer ansteigenden Kette von Nervenanreizen auslösen, auf den Höhepunkt gebracht durch ein aufeinanderfolgendes Senken von Schulterblatt, Unterarm und Handgelenk. Diese Bewegung, die von den starken und mächtigen Muskeln des Beckens ausgeht, strahlt nach oben aus mit immer größer werdender Schnelligkeit und steigender Kraft, bis die endgültige Geschwindigkeit und Wucht des auf den Höhepunkt gebrachten Schlages vernichtend wird. Wenn ein Mann einen Stein oder Baseball nimmt, ein Bein hebt, den Rücken krümmt, das Rückgrat nach vorne schnellt und den Gegenstand losläßt - der plötzlich von einer Geschwindigkeit von null auf eine von fast 160 Kilometer pro Stunde beschleunigt worden ist - ist dies auch eine Frage zeitlicher Abstimmung. Wenn ein Tennisspieler seinen Schläger nach vom bringt, Taille, Schulter, Ellbogen und Handgelenk dreht, um den auf ihn zukommenden Ball mit einem geschmeidigen, fast mühelosen „Plong" zu treffen, ist es eine Frage von zeitlicher Abstimmung. Wenn Horowitz oder Menuhin ihre Hände vor tausend eifrigen Zuhörern auf ihre Instrumente legen, ist es ihr Gefühl für zeitliches Abstimmen, das den begeisterten Applaus des Publikums hervorbringt. 105

Es haftet etwas Magisches an der zeitlichen Abstimmung: wenn wir sie bei Menschen auf ihrem Höhepunkt von Effizienz sehen, fühlen wir uns erschüttert und aufgelöst. Es erinnert uns an unsere außergewöhnlichen Möglichkeiten als menschliche Wesen. Es erinnert uns ebenso daran, daß ohne effizientes zeitliches Abstimmen unserer Handlungen unser Leben unbeholfen und ineffektiv wäre. Aber die Kampfsportarten, die sportlichen oder darstellenden Künste sind nur spezielle Beispiele für zeitliches Abstimmen. An sich ist es nicht speziell. Es ist ein bestimmendes Merkmal jeder Handlung jedes Lebewesens von seiner Geburt bis zu seinem Tod. Zeitliches Abstimmen ist spezifisch die Funktion der Integration aller drei räumlichen Dimensionen des Körpers zu gleichzeitiger Bewegung. Die drei Formen somatischer Verzerrung, die wir erwähnt haben, sind alle verbunden mit Deformationen der Breiten-, Tiefen- und Längs-Richtungen somatischer Bewegung. Alle Lebewesen besitzen sechs Körperteile, die wir als entscheidende und charakteristische Merkmale lebender, sich bewegender Körper erkennen. Die zwei Enden der Länge eines Somas sind nicht gleich - sie werden eigentlich als Kopf und Schwanz unterschieden, als höheres rostrales und niederes caudales Ende. Außerdem besitzen Somas in ihrer Tiefe ein Gesicht und einen Rücken, auch als vorderer ventraler und hinterer dorsaler Teil bezeichnet. Und in ihrer Weite verfügen alle Somas über zwei unverwechselbare Seiten, eine links von der mittleren Linie und eine rechts. Betrachtet als Teile eines leblosen, sich nicht bewegenden Körpers sind die Dimensionen der Länge, Tiefe und Breite statische, geometrische Positionen. Aber Somas sind nicht leblos, sie bewegen sich, und wegen dieser ständigen Bewegung sind diese drei Dimensionen nicht einfach räumliche Koordinaten, sie sind drei getrennte räumliche Funktionen. Alle Lebewesen, selbst Amöben, neigen dazu, sich bei Vorwärtsbewegungen zu verlängern, das Kopfende ist .das Ende, das auf die es umgebende Welt zugeht. Demgemäß besteht eine der Funktionen des Somas darin, sich zu strecken. Umgekehrt wäre eine seiner Funktionsstörungen eine dauerhafte Verkürzung seiner Länge, das, was ich als somatische Retraktion bezeichnet habe. Alle Somas besitzen ein Gesicht, das nicht nur eine statische Koordinate ist, sondern im Leben mit einer ständig veränderten Position verbunden ist. Um zu leben, sich zu bewegen und 106

zu überleben, muß ein Soma fähig sein, in jede nötige Richtung zu sehen, und eine Funktionsstörung der Vorwärts-Orientierung ist das, was ich somatische Fixierung genannt habe, das heißt, eine chronische Unfähigkeit, in alle Richtungen zu sehen. Alle Somas besitzen zwei Seiten und von ihrem äußeren Körper nach innen zu ihrem neuralen Zentrum besitzen sie die funktionale Fähigkeit, sich sowohl zur linken als zur rechten Seite zu bewegen. Die Unfähigkeit, diese beiden seitlichen Funktionen zu erfüllen, habe ich mit dem Begriff somatische Lateralisierung erfaßt. Obwohl wir diese drei funktionalen Dimensionen in Beziehung zu uns selbst, der menschlichen Spezies, veranschaulicht haben, sind alle drei charakteristisch für die Körperfunktionen aller Lebewesen. Aus dem gleichen Grund können alle anderen Lebewesen die gleichen Funktionsstörungen erleiden. Nur zu häufig ist es am schwierigsten, das Naheliegendste zu sehen und zu verstehen. Dies ist und war immer eine Herausforderung für maßgebende philosophische Betrachtungen: das zu sehen und zu verstehen, was elementar und fundamental ist. In der Einführung dieses Buches habe ich darauf hingewiesen, daß die Frage: „Was ist Leben?" abstrakt gesehen nicht zu beantworten ist, aber wenn diese Frage in konkreten Begriffen gestellt wird- durch die Betrachtung lebender Körper, der einzigen Träger von Leben -, dann kann sie beantwortet werden. So habe ich diese Antwort in sehr konkreten Begriffen entwickelt, indem ich die spezifischen Funktionsstörungen bei Menschen aufgezeigt habe, die zweifach dadurch gekennzeichnet sind, daß sie ziemlich häufig und doch ziemlich rätselhaft sind. Jedesmal, wenn wir etwas begegnen, daß sowohl alltäglich und doch unerforschlich ist, wissen wir, daß wir einem Sachverhalt gegenüberstehen, der höchstwahrscheinlich elementar und fundamental ist. Im letzten Kapitel habe ich versucht, diese elementaren Merkmale zu erhellen, und was enthüllt zu sein scheint, ist etwas so Naheliegendes, daß man sich wundert, wie irgend jemand nur so unaufmerksam sein könnte, es nicht zu bemerken. Es ist die Entdeckung, daß im Innersten aller Lebewesen einschließlich uns selbst - die drei Dimensionen des Raumes vorhanden sind. Damit das Leben überhaupt in diesem Universum existieren kann, mußte der Körper des Lebens - in seinen ureigenen 107

Aufbau - die drei Dimensionen des physikalischen Raumes in seine Funktionen wie auch in seine Struktur aufnehmen. Alle Lebewesen sind in Struktur und Funktion dreidimensional, und wenn wir über die Komplexität der inneren Kontrolle und Mobilisierung aller drei Dimensionen nachdenken, sollte es uns überraschen, daß solches überhaupt möglich ist. Einen Körper zu Bewegung zu mobilisieren, verlangt, den ganzen Körper in eine koordinierte, sich fließend anpassende Bahn zu leiten. Dies ist nur mit Hilfe einer einzigen Kontrollagentur möglich, die in der Lage ist, alle Teile des Somas zu einer einzigen Aufgabe zu mobilisieren. Diese Kontrollagentur wird durch das Zentralnervensystem bereitgestellt. Es ist die Funktion des zeitlichen Abstimmens, das heißt die aufeinanderfolgende Koordination des ganzen Organismus in einer vereinten Handlung. Die zeitliche Funktion garantiert die innere Effizienz des lebenden Körpers. Sie kann dies, da durch die Funktion des Zentralnervensystems alle unsere Muskelbewegungen und unsere sensorische Bewußtheit zu gleichzeitiger Handlung integriert werden. Wir sind uns selten der außerordentlich wachsamen und effizienten Arbeitsleistungen der zeitlich abstimmenden Funktion bewußt. Wenn wir eine willkürliche Handlung ausführen, wie einen Fuß anzuheben, bemerken wir gewöhnlich nicht die vereinte mobilisierende Aktion des gesamten Körpers. Wenn Sie in diesem Moment sitzen, können Sie sich dieses deutlich machen, indem Sie Ihren Fuß für ein paar Sekunden vom Boden aufheben und ihn dann wieder auf den Boden setzen. Normalerweise, wenn wir eine bewußte Handlung wie diese ausführen, ist unsere Bewußtheit auf den Fuß gerichtet, wie er den Boden verläßt und zu ihm zurückkehrt. Aber wenn man diese einfache Bewegung fortsetzt und seine Aufmerksamkeit auf andere Teile seines Körpers richtet, wird man einige bemerkenswerte Dinge feststellen. Was passiert zum Beispiel unter der linken Seite des Beckens und unter dem linken Oberschenkel, wenn der rechte Fuß sich hebt? Was macht eigentlich der linke Fuß, während der rechte Fuß sich hebt? Hebt er sich ebenfalls oder stemmt er sich statt dessen gegen den Boden? Sie stellen vielleicht fest, daß, ganz abgesehen von Ihrer bewußten Absicht, den rechten Fuß zu heben, eine automatische und unbewußte Mobilisierung des linken Beines stattfindet, wodurch der Fuß gegen den Boden drückt. 108

Es sind nicht Sie, die vorsätzlich das linke Bein bewegen, es ist Ihre zeitlich abstimmende Funktion, die Ihren ganzen Körper in Koordination mit Ihrer beabsichtigten Bewegung mobilisiert. Während Sie weiterhin den rechten Fuß aufheben und heruntersetzen, gehen Sie mit Ihrer Bewußtheit herauf zur rechten Schulter. Bewegt sie sich leicht? Wenn ja, in welche Richtung bewegt sie sich, wenn Sie den rechten Fuß heben? Wenn Sie dies herausgefunden haben, bringen Sie Ihre innere Bewußtheit zur anderen Schulter. Können Sie dort irgendeine Bewegung spüren? In welche Richtung? Wenn Sie sehr aufmerksam sind, stellen Sie vielleicht fest, daß Sie, wenn Sie den rechten Fuß heben, ebenso die rechte Schulter leicht heben und gleichzeitig die linke Schulter etwas fallenlassen. Tatsächlich veranlaßt das absichtliche Heben Ihres rechten Fußes heimlich die zeitliche Funktion, Ihren ganzen Körper so zu organisieren, daß die gesamte rechte Seite des Körpers sich hebt, während die gesamte linke Seite sich absenkt und zusammenzieht. Sie stellen vielleicht außerdem fest, daß sich die Muskeln auf der linken Seite des Rückgrats zusammenziehen und so Ihr Gewicht nach links herüberbringen, um ein Gegengewicht auf der linken Seite zu schaffen und damit das zusätzliche Gewicht durch das Aufheben des rechten Fußes zu kompensieren. Dies ist die Aufgabe, die die zeitlich abstimmende Funktion die ganze Zeit erfüllt - im Körper von Menschen und allen anderen lebenden Körpern. Bewußt beabsichtigen wir vielleicht nur eine Bewegung eines Körperteils, aber unbewußt koordiniert die zeitliche Funktion die Gesamtheit des Körpers, macht sie effizienter und enthebt den Körper von unnötiger Belastung. Das alles ist ziemlich beruhigend. Ob wir es wissen oder nicht, haben uns unsere Gene eine wachsame, alles kontrollierende Funktion gegeben, deren Aufgabe es ist, unser Leben zu erleichtern. Funktional gesehen ist zeitliche Abstimmung eine einzige, vereinheitlichte Kontrolle, die das gesamte Körpersystem durchdringt und die drei niederen Funktionen des Stehens, der Vorwärts-Orientierung und des Handhabens integriert. Anatomisch gesehen erkennen wir jedoch viele verschiedene beteiligte Strukturen. Da ist einmal das vestibuläre System, das im mastoiden Teil des Schläfenbeins direkt hinter unseren Ohren angesiedelt ist, ein Organ, deren drei halbkreisförmige Kanäle automatisch die Muskelkontrak109

tionen überall im Körper kontrollieren. Wenn jemand plötzlich auf vereistem Pflaster ausrutscht, reagiert das vestibuläre System mit blitzartiger Geschwindigkeit und bringt den Körper zurück ins senkrechte Gleichgewicht, lange bevor unsere bewußte Aufmerksamkeit eine Chance hatte, zu reagieren. Ein anderes Organ der zeitlich abstimmenden Funktion ist das Kleinhirn, eine schöne kleine Struktur, die genau unter dem rückwärtigen Gehirn angesiedelt ist und für jedermann wie eine kleine Nachbildung des Gehirns aussieht. Das Kleinhirn koordiniert die Muskeln des ganzen Körpers und gleicht sie an, stellt zum Beispiel sicher, daß, wenn der rechte Fuß angehoben ist, der linke Fuß sich nach unten abstützt. Dies macht es in Zusammenarbeit mit dem vestibulären System, das sich bemüht, den Körper in senkrechter Übereinstimmung mit der immer gegenwärtigen Richtlinie der Schwerkraft zu halten. Andere geniale Mechanismen in der Wirbelsäule sorgen dafür, daß, wenn wir einen Muskel zusammenziehen und ein Glied in eine Richtung hochbringen, der Antagonist auf der anderen Seite des Gliedes sich entspannt und streckt. Wenn wir unseren Bizeps anspannen, um zu zeigen, wie stark wir sind, denken wir nicht daran, unseren Trizeps am Ende des Oberarms zu entspannen: das passiert automatisch durch reziproke Stimulierung, eine besondere Schaltungsanordnung zwischen der Wirbelsäule und den Muskeln. Noch weit mehr Teile des Zentralnervensystems sind an der zeitlich abstimmenden Funktion beteiligt, besonders die Großhirnrinde - der komplexe neurale Super-Computer, der sich selbst darauf programmieren kann, höchst komplexe Sachverhalte zu lernen, wie ein Brett mit der bloßen Hand zu zerschlagen, einen Ball mit einer Geschwindigkeit von 150 Kilometer pro Stunde zu werfen oder ein Scherzo von Chopin zu spielen. Strukturell betrachtet, ist die zeitlich abstimmende Funktion verschiedenartig und komplex, aber in Begriffen ihrer Funktion erfaßt, ist sie einfach und vereinheitlicht und arbeitet, um alle unsere Bewegungen effizient zu koordinieren, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Wir wissen jedoch bereits, daß dies nicht immer so ist. Wie die verschiedenen Fallgeschichten gezeigt haben, kommt es häufig vor, daß die Bewegungen und die Eigenwahrnehmung von Menschen, besonders in hochentwickelten Gesellschaften, schmerzhaft ineffizient und unbeholfen werden können. Trotz ihrer Wach110

samkeit und allesumfassender Kontrolle versagt die Funktion des zeitlichen Abstimmens bei ihrer Aufgabe, nicht notwendigerweise wegen eines eigenen Fehlers, sondern wegen einer Verzerrung, wie einer gewohnheitsmäßigen Retraktion der Körpergröße, einer Fixierung der Fähigkeit, sich zu drehen oder einer einseitigen Lateralisierung von der Mittellinie des Körpers nach außen. Wenn eine dieser somatischen Verzerrungen vorhanden ist, ist die zeitliche Funktion weniger effizient. Ihre heimliche, unbewußt mobilisierende Kraft versucht, die Körperbewegungen auszugleichen, verfehlt aber unter den Voraussetzungen, unter denen sie arbeiten muß, ihr Ziel. Sie werden sich noch an Charlies Versuch erinnern, sich mit geschlossenen Augen nach links zu beugen. Er konnte dies nicht. Weil er bereits so lange zur rechten Seite hin verzerrt war, war die zeitliche Funktion lächerlich ineffektiv bei dem Versuch, seinen Körper auszugleichen. Man erinnere sich auch an den Bankier, dessen Rückgrat so fixiert war, daß, wenn er meinte, daß er es drehte, keine noch so winzige sichtbare Bewegung vorhanden war. Die zeitliche Funktion kann unsere Absicht, uns in einer bestimmten Art zu bewegen, nicht unterstützen, wenn eine oder mehrere der räumlichen Dimensionen unseres Körpers verzerrt sind. Wenngleich sie eine höhere integrative Funktion des Zentralnervensystems ist, kann sie doch nur die sensomotorischen Muster integrieren, die vorhanden sind. Wenn wir für den Moment Fälle angeborener Mißbildungen oder körperliche Verletzungen beiseite lassen, gibt es zwei grundlegende Faktoren, die somatische Ineffizienz verursachen: erstens gewohnheitsmäßige somatische Verzerrungen und zweitens Lernschwächen. Es ist ermutigend zu wissen, daß beide Probleme durch dasselbe generelle Verfahren aufgehoben werden können, nämlich, sich über sich selbst bewußt zu werden, indem man bestimmte Bewegungen erfährt. Dieses Verfahren kann am angemessensten durch die Fälle zweier Berufsmusiker veranschaulicht werden, mit denen ich gearbeitet habe: Pete R., ein Vibraphonist, und Martin J., ein Kontrabaßspieler. Seit einem Jahr hatte Pete unter chronischen Schmerzen im linken Handgelenk gelitten, mit gelegentlichen und weniger intensiven Schmerzen des rechten Handgelenks. Das Vibraphon ist ein Schlaginstrument, ähnlich wie eine Marimba, das mit ein oder zwei Schle111

geln in jeder Hand gespielt wird. Petes linkes Handgelenk schmerzte ständig. Zu der Zeit, als wir uns kennenlernten, konnte er seinen Beruf nicht ausüben. Während des vorangegangenen Jahres war das Handgelenk ärztlich behandelt worden. Bandagen hatten ihm geholfen, wenn er nicht spielte, aber da sie ihn beim Spielen störten, nahm er sie dazu ab. Am Tag nach einer Vorstellung waren sie wieder extrem empfindlich, ob bandagiert oder nicht. Dann empfahl ein Arzt Cortison-Injektionen. Pete erzählte mir, daß das Handgelenk darauf mit noch größeren Schmerzen reagierte. Dann versuchte es ein Orthopäde mit einem Verband, der Petes Handgelenk zwei Monate in einer nach rückwärts gestreckten Position hielt. Das ließ das Handgelenk noch schmerzhafter werden. Röntgenbilder zeigten keine strukturelle Schädigung des Handgelenks, und so erschien es wie ein Rätsel, warum dort so viel Schmerz sein sollte. Als ich Pete untersuchte, um herauszufinden, wie sein Körper sich bewegte, war ich von der Unbeweglichkeit seines Rumpfes überrascht. Er war ein kleiner Mann mit gutausgebildeten Muskeln und hielt sich straff aufrecht: Es gab fast keine Möglichkeit, das Rückgrat zu drehen - es war fixiert. Auch die Schulterblätter, besonders das linke, das nur kleinste Bewegungen zuließ, schienen in dem Rumpf zementiert. Nach nur ein paar Minuten war das funktionale Bild klar: Pete bewegte die Schlegel nur mit Bewegungen seiner Handgelenke und seiner Ellbogen, es schien dabei gar keine Bewegung im Schulterblatt oder im Rücken zu sein. Es war klar, daß die Muskeln des Handgelenks schmerzhaft überarbeitet sein mußten nach einer Vorstellung mit einer reinen Spieldauer von drei Stunden. Während Pete in verschiedenen Stellungen lag - auf dem Bauch, dem Rücken und den Seiten - machte ich kleine Bewegungen mit seinen Wirbeln, Rippen und Schulterblättern und lenkte seine Aufmerksamkeit dabei auf seine Empfindungen. Stück für Stück wurden Bewegungen seines Rumpfes differenzierter. Pete konnte die Bewegungen seines Unterarms unterstützen, indem er die Bewegungen seines Schulterblattes hinzufügte. Allmählich und indem ich ihn in der Phantasie auf einem Vibraphon üben ließ, fing er an, seinen Rumpf und ebenso sein Rückgrat geschmeidig bis hinunter zu seinen Hüftgelenken zu drehen, und sein Instrument mit seinem 112

gesamten Körper zu spielen. Als die somatische Fixierung sich auflöste, stand ein größerer Teil von Petes Körper zum Spielen zur Verfügung, und als diese vollere Bewegung sich entwickelte, trat das erwartete Resultat ein: Der Schmerz im Handgelenk verschwand. Ich sollte auf die Tatsache aufmerksam machen, daß ich kein medizinisches Kunststück vollbrachte und Pete „heilte", indem ich die „Symptome in seinem Handgelenk beseitigte". Im Gegenteil bildete ich Pete dazu aus, seinem Spiel mehr Bewegung zu geben. Wenn man Petes Problem aus struktureller Sicht betrachtete, befand sich sein Handgelenk im Brennpunkt- wie bei seiner vorhergehenden Diagnose und Behandlung. Aber wenn man Petes Problem aus somatischer Sicht betrachtete, seinen gesamten Körper in Begriffen seiner Funktionen erfaßte, stand alles außerseinen Handgelenken im Brennpunkt. So berührte ich nie sein Handgelenk, da das Problem nicht dort lag. Statt dessen befaßte ich mich mit seinem übrigen Körper und erinnerte ihn an die Körperpartien, die er nicht bewegte. Sobald sie sich zu bewegen begannen, integrierte die zeitlich abstimmende Funktion die neuen Bewegungen - und neue Empfindungen - in seine Art, das Vibraphon zu spielen. Wenn man mit funktional verursachten Problemen auf die richtige Weise umgeht - das heißt funktional-, ist es kein Problem, Schmerzen zu beseitigen: das wird als selbstverständlich angesehen. Aber meine Absicht ging weit darüber hinaus. Ich wollte ihm helfen, sich seiner selbst bewußter zu werden und sich besser kontrollieren zu können, so daß er das Vibraphon besser als zuvor spielen konnte. Und damit hatte ich Erfolg - das heißt, eigentlich hatten wir diesen Erfolg gemeinsam. Meine Arbeit mit Martin J.,dem Kontrabaßspieler, war viel offensichtlicher ein erzieherischer Prozeß. Martin spielte den Baß in einer Jazz Band und benutzte den Zeige- und Mittelfinger, um die Saiten zu zupfen. Jeder Finger bog sich in schneller Folge nach unten, um die Saite zu zupfen und streckte sich dann aufwärts, wenn der andere Finger sich bog. Es war eine sehr schnelle Aktion, und während des vorhergehenden Jahres hatte Martin bemerkt, daß die gesamte Länge eines Muskels im hinteren Teil seines rechten Unterarms „geschwächt" worden war. Schließlich schmerzte der Muskel jedes Mal, wenn er spielte, so sehr, daß er eine Woche Erholung 113

benötigte, bis er wieder spielen konnte. Zu dem Zeitpunkt kam er zu mir. Er erzählte mir von seiner Situation und ich forderte ihn auf, mir den Muskel zu zeigen, der immer so schwach und schmerzhaft war. Es war der ExtensorCommunisDigitorum,was mich überraschte. Ich hatte erwartet, daß die Empfindlichkeit von der Beugebewegung, mit der er die starken Saiten zupfte, verursacht würde, statt dessen war es die Streckbewegung, wenn er den Zeige- und Mittelfinger von der Saite mit diesem Streckmuskel wegzog. Ich bat Martin, seinen Baß zu unserer zweiten Stunde mitzubringen, damit ich sehen konnte, wie er das Instrument hielt und spielte. Er zeigte es mir. Er lehnte sich zurück auf einem hohen Stuhl, wobei er auf der linken Seite seines Beckens saß und sein Rücken drehte sich nach links, wenn er sich nach vom über den langen Steg des Basses beugte. Er spielte mir etwas vor. Ganz ähnlich wie Pete tat er dieses, indem er nur zwei Finger, das Handgelenk und den Ellbogen benutzte, sein übriger Körper war in einer gekrümmten Stellung erstarrt. Im Unterschied zu Pete war sein restlicher Körper aber nicht starr oder fixiert, er war relativ nachgiebig. Sein Problem lag anders. Eher als eine somatische Verzerrung besaß Martin ein Lernproblem. Wenn Martin gelernt hätte, den Baß auf traditionelle Weise zu spielen, wäre er meiner Meinung nach nicht in Schwierigkeiten geraten. Wenn man lernt, mit einem Bogen zu spielen, werden Schulterblatt und Rückgrat automatisch durch das Streichen zu einer wiegenden seitlichen Bewegung veranlaßt. Wie die Dinge aber lagen, hatte er sich das Spielen selbst beigebracht. Er hatte sich einen Baß geliehen und gelernt, darauf zu spielen, und sich dabei wild entschlossen auf die Finger und die Saiten konzentriert und den Rest seines Körpers von der Lernerfahrung ausgeschlossen. Als er genug Erfahrung gewonnen hatte, um Berufsmusiker zu werden, strapazierten folglich die nächtlichen Vorstellungen den Gebrauch seines ExtensorCommunisDigitorumüber sein Belastungsvermögen hinaus. Meine Schlußfolgerung lautete, daß Martin den Baß in der falschen Art zu spielen gelernt hatte. Er mußte umlernen. Ich schlug Martin ein Experiment vor. ,,Stellen Sie sich vor", sagte ich zu ihm, ,,daß Ihre Hand und Ihr Ellbogen völlig gelähmt sind. Halten Sie Ihre zwei Finger ausgestreckt, als wenn sie eingefroren 114

wären und Handgelenk und Ellbogen starr." Martin machte dies. „Und jetzt möchte ich, daß Sie den Baß spielen, indem Sie das Schulterblatt bewegen." Martin dachte einen Moment darüber nach und fing dann an, den starren Arm zu bewegen. Er brachte die Finger nach unten und legte den Zeigefinger unter die Saite und zupfte sie, dann ließ er das Schulterblatt fallen, bewegte den Arm zurück nach vom und legte den Mittelfinger unter die Saite und zog sie nach oben. Er probierte dies eine Weile und konnte schon bald den Unterarm und die Hand recht gut manipulieren. Er war zufrieden; er war nie darauf gekommen, so zu spielen. „Sie sehen", erläuterte ich ihm, ,,wenn Ihr Unterarm und Ihre Hand tatsächlich gelähmt wären, würde Sie das noch nicht davon abhalten, Baß zu spielen. Sie müßten nur einen anderen Körperteil einsetzen. Es gibt Menschen, deren Hände gelähmt oder deformiert sind und die lernen, mit den Füßen zu schreiben oder Bilder zu zeichnen. Verglichen mit ihnen, erscheinen unsere Füße gelähmt, weil sie so unbeholfen wirken, wenn wir sorgfältig kontrollierte Bewegungen machen. Aber wenn wir müßten, könnten wir lernen, mit unseren Füßen zu schreiben und zu zeichnen; dann würden sie nicht so gelähmt erscheinen. Auf eine Art besitzt der Körper eines jeden Teile, die ,gelähmt' sind, weil er einfach nie gelernt hat, diese Teile geschickt zu bewegen." Sobald Martin mit Leichtigkeit spielen konnte, indem er sein Schulterblatt bei der Bewegung einsetzte, gingen wir zu einem zweiten Experiment über. ,,Stellen Sie sich jetzt vor, daß sowohl Ihr Schulterblatt als auch Ihr Handgelenk gelähmt sind. Spielen Sie den Baß, indem Sie Ihr Rückgrat und die Hüftgelenke benutzen." Anfangs waren Martins Bewegungen selbstverständlich unbeholfen, seine generelle Kontrolle war ineffizient. Das dauerte aber nur kurze Zeit. Schon bald konnte er die Saiten recht gut anschlagen, die starken Muskeln des unteren Rückens und der Hüften bewegten geschickt die „gelähmten" Gliedmaßen. Nun machten wir den nächsten Schritt. ,,Lockern Sie das rechte Schulterblatt und spielen Sie, wobei Sie ebenso die Schulter wie Rücken und Hüfte benutzen." Sobald er dies machte, spielte er leicht und geschmeidig. Trotz des „gelähmten" Handgelenks war kaum Unbeholfenheit in seinen Bewegungen vorhanden. 115

Der letzte Schritt bestand für Martin darin, den Unterarm zu lockern und anzufangen, den Ellbogen, das Handgelenk und die Finger wieder einzusetzen, aber in Koordination mit den Schultern und dem unteren Rücken. Jetzt, wo alle diese Teile zusammenarbeiteten, bewegte sich Martin mit Anmut und Leichtigkeit. Von dem Moment an hatte Martin keine Schmerzen mehr im hinteren Bereich des Unterarms. Das wurde möglich, weil er jetzt seinen ganzen Körper beim Spielen einsetzte. Er hatte etwas gelernt, das ein funktionierender Teil seines Bewegungsrepertoires geworden war. Er würde nicht vergessen, wie es ging. Eine der häufigsten Fragen, die mir von den Menschen gestellt wird, denen ich geholfen habe, Bewegung wiederzugewinnen, ist: „Aber wird das anhalten? Wird der alte Zustand nicht wieder zurückkehren?" Martin fragte mich das. Ich sagte: ,,Nun, die Art, in der Sie jetzt spielen, haben Sie doch gelernt." Er bestätigte dies. ,,Wenn Sie einmal eine Folge von Bewegungen gelernt haben, werden Sie herausfinden, daß Sie sie nicht vergessen können. In dem Moment können Sie nicht anders, als den Baß mit Ihrem ganzen Körper zu spielen, weil es so einfacher ist und besser klingt. Sehen Sie", fragte ich,,, wie lange ist es her, daß Sie lernten, mit den Fingern zu schnippen?" ,,Wahrscheinlich zwanzig Jahre", meinte er. ,,Und wann", frage ich, ,,haben Sie zum letzten Mal mit den Fingern geschnippt?" Er dachte darüber nach und stellte fest, daß es schon lange her war, daß er eigentlich selten, wenn überhaupt je mit den Fingern schnippte. ,,Dann machen Sie mir das vor." Er hob seine Hand und schnippte seine Finger. ,,Da haben Sie Ihre Antwort", sagte ich. ,,Sie können nicht vergessen, wie man das macht, und Sie können ebensowenig vergessen, wie Sie den Baß mit Ihrem ganzen Körper spielen können. Einmal gelernt, ist es zu spät, es zu vergessen; die Fertigkeit, die Sie gelernt haben, haftet Ihnen an, genauso wie die ineffiziente Art, in der Sie zuerst spielen gelernt haben. Wenn Sie Ihr ganzes restliches Leben versuchen, zu vergessen, wie man mit den Fingern schnippt, werden Sie damit keinen Erfolg haben. Es -ist dasselbe mit dem Baß. Sie können vielleicht üben, schlecht zu spielen, aber Sie werden nie dazu in der Lage sein, zu spielen, ohne die effizientere Bewegungsfolge, die Sie jetzt gelernt haben." 116

Ich sollte ein drittes Beispiel anfügen, eines, daß nichts mit Musik, sondern mit Sport zu tun hat. In diesem Fall war es ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle, der an schlimmen Krämpfen im unteren Rücken gelitten hatte, so schlimm, daß er ohnmächtig wurde und ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Mitarbeiter von Beratungsstellen, Psychotherapeuten und Psychiater sind aufgrund des andauernden und starken Stresses, unter dem sie stehen, wenn sie den emotionalen Problemen anderer zuhören, häufige Besucher in meinem Büro. Wie in Kapitel 1 beschrieben, besteht die typische muskuläre Reaktion auf Streß in somatischer Retraktion, oder spezifischer in einer Kontraktion der paravertebralen Muskeln im unteren Rücken und/ oder Nacken. Bei William A. befand sich die Retraktion im unteren Rücken. Meine Arbeit mit William verlief fast so wie die mit Bryan, der unter ähnlichen Kreuzschmerzen litt. Als die Muskeln entlang seines unteren Rückgrats sich entspannten und streckten, wurde Williams Haltung gerader und er wirkte im Stehen merklich größer, wenigstens einen dreiviertel Zoll. Bald war er beschwerdefrei. Er erkannte, daß er sich langsam besser fühlte als in den letzten Jahren und so bat er mich, ihm zu helfen, seine sensomotorischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Während der folgenden Stunden freute es mich zu sehen, daß ein Nicht-Sportler zu einem leidenschaftlichen Jogger heranwuchs. Wenn jemand eine Lordose hat und immer wiederkehrende Schmerzen im unteren Rücken, ist das Letzte, woran er denken sollte, das Laufen. Der senkrechte Schock, der dabei vom Boden ausgehend durch das Rückgrat zieht, wird nicht von den Knochen der Wirbel aufgefangen, da sie nicht völlig senkrecht aufeinandersitzen. Statt dessen wird der Schock von den Muskeln entlang des unteren Rückgrats aufgefangen. Einfach gesprochen verschlimmert das Joggen die Probleme im Lendenwirbelbereich und verursacht gewöhnlich Krämpfe. Doch sobald sein unterer Rücken länger und gerader war, die Wirbel einer gerade über den anderen, fühlte William, daß er das wenigstens für ihn - Unmögliche tun konnte; er fing an zu joggen. Und er setzte dies fort und verlängerte seine Laufstrecke jeden Tag. Innerhalb von zwei Monaten schaffte er einen täglichen Lauf von 117

seiner Wohnung in San Francisco bis zur Golden Gate Bridge, einer Entfernung von insgesamt über 11 Kilometern. Leben besteht in der Bewegung des Körpers und der sinnlichen Wahrnehmung dieser Bewegung durch den Körper. Ganz am Anfang wurde die Feststellung getroffen, daß lebende Körper „individuelle Bewegungssysteme sind, die sich in einer organisierten, koordinierten und aufeinanderfolgenden Weise bewegen". Wenn Bewegung „organisiert", ,,koordiniert" und „folgerichtig" ist, ist sie zeitlich abgestimmt. Auf völlig wunderbare Weise übernimmt die neurale Funktion des zeitlichen Abstimmens jeden Bereich des lebenden Körpers - das Gesicht und den Rücken, Kopf und Schwanz und beide Seiten - und integriert sie effizient zu einer vereinigten, geschickt angepaßten Abfolge von Bewegungen, die alle zur Ausführung zweckmäßiger Aufgaben bestimmt sind, wie ein Vibraphon zu spielen, einen Baß zu zupfen, nach einem Glas Wasser zu greifen, einen Ball zu treten oder die Hand eines Freundes zu berühren. Das erstaunliche Merkmal des zeitlichen Abstimmens besteht darin, daß es die Gesamtheit des verfügbaren Somas erfaßt. Unser eigenes Bewußtsein ist nicht so wachsam: es stellt sich ständig um, konzentriert sich auf eine Sache nach der anderen, nie dazu in der Lage, die Gesamtheit und Fülle und sphärische Vollständigkeit unseres lebendigen Wesens zu erfassen. Wenn die Vorgehensweisen unseres eigenen organischen Wesens allein von unserem Bewußtsein abhingen, würden wir keinen einzigen Tag überstehen, noch wären wir dazu fähig, einen einzigen Schritt zu machen, ohne zu fallen. Bewußte Aufmerksamkeit ist ein enges Band von Aktivität, es kann sich in jede Richtung wenden, aber nicht in alle auf einmal Die Funktion des zeitlichen Abstimmens ist die vierte Dimension unseres lebendigen Wesens, eine höhere neurale Funktion, die die drei räumlichen Dimensionen, aus denen unser Körper besteht, umfaßt. Während Bewußtsein sich nur jeweils in eine Richtung wendet, wendet sich die zeitliche Funktion in alle Richtungen gleichzeitig. Es ist diese überallhin gerichtete Bewußtheit, die aktiv unser gesamtes Wesen integriert, überwacht und mobilisiert. Im neuralen Innersten von uns selbst - und aller Lebewesen - ist eine zeitliche Bewußtheit, die alle Bewegungen der Körperstruktur auf 118

einander abstimmt. Darin besteht die zentrale Kohäsionskraft, die unser Wesen als einen einzigen Prozeß zusammenhält. Ohne sie könnten wir nicht existieren, wir würden zu muskulären Zufälligkeiten und sensorischer Unordnung zerfallen, nicht unähnlich der, die bei einer zerebralen Lähmung oder Schizophrenie auftritt. Und wir müssen im Gedächtnis behalten, daß so wie die zeitlich abstimmende Funktion das alles durchdringende und umfassende Innerste unseres funktionalen Seins ist, es das zentrale Nervensystem und die sensomotorischen Bahnen sind, deren Strukturen sich im lebendigen Zentrum dieses Systems befinden. Lassen Sie uns das noch einmal betrachten. Zeitliches Abstimmen ist eine grundlegende Lebensfunktion, die autonom, unwillkürlich und unbewußt arbeitet, gerade unterhalb des ruhelosen Scheinwerfers unseres Bewußtseins. Zeitliches Abstimmen hat die Funktion, die Gesamtheit unseres verfügbaren Wesens zu ausgeglichener, koordinierter und effizienter Bewegung und Wahrnehmung zu integrieren. Aber die „Gesamtheit unseres verfügbaren Wesens" ist oft unzureichend, um uns ausgewogene, koordinierte und effiziente Bewegung und Wahrnehmung zu ermöglichen. Manchmal befindet sich unser Wesen in einem gewohnheitsmäßigen Zustand von Retraktion, Fixierung oder Lateralisierung. Unter solchen Bedingungen wird die Funktion des zeitlichen Abstimmens ineffektiv: Es ist nicht alles vorhanden, was sie zum Arbeiten benötigt. Und daher ist unser somatisches Wesen verzerrt und unser Leben in seiner Effektivität vermindert. Hier kann uns das Bewußtsein zu Hilfe kommen. Die nur jeweils in eine Richtung mögliche Konzentration bewußter Aufmerksamkeit ist vielleicht nur ein einziger Kanal, aber einer, der in jede sich bietende Richtung gewandt werden kann. Gewöhnlich ist bewußte Aufmerksamkeit nach außen gerichtet, wobei sie die äußere Welt erforscht und überwacht, aber wenn wir wollen, können wir ebenso unsere Bewußtheit nach innen richten und unsere innere Welt erforschen und kontrollieren. Wenn wir unseren rechten Fuß anheben, sind wir uns vielleicht nicht der mobilisierenden Aktion unserer zeitlich abstimmenden Funktion bewußt, die aktiv die Gesamtheit unseres Körpers angleicht. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit ab und an auf das konzentrieren, was in unserem übrigen Körper vorgeht, werden wir uns bewußt, was passiert, und dieser 119

auf einzelne Zusammenhänge gerichtete Bewußtseinsstrang kann mit der auf Gesamtzusammenhänge gerichteten Funktion des zeitlichen Abstimmens integriert werden. Wenn diese zwei Funktionen sich treffen, kann eine Veränderung eintreten: Durch diese sensomotorische Aktion kann ein größerer Teil des Somas für effiziente Mobilisierung unserer Handlungen verfügbar werden. Wie bereits erwähnt, bleibt es ohne Wirkung auf den Baum, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf ihn lenken, wenn wir aber unsere Aufmerksamkeit nach innen auf uns selbst und bestimmte Bewegungen unseres Körpers richten, beeinflussen wir uns. Das Leben und der Körper aller in den Fallgeschichten beschriebenen Personen waren ineffizient und verzerrt. Die integrative Fähigkeit ihrer zeitlichen Funktion war durch das, womit sie zu arbeiten hatte, be~nzt. Aber bei jedem von ihnen wurde der Körper und die Effizienz seines Lebens verändert, als ihre Aufmerksamkeit nach innen gerichtet wurde und sie lernten, ihre sensorische Bewußtheit auf vorher unbewußte Bewegungen in ihrem Körper zu konzentrieren. Wenn sensorische Bewußtheit nach innen auf verkümmerte oder ungelernte Bewegungen gerichtet wird, kann sie diese bewegungslosen und vergessenen Aspekte unseres lebendigen Wesens befreien und zurückfordern und sie uns für ein effizienteres und erfüllteres Leben verfügbar machen. Alle Lebewesen besitzen diese Funktion des zeitlichen Abstimmens, deren Zweck es ist, die drei Dimensionen des somatischen Wesens zu effektiven Aktionen zu integrieren. Nur ein einziges Wesen, das menschliche, besitzt eine sensorische Bewußtheit, die von der äußeren Welt entfernt und nach innen gerichtet werden kann, auf die innere Funktionsweise unseres somatischen Prozesses. Wenn diese sensorische Bewußtheit nach innen auf die unterentwickelten oder verkümmerten Prozesse unseres lebenden Körpers gerichtet wird, verändern sich diese Prozesse - und zwar zum Besseren, weil etwas Zusätzliches in den laufenden Prozeß unseres Lebens integriert worden ist. Kurz, wir werden anpassungsfähiger durch die Integration neuer Fragmente in den gesamten Prozeß unseres Zentralnervensystems. Der gesamte somatische Prozeß wird dadurch verbessert: Unsere Handlungen verbessern sich, unser Gleichgewicht, unser Denk- und Urteilsvermögen und unsere emotionale Stärke - kurz, unser Leben verbessert sich. Diese Ver-

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besserungen treten auf, weil, wie ein Spaten, der frische Erde umgräbt, das Ausrichten der Bewußtheit auf erforderliche Bewegungsmuster einen größeren Teil unseres somatischen Wesens für die Integration durch die primordiale Funktion des zeitlichen Abstimmens freisetzt. Aufrechtes Stehen, Vorwärts-Orientierung, Handhaben und zeitliches Abstimmen - dies sind die vier Dimensionen im Innersten aller Somas und im Innersten der Menschen, gerade unterhalb des ruhelosen Fokus ihres Bewußtseins. Die ersten drei Dimensionen bilden die Räumlichkeit des lebenden Körpers, seine Substanz und Gestalt. Die vierte Dimension bildet die Zeitlichkeit des lebenden Körpers und integriert die drei niederen Funktionen zu einen effizienten Anpassungsprozeß. Zusammengenommen bilden diese vier Dimensionen das uralte somatische Innerste aller Lebewesen. Sie sind das „alte Soma", das Ursoma, der Funktionskern aller Lebewesen, ganz gleich, welcher Spezies sie angehören.

Anmerkung:

Die Funktion des zeitlichen Abstimmens (Timing)

Wenn wir über die Art und Weise nachdenken, in der wir funktionieren, dürfen wir nicht den geschichtlichen somatischen Gesichtspunkt verlieren, der uns einen sicheren Zugriff auf das bietet, was für unser Verständnis von uns selbst von zentraler Bedeutung ist, gegenüber dem, was nur am Rande für dieses Verständnis bedeutsam ist. Von zentraler Bedeutung für unser Verständnis von uns selbst und allen Lebens ist, daß allesomatischen FunktionenBewegungen sind. Die verschiedenen Funktionen jeder Spezies bestehen in ihren charakteristischen, bewußten Handlungen. Bei nicht-menschlichen Spezies sind diese bewußten Handlungen genetisch „festgelegf', wie die Verhaltensforscher es ausdrücken: bei der menschlichen Spezies jedoch sind intentionale Handlungen nicht festgelegt. Sie werden statt dessen in Kommunikation mit anderen Menschen gelernt. Eine somatische Wissenschaft des Menschen nimmt ihren Anfang dort, wo die irreführenden Worte Geistund Körpervergessen und durch die Begriffe Funktion und Struktur ersetzt werden. Was 121

immer auch mit Körper gemeint ist, wird weit adäquater umschrieben, wenn wir von einer physiologischen organischen Struktur sprechen. Und zwar, weil das Wort Funktionmit Bewegung zu tun hat, und Bewegung ist das wesentliche Merkmal von Leben und des Lebensprozesses. Die Funktionen des Stehens, der Vorwärts-Orientierung, des Handhabens und des zeitlichen Abstimmens sind primordiale und richtungsweisende Funktionen in dem Sinne, daß wenn und falls Leben in anderen Sonnensystemen entdeckt werden sollte, wir sicher sein können, daß es ebenso von denselben primordialen Funktionen bestimmt sein wird. Sie besitzen voraussagenden Wert. Die somatische Sichtweise lehrt uns, daß die bedeutendsten Funktionen des Menschen Funktionen sind, die nicht spezifisch menschlich sind. Wie spezifisch auch immer die Art und Weise ist, in der irgendeine Spezies lebt und in ihrer Umwelt überlebt, gibt es einen grundlegenden Kern von Funktionen, auf dem diese spezifischen Handlungen basieren. Zum Vorhandensein eines Somas, das sich an seine Umwelt anpassen kann, ist ein Kern von somatischen Funktionen Voraussetzung, der Umweltanpassung ermöglicht. Damit ein Lebewesen angemessen in dieser Welt funktionieren kann, muß sein primordialer Kern somatischer Funktionen in gutem Zustand sein. Diese Funktionen sind in gutem Zustand, wenn jede von ihnen ihre „Neigung" aufrechterhält, das heißt, wenn jede der vier Funktionen das nicht-homöostatische Ungleichgewicht besitzt, das Lebensfunktionen charakterisiert. Wir wissen zum Beispiel, daß eine Balance der senkrechten Ebene eine gleichermaßen auf- wie abwärts führende Ausrichtung bedeutete: Das wäre die Homöostase (Aufrechterhaltung eines konstanten Gleichgewichts) der senkrechten Ebene. Aber die primordialen Funktionen sind nicht so aufgebaut. Die erste Funktion hat eine Vorliebe, eine Neigung dazu, sich aufwärts zu bewegen, wenn sie dies nicht macht, funktioniert sie nicht richtig. Wenn wir verstehen wollen, wie wir oder jedes andere Lebewesen in dieser Welt am besten überleben und sich durchsetzen kann, müssen wir auf die positive Neigung achten, die in jede primordiale somatische Funktion eingefügt ist. Es zieht vor, aufrecht zu stehen, statt zusammenzusacken. Das Soma zieht es vor, sich vorwärts zu orientieren, statt sich nach hinten zu wenden. Es 122

nimmt das, worauf es abzielt, in die Hand, anstatt das Ziel zu verfehlen. Das Soma zieht vor, seine Bewegungen zeitlich in effizient koordinierten Folgen abzustimmen, anstatt in räumlicher Starre zu verharren. Diese vier Neigungen sind wesentlich für den Aufbau des Somas und wesentlich für sein Wohlbefinden. Wenn sie in einen schlecht balancierten oder völlig unausgeglichenen Zustand geraten, verringern sie automatisch die Effizienz des Somas und bedrohen seine Lebensfähigkeit in der Welt. Die Effektivität des Lebens jedes Menschen beruht vor allem auf der angemessenen Arbeitsweise dieser vier von einer Neigung bestimmten Funktionen. Wenn eine oder mehrere gestört sind, wird die generelle Anpassungsfähigkeit des Menschen beeinträchtigt. Es ist die Fähigkeit, sich selbst effizient zeitlich abzustimmen, in der die wesentliche Errungenschaft des Körpers des Lebens besteht, und durch diese zeitlich abstimmende Funktion erhält das Leben sein allgemeines Merkmal von integrierter Bewegung und integriertem Prozeß. Der zeitlich abstimmende Prozeß des Lebens ähnelt sehr einem Jongleurakt, bei dem Gegenstände in einer bestimmten Reihenfolge in Bewegung gehalten werden. Es ist ein fortgesetzter Prozeß, der der Definition nach immer unvollständig bleibt. In jedem beliebigen Moment im Prozeß des Somas - seiner Bewegung, Verwandlung und Richtungsbestimmung - hängt etwas „in der Luft" und ist noch nicht heruntergekommen. In jedem gegebenen Moment befindet sich das Soma in einem Zustand der Unvollständigkeit und Spannung: Es wartet auf ein Ereignis, das noch nicht stattgefunden hat. Das soll heißen, daß derKunstgriffdessomatischen

Prozesses darinbesteht,Bewegungmittelszeitlicher Abfolgesozu organisieren,um Entropie zu verringern und Energie zu gewinnen. Leben besitzt die findige Eigenschaft, in die Zukunft zu investieren, nämlich einen Verlust an Energie zu riskieren, die nicht unmittelbar erneuert, sondern erst mit einiger Verzögerung wiederhergestellt werden kann. Das Leben ist so angelegt, seinen Prozeß während dieser Verzögerung durch die Erneuerung und Angleichung in Bewegung zu halten, indem es sich neuen Risiken aussetzt. Es muß betont werden, daß diese Investition in die Zukunft ein bewußtes Risiko von Seiten des Somas ist - es ist die bewußte

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Herausforderung eines Ereignisses in Erwartung lohnender Konsequenzen. Das Soma geht Risiken ein, weil es auf den Erfolg vertraut. Das ist das Wort: Vertrauen.Die bewußten Risiken, die unaufhörlich von Lebewesen eingegangen werden, werden im vollen Vertrauen auf eine Belohnung eingegangen. Die Belohnung wird nicht nur angenommen, sie wird erwartet. Und was durch diesen Prozeß erwartet wird, ist ein Überschuß an Energie,erzeugt durch die größere Effizienz des zeitlich abstimmenden Prozesses. Zusammengefaßt ist Leben Bewegung und der konsequente Prozeß des Lebens ist die zeitlich abgestimmte Koordination seiner Bewegungen. Dieser Prozeß riskiert Unvollständigkeit im vollen Vertrauen auf zukünftige Vollständigkeit, und wegen dieses Vertrauens plant er noch weitere Handlungsfolgen. Darin besteht das instabile aber trotzdem stabile Wesen des somatischen Prozesses. Jetzt, wo wir über eine genauere Kenntnis des zeitlich abstimmenden Prozesses verfügen, können wir erkennen, wie dieses vertrauende Riskieren von zukünftigen Ereignissen uns etwas über das Leben lehrt, das sich in der Biologie noch nicht entscheidend durchgesetzt hat. Bisher sind die Biologen der Darwinschen Evolutionstheorie gefolgt in dem engen Sinne, zu behaupten, daß die grundlegende Regel des Lebens darin besteht, zu überleben. Diese Einschätzung der fundamentalen Bewegungskraft des Lebens als homöostatische Selbstbehauptung verrät das Ausmaß, in dem die Biologie noch dem statischen, räumlichen Denken der Physik verhaftet ist. Bloßes Überleben ist nicht nur eine sehr enge Beschreibung des Vorhabens des Lebens: es ist eine unzureichende Beschreibung. Alles, was wir über Lebewesen wissen, sagt uns, daß das Soma nicht nur dazu geschaffen ist, sich zu behaupten und zu überleben, sondern mehrals das zu tun: sich zu entfalten,zu wachsenund sichzu entwickeln. Genau das haben Somas während ihrer erstaunlich fruchtbaren Wanderschaft von 3 400 000 000 Jahren gemacht, und diese Tatsache nicht zu erkennen, heißt, die genialen Kräfte organischer Wesen nicht zu begreifen. Das Risiko, das vertrauensvoll von dem Soma eingegangen wird, ist nicht die Handlung eines bloßen Überlebenden, sondern von jemandem, der seine Fähigkeiten erweitert und wächst, der durch die Effizienz seines Prozesses einen Überschuß an Energie besitzt. 124

Die letzte Sorge des Somas ist Homöostase und Überleben - dieses wird vorausgesetzt, sonst würde das Soma nicht unaufhörlich Ungleichgewicht und Unsicherheit riskieren. Von seinen Anfängen an ging das Soma über den einfachen Bedarf an Stabilität hinaus und benutzte, als Synthese höherer Ordnung, seinen Überschuß an Energie für Differenzierung, Entfaltung und Wachstum. Mutationen und die Entwicklung neuer Arten waren für solch ein Wesen vorbestimmt. Im Gegensatz zu traditionellem biologischem Denken ist Wachstum unabsehbar,es ist ein Wagnis vollerRisiken. Wachstum ist kein statischer, sich wiederholender Kreislauf, noch ist es das je gewesen. Es ist immer eine Entwicklung in Erweiterung des Vorherigen. Leben wächst, entfaltet und entwickelt sich in eine unabsehbare Zukunft seiner eigenen Möglichkeiten. Manche Menschen klammem sich vielleicht an das Leben und schaffen es gerade zu überleben, aber alle Somas vor den menschlichen haben vertrauensvoll ihre Zahl und Vielfalt in das Universum ausgebreitet, fast als ob das Universum nur zu dem Zweck existierte, das Vorhaben der Ausbreitung des Lebens zu unterstützen und darin aufzugehen. Um zu bestehen, mußte das Leben Mutation für Mutation Wege finden, sich gegen die Schwerkraft der Welt aufzurichten und ins Gleichgewicht zu bringen. Dies klingt vielleicht fern von allem Menschlichen, bis wir daran denken, daß die frühesten, genetisch vorgegebenen Reflexe von Kleinkindern mit dem Gleichgewicht und dem aufrechten Zurechtfinden mit der Schwerkraft zu tun haben. Die Funktion des aufrechten Stehens im Gleichgewicht ist so grundlegend, daß jede Störung der Entwicklung dieser Funktion die Entwicklung normaler „menschlicher" Intelligenz verhindert. Damit das Leben Teil dieser Welt werden konnte, mußte es die zweite räumliche Dimension der Tiefe ausdrücken, und so entwickelte es ein Gesicht mit einem Mund in der Mitte, das auf die Welt zuging. Indem sie sich vorwärts orientieren und auf die Welt zugehen, bewegen sich Somas auf das zu, was sie benötigen. Menschen, die nicht lernen, sich vorwärts zu orientieren und auf das Gewünschte zuzugehen, erreichen nicht, was sie zum Überleben benötigen, weder emotional noch physiologisch. Vorwärts-Orientierung ist eine positive und optimistische Funktion der Ausrichtung auf die Befriedigung des Verlangens. Der Mensch, der nicht 125

dazu in der Lage ist, direkt auf das zu sehen, was er möchte, ist durch Unzufriedenheit und unbefriedigte Bedürfnisse verkrüppelt. Ebenso unvermeidlich zwingt die dritte räumliche Dimension der Weite dem Körper des Lebens Lateralität und Symmetrie auf. Somas besitzen zwei Seiten. Wenn eine Seite gebraucht wird, um sich der Welt zu bemächtigen, koordiniert sich die andere mit ihr. Die Menschen haben sich von ihren mit beiden Händen gleich geschickten Vorfahren zu überwiegend Rechtshändern entwickelt. Sie haben sich spezialisiert und diese Spezialisierung spiegelt sich in den Funktionen des Zentralneivensystems wieder. Alle Menschen müssen entweder eine rechts- oder linksseitige Spezialisierung lernen, um das, was sie wollen, erreichen und ergreifen zu können, sonst sind sie unfähig, die Welt mit ausreichender Effizienz zu handhaben, um ihr Überleben und Wachstum zu gewährleisten. Außerdem haben wir bisher kaum die folgenschwere Tatsache angesprochen, daß die einzigartige Fähigkeit der Menschheit zum Gebrauch von Sprache, unauflöslich mit der Rechts- und Linkshändigkeit verbunden ist. Die zeitliche Abstimmung schließlich verbindet die drei somatischen Dimensionen zu einem integrierten neuralen Prozeß. Es ist diese Funktion, die dem Soma Integrität und Ganzheit gibt. Bei früheren als den menschlichen Somas haben wir die erstaunlichen Fähigkeiten festgestellt, die Lebewesen besitzen, um bestimmte, für ihr Überleben entscheidende Handlungen zu koordinieren. Verhaltensforscher nennen diese Verhaltensweisen feste Handlungsmuster und sie werden genetisch von einer zur nächsten Generation als Formen vorprogrammierten „Lernens" weitergegeben - ob Wanderungen von Zugvögeln oder die Jagdgewohnheiten von Hunden. Bei den Menschen ist jedoch die zeitliche Funktion einer außerordentlichen Mutation unterworfen. Sie verliert die leitende Kontrolle ererbter fester Verhaltensmuster und gerät unter die leitende Kontrolle von etwas entschieden Menschlichem: dem Lernen. Was durch die zeitlich abstimmenden Funktionen erlernt wird, ist nicht nur die Fähigkeit, eine Folge von dreidimensionalen Bewegungen zu koordinieren, sondern eigentlich die Fähigkeit, sie in Richtung einer effizienten Erfüllung der Wünsche des Somas zu koordinieren.

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Die Bedeutung dieser Zusammenhänge besteht darin, daß Somas sich nicht nur im Gleichgewicht mit der physikalischen Welt befinden, sie befinden sich nicht nur in Homöostase mit der Umwelt. Statt dessen riskieren Somas beständig Ungleichgewicht und Instabilität, um sich einer Vervollkommnung zu nähern. Es ist ein biologisches Gesetz, daß alle somatischen Funktionen einen Zweck haben, sonst hätten sie sich nicht entwickelt und überlebt. Das bedeutet, daß der Körperdes Lebenszielgerichtetist, er ist teleonomisch.Der berühmte Nobelpreisträger Jacques Monod betonte dies ausdrücklich in seinem Buch Zufallund Notwendigkeit.Wie er es sieht, ist „eine der grundlegenden Eigenschaften ..., die ausnahmslos alle Lebewesen kennzeichnen: Objekte zu sein, die mit einem Plan ausgestattet sind, den sie gleichzeitig in ihrer Struktur darstellen und durch ihre Leistungen ausführen." Diese biologische Intentionalität ist ,,als für die Definition der Lebewesen wesentlich anzuerkennen" (Monod 1985,27). Die vier somatischen Funktionen, die in uns angesiedelt sind, besitzen ihre eigenen uralten und weisen Absichten, und es ist von Vorteil für uns, diese grundlegenden Absichten verstehen zu lernen, die heimlich in unserem somatischen Innersten wirksam sind. Diese vier Funktionen bilden das Ur-Soma, das weiß, was es braucht und will, und im grundlegendsten biologischen Sinne ist dieses auch, was jeder von uns braucht und will. Es ist eine Frage des Bewußtwerdens für dieses erstaunliche lebendige Innerste und des Verständnisses seiner offenkundigen Weisheit. Und dank der integrativen Funktion der zeitlichen Abstimmung ist dieses die Weisheit von Effizienz, Leichtigkeit und Wohlbefinden.

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II. Somatische Erziehung

1. Das Wesen des Lernens

Das gesamte Gehirn eines männlichen Erwachsenen wiegt in etwa fünfzig Unzen - oder ungefähr vierzehnhundert Gramm. Das Gehirn ist ein ungeheures Organ. Es ist eine Anhäufung von etwa zwölf Milliarden Nervenzellen (Neuronen), von denen die meisten (neun Milliarden) in der obersten Schicht, der Großhirnrinde, konzentriert sind. Im Zentrum dieser Nervenzellen steht, wie der Hauptpfahl eines Zeltes, der alles andere trägt, das sensomotorische System. Diese gewaltige Ansammlung von Nervenzellen erfüllt zusammen eine zweifache Funktion: den Körper koordiniert zu bewegen und die sensorische Information, die sie vom Körper erhält, zu integrieren. Der Neurophysiologe Roger W. Sperry ist zu der Schlußfolgerung gelangt, daß die einzige Leistung der Gehirnfunktion in muskulärer Koordination besteht. Er hat diese Erkenntnis noch weiterentwickelt, indem er sagte, daß die gesamte Leistung unseres Denkmechanismus in das motorische System fließt. Das heißt, wenn wir denken, aktivieren wir entweder Muskeln oder zumindest motorische Neuronen. Wenn man berücksichtigt, daß diese Feststellung allgemein von dem Konsens der Hirnforschung der letzten Jahrzehnte gestützt wird, wird deutlich, daß die überkommene Vorstellung vom Menschen mit einem Geist, der denkt, und einem von ihm getrennten Körper, der handelt, weitestgehend entlarvt ist. Der Mensch ist ein einziges Wesen, ein Soma, das sich selbst bewegt, selbst wahrnimmt und selbst integriert. Wegen seiner sowohl funktional als auch strukturell besonderen Lage im Zentralnervensystem verdient das sensomotorische System eine nähere Betrachtung. Das auffälligste strukturelle Merkmal dieses Systems ist seine Lage im Zentrum des Körpers, es ist eingefügt in die gesamte Länge des Rückgrats bis hin zum oberen Zentrum der Großhirnrinde, mit den motorischen Nerven genau vor und den sensorischen Nerven genau hinter dem Zentrum (Abbildung 1 und 2).

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dorsale(hintere) Aückenmarkswurzel

ventrale(vordere) Rückenmarkswurzel

Abb. 1: Sensorische und motorische Bahnen im Rückenmark

Ebenso auffällig ist die Tatsache, daß die sensomotorischen Nervenbahnen der linken Seite des Gehirns überkreuzen, um die entsprechenden Funktionen in der rechten Körperhälfte zu kontrollieren, während die Bahnen der rechten Hemisphäre die Funktionen der linken Körperhälfte kontrollieren. Dieses Phänomen der Überkreuzung deutet die integrale Weise an, in der das Nervensystem den Körper kontrolliert. Auf Anhieb wundert man sich vielleicht, warum das linke Gehirn nicht die linke Körperseite kontrolliert und

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auslösende Zentren für austretende Nachrich ten Hinterhau ptlappen

Feld der Sehassoziati on motorisches Sprachzentrum (nur links) aufnehmende Zentren für eintretende Information

Abb. 2: Sensor ische und motorische Bahne n der Groß hjrnrin d e

da s rechte Gehirn ctie rechte-w ie zwei identi sche zusammen gefügte Hälft en. Aber weder d as Gehirn noch de r Kö rper bes teht aus zwei vereini gte n Hälflen, sie bilden eigentli ch eine einzige somati sche 133

Einheit, die sich in zwei Funktionskomponenten gabelt. Die Überkreuzung der neuralen Kreise ist das strukturelle Kennzeichen der Einheit des Somas. Es gibt ein weniger auffälliges Merkmal des sensomotorischen Systems, das nur allmählich entdeckt worden ist: Die Art, wie die Neuronen in diesen Bahnen angeordnet sind. Es ist eine höchst rationelle Anordnung, so regelmäßig in seiner Anlage wie die aufsteigenden Tasten eines Klaviers. Tatsächlich ist sie ganz ähnlich. Genauso wie das Anschlagen der weißen Taste des mittleren C bewirkt, daß die C-Seite im Klavier gespielt wird, aktiviert die Stimulierung eines Neurons in diesen Bahnen die entsprechende Muskel- oder Sinneszelle im Körper. Bei Gehirnoperationen, wenn der Schädel oben, genau über den sensomotorischen Nervenbahnen geöffnet worden war, stimulierten Neurochirurgen diese Neuronen mit einem winzigen, mit einer geringen elektrischen Ladung von wenigen Millivolt versehenen Faden. Sobald dieser Faden die mit den Muskeln von Fuß, Wange oder Daumen verbundenen Neuronen berührte, zogen sich die entsprechenden Muskeln zusammen. Wenn das Fädchen über die Neuronen in den mit einem Fuß, einer Wange oder einem Daumen usw. in Verbindung stehenden sensorischen Bahnen gestreift wurde, berichtete der Betroffene - der überraschenderweise ohne Beschwerden wachgehalten werden konnte während dieses Verfahrens -, daß er eine Empfindung verspürte, und zwar nicht im Gehirn, sondern in Fuß, Wange oder Daumen, sozusagen genau als ob jemand verschiedene Tasten eines Klaviers anspielte und damit verschiedene Töne erzeugte. Aber die Ähnlichkeit des sensomotorischen Systems mit dem rationellen Aufbau eines Klaviers geht noch viel weiter. Die methodische Anlage der Neuronen in diesen Bahnen skizziert gewissermaßen ein Bild des gesamten menschlischen Körpers vom Kopf bis zu den Füßen. Die Abbildungen 3 und 4 zeigen, wie die Anordnung der Nervenzellen in den sensorischen und motorischen Bahnen der Hirnrinde den menschlichen Körper von Kopf bis Fuß wiedergeben. Es sieht aus, als ob ein kleiner Mensch entlang dieser Bahnen skizziert wäre, und daher wird er als sensorischer bzw. motorischer Homunculus bezeichnet. Die Füße des Homunculus beginnen an der Längs-

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furche, die die beiden Hemisphären des Gehirns voneinander trennt. Dann zeichnet sich das neuronale Bild des Körpers ab über Bein, Hüfte, Rumpf, Schulter, Arm und Hand, wenn wir den Bahnen von der Längsfurche zu den Seiten des Gehirns folgen. Im Anschluß daran sind die Neuronen für Gesicht, Lippen, Zunge und Sprechorgane aufgezeichnet. Wenn wir ein leicht geladenes Fädchen über dieses neuronale Tastenfeld führen würden, würden die Muskeln und Sinne in einer regelmäßigen rationellen Abfolge aktiviert. Es würde eine zunehmende Kontraktion der Muskeln und ein ansteigendes Arpeggio von Empfindungen auftreten.

Abb. 3: Homunculus des somato-sensorischen Rindenfeldes

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(nach Penfield)

Abb. 4: Homunculus des motorischen Rindenfeldes

Bei näherer Betrachtung des kleinen Menschen beginnen wir, einige ungewöhnliche Merkmale dieses neuralen Körpers festzustellen. Das erste und vielleicht auffälligste Merkmal ist der enorme Raum, der Händen und Gesicht eingeräumt ist, gegenüber dem geringen Raum, den Beine und Rumpf einnehmen. Obwohl Beine und Rumpf den größten Teil der Körperstruktur ausmachen, bilden sie den kleineren Teil der neuralen Struktur- eine Tatsache, die uns eher in die Lage versetzt, zu beurteilen, welches aus neuraler Sicht

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die bedeutendsten Körperfunktionen sind. Beim Betrachten des Homunculus sehen wir vor allem den funktionalen Menschen, wie er sich von dem strukturellen Menschen unterscheidet. In ziemlich genauem Sinne kommen wir dem näher, was der lebendige menschliche Körper ist: das menschliche Soma. Der Homunculus zeigt uns, daß der größte Teil des neuronalen Raumes Händen und Gesicht investiert ist. Das ist sehr aufschlußreich. In Anbetracht der Tatsache, daß die Gehirnstruktur, die wir untersuchen, sich über Millionen von Jahren dahin entwickelt hat, läßt uns der Homunculus erkennen, daß es von zentraler Bedeutung für unser Überleben ist, eine Hand mit Fingern und ein Gesicht mit einem Mund zu besitzen. Um zu leben, müssen wir essen, und um zu essen, müssen wir in der Lage sein, Nahrung zu finden, sie zu greifen und sie zu unserem Mund zu bringen. Aber wir benutzen unseren Mund nicht nur zum Essen, sondern auch zum Sprechen, und so verfügen Lippen, Zunge und Kehle über reiche und komplexe neuronale Vorrichtungen für die Feinheiten des Sprechens, genau wie die Finger für die Feinheiten des Handhabens und Manipulierens. Der Homunculus zeigt uns, daß Menschen nicht nur einfach als Münder fungieren, die sich mit Nahrung versorgen, wir sind auch Benutzer von Sprache, die kommunizieren, und Werkzeugmacher, die etwas konstruieren. Ein anderes auffallendes Merkmal der neuronalen Anordnung dieser sensomotorischen Bahnen ist die Trennung des Gesichts vom übrigen Körper. Der Körper des Homunculus erstreckt sich von seinen Zehen bis zu Schultern, Nacken und Kopf, aber dort befindet sich kein Gesicht. Es hat seine eigenen besonderen Funktionen, die es neural von den Seiten des Körpers unterscheiden. Was wir demzufolge sehen, ist die Lateralität des neuralen Körpers - die Hand als primäres Merkmal jeder Seite - und die Fazialität des neuralen Körpers - deren primäres Merkmal der Mund ist. Der Homunculus zeigt eine vorherrschende Bindung an zwei wesentliche funktionale Bereiche: die lateralen Funktionen des Handhabens und die frontalen Funktionen der Vorwärts-Orientierung. Diese neurale Trennung von lateralen und frontalen Funktionen wird weiter unterstrichen durch die eigenartige Tatsache, daß die Funktionen der Vorwärts-Orientierung umgekehrt in Beziehung zu den Funktionen des Handhabens liegen. Während die Körperseite übergebeugt ist, 137

das obere nach unten, hat der Bereich des Gesichts die richtige Seite oben. Diese charakteristische Position des Gesichts sollte uns daran erinnern, daß das Gesicht nicht nur einen Mund zum Essen und Sprechen, sondern auch den Gesichts-, Hör- und Geruchssinn umfaßt, die dem übrigen Körper Informationen darüber vermitteln, was sich außerhalb vor ihm befindet und welchen Weg er gehen soll. Die Anordnung des Homunculus legt uns nahe, daß das Gesicht die spezifische Funktion hat, den Körper vorwärts zu führen und zu leiten, damit er das, was der Homunculus will, erreichen und damit umgehen kann. Der sensomotorische Homunculus ist ein zu Wahrnehmung und Handlung bestimmtes Wesen. Er ist bestimmt für den Prozeß sinnlich wahrgenommener Bewegung. Aber was wir sehen, ist nicht das ganze sensomotorische System, lediglich seine höchst aufschlußreiche kortikale Oberfläche. Die Neuronen dieser Bahnen führen hinab zu anderen integrativen Zentren, die gerade unter der Schicht der Hirnrinde liegen und die die Funktionen dieser Bahnen in Verbindung setzen zum Feld der Sinnes- und der prämotorischen Assoziation, ebenso zum Hinterhauptlappen, der das Sehen kontrolliert, und zum Schläfenlappen, in dem das Hören verarbeitet wird. Dies ist in Abbildung 2 zu sehen. Was man jedoch nicht sieht, sind die drei halbkreisförmigen Kanäle des vestibulären Systems, das in der Knochensubstanz des mastoiden Bereichs des Schläfenbeins angesiedelt ist. Diese drei mit Flüssigkeit gefüllten Kanäle sind direkt mit zentralen integrativen Bereichen des Gehirns und Kleinhirns verknüpft. Sie geben an das Gesicht und die zwei Seiten des Somas Informationen darüber weiter, wo sich die senkrechte Linie der Schwerkraft befindet. Das vestibuläre System ist der Sitz der Funktion des Stehens. Was man ebenfalls nicht sehen kann, ist die zeitlich abstimmende Funktion - nicht nur, weil Funktionen nur durch die Art beobachtbar werden, wie sie Struktur beeinflussen, sondern auch, weil die zeitliche Funktion sich an keinem bestimmten Platz befindet, sie ist eigentlich überall. Sie ist die integrative Funktion des lebenden Körpers. Demgemäß durchdringt sie alles und ist überall vorhanden, sonst könnte sie nicht den verbundenen sensorischen und motorischen Prozeß des gesamten Somas koordinieren und zusammenfügen. Die zeitlich abstimmende Funktion 1st eine über-

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geordnete, integrative Funktion des Zentralnervensystems, sie hat jedoch kein spezifisches Organ. Sie durchdringt alle Organe mit ihrer Hegemonie. Wenn wir auch keinen noch so flüchtigen Eindruck der zeitlichen Funktion erlangen konnten, haben wir doch ihr„ Versteck'' gesehen. Wir haben die neurale Tastatur gesehen, auf der sie spielt. Noch mehr haben wir Verständnis dafür gewonnen, wie die Struktur und die Funktionen des lebenden Körpers miteinander zu einer unauflösbaren Einheit verknüpft sind. So können wir vielleicht Roger Sperrys Schluß besser verstehen, daß „der gesamte Output unseres Denkmechanismus in das motorische System mündet.'' Das bedeutet, daß Denken im eigentlichen Sinne eine physische Aktivität und spezifisch, daß Denken eine motorische Aktivität ist, die die motorischen Neuronen in der motorischen Hirnrinde aktiviert, die direkt mit den Körpermuskeln verbunden sind. Was Sperry voraussetzt, ist eine somatische Sicht, nämlich, daß Denken Bewegung ist - tatsächlich physische Bewegung des lebenden Körpers. Mehrere tausend Jahre philosophischer und religiöser Anschauungen können uns sehr wohl dazu veranlassen, diese Folgerung abzulehnen, aber es könnte auch sein, daß diese Jahrtausende metaphysischer und theologischer Anschauungen uns von einem wirklichen Verständnis von uns selbst als lebende Menschen ferngehalten haben. So wie es Dante nur möglich war, den Himmel zu erkennen, indem er zum untersten Tor der Hölle hinabstieg, können wir vielleicht die wirklichen Quellen geistiger Überzeugungen nur erkennen, indem wir uns tiefer in das somatische Innerste von uns selbst wagen. Einer der wissenschaftlichen Pioniere bei der Erforschung der Beziehung zwischen Aktivitäten des Denkens und der Bewegung ist Edmund Jacobson. Vor dem Hintergrund seiner Forschung entwickelte er das bekannte klinische, als „Progressive Relaxation" bezeichnete Verfahren, das benutzt werden kann, Zustände hoher Anspannung und Unruhe zu verringern. Zuerst 1927, konstruierte Jacobson einen elektrischen Apparat zur Aufzeichnung von Muskelspannung, und mit den Jahren bewies er schlüssig, daß es einen engen und unbestreitbaren Zusammenhang zwischen Denken und Muskelanspannung gibt. Wenn Versuchspersonen aufgefordert wurden, sich mit abstrakten Gedanken zu beschäftigen, konnte er 139

beobachten, daß die Sprechmuskeln auffallend aktiviert wurden. Er fand ebenso heraus, daß jede geistige Aktivität sich in dem Maße verringert, wie die Muskelanspannung abnimmt Oacobson 1938, 1970). In derselben Richtung führten Smith, Brown, Toman und Goodman (1947) ein Experiment durch, um herauszufinden, was mit den Denkprozessen passieren würde, wenn alle Muskeln gelähmt wären. Dies wurde erreicht, indem einem Freiwilligen eine Curare-ähnliche Droge verabreicht wurde. Als eine völlige Lähmung eintrat, wurde der Betroffene künstlich beatmet, da das Zwerchfell aufhörte, die Lungenkaverne zu bewegen. Im Verlauf des Experiments trat kein Verlust des Bewußtseins auf, aber der Betroffene berichtete, daß er unfähig war, sich auf irgend etwas zu konzentrieren. Dies ist ein Defizit an sensomotorischer Funktionsfähigkeit, insbesondere der Funktionen der Vorwärts-Orientierung und des Handhabens. Ein anderer Pionier auf diesem Feld ist Roland C. Davies (1939), der entdeckte, daß, wenn Versuchspersonen dazu aufgefordert wurden, sich eine Multiplikationsaufgabe auszudenken, sich die Muskeln der dominierenden Hand zu bewegen begannen, als ob der Betroffene schreiben würde. Über eine der merkwürdigsten Entdeckungen über den Zusammenhang von Gedanken und motorischer Aktivität berichtete F.J. McGuigan (1970) im Zusammenhang mit jemandem, der akustische Halluzinationen hatte. McGuigan setzte Elektroden um die Sprechmuskeln des Betroffenen und forderte ihn auf, anzugeben, wann er anfing, die Stimme zu hören. In dem Moment, in dem er zu verstehen gab, daß die Stimme sprach, bemerkte McGuigan eine leichte beständige Bewegung in den Sprechmuskeln. Der Betroffene sprach zu sich selbst, ohne sich dessen bewußt zu sein, was bedeutet, daß motorische Aktivität nötig ist, um eine Stimme zu halluzinieren. Die vielleicht eingehendste Forschung über die Beziehung von motorischer Aktivität zu geistigen Funktionen wurde über dreißig Jahre an der McGill Universität vom Robert Malmo durchgeführt. Einer der faszinierenden Bereiche von Malmos Arbeit sind seine Untersuchungen über die Gradienten in Elektromyogrammen, der von einem Elektromyographen aufgezeichneten Zu- oder Abnahme 140

(Gradienten) von Muskelspannung. Die Bedeutung dieser Untersuchungen liegt darin, daß sie nicht nur einfach die Beziehung zwischen Denken und Muskelaktivität aufzeigen, sondern wie Muskelspannung sich verändert, wenn Gedanken sich von angenehmen zu unerfreulichen Themen bewegen. Z.B. ließen sich Personen, die unter chronischen Kopf- oder Nackenschmerzen litten, EMG-Elektroden an die Muskeln des schmerzenden Bereichs setzen. Dann, im Verlaufe des Interviews, wenn die Themen unerfreulich wurden oder störende Geräusche in den Raum drangen, baute sich bei den Betroffenen eine erhöhte Muskelspannung auf, auf deren Höhepunkt sich der Betroffene über den gewohnten Kopf- oder Nackenschmerz beklagte. Die beachtliche Arbeit von Malmo auf diesem Gebiet hat entschieden deutlich gemacht, daß im Verlaufe der Beschäftigung mit emotionsbeladenen Themen alle Menschen unbewußt einem Anstieg oder Abfall an Muskelspannung unterliegen. Eine Studie in dieser Richtung wurde in Malmos Labor von Wallerstein (1954) durchgeführt. Seine Versuchspersonen lagen im Bett, hörten sich eine gute Kriminalgeschichte vom Band an, währenddessen die Muskelaktivität in der Stirn aufgezeichnet wurde. Wallerstein stellte fest, daß mit wachsendem Interesse des Betroffenen an der Geschichte ebenso der Muskelgradient in der Stirn stieg. Als die Geschichte sich dem Höhepunkt näherte, näherte sich auch der Gradient seinem höchsten Punkt. Aber dann, sobald die Geschichte zu Ende war, fiel der EMG-Gradient zurück zum ursprünglichen Zustand. Wallerstein hat die somatische Tatsache aufgezeigt, daß die innere propriozeptive Erfahrung wachsenden Interesses und erhöhter Spannung verbunden ist mit der Erfahrung sich allmählich kontrahierender Muskeln. Wenn die Spannung vorüber ist, löst sich auch die Muskelanspannung. Eine ungewöhnliche und beunruhigende Tatsache tauchte im Verlauf dieser Experimente auf. Wenn die Geschichte unterbrochen und nicht beendigt wurde, blieb die Muskelanspannung aufrechterhalten - es blieb eine „Restspannung" zurück. Was sich ergab, ist folgendes: Wenn Menschen mit einer zielgerichteten Aktivität befaßt sind, steigt der EMG-Gradient beständig an bis zu dem Punkt, an dem das Ziel erreicht ist; dann, wenn die Arbeit getan ist, fällt er wieder. Wenn die Arbeit jedoch nicht abgeschlossen wird, bleibt die 141

Restspannung in den Muskeln und wird nur sehr langsam abgebaut. Das Labor der McGill Universität machte ein weiteres Experiment zu diesem Phänomen. Zwei Gruppen von Versuchspersonen wurden aufgefordert, eine Geschichte zu einem ihnen vorgelegten Bild zu erzählen, wobei die Anspannung ihrer Sprechmuskeln gemessen wurde. Nachdem sie ihre Geschichten erzählt hatten, reagierte der anwesende Psychiater auf sie, indem er die eine Hälfte der Versuchspersonen lobte, die anderen kritisierte. Diejenigen, die für einen guten Vortrag gelobt worden waren, zeigten alle einen deutlichen Abfall ihrer Muskelanspannung. Die anderen jedoch, die wegen eines schlechten Vortrags kritisiert worden waren, verloren nichts von der Anspannung, die sich aufgebaut hatte. Die Restspannung blieb, nicht nur bei den Versuchspersonen, sondern auch bei dem Kritik übenden Psychiater - auch er war an das EMG angeschlossen. Es bleibt hinzuzufügen, daß die Restspannung der Betroffenen abgebaut werden konnte, aber nur, indem ein anderes Mitglied des Stabs das Experiment erklärt und die Versuchspersonen in ihren Fähigkeiten bestätigt hatte. Diese Untersuchungsergebnisse haben unmittelbare Auswirkungen auf unser Verständnis davon, wie funktional verursachte Leiden zustandekommen. Wir beziehen uns dabei selbstverständlich auf Streßsituationen, und Streß ist der Begriff, dem Hans Selye durch seine eigene eindringliche Forschung zu voller medizinischer Anerkennung verholfen hat. Streß ist eine an den lebenden Körper gestellte Anforderung. Wie uns die Untersuchungen u.a. der McGill Universität gezeigt haben, sind Erwartung und Spannung keine „mentalen", sondern somatische Zustände. Unser gesamtes Wesen ist betroffen. Und ebenso sind Enttäuschung, verzögerte Befriedigung und Versagen nicht einfach „mentale" Schwierigkeiten, sie sind somatische Schwierigkeiten. Wenn es richtig ist, daß alles zielgerichtete Verhalten von gesteigerter Muskelaktivität begleitet wird, und daß verzögerte Befriedigung oder fortgesetzte Nicht-Beendigung diese Muskelanspannung aufrechterhalten, dann können wir verstehen, wie somatische Verzerrungen auftreten. Die mit hohem Druck verbundenen Jobs von Pat und Charlie beinhalteten eine unaufhörliche Orientierung an Zielen, wobei das Erreichen eines einzelnen Zieles von dem 142

Umstand überdeckt wurde, daß gleichzeitig zehn andere Ziele noch nicht erreicht waren und andere nicht erreicht werden konnten. Pat und Charlie und all die anderen, die wir beschrieben haben, lebten einen Alltag, der alles dazu tat, die muskuläre Anspannung ihres Körpers zu erhöhen und nichts, sie zu vermindern. Die Wochenenden und Martinis reichten nicht aus, diese große rückbezogene Spannung aufzulösen, und wenn der Montag kam, waren sie wieder um sechs Uhr auf, um mehr Zielen nachzujagen, bis sie sich schließlich einem Zusammenbruch näherten. Sie waren somatisch so beeinträchtigt, daß sie nicht länger effizient funktionieren konnten. Die gegenwärtige Kultur wirkt zerstörerisch durch die Art, wie sie Menschen dazu auffordert, Lebenssituationen -wie die Pflichten des berufstätigen Ehemannes oder die der städtischen Hausfrau und Mutter - zu akzeptieren, die sie aufreiben. Wenn sich jemand lange genug in einer solchen Situation befindet, wird er allmählich über sein Belastungsvermögen hinaus beeinträchtigt. Eine muskuläre Spannung baut sich auf, die leichte Bewegungen seines Körpers behindert, und das Empfinden dieser Anspannung gelangt zurück in sein Bewußtsein, indem sie es mit den nonverbalen Warnsignalen von Angst und Schmerz überfluten. Die neurophysiologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat uns deutlich gemacht, daß die Art von Gedanken, mit denen wir uns beschäftigen, die Qualität und Effektivität unseres Lebens bestimmen. Da Denken eine Aktivität des ganzen Körpers ist, die das gesamte sensomotorische System in Bewegung setzt, determiniert die Beschaffenheit unserer Denktätigkeit automatisch die Art unserer körperlichen Aktivität. Wenn wir dieselben ängstlichen Gedanken Tag für Tag in unseren Köpfen wälzen, dann ist sicher, daß wir Tag für Tag bestimmte Kontraktionen in unserem Körper auslösen und aktivieren. Und es ist ebenso sicher, daß diese leidenden Bereiche unseres Körpers durch den täglichen Mißbrauch ermüdet werden und Schaden nehmen. Wenn wir dieselben Rachegedanken immer wieder verfolgen, aktivieren wir ebenso die Muskeln und Drüsen unseres Körpers immer wieder. Wenn wir denselben Gedanken an eine Enttäuschung immer wieder nachvollziehen, prägen wir wiederholt seine motorische Kraft in das Gewebe unseres Körpers, bis es geschwächt ist. Wenn wir wiederholt Gedanken oder Erinnerungen an Ver-

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letzungen, Verzweiflung, Zorn oder Angst nachgeben, verletzen wir uns selbst physisch, wir betreiben Selbstzerstörung. Man kann sicher sein, daß das Gewicht neurophysiologischer Beweisführung nachhaltig auf der Seitejener ist, die uns raten, lieber positiv zu denken als negativ - falls uns das möglich ist. Aber unter den Anforderungen, die an uns gestellt werden, sind viele Menschen nur selten in der Lage, sich mit positiven Gedanken beschäftigen zu können. Die gegenwärtige Kultur ist für die meisten Städter eine erdrückende Last, die ihr ganzes Leben lang bedrohlich über ihnen hängt. Schon die Aufgabe, den ökonomischen und sozialen Status aufrechtzuerhalten, ist mit mehr Ängsten belastet, als noch vor einem halben Jahrhundert. Wenn jemand zusätzlich zu seiner Arbeit tagsüber die Zeitung liest und abends die Fernsehnachrichten verfolgt, erfährt er genug an Enttäuschung, Besorgnis und unguten Vorahnungen, um zu garantieren, daß die zurückbleibende Muskelanspannung in seinem Körper nicht im geringsten nachlassen wird. Es gibt keine einfache Lösung dieses Problems - und sicher keine qauerhafte. Aber der erste Schritt dazu ist, über das Problem nachzudenken und es zu verstehen. Ein somatisches Verständnis von uns selbst erlaubt uns, in größerem Umfange zu begreifen, was mit uns geschieht und warum unsere Gedanken, unsere Kultur und unsere individuelle Lebensweise uns so nachhaltig physiologisch und emotional beeinflussen, wie sie es tun. Dadurch, daß wir uns selbst und das vollständigere Ausmaß unserer Funktionsfähigkeiten verstehen, werden wir ermächtigt, uns selbst zu helfen. Wir sind vielleicht nicht in der Lage, etwas gegen unsere Kultur zu tun, und vielleicht nur wenig gegen unsere Arbeitssituation, aber wir können viel für uns selbst und die Art, wie wir unsere Erfahrungen verarbeiten, erreichen. Diese Erörterung somatischer Beeinträchtigungen und der neurophysiologischen Forschung, die relevant ist für die Erkenntnis der Ursachen dieser Beeinträchtigungen, hat eines deutlich gemacht: Unser gesamtes Dasein kann durch unsere täglichen Erfahrungen verändert werden, und durch das, worauf wir unser Bewußtsein richten. Bis hierher hat diese Erörterung nur die negativen und beeinträchtigenden Veränderungen behandelt, die mit uns geschehen können. Aber wir wissen, daß unser sensomotorisches System 144

genauso zu positiven und lebensgebenden Veränderungen fähig ist. Abgesehen von den Einflüssen durch die Gesellschaft und Kultur können wir uns auch selbst bestimmen und die Kontrolle über unser sensomotorisches Wachstum gewinnen, genauso leicht, wie wir uns selbst aufgeben und die Kontrolle verlieren können. Wir müssen nur wissen, wie, so daß wir unseren Weg durch das Labyrinth abstecken können. Das ist eine Frage des Lernens jener Muster, die leichter und effizienter sind, und des Verlemens derer, die schmerzhaft und ineffizient sind.

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2. Somatische Erzieher

Die sanften Pioniere

Matthias Alexander und Eisa Gindler Die beiden frühesten Pioniere im Bereich der somatischen Erziehung bestätigen das Sprichwort, daß Not erfinderisch macht. F.M. Alexander und Eisa Gindler machten ihre Entdeckungen auf dem Gebiet der Somatik, weil sie keine andere Wahl hatten. Um seine Bühnenkarriere fortsetzen zu können, hatte F.M. Alexander keine andere Möglichkeit, als einen Weg zu finden, seine Stimme zu verbessern. Er lebte Ende des letzten Jahrhunderts als Shakespeare-Darsteller in Sydney in Australien. Er litt in zunehmendem Maße an Stimmverlust, den er weniger durch eine schwache Konstitution als durch einen Mißbrauchseiner Stimme verursacht glaubte. Kliniken für Stimm- und Sprachstörungen waren zu dieser Zeit unbekannt und Alexander entschloß sich, sich selbst zu beobachten und herauszufinden, was nicht stimmte. Zu diesem Zweck benutzte er die einfachste Form eines Biofeedback-Hilfsmittels, einen Spiegel. Er stellte sich davor, fing an, seine Textzeilen zu rezitieren und beobachtete seine Bewegungen. Wie alles Somatische, war es zunächst zu offensichtlich, als daß ihm etwas aufgefallen wäre. Schließlich gelang es ihm aber, eine einzelne Bewegung seines Kopfes und Nackens zu isolieren, die er ständig machte, wenn er sprach. Er bog seinen Nacken, so daß sein Kinn sich hob und sein Hinterkopf sich senkte, als ob er in den Brustkasten sinken würde. Es war eine sich irgendwie duckende, für viele Menschen ziemlich typische Bewegung, aber Alexander erkannte, daß es eine Verzerrung seiner Kehle zur Folge hatte, die ihn dazu brachte, seine Stimmbänder zu überlasten. Diese Beobachtung typischer, aber unbewußter Bewegungen somatischer Retraktion war der Anfang der Alexander-Technik. 1904 kam Alexander nach London und erwarb sich im Verlaufe der folgenden vierzig Jahre höchstes Ansehen durch seine erfolg147

reichen Bemühungen, andere zu lehren, die gewohnheitsmäßige Haltung ihres Nackens, Rückens und ihrer Schultern zu verändern. Die körperlichen Veränderungen der Menschen waren so überraschend und ungewöhnlich, daß George Bemard Shaw weise schloß, daß die Alexander-Technik „der Beginn einer weitreichenden Wissenschaft" sei. John Dewey schrieb sein langes und unverwüstlich kreatives Leben der Arbeit Alexanders zu und erklärte sie zu „der neuen Richtung, die im gesamten Erziehungswesen benötigt wird". Aldous Huxley sollte später sagen, daß „uns Alexanders Technik das gibt, wonach wir gesucht haben ... eine Methode zur kreativen, bewußten Kontrolle des gesamten psycho-physischen Organismus". Der große Verhaltensforscher Niko Tinbergen lobte die Alexander-Technik in seiner Festrede bei der Entgegennahme des Nobelpreises für Medizin 1973. Die öffentliche Anerkennung seiner Technik veranlaßte Alexander, andere in seiner Arbeit auszubilden und ihnen ihre Ausübung zu erlauben. Diese Lehrer verbreiteten die Alexander-Technik von Großbritannien über die Länder des Commonwealth und bis in die Vereinigten Staaten und lehrten Menschen mit Haltungsstörungen, wie sie ihr gestörtes Gleichgewicht hemmen und überwinden können. Sie unterrichteten sie, indem sie ihnen zeigten, wie sie ihren Körper effizienter und für sie angenehmer gebrauchen könnten. Sie hielten Kopf und Kinn des Lernenden mit den Händen in einer bestimmten Position, während er das Aufsitzen aus der Rückenlage übte. Dies ist ein direkter Weg, jemanden zu zeigen, wie es sich anfühlt, seinen Körper auf verschiedene Weise zu gebrauchen. Der Lehrer hält dabei nicht nur Kopf, Schultern oder Rücken in einer neuen Position, sondern verstärkt verbal die Empfindungen des Schülers, während er die Bewegungen übt, indem er etwa sagt: ,,den Nacken frei, den Kopf nach vom und hoch, den Rücken verlängern und weiten 11



Das Bedeutende an der Alexander-Technik ist, daß sie funktioniert. Sie funktioniert, weil sie den Lernenden dazu anleitet, sich des Mißbrauchs seines Körpers bewußt zu werden und diese gewohnheitsmäßige Art, sich zu bewegen, hemmt. Gleichzeitig macht sie dem Lernenden einen effizienteren Gebrauch seines Körpers bewußt, gibt ihm verbale Hilfen, um dies zu verstärken, und fordert ihn dazu auf, die Einschränkung der alten und die Verstärkung der 148

neuen Bewegungsmuster im normalen Arbeitsalltag zu üben -während des Schreibmaschineschreibens, des Geschirrspülens, Lesens oder des Arbeitens mit Werkzeugen. Allmählich ändert sich die Haltung des Betroffenen, er steht aufrechter, mehr im Gleichgewicht und bewegt sich leichter und anmutiger- wobei „Anmut" als Ausdruck müheloser Effizienz verstanden werden soll Vielleicht besteht die zentrale Entdeckung Alexanders darin, daß der Kopf-Nacken-Bereich der Bereich der „primären Kontrolle" des menschlichen Körpers ist. Der Kopf enthält die Gleichgewichtsorgane und die der Entfernungswahrnehmung. Die Reaktionen des übrigen Körpers werden von ihm gesteuert und ausgelöst. Wenn etwas mit dem Gleichgewicht und der Bewegung des Kopfes nicht stimmt, wird der übrige Körper unter unausgewogener Belastung stehen. Wenn man andererseits die allgemeine Haltung des Körpers verändern möchte, muß man im Kopf-Nacken-Bereich anfangen. Eisa Gindler arbeitete am Anfang dieses Jahrhunderts als Bewegungspädagogin in Berlin und ihre Arbeit entwickelte sich aus der Tatsache, daß sie an Tuberkulose litt und arm war. Als noch junge Frau am Anfang unseres Jahrhunderts mußte sie zu ihrem Kummer erfahren, daß sie schwindsüchtig war. Ihr Arzt drängte sie zu einem ausgedehnten Genesungsaufenthalt in der Schweiz, währenddessen die am meisten befallene Lunge ausheilen könnte. Da sie sich einen solchen Luxus nicht leisten konnte, beschloß sie, zu versuchen, solche Kontrolle über ihre Abnung zu gewinnen, daß sie nur mit einer Lunge atmete, um so der anderen Erholung zu gönnen. Sie tat dies durch Beobachtung ihrer inneren Empfindungen, wobei sie zwischen den Bewegungen von Kehle, Brustkasten, Zwerchfell und Bauch differenzierte, bis sie die Abnung jeder Lunge sowohl wahrnehmen als auch kontrollieren konnte. Durch diese einfache und verblüffend direkte Methode wurde die normale Funktion der infizierten Lunge wiederhergestellt - eine Tatsache, die ihr Arzt sich weigerte, zu akzeptieren; er zog es vor, zu glauben, daß manchmal Wunder geschehen. Aber Eisa Gindler wußte, daß es kein Wunder war, sondern das Ergebnis eingehender Aufmerksamkeit für das, was in ihrem Körper vor sich ging. Die Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatte - zu lernen, eine Lunge auszuruhen, hatte mehr als nur ihre eigene Genesung zur Folge: Es resultierte in ihrer Entdeckung, daß Men149

sehenum so besserfunktionierenkönnen,je mehrsie sich ihrerinneren Empfindungenbewußtsind. Sie erkannte, daß menschliche Bewußtheit einen direkten Zugang zur Veränderung und Verbesserung der Körperfunktionen bietet. Da das Mittel zur Veränderung eine menschliche Fähigkeit war, nannte sie ihre nachfolgende Arbeit Arbeitam Menschen.Eisa Gindler hatte entdeckt, daß die Bewußtheit des Menschen keine „psychologische", ,,mentale" oder „geistige" Funktion ist, sie ist eigentlich eine physiologische Funktion. Obwohl sie diesen Begriff nicht anwandte, sah sie die menschliche Bewußtheit als somatische Funktion. Eisa Gindlernahm ein Phänomen ernst, mit dem Menschen schon immer vertraut waren: daß das Ausrichten der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Teil des Körpers ein Schritt ist, der unmittelbar diesen Körperteil beeinflußt. Wenn Sie in diesem Moment dieses Buch genau so halten wie bisher, ohne etwas zu verändern, und die relative Spannung oder Behaglichkeit von Händen und Fingern bemerken, ist das, als wenn ein Scheinwerfer auf Ihre Hände gerichtet würde. Welche Empfindungen Sie auch immer vor einem Moment wahrgenommen haben, sie sind unbedeutend verglichen mit dem, was Sie jetzt spüren. Ihre Bewußtheit hebt hervor, was im gegenwärtigen Augenblick in Ihren Händen vor sich geht, und falls Sie Ihre Hände unbewußt angespannt oder unbequem gehalten hatten, stellen Sie jetzt vielleicht fest, daß Sie die Haltung der Hände automatisch berichtigen, damit Sie das Buch leichter halten können. Sensorische Bewußtheit über das innere kinästhetische und propriozeptive Feedback unseres neuralen Systems versetzt das Muskelsystem in die Lage, sich auf eine effizientere Funktionsweise einzustellen. Das soll nicht heißen, daß „der Geist die Materie" bestimmt, sondern zeigt eher, wie eine somatische Funktion mit der anderen verknüpft ist, das heißt, in welch engem Zusammenhang das sensorische mit dem muskulären System steht. Wir haben gesehen, in welcher Weise im sensomotorischen Homunculus eine somatische Funktion mit der anderen verknüpft ist. Und wenn jemandes sensorische Bewußtheit über den Zustand seiner Muskeln in der Anpassung dieser Muskeln resultiert, ist dies nicht eine Frage der Bestimmung des „Geistes über die Materie", sondern von den sensorischen über die motorischen Funktionen. Die veränderten Bewegungsmuster werden indes zurückgemeldet

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und geben neue sensorische Eindrücke, welche wiederum die muskuläre Koordination neu anpassen und so fort. Es ist ein ständiger Kreis von Rückkoppelungen, der niemals aufhört, von der Geburt bis zum Tod. Indem Eisa Gindler entdeckte, daß größere sensorische Bewußtheit zu effizienterer Muskelkontrolle führt, erkannte sie die Bedeutung bestimmter neurophysiologischer Zusammenhänge, aus denen noch niemand Vorteil zu ziehen gedacht hatte. Sie glaubte, daß Menschen zu einem Maß an Selbst-Korrektur und Selbst-Veränderung fähig sind, das anderen Lebewesen nicht möglich ist. Und wenn F.M. Alexander erkannt hatte, daß jemandes Körperhaltung von Grund auf verändert werden konnte, indem man seine Bewußtheit auf eine spezifische Art, sich zu „gebrauchen" (das heißt, sich zu bewegen) aufmerksam machte, dann wissen wir, daß er das gleiche wie Eisa Gindler tat. Keiner von beiden machte indes diese Entdeckungen durch die Kenntnis der Neurophysiologie. Sie machten sie in sich selbst, als unmittelbar nachweisbare Tatsachen. Nicht nur Alexanders, auch Eisa Gindlers Schüler haben ihre Methode über die ganze Welt verbreitet. In ihren Berliner Studios bildete sie zahlreiche Praktiker in ihrer sanften Kunst der Bewußtheit aus. Eine von ihnen, Charlotte Selver, brachte diese Erkenntnisse in die Vereinigten Staaten, und im Verlaufe mehrerer Jahrzehnte beeinflußten ihre Lehren grundlegend das Denken Erich Fromms, die Entwicklung der Gestalttherapie Fritz Perls und Wilhelm Reichs Haltung gegenüber der menschlichen Atmung. Aber eine der interessantesten Wirkungen der Arbeit Charlotte Selvers, die sie „Sensory Awareness" nennt, ist die Reaktion des anglo-amerikanischen Philosophen Alan Watts. Bei erster Bekanntschaft mit Charlotte Selvers „Sensory Awareness" rief er aus: „Aber das ist lebendiges Zen." Charlotte Selver wußte zu der Zeit nichts über Zen-Buddhismus und wunderte sich, was die Arbeit einer Berliner Bewegungspädagogin mit der Praxis einer japanischen Religionsgemeinschaft zu tun haben könnte. Schließlich jedoch erkannte sie die nicht zu verleugnenden Ähnlichkeiten zwischen den Übungen der „Sensory Awareness" und denen des Zen-Buddhismus. 151

Sowohl die Wesenszüge des Buddhismus als auch seiner Übungen werden erklärt und entmystifiziert, wenn wir begreifen, daß sie ein System somatischer Erziehung sind. Zen-Praktiker haben entschieden betont, daß Zen keine Religion ist, daß Zen sich mit der Realität der Dinge wie sie sind befaßt. Aber Menschen aus dem Westen fanden verwirrend, wie man „Erleuchtung" erlangen könnte ohne ein System von Doktrin und Lehre. Vertreter des Zen wie Daisetz Suzuki zogen gewissermaßen eine Parallele zu dem, was Moshe Feldenkrais später über Funktionale Integration sagen sollte: „Das erste Prinzip des Zen-Buddhismus ist, daß es kein Prinzip gibt." Zen ist eine Übung. Es ist ein „Weg" und ein „wie" des Lebens, in dem völlige Konzentration, volle Bewußtheit das Ziel ist. ,,Wie kann ich Einsicht erlangen, Meister?" fragt der Zen-Schüler. Der Zen-Meister antwortet: ,,Setz dich hin und sei still." ,,Ist das alles?" fragt der Schüler. ,,Ja", sagt der Meister. ,,Sei still und lerne, zu sitzen. Wenn du das kannst, komm zurück." Diese paradoxen Aspekte den Zen haben Menschen aus dem Westen immer verwirrt, die nach einer insgeheim verborgenen, metaphysischen Bedeutung suchten, wo es keine gab. Denke nicht, sprich nicht, analysiere nicht, mach dir keine logischen Begriffe, lautet der Vorschlag. Nimm statt dessen dich selbst wahr, begreife was im Inneren passiert, praktiziere Bewußtheit. Wenn du dir darüber bewußt bist, was es heißt „zu sitzen", wenn du dir bewußt bist, was es bedeutet „zu atmen", dann bist du auf dem Weg zu der Gelassenheit, der emotionalen Ausgeglichenheit und Friedfertigkeit der vollkommenen Einsicht. Die Erleuchtung, die der Zen-Anhänger sucht, ist eine somatische Erleuchtung, und sie kommt mit der allmählichen Entdeckung von Effizienz und Leichtigkeit der somatischen Funktionsfähigkeit. Es ist keine Glaubens- oder Denkweise. Es ist ganz einfach ein Weg, die philosophische Wahrheit der Dinge zu leben. So sollten wir nicht überrascht sein, daß die Art, Funktionale Integration, die Alexander-Technik oder Sensory Awareness zu lernen, der Ausbildung des Zen-Buddhismus ähnlich ist. Keine dieser Disziplinen ist daraufhin angelegt, anderen zu helfen, indem

ihnen ein System aufgezwungen wird. Im Gegenteil, die intellektuelle Beschäftigung mit einem System wird abgelegt, weil es vor dem

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Denken schon ein von alters her gefügtes und entwickeltes System gibt: das Ursoma, das im Innersten des menschlichen Lebewesens zu Hause ist. Der führende Zen-Meister in Amerika, Richard Baker Roshi, sagt über die Arbeit von Charlotte Selver und ihres Ehemannes, Charles V. W. Brooks, daß „sie nicht mit Worten beschrieben werden kann- es ist die Sprache unseres Geistes und unseres Wesens. Sie gehören zu den bedeutendsten Persönlichkeiten, die ich kenne, die uns in eine neue oder vergessene Welt führen, in der Körper und Geist eins sind" Zwischen dem alten Japan und dem modernen Deutschland gibt es eine ungeheure kulturelle Distanz, die augenblicklich verschwindet, wenn menschliche Somas sich wirksam ihrer selbst bewußt werden. Aikido ist eine somatische Disziplin, die in Japan von Morihei Ueshiba am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Es ist keine Methode des Kampfes oder der Selbstverteidigung. Es ist eher eine friedliche Art, mit den in einem Kampf angewandten Kräften zu spielen. Aikido ist eine aktive Gelassenheit, deren Ursprung in der Effizienz der Bewegung und einer gleichzeitigen Bewußtheit über sich selbst und den „Angreifer" liegt. Der ausgebildete Aikido-Praktiker begegnet, vertrauend auf sein Koordinationsvermögen und sein Gleichgewicht, der herannahenden Energie seines ,,Angreifers" und verschmilzt mit ihr, wobei er niemals Gleichgewicht, Kontrolle oder Bewußtheit verliert. Er wirft seinen Gegenspieler in einer einzigen geschmeidigen, untadeligen Bewegung oder wird selbst mit der gleichen effizienten Leichtigkeit geworfen. Wie im Zen ist die Disziplin weder eine des „Körpers" noch eine des ,,Geistes", sondern eine der unauflösbaren Einheit des menschlichen Somas, und der Adept hält sich im Gleichgewicht auf dem schmalen Grat, auf dem bewußte Absicht und körperliche Bewegung gleichzeitig und eins werden. Die chinesische Tradition des Tai Chi Ch'uan ist eine dem Aikido ähnliche somatische Disziplin, außer daß Gegenspieler und „ Würfe" dabei nicht im Mittelpunkt stehen. Was ausgeübt wird, ist im wesentlichen eine Form des Tanzes, bei dem der Übende einer genauen Choreographie ausgewogener Bewegungen nachgeht. Während Aikido Gelassenheit und Einklang mit der Welt zum Ziel hat, haben die Bewegungen des Tai Chi Ch'uan ein zusätzliches Motiv: Gesundheit. Es ist eine alte Form präventiver Medizin.

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Die älteste aller Disziplinen somatischer Erziehung ist Yoga, eine Tradition, die ähnlich wie Zen von einem westlichen Standpunkt aus unverständlich ist. Die Absicht des Yoga ist die Befreiung und Festigung des Selbst- wobei das „Selbst" im wesentlichen als Soma begriffen wird. Der Zustand des Samadhiund das Ziel des Nirvritti sind keine nicht-somatischen „geistigen" Ziele, sondern bestehen statt dessen in dem Erlangen somatischer Ganzheit, in der alle abstrakten Vorstellungen überwunden sind und das Wesen von jemandes individueller Identität erhellt worden ist Die acht Stufen des RajaYogasind abgestufte Schritte von Bewußtheit und Kontrolle über zunehmend subtilere somatische Funktionen. Auf der achten und letzten Stufe ist der Yogi vermutlich zu endgültiger Erkenntnis und Kontrolle über alle somatischen Funktionen gelangt, und darauf gründet seine Befreiung. In der westlichen Kultur haben diese asiatischen Disziplinen in unserem Jahrhundert ständig wachsende Anerkennung gefunden. In dem Maße, wie Europäer und Amerikaner Einsicht in den somatischen Bereich gewonnen haben, haben sie scheinbar die asiatischen Traditionen somatischer Erziehung „entdeckt". Die Implikationen somatischer Erziehung sind enorm, und wir können höchstens eine langsame und allmähliche Annahme dieser Implikationen erwarten. Eine klinisch erfolgreiche Form somatischer Erziehung, die auf den ersten Blick vielleicht nicht als „Körperarbeit" erscheint, ist Biofeedback. Im Biofeedback benutzen wir ein Instrument, das uns hilft, uns physiologischer Vorgänge bewußt zu werden, die sonst unter der Schwelle unseres Bewußtseins bleiben. Etwas so Einfaches wie ein Spiegel kann als Biofeedback-Hilfsmittel benutzt werden wie F. M. Alexander gezeigt hat. Aber wir können weit spezifischeres Wissen über unseren Körper gewinnen mit Hilfe von elektronischen Instrumenten, die Gehirnströme, Muskelspannung, Hauttemperatur oder hautelektrisches Potential messen. Wenn sich jemand seiner spezifischen Körperprozesse bewußt wird, kann er eine gewisse Kontrolle über sie gewinnen. Migräneschmerzen sind z. B. schwer durch herkömmliche medizinische Therapie zu kontrollieren. Da die Erweiterung der Kopfarterien an der Kopfhaut keine bekannte Ursache hat, gibt es keine eindeutige Behandlung. Aber Biofeedback-Forscher haben herausgefunden,

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daß wenn jemand, der unter Migräne leidet, an den Fingern mit einem Temperaturaufzeichnungsgerät verbunden ist, er allmählich lernen kann, die Temperatur seiner Hände zu erhöhen oder zu senken. Die Temperatur steigt, so wie sich seine Blutgefäße erweitern und mehr Blut in die Hände leiten. Diese Umleitung von Blut in seine Gliedmaßen verringert den Blutdruck in seinen zentralen Kopfarterien und verhindert den Kopfschmerz. Oft lernt jemand, der jahrelang unter heftiger Migräne gelitten hat, in nur wenigen Übungsstunden, den Kopfschmerz vollständig unter Kontrolle zu bringen. Dies ist eher Erziehung als Therapie. Nichts wird beseitigt, statt dessen wird etwas hinzugefügt: Wissen und Kontrolle. Körperprozesse, die jenseits von jemandes Bewußtheit waren, werden durch Biofeedback kontrollierbar. An Kontrolle zu gewinnen, indem man sich seiner Körperprozesse bewußt wird, ist eine allgemeine Aufgabe der somatischen Erzieher. Sie sehen, daß das, was Medizin und Physiologie für unkontrollierbare, unwillkürliche Prozesse gehalten haben, ganz und gar nicht unkontrollierbar ist. Für die somatischen Erzieher ist wache Bewußtheit über das, was vorher unbewußt war, das Tor zur Veränderung. Sie versuchen, Bewußtsein nicht als etwas abstrakt „Geistiges" zu betrachten, sondern als eine mächtige neurophysiologische Funktion zur Kontrolle des Körpers.

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Intelligenz, geistige Gesundheit und Bewegung

Jean Ayres und Marian Chace

In den Vereinigten Staaten gibt es viele Sensory Integration Treatment Centers. Das, in dem Jean Ayres zu finden ist, liegt in Torrance in Kalifornien. Dort, in einem großen Raum mit hoher Decke bewegen sich kleine Körper: Es befinden sich kleine Kinder in dem Raum, der mit Gegenständen zum Spielen, Reiten, Schwingen, Springen, Schaukeln, Rollen und Hängen vollgestopft ist. Seile und Taue hängen von der Decke, die Hängematten und verschiedene Balken zum Balancieren halten. Es gibt ein Trampolin, auf dem man wie eine Rakete in die Höhe schießen kann. Es gibt ein innen ausgepolstertes Faß, in das man klettern kann, um damit im Raum herumzurollen. Es gibt Strickleitern, auf denen man klettern kann wie ein Affe. Auf der einen Seite nahe der Wand befindet sich eine phantastische erhöhte Plattform mit einer schrägen Rampe an einer Seite: Oben drauf liegt ein Rollbrett. Ein Kind setzt, ganz wie ein Rennfahrer, einen Schutzhelm auf und steigt die Rampe hinauf. Oben steht eine Frau, die das Rollbrett hält, während der Junge sich mit dem Bauch darauf legt. Das Brett wird in die richtige Richtung gedreht, auf eine Briicke aus leeren Pappkartons zu. Der junge Fahrer hat vor, direkt unter der Brücke herzurollen, ohne die Kartons anzustoßen. In der Balance und bereit bekommt er den nötigen Schubs und schießt die Rampe herunter, schlingert über den Boden auf die Brücke zu, unter der er fast durch ist, als sein Ellbogen gegen die Kante eines Kartons stößt und die ganze Brücke in großem Durcheinander einstürzt. Unerschrocken und voller Begeisterung rappelt er sich auf und bringt das Rollbrett aufgeregt zur Rampe zurück, bereit für einen neuen Versuch. Er spielt. Er und all die anderen Kinder, die springen, balancieren, klettern und rollen, spielen. Und sie machen noch etwas anderes: Siewerdenintelligenter. Als er anfangs in diesen wunderbaren Raum kam, konnte der kleine Rennfahrer nicht auf dem Rollbrett liegen und die Rampe herunterfahren. Er tat etwas Seltsames: Wenn er auf dem Bauch lag,

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hing sein Kopf herunter über die Kante des Brettes, so daß er fast den Boden berührte. Aus irgendeinem Grunde konnte er seinen Kopf nicht anheben. Wenn er auf dem Bauch auf den riesigen Ball kletterte, konnte er nicht anders, als sich an den Ball zu klammem, den Kopf gesenkt und Hände und Knie krampfhaft an die Oberfläche des Stoffes festgekrallt. Er fühlte sich da oben sehr unsicher. Allmählich und mit Hilfe der Hängematte, des Balls und der Balken zum Balancieren fing er an, auf dem Bauch zu liegen und seinen Kopf zu heben, so daß er nach vorne sehen konnte. Seine Beine kamen ebenfalls dabei hoch, als seine Rückenmuskeln anfingen, seinen ganzen Körper in einer leichten Krümmung zu wölben. Sobald er seinen Körper auf dem Bauch liegend bewegen, balancieren und beugen konnte, tat er dasselbe auf Händen und Knien. Anfangs machte es ihm Angst, den Kopf zu heben, wenn er wie ein junges Fohlen gleichzeitig auf vier unsicheren Beinen balancierte. Aber Stück für Stück wurde es einfacher, es fing an, Spaß zu machen. Was zuerst unheimlich gewesen war, wurde spannend, genauso spannend wie das Rollbrett, wenn man versuchte, das Gewicht zu verlagern, um es unter der Brücke herzusteuem. Je mehr Spaß es ihm machte, zu lernen, mehr und unterschiedliche Dinge zu tun, bemerkten seine Eltern - und auch sein Lehrer-, daß sich die ruhelose und zappelige Art, in der er sich gewöhnlich verhielt, verringerte. Vorher schien er ständig zerstreut und nervös zu sein, er konnte weder still sitzen noch länger seine Aufmerksamkeit auf etwas konzentrieren. In der Schule konnte er einfach nicht lernen. Selbst die einfachsten Aufgaben erschienen zuviel für ihn, als wenn er nicht dazu fähig wäre, sie zu tun, noch nicht schulreif wäre. Andere Kinder seines Alters konnten dieselben Aufgaben lösen. Er konnte es nicht. Er war nicht „normal". Seine Eltern fingen an, solche erschreckenden Begriffe wie „hirngeschädigt", ,,zurückgeblieben" und „lernbehindert" zu hören. Als seine Eltern ihn das erste Mal zu dem großen Raum in Torrance mit den vielen Sachen zum Spielen brachten, trafen sie die Frau, die sich all diese wunderbaren Dinge ausgedacht hatte. Sie hatte das hagere Gesicht einer amerikanischen Pionierfrau, einer Frau der Grenze - die sie mit Sicherheit ist: Jean Ayres, die sich aus Sorge um die vielen Kinder, die im Schulalter als nicht normal entwickelt erkannt werden, auf die Aufgabe stürzte, dieses Problem 157

in den Griff zu bekommen. Sie stürzte sich damit geradewegs in den Dschungel der Neurophysiologie und Entwicklungspsychologie. Sie tauchte aus diesem Dschungel auf mit einem Verständnis frühmenschlicher Entwicklung, das sie zu den großen amerikanischen Pionieren in dem Feld zählen läßt, das als somatische Erziehung bezeichnet werden kann. Jean Ayres bahnbrechendes Buch SensoryIntegrationandLearning Disorders(dt. Lernstörungen)ist ihr Geschenk an die vielen niedergeschmetterten Eltern, die entdeckt haben, daß ihr Kind sich nicht normal entwickelt hat. Aufgrund ihrer Forschung begann sie, Kinder als vielschichtige biologische Wesen zu erkennen, deren „Normalität" das Zusammentreffen von alten und frühesten Funktionen ist, die nicht nur einfach bei Menschen oder Primaten zu finden sind, sondern sich über die vierfüßigen Funktionen der höheren Wirbeltiere hinunter zu den ausbalancierenden Funktionen der Fische und zu den primordialen Funktionen der frühesten Somas erstrecken. Die gleiche Anerkennung entwicklungsgeschichtlich bedingter Funktionen machte die ähnlich aufsehenerregende Arbeit mit hirngeschädigten Kindern möglich, die von Temple Fay, Glenn Doman und Carl Delacato am Philadelphia Institute for the Achievement of Human Potential entwickelt wurde. Auf dem Bauch auf einem Rollbrett zu liegen, wenn es eine Rampe hinunterrollt, ist eine Möglichkeit, eine dieser primordialen Funktionen zu stimulieren: die Funktion des Stehens. Während der ersten Lebensmonate fängt das normale Kleinkind an, den allgegenwärtigen Einfluß der Schwerkraft zu meistern. Diese Beherrschung ist der Schlüssel zu seinem Überleben. Wenn das Kleinkind auf den Bauch gelegt wird - in die gleiche Lage wie seine vierfüßigen Vorfahren -, wird es automatisch dazu stimuliert, etwas höchst Bedeutendes zu tun: den Kopf zu heben. Es hebt seinen Kopf gegen die Schwerkraft, indem es die Muskeln in Nacken, Rücken und Gesäß anspannt. Dieses überrascht Eltern, die zuerst nicht glauben können, daß ein so kleines und schwaches Kind sowohl die Neigung als auch die Kraft haben könnte, solch einen großen Kopf zu heben. Neben dem Bemühen, die gegen die Schwerkraft arbeitenden Muskeln zu benutzen, ist diese Handlung des Kindes auch ein Versuch, den Kopf in eine horizontale Position zu heben, so daß das

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Kind erfährt, wie es sich für den Kopf anfühlt, aufrecht zu sein, die Augen nach vorwärts auf den Horizont gerichtet. In diesem einfachen frühen, genetisch programmierten Reflex macht der kleine Mensch (1) seine erste Aufwärtsbewegung; richtet (2) sein Gesicht nach vom; und fängt (3) an, seine Sicht mit der horizontalen Ebene in Beziehung zu setzen. Er wird diese Bewegung beharrlich weiter üben, bis mit fünf oder sechs Monaten die gesamte Muskulatur seines Nackens, Rückens und Gesäßes Kopf, Arme und Beine vom Boden aufheben kann in einem schönen Bogen gegen die Schwerkraft. Er lernt die rudimentären Stufen des aufrechten Stehens. Bald macht er das gleiche auf allen Vieren und beginnt zu krabbeln. Und später wird er den inneren Drang verspüren, auf nur zwei Beinen zu stehen. All dieses Lernen ist nicht so sehr „körperliches", eigentlich ist es somatisches Lernen. Gleichzeitig lernt das Kind „geistige" Fähigkeiten. Dieses gehört zusammen - und zwar in so bedeutendem Ausmaße, daß wenn die Entwicklung der gegen die Schwerkraft arbeitenden Muskeln irgendwie gestört ist, die Intelligenz des Kindes sich nicht normal entwickeln kann. Sogenannte geistige Fähigkeiten sind körperliche Fähigkeiten, aber da wir uns solange vorgemacht haben, daß es einen „Geist" gibt, abgetrennt und verschieden vom „Körper", waren wir unfähig, die deutliche und uralte Identität beider zu erkennen. In Lernstörungen: sensorisch-integrative Dysfunktionengibt uns Jean Ayres eine kurze Zusammenfassung ihrer Theorie:

Im wesentlichenbesagtdie Theorie,daß Störungender sensorischen Integrationfür bestimmteArten der Lernstörungenverantwortlich sind, und daßeineSteigerungdersensorischenIntegrationschulisches Lernenfür solcheKindererleichtert,derenProblemein diesenBereich fallen.SensorischeIntegrationbzw.dieMöglichkeit,sensorischeInformationfür den Gebrauchzu organisieren, kanndurchdieKontrolledes Inputszur Aktivierungvon Hirnmechanismen verbessert werden(S. 1). Die in den Zentren für Sensory Integration vorhandenen Hängematten und Fässer und Trampoline sind Mittel, den Input an sensorischer Information zu kontrollieren, indem sie spezifische Empfindungen vermitteln, die das Kind erfahren sollte. Beim neuge-

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borenen Kind dominieren zwei Reflexe seine Bewegungen: der tonische Labyrinthreflex und der tonische Nackenreflex. Ersterer (TLR)wird direkt vom Zug der Schwerkraft stimuliert. Es ist ein mit der Schwerkraft arbeitender Reflex, der das Kleinkind veranlaßt, seinen Kopf nach unten zu ziehen, ob es auf dem Bauch oder auf dem Rücken liegt. Der TLR hat einen Überlebenswert insofern, als er das Neugeborene dazu bewegt, sich an die Mutter zu schmiegen, sich an ihren Körper zu klammem. Der letztere Reflex (TNR) ist eine fischähnliche Schwimmbewegung, stimuliert von den Sinnesrezeptoren in den Nackengelenken. Wenn der Kopf z.B. nach rechts gedreht wird, ziehen sich die Beugemuskeln des rechten Arms zusammen und bringen Hand und Schulter aufwärts in die Nähe des Gesichts, gleichzeitig spannen sich die Streckmuskeln des linken Arms an und bringen den linken Arm nach unten. Wenn der Kopf nach rechts und links bewegt wird, ,,schwimmt" das Kind praktisch, macht Kraulbewegungen. Diese uralten Reflexe, die bei der Geburt vorhanden sind, verblassen allmählich während der ersten Entwicklungsmonate. Da sie mit der Schwerkraft arbeitende Reflexe sind, müssen sie allmählich von den höheren Lernzentren der Hirnrinde eingeschränkt werden. Die Entwicklung der gegen die Schwerkraft arbeitenden Muskeln (der Streckmuskeln des Nackens und Rückens) ist ein Prozeß des Lernens, diese Reflexe, die von niederen und früheren Zentren des Gehirns herrühren, zu hemmen und zu kontrollieren. Bei den meisten Kindern sind die sinnliche Wahrnehmung spontaner Bewegungen und die Empfindungen, wenn sie aufgenommen werden, mit ihnen gespielt wird, sie gehalten oder niedergelegt werden, ausreichend, die Aktivierung der gegen die Schwerkraft gerichteten Muskeln zu stimulieren. Bei manchen Kleinkindern ist diese normale sensorische Stimulierung unzureichend. Weder der TLR noch der TNR werden eingeschränkt und das Kind ist unsicher nach vom gekauert in dem Versuch, sich an die Schwerkraft zu klammem. In dieser Situation kann das Kind ebensowenig die rauf-und-runter und rechts-links Bewegungen meistem wie Bewegungen verbunden mit dem Schreiben von Briefen, die auf und nieder führen, eine Zeitlang eine horizontale Linie nach rechts verfolgen, dann zur nächsten Zeile heruntergehen und den ganzen Weg zurück zum linken Rand. Weil Lesen die gleichen Bewegungen von den Augen 160

verlangt, kann das Kind die Augenbewegung nicht ausreichend genug kontrollieren, um Lesen zu lernen. Solch ein Kind hat eine Lernbehinderung, das heißt, daß seine sensomotorischen Fähigkeiten sich nicht in erwartetem Maße entwickelt haben. Die Funktionen des Stehens, der Vorwärts-Orientierung und des Handhabens sind noch nicht von der zeitlich abstimmenden Funktion integriert worden. In Anbetracht der Tatsache, daß das grundlegende Problem in der mangelnden Stimulierung der gegen die Schwerkraft gerichteten Muskeln zu Aktivität besteht, ist besondere Stimulation nötig. Einige Kinder benötigen eine Reizung ihrer Entwicklungsreflexe, und genau das wird in einem Zentrum für Sensory Integration gemacht. Spezifische sensorische Stimulation wird bereitgestellt, die stark und ansprechend genug ist, um eine gegen die Schwerkraft gerichtete Reaktion auszulösen. Wenn das Kind auf seinem Rollbrett die Rampe hinunterschlingert, bilden der plötzliche erregende Fall abwärts und die Geschwindigkeitsbeschleunigung Bruchstücke sensorischer Information, die eine motorische Reaktion auslösen: das Heben des Kopfes und das Krümmen des Rückens. Dies ist Erziehung - somatische Erziehung. Es ist etwas „Primitiveres" und Fundamentaleres als Lesen, Schreiben, Sprachfertigkeiten und alles, was das Kind im Prozeß der Akkulturation lernt. Die Arbeit von Jean Ayres zeigt uns, daß die intellektuellen, ,,geistigen" Errungenschaften der „Intelligenz" in ihrem Kern die Überlagerung eines älteren nonverbalen Lernens von Bewegung in den drei Dimensionen des Raumes sind, alle koordiniert in der angemessenen zeitlichen Abfolge. Ohne diese Schicht nonverbalen RaumZeit-Lemens gibt es keine Intelligenz. Es ist faszinierend, daß unsere Errungenschaften in Erziehung, Bildung und Kultur völlig auf einer Basis nonverbaler, raum-zeitlicher Fähigkeiten beruhen, die sie erst möglich machen. Dieser „primitive" somatische Kern der Funktionen muß entwickelt und integriert werden, damit das menschliche Wesen lernen kann, zu lernen. In Anbetracht der Tatsache, daß die Beherrschung des raum-zeitlichen Bereichs durch das Kind über die höheren Zentren der Hirnrinde stattfindet, indem Reflexein den unteren Zentren des Gehirns eingeschränkt werden, sollte es uns nicht verwundern, daß ein 161

'Schaden an der Hirnrinde bedingt, daß ein Erwachsener sich zu einem infantilen Mangel an gegen die Schwerkraft arbeitenden Reflexen zurückentwickelt. Dies passiert tatsächlich bei Verletzungen infolge eines Unfalls, die einen Gehirnschaden verursachen oder bei chronischer Schizophrenie. Therapeuten in der Rehabilitation des Arizona State Hospital (King 1974)haben folgende somatische Merkmale bei den Patienten festgestellt, die als nicht-paranoide Schizophrene diagnostiziert worden wären: (1) ihre Haltung zeigte, von der Seite gesehen, eine ausgeprägte S-Krümmung der Linie vom Kopf zu den Zehen; (2) einen schlurfenden Gang; (3) eine Unfähigkeit, die Anne über den Kopf anzuheben; (4) eine Unfähigkeit, den Kopf zu drehen und große Angst, wenn der Kopf nach hinten geneigt wurde (dh. bei einer Streckung des Nackens); (5) eine Tendenz, die Anne angespannt und an den Körper angezogen zu halten (wie ein neugeborener Säugling); und (6) eine Schwäche und Unbeholfenheit der Handfunktion. Obwohl erwachsen, glichen sie somatisch Kindern mit einer Lernbehinderung. So wurde beschlossen, Jean Ayres Denken auf schizophrene Erwachsene anzuwenden. Die Patienten wurden angehalten, konkurrenzfreie Spiele zu spielen, wie einen Ball oder Ballon hin und her zu werfen, zu Musik zu marschieren, über Seile zu springen, unter einem Volleyballnetz durchzukriechen usw. Nach zwei oder drei Wochen waren einige deutlich sichtbare Veränderungen zu erkennen. Die vorher schwerfälligen, unmotivierten, stummen Patienten waren auf dem Wege zum genauen Gegenteil. Patienten, die jahrelang nicht gesprochen hatten, begannen, an Unterhaltungen teilzunehmen. Sie wandten ihrer äußeren Erscheinung größere Aufmerksamkeit zu. Sie fingen an zu lächeln und wurden beweglicher. Die neue sensorische Stimulierung zeigte bei diesen notleidenden Erwachsenen die gleiche Wirkung wie bei den Kindern mit ähnlichen Haltungs- und Bewegungseinschränkungen. Das gleiche wie am Arizona State Hospital 1970 erkannten auch die Mitarbeiter des Saint Elizabeth Hospital in Washington, 1942, als Marian Chace den Beruf des Tanztherapeuten schuf. Marian Chace, eine moderne Tänzerin und Tanzlehrerin, sah die in sich gekehrte, zu keiner Kommunikation fähige Verlorenheit und das Schweigen der psychotischen Patienten. Intuitiv wußte sie, daß

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Worte nutzlos wären zur Überbrückung dieses Abgrundes. Die Antwort war Bewegung.

BasicDanceist einesder effektivstenMittel, dieseIsolationzu durchbrechen,wenn die Vereinsamungnichtausgedrücktwerdenkann und dieInanspruchnahme durchdiesesGefühlzu intensivist, um sichüber andereDingezu verständigen.Selbstwenn der Mangelan Initiative den Patientendavonabhält,sicheinerGruppeanzuschließen,diesich gemeinsamrhythmischbewegt,kann die Beobachtungeiner solchen Gruppein rhythmischerBewegungvielleichteine Verbindungherstellen,die die von dem Patientenaufrechterhaltene Distanz durchbricht.BasicDanceist die Externalisierung solcherinneren Empfindungen,die nur in rhythmischer,symbolischerAktion geteiltwerden kann (Chaiklin 1975, 170). Während ihrer zwanzig Jahre am Saint Elizabeth Hospital wurde Marian Chaces Arbeit immer mehr als unersetzlicher Teil des ganzen Rehabilitationsprogramms des Krankenhauses anerkannt. Als ihre Erfolge bekannt wurden, entstand eine Bewegung der Tanztherapie. Sie wurden alle von Tänzerinnen entwickelt, deren Unterricht sich später zu einer Therapie entwickelte. Alle diese Frauen, die die Anfänge der Tanztherapie entwickelten, waren moderne Tänzerinnen: Franziska Boas und Lilyan Espenak an der Ostküste, Trudi Schoop und Mary Whitehouse an der Westküste. Sie hatten sich als moderne Tänzerinnen von der formalen Theatralik des klassischen Balletts losgelöst, um sich in die neue Welt elementarer, ausdrucksstarker Bewegungen zu stürzen. Es ist diese radikal verschiedene Einstellung zur Bewegung, die den modernen Tanz charakterisierte und dazu prädisponierte, alle menschliche Bewegung als Ausdruck des geistig-emotionalen Wesens des Menschen zu sehen. Für die psychotisch in sich gekehrten Menschen war Bewegung das benötigte Vehikel, um sich äußern zu können und den Kontakt mit anderen und mit der Welt zu erneuern. Bewegung und das Empfinden der Bewegung stecken für leidende Kinder und Erwachsene einen Weg ab zu einem konzentrierten Bewußtsein und einem effektiveren Leben. Zu viele Jahre lang waren Therapeuten betäubt worden von Worten und von der Illusion, was Worte verändern können. In einer elementaren Situation, wie der des lernbehinderten Kindes oder des schizophrenen 163

Erwachsenen, sind Worte machtlos. Das Problem liegt auf anderer, grundlegenderer Ebene: der der wortlosen Empfindungen vertikaler und horizontaler Bewegungen, integriert in zeitlicher Abfolge. Es ist diese primordiale, somatische Ebene, die alles Sprechen und alle Sprache möglich macht. Jean Ayres und Marian Chace (und ebenso Fay, Doman und Delacato) sahen die entscheidende Bedeutung dieses nonverbalen Bereichs und entdeckten, wie man Zugang zu ihm bekommen kann. Beide Frauen sahen hinter die Illusion der Worte und ergriffen Besitz von dem stummen Innersten des Menschen, einem Wesen, das vor allem anderen fühlt und sich bewegt.

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Die Integration neuraler Funktionen Moshe Feldenkrais

Moshe Feldenkrais ist ein Mann voller Überraschungen. Er ist eine der großen Autoritäten der Welt auf dem Gebiet der menschlichen sensomotorischen Funktionen, aber gleichzeitig ein Physiker, der viele Jahre Seite an Seite mit dem Nobelpreisträger Frederic JoliotCurie an der Kernspaltung arbeitete. Er baute den Van de GraafGenerator, der immer noch die Pariser Schulkinder einschüchtert, wenn sie das Petit Palais d'Exposition besuchen, aber er war auch Europas erster Judoka, der den Schwarzen Gürtel errang und er gründete den berühmten Jiu-Jitsu-Oub von Frankreich. Als er durch die Invasion der Nazis aus Frankreich vertrieben wurde, wurden seine Talente von der britischen Admiralität in der Entwicklung von Radar für die I