Das Evangelium nach Maria und Das Evangelium des Judas: Gnostische Blicke auf Jesus und seine Jünger [1 ed.]
 9783666534690, 9783525534694

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Das Evangelium nach Maria und Das Evangelium des Judas Gnostische Blicke auf Jesus und seine Jünger Übersetzt und eingeleitet von Johanna Brankaer

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Academic

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

Kleine Bibliothek der antiken jüdischen und christlichen Literatur Herausgegeben von Jürgen Wehnert

Vandenhoeck & Ruprecht

Das Evangelium nach Maria und Das Evangelium des Judas Gnostische Blicke auf Jesus und seine Jünger

Übersetzt und eingeleitet von Johanna Brankaer

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2566-7068 ISBN 978-3-666-53469-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Einführung in die Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Literatur zur Gnosis, Textausgaben und Übersetzungen . . 9 Einführung in das Evangelium nach Maria . . . . . . . . . . . . . . . 11 Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Codex Berolinensis 8502 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Textgattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Struktur der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Anthropologie des Evangeliums nach Maria . . . . . . . . . 17 Dramatis personae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Das Evangelium nach Maria – Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . 21 Lehrgespräch Jesu mit den Jüngern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die letzten Anweisungen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Dialog zwischen den Jüngern und Maria . . . . . . . . . . . . . . . 23 Gespräch zwischen Jesus und Maria über eine Vision . . . . 24 Lehre über den Aufstieg der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Dialog zwischen den Jüngern und Maria . . . . . . . . . . . . . . . 27 Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Einführung in das Evangelium des Judas . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Der Codex Tchacos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Textgattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Die Struktur der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Wichtige Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Dramatis personae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Zur Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

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Das Evangelium des Judas – Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Anfang des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Jesu irdisches Wirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Jesus im Dialog mit seinen Jüngern und Judas . . . . . . . . . . . 46 Dialog mit den Jüngern am folgenden Tag . . . . . . . . . . . . . . 47 An einen anderen Tag: der Traum der Jünger . . . . . . . . . . . 48 Jesus im Dialog mit Judas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ein weiterer Dialog: der Traum des Judas . . . . . . . . . . . . . . . 51 Offenbarungsrede Jesu über die Kosmologie . . . . . . . . . . . . 53 Jesus im Dialog mit Judas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Die Lichtwolke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Der Verrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Tenach/Altes Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Apokryphe bzw. deuterokanonische Schriften . . . . . . . . . . . 60 Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Abkürzungen, die nur in diesem Band Verwendung finden 61

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Einführung in die Gnosis

„Gnosis“, zu Deutsch „Erkenntnis“, ist ein Terminus, der verwendet wird, um eine Tendenz oder Bewegung im frühen Christentum ab dem 2. Jahrhundert zu beschreiben. Während in der Antike viele Intellektuelle, Heiden wie Christen, nach einer Art von Erkenntnis des Göttlichen strebten, wurde diese Erkenntnis von den Gnostikern in einer ganz bestimmten Weise interpretiert. Für die Gnostiker war Erkenntnis der Weg zur Erlösung, wobei sie Erlösung als Befreiung von der kosmischen Wirklichkeit verstanden. „Gnosis“ bzw. „Erkenntnis“ bestand sowohl im Wissen um die nachrangige, also niedere Natur der Welt und ihres Schöpfers als auch im Wissen um ein Element im Menschen (einen „Lichtfunken“, einen „Geist“), das mit dem wahrhaft Göttlichen, weit über die Welt Erhabenen verwandt ist. Diese Erkenntnis kann der Mensch weder aus dem Umgang mit dem, was in der Welt ist, noch durch seine eigene Vernunft gewinnen. Sie muss ihm von einem göttlichen Wesen (einer Erlöserfigur) offenbart werden. Verschiedene gnostische Schriften verstehen sich als schriftliche Aufzeichnungen solcher Offenbarungen, z. B. das Evangelium nach Maria. Die Erkenntnis der Gnostiker ist zunächst eine Erkenntnis, die ihr eigenes Erlöstsein betrifft. Sie besteht darin, dass sie dem Kosmos und seinen Herrschern überlegen sind, auch wenn letztere die Gnostiker während ihres Lebens in der vorfindlichen Welt bedrängen und Gewalt gegen sie üben. Die Ablehnung der Welt und ihres Schöpfers ist die logische Folge der gnostischen Erfahrung eines außerweltlichen, vollkommenen, wahren Gottes, der von dem eifersüchtigen, zornigen Gott der jüdisch-christlichen Tradition unterschieden wird. Der gnostische Mensch findet in sich ein Element wahrlich göttlichen Ursprungs, das durch die Offenbarung „erweckt“ wird und ihm seine Erhabenheit gegenüber der Welt bewusst macht. Die Offenbarungen, die diese Erkenntnis vermitteln, sind oft mythische Erzählungen, die von der Existenz einer wahrhaft gött7

lichen Wirklichkeit („Pleroma“ genannt, d. h. „Fülle“) berichten. In dieser vollkommenen Wirklichkeit trat ein „Fehler“ auf, der manchmal als Fall einer weiblichen Größe namens Sophia („Weisheit“) dargestellt wird. Aufgrund dieses „Fehlers“ entstand ein nachrangiges Wesen, das bisweilen als Fehlgeburt der Sophia verstanden wird: der „Demiurg“ bzw. der Schöpfergott, der von der Existenz einer höheren, wahrhaft göttlichen Wirklichkeit nichts weiß. Der Demiurg brachte die ganze Welt samt den Engeln und „Archonten“ („Herrscher“) hervor. Als Krönung seiner Schöpfung erschuf er den Menschen. Dem aber gab er, ohne es zu wissen, etwas von dem ­Pleroma mit – sei es, dass er ihm eine Kraft, die er von seiner Mutter Sophia genommen hatte, einhauchte, sei es, dass er ihn nach einem Bild, das aus dem Pleroma stammt, modellierte. Dieses vorgängige Geschehen führt zu einem Streit zwischen den (gnostischen) Menschen und den Herrschern des Kosmos, zu einem Kampf, in dem verschiedene Erlöserfiguren den Menschen Beistand leisten – der wichtigste unter ihnen ist in der Regel Jesus. Ebenso wie die Archonten Macht über Jesus zu haben scheinen, indem sie ihn misshandeln und töten, so ist auch die menschliche Seele ihrer Gewalt in der Welt ausgesetzt. Jesus hat aber die Archonten getäuscht und überwunden, indem er wieder ins Pleroma hinaufsteigt, ohne dass die Archonten ihn ergreifen können. Genauso auch wird sich die erlöste Seele von der Macht der Herrscher befreien. Weil sie erlöst und deshalb über die Welt und die Archonten erhaben sind, erleben sich die Gnostiker als „Fremde“ innerhalb des Kosmos: Sie sind von einer höheren Natur, von einem anderen Samen und sehnen sich nach der Vereinigung mit ihrem göttlichen Ursprung. Der Sammelbegriff „Gnosis“ bezeichnet Individuen und Gruppen, die die eben beschriebenen Intuitionen teilten, sie in unterschiedlicher Weise erlebten und zum Ausdruck brachten. Anfänglich war „Gnosis“ einer von vielen Versuchen frühchristlicher Theologen, die (christliche) Heilsgeschichte verständlich zu machen. Seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts haben jedoch verschiedene Vertreter der späteren Mehrheitskirche gnostische Theologien und deren Verfasser kritisiert, ja verurteilt und zugleich eine „orthodoxe“ („rechtgläubige“) Lehre von Mensch und Gott entworfen. Die Mehrheitskirche verwarf in der Folge das gnostische Denken als Ketzerei. 8

Im Gegenzug stellten sich viele Gnostiker der Mehrheitskirche kritisch entgegen, weil sie in ihr ein Instrument der Archonten erblickten, das die Christenmenschen in Unwissenheit festhalten sollte. Zur Begründung beriefen sie sich oft auf geheime („apokryphe“, d. h. „verborgene“) Überlieferungen, die esoterische Erkenntnisse enthalten, die der Mehrheit der Christen bisher verborgen geblieben waren. Gelegentlich findet sich in gnostischen Schriften auch Polemik gegen bestimmte kirchliche Bräuche, unter anderem die (Wasser-) Taufe. So setzt sich das Evangelium des Judas ausdrücklich und schroff mit der apostolischen Kirche auseinander. Es möchte diese Kirche als Einrichtung der Herrscher des Kosmos entlarven, die, anstelle des wirklichen Gottes, des Vaters Jesu, dem untergeordneten Schöpfergott dient und ihn anbetet.

Literatur zur Gnosis, Textausgaben und Übersetzungen Aland, Barbara, Was ist Gnosis? Studien zum frühen Christentum, zu Marcion und zur kaiserzeitlichen Philosophie, Tübingen 2009. Aland, Barbara, Die Gnosis, Stuttgart 2014. Brankaer, Johanna, Die Gnosis. Texte und Kommentare, Wiesbaden 2010. Jonas, Hans, Gnosis und spätantiker Geist. Teil 1: Die mythologische Gnosis, Göttingen 1934; Teil 2/1: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, Göttingen 1966. Markschies, Christoph, Die Gnosis, München 2001. Markschies, Christoph, Gnosis und Christentum, Berlin 2009. Rudolph, Kurt, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Göttingen 1994. Tröger, Karl-Wolfgang, Die Gnosis. Heilslehre und Ketzerglaube, Freiburg/Basel/ Wien 2001. Lüdemann, Gerd, Das Judas-Evangelium und das Evangelium nach Maria. Zwei gnostische Schriften aus der Frühzeit des Christentums, Stuttgart 2006. Markschies, Christoph/Schröter, Jens (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band: Evangelien und verwandtes (2 Teilbände), Tübingen 2012. Nagel, Peter, Codex apocryphus gnosticus Novi Testamenti, Band 1: Evangelien und Apostelgeschichten aus den Schriften von Nag Hammadi und verwandten Kodizes. Koptisch und deutsch, Tübingen 2014. Schenke, Hans-Martin/Bethge, Hans-Gebhardt/Kaiser, Ursula Ulrike (Hg.), Nag Hammadi Deutsch, eingeleitet und übersetzt, 2 Bände, Berlin/New York 2001 und 2003; Studienausgabe in einem Band: Berlin 2013.

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Einführung in das Evangelium nach Maria

Überlieferung Das ursprünglich auf Griechisch verfasste Evangelium nach Maria ist in koptischer Übersetzung überliefert, und zwar als erste Schrift innerhalb des Codex Berolinensis 8502, der auch BG (Berolinensis Gnosticus) genannt wird. Das Evangelium nach Maria füllt die ersten 18 Seiten dieses Berliner Kodex aus, allerdings fehlen die Seiten 1–6 und 11–14. Insgesamt sind ungefähr 45 Prozent des Textes erhalten. Neben der koptischen Übersetzung wurden zwei kürzere Fragmente des Werkes in griechischer Sprache gefunden: der Papyrus Oxyrhynchus 3525 (vgl. BG 9,2–10,13) und der Papyrus Rylands 463 (vgl. BG 17,4–19,5). Die griechischen Fragmente bieten leider keinen zusätzlichen Text zu dem, was aus der koptischen Übersetzung bekannt ist.

Der Codex Berolinensis 8502 Der Berliner Kodex wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Achmim, einer am Nil gelegenen oberägyptischen Stadt, gefunden. Er war angeblich, in Federn verpackt, in der Nische einer Mauer nahe eines christlichen Friedhofs verborgen. Die Handschrift wurde von einem deutschen Antiquitätenhändler in Kairo erworben, der sie nach Berlin brachte. Dort befindet sie sich noch heute in der Papyrussammlung des Ägyptischen Museums. Der Kodex enthält vier Schriften: das Evangelium nach Maria, das Apokryphon des Johannes, die Sophia Jesu Christi und ein Fragment aus den Petrusakten1. Die zweite und

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S. Anhang I zur Ausgabe der Petrusakten in der vorliegenden Reihe, die ­ erhard Lang unter dem Titel Die Taten des Petrus 2015 veröffentlichte. B

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die dritte Schrift sind auch bekannt aus der 13-bändigen koptischen Bibliothek, die man 1945 im oberägyptischen Nag Hammadi fand. Der koptische Text des Evangeliums nach Maria in BG 8502 kann ins späte 4. oder frühe 5. Jahrhundert n. Chr. datiert werden, die beiden griechischen Fragmente stammen aus dem 3. Jahrhundert. Der Originaltext des Evangeliums wurde wahrscheinlich am Ende des 2. oder am Anfang des 3. Jahrhunderts verfasst. Der Abfassungsort bleibt unklar. Wie bei gnostischen Schriften üblich, wurden in der Forschung Ägypten und Syrien als Entstehungsräume vorgeschlagen. Das Evangelium nach Maria wird in anderen antiken christlichen Quellen nicht erwähnt.

Abb. 1: Evangelium nach Maria, Codex Berolinensis, © Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, Staatliche Museen zu Berlin, Fotografin: Sandra Steiß

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Textgattung In der Nachschrift unterhalb des koptischen Textes, die nicht notwendigerweise zur ältesten Fassung der Schrift gehört, findet sich der Titel Das Evangelium nach Maria. Die Bezeichnung „Evangelium“ weist daraufhin, dass diese Schrift die „gute Botschaft“ Jesu überliefert. Anders als die kanonischen Evangelien erzählt das Evangelium nach Maria aber nicht von Jesu Leben, Tod und Auferstehung, sondern von der geheimen Lehre, die Jesus der ganzen Gruppe seiner Schüler und insbesondere Maria vermittelt habe. Dass es sich um ein Evangelium nach Maria handelt, bedeutet nicht, dass Maria als Verfasserin der Schrift dargestellt wird. Sie ist vielmehr die wichtigste Figur der Erzählung und die Vermittlerin esoterischer, also für einen Kreis von Eingeweihten bestimmter Offenbarungen. Ihre besondere Beziehung zu Jesus verleiht dieser Überlieferung eine große Autorität. Sie weiß um eine Lehre Jesu, die den Jüngern verborgen geblieben ist. Das Evangelium nach Maria ist ein sogenanntes Dialog-Evangelium. Dieser Begriff bezeichnet eine Textgattung, zu der verschiedene gnostische Schriften gehören. In diesen Schriften geht es grundsätzlich um einen Dialog zwischen dem auferstandenen Jesus und einem oder mehreren Jüngern, in dem ihm oder ihnen eine „zweite Lehre“, die zu Jesu Lebzeiten verborgen geblieben war, offenbart wird. Das Evangelium nach Maria beginnt wahrscheinlich (die ersten sechs Seiten sind verloren) mit einer Erscheinung Jesu vor den Jüngern und einem Lehrgespräch, in dem Jesu ihnen seine geheime Botschaft kundtut (dessen Ende uns die Manuskripte überliefern). Im zweiten Teil ist nicht Jesus derjenige, der Offen­barungen vermittelt, sondern Maria, die besondere Enthüllungen vom Erlöser empfangen hat.

Die Struktur der Schrift Das Evangelium nach Maria besteht aus den beiden eben genannten Hauptteilen: Im ersten unterhält sich Jesus mit den Jüngern (1.–2.), im zweiten vermittelt Maria ihnen private Offenbarungen (4.–5.). Nach den Hauptteilen folgt jeweils ein Dialog zwischen den Jüngern 13

und Maria (3. und 6.). Mit einer Notiz über die Verkündigung des Evangeliums schließt das Werk ab (7.). 1. Lehrgespräch Der Anfang der Schrift ist verloren. Möglicherweise wurde darin über eine Erscheinung Jesu vor seinen Jüngern berichtet, an die sich ein Dialog zwischen den Jüngern und Jesus anschloss, in dem Jesus einen Teil seiner verborgenen Lehre offenbarte. Die letzten beiden Fragen der Jünger und Jesu Antworten sind erhalten. 2. Anweisungen Nach dem Lehrgespräch gibt Jesus seinen Jüngern letzte Anweisungen. Er küsst sie und wünscht ihnen Frieden, macht aber auch deutlich, dass sie selbst seinen Frieden hervorbringen sollten. Er fordert sie auf, sich nicht in die Irre führen zu lassen, sondern den Menschensohn in sich selbst zu suchen und ihm zu folgen. Sie sollen das Evangelium verkünden, ohne dem etwas hinzuzufügen, was Jesus selbst festgelegt hat. 3. Dialog zwischen den Jüngern und Maria Nach dem Verschwinden Jesu beginnt der zweite Teil der Schrift. Die Jünger sind betrübt und verängstigt. Sie fürchten sich vor dem Leiden und Sterben, das Jesus, in ihrer Sicht, erlitten hat. Maria ermuntert sie, indem sie sie daran erinnert, dass Jesus sie alle zu Menschen gemacht hat, indem er das wahrhaft Göttliche in ihnen offenbarte. Petrus bittet Maria, ihm in Anwesenheit der anderen Jünger die Worte zu sagen, die Jesus zu ihr gesprochen hat. Hierauf folgt eine Offenbarungsrede Marias, von der zwei Abschnitte erhalten sind: ein Gespräch mit Jesus über eine Vision und Jesu Lehre über den Aufstieg der Seele. 4. Dialog zwischen Maria und Jesus über eine Vision Maria ruft sich eine Vision in Erinnerung, in der sie Jesus gesehen hat. Jesus preist sie selig, weil sie dadurch nicht erschüttert wurde, denn unzerstört zu sein, ist ein Kennzeichen des Gnostikers. Die Vision, in der Maria Jesus schaute, gibt Anlass, um im allgemeinen Sinne über Visionen zu sprechen. Maria fragt Jesus, ob man eine 14

Vision mit der Seele oder mit dem Geist schaut. Diese Frage setzt die gnostische Anthropologie (Lehre vom Menschen) voraus, die zwischen einem physischen, einem seelischen und einem geistlichen Element unterscheidet. Jesus erklärt ihr, dass der Verstand, der sich zwischen der Seele und dem Geist befinde, die Schau möglich macht. Der Verstand erlaubt es der Seele, mit dem Geistlichen in Verbindung zu treten. Deswegen befindet sich auch der Schatz (das Reich Gottes, die Ermöglichung der Erlösung) im Verstand. 5. Offenbarungsrede über den Aufstieg der Seele Der zweite erhaltene Abschnitt der Offenbarungsrede behandelt den Aufstieg der Seele nach dem Tod. Sie muss dabei an verschiedenen Archonten bzw. „Gewalten“ vorbeiziehen, die sie zurückzuhalten versuchen. Die Begegnung mit der ersten Gewalt (wahrscheinlich der Finsternis) ist verloren. Der erhaltene Text beginnt mit einer Rede der zweiten Gewalt, der Begierde. Diese wundert sich, dass die Seele hinaufsteigt, obwohl sie sie nicht hat hinabsteigen sehen. Die Seele macht ihr klar, dass sie sich über ihre wahre Natur getäuscht hat: Sie hatte das Kleid, das die Seele trug, d. h. ihren Körper, für ihr wahres Wesen gehalten. Die Seele war beim Hinabsteigen noch unkörperlich. Da das Unwissen der Begierde jetzt ans Licht gekommen ist, ist ihre Gewalt überwunden und kann die Seele an ihr vorbeigehen. Die dritte Gewalt, auf die die Seele trifft, ist die Unwissenheit. Auch diese wundert sich darüber, die Seele beim Aufstieg zu sehen, da sie (im Körper, in der Welt) festgehalten wurde. Sie verbietet der Seele zu richten. Die Seele erwidert, dass sie nicht richtet, obwohl sie von der Unwissenheit gerichtet wird. So wurde die Seele auch von der Unwissenheit nicht erkannt. Während diese Gewalt keine Erkenntnis über die Seele hat, hat die Seele selbst eine wichtige Erkenntnis: Sie weiß, dass die Schöpfung (samt ihren Archonten und Gewalten) in Auflösung begriffen ist. Daher überwindet sie auch die dritte Gewalt. Als der vierten und letzten Gewalt begegnet die Seele dem Zorn. Diese nimmt sieben Formen an, darunter die Formen der ersten drei Gewalten: Finsternis, Begierde und Unwissenheit. Diese Gewalt stellt typisch gnostische Fragen: Woher kommst du, und wohin gehst du? 15

D. h., sie erkundigt sich nach dem Ursprung und dem Zweck des Gnostikers. Die Seele erklärt, dass sie schon in der Welt von einer (anderen, nämlich intellektuellen) Welt befreit wurde und dass sie hinter dem materiellen Bild dessen geistliches Vorbild gesehen hat. Zweck ihres Aufstiegs ist es, die Ruhe zu finden, wo das Schweigen herrscht. 6. Dialog zwischen den Jüngern und Maria Nach ihrer Offenbarungsrede schweigt Maria, was vielleicht ein Zeichen dafür ist, dass sie die Ruhe schon erreicht hat. Andreas und Petrus ereifern sich über Maria. Sie können sich nicht vorstellen, dass Jesus ihr eine Lehre offenbarte, die ihnen selbst verborgen geblieben ist. Die Lehre, die ihnen Maria vermittelt hat, steht offenbar auch nicht in Übereinstimmung mit dem, was sie selbst glauben (es sind für sie „andere Gedanken“). Außerdem nehmen sie Anstoß an der Tatsache, dass Jesus ihnen, den Jüngern, eine Frau vorgezogen haben soll. Die Reaktion der Jünger erschüttert Maria, die zu weinen beginnt. Levi verteidigt sie. Er erinnert die anderen daran, dass Jesus Maria mehr liebte als sie. In seiner Sicht passt die Lehre, die Maria vermittelt hat, zu den Worten, die sie selbst von Jesus gehört haben: Sie sollen den vollkommenen Menschen anziehen und das Evangelium verkünden, ohne dem etwas hinzuzufügen, was Jesus ihnen aufgetragen hat. 7. Abschluss Im griechischen Fragment des Papyrus Rylands geht am Ende allein Levi hin, um das Evangelium zu verkünden. Im koptischen Text bleibt offen, wer gemeint ist: Gehen nur Levi und Maria oder gehen alle Jünger? Die zweite Interpretation scheint überzeugender, da Levi alle Jünger aufgerufen hat zu predigen. In anderen gnostischen Schriften, z. B. dem Brief des Petrus an Philippus, verkünden zum Schluss alle Jünger das Evangelium. Dass alle Jünger – und deren Nachfolger – die gnostische Lehre verkündigten, war für die Verfasser des Evangeliums nach Maria und anderer gnostischen Schriften gewiss wünschenswert, widersprach aber ihrer Erfahrung einer wachsenden Feindschaft vieler Christen, die sich auf Jesu Jünger beriefen, gegenüber den Gnostikern. 16

Die Anthropologie des Evangeliums nach Maria Das Evangelium nach Maria setzt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Materiellen und dem Geistlichen bzw. Göttlichen voraus, wobei die materielle Wirklichkeit nur eine vorübergehende Existenz besitzt. Die Seele befindet sich im Spannungsfeld dieser beiden Ebenen. Einerseits wird sie in einem Körper festgehalten und ist somit Leidenschaften und Unwissenheit ausgesetzt, andererseits trägt sie ein pneumatisches (geistliches) Element in sich – den „Schatz“ –, das sie durch die Schau mittels des Verstandes erschließen kann. Der Mensch trägt in sich die Potenz, zum Menschen zu werden bzw. den vollkommenen Menschen, der in ihm vorhanden ist, hervorzubringen. Der vollkommene Mensch ist das wesentlich Menschliche – nicht der Körper, sondern das geistliche Vermögen, das die Seele ihrem göttlichen, außerkosmischen Ursprung entlehnt. In manchen gnostischen Schriften erweckt der Erlöser in dem Menschen das pneumatische Element durch Offenbarungen, die ihm die Erkenntnis seines Wesens vermitteln. Im Evangelium nach Maria hat der Mensch letztlich selbst die Möglichkeit, das Geistliche in sich zu entdecken. Durch den Verstand (griechisch nous) kann er (in einer Vision) das Göttliche schauen. Eine Parallele zu diesem Denken findet sich in Platos Phaedrus (246a–248c). Plato stellt die Seele als den Lenker eines Zweigespanns dar. Das erste Pferd ist von guter Geburt, das andere Pferd dessen Gegenteil. Das eine Pferd zieht nach dem Guten, nach dem Geistlichen, während das andere dem Veränderlichen, dem Körperlichen zuneigt. Der Lenker ist für Plato der Verstand, d. h. der vorzügliche Teil der Seele, der die beiden Pferde beherrschen und den Kurs zum Himmel verfolgen muss. So hat der Verstand auch im Evangelium nach Maria seinen Ort zwischen der Seele und dem Geist. Deshalb kann er die Seele in Richtung des Geistlichen bewegen. Letztendlich erlaubt es der Verstand dem Menschen, sich selbst zu erlösen. Daher soll der Gnostiker den Menschensohn, d. h. den Erlöser, zuerst in seinem eigenen Inneren suchen.

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Dramatis personae Jesus Jesus erscheint im Evangelium nach Maria vor allem als eine Offenbarerfigur. Seine Erlebnisse vor und nach dem Tod sind weniger wichtig als seine Rolle, die wahre Natur des Menschen zu erschließen. Den Menschensohn sollten die Gnostiker nicht in der Welt – auch nicht im Himmel – suchen, sondern in ihrem Inneren. Jesus wird meistens der „Erlöser“ genannt. Sein rettendes Wirken wird dargestellt als das Kommen des „Guten“, damit diejenigen, die wesentlich zur göttlichen Natur gehören, zu ihren Wurzeln, d. h. zu ihrem göttlichen Ursprung zurückkehren und von der Leiblichkeit befreit werden. Maria sagt zu den Jüngern, dass Jesus sie alle zu Menschen gemacht habe. Das bedeutet, dass er das geistliche Element in ihnen erweckt hat. Die Jünger Jesus spricht im ersten Teil zu den Jüngern als Gruppe unter Einschluss von Maria. Nach dem Weggang Jesu treten die Jünger und Maria auseinander. Die Jünger sind betrübt und wissen nicht, wie sie mit ihrer Predigt beginnen sollten. Petrus tritt als der Vertreter der ganzen Gruppe auf, wenn er Maria zu erzählen bittet, was der Erlöser ihr in Abwesenheit der anderen Jünger gesagt hat. Nach Marias Offenbarungsrede ist die Gruppe gespalten. Andreas und Petrus stellen die Autorität Marias in Frage. Es ist für sie unvorstellbar, dass Jesus einen so wichtigen Teil seiner Lehre einer Frau vorbehalten hätte. Sie fühlen sich Maria – und den Frauen – gegenüber überlegen. Dies zeigt, dass sie noch „binär“ denken und Unterschiede (männlich/weiblich) machen, die für Gnostiker nichtig sind, weil sie zum vergänglichen Kosmos gehören. Für sie sind ihre eigenen Gedanken und Erinnerungen das entscheidende Kriterium. Es ist möglich, dass Petrus und sein Bruder Andreas hier die zur Zeit des Evangeliums nach Maria dominante apostolische Kirche vertreten. Der Verfasser lässt Levi Petrus einen „Hitzkopf “ nennen. Zudem wird er mit den „Feinden“ verglichen. Folglich gilt er als unvollkommener Mensch, der sich noch von den Leidenschaften beherrschen lässt. 18

Levi dagegen verteidigt Maria. Sein Vertrauen in den Erlöser begründet sein Vertrauen in Maria; er erkennt sie als diejenige an, welche Jesus mehr als die anderen Jünger liebte. Offensichtlich hat er die verborgene Lehre verstanden und sieht ein, dass Maria und Jesus im Wesentlichen dasselbe sagen. Deshalb erinnert er die anderen Jünger wieder an ihren Auftrag. Levi ist ein Vorbild für den Gnostiker, der sich nach der Offenbarung der Lehre Jesu durch Maria dem geistlichen Element zuwendet. Er ist der exemplarische Apostel, indem er die Verkündigung des Evangeliums in Angriff nimmt. Maria So wie Thomas im Thomasevangelium2 der vollkommene Jünger ist, so Maria in dieser Schrift die vollkommene Jüngerin, und zwar in einem Maße, dass sie sich an der Stelle des Meisters stellen kann. Im zweiten Teil der Schrift übernimmt Maria die Rolle Jesu als Tröster und Lehrer. Wo die anderen Jünger erschüttert sind, bleibt sie unbewegt. Ihre Unerschütterlichkeit wird sogar von Jesus gelobt. Standhaftigkeit ist ein Merkmal des Gnostikers, der nicht mehr von den Machten der Welt überwältigt wird. Maria sieht nicht mehr mit den sinnlichen Augen, sondern mit dem Verstand. Das heißt, dass sie hinter der wahrnehmbaren Wirklichkeit auch die wahre, unveränderliche Natur der Dinge erkennt. Petrus sagt, dass Jesus sie mehr als andere Frauen liebte, Levi behauptet sogar, dass er sie mehr als alle anderen Jünger liebte. Maria steht also in einer ganz besonderen Beziehung zu Jesus. Oberflächlich kann man dies lesen als Hinweis auf eine gefühlsbetonte Beziehung zwischen den beiden, einem Mann und einer Frau. Tatsächlich aber steht Maria Jesus deshalb näher als die anderen Jünger, weil sie die Leidenschaften der Körperlichkeit hinter sich gelassen hat. Man kann hier das Thomasevangelium vergleichen (Logion 114), wo Jesus zu Petrus sagt, dass er Maria „männlich machen“ werde. Maria hat im Evangelium nach Maria eine geistliche Reife erreicht, die den anderen Jünger noch fehlt. Jesus hat sie „würdig gemacht“, 2 Diese Schrift erscheint, eingeleitet und übersetzt von Enno Edzard Popkes, 2018 in der vorliegenden Reihe.

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seine verborgene Lehre zu empfangen und zu vermitteln. Er hat sie gekannt, wie sie auch ihn gekannt hat. Zur Übersetzung Die vorliegende Übersetzung wurde für diese Ausgabe neu erarbeitet. Textgrundlage ist Anne Pasquier, L’Évangile selon Marie (Bibliotheque Copte de Nag Hammadi, Section „Textes“ 10), Québec 1983. Lücken des koptischen Textes werden in der Übersetzung durch Punkte in eckigen Klammern markiert oder durch Text in eckigen Klammern gefüllt, wenn eine plausible Wiederherstellung des Wortlauts möglich ist. Textzusätze, die für die deutsche Übersetzung notwendig sind, stehen in runden Klammern. Das Evangelium nach Maria befindet sich auf den Seiten 7–19 des Codex Berolinensis 8502; diese Seitenzahlen sind in der Übersetzung in Fettdruck eingefügt. Literatur Hartenstein, Judith, Die Zweite Lehre. Erscheinungen des Auferstandenen als Rahmenerzählungen frühchristlicher Dialoge, Berlin 2000. Hartenstein, Judith, Das Evangelium nach Maria (BG 1), in: Nag Hammadi Deutsch. Band 2, Berlin/New York 2003, S. 833–844. Hartenstein, Judith, Das Evangelium nach Maria (BG 1/P.Oxy. L 3525/P.Ryl. III 463), in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Band I/2, Tübingen 2012, 1208–1216. King, Karen L., The Gospel of Mary of Magdala. Jesus and the First Woman Apostle, Santa Rosa, CA 2003. Mohri, Erika, Maria Magdalena. Frauenbilder in Evangelientexten des 1. bis 3. Jahrhunderts, Marburg 2000. Nagel, Peter, Das Evangelium nach Maria, in: Codex apocryphus gnosticus Novi Testamenti. Band 1, Tübingen 2014, S. 1–27. Petersen, Silke, „Zerstört die Werke der Weiblichkeit!“ Maria Magdalena, Salome und andere Jüngerinnen Jesu in den christlich-gnostischen Schriften, Leiden usw. 1999. Till, Walter C., Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502, Berlin 1955. Tuckett, Christopher, The Gospel of Mary, Oxford 2007. Wilson, Robert McLachlan/MacRae, George W., The Gospel According to Mary, in: Douglas M. Parrot (Hg.), Nag Hammadi Codices V,2–5 and VI with Papyrus Berolinensis 8502, 1 and 4, Leiden 1979, S. 453–471.

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Das Evangelium nach Maria – Übersetzung

Lehrgespräch Jesu mit den Jüngern 7 „[…]3 Wird denn die Materie vernichtet werden oder nicht?“ Der Erlöser sprach: „Alle Naturen, alle Gebilde, alle Schöpfungen4 sind miteinander5 vermischt, und sie werden wieder aufgelöst (und gehen) zu ihrer Wurzel (zurück), damit die Natur der Materie allein in dem aufgelöst wird, was zu ihrer eigenen Natur gehört.6 Wer Ohren hat zu hören, möge hören!“ Petrus sprach zu ihm: „Da du uns alles erzählt hast, sag uns doch noch dieses: Was ist die Sünde der Welt?“ Der Erlöser sagte: „Die Sünde existiert nicht. Ihr aber macht, dass die Sünde besteht, wenn ihr in Übereinstimmung mit der Natur der Unzucht, die man ‚Sünde‘ nennt, handelt.7 Deshalb ist das Gute in

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Die Seiten 1–6 der Handschrift fehlen, der vorhandene Text beginnt auf ­Seite 7. 4 Die drei Nomina „Naturen“, „Gebilde“ und „Schöpfungen“ beziehen sich alle auf die vielgestaltige materielle Wirklichkeit. 5 Wörtlich: „ineinander miteinander.“ 6 Der Jesus des Evangeliums nach Maria spielt hier wahrscheinlich auf eine Form der stoischen Kosmologie an. Nach dieser Lehre ist die ganze Wirklichkeit aus vier Elementen (hier: „Wurzeln“) entstanden, die sich vermischt haben. Wenn der Kosmos durch einen Weltbrand vernichtet wird, dann lösen sich die Dinge wieder in ihr ursprüngliches Element auf, bevor auch die Elemente selbst sich in das Eine auflösen. 7 Die Sünde ist keine selbständige Größe, sondern nur eine moralische Möglichkeit der Seele, die sich ihrer niederen (körperlichen) Natur zuneigt. „Unzucht“ steht hier exemplarisch für die „Verschmutzung“ der Seele durch die Mischung mit der materiellen Wirklichkeit. In anderen gnostischen Schriften, z. B. in Exegese der Seele und Authentikos Logos (beide aus Nag Hammadi), deutet die Unzucht bzw. die Hurerei der Seele auf ihren Zustand nach dem „Fall“ hin – d. h. nach ihrer Vereinigung mit dem Körper.

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eure Mitte gekommen, zu denen, die zu jeder Natur gehören, damit er sie in ihre Wurzel zurückstelle.“8 Er fuhr fort und sagte noch: „Deswegen seid ihr geschwächt und werdet ihr sterben, weil […] 8 von dem, der […]. Wer versteht, er möge verstehen! [Die Materie] hat eine Leidenschaft [erzeugt], die kein Vorbild hat, weil sie aus etwas Widernatürlichem hervorgekommen ist.9 Ein Aufruhr entsteht dann im ganzen Körper. Deswegen habe ich euch gesagt: ‚Werdet einig in eurem Herzen, und seid uneinig, wenn ihr jedem Abbild der Natur Beifall spendet.‘10 Wer Ohren hat zu hören, er möge hören!“

Die letzten Anweisungen Jesu Als der Glückselige dies gesagt hatte, küsste er sie alle und sprach: „Friede sei mit euch. Bringt meinen Frieden hervor! Passt auf, dass niemand euch in die Irre führt, indem er sagt: ‚Siehe, hier (ist er)!‘ oder ‚Siehe, dort (ist er)!‘ Denn in eurem Inneren ist es, dass der Menschensohn existiert. Folgt ihm! Die ihn suchen, werden ihn fin-

 8 „Das Gute“ ist das Kommen des Erlösers. In vielen gnostischen Schriften ist es der Erlöser, der dem Menschen (allerdings nur dem Gnostiker) seine höhere, spirituelle Natur offenbart, damit er sich von seiner niederen, körperlichen Natur – und somit von der ganzen kosmischen, materiellen Wirklichkeit – abwenden kann und so wieder zu seinem geistlichen, göttlichen Ursprung („Wurzel“) gelangt.  9 Die Terminologie des (Vor-)Bildes erinnert an jene gnostischen Texte, die von der Schöpfung des Menschen durch den Demiurgen berichten. Der Schöpfergott bildet den Menschen nach einem himmlischen (d. h. „pleromatischen“) Bild, das ihm erschienen ist. Das (Vor-)Bild, nach dem der Mensch erschaffen ist, ist also göttlichen Ursprungs, während seine Materialität vom Demiurgen stammt. „Widernatürlich“ muss hier verstanden werden als das, was keine Beziehung zu einem Vorbild im Pleroma hat. 10 Das „einig Sein“ soll vielleicht als der Zustand verstanden werden, in dem der Mensch sich nicht mehr auf das Körperliche und das Geistliche verteilt, sondern die Seele sich dem einem, dem Geistlichen, zuwendet. Wer aber dem Abbild der Natur Beifall zollt, sollte zuerst uneinig werden und sich dann dem Geistlichen zuwenden.

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den.11 Geht also hin und verkündet das Evangelium des Königreiches. Erlegt (euch) keine 9 Regel auf über die hinaus, die ich für euch festgelegt habe. Und erlasst kein Gesetz in der Weise des Gesetzgebers, damit ihr nie von ihm12 festgehalten werdet.“13 Als er dies gesagt hatte, ging er fort.

Dialog zwischen den Jüngern und Maria Sie aber waren betrübt; sie weinten viel und sagten: „Wie werden wir zu den Heiden gehen? Und wie werden wir das Evangelium des Menschensohnes verkünden? Wenn jener nicht geschont wurde, wie werden dann wir geschont werden?“14 Da stand Maria auf; sie küsste sie alle und sprach zu ihren Brüdern: „Weint nicht und seid nicht betrübt und zweifelt auch nicht15! Denn seine Gnade wird mit euch allen sein und sie wird euch schützen. Lasst uns lieber seine Große preisen, denn er hat uns vorbereitet, er hat uns zu Menschen gemacht.“16 11 Diese Passage erinnert an neutestamentliche Stellen (z. B. Mt 24,23; Lk 17,21.23). Der Menschensohn, der im Gnostiker lebt, ist nicht das Mensch gewordene Wort, sondern eher das Göttliche, das im Inneren des Menschen wohnt. 12 Gemeint ist der Gesetzgeber. 13 Der Gesetzgeber ist der Schöpfergott, der auch der Gott des Alten Testaments ist. Die Gnostiker lehnen das mosaische Gesetz ab, da es sich um ein Instrument des Demiurgen handelt, um Macht über die Menschen auszuüben. Die Regel, von der hier die Rede ist, könnte sich auf die Regeln und Institutionen der Mehrheitskirche des 2. Jahrhunderts beziehen. Die Gnostiker erkennen nur die Regel an, die von Jesus selbst gegeben wurde, um so dem Menschensohn in ihrem Inneren zu folgen. In Hinblick auf die Welt sollen die Gnostiker von allem Zwang frei sein. 14 Nachdem Jesus sie endgültig verlassen hat, weinen die Jünger über seinen Tod. Sie sind ängstlich und fürchten, dass sie Jesu Schicksal teilen müssen. 15 Wörtlich: „habt nicht zwei Herzen/Seelen.“ Der Ausdruck könnte auf einen Zwiespalt zwischen dem göttlichen, geistlichen Element im Menschen und seiner körperlichen Natur verweisen. 16 Im Evangelium nach Maria ist es nicht Jesus, der zum Menschen wird, wenn er einen Körper annimmt, sondern es sind die Jünger (und implizit die Leser) die zu Menschen werden, indem sie Jesus die Entdeckung ihrer wahren, d. h. geistlichen Menschlichkeit verdanken: Sie sind zu Menschen geworden, wenn sie die Körperlichkeit nun ablehnen.

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Als Maria dies sagte, bekehrte sie ihr (der Jünger) Herz zum Guten, und sie begannen über die Worte des [Erlösers] zu diskutieren. 10 Petrus sagte zu Maria: „Schwester, wir wissen, dass der Erlöser dich mehr als die anderen Frauen geliebt hat. Sage uns die Worte des Erlösers, an die du dich erinnerst, die, die du kennst und wir nicht und die wir nicht gehört haben.“

Gespräch zwischen Jesus und Maria über eine Vision Maria antwortete und sprach: „Das, was euch verborgen ist, das werde ich euch erzählen.“ Und sie begann ihnen diese Worte zu sagen: „Ich habe“, sagte sie, „ich habe den Herrn in einer Vision17 gesehen und ich habe zu ihm gesagt: ‚Herr, ich habe dich heute in einer Vision gesehen.‘ Er antwortete und sagte: ‚Du, Glückselige, du bist nicht erschüttert,18 wenn du mich siehst, denn dort, wo der Verstand ist, dort ist der Schatz.‘19 Ich sagte zu ihm: ‚Herr, nun, wer die Vision sieht, sieht er sie mit der Seele oder mit dem Geist?‘20 Der 17 Dass Maria Jesus in einer Vision gesehen hat, spielt die leibliche Gegenwart Jesu (d. h. des Auferstandenen) herunter. Marias Fähigkeit, ihn (geistlich) wahrzunehmen, wird dagegen hervorgehoben. 18 Erschüttert sind die Frauen, die dem Auferstandenen in den kanonischen Evangelien begegnen, z. B. Mk 16,8: „Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen.“ 19 Diese Worte erinnern an Lk 12,34 (vgl. auch Mt 6,21): „Denn dort, wo ihr Schatz ist, dort wird auch ihr Herz sein.“ Während der Schatz bei den neu­ testamentlichen Evangelisten im Himmel ist und erst nach dem Tode erreichbar wird, verortet ihn das Evangelium nach Maria schon in der Gegenwart im Innern des Menschen. 20 Viele Gnostiker haben verschiedene Menschenklassen unterschieden. Zum einen kennen sie die Hyliker oder materiellen Menschen, die zur völligen Vernichtung bestimmt sind, zum anderen die Psychiker oder seelischen Menschen, die erlöst werden (können), und zum dritten die Pneumatiker oder geistlichen Menschen, die erlöst und frei von der Macht der Archonten sind. Die meisten – vielleicht alle – Menschen gehören nach gnostischer Auffassung zur Gruppe der Psychiker: Ihre Seele steht in Spannung zwischen dem höheren, geistlichen (pneumatischen) Element, das in ihnen existiert, und ihrer eigenen Körperlichkeit und den Leidenschaften, die mit ihr verknüpft sind. Maria kennt offensichtlich diese dreiteilige Anthropologie. Das zeigt, dass sie schon eine „Gnostikerin“ ist.

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Erlöser antwortete und sagte: „Weder mit der Seele, noch mit dem Geist sieht er, sondern es ist der Verstand, der inmitten zwischen den beiden ist, [der] die Vision sieht21 [und] er ist es, [der …]22

Lehre über den Aufstieg der Seele 15 Und die Begierde sagte: ‚Ich habe dich (Seele) nicht gesehen, als du herabkamst. Jetzt aber sehe ich dich hinaufsteigen.23 Wie betrügst du (mich) dann, wenn du doch mir gehörst?‘ Die Seele antwortete und sagte: ‚Ich habe dich gesehen, du (aber) hast mich nicht gesehen und du hast mich nicht erkannt.24 Ich war für dich wie (ein) Kleid25, und du hast mich nicht wiedererkannt.‘ Als sie dies gesagt hatte, ging sie mit noch mehr Jubel davon. Wiederum kam sie zur dritten Gewalt, die ‚Unwissenheit‘ genannt wird. [Sie] vernahm die Seele und fragte sie: ‚Wohin gehst du? In Schlechtigkeit wurdest du festgehalten,26 ja du wurdest festgehalten. Richte nicht!‘ 21 Der Verstand (griechisch nous), der zuvor schon als Ort des Schatzes erschien, befindet sich zwischen der Seele und dem Geist und verbindet die beiden. Man darf annehmen, dass die Seele durch den Verstand das Pneumatische wie in einer „Vision“ wahrnehmen kann. In der platonischen Philosophie wird der Verstand manchmal als höherer Teil der Seele dargestellt (s. oben). 22 Die Seiten 11–14 der koptischen Handschrift fehlen. 23 Weil die Begierde nicht um den göttlichen Ursprung der Seele weiß und sie für ein rein irdisches Geschöpf hält, versteht sie nicht, wie die Seele über das Kosmische hinaus steigen kann. 24 Der Unterschied zwischen der gnostischen Seele und den Archonten liegt darin, dass die Seele Erkenntnis („Gnosis“) hat über die niedere Natur der Archonten, letztere aber nichts über die göttliche Natur der Seele wissen. Durch seine Erkenntnis ist der Gnostiker den Archonten überlegen. 25 Der koptische Text ist hier etwas unklar. Gemeint ist, dass die Begierde das Kleid, das die Seele trug, für die Seele selbst gehalten hat. Deswegen hat sie die wahre Natur der Seele nicht bemerkt. Die Vorstellung eines Kleides bzw. einer Hülle wird von Gnostikern oft verwendet, um den Körper zu bezeichnen. Die körperliche – und somit schwache und sterbliche – Erscheinung der Seele führt die Archonten in die Irre hinsichtlich ihrer wahren, göttlichen Natur. Die Begierde weiß nichts vom göttlichen Ursprung der Seele. 26 Die Vorstellung vom Körper (und der ganzen materiellen Wirklichkeit) als Gefängnis geht auf den Platonismus zurück und findet sich häufig in gnostischen Schriften. Der Schöpfergott und die Archonten haben den Körper

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Und die Seele sagte: ‚Warum richtest du mich, obwohl ich doch nicht gerichtet habe?27 Ich wurde festgehalten, obwohl ich nicht(s) festgehalten habe. Ich wurde nicht erkannt. Ich aber, ich erkenne, dass das Universum aufgelöst wird  – sowohl das, was der Erde gehört, 16 als auch das, was dem Himmel gehört.‘28 Als die Seele die dritte Gewalt unschädlich29 gemacht hatte, stieg sie hinauf und sie sah die vierte Gewalt. Sie hatte sieben Formen: Die erste Form ist die Finsternis, die zweite die Begierde, die dritte die Unwissenheit, die vierte der Eifersucht des Todes, die fünfte das Königreich des Fleisches, die sechste die törichte, fleischliche Klugheit, die siebte die zornige Sophia (Weisheit). Dies sind die sieben Gewalten des Zorns,30 die die Seele fragen: ‚Woher kommst du, Menschenschlächterin?‘31 Oder: ‚Wohin gehst du, die du Orte32 unschädlich machst?‘

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ursprünglich gebildet, um das göttliche Licht festzuhalten und so beherrschen zu können. Vgl. Mt 7,1; Lk 6,37. – Das „Richten“ ist das Vorrecht des Schöpfergottes. Es gehört ganz zur kosmischen Sphäre. Die gnostische Seele richtet nicht, weil es in ihrer geistlichen Wirklichkeit weder Gericht noch Sünde gibt (s. oben). Gericht und Sünde sind Kategorien, die zur Welt der Archonten gehören. Gegenüber der Ignoranz der dritten Gewalt (die „Unwissenheit“ heißt) stellt Maria ihr eigenes Wissen: Sie weiß, dass die kosmische Wirklichkeit, d. h. Erde und Himmel mitsamt ihren Archonten, vergänglich sind. Ihrer eigenen Erlösung (d. h. ihrem Aufstieg zum Pleroma) stellt sie die Auflösung des Kosmos gegenüber. Wörtlich: „nutzlos/fruchtlos“. Die Macht der dritten Gewalt wurde von der Seele dadurch gebrochen, dass sie niedere und vergängliche Natur dieser Gewalt erkannte. Der Zorn ist die vierte und zugleich höchste Gewalt, an der die Seele bei ihrem Aufstieg zum Pleroma vorbeikommen muss. Der Zorn steht wohl eher für den Zorn des Schöpfergottes als für eine Erregung der Seele selbst. Der Zorn hat sieben Formen, von denen jede Gewalt über die Seele ausübt. Für die Archonten ist der Mensch der körperliche Mensch: die Seele hat ihn ermordet, indem sie ihn abgeworfen hat, um zu ihrer geistlichen Essenz zu gelingen. Für die Gnostiker aber, ist der Mensch nicht sein Körper, sondern seine wahre göttliche Natur, die von den Archonten im Körper festgehalten wird. Die „Orte“ sind die Gewalten, die sich in den Himmeln zwischen der Erde und der überkosmischen Wirklichkeit der Äonen (dem Pleroma) befinden.

Die Seele antwortete und sagte: ‚Wer mich festhielt, wurde ermordet, wer mich umgab, wurde unschädlich gemacht.33 Und meine Begierde kam zu einem Ende, und die Unwissenheit starb. In einer Welt wurde ich 17 durch eine Welt befreit34 und in einem Bild durch ein himmlisches Bild.35 Und die Fessel des Vergessens besteht in begrenzter Zeit. Von dieser Zeit an werde ich die Ruhe von der Zeit, von dem Moment, von dem Äon empfangen36 – in Schweigen.‘“37

Dialog zwischen den Jüngern und Maria Als Maria dies gesagt hatte, schwieg sie,38 so wie der Erlöser bis dahin mit ihr gesprochen hatte. Andreas antwortete und sagte zu seinen Brüdern: „Sagt einmal: Was sagt ihr über das, was sie gesagt hat? Meinerseits glaube ich

33 Die Ausdrücke „wer mich festhielt“ und „wer mich umgab“ können sich sowohl auf die Archonten (und ihre Gewalten) als auch auf den Körper, der die Seele als Hülle umgibt, beziehen. Die Verben „ermorden“ und „unschädlich machen“ entsprechen den Vorwürfen der vierten Gewalt („Menschenschlächterin“, „die, die du Orte unschädlich machst“). 34 Hierbei kann an eine Verdoppelung der Welt in eine materielle und eine intellektuelle Welt gedacht werden, wie es z. B. bei Philo von Alexandrien zu finden ist (Quod Deus sit immutabilis/Über die Unveränderlichkeit Gottes 30–32). Die intellektuelle Welt entspricht dann einer Art von platonischer Ideenwelt. Dass diese Wirklichkeit „Welt“ (griechisch kosmos) genannt wird, ist in der Gnosis eher unüblich, weil man den Kosmos dort sehr negativ bewertet. 35 Das griechische Wort typos kann sowohl das Abbild als das Vorbild bezeichnen. Hier ist wahrscheinlich gemeint, dass die Seele in dem Abbild, das der erschaffene Mensch ist, durch ihre Erkenntnis des göttlichen Vorbildes, des wahren Menschen, erlöst wird. 36 Das Bild der Ruhe wird oft verwendet, um über das Erlöstsein zu reden. Hier geht es um Ruhe von der Zeit, usw. – d. h. dass man sich der Zeit und dem Kosmos definitiv entzogen hat. 37 Das Schweigen gehört zur uranfänglichen Wirklichkeit: Aus dem Schweigen ist der Logos hervorgekommen und folglich kehrt er wieder dahin zurück. Somit ist das Schweigen – ebenso wie die Ruhe – kennzeichnend für die Erlösung. 38 Dies deutet darauf hin, dass Maria die Erlösung schon erreicht hat.

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nicht, dass der Erlöser diese Dinge gesagt hat, denn es ist so, als ob diese Unterrichtungen andere Gedanken sind!“39 Petrus antwortete und sprach über ähnliche Dinge. Er befragte sie über den Erlöser: „Hätte er (etwa) mit einer Frau gesprochen, heimlich, ohne dass wir es wussten, nicht öffentlich, so dass wir uns um (sie) stellen und alle auf sie hören müssten?40 Hätte er sie uns vorgezogen?“ 18 Da begann Maria zu weinen. Sie sagte zu Petrus: „Mein Bruder Petrus, was denkst du denn? Meinst du, dass ich diese Dinge allein in meinem Herzen erdacht habe? Oder dass ich über den Erlöser lüge?“ Levi antwortete und sagte zu Petrus: „Petrus, schon immer bist du hitzköpfig. Jetzt sehe ich dich mit der Frau so diskutieren, wie es die Feinde tun.41 Wenn der Erlöser sie aber würdig gemacht hat, wer bist dann du, sie hinauszuwerfen42? Sicherlich kennt der Erlöser sie blindlings.43 Deshalb hat er sie mehr als uns geliebt. Wir sollten uns 39 Die Reaktion des Andreas zeigt, dass die Jünger (d. h. die Mehrheitskirche zur Zeit der Abfassung des Mariaevangeliums) die gnostische Lehre als „andere Gedanken“ verstehen, d. h. als eine falsche Lehre bzw. eine Häresie. Daraus kann man ableiten, dass die Menschen, die das Evangelium nach Maria verfasst und gelesen haben, mit dem Christentum in Spannung lebten, das von den Jüngern repäsentiert wird. 40 Petrus lehnt Jesu Offenbarung an Maria ab, weil es sich um eine „geheime“ Lehre handelt. Seine Reaktion spiegelt wahrscheinlich die Haltung der Mehrheitskirche zur Zeit der Abfassung des Evangeliums nach Maria wider, wonach verborgene bzw. apokryphe Traditionen Ketzerei seien. Ein zweites Element dieser Rede ist der Anspruch der Jünger, deren Leiter Petrus ist, die einzige Autorität für die Christen zu sein. Aus dieser Perspektive ist es unvorstellbar, dass sich die Jünger um eine Frau, die nicht zu den Zwölfen gehört, herumstellen müssen, um ihr zuzuhören. 41 Als „Feinde“ gelten die Gegner der frühen Christen; aus gnostischer Perspektive bezeichnet dieser Terminus manchmal auch die Archonten, die gegen die Gnostiker kämpfen. In gewissem Sinne stehen also die Gegner der wahren – d. h. gnostischen – Christen im Dienst der Archonten. 42 Das koptische Wort könnte auch mit „zu verwerfen“ übersetzt werden. Hier wurde an der wörtlichen Übersetzung des Ausdrucks festgehalten. Er könnte ein Hinweis darauf sein, dass Petrus, d. h. die Mehrheitskirche, tatsächlich Gruppen wie jene, die an das Evangelium nach Maria glaubten, aus der christlichen Kirche ausgeschlossen hat. 43 D. h., der Erlöser hat Maria nicht unter äußerlichen Gesichtspunkten beurteilt, etwa weil sie eine Frau war.

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vielmehr schämen und den vollkommenen Menschen anziehen,44 ihn für uns erzeugen, so wie er es uns befohlen hat. Und lasst uns das Evangelium verkünden, ohne (den Hörern) eine andere Regel oder ein anderes Gesetz aufzuerlegen als das, welches der Erlöser gegeben hat.“

Abschluss Als 19 [Levi dies gesagt hatte], begannen sie zu gehen, [um zu verkündigen] und zu predigen.45 Das Evangelium nach Maria

44 Es handelt sich hier um einen Ausdruck aus paulinischer Tradition (vgl. Kol 1,28; Eph 4,13), der in der Gnosis eine spezifische Bedeutung gewonnen hat. Alle sollen danach streben, den fleischlichen, körperlichen Menschen abzulegen und sich mit den wahren geistlichen Menschen zu bekleiden. 45 Im griechischen Text des Papyrus Rylands ist es nur Levi, der hingeht und das Evangelium verkündet.

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Einführung in das Evangelium des Judas

Überlieferung Das Evangelium des Judas ist in nur einem Exemplar erhalten, und zwar als dritte Schrift des sogenannten Codex Tchacos, aus dem vier weitere Schriften (zum Teil fragmentarisch) bekannt sind. Der Text ist aus dem Griechischem übersetzt worden, wie aus der großen Anzahl griechischer Lehnwörter und bestimmter Satzkonstruktionen, die nur vom Griechischen her verständlich sind, hervorgeht.

Der Codex Tchacos Der Codex Tchacos, eine auf Papyrus geschriebene koptische Textsammlung aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., wurde wahrscheinlich in den 1970er Jahren in der Nähe des am westlichen Nilufer gelegenen mittelägyptischen Ortes Al-Minya von Bauern entdeckt. Er geriet für längere Zeit in die Händen von – teils fachlich unqualifizierten – Antiquitätenhändlern. So wurde er unter anderem in einem Bankschließfach und einer Gefrieranlage aufbewahrt. Für den Erhalt des fragilen Papyrusbuches war das verhängnisvoll. Das Manuskript zerfiel unter diesen Bedingungen überwiegend in kleine Fragmente. 2001 erwarb die Maecenas-Stiftung mit Sitz in Basel den Kodex. Die Stiftung stellte ein Team von Koptologen und Gnosisexperten an, um unter strikter Geheimhaltung den Inhalt des Kodex zur Veröffentlichung vorzubereiten. Auf einem Koptologenkongress im Sommer 2004 in Paris gab man die Entdeckung des Judasevangeliums bekannt. Ostern 2006 verbreitete der Fernsehsender National Geographic Channel im Rahmen eines Doku-Specials weltweit die Ergebnisse der Untersuchungen zum Codex Tchacos und insbesondere zum Evangelium des Judas. 31

Die erste Veröffentlichung des Judasevangeliums im Jahr 2006 basierte auf einem noch unvollständigen Text. Dank der unermüdlichen Arbeit des Kirchengeschichtlers und Koptologen Gregor Wurst konnten der Handschrift in den folgenden Jahren weitere Fragmente zugeordnet werden, die manche Annahmen der frühen Forschung widerlegten (etwa dass es Judas sei, der am Ende in der Lichtwolke hinaufsteigt). Derzeit sind ungefähr 90 Prozent der Schrift bekannt. Die Veröffentlichung des Judasevangeliums erregte großes Aufsehen und löste intensive wissenschaftliche Diskussionen aus. Einige Forscher identifizierten die bis dahin unbekannte Schrift mit dem Ende des 2. Jahrhunderts vom Ketzerbekämpfer Irenäus von Lyon erwähnten Judasevangelium (Adversus haereses/Gegen die ­Häretiker, I 31,1). Irenäus schrieb über dieses Werk, das er offensichtlich nur vom Hörensagen kannte, dass es von den sogenannten Kainiten gelesen wurde, einer gnostischen Gruppe, die sich angeblich in der Tradition Kains, Esaus, Korahs und der Sodomiten gebildet hatte. Judas habe, nach dieser Tradition, das Mysterium des Verrats an Jesus vollzogen, weil er eine erhabene Erkenntnis des Schöpfergottes besaß. Das Forscherteam von National Geographic zog daraus den Schluss, dass die dritte Schrift des Codex Tchacos, anders als die „orthodoxe“ christliche Tradition, Judas als Helden eingeführt habe, der zum Heil beitrug, indem er Jesu Körper opferte. Andere Spezialisten der koptisch-gnostischen Literatur betonten dagegen, dass die Figur des Judas nicht eindeutig positiv dargestellt wird. Im koptischen Text wird ihm die Erlösung mehrmals ausdrücklich verweigert. Die Frage ob das Evangelium des Judas im Codex Tchacos mit dem von Irenäus erwähnten Text identisch ist, kann derzeit nicht eindeutig beantwortet werden. Anders als Irenäus es darstellt, ist im koptischen Judasevangelium der Verrat des Judas kein Ausdruck einer ihm zuteil gewordenen besonderen Erkenntnis. Es gibt darin auch keine Hinweise, die es zulassen, diese Schrift den sogenannten Kainiten zuzuschreiben. Auch findet sich bei Irenäus kein Hinweis auf den polemischen Charakter, etwa hinsichtlich der Eucharistie (s. unten), der den koptischen Text prägt. Die Notiz des Irenäus bietet folglich keinen sicheren Anhaltspunkt für die zeitliche Einordnung dieser Schrift. Spezialisten datie32

Abb. 2: Evangelium des Judas, Codex Tchacos © mit freundlicher Genehmigung der Fondation Martin Bodmer und der Maecenas Foundation for Ancient Art

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ren die griechische Originalfassung überwiegend in das späte 2. oder das frühe 3. Jahrhundert. Von einer frühen Entstehung des Judasevangeliums gehen diejenigen aus, die die neu gefundene Schrift mit der von Irenäus erwähnten identifizieren wollen. Eine spätere Datierung würde hingegen z. B. die kritische Haltung des Textes zur Eucharistie der apostolischen Kirche erklären. Verfasser und Entstehungsort der Schrift sind unbekannt.

Textgattung Das Evangelium des Judas ist kein Evangelium im üblichen Sinne. Zunächst ist zu beachten, dass dieses Evangelium das Evangelium des Judas heißt und nicht, in Entsprechung zu vielen anderen kanonischen und nicht-kanonischen Schriften, das „Evangelium nach Judas“. Judas gilt folglich nicht als Verfasser der Schrift, sondern ist die Hauptfigur der Handlung: Das Evangelium des Judas ist eine Schrift über Judas. Obwohl der griechische Begriff eu-angellion „gute Kunde“ bedeutet, sollte er im Fall des Judasevangeliums nicht in diesem Sinne verstanden werden. Die Schrift verkündet keine frohe Botschaft, sondern sie handelt vom Endgericht, vom harten „Urteil“ über die Welt der Archonten, deren Abbild für den Verfasser die apostolische Kirche ist. Das Evangelium des Judas bietet weniger eine positive Interpretation des Verrats, wie es die ersten Veröffentlichungen über diesen Text annahmen, als vielmehr eine Polemik gegen die apostolische Kirche, die letztendlich als die Kirche des Judas verstanden werden konnte. Der erzählende Rahmen des Judasevangeliums erinnert an die kanonischen Evangelien und setzt diese auch voraus. Der Verfasser hat jedoch einige zentrale Elemente der bekannten Passionsund Auferstehungserzählungen geändert: Die Eucharistie wird nicht beim letzten Abendmahl von Jesus eingesetzt, sondern schon vor Jesu Tod von den Jüngern praktiziert; Jesus wird in der Herberge gefangengenommen; er steigt zum Himmel hinauf, ehe er den Kreuzestod erleidet. Hierdurch wird die Passionsgeschichte in eine ganz neue Perspektive gestellt. Der Verfasser des Judasevangeliums ist gleichsam in spielerischer – nach einigen Forschern in „ironischer“ 34

oder gar „sarkastischer“ – Weise mit den kanonischen Evangelien umgegangen. Der Titel „Evangelium“ signalisierte zur Zeit der Abfassung bzw. der Überlieferung des Judasevangeliums, dass es sich um eine wichtige, ja autoritative christliche Schrift handelt. Die Leserschaft durfte erwarten, dass in diesem Werk etwas Grundsätzliches über die Lehre Jesu und über das Wesen des Christentums ausgesagt wird. Deutlicher als in der den Text abschließenden Unterschrift „Evangelium des Judas“ wird die Gattung der Schrift am Anfang charakterisiert. Nach den ersten Worten handelt es sich um „den verborgene Bericht des Urteils46, in dem Jesus acht Tage lang mit Judas Iskariot gesprochen hat“. Dieser Titel verweist auf das Zentrum der im Folgenden mitgeteilten Gespräche Jesu mit Judas und den andern Jüngern. Jesus offenbart in diesen Dialogen Geheimnisse über das Entstehen der Welt, über die Erlösung der Seele, über das „heilige Geschlecht“ usw. Wichtig ist auch, dass es sich um eine apokryphe, das heißt verborgene Rede handelt. Die Schrift versteht sich also selbst als ein Apokryphon. Dies weist darauf hin, dass der Verfasser die Schrift von der vorherrschenden christlichen Tradition abgrenzt. Sie ist nicht Teil der Lehre der apostolischen Kirche, sondern lehnt diese Lehre ausdrücklich ab. Dass die Schrift apokryph ist, bedeutet nicht nur, dass sie sich außerhalb des Mehrheitschristentums stellt, sondern suggeriert auch, dass nur wenige sie kennen, weil sie eine esoterische Tradition überliefert, die für einen kleinen Kreis von Auserwählten bestimmt ist. Diese Auserwählten sind die Gnostiker, die der Lehre und Praxis der apostolischen Kirche kritisch gegenüberstehen, die nicht zum schlichten „Menschengeschlecht“, sondern zum heiligen, überirdischen Geschlecht gehören.

Die Struktur der Schrift Eingebettet in eine recht knappe Rahmenhandlung (Jesu irdisches Wirken und dessen Ende in Jerusalem), enthält das Evangelium des Judas zwei Hauptteile. Im ersten unterhält sich Jesus mit der Jün46 Zur Bedeutung dieses Ausdrucks s. unten Anmerkung 49.

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gergruppe (einschließlich Judas), im zweiten befindet er sich allein mit Judas im Dialog. Beide Abschnitte umfassen mehrere Gespräche, die zu verschiedenen Zeiten stattfinden. Die „acht Tage“, von denen im Textanfang die Rede ist, spielen in der zeitlichen Anordnung der Gespräche keine Rolle. Dialoge zwischen Jesus und den Jüngern Dieser Abschnitt ist in drei Teile gegliedert. Eines Tages findet Jesus seine Jünger, darunter Judas, während sie über dem Brot Dank sagen. Das bietet den Anlass zum ersten Dialog. Jesus lacht über die religiöse Praxis der Jünger. Weil diese sich ärgern und ihm zürnen, fordert Jesus sie auf, sich vor seinem Angesicht aufzustellen. Doch nur Judas vermag es, vor Jesus hinzutreten. Er sagt, dass er weiß, woher Jesus gekommen sei. Jesus fordert ihn auf, sich von den anderen Jüngern zu trennen, damit er ihm die Geheimnisse des Königreichs offenbare. Der zweite Dialog findet am folgenden Tag statt. Die Jünger fragen Jesus nach dem „großen Geschlecht“. Jesus erklärt ihnen, dass dieses Geschlecht zu einer Wirklichkeit gehört, an der die Jünger nie teilhaben werden. Die Jünger seien vielmehr Könige der kosmischen Sphäre. An einem weiteren Tag berichten die Jünger Jesus über einen Traum, der sie tief erschütterte. Sie harrten darin bei einer kultischen Opferfeier aus. Jesus deutet diesen Traum und erklärt den Jüngern, dass sie selbst die Opferpriester sind, die zahllose Untaten begehen und die Menge in die Irre führen. Die Jünger bitten Jesus um Vergebung, doch er sagt, dass sie unmöglich erlöst werden können. Nach dem Ende des dritten Dialogs geht Jesus fort und nimmt Judas mit sich. Dialoge zwischen Jesus und Judas Der erste Dialog zwischen Jesus und Judas betrifft das Geschick der Seele. Jesus unterscheidet zwischen den „Seelen der Menschengeschlechter“, die sterben werden, und den anderen Seelen, die nach dem Tode emporgehoben werden. Nach diesem kurzen Gespräch verlässt Jesus Judas wieder. 36

In einem weiteren Dialog erzählt Judas von einer Vision, in der er das heilige Geschlecht angeschaut habe. Jesus erklärt ihm jedoch, dass dieses Geschlecht für Judas immer unzugänglich bleiben werde. Obwohl Judas nicht zum heiligen Geschlecht hinaufgehen werde, belehrt Jesus ihn ausführlich über das „Pleroma“ (die göttliche Sphäre), das Entstehen des Kosmos und die Erschaffung der ersten Menschen. Dieser lehrhafte Abschnitt behandelt in torsoartiger Weise verschiedene Elemente der gnostischen Kosmologie. Nach dieser langen Offenbarungsrede Jesu wird der Dialog zwischen Judas und Jesus wieder aufgenommen. Sie reden über den Geist, über die Endzeit, die Taufe usw. Jesus sagt, dass Judas alle anderen, die Saklas (s. unten) Opfer darbringen, übertreffen werde, indem er „den Menschen, der Jesus trägt“, opfern wird. Jesus erklärt abschließend, dass Judas alles gesagt wurde. Er solle seine Augen emporheben und auf die Lichtwolke blicken. Das Ende der Handlung Jesus tritt in die Lichtwolke hinein. Was die Stimme, die aus der Wolke kommt, sagt, ist aufgrund von Textverlust nicht erhalten. Die Rahmenhandlung wird in wenigen Sätzen zu Ende geführt: Die Hohenpriester murren, Jesus geht zum Gebet in die Herberge, die Schriftgelehrten wollen ihn ergreifen, haben aber Angst vor dem Volk. Sie treten an Judas heran, geben ihm Geld, und er liefert ihnen Jesus aus.

Wichtige Themen Polemische Aspekte: die Eucharistie Das Evangelium des Judas setzt sich scharf mit der apostolischen Kirche und ihre Bräuchen auseinander. Am deutlichsten kann man dies am Thema der Eucharistie nachvollziehen. Der Anlass des ersten Dialogs zwischen Jesus und seinen Jüngern ist, dass er sie antrifft, während sie Dank sagen über dem Brot (ob damit die Eucharistie als kirchliches Sakrament gemeint ist, muss hier offenbleiben). Jesus lacht über ihre Praxis, die sie selbst als das kennen, „was sich ziemt.“ Jesus sagt, dass sie es nicht aus ihrem eigenen Willen tun, sondern damit ihr Gott Lobpreis empfängt. Aus dem 37

Folgenden wird klar, dass die Jünger nicht den wahren Gott verehren – dessen Sohn Jesus ist –, sondern den niederen Schöpfergott, der Saklas genannt wird. Ein wichtiger Teil des Judasevangeliums ist die Kritik des (jüdischen) Opferkultes. Die Jünger berichten Jesus von einem Traum, in dem sie einen Opferaltar mit zwölf Priestern gesehen haben. An diesem Altar werden in Jesu Namen zahlreiche Untaten begangen. Jesus erklärt ihnen, dass sie selbst jene Priester sind, die die unwissende Menge in die Irre führen. Indirekt wird damit die christliche Praxis der Eucharistie als Fortführung des jüdischen Opferkults dargestellt: In der Eucharistie werde das Opfer, das alle andere Opfer übertrifft, in Erinnerung gebracht, nämlich das Opfer Jesu durch Judas, das zugunsten des Schöpfergottes Saklas dargebracht wurde. Judas hat aber nicht Jesus selbst, sondern nur „den Menschen, der ihn trägt“, geopfert, denn Jesus steigt noch vor dem Kreuzestod in eine Lichtwolke hinauf. Folglich ist dieses Opfer unbedeutend und sollte auch nicht rituell in Erinnerung gebracht werden. Der Tod Jesu hat also in der Perspektive des Judasevangeliums keine heilsgeschichtliche Bedeutung. Eine Kirche, die den Tod Jesu als Heilstat feiert, irrt sich und betet in Wirklichkeit den Gott an, der das Opfer Jesu verlangte. Auch wenn die Apostel es nicht wissen, ist Judas das eigentliche Haupt, der eigentliche Stifter ihrer Kirche, denn er hat die Tat vollbracht, derer sie in ihrer Eucharistie gedenken. Daher ist Judas der dreizehnte, der über die zwölf anderen herrscht. Vorherbestimmung von Heil und Unheil: die beiden Geschlechter Mehr als die meisten anderen bekannten gnostischen Schriften ist das Evangelium des Judas vom Gedanken der Vorherbestimmung des Menschen geprägt. Immer wieder wird zwischen zwei Gruppen unterschieden: dem menschlichen Geschlecht und „jenem“ Geschlecht, das groß und heilig ist. Das menschliche Geschlecht steht unter die Macht der Sterne, lebt in Sünde, wird von den kosmischen Herrschern, den Archonten, und deren Anführer Saklas beherrscht; es ist sterblich und wird in der Endzeit zusammen mit den Archonten zerstört werden. „Jenes“ Geschlecht ist ohne König 38

und dem Zugriff der Archonten entzogen; seine Seele wird nach dem Tode errettet und steigt, wie Jesu Seele, zum Pleroma hinauf. Für die Figuren des Judasevangeliums ist diese Vorherbestimmung unabwendbar. Die Rolle, die jede Person oder Gruppe spielen wird, liegt von vornherein fest. Der Kurs des Schicksals kann unterwegs nicht mehr geändert werden. Sowohl Judas als auch die anderen Jünger haben Momente, an denen sie versuchen, sich ihrem Los zu entziehen. Zwar kommen sie – Judas mehr als die anderen – zu einer gewissen Einsicht, zu einer Erkenntnis über die wahre Natur der Welt, doch werden sie niemals Erlösung finden. Sie wissen um das große, heilige Geschlecht, können aber nicht zu ihm gelangen, weil sie an die Sphäre der Archonten gebunden sind, d. h. der Schicksalsmächte, die durch die Sterne auf sie einwirken. Die Archonten prägen das Geschick des Menschengeschlechtes, über das sie herrschen, sind aber selbst einer höheren Macht unterworfen. Es steht fest, dass sie am Ende mitsamt der Welt vernichtet werden. Das heilige Geschlecht ist von vornherein erlöst und der Gewalt der kosmischen Kräfte und ihres astrologischen Determinismus nie wirklich ausgesetzt. Diese Menschen halten sich schon jetzt an einem besonderen Ort auf, wo weder Sonne noch Mond herrschen und die Archonten keine Macht haben. Jesus sagt, dass er zu jenem Geschlecht gekommen sei – was die Frage aufwirft, wozu es Jesus braucht, da es nicht mehr erlöst werden muss. Die Handlung des Judasevangeliums und seine polemische Ausrichtung führen dazu, dass ein drittes Geschlecht meistens aus dem Blick gerät. Es gibt neben den beiden kontrastierten Geschlechtern noch eine Gruppe von Menschen, die als „das Geschlecht des Adam“ bezeichnet wird. Diese Gruppe lebt im Kosmos, ist also der Macht der Archonten ausgesetzt. Adam und denjenigen, die bei ihm sind, wurde aber eine Erkenntnis („Gnosis“) geschenkt, damit die Könige des Chaos und der Unterwelt nicht über sie herrschen. Diese Gruppe besitzt vielleicht einen dynamischen Status – sie ist keine Gruppe, in die man geboren wird, sondern zu der man gehören kann, wenn man sich vom Kosmos abwendet. Das wäre eine übliche gnostische Perspektive, die im Evangelium des Judas jedoch nur ansatzweise begegnet und vor dem Hintergrund seines starken Determinismus undeutlich bleibt. 39

Dramatis personae Jesus Obwohl die Handlung des Judasevangeliums vor Ostern spielt, trägt die Figur Jesu schon nachösterliche Züge. Er erscheint seinen Jüngern, zuweilen in anderer Gestalt. Er kann nach Belieben zum heiligen Geschlecht hinaufgehen. Er steigt in die Lichtwolke, bevor Judas seine körperliche Hülle den Schriftgelehrten ausliefert. Der Tod Jesu hat keinerlei Heilsbedeutung und fällt daher aus der erzählten Zeit hinaus. Wie in gnostischen Schriften üblich, wird Jesus als Erlöser und Offenbarer dargestellt. Darüber hinaus erklärt er die Träume der Jünger und des Judas. Er vertritt den Determinismus der Schrift, indem er die Versuche des Judas und der Jünger, sich ihres Schicksals zu entziehen, zurückweist und ihnen vorhält, dass nur ein kleiner Teil der Menschen zum Heil bestimmt sei und dass sie nicht zu diesem Teil gehören. Jesus lacht verschiedene Male über die Jünger bzw. über Judas. Man hat den Eindruck, dass er ihr Unwissen verspottet, z. B. wenn sie meinen, mit ihrer Danksagung über dem Brot den Gott Jesu zu preisen und nicht den Schöpfergott. Das Motiv des Lachens ist manchmal mit dem Gedanken der Vorherbestimmung verbunden. Jesus lacht die Jünger aus, wenn sie über das heilige Geschlecht nachdenken, und Judas, wenn er ihm seinen Traum über jenes Geschlecht erzählen will. Jesu Lachen scheint darauf hinzuweisen, dass das Bemühen der Jünger und des Judas sinnlos ist: Selbst wenn sie alles über jenes Geschlecht wüssten, würden sie nie zu ihm gelangen, weil all ihr Tun von den Sternen und den Archonten bestimmt ist. Wenn Jesus lacht, klingt darin sein Urteil über die Welt an, zu der die Jünger samt Judas grundsätzlich gehören. Jesus lacht in der Perspektive der künftigen Vernichtung derer, über die er lacht: die Jünger, Judas, die Sterne. Die Jünger Die Jünger treten als kollektive Person auf. Sie bilden eine Einheit, die dasselbe denkt und glaubt und sogar denselben Traum hat. Sie werden durchweg negativ dargestellt. Vermutlich repräsentieren 40

sie die apostolische Kirche, die Gegnerin des Verfassers des Judas­ evangeliums. Die Jünger verehren nicht den wahren Gott, den Vater Jesu, sondern den Demiurgen. Sie danken schon vor Jesu Tod über dem Brot. Es wird deutlich, dass sie dies nicht in Jesu Auftrag tun, sondern weil der Schöpfergott es von ihnen verlangt. Wenn Jesus sie kritisiert, ärgeren sie sich und zürnen ihm. Diese Affekte sind typisch für die Archonten, von denen Jesus sagt, dass sie auch in den Jüngern seien. Jesus deutet den Traum der Jünger über den Opferaltar in dem Sinne, dass sie die Priester sind, die die Menge in die Irre führen und dem Schöpfergott opfern. Die Jünger sind entsetzt, als sie das begreifen, und bitten Jesus, sie von ihren Sünden zu reinigen. Doch, wie Jesus gesagt hat, handeln sie nicht aus Schlechtheit, sondern weil sie von den Sternen beherrscht werden – eine Möglichkeit, gerettet zu werden, haben sie nicht. Letztendlich scheinen die Jünger mit ihren Sternen zusammenzufallen und selbst zu archontischen Wesen zu werden. Judas Judas ist wohl die faszinierendste Figur des Judasevangeliums. Er unterscheidet sich von den andern Jüngern und muss sich von ihnen trennen. In einer Vision sieht er, wie die anderen Jünger ihn steinigen wollen. Anfangs erscheint er als positive, wenngleich noch unvollkommene Figur: Als einziger Jünger kann er sich vor Jesus hinstellen, kann ihm aber nicht in die Augen blicken. Anders als die anderen Jünger weiß er um die Existenz des Pleromas mit der Figur der Barbelo47 und dem unsichtbaren Geist. Jesus sondert Judas aus, um ihm die Geheimnisse des Königreichs zu offenbaren, allerdings nicht, damit er dort hingeht, sondern viel seufzen muss. So wird die Stellung des Judas deutlich: Er soll besondere Offenbarungen empfangen und alles über die erhabene Wirklichkeit erfahren, doch wird ihm diese Wirklichkeit für immer verschlossen bleiben. Judas wird nicht als gnostischer Held dargestellt, auch wenn er Erkenntnis erlangt. Wenn er am Ende die Rolle eines Archontes spielt – er liefert Jesu Körper aus, damit er dem Schöpfergott geopfert 47 Zu Barbelo s. Anmerkung 57.

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wird –, bedeutet dies nicht, dass er als moralisch verdorbene Figur geschildert wird. Vielmehr ist er ein Opfer des Schicksals, das ihm diese besondere Rolle zugeteilt hat. Im Grunde ist er ein archontisches Wesen, obwohl er sich dieser Natur widersetzt. Er hat Erkenntnis über die göttliche Wirklichkeit und möchte ihr angehören. Sein Los ist es aber, die anderen Sterne anzuführen, als dreizehnter über die zwölf zu herrschen, auch wenn er weiß, dass die ganze kosmische Wirklichkeit dazu bestimmt ist, zugrunde zu gehen. In diesem Sinne kann man Judas als tragische Figur bezeichnen.

Zur Übersetzung Die vorliegende Übersetzung wurde für diese Ausgabe neu hergestellt. Textgrundlage ist Johanna Brankaer/Bas van Os, The Gospel of Judas (Oxford Christian Early Gospel Texts), Oxford im Erscheinen. Lücken des koptischen Originaltextes werden in der Übersetzung durch eckige Klammern markiert (unter Angabe des Umfangs größerer Lücken) oder durch Text in eckigen Klammern gefüllt, wenn eine plausible Wiederherstellung des Wortlauts möglich ist. Textzusätze, die für die deutsche Übersetzung notwendig sind, stehen in runden Klammern. Das Evangelium des Judas befindet sich auf den Seiten 33–58 des Codex Tchacos; diese Seitenzahlen sind in der Übersetzung in Fettdruck eingefügt.

Literatur Brankaer, Johanna/Bethge Hans-Gebhardt, Codex Tchacos. Texte und Analysen, Berlin/New York 2007. DeConick, April D. (Hg.), The Codex Judas Papers. Proceedings of the International Congress on the Tchacos Codex held at Rice University, Houston, Texas, March 13–16, 2008, Leiden/Boston 2009. Jennot, Lance, The Gospel of Judas. Coptic Text, Translation and Historical Interpretation of the „Betrayer’s Gospel“, Tübingen 2011. Kasser, Rodolphe/Meyer, Marvin/Wurst, Gregor (Hg.), The Gospel of Judas from Codex Tchacos, Washington, DC 2006. Deutsche Übersetzung: Das Evangelium des Judas aus dem Codex Tchacos, Wiesbaden 2006.

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Kasser, Rodolphe/Wurst, Gregor/Meyer, Marvin (Hg.), The Gospel of Judas. Together with the Letter of Peter to Philip, James, and a Book of Allogenes from Codex Tchacos. Critical Edition, Washington, DC 2007. Nagel, Peter, Das Evangelium des Judas, in: Codex apocryphus gnosticus Novi Testamenti, Band 1, Tübingen 2014, S. 261–309. Pagels, Elaine H./King, Karen L., Reading Judas. The Gospel of Judas and the Shaping of Christianity, New York 2007. Deutsche Übersetzung: Das Evangelium des Verräters. Judas und der Kampf um das wahre Christentum, München 2008. Popkes, Enno Edzard/Wurst, Gregor (Hg.), Judasevangelium und Codex Tchacos. Studien zur religionsgeschichtlichen Verortung einer gnostischen Schriftensammlung, Tübingen 2012. Wurst, Gregor, Das Judasevangelium (CT 3), in: Antike christliche Apokryphen. Band I/2, Tübingen 2012, S. 1220–1234. Wurst, Gregor, Das Evangelium des Judas (CT 3), in: Nag Hammadi Deutsch. Studienausgabe, Berlin 2013, S. 580–589.

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Das Evangelium des Judas – Übersetzung

Anfang des Textes 3348 Der verborgene Bericht des Urteils,49 in dem Jesus acht Tage lang mit Judas Iskariot gesprochen hat, vor den drei Tagen, ehe er Pascha machte.50

Jesu irdisches Wirken Als er auf der Erde erschienen war, hat er für das Heil der Menschheit Zeichen und große Wunder vollbracht.51 Und während einige auf dem Weg der Gerechtigkeit wandelten und andere in ihrer Übertretung wandelten, wurden die zwölf Jünger berufen. Er begann, mit ihnen über die Mysterien, die über dem Kosmos sind, zu reden, und über das, was am Ende geschehen wird.52 Einige Male zeigte er sich

48 Der Text beginnt auf Seite 33 der Handschrift. 49 Das griechische Wort apophasis („Urteil“) kann verschiedene Bedeutungen haben: Es kann „Verneinung“ bedeuten, aber auch „Aussage“, „Orakelspruch“ oder „Richterspruch“. Der Terminus könnte hier im Sinne der Vorstellung eines Endgerichts verwendet sein. Das göttliche Urteil, das die Verdammten („das Menschengeschlecht“) von den zu Erlösenden („jenem Geschlecht“) trennt, ist ein zentrales Thema des Judasevangeliums. 50 Das koptische r-pascha kann sich sowohl auf das Paschafest als auch auf das Leiden Jesu im Zusammenhang dieses Festes beziehen. Wahrscheinlich ist die Formulierung so zu verstehen, dass Jesu zum Pascha gemacht wird, dass er also anstelle des Paschalammes dem Schöpfergott dargebracht wird. 51 Jesu irdischem Wirken wird hier deutlich eine Heilsbedeutung zugeschrieben. 52 Nach dem Evangelium des Judas fing Jesus also schon während seiner irdischen Wirksamkeit an, die Jünger über die Mysterien zu belehren und nicht, wie in manchen gnostischen Schriften, erst nach seiner Auferstehung.

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seinen Jüngern nicht, sondern wie ein Gespenst (?)53 fandst du ihn in ihrer Mitte.

Jesus im Dialog mit seinen Jüngern und Judas Und eines Tages kam er in Judäa zu seinen Jüngern und er fand sie 34 zusammen sitzend, sich in der Göttlichkeit übend. Als er seine Jünger [betrachtete], während sie zusammen saßen und Dank sagten über das Brot, da lachte er. Die Jünger [aber] sagten zu ihm: „Meister, warum lachst du über [unsere] Danksagung? Oder was haben wir getan? [Dies] ist, was sich ziemt.“ Er antwortete und sagte ihnen: „Nicht über euch lache ich. Ihr tut dies auch nicht [aus] eurem eigenen Willen. Sondern hierdurch geschieht es, dass euer Gott54 Lobpreis [empfangen wird]. Sie sagten: „Lehrer, du bist [wirklich] der Sohn unseres Gottes!“ Jesus sagte ihnen: „Woran erkennt [ihr] mich? Amen, [ich] sage euch: Kein Geschlecht von den Menschen, die unter euch sind, wird mich erkennen.“ Als die Jünger dies hörten, begannen [sie] sich zu ärgern und zu zürnen und ihn in ihrem Herzen zu lästern. Als Jesus aber ihren Unverstand sah, [sagte er] zu ihnen: „Weshalb hat die Bestürzung zum Zorn geführt? Euer Gott, der in euch ist und [seine…], 35 sie haben sich geärgert zusammen mit euren Seelen. Derjenige unter euch Menschen, der [stark] ist, soll den vollkommenen Menschen55 hervorbringen und sich vor meinem Angesicht aufstellen.“ 53 Der koptische Text hat hier ein unbekanntes Wort (hrot). Einige Herausgeber haben es mit Begriffen, die „Kind“ bzw. „Gespenst“ bedeuten, in Verbindung gebracht. Eine andere Lösung besteht darin, den gesamten Ausdruck so zu verstehen: „du fandst ihn so, wie er wollte.“ Der Kontext erlaubt keine eindeutige Lösung. Deutlich wird nur, dass sich Jesus schon während seines irdischen Lebens über seine körperliche Beschaffenheit hinwegsetzen konnte. 54 D. h. der Schöpfergott; er wird im Evangelium des Judas Saklas genannt und verlangt Opfer von den Menschen. 55 Der vollkommene Mensch ist der geistliche Mensch. Im Evangelium nach Maria ist ebenfalls vom vollkommenen Menschen die Rede. Dort geht es um eine Potenz, die in jedem Menschen vorhanden ist. Im Evangelium des Judas bleibt unklar, ob jeder dieses göttliche Element in sich trägt.

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Und sie alle sagten: „Wir sind stark.“ Aber ihr Geist konnte sich nicht erkühnen, sich vor [seinem] Angesicht aufzustellen, außer Judas Iskariot. Er konnte sich zwar aufstellen vor seinem Angesicht, aber er vermochte nicht, ihm in die Augen zu blicken. Vielmehr wandte er sein Gesicht ab.56 Judas sagte zu ihm: „Ich weiß, wer du bist und woher du gekommen bist. Du bist aus dem unsterblichen Äon der Barbelo57 gekommen. Und derjenige, der dich gesandt hat, dieser ist es, dessen Namen auszusprechen ich nicht würdig bin.“ Und weil Jesus wusste, dass er (Judas) an andere erhabene Dinge dachte, sagte er zu ihm: „Trenne (dich) von ihnen. Ich werde dir die Geheimnisse des Königreichs sagen – nicht damit du dort hingehst, sondern damit du viel seufzen wirst. 36 Denn ein anderer wird an deiner Stelle sein, damit die zwölf [Jünger] wieder vollständig sind in ihrem Gott.“58 Und Judas sagte zu ihm: „An welchem Tag wirst du mir diese Dinge sagen, und (wann) wird der große [Tag] des Lichtes für [jenes] Geschlecht anbrechen?“ Als er aber dies sagte, verließ ihn Jesus.

Dialog mit den Jüngern am folgenden Tag Als aber der Morgen angebrochen war, [erschien] er seinen Jüngern, und sie sagten zu ihm: „Lehrer, wohin bist du gegangen und was hast du gemacht, als du uns verließest?“ Jesus sagte zu ihnen: „Ich bin zu einem anderen großen, heiligen Geschlecht gegangen.“ 56 Judas ist hier den anderen Jüngern zwar überlegen, aber er ist nicht imstande das Göttliche zu erblicken. 57 Barbelo ist in verschiedenen gnostischen Schriften die göttliche Mutter in der Trias „Vater“ (unsichtbarer Geist) – „Mutter“ (Barbelo) – „Sohn“ („Autogenes“, d. h. der von selbst Entstandene). Bemerkenswert ist, dass diese Figur in der kosmologischen Lehre Jesu (s. unten) nicht erwähnt wird. Dort finden sich nur der Vater und der Autogenes. Es bleibt also unklar, ob Judas hier eine gewisse „Gnosis“ erreicht hat – was er sagt, stimmt jedenfalls nicht mit dem überein, was Jesus lehren wird. 58 Anspielung auf Apg 1,15–26, wo der Jünger Matthias zum zwölften Apostel gewählt wird.

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Die Jünger sagten zu ihm: „Herr, welches ist dieses große Geschlecht, dass über uns erhaben ist und heilig und jetzt nicht in diesen Äonen ist?“ Und als Jesus dies gehört hatte, lachte er. Er sagte zu ihnen: „Weshalb denkt ihr in eurem Herzen über das starke, heilige Geschlecht nach? 37 Amen, [ich] sage euch: Kein Geschöpf [dieser] Äonen wird jenes [Geschlecht] sehen. Kein Engelheer der Sterne wird über jenes Geschlecht herrschen. Und auch kein Menschengeschöpf wird mit ihm zusammentreffen, denn jenes Geschlecht kommt nicht aus […] der entstanden ist […] das Geschlecht der Menschen […], sondern es kommt aus dem [Geschlecht] der [großen] Menschen. […] mächtige Kräfte, die […] noch einige Mächte [der Äonen], in denen ihr Könige59 seid.“ Als seine Jünger dies hörten, waren sie verstört in ihrem Geist, jeder einzelne, und sie fanden nichts (darauf) zu sagen.

An einen anderen Tag: der Traum der Jünger An einem anderen Tag kam Jesus zu ihnen. Sie sagten zu ihm: „Lehrer, wir haben dich in einem Traum gesehen, denn wir hatten große [Träume während der] vergangenen Nacht.“ [Jesus aber sagte:] „Weshalb habt ihr […] und habt ihr euch versteckt?“ 38 Sie aber [sagten: „Wir haben] ein großes Haus [gesehen], in dem ein [großer Altar war, und] zwölf Männer, von denen wir sagen, dass sie Priester sind, und einen Namen (haben wir gesehen). Und eine (Menschen-)Menge harrte aus bei diesem Altar, [bis] die Priester [damit fertig waren,] die Opfergaben [zu empfangen]. Auch wir harrten da aus.“ Jesus sagte: „Von welcher Art [sind diese Menschen?“] Und sie sagten: „[Einige fasten] zwei Wochen, [andere] opfern ihre eigenen Kinder, andere ihre Frauen, während sie (sich) loben und sich untereinander demütig zeigen. Andere schlafen mit Män59 Dass die Jünger als „Könige“ der kosmischen Äonen dargestellt werden, weist darauf hin, dass sie den Archonten, d. h. den Herrschern über die Welt, ähnlich sind.

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nern, andere widmen sich den Werken des Mordes, noch andere vollbringen eine Menge Sünde und Ungesetzlichkeit. [Und] die Menschen, die [am] Altar stehen, rufen deinen [Namen] an. 39 Und während sie sich mit all den Arbeiten ihrer Schlachtung beschäftigen, füllt sich jener [Altar].“ Und als sie dies gesagt hatten, schwiegen [sie] verstört. Jesus sagte zu ihnen: „Weshalb seid ihr verstört? Amen, ich sage euch: Mein Name wurde von den Geschlechtern der Menschen auf dieses Haus der Geschlechter der Sterne geschrieben.60 [Und] sie haben in meinem Namen fruchtlose Bäume gepflanzt, in schändlicher Weise.“ Jesus sagte (weiter): „Ihr seid die, die am Altar, den ihr gesehen habt, die Opfergaben empfangt. Jener ist der Gott, dem ihr dient. Und die zwölf Männer, die ihr gesehen habt, die seid ihr (selbst). Und die Tiere, die hineingebracht wurden, das sind die Opfer, die ihr gesehen habt, d. h. die (Menschen-)Menge, die ihr in die Irre führt. 40 Über diesem Altar [wird ihr Diener] aufstehen, und er wird meinen Namen in dieser Weise (miss)brauchen, und die Geschlechter der Frommen werden ihm anhängen. Nach ihm wird ein anderer Mann die [Unzüchtigen] bereitstellen, und ein anderer [wird] die Kindesmörder bereitstellen, und noch ein anderer die, die mit Männern schlafen und die, die fasten, und den Rest von Unreinheit und Gesetzlosigkeit und Irrtum. Und die, die sagen: ‚Wir sind engelgleich‘,61 sie sind ja die Sterne, die alle Sachen zur Vollendung bringen. Denn sie haben zu den Menschengeschlechtern gesagt: ‚Siehe, Gott hat euer Opfer aus den Händen eines Priesters empfangen‘ – d. h. des Dieners des Irrtums. Der Herr aber, der befiehlt, dieser ist der Herr über das All. Am letzten Tag werden sie zu Schanden gemacht werden.“

60 Die Menschengeschlechter, d. h. die Apostel und ihre Nachfolger, haben Jesu Namen auf das Haus, in dem die Archonten anbeten werden, geschrieben. Mit diesem Haus ist wohl der Tempel gemeint, indirekt bezeichnet es aber auch den Kultort der apostolischen Kirche. Dies bedeutet, dass letztere den Opferkult der Sterne am Tempelaltar fortsetzt, wenngleich nun in Jesu Namen. 61 S. Lk 20,36.

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41 Jesus sagte [zu ihnen]: „Hört auf, [die Tiere zu opfern,] welche ihr [darbringt] auf dem Altar, denn sie sind über euren Sternen und euren Engeln62, wo sie vollendet worden sind. Sie sollen nun […] werden vor euch und sie [sollen] offenbar [werden].“ Die Jünger [sagten ihm]: „[Reinige] uns von unsern [Sünden], die wir durch den Fehler der Engel begangen haben.“ Jesus sagte ihnen: „Es ist unmöglich, […] für sie […]. Weder [kann] ein Brunnen das [Feuer] der ganzen bewohnten Welt löschen, [noch] kann eine Quelle in […] alle Geschlechter tränken, außer dem großen (Geschlecht), das (dazu) bestimmt ist. Und eine einzige Lampe wird nicht alle Äonen erleuchten, außer dem zweiten Geschlecht. Noch kann ein Bäcker die ganze Schöpfung ernähren, 42 die unter dem [Himmel] ist.“63 [Und als die Jünger dies hörten], sagten sie [zu ihm]: „Lehrer, hilf uns, und […]“ Jesus sagte zu ihnen: „Hört auf, mit mir zu streiten! Ein jeder von euch hat seinen (eigenen) Stern und ein […] der Sterne wird […], was von ihm ist.64 […] Ich bin nicht zum verderblichen Geschlecht gesandt worden, sondern zum Geschlecht, das stark und unvergänglich ist. Denn kein Feind und keiner der Sterne haben über jenem Geschlecht geherrscht. Amen, ich sage euch, die Säule von Feuer wird schnell fallen,65 und jenes Geschlecht wird nicht von den Sternen bewegt werden.“ Und als Jesus dies [gesagt hat], brach er auf und [nahm] Judas Iskariot mit sich. 62 Im Evangelium des Judas findet die Geschichte auf zwei Ebenen statt: Alles, was in der irdischen Sphäre geschieht (z. B. das Opfer der Tiere, d. h. der Menge der Gläubigen), hat auch eine kosmische Dimension, die in der Bewegung der Sterne zum Ausdruck kommt. Die irdischen Priester (d. h. die Jünger) vertreten also die kosmischen Archonten, und alles was auf Erden geschieht, wird letztendlich von den Bewegungen der Sterne verursacht. 63 Die Gleichnisse, die Jesus hier verwendet, weisen darauf hin, dass die Erlösung nur einem kleinen Teil der Menschheit vorbehalten ist. 64 Die Sterne symbolisieren das Geschick. Für jeden ist ein Schicksal bestimmt, an dem er nichts ändern kann. 65 Die „Säule von Feuer“ ist eine Gestalt von Jhwh, dem Gott Israels (z. B. Ex 13,21–22), wenn er des Nachts sein Volk aus Ägypten begleitet. Für die Gnostiker ist der Gott des Alten Testaments eine negative Figur, die letztendlich zugrunde gehen wird.

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Jesus im Dialog mit Judas Er sagte ihm: „Das Wasser auf dem hohen Berg ist [von] 43 in […], der nicht gekommen ist, um […] Quelle des Baumes von [… zum (günstigen) Zeit]punkt dieses Äons, jetzt. Nach einer Zeit […]. Vielmehr ist es gekommen, um das Paradies Gottes und das Geschlecht, das bleibt, zu tränken, denn es wird den [Lebenswandel] jenes Geschlechts nicht beflecken. [Vielmehr wird es] von Ewigkeit zu Ewigkeit bestehen.“ Judas sagte zu ihm: „[Rabbi], was für eine Frucht hat dieses Geschlecht?“ Jesus sagte: „Die Seelen aller Menschengeschlechter werden sterben. Diese aber, wenn sie die Zeit des Königreiches vollendet haben und der Geist sich von ihnen trennt, (dann) werden ihre Körper zwar sterben, ihre Seelen aber werden am Leben erhalten und emporgehoben werden.“ Judas sagte: „Was wird nun der Rest der Menschengeschlechter tun?“ Jesus sagte: „Es ist unmöglich, 44 auf einen [Felsen] zu säen und ihre66 [Früchte] zu empfangen. Gleicherweise […] das [befleckte] Geschlecht und die vergängliche Weisheit [und] die Hand, die sterbliche Menschen erschaffen hat, damit ihre Seelen hinaufsteigen zu den Äonen in der Höhe. [Amen], ich sage euch: ‚Kein [Stern] und kein Engel [und keine] Macht wird fähig sein, jene [Orte] zu sehen, welche das [große], heilige Geschlecht sehen wird.“ Und als Jesus dies gesagt hatte, ging er weg.

Ein weiterer Dialog: der Traum des Judas Judas sagte: „Lehrer, wie du sie alle angehört hast, höre nun auch mich. Denn ich habe eine große Vision gehabt.“ Als Jesus (das) aber gehört hatte, lachte er und sagte zu ihm: „Weshalb bemühst du dich, o dreizehnter Dämon? Aber sprich und ich werde dich ertragen.“ Judas sagte zu ihm: „Ich habe mich in der Vision gesehen: Während die zwölf Jünger Steine auf mich warfen, 45 verfolgten sie [mich 66 Nämlich die einer solchen Saat.

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heftig]. Und ich kam wieder zu [jenem] Ort. [Ich suchte] nach dir. Ich sah [ein Haus an diesem Ort], und meine Augen werden sein Maß nicht [messen] können. Große Menschen aber umgaben es und jenes Haus hatte67 einen einzigen Raum68. Und in der Mitte des Hauses, gab es [eine Menge … 2 Zeilen fehlen]. Lehrer, nimm auch mich mit diesen Menschen (in dieses Haus) hinein!“ Jesus antwortete und sagte: „Dein Stern hat dich in die Irre geführt, o Judas. Denn kein sterbliches Menschengeschöpf ist ja würdig, hineinzugehen in das Haus, das du gesehen hast. Denn dieser Ort ist aufbewahrt für die Heiligen, der Ort, an dem weder die Sonne noch der Mond herrschen werden, auch nicht der Tag, vielmehr werden sie alle Zeit mit den heiligen Engeln in dem Äon stehen69. Siehe, ich habe zu dir über die Geheimnisse des Königreiches gesprochen, 46 und ich habe dich [über den] Irrtum der Sterne gelehrt. Und […] über die zwölf Äonen.“ Judas sagte: „Lehrer, ist vielleicht auch mein Same den Archonten unterworfen?“ Jesus antwortete und sagte zu ihm: „Komm, damit ich mit [dir rede … 1,5 Zeilen Textverlust], aber damit du viel seufzen wirst, wenn du das Königreich und sein ganzes Geschlecht siehst.“ 67 Das Verb „hatte“ ist gegen die Handschrift eingefügt. 68 Der schwierige koptische Ausdruck wird oft als „Haus mit einem grünen Dach“ übersetzt, doch ist dies unbefriedigend. Ein Haus mit einem einzigen Raum (wörtlich: „mit einem einzigen Dach“) könnte sich auf eine Art (himmlischen) Tempel beziehen. Vielleicht verweist die Einheit des Raumes auch auf die göttliche Einheit des Pleromas. 69 Das heilige Haus ist der Ort, zu dem die Menschen, die erlöst werden, nach ihrem Tod hinaufsteigen. Es ist ein Symbol für das Pleroma, d. h. die göttliche außerkosmische Wirklichkeit. Weil dieser Ort sich außerhalb des Kosmos befindet, herrschen dort keine Sonne und kein Mond und keine Sterne, die das Schicksal festlegen: Die Menschen sind dort wirklich frei. Dieser Ort ist der Äon, wo die heiligen Engel stehen. Die heiligen Engel sind jene Engel, die zur präkosmischen Ebene gehören und vor den niederen Engel der Archonten enstanden sind, sowie der Autogenes (siehe S. 47–48 der Handschrift). Dass die heiligen Engel stehen, könnte auf ihre Stärke hinweisen (S. 35 der Handschrift fordert Jesus die Jünger heraus, vor ihm zu stehen, aber sie vermögen es nicht). Das Pleroma besteht in gnostischer Sicht aus einer Menge von Äonen (wörtlich: Ewigkeiten); an dieser Stelle steht jedoch ein Äon für das ganze Pleroma.

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Als Judas dies hörte, sagte er ihm: „Was ist der Vorteil, den ich empfangen habe, weil du mich von jenem Geschlecht getrennt hast?“ Jesus antwortete und sagte: „Du wirst der Dreizehnte werden, und du wirst von den übrigen Geschlechtern verflucht werden, und du wirst über sie herrschen. In den letzten Tagen, werden sie dir …70, und du wirst nicht in die Höhe hinaufgehen 47 zum heiligen [Geschlecht].“

Offenbarungsrede Jesu über die Kosmologie Jesus sagte: „[Komm], und ich werde dich belehren über […, die] kein Mensch sehen wird. Es gibt nämlich einen großen und grenzenlosen Äon, dessen Ausmaß kein Engelgeschlecht je gesehen hat. In ihm ist der große, unsichtbare Geist71, den kein [Engel-] auge gesehen hat, den kein Herzensgedanke erfasst hat, der auch mit keinem Namen benannt wurde. Und an diesem Ort erschien eine Lichtwolke. Und er (der Geist) sagte: ‚Möge ein Engel zu meinem Beistand entstehen.‘ Und aus der Wolke kam ein großer Engel heraus, der Autogenes72, der Gott des Lichtes. Und seinetwegen entstanden vier andere Engel, aus einer anderen Wolke. Und sie entstanden zum Beistand für den Engel Autogenes. Und der [Autogenes] 48 sagte: ‚Möge [ein Äon] entstehen.‘ Und es geschah. […] Und er [errichtete] den ersten Erleuchter, um über ihn zu herrschen. Und er sagte: ‚Mögen Engel entstehen, um [ihm] zu dienen.‘ [Und zehntausende], zahllose entstanden. Und er sagte: ‚Möge ein Licht-Äon entstehen.‘ Und er entstand. Und er errichtete den zweiten Erleuchter, [um] über ihn zu herrschen, sowie zehntausende, zahllose Engel, um (ihm) zu dienen. Und in dieser Weise erschuf er auch den Rest der Licht-Äonen und er ließ sie über sie herrschen. Und er erschuf für sie zehntausende, zahllose Engel, zu ihrem Dienst.

70 An dieser Stelle scheint die Handschrift Text übersprungen zu haben. 71 Ein in gnostischen Texten häufiger Ausdruck, um den höchsten Gott anzudeuten. 72 Autogenes bedeutet „der von selbst Entstandene“.

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Und Adamas73 war in der ersten Lichtwolke, die, die kein Engel von denen, die Gott genannt werden, je gesehen hat. 49 Und […] jenes [… nach] dem Bild […] und nach der Gestalt [dieses] Engels. Er ließ das unvergängliche [Geschlecht] des Seth74 in Erscheinung treten [aus] den zwölf [Erleuchtern], den 24 […]. Er ließ 72 Erleuchter in Erscheinung treten in dem unvergänglichen Geschlecht, nach dem Willen des Geistes. Und die 72 Erleuchter selbst ließen 360 Erleuchter in Erscheinung treten in dem unvergänglichen Geschlecht, nach dem Willen des Geistes, damit ihre Zahl fünf für jeden ist. Und ihr Vater sind die zwölf Äonen der zwölf Erleuchter. Und für jeden Äon gibt es sechs Himmel, so dass 72 Himmel entstehen für die 72 Erleuchter und für einen jeden 50 [von ihnen fünf] Firmamente, [sodass] 360 [Firmamente entstehen. Ihnen] wurde Vollmacht gegeben und eine [Menge] von Engelheeren [ohne] Zahl zu Ruhm und Dienst und sogar einige jungfräuliche [Geister] zu Ruhm und Dienst aller Äonen und Himmel und ihrer Firmamente. Und die Menge jener Unsterblichen wird von dem Vater und den 72 Erleuchtern, die bei dem Autogenes und seinen 72 Äonen sind, Welt genannt, das heißt Verderben. Dies ist der Ort, an dem der erste Mensch mit seinen unvergänglichen Kräften in Erscheinung trat. Und der Äon, der samt seinem Geschlecht in Erscheinung trat – in ihm ist die Wolke der Erkenntnis und der Engel, der [Eleleth75] 51 genannt wird. [etwa 3 Zeilen Textverlust] Danach sagte [Eleleth]: ‚Mögen zwölf Engel entstehen, [um zu herrschen] über das Chaos und [die Unterwelt].‘ Und siehe, ein [Engel erschien] aus der Wolke. Sein Gesicht versprühte [Feuer], und seine Gestalt war befleckt mit Blut. Sein Name ist Nebro, was man mit „Abgefallener“ übersetzt hat. Andere aber (nennen ihn) Jaldabaoth. Und noch ein anderer Engel kam aus der Wolke: Saklas. 73 Adamas gilt in gnostischen Schriften oft als das himmlische Vorbild, nach dem die Menschen erschaffen worden sind. 74 Seth ist Adams dritter Sohn, der nach Kain und Abel erzeugt wurde. Dass er laut Gen 4,25 „von Gott gegeben“ war, deutete man so, dass Seth von himmlischer Geburt war. Viele Gnostiker betrachteten ihn als ihren (geistlichen) Vorfahren und verstanden sich als der Same bzw. das Geschlecht des Seth. 75 In anderen gnostischen Schriften ist Eleleth kein Engel, sondern einer der vier Erleuchter.

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Nebro nun – und Saklas – erschufen sechs Engel als Beistand. Und diese brachten zwölf Engel in den Himmeln hervor. Und sie empfingen jeder einen Anteil von den Himmeln. Und die zwölf Archonten sprachen mit den zwölf Engeln: ‚Möge ein jeder von euch 52 […‘ etwa 3 Zeilen Textverlust] die [fünf] Engel. Der erste ist [Atheth], der Christus genannt wird. Der [zweite] ist Harmathoth, der [das Auge des Feuers] ist. Der [dritte] ist Galila. Der vierte ist Jobel. Der fünfte ist Adonaios.76 Dies sind die fünf (Engel), die über die Unterwelt herrschen und zuvor über das Chaos. Dann sagte Saklas zu seinen Engeln: ‚Lasst uns einen Menschen schaffen nach der Gestalt und dem Bild.‘77 Und sie formten Adam und seine Frau Eva, die aber in der Wolke Zoe78 genannt wird. Denn unter diesem Namen suchen alle Geschlechter nach ihm (Adam), und ein jeder von ihnen nennt sie (Eva) mit ihren (beiden) Namen. Saklas aber hat nicht 53 [befohlen … etwa 4 Zeilen Textverlust] Und der [Engel] sagte zu ihm: ‚Dein Leben wird in der Zeit begrenzt sein sowie das (Leben) deiner Kinder.‘“

Jesus im Dialog mit Judas Judas aber sagte zu Jesus: „Was ist der Vorteil, den [der] Mensch erleben wird?“ Jesus sagte: „Warum wunderst du dich, [dass] Adam mit seinem Geschlecht seine (Lebens-)Zeit in begrenzter Weise empfangen hat, am Ort, wo er sein Königreich in begrenzter Weise empfangen hat, ebenso wie sein Archont?“

76 Die fünf genannten Archonten erscheinen auch in Listen mit 12 Archonten im Apokryphon des Johannes (NHC II, III, IV und BG) und im Ägypter­ evangelium (NHC III und IV). 77 Vgl. Gen 1,26. 78 Das griechische Zoē bedeutet ebenso wie das hebräische Chawwa (Eva) „­Leben“.

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Judas sagte zu Jesus: „Stirbt der menschliche Geist?“ Jesus sagte: „Auf dieser Weise hat Gott dem Michael befohlen, die Geister der Menschen ihnen zu geben, während sie (ihm) dienen, als eine (Braut-)Gabe.79 Der Große (unsichtbare Geist) aber hat dem Gabriel befohlen, die Geister dem großen königlosen Geschlecht zu geben, den Geist und die Seele. Deshalb sind die [übrigen] Seelen 54 [etwa 2 Zeilen Textverlust] Licht [etwa 1 Zeile Textverlust] Chaos [etwa 1 Zeile Textverlust] umgeben […] Geist in euch, den ihr veranlasst habt, in diesem Fleisch unter den Engelgeschlechtern zu wohnen. Gott aber hat veranlasst, dass Adam und denen, die bei ihm sind, die Erkenntnis (gegeben) wurde, damit die Könige des Chaos und der Unterwelt nicht über sie herrschen.“ [Und] Judas sagte zu Jesus: „Was werden jene Geschlechter nun tun?“ Jesus sagte: „Wahrlich, ich sage euch: Die Sterne werden vollendet über diesen allen. Und wenn Saklas die Zeit, die für ihn bestimmt wurde, vollendet, wird ihr erster Stern mit den Geschlechtern kommen, und sie werden das, was gesagt wurde, vollenden. Dann werden sie in meinem Namen Unzucht treiben, und sie werden ihre Kinder töten, 55 [etwa 4 Zeilen Textverlust] Äonen, während sie ihre Geschlechter bringen und sie bereitstellen für Saklas. [Und] danach, wird Israel (?) kommen und die zwölf Stämme [Israels] bringen aus […], damit alle [Geschlechter] Saklas dienen, während sie sündigen in meinem Namen. Und dein Stern wird über den [dreizehnten] Äon [herrschen].“ Danach [lachte] Jesus. [Judas] sagte: „Lehrer, weshalb [lachst du über mich?]“ [Jesus] antwortete und [sagte]: „Ich [lache nicht über dich], sondern über den Irrtum der Sterne. Denn diese sechs Sterne irren zusammen mit diesen fünf Kriegern80, und sie werden alle zerstört werden, zusammen mit ihren Schöpfungen.“

79 Eine Brautgabe ist das, was der Mann seiner Frau schenkt, damit sie von ihrer Familie frei wird. Hier gibt Gott dem Menschen (seiner Braut) den Geist, um ihn von der Materie zu befreien. Nach der Ehe aber, also nach dem Tod, geht die Gabe an den Mann, also Gott, zurück. 80 Mit den fünf Krieger sind vielleicht die Planeten gemeint.

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Und Judas sagte zu Jesus: „Was werden die, die in deinem Namen getauft sind, dann machen?“ Jesus sagte: „Wahrlich, ich sage [dir]: Diese Taufe 56 [… in] meinem Namen, … [etwa 3 Zeilen Textverlust] wird das ganze Geschlecht des Adam, des irdischen Menschen, auflösen. Morgen wird derjenige, der mich trägt, gefoltert werden. Amen, ich [sage] euch: Keine Hand eines sterblichen Menschen [wird] gegen mich sündigen. Wahrlich, [ich sage] dir, Judas: Die, [die] Saklas Opfer darbringen, [etwa 4 Zeilen Textverlust] jegliche [schlechte] Sache. Du aber, du wirst sie alle übertreffen. Denn du wirst den Menschen, der mich trägt, opfern. Schon ist dein Horn erhoben, und dein Zorn ist entbrannt, und dein Stern ist aufgegangen, und dein Herz ist [umgewendet]. 57 Wahrlich, [ich sage dir], dass dein letzter [etwa 3 Zeilen Textverlust] der Äonen […] und die Könige sind schwach geworden und die Engelgeschlechter haben geseufzt. Und die bösen Dinge, die sie [gesät] haben, [etwa 1 Zeile Textverlust] während der [Archont] vernichtet wird. Und dann wird die [Frucht] des großen Geschlechts Adams erhaben sein, denn dieses Geschlecht existiert vor dem Himmel und der Erde und den Engeln, weil es aus den Äonen (stammt). Siehe, alle Dinge wurden dir gesagt. Hebe deine Augen empor und blicke auf die Wolke und das Licht in ihr und die Sterne, die sie umgeben. Und der Stern, der Anführer ist, das ist dein Stern.“

Die Lichtwolke Und Judas hab seine Augen empor. Er sah die Lichtwolke. Und er (Jesus) ging in sie hinein. Die, die unten standen, hörten eine Stimme, die aus der Wolke kam und sagte: „58 [etwa 1 Zeile Textverlust] große [Geschlecht … etwa 3 Zeilen Textverlust]“

Der Verrat Und Judas hörte auf, Jesus zu sehen. Und sogleich gab es Ärger unter den [Juden …]. Und ihre Hohenpriester murrten, weil [er] zu seinem Gebet in die Herberge [hinein]gegangen war. Einige der Schrift­ gelehrten waren aber dort, [die] (ihm) auflauerten, damit sie ihn 57

beim Gebet ergriffen. Denn sie fürchteten sich vor dem Volk, weil er für sie alle als ein Prophet galt. Und sie näherten sich Judas und sagten zu ihm: „Was machst du hier? Du bist der Jünger Jesu.“ Er aber, er antwortete ihnen entsprechend ihrem Wunsch. Und Judas empfing Geld. Er übergab [ihn] ihnen.  Das Evangelium des Judas

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Abkürzungsverzeichnis

Die biblischen Schriften werden in der „Kleinen Bibliothek“ mit folgenden Abkürzungen zitiert (in alphabetischer Reihenfolge):

Tenach/Altes Testament Amos Buch Amos 1. Chr 1. Buch der Chronik 2. Chr 2. Buch der Chronik Dan Buch Daniel Dtn Deuteronomium (5. Buch Mose) Esra Buch Esra Est Buch Ester (Esther) Ex Exodus (2. Buch Mose) Ez Buch Ezechiel (Hesekiel) Gen Genesis (1. Buch Mose) Hab Buch Habakuk Hag Buch Haggai Hiob Buch Hiob (Ijob) Hld Hoheslied Hos Buch Hosea Jer Buch Jeremia Jes Buch Jesaja Joel Buch Joel Jona Buch Jona Jos Buch Josua Klgl Klagelieder des Jeremia Koh Buch Kohelet (Prediger Salomo) 1. Kön 1. Buch der Könige 2. Kön 2. Buch der Könige Lev Levitikus (3. Buch Mose) 59

Mal Mi Nah Neh Num Ob Ps Ri Rut Sach 1. Sam 2. Sam Spr Zeph

Buch Maleachi Buch Micha Buch Nahum Buch Nehemia Numeri (4. Buch Mose) Buch Obadja Buch der Psalmen Buch der Richter Buch Rut (Ruth) Buch Sacharja 1. Buch Samuel 2. Buch Samuel Buch der Sprüche (Sprüche Salomos) Buch Zephanja

Apokryphe bzw. deuterokanonische Schriften Bar Jdt 1. Makk 2. Makk Sir Tob Weish

Buch Baruch Buch Judit (Judith) 1. Makkabäerbuch 2. Makkabäerbuch Buch Jesus Sirach (Ben Sira) Buch Tobit Buch der Weisheit (Weisheit Salomos)

Neues Testament Apg Apostelgeschichte Eph Brief an die Epheser Gal Brief an die Galater Hebr Brief an die Hebräer Jak Brief des Jakobus 1. Joh 1. Brief des Johannes 2. Joh 2. Brief des Johannes 3. Joh 3. Brief des Johannes Joh Evangelium nach Johannes Jud Brief des Judas 60

Kol 1. Kor 2. Kor Lk Mk Mt Offb 1. Petr 2. Petr Phil Phlm Röm 1. Thess 2. Thess 1. Tim 2. Tim Tit

Brief an die Kolosser 1. Brief an die Korinther 2. Brief an die Korinther Evangelium nach Lukas Evangelium nach Markus Evangelium nach Matthäus Offenbarung (Apokalypse) des Johannes 1. Brief des Petrus 2. Brief des Petrus Brief an die Philipper Brief an Philemon Brief an die Römer 1. Brief an die Thessalonicher 2. Brief an die Thessalonicher 1. Brief an Timotheus 2. Brief an Timotheus Brief an Titus

Abkürzungen, die nur in diesem Band Verwendung finden BG NHC

Codex Berolinensis Gnosticus 8502 Nag Hammadi Codex

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