Das Evangelium nach Johannes
 9783666513794, 3525513798

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V&R

Das Neue Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk In Verbindung mit Horst R. Balz, Jürgen Becker, Peter Lampe, Friedrich Lang, Eduard Lohse, Ulrich Luz, Helmut Merkel, Karl-Wilhelm Niebuhr, Eckart Reinmuth, Jürgen Roloff, Wolfgang Schräge, Eduard Schweizer, August Strobel, Nikolaus Walter und Ulrich Wilckens herausgegeben von Peter Stuhlmacher und Hans Weder

Teilband 4

Das Evangelium nach Johannes

18. Auflage (2., durchgesehene Auflage dieser Bearbeitung)

2000 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Das Evangelium nach Johannes

Übersetzt und erklärt von Ulrich Wilckens

2000 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Die Deutsche

Bibliothek

-

CIP-Einheitsaufnahme

Das Neue Testament deutsch: neues G ö t t i n g e r Bibelwerk / in V e r b i n d u n g mit H o r s t R. Balz ... Hrsg. von Peter Stuhlmacher und H a n s Weder. G ö t t i n g e n : Vandenhoeck und Ruprecht. Teilw. hrsg. von Gerhard Friedrich u n d Peter Stuhlmacher. Teilw. hrsg. von Paul Althaus und Johannes Behm Teilw. mit Nebent.: N T D . T c s t a m e n t u m n o v u m T e i l b d . 4 . Wilckens, Ulrich: Das Evangelium nach Johannes. 18. Aufl., (2., durchges. Aufl. dieser Bearb.). - 2000 Wilckens, Ulrich: Das Evangelium nach Johannes / übers, und erkl. von Ulrich Wilckens. 18. Aufl., (2., durchges. Aufl. dieser Bearb.). Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000 (Das N e u e Testament deutsch; Teilbd. 4) I S B N 3-525-51379-8

© 2000, 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, G ö t t i n g e n . Printed in G e r m a n y . - Das W e r k einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede V e r w e r t u n g außerhalb der engen G r e n z e n des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, U b e r s e t z u n g e n , Mikroverfilmungen und die Einspeicherung u n d Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Schriftsatzstudio G r o h s , Landolfshausen D r u c k und Bindearbeit: H u b e r t & C o . , G ö t t i n g e n

Inhalt

Einleitung I. Joh 1-12

1 Jesus, Gottes Sohn, vom Vater gesandt

19

1.

1,1-18

Jesus das ewige Wort Gottes

19

2.

1,19-2,22

Der Anfang: Von Johannes zu Jesus

36

1,19-34 1,35-51 2,1-12 2,13-22

Das Zeugnis des Johannes Die ersten Jünger Jesu Das erste Zeichen Jesu Der Anfang - Beginn des Weges zum Kreuz .

36 45 54 59

2,23-^4,54 2,23-3,21

Der Zugang zu Jesus Nikodemus, der Lehrer Israels, und Jesus, von Gott gekommen Johannes und Jesus Die Frau aus Samaria und Jesus, der Retter der Welt Die Heilung eines Knaben kraft des Wortes Jesu

63

3.

3,22-36 4,1—42 4,43-54 4.

5.

63 74 78 89

6,1-71; 5,1-47; 7,15-24 Die ersten Wunder in Judäa und in Galiläa 6,1-71 Jesus, das Brot des Lebens 6,1-24 Das Mahlwunder und die Erscheinung auf dem See 6,25-59 Die Rede Jesu vom Lebensbrot 6,60-71 Jüngerabfall und Petrusbekenntnis

95 99 109

5,1-47; 7,15-24

Jesus der Sohn in der Vollmacht Gottes

111

5,1-16

Das Heilungswunder am Schabbat

113

5,17-47; 7,15-24

Die erste Rede Jesu zu den Juden

115

5,30—47

Das Zeugnis für Jesu

122

7,15-24

Verteidigung gegen den Vorwurf des Schabbatbruches

126

91 92

VI

Inhalt

6.

7.

7,1-13.14.25-53; 8,12-59 Krisis - Jesu Auseinandersetzung mit den Juden 7,1-13 Jesus geht unerkannt zum Laubhüttenfest nach Jerusalem 7,14.25—36 Zwiespältiges Urteil über Jesu Messianität . . . 7,37-52 Die Anstößigkeit der Messianität Jesu 7,53-8,11 Jesus und die Ehebrecherin 8,12 Der zweite Heilsruf: Jesus das Licht der Welt 8,13-20 Jesu Legitimation aufgrund seiner Sendung vom Vater 8,21-29 Das Ziel der Sendung Jesu 8,30-47 Die Wahrheit, die frei macht, gegen die Lüge des Satans 8,48-59 Gegen den Vorwurf dämonischer Besessenheit 9,1-10,39 9,1—41 10,1-21 10,22-39

8.

10,40-11,54 10,40—42 11,1—44 11,45-54

9.

11,55-12,36 11,55-57 12,1-11 12,12-19 12,20-36

10.

12,37-50

Jüngerschaft als Blindenheilung und Vertrautsein mit Jesus Die Heilung des Blindgeborenen Die Bildrede von den Schafen des guten Hirten Jesu Einheit mit Gott - Wahrheit oder Blasphemie? Der Höhepunkt der Zeichen Jesu: die Auferweckung des Lazarus Viele kommen zum Glauben an Jesus „Ich bin die Auferstehung und das Leben" . . Die unfreiwillige Prophetie des Hohenpriesters Jesus in Jerusalem angesichts seines bevorstehenden Todes . . . . Jerusalem kurz vor dem Päsachfest Die Salbung Jesu in Betanien Der Einzug Jesu in Jerusalem als Heilskönig . Jesu bevorstehender Tod als seine Verherrlichung Schluß des ersten Teiles: Der Unglaube der Vielen - Letzter Ruf zum Glauben an alle . . .

127 127 130 132 137 140 141 143 146 151

153 154 163 169

172 172 173 181

184 184 184 187 189

197

Inhalt

12,37—43 12,44-50

II. Joh 13-20 13,1-17,26 1. 13,1-30 13,1-20

VII

Der Unglaube der Vielen als „Verstockung" . Abschließender dringender Ruf zum Glauben

197 200

Der Kreuzestod des Sohnes Gottes als seine Rückkehr zum Vater Abschiedsreden und-gebet

203 204

Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern . . . . Die Fußwaschung: Teilhabe an Jesus und Vorbild für seine Jünger Die Entbergung des Verräters

204 212

2. 13,31-38

Die Bedeutung der Verherrlichung Jesu für seine Jünger

215

3. 14,1-31

Die Verheißung der Wiederkehr Jesu

13,21-30

204

und der Gegenwart des Geistes

219

4. 15,1-17

Das Bleiben in der Liebe Jesu

236

5. 15,18-16,4a

Der Haß der Welt der Jünger in der Verfolgung

244

6. 16,4b-33

Der Beistand des Geistes als Ankläger der

7. 17,1-26 18,1-20,31

Welt und die Wiederkunft Jesu

248

Jesu Fürbitte für die Seinen

257

Das Passions-und

270

Ostergeschehen

8. 18,1-11

Die Gefangennahme Jesu

270

9. 18,12-27

Jesus den Hohepriestern Petrusvor verleugnet ihn

273

Jesus vor dem römischen Statthalter als Richter

277

18,28-32

1. Szene

279

18,33-38a

2. Szene

280

18,38b-40

3. Szene

282

19,1-3

4. Szene

283

10. 18,28-19,16a

19,4-7

5. Szene

283

19,8-12

6. Szene

286

19,13-16a

7. Szene

289

Vili

Inhalt

11.

19,16b—42

Kreuzigung und Grablegung Jesu

290

19,16 b—22

1. Szene

290

19,23-24b

2. Szene

291

19,24c-27

3. Szene

294

19,28-30

4. Szene

297

19,31-37

5. Szene

299

19,38—42

6. Szene

301

12. 20,1-18

Das Ostergeschehen am Grabe

303

13. 20,19-29

Die Erscheinung vor den Jüngern

310

14. 20,30-31

Der ursprüngliche Abschluß des Buches . . . .

318

Anhang: Weitere Osterereignisse

320

III. Joh 21,1-25 1.

21,1-14

Die Erscheinung am galiläischen See

321

2.

21,15-23

Petrus und der geliebte Jünger

325

3.

21,24-25

Der Buchschluß des Joh in seiner veröffentlichten Gestalt

331

Grundlagen johanneischer Theologie

332

Verzeichnis der Abkürzungen

349

Literaturhinweise

352

Einleitung

1. Das Job im Verhältnis zu den anderen

Evangelien

1.1. „ Evangelium " war in der Anfangszeit der Urkirche der zentrale Begriff für die Heilsbotschaft von dem Messias Jesus, der „für unsere Sünden" am Kreuz gestorben und als solcher von Gott zum endzeitlich-vollkommenen Leben auferweckt worden ist (l.Kor 15,1-5). Das Wort hatte biblischen Klang (vgl. Jes 52,7; 61,1 f.) und hieß die mit der Bibel Vertrauten das, was verkündigt wurde, als Gottes eigene Botschaft zu hören, die er, wie einst durch Prophetenmund, jetzt durch die Apostel als „Boten" seines Wortes verkündigen läßt (vgl. l.Thess 2,13). Vor Ostern hatte Jesus selbst die Heilsbotschaft vom Anbrach der Gottesherrschaft in diesem biblischen Wort zusammengefaßt (Mkl,15 par; Mt 11,5f.; Lk 16,16) und seine Jünger bereits als Freudenboten dieses Evangeliums durch die Ortschaften Galiläas gesandt (Mt 10,7; Lk 10,9). In seiner Auferweckung hat Gott den Verkünder seines Reiches selbst zum zentralen Inhalt des Evangeliums gemacht, so daß der Glaube an Gott jetzt den Glauben an Jesus Christus als Gottes Sohn einschließt (vgl. Rom 1,3 f.; 10,9). Dies wiederum führte dazu, daß dann in der zweiten Generation der Urkirche alles, was Jesus verkündigt, gelehrt und getan hat, mit dem Geschehen seiner Passion und Auferstehung als „das Evangelium" zusammengefaßt worden ist. Wahrscheinlich ist es der Evangelist Markus gewesen, der als erster in diesem Sinn „das Evangelium" als ein Buch verfaßt hat, das die Geschichte „Jesu Christi, des Sohnes Gottes" (Mkl,l) berichtet. Das war eine herausragende und folgenreiche theologische Tat. Unter Zugrundelegung des Mk haben dann Matthäus und Lukas Evangelienbücher der gleichen Art, jedoch in erweiterter Gestalt verfaßt. So verschieden untereinander diese drei Bücher sowohl literarisch wie theologisch gestaltet sind, im Entscheidenden stimmen sie überein: Sie erzählen erstens alle Begebenheiten von dem Menschen Jesus als dem Messias und Gottessohn (vgl. Mk 8,27-30; 9,2-8 parr). Und sie lassen zweitens alles Wirken Jesu in Wort und Tat auf die Geschichte seiner Passion und Auferstehung als das von Gott vorherbestimmte Ziel seines Weges zulaufen (vgl. Mk 8,31; 9,31; 10,32 f. parr). In dieser Anlage unterscheiden sich diese drei ältesten Evangelienschriften von allen uns bekannten späteren. Nur das Joh ist nach dem gleichen „Bauplan" gestaltet. Hier sind diese beiden Bauelemente sogar noch wesentlich verstärkt worden. Daß Jesus der Messias als der Sohn Gottes ist (20,31), ist durchweg das eine, zentrale Thema aller Wundertaten und Reden Jesu. Und daß der Weg Jesu auf das Passions- und Ostergeschehen

2

Einleitung

zuführt, wird den Lesern bereits von Anfang an vor Augen geführt. Johannes weist seine Jünger auf ihn hin: „Siehe, das Lamm, das die Sünde der Welt wegträgt!" (1,29). Besonders auffällig ist zugleich, daß in 2,13-22 bereits zu Anfang der Geschichte Jesu erzählt wird, was den Lesern als zum Beginn der Leidensgeschichte gehörend vertraut ist. In der Verstärkung und Vertiefung dieser beiden Hauptgesichtspunkte liegt nun zugleich auch der Grund dafür, daß sich das Joh als ganzes wie auch in nahezu allen Einzelheiten gravierend von seinen synoptischen' Vorgängern unterscheidet. Das betrifft vor allem seinen Aufbau. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Joh 1-12 steht Jesus vor Augen als der vom Himmel in die Welt gekommene, von Gott als seinem Vater gesandte Sohn, der mit dem Vater „eines" ist (10,30). So beginnt Joh, anders als Mk, nicht mit dem Bericht über Johannes als den Täufer Jesu, und auch anders als Mt und Lk, nicht mit einer Erzählung über Jesu Geburt als Davidssohn, sondern mit der gewaltigen Ouvertüre des,Prologs* 1,1-18, der mit dem engen Verhältnis „des Wortes" zu Gott im Uranfang vor der Weltschöpfung einsetzt (1,1-5) und sodann seine Inkarnation in dem Menschen Jesus als Gottes „einziggeborenem" Sohn bekennt (1,14.16-18). In allem, was Jesus dann tut und redet, können die, die als seine Jünger an ihn glauben, „seine Herrlichkeit sehen" (2,11), das heißt, Gottes Herrlichkeit in Jesu Offenbarungswirken erkennen. Die Nichtglaubenden dagegen werden alsbald zu seinen Gegnern, deren Ablehnung, ja Feindschaft, sich von Stufe zu Stufe steigert, bis sie sich in der Kreuzigung Jesu auswirkt. Mit der „Stunde" des Beginns des Passionsgeschehens setzt der zweite Teil ein (Joh 13-20), in dem Jesus in ausführlichen Reden seinen Jüngern beim Abschiedsmahl ankündigt, daß sich in seinem „Weggang" von ihnen sein „Hingang" zum Vater als seine „Verherrlichung" vollziehen wird, an der sie selbst als „die Seinen" (13,1) durch das Wirken des Geistes teilhaben sollen ( J o h l 3 - 1 6 ) . Die Leser des Joh vermögen, im Unterschied zu den Jüngern in dieser Abschiedssituation, diese Reden zu verstehen, weil sie kraft des Geistes mit dem verherrlichten Jesus verbunden sind. So sind diese Reden für sie die theologische Interpretation des nachfolgend berichteten Passionsgeschehens, in welchem sich zugleich die Erhöhung und Verherrlichung Jesu vollzieht. Das ist das eigentliche theologische Thema dieses zweiten Teiles: Indem die Menschen ihn an das Kreuz „erhöhen", wird er zugleich zu Gott „erhöht" (vgl. 3,14-16; 12,32). Diese Ineinsschau von Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu aus der Pfingstperspektive des Geistes ist der theologische Zentralaspekt des Joh, in dem sich dieses nicht nur von den anderen Evangelien unterscheidet, sondern mit dem es zugleich auch über alle Schriften des Neuen Testaments herausragt.

1.2.

Wie läßt sich nun im einzelnen das Verhältnis synoptischen Evangelien bestimmen?

zwischen Joh und den

Das ist schon im Blick darauf ein schwieriges Problem, daß die Anzahl der Stoffe, die in den synoptischen Evangelien Parallelen haben, erstaunlich gering

Einleitung

3

ist gegenüber der großen Mehrzahl von Stoffen ganz eigener Art. Von den sieben großen Wundern Jesu im Joh gibt es nur zwei, zu denen in den synoptischen Evangelien wirklich entsprechende Berichte zu finden sind: die Heilung des Jungen eines königlichen Beamten in Kafarnaum Joh 4,46-53, die sich freilich von der Parallelerzählung Mt 8,5-13 par sehr stark unterscheidet; sowie die Geschichte vom Mahlwunder und der anschließenden nächtlichen Erscheinung Jesu auf dem See Joh 6,1-21, die eindeutig ihr literarisches Vorbild in Mk 6,32-52 hat. Von allen anderen Erzählungen sind nur jeweils kleine Teile vergleichbar; und Gleiches gilt auch von mancherlei einzelnen Worten Jesu, die in den synoptischen Evangelien Parallelen haben. Eigenartig selbständig ist auch die johanneische Passionsgeschichte. Der Gang des Geschehens im großen entspricht zwar dem Modell des synoptischen Berichts. Nahezu durchweg jedoch geht das Joh ganz eigene Wege. Das Gleiche gilt auch für die Ostergeschichte (Joh 20). Das alles läßt sich nur im Kommentar im einzelnen zeigen. Als ein sehr gutes Hilfsmittel für den Vergleich zwischen Joh und den drei anderen Evangelien in allen Einzelheiten ist zu empfehlen: R. Pesch, Synoptisches Arbeitsbuch zu den Evangelien, Band 5 / Johannes, Zürich und Gütersloh 1981. Als Gesamtbild ergibt sich: Einerseits ist an einigen Stellen zwingend zu erweisen, daß der Joh.evangelist Mk wie auch Lk gekannt und benutzt hat. O b auch Mt, muß offen bleiben, weil es eindeutige Textbeobachtungen nicht gibt und bei den meisten mit Mk parallelen Vergleichsstellen nicht entscheidbar ist, ob nun Mk oder Mt zugrundeliegen. Man kann nur allgemein vermuten: Weil zur Zeit der Herausgabe des Joh in der frühen Kirche des Ostens wie des Westens Mt die anerkannteste und verbreitetste Evangelienschrift gewesen ist, wäre es seltsam, wenn es dem Joh.evangelisten gänzlich unbekannt geblieben sein sollte. Andererseits zeigt sich überall dort, wo synoptische Stoffe vorliegen, ein hohes Maß johanneischer Eigenständigkeit. Es ist völlig klar, daß darin die Hand des vierten Evangelisten zu erkennen ist, der sowohl literarisch wie theologisch ganz eigene Wege zu gehen pflegt. In der gegenwärtigen Forschung ist allerdings das Urteil verbreitet, die synoptischen Parallelen im Joh gingen überhaupt nicht oder nur zum kleineren Teil auf eine literarische Benutzung synoptischer Evangelienschriften zurück, sondern sie seien aus der lebendigen, vielgestaltigen mündlichen Uberlieferung der Evangelienstoffe entnommen, aus der auch Mk, Mt und Lk geschöpft haben. Nun ist gewiß nicht zu bestreiten, daß es neben dem Gebrauch und der Verbreitung der Evangelienschriften auch noch zur Zeit des Joh.evangelisten einen breiten Strom mündlicher Uberlieferung gegeben hat. Ein spätes Beispiel dafür ist die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin Joh 7,53-8,11, die erst im 3. Jahrhundert Eingang in das Joh (aber auch in das Lk!) gefunden hat und im Text der ältesten Handschriften fehlt. Ein besonders ergiebiges Beispiel ist ferner das neu aufgefundene Thomasevangelium, in dem sich eine Vielzahl von Sprüchen Jesu findet, die zweifellos aus mündlicher Überlieferung aufgenommen worden sind, darunter auch einige, in denen mit guten Gründen eine gegenüber den neutestamentlichen Evangelien ältere Version vermutet werden kann.

4

Einleitung

Mustert man jedoch die sonstige vielfältige ,apokryphe' Evangelienliteratur durch, so zeigt sich schon früh und je länger je mehr eine literarische Benutzung der neutestamentlichen Evangelien. Und die Tendenz geht dahin, die Verschiedenheiten zwischen diesen auszugleichen (zu „harmonisieren"), und vielfach auch neue Erzählungen zu konstruieren durch Kombination von Einzelzügen aus den Evangelienschriften (Beispiel: M k 16,9-20!). Auf ähnliche Weise kann sehr wohl bereits der Joh.evangelist mit den ihm vorgegebenen synoptischen Evangelien verfahren sein. Hat man die Gesamtentwicklung, auch schon zu Beginn des 2. Jahrhunderts, im Blick, so liegt es in der Mehrzahl der Fälle ungleich näher, mit einer eigenwilligen Benutzung der synoptischen Evangelien durch den Joh.evangelisten zu rechnen als mit der Aufnahme von Stoffen aus der mündlichen Uberlieferung seiner Umgebung. Denn zumeist sind die Abweichungen vom synoptischen Wortlaut oder vom Erzählungsgang der synoptischen Parallelen charakteristisch johanneisch geprägt. Der entscheidende Grund, warum ich diese Annahme in der Regel bevorzuge, ist eine Einsicht, die sich mir in der Einzelauslegung des J o h ergeben hat: D e r Joh.evangelist setzt bei seinen Lesern die Kenntnis dieser Evangelienschriften, ja ihr Vertrautsein mit diesen, voraus. In der Art seiner Darstellung ist überhaupt die ständige Kommunikation mit seinen Lesern ein wesentliches Mittel. Sie sollen sich selbst als in der erzählten Situation mit gegenwärtig sehen, und zwar mitsamt ihrem Aspekt ,nachösterlichen' Glaubens, der von dem der Jünger wie auch der Gegner auf der Ebene der Erzählung verschieden ist. In diesem Sinne verlangt der Joh.evangelist ein hohes Maß wacher Mitbeteiligung seiner Leser. Sie sollen z.B. Mißverständnisse der Jünger, Fehlreaktionen der Zuhörer, ja sogar die Ironie, daß das Urteil eines der jüdischen Führer gegen Jesus auf hintergründige Weise ein prophetisches Zeugnis für ihn ist (vgl. 11,49-53!), durchschauen und sich so der Führung durch den Joh.evangelisten als höchst,kritischem' Erzähler aktiv anvertrauen. Unter dieser Voraussetzung lassen sich einige besonders auffallende Unterschiede zwischen Joh und den synoptischen Evangelien erklären. Der Konflikt im Tempelvorhof J o h 2,13-22 z . B . provoziert die Leser, die beide Teile dieser Erählung aus M k als Ereignisse im Vorfeld der Passion kennen, zu der Einsicht, daß sie das J o h als ganzes als eine einzige Passionsgeschichte lesen sollen. Dem gleichen Ziel dient es, daß Jesus im Joh vor dem Päsachfest seines Todes bereits zweimal zum Päsach von Galiläa nach Jerusalem geht (Joh 2,13; 6,4): Die Leser sollen die ihnen aus dem synoptischen Passionsbericht bekannte Reise zum Todespäsach nach Jerusalem bereits von Anfang der Geschichte Jesu an als das Ziel seines Weges im Blick haben. Überhaupt haftet an Jerusalem von Anfang an die Symbolik der Passion: Es ist der O r t wachsender Feindschaft gegen Jesus, die schließlich zu seiner Kreuzigung führt, - während Galiläa der O r t der Entstehung von Glauben an Jesus ist. Oder: Daß in J o h 1 von der Taufe Jesu durch Johannes, die in M k von überaus großer Bedeutung ist, gar nicht erzählt wird, hat seinen Grund nicht etwa darin, daß der Joh.evangelist aus der Uberlieferung seines Umkreises eine Geschichte von Jesu Taufe nicht gekannt hätte; sondern er schreibt für Leser, die diese kennen,

Einleitung

5

und läßt sie im Bericht seines Buches Johannes, den großen „Zeugen" auf Jesus hin, sehen und die Taufe Jesu (1,33!) in diesem Zusammenhang verstehen. Ganz entsprechend ist auch zu erklären, daß Joh zwar ausführlich vom Abschiedsm