Das Evangelium des Matthäus: Kapitel 1-14
 9783417227413

Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Abkürzungen
A. Einleitung
I. Auf den Spuren des Matthäus
1. In der Kunstgeschichte
2. In der Geschichte
3. In der Kirche
II. Verfasser
III. Entstehungszeit
IV. Die Quellen des Matthäus
V. Eine aramäische Urform?
VI. Ort der Abfassung
VII. Theologischer Charakter und Aussageschwerpunkt
VIII. Zur Geschichte der Auslegung
B. Auslegung
I. Frühzeit, 1,1-9,38
Überschrift, 1,1
Anfänge, 1,2-4,25
1. Die Herkunft Jesu, 1,2-17
2. Jesu Geburt, 1,18-25
Exkurs zur Jungfrauengeburt
3. Die Anbetung Jesu durch die Magier, 2,1-12
4. Die Flucht nach Ägypten, 2,13-15
5. Der Kindermord des Herodes, 2,16-18
6. Rückkehr und Kindheit Jesu in Nazareth, 2,19-23
7. Johannes der Täufer als Vorläufer Jesu, 3,1-12
8. Die Taufe Jesu durch Johannes, 3,13-17
9. Die Versuchung Jesu, 4,1-11
10. Der Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, 4,12-25
Exkurs: Kapernaum
Exkurs: Die beiden Brüderpaare von Mt 4,18-22
Die Bergpredigt, 5,1-7,29
1. Einleitung, 5,1-2
2. Die Seligpreisungen, 5,3-12
3. Die Aufgabe der Jünger, 5,13-16
4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20
5. Die Gesetzesauslegung Jesu, 5,21-48
1. Die Auslegung des sechsten Gebotes, 5,21-26
2. Die Auslegung des siebten Gebotes, 5,27-32
3. Die Auslegung des dritten Gebotes im Blick auf das Schwören, 5,33-37
4. Gottes Urteil über das Vergelten, 5,38-42
5. Vollkommenheit in der Liebe, 5,43-48
6. Wahre Frömmigkeit, 6,1-18
1. Allgemeine Anweisung, 6,1
2. Almosen, 6,2-4
3. Gebet, 6,5-15
4. Fasten, 6,16-18
7. Reichtum und Sorgen, 6,19-34
8. Regeln für das Leben in der Nachfolge, 7,1-20
1. Worte vom Richten, 7,1-5
2. Worte von der Entweihung des Heiligen, 7,6
3. Worte vom Gebet, 7,7-11
4. Worte vom Handeln anderen Menschen gegenüber, 7,12
5. Worte von den zwei Wegen, 7,13-14
6. Worte der Warnung vor den falschen Propheten, 7,15-20
9. Schlussmahnungen, 7,21-27
10. Schlussnotiz des Matthäus, 7,28-29
Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1-9,38
1. Die Heilung eines Aussätzigen, 8,1-4
2. Der Hauptmann von Kapernaum, 8,5-13
3. Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus, 8,14-15
4. Krankenheilungen am Abend, 8,16-17
5. Möglichkeit und Notwendigkeit der Nachfolge, 8,18-22
6. Die Stillung des Seesturms, 8,23-27
7. Die Heilung von zwei Besessenen bei den Gergesenern, 8,28-34
8. Die Heilung des Gelähmten, 9,1-8
9. Die Berufung des Matthäus, 9,9-13
10. Die Fastenfrage, 9,14-17
11. Die Auferweckung der Jaïrustochter und die Heilung der Blutflüssigen, 9,18-26
12. Die Heilung von zwei Blinden, 9,27-31
13. Die Heilung eines stummen Besessenen, 9,32-34
14. Abschlussnotiz zu den Kapiteln 5–9; 9,35-38
II. Jesu Ringen um Israel, 10,1-16,20
Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1-12,50
1. Die Berufung der Zwölf, 10,1-4
2. Die Aussendungsrede, 10,5-42
2.1 Der Sendungsauftrag, 10,5-15
2.2 Die Voraussage des Geschicks seiner Boten, 10,16-39
2.2.1 Die Sendung trifft auf Widerspruch, 10,16-23
2.2.2 Der Blick auf den Herrn tröstet, 10,24-25
2.2.3 Ermutigung zum Zeugnis, 10,26-33
2.2.4 Die Zukunft der Jünger in der Kreuzesnachfolge, 10,34-39
2.3 Verheißungen für die Aufnahme seiner Boten, 10,40-42
3. Das Ringen um Johannes und seine Jünger, 11,1-19
3.1 Summarium über Jesu damalige Tätigkeit, 11,1
3.2 Die Anfrage des Täufers, 11,2-6
3.3 Jesu Urteil über den Täufer, 11,7-15
3.4 Jesu Urteil über die gegenwärtige Generation, 11,16-19
4. Jesus und die Städte seiner Heimat, 11,20-24
5. Jesus und der Vater, 11,25-30
6. Ährenraufen und Sabbatfrage, 12,1-8
7. Eine Sabbatheilung und ihre Folgen, 12,9-14
8. Die Prophetie erfüllt sich, 12,15-21
9. Gottes Geist und böser Geist, 12,22-37
10. Die Zeichenforderung an Jesus, 12,38-42
11. Die Rückkehr des bösen Geistes, 12,43-45
12. Jesu wahre Verwandte, 12,46-50
Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52
1. Einleitung zu den Gleichnissen, 13,1-3a
2. Das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld, 13,3b-9
3. Der Grund der Gleichnisse, 13,10-17
4. Die Deutung des Gleichnisses vom vierfachen Ackerfeld, 13,18-23
5. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, 13,24-30
6. Das Gleichnis vom Senfkorn, 13,31-32
7. Das Gleichnis vom Sauerteig, 13,33
8. Der Sinn der Gleichnisse, 13,34-35
9. Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, 13,36-43
10. Das Doppelgleichnis vom Schatz im Acker und von der Perle, 13,44-46
11. Das Gleichnis vom Fischnetz, 13,47-50
12. Das Gleichnis vom Hausvater, 13,51-52
Weitere Entwicklung, 13,53-14,36
1. Jesus wird in Nazareth abgelehnt, 13,53-58
2. Jesus und Herodes, 14,1-12
3. Die Speisung der Fünftausend, 14,13-21
4. Jesu Seewandel, 14,22-33
5. Zustrom am Westufer, 14,34-36
C. Verzeichnisse
Ausgewählte Literatur
Autorenverzeichnis
Stichwortverzeichnis

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HistorischTheologische Auslegung

Das Evangelium des Matthäus Kapitel 1–14

Gerhard Maier

SCM R.Brockhaus Brunnen

Historisch-Theologische Auslegung

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Neues Testament Herausgegeben von Gerhard Maier ٠ Rainer Riesner ٠ Heinz-Werner Neudorfer ٠ Eckhard J. Schnabel

Das Evangelium des Matthäus Kapitel 1 – 14

Gerhard Maier

SCM R.BROCKHAUS, WITTEN BRUNNEN VERLAG, GIESSEN

© 2015 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten Internet: www.scmedien.de; E-Mail: [email protected]

Umschlaggestaltung: agentur krauss GmbH, Herrenberg Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg Druck und Bindung: Finidr s.r.o. Gedruckt in Tschechien ISBN 978-3-417-22741-3 (E-Book) Bestell-Nr. 229.730 Datenkonvertierung: Stephan Maier, Achern

INHALT

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Frühzeit, 1,1–9,38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Überschrift, 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anfänge, 1,2–4,25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Herkunft Jesu, 1,2-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jesu Geburt, 1,18-25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zur Jungfrauengeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Anbetung Jesu durch die Magier, 2,1-12 . . . . . . . . . . . 4. Die Flucht nach Ägypten, 2,13-15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Kindermord des Herodes, 2,16-18 . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Rückkehr und Kindheit Jesu in Nazareth, 2,19-23 . . . . . . . . 7. Johannes der Täufer als Vorläufer Jesu, 3,1-12 . . . . . . . . . . 8. Die Taufe Jesu durch Johannes, 3,13-17 . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Versuchung Jesu, 4,1-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Der Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, 4,12-25 . . . . . . Exkurs: Kapernaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die beiden Brüderpaare von Mt 4,18-22: Petrus, Andreas; Jakobus, Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung, 5,1-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Seligpreisungen, 5,3-12 . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Aufgabe der Jünger, 5,13-16 . . . . . . . . . . . . 4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20 . 5. Die Gesetzesauslegung Jesu, 5,21-48 . . . . . . . . 1. Die Auslegung des sechsten Gebotes, 5,21-26 2. Die Auslegung des siebten Gebotes, 5,27-32 .

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55 55 69 73 90 115 122 129 141 166 183 204 207

. . . . . 218 . . . . . . . .

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233 239 244 270 280 294 297 311

3. Die Auslegung des dritten Gebotes im Blick auf das Schwören, 5,33-37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gottes Urteil über das Vergelten, 5,38-42 . . . . . . . . . . . 5. Vollkommenheit in der Liebe, 5,43-48 . . . . . . . . . . . . . . Wahre Frömmigkeit, 6,1-18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Anweisung, 6,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Almosen, 6,2-4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gebet, 6,5-15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fasten, 6,16-18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reichtum und Sorgen, 6,19-34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regeln für das Leben in der Nachfolge, 7,1-20 . . . . . . . . . . 1. Worte vom Richten, 7,1-5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Worte von der Entweihung des Heiligen, 7,6 . . . . . . . . . 3. Worte vom Gebet, 7,7-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Worte vom Handeln anderen Menschen gegenüber, 7,12 . 5. Worte von den zwei Wegen, 7,13-14 . . . . . . . . . . . . . . . 6. Worte der Warnung vor den falschen Propheten, 7,15-20 . Schlussmahnungen, 7,21-27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussnotiz des Matthäus, 7,28-29 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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321 327 332 342 344 346 350 373 375 397 399 402 404 409 410 414 421 432

Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1–9,38 . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Heilung eines Aussätzigen, 8,1-4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Hauptmann von Kapernaum, 8,5-13 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus, 8,14-15 . . . . . . . . 4. Krankenheilungen am Abend, 8,16-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Möglichkeit und Notwendigkeit der Nachfolge, 8,18-22 . . . . . . 6. Die Stillung des Seesturms, 8,23-27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Heilung von zwei Besessenen bei den Gergesenern, 8,28-34 8. Die Heilung des Gelähmten, 9,1-8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Berufung des Matthäus, 9,9-13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die Fastenfrage, 9,14-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Die Auferweckung der Jaïrustochter und die Heilung der Blutflüssigen, 9,18-26 ............................ 12. Die Heilung von zwei Blinden, 9,27-31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Die Heilung eines stummen Besessenen, 9,32-34 . . . . . . . . . . . 14. Abschlussnotiz zu den Kapiteln 5–9; 9,35-38 . . . . . . . . . . . . . .

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437 437 444 456 460 464 472 481 491 500 512

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520 529 534 538

6.

7. 8.

9. 10.

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II. Jesu Ringen um Israel, 10,1–16,20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50 . . . . . . . . . 1. Die Berufung der Zwölf, 10,1-4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Aussendungsrede, 10,5-42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Sendungsauftrag, 10,5-15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Voraussage des Geschicks seiner Boten, 10,16-39 . . 2.2.1 Die Sendung trifft auf Widerspruch, 10,16-23 . . . 2.2.2 Der Blick auf den Herrn tröstet, 10,24-25 . . . . . . 2.2.3 Ermutigung zum Zeugnis, 10,26-33 . . . . . . . . . . 2.2.4 Die Zukunft der Jünger in der Kreuzesnachfolge, 10,34-39 . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Verheißungen für die Aufnahme seiner Boten, 10,40-42 3. Das Ringen um Johannes und seine Jünger, 11,1-19 . . . . . . 3.1 Summarium über Jesu damalige Tätigkeit, 11,1 . . . . . . 3.2 Die Anfrage des Täufers, 11,2-6 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Jesu Urteil über den Täufer, 11,7-15 . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Jesu Urteil über die gegenwärtige Generation, 11,16-19 . 4. Jesus und die Städte seiner Heimat, 11,20-24 . . . . . . . . . . . 5. Jesus und der Vater, 11,25-30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ährenraufen und Sabbatfrage, 12,1-8 . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Eine Sabbatheilung und ihre Folgen, 12,9-14 . . . . . . . . . . . 8. Die Prophetie erfüllt sich, 12,15-21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Gottes Geist und böser Geist, 12,22-37 . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die Zeichenforderung an Jesus, 12,38-42 . . . . . . . . . . . . . . 11. Die Rückkehr des bösen Geistes, 12,43-45 . . . . . . . . . . . . . 12. Jesu wahre Verwandte, 12,46-50 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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546 546 561 561 573 575 584 586

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594 601 605 607 609 614 623 630 639 654 664 670 677 696 705 709

Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52 . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung zu den Gleichnissen, 13,1-3a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld, 13,3b-9 . . . . . . . . . . . . 3. Der Grund der Gleichnisse, 13,10-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Deutung des Gleichnisses vom vierfachen Ackerfeld, 13,18-23 5. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, 13,24-30 . . . . . . . 6. Das Gleichnis vom Senfkorn, 13,31-32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Gleichnis vom Sauerteig, 13,33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der Sinn der Gleichnisse, 13,34-35 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, 13,36-43 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

715 715 718 723 731 737 742 746 748 751

10. Das Doppelgleichnis vom Schatz im Acker und von der Perle, 13,44-46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 11. Das Gleichnis vom Fischnetz, 13,47-50 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 12. Das Gleichnis vom Hausvater, 13,51-52 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 Weitere Entwicklung, 13,53–14,36 . . . . . . . . 1. Jesus wird in Nazareth abgelehnt, 13,53-58 2. Jesus und Herodes, 14,1-12 . . . . . . . . . . . 3. Die Speisung der Fünftausend, 14,13-21 . . 4. Jesu Seewandel, 14,22-33 . . . . . . . . . . . . 5. Zustrom am Westufer, 14,34-36 . . . . . . . .

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774 774 782 792 802 814

C. Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831

Vorwort der Herausgeber Die Kommentarreihe „Historisch-theologische Auslegung des Neuen Testaments“ will mit den Mitteln der Wissenschaft die Aussagen der neutestamentlichen Texte in ihrer literarischen Eigenart, im Hinblick auf ihre historische Situation und unter betonter Berücksichtigung ihrer theologischen Anliegen erläutern. Dabei sollen die frühere wie die heutige Diskussion und neben den traditionellen auch neuere exegetische Methoden berücksichtigt werden. Die gemeinsame Basis der Autoren der einzelnen Kommentare ist der Glaube, dass die Heilige Schrift von Menschen niedergeschriebenes Gotteswort ist. Der Kanon Alten und Neuen Testaments schließt den Grundgedanken der Einheit der Bibel als Gottes Wort ein. Diese Einheit ist aufgrund des Offenbarungscharakters der Heiligen Schrift vorgegeben und braucht nicht erst hergestellt zu werden. Die Kommentatoren legen deshalb das Neue Testament mit der Überzeugung aus, dass die biblischen Schriften vertrauenswürdig sind und eine Sachkritik, die sich eigenmächtig über die biblischen Zeugen erhebt, ausschließen. Wo Aussagen der biblischen Verfasser mit außerbiblischen Nachrichten in Konflikt stehen oder innerhalb der biblischen Schriften Spannungen und Probleme beobachtet werden, sind Klärungsversuche legitim und notwendig. Bei der Behandlung umstrittener Fragen möchten die Autoren vier Regeln folgen: 1. Alternative Auffassungen sollen sachlich, fair und in angemessener Ausführlichkeit dargestellt werden. 2. Hypothesen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen auch dann nicht als Tatsachen ausgegeben werden, wenn sie weite Zustimmung gefunden haben. 3. Offene Fragen müssen nicht um jeden Preis entschieden werden. 4. Die Auslegung sollte auch für denjenigen brauchbar sein, der zu einem anderen Ergebnis kommt. Unser Kommentar will keine umfassende Darstellung der Auslegung eines neutestamentlichen Buches in Geschichte und Gegenwart geben. Weder bei der Auflistung der Literatur noch in der Darstellung der Forschungsgeschichte oder der Auseinandersetzung mit Auslegungspositionen wird Vollständigkeit angestrebt. Die einzelnen Autoren haben hier im Rahmen der gemeinsamen Grundsätze die Freiheit, beim Gespräch mit der früheren und aktuellen Exegese eigene Akzente zu setzen. Die Kommentarreihe unternimmt den Versuch einer „geistlichen Auslegung“. Über die möglichst präzise historisch-philologische Erklärung hinaus soll die Exegese die Praxis von Verkündigung, Seelsorge sowie Diakonie im Blick behalten und Brücken in die kirchliche Gegen-

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Vorwort der Herausgeber

wart schlagen. Die Autoren gehören zu verschiedenen Kirchen und Freikirchen der evangelischen Tradition. Unterschiede der Kirchen- oder Gemeindezugehörigkeit, aber auch unterschiedliche exegetische Meinungen wollen sie weder gewaltsam einebnen noch zum zentralen Thema der Auslegung machen. Der Nähe zur gemeindlichen Praxis wird dadurch Rechnung getragen, dass neben griechischen bzw. hebräischen Texten die entsprechenden Begriffe noch einmal in Umschrift erscheinen. Auf diese Weise kann auch dem sprachlich nicht entsprechend ausgebildeten Laien zumindest eine Andeutung der Sprachgestalt der Grundtexte vermittelt werden. Die Auslegung folgt einem gemeinsamen Schema, das durch römische Ziffern angezeigt wird. Leserinnen und Leser finden unter I eine möglichst genaue Übersetzung, die nicht vorrangig auf eine eingängige Sprache Wert legt. Unter II ist Raum für Bemerkungen zu Kontext, Aufbau, literarischer Form oder Gattung sowie zum historischen und theologischen Hintergrund des Abschnitts. Unter III folgt dann eine Vers für Vers vorgehende Exegese, die von Exkursen im Kleindruck unterbrochen sein kann. Abschließend findet man unter IV eine Zusammenfassung, in der das Ziel des Abschnitts, seine Wirkungsgeschichte und die Bedeutung für die Gegenwart dargestellt werden, soweit das nicht schon im Rahmen der Einzelexegese geschehen ist. Alle Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift ist letztlich Dienst in der Gemeinde und für die Gemeinde. Auch wenn die „Historisch-theologische Auslegung“ keine ausdrückliche homiletische Ausrichtung hat, weiß sie sich dem Ziel verpflichtet, der Gemeinde Jesu Christi für ihren Glauben und ihr Leben in der säkularen Moderne Orientierung und Weisung zu geben. Die Herausgeber hoffen, dass die Kommentarreihe sowohl das wissenschaftlich-theologische Gespräch fördert als auch der Gemeinde Jesu Christi über die Konfessionsgrenzen hinaus dient. Landesbischof i. R. Dr. Gerhard Maier Dr. Heinz-Werner Neudorfer Prof. Dr. Rainer Riesner Prof. Dr. Eckhard J. Schnabel

Abkürzungen

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Abkürzungen Bauer-Aland

BDR BigS BZ, NF CA EKK EvTh GBL HNT JSHRZ KEK LThK NGÜ NT NTD Preisigke RGG ThHK ThWAT ThWNT TRE WBC WMANT WUNT ZBK ZNW

Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. Hg. W. Bauer, K. Aland, B. Aland Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. F. Blass, A. Debrunner, F. Rehkopf Bibel in gerechter Sprache Biblische Zeitschrift, Neue Folge Confessio Augustana / Augsburger Bekenntnis Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Evangelische Theologie Das Große Bibellexikon. Hg. H. Burkhardt Handbuch zum Neuen Testament Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament Lexikon für Theologie und Kirche Neue Genfer Übersetzung Novum Testamentum Das Neue Testament Deutsch Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden. F. Preisigke Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Auflage Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Theologische Realenzyklopädie Word Biblical Commentary Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zürcher Bibelkommentare Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft

Abkürzungen biblischer Bücher: Gen Ex Lev Num Dtn Jos Ri Ruth 1Sam 2Sam 1Kön 2Kön 1Chron 2Chron Esr Neh Est Hiob Ps Prov Koh Hld Jes Jer Klgl Ez Dan Hos Joel Am Ob Jona Mi Nah Hab Zeph Hag Sach Mal

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Abkürzungen

Mt Mk Lk Joh Apg Röm 1Kor 2Kor Gal Eph Phil Kol 1Thess 2Thess 1Tim 2Tim Tit Phlm 1Petr 2Petr 1Joh 2Joh 3Joh Hebr Jak Jud Offb Sonstige Abkürzungen 1-2Clem 1., 2. Clemensbrief 1-4Makk 1.; 2.; 3.; 4. Makkabäerbuch 1QH Qumran: Loblieder (Hodajot) 1QM Qumran: Kriegsrolle 1QS Qumran: Gemeinderegel ä Hen äthiopische Henochapokalypse abs. absolut, ohne nähere Bestimmung Ab zara Traktat: Aboda zara Adv. haer. Irenäus: Adversus haereses / Gegen die Irrlehren Adv. Marc. Tertullian: Adversus Marcionem / Gegen Marcion Ant Josephus: Antiquitates Judaicae / Jüdische Altertümer Apol Justinus: Apologia AT Altes Testament b babylonischer Talmud Barn Barnabasbrief Bek Traktat: Bekorot Ber Traktat: Berakot B. J. Josephus: De Bello Iudaico / Der jüdische Krieg BQ Traktat: Baba Qamma CD Qumran: Damaskusschrift Chag Traktat: Chagiga Comm in Matth Origenes: Kommentar zu Matthäus Contra Ap Josephus: Contra Apionem / Gegen Apion DCD Augustinus: De Civitate Dei / Vom Gottesstaat De Trin Augustinus: De Trinitate / Über die Dreieinigkeit Dial c Tryph Justinus: Dialogus cum Tryphone Judaeo / Dialog mit dem Juden Tryphon Did Didache / Zwölfapostellehre dt. deutsch EG Evangelisches Gesangbuch Er Traktat: Eruvin Ev. Ebion Ebionitenevangelium Ev. Thomae Thomasevangelium Evv. Evangelien fin. am Ende

Abkürzungen

H.E. Hebr Ev Herm. Sim Herodot Hist HS(S) IgnPhild IgnPol IgnRom IgnSm IgnTrall j Jh. JohEv Joma Jub Ket Kp. LXX M. Makk Mart Pol Men MkEv MQ MT MtEv Ned NT o.J. P. Abot Panar par(r) passim Pes Ps Sal Qid Rosch Hasch Sanh Sap Sal

Eusebius: Historia Ecclesiae / Geschichte der Kirche Hebräerevangelium Hirte des Hermas: Similitudines / Gleichnisse Herodot: Historien Handschrift(en) Ignatius: An die Philadelphier Ignatius: An Polycarp Ignatius: Ad Romanos / An die Römer Ignatius: An die Smyrnäer Ignatius: An die Trallier jerusalemischer Talmud Jahrhundert(s) Johannesevangelium Traktat: Joma Jubiläenbuch Traktat: Ketubot Kapitel Septuaginta Mischna Traktat: Makkot Martyrium des Polycarp Traktat: Menachot Markusevangelium Traktat: Moed Qathan Masoretischer Text Matthäusevangelium Traktat: Nedarim Neues Testament ohne Jahr(esangabe) Traktat: Pirqe Abot / Sprüche der Väter Epiphanius: Panarion/„Hausapotheke“ und die Parallelpassage(n) in den anderen Evangelien durchgängig Traktat: Pesachim Psalmen Salomos Traktat: Qidduschin Traktat: Rosch Haschschanah Traktat: Sanhedrin Sapientia Salomonis / Weisheit Salomos

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12 Schab Taan Tacitus Ann Tacitus Hist Test Ass Test Benj Test Jos Test Juda Test Levi Test Naft Texte KV Tob u.Ä. usf. Vf z. St.

Abkürzungen

Traktat: Schabbat Traktat: Taanit Tacitus: Die Annalen Tacitus: Die Historien Testament der 12 Patriarchen: Asser Testament der 12 Patriarchen: Benjamin Testament der 12 Patriarchen: Josef Testament der 12 Patriarchen: Juda Testament der 12 Patriarchen: Levi Testament der 12 Patriarchen: Naftali Texte der Kirchenväter Buch Tobit/Tobias und Ähnliche und so fort Verfasser zur Stelle

Kommentare werden lediglich mit dem Namen des Verfassers zitiert. Die übrige Sekundärliteratur wird mit dem Namen des Verfassers sowie einem abgekürzten Titel angeführt. Siehe weitere Abkürzungen bei S. Schwertner. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Berlin 21992. Siehe ferner L. Coenen / K. Haacker. Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Wuppertal 1997.

I. Auf den Spuren des Matthäus

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A. Einleitung I. Auf den Spuren des Matthäus 1. In der Kunstgeschichte Zu den wichtigsten Interpreten des Evangeliums gehören die Künstler. Matthäus und sein Evangelium haben bei ihnen zahllose Spuren hinterlassen. Das gilt in doppelter Hinsicht. Einerseits versuchen die Künstler, uns ein Bild von der Person des Evangelisten zu verschaffen. Zu den besonders eindringlichen Darstellungen des Evangelisten gehören Tizians Matthäuskopf in der Sta. Maria della Salute in Venedig, das Deckenmedaillon von Paolo Veronese in der venezianischen S. Sebastiano, das Bildnis des Matthäus von Guercino (1591–1666) im Palazzo Barberini, Rom, und Martin Zürns Matthäus mit dem Engel (ca. 1615– 1620) im Kornhaus-Museum Bad Waldsee. Aufgrund der frühchristlichen Symboldeutung nach Offb 4,7,1 die das Matthäusevangelium unter der Gestalt eines Menschen oder Engels erblickt, suchten die Künstler immer wieder das Menschliche am Evangelisten zum Ausdruck zu bringen. Andererseits eignet dem Matthäus auch ein Zug der Strenge, der mit dem Charakter des Evangeliums zusammenhängt. In einer zweiten Hinsicht schöpften die Künstler zahlreiche Anregungen zu bestimmten Themen aus dem Matthäusevangelium. Allein die Flucht nach Ägypten (Mt 2,13-23) wurde thematisch ungezählte Male angesprochen. Darstellungen finden sich unter anderem bei Pietro Lombardo (1435–1515), Albrecht Altdorfer (ca. 1480–1538), Wolf Huber (1480/85–1553) und Jacob Jordaens (1593–1678), um nur ganz wenige zu erwähnen. Pietro Lombardo lässt in der Capella di S. Girolamo von S. Francesco della Vigna (Venedig) Jesus als bambino nach Ägypten kommen und als giovane zu Fuß aus Ägypten zurückkehren. Unter den Darstellern der Berufung des Matthäus sticht Cornelis Engebrechtsz (1468–1533) hervor. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss der Kunst, was die Überzeugung von der Einheit der Evangelien anbetrifft. Dadurch, dass seit dem monumentalen Bild der vier Evangelistensymbole in der Sa. Pudenziana (Rom, ca. 384– 399 n.Chr.) die vier Evangelisten ständig zusammen abgebildet wurden, hat 1 Vgl. Irenäus Adv. haer. III, 11,8.

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A. Einleitung

sich in der Christenheit der Eindruck einer Einheit aller Evangelien unauslöschlich festgesetzt. 2. In der Geschichte Auch da lassen sich die Spuren nicht mehr zählen. An erster Stelle ist die Auslegungsgeschichte zu nennen. Bischof Papias von Hierapolis hat der Überlieferung zufolge die „Herrenworte“ ausgelegt, demnach auch das Matthäusevangelium.2 Seine Auslegung kann man auf die Zeit um 120/125 n.Chr. datieren. Bei Irenäus, ebenfalls einem Kleinasiaten, später Bischof in Lyon, der fünf Bücher zur Widerlegung der Häresien schrieb, zeitlich etwa 180 n.Chr., findet man schon ein ganzes Kapitel zu einem einzigen Matthäusvers (6,24).3 Mehr zur Auslegungsgeschichte siehe S. 40ff. Geschichtlich wirksam ist sodann die Malerei, Bildhauerei und Architektur mit Matthäus-Motiven geworden. Das bekannteste Beispiel dürfte die Kuppel des Petersdomes mit der Inschrift aus Mt 16,18 sein. Kirchen und Ikonen sind voller Apostelgestalten einschließlich unseres Matthäus. Auch die Musik hat ihren Beitrag geleistet, man denke an die Matthäus-Passion von J.S. Bach. Groß ist der Einfluss des Matthäusevangeliums auf unsere deutsche Sprache, und zwar allein schon durch die hohe Anzahl von Sprichwörtern, die man aus diesem Evangelium geschöpft hat. Ich zähle bei Georg Büchmann4 84 Sprichwörter, die dem Matthäusevangelium entnommen sind. Eine nicht zu unterschätzende Spur in der Geschichte liegt in der Namengebung. Matthäus, Matthew, Matteo, Mateo und ihre Äquivalente halten die Erinnerung an den Matthäus des Evangeliums wach. Interessant ist ferner, dass in anderer zentraler religiöser Literatur ebenfalls Spuren des Matthäus auftauchen. So führt Mathaj = Matthäus im Talmud die Liste der Jünger Jesu an.5 Und unter den „Aposteln“, von denen der Koran spricht,6 ist sicherlich auch Matthäus inbegriffen. 3. In der Kirche Mindestens seit der römischen gottesdienstlichen Liste des Kanon Muratori vom Ende des 2. Jh. n.Chr. galt Matthäus im Westen als das erste der vier kanonischen Evangelien. Dies ist auch als zeitliche Priorität zu verstehen.7 2 3 4 5 6 7

Eusebius H.E. III, 36,2; III, 39,1ff. Adv. haer. III, 8. Geflügelte Worte und Zitatenschatz, verbesserte Neuausgabe, Zürich, o.J. b Sanh 43a. Zum Beispiel Sure 5, 112.113. Vgl. Hengel Evglien, 71f.

I. Auf den Spuren des Matthäus

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Eine gleichlautende Position für den Osten wird bei Irenäus8 sichtbar. Aber die Anordnung, der zufolge Matthäus das erste Evangelium im NT bildet, hat nicht nur eine zeitliche Dimension, sondern auch eine rangmäßige. Sie macht Matthäus innerhalb der Viergestalt der Evangelien zu einer Art Primus inter Pares. Dabei war und blieb die Kirche nicht nur an seinem Evangelium interessiert, sondern auch an seiner Person. Die Bekehrung des Zöllners Levi/Matthäus (Mt 9,9ff ) wurde zu einem Musterbild der Bekehrung überhaupt. Die Alte Kirche sah Matthäus in besonderer enger Verbindung mit den jüdischen und hebräischen Quellen ihrer Geschichte. Die missverständliche, weil allzu kurze Papias-Notiz (ca. 120 n.Chr),9 er habe die „Logien“ Ἑβραΐδι διαλέκτῳ [Hebraïdi dialektō] zusammengestellt,10 ist für diese Sichtweise typisch. Wir werden an dieser Stelle über den Rahmen von Einzelfragen weit hinausgeführt. Das hat in späterer Zeit Ferdinand Christian Baur (1792–1860) scharfsichtig erkannt, der dem ganzen Matthäusevangelium einen „judaisierenden Charakter“ zuschrieb.11 Ins Positive gewendet, kann man sagen: Durch Matthäus blieb das Judenchristentum für alle Zeiten in der Kirche präsent. Und weil Matthäus dem Petrus einen hervorragenden Platz einräumte, half er gewissermaßen dem Petrus zu einem durchschlagenden „Erfolg“ bei der Prägung der Kirche. Dass Petrus im Gesamten der Christenheit wahrscheinlich mehr wiegt als Paulus, hängt gerade mit dem Matthäusevangelium (und nicht nur Markus!) zusammen. Geschichtlich durchgesetzt hat sich dieser Einfluss des Matthäus einerseits und des Petrus andererseits vor allem dadurch, dass das Matthäusevangelium so etwas wie das „Hauptevangelium“ der römischen Kirche wurde.12 Die Kommentierung unseres Evangeliums beginnt schon in der ersten Hälfte des 2. Jh. (Papias). Sie hat reiche Früchte getragen, wie zum Beispiel der heute noch häufig benutzte Kommentar des Origenes zeigt. Inzwischen ist die Sekundärliteratur in einem Maße angeschwollen, dass es völlig vergeblich ist, einen Überblick auch nur zu versuchen. Meines Erachtens kann man sich nur noch auf kirchengeschichtlich und religionsgeschichtlich typische Auslegungen beschränken und damit exemplarisch arbeiten.

8 9 10 11 12

Adv. haer. III, 1,1. Zahn Forsch VI, 112: 125-130. Vgl. Hengel Evglien, 104. Nach Eusebius H.E. III, 39,16. Kümmel NT, 172. Auffallenderweise wandte Martin Hengel sein Interesse mehr und mehr der Gestalt des Petrus zu.

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A. Einleitung

II. Verfasser „Als Vf des nach Mt genannten Ev ist nie ein anderer als der Matthaeus angesehen worden, welcher in allen Apostelverzeichnissen des NT’s die siebente oder achte Stelle einnimmt“: So beginnt Theodor Zahn seine Einleitung in das Matthäusevangelium.13 Umso überraschender ist es, wenn G. Bornkamm in seinem EvangelienArtikel in der RGG als heutigen Konsens festhält: „Seinen Verfasser kennen wir nicht mehr“ (1986).14 Was sagen nun die Quellen? Als erste begegnet uns Papias (ca. 120/125 n.Chr.) mit der Aussage: „Ματθαῖος … τὰ λόγια συνετάξατο“15 [Matthaios … ta logia synetaxato]. Da vorher vom Markusevangelium die Rede war, bezieht sich diese Aussage eindeutig auf das Evangelium des Matthäus. Die ältesten Evangelienprologe (ca. 170–180 n.Chr.),16 Irenäus (ca. 180 n.Chr.),17 Tertullian (ca. 220 n.Chr.),18 Origenes (ca. 250 n.Chr.),19 Eusebius von Cäsarea (gest. 339/340 n.Chr.):20 Sie alle nennen den Apostel und ehemaligen Zöllner Matthäus als den Verfasser unseres Evangeliums. Ein anderer Verfassername taucht in der ganzen frühen Kirchengeschichte nicht auf. Dieser Quellenbefund wird verstärkt durch eine weitere Beobachtung. Die Evangelientitel „sind meines Erachtens Bestandteile des Textes der vier Evangelien, die von Anfang an nicht titellos verbreitet wurden“.21 Angesichts dieser Sachlage hat man nur die Wahl, entweder den Quellen zu folgen und deshalb den Apostel Matthäus als den Verfasser des ersten Evangeliums zu betrachten oder einen Anonymus als Verfasser anzunehmen. Im Gegensatz zur gegenwärtigen Mehrheit der historisch-kritischen Ausleger, die mit einem solchen Anonymus rechnet, halten wir es in diesem Kommentar nicht für gerechtfertigt, das einhellige Zeugnis der frühen Christen beiseitezuschieben, und gehen deshalb von der Verfasserschaft des Apostels und Zwölferjüngers Matthäus aus.22 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Zahn Einl, 252. Bornkamm, 763. Bei Eusebius H.E. III, 39,16. Text bei Aland Syn, 532f. Adv. haer. III, 1,1; III, 9,1ff. Adv. Marc. IV, 5,3. Im ersten Buch seines Matthäuskommentars (Eusebius H.E. VI, 25,3f ). H.E. III, 24,5f. Hengel Evglien, 88. Ebenso Robert/Feuillet, 169; Tasker, 14; Guthrie, 44; Carson, 19; France, 30; Mauerhofer, 60ff.

III. Entstehungszeit

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III. Entstehungszeit Eine direkte Angabe zur Entstehungszeit des Matthäusevangeliums finden wir nirgends im NT. Theoretisch kommt zunächst der gesamte Zeitraum von etwa 40 n.Chr. bis etwa 80 n.Chr. infrage. Das Problem der Entstehungszeit des Matthäusevangeliums wird überlagert durch ein noch viel stärker diskutiertes Problem, nämlich das des hypothetischen Entstehungsprozesses der Evangelien. Zweihundert Jahre Forschungsgeschichte haben nicht genügt, um hier auch nur annähernd einen Konsens zu schaffen. Die Kernfrage dieser Prozess- und Forschungsgeschichte lautet: Hat Matthäus literarische Quellen benutzt, mehr noch: Ist er von ihnen abhängig? Die Konsequenzen eines Ja auf diese Frage sind dann: 1) Matthäus kann nicht der erste Evangelist gewesen sein; 2) er ist zeitlich relativ spät anzusetzen; 3) er muss von der Bearbeitung seiner Quellen her verstanden werden; 4) man kann sich einen solchen Bearbeiter kaum als Apostel aus dem Zwölferkreis vorstellen. In das Ganze einer solchen Konstellation kommt noch ein Paradoxon, insofern die breite Mehrheit der mit Ja Antwortenden alle unbekannten Quellen vernachlässigt und ihre Lösung allzu schnell auf bekannte Quellen fokussiert, mit einem Wort: auf Markus. So ist die Markus-Abhängigkeit des Matthäus zu einem rocher de bronze moderner Auslegung geworden. Was das bedeutet, sieht man an dem intelligenten Kommentar von Robert Gundry. Man muss allerdings zur Kenntnis nehmen, dass der forschungsgeschichtliche Protest gegen diese Markus-Abhängigkeit niemals aufgehört hat. Er wurde getragen von renommierten Forschern, wie Zahn, Schlatter oder Robinson, die nach wie vor die Matthäuspriorität vertreten. Es bleibt ja interessant, dass Johann Jakob Griesbach (1745–1812), von dem die literarische Untersuchung der Evangelien erst eigentlich ihren Ausgang nahm, den Markus von Matthäus (!) und Lukas abhängig sein ließ.23 Dieser Griesbach’schen Ausgangssituation näherte sich neuerdings wieder Martin Hengel. Wie sehr Hengel mit unserem Problem gerungen hat, spürt man den kurz vor seinem Tod erschienenen Studien über Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus (2008) ab. Ihr Resümee lautet: „der Entstehungsprozeß aller drei synoptischen Evangelien ist insgesamt wesentlich komplizierter, als in der Regel angenommen wurde“.24 Mit einer einheitlichen Quelle Q will Hengel

23 Vgl. Kümmel NT, 88f. 24 Hengel Evglien, 351.

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A. Einleitung

nicht mehr rechnen. Stattdessen nimmt er „mehrere Sammlungen von Jesuslogien“ an25 und sagt: „Eine direkte Rekonstruktion von ‚Q‘ … bleibt uns verwehrt“.26 Was Matthäus betrifft, so bleibt sein Ergebnis freilich ambivalent. Entgegen dem Duktus seiner gesamten Untersuchung ist das Matthäusevangelium doch nicht das zeitlich erste, sondern „setzt das Markus- und das Lukasevangelium als schriftlich fixierte, für uns klar faßbare Quellen voraus“.27 Hengel datiert das Matthäusevangelium auf „etwa zwischen 90–100“ n.Chr.28 Er schließt sich damit einer opinio communis an, die zwischen 80 und 95 (Davies-Allison) bzw. um 90 n.Chr. (Schnelle) datiert.29 Methodisch ist es geboten, auch hier von den criteria externa auszugehen. Was sagen die frühchristlichen Quellen? Die Angabe des Papias, Matthäus habe Ἑβραΐδι διαλέκτῳ [Hebraïdi dialektō] geschrieben,30 schafft eine Assoziation zu Jesu Heimat und Sprache und erinnert an die Ursprünge der Evangelien, ohne doch ausdrücklich eine Priorität des Matthäusevangeliums zu formulieren. In den ältesten Evangelienprologen hingegen wird Matthäus unzweideutig als das älteste Evangelium angesprochen, wenn es dort heißt, Lukas habe sein Evangelium erst nach dem κατὰ Ματθαῖον [kata Matthaion] und dem κατὰ Μᾶρκον [kata Markon] geschrieben.31 Vollends klar wird dies bei Irenäus, wenn er Matthäus dem Markus, Lukas und Johannes vorordnet.32 Ja, er gibt sogar eine genauere Zeit für die Niederschrift an. Demnach schrieb Matthäus sein Evangelium, „als Petrus und Paulus zu Rom das Evangelium verkündeten“.33 Das wäre etwa 55–65 n.Chr. Der Kanon Muratori vom Ende des 2. Jh. n.Chr. geht vermutlich ebenfalls von einer zeitlichen Reihenfolge aus, mit Matthäus an der Spitze.34 Nicht anders ist es bei Clemens Alexandrinus,35 Origenes36 und Eusebius.37 Die Quellenlage ist also eindeutig: Matthäus galt der gesamten frühen Christenheit als das älteste Evangelium. Der moderne Konsens, den Bornkamm so formuliert:38 die Abfassungszeit sei 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

A.a.O., 351f. A.a.O., 352. Hengel a.a.O., 350. A.a.O., 337.373. A.a.O., 322. Eusebius H.E. III, 39,16. Text bei Aland Syn, 533. Adv. haer. III, 1,1. A.a.O. Zahn Einl, 181. Eusebius H.E. VI, 14,5. Comm in Matth I nach Eusebius H.E. VI, 25,4. H.E. III, 24,5f. Bornkamm, 763. Vgl. Schmithals, 619; Drewermann, 12; Keener, 19; Schnelle, 219.

III. Entstehungszeit

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„etwa zwischen 75–90 n.Chr.“, steht in bewusstem Widerspruch zu den Quellen. Im Bereich der interna criteria macht man folgende Gründe gegen eine frühe Datierung des Matthäusevangeliums geltend: 1) Matthäus habe schon einen längeren Abstand zum Jüdischen Krieg von 66–73 n.Chr. Nur zweimal spiele er – so Hengel39 – außerhalb der Markustradition auf diesen schrecklichen Krieg an, nämlich in Mt 22,7 und in Mt 27,25. Wenn aber Matthäus schon ca. 55-65 n.Chr. entstanden ist, wie es die frühchristlichen Quellen fordern, dann entfällt dieses Argument. 2) Matthäus setze eine „Erholung des palästinischen Judentums“ von der Katastrophe des Jüdischen Krieges voraus und müsse deshalb 20-25 Jahre später als der Jüdische Krieg abgefasst sein.40 Nur so sei Mt 23,1-3 verständlich.41 Wiederum gilt: Ist das Matthäusevangelium schon vor diesem Krieg entstanden, dann musste sich das Judentum nicht erst erholen, und Mt 23 kann ganz aus der Zeit Jesu heraus verstanden werden. 3) Die trinitarische Taufformel Mt 28,19 weise auf „die relativ späte Entstehung des Matthäusevangeliums“ hin.42 Aber 1Kor 12,4-6 und 1Petr 1,243 zeigen, dass schon Petrus und Paulus trinitarisch gedacht und formuliert haben, beide überdies in der Zeit, die nach den frühchristlichen Quellen für die Entstehung des Matthäusevangeliums anzunehmen ist. 4) Matthäus setze „die am weitesten entwickelte Polemik zwischen Juden und Christen voraus“.44 Aber hatten nicht die apostolischen Augenzeugen den lebhaftesten Eindruck von der schon in den Tagen Jesu geübten „Polemik“, während Markus in Rom und Lukas in seinem Werk für Theophilus davon weniger berührt waren? Jedenfalls taugt eine wie auch immer beurteilte Polemik nicht für eine Zeitbestimmung. 5) Man beruft sich auf den Begriff der Ekklesia, die erst für eine spätere Zeit vorstellbar sei. Mt 16,18 und 18,17 seien deshalb ein Indiz für eine relative Spätdatierung.45 Dieses Argument ist jedoch schwach. Es übersieht, dass ἐκκλησία [ekklēsia] schon bei Paulus46 und Jakobus (5,14) gebraucht wird, also in einer Zeit, in der die frühen Christen das Matthäusevangelium ansetzten. Und es geht daran vorbei, dass Karl Ludwig Schmidt schon 1938 in sei39 40 41 42 43 44 45 46

Hengel Evglien, 331ff. Hengel Evglien, 333. Hengel Evglien, 337. Hengel Evglien, 339f. Vgl. Bornkamm, 793. Letzteres auch von Hengel a.a.O. anerkannt. Hengel Evglien, 341. Vgl. Bornkamm, 762. Vgl. K.L. Schmidt, Art. καλέω usw., ThWNT, III, 1938, 507ff.

20

A. Einleitung

nem Artikel für das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament feststellte, es habe „einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß Jesus von der 47 ‫שׁ ָתּא‬ ְ ‫ ְכּנִי‬gesprochen hat“. 6) Aus Mt 22,7 wird der Schluss gezogen, hier werde die Zerstörung Jerusalems „bereits vorausgesetzt“.48 Ein solcher Schluss ist aber nur für denjenigen möglich, der mit Heinrich Corrodi der Meinung ist, dass der Glaube an die Prophetie unter uns erloschen sei.49 Solange wir annehmen können, dass Jesaja, Jeremia, Hesekiel und selbst der Jesus des Josephus50 den Untergang Jerusalems weissagen konnten, kommt auch Mt 22,7 als echte Prophetie vor dem Jüdischen Krieg infrage. Alles in allem scheint es am plausibelsten, die Entstehungszeit des Matthäusevangeliums mit den frühen christlichen Quellen auf die Jahre 55–65 n.Chr. zu datieren.51 An ein solches Entstehungsdatum schließen sich dann die übrigen Evangelien gut an.

IV. Die Quellen des Matthäus Wie wir gesehen haben, hängen die Frage nach der Entstehungszeit des Matthäusevangeliums und die Frage nach seinen Quellen eng miteinander zusammen. Die vorherrschende historisch-kritische Betrachtungsweise legt für die Quellen des Matthäus ein einfaches Schema zugrunde. Seine Einfachheit ist sein größter Vorzug. Demnach sind Markus, die Spruchquelle Q und ein Sondergut die Quellen des Matthäus.52 Dessen Abhängigkeit von diesen Quellen ist grundsätzlich literarisch zu denken. Hauptbeweis für die literarische Abhängigkeit von Markus ist die vermutete Übernahme von dessen Aufriss: „Der Aufriß des MkEv wird … von c. 3 ab im allgemeinen durchgehalten.“53 Nun lässt sich aber die Markuspriorität aus geschichtlichen Gründen (s. III) nicht halten. Und die Gemeinsamkeit des Aufrisses kann man ebenso gut anders erklären, zum Beispiel so, dass die Evangelisten eben dem Ablauf der

47 48 49 50 51

Schmidt a.a.O., 529. Bornkamm, 763; Pokorny-Heckel, 478.550. Maier JO, 464. B. J. VI, 300ff. Ähnlich Carson, 20f; France, 30; Mauerhofer, 90; Robinson, 107.116, Jaroš, 43; Rist, 104. 52 Bornkamm, 762. Vgl. Schmithals, 592ff; Wiefel, 6. 53 Bornkamm a.a.O.

IV. Die Quellen des Matthäus

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Jesusgeschichte folgen, oder so, dass sich Markus an Matthäus orientierte.54 Schon Augustinus verstand in De consensu evangelistarum I,2.4 den Markus als „breviator“ des Matthäus.55 Ist das Matthäusevangelium das zeitlich erste, verfasst vom Apostel Matthäus, dann muss zunächst die Augenzeugenschaft des Verfassers in Anschlag gebracht werden. Diese Augenzeugenschaft war aber eine reflektierte, vor allem mit der Schrift verbundene, und darf nicht mit der postmodernen Erlebniskultur und Emotionalität verwechselt werden. Ein Augenzeuge im Sinne des NT konnte durchaus literarische oder mündlich überlieferte Stücke anderer Herkunft einarbeiten, wenn sie nur seines Erachtens richtig waren. Damit stoßen wir auf die Traditionsströme bei den frühen Christen. Rainer Riesners Buch über Jesus als Lehrer (Erstauflage 1981) hat viel dazu beigetragen, die Vielfalt und den Reichtum dieser Traditionsströme zu erkennen und statt der Vereinfachungen die notwendigen Differenzierungen vorzunehmen. Selbst im Kreis der Befürworter von Q machte sich immer wieder Skepsis gegenüber dieser Hypothese breit. Nach Sand gibt es „viele Schwachstellen der bis heute bevorzugten Zwei-Quellen-Theorie“.56 Ein „einheitliches, abgeschlossenes Buch“ will Schniewind für Q nicht annehmen.57 Wir sind in der Tat heute weit entfernt von der ungebrochenen Zuversicht eines Francis Wright Beare, der noch 1981 schreiben konnte: „there is no alternative to it worth mentioning“.58 Wie anders klingt das Urteil von Karl Jaroš 2008: Q sei nur „ein modernes Schreibtischgebilde“.59 Wir orientieren uns in diesem Kommentar an zwei feststehenden Ergebnissen der Diskussion: 1) Bis heute ist kein Dokument aufgetaucht, das sich mit Q oder einer Q ähnlichen Quelle identifizieren ließe, 2) statt mit einer einheitlichen Redenquelle haben wir mit einer Mehrzahl von „Sammlung(en) von ‚Jesuslogien‘“60 zu rechnen. Spuren dieser Sammlungen sind zunächst die Redenkomplexe des Matthäus- und Lukasevangeliums, insbesondere Mt 5–7; 10,5ff; 13,3ff; 18,15ff; 23,1ff; 24–25. Wenn Matthäus in 28,20 sein Evangelium mit den Worten schließt: „lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ (πάντα ὅσα [ panta hosa]), dann muss er eine Vorstellung von diesem πάντα ὅσα [ panta 54 55 56 57

Vgl. Rist, 92. Vgl. dazu Sand, 21. Sand, 22. Schniewind, 5. Ausgesprochene Skepsis auch bei Guido Baltes, Hebräisches Evangelium und synoptische Überlieferung, WUNT II/312, 2011, passim. Sogar Beare, 46. 58 Beare, 49 (nach Philipp Vielhauer). 59 Jaroš, 42. 60 Hengel Evglien, 351.

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A. Einleitung

hosa] gehabt haben. Um eine nebulöse Größe kann es sich nicht handeln, eher um einen aus guter Quellenkenntnis stammenden Überblick über Jesu Worte. Lukas berichtet in 1,1f ausdrücklich von den vielen Diegesen über Jesu Worte und Taten, die er vorfand (vgl. Apg 1,1). Johannes lässt in 21,23 erkennen, dass λόγια [logia] Jesu unter den frühen Christen im Umlauf waren. Paulus setzt in seinen Gemeinden die λόγια κυρίου [logia kyriou] als feste und bekannte Größe voraus (1Kor 7,10ff; 1Thess 4,15). Auch Jakobus nimmt in 1,22ff Bezug auf das gottesdienstlich verkündigte Wort, wahrscheinlich unter Einbeziehung der Worte Jesu. In unserem Zusammenhang wird besonders 2Tim 4,13 diskutiert, wo Paulus um τὰ βιβλία μάλιστα τὰς μεμβράνας [ta biblia malista tas membranas] bittet. μεμβράναι [membranai], „Pergamente“, können Rollen oder Codices bezeichnen. Hengel betrachtet sie als Notizbücher oder Pergamenthefte, die auch Herrenworte enthalten konnten,61 ähnlich Riesner („Pergament-Notizzettel“).62 Handelt es sich um teilweise Niederschriften von Evangelienüberlieferungen? Riesner tendiert zu der „Annahme, daß die Synoptiker aus privaten Notizen entstanden sind“.63 Er nimmt sogar an, dass es schon in vorösterlicher Zeit „einzelne … schriftliche Aufzeichnungen von Jesus-Überlieferungen“ gab.64 Da man in Israel die Aussprüche der Propheten häufig zu deren Lebzeiten aufschrieb (vgl. Jes 8,16; Jer 29,36; Ez 24,2; Dan 7,1), kann man sich umso leichter vorstellen, dass man auch Worte des Messias Jesus vor dessen Hinrichtung niederschrieb. Insofern ist Riesners Annahme gut begründet. Wir sind jedoch nicht in der Lage, aus dem breiten Quellenspektrum, das vor dem Matthäusevangelium bestanden haben muss, einzelne literarisch fest umrissene Stücke herauszufiltern. Wir können nur Folgendes konstatieren: Es gibt eine Mehrzahl sowohl mündlicher als auch literarischer Quellen. Matthäus konnte als Augenzeuge und aus der praktischen Erfahrung des Apostolats daraus das für ihn Geeignete auswählen. Wir müssen die Vorurteile, dass ein (teilweise) literarischer Entstehungsprozess oder „der ausgebildete Charakter“ der im Matthäusevangelium erkennbaren Theologie65 gegen einen apostolischen Verfasser sprechen, fallen lassen.

61 62 63 64 65

Hengel Evglien, 203ff. Riesner, 496. A.a.O., 495. A.a.O., 498. Vgl. Bornkamm, 763; Pokorny-Heckel, 478.

V. Eine aramäische Urform?

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V. Eine aramäische Urform? In der Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea findet sich ein kurzes Exzerpt aus dem fünfbändigen Werk des Papias (ca. 120/125 n.Chr.), das eine reiche Forschungsarbeit ausgelöst hat.66 Dieses Exzerpt aus Λογίων κυριακῶν ἐξήγησις [Logiōn kyriakōn exēgēsis] lautet: Ματθαῖος μὲν οὖν Ἑβραΐδι διαλέκτῳ τὰ λόγια συνετάξατο, ἡρμήνευσεν δ’αὐτὰ ὡς ἦν δυνατὸς ἕκαστος [Matthaios men oun Hebraïdi dialektō ta logia synetaxato, hērmēneusen d’auta hōs ēn dynatos hekastos].67 Hat es also eine aramäische Urform des Matthäusevangeliums gegeben? Und: Gab es mehrere Rezensionen des Matthäusevangeliums? Verführt durch die patristische Kenntnis Theodor Zahns und seinen ungewöhnlichen historischen Instinkt haben viele auch dessen Meinung übernommen: Aramäisch sei die „Originalsprache des Mtev“,68 Papias habe „um 125 noch Kenntnis gehabt“ von „5 oder 6 griechischen Übersetzungen“,69 aber „unter den Augen des Papias und anderer Apostelschüler“ habe sich der Übergang zu einem bestimmten „griech. Ev als ein vollgiltiger Ersatz des hebr. Buchs“ vollzogen,70 das fortan unser kanonisches Matthäusevangelium darstellt. Aber die Thesen von Theodor Zahn bedürfen weiterhin einer intensiven Diskussion. Selbst wenn die erwähnten fünf oder sechs Übersetzungen nur mündlich existierten, wie Zahn sagt,71 bleibt es immer noch ein „Rätsel“, dass sie „so bald aus dem Leben und dem Gedächtnis der Kirche verschwunden“ sein sollen.72 Auch sind die eusebianischen Begriffe keineswegs eindeutig. Was heißt Ἑβραΐς [Hebraïs]: „Hebräisch“ als Sprache der heiligen Schriften Israels oder „Aramäisch“?73 Was ist ἡ διάλεκτος [hē dialektos]: Ausdrucksweise (Sprachstil) oder Sprache?74 Was bedeutet λόγια κυριακά [logia kyriaka]: Worte oder Verkündigung oder Offenbarung Jesu?75 Sollte man ἑρμηνεύειν [hermēneuein] als „auslegen“ oder „übersetzen“ auffassen?76 Ferner wissen wir nicht, ob die Worte ὡς ἦν δυνατὸς ἕκαστος [hōs ēn dynatos hekas66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Vgl. Maier JO, 29ff. H.E. III, 39,1.16; vgl. Irenäus Adv. haer. V, 33,4. Zahn Einl, 259.262. A.a.O., 256. A.a.O., 259. A.a.O., 256. So Zahn a.a.O. selbst. Vgl. Bauer-Aland, 429f. Vgl. Bauer-Aland, 372. Vgl. Bauer-Aland, 967; G. Kittel, Art. λέγω usw., ThWNT, IV, 1942, 144f; Rist, 97. Vgl. Bauer-Aland, 627; J. Behm, Art. ἑρμηνεύω usw., ThWNT, II, 1935, 659ff.

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tos] sich nur auf Vorgänge innerhalb der rechtgläubigen Kirche beziehen oder auch auf Vorgänge im häretischen Milieu.77 Das Rätsel der Papias-Notiz in H.E. III, 39,16 lässt sich im Rahmen eines Kommentars nicht lösen. Jedoch bleibt Folgendes festzuhalten: 1) Diese Papias-Notiz deutet auf ein relativ hohes Alter des Matthäusevangeliums hin; 2) sie bezeugt unzweifelhaft den Apostel Matthäus als den Verfasser dieses Evangeliums; 3) sie weist das Matthäusevangelium einem judenchristlichen Hintergrund zu; 4) außerdem stammen alle bisher bekannten Zitate aus dem jetzigen griechisch geschriebenen Evangelium.78

VI. Ort der Abfassung Als opinio communis historisch-kritischer Exegese formuliert Werner Georg Kümmel: „Die meisten Forscher vermuten …, daß das Mt in Antiochia oder allgemein in Syrien geschrieben sei.“79 Eine Reihe von Forschern betrachtet jedoch bis heute Palästina bzw. das Israelland als Heimat des Matthäusevangeliums.80 Was sagen die Quellen? Matthäus-Tradition wurde mündlich noch ca. 100– 125 n.Chr. in Kleinasien weitergegeben.81 Um 180 n.Chr. schreibt Irenäus, dass Matthäus sein Evangelium „bei den Hebräern (ἐν τοῖς Ἑβραίοις [en tois Hebraiois])“ verfasst habe.82 Das wäre doch Palästina (das Israelland). In dieselbe Richtung deutet Origenes mit seiner Bemerkung über das Matthäusevangelium: ἐκδεδωκότα αὐτὸ τοῖς ἀπὸ Ἰουδαϊσμοῦ πιστεύσασιν83 [ekdedōkota auto tois apo Ioudaïsmou pisteusasin] ebenso wie Eusebius.84 Durchschlagende Gründe gegen eine Abfassung in Palästina im Zeitraum 44–65 n.Chr. existieren nicht. Mit Recht stellt Zahn fest: „Es gibt keine wissenschaftlichen Gründe zur Beanstandung der Überlieferung, wonach Mt sein Buch auf dem Boden Palästinas in einem der Jahre 61–66 geschrieben haben soll.“85

77 Vgl. wieder Maier JO, 29. 78 Vgl. Zahn Einl, 258f; Hengel Evglien, 71f.134ff; Rist, 98. 79 Kümmel Einl, 90. Bestätigt durch Bornkamm, 763; Hengel Joh Frage, 207; Wilckens I/4, 54,4; Fiedler, 19f. 80 Beare, 8; Albertz; Gander; Guthrie; Michaelis; Schlatter (Kümmel Einl, 90); Zahn. 81 Eusebius H.E. III, 39,3f. 82 Adv. haer. III, 1,1. 83 Comm in Matth I nach Eusebius H.E. VI, 25,4 bei Aland Syn, 540. 84 H.E. III, 24,6. Auch die ältesten Evangelien-Prologe (Aland, Syn 533). 85 Zahn Einl, 297.

VII. Theologischer Charakter und Aussageschwerpunkt

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Wir möchten deshalb in diesem Kommentar am ehesten das Israelland als Abfassungsort annehmen.

VII. Theologischer Charakter und Aussageschwerpunkt 1. Schon die Überschrift Βίβλος γενέσεως [Biblos geneseōs] mit den Ausgangspunkten „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“ (Mt 1,1) weist auf den dezidiert judenchristlichen Charakter dieses Evangeliums hin. Als Einziger behandelt Matthäus Themen wie die Tempelsteuer (17,24ff ), die Anrede der Jünger als Rabbi (23,8ff ), die jüdischen Schwurformeln (23,16ff ), die Verzehntung (23,3ff ) oder den Tempeldienst am Sabbat (12,5ff ) – Themen, die nur für Judenchristen interessant waren. Andererseits braucht er im Unterschied zu Mk 7,1ff jüdische Reinigungsprozeduren nicht zu erklären (15,1ff ), was wiederum auf einen judenchristlichen Hintergrund deutet. Bedenkt man die Rolle, die die Schriftgelehrsamkeit innerhalb der christlichen Gemeinde spielt (z.B. Mt 13,52; 23,8ff; 23,34),86 insbesondere auch die Rolle der Kathedra Mosis (Mt 23,1ff ), ferner das Wertlegen auf die Erfüllung des AT („Erfüllungszitate“) und die bei Mt 1,16ff zutage tretende Kenntnis jüdischer Polemik, dann drängt es sich noch mehr auf, dass Matthäus zum Judenchristentum zu rechnen ist. Ein weiteres Argument zugunsten einer solchen Einschätzung bildet die Stärke petrinischer Tradition im Matthäusevangelium (z.B. Mt 16,17ff; 17,24ff ). Hengel meint sogar: „Sachlich ist es stark von der Autorität petrinischer Überlieferung abhängig.“87 Infolge dieser und anderer Argumente hat sich die Auffassung, dass das Matthäusevangelium ein judenchristliches Evangelium darstellt, sowohl bei konservativen als auch bei liberalen Forschern auf breiter Basis Zustimmung erworben.88 Anders steht es bei der Frage, ob Matthäus und seine Gemeinde noch innerhalb der jüdischen Glaubens- und Rechtsgemeinschaft leben. W.G. Kümmel verneint diese Frage, weil 1) die Ausdrucksweise „ihre Synagogen/ Schriftgelehrten“ usw. (Mt 7,29; 9,35; 23,34) eine Distanzierung enthalte und 2) Mt 21,43 ebenfalls dagegenspreche.89 Beide Argumente sind jedoch schwach: 1) lässt sich im Kommentar zeigen, dass „ihre Synagogen“ o.ä. lediglich auf die damaligen Verhältnisse abhebt, ohne eine Distanz auszudrü86 Nahe verwandt mit dem Jakobusbrief. Vgl. Maier Jak 148ff; Hengel Joh Frage, 207,11. 87 Hengel Joh Frage, 207. Vgl. Stuhlmacher II, 150. 88 Beispiele: Bornkamm, 763; Hengel Joh Frage, 206,9; Kümmel Einl, 84ff; Stuhlmacher II, 150. 89 Kümmel Einl, 85.

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cken, und 2) Mt 21,43 ebenso wenig eine Trennung von Israel besagt wie die alttestamentliche Prophetie mit ganz ähnlichen Aussprüchen (z.B. Lev 26,27ff; Jer 21,3ff; Ez 5,1ff; Am 9,1ff ). Stattdessen deuten die obengenannten Themen wie Tempeldienst, Tempelsteuer, Schwurformeln oder Kathedra Mosis darauf hin, dass sich Matthäus noch der israelitischen Glaubens- und Rechtsgemeinschaft zugehörig fühlt, nur eben mit dem Glauben an den Messias Jesus. In den Jahren 55–65, in denen er sein Evangelium schrieb, ist das auch gut vorstellbar. Vielleicht deuten die Präsensformen in Mt 12,5f; 17,24ff; 23,16ff in dieselbe Richtung, jedenfalls in die Zeit vor der Tempelzerstörung. 2. Ist es so, dann muss man das Matthäusevangelium als ausgesprochene Werbeschrift für die Juden betrachten. Die protestantische Auslegung, die wie der Protestantismus insgesamt überall „Polemik“ und „Ausgrenzung“ vermutete, neigte dazu, auch bei Matthäus Polemik gegen das Judentum und „Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Judentum“90 anzunehmen. Darüber ging der Gedanke der Mission, des Werbens um die jüdische Gemeinschaft, oft verloren. Das Matthäusevangelium ist aber nicht „gegen“, sondern „für“ das Judentum geschrieben. Sich für diese Deutung eingesetzt zu haben, ist zum einen das Verdienst jüdischer Forscher wie David Flusser, die sich dagegen wehren, „Jesus gegen das Judentum seiner Zeit auszuspielen“.91 Es ist zum andern das Verdienst solcher Kommentare wie der von Peter Fiedler, die von der Überzeugung geprägt sind: „Das Matthäusevangelium … gehört … in den Kontext des Judentums des 1. Jh.s“.92 Das Werben um Israel geschieht zunächst so, dass Matthäus einige grundlegende Übereinstimmungen betont. Die erste und wichtigste dieser Übereinstimmungen ist die Erwartung eines Messias, der nicht aus dem herodianischen Geschlecht stammen kann (Mt 1–2). Noch im Prozess gibt der Hohepriester zu erkennen, dass er selbst auf den Messias wartet (Mt 26,63). Zu den Übereinstimmungen gehören die Gewissheit von der endgültigen Erlösung Israels (Mt 23,39) sowie die Lehre von der unbedingten Geltung des Gesetzes (Mt 5,17ff ). Sie reicht aber noch weiter. Wie die Pharisäer in Pirqe Abot III,19 vertritt das Matthäusevangelium die Willensfreiheit des Menschen gegenüber Gott (Mt 23,37).93 Ja, im matthäischen Sondergut finden sich die erstaunlichen Sätze von der Kathedra des Mose, auf der mit Recht die Schriftgelehrten und Pharisäer sitzen und Richtiges lehren (Mt 23,2f ). 90 Kümmel Einl, 89; vgl. Bultmann Gesch, 155; Bornkamm, 762 („Kampf mit äußerster Schärfe“). 91 Flusser, 12. 92 Fiedler, 24, nach M.S. Gnadt. Vgl. Theißen-Merz, 356. 93 Vgl. dazu Irenaeus Adv. haer. IV, 37,1 sowie Sir 15,11ff.

VII. Theologischer Charakter und Aussageschwerpunkt

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Im Zuge dieses Werbens liegt es, wenn bei Matthäus die positive Rolle von Lehre und Schriftgelehrsamkeit betont wird. Die Bergpredigt, genauer: Berglehre, stellt Jesus als den Lehrer Israels dar (Mt 5,1f; 7,28f ). In ihr gehören Lehren und Tun, Hören und Tun unauflöslich zusammen (Mt 5,19; 7,21.24ff ). Matthäus rechnet damit, dass jüdische Schriftgelehrte zu Jüngern Jesu werden (13,52 – Sondergut!). Er ist der Einzige, der Jesu Ankündigung überliefert, dass er „Weise und Schriftgelehrte“ (σοφοὺς καὶ γραμματεῖς [sophous kai grammateis]) zu Israel senden werde (Mt 23,34). Sogar im abschließenden Missionsbefehl spielen die Lehrbegriffe διδάσκειν [didaskein], τηρεῖν [tērein] und ἐντέλλειν [entellein] eine prominente Rolle. Zur Schriftgelehrsamkeit gehört die Diskussion und Auseinandersetzung mit anderen Gelehrten, folglich auch das Eingehen auf die Polemik. Fiedler beschuldigt Matthäus selbst ununterbrochen der Polemik, ja der Verleumdung und Verunglimpfung der Gegner Jesu.94 Wir konnten ihm in diesem Kommentar darin nicht folgen. Es gibt jedoch Hinweise, dass Matthäus z.B. in 1,16ff und 12,24ff antijesuanische Polemik aufgreift und zu widerlegen sucht. Worauf kann sich Matthäus mit seinem Evangelium von Jesus Christus berufen? Er nennt zumindest drei Autoritätsquellen, die auch für die Judenschaft entscheidendes Gewicht hatten. Die erste ist David. Von der Überschrift (Mt 1,1) an zieht sich die Berufung auf David durchs ganze Evangelium. Jesus ist „Davids Sohn“, was in Mt 1,16-25 ausführlich dargelegt wird (vgl. 12,23). Hilfeflehende rufen ihn als „Davids Sohn“ an (Mt 9,27; 15,22; 20,30). Jesus selbst beruft sich auf David (Mt 12,3; 22,41ff ), und beim Einzug in Jerusalem wird er als „Davids Sohn“ willkommen geheißen (Mt 21,9). Die zweite Autoritätsquelle ist Abraham. Die Überschrift in Mt 1,1 betont – was in „Sohn Davids“ bereits eingeschlossen war –, dass Jesus „Abrahams Sohn“ ist. Auch der Bericht von der Täuferpredigt (Mt 3,9) und Jesus in seiner Verkündigung selbst (Mt 8,11; 22,32) rekurrieren auf Abraham. Das sind keine nebensächlichen Notizen. Vielmehr deutet Matthäus durch deren Aufnahme in seinen Bericht an, dass die Abrahams-Segens-Verheißung von Gen 12,3; 18,18; 22,18; 26,4; 28,14 durch Jesus in Erfüllung geht. Die dritte Autoritätsquelle ist der Täufer Johannes. Sie ist allerdings umstritten, wie Mt 21,24ff zeigt. Jedoch lassen Mt 14,5; 16,14; 21,26 erkennen, dass der Täufer damals bei vielen Juden als ein echter Prophet galt. Und sein Zeugnis für Jesus (Mt 3,11-17) konnte nicht einfach zur Seite geschoben werden. Die werbende Kraft des Matthäusevangeliums liegt nun aber nicht zuletzt in seiner Berufung auf das Alte Testament, das heißt auf die heiligen Schriften 94 Vgl. nur Fiedler, 128.151.160.162.250.258.

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Israels. Die Erfüllungszitate („damit erfüllt würde“) treten bei Matthäus in einzigartiger Dichte auf (vgl. nur 1,22f; 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 13,35). Hinzu kommen zahlreiche andere Verweise auf die Schrift. Und womit hätte man im Judentum die Messianität Jesu besser beweisen können als mit der Schrift, die als heilig galt (M. Jadajim III, 5)? 3. Matthäus ist unter allen Evangelisten der Lehrer schlechthin.95 Er ist es, der die meisten lehrhaften Redekomplexe zusammenstellt (Mt 5–7; 10,5ff; 13,3ff; 18,23; 24–25). Von Anfang an betont er das Lehren Jesu (Mt 5,1f; 4,23; 9,35). Der Terminus für „lehren“, διδάσκειν [didaskein], kommt bei Matthäus am häufigsten vor.96 Wie wir gesehen haben, enthält das matthäische Sondergut außerdem Äußerungen Jesu, in denen jüdische und christliche Schriftgelehrte eine hohe Wertschätzung erfahren (Mt 13,52; 23,2f.34). Verweise auf die heilige Schrift durchziehen das gesamte Evangelium (vgl. oben 2.). Sicherlich lassen sich eine Reihe solcher Beobachtungen auch an anderen Evangelien machen. Beim Matthäusevangelium häufen sie sich jedoch. Man kann sogar mit Recht vermuten, dass sich Matthäus selbst als christlicher Schriftgelehrter im Sinne von Mt 13,52; 23,34 verstand.97 4. Wer Lehrer ist, sorgt sich um den Aufbau der Gemeinde und deren Grundlagen (vgl. Apg 13,1; 1Kor 12,28; Eph 4,11; Hebr 13,7.17).98 Es darf deshalb nicht verwundern, dass im Matthäusevangelium die Ekklesia, Kirche und Gemeinde, eine solche Rolle spielt. Seit dem grundlegenden Artikel von Karl Ludwig Schmidt über die ἐκκλησία [ekklēsia] im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament99 muss derjenige, der Mt 16,18 und 18,17 für sekundär erklärt, die Beweislast tragen. Im Hintergrund von ἐκκλησία [ekklēsia] an diesen Stellen steht hebr. ‫[ ָקָהל‬qāhāl], aram. ‫שׁ ָתּא‬ ְ ‫[ ְכּנִי‬kᵉnīschtāʾ]. Es geht um das Gottesvolk des Neuen Bundes, ohne das ein Messias nicht gedacht werden kann. Dieses Gottesvolk muss eschatologisch als Erfüllung von Jer 31,31ff; Ez 34,16ff; 36,25ff; Zeph 3,9ff verstanden werden. Der nahtlose Übergang von Jesus zu seiner Gemeinde nach Ostern100 wäre sonst gar nicht verstehbar. Doch wie sieht diese Gemeinde nach dem Matthäusevangelium aus? Sie kann weiter im Verbund der Synagogen und des Judentums leben (s.o. zu 2.). Sie wird fundiert durch den Glauben an Jesus. Das bedeutet, sie ist auf seinen Namen getauft, in der Lehre Jesu unterrichtet, sie lebt im Gehor95 96 97 98 99 100

Vgl. Stendahl passim; Dobschütz passim. Vgl. K.H. Rengstorf, Art. διδάσκω usw., ThWNT, II, 1935, 141ff. Bornkamm, 763, nach E.V. Dobschütz; Schmithals, 619. Vgl. dazu Rengstorf a.a.O., 160ff. ThWNT, III, 1938, 522ff. Theologisch zu wenig reflektiert.

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sam gegen seine Gebote und sie wartet auf seine Wiederkunft (Mt 28,19). Petrus und die Apostel bilden ihre historische Grundlage (Mt 16,18f; 18,18ff ). Wer diese und andere Aussagen für „ganz unmöglich … als ein echtes Jesuswort“101 abtut, folgt zwar einem protestantischen Impuls, aber nicht dem Text. Mit einer gewissen Wehmut müssen wir auf evangelischer Seite daran denken, dass Mt 16,18 der Michelangelo-Kuppel im Petersdom überlassen blieb, aber unsererseits nicht fruchtbar gemacht wurde. Doch für Matthäus gilt: Kirche und Gemeinde (ἐκκλησία [ekklēsia]) sind seine feststehenden Bezugsgrößen. Für sie schreibt er, sie will er auf die Jesusworte ausgerichtet wissen. Ein Werben um die jüdische Gemeinschaft kommt nur infrage, wenn das Gottesvolk des Neuen Bundes auf die Jesusworte gegründet bleibt. 5. Das Matthäusevangelium vertritt eine heilsgeschichtliche Sicht. Schon Mt 1 mit seiner Dreifach-Gliederung: von Abraham zu David – von David zur babylonischen Gefangenschaft – von der babylonischen Gefangenschaft zu Christus (Mt 1,17) ist dafür Beleg genug. Matthäus fußt dabei auf Jesus, für den eine solche heilsgeschichtliche Sicht etwas nahezu Selbstverständliches war. In Mt 19,3ff unterscheidet Jesus scharf zwischen dem, was dem Anfang (ἀρχῆ [archē]), und dem, was der Mose-Zeit und der Messias-Zeit (V. 7f bzw. V. 9) zugehört. Ebenso deutlich unterscheidet er in Mt 11,11ff zwischen der Zeit bis zu Johannes dem Täufer und der messianischen Zeit nach Johannes dem Täufer. Man vgl. dazu Mt 9,15, wo die Tage des Bräutigams = Messias von aller übrigen Zeit unterschieden werden. Von der messianischen Zeit und der Zeit der Gemeinde Jesu wiederum abgehoben ist in Mt 23,39 die Zeit seiner Wiederkunft. Schließlich vereinigt die Endzeitrede Jesu in Mt 24 mehrere Epochen zu einem geschlossenen Bild: Die kommende Zeit der Gemeinde wird bedroht durch Verführung (24,4-5), es kommen apokalyptische Nöte über die Erde (24,6-8), verbunden mit Verfolgung und Abfall in der Kirche (24,9-14), Israel wird verwüstet (24,15-20), es schließt sich die große weltweite Trübsal an (24,21-28), doch dann treten kosmische Veränderungen ein (24,29) und Jesus der Menschensohn wird wiederkommen in Macht und Herrlichkeit (24,30-31). Im Grunde ist dies der Aufriss der Johannesoffenbarung. Es wäre auch auf jüdischem Boden kaum denkbar, eine messianische Botschaft ohne Eschatologie und eine Eschatologie ohne Heilsgeschichte zu vertreten. Es ist kaum ein Zufall, dass Matthäus in 28,20 sein Evangelium mit den Worten ἕως τῆς συντελείας τοῦ αἰῶνος [heōs tēs synteleias tou aiōnos] beschließt und damit noch einmal an die eschatologische Grundunterscheidung „dieser Äon“ – „kommender Äon“ erinnert. 101 Bultmann Gesch, 150.

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6. Die Christologie des Matthäusevangeliums stellt ein Bände füllendes Thema dar.102 Das kann gar nicht anders sein. Denn alle kanonischen Evangelien sind nichts anderes als die Botschaft von Jesus als dem Messias und Erlöser. Unbestreitbar kulminiert die Christologie des Matthäusevangeliums in den beiden Titeln Messias (Christus) und Sohn Gottes. So kommt es im zentralen Bekenntnis Mt 16,16 und im Prozess vor dem Hohepriester Mt 26,63 zum Ausdruck. Der Messias, ὁ χριστός [ho christos], hebr. ‫שׁיַח‬ ִ ‫[ ָמ‬māschīach], aram. ‫שׁיָחא‬ ִ ‫[ ְמ‬mᵉschīchāʾ] (der „Gesalbte“), war damals die gebräuchliche Bezeichnung für den endzeitlichen, im AT angekündigten Erlöser (vgl. Joh 1,20). Die semitische Form Μεσσίας [Messias] hat sich zwei Mal im NT erhalten (Joh 1,41; 4,25). Messiaskandidaten waren schon zur Zeit Jesu häufig, zum Beispiel in der „Messias-Dynastie des Hiskia“103 (vgl. Apg 5,36f; 21,38). Jesus nimmt darauf selbst Bezug (Joh 10,1ff ). Die Aussage „Du bist der Messias“ (Mt 16,16) hätte Jesus wohl kaum den Tod gebracht. Man hätte seinen Anspruch ganz nüchtern an der Erfahrung geprüft. Ganz anders steht es mit dem Titel „der Sohn Gottes“ (Mt 16,16). Er ist gleichfalls im AT bezeugt, so 2Sam 7,14: αὐτὸς ἔσται μοι εἰς υἱόν [autos estai moi eis hyion], oder Ps 2,7: Υἱός μου εἶ σύ [Hyios mou ei sy], oder Jes 9,5: υἱὸς καὶ ἐδόθη ἡμῖν [hyios kai edothē hēmin] (LXX). Unter dem Sohnes-Begriff eine adoptianische Christologie zu entwickeln, hätte nahegelegen und hätte der Christenheit manchen Streit erspart. Stattdessen behauptet aber das NT eine Wesensgemeinschaft von Gott, dem Vater, und seinem Sohn Jesus Christus. Ihm zufolge ist Jesus deshalb „Gott“ (Mt 28,19; Joh 1,1; 20,28; Röm 9,5; Offb 22,3). So hat es Jesus auch selbst zum Ausdruck gebracht (Joh 10,31ff ). Die neutestamentlichen Zeugen berufen sich hier nicht zuletzt auf die wunderbare Geburt Jesu, die Jes 7,14 entspricht (Mt 1,16ff; Lk 1,26ff ). Sie wurde von Anfang an scharf in Zweifel gezogen (Joh 8,41; 10,31ff ). Immerhin konnte sich der Hohepriester im Prozess gegen Jesus eine positive und biblische Füllung des Begriffes „Sohn Gottes“ vorstellen (Mt 26,63f; Mk 14,61; Lk 22,70; vgl. jedoch Joh 19,7). Es ist nun keineswegs selbstverständlich und eher erstaunlich, dass unser ältestes Evangelium eine ausgereifte „Sohn Gottes“-Botschaft samt deren Theologie enthält – in Stuhlmachers Formulierung: eine „Hochchristologie“.104 Und zwar von der ersten Seite an: Mt 1 läuft auf das Wunder der Geburt Jesu zu, vorgetragen unter der Überschrift „Die Geburt 102 Vgl. Bornkamm, 762: Die „Christologie … bei Mt vielseitiger als bei Mk“. Vgl. auch Hahn, 519. 103 Mayer, 45ff. 104 Stuhlmacher II, 161.

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geschah so (ἡ γένεσις οὕτως ἦν [hē genesis houtōs ēn])“, V. 18. Demnach ist Jesus ohne Zutun eines Mannes im Leib der Maria entstanden. „Das in ihr Gezeugte ist aus dem Heiligen Geist“, Mt 1,20. Die göttliche Stimme bei der Taufe bekräftigt es: „Das ist mein Sohn, der geliebte“, Mt 3,17. Die ganze Versuchungsgeschichte lebt von dem „Bist du Gottes Sohn …“, Mt 4,3ff. Im Prozess auf Leben und Tod bekennt sich Jesus noch einmal dazu, Gottes Sohn zu sein (Mt 26,63f ), und die Kreuzigung schließt mit den Worten des römischen Offiziers: „Der war in Wahrheit (ἀληθῶς [alēthōs]) Gottes Sohn“, Mt 27,54. So inkludiert die Aussage über Jesu Gottessohnschaft das ganze Evangelium. Vgl. noch Mt 11,27. Das Matthäusevangelium macht es verständlich, dass das μαράνα θά [marana tha] (1Kor 16,21) zu den frühesten Gebetsrufen der Christen gehört. Denn nur als Gottes Sohn konnte der auferstandene Jesus mit diesen Worten angerufen werden. Die Bezeichnung Menschensohn (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου [ho hyios tou anthrōpou]) fügt sich in diesen Rahmen ein. Oscar Cullmann hat herausgearbeitet, dass der „Menschensohn“-Titel Jesus besonders nahelag, ja zusammen mit dem Gottesknecht „sein Bewußtsein“ einzigartig „ausgedrückt hat“.105 Der Titel stammt aus Dan 7,13, wo von einer eschatologischen Zentralgestalt ‫ְכַּבר‬ ‫[ ֱאנָשׁ‬kᵉbar ʾᵆnāsch], ὡς υἱὸς ἀνθρώπου [hōs hyios anthrōpou], die Rede ist. Frühjüdische Tradenten und Lehrer (vgl. die Bilderreden der ä Hen) haben diesen Titel bis zur Zeit Jesu weitergegeben. Wir besitzen keinen Beweis dafür, dass andere Messiasse den „Menschensohn“-Titel auf sich angewandt haben. Jesus aber konnte damit „das Werk des Himmelsmenschen“ ausdrücken, nämlich einerseits seine Lebenshingabe in Niedrigkeit zur Sühne unserer Schuld (Mt 17,22f; 20,17ff ) und andererseits sein Richteramt in Herrlichkeit am Ende der Zeiten (Mt 16,27f; 24,30f.39ff, 25,31ff ).106 Es scheint, als habe er mit seiner Menschensohn-Aussage im Prozess gerade dies beides zusammenfassen wollen (Mt 26,64). Im Rahmen der matthäischen Christologie kommt der Bereinigung der menschlichen Schuld durch den Sühnetod am Kreuz eine entscheidende Bedeutung zu. Mindestens an vier zentralen Stellen des Matthäusevangeliums begegnet uns die Botschaft von der Beseitigung unserer Schuld durch Jesus Christus. Die erste Stelle ist die Geburtsgeschichte. Josef soll den neugeborenen Sohn „Jesus“, hebr. ‫ [ יֵשׁוַּע‬jeschūaʿ], nennen, „denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten“ (Mt 1,21). Wo immer von „Jesus“ die Rede ist, ist auch dieser Auftrag präsent. Die zweite Stelle ist die Taufgeschichte (Mt 3,13-17). 105 Cullmann, 167. 106 Vgl. Cullmann a.a.O. und 154ff.

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„Mein Sohn, der geliebte“ (V. 17), von dem die Gottesstimme spricht, erinnert an „deinen Sohn, den geliebten (LXX: τὸν υἱόν σου τὸν ἀγαπητόν [ton hyion sou ton agapēton])“ aus der Opfergeschichte Isaaks (Gen 22,2) und bringt damit zum Ausdruck, dass Jesus der geopferte Gottessohn sein wird. Verstärkt wird dies durch das beigefügte ἐν ᾧ εὐδόκησα [en hō eudokēsa], eine Erinnerung an den leidenden Gottesknecht von Jes 42,1. Gerade dieser Gottesknecht wird ja nach Jes 53,10 sein Leben zum Schuldopfer (‫שׁם‬ ָ ‫[ ָא‬ʾāschām]) geben. Die dritte Stelle ist Mt 20,28, wo Jesus sein Leben als einen Dienst der Lebenshingabe „zu einer Erlösung (λύτρον [lytron]) für viele“ interpretiert, offensichtlich unter Anlehnung an Jes 53. Die vierte Stelle ist das Abendmahlsgeschehen. Entsprechend der Deutung Jesu kennzeichnet der Kelch sein Blut, das am Kreuz zur Vergebung der Sünden für viele vergossen wird (Mt 26,28). So kommt der Auftrag von Mt 1,21 zur Vollendung. Liberale Theologie mag dies als „primitive Mythologie“107 apostrophieren. Aber dies ist genau die Botschaft des Matthäus.108 Man hat bei der Auslegung des Matthäusevangeliums den „Messias des Wortes“ und den „Messias der Tat“ als wichtige christologische Perspektiven hervorgehoben.109 Diese kurzen Merktitel behalten ihre Berechtigung. Der erstere macht aufmerksam auf den messianischen Lehrer, dem jenseits aller menschlichen Autorisierung die höchste Autorität zukommt. Er ist die Verkörperung der Weisheit Israels, der deshalb selbst „Weise“ senden kann (Mt 11,19.28ff; 23,34). Auch die exzellenten Schriftgelehrten sprechen davon, dass Jesus „wahrhaftig ist und den Weg Gottes in Wahrheit lehrt“ (Mt 22,16). „Weg“ ist „Halacha“. Wie der Mensch Gottes Weg zu gehen hat, sagt also Jesus mit letztgültiger Autorität (vgl. Joh 14,6). Diese verdichtet sich in dem „Ich aber sage euch“ der Bergpredigt (Mt 5,22ff ). Verliehen ist sie ohne Rabbinatsstudium unmittelbar vom Vater an den Sohn: „Das ist mein Sohn, der geliebte … den sollt ihr hören!“ (Mt 17,5). Nur Mose lässt sich in dieser Hinsicht mit Jesus vergleichen (Mt 17,3; 23,2) – allerdings unvollkommen. Es geht bei der Lehre Jesu also nicht darum, das Wort des Alten Bundes durch das Wort des Neuen Bundes zu ersetzen oder gar Mose zu kritisieren. Nein, für Jesus erfüllt sich das Wort des Alten Bundes bis zur Hälfte des kleinsten Buchstabens (Mt 5,17ff ). Es geht vielmehr darum, es richtig und auch im Lichte des Neuen Bundes zu verstehen. Unübertrefflich hat das Jesus in Mt 13,52 formuliert, wonach der wahre Schriftgelehrte „aus seinem Schatz Neues und Altes 107 Bultmann NuM, 20. 108 Vgl. Cullmann, 50ff.63.68; Stuhlmacher II, 163f. 109 So Schniewind, 37.106. Wiederaufgenommen bei Stuhlmacher II, 161.

VII. Theologischer Charakter und Aussageschwerpunkt

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hervorbringt“. Alle diese Beobachtungen zeigen, dass Jesus der in Dtn 18,15ff verheißene zweite Mose ist. Was nun den „Messias der Tat“ anbelangt, so fallen uns im Matthäusevangelium (wie in den andern Evangelien!) die zahlreichen Wunder Jesu auf. Man mag zu den „Wundern“ stehen, wie man will: Wenn man sie als „erledigt“ betrachtet,110 ist damit auch das Matthäusevangelium „erledigt“. Demgegenüber stellen Gerd Theißen und Annette Merz nüchtern fest: „Die Wunderüberlieferung von Jesus wäre nicht entstanden ohne eine entsprechende Wundertätigkeit Jesu.“111 Dem Block der Lehre Jesu in Kap. 5–7 stellt Matthäus in Kap. 8–9 den Block seiner Wunder zur Seite. Wieder und wieder berichten die Summarien, so nüchtern sie sind, von den zahlreichen Wundern Jesu (Mt 4,23f; 8,16f; 9,35; 14,35f; 15,29ff; 21,14). Manche Reaktionen gegen Jesus sind ohne seine vorausgehende Wundertätigkeit gar nicht denkbar (Mt 12,22ff; 21,15ff ). Auf die Täuferfrage in Mt 11, die seine Messianität betrifft, antwortet Jesus mit dem Hinweis auf seine Wunder (11,2ff ). Dabei fällt auf, dass er Wunder nennt, die im AT gar nicht ausdrücklich vom Messias erwartet werden (Heilung von Aussätzigen, Totenauferweckungen). Kurzum: „nirgends ist so wie … bei Matthäus die Rede davon, daß der Messias heute und hier schon in göttlicher Kraft und Autorität (Heilungs-)Wunder vollbringt.“112 In das bisher gezeichnete Bild fügen sich andere messianische Bezeichnungen Jesu ein: „Sohn Davids“ (Mt 1,1; 9,27; 15,22; 20,30; 21,9), „König der Juden“ (Mt 27,11.29.37), „der Kommende“ (Mt 11,3; 21,9 nach ‫[ ַה ָבּא‬habbāʾ] Ps 118,26), „Bräutigam“ (Mt 9,15, vgl. Joh 3,29), auch „Rabbi“ (Mt 23,8). Jesus hat solche messianischen Titulaturen, die ihm damals entgegengebracht wurden, nicht zurückgewiesen, sondern akzeptiert und auf seine eigene Weise interpretiert. Nur gelegentlich lässt er seine Gesprächspartner eine Zurückhaltung spüren, zum Beispiel beim „Sohn Davids“ (Mt 22,41ff ), ohne doch diese Bezeichnung abzulehnen. Die soeben erwähnte Zurückhaltung hat damit zu tun, dass Jesus (und damit auch Matthäus!) bestimmte Erwartungen des Volkes und der Schriftgelehrten ablehnt. Er ist kein Messias, der wie in Ps Sal 17–18 die Sünder ausstößt, sondern einer, der sie als Arzt und Hirte aufsucht und sie von ihrer Sünde heilen will. Deshalb auch die anstößigen Tischgemeinschaften mit Sündern und Zöllnern (Mt 9,9ff; 18,10ff ). Darin sieht er seinen Auftrag nach Ez 34,16ff (vgl. Mt 12,19f ). Er ist auch kein Messias, der wie in Ps Sal 17–18 die 110 So Bultmann NuM, 18. 111 Theißen-Merz, 115. 112 Stuhlmacher II, 161f.

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Heiden aus Jerusalem vertreibt, sondern einer, der die Erlösung auch den Heiden anbietet (Mt 12,18.21; 15,21ff; 22,15ff; 28,19f ). Vgl. unten 7. Überhaupt ist seine messianische Herrschaft in der gegenwärtigen Weltzeit eine Herrschaft ohne Gewalt. Das unterscheidet ihn im Tiefsten von den Zeloten, aber auch vom späteren Islam (vgl. Mt 11,12; 26,52ff; Joh 18,36). Hier handelt und lebt er wie der Gottesknecht von Jes 42–53. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung seiner Zeit weiß er, dass seine Messianität ins Leiden führt und am Kreuz zur Vollendung kommt (Mt 3,17; 10,38f; 16,21ff; 17,5.22f; 20,17ff; 21,37ff; 26,12.26ff.36ff ). Er geht diesen Weg, um die Sünden anderer zu tragen und zu tilgen (Mt 26,26ff ) – also ganz anders, als der essenische „Lehrer der Gerechtigkeit“ seinen Weg zu gehen hatte. Sein Sieg beruht nicht auf militärischen oder geistigen Heeren, sondern auf seiner Auferstehung, die er mit Gewissheit erwartet (Mt 16,21; 17,23; 20,19; 28,6.18). Die Gottheit Jesu wurde schon beim Thema der Gottessohnschaft angesprochen. Wie die gesamte Urchristenheit war auch Matthäus im Blick auf die Gottheit Jesu sehr vorsichtig und zurückhaltend. Man wollte weder das Schma Jisrael verletzen (Dtn 6,4 Jahwä ächad) noch irgendjemandem den Anlass geben zu behaupten, die Christen hätten zwei Götter. Dennoch macht es Mt 28,19 unzweideutig fest, dass Matthäus die Trinität bezeugen wollte, also Gott in drei „Namen“ = Personen: Vater, Sohn, Heiliger Geist. Die Gottheit Jesu kommt ferner zum Ausdruck in seiner Vollmacht, Sünden zu vergeben (Mt 9,6; Ps 51; 130,4), und in seiner Macht über Wind und Meer, ja sogar über den Tod (Mt 8,26f; 14,25ff; 9,25). Jesus ist der Herr der Schöpfung (vgl. Mt 28,18). Erst so bekommt das Glauben an Jesus seinen umfassenden Sinn (Mt 8,10.13; 9,28; 15,28). 7. Matthäus ist ein dezidierter Vertreter der universalen Weltmission. Dass sein Evangelium mit dem sog. Missionsbefehl endet (28,18ff ), resultiert aus bewusster gestalterischer Absicht. Die Aufforderung zur universalen Mission unter „allen Völkern“ (πάντα τὰ ἔθνη [ panta ta ethnē]) steht ja nicht isoliert am Schluss des Evangeliums, sondern bahnt sich in vielen Teilen des Matthäusevangeliums an: von der Berufung auf Abraham (1,1), durch den „alle Geschlechter auf Erden“ gesegnet werden sollen (Gen 12,3), über die Anbetung durch die Magier aus dem Osten (2,1ff ), die Einbeziehung Ägyptens (2,13ff ), die Beauftragung Jesu als Gottesknecht (3,17; 12,17ff; 17,5; 20,28), der auch die Heiden erlöst (12,18.21; vgl. Jes 42,4; 49,6), die Heilungswunder an Heiden (8,12ff; 15,21ff ) bis zum Bekenntnis des Hauptmanns am Kreuz (27,54). Zugespitzt könnte man sagen: Wer nicht missioniert, hat das Matthäusevangelium nicht verstanden. Der Streit darüber, ob πάντα τὰ ἔθνη [ panta ta ethnē] in Mt 28,19 auch die

VII. Theologischer Charakter und Aussageschwerpunkt

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Juden einschließt, ist müßig. Denn das ganze Matthäusevangelium bezeugt, dass die christliche Mission in Israel beginnen soll: erst für die Juden, dann für die Heiden (Mt 10,5ff; 15,24ff ). In diesem Grundsatz sind sich Jesus, Matthäus, Paulus (Röm 1,16) und Lukas (Apg) einig. Es ist nun hochinteressant, das Matthäusevangelium unter dem Gesamtaspekt des missionarischen Urchristentums zu betrachten. Wie wir sahen, weist das Matthäusevangelium eine besondere Nähe zu Petrus auf.113 Oft hat man Paulus als „Völkerapostel“ einem judenchristlichen, eher partikularen Petrus gegenübergestellt. Das Matthäusevangelium nötigt jedoch dazu, solche Schablonen zu verlassen. Dementsprechend war ja Petrus der Anfänger der Heidenmission (Apg 10,1ff; 11,1ff ). Zweifellos verteidigte er das beschneidungsfreie Heidenchristentum beim Apostelkonzil (Apg 15,7ff ). Wir treffen ihn in Antiochia (Gal 2,11ff ) und in Griechenland (1Kor 9,5) und besitzen eine Enzyklika, die er an Pontus, Galatien, Kappadozien, an die Provinz Asien und Bithynien gerichtet hat (1Petr 1,1). Die alte Christenheit schätzt ihn als Gründer der römischen Gemeinde.114 Die Beispiele des Matthäus und Petrus zeigen jedenfalls so viel: Ein Judenchrist konnte ohne Weiteres ein Vertreter der universalen Weltmission sein. Die Struktur einer solchen Mission lässt sich als Geh-Struktur beschreiben. Sowohl in Mt 10,6 als auch in Mt 28,19 lautet die grundlegende Aufforderung πορεύεσθε [ poreuesthe]. Nicht das tadelt Jesus in Mt 23,15 an den Schriftgelehrten und Pharisäern, dass sie „Land und Meer durchziehen, um einen einzigen Proselyten zu machen“. Sondern das tadelt er, dass sie aus einem solchen Proselyten dann einen „Sohn der Hölle“ machen. Eine bloß verwaltende, eine bloß „heimische“ Kirche kann nicht die Kirche von Mt 28,19f sein. In dem Auftrag μαθητεύσατε [mathēteusate], „macht zu Jüngern“, ist die vollgültige Nachfolge Jesu enthalten. Ein „heimliches Christentum“ gibt es nach Mt 28,19 nicht. Die trinitarische Taufe und die Belehrung über alle Gebote Jesu, ja seine ganze Verkündigung (Mt 28,19-20), sind die Ausgangspunkte dieser Nachfolge (vgl. Mk 16,15f ). In Matthäus lautet die Reihenfolge „taufen und lehren“, in Markus „glauben und taufen“. Keiner der Evangelisten hat damit eine Reihenfolge festgeschrieben. Eins jedoch erwartet Matthäus schon damals in den schweren, bedrohten Anfangszeiten: Dass die Botschaft vom Erlöser, vom „Immanuel“ („ich bin bei euch alle Tage“), von Jesus, tatsächlich die ganze Welt erreicht.

113 Vgl. Pokorny-Heckel, 474; Fiedler, 20; Stuhlmacher II, 151; Luz I 66. 114 1Clem 5,4; Irenäus Adv. haer. III, 1,1.

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VIII. Zur Geschichte der Auslegung Im Folgenden versuchen wir, die Geschichte der Auslegung des Matthäusevangeliums kurz zu skizzieren. Nach Ulrich Luz ist der 1. Petrusbrief evtl. „das erste Zeugnis für Mt“.115 Was er freilich an „Berührungen“ namhaft macht,116 sind allerdings nur Berührungen, die man auch anders erklären kann. Unleugbar jedoch zehren Matthäus und Petrus von demselben Stoff und schöpfen aus denselben Quellen. Der um 95 n.Chr. anzusetzende 1. Clemensbrief dürfte in 24,5 und 46,6ff aus dem Matthäusevangelium zitieren.117 Ein zeitlicher Ansatz des Matthäusevangeliums „um 90–95“, wie er immer wieder in der Literatur auftaucht,118 ist schon deshalb äußerst unwahrscheinlich. Mit dem Beginn des 2. Jh. steigt die Zahl der Benutzer und Ausleger des Matthäusevangeliums rasch an. Insgesamt gilt für das 2. Jh., dass das Matthäusevangelium am häufigsten von allen Evangelien zitiert wird.119 In der Didache wird das Matthäusevangelium „zweifellos vorausgesetzt“120 (Kap. 8; 10; 16), vermutlich auch im Barnabasbrief.121 Ignatius kannte es um 110/ 115 n.Chr. und zitierte aus ihm (IgnSm 1,1 = Mt 3,15; IgnPhild 3,1 = Mt 15,13; IgnTrall 11,1 = Mt 15,13; IgnPol 2,2 = Mt 10,16).122 Ebenso ist die Benutzung und Auslegung des Matthäusevangeliums durch Papias von Hierapolis (ca. 120/125 n.Chr.) als sicher anzunehmen.123 Häufig wurde es von Justinus (um 150 n.Chr.) benutzt.124 Polykarp von Smyrna, der wohl 156 n.Chr. den Märtyrertod starb, zitierte aus ihm (Ad Phil 2,3; 6,2; 7,2f.). Intensiv ist die Benutzung und Kommentierung bei Irenäus (um 180 n.Chr.).125 Er liefert nicht nur interessante Informationen zu Einleitungsfragen,126 sondern bietet auch Exegesen zu ganzen Matthäusabschnitten.127 Man kann darüber hinaus Anmerkungen zu vielen Matthäusstellen von Mt 2 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127

Luz I 76. Luz a.a.O. So auch Luz a.a.O.; Aland Syn, 175.250. So bei Hengel Joh Frage, 207. France, 16; Hengel a.a.O., 46. Luz I 75; Zahn, 14; Pokorny-Heckel, 478. Luz I 76; Zahn a.a.O. Zahn a.a.O.; Luz I 75f; Carson, 19; Aland Syn, 219; Pokorny-Heckel, 478. Eusebius H.E. III, 39, 4.16. Luz I 76; Hengel Joh Frage, 46. Vgl. Hengel a.a.O. Adv. haer. III, 1,1; II, 11,8. Adv. haer. III, 8; III, 9.

VIII. Zur Geschichte der Auslegung

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an128 bis Mt 27129 finden. Bedeutsam ist auch seine Gesamtbeurteilung des Matthäusevangeliums. Er verwendet die vier Gestalten (ζῷα [zōa]) von Offb 4,7 als Evangelistensymbole und teilt die dritte mit dem „Antlitz wie ein Mensch“ dem Matthäus zu. Denn Matthäus habe Jesu „menschliche Geburt“ verkündet und anschließend „in seinem ganzen Verlauf “ Jesus Christus als den sanften und demütigen Menschen dargestellt.130 Für Matthäus steht also der menschliche Charakter Jesu Christi im Vordergrund, obwohl derselbe Matthäus an der Gottessohnschaft und der Gottheit Jesu keinen Zweifel lässt.131 Clemens Alexandrinus, um 200 n.Chr. Haupt der Katechetenschule in Alexandria, berief sich bei seinen Nachrichten über Matthäus auf die vorausgehenden Presbytergenerationen des 2. Jh.132 Ihm verdanken wir die Mitteilung, dass Matthäus kein Märtyrer gewesen sei; ferner, dass Matthäus zwölf Jahre nach der Himmelfahrt (42 n.Chr.) Palästina verlassen und als Missionar gewirkt habe.133 Mit Origenes beginnt in der Mitte des 3. Jh. die Reihe der speziellen Matthäuskommentare,134 soweit sie uns noch bekannt sind. Augustin schrieb Sermones in Matthaeum und De sermone domini in monte.135 Albertus Magnus hat Mt 1–28 vollständig kommentiert.136 Beeinflusst von der Entwicklung des Mönchtums begann man im Mittelalter hinsichtlich der Bergpredigt zwischen Ratschlägen für die „Vollkommenen“ und sittlichen Anweisungen für das einfache Volk zu unterscheiden. Spätestens in der 2. Hälfte des 20. Jhs. wurde diese Unterscheidung auch seitens der römisch-katholischen Exegese aufgegeben.137 Martin Luther sah das „Hauptevangelium“ im Johannesevangelium,138 nicht im Matthäusevangelium. Das bedeutete eine andere Akzentsetzung, als sie seit dem 2. Jh. in der Kirche – mindestens des Westens – vorgeherrscht hatte. Ob man Luther aufgrund seiner Urteile über die biblischen Schriften 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138

Adv. haer. III, 9,2. Adv. haer. I, 8,2. Adv. haer. III, 11,8. Adv. haer. III, 1,2; III, 6,1ff. Eusebius H.E. VI, 14,5: „die alten Presbyter“ (οἱ ἀνέκαθεν πρεσβύτεροι [hoi anekathen presbyteroi]). Strom. VI, 5,43. Vgl. Schmid, 172. Später noch sprach man von Äthiopien und Persien. Vgl. noch Eusebius H.E. III, 24,6; Mauerhofer, 81. Vgl. Aland Syn, 540f; Eusebius H.E. VI, 25,3ff. Corpus Christianorum, SL, XXXV und XLI. 1987 von Bernhard Schmidt herausgegeben. Schnackenburg I, 45f: „nicht haltbar“. Vorreden, 140.

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aber zu einem der Väter „einer theologischen Sachkritik“ hochstilisieren darf, wie es Werner Georg Kümmel tut,139 ist zweifelhaft. Langfristig wirkte sich in der protestantischen Exegese vor allem der Umstand aus, dass man in dem Bestreben, die Schrift aus sich selbst zu erklären, die Erklärungen der Kirchenväter mehr und mehr auf die Seite schob. Kümmel sieht den Beginn dieser Tendenz bei Joachim Camerarius,140 der 1572 in Leipzig seine Notatio figurarum sermonis in libris IV evangeliorum, et indicata verborum significatio et orationis sententia, ad illorum scriptorum intelligentiam certiorem veröffentlichte. Dadurch wurde sowohl die Kontinuität zur früheren Auslegungstradition als auch der Austausch unter den Konfessionen infrage gestellt. Dennoch hat sich die Überzeugung von der Matthäuspriorität, die für die Alte Kirche einhellig galt, noch lange gehalten. So bei Johann Jakob Wettstein (1693–1754), der Markus und Lukas von Matthäus abhängig sah.141 Aber auch Johann David Michaelis (1717–1791) behielt bis in die 4. Auflage (1788) seiner Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes die Auffassung bei, dass es keine gegenseitige literarische Abhängigkeit der Synoptiker gebe.142 Weiterhin wurde die Matthäuspriorität durch Johann Jakob Griesbach (1745–1812) und Ferdinand Christian Baur (1792–1860) vertreten. Baur zufolge sind Markus und Lukas von Matthäus abhängig. Dabei ist Matthäus „grundsätzlich geschichtlich zuverlässig“.143 Doch brachte das 19. Jh. den entscheidenden Bruch mit der traditionellen Auffassung. Dieser Bruch ist für die deutschsprachige Theologie verknüpft mit dem Namen Karl Lachmann (1793–1851). Lachmann, Philologe, legte in einem Aufsatz über „Die Ordnung der Erzählungen in den synoptischen Evangelien“ 1835 dar, dass Matthäus und Lukas in der Reihenfolge ihrer Erzählungen nur insoweit übereinstimmen, als sie auch mit der Reihenfolge bei Markus übereinstimmen. Folglich komme dem Markusevangelium die Priorität zu.144 Kümmel nannte dies „ein unwiderlegliches Argument für die Priorität des Markus.“145 Logisch ist das nicht. Denn jeder der drei Synoptiker könnte die Reihenfolge von jedem der beiden anderen übernommen haben: Matthäus von Markus oder Lukas, Markus von Matthäus oder Lukas, Lukas von Matthäus oder Markus. Mit dem Argument der Reihenfolge kann man auch die Lukas139 140 141 142 143 144 145

NT, 17. NT, 26.576. Kümmel NT, 54. Kümmel NT, 82. Kümmel NT, 171. Kümmel NT, 179ff. Kümmel NT, 181.

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priorität begründen. In der Tat halten M. Hengel, D. Flusser, W.R. Farmer, H.H. Stoldt, B. Orchard und andere Lukas für älter als Markus.146 Das Argument der Reihenfolge könnte sogar einer Urevangeliumshypothese dienen. Jedoch hat sich die These von der Markuspriorität, zusammen mit der Überzeugung von einer zweiten Quelle Q und einem „Sondergut“ jedes Evangelisten, im 19. und 20. Jh. weithin durchgesetzt. Die Formgeschichtler wie Martin Dibelius (1883–1947) und Rudolf Bultmann (1884–1976) gehen von ihr aus,147 auch große Teile der modernen Jesusforschung,148 ebenso wohl die Hauptmenge der modernen Kommentare. Man muss sich nun allerdings von dem Vorurteil frei machen, als ob mit den Einleitungsfragen schon alles gesagt sei. Beispielsweise gibt es hervorragende Kommentare, die der Zwei-Quellen-Theorie, also auch der Markuspriorität, anhängen.149 Es war der Kirche aller Zeitalter bewusst, dass jeder Ausleger sich in Sinn und Zweck, Ausdrucksweisen und Sprachformen jeder Schrift unter den biblischen Büchern, in ihrer je eigenen Prägung, einarbeiten muss, kurz gesagt: in ihre sprachliche und geistliche Grammatik. Zur Gelehrsamkeit muss die geistliche Intuition hinzutreten. In diesem Doppelcharakter liegt es begründet, dass sogenannte „Laienkommentare“ oder nichtwissenschaftliche Auslegungen wesentlich kongenialer im Verhältnis zu Matthäus sein können als die wissenschaftlich respektierten. Eine Eingruppierung unserer zeitgenössischen Kommentare in verschiedene theologische Schulen und Richtungen ist schwierig. Sie wird der Vielfalt der Kommentarliteratur nur unzureichend gerecht. Jedoch lassen sich bestimmte Akzente ausmachen, die unter Umständen an ein und demselben Kommentar gleichzeitig auftreten. Einer dieser Akzente liegt darin, Jesus und die entsprechenden Teile der Evangelien ins Judentum „heimzuholen“. Ein Vertreter dieser Bemühung ist David Flusser. Er wehrt sich gegen die „Tendenz, Jesus gegen das Judentum seiner Zeit auszuspielen“.150 Speziell zu den Gleichnissen merkt er an: „Die Gleichnisse Jesu gehören zum älteren, klassischen Typus der jüdischen Gleichnisse.“151 Damit lässt sich das Matthäusevangelium in seiner Gesamt-

146 Hengel Joh Frage, 206; Carson, 14. 147 Kümmel NT, 426.428.433. 148 Hengel Joh Frage, 15,13; Carson, 15; Luz I 56; Pokorny-Heckel, 430; Kümmel NT, 181. 149 So z.B. Carson; Schniewind. 150 Flusser, 12. 151 Flusser, 14.

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heit – für Teile mag durchaus anderes gelten – nicht mehr als judenfeindliches Jesuszeugnis verstehen. Anders ist die Akzentsetzung bei Peter Fiedlers Kommentar von 2006 (in der Reihe Theologischer Kommentar zum Neuen Testament). Ihm geht es darum, „den jüdischen Charakter des Werks des Mt“ herauszuarbeiten.152 Matthäus und seine Gemeinschaft werden also ganz und gar im damaligen Judentum verortet.153 Das hält Matthäus aber nicht davon ab, „sich antijüdisch zu äußern“.154 Insbesondere die Pharisäer und Schriftgelehrten sind die Opfer seiner Verleumdungen, Verunglimpfungen und seiner „blanken Polemik“.155 Interessanterweise bleibt Fiedler ansonsten bei altliberalen Positionen: Das Matthäusevangelium ist „zwischen Mitte der achtziger und Anfang der neunziger Jahre geschrieben“ (also ca. 90 n.Chr.), von Markus abhängig, in Syrien von einem unbekannten Autor verfasst.156 In der feministischen Auslegung werden ebenfalls gewohnte historisch-kritische Positionen weitertradiert. Ein anschauliches Beispiel bietet Luise Schottroff, die das Matthäusevangelium in der Bibel in gerechter Sprache (2. Aufl. 2006) bearbeitet hat. Ihr zufolge setzt das Matthäusevangelium „wahrscheinlich die Zerstörung des Tempels 70 n.Chr. … voraus“.157 Entstanden sei es wohl 80–100 n.Chr. in Syrien. Sein Kontext sei die Situation „im jüdischen Heimatland und der Diaspora“ nach dem Römisch-Jüdischen Krieg 66–73 n.Chr.158 Das Evangelium gehe „auf mündliche Überlieferungen“ zurück mit einem Abstand von zwei Generationen zu Jesus.159 Schottroff wendet sich ähnlich wie Fiedler gegen eine „antijudaistische Auslegung“ des Matthäusevangeliums.160 Das spezielle Anliegen der feministischen Exegese formuliert sie mit den Worten: „Obwohl der Text durchweg männerzentriert („androzentrisch“) formuliert, ist er Wiedergabe der Gedanken und Hoffnungen von Frauen und Männern. Sich einen einzelnen Mann als Verfasser vorzustellen, kann in die Irre führen.“161 Praktisch sieht sie sich zu freien Einfügungen in den Text ermächtigt, z.B. Mt 3,9: „Kinder für Abraham und Sara“, oder auch zu zweifelhaften Übersetzungen, z.B. „die heilige Geistkraft“ 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161

Fiedler, 20. Fiedler, 22. Fiedler, 33ff. Beispiele: Fiedler, 128.151.160.162. Fiedler, 19. BigS, 1835. BigS, 1836. A.a.O. A.a.O. A.a.O.

VIII. Zur Geschichte der Auslegung

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für πνεῦμα ἅγιον [ pneuma hagion] Mt 1,18.20; 3,16. Schwerwiegender ist, dass es für sie nur eben „Menschen“ sind, „die in diesen Texten zu Wort kommen“,162 aber Gottes Reden weithin zurücktritt. Einen wirkungsgeschichtlichen Akzent setzt Ulrich Luz. Im zweiten Teilband seines vierbändigen Kommentars, der 1985 begonnen wurde, nahm er 1989 die Gelegenheit wahr, auf die hermeneutischen Grundlagen einzugehen. Zusammen mit seiner Presidential Address für den Jahreskongress der Studiorum Novi Testamenti Societas 1997, die Marius Reiser ausführlich gewürdigt hat,163 gibt dies folgendes Bild: „Was meine Absicht war und ist, kommt vor allem bei der Wirkungsgeschichte heraus.“164 Das Wort des NT steht in einer lebendigen Kommunikation mit uns. Man könnte sagen: der „garstige Graben“ Lessings wird durch die wirkungsgeschichtliche Lektüre des NT überwunden. Wir selbst, „mit unserem ganzen Leben, Glauben und Unglauben“, sollen uns in die biblischen Texte „hineinbegeben“. Dann entdecken wir in ihnen „unseren eigenen Sinn“.165 Der Fortschritt gegenüber einem distanziert-akademischen Umgang mit den Texten, der von der Frage dominiert war: „Was sollte der Text den damaligen Lesern sagen?“, ist frappant. Dennoch behält die soeben erwähnte Frage ihre Bedeutung. Luz versucht, ihr dadurch gerecht zu werden, dass er immer wieder nach dem „Richtungssinn der Texte“ fragt, und kommt schließlich zu dem Ergebnis: „Beides, der Richtungssinn der Texte und die Freiheit zum Neuen … sind konstitutiv für unser heutiges Verstehen.“166 Die Grundstruktur des Verstehens ist dialogisch. Wir treten ein in eine „Gesprächsgemeinschaft über die Bibel“.167 Aber ist „Gesprächsgemeinschaft“/Dialog das Ziel des Matthäus? Und nicht viel mehr die permanente Autorität der Worte Jesu (Mt 24,35)? Hier klafft in der wirkungsgeschichtlichen Exegese von Luz am Ende ein riesiges Loch. Sie bleibt jedoch eine Herausforderung für die Gegenwart. Reiser nennt Luz den „Verfasser des bedeutendsten Matthäus-Kommentars des 20. Jahrhunderts“,168 Stuhlmacher spricht von „seinem monumentalen Matthäuskommentar“.169 Altliberale Textauffassungen dauern daneben fort. Ein Beispiel dafür ist der fast zeitgleich mit Luz’ erstem Band erschienene Kommentar von Francis Wright Beare (1981). Nach Beare (Professor am Trinity College in Toronto) 162 163 164 165 166 167 168 169

A.a.O. In: Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift, WUNT, 217, 2007, 39ff. Luz II VII. Luz II VIII. A.a.O. Vgl. Reiser, 56ff. Reiser, 39. Stuhlmacher II, 151.

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A. Einleitung

wurde das Matthäusevangelium um 100 n.Chr. publiziert („around the turn of the first century“).170 Es beruht völlig auf dem Aufriss des Markus, ist von ihm abhängig, allerdings ergänzt durch Q.171 Wie Bultmann in seiner Geschichte der synoptischen Tradition (1. Aufl. 1921) geht Beare davon aus, dass eine Reihe von Szenen des Evangeliums künstlich konstruiert wurde, um Worte Jesu zu beleuchten.172 Der Autor des Evangeliums ist unbekannt.173 Insgesamt warnt Beare davor, das Matthäusevangelium als „strict historical documentation“ zu betrachten.174 Ganz negativ wird die matthäische Christologie bewertet: Der Christus des Matthäusevangeliums sei „on the whole a terrifying figure“.175 Schließlich erscheint das ganze Matthäusevangelium bei Beare in einem ziemlich düsteren Licht. Legalismus und Freudlosigkeit hätten bei Matthäus ihre Wurzeln, man finde hier kein „Evangelium der Gnade“,176 mit einem Wort: Sein Einfluss „has not been entirely for good“.177 Einen ganz aufs Historische konzentrierten Akzent setzen Gerd Theißen und Annette Merz in ihrem Lehrbuch „Der historische Jesus“, in 4. Auflage 2011 erschienen. Ihr Buch „will wissenschaftliche Jesusforschung vermitteln“.178 Es handelt sich also nicht um einen Kommentar, wohl aber nehmen die synoptischen Evangelien einen prominenten Platz ein. Insofern ist dieses Lehrbuch auch ein Beitrag zur Matthäusauslegung. Seinen Ansatz könnte man als „historisch“ bezeichnen. Dem, was wirklich „historisch“ ist, nähern sich die Verfasser mithilfe eines „historischen Plausibilitätskriteriums“: „Was im jüdischen Kontext plausibel ist und die Entstehung des Urchristentums verständlich macht, dürfte historisch sein.“179 Zweifellos bedeutet dieser Ansatz eine Aufweitung gegenüber der Enge einer dialektischen Theologie, die sich zum Teil mit dem puren „Dass“ des Gekommenseins Jesu begnügte.180 Der Aufweitung an dieser Stelle, die dem Evangelium weit mehr historische Aussagen entnehmen kann als eine dialektische Engführung erlaubte, stehen nun aber erhebliche Einschränkungen gegenüber. In Abhängigkeit von den Prinzipien, die Ernst Troeltsch (1865–1923) rund hundert Jahre zuvor formuliert 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Beare, 44. Beare, 15.45.46ff.7. Beare, 14f. Beare, 9. Beare, 15. Beare, VIII. A.a.O. A.a.O. Theißen-Merz, 5. Theißen-Merz, 29. Vgl. Theißen-Merz, 25.

VIII. Zur Geschichte der Auslegung

43

hatte, fordern die Autoren in einer „Hermeneutischen Reflexion“, alles müsse „im Lichte eines historischen Relativismus gedeutet werden, der weiß: alles steht in Korrelation mit anderem; alles hat Analogien“.181 Sie nennen ihr Bestreben das einer „historischen Imagination“.182 Letztere wird der sog. „religiösen Imagination“, der es „um Zugang zu Gott“ gehe,183 scharf entgegengesetzt. Würde der Ausleger dieser Aufspaltung folgen, dann stünde er sofort vor der Frage, wie er von der historischen zur religiösen Imagination hinüberkommt. Mehr noch: Was soll er tun, wenn sich beides als Gegensatz erweist? Und schließlich: Wie soll das Evangelium, in unserem Fall: das Matthäusevangelium, das von der Kirche aller Zeiten als gleichzeitig inspiriert und geschichtlich betrachtet wurde, nun am Ende ausgelegt werden? So geben Theißen-Merz einen wichtigen Beitrag zur Evangelienforschung, lassen aber viele Fragen unbeantwortet. Ihre historischen Annahmen bezüglich des Matthäusevangeliums sind eher kritisch-konventionell: Es sei „in den 80er-, spätestens 90er-Jahren“ entstanden, vermutlich in Syrien, ihm lägen das Markusevangelium, Q und ein Sondergut zugrunde, der Aufriss folge Markus, der Autor sei unbekannt.184 Auch Martin Hengel arbeitete leidenschaftlich historisch. Dennoch ist sein Akzent ein anderer als bei Theißen und Merz. Bei Hengel begegnet eine im deutschen Sprachraum erstaunliche Offenheit des Historikers, der zugleich Theologe bleiben will. Noch sein letztes großes Werk, „Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus“ (2008; unveränderte Studienausgabe 2011), lässt in seinem Postscriptum erkennen, dass Hengel selbst seine Entwicklung noch nicht am Ziel wähnte. Von Theißen-Merz unterscheidet ihn zunächst das Bewusstsein von der Problematik der historischen Methoden. Seine Thesen über „Historische Methoden und theologische Auslegung des Neuen Testaments“, erstmals veröffentlicht in Kerygma und Dogma (19, 1973, 85-90), hat er 1979 in Zur urchristlichen Geschichtsschreibung noch einmal vorgelegt (S. 107ff ). Hier wendet er sich explizit gegen die Prinzipien, die Ernst Troeltsch für die historische Untersuchung des NT verpflichtend machen wollte. Hengel stellt der „Allmacht der Analogie“ prononciert die „Möglichkeit ‚analogielosen Geschehens‘ gegenüber, die der Neutestamentler zulassen muss“.185 Für die Wunderdeutung in Matthäus bedeutet dies eine neue Freiheit. Sachlich und begrifflich muss man freilich zwischen 181 182 183 184 185

Theißen-Merz, 31. A.a.O. A.a.O. Theißen-Merz, 45ff. Hengel Gesch, 107f (Thesen 1.2.5; 1.2.7).

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A. Einleitung

theologischem Urteil und historischem Urteil unterscheiden.186 Nur dem Ersteren kommt volle Gewissheit zu. Typisch für Hengel ist dann die Forderung, dass gerade eine „Exegese, die aus einem glaubenden Vorverständnis heraus geschieht“, sich „mit besonderer Sorgfalt und Akribie sämtlicher zur Verfügung stehender historischer Methoden bedienen“ soll.187 Hengel plädiert dabei für eine „angemessene Methodenvielfalt“ und wehrt sich gegen die „Redeweise von der [Einzahl!] historisch-kritischen Methode“.188 So will er die „radikale historische Skepsis“ überwinden.189 Und Matthäus? Eine wesentliche Aufweitung der im 20. Jh. dominierenden Arbeitsweise geschieht allein schon dadurch, dass Hengel der Patristik einen für protestantische Verhältnisse ziemlich hohen Rang einräumt.190 Für ihn sind die Angaben und Auslegungen der frühen Christen zunächst einmal schätzenswerte Quellen. Dennoch zieht er Markus eindeutig dem Matthäus vor. Das Matthäusevangelium ist erst „am zeitlichen Ausgang des Neuen Testaments“,191 „zwischen 90 und 100 n.Chr.“192 entstanden. Sein Autor ist „ein unbekannter christlicher Schriftgelehrter“,193 „im südlichen Syrien oder am Rande des jüdischen Palästinas“ wirkend.194 Des Öfteren hat dieser Autor „legendäre Ausgestaltung(en)“ eingefügt.195 Treten uns hier auch die häufig anzutreffenden kritischen Urteile entgegen, so nimmt bei Hengel doch der „Zweifel an der klassischen ‚Zwei-Quellen-Hypothese‘“ immer mehr zu.196 Am Ende lehnt er sie praktisch ab.197 Insgesamt kann man den spezifischen Akzent, den Hengel setzt, als einen „kritisch-konservativen“ bezeichnen. Die angelsächsische Literatur weist eine Fülle von Beiträgen zur Matthäusforschung auf.198 Sie ist auch reich an Kommentaren, die in den letzten 30 Jahren in mehreren Reihen erschienen sind. Nur wenige Beispiele seien er186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198

A.a.O., 109 (These 2.4.3). Hengel Gesch, 113 (These 4.4.4). A.a.O., 108.107 (Thesen 2.1.2; 1.1). A.a.O., 9. Siehe Hengel Evglien, Vorwort und passim. Hengel-Schwemer, 234. Hengel Evglien, 170.337. Hengel-Schwemer, 233; Evglien, 171. Hengel Evglien, 349. A.a.O., 150; Hengel-Schwemer, 235. Vgl. Hengel Evglien, VII. A.a.O., 350ff. Dasselbe gilt natürlich auch für die französische (P. Bonnard und andere) wie für die skandinavische (K. Stendahl und andere) Literatur. Der begrenzte Umfang dieses Kommentars wehrt einer ausführlicheren Darstellung.

VIII. Zur Geschichte der Auslegung

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wähnt: R.H. Gundry (1982), D.A. Carson (1984), R.T. France (1985), W.D. Davies / D.C. Allison (1988/1989), C.L. Blomberg (1992), C.S. Keener (1997), J. Nolland (2005), W. Hendriksen (2007), D.L. Turner (2008). Zwei von ihnen, die als typisch gelten können für ganze Forschungsbereiche, seien hier hervorgehoben. Der eine ist der zweibändige Kommentar von W.D. Davies und D.C. Allison aus den Jahren 1988 und 1991, erschienen im International Critical Commentary. Die Reihe besagt es schon, dass dieser Kommentar bewusst historisch-kritisch gearbeitet ist. Er stellt meines Erachtens einen Höhepunkt englischer Exegese dar. In der Fülle des Materials steht er dem Kommentar von Ulrich Luz kaum nach. Er ist aber weniger subjektiv, im Ganzen besser abwägend und im pragmatischen, problembewussten Umgang mit der historischen Kritik oftmals überzeugender. Ich muss gestehen, dass ich ihn niemals ohne Gewinn benutzt habe. Der andere, auf den wir besonders hinweisen möchten, ist der Kommentar von Don A. Carson aus dem Jahre 1984, erschienen in The Expositor’s Bible Commentary. In Volume 8 dieser Reihe, die Matthäus, Markus und Lukas enthält, füllt Carsons Kommentar allein 600 Seiten, während die durchaus ansehnlichen Kommentare zu Markus (W.W. Wessel) und Lukas (W.L. Liefeld) zusammen nur 460 Seiten in Anspruch nehmen. Den Herausgeber veranlasste dies zu einer eigenen Erklärung, die mit Recht davon ausgeht, dass sich alle synoptischen Probleme schon bei Matthäus schürzen.199 In der Tat ist Carsons Auslegung so etwas wie das Grundmodell für die gesamte Evangelienexegese der Reihe. The Expositor’s Bible Commentary hinwiederum steht in der besten Tradition des nordamerikanischen Evangelikalismus: Wahrnehmung aller geschichtlichen Probleme und gleichzeitig als „scholarly evangelicalism committed to the divine inspiration, complete trustworthiness, and full authority of the Bible“.200 Carson hat sich in diesem Rahmen eine erstaunlich frische Herangehensweise, eine unverwechselbare Originalität und intellektuelle Unabhängigkeit bewahrt. Immer wieder kamen wir in unserem Kommentar, der doch in einer eigenen Tradition steht, nämlich einer biblischhistorischen und pietistischen, zu denselben oder zu ähnlichen Ergebnissen wie Carson. Schade, dass Carson in der deutschen Exegese wenig herangezogen wird. Wenn es erlaubt ist, am Schluss dieser auslegungsgeschichtlichen Skizze noch einige Desiderate für künftige Auslegungen zu formulieren, dann möch199 Vol. 8 in EBC, VI. 200 A.a.O., VII.

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A. Einleitung

te ich wenigstens drei nennen: Erstens müsste die Exegese der orthodoxen und orientalischen Kirchen, die heute fast ganz fehlt, einbezogen werden;201 zweitens müsste die patristische Exegese und die frühere Exegese ganz allgemein noch stärker berücksichtigt werden;202 drittens müssten die Auslegungen des Pietismus und der Erweckungsbewegungen, die doch Erhebliches zum christlichen Bewusstsein beigetragen haben, einen besseren Platz im Dialog der Ausleger bekommen. Hier ist noch manches zu tun.

201 Nachdrücklich sei hier auf die Dissertation von Cosmin Daniel Pricop hingewiesen. 202 In dem Bestreben, dies zu verwirklichen, hat der Kommentar von Luz eine seiner größten Stärken.

Überschrift, 1,1

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B. Auslegung

I. Frühzeit, 1,1–9,38

Überschrift, 1,1 I Übersetzung 1 Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.

II Struktur Mt 1,1 ist klar abgesetzt von V. 2ff, die von dem Rhythmus „X ἐγέννησεν [egennēsen] Y“ beherrscht sind. Die artikellose Formulierung der acht Worte des griechischen Textes erinnert an andere Überschriften, so an Offb 1,1 im NT und Gen 5,1 im AT (LXX). Die Parallelen legen es nahe, auch Mt 1,1 als Überschrift zu verstehen. Die Frage erhebt sich, wofür dieser erste Vers als Überschrift dienen soll: Für den sogenannten Stammbaum der V. 2-17? Die Stichwortaufnahme Ἀβραάμ – ἐγέννησεν [Abraam – egennēsen] könnte dafürsprechen. Oder für die Darstellung der Geburt in Kap.1 bzw. für Kap.1 und 2 insgesamt? Oder doch für das ganze Evangelium? Die Lage ist so komplex, dass die NGÜ für die ersten beiden Wörter von Mt 1,1 sechs Übersetzungen nebeneinander anbietet: 1) „Verzeichnis der Vorfahren“, 2) „Bericht von der Geburt“, 3) „Bericht über das Leben“, 4) „Buch der Abstammung“, 5) „Buch des Ursprungs“, 6) „Buch des Werdens“. Eine genauere Abklärung kann nur die Einzelexegese bringen.

III Einzelexegese Jeder Begriff verdient hier sorgfältige Prüfung: Buch (βίβλος [biblos]) – Christus (Χριστός [Christos]) – Sohn Davids (υἱὸς Δαυίδ [hyios Dauid]) – Sohn Abrahams (υἱὸς Ἀβραάμ [hyios Abraam]) und besonders Geschichte (?, γένεσις [genesis]). Beachtung verdient aber auch, was fehlt: Es fehlt in Mt 1,1 der Begriff

48

Überschrift, 1,1

„Evangelium“. Das ist umso erstaunlicher, als Markus seine Schrift ausdrücklich mit diesem Wort eröffnet: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ (Mk 1,1). Hätte Matthäus den Markus als Vorlage benutzt, wie viele Ausleger annehmen, dann wäre es unverständlich, weshalb er ausgerechnet den Begriff „Evangelium“ (εὐαγγέλιον [euangelion]) vermieden haben sollte, den er doch sonst gerne gebraucht (4,23; 9,35; 24,14; 26,13). Andererseits zeigen Joh 20,30 und 21,25, dass Johannes sein Evangelium ebenfalls als Buch verstand. Mit dem ersten Wort, Buch (βίβλος [biblos]), führt uns Matthäus in die uralte Schriftkultur des Orients. Seit dem 4. Jt. v.Chr. gibt es eine Schrift im Zweistromland, wenig später entwickelt sich die Hieroglyphenschrift in Ägypten. Israel stellt in dieser Geschichte der Schrift und der schriftlichen Werke einen ausgesprochenen Spätling dar. Der hebräische Begriff für Buch, ‫[ ֵסֶפר‬s̀ ephär], kann den Brief (z.B. Dtn 24,1ff; Jer 32,10ff ), die Aufzeichnung in den Annalen (z.B. Est 2,23; Neh 12,23), die Geschichtsaufzeichnung, auch in Form von Registern (z.B. Gen 5,1; Ex 17,14; Num 21,14; Jos 10,13; 2Sam 1,18), vor allem aber auch die religiöse Schrift und speziell ein alttestamentliches Buch bezeichnen (vgl. Jes 30,8ff; Jer 36,4ff; Dan 9,2; Dtn 28,58; 31,24; Jos 1,8; 24,26; 2Kön 14,6; Neh 8,18; 9,3).1 Das griechische Äquivalent βίβλος [biblos] oder βιβλίον [biblion]2 wird im Umkreis von Judentum und Christentum ebenfalls häufig für biblische Bücher oder religiöse Schriften benutzt. „Die Heiligen Schriften“, αἱ ἱεραὶ βίβλοι [hai hierai bibloi], begegnet „bei Josephus und Philo unzählige Male“ als Bezeichnung des AT.3 Mit der solennen Wendung Buch der Geschichte Jesu Christi begibt sich Matthäus offensichtlich in diesen Kreis religiöser Schriften, die ernsthafte Beachtung verlangen. Es muss sogar von Anfang an damit gerechnet werden, dass er so etwas wie eine „heilige Schrift“ vorlegen will.4 Übrigens haben auch die Qumran-Essener die für sie verbindlichen Gemeinschaftsschriften ‫[ ֵסֶפר‬s̀ ephär] (Buch) genannt (1QSa 1,7; CD 10,6; 13,2; 16,3; 1QM 15,5).5 Sehr viel schwieriger ist der zweite Begriff in Mt 1,1, γένεσις [genesis], zu bestimmen. Die heute gebräuchlichen deutschen Bibelübersetzungen bieten als Übersetzung für γένεσις [genesis] beispielsweise „Geschlecht“6, „UrVgl. F.L. Hossfeld / E. Reuter, Art. ‫ֵסֶפר‬, ThWAT, V, 1986, 935ff. Sachlich ist hier kein Unterschied: G. Schrenk, Art. βίβλος usw., ThWNT, I, 1933, 614. Schrenk a.a.O. Vgl. dazu wieder Schrenk a.a.O. 615. Vgl. Hossfeld/Reuter 944. Die Übersetzung der NGÜ „Verzeichnis der Vorfahren“ ist demgegenüber leider unglücklich, ebenso die Übersetzung „Stammbaum“ (Neue Jerusalemer Bibel; Einheitsübersetzung; Benedikt-Bibel). 6 Revidierte Elberfelder Bibel. 1 2 3 4 5

Überschrift, 1,1

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sprung“7, „Vorfahren“8, „Geschichte“9 oder ziehen βίβλος [biblos] und γενέσεως [geneseōs] zusammen als „Stammbaum“10. Das Wörterbuch von BauerAland nennt für γένεσις [genesis] folgende Bedeutungen: „Entstehung“, „Ursprung“, „Abkunft“, „Geburt“, „Dasein“, „Werden“, „Lebenslauf “.11 Hinter γένεσις [genesis] steht als hebräisches Äquivalent ‫[ תּוְֹלד ֹת‬tōlᵉdot]. Das ergibt sich aus Stellen wie z.B. Gen 2,4 oder 5,1. Für ‫[ תּוְֹלד ֹת‬tōlᵉdot] schlägt J. Schreiner im ThWAT12 die Übersetzung „Stammbaumgeschichte“ vor. Wichtig ist sein Hinweis, dass die Genealogien des AT „eine Möglichkeit“ sind, „Geschichte darzustellen“.13 Schreiner zufolge gebrauchen die Qumranschriften ‫[ תּוְֹלד ֹת‬tōlᵉdot] vorwiegend für menschliche Geschlechter (1QS III,13; IV,15; CD IV,5; 1QM III,14; V,1; X,14), in 1QS III,19 aber auch für „Ursprung“.14 Interessanterweise übersetzt Johann Maier ‫[ תּוְֹלד ֹת‬tōlᵉdot] in 1QS III,13 nicht mit „Geschlechter“, sondern mit „Herkunft“ und deutet in einer Fußnote diesen Begriff als „Wesensbestimmtheit“.15 In den Anmerkungen macht er darauf aufmerksam, dass G. Scholem, R. Marcus und A. Dupont-Sommer an dieser Stelle ‫[ תּוְֹלד ֹת‬tōlᵉdot] mit „Natur“ übersetzen.16 Wir haben also in Qumran ein ähnliches philologisches Problem vor uns wie in Mt 1,1. Die Situation wird noch komplizierter, wenn wir uns dem Gebrauch von γένεσις [genesis] im übrigen NT zuwenden. In Mt 1,18 und Lk 1,14 legt sich die Übersetzung „Geburt“ nahe.17 Wie Matthäus benutzt auch Jakobus zwei Mal den Begriff γένεσις [genesis] (1,23; 3,6). In Jak 1,23 kann γένεσις [genesis] zur Not ebenfalls mit „Geburt“ übersetzt werden, besser ist aber die Übersetzung „sein natürliches Gesicht“ für πρόσωπον τῆς γενέσεως αὐτοῦ [ prosōpon tēs geneseōs autou].18 In Jak 3,6 dagegen passt die Bedeutung „Geburt“ für γένεσις [genesis] nicht mehr.19 τροχὸς τῆς γενέσεως [trochos

7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

BigS. NGÜ. Lutherbibel. Einheitsübersetzung; Neue Jerusalemer Bibel; Benedikt-Bibel. Bauer-Aland, 309f. Im Art. ‫ילד‬, ThWAT, III, 1982, 637. A.a.O. Schreiner a.a.O. 639. J. Maier I 25. J. Maier II 19. Bauer-Aland, 309. Maier Jak 96f. Vgl. F. Büchsel, Art. γίνομαι usw., ThWNT, I, 1933, 681f. Vgl. Büchsel a.a.O. 682f.

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Überschrift, 1,1

tēs geneseōs] wird hier am besten mit „Rad der Geschichte“ wiedergegeben20 oder auch mit „Rad des Lebens“.21 So stehen uns für γένεσις [genesis] zahlreiche Übersetzungsmöglichkeiten zur Verfügung: vom alttestamentlichen ‫[ תּוְֹלד ֹת‬tōlᵉdot] her „Stammesgeschichte“, „Ursprung“, „Geschlechter“, „Geschlechtsfolge“, „Geschlechtsgeschichte“22, von Qumran her neben „Herkunft“ auch „Wesensbestimmtheit“ und „Natur“, vom NT her „Geburt“, „Geschichte“,23 „Leben“, „Entstehung“, „Dasein“. Welche dieser Möglichkeiten man wählt, hängt stark von der Sicht des Kontextes und strukturellen Überlegungen ab. Betrachtet man Mt 1,1 als Überschrift lediglich zu V. 2-17, dann liegen Übersetzungen wie „Herkunft“, „Ursprung“ oder „Geschlecht“ nahe.24 Die Autoren im ThWNT empfehlen eine solche Beschränkung auf V. 2-17.25 Betrachtet man Mt 1,1 als Überschrift zu den sogenannten Kindheitsgeschichten Mt 1,2–2,23, dann kann man am ehesten „Geschlechtsgeschichte“, „Geburt“, „Ursprung“ oder „Herkunft“ in Erwägung ziehen.26 Sieht man aber in Mt 1,1 die Überschrift zum ganzen Evangelienbuch des Mt, dann muss man weiter ausgreifen und sich für „Ursprung/Ursprungsgeschichte“ im weitesten Sinne als Entstehung der messianischen Jesus-Gemeinde oder für „Geschichte“ o.ä. entscheiden. Dass eine so gewichtige und theologisch geladene Überschrift wie Mt 1,1 nur für die Verse 2-17 gedacht sein sollte, erscheint uns wenig wahrscheinlich. Dagegen spricht auch die Beobachtung, „daß im Verlauf des Buches keine weitere Kapitelüberschrift folgt“.27 Außerdem sind die biblischen Genealogien in der Regel so aufgebaut, dass dem Stammvater die Abkömmlinge folgen und dann eben die ‫[ תּוְֹלד ֹת‬tōlᵉdot] / γένεσις [genesis] des Stammvaters geschildert wird und nicht die γένεσις [genesis] eines seiner Abkömmlinge. Mt 1,1 müsste dementsprechend lauten: Αὕτη ἡ βίβλος γενέσεως Ἀβραάμ [Hautē hē biblos geneseōs Abraam] (vgl. Gen 5,1; 10,1; 11,10.27; 25,12.19; 36,1.9; Num 3,1; Ruth 4,18; 1Chron 1,29).28 Und wenn Matthäus nur die Verse 2-17 hätte einleiten wollen, weshalb nahm er dann nicht die Worte Τοῦ δὲ Ἰησοῦ Χριστοῦ ἡ γένεσις οὕτως ἦν [Tou de Iēsou Christou hē genesis houtōs ēn] (V. 18) als Überschrift? Kurz20 21 22 23 24 25 26 27 28

Maier Jak 154f. So Büchsel a.a.O. 682. Bauer-Aland, 310: „Lebenslauf “. Vgl. neben Schreiner a.a.O. 637ff noch Gesenius 873. Aber auch alttestamentlich möglich, vgl. Gen 6,9; 37,2 (Schniewind 9). So Fiedler a.a.O.; France 73. G. Schrenk a.a.O. 615; F. Büchsel a.a.O. 682. Ebenso Tasker 31; Fiedler 39. So Blomberg 52; Luz I 88 (Überschrift zu Mt 1); France 73; Carson 61. Zahn 39. Vgl. Zahn 41ff.

Überschrift, 1,1

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um: Obwohl die Entscheidung bei dem γένεσις [genesis] von Mt 1,1 nicht leichtfällt, scheint die Übersetzung mit Geschichte immer noch die relativ beste zu sein.29 Die Worte Ἰησοῦ Χριστοῦ [Iēsou Christou] sind das dritte Element der Überschrift, dem sich unsere Aufmerksamkeit zuwenden muss. Wie bei Jakobus (1,1; 2,1) ist Jesus Christus schon als Eigenname etabliert.30 Allerdings blieb dem Begriff Christus immer noch gleichzeitig die Identitätsaussage „Messias“/„Gesalbter“ erhalten. Es verdient Beachtung, dass Matthäus nicht formuliert Ἰησοῦ τοῦ Χριστοῦ [Iēsou tou Christou] („Jesu, des Christus“).31 Denn gerade die Weglassung des Artikels verscheucht jeden Gedanken, als ob Jesus etwa nicht der Christus wäre, und steht insofern in einem Gegensatz zu dem ὁ λεγόμενος χριστός [ho legomenos christos] in Mt 27,17 (vgl. Joh 19,21). Jesus, griech. Ἰησοῦς [Iēsous], hebr. ‫ [ י ֵשׁוַּע‬jeschūaʿ] (Jeschua) für das ausführlichere ‫ [ י ְהוֹשׁוַּע‬jᵉhōschūaʿ] (Josua), abgeleitet von der Wurzel ‫ישע‬ [ jschʿ] = „retten“, „helfen“, auf deutsch „Gott (Jahwe) hilft/rettet“, war ein häufiger Name im AT und im Judentum. Einige Beispiele: Josua (= ‫יְהוֹשׁוַּע‬ [ jᵉhōschūaʿ]), der Nachfolger Moses; der Hohepriester Jeschua (= ‫ [ יֵשׁוַּע‬jeschūaʿ]) oder Josua in Sach 3,1ff; der Josua von 1Sam 6,14; ein Vorfahr Jesu in Lk 3,29; Jesus Barabbas (Mt 27,16); Jesus Justus in Kol 4,11. Jesus ist der Name, den ihm seine menschlichen Eltern nach dem Befehl Gottes verliehen (Mt 1,25; Lk 1,31). Seltsamerweise bleibt ihm dieser menschliche Name nach der Offenbarung in alle Ewigkeit (Offb 22,16.20.21). Leider wird der Name Jesus heute im nordatlantischen Raum oft an den Rand gedrängt, vor allem im Gebet. Christus, Χριστός [Christos], der zweite Bestandteil des Namens Jesus Christus, abgeleitet von χρίω [chriō], „salben“, bezeichnet den „Gesalbten“, hebr. ‫שׁיַח‬ ִ ‫[ ָמ‬māschīach], in speziellem Sinne den „Messias“ (vgl. Joh 1,41; 4,25). „Gesalbter“ konnte zunächst im AT ein König oder Fürst (1Sam 16,3ff ) oder ein Priester (Ex 29,7ff; Lev 4,3ff ) oder ein Prophet (1Kön 19,16) heißen.32 Auch für ausländische Könige wurde dieses Wort benutzt (Jes 45,1). Als Könige und Propheten in Israel aufhörten (6. bzw. 5. Jh. v.Chr.), konnte sich ‫שׁיַח‬ ִ ‫[ ָמ‬māschīach] / χριστός [christos] allmählich zu einem speziellen Terminus für den Messias der Endzeit entwickeln (vgl. die messianische Lesung 29 Zahn 41 beruft sich dafür auch auf Chrysostomus. Wie wir Zahn 39ff; Lutherbibel; Schniewind 9; Beare 64; Luck 19. Auch Schlatter 5 sieht in Mt 1,1 die Überschrift zum ganzen Matthäusevangelium, übersetzt allerdings „Buch vom Ursprung“, erzählt sei aber „die Geschichte Jesu“. 30 Vgl. Luz a.a.O.; Fiedler 39. 31 Schlatters Übersetzung (a.a.O.) „Jesu des Christus“ droht dies zu verwischen. 32 Vgl. hier und im Folgenden K. Seybold, Art. ‫שׁח‬ ַ ‫ָמ‬, ThWAT, V, 1986, 46ff; W. Grundmann / F. Hesse / M. de Jonge / A.S. van der Woude, Art. χρίω usw., ThWNT, IX, 1973, 482ff.

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Überschrift, 1,1

von Ps 2,2ff; Dan 9,24ff; Sach 4,14). Ein solcher spezieller Sprachgebrauch lässt sich ausgiebig in Qumran beobachten.33 K. Seybold hält 1QSa 2,12 „möglicherweise“ für den ältesten Beleg für ein absolutes ‫שׁיַח‬ ִ ‫[ ַה ָמּ‬hammā34 schīach]. Aber diese Entwicklung ist doch relativ spät. Weshalb die frühen Christen sich so stark auf die Bezeichnung χριστός [christos] (Christus) konzentrierten und nicht etwa auf „Sohn Davids“ oder „Menschensohn“ oder „Sōtēr“ (Retter) usw., können wir nicht mehr mit Sicherheit sagen. Ihr Sprachgebrauch war aber für Juden und Heiden so auffallend, dass man sie bald „Χριστιανοί“ [Christianoi], „Christianer“ bzw. „Christen“ nannte (Apg 11,26; 26,28; 1Petr 4,16). Die Christen übernahmen dies als Selbstbezeichnung. Zum frühchristlichen Sprachgebrauch bei Ignatius, Polykarp, der Didache, dem Barnabasbrief usw. vgl. Walter Grundmann im ThWNT.35 In der Sache allerdings haben Autoren wie Reinhold Mayer darauf hingewiesen, dass Jesus keineswegs der einzige Messias ist, den die jüdische Geschichte kennt. Gerade weil der Messias die zentrale Heilsgestalt der Endzeit sein sollte, nahmen viele diese Rolle in Anspruch. So einige Aufstandsführer im ersten jüdisch-römischen Krieg (66–73 n.Chr.), vor allem Simon bar Giora36 oder Bar Kochba, der „Sternensohn“ (Num 24,17), während des zweiten jüdisch-römischen Krieges (132–135 n.Chr.),37 und noch viel später Schabbtai Zwi aus Smyrna (1626–1676).38 Jesus selbst hat auf dieses Phänomen hingewiesen (Mt 24,5.24; Joh 10,1ff ). In der jüngeren Theologiegeschichte wird die Frage diskutiert, ob Jesus der einzige Messias ist oder ob es noch „andere Messiasse gibt“.39 Für Matthäus dagegen ist ganz klar, dass nur einer als Messias/Christus infrage kommt: der Jesus, von dem er schreibt. Das bestätigt sich jetzt bei den übrigen Teilen der Überschrift. Zunächst nennt Matthäus Jesus Christus den Sohn Davids (υἱὸς Δαυίδ [hyios Dauid]). Sohn von … braucht also keine unmittelbare Abstammung auszudrücken, sondern kann die Herkunft von irgendeinem Vorfahren über viele Generationen zurück bezeichnen. Sohn Davids geht aber weit über das Genealogische hinaus. Es nimmt nämlich Bezug auf die biblischen Verheißungen, die einem sehnsüchtig erwarteten Erlöser aus Davids Stamm in der Endzeit gelten. Vgl. 2Sam 7,12ff; Ps 2,7; 89,27ff; Jes 9,5f; 11,1ff; Lk 1,32; Hebr 1,5ff. Kurz ge33 34 35 36 37 38 39

Seybold a.a.O. 58f. A.a.O. 59. A.a.O. 570ff. Mayer 67ff. Vgl. Mayer 86ff. Vgl. Mayer 149ff. So Paul F. Knitter. Nochmals die Absolutheitsfrage, EvTh, 49, 1989, 514; derselbe, EK, 10, 1990, 606ff.

Überschrift, 1,1

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sagt: Sohn Davids ist eine Bezeichnung für den Messias Israels. Dieser Titel wird jedenfalls von den pharisäischen Psalmen Salomonis in der Mitte des 1. Jh. v.Chr. für den Messias benutzt.40 In Qumran findet sich das sachlich äquivalente „Spross Davids“ (vgl. 4QFlor I,11ff; 4QpJesa IV,1ff ). Seit dem 1. Jh. n.Chr. sprechen die Rabbinen „durchgehend“ vom Messias als dem Sohn Davids (z.B. b Sanh 97a–98b).41 Ähnliche Begriffe treffen wir in den Gebeten Israels.42 Was nun das NT angeht, so kann man feststellen, dass unter allen Evangelien Matthäus am häufigsten vom Sohn Davids spricht. In der Literatur wird deutlich gesehen, dass Matthäus auf die Davidssohnschaft Jesu deshalb besonders Wert legt, „weil er mit dem Hinweis auf sie der Synagoge gegenüber begründen kann, daß Jesus der Messias Israels ist“.43 Dem Sohn Davids folgt als letzte Bezeichnung Jesu in der Überschrift, dass er der Sohn Abrahams (υἱὸς Ἀβραάμ [hyios Abraam]) ist.44 Im Unterschied zu Sohn Davids ist Sohn Abrahams keine Messiasbezeichnung.45 Aber Abraham hat für den jüdischen Glauben zentrale Bedeutung. Denn Abraham wurde von Gott erwählt, empfing die größten Verheißungen für sich und seine Nachkommen (Gen 12,1–25,11) und ist zu Israels Stammvater geworden (vgl. Jes 63,16). Gott und den Menschen gegenüber berief sich Israel auf seine Abrahamskindschaft (vgl. 3Makk 6,3; Ps Sal 9,9; 18,3; Sir 44,20ff; Mt 3,9; Lk 13,16; 19,9; Joh 8,33ff ).46 Nun sind allerdings die Abrahamsverheißungen nicht nur Partikularverheißungen für Israel, sondern zugleich auch Universalverheißungen für das Heil der ganzen Welt. Man denke an Gen 12,3: „in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“, oder an Gen 22,18: „durch dein Geschlecht sollen alle Völker gesegnet werden“. Mit der Feststellung, dass Jesus Abrahams Sohn und Erbe ist, bereitet Matthäus also schon den Befehl zur Weltmission in Mt 28,19f vor. Diese universale Bedeutung der Abrahams-Gestalt dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb Matthäus sie in die Überschrift einfügt.47 Denn das Jude-Sein Jesu war schon durch das Sohn Davids ausreichend zum Ausdruck gebracht.

40 Ps Sal 17,21; vgl. 17,4; E. Lohse, Art. υἱὸς Δαυίδ, ThWNT, VI, 1969, 484; S. HolmNielsen, Die Psalmen Salomos, JSHRZ, IV, 2, 1977, 101. 41 Vgl. Lohse a.a.O. 485. 42 Lohse a.a.O. 43 Lohse a.a.O. 490. 44 Vgl. J. Jeremias Art. Ἀβραάμ, ThWNT, I, 1933, 7f. 45 Beide Bezeichnungen sind Attribute Jesu Christi. So auch Luz a.a.O.; Schniewind a.a.O.; Fiedler a.a.O.; France 73; Carson a.a.O. 46 Anders Carson 62. 47 Zahn 44, Fiedler 40; Carson a.a.O.; Beare 65; Stuhlmacher II 153.

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Überschrift, 1,1

Wenn Matthäus sich mit der auffallenden Wendung βίβλος γενέσεως [biblos geneseōs] bewusst an Gen 5,1 anlehnt, dann muss jenes ‫ֵסֶפר תּוְֹלד ֹת ָאָדם‬ [s̀ ephär tōlᵉdot ʾādām] bzw. βίβλος γενέσεως ἀνθρώπων [biblos geneseōs anthrōpōn] (LXX) für ihn eine Art Kontrapunkt zum „Buch der Geschichte Jesu Christi“ gebildet haben. Dachte er ähnlich wie Paulus in Röm 5,12ff an eine Parallelität Adam/Christus? Oder deutet seine Überschrift an, dass der alten Geschichte der Menschheit nun durch Christus eine neue Geschichte folgt?48 Man darf hier keine sich ausschließenden Alternativen annehmen. Die neutestamentlichen Verfasser dachten in der Regel an eine Mehrzahl von theologischen und geistlichen Bezugssystemen bzw. Deutungsmöglichkeiten.49

IV Zusammenfassung 1. Mt 1,1 ist die Überschrift für das ganze Evangelium. 2. Die relativ beste Übersetzung unter mehreren vertretbaren Möglichkeiten ist „Buch der Geschichte“. 3. Mit dem Titel „Buch der Geschichte Jesu Christi“ schließt sich Matthäus an Gen 5,1 und 2,4 an und macht uns auf diese Weise deutlich, dass er eine „heilige Schrift“ vorlegen will. 4. Jesus ist der Messias schlechthin, das heißt der einzige Messias. Als Davidssohn und Abrahamssohn ist er sowohl der Messias Israels als auch der endzeitliche Erlöser für die ganze Völkerwelt. 5. Der bewusste Anschluss ans AT ist als Werbung für den Messias Jesus im Judentum gedacht.50 Matthäus offenbart also von Anfang an eine judenchristliche Prägung. 6. Die Geschichte Jesu ist im Unterschied zur Geschichte der alten adamitischen Menschheit (Gen 5,1) die neue Geschichte der erlösten Menschheit. Das Matthäusevangelium ist also gleichzeitig judenchristlich bzw. auf Israel bezogen und universal: also im wahren Sinne heilsgeschichtlich.

48 So France a.a.O.; Beare a.a.O. 49 Vgl. Carson 66. 50 Luz I 88 sieht im Titel nur „eine lockere Assoziation an das Alte Testament“.

1. Die Herkunft Jesu, 1,2-17

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Anfänge, 1,2–4,25

1. Die Herkunft Jesu, 1,2-17 I Übersetzung 2 Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. 3 Juda aber zeugte Perez und Serach von der Tamar. Perez aber zeugte Hezron. Hezron aber zeugte Ram. 4 Ram aber zeugte Amminadab. Amminadab aber zeugte Nachschon. Nachschon aber zeugte Salmon. 5 Salmon aber zeugte Boas von der Rahab. Boas aber zeugte Obed von der Rut. Obed aber zeugte Isai. 6 Isai aber zeugte den König David. David aber zeugte Salomo von der Frau des Uria. 7 Salomo aber zeugte Rehabeam. Rehabeam aber zeugte Abija. Abija aber zeugte Asa. 8 Asa aber zeugte Joschafat. Joschafat aber zeugte Joram. Joram aber zeugte Usija. 9 Usija aber zeugte Jotam. Jotam aber zeugte Ahas. Ahas aber zeugte Hiskia. 10 Hiskia aber zeugte Manasse. Manasse aber zeugte Amon. Amon aber zeugte Josia. 11 Josia aber zeugte Jojachin und seine Brüder zur Zeit1 der babylonischen Deportation. 12 Nach der babylonischen Deportation aber zeugte Jojachin Schealtiel. Schealtiel aber zeugte Serubbabel. 13 Serubbabel aber zeugte Abihud. Abihud aber zeugte Eljakim. Eljakim aber zeugte Asor. 14 Asor aber zeugte Zadok. Zadok aber zeugte Achim. Achim aber zeugte Eliud. 15 Eliud aber zeugte Eleasar. Eleasar aber zeugte Mattan. Mattan aber zeugte Jakob. 16 Jakob aber zeugte Josef, den Mann der Maria, von der Jesus geboren wurde, der Christus genannt wird.2 17 Alle Geschlechter nun von Abraham bis David sind vierzehn Geschlechter. Und von David bis zur babylonischen Deportation sind es vierzehn Geschlechter. Und von der babylonischen Deportation bis zum Christus sind es vierzehn Geschlechter.

II Struktur Die Struktur dieses Abschnitts wird zunächst durch das regelmäßige, den modernen Leser monoton anmutende Muster „X zeugte Y“ bestimmt.

1 Vgl. BDR § 234,8. 2 Vgl. BDR § 412,2.

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Anfänge, 1,2–4,25

Auf den zweiten Blick zeigen sich offenbar beabsichtigte Durchbrechungen dieses Musters: a) durch die Erwähnung mehrerer Frauen, b) durch die Einflechtung geschichtlicher Nachrichten in die Genealogie („Brüder“, „König David“, „Zeit der babylonischen Deportation“). Vor allem aber fallen die Verse 16 und 17 aus diesem Muster heraus. Vers 16 widerlegt geradezu den Satz „Josef zeugte Jesus“, und V. 17 enthält eine wichtige Reflexion des Evangelisten über den ganzen Abschnitt. Bis heute bleiben manche Einzelheiten von Mt 1,2-17 strittig. Eine grundsätzliche Frage ist es, weshalb Matthäus sein Evangelium mit dieser Genealogie beginnt. Hat er sich darin Gen 5,1-32 zum Vorbild genommen, eben das alttestamentliche Kapitel, dem er seine Überschrift (vgl. Gen 5,1) verdankt? Auf jeden Fall ist Mt 1,2-17 von der Sprachwelt des AT geprägt. Nicht nur Gen 5,1ff; 11,10ff und andere Partien der Genesis stehen unserm Abschnitt nahe, sondern auch die Chronikbücher, vor allem 1Chron 1–9. Unter den geschichtlichen Nachrichten kommt der „babylonischen Deportation“ besondere Bedeutung zu.3 Die Wendung μετοικεσία Βαβυλῶνος [metoikesia Babylōnos] findet sich im NT nur bei Matthäus, dort aber gleich vier Mal (1,11.12; in 1,17 zwei Mal). Sie hat tragende Bedeutung für die Gliederung der ganzen Geschichte von Abraham bis Jesus. Auch darin spiegelt sich die Verknüpfung des Matthäusevangeliums mit dem AT. Denn die hebräische Bibel endet damit, dass sie in 2Chron 36,22f das Ende der babylonischen Gefangenschaft notiert.

III Einzelexegese Vers 2 beginnt mit dem letzten Wort der Überschrift: Abraham. Damit wird dessen Bedeutung erneut unterstrichen, vgl. das zu V. 1 Bemerkte. Andererseits wird ihm nicht mehr Platz eingeräumt als den Folgenden. Es heißt hier ganz schlicht: Abraham zeugte Isaak (Ἀβραὰμ ἐγέννησεν τὸν Ἰσαάκ [Abraam egennēsen ton Isaak]). Obwohl er „der Vater vieler Völker“ ist (Gen 17,5; Röm 4,17), wird nur ein einziger seiner Söhne genannt: Isaak (vgl. Gen 21–22). Die messianische Linie, die Heilslinie, verläuft also über Isaak, und nur über ihn. Die spätere Benennung „Gott Abrahams und Gott Isaaks und Gott Jakobs“, die auch Jesus gebraucht (Mt 22,31), hat darin ihre Berechtigung (vgl. Ex 3,6). Dieselbe Konzentration auf das Abraham zeugte Isaak finden wir in 1Chron 1,34 (LXX: Καὶ ἐγέννησεν Αβρααμ τὸν Ισαακ [Kai egennēsen Abraam ton Isaak]). 3 Vgl. Zahn 49, zur Übersetzung „Deportation“ ebd. 49, Fn. 11.

1. Die Herkunft Jesu, 1,2-17

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Der Weg der Konzentration setzt sich fort: Isaak aber zeugte Jakob (Ἰσαὰκ δὲ ἐγέννησεν τὸν Ἰακώβ [Isaak de egennēsen ton Iakōb]). Esau, der Erstgeborene, wird hier nicht erwähnt. Die Heils- und Segenslinie verläuft eben über Jakob. Die Chronikbücher sind hier vollständiger (1Chron 1,34). Vgl. Gen 25,19ff. Hugo Odeberg hat in seinem Artikel über Jakob im ThWNT4 eindrucksvoll herausgearbeitet, wie die drei Väter Abraham, Isaak und Jakob dem Judentum die Gewissheit geben, in einem besonderen Gottesverhältnis zu stehen. Ja, sie stellen das „Symbol der bundestreuen Judenschaft“ dar.5 Die Begründung fand man in zahlreichen Stellen der Tora und der Propheten (z.B. Ex 2,24; 3,6.15f; Dtn 1,8; 6,10; 9,27; Jer 33,26). Wird Jesus in Mt 1 in eine so feste Verbindung mit Abraham, Isaak und Jakob gebracht, dann ist er der Erbe all ihrer Verheißungen und der legitime Repräsentant des von Gott erwählten, bundestreuen Israel. Jakob aber zeugte Juda und seine Brüder: Äußerlich ist dies ein Anschluss an 1Chron 2,1; Gen 29,31ff. Aber die Formulierung ist doch eigenartig. Juda war ja doch nicht der Erstgeborene, wie man nach dem Wortlaut von Mt 1,2 vermuten könnte, sondern der vierte in der Reihe der Brüder. Die Heraushebung in der Genealogie von Mt 1 kann nur bedeuten: Juda hatte als Vorfahr des Messias eine einzigartige Position unter den zwölf Brüdern. Dasselbe geht aus Hebr 7,14 hervor. Die Grundlage dieser Positionierung bildet der Jakobssegen in Gen 49, wo es von Juda heißt: „Juda, du bist’s! … Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen“ (Gen 49,8ff ). Demnach kommt der Welterlöser aus Juda. In der Tat stammt David, der menschliche Vorfahr Jesu, von Juda ab (Ruth 4,18ff ). Warum endet aber Mt 1,2 nicht mit Juda? Weshalb der Zusatz: und seine Brüder? Folgende Überlegungen spielen hier eine Rolle: a) Juda und seine Brüder bilden gemeinsam das Zwölf-Stämme-Volk. Matthäus will vermutlich den Messias Jesus fest in diesem Zwölf-Stämme-Volk verankern.6 b) Auch die anderen Stämme, nicht nur Juda, besitzen Verheißungen (Gen 49; Dt 33). Als Messias Israels soll Jesus auch diese Verheißungen repräsentieren und zur Erfüllung bringen (vgl. 2Kor 1,20).7 Wie lebendig diese Verheißungen gerade zur Zeit Jesu waren, zeigen die Testamente der Zwölf Patriarchen.

4 5 6 7

Art. Ἰακώβ, ThWNT, III, 1938, 191f. Odeberg a.a.O. 191. Vgl. France a.a.O.; Carson 65. Vgl. Zahn 51.

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Anfänge, 1,2–4,25

Vers 3 führt fort: Juda aber zeugte Perez und Serach von der Tamar.8 Hier vereinen sich Genealogie und Geschichte, 1Chron 2,4 und Gen 38,6ff. Matthäus steht dabei ebenso wie Lk 3,33f auf historisch zuverlässigem Boden. Es kann also keine Rede davon sein, dass der ganze „Stammbaum“ Jesu „fiktiv“ wäre.9 Die Probleme aus der Zeit nach David werden uns allerdings später noch beschäftigen. Erstmals wird der Name einer Frau erwähnt: Tamar. Dieser Name, deutsch „Palme“, ist im AT keineswegs unüblich (vgl. neben Gen 38,6ff noch 2Sam 13,1; 14,27). Deshalb ist es fraglich, ob Tamar Kanaanäerin war, wie die jüdische Tradition teilweise annimmt,10 oder nicht doch Israelitin.11 Jedenfalls trat sie als Prostituierte auf und wurde auf diese Weise von Juda schwanger – ein Verhalten, das vom Gesetz Gottes verurteilt wird (Ex 20,14). Von den Zwillingen war Serach eigentlich der Erstgeborene (Gen 38,28ff ). Von Perez geht die genealogische Linie weiter zu Hezron (V. 3). Vgl. Gen 46,12; 1Chron 2,5. Ab hier befindet sich Matthäus zusätzlich in Übereinstimmung mit Ruth 4,18ff. Die Worte von Perez (Φάρες [Phares]) bis David (V. 6) entsprechen sogar fast ganz dem Abschnitt Ruth 4,18-22. Zu Mt 1,4 ist allerdings anzumerken, dass die Judäer Amminadab (Ἀμιναδάβ [Aminadab]) und Nachschon (Ναασσών [Naassōn])12 beim Exodus aus Ägypten eine erhebliche Rolle spielten. Amminadab wurde der Schwiegervater Aarons, Nachschon der Schwager Aarons (Ex 6,23) und nach Num 1,7 einer der führenden Männer des Stammes Juda (vgl. 1Chron 2,10). Zu Mt 1,3-6 vgl. insgesamt 1Chron 2,9-13. In V. 5 begegnen uns zwei weitere Frauennamen. Zuerst heißt es: Salmon aber zeugte Boas von der Rahab. Dass Salmon der Vater bzw. Vorfahr des Boas ist, wissen wir auch aus 1Chron 2,11; Ruth 4,21. Aber dass Rahab seine Mutter ist, erfahren wir nur durch Mt 1,5. Allerdings lässt Jos 6,25 mit der Formulierung „sie blieb in Israel wohnen bis auf diesen Tag“ erkennen, dass sie in eine israelitische Familie einheiratete. Jedenfalls ist die Rahab von Mt 1,5 identisch mit der Hure Rahab von Jos 2–6 und dem Glaubensvorbild Rahab in Hebr 11,31; Jak 2,25. Zweierlei fällt an Rahab außer ihrem gläubigen, 8 Zu den griechischen Namensformen, auch dem seltsamen Ἀσάφ [Asaph] V. 7 und Ἀμώς [Amōs] V. 10, vgl. Zahn 59ff. Über Vermutungen kommt man hier nicht hinaus. 9 So Luz I 97. 10 Test Juda 10,1; Jub 41,1. Weitere Stellen bei Luz I 94. 11 France 74 urteilt, sie sei „presumably a Canaanite“ gewesen; nach Carson 66 war sie eine „alien“, ebenso nach Beare 64; Fiedler 41; G. Kittel, Art. Θαμάρ usw., ThWNT, III, 1938, 1,5. 12 So auch in Ruth 4,18 LXX; 1Chron 2,10f LXX; Ex 6,23 LXX; Num 1,7 LXX.

1. Die Herkunft Jesu, 1,2-17

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entschlossenen Handeln auf: Sie ist berufsmäßig Prostituierte, und sie ist Kanaanäerin, also Nichtisraelitin. Schon der nächste Satz von V. 5 konfrontiert uns wieder mit einer auffallenden Frauengestalt. Boas aber zeugte Obed von der Rut. Im Grunde ist damit das ganze Büchlein Ruth in das Stammbuch Jesu integriert. Doch konzentriert sich der Scheinwerferkegel in diesem Kontext auf die Rut. Sie ist Moabiterin, also ebenso Nichtisraelitin wie die Rahab. Außerdem ist die Art und Weise, wie die verwitwete Rut den Boas zum Mann bekam (Ruth 3,1ff ), nicht unbedingt empfehlenswert. Allerdings besticht bei ihr wie bei Tamar und Rahab die wagnisbereite Entschlossenheit. Der letzte Satz von V. 5, Obed aber zeugte Isai, schließt die vordavidische Zeit ab. Er wiederholt fast wörtlich Ruth 4,22; 1Chron 2,12. Vers 6 gehört zu den für die Gliederung wichtigsten Versen unseres Abschnitts (vgl. V. 17). Wir kommen hier zu David: Isai aber zeugte den König David. Das stimmt mit den alttestamentlichen Nachrichten überein (vgl. 1Sam 17,12; 16,1ff, Ruth 4,22; 1Chron 2,15; Apg 13,22; Jes 11,1). Die Namensform Isai, griech. Ἰεσσαι [Iessai], geht zurück auf hebr. ‫שׁי‬ ַ ִ ‫ [ י‬jischaj] und wurde früher im Deutschen oft mit „Jesse“ wiedergegeben. David war erst der siebte Sohn Isais (1Chron 2,15), nach 1Sam 16,10ff; 17,12ff sogar erst der achte. Aber Mt 1,2-17 konzentriert sich ganz auf ihn. Dabei begegnet uns die auffällige Formulierung τὸν Δαυὶδ τὸν βασιλέα [ton Dauid ton basilea], David, den König. Durch die Wortstellung ist der König betont. Er gilt in Mt 1,6 wirklich als „ein von Gott ausersehener König“.13 Seine Position wird auch dadurch unterstrichen, dass der Name David im Verlauf der V. 1-6 jetzt schon zum zweiten Mal auftaucht. Auf Jesus bezogen heißt das: Wenn schon David ein Gott wohlgefälliger König war, dann ist der Messias Jesus erst recht der wahre König Israels (Mt 21,5.9; 27,37).14 Noch innerhalb von V. 6 eröffnet der Satz David15 aber zeugte Salomo von der Frau des Uria die davidische Zeit. Die Abfolge David – Salomo ist biblisch in sich klar (2Sam 12,24, 1Chron 3,5). Dennoch enthält der kleine Satz mehrere Herausforderungen. Zunächst vermeidet er den Namen Batseba, griech. Βηρσαβεε [Bērsabee], und spricht nur von der Frau des Uria, wie sie auch in 2Sam 11,3 genannt wird. Aber gerade diese Formulierung inkorporiert die ganze Ehebruchs- und Blutschuldgeschichte Davids (2Sam 11–12). David ist eben nicht nur der hochangesehene König, sondern auch der große Sünder, 13 K.L. Schmidt im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, 577. 14 Vgl. France 74. 15 Die Einfügung von ὁ βασιλεύς [ho basileus] nach δέ [de] wird zwar von vielen Handschriften vertreten, ist aber wohl eine schematische Auffüllung nach der ersten Vershälfte.

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als der er sich in 2Sam 12,13 und in Ps 51 selbst bekennt. Diese Sünde hat auch Batseba = die Frau des Uria mit befleckt. Uria, der also einen Teil des Stammbuches Jesu bildet, war ein Hetiter (2Sam 11,3; 23,39). Offensichtlich kämpfte er wie die „Kreter und Pleter“ (2Sam 8,18; 15,18) als Söldner in Davids Heer. Er galt sogar als Held (2Sam 23,39). Allerdings lässt die Bezeichnung „Hetiter“ keine genauere Festlegung zu. Nicht nur in Kleinasien gab es sog. „Hetiter“, sondern auch in Syrien und Palästina. Ja, sogar die kanaanäische Urbevölkerung Palästinas konnte mit dem Namen „Hetiter“ bezeichnet werden (Gen 27,46; Jos 1,4; Ri 1,26). Woher Uria präzise stammte, wissen wir also nicht. Dagegen scheint Batseba von Geburt Israelitin gewesen zu sein. Darauf deutet der theophore Name ihres Vaters, Eliam, hebr. ‫ֱאִליָעם‬ [ʾᵆlīʿām] (2Sam 11,3; 1Chron 3,5). Mit der Heirat ging sie allerdings in die hetitische Sippe ihres Mannes über.16 Ein kleineres Problem ist es, dass Salomo nach 1Chron 3,5 erst der vierte Sohn Batsebas war, was aus 2Sam 12,24 nicht ohne Weiteres hervorgeht. Jedenfalls aber folgte Salomo seinem Vater David in der Regierung nach (1Kön 1–2). Für die Ausleger stellt Mt 1,6 auch deshalb eine besondere Herausforderung dar, weil sich hier die Stammlinien des Matthäus und des Lukas gabeln. Matthäus führt über Salomo weiter zu Jesus, Lukas dagegen über Nathan, der nach 1Chron 3,5 ebenfalls ein Sohn Batsebas war und nach 2Sam 5,14, 1Chron 3,5; 14,4 noch vor Salomo geboren wurde. Erst bei Josef treffen sich die beiden Stammlinien wieder. Auf dieses Problem werden wir später noch einmal zurückkommen. Bevor wir die Verse 7-11 näher betrachten, muss eine schlichte, elementare Tatsache festgehalten werden: Von Salomo bis Jojachin treffen wir jetzt nur noch regierende Könige. Hat also Matthäus eine offizielle Königs- oder Regierungslinie weitergeführt? Liegt darin sein Unterschied zu Lukas? In V. 7 lesen wir: Salomo aber zeugte Rehabeam. Weder zu Salomo, dem in Bibel und Judentum viel gerühmten Herrscher, allerdings auch mit tiefen Schattenseiten (vgl. 1Kön 1–11; 2Chron 1–9; Ps 72; 127; Prov 1,1; Koh 1,1; Hld 1,1; Sap Sal; Josephus Ant VIII, 40ff; Sir 47,14ff )17, noch zu Rehabeam (ca. 926–910 v.Chr.), unter dem die folgenschwere Reichsteilung geschah (1Kön 12–14), macht Matthäus irgendeine Anmerkung. Auch bei Abija (ca. 910–908 v.Chr.) und Asa (ca. 908–868 v.Chr.) fehlt in V. 7 jede Anmerkung.

16 Ebenso Carson a.a.O. 17 Vgl. E. Lohse, Art. Σολομών, ThWNT, VII, 1964, 459ff.

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Dasselbe registrieren wir in V. 8 bei Joschafat (ca. 868–847 v.Chr.) und Joram (ca. 847–845 v.Chr.). Wir können nur den Gleichklang mit 1Chron 3,10f feststellen. Aber gerade der alttestamentliche Vergleich mit 1Chron 3,10ff und 2Kön 8,16ff stößt uns nun auf eine überraschende Tatsache: Matthäus hat in V. 8 drei judäische Könige ausgelassen. Der Satz Joram aber zeugte Usija suggeriert, Usija sei der Nachfolger Jorams gewesen. Doch dies trifft nicht zu. Auf Joram folgten zunächst Ahasja (845 v.Chr.), Joasch (ca. 840–801 v.Chr.) und Amazja (ca. 801–787 v.Chr.), zwischendurch sogar die illegitime Herrschaft der Atalja (ca. 845–840 v.Chr.). Erst 787 v.Chr. kommt Usija, der Ururenkel Jorams, an die Regierung. Es fehlen also in Matthäus die rund 60 Jahre der drei Könige Ahasja, Joasch und Amazja. Und dies, obwohl 2Kön 8–14 und 1Chron 3,11f unübersehbar von ihnen berichten! Warum Matthäus gerade diese drei ausließ, können wir nicht mehr sagen. Nur eins kann man mit Bestimmtheit festhalten: Hier hat kein Versehen gewaltet – denn die Zahlen in V. 17 fordern zum Nachzählen auf! –, sondern hier hat Matthäus mit Absicht so geschrieben.18 Bei der Formulierung hat er übrigens keinen Fehler gemacht. Denn zeugen als „hervorbringen“ kann man auch von weit entfernten Vorfahren sagen, sodass der Satz Joram aber zeugte Usija also stimmt. Usija ist eine auffallende Gestalt. Er regiert nicht weniger als 50 Jahre (ca. 787–736 v.Chr.) und trägt neben „Usija“ (Ὀζίας [Ozias], ‫[ ֻעזִּיּ ָה‬ʿussījjāh]) auch die Namen „Usijahu“ (2Kön 15,32; Jes 1,1 u.ö.), „Asarja“ (1Chron 3,12 u.ö.) und „Asarjahu“ (2Kön 15,6.8). Diese Vielfalt von Namen bei ein und derselben Person warnt uns vor vorschnellen Urteilen. Vgl. noch 2Kön 15,1-7. Die Propheten Jesaja, Hosea und Amos haben unter ihm geweissagt (Jes 1,1; Hos 1,1; Am 1,1). In V. 9 setzt sich die Reihe fort mit Jotam (ca. 756–741 v.Chr. Mitregent), Ahas (ca. 741–725 v.Chr.) und Hiskia (ca. 725–697 v.Chr.). Es erstaunt, dass der Untergang des Nordreichs (Israel), der zur Zeit Hiskias 722 v.Chr. stattfand, nicht erwähnt wird, ebenso wenig ein Lob des frommen Hiskia, wie es die spätere Überlieferung (Sir 49,5) gesungen hat. Von Hiskia führt die Linie weiter zu Manasse (ca. 696–642 v.Chr.), Amon (ca. 641–640 v.Chr.) und Josia (ca. 639–609 v.Chr.), V. 10. Mit Josia erreichen wir wiederum einen Einschnitt, wie V. 11 zeigt. Der Satz Josia aber zeugte Jojachin lässt erwarten, dass Jojachin ein Sohn Josias war. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr folgten Josia seine beiden Söhne Joahas und Jojakim in der Regierung, und Jojachin war erst der Enkel Josias, 18 Ebenso Zahn 53.

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der nach seinem Vater Jojakim kurze Zeit auf den Thron kam (Joahas 3 Monate 609/608 v.Chr., Jojakim ca. 608–598 v.Chr., Jojachin wohl Dezember 598 bis März 597 v.Chr.). Selbst wenn man Joahas wegen seiner kurzen Zeit von nur drei Monaten nicht rechnen wollte, hat doch Matthäus mindestens Jojakim ausgelassen. Nach Mt 1,8 fehlen also auch in Mt 1,11 die Namen einer oder zweier Könige. Allerdings gibt es die Möglichkeit, den Zusatz und seine Brüder in einem weiteren Sinne auszulegen, nämlich so, dass der Begriff Brüder auch weitere Verwandte umfasst. Es wäre dann wie beim hebräischen Begriff ‫[ ָאח‬ʾāch], der „Verwandte jeder Art“ bezeichnen kann.19 Wir nehmen deshalb an, dass Matthäus in 1,11 durch die Brüder alle von Josia abstammenden Regenten jener turbulenten Jahre bezeichnen wollte, einschließlich Joahas, Jojakim und Zedekia (vgl. 2Kön 23,31–24,17; 1Chron 3,15f; 2Chron 36).20 Außerdem geht Matthäus in V. 11 erneut über die rein genealogischen Angaben hinaus, indem er bemerkt, das sei zur Zeit der babylonischen Deportation (ἐπὶ τῆς μετοικεσίας21 Βαβυλῶνος [epi tēs metoikesias Babylōnos]) gewesen. Die verschiedenen Deportationen (603/597/587 v.Chr.) werden hier zusammengefasst. Es war bis zur Zeit des Matthäus die jüdische Katastrophe schlechthin. Dass dennoch die jüdische Geschichte weiterlief, ja dass sie den Höhepunkt des Erscheinens des Messias erreichte, kann nur als Ausdruck höchster Gnade und des wunderbaren Heilshandelns Gottes verstanden werden. Nach der babylonischen Deportation (V. 12) standen Matthäus keine Könige mehr zur Verfügung. Die Liste der Könige musste enden. Das bewirkte einen Umschlag in familiäre Listen, deren Probleme sich schon in der Verschiedenheit der matthäischen und der lukanischen Reihe melden. Wir können diese Probleme bis heute nicht lösen. Doch lassen sich manche Klärungen herbeiführen. Ganz ohne Quellen musste Matthäus nicht arbeiten. Die Chronikbücher standen noch zur Verfügung. Daneben gibt es geschichtliche jüdische Überlieferungen, von denen z.B. Josephus in Contra Apionem I,30ff und 37ff Zeugnis ablegt. Dazu existieren Register einzelner Familien. Spuren davon treffen wir wieder bei Josephus in Vita 3–6 und in Mischna Qid IV,4f.22 Leider 19 Gesenius 22. Vgl. Carson 67. 20 Ähnlich Zahn 51. 21 μετοικεσία [metoikesia]: Deportation, Gefangenschaft, Auswanderung (Bauer-Aland, 1041). 22 Später auch bei Eusebius H.E. II,12; 19; 20,1-6; 32,3ff. Vgl. Luz I 92 und Josephus Contra Apionem I, 30ff.

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besitzen wir heute nur noch Minima dieser Spuren. Wie groß die Verluste gerade in der babylonischen Katastrophe waren, lassen Aussagen wie Esr 2,61ff; Neh 7,63ff erahnen. Man kann sich aufgrund dieser Gegebenheiten ohne Weiteres vorstellen, dass in weitverzweigten Familien, wie z.B. der davidischen, mehrere Familienregister gleichzeitig umliefen. In Einzelfällen eröffnete auch das Institut der Leviratsehe die Möglichkeit, Stammlinien verschieden darzustellen. Gerade die davidische Familiengeschichte weiß von solchen Möglichkeiten (vgl. Gen 38,6ff; Ruth 3,12ff ). Wir setzen noch einmal ein bei Mt 1,12: Nach der babylonischen Deportation aber zeugte Jojachin Schealtiel. Vermutlich im Jahre 560 v.Chr. wurde Jojachin von einem Nachfolger Nebukadnezars tatsächlich begnadigt (2Kön 25,27ff; Jer 52,31ff ). So stimmt die Angabe nach der babylonischen Deportation. Noch wichtiger ist es, dass die ansonsten so verschiedenartige lukanische Liste in Lk 3,27 denselben Fixpunkt enthält: Schealtiel gehört auch dort ins Stammbuch Jesu. Eine Bestätigung liegt in 1Chron 3,17 vor. Schealtiel aber zeugte Serubbabel (V. 12): Andere biblische Stellen machen dieselbe Aussage (Esr 3,2.8; 5,2; Hag 1,1.12.14; 2,2.23). Nur 1Chron 3,19 gibt Pedaja als Vater Serubbabels an. Da aber Schealtiel und Pedaja Brüder sind (1Chron 3,17f ), liegt es nahe, hier mit einer Leviratsehe zu rechnen. Und wieder stellen wir fest, dass auch Lukas in 3,27 die Stammlinie über Schealtiel zu Serubbabel weiterführt. Bei dem davidischen Prinzen Serubbabel erinnern wir uns, dass er zu den leitenden Personen bei der Rückkehr aus Babylonien gehörte (Esr 2,2; Neh 7,7), dass er dann als Statthalter von Juda die politisch führende Kraft nach der Rückkehr darstellte und den Wiederaufbau des Tempels zuwege brachte (Esr 3,2ff; Hag 1–2; Sach 5,6ff ). An ihn richtet sich die Verheißung von Hag 2,20ff. Serubbabel aber zeugte Abihud (V. 13): Hier beginnen Matthäus und Lukas wieder auseinanderzugehen. Der Name Abihud ist biblisch (1Chron 8,3), aber wir können die in Mt 1,13 gemeinte Person nicht mehr erkennen und wissen auch nicht, wie viele Generationen zwischen Serubbabel und Abihud liegen. Entsprechendes lässt sich zu den anderen Namen in V. 13-15 bemerken (Eljakim, Asor, Zadok, Achim, Eliud, Eleasar, Mattan, Jakob). Mit V. 16 aber gehen wir zu einer anderen Art von Bericht über: Jakob aber zeugte Josef, den Mann der Maria, von der Jesus geboren wurde. Schon die handschriftlichen Varianten zeigen, wie sehr dieser Text die Ausleger herausgefordert hat. Eine syrische Handschrift, der Syrus Sinaiticus, hat: „Josef, dem Maria als Jungfrau anvertraut war, zeugte Jesus.“ Aber dieser Text

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ist ein Widerspruch in sich selbst.23 Wie soll Maria Jungfrau sein, wenn Josef mit ihr Jesus zeugte? Und dass sie vor der Ehe Jungfrau war, ist in gesetzestreuen jüdischen Kreisen eine Selbstverständlichkeit. Andere Handschriften, darunter auch der Cureton-Syrer, betonen durchweg das παρθένος [ parthenos] (Jungfrau) bei Maria, sodass das Wunder der Geburt Jesu unterstrichen wird. Offenbar ist das dogmatische Interesse an der Jungfrau Maria später in die handschriftliche Überlieferung eingedrungen, und man tut gut daran, beim Text von Nestle-Aland zu bleiben. Zunächst wirft Mt 1,16 insofern ein Problem auf, als hier Jakob als Vater Josefs erscheint. Lukas 3,23 aber nennt Eli als Vater Josefs. Nach einem Bericht des Hieronymus hat sich auch Kaiser Julian Apostata (361–363 n.Chr.) darüber mokiert, dass nicht einmal der Name des Großvaters Jesu festliege.24 Man wird allerdings noch weitergehen und feststellen müssen, dass noch nicht einmal sicher ist, ob Jakob und Eli derselben Generation angehören. Würden sie verschiedenen Generationen angehören, dann bestünde zwischen Mt 1,16 und Lk 3,23 kein Widerspruch mehr. Was nun die Titulatur Mann der Maria betrifft, so ist sie völlig in Ordnung. Denn mit dem Ehevertrag, der Ketubba, ist Josef schon der Mann der Maria geworden, auch wenn er sie noch nicht zu sich heimgeholt hat (vgl. V. 18f ).25 Die zentrale Aussage von V. 16 findet sich in den Worten: von der Jesus geboren wurde. Dadurch wird Maria zur Hauptfigur. Schon dass Josef über die Maria definiert wird (der Mann der Maria), obwohl man in der hebräischen Sprachwelt umgekehrt denkt, lässt Maria ungewöhnlich hervortreten. Hinzu kommt die Namensnennung als solche. Nur fünf Mal werden in Mt 1,2‑17 Frauen erwähnt, und die letzte und gewichtigste von ihnen ist eben Maria, hebr. ‫[ ִמְרי ָם‬mirjām], „Mirjam“. Die Formulierung von der (ἐχ ἧς [ex hēs]) Jesus geboren wurde bildet den direkten Gegensatz zu „Josef aber zeugte Jesus“. Josef ist gerade nicht der Erzeuger Jesu! Jesus hat keinen biologisch-menschlichen Vater, sondern nur eine menschliche Mutter, die ihn gebar. Damit stehen wir vor dem Wunder der Jungfrauengeburt, die in Jes 7,14 ausdrücklich angekündigt ist: Eine Stelle, auf die sich Matthäus später (V. 22f ) selbst beruft. In diesem Zusammenhang gibt uns zweierlei zu denken: a) dass es Juden waren, die in der Septuaginta ‫[ ָעְלָמה‬ʿālmāh] mit παρθένος [ parthenos] übersetzen, b) dass es Judenchristen waren, die die Jungfrauengeburt bei Jesus in vorderster Linie verteidigten. So Matthäus in 1,2-25, so Johannes in 23 Vgl. Zahn 68f. France 75: „a corruption“. 24 Vgl. dazu Luz I 96. 25 A. Oepke, Art. ἀνήρ usw., ThWNT, I, 1933, 364; J. Jeremias, Art. νύμφη usw., ThWNT, IV, 1942, 1092f.

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1,14 (vgl. die Stellung der Maria in 2,1ff; 19,25ff ), so wohl auch Paulus in Gal 4,4, so der Hebräerbrief in 7,3. Auch Lukas fußt auf judenchristlichen Quellen (vgl. Lk 1,1-4). In V. 16 werden hinter Jesus noch die Worte der Christus genannt wird (ὁ λεγόμενος Χριστός [ho legomenos Christos]) nachgetragen. Dies kann aber nicht wie in Mt 27,17.22 den Sinn haben: „Der eine sagt dies, der andere das.“ Vielmehr bezieht sich hier ὁ λεγόμενος [ho legomenos] zurück auf Mt 1,1, wo von „Jesus Christus“ die Rede ist. Der Sinn von V. 16 fin. ist also der: „der mit Recht Christus (= Messias) heißt“. In V. 17 zieht Matthäus Bilanz: Alle Geschlechter nun von Abraham bis David sind vierzehn Geschlechter. Und von David bis zur babylonischen Deportation sind es vierzehn Geschlechter. Und von der babylonischen Deportation bis zum Christus sind es vierzehn Geschlechter. Hier benutzt er das Wort γενεά [genea], also das Wort für „Generation“, Geschlecht, und nicht mehr γένεσις [genesis] wie in V. 1. Selbstverständlich bezieht er sich dabei auf die Geschlechter,26 die er selbst in V. 2-16 zusammengestellt hat. Es ist also unerheblich, wie viele Geschlechter in Wirklichkeit gelebt haben oder in den alttestamentlichen Büchern aufgezählt werden. Es kommt hier auch nicht darauf an, ob Ahasja, Joasch, Amazja und Jojakim fehlen oder nicht. Es bleibt dabei: Matthäus hat uns eine Aufstellung vorgelegt, in der drei mal vierzehn Glieder enthalten sind. Undenkbar, dass für ihn, der hier implizit zur Zählung auffordert, in einer Abteilung evtl. nur dreizehn Generationen herauskommen sollten!27 In der Tat sind die drei mal vierzehn vorhanden. Von Abraham bis David sind es: Abraham – Isaak – Jakob – Juda – Perez – Hezron – Ram – Amminadab – Nachschon – Salmon – Boas – Obed – Isai – David = vierzehn Geschlechter. Von David bis zur babylonischen Deportation sind es: Salomo – Rehabeam – Abija – Asa – Joschafat – Joram – Usija – Jotam – Ahas – Hiskia – Manasse – Amon – Josia – Jojachin = vierzehn Geschlechter. Bei der Formulierung fällt auf, dass Matthäus statt eines Personennamens wie Abraham, David oder Christus hier eine Zeitepoche zur Zäsur wählt, nämlich die babylonische Deportation. Diese Formulierung ermöglicht es aber, ja erzwingt es geradezu, Jojachin doppelt zu zählen.28 In 26 Carson 68. 27 Damit scheint aber Luz I 91 zu rechnen. Der sonst so zuverlässige Zahn bietet hier nur die Hilfskonstruktion, wonach „der Unbekannte, welcher das ursprünglich aramäisch geschriebene Buch ins Griechische übertrug“, fälschlich Jojakim ausgelassen habe (56). Auch Tasker 31 entdeckt in der dritten Gruppe nur dreizehn Namen, France 75 sowohl in der ersten als auch in der dritten. 28 Vgl. Sand 45. Dagegen zählen z.B. Luck 21; Gnilka 6 David zweimal. Ähnlich wie Sand auch Klostermann 6.

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der dritten Abteilung von der babylonischen Deportation bis zum Christus sind es: Jojachin – Schealtiel – Serubbabel – Abihud – Eljakim – Asor – Zadok – Achim – Eliud – Eleasar – Mattan – Jakob – Josef – Jesus = vierzehn Geschlechter. Vor Christus steht hier der Artikel (τοῦ Χριστοῦ [tou Christou]), sodass vom Titel die Rede ist und zum Christus übersetzt werden muss. Steht also die Rechnung des Matthäus in sich gegründet fest, dann fragt sich, was ihr Sinn ist. Er selbst bietet uns in seiner Überschrift V. 1 eine Art Schlüssel an. Dort weist der „Sohn Davids“ in erster Linie auf den Messias für Israel hin, der „Sohn Abrahams“ dagegen stärker auf das Heil für die Völker. Sollte in 3 × 14 nicht auch die Doppelheit der Sendung Jesu – für Israel und die Völker – stecken (vgl. 28,19)? Löst man die 3 × 14 in 3 × 2 × 7 auf, dann wäre dies wirklich der Fall. Die göttliche Trinität, die Matthäus nach 28,19 wichtig war, bereitet in der Geschichte Israels die Sendung des Erlösers vor, der für beide, Israel und die Völker, das Heil schafft und mit der Kraft des Heiligen Geistes (für ihn kann die Zahl 7 stehen, vgl. Sach 3,9; 4,10; Offb 1,4; 3,1; 5,6) vollendet. Eine direkte Auskunft gibt uns Matthäus überraschenderweise nicht. Wir sind also auf eigene Schlüsse angewiesen.29 Nur so viel ist deutlich: Die Zahlenverbindung „drei“ mal „vierzehn“ hat für ihn Bedeutung und eine geistlich-theologische Aussagekraft. Um ihretwillen hat er, so drängt sich jetzt der Schluss auf, mit Absicht sogar manche Generationen der Königsund Chronikbücher übergangen.30 An dieser Stelle müssen wir auf das Verhältnis der matthäischen Stammlinie zur lukanischen zurückkommen. Es wurde während der ganzen Kirchengeschichte diskutiert.31 Radikal ist die Lösung von Ulrich Luz: Wir müssten heute auf „den Stammbaum“ ganz „verzichten …, weil ihn die Forschung – in diesem Falle vermutlich endgültig – als fiktiv erkannt hat.“32 Davon kann jedoch keine Rede sein. Erstens steht fest, dass Jesus zur Familie Davids gehört (vgl. Röm 1,3; Hebr 7,14; Offb 5,5; 22,16). Darin sind sich auch Matthäus und Lukas einig (vgl. Lk 1,27.32; 3,31). Zweitens setzen beide „Stammbäume“, der bei Matthäus und bei Lukas, die Familie Josefs und Marias voraus, in der Jesus aufwuchs (vgl. Lk 2,1-52). Drittens decken sich die beiden „Stammbäume“ von Abraham bis David mit nur einer einzigen Abweichung (Lk 3,33). Viertens kommen sie in den Knotenpunkten Schealtiel und 29 Andere gematrische Vermutungen bei Fiedler 42; Luz I 95; Tasker 31f; France 75; Beare 62f; Carson 68f; Klostermann 1. 30 Von einer „Absicht“ spricht auch Zahn 53. Luz a.a.O. spricht dagegen von einem „Versehen“. France 74: „deliberate“; Sand 42: „bewußt“. 31 Vgl. Luz I 95ff. 32 Luz I 97.

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Serubbabel zusammen (Mt 1,12; Lk 3,27). Dass sie in der Zeit nach dem babylonischen Exil auseinandergehen, lässt sich durch die schweren Verwirrungen jener Zeit (vgl. Esr 2,61ff; Neh 7,63ff ) und durch das Vorhandensein verschiedener Familienregister erklären.33 Am schwierigsten bleibt der Zeitabschnitt zwischen David und der babylonischen Deportation. Hat hier Lukas eine „biologische“ Liste und Matthäus die offizielle Königsliste zugrunde gelegt?34 Will Matthäus also nicht unbedingt und stets auf das biologische Verhältnis hinaus und stattdessen eben sagen, dass Jesus der legitime Erbe all jener davidischen Könige ist?35 Aber auch hier lassen sich nur Vermutungen aussprechen. Angesichts dieser Sachlage werden wir wie die alte Kirche dem Nebeneinander von Mt 1 und Lk 3 standhalten müssen, ohne vorschnell und radikal eines von beiden oder gar beide über Bord zu werfen. Einzelfälle kann man auch durch die Annahme einer Leviratsehe erklären, wie es die alte Kirche getan hat.36 Ausgeschlossen bleibt dagegen eine Erklärung, die in Mt 1 den „Stammbaum“ Josefs und in Lk 3 den der Maria sehen will. Denn beides sind Josefs „Stammbäume“ (Lk 3,23). Im Rückblick fragen wir noch einmal nach der Rolle der fünf Frauen, die bei den zweiundvierzig Geschlechtern erwähnt sind (V. 3.5.6.16). Englische Ausleger sprechen von einer „irregularity“, die alle fünf charakterisiert.37 Manche sind Ausländerinnen: Rahab eine Kanaanäerin, Rut eine Moabiterin. So haftet schon der Genealogie Jesu etwas Universales an. Manche sind offensichtliche Sünderinnen: Tamar verhält sich als Prostituierte, Rahab war professionelle Prostituierte, Batseba durch den Ehebruch befleckt. Insoweit ist es auch berechtigt, Jesus als einen Erlöser zu bezeichnen, der in einem sündenbehafteten Geschlecht geboren wurde und dessen Hypotheken zu tragen hatte. Von Maria lesen wir, dass ihr im Talmud der Vorwurf gemacht wird, sie habe „mit einem Tischler gehurt“38 oder Jesus sei der im Ehebruch gezeugte Sohn des Pandera oder Pantera.39 Was alle fünf Frauen – Tamar, Rahab, Rut, Batseba, Maria – kennzeichnet, ist die Tatsache, dass sie ihrer Um-

33 Für neutestamentliche Zeiten vgl. Eusebius H.E. I,7,11f; Zahn 45ff; Josephus Contra Apionem I,30ff. Vgl. France 72. 34 Ähnlich überlegt France a.a.O. 35 Ähnliche Erwägungen bei Zahn 48. 36 Z.B. Julius Africanus (ca. 160–240 n.Chr.), speziell im Blick auf den Großvater Jesu nach Eusebius H.E. I,7,2ff; ebenso France 74. 37 So France a.a.O. 38 b Sanh 106a. 39 b Schab 104b; b Sanh 67a. Vgl. P. Schäfer 29ff.

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welt Anstoß gaben.40 Und diese Tatsache rückt Gottes Gnade und Barmherzigkeit umso mehr ins Licht. Speziell im Fall der Maria scheint die Annahme berechtigt, dass Matthäus das Wunder ihrer göttlichen Erwählung gegen feindliche Polemik in Schutz nehmen will.41

IV Zusammenfassung 1. Mt 1,2-17 stellt eine Genealogie, ein Geschlechtsregister oder eine Stammlinie, Jesu dar. Von einem „Stammbaum“ sollte man besser nicht reden, weil a) die Generationen nicht die gesamte Zeit von Abraham bis Jesus abdecken, und b) manche sogar uns bekannte Generationen übergangen sind. Die für uns erkennbare Absicht des Matthäus bestand nicht darin, uns ein vollständiges Register zu erstellen, sondern eine bewusste Auswahl zu treffen. 2. Diese Auswahl und dieses selektive Verfahren reichen aber aus, um geschichtlich zu belegen, dass Jesus tatsächlich ein „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“ ist. 3. Matthäus konnte hier bis zum babylonischen Exil an biblische Quellen wie z.B. die Königs- und Chronikbücher, Ruth und Esra anschließen, die für ihn historisch glaubwürdig waren. Für die Zeit danach hatte er vermutlich Familienregister zur Verfügung. 4. Die alte Kirche hat das Nebeneinander von matthäischer und lukanischer Genealogie nicht beseitigt, obwohl dieses Nebeneinander bis heute viele Probleme verursacht. Beide Stammlinien sind Josefs Stammlinien. Bei Matthäus finden wir typisch hebräisch die herabsteigende Linie, vom Ausgangspunkt (Abraham) bis zu seiner Gegenwart (Jesus). Bei Lukas dagegen treffen wir eine aufsteigende Linie, die er von Jesus bis zum ersten Menschen (Adam) emporführt und durch die er die gesamte Menschheit einbezieht. In Einzelfällen können das Institut der Leviratsehe (Dt 25,5ff ) oder die Möglichkeit, dass bestimmte Generationen übergangen wurden, zu einem Ausgleich der Unterschiede helfen. Grundsätzlich aber bleibt das Problem, dass hinter Mt 1,13ff und Lk 3,23ff verschiedene Familienregister stehen. Auf keinen Fall dürfen daneben die Gemeinsamkeiten außer Acht gelassen werden: a) Die Übereinstimmung in der Epoche zwischen Abraham und David, b) die Übereinstimmung an den Knotenpunkten Schealtiel und Serubbabel, c) die Übereinstimmung im Wunder der jungfräulichen Geburt Jesu, d) die Übereinstimmung über die davidische Abstammung Josefs. 40 Anders Fiedler 41f, der das Gemeinsame der Frauen in ihrer „Solidarität mit dem jüdischen Volk“ erblickt. Wie wir Zahn 64f. 41 Zahn 66; France 72. Anders G. Kittel a.a.O. 2.

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5. Die vier Frauen Tamar, Rahab, Rut und Batseba verkörpern eine Botschaft des Matthäus. Zum Teil als Ausländerinnen, zum Teil als Sünderinnen haben sie ihrer Umgebung Anstoß gegeben und wurden dennoch von Gott gebraucht. Jesus, als ihr Erbe, tritt also in ein sündenbeladenes Geschlecht ein, zugleich aber auch in ein Geschlecht, das durch die Abstammung von Stammmüttern aus der Völkerwelt eine Universalität ausdrückt. Jesus, der Erlöser aus judäischem Geschlecht, hat also den Auftrag, von Sünden zu erlösen, und dies nicht nur für Israel, sondern für die gesamte Welt. Das war an den Beispielen Tamar, Rahab, Rut und Batseba besser klarzumachen als an den weit berühmteren Stammmüttern Israels Sara, Rebekka, Lea und Rahel.42 Vermutlich hat Matthäus durch den Hinweis auf die Gnade, die Tamar, Rahab, Rut und Batseba empfangen haben, die noch weit größere göttliche Gnade bei der jungfräulichen Maria hervorheben wollen und Maria evtl. schon gegen Polemik der Zeitgenossen in Schutz genommen. 6. Theologisch steht die Herrlichkeit der Führungen Gottes und damit das Lob Gottes im Vordergrund. Erkennbar zielen diese Führungen auf das Heil Israels und das Heil der Völker. So kommt es in dem eigenartigen Aufbau der drei mal vierzehn Geschlechter (1,17) zum Ausdruck. So wird es weiter in 1,18–2,23 erläutert. Dieses doppelte Heil verkörpert der einzigartige Erlöser, dessen Geschichte Matthäus darstellen will: Jesus.

2. Jesu Geburt, 1,18-25 I Übersetzung 18 Die Geburt Jesu Christi aber geschah so: Als seine Mutter Maria dem Josef anvertraut war,1 fand es sich, bevor sie zusammenkamen,2 dass sie schwanger war vom Heiligen Geist. 19 Josef aber, ihr Mann, der ein Gerechter war und sie nicht der öffentlichen Schande preisgeben wollte, hatte die Absicht, sie ohne Angabe des Grundes zu entlassen. 20 Während er noch mit diesen Gedanken beschäftigt war, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu holen. Denn was in ihr gezeugt ist, ist aus dem Heiligen Geist. 21 Sie wird aber einen Sohn gebären, und du 42 Vgl. Kittel a.a.O. 1; Klostermann 2. 1 Vgl. BDR § 191,6. 2 Vgl. BDR § 395,3.

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sollst ihm den Namen Jesus geben. Denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten. 22 Das alles aber ist geschehen, damit erfüllt würde, was vom Herrn durch den Propheten geredet wurde, wenn er sagt: 23 Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und wird einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, was übersetzt heißt: Mit uns ist Gott. 24 Als Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und holte seine Frau zu sich. 25 Und er berührte sie nicht, bis sie einen Sohn geboren hatte. Und er gab ihm den Namen Jesus.

II Struktur Die Struktur von Mt 1,18-25 ist einfach und elementar. Matthäus spart nicht mit Hinweisen für den Leser. Das οὕτως ἦν [houtōs ēn] („so war es“) an der Spitze konzentriert den Leser auf die Geschichte und ihren Ablauf. Das τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν ἵνα πληρωθῇ [touto de holon genonen hina plērōthē] in V. 22 zieht Bilanz und vermittelt dem Leser die Essenz des Geschehens. μεθερμηνεύειν [methermēneuein] kommt bei Matthäus nur ein Mal vor und zwar hier in V. 23: eine weitere zusätzliche Lese- und Verständnishilfe. Die zahlreichen Wortwiederholungen dienen ebenfalls dem Verständnis und sogar dem Einprägen: ἐκ πνεύματος ἁγίου [ek pneumatos hagiou] (V. 18 und 20) – παραλαβεῖν/παρέλαβεν [ paralabein/parelaben] (V. 20 und 24) – τέξεται υἱόν / ἔτεκεν υἱόν [texetai hyion / eteken hyion] (V. 21.23.25) – καλέσεις/καλέσουσιν/ἐκαλεσεν τὸ ὄνομα [kaleseis / kalesousin / ekalesen to onoma] (V. 21.23.25) – τὸ ὄνομα Ἰησοῦν [to onoma Iēsoun] (V. 21 und V. 25). Der Abschnitt ist gegen das Vorausgehende (V. 2-17) und Folgende (2,1ff ) klar abgegrenzt. Sowohl den Abschnitt 1,18ff wie den Abschnitt 2,1ff leitet Matthäus mit einem Τοῦ δὲ Ἰησοῦ [Tou de Iēsou] ein.

III Einzelexegese Die ersten Worte (Die Geburt Jesu Christi aber geschah so) klären schon die wesentliche Thematik der Verse 18-25: a) die Hauptperson ist Jesus, b) es geht hier um seine Geburt, c) Matthäus will erzählen, wie es zu dieser Geburt kam (οὕτως [houtōs]!). Jesus Christus ist hier vorwiegend Eigenname,3 ohne dass man doch vergessen darf, dass in Christus (= Messias) die königliche Messianität Jesu mitschwingt. Für γένεσις [genesis] bietet eine Reihe von Handschriften γέννησις

3 Vgl. BDR § 260,9.

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[gennēsis]. Doch bleibt γένεσις [genesis] besser bezeugt.4 Allerdings muss es in Mt 1,18 mit Geburt übersetzt werden.5 οὕτως ἦν [houtōs ēn] entspricht nach BDR § 434,3 einem τοιαύτη ἦν [toiautē ēn] oder οὕτως ἔσχεν [houtōs eschen].6 Statt geschah so könnte man auch etwas umständlicher übersetzen „verhielt es sich so/folgendermaßen“.7 Der zweite Satz in V. 18 setzt mit einem Genitivus absolutus neu ein. Hier ist seine Mutter Maria Subjekt. Von der Mutter Jesu sprachen die frühen Christen stets ohne Abstriche und ohne Scheu. Sie verkörpert die menschliche Seite der Geburt. Was heißt μνηστευθείσης [mnēsteutheisēs]? Dasselbe Wort begegnet uns in der Form ἐμνηστευμένη [emnēsteumenē] oder μεμνηστευμένη [memnēsteumenē] mehrfach bei Lukas (1,27; 2,5). Das griech. μνηστεύειν [mnēsteuein] bedeutet im Passiv „die Braut von jemand werden“. μνηστεύειν [mnēsteuein] geht wohl auf hebr. ‫’[ ארשׂ‬rś] zurück, das im Partizip des Pual die „Verlobte“ bedeutet (Dtn 22,23ff ). Unser heutiges Wort „Verlobte“ ist jedoch kaum imstande, den Sachverhalt angemessen zu erfassen. Ihm haftet eine Flüchtigkeit an, die dem alttestamentlichen Wort gerade fehlt. War eine israelische Frau „Verlobte“, „Braut“ geworden, dann verlieh ihr der zugrunde liegende Ehevertrag – später Ketubba genannt – eine bestimmte Rechtsposition, genauso wie ihrem „Verlobten“. Die Vergewaltigung der „Verlobten“ bedeutete deshalb auch eine Verletzung des verlobten Mannes (vgl. wieder Dtn 22,23ff ). Mit dem Ehevertrag war die Verlobte / die Braut schon zur „Frau“ des betreffenden Mannes geworden. Joachim Jeremias beschreibt die rechtlichen Folgen des Ehevertrages so: Die Braut „gilt … rechtlich bereits … als verheiratete Frau: … kann Witwe werden, wird durch Scheidebrief entlassen, wegen Ehebruchs bestraft usf.“8 Im Falle der Maria (Μαρία [Maria]) heißt das: Sie war in der Zeit, von der Mt 1,18ff handelt, juristisch schon Josefs Frau und damit ein Mitglied des Davidshauses. Angesichts dieser Sachlage übersetzten wir den Genitivus absolutus in Mt 1,18 temporal: Als (= in der Zeit als) seine Mutter Maria dem Josef anvertraut war … Über den Mutternamen Maria (Μαρία, Μαριάμ [Maria, Mariam], hebr. ‫[ ִמְריָם‬mirjām]) gibt es im NT kein Schwanken. Dem Josef: Das ist der aus Mt 1,16 bekannte Josef. Eine weitere Kennzeichnung unterbleibt 4 Vgl. Bauer-Aland, 309.312. Anders Zahn 71 Fn. 37. Siehe jedoch F. Büchsel, Art. γίνομαι usw. ThWNT, I, 1933, 681, Carson 74; Sand 47. 5 Vgl. Bauer-Aland a.a.O. „Geschichte“ bleibt immerhin eine ernsthafte Möglichkeit. 6 Ebenso Bauer-Aland, 1209. 7 Mit „es verhielt sich so“ übersetzt die Revidierte Elberfelder Bibel; Schlatter 7; Schniewind 13. 8 J. Jeremias, Art. νύμφη usw., ThWNT, IV, 1942, 1092f.

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hier. Mit der Formulierung anvertraut versuchen wir, die juristische Situation nach Abschluss des Ehevertrages auszudrücken, ohne das heutige seichte „verloben“ zu gebrauchen. Fand es sich, bevor sie zusammenkamen, dass sie schwanger war vom Heiligen Geist: Die neutrische Übersetzung es fand sich für εὑρέθη [heurethē] hat eine lange Tradition und begegnet uns bis in moderne Übersetzungen hinein.9 Aber zutreffender ist es, als Subjekt des εὑρέθη [heurethē] Maria anzunehmen, auch wenn BDR § 423,3 feststellen, Mt 1,18 sei diesbezüglich „Der härteste und zugleich seltenste Fall“, weil hier „das Subj. des Gen.abs. auch Subj. des Satzes ist“.10 Sie also, Maria, wurde schwanger gefunden. Das war es, was menschliche Augen und menschliche Vernunft feststellen konnten. Weil dieser Zustand eintrat, bevor sie (= Josef und Maria) zusammenkamen, das heißt, bevor Maria ins Haus Josefs heimgeholt worden war und bevor sie geschlechtlich zusammenkamen, war für die menschliche Vernunft der Schluss unausweichlich, dass dieses Kind aus einem Ehebruch stammte. Für beide Seiten bedeutete das eine Katastrophe. Für Josef, den jüdischen Gerechten (s. unten) und Angehörigen einer königlichen Familie (vgl. Mt 1,2-17), zeichnete sich eine unermessliche Enttäuschung und zugleich die Unmöglichkeit ab, einen legitimen Erben von dieser Frau zu bekommen. Für Maria, damals vermutlich zwischen 12 und 14 Jahren alt,11 mussten Angst vor der Zukunft, Hilflosigkeit in der Erklärungsnot Josef gegenüber, Unverständnis und Hass der Umwelt und sogar die reale Befürchtung, als Frau aus levitischer Familie hingerichtet zu werden (Lev 20,10; 21,9; Dtn 22,22), die Folge sein. Man denke an die Situation der vermutlich ebenfalls noch jungen Ehebrecherin in Joh 7,53ff.12 Mit drei griechischen Worten stellt Matthäus demgegenüber die göttliche Wahrheit fest: Die Schwangerschaft der Maria ist verursacht vom Heiligen Geist (ἐκ πνεύματος ἁγίου [ek pneumatos hagiou]). Er greift dabei auf dieselbe göttliche Wahrheit zurück, die Maria nach Lk 1,34ff verkündigt wurde. Vom Heiligen Geist oder aus Heiligem Geist meint den schöpferischen Heiligen Geist. Es ist jener Gottesgeist, der nach Gen 1,2 über dem Wasser schwebte13 und die Schöpfung ins Werk setzte, jener Geist, der nach Ez 9 Beispiele: Lutherbibel, BigS, Einheitsübersetzung, „Neue Jerusalemer Bibel“, Schlatter a.a.O.; Fiedler 46; Schniewind 13; Beare 66. 10 Aber auch § 416,11 gehen BDR davon aus, dass Maria das Subjekt ist. Vgl. Carson 74. 11 Vgl. J. Jeremias a.a.O. 1093,8; G. Delling, Art. παρθένος, ThWNT, V, 1954, 833,58. 12 Vgl. wieder J. Jeremias a.a.O. 13 Allerdings wird ‫[ רוַּח‬rūach] dort von einer Reihe von Auslegern mit „Wind“ oder „Gottessturm“ übersetzt. Vgl. C. Westermann, Genesis, BK, I/1, 2. Aufl., 1976, 107ff.

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11,19; 36,27; Joel 3,1ff den neuen Menschen hervorbringt, und jener Geist, der nach Sach 4,6 die Geschichte gestaltet. Man kann die Möglichkeit einer jungfräulichen Geburt nur leugnen, wenn man zugleich leugnet, dass Gott Himmel und Erde gemacht hat (vgl. Gen 1,1).14 Exkurs zur Jungfrauengeburt Es ist hier nicht der Raum, auf die Wunderfrage in ganzer Breite einzugehen.15 Es ist jedoch offensichtlich, dass die europäische Diskussion der letzten 350 Jahre in der protestantischen Theologie eine tiefe Wunde hinterlassen hat. Baruch de Spinozas Theologisch-Politischer Traktat von 1670 schlug eine Bresche in die alte christliche Dogmatik, die sie nur langsam wieder schließen konnte. Sein 6. Kapitel handelt „Von den Wundern“ und geht von der These aus, „daß nichts gegen die Natur geschieht“, weil „die Macht der Natur die göttliche Macht und Kraft selbst ist“.16 Er versucht, aus der Schrift selbst zu begründen, „daß Gott nicht aus Wundern zu erkennen ist“.17 Ergebnis: „wir müssen … ohne Weiteres annehmen, daß das, was wirklich geschehen ist, auf natürlichem Wege geschah.“18 Für den Ausleger gilt: „Findet sich irgend etwas, von dem man unumstößlich beweisen kann, daß es den Naturgesetzen widerstreitet oder sich nicht aus ihnen herleiten läßt, so muß man ohne Weiteres annehmen, daß es von Frevlerhänden in die Heilige Schrift eingefügt worden ist.“19 Solche Schriftaussagen müssen eliminiert werden. In der Folge wurde die Wunderfrage wie zu den Zeiten des Celsus (2. Hälfte des 2. Jh. n.Chr.) zu einem der wesentlichen Diskussionsthemen der christlichen Theologie, oft zur Flagge bestimmter Richtungen oder sogar zum Schibboleth, und ist es bis heute in vielen Kreisen geblieben. Dazu nur wenige Beispiele: Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851) wandte systematisch eine natürliche Wundererklärung an, die für den Rationalismus typisch ist. Hier galt es, Vernunft und Bibelglauben zu vereinen, wobei Erstere den Primat beanspruchte. So lag die Tochter des Jaïrus nur in einem todesähnlichen Schlaf, die Speisung der Fünftausend war ein Liebesmahl, bei dem alle miteinander teilten, was sie hatten, auf dem Berg der Verklärung fand eine geheime Unterredung Jesu mit unbekannten ehrwürdigen Vertrauten 14 Über das Unerhörte dieses Wunders auch im Raum jüdischen Denkens vgl. Strack-Billerbeck 49. Dort wird allerdings Jes 7,14 viel zu stark ausgeblendet. 15 Als Beispiel einer ausführlichen Erörterung aus jüngerer Zeit sei Volume 6 der Gospel Perspectives von 1986 genannt (The Miracles of Jesus, ed. by David Wenham and Craig Blomberg, jost press), darin mein Beitrag 49ff. 16 Baruch de Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, Philosophische Bibliothek, 93, Hamburg, 1984, 94f. 17 A.a.O. 100. 18 A.a.O. 104. 19 A.a.O. 106.

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statt.20 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) hat nach dem Urteil Emanuel Hirschs den „Wunderbegriff … vernichtet“.21 Wunder sind Schleiermacher zufolge nichts Übernatürliches, sondern „aus Geistesvollmacht entsprungene außerordentliche Taten“.22 Noch strenger lehnte David Friedrich Strauß (1808–1874) in seinem zweibändigen Werk Das Leben Jesu kritisch bearbeitet (1835) das Wunder im Sinne einer Ausnahme vom natürlichen Weltzusammenhang ab.23 Wie sehr die Exegese von solchen fundamentaltheologischen Anschauungen geprägt wurde, macht das Beispiel von Christian Hermann Weiße (1801–1866) deutlich. Weiße, der zu den „Vermittlungstheologen“ gerechnet wird und der bis heute über seine Konzeption der „Zwei-Quellen-Theorie“ bei den Synoptikern weiterwirkt, gesteht einerseits Jesus eine außerordentliche Heilkraft zu. Andererseits lehnt er Wunder als bloße „Mirakel“ ab.24 Man darf aber nicht übersehen, dass zeitgleich mit dieser Entwicklung in Philosophie und kritischer Theologie zahlreiche Theologen die Möglichkeit von Wundern als außerordentlichen Eingriffen Gottes in den Weltlauf bejahten. Allgemeine Beachtung fand zum Beispiel Richard Rothe (1799–1867) mit seinem theologischen Konzept, das den Supranaturalismus einschloss. Rothe zufolge ist die Welt von einem lebendigen persönlichen Willen getragen. Der Wille Gottes kann jederzeit dem Weltzusammenhang „durch absolute Kausalität einzelne neue Elemente einerzeugen“.25 Prophetisch-heilsgeschichtliche Theologen, konservative Dogmatiker, bekenntnisgebundene Ausleger blieben in vielfach moderierenden Formen Vertreter der Möglichkeit von Wundern. Die Verschiedenheit der Sichtweisen tritt bis in die jüngste Vergangenheit und gerade beim Wunder der Jungfrauengeburt in Erscheinung. Für Rudolf Bultmann, den Schüler von Johannes Weiß,26 waren „Die Wunder des Neuen Testaments … als Wunder erledigt“27 und konsequent zu entmythologisieren. In seiner Geschichte der synoptischen Tradition bezeichnet er dann Mt 1,18-25 als „Legende“.28 Sollte es ursprünglich einen semitischen Bericht gegeben haben, könnte dieser „freilich das auf jüdischem Boden unerhörte Motiv der Jungfrauengeburt nicht enthalten haben“.29 Erst „auf hellenistischem Boden“ mit

20 21 22 23 24 25 26 27

Hirsch V 28ff. A.a.O. 35. A.a.O. Vgl. 305f. A.a.O. 492ff. Vgl. wieder Hirsch a.a.O. 509f sowie Kümmel NT 182ff. Nach Hirsch V 402. Kümmel NT 337ff. Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos, hrsg. von Hans Werner Bartsch, ThF, 1, 2. Aufl., 1951, 15ff (dort 18). 28 Bultmann Gesch 316; ebenso Klostermann 3. 29 A.a.O.

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seinen Mythen wäre so etwas denkbar.30 Die der existentialen Interpretation verpflichtete Dogmatik sieht ebenfalls zwar das Gewicht, das den Wundern in der christlichen Überlieferung zukommt, kann ihm aber nicht mehr entsprechen. Für Wolfgang Trillhaas, dessen „Dogmatik“ von 1962 hier repräsentativ erscheint, gibt es kein objektives Wunder. Es gehört lediglich zur subjektiven Erfahrung des Glaubens. „Das Wunder ist ein subjektiver Begriff.“31 Sein Ringen um die Wunderfrage wird besonders anschaulich am Problem der Jungfrauengeburt. Trillhaas widmet ihm einen mehrseitigen Exkurs.32 „Ein abschließendes Wort“ will er hier nicht sprechen.33 Aber er sieht das natus ex Maria virgine „nur in der sekundären Textschicht der Synoptiker“ überliefert.34 Damit fehlt ein eindeutiger und breiter Schriftbeweis“, von einer „historischen Tatsache“ kann man also nicht sprechen.35 Ein völlig anderes Bild entdecken wir im Christlichen Dogma von Adolf Schlatter. Die Gottessohnschaft Jesu entsteht „Nicht erst im Verlauf “ seines Lebens. Sie fällt zusammen mit seinem Werden: „er wird durch Gottes Schöpfertat“.36 Der Bezug auf Gottes Schöpferkraft ermöglicht es Schlatter, die jungfräuliche Geburt Jesu als eine Tatsache und als ein historisches Ereignis zu betrachten. In seinem Matthäuskommentar schreibt er: „Das Kindlein, das in Maria zum Leben kam, ist ein heiliges Wesen, weil es aus Gottes heiligem Geiste sein Leben hat.“37 Bekannt ist Karl Barths Eintreten für die Jungfrauengeburt. Grundlegend für das Realwunder der Jungfrauengeburt sind nach Karl Barths Credo die Gnade und die Freiheit Gottes, die zu der „an Maria sich ereignenden Schöpfung“ führen: „Daß sie sich an Maria ereignet, das ist die Gnade Gottes, daß sie Schöpfung ist, das ist die Freiheit Gottes in diesem das Geheimnis bezeichnenden Wunder.“38 Im zweiten Halbband des ersten Bandes seiner Kirchlichen Dogmatik hat sich Karl Barth unter der Überschrift „Das Wunder der Weihnacht“ leidenschaftlich für die Tatsächlichkeit und theologische Bedeutung der Jungfrauengeburt ausgesprochen.39 Es war und ist der freie Wille Gottes, dass er sich gerade so offenbaren wollte. Unser Abschnitt Mt 1,18-25 und Lk 1,27-38 sind für ihn die biblischen Hauptstellen, „von denen … wir auszugehen haben“.40 Im Natus ex Maria virgine kommt zum Ausdruck, dass „die Person Jesus Christus der wirkliche Sohn einer wirklichen 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

A.a.O. 317.331. Trillhaas 168. A.a.O. 263ff. A.a.O. 265. A.a.O. 264. A.a.O. 265. Dogma 332. Schlatter 10. Barth Credo 64. Barth KD I/2 187ff. A.a.O. 189.

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Mutter ist.“41 Andererseits besagt der Begriff der Jungfrauengeburt: Es handelt sich um eine „Geburt ohne vorangegangene geschlechtliche Vereinigung von Mann und Weib.“42 Es kommt ganz und gar auf das souveräne Handeln Gottes an: „Als Werkgenosse Gottes bleibt tatsächlich niemand übrig.“43 Wie seltsam ungeordnet und nur subjektivistisch verständlich wirken demgegenüber manche Gegenwartsäußerungen, z.B. die Jungfrauengeburt solle ausdrücken, „dass Jesus ein ganz besonderes Kind, ein Gotteskind“44 sei – als ob das nicht alle Glaubenden wären! Zur Annahme der Jungfrauengeburt als eines realen Wunders bewegen uns folgende Überlegungen: 1. Die biblischen Aussagen in Mt 1,18ff und Lk 1,26ff sind eindeutig und ausreichend. Das oft überbewertete Zeugnis des Syrus Sinaiticus in Mt 1,16 ist in sich widersprüchlich und reicht nach den Maßstäben der Textkritik bei Weitem nicht aus, die genannten biblischen Aussagen zu erschüttern. 2. Das gesamtbiblische Zeugnis vom dreieinigen Gott als Schöpfer und Richter der Welt erlaubt es nicht, Gottes freien Willen und seine Schöpfermacht zu begrenzen. Gott ist weder einem deistischen noch einem pantheistischen System zuzuordnen. Er hat die Fähigkeit und Möglichkeit, jederzeit in den Weltlauf einzugreifen und Unerhörtes und Ungewöhnliches zu tun. Und dass er es getan hat, ist ja gerade der Inhalt der biblischen Botschaft. 3. Auch die Naturwissenschaft verbietet uns prinzipiell nicht, mit einem solchen Wunder zu rechnen. Sie kann es weder beweisen noch widerlegen. Der Glaube vieler Naturwissenschaftler führt immer wieder zu einer letzten Synthese von Wissenschaft und Religion. So bemerkte der englische Physiker Arthur Stanley Eddington (1882–1946): „Die moderne Physik führt uns notwendig zu Gott hin, nicht von ihm fort. – Keiner der Erfinder des Atheismus war Naturwissenschaftler. Alle waren sie sehr mittelmäßige Philosophen.“45 4. Es ist nicht möglich, die biblischen Aussagen über die Jungfrauengeburt einer sekundären Textschicht oder dem hellenistischen Christentum zuzuschreiben.46 Sowohl die Berichte in Mt 1 als auch in Lk 1–2 gehen auf judenchristliche Tradition zurück,47 ganz gleich, wie man die genauere Abfassungszeit der beiden Evangelien bestimmt. Erst recht gilt das natürlich, wenn – wie wir in der Einleitung darlegten – das Matthäusevangelium das älteste der Evangelien ist. Überdies gehört die παρθένος-Tradition von Jes 7,14 in die vorchristliche Ge41 42 43 44

A.a.O. 202. A.a.O. 207. A.a.O. 214. So auf dem 2. Ökumenischen Kirchentag in München, nach idea Spektrum Nr. 20 vom 19. Mai 2010, 8. 45 Nach Ernst Frankenberger, Gottbekenntnisse großer Naturforscher, 16. Aufl., 1999, 25 (im katholischen Johannes-Verlag, Leutesdorf ). 46 Vgl. auch Luz I 101; France 76f. 47 Vgl. Stuhlmacher II 151.

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schichte des Judentums und hat zunächst mit christlich-hellenistischen Gemeinden nichts zu tun. 5. Das „geboren von der Jungrau Maria“ ist über 1500 Jahre hinweg christliches Glaubensbekenntnis gewesen. Man vgl. das altrömische Symbol: „natus est de spiritu sancto et Maria virgine“,48 das Apostolische Glaubensbekenntnis: „conceptus est de spiritu sancto, natus ex Maria virgine“,49 das Nizänische Glaubensbekenntnis: „incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine“,50 und die Berufung der Augsburger Konfession auf das Nizänische Glaubensbekenntnis (Art. I)51. Um dieses von unzähligen Christen vertretene Glaubensbekenntnis aufzuheben, wäre eine Neugründung der Kirche notwendig. Anhangsweise sei hier noch einmal Karl Barth zitiert, wonach man unmöglich behaupten könne, „daß die hier aufzuwerfenden Fragen so schwer zu beantworten seien, daß man von der Exegese her zu einer Bestreitung des Dogmas genötigt wäre“.52

In V. 19 konzentriert sich Matthäus auf Josef. Es ist schade, dass Josef gewöhnlich ganz im Schatten Marias steht. Denn die Berichte in Mt 1,18–2,23 reichen aus, um ihn als eines der großen biblischen Glaubensvorbilder zu betrachten und zugleich seine wichtige Rolle in der Heilsgeschichte zu erkennen. Ulrich Luz meint, dass Mt 1,18-25 „zu einem vormatthäischen mündlichen Erzählungskranz gehörte, in dem Josef eine zentrale Rolle spielte“53 – was möglich, aber eben nur eine Vermutung bleibt. Sollte sie zutreffen, dann könnte es sich nur um eine sehr alte judenchristliche Tradition des Israellandes handeln. Josef wird hier ausdrücklich und dem Recht entsprechend als Marias Mann (ἀνήρ [anēr]) bezeichnet. Das zweite Charakteristikum bringt Matthäus mit einer Partizipialkonstruktion zum Ausdruck: δίκαιος ὤν [dikaios ōn], er war ein Gerechter.54 Das ist ganz im Sinne und in der Sprache des AT geredet. Griech. δίκαιος [dikaios] gibt hebr. ‫[ ַצ ִדּיק‬zaddīq] wieder.55 Der Gerechte ist ein Mensch, der Gott mit seinem Lebenswandel die Ehre gibt. B. Johnson listet einige Verhaltensweisen des Gerechten im AT auf: Er liebt das, was recht ist, er hasst die Lüge, unterstützt vor Gericht die gerechte Sache, er ist barmherzig und freigebig, er hilft den Bedrückten und nimmt seine Zuflucht zu Gott.56 48 49 50 51 52 53 54 55 56

BELK 21. A.a.O. Vgl. EG 1243. A.a.O. 26. Vgl. EG 1244. BELK 50. Barth KD I/2 192. Luz I 101. Von BDR § 418,1 kausal aufgefasst. B. Johnson, Art. ‫ָצַדק‬, ThWAT, VI, 1989, 922f. A.a.O. 918.

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Alle diese Eigenschaften und Verhaltensweisen dürfen wir bei Josef voraussetzen. Wie hoch die Aussage, ein Gerechter zu sein, im Neuen Testament bewertet wird, sieht man daran, dass Jesus Christus selbst als ein Gerechter gilt,57 und Abel, Zacharias, Elisabeth und Simeon „Gerechte“ genannt werden (Mt 23,35; Lk 1,6; 2,25; vgl. Mt 10,41; 13,17; 23,29).58 Dass Josef die Maria nicht der öffentlichen Schande preisgeben (bzw. bloßstellen) wollte, entspricht dem soeben gezeichneten Bild des alttestamentlichen Gerechten. δειγματίσαι [deigmatisai]59 hätte bedeutet: „Maria … durch Anzeige beim Gerichtshof in die Öffentlichkeit bringen und bloßstellen.“60 Dagegen stellten sich die Barmherzigkeit und der Wille, der bedrückten Frau zu helfen, bei dem gerechten Josef. Aber eine Ehe mit ihr fortzuführen, dazu war er nicht verpflichtet. Ein legitimer „Sohn Davids“ konnte ja das Kind – mit den Augen der Menschen betrachtet – nicht werden. Deshalb hatte er die Absicht, sie ohne Angabe des Grundes zu entlassen. Die griechische Wortwahl des Matthäus macht es uns nicht ganz leicht, den präzisen Sinn dieser Aussage zu erfassen. ἐβουλήθη [eboulēthē] übersetzen wir wie Gottlob Schrenk: „er hatte die Absicht“.61 Aber was heißt λάθρᾳ [lathra]? Bauer-Aland übersetzen mit „heimlich“.62 Einige Bibelübersetzungen folgen ihnen,63 andere wählen die Übersetzung „in aller Stille“ o.ä.64 Heimlich passt aber nicht, denn eine Ehe war in Israel eine öffentliche Angelegenheit und musste auch nach bestimmten Regeln, vor allem mit einem Scheidebrief (Dtn 24,1ff ), aufgelöst werden. Deshalb muss λάθρᾳ [lathra] eher in der Bedeutung „ohne Wissen von jemand“ aufgefasst werden, wobei sich das Wissen auf den Grund der Scheidung bezieht. Jedenfalls heißt ἀπολῦσαι [apolysai] in Mt 1,19 „die Ehefrau mit dem Scheidebrief entlassen (fortschicken)“.65 Interessant ist ein Vergleich von Mt 1,19 mit Mischna und Talmud. In Sota IX, 9 lesen wir: „Als die Ehebrecher sich mehrten, wurde das Fluchwasser abgeschafft, und zwar schaffte es R. Jochanan ben Zakkaj ab.“ Das „Fluchwasser“ ist das der Prüfung der Ehe dienende Wasser von Num 5,11ff. In neutestamentlicher Zeit war die Ehemo57 Vgl. G. Schrenk im Art. δίκη usw., ThWNT, II, 1935, 190f. 58 Schrenk a.a.O. 191. 59 Die ebenfalls gut bezeugte Textvariante παραδειγματίσαι weist praktisch keinen Bedeutungsunterschied auf. Vgl. H. Schlier, Art. δείικνυμι usw., ThWNT, II, 1935, 31; Zahn 75,42. 60 So Schlier a.a.O. 61 Im Art. βούλομαι usw., ThWNT, I, 1933, 630, 53. 62 Bauer-Aland, 939f; ebenso BDR § 435,1. 63 Z.B. Lutherbibel; Revidierte Elberfelder Bibel; NGÜ. 64 Z.B. Einheitsübersetzung; Neue Jerusalemer Bibel; BigS; Benedikt-Bibel. 65 Bauer-Aland, 193.

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ral auch im Israelland gesunken, Rabbi Jochanan ben Zakkaj (ca. 1–80 n.Chr.?) sah es deshalb als unmöglich an, die auf Einzelfälle zugeschnittene Regelung von Num 5,11ff weiterhin anzuwenden, und schaffte sie als Leiter des Lehrhauses von Jabne (Jamnia) ab. Unter solchen Umständen kann man es sich leichter vorstellen, dass Josef eine rasche Scheidung ohne allzu viel Aufsehen und ohne Angabe des Grundes herbeiführen konnte. Bisher standen Maria (V. 18) und Josef (V. 19) im Mittelpunkt des Berichts. Mit V. 20 geht die Initiative an Gott über. Sein Bote (ein Engel des Herrn) überbringt die Botschaft der Verse 20 und 21, mit der alles eine andere Wendung nimmt (vgl. Prov 16,9): Während er noch mit diesen Gedanken beschäftigt war (ταῦτα δὲ αὐτοῦ ἐνθυμηθέντος [tauta de autou enthymēthentos]), siehe da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum, V. 20. Das biblische ἐνθυμέομαι [enthymeomai] ist weit lebhafter, als die etwas unterkühlten Übersetzungen „er dachte nach“ oder „er erwog“ ahnen lassen. In ἐνθυμέομαι [enthymeomai] liegt vielmehr ein leidenschaftliches, bewegtes Element.66 Wir haben deshalb versucht, auch diesem Element mit der Übersetzung er war noch mit diesem Gedanken beschäftigt Ausdruck zu verschaffen. Wer der Engel des Herrn war, wird hier nicht gesagt. Es heißt nur ein Engel des Herrn (ἄγγελος κυρίου [angelos kyriou] ohne Artikel). Eventuell war es Gabriel (vgl. Lk 1,26ff ). Auffällig ist, dass dieser Engel im Traum erschien. κατ’ ὄναρ [kat’ onar] bedeutet hier so viel wie im (ἐν [en]) Traum.67 Damit wird ein theologisch und praktisch wichtiges Problem angeschnitten. Im AT offenbarte sich Gott mehrfach durch Träume (vgl. Gen 37,5ff; 40,5ff; 41,1ff; 1Sam 28,6; 1Kön 3,5ff; Dan 2,1ff; 4,2ff; 7,1ff; Hiob 33,15f ). Zugleich aber nahm im AT die Warnung vor Träumen zu (Koh 5,6; Jer 23,28.32; Sach 10,2). Wir beobachten außerdem, dass in Israel keine Priesterklassen entstanden, die speziell für die Traumdeutung zuständig gewesen wären – ganz im Unterschied zu Ägypten (Gen 41,8) und Babylonien (Dan 2,2ff; 4,3ff ). Der Grund ist leicht einzusehen: Das lebendige Hören auf das Gotteswort wäre ersetzt worden durch eine mechanische, typisierte Traumdeutung. Interessanterweise spielen die Träume im Neuen Testament nach Ausgießung des Heiligen Geistes keine Rolle mehr. Umso bemerkenswerter bleibt die Tatsache, dass Matthäus mehrfach von Offenbarungen Gottes im Traum berichtet (Mt 1,20; 2,12; 2,13; 2,19; 2,22; vgl. 27,19). Alle diese Offenbarungen sind jedoch begrenzt entweder a) auf die Zeit vor dem öffentlichen Auftreten Jesu 66 Vgl. F. Büchsel, Art. θυμός usw., ThWNT, III, 1938, 172. 67 Vgl. BDR § 224,1.

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oder b) auf heidnische Personen (z.B. 27,19). Das stimmt überein mit dem Zurücktreten der Träume in der neutestamentlichen Geistesgemeinde. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass ὄναρ [onar] (Traum) im NT nur bei Matthäus vorkommt und dort eine positive Rolle spielt. Welche Schlüsse sind aus diesen Beobachtungen zu ziehen? 1) Es ist nicht zu bestreiten, dass Gott auch über Träume mit uns reden kann. Man darf diese Möglichkeit schon wegen Hiob 33,15ff; Mt 1,20; 2,12ff; Joel 3,1 und Apg 2,17 nicht einfach streichen. 2) Doch muss wegen Koh 5,6; Jer 23,7ff und der Zurückhaltung des NT seit der Geistausgießung größte Vorsicht walten. Unser Sprichwort „Träume sind Schäume“ enthält ja doch eine tiefe Wahrheit. Vor allem kann man andere niemals durch Berufung auf einen Traum zu irgendetwas verpflichten. 3) Dass Matthäus ausgerechnet in Mt 1 und 2 so viel von TraumOffenbarungen Gottes spricht, lässt sich letzten Endes nur erklären, wenn ihm hier geschichtliche, auf Josef zurückgehende Nachrichten vorliegen. Die Botschaft des Engels lautet: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria,68 deine Frau, zu dir zu holen. Denn was in ihr gezeugt ist, ist aus dem Heiligen Geist. Für die Ausleger taucht hier wieder eine ganze Reihe von Fragen auf. Zunächst beansprucht die Anrede Josef, Sohn Davids (Ἰωσὴφ υἱὸς Δαυίδ [Iōsēph hyios Dauid]) unsere Aufmerksamkeit. In Mt 1,1 war Sohn Davids Messiastitulatur. Die Wiederaufnahme dieser Titulatur in V. 20 zeigt die unverlierbare Würde Josefs. Er ist Davidide, so wie alle in 1,7-16 Genannten „Söhne Davids“ sind. Mt 1,18-25 ist also eng mit der Genealogie in 1,2-17 verbunden. Das Bild des traditionell schlichten, gelegentlich „einfältigen“ Josef muss von Mt 1,20 her korrigiert werden. Josef wird von Gott als Nachkomme Davids im Sinne der Verheißung von 2Sam 7,12ff; Ps 89,4ff ernst genommen. Er ist ja in der Tat königlichen Geblüts. Gleichzeitig wird er an die Verantwortung erinnert, die er gerade als ein „Sohn Davids“ vor Gott hat. Es geht nicht nur um seine privaten Angelegenheiten. Es geht um Israel und seinen Messias. Wovor fürchtet sich Josef? Ein Teil der Ausleger meint, Josef wisse schon vor V. 20, dass Maria vom Heiligen Geist schwanger sei, und fürchte sich deshalb, „die durch Gott geheiligte Maria anzutasten“.69 Aber damit wird der Ablauf der Ereignisse in Mt 1,20 auf den Kopf gestellt.70 Nach dem Zusammenhang fürchtet sich Josef im Sinne der Gottesfurcht vielmehr davor, die nach den Bestimmungen der göttlichen Gebote in Lev 21,9; Dtn 22,22ff aufs 68 Μαριάμ [Mariam] ist besser bezeugt als Μαρίαν [Marian]. Anders BDR § 53,12. 69 Vgl. Luz I 103, der diese Auslegung ablehnt. 70 So auch Luz a.a.O.

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Schärfste verurteilte Frau als seine Ehefrau bei sich zu behalten. Wenn der Engel sagt: fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu holen, dann will er, dass Josef seine Scheidungsabsicht aufgibt.71 παραλαμβάνειν [ paralambanein] heißt hier „heimführen“, sie in Josefs Haus holen.72 Eine Begründung ist Gott nicht schuldig. Aber Gottes Barmherzigkeit lässt den Engel den Grund für seine Aufforderung aussprechen: Denn was in ihr gezeugt ist (τὸ γὰρ ἐν αὐτῇ γεννηθέν [to gar en autē gennēthen]), ist aus dem Heiligen Geist (ἐκ πνεύματός ἐστιν ἁγίου [ek pneumatos estin hagiou]). Erst jetzt erfährt Josef, dass Marias Schwangerschaft auf ein göttliches Wunder zurückgeht. Jeder Verdacht auf Ehebruch und uneheliche Schwangerschaft wird hier vom Engel verboten. Mehr noch: Jeder Gedanke an einen menschlichen Vater im Sinne des Erzeugers des Kindes wird hier ausgeschlossen. Vielleicht enthält die Formulierung τὸ γεννηθέν [to gennēthen] eine Erinnerung an Ps 2,7 (LXX: ἐγὼ σήμερον γεγένηκά σε [egō sēmeron gegenēka se]).73 Die Fortsetzung der Engelbotschaft lautet: Sie wird aber einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten (V. 21). Die Formulierung entspricht bis in die Einzelheiten hinein Jes 7,14 (LXX: τέξεται υἱόν, καὶ καλέσεις τὸ ὄνομα αὐτοῦ Εμμανουηλ [texetai hyion, kai kaleseis to onoma autou Emmanouēl]), sodass schon vor V. 22f klar ist, dass sich jetzt Jes 7,14 erfüllt. Dennoch enthält Mt 1,21 auch Überraschungen, die sich aus dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte ergeben. Die Prophezeiung Sie wird einen Sohn gebären geht über die Ankündigung eines Ereignisses hinaus. Sie enthält nämlich für Josef die Möglichkeit einer doppelten Bestätigung im Sinne von Dtn 18,21 und Dtn 13,2ff: Erstens kann die Sohnesgeburt bestätigen, dass es Josef im Traum wirklich mit einem Engel des Herrn zu tun hatte; zweitens kann sie bestätigen, dass die Schwangerschaft der Maria wirklich auf den Heiligen Geist zurückgeht. Mehr noch: Aus Wort und Ereignis zugleich kann Josef erkennen, dass sich in diesem Geschehen nun Jes 7,14 erfüllt. Zugleich wird die außerordentliche Sendung des Sohnes in der Heilsgeschichte schon in Umrissen erkennbar. Es folgt die erste wichtige Überraschung: und du sollst ihm den Namen Jesus geben – τὸ ὄνομα Ἰησοῦν [to onoma Iēsoun] statt wie in Jes 7,14 τὸ ὄνομα Εμμανουηλ [to onoma Emmanouēl]!74 An sich ist die göttliche Anordnung, einem Kind einen bestimmten Namen zu geben, durchaus biblisch (vgl. 71 72 73 74

BDR § 336,4 übersetzen: „unterlaß nicht aus Furcht“. Bauer-Aland, 1252. So F. Büchsel, Art. γεννάω usw., ThWNT, I, 1933, 669. BDR § 157,4: „hebraisierender“ Stil.

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Gen 16,11; 17,19; Jes 7,14; 8,3; Hos 1,4.6.9). Auffällig ist in Mt 1,21 aber, dass der prophetisch angekündigte Name „Immanuel“ in Jes 7,14 jetzt auf göttliche Anordnung mit dem Namen Jesus zum Ausdruck gebracht werden soll. Man kann diesen Vorgang nur so verstehen, dass Jesus ein Interpretament, eine Auslegung des „Immanuel“ bedeutet. „Immanuel“, auf Deutsch „Mit uns ist Gott“, ereignet sich in der Geschichte in und durch Jesus. Anders formuliert: „Immanuel“ ist ein Programm, Jesus der Verwirklicher dieses Programms. Die zweite wichtige Überraschung von V. 21 besteht darin, dass Gott durch den Engel selbst den Namen Jesus deutet: Denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten (σώσει [sōsei]). Vgl. Ps 130,8. Über den Namen Jesus vgl. oben die Erklärung bei 1,1. Die hebräische Wurzel ‫ [ ישע‬jsch‘], die Jesus (Ἰησοῦς [Iēsous]) zugrunde liegt, wird griech. mit σῴζειν [sōzein] wiedergegeben. Jesus ist ein Retter von Sünden (ἀπὸ ἁμαρτιῶν [apo hamartiōn]): Das ist seine zentrale messianische Aufgabe. Die Namensgebung Jesus stimmt dabei völlig mit Lk 1,31ff; 2,21 überein. Aber die Namensdeutung, die Matthäus überliefert, ist eine Besonderheit seines Evangeliums. Allerdings bleibt Matthäus mit seiner Deutungsüberlieferung nicht isoliert, sondern bringt nur dasselbe zum Ausdruck, was Jesus selbst über seine Sendung sagt (Mt 9,13; 20,28; Lk 19,10; Joh 3,16ff ). Damit wird aber eine entscheidende Weiche gestellt. Denn offenbar soll jetzt primär und konzentriert und endgültig das Abtun der Sünde und ihre ewige Sühnung erfolgen, von der die Prophetie in Jes 53,5ff; Dan 9,24 sprach.75 Der Messias als Retter von Sünden ist eine andere Konzeption als der Messias im Sinne einer politischen, nationalen Befreiung oder der Reinigung des Volkes von „Sündern“. Markant kommt dieser Unterschied durch den Vergleich von Mt 1,21 mit den pharisäischen Psalmen Salomos zum Ausdruck. Dort heißt es in Ps Sal 17,22f vom Messias: „umgürte ihn mit Stärke, zu zermalmen ungerechte Fürsten, zu reinigen Jerusalem von Heidenvölkern, … in Weisheit (und) in Gerechtigkeit die Sünder vom Erbe zu verstoßen.“76 In Mt 1,21 aber geht es nicht um die Vertreibung der Heiden (Römer) aus Jerusalem und auch nicht um die Beseitigung der (israelitischen) Sünder, sondern um die Beseitigung der Sünden (vgl. Joh 1,29.36; Lk 19,10). Mt 1,21 schließt nicht aus, dass es nach der Überwindung der Sünde auch zu einer machtvollen Aufrichtung des Gottesreiches kommen soll (vgl. Apg 75 Mt 1,21 darf nicht auf die „Vergebung“ der Sünden eingeschränkt werden, auch wenn diese Einschränkung zur Zeit beliebt ist (so Fiedler 50; Luck 22; Luz I 104). Der weitere Horizont bei Schlatter 10; Carson 76. 76 Nach der Übersetzung von Svend Holen-Nielsen in JSHRZ IV, 2, 1977, 102.

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1,6ff; Mt 19,28; 23,39). Aber die sachliche und zeitliche Priorität hat doch das retten von ihren Sünden. Im Blick auf andere jüdische Messiaskonzeptionen bemerkt Werner Foerster: „dort ist die Vergebung der Sünden nicht ein zentraler Inhalt des messianischen Heiles oder der Rettung.“77 Wer ist das Volk (λαός [laos]), das auf diese Weise gerettet werden soll? Die Wendung sein Volk spricht zunächst dafür, dass hier Israel gemeint ist.78 Eine zumindest zeitliche Priorität Israels ergibt sich denn auch aus Mt 10,5; 15,24ff. Dennoch darf man nicht exklusiv nur an Israel denken. Denn schon Dan 7,14 sprach vom Volk des Messias aus allen Völkern und Sprachen, und die Gottesknechtlieder deuten ebenfalls auf ein weltumspannendes, die ganze Menschheit einbeziehendes Messiasvolk (Jes 42,4ff; 49,1ff ). So hat es auch Jesus selbst gesehen (Mt 8,11; 25,31ff; 28,19f; Joh 10,16).79 Fazit: Zwar drückt sich in Mt 1,21 eine Priorität Israels aus, aber keine Exklusivität, denn sein Volk umfasst in einer eschatologischen Dimension das Messiasvolk aus allenVölkern.80 Die Verse 22 und 23 deuten die Herkunft und die Geburt Jesu. Zahn meinte, in diesen beiden Versen spräche noch der Engel.81 Aber die Aussagen in Mt 2,15.17.23; 4,14; 21,4; 26,56; 27,9 zeigen, dass die Verse 22f eine Erläuterung des Evangelisten darstellen. Die Eingangsworte Das alles aber ist geschehen (τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν [touto de holon gegonen])82 erinnern uns daran, dass Matthäus reale Geschehnisse niederschreiben wollte (vgl. V. 18). Der etwas überrascht klingende Satz von Ulrich Luz: Matthäus „hat selbst natürlich an die ihm schon überlieferte Jungfrauengeburt geglaubt“83, lässt sich mutatis mutandis auf das ganze Kapitel übertragen. Matthäus sieht in diesen Geschehnissen die Erfüllung des göttlichen Wortes: damit erfüllt würde, was vom Herrn durch den Propheten geredet wurde. In der wissenschaftlichen Diskussion muss diese Aussage von missverständlichen Auffassungen abgegrenzt werden. Zu Letzteren gehört die Auffassung, der Evangelist habe alles eben so erzählt, dass die Dinge in Übereinstimmung mit einer Stelle des AT gebracht wurden. Sie seien sozusagen „passend“ gemacht worden. Die Evangelisten nehmen jedoch einen anderen Standpunkt ein. Sie beobachten zuerst, was geschehen ist, und reflekIm Art. σῴζω usw., ThWNT, VII, 1964, 991. Vgl. Luz I 104f; Carson 76; France 78. Vgl. Zahn 79. Anders Fiedler 50: nur Israel im Blick. Vgl. auch Cullmann 249ff über das Verhältnis von Mt 1,21 zum Soter-Titel Jesu; France 78. 81 Zahn 80; ebenso Carson 76. 82 Vgl. BDR § 343,4. 83 Luz I 110. 77 78 79 80

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tieren dann diese Vorgänge im Licht der Heiligen Schrift. Insofern hat der Begriff des „Reflexionszitates“ seine positive Seite. „Reflexion“ darf also nicht so verstanden werden, als schaffe der Autor aufgrund seiner Reflexion die Vorgänge, sondern „Reflexion“ bedeutet „Reaktion“: Die richtige Bewertung der zuvor festgestellten Vorgänge kann erst durch das Schriftverständnis ermöglicht werden. Die Formulierung damit erfüllt würde setzt voraus, dass die Prophetie im Geschichtsverlauf eintrifft, dass aus dem Gesagten Geschichte wird.84 Die weiteren Worte was vom Herrn durch den Propheten geredet wurde erhellen noch einmal das Schriftverständnis des Matthäus. Der Inhalt der prophetischen Bücher Israels ist das, was vom Herrn geredet wurde (τὸ ῥηθὲν ὑπὸ κυρίου [to rhēthen hypo kyriou]). Der menschliche Prophet ist nur Mittler,85 nur Bote (διὰ τοῦ προφήτου [dia tou prophētou]). Im Falle von Mt 1,22f ist Jesaja gemeint (vgl. Jes 6,8). Es geht also in erster Linie nicht um irgendwelche weltpolitischen oder religiösen Einsichten, Beurteilungen, Vorschläge und Aufforderungen der Propheten, sondern um das, was Gott selbst zu sagen hat. Hinter κύριος [kyrios] dürfte das alttestamentliche ‫ [ יהוה‬jhwh] stecken. Wie Gerhard Delling zeigt, kommt die Redewendung ἵνα (ὅπως) πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν διὰ τοῦ προφήτου [hina (hopōs) plērōthē to rhēthen dia tou prophētou] im NT nur bei Matthäus vor. Überhaupt legt Matthäus unter den Evangelisten die meisten Schriftbeweise vor.86 Wir stoßen bei Mt 1,22 also auf eine ausgesprochene Eigenart des Matthäus, der uns erkennbar mit dem Profil eines christlichen Schriftgelehrten begegnet (vgl. Mt 13,52; 23,34). Vers 23 bringt das spezielle prophetische Wort, das sich in der wunderbaren Geburt Jesu erfüllt. Es ist Jes 7,14: Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und wird einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, was übersetzt heißt: Mit uns ist Gott. Bis auf καλέσουσιν [kalesousin] (LXX: καλέσεις [kaleseis]) entspricht dieses Zitat wörtlich dem LXX-Text von Rahlfs. Es entspricht auch dem MT von Jes 7,14 mit Ausnahme einer Abweichung an derselben Stelle: Statt „sie (3. Pers. Plur.) werden ihm den Namen geben“ heißt es im hebräischen Text: „sie (= die Mutter) wird ihm den Namen geben“. Doch die Diskussion konzentriert sich nicht auf die Varianten, sondern auf das ἡ παρθένος [hē parthenos]. Viele moderne Ausleger meinen: Matthäus hat eine falsche Übersetzung für etwas historisch Falsches in Anspruch genommen. Das hebräische ‫[ ָהַעְלָמה‬hāʿalmāh] bedeute 84 Vgl. Jesu Formulierung in Mt 5,18: ἕως ἂν πάντα γένηται [heōs an panta genētai]. 85 BDR § 223,6. 86 G. Delling, Art. πλήρης usw., ThWNT, VI, 1959, 294.

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nicht Jungfrau (παρθένος [ parthenos]), sondern „junge Frau“. Ulrich Luz geht so weit, zu sagen, Jesaja habe „eindeutig weder an eine Jungfrauengeburt noch an einen nach vielen Jahrhunderten geborenen Messias gedacht“.87 So einfach liegen die Dinge aber nicht.88 Für Gesenius spielt bei der hebr. ‫ַעְלָמה‬ [ʿalmāh] die Frage „verehelicht oder nicht“ keine Rolle. ‫ ַעְלָמה‬sei „lediglich das Mädchen als mannbares“, puella nubilis oder virgo matura.89 Einst hatte Delitzsch in philologischer Hinsicht ebenso argumentiert, um dann aus dem Kontext zu begründen, dass schon das hebr. ‫ ַעְלָמה‬in Jes 7,14 eine Jungfrau meine.90 Sehr zurückhaltend sind die Urteile bei Ch. Dohmen, der 1989 den Artikel über ‫ ַעְלָמה‬im ThWAT verfasste.91 Er konstatiert höchst nüchtern: „Bisher wurde keine allseits befriedigende Etymologie zu hebr. – ʿalmah gefunden.“92 Er selbst ist der Meinung, dass die „Grundbedeutung von ʿalmah“ die „Fremde“ sei.93 Was nun Jes 7,14 anlangt, so weist er auf zwei Sachverhalte hin: 1) habe die LXX „kein einheitliches Übersetzungsäquivalent für ʿalmah“, sondern gebrauche einmal παρθένος [ parthenos] (so in Gen 24,43 und Jes 7,14) und ein andermal νεᾶνις [neanis] (in den übrigen Stellen).94 2) Wenn Aquila, Symmachus und Theodotion in Jes 7,14 νεᾶνις [neanis] statt παρθένος [ parthenos] bieten, sei dies „vielleicht bewußt im Gegensatz zur christologischen Deutung der Stelle“ geschehen.95 In παρθένος [ parthenos] Jes 7,14 LXX könne demgegenüber der Versuch gesehen werden, der „durch die Überarbeitung sowie die Rezeption des ursprünglichen Prophetenwortes“ entstandenen Situation zu entsprechen.96 Man wird deshalb das παρθένος [ parthenos] der LXX nicht einfach als fehlerhafte oder falsche Übersetzung beurteilen dürfen. Im Übrigen bleibt die schlichte, aber elementare Frage: Was bewog (die) jüdischen Übersetzer der LXX, in Jes 7,14 für ‫[ ָהַעְלָמה‬hāʿalmāh] ἡ παρθένος [hē parthenos] zu wählen? Mit „christlichen“ Gedanken hatten sie nichts zu tun. Es gab offenbar ein sachliches Recht zu dieser Übersetzung. Zumindest die Möglichkeit wird man nicht in Abrede stellen dürfen und mit Gerhard Delling97 konstatieren können: Es sei „auch die Möglichkeit 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

Luz I 105. Gesenius 594. Vgl. die Diskussion bei Carson 77ff. Delitzsch 115ff. ThWAT, VI, 1989, 167ff. A.a.O. 172. A.a.O. 176. A.a.O. 174. Dohmen a.a.O. Ebenso G. Delling, Art. παρθένος, ThWNT, V, 1954, 831; Carson 78. A.a.O. Dohmen. Delling a.a.O.

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vorhanden, daß der Übersetzer von Jes 7,14 sich eine ungeschlechtliche Entstehung des Jungfrauensohnes vorgestellt hat.“ Matthäus jedenfalls hat dieses παρθένος [ parthenos] schon vorgefunden, es für die richtige Wiedergabe von ‫[ ַעְלָמה‬ʿalmāh] gehalten und als die adäquate Prophetie für die Vorgänge in 1,16 und 1,18ff betrachtet. Die zweite Zeile von V. 23 ab καὶ καλέσουσιν [kai kalesousin] bis Ἐμμανουήλ [Emmanouēl] hätte er gar nicht zitieren müssen. Wenn er es dennoch getan hat, dann nur, weil er den Namen Immanuel nicht als einen Widerspruch zu Jesus empfand. Das Immanuel-Sein Jesu, das „Mit uns ist Gott“, sah er gerade darin gegeben, dass Jesus der Retter von Sünden ist. Ist unsere Sünde abgetan, dann kann „Gott mit uns“ und der Mensch mit Gott sein. Die Stärke des Motivs Immanuel (‫[ ִע ָמּנוּ ֵאל‬ʿimmānū ʾel]) lässt sich daran ermessen, dass es bei Jesaja dreimal auftaucht (7,14; 8,8; 8,10). Der Aussage nach steht es dem Gott mit ihnen (ὁ θεὸς μετ’ αὐτῶν [ho theos met’ autōn]) in Offb 21,3 äußerst nahe, ebenso dem ἐγὼ μεθ’ ὑμῶν [egō meth’ hymōn] Jesu in Mt 28,20.98 Es handelt sich um die durch und durch christologisch begründete Gottesgemeinschaft der Endzeit. Für καλέσουσιν [kalesousin] lesen manche Handschriften καλέσεις [kaleseis] – eine nachträgliche Korrektur nach der LXX. Woher Matthäus den Plural καλέσουσιν [kalesousin] hat, lässt sich nicht mehr bestimmen. Es müssen wohl mehrere Rezensionen im Umlauf gewesen sein. καλέσουσιν [kalesousin] hat vermutlich den Sinn: „man wird ihm geben.“99 Matthäus fügt dann noch hinzu was übersetzt heißt: Mit uns ist Gott (ὅ ἐστιν μεθερμηνευόμενον μεθ’ ἡμῶν ὁ θεός [ho estin methermēneuomenon meth’ hēmōn ho theos]). Diese kleine Bemerkung erlaubt einen doppelten Rückschluss: a) Matthäus rechnet mit griechischsprachigen Lesern, die kein Hebräisch können, b) er selbst kann sowohl Hebräisch und Aramäisch als auch Griechisch. Dass wir es mit einem gebildeten, schriftgelehrten Verfasser zu tun haben, bestätigt sich auch hier.100 In der strengen Kürze ihrer Erzählungen sind die Evangelien unübertroffen. Um den vollen Gehorsam Josefs darzustellen, braucht Mt in V. 24 nur wenige Worte: Als Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und holte seine Frau zu sich. Von Josef wird kein einziges Wort berichtet. In beiden Kapiteln, Mt 1 und 2, spricht er niemals auch nur ein einziges Wort! Aber er handelt, und zwar mit aller Sorgfalt und genau so, wie Gott es will. Zum Schlaf vgl. V. 20. Er tat, wie (ὡς [hōs]) ihm der Engel des 98 Vgl. Carson 80; Luz I 105; France 80; Wiefel 34. 99 Vgl. Carson 80f, der auf die Erlösten deutet. Siehe Zahn 83; Tasker 36; Beare 72. 100 Zu Mt 1,23 „the literature is legion“, wie Carson 77 schreibt.

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Herrn befohlen hatte: wie hebt noch stärker auf die Sorgfalt ab als ein „dass“ oder „was“. Ob es ihm schwerfiel, sagt der Text nicht. Die Bibel ist weit mehr am Ergebnis unseres Verhaltens interessiert, als an unsern Gründen, Gegengründen und den mancherlei psychologischen Zwischenstationen. Er tat (ἐποίησεν [epoiēsen]): Darin bestand seine Gerechtigkeit (V. 19). Und holte seine Frau zu sich: Damit ist die Begründung der neuen Ehe vollendet. Josef und Maria leben jetzt in einem Haushalt zusammen. Wieder werden keine Einzelheiten berichtet bis auf die drei, die in V. 25 folgen. Was sie sich zu sagen hatten? Wie Maria diese Zeit erlebte? Der Bibel kommt es auch hier nur auf das Ergebnis an. Dieses Ergebnis lautet: Maria ist nun ganz und gar eine Angehörige des Hauses David geworden. Was Gott der Herr seit V. 20 wollte, ist eingetreten, sein Wille ist geschehen. V. 25 führt die Geschichte Jesu fort bis zur Geburt und Namengebung. Die ersten Worte betreffen das gegenseitige Verhältnis von Josef und Maria: Und er berührte sie nicht bis zur Geburt. Mit Wiefel101 sehen wir darin einen „Ausdruck respektvoller Scheu“. Eine Frau, die sich der Heilige Geist zu einem der großen Wunder der Heilsgeschichte erwählt hatte, ließ sich Josef bis zur Geburt des „geisterzeugten Messias“102 verboten sein. Die Jungfräulichkeit der Maria dauerte also bis zur Geburt Jesu. Man muss aber auch die zeitliche Schranke sehen, die in diesem bis zum Ausdruck kommt. ἕως οὗ [heōs hou] dient in Mt 1,25 zur „Angabe des Endpunktes“.103 Das heißt, Josef führte nach der Geburt Jesu eine normale Ehe mit Maria, aus der nach Mt 13,55104 mindestens sechs weitere Kinder hervorgingen. Damit war ihre Jungfräulichkeit seit der Geburt Jesu beendet, wie gegenüber anderen Auslegern in der Kirchengeschichte festgestellt werden muss.105 Nur wenige Worte sind der Vollendung des Wunders der Geburt Jesu gewidmet: bis sie einen Sohn geboren hatte. Keinerlei Details bei Matthäus! Lukas berichtet in Lk 2,1-20 ausführlicher. Matthäus unterstreicht nur das eine: Der Sohn, von dem der Engel in V. 21 und Jesaja in 7,14; 9,5 sprachen, ist tatsächlich geboren. Dieses Ereignis in der Geschichte Gottes mit den Menschen ist niemals rückgängig zu machen. Und er (= Josef ) gab ihm den Namen Jesus: Das Subjekt von ἐκάλεσεν [ekalesen] kann nach dem vorausgehenden ἐγίνωσκεν [eginōsken] nur Josef sein. Die gesamte griechische 101 102 103 104 105

Wiefel 35; schon Schlatter 12. Wieder Wiefel 30. BDR § 455,6. Vgl. Wiefel 35. Schon Textvarianten dokumentieren das Interesse an der Frage der Jungfräulichkeit Marias. Vgl. Schlatter 12.

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Satzfrequenz καὶ ἐκάλεσεν τὸ ὄνομα αὐτοῦ Ἰησοῦν [kai ekalesen to onoma autou Iēsoun] entspricht genau V. 21. Josef erfüllte auch hier mit Sorgfalt, was ihm Gott durch den Engel befohlen hatte. Am Ende von V. 25 gilt es, noch zwei Aspekte zu beachten. Der erste ist ein juristischer. Mit der Namengebung übt Josef Vaterrecht und Vateraufgabe eines irdischen Vaters aus. Er war ja von Gott „zum Vater Jesu bestellt“ worden.106 Die Namengebung ist also mehr als der „adoptive Akt“, von dem Wiefel107 schreibt. Das Kind musste keineswegs „adoptiert“ werden, sondern galt, weil in der Zeit des Ehevertrages entstanden, als vollbürtiges Kind des Mannes der Maria, Josefs.108 Mit Recht heißt Jesus jetzt auf der menschlichen Ebene „Josefs Sohn“, Bar Josef (Mt 13,55; Joh 1,45; Lk 3,23). Damit aber ist er zugleich im Vollsinne „Davids Sohn“, „in das Haus Davids eingepflanzt“.109 Dass Jesus „aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch“ stammt (Röm 1,3; 2Tim 2,8; Offb 22,15), steht deshalb aus doppeltem Grund fest: a) weil seine Mutter Maria mit dem Ehevertrag in „Davids Haus“ übergegangen war, b) weil Josef die menschlich-rechtliche Vaterschaft anerkannte und dadurch den Sohn zum „Davids-Nachkommen“ machte. Der zweite Aspekt ist ein weltgeschichtlicher. Der schlichte Rechtsakt der Namengebung hat nahezu unabsehbare Folgen in der Weltgeschichte. Das Kind Jesus hatte jetzt seinen unumstößlichen Platz im Gottesvolk Israel gefunden. Es konnte als Sohn Davids legitimen Anspruch auf das Königtum in Israel erheben. Es konnte – was noch viel weiter reichte – aufgrund der Verheißungen in 2Sam 7,12ff; Jes 7,14; 9,5f; 11,1ff der Messias für Israel und die Völker sein. Nach ihm datieren die christlichen Völker bis heute die Weltgeschichte: „vor“ oder „nach Christus“. Es entstand unter dem Namen dieses Christus eine alle Völker umspannende Gemeinde. Selbst dort, wo man Jesus als den Christus ablehnt, ist sein Einfluss kaum zu überschätzen, so im Koran, im Indien Mahatma Ghandis, im Verlauf der jüdischen Geschichte und selbst im Atheismus, der ohne Anleihen beim „Christentum“ niemals lebensfähig wäre.

IV Zusammenfassung 1. Der Bericht des Matthäus über Geburt und Namengebung Jesu ist erstaunlich knapp. Matthäus kann sich meisterhaft auf das Wesentliche beschränken. Die Bezeichnung „Legende“110 hat sein Bericht nicht verdient. 106 107 108 109

Schlatter 9. Wiefel a.a.O. Vgl. §§ 1591ff des deutschen BGB von 1900. Schlatter 12, Wiefel a.a.O.

2. Jesu Geburt, 1,18-25

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2. Wie eine Ellipse zwei Brennpunkte aufweist, so hat auch Mt 1,18-25 zwei Schwerpunkte. Der erste ist ein christologischer: Jesus ist legitimer Davids-Sohn und zugleich Gottes-Sohn (vgl. 16,16). Die jungfräuliche Geburt Jesu erfüllt die Verheißung des Propheten Jesaja (7,14) und zeigt, dass er in einzigartiger Weise Gottes Sohn ist. Die Namengebung durch Josef im Rahmen der durch Ehevertrag und Heimholung mit Maria geschlossenen Ehe bestätigt, dass er wirklich Davids Sohn und Erbe der davidischen Verheißungen ist. 3. Der zweite Schwerpunkt von Mt 1,18-25 ist ein soteriologischer. Die Deutung des Namens Jesus in Mt 1,21 hat für das ganze Evangelium entscheidende Bedeutung. Jesus, der Davids- und Gottessohn, rettet als Einziger von Sünden. Er erfüllt damit die Verheißung von Ps 130,8. Als ein Messias der Rettung von Sünden wird er sein Leben als Erlöser der Glaubenden hingeben (vgl. 20,18; 26,26-28). Diese messianische Sendung bewirkt eine bleibende Trennung von allen nur politisch-messianischen Konzeptionen. Auf diese Weise wird er die konkrete, geschichtliche „Immanuel“-Gestalt. Denn seine Rettung von Sünden bewirkt die Herstellung der Gottesgemeinschaft aller Glaubenden, die nun unumstößlich auf das „Mit uns ist Gott“ vertrauen dürfen.111 4. Es gibt keinen Grund, an der Historizität von Mt 1,18-25 zu zweifeln, weder wegen irgendwelcher Schwächen des Berichts noch aus allgemeinen dogmatischen oder weltanschaulichen Gründen. Ganz anders als für Luz ist für uns „die Frage nach der Historizität“ nicht „hoffnungslos“,112 sondern sinnvoll und beantwortbar. Matthäus selbst hat, wie Luz ausdrücklich bestätigt,113 das in 1,18-25 Berichtete für historisch gehalten. Lukas als ein zweiter Zeuge will ebenfalls einen historischen Bericht geben (vgl. Lk 1,1-4 mit Lk 1,26ff ). Die Christenheit ist ihnen bis in die Bekenntnisse der Neuzeit hinein gefolgt.114 Selbst Luz notiert, dass „die Jungfrauengeburt als solche erst seit dem frühen 19. Jahrhundert in größerem Umfang bestritten“ wurde.115 Für den Koran wäre es ohnehin undenkbar, die Jungfrauengeburt zu leugnen.116 110 111 112 113 114

So bei Bultmann Gesch 316; Klostermann 3. Vgl. Jaroš 60. Luz I 102. Luz I 110. Vgl. nur Irenäus Adv. haer. III, 16,2; 19,3; 21,4; IV, 23,1 sowie L kath Dogm 286ff: Jungfrauengeburt ein „Ereignis“: 306ff. 115 Luz a.a.O. 116 Sure 3,43ff; 4,157ff; 5,111ff. Im Libanon pilgern Muslime gemeinsam mit Christen am Fest Mariae Verkündigung (25. März) zum Nationalheiligtum „Unsere liebe Frau von Harissa“.

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5. Innerchristlich und interkonfessionell gibt es eine Debatte über die bleibende Jungfräulichkeit Marias. Wie auch protestantische Ausleger betonen, kann man aufgrund des ἕως [heōs] (bis) in Mt 1,25 nicht ausschließen, dass die Jungfräulichkeit der Maria auch nach der Geburt Jesu fortdauerte.117 Für die Ostkirchen ist die immerwährende Jungfräulichkeit Marias eine wichtige Aussage der Glaubenslehre.118 Exegetisch bleibt jedoch festzuhalten, dass ἕως οὗ [heōs hou] in Mt 1,25 eher einen Endpunkt als ein Zwischenstadium markiert,119 und dass Stellen wie Mt 13,55; Mk 3,32; Joh 7,3ff; Apg 1,14; 1Kor 9,5 doch sehr deutlich für die Annahme sprechen, dass Maria ihrem Mann Josef nach der Geburt Jesu weitere Kinder gebar.

3. Die Anbetung Jesu durch die Magier, 2,1-12 I Übersetzung 1 Als Jesus aber in Bethlehem in Judäa geboren war zur Zeit des Königs Herodes,1 siehe, da kamen Magier aus dem Osten2 nach Jerusalem 2 und sagten: Wo ist der König der Juden, der jetzt geboren wurde? Wir haben nämlich seinen Stern beim Aufgehen gesehen und sind gekommen, um ihn anzubeten. 3 Als der König Herodes das hörte, erschrak er, und mit ihm ganz Jerusalem. 4 Und er versammelte alle Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes und wollte von ihnen wissen, wo der Messias geboren werden sollte.3 5 Sie aber sagten zu ihm: In Bethlehem in Judäa. Denn so steht es geschrieben durch den Propheten: 6 Und du, Bethlehem, im Land Juda, bist keineswegs die Geringste unter den Fürsten Judas, denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der mein Volk Israel weiden soll. 7 Darauf rief Herodes heimlich die Magier zu sich und erkundigte sich genau bei ihnen nach der Zeit, als der Stern erschien, 8 und schickte sie nach Bethlehem und sagte: Zieht hin und stellt genaue Erkundigungen an nach dem Kind. Und wenn ihr es gefunden habt, meldet es mir, damit auch ich komme und es anbete. 9 Sie aber,4 als sie den König vernommen 117 118 119 1 2 3 4

Vgl. Luz I 108. Vgl. L kath Dogm 357. BDR § 455,6; Bauer-Aland, 676. Vgl. BDR § 259,4. Über das Fehlen des Artikels vgl. BDR § 253,7. Vgl. hier BDR § 323,4. Die Wendung ist hier kopulativ (BDR § 447,7).

3. Die Anbetung Jesu durch die Magier, 2,1-12

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hatten,5 machten sich auf den Weg. Und siehe, der Stern, den sie beim Aufgehen6 gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er kam und oben stehen blieb, wo das Kind war. 10 Als sie den Stern sahen, freuten sie sich mit unbeschreiblicher Freude. 11 Und als sie in das Haus kamen, erblickten sie das Kind mit Maria, seiner Mutter. Und sie fielen nieder und beteten es an und öffneten ihre Schätze und brachten ihm Geschenke, Gold und Weihrauch und Myrrhe. 12 Und weil sie im Traum von Gott die Weisung erhielten, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie auf einem anderen Weg wieder in ihr Land.

II Struktur Die Worte Τοῦ δὲ Ἰησοῦ γεννηθέντος [Tou de Iēsou gennēthentos] (V. 1) bedeuten ebenso einen Neueinsatz wie die Worte Τοῦ δὲ Ἰησοῦ Χριστοῦ ἡ γένεσις [Tou de Iēsou Christou hē genesis] in 1,18. Der Abschnitt hat also einen deutlich markierten Anfang. Ferner findet zwischen V. 12 und V. 13 ein solcher Wechsel des Subjekts und der Situation statt, dass über den Schluss des Abschnitts in V. 12 kein Zweifel bestehen kann. Es ist denn auch die allgemeine Ansicht unter den Auslegern, dass Mt 2,1-12 einen geschlossenen, selbstständigen Abschnitt darstellt. In der Regel wird dieser Abschnitt dann in einen größeren Kreis von Berichten, der Mt 2,1-23 umfasst, eingeordnet. Dieser Kreis trägt Überschriften wie „Jesu Kindheit“ o.ä.7 Innerlich ist Mt 2,1-12 von dem starken Kontrast Herodes/Magier geprägt. Michael Green spricht durchaus zutreffend von „two camps“.8 Dabei fällt die positive Rolle der Magier (μάγοι [magoi]) auf. Bei der negativen Bewertung der Magie im Alten wie im Neuen Testament9 ist die Darstellung des Matthäus geradezu kühn. – Dem Leser, der von Mt 1 herkommt, fällt sofort auf, welche Bedeutung der Schriftbeweis auch in Mt 2,1-12 hat. Die schriftgelehrte Arbeit des Matthäus und seine auf die Heilige Schrift gestützte Verkündigung setzen sich also Schritt für Schritt fort. Mt 2,1-12 ist seinem Charakter nach alles andere als eine volkstümliche Legende. Es ist vielmehr eine theologisch tief reflektierte Erzählung. Das merkt man schon daran, dass der handelnde Gott Israels wie in Kap. 1 die Hauptperson des Berichts ist. Er ist es, der wiederum „durch den Propheten“ 5 6 7 8 9

Vgl. BDR § 173,1. So ist ἐν τῇ ἀνατολῇ [en tē anatolē] hier wohl zu verstehen, vgl. BDR § 141,5; 253,7. Schlatter 12ff; Green 65; Wiefel 35; Bultmann Gesch 317ff. Green a.a.O. Vgl. G. André, Art. ‫ ָכּ ַשּׁף‬, ThWAT, IV, 1984, 375ff; G. Delling, Art. μάγος usw., ThWNT, IV, 1942, 360ff.

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spricht (V. 5). Er ist es, der im Traum sogar den Magiern gebietet (V. 12). An Gott scheitern die Pläne des Herodes (V. 7ff ). Dagegen nimmt das kleine Bethlehem den heilsgeschichtlichen Platz ein, den Gott ihm zugedacht hat (V. 1ff ). Noch haben wir den zentralen Vorgang auf der menschlichen Bühne nicht berührt. Das ist die Anbetung Jesu durch Menschen, die der Heidenwelt, sogar ihrem religiös-magischen Spektrum, angehören. So wie Mt 1,1-17 und 28,19f eine inclusio des Evangeliums bilden, so bilden Mt 2,1-12 und 27,54 eine zweite inclusio. Jesus ist dazu bestimmt, auch den „Heiden das Recht zu verkündigen“ und „die Heiden werden auf seinen Namen hoffen“ (Mt 12,18.21). Das paulinische Bekenntnis in 1Tim 3,16: Christus ist „gepredigt unter den Heiden, geglaubt in der Welt“, ist durchaus auch das des Matthäus.

III Einzelexegese Nur mit einem Nebensatz berichtet Matthäus von der Geburt Jesu in Bethlehem. „No stable, no shepherds.“10 Das heißt, die Geburt im engeren Sinn wird überhaupt nicht erzählt. Vgl. dagegen Lk 2,1ff. Dennoch verdienen die wenigen Worte angemessene Beachtung: Als Jesus aber in Bethlehem in Judäa geboren war zur Zeit des Königs Herodes … (V. 1). Im Unterschied zu 1,18 genügt Matthäus hier das einfache Jesus. Dessen Identität ist ja festgelegt. Der Ort Bethlehem ist nicht übermäßig betont, er wird nur geografisch genau bestimmt. Es scheint, als habe es in der Umgebung und in der Zeit des Matthäus noch keine besondere Geburtsort-Diskussion gegeben. Im später geschriebenen Johannesevangelium ist das offenbar anders (vgl. Joh 1,45f; 7,41ff ). Bethlehem in Judäa dient der Abgrenzung gegenüber Bethlehem in Sebulon (Jos 19,15), das „11 km westnordwestl. von Nazareth“ liegt.11 Das Bethlehem von Mt 2 dagegen wurde bei Josuas Landverteilung dem Stamm Juda zugeteilt (Jos 15,59). Weil Bethlehem von den Nachkommen Efratas, der Frau Kalebs, besiedelt wurde (1Chron 2,19.50f; 4,4.22; Ruth 4,11), erhielt es auch den Namen Efrata (Ruth 4,11; Jos 15,59) oder Bethlehem Efrata (Mi 5,1). Vermutlich ist unser Bethlehem schon im 14. Jh. v.Chr. in den Amarna-Briefen erwähnt. Bedeutung bekam es als Stammsitz der Familie Davids (Ruth 1–4; 1Sam 16,1ff; 2Sam 2,32). David wurde hier gesalbt (1Sam 16,4ff ). In der Folgezeit wurde es denn auch „Davids Stadt“ genannt (1Sam 20,6; Lk 2,4). Eine besondere Rolle spielt Bethlehem in der Prophetie Michas im 8. Jh. v.Chr. Micha weissagte nicht weniger, als dass aus Bethlehem der Messias kommen würde (Mi 5,1ff ). Wir erfahren aus Esra 2,21 10 Green a.a.O. 11 R. Riesner, Art. Bethlehem, GBL, 1, 196.

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und Neh 5,1ff, dass sich dann nach dem Ende des babylonischen Exils wieder Juden in Bethlehem ansiedelten. Wie R. Riesner meinen wir, dass Josef „Wahrscheinlich“ aus Bethlehem stammte.12 Dafür spricht der Umstand, dass er dort Land besaß (Lk 2,1ff ). Allerdings könnte es sich auch um älteren Erbbesitz seiner Familie gehandelt haben. Matthäus übergeht viele Details. Vermutlich setzt er voraus, dass solche Details den christlichen Lesern seines Evangeliums schon auf andere Weise bekannt sind. Nur an der geografischen und chronologischen Verortung liegt ihm.13 Matthäus versetzt uns in 2,1 in die Zeit des Königs Herodes. Sowohl die Terminologie βασιλεύς [basileus] (König) als auch der Kontext (V. 19ff ) machen es von Anfang an klar, dass wir es mit Herodes dem Großen zu tun haben. Dieser Herodes, griech. Ἡρῷδης [Hērōdēs], besaß zweifellos eine hervorragende politische Begabung. Josephus hat seinen atemberaubenden Lebenslauf erstaunlich ausführlich beschrieben (Ant XIV, 158 – XVII, 199). Geboren wurde Herodes wohl ca. 73 v.Chr. als Sohn Antipaters, eines Juden, aber von idumäischer (edomitischer) Herkunft.14 Entscheidend war, dass sich sein Vater frühzeitig auf die Seite der Römer schlug. So zog sich ein enges Verhältnis zu den führenden Persönlichkeiten Roms wie ein roter Faden durch die Lebensgeschichte des Herodes. Herodes begann seine Karriere damit, dass er, vom Vater mit Einwilligung der Römer zum Militärpräfekten15 von Galiläa gemacht, die dortigen jüdischen Aufständischen niederwarf. Als ein zweiter roter Faden seiner Geschichte erweist sich von da an die Ablehnung, die er immer wieder von Seiten überzeugter Juden erfuhr. Der römische Senat sah in ihm einen Mann des Vertrauens und ernannte ihn 40 v.Chr. zum „König der Juden“. Als solcher regierte er von 37–4 v.Chr., also 33 Jahre lang, Judäa zusammen mit Galiläa und angrenzenden Gebieten mit wechselnder Ausdehnung, oft bedroht durch Anklagen gegen ihn in Rom, aber auch durch die Spannungen mit Kleopatra. Zu seiner positiven Bilanz gehört der langjährige Friede in Israel, die Erneuerung des Tempels in Jerusalem („herodianischer Tempel“), die Anlage neuer Städte (Sebaste, Caesarea Maritima u.a.), die Erbauung von Festungen und Palästen, die großzügige Förderung von Bauvorhaben im ganzen östlichen Mittelmeerraum einschließlich Athen, allerdings auch von heidnischen Tempeln. Zur negativen Bilanz zählt, dass Herodes den Letzten aus dem vorangehenden Königsgeschlecht, Antigonus, elendig12 13 14 15

Riesner a.a.O. 196f. Vgl. BDR § 164,7 zum chronologischen Genitiv. Vgl. F.F. Bruce, Art. Herodes, GBL, 2, 563ff. Josephus Ant XIV, 158, sagt nur Ἡρώδῃ … ἐπέτρεψε [Hērōdē … epetrepse].

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lich umbringen ließ,16 dass er religiös nicht eindeutig war und auch heidnische Tempel errichtete, dass er mit unglaublichem Misstrauen gegen seine eigene Familie wütete und sogar die eigenen Söhne Alexander, Aristobul und Antipater hinrichtete, vor allem aber, dass er als Idumäer bzw. Edomiter den jüdischen Königsthron beanspruchte, der doch nur dem Hause Davids zustand. Die Formulierung bei Matthäus zur Zeit des Königs Herodes darf nicht übersehen lassen, dass wir uns in der Schlussphase dieser Zeit befinden. Unser Kapitel berichtet ja doch bald vom Tod des Herodes (V. 19) und von seinem Thronfolger Archelaus (V. 22). Nun setzt der Bericht eigentlich erst ein (siehe,) da kamen Magier aus dem Osten nach Jerusalem. Wer sind diese Magier? μάγος [magos] kommt außer in Mt 2 nur noch in Apg 13,6ff vor, und dort in einer sehr negativen Bedeutung (Barjesus). Das zugehörige Substantiv μαγεία [mageia] sowie das Verb μαγεύω [mageuō] finden sich ebenfalls nur in der Apostelgeschichte, und wieder in einem negativen Zusammenhang (Apg 8,9ff ). Von daher wäre zu erwarten, dass auch die Magier von Mt 2,1ff eine negative Rolle spielen. Das Wort Magier (μάγος [magos]) bezeichnet „Zunächst speziell Angehörige(r) der persischen Priesterkaste“.17 Herodot zählt zu den sechs Stämmen der Meder auch die „Mager“. Dabei galten die Mager als der vornehmste Stamm.18 Später erweiterte sich der Begriff „Magier“ auf babylonische Weise und Priester, die sich vor allem mit Sternkunde und Traumdeutung befassten, ja sogar auf alle möglichen „Inhaber und Ausüber eines übernatürlichen Wissens und Könnens“.19 Relativ früh kann Magier auch einen Zauberer, Betrüger und Verführer bezeichnen.20 Die Rabbinen haben μάγος als Lehnwort übernommen.21 Ihre Haltung ist, wie das vom Alten Testament her zu erwarten steht, streng ablehnend (vgl. Ex 22,17; Lev 19,26.31; 20,6.27; Dtn 18,10ff ). Interessant ist die Diskussion im babylonischen Traktat Schabbath. Dort heißt es klipp und klar: „Wer etwas von einem Magier lernt, verdient den Tod.“22 Dann heißt es: „Über ‚Magier‘ [streiten] Rabh und Šemuel; einer sagt, darunter sei ein Zauberer zu verstehen, und der andere sagt, darunter sei ein Gotteslästerer zu verstehen.“23 Es gibt also eine Meinung unter den Rabbinen, wonach Magier Gotteslästerer sind. 16 17 18 19 20 21 22 23

Josephus Ant XIV, 487ff. Vgl. G. Delling, Art. μάγος usw., ThWNT, IV, 1942, 360. Herodot Hist I, 101. Delling a.a.O. 361. Delling a.a.O. Delling a.a.O. b Schab 75a. A.a.O.

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Differenzierter ist die Situation bei den Propheten und bei den Geschichtsberichten des AT. Das wahrscheinliche hebräische Äquivalent für Magier ist ‫[ ַחְרט ֹם‬charthom], Plural ‫[ ַחְרֻט ִמּים‬charthummim]. So werden in Gen 41 und Ex 7f „ägyptische Mantiker und Magier“ bezeichnet, aber auch in Dan 1–2; 4–5 babylonische Mantiker und Magier.24 In Dan 1,20; 2,2.10.27; 4,4; 5,11 stehen sie neben den ‫שִּׁפים‬ ָ ‫[ אַ‬ʾaschschāphīm], den „Beschwörungspriestern“.25 Beide Klassen, die Magier und die Beschwörungspriester, gehörten jedenfalls in Babylonien zu den wichtigsten Priesterklassen. Ihre Ausbildung und ihr Tätigkeitsbereich umfasste Beschwörung, Heilkunde, Dichtung, Zukunftsweissagung, Sternkunde, Astrologie (vgl. Jes 47,12ff ), Beratung der Regierenden.26 Ein weiterer hebräischer Begriff, der hier zu beachten ist, ist ‫ְמַכ ְשִּׁפים‬ [mᵉkaschschᵉphīm]. „In der LXX wird ʾaššap immer mit μάγος übersetzt“,27 aber auch die ‫[ ְמַכ ְשִּׁפים‬mᵉkaschschᵉphīm] gehören zur „Gruppe Zauberei/Magie“.28 Wie die Magier bilden diese ‫[ ְמַכ ְשִּׁפים‬mᵉkaschschᵉphīm] einen Teil der „Oberschicht der Gesellschaft“.29 Fassen wir zusammen: Mit den Magiern von Mt 2,1 begegnet uns eine Reihe von Menschen, die auf dem Hintergrund des AT und der Geschichte des Orients höchst ambivalent erscheinen. Die Religion Israels kann sie nur ablehnen, ja sie als Gotteslästerer betrachten. Ihre Heimat dagegen sieht sie als tiefreligiöse Repräsentanten einer uralten Kultur und als hochgebildete Wissende und Weise an.30 Was sollen sie beim neugeborenen Messias? Die Worte aus dem Osten (ἀπὸ ἀνατολῶν [apo anatolōn]) bezieht man am besten auf Babylonien bzw. das Zweistromland.31 Dort spielen ja die Magier seit Jahrhunderten eine prominente Rolle. Dort konnten sie auch infolge der zahlreichen jüdischen Bevölkerung, der wir den „Babylonischen Talmud“ verdanken, ein Wissen von der jüdischen Messiaserwartung erwerben.32 Die Beziehungen zwischen dem Zweistromland und dem Israelland sind stets eng gewesen.33 Aus dem Zweistromland stammte Abraham (Gen 11,27ff; 12,1ff ). Von dort kam Bileam (Num 22,5ff ). Dorthin sandte Jeremia seinen H.-P. Müller, Art. ‫ַחְרט ֹם‬, ThWAT, III, 1982, 190. Vgl. Müller a.a.O. 191 sowie Maier Daniel 88ff. Vgl. Müller a.a.O. 189ff. G. André, Art. ‫שׁף‬ ַ ‫ ָכּ‬, ThWAT, IV, 1984, 376. André a.a.O. 380. André a.a.O. 379. Die Verengung auf „Sterndeuter“ bei Fiedler 55f ist fragwürdig. Vgl. dagegen Luz I 118 nach Hengel und Merkel: „die geistige Elite der Heidenwelt“. 31 Delling a.a.O. 362; BDR § 253,7; Luck 25; France 81; Carson 85; Zahn 92ff; anders z.B. Beare 77: Arabien oder Iran. Schon Justinus deutet auf Arabien (Dial 77f ). 32 Delling a.a.O.; Wiefel 37; Zahn 93f; France a.a.O.; Schlatter 13; Carson 86. 33 Wiefel a.a.O.; Luck a.a.O.

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berühmten Brief (Jer 29,1ff ). Dort weissagten Hesekiel und Daniel. Im Zweistromland blieben auch nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft viele Juden zurück (Esra- und Nehemiabuch, Ester). So bereitet das Kommen der Magier aus dem Osten nach Jerusalem für das Verständnis zunächst keinerlei Probleme. Die Vorstellung von den „Heiligen Drei Königen“, einschließlich deren Benennung als Melchior, Balthasar und Kaspar, ist später entstanden.34 Erste Spuren finden sich bei Tertullian ca. 200 n.Chr.35 Matthäus sagt nichts von einer Dreizahl, von Königen oder gar von Namen. Interessant ist jedoch, dass die μάγοι [magoi] als eine Gruppe gemeinsam auftreten. Dieses gruppenweise Auftreten stimmt allerdings mit den alten orientalischen Berichten überein (vgl. Gen 41,8; Ex 7,11ff; Dan 2,2ff; 4,4). Die Frage, die die Magier in Jerusalem stellen, lautet: Wo ist der König der Juden, der jetzt geboren wurde? (V. 2) Jetzt steht nicht ausdrücklich da, muss aber sinngemäß ergänzt werden.36 Als Nichtjuden benutzen sie wie die Römer (Joh 19,19) den Titel König der Juden, und nicht „König Israels“ (vgl. Joh 12,13). Die Frage Wo? richtet sich auf den genauen Geburtsort. Dass dieser König in Judäa geboren werden sollte, war ihnen natürlich schon vorher klar. Die Magier machen uns mit ihrer Frage sehr nachdenklich. Denn offenbar sind sie überhaupt nicht bewegt durch einen Zweifel oder eine Unsicherheit, ob er denn geboren wäre. Sie sind sich ihrer Sache so sicher, dass sie nur fragen: Wo? Mit anderen Worten: Sie vertrauen ihren Sternen mehr als viele Christen dem Wort Gottes. Ihre Frage wird begründet: Wir haben nämlich seinen Stern beim Aufgehen gesehen und sind gekommen, um ihn anzubeten (V. 2). Seinen Stern (αὐτοῦ τὸν ἀστέρα [autou ton astera]) muss irgendeine Erscheinung am Himmel bedeuten, die in besonderer Weise mit einem König der Juden in Verbindung steht.37 Dabei darf dieser Ausdruck nicht auf einen Einzelstern limitiert werden.38 Infrage kommt auch eine Sternkonjunktion, also eine seltene Konstellation mehrerer Sterne, die sich einander zuordnen. Die Formulierung Wir haben gesehen (εἴδομεν [eidomen]) deutet unter Umständen an, dass es sich nicht um eine allgemeine Feststellung unter allen möglichen Magiern des

34 Vgl. Carson a.a.O.; Hengel-Merkel 144. 35 Vgl. Metzger 79ff. 36 Vgl. Lutherbibel: „neugeboren“, ebenso Neue Jerusalemer Bibel; Einheitsübersetzung; BigS. Die NGÜ hat „kürzlich“. 37 BDR § 284,1 weisen allerdings darauf hin, dass αὐτοῦ [autou] hier unbetont sei. 38 Gegen Luz I 115f. Zahn sagt 93: „Der Versuch einer Unterscheidung ist … eitel.“

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Ostens handelt, sondern um ein spezielles Wissen oder eine spezielle Deutung innerhalb der Gruppe, die jetzt in Jerusalem erschienen ist. Da V. 2 einen Vorgang in der realen Welt schildert, braucht es nicht zu wundern, dass man nach Vorgängen am Sternhimmel gesucht hat, die V. 2 erklären könnten. Es sind im Wesentlichen drei:39 1) Eine Supernova, 2) ein Komet, wobei der Halley’sche Komet des Jahres 12/11 v.Chr. im Vordergrund steht, 3) die von Kepler berechnete Jupiter-Saturn-Konstellation des Jahres 7/6 v.Chr. Letztere trat dreimal auf und wurde von babylonischen Astrologen vorausgesagt.40 Jupiter galt als Königsstern, Saturn als Stern der Juden.41 Insgesamt spricht vieles für die zuletzt genannte Möglichkeit, also die Jupiter-Saturn-Konstellation von 7/6 v.Chr.42 Jesus wäre demnach zwischen 7 und 5 v.Chr. geboren. Ein solches Geburtsdatum würde auf ein Alter von knapp 40 Jahren bei der Passion führen und mit Joh 8,57 übereinstimmen. Es muss aber nach wie vor mit Werner Foerster betont werden, dass „damit die Frage noch nicht“ endgültig „gelöst (ist), was die Magier gesehen haben oder haben sollen, und wie ihre astrologische Deutung war.“43 Eine besondere Frage ist die nach der Bedeutung von ἐν τῇ ἀνατολῇ [en tē anatolē]. Hier kommen zwei Übersetzungsmöglichkeiten infrage: a) „im Osten“, b) beim Aufgehen, d.h. beim Aufgehen/Erscheinen des betreffenden Sternes. Mit Bauer-Aland (123) und anderen44 ziehen wir wegen der engen Verbindung mit ἀστήρ [astēr] und wegen des Singulars die Übersetzung beim Aufgehen vor. Das darf freilich nicht dazu führen, den Aufbruch der Magier zeitlich eng mit dem Aufgehen des Sterns zu kombinieren.45 Wir haben vielmehr keine Ahnung, wie viel Zeit zwischen dem Aufgehen und dem Aufbruch nach Jerusalem verstrichen ist. Uns scheint die Zweijahresspanne von Mt 2,16 eher darauf zu deuten, dass sie evtl. erst ca. 6/5 v.Chr. in Jerusalem eintrafen. Ihre Absicht nennen sie unmissverständlich: Wir sind gekommen, um ihn (= den König der Juden) anzubeten. Die mitgebrachten Schätze (V. 11) bestätigen diese Absicht. Die Anbetung Jesu muss allerdings auf dem Hinter39 40 41 42 43

Vgl. Luz I 115. Luz a.a.O. Vgl. Ferrari d’Occhieppo 52ff. Luz a.a.O. So auch Luz a.a.O. Im Art. ἀστήρ usw., ThWNT, I, 1933, 502. Wichtige Literatur bei Luz 111ff, wobei wir besonders K. Ferrari d’Occhieppo, Der Stern der Weisen, 2. Aufl., Wien, 1977, hervorheben möchten. 44 Z.B. BDR § 141,5; H. Schlier, Art. ἀνατέλλω usw., ThWNT, I, 1933, 394; Luz I 112; Fiedler 57; Ferrari d’Occhieppo 57. 45 So aber Fiedler 57.

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grund der damaligen polytheistischen Gesellschaft gesehen werden. Es gab ja viele Götter, und es galt als erstrebenswert, die Hilfe und den Schutz möglichst vieler dieser Götter zu erhalten. Da konnte auch die Anbetung einer religiösen Gestalt des Judentums nicht schaden. Aber wir wissen nicht, was in den Magiern innerlich vorgegangen ist, und müssen deshalb auf vorschnelle Urteile verzichten. Wie in der Forschung immer wieder betont, erzählte man im Altertum öfter von Erscheinungen am Himmel bei der Geburt großer Männer.46 Auch sonst betrachtete man Himmelserscheinungen als Anzeichen künftiger Ereignisse. So berichtete Tacitus, ein Komet verkünde nach den Vorstellungen des Volkes einen Regierungswechsel.47 Selbst das Judentum gab viel auf solche Zeichen. Josephus beispielsweise kritisierte, dass das jüdische Volk „den deutlichen Zeichen …, die die kommende Verwüstung (= Jerusalems) im Voraus anzeigten, keinen Glauben schenkte“.48 Unter diesen Zeichen erwähnte er „ein schwertähnliches Gestirn“, einen „Kometen“ und „ein großes Licht“.49 Auf diesem Hintergrund wird beides verständlich: die Beachtung, die der Stern bei den Magiern und ihren Zuhörern fand, und ihre Sehnsucht, ihn anzubeten.50 Bei jüdischen und christlichen Hörern eröffnete die Erwähnung des Sternes noch eine ganz andere Dimension. Hatte nicht Bileam in Num 24,17 einen „Stern aus Jakob“ vorausgesagt? Die messianische Deutung von Num 24,17 im Judentum der Zeitenwende ist ausreichend bezeugt. Die vermutlich ins zweite vorchristliche Jahrhundert zurückgehenden Testamente der Zwölf Patriarchen zeigen in Test Levi 18,3; Test Juda 24,1 eine solche messianische Auslegung. Allerdings ist nicht sicher, ob die betreffenden Texte christlich überarbeitet wurden. In der Qumran-Literatur begegnet die messianische Deutung von Num 24,17 in ziemlicher Breite,51 im NT in Offb 22,16. In diesem messianischen Deutungshorizont kommt es nicht darauf an, ob der Stern „mit dem Messias identifiziert“ wird.52 Es genügt, wenn der Stern überhaupt mit dem erwarteten Messias in Verbindung gebracht werden kann. Das aber ist in Mt 2,1ff der Fall: Die Magier erinnerten also ihre jüdischen Hörer an die

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Luz I 114. Tacitus Ann XIV, 22. Josephus BJ VI, 288ff. A.a.O. § 289f. Zur Grammatik vgl. BDR § 151,3. CD VII, 19ff; 1QM XI, 6f; 4QTest (= 4Q175), 9ff. Gegen Luz I 115.

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Prophetie Bileams in Num 24,17.53 In der Zeit des Königs Herodes (V. 1) musste eine solche Erinnerung wie überhaupt die Frage nach dem neugeborenen König der Juden ernsthafte Komplikationen hervorrufen. Davon wird nun gleich erzählt: Als das der König Herodes hörte, erschrak er, und mit ihm das ganze Jerusalem (V. 3). Möglicherweise war Herodes nicht der Erste, der das hörte (ἀκούσας [akousas]).54 Vers 7 deutet eher darauf, dass er später den Kontakt zu den Magiern herstellen musste. Als erfahrene Leute werden die Magier wohl nicht gleich an den Hof gegangen sein. Ihre „natürlichen“ Gesprächspartner in Jerusalem waren eher die religiösen Autoritäten, in erster Linie die Priester. Jedenfalls aber erfuhr der Königs Herodes vom Kommen der Magier und dem Grund ihres Kommens. Die Bibel sagt mit einem einzigen Wort, was der Effekt dieser Mitteilung war: er erschrak (ἐταράχθη [etarachthē]). Man könnte auch übersetzen: „er wurde in Unruhe (oder: Verwirrung) gestürzt.“ Darin kommt alles zum Ausdruck: die Angst, den Thron zu verlieren, die Unsicherheit, ob nun das Volk von ihm abfiele, auch das Problem, was jetzt die angemessene Reaktion sein sollte. Gerade damals plagte Herodes eine krankhafte Eifersucht, ja ein Verfolgungswahn bezüglich seiner Söhne, die ihm als die Jüngeren oder Beliebteren den Thron entreißen könnten. Eben um diese Zeit, 7 v.Chr., ließ er seine Söhne Alexander und Aristobul deswegen hinrichten. Da dieser Seelenzustand des Königs und die daraus resultierenden Vorgänge im Volk bekannt waren, ist es leicht zu erklären, dass jetzt ganz Jerusalem mit ihm erschrak. Es ist interessant, dass eine solche tief gehende Erschütterung im Matthäusevangelium zweimal von Jerusalem ausgesagt wird: bei der Geburt Jesu (2,3) und bei seinem Einzug zur Passion (21,10). Ganz Jerusalem: Das sind die Priester, die Schriftgelehrten, der Adel und eben das ganze Volk. Was würde nun als Antwort des Herodes kommen? Nebenbei notieren wir, dass Matthäus hier nichts ausmalt, sondern bei seiner nüchternen, knappen Berichtsform bleibt. Im Übrigen war Herodes sehr wohl in der Lage, den messianischen Gehalt der Aussagen der Magier zu erfassen und auch eine Verbindung zwischen dem Stern und Num 24,17 herzustellen. Seine Unruhe ist also sachlich begründet. In der Folgezeit wird Herodes neben den Magiern zur dominierenden menschlichen Handlungsfigur. Der Gegensatz Herodes/Magier wird jedoch überlagert durch einen noch viel weiter reichenden Gegensatz, nämlich den Gegensatz falscher oder wahrer König Israels. 53 Gegen Luz I 114f und gegen Zahn 94, Fn. 81. Das ist erst recht der Fall, wenn schon ἀνατολή [anatolē] messianische Bedeutung hat (so Schlier a.a.O.). Vgl. Carson 86; France 82; Mello 72; schon Irenäus Adv. haer. III, 9,2; ferner Senior 45; Wiefel 37. 54 Vgl. Zahn 96.

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Herodes’ Reaktion bestand zunächst darin, dass er alle Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes versammelte, wobei er von ihnen wissen wollte, wo der Messias geboren werden soll (V. 4). Diese Reaktion hat etwas Bewundernswertes. Ihre Vorzüge sind: Es erfolgt kein blindwütiger Schlag, sondern die vorsichtige Verlagerung des Problems in ein Gremium; Herodes erfährt auf diese Weise, wie die jüdischen Führer – Hohepriester und Schriftgelehrte – die Sache beurteilen und wie die Stimmung im Volk ist; er verschafft sich Zeit und Raum für das eigene Handeln; Ort und Person des „Königs von Israel“ müssen jetzt offengelegt werden; die Einberufung gibt dem Vorgehen des Herodes den Anschein, dass er sich nach der jüdischen Religion richten wolle. Man diskutiert in der Literatur, ob Herodes den Sanhedrin („Hohen Rat“) einberufen habe55 oder ob es sich um eine Ad-hoc-Versammlung handelte.56 Die religiöse Fragestellung (Messias, schriftgemäßer Geburtsort) und die aus der Bibel gegebene Antwort in V. 5 und 6 sprechen eher für eine Ad-hoc-Versammlung (eine Art „Sondersynode“).57 Der Begriff Schriftgelehrte des Volkes (γραμματεῖς τοῦ λαοῦ [grammateis tou laou]) überrascht. Er gehört jedoch mit den Hohepriestern des Volkes zusammen. Volk meint hier Israel.58 Diese Schriftgelehrten sind wohl hauptsächlich ordinierte Rabbinen „als Führer der pharisäischen Gemeinschaften“,59 die zugleich im Hohen Rat saßen. Ausgeschlossen ist jedoch nicht, dass neben Sadduzäern (so in der Regel die Hohepriester) und Pharisäern auch essenische Schriftgelehrte an dieser Versammlung teilnahmen. Es gab ja in Jerusalem auch ein Essenerviertel, und Herodes schätzte die Weissagungen der Essener. Schriftgelehrte des Volkes könnte gerade eine solche umfassende Bedeutung haben. Dass sie dem Ruf des Herodes folgen mussten, ist unter den damaligen Umständen klar.60 Herodes hat eine präzise Frage: Wo wird der Messias geboren? Mit dem Wo nimmt er die Frage der Magier in V. 2 auf. Aber zugleich hat er klug genug die biblische und jüdische Ebene der Magier-Frage erfasst. Er fragt nämlich nicht nach einem neugeborenen König der Juden, sondern ersetzt diesen Titel durch den anderen, biblisch vorgegebenen Titel Messias. Was hier passierte, konnte sich Matthäus jederzeit durch Zeitzeugen erzählen lassen. 55 So z.B. Zahn 96; Mello 72. 56 Für Letzteres France 83; Sand 50. 57 Carson rechnet mit evtl. getrennten Zusammenkünften von Sadduzäern („Hohepriestern“) und Pharisäern („Schriftgelehrten“), was durchaus möglich ist. 58 H. Strathmann im Art. λαός, ThWNT IV, 1942, 52. 59 J. Jeremias, Art. γραμματεύς, ThWNT, I, 1933, 741. 60 Carson a.a.O. erwähnt berechtigterweise, dass „alle“ in Mt 2,4 diejenigen meint, „who were living in Jerusalem and could be quickly consulted“.

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Als Antwort auf die Frage des Herodes sagten ihm61 die Anwesenden (V. 5): In Bethlehem in Judäa. Fiedler meint, das sei „historisch ausgeschlossen“.62 Denn damals habe es „die eine, allgemein anerkannte Messiaserwartung im Judentum“ gar nicht gegeben.63 Aber dieser Einwand steht auf tönernen Füßen, und zwar aus drei Gründen: 1) sagt Matthäus nichts über eine Einstimmigkeit des Ergebnisses. Sie sagten bedeutet einfach: Die maßgebende Mehrheit sagte es so. 2) Es geht überhaupt nicht um eine allgemein-einheitliche Messiaserwartung, sondern nur um die Frage: „Wo wird der Messias geboren?“ 3) Die Antwort Bethlehem in Judäa – im Unterschied zu Bethlehem in Sebulon (Jos 19,15) – war sozusagen selbstverständlich. Sofern man im Einklang mit den biblischen Schriften einen Davids-Nachkommen erwartete und sofern man das Micha-Buch als autoritativ anerkannte, konnte als Geburtsort des Messias nur Bethlehem infrage kommen. Qumran hat uns immerhin einen Michakommentar hinterlassen (4Q168); demnach wäre die Antwort der Essener nicht anders ausgefallen als in Mt 2,5. Für das NT ist es nach Mt 2,1ff; Lk 2,1ff; Joh 1,46; 7,41ff; Hebr 7,14; Offb 5,5 durchgängig klar. Auch die Pharisäer konnten nach Ps Sal 17; 18 nicht anders urteilen. Denn so steht es geschrieben (οὕτως γὰρ γέγραπται [houtōs gar gegraptai]) durch den Propheten: Redet hier Matthäus oder reden hier die Versammelten von V. 4?64 Man muss beide Möglichkeiten offenlassen. In Analogie zu Mt 1,22 bleibt allerdings festzuhalten, dass die Formulierung durch den Propheten auf die Mittlerrolle des Propheten Wert legt, während der eigentliche Urheber der Botschaft Gott selbst ist. Deutlich ist ferner, dass diese Bemerkung eine Schriftauslegung darstellt. Herodes wird also nicht mit der persönlichen Meinung der Versammelten oder einem Konferenzbeschluss beschieden, sondern mit einer exegetischen Erkenntnis aus der Heiligen Schrift. Klarheit wird durch die Schrift geschaffen! Das angefügte Zitat in V. 6 ist lang: Und du, Bethlehem, im Land Juda, bist keineswegs die Geringste unter den Fürsten Judas, denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der mein Volk Israel weiden soll. In der Übersetzung von Artur Weiser lautet der Anfang von Mi 5,1 (MT) so: „Aber du, Bet Ephrat, du kleinste unter den Sippen Judas, aus dir soll mir kommen, der

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Fiedler 59. Das δέ [de] bei οἱ δέ [hoi de] ist kopulativ, nicht adversativ (BDR § 447,7). A.a.O. Für Letzteres Luz I 119; Zahn 97f; Senior 45; Beare 78. Für Ersteres Tasker 41.

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Herrscher über Israel sein wird.“65 Die LXX hat: Καὶ σύ, Βηθλεεμ οἶκος τοῦ Εφραθα, ὀλιγοστὸς εἶ τοῦ εἶναι ἐν χιλιάσιν Ιουδα· ἐκ σοῦ μοι ἐξελεύσεται τοῦ εἶναι εἰς ἄρχοντα ἐν τῷ Ισραηλ [Kai sy, Bēthleem oikos tou Ephratha, oligostos ei tou einai en chiliasin Iouda: ek sou moi exeleusetai tou einai eis archonta en tō Israēl]. Der Mt-Text in der ersten Hälfte von 2,6 stimmt also weder mit dem MT noch mit der LXX überein. Dennoch zitiert er zweifellos aus Mi 5,1. Wir müssen damit rechnen, dass Matthäus entweder eine Fassung benutzte, die in den frühen christlichen Gemeinden in Gebrauch war, oder dass er eine Fassung benutzte, die er bei Rabbinen fand. Beides kann sogar dasselbe gewesen sein. Man sollte aber nicht wie Luz oder Fiedler behaupten, dass Matthäus Mi 5,1 in sein „Gegenteil“ verkehre.66 In Wirklichkeit ist in die Fassung des Matthäus schon die Erklärung der Stelle mit eingeflossen, wie es in der Bergpredigt Jesu auch vorkommt (Mt 5,21.43). Und diese Erklärung ist durchaus richtig. Denn die Bedeutung als Geburtsort des Messias kann schwerlich überschätzt werden, und so ist es tatsächlich keineswegs die Geringste (οὐδαμῶς ἐλαχίστη [oudamōs elachistē]). Zahn hat im Blick auf die Veränderungen bei Matthäus recht: „Am wesentlichen Gehalt der prophetischen Stelle ist durch alles dies nichts geändert“.67 Dass Efrata bei Matthäus durch γῆ Ἰούδα [gē Iouda] ersetzt wird, ist wiederum keine Veränderung in der Sache. γῆ Ἰούδα [gē Iouda] betont aber stärker, dass Jesus Judäer war und dass hier die Verheißungen an Juda in Erfüllung gingen (vgl. Gen 49,10ff; Num 24,17; 1Chron 5,2; Hebr 7,14 und Mt 1,2ff ). Wie Luz darin eine „antijüdische Spitze“ sehen kann,68 bleibt unverständlich. Das Gegenteil trifft zu: in γῆ Ἰούδα [gē Iouda] tritt etwas vom judenchristlichen Charakter des Evangeliums ans Licht. Bei ἡγεμόσιν [hēgemosin] (Fürsten) erwägt man, ob hier „eine andere Punktion des hebr. Textes“69 vorausgesetzt ist. Dies bleibt eine mögliche Erklärung.70 Die Worte aus dir wird ein Fürst hervorgehen entsprechen ziemlich genau dem hebr. Text von Mi 5,1. ἡγούμενος [hēgoumenos] ist gleich ‫[ מוֹ ֵשׁל‬mōschel].71 Die Schlusszeile ὅστις ποιμανεῖ τὸν λαόν μου τὸν Ἰσραήλ [hostis poimanei ton laon mou ton Israēl] wird meist als Zitat aus 2Sam 5,2 65 A. Weiser, Die Propheten Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, ATD, 24, 7. Aufl., 1979, 272. 66 Luz I 113,8; Fiedler 60. 67 Zahn 100; ebenso Carson 87f. 68 Luz I 119. 69 Luz I 113,8; Beare 78. 70 Unsicherheit über den hebr. Text von Mi 5,1 lassen Gesenius 44 und Weiser a.a.O. 273 erkennen. Auch Zahn findet ἐν τοῖς ἡγεμόσιν [en tois hēgemosin] bei Mt „wunderlich“ (99, 89). 71 Übersetzt kann auch werden „der Fürst“. Vgl. BDR § 264,6; 413,2.

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(1Chron 11,2) betrachtet. Die Übereinstimmung mit 2Sam 5,2 ist tatsächlich groß (nach der LXX Σὺ ποιμανεῖς τὸν λαόν μου τὸν Ισραηλ [Sy poimaneis ton laon mou ton Israēl]). Hat Matthäus wirklich Mi 5,1 mit 2Sam 5,2 kombiniert, dann läge hier ein ähnliches Kombinationszitat vor wie beispielsweise in Mt 27,9f. Matthäus ist ein solcher „rabbinischer“ Arbeitsstil durchaus zuzutrauen. Offen bleibt jedoch auch die Möglichkeit, dass Matthäus die letzte Zeile von 2,6 sinngemäß aus Mi 5,3 gewonnen hat.72 Selbst dann, wenn er 2Sam 5,2 mit Mi 5,1 kombiniert hätte, konnte er die Einleitung durch den Propheten in V. 5 im Singular halten. Fazit: Die biblisch begründete Auskunft der nach Mt 2,4 Versammelten hat ihre Richtigkeit. Das judäische Bethlehem ist nach dem AT (Mi 5,1ff ) der wahre Geburtsort des Messias. Man kann also mit Schlatter sagen, dass „Israels geistige Führer mit der Bibel genau bekannt waren“.73 Danach bricht Matthäus seinen Bericht über diese Versammlung ab und konzentriert sich ganz auf Herodes und die Magier. Sein Schweigen über die weitere Geschichte jener Versammlung hat manche Vermutung hervorgerufen. Schlatter schrieb, der Bescheid von V. 5f sei „alles“ gewesen, „was die Magier von den Führern Israels empfingen. Niemand schien ihre Botschaft glaubwürdig, der Stolz Israels sträubt sich, durch den Mund der Heiden sich weisen zu lassen.“74 Moderne Ausleger gehen in ihren Vermutungen noch weiter. So schreibt Luz: „Die jüdischen Schriftgelehrten … machen sich indirekt zu Komplizen des Herodes.“75 Es sei Matthäus „um eine implizite antijüdische Spitze“ gegangen.76 Das ist nun weit mehr, als man historisch verantwortlich feststellen kann. Nur so viel wird man sagen können: Nach Mt 2 ist das biblische Wort noch zuverlässiger und klarer als die Sterne, und: Die jüdischen Schriftgelehrten haben eine Gewissensbindung, die sie hier beim Wort bleiben lässt. Im Übrigen scheinen sie abgewartet zu haben, was der weitere Gang der Dinge bringen würde.77 Zum Kind in Bethlehem kamen sie nicht.78 Vers 7 rückt nun also Herodes in den Vordergrund: Darauf79 rief Herodes heimlich die Magier zu sich (Τότε Ἡρῴδης λάθρᾳ καλέσας τοὺς μάγους [Tote Hērōdēs lathra kalesas tous magous]). Das zweimalige Τότε Ἡρῴδης [Tote Hērōdēs] in Mt 2 will zweifellos die Blicke auf Herodes lenken. Die

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Vgl. Zahn a.a.O. Schlatter 14. Schlatter a.a.O. Luz I 119f. A.a.O. 119. Das Gegenteil bei Fiedler 60f. Carson 88 stellt bei ihnen „apathy“ fest, was doch wohl zu streng ist. Vgl. Mello 73. Τότε [Tote] führt das zeitlich Nachfolgende ein, vgl. BDR § 459,2.

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Aussage heimlich bereitet manchen Auslegern Schwierigkeiten.80 Musste nicht ganz Jerusalem auf jeden Schritt der Magier achthaben? Aber dieses heimlich steht in einem Gegensatz zu der Versammlung von V. 4-6 und bedeutet demnach eine Privataudienz, über deren Inhalt nichts an die Öffentlichkeit dringen sollte.81 Erkundigte sich genau bei ihnen (ἠκρίβωσεν παρ’ αὐτῶν [ēkribōsen par’ autōn]) nach der Zeit, als der Stern erschien (τοῦ φαινομένου ἀστέρος [tou phainomenou asteros]): Der Gebrauch von ἀκριβόω [akriboō]82 erinnert hier an den Sprachgebrauch des Josephus83 und des Lukas.84 Herodes will jetzt nur noch die Zeit (τὸν χρόνον [ton chronon]) der Messiasgeburt wissen, weil ja der Ort klar ist. Dass diese Erkundigung schon zum Vorstadium eines Mordplanes gehört, ergibt sich aus V. 16. Dabei kann man φαινομένου [ phainomenou] doppelt interpretieren: a) von der Zeit, als der Stern von V. 2 erstmals auftauchte, b) von der Länge der Zeit, in der der Stern schon insgesamt schien.85 In Mt 2,7 scheint a) etwas näherzuliegen,86 wobei freilich beide Interpretationen im Endeffekt nahe beieinanderliegen. Die Antwort, die Herodes hier von den Magiern erhielt, wird nicht berichtet. Aus Mt 2,16 lässt sie sich jedoch ungefähr erschließen.87 Wenn nach dieser Stelle alle Knaben bis zu zwei Jahren getötet wurden, und wenn Herodes dabei eine gewisse „Sicherheitsspanne“ einrechnete, muss das Erscheinen des Sternes mindestens 1 Jahr zurückgelegen haben.88 Berücksichtigt man dazu das Todesdatum des Herodes (4 v.Chr.), dann kann der Stern nicht später als 5 v.Chr. erschienen sein. Da wir nicht genau wissen, in welche Regierungsjahre des Herodes das Geschehen von Mt 2,1ff fällt, kommt für das Erscheinen des Sterns vermutlich der Zeitraum 7–5 v.Chr. infrage. Konradin Ferrari d’Occhieppo nimmt deshalb „Mit hoher Wahrscheinlichkeit“ das Jahr 7 v.Chr. als Christi Geburtsjahr an.89 Und er schickte sie nach Bethlehem (V. 8): Wie Hengel-Merkel richtig bemerken, verhilft ihnen Herodes auf diese Weise „dazu, daß sie ihre von Gott bestimmte Mission ausführen können.“90 Immer wieder leuchtet im Matthäus80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

So Beare 79. Vgl. Zahn 100. Hapaxlegomenon im NT. Vgl. B. J. II, 162. Lk 1,3. Vgl. Bauer-Aland, 1697f. So auch Bauer-Aland, 1697; R. Bultmann / D. Lührmann, Art. φαίνω usw., ThWNT, IX, 1973, 2; Fiedler 61; Carson 88; Ferrari d’Occhieppo 52. Anders Zahn 101. Vgl. Beare 79f. Ähnlich Ferrari d’Occhieppo 91f. Ferrari d’Occhieppo 79. Hengel-Merkel 153.

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evangelium die Wahrheit auf, dass auch die Bösen Gott dienen müssen, obwohl sie mit aller Energie gegen ihn kämpfen (vgl. Kol 2,15). Wenn Herodes die Magier nach Bethlehem schickt, zeigt diese Handlungsweise, dass er der Auskunft der jüdischen Schriftgelehrten (V. 5-6) vertraut. Das stimmt mit den Angaben des Josephus überein, wonach Herodes sogar den Prophezeiungen der Essener Glauben schenkte.91 Er schickte sie mit den Worten:92 Zieht hin und stellt genaue Erkundigungen an (ἐξετάσατε ἀκριβῶς [exetasate akribōs]) nach dem Kind. Wieder taucht ἀκριβῶς [akribōs] auf (vgl. V. 7). Der Grund dafür liegt darin, dass Herodes für seine Gegenreaktion genaue Informationen braucht, um weder zu schwach noch zu übertrieben zu reagieren. Und wenn ihr es gefunden habt, meldet es mir, damit auch ich komme und es anbete. Das ist eine glatte Lüge. Herodes will das Kind nicht anbeten, sondern beseitigen. Zahn schreibt, Herodes habe damit bei den Magiern „Glauben“ gefunden.93 Das ist mehr als zweifelhaft. Für die Magier war zunächst nur die königliche Genehmigung und Rückendeckung von Bedeutung. In der Forschung wird diskutiert, weshalb Herodes die Magier alleine ziehen ließ und weshalb er keine Truppen mitschickte.94 Aber was sollten hier schon Truppen? Aus der Sicht des Herodes hätte ein solches Vorgehen vermutlich nur dazu geführt, dass man das Kind versteckte. Ein vorsichtiges, im heutigen Sprachgebrauch „de-eskalierendes“ Handeln konnte ihm eher Vorteile bieten.95 Für den Betrachter drängt sich angesichts der Lüge des Herodes erneut der Gegensatz zweier Welten auf: hier der Böse, der mit List, Lüge und dem Pomp seiner Position um seine Macht kämpft, dort das kleine Kind, allein von Gott geschützt und gehalten, das später sagen kann: „Ich bin die Wahrheit“ (Joh 14,6). Übrigens verraten Sprache und Stil deutlich einen semitischen Verfasser.96 Vers 9 gehört zu den schwierigen Versen des Matthäusevangeliums, und zwar wegen des Sterns, der oben stehen blieb. Zunächst müssen wir annehmen, dass die Magier nachts reisten.97 Bethlehem liegt ca. 10 km südlich von Jerusalem. Ihr Weg war also nicht lang. Nachts zu reisen, war im Orient nicht

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Josephus Ant XV, 372ff; vgl. Ant XIII, 311ff; XVII, 346ff. Vgl. Sandmel 172ff. BDR § 420,4. Zahn 100. Vgl. France 184; Carson 88. Vgl. Schniewind 17. Es geht hier um reale Probleme dieser Welt und nicht nur, wie Fiedler 61 meint, um „erzählerische“. Vgl. auch Schlatter 14. 96 BDR § 420; Beare 80. 97 Luz I 120; Zahn 101; Carson 88.

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üblich98 (vgl. Gen 28,11; Lk 9,52ff ). In der Nacht waren dagegen Flüchtlinge und Diebe unterwegs (vgl. Mt 2,14; 24,43; 1Thess 5,2). Schon aus Sicherheitsgründen mussten die Magier froh sein, dass sie ihren Weg im Einverständnis mit dem König machen konnten. Warum aber wählten sie die Nacht? Die Antwort, die der Kontext nahelegt, muss wohl lauten: Weil sie die Orientierung am Sternhimmel suchten. Der Stern, von dem hier die Rede ist und der schon in V. 2 erwähnt wurde, leitet sie nun tatsächlich. Die Worte den sie beim Aufgehen gesehen hatten bezieht man eben wegen der Parallelität mit V. 2 am besten auf das erste Aufgehen, das sie im Zweistromland beobachtet hatten. Vermutlich ist mit dem Stern (ὁ ἀστήρ [ho astēr]) der Jupiter gemeint, der jetzt dicht neben dem Saturn stand,99 oder auch die Konjunktion beider. Er ging vor ihnen her (προῆγεν αὐτούς [ proēgen autous]) sollte man sich nicht wie eine Art Laterne vorstellen, die vor ihnen herzog. Auch wenn uns Matthäus keine Einzelheiten an die Hand gibt, so lässt er doch erkennen, dass er hier einen Eindruck der Magier schildert. So spricht auch Ferrari d’Occhieppo von ihrem „spontanen Eindruck beim Anblick des Sterns“.100 Was die Magier in ihrer Heimat vorausberechnet und gesehen hatten, wiederholte sich jetzt. Und diese Wiederholung ist es, die in Mt 2,9 mit den Worten er ging vor ihnen her formuliert wurde. Bis er kam und oben stehen blieb (ἕως ἐλθὼν ἐστάθη ἐπάνω [heōs elthōn estathē epanō]), wo das Kind war ist – wir deuteten es an – am schwersten zu verstehen. Mag sein, dass es sich um den „westlichen Stillstand“ bzw. „das eng vereinte Stillstehen“ der beiden Planeten Jupiter und Saturn handelte.101 Mag sein, dass der Zodiakallichtkegel in jener Nacht auf Bethlehem wies.102 Das alles sind – durchaus mögliche – Annahmen. Entscheidend ist aber wieder, dass die Magier diesen Eindruck des Oben-drüber-Stehenbleibens hatten und sie deshalb gewiss waren, den richtigen Ort gefunden zu haben. Diesen Eindruck im Nachhinein, vom Standpunkt des Heute aus, korrigieren zu wollen, ist ein vergebliches Unterfangen.103 Schon die Knappheit der Erzählung spricht gegen die Annahme, dass Matthäus hier einen „Wunderstern“ schildern wollte,104 der außerhalb aller menschlichen Erfahrung lag. Wenn Luz sogar schreibt, „der Stern wird nicht 98 99 100 101 102 103 104

So mit Recht Luz a.a.O. Ferrari d’Occhieppo 93f. A.a.O., 94. So jedenfalls Ferrari d’Occhieppo 92f. Ferrari d’Occhieppo 95. Vgl. die sehr vernünftige Auslegung bei Zahn 101f. So aber Luz I 115 gegen Zahn 100ff; ähnlich wie Luz Fiedler 61; Hengel-Merkel 153; Mello 73f; Beare 80; France 84.

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realistisch, d.h. astronomisch plausibel geschildert“,105 dann stellt er die Dinge einfach auf den Kopf. Matthäus verortet ja seinen Bericht in der wissenschaftlichen und religiösen Welterfahrung der babylonischen Magier, und man kann ihm auch vom Stande des heutigen Wissens aus einen „gebräuchlichen astronomischen Fachausdruck“ und „sachgerechte … Aussagen“ zubilligen.106 Spätere Schilderungen verlassen zum Teil den nüchternen Boden des Matthäus. So meldet das Protevangelium des Jakobus, der Stern habe „über dem Kopf des Kindes gestanden“ (21,3). Bischof Ignatius von Antiochien schreibt an die Gemeinde in Ephesus, alle übrigen Sterne samt Sonne und Mond hätten um den Stern der Magier getanzt (Ad Eph 19,1ff ). Nach dem arabischen Kindheitsevangelium (Kap. 7) war es ein Engel, der den Magiern in Gestalt eines Sterns erschien.107 Bei diesen späteren Schilderungen sind wir auf dem Weg zur Legende. Matthäus aber hat nichts Legendäres. V. 10 hat nur einen einzigen Inhalt: die überwältigende Freude der Magier beim Eintreffen in Bethlehem. Als108 sie den Stern sahen, freuten sie sich mit unbeschreiblicher Freude: Man kann in der Wendung ἐχάρησαν χαρὰν μεγάλην σφόδρα [echarēsan charan megalēn sphodra] wieder den hebräischen Sprachstil erkennen109 (vgl. Lk 2,10; in der LXX Jes 39,2; Jon 4,6). Vier Worte also benutzt Matthäus in seinem Text, um diese Freude zu beschreiben! Den Grund dafür nennt er mit den Worten: Als sie den Stern sahen. Das Zusammentreffen des Sterns in seiner Stellung über Bethlehem mit der Aussage der jüdischen Gelehrten und des Herodes brachte ihnen die Gewissheit, am Ziel ihrer Reise zu sein. Aus Suchenden waren Findende geworden. Dazu macht R.T. France die Anmerkung: „To the Magi it brought not critical embarrasment but great joy.“110 Mit Recht kann man V. 11 den „Höhepunkt“ des Berichts nennen.111 Matthäus bleibt aber auch hier sehr nüchtern: Und als sie in das Haus kamen, erblickten sie das Kind mit Maria, seiner Mutter. Zunächst muss klargestellt werden, dass der Stern Matthäus zufolge keineswegs „genau“ dieses Haus markiert, wie Fiedler behauptet.112 Vielmehr stand er über Bethlehem als ganzem Ort. Carson mag richtig vermuten, wenn er die Magier durch

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A.a.O. Ferrari d’Occhieppo 94. 53. Vgl. die Texte bei Aland Syn 14f; sodann Zahn 101, Fn. 92. Vgl. BDR § 418,8. BDR § 198,6; Carson 90. France 84. Insofern hat Luz I 120 recht, Hengel-Merkel 154. Fiedler 61; ebenso Luz I 115.

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„discreet inquiry“ das betreffende Haus finden lässt.113 Auf jeden Fall benötigten die Magier jetzt, wo es um Einzelheiten ging, einen Wegweiser zu Josefs Familie. Am leichtesten kann man sich die Vorgänge jener Nacht vorstellen, wenn tatsächlich die Hirten durch ihre Verkündigung (Lk 2,17ff ) die Aufmerksamkeit auf die „heilige Familie“ lenkten. Setzt also Mt 2,1ff die Ereignisse von Lk 2,8ff voraus? Eigenartigerweise wird aber in Mt 2,1-12 im Unterschied zu Lk 2,8ff Josef nicht erwähnt. Den Grund dafür kennen wir nicht. Jedenfalls tritt auf diese Weise in Mt 2,1-12 Maria neben dem Kind in den Vordergrund. Weiter fällt auf, dass in Mt 2,11 von einem Haus (οἰκία [oikia]) die Rede ist. Dagegen spricht Lukas in 2,7.12.16 von einer „Krippe (φάτνη [ phatnē])“. Aber nun ist zu beachten, dass seit der Geburt Jesu und der Anbetung der Hirten doch schon einige Zeit vergangen ist. Das ergibt sich sowohl aus Mt (Abfolge 1,18ff¦2,1¦2,2ff ) als auch aus Lk (vgl. dort 2,17-38). Die Annahme, dass das kleine Kind wochenlang in einer Krippe zugebracht hätte, wäre absurd. Josef und Maria fanden also zwischenzeitlich ein Haus. Dass Matthäus hier nichts ausschmückt oder detailliert, beweist nur seine Nüchternheit. Mit R. Riesner muss man die Möglichkeit offenlassen, dass Josef evtl. selbst in Bethlehem ein Haus besessen hat. Jedenfalls besaß er dort Land.114 Wie identifizierten sie das Kind? Über das bisher Berichtete hinaus nennt Matthäus kein besonderes Zeichen, das eine solche Identifikation ermöglicht hätte. Dennoch sind sich die Magier absolut sicher. Grundlagen sind a) der Stern bzw. das Sternbild, b) die Angaben der jüdischen Gelehrten nach der Heiligen Schrift. Wahrscheinlich treten c) die Erzählungen der Bewohner Bethlehems (Lk 2,17ff ) hinzu. Unverzichtbar für die Gewissheit der Magier bei der Proskynese ist aber d) die Bestätigung durch Josef und Maria, dass es sich um ein wunderbar geborenes Kind handelt. Eine Anbetung unter dem Protest der menschlichen Eltern – der ja in der Tat nicht stattfand! – wäre völlig unmöglich gewesen. Hier stoßen wir also erstmals auf so etwas wie eine Familienüberlieferung. Nun geschieht die Anbetung, seit V. 2 das Ziel der Magier: Und sie fielen nieder und beteten es (= das Kind) an115 und öffneten ihre Schätze und brachten ihm Geschenke, Gold und Weihrauch und Myrrhe. Die Verbindung von πίπτω [ piptō] und προσκυνέω [ proskyneō] ist im NT „Häufig“.116

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Carson 88. R. Riesner, Art. Bethlehem, GBL, 1, 1987, 197. Vgl. BDR § 328,3. W. Michaelis, Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, 163.

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Dabei geht es „um Anbetung, wie sie der Gottheit gebührt“.117 Die Magier beten also das Kind Jesus als ein göttliches Wesen an: Ihre Anbetung „gilt in Wahrheit dem göttlichen Weltherrscher“.118 Das ist es, was Matthäus uns eindrücklich zeigen will: Heiden erweisen dem Messias die göttliche Ehre. Dasselbe wird uns am Schluss beim Kreuz begegnen (27,54) und ist ja auch das Ziel des Missionsbefehls in 28,18-20. Wohlgemerkt: In Mt sind die Heiden im Unterschied zu Lk sogar die ersten Anbeter! Die Anbetung wird weiterhin sichtbar durch die überreichten Geschenke. Die Formulierung sie öffneten ihre Schätze bringt zum Ausdruck, dass sie die Behältnisse119 öffneten, in denen sie ihre Gaben für die Reise verschlossen und verschnürt hatten. Die Reise war also sehr gut geplant und organisiert. Die Geschenke, die sie dem neugeborenen Jesus brachten, hatten alle neben dem materiellen Wert vor allem eine symbolische Bedeutung. „Gold ist seit frühester Zeit … hoch geschätzt.“120 Durch Ps 72,15; Jes 60,6 wird es als messianische Gabe identifiziert, eine Gabe für den wahren König Israels. Hier kommt zweierlei zum Ausdruck: a) die Definition Jesu als des neugeborenen Königs der Juden (V. 2), b) die endzeitliche Anbetung des Messias (Ps 72,10f.15; Jes 60,6). Es erfüllt sich in der Tat Ps 72,10f: „Die Könige von Tarsis und auf den Inseln sollen Geschenke bringen, die Könige aus Saba und Scheba sollen Gaben senden. Alle Könige sollen vor ihm niederfallen und alle Völker ihm dienen.“ Es erfüllt sich auch Jes 60,6: „Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herrn Lob verkündigen.“ Über die Beziehung des Goldes zum Kult und zum Segen Gottes vgl. B. Kedar-Kopfstein.121 Als Zweites wird Weihrauch erwähnt (λίβανον [libanon]). Es handelt sich um „das Harz des Weihrauchbaumes Boswellia Carterii Birdwood“.122 Weihrauch hatte eine hohe Bedeutung in der ganzen alten Welt, vor allem im Kult, und galt in Israel als ein kostbarer und teurer Importartikel (vgl. Jes 43,23; 60,6; Jer 6,20).123 Als dritte Gabe wird Myrrhe genannt. In der Dreier-Reihe Gold – Weihrauch – Myrrhe fällt sie deshalb auf, weil sie nicht unter den messianischen Gaben von Ps 72 und Jes 60 erscheint. Allerdings hat sie ihren Platz im mes117 Michaelis a.a.O. 163f. 118 H. Greeven, Art. προσκυνέω usw., ThWNT, VI, 1959, 764; ähnlich Hengel-Merkel 155. 119 F. Hauck, Art. θησαυρός usw., ThWNT, III, 1938, 138: „Schatzbehälter“; ebenso BauerAland, 734. 120 B. Kedar-Kopfstein, Art. ‫זָָהב‬, ThWAT, II, 1977, 537. 121 A.a.O. 542f. 122 D. Kellermann, Art. ‫ְלֹבנָה‬, ThWAT, IV, 1984, 455. 123 Kellermann a.a.O. 455ff.

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sianischen Königspsalm 45,9. Wir begegnen der Myrrhe (σμύρνα [smyrna]) an zwei Punkten im Leben Jesu: a) bei der Anbetung durch die Magier in Mt 2,11, b) bei der Passion bzw. beim Begräbnis (Mk 15,23; Joh 19,39). Myrrhe, hebr. ‫[ מ ֹר‬mor], „das Harz der Terebinthenart Commiphora abyssinica aus Südarabien“, konnte sowohl „in fester wie in flüssiger Form“ transportiert werden.124 Ihr Anwendungsbereich in der alten Welt war groß: als Heilmittel, als Räuchermittel, als Duftmittel, als Schönheitsmittel. In allen Texten des AT wird insofern mit dem Begriff Myrrhe „etwas Besonders, etwas Schönes verbunden“.125 Neben den genannten Anwendungsbereichen sticht hervor, dass die Myrrhe auch zum Einbalsamieren bei der Mumifizierung benutzt wird.126 Fassen wir zusammen: In den Aussagen des AT und NT hat die Myrrhe in drei Bereichen besondere Bedeutung: a) für Salböl und Gottesdienst (Ex 30,23), b) für die Liebe (Est 2,12; Ps 45,9; Hld 1,13; 3,6; 4,6.14; 5,1.5.13), c) für Begräbnis und Mumifizierung (Mk 15,23; Joh 19,39).127 Blicken wir noch einmal auf Mt 2,11. Alle drei Geschenke sind kostbar (vgl. Gen 43,11). Aber über ihren Wert hinaus haben sie alle auch eine symbolische Bedeutung. Sie drücken alle die Verehrung für den messianischen König aus. Sie erfüllen die Prophetie des AT in Ps 45,9; 72,10f.15; Jes 60,6. Die Myrrhe bedeutet darüber hinaus eine Prophetie auf die Passion (vgl. Mt 26,7), auch wenn sie den Magiern nicht bewusst gewesen ist. So hat es schon Irenäus mit Recht gedeutet.128 Die nüchterne Art des Matthäus schweigt über vieles, was wir gerne noch wissen würden. Mit einem beinahe brüsk anmutenden Satz schließt er seinen Bericht (V. 12): Und weil sie im Traum von Gott die Weisung erhielten, nicht zu Herodes zurückzukehren,129 zogen sie auf einem anderen Weg wieder in ihr Land. Vorausgesetzt ist hier, dass die Magier in Bethlehem übernachtet haben und nicht mehr nach Jerusalem zurückkehrten. Auf einem anderen Weg könnte beispielsweise der Weg über Hebron, zum Toten Meer und über das Gebiet der Nabatäer sein.130 Vermutlich erfolgte der vorsichtige Rückweg bei Nacht. Das griechische χρηματίζεσθαι [chrēmatizesthai] bedeutet „von Gott Anweisung

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J. Hausmann, Art. ‫מ ֹר‬, ThWAT, IV, 1984, 1137. Hausmann a.a.O. 1140. Hausmann a.a.O. 1137f. Vgl. Hausmann a.a.O. 1137ff. Irenäus Adv. haer. III, 9,2. Vgl. BDR § 308,4. Vgl. Carson 89. Andere Möglichkeiten in meinem früheren Mt-Kommentar (I 37); bei Beare 81.

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erhalten“, „göttlichen Befehl erhalten“.131 Für Gottes Anweisung an Josef wird in V. 22 dasselbe Wort benutzt. Das erstaunt. Gott kann offenbar Heiden auf dieselbe Weise führen wie glaubende Menschen seines Volkes. Man denke an die vielen Träume von Gott, über die Muslime und Animisten heute berichten. Vgl. zum Vorgang selbst Mt 1,20; 2,13.19.22; Apg 10,22; Hebr 8,5. Allerdings ist vom „Engel des Herrn“, der Josef fast immer die Botschaften Gottes im Traum vermittelt (1,20; 2,13.19), bei den Magiern nicht die Rede. Drückt sich darin nicht doch ein größerer Abstand zu den Magiern aus? Eine ganz entfernte Parallele zu Mt 2,12 ist 1Kön 13,9f. Als Ergebnis steht jedenfalls fest: Herodes erhielt von den Magiern die gewünschten Informationen (V. 8) nicht. Seine Mordaktion konnte deshalb auch nicht gezielt erfolgen, sondern musste einen großen Unsicherheitsbereich abdecken (vgl. 2,16). Herodes wird den Kampf gegen den Messias verlieren. Aber nicht, weil der Messias mehr an irdischer Macht aufbietet, sondern weil er von Gott bewahrt wird, bis die Stunde seiner Passion gekommen ist. Übrigens lüftet Matthäus das Geheimnis nicht, was ihr Land ist.132

IV Zusammenfassung 1. Mt 2,1-12 ist keine Legende,133 sondern ein nüchterner, „die meisterhafte matthäische ‚brevitas‘ verratender“134 und geschichtlich ernst zu nehmender Bericht. Spätere Legendenbildung setzt erst mit dem Protevangelium des Jakobus (2. Hälfte des 2. Jh. n.Chr.135?) und andern Kindheitsevangelien136 sowie in der mündlichen Tradition ein. Eine Reihe volkstümlicher Ausschmückungen verdankt sich dieser Legendenbildung: zum Beispiel die Anschauung, dass die Magier „Könige“ (die „Heiligen Drei Könige“) gewesen wären, wohl abgeleitet aus Ps 72,10f;137 die Dreizahl der „Könige“, wohl abgeleitet von der Dreizahl der Geschenke138 (Gold, Weihrauch, Myrrhe); die Namen der drei: Balthasar, Melchior und Kaspar (Gaspar), seit dem 6. Jh. n.Chr. nachweisbar,139 ihre Herkunft aus Arabien (seit Justinus Martyr Dial c

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BDR § 312,1; 392,5; B. Reicke, Art. χρῆμα usw., ThWNT, IX, 1973, 470. Vgl. Sand 52. Gegen Luz I 115ff; Bultmann Gesch 317ff; Hengel-Merkel 139. Hengel-Merkel 154. Schneemelcher I 337. Vgl. O. Cullmann in Schneemelcher I 330ff. Hengel-Merkel 143. Metzger 79f. Metzger 89ff.

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Tryph 77,4; 78,1ff; 88,1; 102,2; 103,3; 106,4, ca. 150 n.Chr., vgl. Ps 72,10f; Jes 60,6) oder Persien (seit Clemens Alexandrinus, Stromateis 1,15, ca. 200 n.Chr.).140 2. Die geschichtliche Glaubwürdigkeit wird in der Auslegung völlig konträr beurteilt.141 Einige der Gründe, die man gegen die Geschichtlichkeit des Berichts anführt, seien hier zusammengestellt: a) Mt 2,1-12 habe möglicherweise seinen Ursprung „im arabischen Kult des Dusares“, der „vielleicht auch in Bethlehem seine Stätte hatte“.142 Die Entstehung unserer Geschichte ließe sich dann so denken, „daß, als man, gestützt auf die Prophezeiung des ATs, die Geburtsstätte Jesu in Bethlehem suchte, man dort von den arabischen Magiern erfuhr, die das Fest des Sohnes der jungfräulichen Göttin … feierten.“143 Der Gang der christlichen „Sucher“ nach Bethlehem wäre demnach noch abenteuerlicher gewesen als der Gang der Magier in Mt 2. Überdies weiß man noch nicht einmal, ob der „arabische Kult des Dusares“ jemals in Bethlehem zu Hause war. Jedenfalls leuchtet Peter Stuhlmachers religionsgeschichtliche Einordnung weit besser ein, der in Mt 2,1ff „alte judenchristliche Tradition“ erblickt.144 b) Es sei unwahrscheinlich, dass ganz Jerusalem „zusammen mit dem ungeliebten König Herodes über das Kommen des Messias erschrecken“ konnte.145 Die Betroffenheit Jerusalems erklärt sich aber mit Fiedler sehr gut „aus der Angst der Bevölkerung vor den Folgen, die … bei Herodes ausgelöst werden“.146 Seine krankhafte Eifersucht und seine Grausamkeit sind ja gerade durch den jüdischen Geschichtsschreiber Josephus beschrieben.147 c) Ein weiterer Einwand ist: Der Stern sei „nicht realistisch, d.h. – astronomisch plausibel geschildert“.148 Hier sei nur darauf hingewiesen, dass Luz selbst eine ganze Reihe von Gegenstimmen zitiert.149 Seit Joh. Kepler hat es jedenfalls immer wieder Fachleute gegeben, die Mt 2,1-12 vom Standpunkt der Astronomen aus für möglich hielten. Ferrari d’Occhieppo, den wir mehrfach zitierten, zieht am Schluss zu Mt 2,1ff die Bilanz: „die zeitliche Reihenfolge der astronomischen und irdischen Begebenheiten ist in bester Ordnung, 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149

Hengel-Merkel 143f. Vgl. Beare 80; Sand 52; France 84; Wiefel 38. Tasker 38, Luz I 116. So Bultmann Gesch 318 nach G. Frenken. Bultmann a.a.O. Stuhlmacher II 153. Luz I 115. Fiedler 58. Dies auch gegen Sandmel 247f. So Luz I 115. A.a.O.

3. Die Anbetung Jesu durch die Magier, 2,1-12

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die nach babylonischer Theorie wichtigsten Phasen der Himmelserscheinung werden mit den dafür zutreffenden Fachausdrücken angeführt.“150 Man sollte deshalb darauf verzichten, sich auf astronomisch-fachwissenschaftliche Argumente zu berufen. d) Ein vierter Einwand betrifft das Verhältnis zu Lukas. So schreibt Luz: „Gegen einen historischen Kern spricht schließlich, daß Lukas nichts ähnliches weiß; außerdem wäre die Magierepisode in der lukanischen Geburtsgeschichte überhaupt nicht unterzubringen.“151 Diese Überlegungen gehen fehl. Bei den lukanischen Erzählungen vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29ff ), vom verlorenen Sohn (Lk 15,11ff ) oder von Maria und Martha (Lk 10,38ff ) „weiß“ kein anderer Evangelist „ähnliches“: Sind sie deshalb unecht? Außerdem lässt sich der Magier-Besuch vor oder nach der Darstellung Jesu im Tempel (Lk 2,22ff ) durchaus unterbringen. Fazit: Mit Auslegern wie Wiefel152; Tasker153; France154; Carson155; Schlatter 156 und Zahn157 halten wir den Bericht von Mt 2,1-15 für geschichtlich glaubwürdig. 3. Den Stern wird immer ein Geheimnis umgeben. Bis heute wird vor allem diskutiert, ob es sich um eine Nova, einen Kometen158 oder die Jupiter-Saturn-Konstellation, genauer: eine „dreimalige Konjunktion“ im Sternbild der Fische159, von 7/6 v.Chr. handelt.160 Eine absolute Gewissheit gibt es hier nicht. Aber die meisten Argumente sprechen doch für die Jupiter-Saturn-Konstellation als Grundlage der Annahmen der Magier.161 Seit den Beobachtungen von Johannes Kepler (1571–1630) denkt man an eine Lösung in dieser Richtung. Über all den astronomischen Fragen darf aber ein wichtiger Umstand nicht in Vergessenheit geraten: Das ist die Verbindung des Sternes zur BileamsWeissagung in Num 24,17 (MT: ‫[ כּוָֹכב‬kōkāb], LXX ἄστρον [astron]). Der Themenkreis „Stern/Messias“ konnte in Jerusalem wohl kaum besprochen

150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161

Ferrari d’Occhieppo 102; vgl. GBL, 1, 1483. Luz I 116. Wiefel 38. Tasker 36ff. France 80ff. Carson 80ff. Schlatter 12ff. Zahn 89ff. So schon Johannes Damascenus (ca. 700–753 n.Chr.), Texte KV I 136. Ferrari d’Occhieppo 58; vgl. Luz I 115. Vgl. Luz a.a.O. Vgl. wieder Luz a.a.O.; Ferrari d’Occhieppo 31ff; GBL, 1, 1483; Schniewind 17.

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Anfänge, 1,2–4,25

werden, ohne dass die Erinnerung an Num 24,17 auftauchte.162 Erst recht gilt das für die frühen Christen. Sie mussten in dem Hinweis der Magier auf einen „Stern“ eine Erfüllung von Num 24,17 erblicken (vgl. 2Petr 1,19; Offb 2,28; 22,16). 4. Die Erklärung des Sternes hat selbstverständlich Auswirkungen auf das wahrscheinliche Datum der Geburt Christi. Zahn will die Frage nach dem Geburtsdatum verbieten.163 Auf der anderen Seite steht Schniewind, der nach den Berechnungen von O. Gerhardt (Der Stern des Messias, 1922) den 2.4.7 v.Chr. als Geburtstag Jesu für möglich hält.164 Die Festlegung der Geburt Christi auf das Jahr 0 der heutigen Zeitrechnung ist erst im 6. Jh. n.Chr. vorgenommen worden, und zwar durch den Mönch und späteren Abt Dionysius Exiguus („der Kleine“, gest. 544 n.Chr.). Irrtümlich setzte er die Geburt Christi mit dem Jahr 754 nach der Gründung Roms gleich.165 Aus den Quellen ergibt sich jedoch folgendes Bild: Da Herodes der Große im Jahr 4 v.Chr. starb, muss Jesus vor diesem Jahr geboren sein, was ja auch in Mt 2,19ff klar zum Ausdruck kommt. Andererseits ist Jesus bei seiner Rückkehr aus Ägypten noch ein „kleines Kind“ (Mt 2,20 παιδίον [ paidion])166 und kann deshalb nicht allzu lange vor dem Tod des Herodes geboren sein. Legt man die berechnete Jupiter-Saturn-Konstellation zugrunde, dann liegt das Geburtsdatum Jesu im Bereich der Jahre 7–5 v.Chr. Das lässt sich auch mit Lk 3,23 und Joh 8,57 vereinbaren.167 5. Die Auslegungsgeschichte von Mt 2,1-12 würde mehrere Bücher füllen. Nur knappe Stationen der Frühzeit seien hier genannt: Bischof Ignatius von Antiochia deutet um 110–115 n.Chr. unsere Geschichte (Ad Eph 19,2).168 Irenäus geht um 180 n.Chr. auf sie ein.169 Justinus Martyr macht um 150 n.Chr. von ihr Gebrauch.170 Johannes Damascenus (ca. 700–753 n.Chr.) hat sich mit ihr beschäftigt.171 Insbesondere ist Mt 2,1-12 Gegenstand der Kindheitsevangelien gewesen (Protevangelium Jacobi, Arab. Kindheitsevangelium). Und von Clemens Alexandrinus (ca. 200 n.Chr.) an fließt ein ununter162 163 164 165 166 167 168 169 170 171

Vgl. 4QTest 9ff; CD VII, 18ff; 1QM XI, 5ff; Carson 86. Zahn 100,91. Schniewind a.a.O. Vgl. Green 64,3. Vgl. Bauer-Aland, 1222. Ferrari d’Occhieppo 79: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit“ das Jahr 7 v.Chr. Vgl. Hengel-Merkel 150; Eusebius H.E. III, 26,2ff. Adv. haer. III, 9,2. Dial c Tryph 77,4, 78,1ff; 88,1; 102,2; 103,3; 106,4. Texte KV I 136.

4. Die Flucht nach Ägypten, 2,13-15

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brochener Strom von Einzelauslegungen und Kommentaren. Es hat also mehr als ein Korn Wahrheit in sich, wenn Wiefel Mt 2,1-12 „die Zentralperikope der matthäischen Kindheitsgeschichte“ nennt.172 Weiter noch geht das Urteil von Martin Hengel und Helmut Merkel: Mt 2,1-12 sei „Die eigenartigste Erzählung bei Matthäus, ja vielleicht im ganzen Neuen Testament.“173

4. Die Flucht nach Ägypten, 2,13-15 I Übersetzung 13 Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erscheint ein Engel des Herrn dem Josef im Traum und sagt: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich es dir sage. Denn Herodes ist eben dabei, das Kind zu suchen, um es umzubringen. 14 Er aber stand auf, nahm das Kind und seine Mutter noch in der Nacht mit sich und entwich nach Ägypten. 15 Und er lebte dort bis zum Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was vom Herrn durch den Propheten gesagt wurde, wenn er spricht: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“

II Struktur Erneut erstaunt die Kürze der Erzählung. Wenn man die teilweise idyllischen Schilderungen der Flucht bzw. der Rückkehr in der Kunst vor Augen hat, z.B. von Pietro Lombardo (1435–1515),1 dann begreift man schwer den Todesschatten, der über Mt 2,13-15 liegt. Aber Matthäus zeichnet sozusagen nur ein Gerüst jenes Teils der Kindheit Jesu, der mit Ägypten zu tun hat. Am ausführlichsten ist die Botschaft des Engels in V. 13 dargestellt. Das ist sicher kein Zufall. Vielmehr sieht Matthäus in Wort und Tat des Herrn die entscheidenden Handlungsimpulse der Kindheitsgeschichte Jesu. Wie in Mt 1,18-25 entspricht der Gehorsam Josefs genau dem göttlichen Auftrag: ἐγερθείς [egertheis] V. 13 und V. 14 – παράλαβε/παρέλαβεν [ paralabe/parelaben] – τὸ παιδίον καὶ τὴν μητέρα αὐτοῦ [to paidion kai tēn mētera autou] – εἰς Αἴγυπτον [eis Aigypton] – ἐκεῖ [ekei] und ἕως [heōs]. Darin wird der „gerechte“ Josef (1,19) anschaulich. 172 Wiefel 37. 173 Hengel-Merkel 139. 1 In der Cappella di San Girolamo der San Francesco della Vigna in Venedig.

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Anfänge, 1,2–4,25

Die Erfüllungszitate des Matthäusevangeliums setzen sich auch in unserem Abschnitt fort (ἵνα πληρωθῇ [hina plērōthē] usw., wörtlich übereinstimmend mit 1,22). Es scheint, als sei die gesamte Hinzufügung der Kindheit Jesu in Mt 1–2 etwas verhältnismäßig Neues, sodass Matthäus hier besonders die Schriftgemäßheit darlegen muss. Die Verklammerung mit dem vorausgehenden und dem nachfolgenden Abschnitt ist stark (Ἀναχωρησάντων δὲ αὐτῶν [Anachōrēsantōn de autōn] ohne weiteres Substantiv, ἀπολέσαι [apolesai] in V. 13 und danach ἀνεῖλεν [aneilen] in V. 16). Dennoch bildet Mt 2,13-15 einen kleinen selbstständigen Abschnitt für sich, eben unter dem Thema „Ägypten“ (drei Mal, V. 13.14.15).

III Einzelexegese Vers 13 beginnt, als wäre er die Fortsetzung von V. 12: Als sie aber hinweggezogen waren, und schlägt doch ein neues Thema an, nämlich Ägypten. Allerdings lässt die Formulierung erkennen, dass die Magier Bethlehem schon verlassen hatten und nicht mehr im Zugriffsbereich des Herodes waren. Es muss sich also um eine Nacht handeln, die zeitlich später lag als die Nacht des Besuchs von V. 9-11. Die Fortsetzung benutzt die Gegenwartsform φαίνεται [ phainetai] (erscheint, Praesens historicum2). Das erhöht die Spannung. Ein Engel des Herrn erschien schon in 1,20 und wird in 2,19 wieder erscheinen. Der Traum als Mittel der göttlichen Führung ist in Mt 1–2 bekanntlich häufig (1,20; 2,12.13.19.22). Vgl. die Erklärung oben bei 1,20. Die Anweisung des Engels hat vier Teile: a) Steh auf (ἐγερθείς [egertheis], auf hebr. ‫[ קוּם‬qūm] zurückgehend). Josef muss sich also noch in der Nacht auf den Weg machen, sonst ist es zu spät.3 b) Nimm das Kind und seine Mutter mit dir. Es heißt nicht: „dein Kind“, so wenig wie in den Versen 14,20 und 21. Darin drückt sich die Tatsache aus, dass Josef nicht der leibliche Vater des Kindes ist. Dennoch hat er als der juristische Vater und als Familienoberhaupt die Verantwortung für Kind und Mutter. c) Und flieh nach Ägypten: Ägypten ist seit Jahrhunderten der Zufluchtsort für die Israeliten, so für Abraham (Gen 12,10ff ), für Jakob und seine Söhne (Gen Kap. 42ff ), für Jerobeam (1Kön 11,40), für den Propheten Uria (Jer 26,20ff ) oder Jochanan ben Kareach und Jeremia (Jer 43,1ff ). Deshalb verwundert die Aufforderung Flieh nach Ägypten nicht allzu sehr. Außerdem spielt Ägypten in den Endzeitweissagungen eine positive Rolle (vgl. Jes 19,23ff; Sach 14,18). Politisch war ein Exil in Ägypten zur Zeit des 2 Vgl. BDR § 321,3. 3 Zahn 105; Carson 91; Sand 53.

4. Die Flucht nach Ägypten, 2,13-15

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Herodes deshalb günstig, weil zwischen Herodes und den Ägyptern ziemliche Spannungen bestanden. Ägypten stand außerdem seit 30 v.Chr. unter direkter römischer Verwaltung. Schließlich kommt ein Grundmotiv des Lebens Jesu zum Vorschein: Immer wieder muss er fliehen, immer wieder zeigt sich, dass dem Gottessohn in dieser Welt der Sünde eine Heimat verweigert wird. Er selbst sagt in Lk 9,58: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ Johannes fasst diese Seite des Lebens Jesu in die Worte: „Er kam in sein Eigentum; aber die Seinen nahmen ihn nicht auf “ (Joh 1,11; vgl. Lk 4,30; 9,51ff; 13,31ff; Offb 12,4ff ). Dieses Grundmotiv klingt schon in der MoseErzählung an (Ex 2,15). In Mt 2,13ff ist es aber verschärft, weil Bethlehem ja der Stammsitz der Davididen ist: Nicht einmal am Stammsitz seines Geschlechts hat Jesus Heimat und Frieden. Das genannte Grundmotiv wird dann ein Grundton des Lebens der Jesusgemeinde in dieser Welt (Mt 5,10ff; 10,16ff; Joh 15,18ff; Apg 14,22; Offb 12,4ff ). d) Bleib dort, bis ich es dir sage. Der Engel sagt also nicht, wie lange der Ägypten-Aufenthalt dauern wird. Er sagt auch nicht, an welchen Ort in Ägypten Josef ziehen soll. Nach Alexandria mit seiner riesigen jüdischen Bevölkerung? In die Provinz Goschen, wo die Israeliten seit Gen 47,27ff rund 400 Jahre wohnten? Wir wissen es nicht. Sei dort (ἐκεῖ [ekei]) lässt Josef den Spielraum, für die Familie und je nach den Umständen das Passende zu suchen: eine Arbeit, eine Wohnung, eventuell eine Synagoge (vgl. Apg 6,9) usw. Dass Gott uns führt, bedeutet nicht, dass uns sklavisch jeder Schritt vorgeschrieben wird oder unsere Eigenverantwortung aufhört. Der Engel begründet seine Anweisung, um ihre Dringlichkeit zu unterstreichen: Denn Herodes ist eben dabei (μέλλει [mellei]), das Kind zu suchen, um es umzubringen. Das griech. μέλλει [mellei] hat verschiedene Bedeutungsnuancen: „er steht im Begriff “, „er beabsichtigt“, „er muss“ (im Sinne eines göttlichen „Muss“), „er ist eben dabei“.4 In Mt 2,13 schwingen alle diese Bedeutungen mit: a) „er steht im Begriff “ / „ist eben dabei“, b) „er beabsichtigt“ / „plant“, das heißt, er handelt sehr überlegt, c) dahinter steht Gottes Heilsplan, dem auch die Bösen dienen müssen. Hier kommt die völlige Souveränität Gottes zum Ausdruck. Gott weiß, was Herodes plant, Gott ist in der Lage, Josef rechtzeitig zu warnen und zu bewahren und damit die Pläne des Herodes zu durchkreuzen. Herodes wird den Kampf um das Kind verlieren. Allerdings ist das alles auch eine Herausforderung für den menschlichen Gehorsam des Josef. 4 Vgl. Bauer-Aland, 1015f.

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Anfänge, 1,2–4,25

Hier, in Mt 2,13, wird neben der Auseinandersetzung göttlicher Herrscher/ Machthaber dieser Erde noch ein ganz anderes Thema angeschlagen, das Jesus bis zum Kreuz begleiten sollte: das ist der Schatten des Todes über seinem Leben. Von Mt 2,13ff an über Lk 4,29; Mk 3,6; Joh 5,18; 7,30; 10,31ff und über die letzten Tage in Jerusalem bis zu seiner Hinrichtung schwebt dauernd dieser Schatten der Todesdrohung. Er hat ihn im Lichte der göttlichen Prophetie sehr wohl erkannt (vgl. Gen 3,15; Lev 16,21ff; Jes 50,6; 53,6ff; Jona 1,11ff ). Vers 14 schildert den Gehorsam Josefs in wörtlicher Entsprechung zu V. 13: Er aber5 stand auf – nahm das Kind und seine Mutter mit sich – und entwich nach Ägypten.6 Überhaupt stimmen die Verse 13, 14, 20 und 21 in ihrem Wortlaut weitgehend überein.7 Neu ist in V. 14 gegenüber V. 13 νυκτός [nyktos], das folglich betont ist: noch in der Nacht.8 Matthäus bleibt bei seinem extrem knappen Erzählstil. Weder zur Reiseroute noch zur Reisedauer, weder zur Versorgung während der Reise noch zu den Gefahren, weder zum Zielpunkt der Reise noch zur Aufnahme, die die kleine Familie fand, gibt er irgendwelche Informationen. In diese Lücke gingen später die sog. Kindheitsevangelien, z.B. das Arabische Kindheitsevangelium (6. Jh. n.Chr.?), das vom Aufenthalt in Ägypten erzählt. Aber von Matthäus gilt, was Luz bemerkt: „der Evangelist verweigert sich jeder legendarischen oder novellistischen Ausschmückung. Gerade diese Kargheit muß interpretiert werden.“9 Man wird Matthäus vor allem die geschichtliche Glaubwürdigkeit zugestehen.10 Übrigens ist die Entfernung von Bethlehem nach Ägypten mit ca. 100 km nicht allzu groß. Vermutlich beabsichtigte Matthäus, mit der Voranstellung des Kindes vor die Mutter die zentrale Bedeutung des Messias zu unterstreichen.11 Daneben erscheint Josef erneut als leuchtendes Glaubensvorbild. In einer äußerst schwierigen Situation leistet er Gott Gehorsam, vertraut ihm und nimmt auf der menschlichen Ebene die ganze Verantwortung auf sich. Vers 15, der letzte Vers unseres Berichts, hat zwei Teile. Der Erste ist unübertrefflich in seiner Kargheit und Nüchternheit: Und er (= Josef ) lebte (wörtlich: war) dort bis zum Tode des Herodes. Er lebte: Bauer-Aland übersetzen „Er blieb / verweilte dort“ (450), was sachlich dasselbe ist.12 Ein Ort 5 Das aber ist hier kopulativ, nicht adversativ, BDR § 447,7. 6 Der Sprachstil ist hebräisch, BDR § 419,2; Mello 76. 7 Vgl. Schniewind 19. 8 Vgl. BDR § 186,3. 9 Luz I 126. 10 Gegen Luz I 128. 11 Tasker 42. 12 Allerdings hat das Griechische für „bleiben“ ein eigenes Wort.

4. Die Flucht nach Ägypten, 2,13-15

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wird auch jetzt nicht angegeben. Die Formulierung Er lebte ergibt sich aus der Fortsetzung von V. 14 und schließt selbstverständlich Jesus und Maria ein.13 Wie lange dauerte dieser Ägyptenaufenthalt? Der Tod des Herodes erfolgte 4 v.Chr. Wenn man dem Zeitansatz von Kepler, Ferrari d’Occhieppo u.a. folgt, dann dauerte der Ägyptenaufenthalt maximal von 7 v.Chr. bis evtl. 3 v.Chr., also vier Jahre. Wenn man Jesus aber erst 5 v.Chr. geboren sein lässt und die Rückkehr noch im Todes-Jahr des Herodes, nämlich 4 v.Chr. geschieht, dann ergibt sich als Minimum nur eine Zeitspanne von etwa einem Jahr. Wir müssen den zeitlichen Korridor des Ägyptenaufenthalts demnach auf ein bis vier Jahre ansetzen, eher wohl auf zwei bis vier Jahre. Die Berechnung Hippolyts (ca. 160–238 n.Chr.), wonach Jesus dreieinhalb Jahre in Ägypten gewesen sei,14 liegt nicht weit davon. Auffallenderweise bestätigt der Babylonische Talmud sowohl im Traktat Schabbat als auch im Traktat Sanhedrin den Ägyptenaufenthalt Jesu. Nach b Schab 104 b brachte Jesus „Zauberkünste aus Ägypten mit durch Ritzungen auf seinem Leibe.“ Nach b Sanh 107 b kehrte Jesus mit Rabbi Jehoschua b. Perachja aus Alexandria ins Israelland zurück.15 Eine schlichte, aber elementare Tatsache darf über all diesen Einzelbeobachtungen nicht vergessen werden: Jesus hat die prägenden ersten Kindheitsjahre in Ägypten, also einem afrikanischen Land, verbracht. Das Christentum ist kein „europäischer Exportartikel“, sondern seinem Ursprung nach eine asiatische und afrikanische Religion.16 Bleiben wir noch einen Moment bei der ersten Aussage von V. 15: Sie macht deutlich, dass Jesus, der Sohn Gottes, auch das Schicksal und Leid der Flüchtlings- und Migrantenexistenz an seinem Leib erfahren hat. Er wurde unser Erlöser und Versöhner, indem er alles Menschenleid auf Erden erlitt. Darin ist er einzigartig (vgl. Jes 50,6; 53,3ff; Röm 8,3ff; 2Kor 8,9; Phil 2,6ff; Hebr 2,14ff; 4,15f; 5,8ff ). Die irdische Gemeinde wird ihm auf diesem Weg folgen (Mt 16,24ff; 2Kor 4,7ff; Apg 12,13ff; 14,22). Ein Stück weit modellhaft hat sich diese Existenz schon bei Mose verwirklicht (Ex 2,11ff ). Für spätere Vorstellungen ist die Darstellung von Pietro Lombardo (1435 – ca. 1515) in der S. Francesco della Vigna in Venedig typisch: Bei der Rückkehr aus Ägypten ist Jesus schon so groß, dass er diesen Weg selbst gehen kann! 13 BigS übersetzt „sie blieben“, was aber nicht da steht und auch durch keine Textvariante vertreten wird. 14 Vgl. Zahn 105,2. 15 Vgl. P. Schäfer 30ff. 69ff. Schäfer nennt noch weitere einschlägige Stellen. Vgl. weiter Zahn 107,4. 16 Vgl. Tacitus Ann XV, 44.

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Anfänge, 1,2–4,25

Den zweiten Teil von V. 15 bildet ein Erfüllungszitat: damit erfüllt würde, was vom Herrn durch den Propheten gesagt wurde, wenn er spricht: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ Das ist jetzt schon das zweite Erfüllungszitat (vgl. 1,22f ) und dritte Schriftzitat in Mt (vgl. 1,22f; 2,5f ). Und wie bei den früheren Schriftzitaten ist auch diesmal der Name des Propheten nicht genannt. Es handelt sich aber offenkundig um Hos 11,1. Dabei schließt sich Matthäus an den hebr. Text an17 und nicht an die LXX mit deren Plural τὰ τέκνα αὐτοῦ [ta tekna autou]. Die Worte ἐκάλεσα [ekalesa] in Mt 2,15 können als getreue Wiedergabe des hebr. ‫[ ָקָראִתי ִלְבנִי‬qārāʾtī libnī ] gelten. Hier kommt von Seiten des Matthäus dreierlei zum Ausdruck: a) die unbedingte Verlässlichkeit der Schrift, die erfüllt wird (πληρωθῇ [ plērōthē]),18 b) die Wiederholung der Geschichte Jesu, der Israel also repräsentiert und in typologischer Weise darstellt,19 c) das Verhältnis Jesu zu Gott als das Verhältnis des Sohnes zum Vater.20 Matthäus vertritt also eine ausgesprochene Sohnes-Christologie (vgl. 3,17; 11,27; 16,16; 26,63; 27,54; 28,19), und zwar nicht etwa nur von der Taufe an (adoptianisch), sondern von allem Anfang an (siehe 2,15). Unübersehbar sind ferner die Parallelen zur Mosegeschichte. Auch Mose wird als Kind vor den Nachstellungen des Pharaos bewahrt, der ihm nach dem Leben trachtet (Ex 1,15–2,10). Auch Mose flieht in ein anderes Land (Ex 2,11ff ). Auch Mose kehrt in das Land seiner Geburt zurück (Ex 3,1ff ). Angesichts dieser Parallelen darf man vermuten, dass Matthäus in Jesus den zweiten Mose sah, der nach Dtn 18,15ff erwartet wurde.21 Andererseits darf man die gravierenden Unterschiede zwischen Jesus und Mose nicht übersehen: a) Jesus wird aus Ägypten gerufen, Mose nach Ägypten; b) Mose muss aufgrund eigener Schuld fliehen, Jesus als unschuldiges Kind; c) Mose ist Levit, Jesus aus dem Stamm Juda; d) Jesus ist der Sohn Gottes, Mose aber wird niemals „Sohn“ genannt (vgl. Hebr 3,1ff ) und auch in Hos 11,1 ist es das ganze Israel, das für Gottes Liebe wie ein Sohn ist.22

17 Vgl. Weiser, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten, I, Die Propheten Hosea usw., ATD, 24, 7. Aufl., 1979, 84f; Gesenius 723; Zahn 106; Carson 91; Stuhlmacher I 154; Fiedler 64. 18 Dabei liest Matthäus Hos 11,1 „eschatologisch“, also mit Deutung auf die messianische Zeit, und zugleich mit der Überzeugung, dass sich eine Schriftstelle mehrfach erfüllen kann. 19 Vgl. Luz I 129; Carson a.a.O.; Beare 82; Tasker 42. 20 Vgl. Zahn 107. 21 Vgl. Schniewind 19f; Beare a.a.O.; Tasker a.a.O. 22 Vgl. Weiser a.a.O. 85: ein „Bild von Vater und Sohn“. Vgl. ferner Luz I127,13.

4. Die Flucht nach Ägypten, 2,13-15

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IV Zusammenfassung 1. Mt 2,13-15 berichtet das Wunder der Bewahrung des neugeborenen Jesus. Es ist hineinverflochten in die damalige Zeitgeschichte und von außen betrachtet fast unscheinbar. Mt 2,13-15 zeigt uns aber auch Josef als ein Glaubensvorbild, das durch sein Tun überzeugt. 2. Zugleich kommen hier Grundmotive des Evangeliums zum Vorschein. Der unrechtmäßige König Israels, Herodes, kann seinen wahren König, Jesus, nicht ausschalten. Wer gegen Gott kämpft, verliert diesen Kampf. Ferner begegnet uns Jesus als der Sohn Gottes im tiefsten und realen Sinn. Das bedeutet allerdings nicht, dass er vom Leiden und von Demütigung verschont bleibt. Über seinem Leben liegt der Schatten der Passion, der Schatten von Flucht und Vertreibung, das Leid von Heimatlosigkeit, Migration und Unterwegsseinmüssen. Gerade so wird er uns nahe und unser Erlöser. 3. Der Bericht über den Ägyptenaufenthalt ist Sondergut des Matthäus. Flucht und Heimkehr nach bzw. von Ägypten werden dennoch in der Geschichte der christlichen Kunst unzählige Male dargestellt. Auch die sogenannten Kindheitsevangelien (z.B. Protevangelium des Jakobus, Arabisches Kindheitsevangelium) haben diesen Stoff dankbar aufgegriffen. Vom 2. Jh. n.Chr. an begegnen uns dann die Kommentare frühchristlicher Schriftsteller, z.B. bei Hieronymus, de vir ill 3. Heute ist die Zahl der Kommentierungen unübersehbar. 4. Mt 2,13-15 enthält nichts, was historisch unglaubwürdig wäre: „there is nothing historically improbable about this account.“23 Dennoch wird Mt 2,1315 seit dem 19. Jh. als „Legende“ eingeordnet,24 selbst bei Luz, der vorher jede „legendarische Ausschmückung“ verneint hat.25 Besonders radikal urteilt Beare: „There is no reason to suppose that it has any historical basis.“26 Allen Einwänden gegenüber bleibt festzuhalten: a) Es ist kein Motiv erkennbar, weshalb ein Evangelist den Ägyptenaufenthalt hätte erfinden sollen, b) die knappe, schnörkellose Erzählung spricht für eine tatsächliche Begebenheit, c) nichts in Mt 2,13-15 widerspricht dem aus anderen Nachrichten erkennbaren Charakter der handelnden Personen, d) der Talmud bestätigt das Faktum eines Ägyptenaufenthalts Jesu.

23 24 25 26

Carson 90. Bultmann Gesch 317ff; Beare 72ff. Vgl. Luz I 128 mit 126. Beare 82.

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Anfänge, 1,2–4,25

5. Der Kindermord des Herodes, 2,16-18 I Übersetzung 16 Da geriet Herodes in einen heftigen Zorn, als er sah, dass er von den Magiern hintergangen worden war, und er sandte hin und ließ alle männlichen Kinder in Bethlehem und in seiner ganzen Umgebung umbringen, von zwei Jahren an abwärts, entsprechend der Zeit, die er sich von den Magiern genau hatte angeben lassen. 17 Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, wenn er spricht: 18 Eine Stimme wurde in Rama gehört, viel Weinen und Wehklagen. Rahel beweinte1 ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie sind nicht mehr.

II Struktur Mt 2,16-18 zerfällt wieder in zwei Teile: a) den geschichtlichen Vorgang, b) die Reflexion dieses Vorgangs im Licht der Schrift. Beide Teile sind erneut knapp gehalten. Das führt dazu, dass V. 16 mit der Fülle der Informationen, die er enthält, fast überladen wirkt. Es fällt auf, dass im Reflexionszitat einige Änderungen gegenüber den früheren stattfinden und diese Zitate deshalb keineswegs monoton gelesen werden dürfen. Eine dieser Änderungen besteht darin, dass der Name des betreffenden Propheten, Jeremia, genannt wird. Weder Jesaja (1,22f ) noch Micha (2,5) noch Hosea (2,15) sind namentlich genannt worden. Auch ist das ἵνα πληρωθῇ [hina plērōthē] von 1,22 und 2,15 umformuliert in τότε ἐπληρώθη [tote eplērōthē] (V. 17). Wie in 2,15 benutzt Matthäus ein auf die frühere Geschichte Israels bezogenes Zitat dazu, jetzt mit seiner Hilfe die eschatologische, genauer noch: die messianische Geschichte zu beleuchten. Als christlicher Schriftgelehrter arbeitet er typologisch, das heißt unter der Voraussetzung eines mehrfachen Schriftsinnes.

III Einzelexegese Der Versanfang Τότε2 Ἡρῴδης [Tote Hērōdēs] (V. 16) erinnert daran, dass Matthäus neue Abschnitte gerne mit τότε [tote] + Nomen einleitet (vgl. 2,7.16; 4,1; 16,24; 23,1; 26,65; 27,27). Die Erwähnung des Namens Herodes macht noch einmal klar, dass hier die Macht des falschen Königtums gegen den wahren messianischen König eingesetzt wird. Der ingressive Aorist er 1 Vgl. dazu BDR § 128,4. 2 In Mt 2,16 wohl in der Bedeutung „Darauf “, Bauer-Aland, 1642; BDR § 459,2.

5. Der Kindermord des Herodes, 2,16-18

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geriet in einen heftigen Zorn3 (ἐθυμῶθη [ethymōthē]) zeichnet einen Herodes, der von Zorn, Wut, Erregtheit bestimmt wird.4 Diese Zeichnung passt ausgezeichnet zu dem Charakterbild, das uns Josephus von Herodes überliefert.5 Den Grund geben die folgenden Worte an: als er sah, dass er von den Magiern hintergangen worden war (ἰδὼν ὅτι ἐνεπαίχθη [idōn hoti enepaichthē] usw.). Das griechische Verb ἐμπαίζειν [empaizein] kann noch eine Spur schärfer übersetzt werden: „er wurde von den Magiern zum besten gehalten.“6 Es geht hier gleichzeitig um die Täuschung eines Menschen und um seine Preisgabe an Spott und Gelächter. Herodes fühlte sich brüskiert und vor seiner Umgebung bloßgestellt. Er sandte hin: Das heißt, er entsandte ein Truppenkontingent, das aus nichtjüdischen Söldnern bestand.7 Bei ἀποστέλλω [apostellō], senden, ist im NT regelmäßig der Ton auf einen Auftrag gelegt.8 Der Auftrag wird hier in Mt 2,16 mit den Worten beschrieben: er ließ alle männlichen Kinder in Bethlehem und seiner ganzen Umgebung umbringen, von zwei Jahren an abwärts. Das ist nichts anderes als die Ausrottung aller männlichen Davididen in Bethlehem und seiner ganzen Umgebung (ἐν πᾶσιν τοῖς ὁρίοις αὐτῆς [en pasin tois horiois autēs]). Bei seiner Aktion wird Herodes geleitet von den Informationen, die er sich von den Magiern hatte geben lassen (κατὰ τὸν χρόνον ὃν ἠκρίβωσεν9 παρὰ τῶν μάγων [kata ton chronon hon ēkribōsen para tōn magōn]). Sein Zorn führte also nicht dazu, dass er die Aussagen der Magier über Bord warf, sondern fixierte ihn nur umso verbissener auf deren Informationen. Das betrifft zunächst die Zeit, die er sich hatte angeben lassen. Dementsprechend bestimmte er, dass alle Kinder von zwei Jahren an abwärts10 getötet werden sollten. Vermutlich hat er dabei eine Sicherheitsspanne einberechnet. Haben die Magier das Aufgehen des Sterns auf ca. 1 Jahr vor ihrer Ankunft in Jerusalem datiert?11 Dann wären sie ca. 6 v.Chr. in Jerusalem erschienen und das Geburtsjahr Jesu könnte evtl. auch auf 6 v.Chr. statt 7 v.Chr. angesetzt werden. Eine Sicherheitsspanne scheint auch mit den Worten und in seiner ganzen Umgebung angedeutet. Denn Herodes beschränkt sich nicht allein auf Bethlehem, das ihm in 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. BDR § 318. Vgl. F. Büchsel, Art. θυμός usw., ThWNT, II, 1938, 167. Josephus B. J. I, 654ff (ὑπερβολὴν ὀργῆς [hyperbolēn orgēs]). G. Bertram, Art. παίζω usw., ThWNT, V, 1954, 633; vgl. BDR § 71,1. Vgl. Josephus Ant XIV, 280. K.H. Rengstorf, Art. ἀποστέλλω usw., ThWNT, I, 1933, 403. ἠκρίβωσεν [ēkribōsen] auch V. 7. Vgl. BDR § 62,4. χρόνος [chronos] als „Zeitdauer“ auch bei G. Delling, Art. χρόνος, ThWNT, IX, 1973, 587.

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Anfänge, 1,2–4,25

V. 5 genannt worden war. Nach Zeit und Ort weitet er also seine mörderische Aktion aus. οἱ παῖδες [hoi paides] müssen in Mt 2,16 als die männlichen Kinder, „die Knaben“, verstanden werden.12 Herodes bezeugt mit dieser Tat seine horrende Brutalität. „Blindwütig“ war er allerdings nicht. Von seinen Voraussetzungen und seinen Maximen her hat er vielmehr planvoll gehandelt. Viele Ausleger weisen darauf hin, dass das in Mt 2,16 Erzählte sehr gut zu dem Charakterbild des Herodes passt, das wir aus zeitgenössischen Quellen erhalten. So P. Fiedler: „Die hier geschilderte Untat des Herodes passt sehr gut in das Bild, das uns die zeitgenössische Literatur von ihm liefert.“13 Oder F.W. Beare: „Such a massacre is indeed quite in keeping with the character of Herod“.14 Die ausführlichen Beschreibungen von Josephus in Ant XIV–XVII und B. J. I,647ff enthalten eine Fülle ähnlicher Fälle. So ertränkte Herodes den jungen Hohepriester Aristobul als vermeintlichen Rivalen,15 er ließ seine eigene Frau Mariamne umbringen,16 er hasste seine Söhne Alexander und Aristobul, ließ sie 7 v.Chr. erdrosseln,17 er brachte 300 militärische Führer zusammen mit diesen Söhnen um,18 tötete 4 v.Chr. auch seinen Sohn Antipater19 und ließ schließlich eine Menge vornehmer Juden in einem Hippodrom einschließen, mit dem Befehl, sie alle bei seinem Ableben zu ermorden, damit sein Tod im Lande genügend betrauert würde.20 Zwar berichtet Josephus nichts vom Kindermord in Bethlehem,21 aber er macht diesen vollkommen verständlich. Über die dogmatischen Folgerungen, die man an Mt 2,16 knüpft, siehe später. Matthäus deutet in V. 17-18 diesen Vorgang. Er tut es in überraschender Weise, formal in Gestalt eines abgewandelten Reflexionszitates: Da wurde erfüllt (τότε ἐπληρώθη [tote eplērōthē]), was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, wenn er spricht … Wie die Kommentare bemerken,22 wird hier das ἵνα πληρωθῇ [hina plērōthē] von 1,22; 2,15 ersetzt durch τότε ἐπληρώθη [tote eplērōthē]. Die nächstliegende Erklärung dafür ist immer noch die, dass Matthäus das Missverständnis vermeiden wollte, als wäre „die grausige Tat 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Bauer-Aland, 1223. Fiedler a.a.O. Beare 82. Ähnlich F.F. Bruce, GBL, 2, 564; Carson 94; Senior 47; France 86f. Ant XV, 50ff. Ant XV, 232ff. Ant XVI, 311f.392ff; B. J. I, 550f. A.a.O. Ant XVII, 187. Ant XVII, 174ff; B. J. I, 659f. Was mit seiner Zurückhaltung gegenüber den Christen zusammenhängen könnte. Vgl. Zahn 112,14. 22 Zahn 109, vgl. die folgende Anmerkung.

5. Der Kindermord des Herodes, 2,16-18

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des Herodes … ein von Gott bezwecktes … Ereignis“.23 Nur das Eine will Matthäus sagen: Gott hat dieses schreckliche Geschehen schon vor Jahrhunderten prophezeit, und niemand sollte sich deshalb wundern, dass es in der Geschichte des Messias passierte. Und schrecklich bleibt dieses Geschehen, wenn es auch nach den Darlegungen von Th. Zahn und R.T. France „nur“ etwa 10-20 Opfer forderte.24 In V. 17 fällt auf, dass der Prophet Jeremia namentlich genannt wird. Namentliche Nennungen Jeremias finden sich auch in Mt 16,14 und 27,9, aber eben im NT nur bei Matthäus. Über die Gründe kann man nur Vermutungen anstellen: Geschah es, weil über Jeremia so viele Überlieferungen im Umlauf waren und er als „einer der Lieblingspropheten des Volkes“ gelten muss?25 Oder betont Matthäus den Jeremia deshalb, weil er am klarsten die Weissagung vom Neuen Bund ausspricht (31,31ff )? Wir wissen es nicht. V. 18 bringt ein ausführliches Zitat von Jer 31,15, in der LXX Jer 38,15. Zwar entspricht es in wesentlichen Teilen der LXX (Φωνὴ ἐν Ραμα ἠκούσθη … κλαυθμοῦ καὶ ὀδυρμοῦ· Ραχηλ … οὐκ ἤθελεν … ὅτι οὐκ εἰσίν [Phōnē en Rama ēkousthē … klauthmou kai odyrmou: Rachēl … ouk ēthelen … hoti ouk eisin]), liegt aber näher noch am hebräischen Text (‫שָׁמע נְִהי ְבִּכי ַתְמרוִּרים ָרֵחל ְמַב ָכּה ַעל־ ָבּנֶיָה ֵמֲאנָה ְלִהנֵָּחם ַעל־ ָבּנֶיָה ִכּי ֵאינֶנּוּ‬ ְ ִ‫[ קוֹל ְבָּרָמה נ‬qōl bᵉrāmāh nischmāʿ nᵉhī bᵉkī tamrūrīm rāchel mᵉbakāh ʿal-bānäyhā meʾᵃnāh lᵉhinnāchem ʿal-bānäyhā kī ʾēnännū]). Rama lässt sich nicht sicher identifizieren. Ist es Er-Ram ca. 8 km nördlich von Jerusalem?26 Ist es Ramat Rahel (Bet-Kerem) ca. 5 km südlich von Jerusalem, wo der biblischen Überlieferung zufolge das Grab Rahels liegt?27 Oder gar das heutige Ramallah ca. 13 km nördlich von Jerusalem?28 Geht man von der Situation aus, die Jer 31,15.21 voraussetzt, nämlich dem Zug der Exulanten von Jerusalem nach Norden ins Zweistromland,29 dann spricht die Wahrscheinlichkeit für Rama = Er-Ram ca. 8 km nördlich von Jerusalem. Aber nun kommt es entscheidend darauf an, Jer 31,15 aus seinem Zusammenhang zu interpretieren.30 Die Stelle gehört näm23 Zahn a.a.O.; vgl. France 87; Sand 55; Luz I 129; Fiedler a.a.O.; Mello 78; Carson 95; Fiedler 65. 24 Zahn 109,6; France 86. 25 Vgl. den instruktiven Artikel von J. Jeremias über Ἰερεμίας, ThWNT, III, 1938, 218ff, bes. 219. 26 So z.B. J.A. Thompson, GBL, 3, 1266; Gesenius 761; P. Volz, Der Prophet Jeremia, KAT, X, 1922, 289; Senior 48; Mello 77; Schniewind 20; France a.a.O. 27 Vgl. Thompson a.a.O. sowie Gen 35,19ff; 48,7; 1Sam 10,2. 28 Vgl. wieder Thompson a.a.O.; Mello a.a.O. 29 Sehr wahrscheinlich 587/586 v.Chr.: Carson 94; Mello 77f. 30 Darauf weist Volz 289ff mit Nachdruck hin, ebenso Tasker 43.

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Anfänge, 1,2–4,25

lich zu der großen Heilszusage von Jer 31, die in die berühmte Prophetie des Neuen Bundes mündet. Der Sinn von Jer 31,15 ist demnach der: Wo vorher Klage und untröstliches Weinen zu vernehmen war, wird Gott am Ende alle Trauer in Freude verwandeln (vgl. Jer 31,13.16.20ff ). Rahel ist dabei ein Bild, gewissermaßen eine Personifikation der Trauer Israels, so wie wir im Bild von der „Mutter Deutschland“ oder dem „Vater Rhein“ sprechen.31 Dieses Bild darf nicht an das Grab Rahels oder gar an den Geist der verstorbenen Rahel gebunden werden.32 Allerdings könnte die Nähe des Rahel-Grabes zu Jerusalem und zu Bethlehem (Gen 35,19ff ) einen Einfluss auf die Wahl gerade dieses Bildes von der Rahel ausgeübt haben.33 Wenn Matthäus in 2,18 ausgerechnet diese Jeremia-Stelle anlässlich des Kindermordes von Bethlehem heranzieht, dann will er damit offensichtlich sagen, dass Gott das furchtbare Leid auch hier am Ende in Freude verwandeln wird: nämlich in die Freude über das Kommen des Erlösers.34 Er gibt keine Erklärung über das Wie und Warum der einzelnen Umstände, sondern sieht den Sinn des Geschehens in der Enthüllung der menschlichen Sündhaftigkeit und in der Erlösung, die Jesus einer gefallenen Menschheit gebracht hat.35 Mt 2,18 muss von Mt 20,28 her gelesen und verstanden werden. Die Formulierung aber in V. 17 Da wurde erfüllt zeigt, dass es für Matthäus neben der damaligen Erfüllung (bei der Rückkehr aus Babylonien) noch eine zweite, eine eschatologische Erfüllung gibt, nämlich in der Geschichte des Messias. Dasselbe hatten wir in Mt 2,15 bei Hos 11,1 beobachtet, Matthäus geht also davon aus, dass die biblische Prophetie sich mehrfach erfüllt, ebenso wie Jesus in Mt 24,15. Moderne Matthäus-Exegese stellt zu Mt 2,16-18 dogmatische Fragen wie: Ist Mt 2,16.18 mit Gottes Gerechtigkeit vereinbar (Theodizee-Frage)? „Daß Gott seinen Sohn auf Kosten Unschuldiger rettet, beschäftigt Matthäus nicht“, schreibt Luz.36 Fiedler meint, „Gott habe zur Rettung des Christus den Mord an einer Reihe kleiner Jungen und damit das Leid ihrer Eltern, Geschwister und sonstiger Verwandter in Kauf genommen.“37 Warum hat Gott das zugelassen? Warum es nicht verhindert?38 Nun wird man vernünftigerweise kaum sagen können, dass Gott seinen Sohn „auf Kosten“ Unschuldiger gerettet ha31 32 33 34 35 36 37 38

Volz a.a.O. 290; Carson 94. So mit Recht Volz a.a.O.; Carson 94f. Vgl. France a.a.O. Vgl. Carson a.a.O.; France a.a.O.; Tasker 44. Vgl. Mello 78; Zahn 112. Luz I 130. Fiedler 65. Fiedler a.a.O.

5. Der Kindermord des Herodes, 2,16-18

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be. Sonst würde auch ein Schiffbrüchiger, den man aus dem Wasser zieht, während zehn andere ertrinken, „auf Kosten“ der anderen gerettet. Ebenso problematisch ist die Annahme, Gott habe den Kindermord des Herodes „in Kauf genommen“, um seinen Sohn zu retten. Das sieht fast wie eine Kompensation aus: Christus gegen die unschuldigen Kinder von Bethlehem. Als ob Gott und nicht Herodes die Verantwortung für diesen Kindermord tragen würde! Wir wären mit einer solchen Annahme theologisch auf der Linie der Gegner des Judentums, die nach dem Sirachbuch sagten: „Bin ich abtrünnig geworden, so hat’s Gott getan“ (15,11), und denen Ben Sira antwortet: „Der Herr hat dem Menschen die Entscheidung überlassen … Er hat niemand erlaubt zu sündigen“ (15,14.21). Tiefer greifen die Fragen: Warum hat Gott das zugelassen? Warum nicht verhindert? Aber das sind Fragen, die man bei allen Katastrophen der Geschichte stellen kann. Sie führen letztlich auf das Geheimnis, dass Gott bis zum Endgericht dem Bösen und der Sünde einen Spielraum lässt – ein Geheimnis, von dem Jesus in Mt 13,24ff spricht und das Jesu eigene Passion zur Folge hat. Deshalb berührt A. Schlatter einen wichtigen Punkt, wenn er Mt 2,16ff so interpretiert: Matthäus wolle sagen, dass Israel sich nicht daran stoßen dürfe, „daß Jesu Weg durch Verfolgung und Sterben“ gehe; sowohl der Kindermord als auch Jesu Passion sei eine Frucht der Sünde.39 Als Auswirkung menschlicher Sündhaftigkeit wird der Kindermord auch bei den Auslegern der Alten Kirche betrachtet. Eusebius von Caesarea (ca. 330 n.Chr.) sieht deshalb im schrecklichen Tod des Herodes die Strafe für den Kindermord.40 Irenäus von Lyon (ca. 180 n.Chr.) erreicht mit seinen theologischen Reflexionen ebenfalls eine tiefere Schicht des Verständnisses als wir es bei manchen modernen Autoren antreffen. Er hat sich mehrfach zu Mt 2,16ff geäußert und meinte, Gott habe „die Knaben im Hause Davids, die das Glück erlangt hatten, in jener Zeit geboren zu sein“, entrückt und in sein ewiges Reich genommen.41 Man müsse diese „unschuldigen Knaben“ wie Kaleb und Josua (Num 14,30) als Gläubige betrachten,42 ja sogar als Märtyrer, „die gemäß der Schrift getötet wurden wegen Christus.“43 Von da aus kam es in der christlichen Tradition zum „Fest der Unschuldigen Kindlein“, das am 28. Dezember44 gefeiert wird.

39 40 41 42 43 44

Schlatter 16. H.E. I, 8,1ff; vgl. dazu Josephus Ant XVII, 168ff; B. J. I, 657ff. Irenäus Adv. haer. III, 16,4. A.a.O. IV, 28,3. A.a.O. II, 16,4. Nicht am 28. Januar, wie Luz I 130 schreibt.

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Die Historizität von Mt 2,16-18 bleibt in der kritischen Exegese umstritten. Schniewind neigte dazu, die Historizität anzunehmen: „Man würde … unsere Geschichte nicht von vornherein für unmöglich halten.“45 Aber er sah eine solche Annahme blockiert durch zwei Umstände: erstens, „daß ähnliche Erzählungen auch sonst überliefert werden“, zweitens, dass Mt 2,16ff nach der Kindheitsgeschichte des Mose modelliert sei.46 Für Luz gehört Mt 2,16-18 in den Bereich der Sage oder Legende, wie es schon bei R. Bultmann der Fall war.47 Er hält die ganze Perikope 2,13-23 für „in wesentlichen Teilen unhistorisch“.48 Auch Fiedler verneint die Historizität. Er begründet dies mit zwei Argumenten: a) Mt 2,16-18 sei nach der Mosegeschichte modelliert (vgl. Schniewind), b) es gebe dazu keine Analogie außerhalb von Mt 2 (vgl. Luz).49 Sowohl Luz als auch Fiedler sehen in „der Bestreitung der Historizität“ sogar einen „Gewinn“ für die Auslegung: Wenn man die Geschichtlichkeit verneine, beseitige man „den Anstoß, Gott habe zur Rettung des Christus“ den Kindermord „in Kauf genommen“50 – als ob die Gedanken des Matthäus dann andere gewesen wären! Ebenso bleibt unklar, wie die Bestreitung der Historizität des Berichts sein „theologisches Profil“ schärfen soll, wie Luz meint.51 Auszugehen ist von dem Tatbestand, den A. Sand mit den Worten beschreibt: „für Mt stand“ die Historizität „nicht zur Diskussion“.52 Für den Verfasser des Evangeliums war die Geschichtlichkeit des Berichteten unzweifelhaft gegeben. Keiner der gegen die Historizität vorgebrachten Gründe ist stichhaltig. Die „ähnlichen Erzählungen“ der Umwelt helfen nichts bei der Frage, ob nicht diese ganz spezifische Geschichte unter Herodes wirklich passiert sei. Zur Mosegeschichte gibt es zwar Parallelen, aber die These, dass Mt 2,16-18 nach Ex 1–2 modelliert sei, lässt sich nicht halten, wie A. Sand zugesteht.53 Zu groß sind die Unterschiede:54 Der Pharao geht gegen ein ganzes Volk vor, Herodes nur gegen einen Rivalen;55 es ist gerade eine Tochter des Pharao, die das Kind Mose rettet, während das Kind Jesus überhaupt keinen 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Schniewind 19. Schniewind a.a.O. Luz I 128; Bultmann Gesch 316ff; ebenso Beare 72ff; Luck 27. Luz a.a.O. Im Ergebnis ähnlich Sand 55, Mello 77. Fiedler 65. So Fiedler a.a.O. Luz a.a.O. Sand a.a.O. Sand 55. Gegen Senior 48, Schniewind 19; Fiedler 65, Beare 82. Vgl. Sand a.a.O.

6. Rückkehr und Kindheit Jesu in Nazareth, 2,19-23

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menschlichen Retter hat, geschweige denn durch einen Angehörigen des herodianischen Hauses gerettet würde; Mose wächst danach als ägyptischer Prinz heran, Jesus bleibt in den bescheidenen Verhältnissen der Josefs-Familie. Das Argument, dass es zu Mt 2,16ff keine Analogie gebe – z.B. bei Lukas –, berechtigt uns nicht dazu, Mt 2,16-18 für ungeschichtlich zu erklären.56 Sonst müssten wir fast das ganze „Sondergut“ bei Matthäus und Lukas für unhistorisch erklären. Andererseits passt der Vorgang von Mt 2,16-18 gut zu den Ereignissen der letzten Regierungsjahre des Herodes. So nehmen wir zusammen mit Zahn, Schlatter, Carson, France, Tasker u.a. an, dass Mt 2,16-18 historisch (geschichtlich) glaubwürdig ist.57

IV Zusammenfassung 1. Mt 2,16-18 ist ein geschichtlich glaubwürdiger Bericht. 2. Dieser Bericht vom Kindermord des Herodes zeigt, dass der Messias Jesus ebenso wie Mose und die Propheten unter Verfolgung litt. Mehr noch: Der Sohn Gottes ging durch alle Tiefen menschlicher Existenz: Armut, Flucht, Flüchtlingsschicksal im fremden Land, von den ersten Tagen an vom Tode bedroht. In Umrissen kündigt sich schon das Kreuz an. 3. Es zeigt sich aber auch erschreckend der wesenhafte Gegensatz von Weltreich und Gottesreich. Mag Herodes im globalen Maßstab auch ein kleiner Herrscher sein, so offenbart sein Verhalten doch typische Züge weltlicher Herrscher und Tyrannen: Eigensucht, Stolz, Herrschen und Leben auf Kosten anderer, brutaler Kampf um die eigene Macht und letztlich Kampf gegen Gott. Der Messias dagegen verkörpert das Gottesreich: Existenz ganz aus Gottes Gnade und Barmherzigkeit, in Gottes Obhut und Gottes Auftrag, Zeugnis durch Leiden und Gehorsam, ein Leben, das im Dienste Gottes und der Menschen steht.

6. Rückkehr und Kindheit Jesu in Nazareth, 2,19-23 I Übersetzung 19 Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erscheint ein Engel des Herrn dem Josef in Ägypten im Traum 20 und sagt: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter mit dir und geh in das Land Israel. Denn sie sind 56 Gegen Luz I 128; Fiedler 65; Luck 27. 57 Zahn 108ff; Schlatter 16; Carson S, 94f; France 86f, Tasker 43f.

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gestorben, die dem Kind nach dem Leben trachteten. 21 Er aber stand auf, nahm das Kind und seine Mutter mit sich und zog ins Land Israel. 22 Als er aber hörte, dass Archelaus in Judäa anstelle seines Vaters Herodes die Herrschaft innehabe, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Im Traum erhielt er aber eine Weisung von Gott und nahm daraufhin seinen Weg in das Gebiet von Galiläa, 23 und kam und nahm seinen Wohnsitz in1 einer Stadt namens Nazareth, damit erfüllt würde, was durch die Propheten gesagt wurde: Er wird Nazoräer genannt werden.

II Struktur Mt 2,19-23 schildert die Rückkehr der Familie Jesu aus Ägypten, die schließlich in Nazareth ihren Wohnsitz nimmt. Der Stil ist auch hier karg, gewissermaßen logistisch-rational trotz des Wunders der göttlichen Führung.2 Wie sparsam und ökonomisch Matthäus arbeitet, erkennt man an den auffälligen Wiederholungen früherer Redewendungen. Etwa 35 Worte hat Mt 2,19-23 mit Mt 2,12-15 gemeinsam. Doch erhöht eine gewisse Monotonie der Sprache eher noch die Spannung der Schilderung. Historisches Kolorit ist deutlich erkennbar. Der Tod Herodes’ des Großen lässt sich datieren. Ebenso die Zeit der Herrschaft des Archelaus über Judäa. Ferner trifft es historisch zu, dass Galiläa damals einen anderen einheimischen Herrscher hatte als Judäa. Sogar die Furcht vor Archelaus weist deutliche historische Bezüge auf. Dass Nazareth damals schon existierte, lässt sich nicht bestreiten. Neben die geschichtliche Schilderung tritt wie in 1,18ff; 2,1ff; 2,13ff und 2,16ff die Deutung der Geschehnisse durch die Heilige Schrift, wobei allerdings in V. 23 einige Auffälligkeiten begegnen. Die menschliche Hauptfigur ist wie in 1,18ff; 2,13ff und 2,16ff Josef. Von einem handelnden Jesuskind, wie wir es später in den legendären Kindheitsevangelien und im Koran3 treffen, ist hier noch nichts zu spüren. Eher könnte man mit Luz überlegen, ob es nicht einen „Erzählungskranz“ gegeben hat, „in dem Josef eine zentrale Rolle spielte“.4

1 2 3 4

Vgl. BDR § 205,4. Luz I 133: „fast formelhafte Kargheit“; vgl. Schniewind 19. Vgl. Sure 5,111ff. Luz I 101.

6. Rückkehr und Kindheit Jesu in Nazareth, 2,19-23

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III Einzelexegese In V. 19 beginnt Matthäus mit einer Genitivkonstruktion, wie er es auch in 1,18; 2,1; 2,13 getan hat. Solche Genitivkonstruktionen dienen der ökonomischen Vereinfachung der Schilderung. Als aber Herodes gestorben war: Das war 4 v.Chr. Im Gegensatz zu Josephus5 verzichtet Matthäus auf jede Ausmalung des schrecklichen Endes des Herodes. Die Tatsachen sprechen für sich: Gott setzt jedem Menschen seine Frist (vgl. Mt 6,27; Dan 2,21). Nicht einmal der vergöttertste Weltherrscher kann an seiner Geburt oder seinem Tod eine einzige Sekunde ändern (Dan 2,21; 4,32). Das Erscheinen eines Engels des Herrn im Traum haben wir schon in 1,20 und 2,13 erlebt. Siehe die Erklärung dort. Mt 2,19 fügt nur in Ägypten hinzu und stellt damit klar, dass Josef mit den Seinen 4 v.Chr. immer noch in Ägypten weilte. Er wartete in Geduld auf ein neues Reden Gottes, das ihm in V. 13 versprochen worden war.6 Die Botschaft des Engels lautet: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter mit dir und geh in das Land Israel (V. 20). Auf die wörtlichen Wiederholungen von V. 13 haben wir schon hingewiesen. Überhaupt fällt es auf, wie häufig göttliche Befehle in der Bibel wiederholt werden (vgl. Hos 1,2 mit 3,1; Jona 1,2 mit 3,2; Ex 4,19 mit Mt 2,20). Solche Wiederholungen sichern eine Kontinuität im Handeln Gottes und die Verlässlichkeit seines Redens (vgl. Hebr 6,13ff ). Die Voranstellung des Kindes vor der Mutter unterstreicht noch einmal die hohe Bedeutung des Kindes = Jesus.7 Geh in das Land Israel: πορεύομαι [ poreuomai] ist hier das zielorientierte Gehen8. Dahinter steht hebr. ‫[ הלך‬hlk],9 vgl. Gen 12,1 und öfter. Möglicherweise hat der Imperativ Präsens πορεύου [ poreuou] in Mt 2,20 durative Bedeutung, wie BauerAland meinen,10 sodass darin eine Andeutung steckt, dass Josef einen längeren Weg vor sich hat. Bei Land Israel (γῆ Ἰσραήλ [gē Israēl]11) weisen die Kommentare auf den jüdischen Charakter dieser Ausdrucksweise hin. Tatsächlich kommt γῆ Ἰσραήλ [gē Israēl] neutestamentlich nur in Mt 2,20 und 21 vor.12 Es entspricht hebr. ‫[ ֶאֶרץ י ִ ְשָׂרֵאל‬ʾäräz jiśrāel] (vgl. 1Sam 13,19; 2Chron 34,7; Ez 40,2). Nach Zahn erscheint diese Redewendung „in Talmud

5 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. B. J. I, 647ff; Ant XVII, 168ff. Vgl. Zahn 113; Senior 48. Vgl. F. Hauck / S. Schulz, Art. πορεύομαι usw., ThWNT, VI, 1959, 573. Carson 96. Hauck/Schulz a.a.O. 569. Bauer-Aland, 1387 nach BDR § 336,1. Zur Grammatik vgl. BDR § 262,2. Fiedler 67; Zahn 113,16; Mello 78.

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und Midrasch zahllos oft“.13 Für Matthäus müssen die Worte geh in das Land Israel eine besondere Bedeutung gehabt haben. Der Bezug zu Ex 4,19f, den die meisten Kommentare notieren,14 ist offensichtlich. Die sachliche Parallele liegt darin, dass sich Jesus als der zweite Mose ebenso wie der erste Mose in das Land aufmachen muss, in das Gott ihn sendet. Aber deshalb ist Mt 2,20 noch lange nicht nach Ex 4,19f „modelliert“. Dafür sind die Unterschiede zu groß: Der erste Mose ist Adressat des Befehlens Gottes, beim zweiten Mose ist dies Josef; der erste Mose geht nach Ägypten, während der zweite Mose umgekehrt Ägypten verlassen muss, der erste Mose nimmt Frau und Sohn mit, der zweite Mose ist das Kind, das mitgenommen wird. Insofern hat Zahn recht, wenn er sich gegen eine pauschale Parallelisierung „der Geschichte des Moses“ mit der „Geschichte des Jesuskindes“ wehrt.15 Enger ist unseres Erachtens die Parallele zu Abraham, der in Gen 12,1 den Befehl empfängt: „Geh in ein Land, das ich dir zeigen will“ (vgl. Gen 12,5). Wie Abraham soll Josef ins Verheißene Land ziehen, und wie Abraham führt ihn Gott nicht sofort an ein Ziel, sondern nur Schritt um Schritt. Für den Abrahamssohn Jesus (Mt 1,1) gilt dann dasselbe. Es ist eine Eigenart der Führungen Gottes, dass sie zunächst vieles offenlassen und uns deshalb immer neu zum Hören nötigen (vgl. neben Gen 12,1ff auch Apg 8,26ff; Apg 13,2f; 16,6ff ). In der zweiten Vershälfte gibt der Engel eine Begründung: Denn sie sind gestorben, die dem Kind nach dem Leben trachteten. Das griechische τεθνήκασιν γὰρ οἱ ζητοῦντες [tethnēkasin gar hoi zētountes] nimmt wörtlich Ex 4,19 LXX auf. Dies und der auffallende Plural (sie) machen es sehr wahrscheinlich, dass Matthäus an Ex 4 und damit an die Mose-Geschichte erinnern will.16 Herodes wird dadurch in eine Linie mit dem Pharao gerückt, Jesus und Josef mit Mose. Es setzt sich hier das Bestreben des Matthäus fort, Jesus als Repräsentanten der Geschichte des wahren Israel darzustellen17 und die Aussagen des AT typologisch auf Jesus zu deuten (vgl. 2,13.15.17). Der Gebrauch des Plurals sie sind gestorben für das Ende des Herodes (evtl. auch mancher seiner Leute?) ist nicht ganz ungewöhnlich und jedenfalls vom AT her erklärbar.18 Angesichts der Verse 19 und 20 wird man sagen können, dass Jesus ganz dem Bild der leidenden Propheten in Israel entspricht (vgl. Num 12,3; 1Kön 19,10; Jer 15,17f; Mt 5,12; 23,29ff; Hebr 11,32ff ). 13 14 15 16 17 18

Zahn a.a.O. Vgl. Zahn 113,15; Fiedler a.a.O.; Luz I 130. Zahn 112,14; ähnlich Mello 79; Carson 96. Fiedler a.a.O.; Luz I 130; Senior 48; Mello 79; France 87. Vgl. Senior 48f; Tasker 44. BDR § 141,1; vgl. § 341,2; Carson 96.

6. Rückkehr und Kindheit Jesu in Nazareth, 2,19-23

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In wörtlicher Erfüllung von V. 20 bricht Josef in V. 21 auf. Nur Gottes Wort bewegt ihn zum Handeln, nicht die eigene Einschätzung der Lage. Er sei ins Land Israel gezogen (εἰσῆλθεν εἰς γῆν Ἰσραήλ [eisēlthen eis gēn Israēl], vgl. V. 20), sagt V. 21. Wörtlich heißt es: „der ging hinein ins Land Israel“, das heißt, er überschritt die Grenze zum Israelland. Von Ägypten her kommend, kann dies nur bedeuten, dass er das Territorium von Judäa betrat. Daraus kann man dann schließen, dass es ursprünglich seine Absicht war, wieder nach Bethlehem zurückzukehren (vgl. 2,1ff ).19 Dies war ja der Stammsitz der davidischen Familie. In V. 22 findet die entscheidende Wegkorrektur statt. Die unverkennbare Zäsur, die zwischen V. 22 und V. 21 liegt, hat manche Forscher dazu bewogen, aus Mt 2,22-23 einen eigenen Abschnitt z.B. unter der Überschrift „Kindheit Jesu in Nazareth“20 zu bilden. Aber der Zusammenhang zwischen V. 19-21 und V. 22f ist zu eng, als dass man ihn auflösen könnte. Außerdem pflegen Schriftzitate wie in V. 23 solche Abschnitte abzuschließen (vgl. 2,15.17f ). Die Formulierung Als Josef aber hörte, dass Archelaus in Judäa anstelle seines Vaters Herodes die Herrschaft innehabe klingt so, als habe Josef erst im Israelland davon gehört und als habe es einige Zeit gedauert, bis die Entscheidung über Archelaus gefallen war. In der Tat gab es nach dem Tod des Herodes in Jerusalem Thronwirren und Aufstände. Vor dem römischen Kaiser Augustus, der die letzte Entscheidung zu treffen hatte, stritten sich verschiedene Parteien um die Nachfolge des Herodes. Josephus hat darüber ausführlich berichtet.21 Schließlich ordnete Augustus Folgendes an: Entsprechend dem Testament des Herodes wurde Archelaus Haupterbe und erhielt als Ethnarch „die Hälfte des Königreiches“, nämlich Judäa und Samarien. Ein anderer Herodessohn, Antipas, wurde Tetrarch und erhielt Galiläa und Peräa (Ostjordanland). Ein dritter Herodessohn, Philippus, erhielt die Gebiete im Nordosten, darunter den heutigen Golan (vgl. Mt 16,13), und wurde ebenfalls Tetrarch. Allerdings versagte Augustus dem Archelaus den Titel „König“; er stellte diesen Titel nur im Falle späterer Bewährung in Aussicht.22 Diese Situation spiegelt sich nun in Mt 2,22. Archelaus ist eben nur für Judäa und Samaria zuständig, nicht aber für Galiläa. Wir haben deshalb βασιλεύει [basileuei] in Mt 2,22 im allgemeinen Sinne mit die Herrschaft innehaben übersetzt und nicht mit „König sein“.23 Wenn andererseits Josef erst im 19 20 21 22 23

Vgl. Carson 96; Schlatter 17. So Aland Syn 17; Luck 27. B. J. I, 665 – II, 100. Vgl. Josephus B. J. I, 668f; II, 93ff; Ant XVII, 188ff.317ff. Bauer-Aland, 273; falsch K.L. Schmidt im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, 592.

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Israelland von der Entscheidung des Augustus hörte, die ja eine längere Zeit der Wirren beendete, muss zwischen dem Tod des Herodes und dem Regierungsantritt des Archelaus doch diese Zeit der Unentschiedenheit gelegen haben. Das heißt: Josef und die Familie sind keineswegs unmittelbar nach dem Tod des Herodes wieder im Israelland, sondern nur mit einiger zeitlicher Verzögerung. Entweder lebte also Josef schon einige Zeit wieder in Judäa (in Bethlehem?) oder er brach von Ägypten so spät auf, dass die Thronfolgeregelung des Augustus inzwischen schon erfolgt war. Er fürchtete sich, dorthin (= nach Judäa) zu gehen, fährt Matthäus fort. Auch diese Furcht lässt sich geschichtlich verifizieren. Die Grausamkeit und Tyrannei des Archelaus waren so schlimm, dass seine Untertanen sich bei Augustus beschwerten und dieser ihn schon nach zehn Jahren (6 n.Chr.) ins Exil nach Gallien schickte.24 Fragt man, wie Josef schon zu einem so frühen Zeitpunkt von der Grausamkeit des Archelaus wissen konnte,25 dann lautet die Antwort, dass der Charakter des erwachsenen Herodessohnes ja schon länger unter den Juden bekannt war. Im Übrigen zeigt Mt 2,22, dass auch vorbildliche Gerechte (vgl. 1,19) in ihrem Leben Angst haben (Joh 16,33). Es ist zunächst Gnade, dass Gott auf die Furcht des Josef eingeht. Sie wird ja nicht nur eine Furcht um das eigene Wohlergehen, sondern auch eine Furcht um das messianische Kind gewesen sein. Wie der Vater Herodes konnte auch der Sohn Archelaus auf den Gedanken kommen, alle Rivalen um das Königtum auszurotten. Eine Gnade ist es ferner, wenn Gott ein weiteres Mal im Traum verständlich redet – es ist nach 1,20; 2,12; 2,13; 2,19 schon das fünfte Mal bei Matthäus! Josef erhielt also im Traum eine Weisung von Gott (vgl. 2,12). Wohin zielte sie? Offensichtlich auf Galiläa. Denn Josef nahm daraufhin seinen Weg in das Gebiet von Galiläa. Was hätte außer Galiläa im Land Israel zur Verfügung gestanden? Antwort: Peräa und die Tetrarchie des Philippus. Galiläa bedeutete also eine sehr bewusst getroffene Auswahl. Klar erkennbar ist der erste Grund, nämlich die Prophetie Jesajas, die sich erfüllen sollte. Das geht aus Mt 4,14ff hervor. Ein zweiter Grund bietet sich ebenfalls an: Herodes Antipas galt gegenüber Archelaus als milder.26 Gottes Weisung (χρηματισθείς [chrēmatistheis]) erleichterte also die Lebensumstände für Josef. Freilich bedeutet Galiläa gegenüber Judäa und Jerusalem eine Art Herabstufung, eine manchmal verächtlich behandelte Region (Mt 26,69; Lk 22,59). Insofern haben Carson und andere recht, wenn sie bemerken, Gott habe Josef 24 Josephus Ant XVII, 342ff; B. J. II, 111ff. 25 So Beare 84. 26 F.F. Bruce, Art. Herodes, GBL, 2, 564ff; France 88.

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„in das verachtete Galiläa gezwungen“.27 Gibt es nicht aber noch einen dritten Grund für diese Weg-Korrektur? Dass Josef erlaubt wurde, seine Schritte nach Galiläa und speziell nach Nazareth (V. 23) zu lenken, könnte auch damit zu tun haben, dass er bereits vorher in Nazareth wohnte. Hier kommt Lukas ins Spiel (vgl. Lk 1,26ff ). Näheres dazu später. An dieser Stelle zeichnet sich schon ab, dass Galiläa für Matthäus eine besondere Bedeutung hat. Er ist derjenige unter den Synoptikern, der Galiläa am häufigsten erwähnt.28 Durch das Schriftzitat in 4,14ff hat er Jesu Wirken in Galiläa stark hervorgehoben. Die Begegnung mit dem Auferstandenen in Galiläa betont das ein weiteres Mal (Mt 26,32; 28,7.10.16). Ja, die Erwähnungen Galiläas in 2,22 und 28,16 rahmen gewissermaßen das ganze Matthäusevangelium ein. Offenbar war Matthäus selbst Galiläer (Mt 9,9ff; vgl. Apg 1,11). Der Schlussvers des zweiten Kapitels (V. 23) gehört zu den schwierigen Versen des Matthäusevangeliums.29 Problematisch ist hier nicht nur das, was gesagt wird, sondern auch das, was nicht gesagt wird. Und er (= Josef ) kam und nahm seinen Wohnsitz in einer Stadt namens Nazareth: Noch immer ist Josef die Hauptfigur menschlichen Handelns. V. 23 wird beherrscht von den Singular-Formen ἐλθών [elthōn] und κατῴκησεν [katōkēsen]. Von V. 13 bis V. 23 wird nicht ein einziges Mal erwähnt, was Maria tat! Nicht einmal ihr Name wird genannt. ἐλθών [elthōn] und κατῴκησεν [katōkēsen] gehören zusammen und beschreiben gemeinsam die Ankunft in Nazareth.30 Was dieser Ankunft an einzelnen Handlungen oder Überlegungen Josefs voranging, können wir nicht mehr sagen.31 Die Einzeletappen bleiben ausgeblendet. Umso mehr fällt auf, dass Josef ausgerechnet nach Nazareth zieht. Wären Sepphoris oder Magdala nicht aussichtsreicher gewesen, zumindest beruflich? Dennoch sollte man mit Behauptungen wie: Nazareth sei „ein wenig bedeutendes Dorf “ gewesen,32 vorsichtig sein. In Avraham Negevs Archäologischem Bibellexikon33 wird „Nazaret“ (sic!) eine „kleine Stadt“ genannt, besiedelt seit der Bronzezeit, mit Grabstätten von der Eisenzeit bis zur Zeit der Hasmonäer, gelegen an der Römerstraße nach Jerusalem und mit guten Verbindungen.34 Auch nach der 27 Carson a.a.O. 28 Ich zähle es bei Mt 16 Mal, bei Mk 12 Mal, bei Lk 13 Mal, bei Johannes allerdings 17 Mal. 29 Luz I 131: eine „crux interpretum“. 30 Zahn 115, Fn. 19. 31 Hier zeigt auch Zahn 114ff zu viel Fantasie. 32 So Luz I 131; ähnlich Fiedler 68. 33 Deutsch 1991, Neuhausen-Stuttgart. 34 A.a.O. 332.

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Zerstörung Jerusalems 70 n.Chr. blieben Juden dort wohnen. Unter anderem war Nazareth der Wohnsitz einer Priesterfamilie (Happizzez).35 Auch Rainer Riesner, der den sehr instruktiven Artikel über Nazareth im Großen Bibellexikon verfasste,36 weist auf die eindrucksvolle Geschichte des Ortes hin.37 Nazareth „gehörte zum Gebiet des Stammes Sebulon“.38 Es wird jedoch „weder im AT, in den Apokryphen und Pseudepigraphen, bei Josephus oder in der rabbin. Literatur erwähnt“39 – übrigens neben Bethesda ein Zeichen dafür, wie vorsichtig man mit dem sog. argumentum e silentio umgehen muss. Aber weshalb zog nun Josef ausgerechnet nach Nazareth? Der einleuchtendste Grund ist immer noch der, dass ihm Nazareth von früher her bekannt war und dass es, wie Lk 1,26ff berichtet, der Wohnsitz der Maria war.40 Unter diesen Umständen konnte er dort auch am schnellsten seinen Wohnsitz nehmen.41 Als πόλις [ polis], Stadt, konnte man im Griechischen sogar „Ganz unbefestigte Städte, ja selbst offene Landschaften wie Lakedämonien“ bezeichnen.42 Auch im NT meint πόλις [ polis] „einfach die geschlossene menschliche Siedlung“.43 Nazareth trägt deshalb die Bezeichnung Stadt in Mt 2,23 zu Recht (vgl. Lk 1,26; 2,4.39).44 Wenn Luz schreibt: „Schlecht informiert zeigt sich Matthäus aber, wenn er … Nazareth … als πόλις bezeichnet. Er verrät durch diese Bezeichnung nicht nur, daß er Palästina nicht kennt, sondern eventuell auch, daß er in einer Stadt lebt und sich Jesus deshalb selbstverständlich auch in einer Stadt lebend denkt“,45 dann stellt er die Dinge geradezu auf den Kopf. Wie sollte der Galiläer Matthäus die damalige Situation nicht besser kennen als seine modernen Kritiker! Allerdings besteht über den exakten Namen der Stadt in Mt 2,23 bei den Handschriften und bei den Auslegern keine völlige Klarheit: Lautet er „Nazaret“ oder „Nazareth“ oder „Nazara“?46 Riesner führt griech. Nazaret auf das hebr. nazerat zurück, griech. Nazara auf hebr. oder aram. nazerah als Nebenform von nazerat.47 Die Identi35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

R. Riesner, Art. Nazareth, GBL, 2, 1031ff. A.a.O. A.a.O. A.a.O. 1032. Riesner a.a.O. 1031. Zahn 115. Zu κατοικεῖν [katoikein] vgl. Bauer-Aland, 862; O. Michel, Art. οἶκος usw., ThWNT, V, 1954, 155f. H. Strathmann, Art. πόλις usw., ThWNT, VI, 1959, 517. Strathmann a.a.O. 529. Strathmann a.a.O. Luz I 131. Vgl. Nestle-Aland 5. Riesner a.a.O. 1031.

6. Rückkehr und Kindheit Jesu in Nazareth, 2,19-23

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tät des Ortes Nazareth steht aber trotz aller philologischen Diskussionen über den Namen fest. Die Probleme spitzen sich am Schluss von V. 23 zu:48 damit erfüllt würde, was durch die Propheten gesagt wurde: Er wird Nazoräer genannt werden (Ναζωραῖος κληθήσεται [Nazōraios klēthēsetai]). Die Formulierung ὅπως [hopōs] (1,22; 2,15: ἵνα [hina]) πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν [ plērōthē to rhēthen] ist uns aus 1,22 und 2,15 bekannt. Sie drückt aus, dass eine Prophetie der Heiligen Schrift in Erfüllung gegangen ist. Bisher waren das Jes 7,14; Mi 5,1.3; Hos 11,1 und Jer 31,15. Aber jetzt? Die allgemeine Angabe durch die Propheten (διὰ τῶν προφητῶν [dia tōn prophētōn]) muss wie in Joh 7,38 keine bestimmte Schriftstelle meinen, sondern kann auch das Fazit einer ganzen Reihe von Prophetenstellen zum Ausdruck bringen.49 Von da aus ergibt sich eine Reihe von Beobachtungen: 1) Ναζωραῖος [Nazōraios] findet sich als Messiasname nirgends im AT; 2) für Matthäus steht Ναζωραῖος [Nazōraios] in enger Verbindung mit Nazareth, 3) dieses Ναζωραῖος [Nazōraios] (Nazoräer) muss sich philologisch mit prophetischen Aussagen des AT verbinden lassen. Zu 1): Auch wenn sich Ναζωραῖος [Nazōraios] (Nazoräer) als Messiastitel im AT nirgends direkt findet, gibt es doch einige Anklänge, die wir unter 3) behandeln. Zu 2): Es fällt auf, dass ein lautlicher Anklang an Ναζαρηνός [Nazarēnos] besteht, das in andern Evangelien eindeutig die Herkunft aus Nazareth bezeichnet (Mk 1,24; 10,47; 14,67; 16,6; Lk 4,34; 24,19).50 Gleichzeitig benutzen die anderen Evangelien aber auch den Begriff Ναζωραῖος [Nazōraios], um ebenfalls die Herkunft aus Nazareth auszusagen (Lk 18,37; Joh 18,5.7; 19,19). Besondere Bedeutung kommt hierbei dem Titulus am Kreuz nach Joh 19,19 zu, der von Ἰησοῦς ὁ Ναζωραῖος [Iēsous ho Nazōraios] („Jesus von Nazareth“) spricht (vgl. Apg 2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 26,9). Schaeder kann sogar feststellen: „Der frühchristlichen Überlieferung galten Ναζωραῖος und … Ναζαρηνός als gleichwertig.“51 Wir können „unbedenklich“ Ναζωραῖος [Nazōraios] von Ναζαρέθ [Nazareth] ableiten.52 Es deutet also vieles darauf hin, dass für Matthäus Ναζωραῖος [Nazōraios] tatsächlich „Nazarener“ („aus Nazareth stammend“) bedeutet.53 Das schließt allerdings nicht aus, dass für Matthäus in dem Namen Ναζωραῖος [Nazōraios] 48 Mello 79: „la plus mystérieuse de toutes les prophéties matthéennes“; Senior 49: das Zitat „perhaps the most enigmatic in the Gospel“. 49 H. Schaeder, Art. Ναζαρηνός usw., ThWNT, IV, 1942, 883; Tasker 45; France 88f; Carson 97. 50 Vgl. H. Schaeder, a.a.O. 879. 51 Schaeder a.a.O. 882. 52 Schaeder a.a.O. 53 Ebenso Schaeder a.a.O. 882ff; Tasker 45; Luck 27f.

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„Nazarener“ noch andere Bedeutungen mitschwingen. Zu 3): In der Forschungsgeschichte wurde ein Bezug von Ναζωραῖος [Nazōraios] a) zu „Nasiräer“, hebr. ‫[ נָזִיר‬nāsīr], überlegt, also zu den Gottgeweihten des AT, die auch im NT noch eine Rolle spielen (Apg 21,23ff; vgl. Num 6,1ff; Ri 13,5ff; Am 2,11f ).54 Matthäus würde demnach in der Herkunft aus Nazareth einen Hinweis darauf sehen, dass Jesus im tiefsten Sinn ein Gottgeweihter war. Eine solche Auffassung bleibt gut möglich, wenn auch manche Züge der Lebenspraxis Jesu das normale Nasiräat überschreiten (vgl. Mt 11,19 mit Am 2,11f; Num 6,3f ). Dass die LXX in Ri 13,5ff von ναζιραῖος [naziraios] spricht, kann mit Schaeder55 als gutes Argument für eine bewusste Verbindung von Ναζωραῖος [Nazōraios] mit dem Nasiräat gelten.56 Überlegt wurde b) in der Forschung auch ein Bezug zu ‫[ נֵֶצר‬nezär] in Jes 11,1. Mit ‫[ נֵֶצר‬nezär], „Sprößling“, „Wurzelschoss“, „Zweig“, wird in Jes 11,1 tatsächlich der Messias bezeichnet (LXX: ἄνθος [anthos]).57 Dass in Jer 23,5; 33,15; Sach 3,8; 6,12 für ihn die Bezeichnung ‫[ ֶצַמח‬zämach], „Spross“, gewählt wird (LXX: ἀνατολή [anatolē]), beweist, dass dieses ‫[ נֵֶצר‬nezär] in Jes 11,1 nicht isoliert steht. Weil Jes 11,1ff für die frühe Christenheit eine wichtige Rolle spielte,58 liegt es nahe, dass Matthäus eine Gedankenassoziation zwischen „Nazoräer“ und „nezär“ herstellen wollte. Rainer Riesner hält eine solche Verbindung der beiden Begriffe auch für „philologisch möglich“.59 c) Ein dritter Vorschlag geht dahin, Ναζωραῖος [Nazōraios] mit dem ‫[ נָצוּר‬nāzūr], also dem „bewahrt Gebliebenen“, von Jes 49,6; Ez 6,12 zu verbinden60 (vgl. Jes 42,6). Offensichtlich ist aber dieses ‫[ נָצוּר‬nāzūr] (LXX: διασπορά [diaspora] bzw. περιεχόμενος [ periechomenos]) inhaltlich und sprachlich weiter von Ναζωραῖος [Nazōraios] entfernt als die andern Begriffe „nasir“ und „nezär“. d) Einen vierten Vorschlag haben die Tübinger Theologen Hartmut Gese und Peter Stuhlmacher gemacht. Sie sehen in Ναζωραῖος [Nazōraios] den ‫[ נֵזֶר‬nesär], das „Diadem“, angedeutet, das über dem Messias und Gottessohn aufstrahlt.61 Neutestamentlich könnte man dazu Offb 19,12 und alttestamentlich Jes 62,3 vergleichen. Auch eine solche Deutung verdient eine ernsthafte Berücksichtigung. 54 Vgl. G. Mayer, Art. ‫נזר‬, ThWAT, V, 1986, 329ff. 55 Schaeder a.a.O. 883. 56 Dafür spricht sich z.B. Mello 80 aus; ebenso Schniewind 20; Senior 50; Schaeder a.a.O.; Luck 28. Skeptisch Tasker 45; Carson 97; Fiedler 69. 57 Vgl. S. Wagner, Art. ‫נֵֶצר‬, ThWAT, V, 1986, 587ff. 58 Vgl. Nestle-Aland 789f. 59 Riesner a.a.O. 1032; vgl. Mello a.a.O.; Luz I 132; Schlatter 17f; Senior 50; Schniewind 20; Carson 97; Sand 57f. Skeptisch Schaeder 883; Tasker a.a.O.; Luck a.a.O.; Fiedler 69. 60 Vgl. Mello a.a.O. sowie S. Wagner, Art. ‫נצר‬, ThWAT, V, 1986, 577ff. 61 Stuhlmacher Bibl Theol 154. Vgl. G. Mayer a.a.O. 333f.

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Fassen wir zusammen: Eine sichere Deutung des Ναζωραῖος [Nazōraios] in Mt 2,23 steht noch aus.62 Gewiss ist nur so viel, dass Matthäus in 2,23 keine bestimmte Prophetenstelle vor Augen hat – im Unterschied zu 1,22f; 2,5f; 2,15 und 2,17f – sondern ein prophetisches Gesamtzeugnis (διὰ τῶν προφητῶν [dia tōn prophētōn]) mit evtl. mehreren Bezügen. Mit guten Gründen kann man allerdings davon ausgehen, dass für ihn Ναζωραῖος [Nazōraios] und Ναζαρέτ [Nazaret] zusammengehören, also Ναζωραῖος [Nazōraios] grundsätzlich und in erster Linie den „Nazarener“ meint.63 Hierin deckt sich Matthäus mit den andern Evangelien. Unseres Erachtens will Matthäus außerdem aber Ναζωραῖος [Nazōraios] noch in einem andern, nämlich geistlicheschatologischen Sinn verstanden wissen.64 Dafür kommen mehrere Deutungen infrage, die nicht alternativ gegeneinander ausgespielt werden dürfen:65 Als „Nazarener“ ist Jesus zugleich nasir (Gottgeweihter66), nezär (Zweig, Sprössling aus der Wurzel Davids, vgl. Offb 5,5) und nesär (messianisches Diadem). Entfernter liegt ein Bezug zu nazur (Bewahrter). Vermutlich ist Ναζωραῖος [Nazōraios] vom aramäischen nasraja abzuleiten, das seinerseits aus Nazareth, aramäisch nasrat, entwickelt ist.67 Daraus erklärt sich auch ohne Weiteres der Zusammenhang mit der Bezeichnung Ναζωραῖοι [Nazōraioi] für Christen in Apg 24,5 und nosrim für die Christen im Achtzehngebet (18,12) und im Talmud (b Ab zara 17a; b Taan 27b; b Ber 17b; b Sota 47a; b Sanh 103a.107b).68

IV Zusammenfassung 1. Mt 2,19-23, „the find episode“69 in der Vorgeschichte des Matthäus, berichtet die Rückkehr Josefs mit Maria und Jesus aus Ägypten nach Israel, ins Verheißene Land. Auch diesem wieder sehr knappen Bericht darf die ge-

62 Luz a.a.O.: „da die Bedeutung von Ναζωραῖος unklar ist.“ 63 Ebenso Luz a.a.O.; Schaeder a.a.O. 884; Fiedler 69; France 88. Manche übersetzen deshalb Ναζωραῖος [Nazōraios] mit „Nazarener“ (sachlich berechtigt), so Schlatter 17; France 88; Carson 96. 64 Mello 79. 65 Senior 50. 66 Die Angaben darüber in Ri 13,5ff; Am 2,11f gehören in der jüdischen Bibel zu den Propheten. 67 Schaeder a.a.O. 884; vgl. Riesner a.a.O. 1031. 68 Vgl. wieder Schaeder a.a.O. 880. 69 Senior 48.

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schichtliche Glaubwürdigkeit nicht abgesprochen werden.70 Eine Legende ist er nicht.71 2. Wichtig ist für Matthäus, dass auch dieser Lebensabschnitt unter der Führung und Fürsorge Gottes steht.72 Deshalb die wiederholten Weisungen Gottes im Traum. Deshalb vor allem auch die doppelte Begründung des Aufwachsens Jesu in Nazareth: a) Es entspricht der göttlichen unmittelbaren Anordnung (V. 22), b) es entspricht der Prophetie der Schrift (V. 23). Hier legen sich Bezüge zum Messias von Jes 11, zum Gottgeweihten (Nasiräer) von Num 6,1ff; Ri 13,5ff; Am 2,11f und zum Diadem des Messias nach Jes 62,3 nahe. Darüber hinaus ergeben sich Parallelen zur Geschichte Moses und Abrahams, sodass in Jesus der zweite Mose und Abrahamssohn erkennbar wird. Das Ganze hat bis in den Schriftgebrauch hinein einen ausgeprägt judenchristlichen Charakter. 3. Ferner tritt jetzt die Bedeutung hervor, die Galiläa für Matthäus hat. Man kann dabei schon das in Mt 4,15 explizit genannte „Galiläa der Heiden“ (eigentlich: „der Völker“) mithören, sodass uns Matthäus auf die spätere universale Mission des Messias vorbereitet (vgl. Mt 12,18-21; 28,19).73 Ob sich Matthäus gegen eine Verächtlichmachung von Galiläa (vgl. Mt 26,69; Joh 1,46) und damit gegen eine Verachtung der Herkunft Jesu aus Nazareth wehren muss,74 ist nicht ganz sicher. 4. Ναζωραῖος [Nazōraios], „Nazoräer“, versteht man jedenfalls am besten als Herkunftsbezeichnung im Sinne von „Nazarener“. 5. Ulrich Luz wirft Matthäus vor, der „christliche programmatische und exklusive Anspruch auf das Alte Testament“, den Matthäus erhebe, habe den Grund gelegt für die Judenfeindschaft der Kirche und letztlich indirekt zu den Nazigräueln des zwanzigsten Jahrhunderts beigetragen.75 Eine solche Polemik mag in den vergangenen Jahren en vogue gewesen sein. Sie ist aber völlig unangemessen. Es ist irrational, einem jüdischen Gläubigen, der vor 2000 Jahren etwas ganz anderes lehrte (vgl. Mt 26,52), die Schuld an Auschwitz und am Holocaust zuschieben zu wollen. Als Jude und Messiasgläubiger rang Matthäus darum, dass die bisher ablehnende Mehrheit seines Volkes zur Erkenntnis seines Messias käme. Dazu benutzte er die Schrift, wie es in seinem 70 Anders Beare 84: „we are dealing with legendary materials which lack any trustworthy historical base.“ Wie wir Gaechter 79. 71 Gegen Beare a.a.O.; Luck 27; Bultmann Gesch 316ff. 72 Vgl. Carson 96. 73 Vgl. Tasker 44. 74 So Carson 96f; Sand 58. 75 Luz I 141.

7. Johannes der Täufer als Vorläufer Jesu, 3,1-12

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Volk üblich war. Einen „exklusiven Anspruch“ auf die Schrift hat er gerade nicht erhoben, sondern er betrachtete sie als gemeinsamen Besitz ganz Israels, wozu auch die Apostel und die Jesusgläubigen zählen. 6. Das Verhältnis von Matthäus zu Lukas ist eine schwer zu beantwortende Frage. Das liegt einfach daran, dass Kindheit und Jugend Jesu viele Jahre und ungezählte Ereignisse umfassen. Aus all diesem großen Stoff hat Matthäus gerade mal fünf und Lukas acht Ereignisse geschildert. Eine Synopse ist deshalb ein schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen. Ebenso wenig kann man freilich behaupten, Matthäus und Lukas würden sich widersprechen. Auszugehen ist vielmehr von Folgendem: Obwohl Matthäus und Lukas an verschiedenen Orten, mit verschiedenem Hintergrund und an verschiedene Adressaten schreiben, stimmen sie an zwei Kardinalpunkten überein: a) Jesus ist in Bethlehem geboren, b) er ist in Nazareth aufgewachsen und wird deshalb mit Recht „Nazarener“ oder „Nazoräer“ genannt. Wie lange der Bethlehemaufenthalt währte, können wir nicht mehr genau sagen. Jedoch setzen sowohl Mt 2,1ff als auch Lk 2,1ff einen längeren Aufenthalt dort voraus. Von einer „Rückkehr“ nach Nazareth spricht Lukas in 2,39 ausdrücklich. Denn er hat ja in 1,36–2,4 von dem früheren Nazareth-Aufenthalt Josefs und Marias berichtet. Dieser Bericht hat bei Matthäus kein Pendant, deshalb kann auch Matthäus nicht von einer „Rückkehr“ schreiben. In der Art, wie er den Weg Josefs in 2,19ff zeichnet, lässt er uns aber vermuten, dass Josef schon früher einmal in Nazareth war. Was den Erzählfaden auf beiden Seiten anbelangt, so ließe sich denken, dass vor der in Lk 2,39 vermerkten Rückkehr nach Nazareth auch ein zeitlich begrenzter Ägypten-Aufenthalt Platz hätte. „Exklusiv“ im Sinne von jeden anderen Bericht „ausschließend“ sind jedenfalls beide Berichte, Matthäus und Lukas, nicht.

7. Johannes der Täufer als Vorläufer Jesu, 3,1-12 I Übersetzung 1 In jenen Tagen aber tritt Johannes der Täufer auf und predigt in der Wüste Judäas 2 und sagt: Kehrt um! Denn die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen. 3 Denn dieser ist es, von dem durch den Propheten Jesaja gesprochen wurde, wenn er sagt: Eine Stimme eines Rufers ist in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Pfade eben! 4 Er aber, Johannes, hatte sein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüfte. Seine Nahrung aber bestand aus Heuschrecken

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und wildem Honig. 5 Da ging zu ihm hinaus Jerusalem und ganz Judäa und die ganze Jordangegend, 6 und sie wurden von ihm im Fluss Jordan getauft, wobei sie ihre Sünden bekannten. 7 Als er aber viele von den Pharisäern und Sadduzäern zu seiner Taufe kommen sah, sagte er zu ihnen: Ihr Schlangenbrut, wer hat euch angeleitet, dem kommenden Zorn zu entfliehen? 8 Bringt also Frucht, die der Umkehr würdig ist! 9 Und glaubt nicht, dass ihr denken könntet: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken. 10 Es ist schon die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt. Jeder Baum nun, der nicht gute Frucht bringt, wird herausgehauen und ins Feuer geworfen. 11 Ich zwar taufe euch mit Wasser zur Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich. Ich bin es nicht einmal wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Der wird euch mit Heiligem Geist und mit Feuer taufen. 12 Seine Worfgabel ist in seiner Hand, und er wird seine Tenne reinigen und seinen Weizen in die Scheune sammeln; die Spreu aber wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer.

II Struktur Die Mehrheit der Kommentare fasst Mt 3,1-12 als geschlossenen, eigenständigen Abschnitt auf.1 Einige jedoch fassen das gesamte Kapitel (3,1-17) als einheitlichen Abschnitt zusammen,2 manche betrachten 3,1-6; 3,7-10 und 3,1112 als jeweils eigene Abschnitte.3 Fiedler teilt Kapitel 3 in die beiden Abschnitte 3,1-15 und 3,16-17,4 wobei er allerdings die eng zusammengehörenden Verse 15 und 16f voneinander trennen muss. Am einleuchtendsten erscheint immer noch die traditionelle5 Aufteilung in Mt 3,1-12 einerseits und Mt 3,13-17 andererseits. Denn darüber, dass In jenen Tagen (3,1) einen neuen Abschnitt einleitet, besteht kein Zweifel. Aber auch zwischen V. 12 und V. 13 findet sich eine eindeutige Zäsur. Bis V. 12 reicht die direkte Rede des Täufers. Und in V. 13 wird das Subjekt des Berichts V. 1-12, Johannes, abgelöst durch ein neues Subjekt, Jesus. Mt 3,1-12 enthält allerdings verschiedene Unterabschnitte: Den Bericht vom geschichtlichen Auftreten des Täufers (V. 1-6), seine Worte an die Phari1 So Beare 87; Carson 98; France 89; Luz I 142; Mello 82; Schlatter 18; Schniewind 21; Zahn 120. 2 So Senior 51; Tasker 45; Gundry 41ff; Gaechter 81ff. 3 So Luck 28ff; Sand 64ff. 4 Fiedler 69ff. 5 Siehe die Bibelübersetzungen (Lutherbibel, Einheitsübersetzung, Revidierte Elberfelder Bibel, NGÜ, Neue Jerusalemer Bibel).

7. Johannes der Täufer als Vorläufer Jesu, 3,1-12

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säer und Sadduzäer (V. 7-10) und seine Ankündigung des Messias (V. 11-12, siehe die obigen Gliederungsversuche). Eine Synopse zeigt, dass in allen vier Evangelien ein Bericht über Johannes den Täufer die Jesusgeschichte einleitet (Mt 3,1ff; Mk 1,2ff; Lk 3,1ff; Joh 1,19ff ). Ebenso beginnen in der Apg die großen Predigten des Petrus und Paulus mit Johannes dem Täufer (10,37ff; 13,23ff ). Man hat also in der Urchristenheit stets auch von Johannes dem Täufer erzählt, wenn man ausführlich von Jesus sprach. Das gibt uns das Recht, Johannes als Vorläufer Jesu zu bezeichnen. In der Darstellungsart des Matthäus setzt sich die Bezugnahme auf die Heilige Schrift fort. Das zeigt nicht nur Mt 3,3, sondern auch die Verbindung mit der Elia-Geschichte in V. 4 sowie mit Ez 36,25 in V. 11. Ferner setzt sich die jüdische Prägung seiner Sprache fort. Vgl. „Königreich der Himmel“ (= Gottesherrschaft) in V. 2, „in jenen Tagen“ V. 1, die „Schlangenbrut“ V. 7, die Rede vom „kommenden Zorn“ ebd., die Berufung auf den „Vater Abraham“ V. 9, das „Feuer“ des Gerichts V. 10 und 12 und das ganze Gerichtsbild V. 12. Näheres in der Einzelexegese. Der Stil bleibt insgesamt gestrafft und zurückhaltend-überlegt, die Erzählung wird aber doch ausführlicher und detailreicher als in Kapitel 1,18–2,23: auch das ein Zeichen, dass die „Kindheitsgeschichten“ des Matthäus keineswegs legendär sind.

III Einzelexegese In jenen Tagen: So beginnt der Abschnitt über Johannes. Es ist eine unbestimmte Zeitangabe. Von allen vier Evangelisten datiert nur Lukas genauer: „Im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius“ = 28 n.Chr. (Lk 3,1). In jenen Tagen, ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις [en tais hēmerais ekeinais], geht zurück auf hebr. ‫[ ַבּיּ ִָמים ָהֵהם‬bajjāmīm hāhem] wie z.B. in Ex 2,11; Ri 18,1; 19,1; 1Sam 28,1.6 Es heißt einfach „In jener Zeit“ ohne jede nähere Festlegung, bis zur Länge einer Epoche.7 Wenn sich nun aus Lk 3,1 das Jahr 28 n.Chr. als genaueres Datum ergibt, dann stellt sich auch für Matthäus die Frage: Was geschah in den ca. 30 Jahren zwischen der endgültigen Ansiedlung in Nazareth (Mt 2,23) und dem Auftreten des Täufers? Matthäus erzählt nichts darüber, Lukas nur die einzige Begebenheit vom zwölfjährigen Jesus im Tem6 BDR § 2912,5. 7 Vgl. G.v. Rad / G. Delling, Art. ἡμέρα, ThWNT, II, 1935, 950.953; M. Sæbø im Art. ‫יוֹם‬, ThWAT, III, 1982, 578f.

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pel (Lk 2,41f; vgl. allerdings auch Lk 2,40.52). Vermutlich hat die Gemeinde im Israelland zur Zeit der Abfassung des Matthäusevangeliums noch manches aus den Nazareth-Jahren Jesu gewusst. Die Evangelisten halten es mit Ausnahme von Lk 2,41ff nicht für nötig, darüber Näheres zu schreiben. Aus dieser Perspektive ist jedenfalls das Urteil von Joh 21,25 berechtigt. In jenen Tagen aber tritt Johannes der Täufer auf: Das Praesens historicum8 παραγίνεται [ paraginetai] (er tritt auf ) markiert in „lebhaft vergegenwärtigender Erzählung“9 ein epochales Ereignis. Mit Johannes dem Täufer betritt eine neue, dem Judentum ungewohnte Gestalt die Bühne der Geschichte. Selbst wenn wir das Neue Testament nicht hätten, wüssten wir doch durch Josephus von seinem Wirken in jener Zeit.10 Was ist das Besondere an ihm? Erstens: Mit ihm endet in Israel eine fünfhundertjährige prophetenlose Zeit (1Makk 4,46; 9,27; 14,41).11 Zweitens: Zu ihm gehen die Menschen hinaus in die Wüste, während sie bisher in die Lehrhäuser der Weisheitslehrer und Rabbinen gingen (vgl. Sir 51,31). Drittens: Johannes tauft und wäscht andere, während man bisher sich selbst waschen musste. Viertens: Seine Taufe war einmalig, während sich sonstige Waschungen nach den Reinheitsvorschriften normalerweise wiederholten. Fünftens: Er kündigt als seinen Nachfolger den Messias an, ist also dessen Vorläufer. Matthäus nennt den Täufer Johannes der Täufer (Ἰωάννης ὁ βαπτιστής [Iōannēs ho baptistēs]), um a) diesen Johannes von anderen Trägern desselben Namens zu unterscheiden12 und b) sein Charakteristikum hervorzuheben. Markus und Lukas benutzen dieselbe Terminologie (vgl. Mt 3,1; 11,11.12; 14,2.8; 16,14; 17,13 mit Mk 6,25; 8,28; Lk 7,20.33; 9,19), ebenso Josephus.13 Er ist derjenige, der andere untertauchte, „taufte“.14 Wir müssen annehmen, dass sein Handeln durch Ez 36,25 begründet war. Dort ist es Gott, der von sich sagt: „Ich will reines Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet.“ Offenbar sah sich Johannes (hebr. ‫ [ יוָֹחנָן‬jōchānān] = Gott ist gnädig) als Werkzeug Gottes bei dieser Reinigungstaufe. Im Namen Gottes ließ er das Reinigungswasser über die Menschen strömen, die zu ihm kamen. Mit dieser Handlung erklärte er implizit, dass jetzt die Heils- und Erlösungszeit angebrochen sei.

8 9 10 11 12 13 14

Vgl. BDR § 321. Vgl. 2,1; 3,13. BDR a.a.O. Josephus Ant XVIII, 116-119. Dasselbe sagt Josephus Contra Ap I, 41. Vgl. A. Oepke, Art. βάπτω usw., ThWNT, I, 1933, 544; BDR § 268,1. Ant XVIII, 116. Oepke a.a.O. Vgl. Gundry 42.

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Vermutlich haben Theodor Zahn und Paul Gaechter recht mit der Annahme, dass der Täufer den ersten Lesern schon bekannt gewesen sei.15 In der Folge beschreibt Matthäus das Handeln des Täufers näher: er predigt in der Wüste Judäas (κηρύσσων ἐν τῇ ἐρήμῳ τῆς Ἰουδαίας [kēryssōn en tē erēmō tēs Ioudaias]), V. 1. Robert H. Gundry vermutet wohl mit Recht, dass Matthäus vor allem auf die Predigt des Täufers Wert legt.16 Aber man muss dieses Urteil auf alle vier Evangelien ausdehnen. Überall steht die Verkündigung und Lehre des Johannes im Zentrum (vgl. auch Lk 11,1; Joh 1,29ff ).17 Der Ablauf der Taufe wird nur angedeutet. Gaechter verbindet die Worte in der Wüste mit Lk 1,80 und schließt daraus, dass Johannes wohl „für längere Zeit“ ein Mitglied der Qumran-Gemeinschaft gewesen sei.18 So unsicher auch die letztere Annahme bleibt, so wenig wird man einen längeren Wüstenaufenthalt in Abrede stellen können.19 Man denke an die jüdischen Eremiten jener Zeit wie z.B. Bannus, von dem Josephus berichtet, oder an den Zug jüdischer Aufstandsführer und Messiasprätendenten in die Wüste (Apg 21,38).20 Hat Johannes am Jordan getauft (Mt 3,6; Mk 1,5; Joh 1,28), dann verwundert die geografische Angabe in der Wüste Judäas. Hätte es nicht eher, wie Gundry meint, heißen müssen „in der Wüste Peräas“? Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass Matthäus – vermutlich der volkstümlichen Auffassung folgend – hier die Jordansenke noch zu Judäa rechnet.21 In V. 2 gibt Matthäus eine Zusammenfassung der Predigt des Täufers: Kehrt um! Denn die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen. Kehrt um, griech. μετανοεῖτε [metanoeite], hebr. ‫[ שׁוּבוּ‬schūbū], gehört zu den Grundbotschaften der alttestamentlichen Propheten. Oft findet sich dafür als deutsche Übersetzung „Tut Buße“. Doch „Buße tun“ bedeutet im heutigen Sprachverständnis eher eine Verengung des im AT Gemeinten.22 Würthwein hält die „Umkehr“ sogar für ein „Sondergut des AT“ gegenüber allen anderen Religionen.23 Gemeint ist in der biblischen Prophetie die Abkehr von der Sünde und die Hinkehr zum lebendigen Gott in persönlicher Verantwortung.24 Vgl. zum Beispiel Jes 6,10; 10,21; 19,22; Jer 3,14ff; Ez 18,21ff; 33,10ff; 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Zahn 121; Gaechter 83; Beare 87; Mello 83; Tasker 46. Gundry 41; Luz I 144. Luz I 143; France 89. Gaechter a.a.O. France 90 hält dies für möglich. Vgl. Beare a.a.O: „as a solitary ascetic“. Josephus Ant XX, 97f. Gaechter a.a.O.; Beare 88; Zahn 121f. Auch die Übersetzung „Ändert euren Sinn“ (Gaechter 82) ist zu schwach. Im Art. νοέω usw., ThWNT, IV, 1942, 976. Würthwein a.a.O. 981ff.

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Hos 14,2ff; Joel 2,12ff; Am 4,6ff; Jona 3,1ff. Nun erklingt dieser prophetische Umkehrruf von Neuem. Und zwar nicht an die „Heiden“ oder notorische „Sünder“ gerichtet, sondern wie bei den alten Propheten an das Gottesvolk selbst, an das ganze Israel.25 Die Begründung ist allerdings neu: Denn die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen (ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [ēngiken gar hē basileia tōn ouranōn]). Das konnte kein Prophet des AT sagen. Johannes weiß, dass ihm auf dem Fuße der Messias folgt. Gundry fasst es in die Worte: Er „prepares the Davidic territory for the Davidic Messiah“.26 Wer seinen Weg in die Sünde fortsetzt, kann diesen Messias nur als Richter erleben. Der Begriff „Gottesherrschaft“, bei Matthäus βασιλεία τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn], sonst βασιλεία τοῦ θεοῦ [basileia tou theou] (vgl. Mk 1,15; Lk 6,20), musste jüdischen Hörern nicht erst erklärt werden. Sie kannten ihn alle.27 Das AT preist Gott als den „König“, das heißt als den Allerhöchsten, der die Schöpfung und die Geschichte regiert.28 Andeutend ist dort auch schon von der „Königsherrschaft“ Gottes, griech. βασιλεία [basileia], hebr. ‫[ ַמְלכוּת‬malkūt], die Rede (Dan 7,16ff ).29 Für die Rabbinen war dann ‫שַׁמיִם‬ ָ ‫[ ַמְלכוּת‬malkūt schāmajim] ein häufiger Begriff, vermutlich schon in neutestamentlicher Zeit, wörtlich „Herrschaft der Himmel = Gottes“. Dieser Begriff bezeichnet die sichtbare Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden und in der Schöpfung als den Zielpunkt des Heilshandelns Gottes. Daran teilzunehmen, war die Sehnsucht aller religiösen Menschen in Israel. Wer aber die Umkehr von seinem sündigen Weg verweigerte, schloss sich selbst vom Reich Gottes aus. Nahe herbeigekommen (ἤγγικεν [ēngiken]) bedeutet nicht, dass es schon da ist.30 Vielmehr bedeutet es, dass es dicht vor der Tür steht.31 Die Predigt Jesu in seiner Frühzeit wird in 4,17 mit genau denselben Worten zusammengefasst wie die Predigt des Täufers in 3,2 (vgl. auch Mt 10,7). Manche Ausleger nehmen an, dass Matthäus die Täuferpredigt in 3,2 nach der Jesuspredigt in 4,17 modelliert habe.32 In Anbetracht der Tatsache, dass damals noch viele Zeitgenossen des Täufers lebten (vgl. Lk 1,1-4; 1Kor 15,6), wäre ein solcher Versuch der „Modellierung“ schwierig gewesen. Besser Vgl. J. Behm im Art. νοέω a.a.O. 995f. Gundry a.a.O. Beare 89. Vgl. G.v. Rad im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, 566ff. Rad a.a.O. 569. Gegen Gaechter 82; France 90 („is already beginning“). Gundry 43. J. Preisker, Art. ἐγγύς usw., ThWNT, II, 1935, 330: „unmittelbar an die Gegenwart herangerückt“. 32 So Gundry a.a.O.; Gaechter 84.

25 26 27 28 29 30 31

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nimmt man an, dass Jesus den Anfang seiner Predigt in bewusster Kontinuität zur Täuferpredigt gestaltete. Im Übrigen ist der Ruf zur Umkehr stets ein Teil der christlichen Botschaft geblieben (vgl. Apg 2,38; 17,30; 1Thess 1,9; Offb 2,5ff ). Ist nun die Wendung βασιλεία τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn] („Himmelreich“) oder die Wendung βασιλεία τοῦ θεοῦ [basileia tou theou] („Reich Gottes“) ursprünglich? Gundry nimmt an, dass jedenfalls Jesus von der βασιλεία τοῦ θεοῦ [basileia tou theou] sprach und Matthäus dies später, entsprechend damaligem jüdischen Sprachgebrauch, in βασιλεία τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn] umformte.33 Bekanntlich haben die jüdischen Schriftgelehrten jener Zeit den „Gottes“-Namen tunlichst vermieden und lieber Umschreibungen wie „Himmel“ (οὐρανοί [ouranoi], ‫שַׁמיִם‬ ָ [schāmajim]) benutzt.34 Geht man von dieser zeitgenössischen Situation aus, dann wird man wie Matthäus dem Täufer eher die Wendung βασιλεία τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn] („Himmelreich“) zuschreiben. Mt 3,2 ist darin also korrekt.35 Aber auch Jesus dürfte dem jüdischen Sprachgebrauch gefolgt sein und deshalb eher die Wendung βασιλεία τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn] benutzt haben (vgl. Mt 13,11ff ), ohne dass wir das griechische βασιλεία τοῦ θεοῦ [basileia tou theou] ausschließen können.36 Markus und Lukas dagegen, die in der römisch-hellenistischen Welt schrieben, wählten das verständlichere βασιλεία τοῦ θεοῦ [basileia tou theou], ohne dabei eine Sachverschiebung vorzunehmen.37 Die Übersetzung Gottesherrschaft ist für beide Wendungen angemessen.38 In V. 3 erklärt Matthäus auch das Wirken des Johannes durch die Schrift: Denn dieser ist es, von dem durch den Propheten Jesaja gesprochen wurde, wenn er sagt: Eine Stimme eines Rufers ist in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Pfade eben! Hier geht es um Jes 40,3. Alle vier Evangelisten nennen dieselbe Schriftstelle (Mk 1,3; Mt 3,3; Lk 3,4; Joh 1,23). Bei Matthäus ist bemerkenswert, dass er im Unterschied zu 1,22f; 2,5f; 2,15; 2,23 diesmal auch den Namen des Propheten nennt: Jesaja. Allerdings hat er in 2,17 auch schon den Namen des Propheten (Jeremia) erwähnt. Die biblischen Schriftsteller hatten keine Probleme mit einem Deutero- oder Tritojesaja. Das heutige abendländisch-kritische Denken, das eine 33 34 35 36 37 38

Gundry a.a.O. Vgl. E. Stauffer und K.G. Kuhn im Art. θεός usw., ThWNT, III, 1938, 91.93ff. Im Ergebnis ebenso Zahn 129; Schlatter 20. Anders Zahn 127ff: Jesus hat in der Regel die Bezeichnung Gott nicht vermieden! Vgl. auch H. Traub im Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, 521. βασιλεία τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn] hat allerdings im NT nur Mt (in Joh 3,5 wohl kaum ursprünglich). Vgl. K.L. Schmidt im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, 582; Zahn 123f.

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Aufspaltung des Jesajabuches in einen Proto-, Deutero- und Tritojesaja behauptet, war ihnen wie dem ganzen frühen Judentum und Christentum fremd. So wird eben 40,3 als der Prophet Jesaja zitiert. Mit den Worten Denn dieser ist es (οὗτος γάρ ἐστιν [houtos gar estin]) nimmt Matthäus eine ähnliche Identifizierung von Schriftankündigung und zeitgenössischem Ereignis vor, wie wir sie in der Pescher-Methode von Qumran antreffen.39 Die Formulierung durch den Propheten Jesaja stellt noch einmal sicher, dass Jesaja nur der Vermittler ist. Der wahre Urheber und Sprecher von Jes 40,3 bleibt Gott selbst. Die Formulierung von Jes 40,3 in Mt 3,3 entspricht wörtlich der LXX. Nur wird das τοῦ θεοῦ ἡμῶν [tou theou hēmōn] der LXX ersetzt durch das bedeutungsgleiche αὐτοῦ [autou].40 Ihrerseits entspricht die LXX weithin dem hebr. Text. Sie gibt das Tetragramm wie häufig durch κύριος [kyrios] wieder, ersetzt den Singular ‫[ ְמִס ָלּה‬mᵉs̀ illāh] durch den Plural τὰς τρίβους [tas tribous] und lässt ‫[ ָבֲּעָרָבה‬bāʿᵃrābāh] aus: nirgendwo entscheidende Veränderungen. Die wichtigste Änderung besteht darin, dass sie ἐν τῇ ἐρήμῳ [en tē erēmō] mit der φωνή [ phōnē] verbindet und damit schon den Ruf in die Wüste verlagert. Interessanterweise folgen alle Evangelien und auch der Täufer selbst der Textfassung der LXX. Mit Theodor Zahn sehen wir jedoch in dieser Textfassung der LXX „eine sachlich zulässige Änderung“,41 weil die entscheidenden Ereignisse eben auf die Wüste bezogen sind. Die hebr. Worte ‫[ קוֹל קוֵֹרא‬qōl qōreʾ] lassen sich doppelt übersetzen: a) Eine Stimme ruft, b) eine Stimme eines Rufers. Die LXX zieht b) vor. Der Täufer Johannes hielt sich ebenfalls an die Bedeutung b) und sah darin seine Berufung (Joh 1,23). Von ihm übernahm sie der Jünger und Evangelist Johannes, auch Jesus selbst mit den übrigen Evangelisten (vgl. Mt 11,7ff ). Inhaltlich geht es in Jes 40,3 um dreierlei: Erstens die Ankündigung der kommenden Heilszeit. Der Täufer war also in erster Linie Heilsprophet und nicht Gerichtsprophet, eben der Vorläufer Jesu. Zweitens die Prophetie, dass die Wüste wie in der Mosezeit erneut ein Ort des Heils und der Erlösung sein sollte. Drittens die Aufforderung an das Gottesvolk, sich ganz Gott zuzuwenden und sich für einen würdigen Empfang des kommenden Gottes und seines Heils bereit zu machen. Dies ist der Sinn der Worte Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Pfade eben!42 Zahn ist zuzustimmen, wenn er schreibt, 39 Vgl. 1QpHab und Carson 101. 40 αὐτοῦ [autou] ist u.E. auch in Mt 3,3 auf Gott den Herrn bezogen und nicht auf Jesus. Auf Jesus beziehen es allerdings viele Kommentare, auch France 91. 41 Zahn 131; ähnlich Carson 101f. Anders Beare 89f; Fiedler 72. 42 Nach BDR § 489,3; 492,6 ein synonymer Parallelismus.

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dass hier „die Menschen aufgefordert werden“, die Hindernisse für das kommende Heil zu beseitigen.43 Auch Irenäus hat Mt 3,3 so verstanden.44 Die große Rolle, die Jesaja für Matthäus spielte, ersieht man aus Mt 3,3; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14; 15,7 (vgl. Mk 7,6; Lk 4,17; Joh 12,38.39.41; Apg 28,25ff ). Auch Mt 3,3 sieht den Täufer hauptsächlich als Prediger und Lehrer. In V. 4 zeichnet Matthäus mit wenigen Strichen ein Bild des Täufers. Er hält sich dabei an zwei wesentliche Grundprofile menschlicher Existenz im AT und NT: Kleidung und Nahrung (vgl. Prov 30,8; Mt 6,25; 1Tim 6,8). Das Gewand des Johannes war aus Kamelhaaren gefertigt. Gewand, ἔνδυμα [endyma], ist die von außen her sichtbare Kleidung, vor allem das Obergewand. „Das Kamel ist als ältestes Reittier und gebräuchliches Lasttier … in Vorderasien bekannt.“45 Kamelhaare konnte man zur Herstellung von Kleidern verwenden und hatte dann „ein hartes und billiges Kleidungsstück“46, oft als „härenes“ Kleidungsstück bezeichnet. Ein solch einfaches „härenes“ Gewand galt als typische Prophetentracht (Jes 20,2; Sach 13,4).47 Ferner trug Johannes einen ledernen Gürtel um seine Hüfte. Damit erinnert er ebenso wie mit dem härenen Gewand an Elia (2Kön 1,8). Seine Nahrung aber bestand aus Heuschrecken und wildem Honig. Sie war also nach den alttestamentlichen Speisegesetzen erlaubt (Lev 11,21f ). Außerdem handelt es sich um typische „Wüstennahrung“.48 Bis heute sind Heuschrecken in manchen Gegenden ein beliebtes Nahrungsmittel.49 Zum Honig als Nahrungsmittel vgl. Ri 14,8ff.18; 1Sam 14,25f; Ps 81,17; Prov 24,13; Jes 7,15. In Kleidung und Nahrung gibt uns Johannes ein Beispiel der „biblischen Bedürfnislosigkeit und Zucht“.50 Nach Mt 11,18; Lk 7,33 aß er kein Brot und trank keinen Wein. Mit diesen Zügen erinnert er nicht nur an die früheren Propheten, sondern auch an die Gottgeweihten (Nasiräer) des Alten Bundes (vgl Num 6,1ff; Ri 13,6ff; Am 2,11f ). Demnach war Johannes beides: Prophet und Gottgeweihter.51 Aber mehr noch: Die Parallelen zu Elia weisen darauf hin, dass er auch der wiederkehrende Elia nach Mal 3,23f war. Wie Elia (vgl. 1Kön 17,2ff ) wirkte Johannes in der Jordangegend. Wie Elia trug er den ledernen Gürtel. Wie Elia rief er das ganze Volk zur Umkehr (vgl. 1Kön 18,21ff ). 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Zahn 130; Schlatter 21. Irenäus Adv. haer. III, 9,1. O. Michel, Art. κάμηλος, ThWNT, III, 1938, 597. Michel a.a.O. Vgl. wieder Michel a.a.O. Michel a.a.O. Bauer-Aland, 64. Michel a.a.O. Zahn 134.

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Johannes hat sogar ausdrücklich den Auftrag bekommen, „die Herzen der Völker zu den Kindern und die Ungehorsamen zu der Klugheit der Gerechten zu bekehren“ (Lk 1,17), was nach Mal 3,24 der Auftrag des wiederkehrenden Elia sein sollte. Ja, die Botschaft des Engels an seinen Vater Zacharias lautet: Er wird vor Jesus „hergehen im Geist und in der Kraft Elias“ (Lk 1,17; vgl. 1,76). Lk 1,17 stellt zugleich klar, dass es nicht um eine Art Totenauferstehung geht, sondern um eine Geistesnachfolge: „im Geist und in der Kraft Elias“. Vermutlich hat Johannes in Joh 1,21 nur deshalb mit Nein geantwortet, weil er das Missverständnis einer leiblichen Wiederkehr des Elia, einer Art Totenauferstehung, ausschließen wollte.52 In absoluter Klarheit hat jedenfalls Jesus über Johannes Bilanz gezogen: „er ist Elia, der da kommen soll“ (Mt 11,14; vgl. 17,10ff; Sir 48,10). Wir können hinzufügen: Johannes wusste das und wollte den Auftrag Elias übernehmen, sonst hätte er sich nicht bewusst so gekleidet und verhalten.53 Die Verse 5 und 6 berichten über das Echo, das der Täufer fand: Da ging zu ihm hinaus Jerusalem und ganz Judäa und die ganze Jordangegend … Ebenso gut lässt sich übersetzen: „Damals (τότε [tote]) ging zu ihm hinaus“.54 Erstaunlich, dass man zu ihm hinausging in die Wüste! Darin liegt eine Parallele zur Jesusgeschichte: Auch zu Jesus ging man hinaus ins Bergland oder an den See (Mt 5,11f; 13,1ff ). Die Predigt in der Wüste hatte einen Vorteil: Sie schied schon im Vorfeld die wahrhaft Interessierten, die den Weg nicht scheuten, von den nur oberflächlich Interessierten, die keine Strapazen auf sich nahmen. Im Übrigen zeigt sich gerade an dieser Stelle, was heute jeder Reiseleiter in Israel betont: Die judäische Wüste ist in der Regel eine Landschaft, in deren Tälern und Eintiefungen immer wieder spärlicher Pflanzenwuchs gedeiht, sodass man sie weithin als Weideland (midbar bzw. Steppe) betrachten kann (vgl. Ex 3,1ff; Lk 2,8ff; 15,3ff ). Matthäus erwähnt drei Bereiche, aus denen die Menschen kamen: a) Jerusalem. Das deutet darauf hin, dass sich der Täufer damals am unteren Jordan aufhielt, etwa im weiteren Umkreis von Jericho. Dort hielt sich auch Elia einige Zeit auf (am Krit, 1Kön 17,2ff ). Wie Elia ist er vermutlich östlich des Jordan gewesen (vgl. Joh 1,28). Dass Jerusalemer kamen, war nicht selbstverständlich.55 Jerusalem galt als hochmütig und zumindest teilweise als prophetenfeindlich (Mt 23,37; Lk 13,33). b) Ganz Judäa: Eben die Bewohner Judäas. Matthäus wird vor allem an das Gebiet des römischen Prokurators denken, das früher Archelaus gehör52 53 54 55

Zahn 132; Michel a.a.O. Zahn 131ff. So z.B. Bauer-Aland, 1642. Mk 1,5 spricht von „allen Jerusalemern“, doch Mt formuliert zurückhaltender.

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te (2,22), aber man darf den Begriff nicht zu sehr einengen (vgl. Mt 3,1). Im Jüngerkreis Jesu war zum Beispiel Judas Iskariot Judäer, wenn „Iskariot“ so viel bedeutet wie „Mann aus Kerijot“ (‫[ ְקִריּוֹת‬qᵉrījjōt], Jos 15,25). Auch die Erwähnung von Judäa lässt eher an den unteren Jordan denken. c) Die ganze Jordangegend (πᾶσα ἡ περίχωρος τοῦ Ἰορδάνου [ pasa hē perichōros tou Iordanou]). Wörtlich heißt es hier: „das ganze Land (oder: die ganze Gegend) um den Jordan herum“.56 Das schließt offensichtlich Peräa mit ein, das von Herodes Antipas regiert wurde, evtl. sogar Teile der Dekapolis (vgl. Mt 4,25). In der Geschichte Israels haben diese Landstriche immer wieder eine Rolle gespielt (vgl. Gen 13,10ff; 19,17; 1Kön 7,46; 2Chron 4,17; Num 21–25, 31– 34).57 Mt 3,5 zeigt, welch große Bewegung der Täufer im damaligen Israel hervorrief. Josephus bestätigt dabei die Nachrichten der Evangelien.58 V. 6 nimmt uns unmittelbar in das Taufgeschehen hinein: und sie wurden von ihm im Fluss Jordan getauft, wobei sie ihre Sünden bekannten. Das Imperfekt ἐβαπτίζοντο [ebaptizonto] kann ebenso wie das vorausgehende ἐξεπορεύετο [exeporeueto] iterative Bedeutung haben: „sie wurden immer wieder getauft“, oder auch durative Bedeutung: „sie wurden fortwährend getauft“.59 βαπτίζειν [baptizein], hebr. ‫[ ָטַבל‬thābal], bedeutet „eintauchen“, „untertauchen“.60 Das AT kennt Waschungen, die man an sich selbst vollzieht, um die Reinheit nach dem Gesetz herzustellen (vgl. Jes 1,16). Gemeinschaften wie die qumranische haben diese Reinigungspraxis verstärkt. Aber selbst die Proselytentaufe musste vom Täufling selbst vollzogen werden.61 Völlig anders bei Johannes: Die Betreffenden wurden von ihm getauft, das heißt im Fluss Jordan untergetaucht. Der Jordan, ‫ [ י ְַר ֵדּן‬jarden], Ἰορδάνης [Iordanēs], entspringt am Hermon, fließt durch den See Genezareth und mündet ins Tote Meer. Er ist das einzige Gewässer im Israelland, das mit Recht als Fluss bezeichnet werden kann.62 Wenn Karl Heinrich Rengstorf betont, dass das Jordan-Wasser im Judentum keine besondere rituelle Qualität gehabt habe,63 dann muss andererseits betont werden, dass Johannes nicht in einer ritualistischen, sondern in einer prophetischen Tradition steht. Der Jordan ist für ihn zunächst die Gegend, in der Elia lebte und wirkte. Er hat seine Bedeutung 56 57 58 59 60 61 62 63

Vgl. H. Riesenfeld, Art. περί, ThWNT, VI, 1959, 55; BDR § 241,2. Vgl. Zahn 134. Ant XVIII, 116ff. Vgl. BDR § 325 und 327. Bauer-Aland, 265; A. Oepke, Art. βάπτω usw., ThWNT, I, 1933, 527. Oepke a.a.O. 535.544. Vgl. hier und im Folgenden K.H. Rengstorf, Art. Ἰορδάνης, ThWNT, VI, 1959, 608ff. A.a.O. 610ff.

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ferner durch die Geschichte des Propheten Elisa, der dem Naaman die Anweisung gab, sich siebenmal im Jordan unterzutauchen, um wieder heil und rein zu werden (2Kön 5,10ff.14: ‫[ טבל‬thbl]). Aber gerade das Beispiel Naamans weist noch einmal auf den grundlegenden Unterschied zwischen dem alttestamentlichen Untertauchen und der eschatologischen Taufe des Johannes hin: Ersteres musste auch Naaman selbst vollziehen, Letztere vollzog Johannes. Sehr wahrscheinlich leiteten ihn dabei eschatologische prophetische Ankündigungen wie Ez 36,25; Sach 13,1, aber auch Stellen wie Ps 51,4ff. Demnach verstand sich Johannes als ein Werkzeug des lebendigen Gottes, der im Grunde selbst die Taufe vornahm (vgl. Ps 130,4). Dass mit dem Jordan genügend Wasser zur Verfügung stand, mag ein praktischer Grund für die Taufe dort gewesen sein. Angewiesen im strengen Sinn war aber Johannes auf das Jordanwasser nicht (vgl. Joh 3,23).64 Eine Art „Jordankult“ konnte also im rechtgläubigen Christentum nicht entstehen.65 Nun zieht ein zweiter Punkt in V. 6 die Aufmerksamkeit auf sich: wobei sie ihre Sünden bekannten (ἐξομολογούμενοι τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν [exomologoumenoi tas hamartias autōn]). Natürlich ging das Sündenbekenntnis zeitlich dem Untertauchen voran.66 ἐξομολογεῖσθαι [exomologeisthai] bedeutet im Medium „offen eingestehen“, „zugestehen“.67 Nach Otto Michel meint es in Mt 3,6 das „öffentliche Sündenbekenntnis“,68 und zwar „als Antwort auf die Frage des Täufers“.69 Evtl. fungierten die Täuferjünger als Zeugen beim Sündenbekenntnis und beim Taufakt. Wie groß der Kreis derer war, die ein solch öffentliches Sündenbekenntnis hörten, können wir nicht mehr sagen. So viel aber ist deutlich: Auch bei sich bewusst als Israeliten verstehenden Menschen gab es keine Umkehr ohne Bekenntnis und Bereinigung der Sünde. Insofern war die Johannestaufe wirklich eine „Taufe der Umkehr (Buße) zur Vergebung der Sünden“ (Mk 1,4; Lk 3,3; Apg 13,24). Sie bedeutete die wirksame Abwaschung und Vergebung der bekannten Sünden.70 Insgesamt kann man sagen: Die Johannestaufe war nach Gottes Willen eine Vorbereitung auf den kommenden Messias, getragen von der Überzeugung, dass jetzt die messianische Zeit anbrach.71 64 65 66 67 68 69 70 71

Rengstorf a.a.O. 615f. Anders in Randgruppen und nichtchristlichen Gruppen, vgl. Rengstorf a.a.O. 616ff. Carson 102. Vgl. O. Michel, Art. ὁμολογέω usw., ThWNT, V, 1954, 199f. Michel a.a.O. 215; vgl. Carson a.a.O. Michel a.a.O. 211. Luz I 146f; Zahn 134f; Schlatter 23; Carson 102. Wie schwer sich die Ausleger mit dem Vorgang der Johannestaufe tun, sieht man bei Beare 91f.

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In gewisser Weise bilden die Waschungen vor dem Bundesschluss am Sinai (Ex 19,10ff ) eine Parallele zur Sündenabwaschung am Jordan, die vor der Errichtung des Neuen Bundes erfolgt. Ein bewegender Abschnitt sind die Verse 7-10. Schlatter sieht hier Johannes in einem „schweren Kampf “ mit den damaligen Führern Israels.72 Aber ob die Bezeichnung „Kampf “ wirklich zutrifft? Irenäus ist offenbar dichter am Text und den Motiven des Täufers, wenn er schreibt, dieser habe die Führer Israels „von ihrer Bosheit bekehren“ und zur Buße leiten wollen.73 Wir sehen hier hinein in ein prophetisches Ringen um die Herzen, wie es in Mal 3,24 geweissagt war. Als er aber viele von den Pharisäern und Sadduzäern zu seiner Taufe kommen sah (V. 7): sein (αὐτοῦ [autou]) ist relativ schwach bezeugt, viele lassen es bei der Übersetzung aus.74 Unstrittig aber ist das viele bei den Pharisäern und Sadduzäern. Die ὄχλοι [ochloi] („Volksmengen“) bei Lk 3,7 unterstützen diese Angabe. Schlatter möchte zwei Phasen unterscheiden. Zuerst, als einzelne Pharisäer oder Sadduzäer kamen, habe Johannes sich gefreut. Später aber, „als es Brauch wurde, daß auch die Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe gingen, da wurde es ihm bange“,75 und er ging zur Gerichtspredigt über. Aber Matthäus gibt ein solches Bild nicht her. Er lässt uns nicht in Details hineinblicken. Was er in V. 7-12 berichtet, sind inhaltliche Zentralsätze aus der Täuferpredigt, keine chronologischen Etappen.76 Die Pharisäer, griech. Φαρισαῖοι [Pharisaioi], hebr. ‫שׁים‬ ִ ‫ [ ְפּרוּ‬pᵉrūschīm] („Abgesonderte“), sind wohl aus der Bewegung der „Chasidim“, der Frommen der Makkabäerzeit (1Makk 2,42; 7,12f ), hervorgegangen, also aus einer Bewegung der ersten Hälfte des 2. Jh. v.Chr. Unter der makkabäischen (hasmonäischen) Königin Alexandra (76–67 v.Chr.) wurden sie zur führenden Gruppe der Judenschaft. Auch in neutestamentlicher Zeit nennt sie Josephus „die erste Religionsgemeinschaft“ (ἡ πρώτη αἵρεσις [hē prōtē hairesis]) der Juden.77 Ihre Merkmale waren verschärfte Reinheitsvorschriften (vgl. Mk 7,1ff ), das Leben in Genossenschaften als Chaberim, ihre eschatologische und messianische Erwartung (vgl. Apg 23,6ff; Ps Sal 17 und 18) und vor allem ihre intensive und sorgfältige Geset72 Schlatter 23. 73 Irenäus Adv. haer. III, 9,1. 74 So Einheitsübersetzung; Neue Jerusalemer Bibel; France 92; Schniewind 21; Schlatter 24. 75 Schlatter 24. 76 Die Behauptung, dass Matthäus hier „Pharisäer und Sadduzäer“ in einen Topf werfe (Fiedler 75; Luz I 148), lässt sich nun aus dem Matthäusevangelium wirklich nicht begründen. 77 B. J. II, 162. Vgl. Maier Mensch und freier Wille 264ff.

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zesauslegung. Josephus lobt ausdrücklich ihre „gewissenhafte Gesetzesauslegung“ (οἱ μετὰ ἀκριβείας δοκοῦντες ἐξηγεῖσθαι τὰ νόμιμα [hoi meta akribeias dokountes exēgeisthai ta nomima]).78 Man kann nicht pauschal sagen, dass Jesus „die P. gegen sich“ hatte.79 Im Gegenteil: Die Pharisäer standen ihm von allen jüdischen Religionsparteien am nächsten (Mt 23,2ff ), und viele schlossen sich ihm und der urchristlichen Gemeinde an (Mt 9,28ff; Joh 3,1ff; Apg 15,5). Über die Sadduzäer wissen wir relativ wenig. Es fällt auf, dass die Priester in den Qumranschriften, die ‫[ ְבּנֵי ָצדוֹק‬bᵉnē zādōq], denselben Namen tragen wie die Σαδδουκαῖοι [Saddoukaioi] („Sadduzäer“) des NT. Im Kern handelt es sich um eine priesterliche, aristokratische und grundsätzlich wertkonservative Gruppe. Man datiert ihre Entstehung ebenfalls in die erste Hälfte des 2. Jh. v.Chr.80 Bis König Alexander Jannai (104–76 v.Chr.) hatten sie die religiöse Führung in der Judenschaft. Aber noch zur Zeit Jesu rechneten sich die Hohepriester zur sadduzäischen Richtung, die deshalb großen Einfluss besaß. Josephus charakterisiert sie als „zweite (= zweitwichtigste) Gruppierung (τὸ δεύτερον τάγμα [to deuteron tagma])“81 und als wesentlich volksfremder als die Pharisäer.82 Doch wurden offenbar auch zahlreiche Sadduzäer Christen (Apg 6,7). Es ist bemerkenswert, dass aus beiden Gruppierungen, aus den Pharisäern wie aus den Sadduzäern, viele zur Johannes-Taufe kamen. Es erforderte Mut, einen solchen Schritt zu tun. Denn er schloss ja ein öffentliches Sündenbekenntnis ein und bedeutete gleichzeitig die Anerkennung des göttlichen Auftrags, den Johannes hatte.83 Später allerdings distanzierte sich eine Mehrheit jüdischer Führer von Johannes (Mt 21,24ff ). Vielleicht kann man aus Mt 3,7 auch schließen, dass sich Johannes keiner der bestehenden jüdischen Gruppierungen zurechnete und deshalb bei allen ein Echo finden konnte. Jedoch werden auffallenderweise die Essener nicht erwähnt.84 Die Anrede Ihr Schlangenbrut (γεννήματα ἐχιδνῶν [gennēmata echidnōn]) erschreckt. Wörtlich heißt es: Ihr von Giftschlangen (Vipern) Erzeug78 B. J. II, 162. 79 Gegen D. Schneider, Art. Pharisäer, GBL, 3, 1191. 80 W. Rebell, Art. Sadduzäer, GBL, 2, 1316. Vgl. wieder Maier Mensch und freier Wille 116ff. 81 B. J. II, 163. 82 B. J. II, 166. 83 Die Deutung von βάπτισμα [baptisma] auf den „Taufplatz“ statt auf das Taufgeschehen leuchtet uns nicht so richtig ein. Gegen Carson 103. 84 Dass Johannes seinen Gerichtsruf auf Pharisäer und Sadduzäer „beschränke“, wie Luz I 147 schreibt, ist ein nicht nachvollziehbares Missverständnis.

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ten.85 Biblisch wird das Wesen durch die Herkunft bestimmt. Was also von giftigen Schlangen erzeugt ist, ist selbst wieder böse und Verderben bringend. Entgegen Werner Foerster86 wird man eine gedankliche Assoziation an die Schlange im Paradies anzunehmen haben. Der Plural ἔχιδναι [echidnai] steht ähnlich dem Plural für Abstrakta87 für das Grundwesen „Schlange“. Irenäus hat den Zielpunkt der Aussage gut erfasst, wenn er sie auf den „boshaften Sinn“ der Pharisäer und Sadduzäer bezieht.88 Ein Blick ins NT zeigt, dass γεννήματα ἐχιδνῶν [gennēmata echidnōn] nicht nur beim Täufer in Mt 3,7 und Lk 3,7 begegnet, sondern auch im Munde Jesu in Mt 12,34 und 23,33. Ja, wir beobachten über das NT hinaus einen ähnlichen Sprachgebrauch. So sollen die Leviten nach der Gemeinderegel in Qumran „alle Männer des Loses Belials“ (= Satans) verfluchen.89 Mehrfach ist in Qumran von „Söhnen Belials“ = Söhnen des Teufels die Rede.90 Wenn Jesus seinen Gegnern in Joh 8,44 vorwirft: „Ihr habt den Teufel zum Vater“, oder wenn in Offb 2,9; 3,9 von der „Synagoge des Satans“ die Rede ist, gehört dies in denselben Sprachkreis, der im damaligen Judentum relativ häufig war (vgl. Apg 13,10; 1Joh 3,8.10).91 Peter Stuhlmacher bezeichnet dies mit Recht als „frühjüdisch-prophetische Manier“.92 Der Täufer tat also an dieser Stelle nichts Unschickliches oder Ungewöhnliches. Im Übrigen sollte man beachten, dass der Ausdruck Schlangenbrut den entscheidenden Einfluss des Bösen bezeichnet und keineswegs eine Bekehrung ausschließt. Im Gegenteil: Der Täufer will gerade eine Bekehrung der Betreffenden erreichen. Bisher aber stehen die pharisäischen und sadduzäischen Taufbewerber unter dem dominierenden Einfluss der Schlange (Gen 3,1ff ) = des Satans. Wer hat euch angeleitet, dem kommenden Zorn zu entfliehen? bedeutet: Im jetzigen Zustand können sie dem Gericht Gottes nicht entkommen. ὑποδείκνυμι [hypodeiknymi] heißt „zeigen“ oder „Weisung geben“,93 wir versuchten, beide Elemente durch die Übersetzung anleiten aufzunehmen. Zorn, 85 Vgl. F. Büchsel, Art. γεννάω usw., ThWNT, I, 1933, 671; W. Foerster, Art. ἔχιδνα, ThWNT, II, 1935, 815. 86 Foerster a.a.O. Wie wir aber Zahn 136. 87 Vgl. BDR § 142. 88 Adv. haer. III, 9,1 bei der „Schlange“ werden auch andere Erklärungen vorgetragen. So denkt Nolland 47 an eine Schlange, die vor dem Buschfeuer flieht; Schniewind 23 an die Falschheit der Schlange. 89 1QS II, 4f. 90 4Q174, II, 8; 286, 7, II, 6; 386, 1, I, 3; 11Q11, V, 3. 91 Für die Rabbinica vgl. W. Foerster, Art. Βελίαρ, ThWNT, I, 1933, 606. 92 Stuhlmacher II 210; ähnlich Carson 103. Mit „Antisemitismus“ hat dies also nichts zu tun. 93 Vgl. BDR § 392,8; Bauer-Aland, 1682.

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ὀργή [orgē], verdeutlicht durch μελλούση [mellousē], kommend oder „zukünftig“, meint die Verurteilung der Sünder, der Gottlosen und Gottesfeinde im Endgericht Gottes.94 Dass es ein solches Endgericht gibt, steht für alle, den Täufer, die Pharisäer und die Sadduzäer, fest. Und auch für das Gottesbild im NT stellt Gustav Stählin mit Recht fest, dass der Zorn Gottes ebenso wie seine Liebe „ein wesentlicher und unaufgebbarer Zug im … Gottesbild“ bleibt.95 Hier herrscht eine Kontinuität „im NT wie im AT, bei Jesus wie bei den Propheten, bei den Aposteln wie bei den Rabbinen“.96 Man darf also den kommenden Zorn in Mt 3,7 nicht auf das Konto eines alttestamentlichen oder überholten Gottesbildes des Täufers setzen und einen künstlichen Gegensatz zu Jesus und zum NT konstruieren. Mit γεννήματα ἐχιδνῶν [gennēmata echidnōn] in Mt 3,7 beginnt im Übrigen eine bis zum Ende von Mt 3,10 reichende Textpassage, in der Lukas (3,79) und Matthäus eine fast hundertprozentige wörtliche Übereinstimmung aufweisen. Bei Markus fehlt diese Passage. Mit anderen Worten: Hier gibt es keinerlei Bestätigung für die These, dass Matthäus und Lukas den Markus benutzt hätten. V. 8 sagt in kürzester Form, wie die wahre Umkehr aussieht: Bringt also Frucht,97 die der Umkehr würdig ist! Das heißt: Vollzieht eure Umkehr nicht nur in Gedanken – was einem griechisch Denkenden naheläge (1Kor 1,22) –, sondern als tatsächliche Lebensumkehr in Werk und Wesen. Es ist interessant, dass Johannes hier von Frucht spricht, geradeso wie es Jesus, Paulus und Jakobus getan haben (vgl. Mt 7,16ff; 12,33; 21,33ff; Lk 13,6ff; Joh 4,36; 15,1ff; Gal 5,22; Jak 3,17; 5,7.18). Qumran spricht hier von „Werken“ oder „Taten“ (‫[ ַמֲע ִשׂים‬maʿᵃśīm]),98 aber auch von „Weg/Wegen“ (‫ֶדֶּרְך‬ [däräk]).99 Bei den Propheten spielen alle drei Ausdrucksweisen eine Rolle: „Frucht“, „Weg“ und „Werk“ (Jes 3,10; 32,17; Jer 17,10; 21,14; Jes 30,21; 53,6; 55,7f; Jer 5,4; 7,23). Allerdings steht bei der Frucht im Vordergrund, dass sie fast selbstverständlich aus der Wesensverfassung, aus der ganzheitlichen Existenz des Menschen fließt. So auch in Mt 3,8. Aus den Früchten kann man deshalb auf die Umkehr schließen. Frucht, die der Umkehr würdig (= angemessen100) ist, stellt also so etwas wie eine Echtheitsprobe der 94 95 96 97 98 99 100

Vgl. G. Stählin, im Art. ὀργή usw., ThWNT, V, 1954, 422ff, besonders 431. Stählin a.a.O. 424. Stählin a.a.O. 425f. Der Plural in Lk 3,8 ergibt sachlich keinen Unterschied. 1QS II, 5ff; III, 25. 1QS III, 10.20f. W. Foerster, Art. ἄξιος usw., ThWNT, I, 1933, 378f; Mello 87.

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Umkehr dar.101 Sie kann in allen möglichen Lebensäußerungen eines Menschen bestehen. Dahinter taucht jedoch die schwere Frage auf: Wie kann ein Mensch gute Früchte bringen,102 wenn sein Wesen unverändert böse und noch nicht durch Wiedergeburt verwandelt ist (vgl. Mt 12,33ff )? Aber eines konnte Johannes doch in seinen Hörern und Täuflingen erwecken: die Sehnsucht nach der guten Frucht! V. 9 warnt vor einem falschen Fluchtweg, auf dem Pharisäer und Sadduzäer dem endzeitlichen Gericht Gottes zu entfliehen versuchen könnten: Und glaubt nicht, dass ihr denken könntet: Wir haben Abraham zum Vater (πατέρα ἔχομεν τὸν Ἀβραάμ [ patera echomen ton Abraam]). Auch Mt 3,9 hat mehrere Dimensionen. Vor allem muss man hier aufpassen, dass man nicht in antijudaistische Erklärungsmuster hineingerät. δοκεῖν [dokein] ist ein Lieblingswort des Matthäus. In Mt 3,9 bedeutet es glauben, „meinen“,103 und gibt eine reale Überzeugung wieder. G. Kittels Vorschlag, es in Mt 3,9 mit „habt nicht Neigung“ zu übersetzen,104 ist unnötig.105 Sehr wahrscheinlich kennt Johannes die Theologie der Pharisäer und Sadduzäer gut genug, um gerade diesen Satz aufzugreifen. Auf jeden Fall widerlegt Mt 3,9 die Auffassung, dass die Pharisäer und Sadduzäer sich keineswegs taufen lassen wollten, sondern nur zur „critical observation“ („kritischen Beobachtung“) gekommen wären.106 In der Berufung auf ‫[ אְַבָרָהם ָאִבינוּ‬ʾabrāhām ʾābīnū], Abraham unser Vater, sind sich Pharisäer und Sadduzäer, ja die gesamte Judenschaft einig107 (vgl. Ps Sal 9,17; 3Makk 6,3). Weder Johannes noch Jesus noch das übrige NT denken auch nur von ferne daran, das Privileg der Abrahamskindschaft Israels gering zu achten oder herabzusetzen.108 Der moderne Begriff der „abrahamitischen Religionen“ wäre bei ihnen auf völliges Unverständnis gestoßen. Es geht bei Johannes nur darum, dass die Berufung auf den Vater Abraham den Sünder im Endgericht nicht vor Strafe schützen kann. Gundry hat es sehr schön formuliert: Nicht das „privilege“ wird verneint, sondern die „immunity“.109 Zur Wertschätzung Abrahams durch Matthäus vgl. Mt 1,1, 101 F. Hauck, Art. καρπός usw., ThWNT, III, 1938, 618. Allerdings will er hier „Früchte“ als „Taten“ verstehen, was zu einer Engführung beiträgt. Vgl. Bauer-Aland, 155. 102 Wörtlich „machen“. 103 Bauer-Aland, 405; BDR § 397,5. 104 Im Art. δοκέω usw., ThWNT, II, 1935, 235. 105 Gegen BDR § 336,4; 392,2. Zahn 137 jedoch ähnlich: „Laßt euch nicht einfallen“. 106 Gegen Nolland 46. Wie wir Zahn 135. 107 Vgl. J. Jeremias, Art. Ἀβραάμ, ThWNT, I, 1933, 7ff; G. Schrenk im Art. πατήρ usw., ThWNT, V, 1954, 976.1003; Justinus Dial c Tryph 140. 108 Jeremias a.a.O. 8; Gundry 144. 109 Gundry a.a.O. Vgl. Jeremias a.a.O.

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zur Wertschätzung durch Jesus vgl. Mt 8,11; 22,32; Lk 13,16; 16,24ff; 19,9; Joh 8,33ff. Vgl. noch Röm 4,16f; 9,5f; Gal 3,6ff; 2Kor 11,22.110 Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken, V. 9. Das ist typisch prophetisch-zugespitzte Sprache. Bei diesen Steinen (auch Lk 3,8) hat Johannes evtl. auf die dort herumliegenden Steine oder die dortigen Felsformationen gedeutet. Hebräisch scheint ein Wortspiel vorzuliegen: ‫[ ָבּנִים‬bānīm] – ‫[ ֲאָבנִים‬ʾᵃbānīm], Steine – Kinder.111 Es stehen sich hier zwei theologische Argumentationsreihen gegenüber. Die von Johannes angegriffene Argumentation geht davon aus, dass Abraham von Gott erwählt ist und seine Nachkommen in einen ewigen Bund aufgenommen sind (Gen 17,1ff ). Folglich schont Gott Israel und seine Führer im Gericht um dieses Bundes mit Abraham willen.112 Johannes dagegen sieht jeden Sünder, der nicht umkehrt, im Gericht Gottes als verloren an, auch wenn es sich um einen Nachkommen Abrahams handelt und am Ende ganz Israel verloren wäre. Denn Gott ist nicht auf die fleischliche Nachkommenschaft angewiesen, sondern kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken. Die Parallele zur Argumentation Jesu (Joh 8,31ff ) und des Paulus (Röm 2,17ff; 4,13ff; Gal 3,6ff ) ist dabei unübersehbar. Johannes stimmt hier aber auch mit den alttestamentlichen Propheten überein (Jes 1,10ff; Jer 7,1ff; Ez 18,19ff; 33,10ff ). Wenn Gott dem Abraham sogar aus Steinen Kinder erwecken kann, könnte die unfruchtbare Sara als Anschauungsbeispiel gedient haben (vgl. Gen 16–21; Jes 51,2). Gegen Nolland113 ist beim Täufer kein „bitter sarcasm“ am Werk, sondern das eindringliche Mühen um die Führer Israels. Seine Art erinnert des Öfteren an Hesekiel (vgl. Ez 8,1ff; 14,1ff; 20,1ff ).114 Es wäre fatal, wenn die heutige Christenheit auf die damaligen Führer Israels, Pharisäer und Sadduzäer, herabsehen würde. Behaupten nicht manche, die Taufe genüge, um uns vor dem kommenden Zorn zu retten? Oder die Kirchenzugehörigkeit? Schlimmer noch ist es, wenn Christen das kommende Gericht überhaupt leugnen. Demgegenüber hatte die Argumentation der Pharisäer und Sadduzäer doch den besseren Anhalt an der Bibel.

110 111 112 113 114

Vgl. Schrenk a.a.O. 1006. Gundry 145; Nolland 47; Carson 103. Vgl. Carson a.a.O. Gundry a.a.O. Eine Einschränkung künftiger Abrahamskinder sollte man nicht vertreten, weder auf Heiden (gegen Zahn 138) noch auf Israeliten.

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Schließlich sei noch bemerkt, dass der Täufer in Mt 3,9 den Abrahamsbund als solchen keineswegs aufhebt. Dieser Bund bleibt in Kraft, darf aber nicht dazu missbraucht werden, die Umkehr abzulehnen.115 In V. 10 unterstreicht Johannes die Dringlichkeit116 der Umkehr durch den Hinweis auf das nahende Gericht: Es ist schon die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt. Lk 3,9 sagt wörtlich dasselbe. Das Bild hat eine große Schärfe. Es setzt den biblischen Vergleich voraus, demzufolge Israel mit einer Pflanze verglichen wird (Jes 5,1ff; Ps 80,9ff; Ez 17,1ff; Mal 3,19).117 Das frühe Judentum hat diesen Vergleich aufgenommen.118 Die Axt erinnert an Jes 10,34f, wonach Gott seine Feinde „mit dem Eisen“ umhauen wird.119 Noch enger ist Mt 3,10 mit Mal 3,19 verbunden.120 Dort werden alle Gottlosen dem Feuer des Gerichts überantwortet, und Gott „wird ihnen weder Wurzel noch Zweig lassen“. Wem sogar die Wurzel herausgeschlagen wird, ist endgültig erledigt, hat keine Hoffnung auf Wiedererstehung mehr. Fazit: Johannes sieht Gottes Gericht nahen. Schon ist die göttliche Axt an die Wurzel der Bäume = der gottlosen Israeliten gelegt, das heißt, sie kann jeden Augenblick die Wurzel treffen. Damit aber wäre jede Hoffnung für die Gottlosen dahin. Eine Auslegung in diesem biblischen Kontext macht es unmöglich, Mt 3,10 auf die Pharisäer und Sadduzäer von V. 7 zu beschränken. Nein, Christian Maurer behält recht mit seiner Auslegung von Mt 3,10: „Es geht um Israel als Ganzes, dem hier das Gericht des völligen Unterganges angedroht wird, wenn es nicht Buße tut.“121 Die Fortsetzung in V. 10 bestätigt diese Auslegung: Jeder Baum nun, der nicht gute Frucht bringt, wird herausgehauen und ins Feuer geworfen. Wieder stimmt Lk 3,9 wörtlich damit überein. Jeder Baum besagt: jeder Israelit. Vgl. Mt 7,17ff; 12,33ff; Lk 13,6ff; Joh 15,1ff. Die gute Frucht ist die ganze Hinkehr zu Gott. Zu herausgehauen (ἐκκόπτεται [ekkoptetai])122 vgl. Mal 3,19; Mt 7,19; Lk 13,9; Joh 15,6. Der Jesus der Bergpredigt sagt in Mt 7,19 dasselbe wie der Täufer in Mt 3,10. Beide stehen also in einer Art 115 Wenn Fiedler 78 doch wieder auf die „physische Abrahams-Nachkommenschaft“ abstellt, fällt er weit hinter den Täufer und die Propheten zurück und widerspricht dem Text von Mt 3,9 in schärfster Weise. 116 Sowohl sachlich als auch zeitlich (Zahn 138: „daß die Forderung von V. 8 keinen Aufschub leide“). 117 Vgl. C. Maurer, Art. ῥίζα usw., ThWNT, VI, 1959, 985f; Nolland 46; Gundry 145. 118 Vgl. Maurer a.a.O. 987f. 119 Maurer a.a.O. 988, 19. Vgl. Strack-Billerbeck I 121. 120 Vgl. Maurer a.a.O. 986.988. 121 Maurer a.a.O. 988. 122 „Fällen“ ist hier zu wenig (gegen Bauer-Aland, 487). Vgl. G. Stählin im Art. κοπετός usw., ThWNT, II, 1938, 858. Nach Nolland 47 handelt es sich um futurisches Präsens.

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prophetischer Sukzession. Zum Feuer als dem eschatologischen Gericht123 vgl. wieder Mt 7,19; Mk 9,43ff; Joh 15,6. Der Sinn der Täuferpredigt an dieser Stelle ist also klar: Wer die Umkehr verweigert, geht „der unwiderruflichen Überlieferung ins Verderben“ entgegen.124 Offenbar ist V. 10 schon eine Art Überleitung zu den Versen 11 und 12. Denn das Stichwort vom Feuer (V. 10) setzt sich in V. 11 und 12 fort, und auch das Bild vom Baum und von der Frucht findet in den Bildworten von der Tenne, vom Weizen und der Scheune seine Fortsetzung. Steht es so, dann sieht Johannes mit dem Kommen des Messias die Gerichtszeit anbrechen. Doch hören wir genauer auf seine Worte: Ich zwar taufe euch mit Wasser zur Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich. Ich bin es nicht einmal wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Der wird euch mit Heiligem Geist und mit Feuer taufen (V. 11). Zuerst gibt Johannes eine sehr nüchterne und bescheidene Einschätzung seiner Rolle. Ja, er ist ein Täufer (Ἐγὼ μὲν ὑμᾶς βαπτίζω [Egō men hymas baptizō], wie Lk 3,16). Aber er tauft lediglich mit Wasser. Ähnlich argumentiert Paulus nach Apg 19,4, Petrus nach Apg 11,16 und vor allem der auferstandene Jesus nach Apg 1,5. Und in Joh 1,26 legt Johannes dasselbe Zeugnis ab. Mit Wasser: Das ist nach Ez 36,25; Sach 13,1 nicht wenig. Doch das Ziel der Johannestaufe ist die Umkehr (εἰς μετάνοιαν [eis metanoian]), mit anderen Worten: die Sammlung eines umkehrwilligen Israel und die Bestärkung dieses umkehrwilligen Israel auf seinem Wege durch die Vergebung seiner Sünden (vgl. wieder Mk 1,4; Joh 1,24ff; Apg 13,24; 19,4).125 Eins aber konnte die Johannestaufe nicht: nämlich jemand durch den Heiligen Geist erneuern, wie es in Ez 36,26 geweissagt ist, oder gar persönliche Wiedergeburt schenken. Das blieb einem anderen vorbehalten, von dem jetzt gleich die Rede ist: Der aber, der nach mir kommt (ὁ δὲ ὀπίσω μου ἐρχόμενος [ho de opisō mou erchomenos]), ist stärker als ich. Ich bin es nicht einmal wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Der wird euch mit Heiligem Geist und mit Feuer taufen. Wer ist das? Der Messias. Denn der Kommende, ὁ ἐρχόμενος [ho erchomenos], hebr. ‫ַה ָבּא‬ [habbāʾ], ist nach Ps 118,26 eine Messiasbezeichnung126 (vgl. Mt 11,3; 21,9). Die Formulierung der nach mir Kommende konkretisiert diesen Messiastitel so, dass der damit Gemeinte nach Johannes kommt. Das ist bei Jesus sogar in doppelter Weise der Fall: 1) ist er jünger als Johannes (Lk 1–2),127 123 124 125 126 127

Vgl. F. Lang im Art. πῦρ usw., ThWNT, VI, 1959, 941ff. G. Stählin a.a.O. Vgl. Gundry 48; Schlatter 28. Zweifelnd Carson 104. Vgl. BDR § 215,2.

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2) ist er in gewisser Weise sein Schüler, denn er kam zu ihm an den Jordan (V. 13ff ) und ließ sich von ihm taufen. ἔρχεσθαι ὀπίσω τινός [erchesthai opisō tinos] heißt ja in manchen Fällen geradezu: „jemandem (als Jünger) nachfolgen“. Vgl. Mt 16,24; Lk 9,23; 14,27.128 Ganz und gar nicht selbstverständlich ist, was Johannes von diesem Nach-ihm-Kommenden sagt: Er ist stärker als ich (ἰσχυρότερός μού ἐστιν [ischyroteros mou estin]). Denn neutestamentlich gilt: „Der Jünger ist nicht über dem Lehrer“ (Mt 10,24f; 23,8ff; Joh 13,16; 15,20). Aber im Verhältnis Johannes/Jesus kehrt sich dies tatsächlich um. Nach Joh 3,30 sagte der Täufer: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ Stark, ἰσχυρός [ischyros], ist im NT129 eine Bezeichnung für Gott (Offb 18,8), Engel Gottes und göttliche Stimmen (Offb 18,2.21), und nicht zuletzt für Jesus (Lk 11,20ff par).130 Mit der Formulierung stärker als ich bringt also der Täufer zum Ausdruck, dass Jesu Vollmacht die seinige überragt, und dass Jesus Gott nähersteht als er. Der folgende Satz erläutert diesen Sachverhalt: Ich bin es nicht einmal wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Das griechische ἱκανός [hikanos] bedeutet eigentlich „hinreichend“.131 Der Täufer schätzt sich selbst also nicht einmal als hinreichend ein, um Jesus, dem Messias, diesen Dienst zu erweisen. τὰ ὑποδήματα βαστάσαι [ta hypodēmata bastasai] lässt sich verschieden übersetzen. ὑπόδημα [hypodēma] ist „die Sandale, eine Ledersohle, die mit Riemen am Fuß befestigt wurde“.132 βαστάσαι [bastasai] kann „tragen“ oder „die Sandalen abnehmen“ = ausziehen bedeuten.133 Beides ergibt hier Sinn. Und beides ist üblicherweise Sklavendienst.134 Der Täufer besitzt also seinen eigenen Worten zufolge nicht einmal die Fähigkeit, dem Messias Jesus als Sklave zu dienen.135 Unendlich groß ist der Unterschied zwischen dem großen Propheten Johannes und dem Messias und Gottessohn Jesus. Die Gefahr besteht, dass man aufgrund dieses einzigen Satzes dem Täufer die Würde bestreitet, ein wirklicher „Vorläufer des Christus“ zu sein.136 Aber die alte christliche Exegese, repräsentiert etwa durch Irenäus, hielt mit Recht daran fest, dass 128 Vgl. J. Schneider, Art. ἔρχομαι usw., ThWNT, II, 1935, 665f; Mello 88. 129 Erstaunlich bewahrt in der griechischen orthodoxen Liturgie Agios o Theos, agios ischiros (EG 185,4). 130 Vgl. W. Grundmann, Art. ἰσχύω usw., ThWNT, III, 1938, 400ff; Carson a.a.O. 131 K.H. Rengstorf, Art. ἱκανός usw., ThWNT, III, 1938, 294. 132 Bauer-Aland, 1683. 133 Bauer-Aland, 274f; Rengstorf a.a.O. 295. Für „tragen“ z.B. Nolland 146; Gaechter 96; Sand 68; Davies-Allison 315; für „ausziehen“ Gundry 48; Schlatter 28f; Zahn 140. 134 Rengstorf a.a.O. Vgl. Strack-Billerbeck I 121 und vor allem b Ket 96a. 135 Vgl. wieder Rengstorf a.a.O. 136 In diese Gefahr gerät Rengstorf a.a.O.

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Johannes der heilsgeschichtliche „Vorläufer des Herrn“ sei.137 Die Überlegenheit des Kommenden dokumentiert sich darin, dass er mit Heiligem Geist und mit Feuer taufen wird (βαπτίσει ἐν πνεύματι ἁγίῳ καὶ πυρί [baptisei en pneumati hagiō kai pyri]). Er wird also die Weissagungen von Ez 36,26f erfüllen. Dazu muss er selbst Träger des heiligen Geistes sein, folglich auch Jes 11,2 erfüllen. In Mt 3,11 steht ἐν πνεύματι ἁγίῳ [en pneumati hagiō] in Parallele zu ἐν ὕδατι [en hydati] und ἐν πυρί [en pyri]. Jedes Mal handelt es sich um einen instrumentalen Dativ.138 Das macht vorsichtig gegenüber der Übersetzung „mit dem (Artikel!) heiligen Geist“.139 Offenbar soll zwischen der individuellen Geistestaufe und dem Heiligen Geist als göttlicher Person (Mt 28,19) unterschieden werden.140 Taufen mit Heiligem Geist umschließt zwei Vorgänge: 1) die Reinigung des Menschen (Taufe als Abwaschung), 2) die Ausstattung des Menschen mit Heiligem Geist wie das Füllen eines gereinigten Gefäßes.141 Vgl. wieder Ez 36,26f. Aber in welchem Verhältnis stehen Geist und Feuer zueinander? Die Auffassungen differieren hier erheblich. Gaechter zum Beispiel sieht in beiden – Geist und Feuer – „Medien desselben Aktes“ und will sie als Hendiadyoin im Sinne von „durch das Feuer des heiligen Geistes“ auffassen.142 Nolland plädiert entschieden für das Gegenteil. Seiner Meinung nach liegen hier zwei Akte vor. Die Taufe mit dem Geist sei „purifikatorisch“ und die Kulmination („culmination“) der Johannestaufe. Die Taufe mit dem Feuer bedeute dagegen das spätere Gericht.143 Die Art, wie das NT sonst von der Jesustaufe spricht, nämlich als einer Taufe mit dem Geist ohne Erwähnung des Feuers (vgl. Apg 1,5; 2,38; 10,47; 11,16; 19,1ff; 1Kor 12,13), lässt uns die zweite dieser Auffassungen favorisieren. Wir sehen mit John Nolland und Friedrich Lang im taufen mit Feuer also das endzeitliche Gericht.144 Ist diese Auffassung richtig, dann kommt der Messias zuerst als einer, der durch Taufe und Geistverleihung rettet, und dann als der endzeitliche Richter, der im Feuer des Gerichts alles Böse und alle Gottesfeinde

137 So Irenäus Adv. haer. II, 9,1; dann Gaechter 95; Schlatter 28; Carson a.a.O.; Hagner I 52. 138 BDR § 195,7. 139 Richtig erspürt in der Revidierten Elberfelder Bibel sowie BigS. 140 Vgl. Gaechter 95f; Sand 68. 141 Eine Parallele bietet Qumran (1QS IV, 20ff ). 142 Gaechter 97. Ebenso Gundry 49. Gaechter beruft sich auf Schlatter (vgl. Schlatter 29). Ferner Carson 105; Mello 88; J. Weiß 244; Davies-Allison 317. 143 Nolland 147. 144 F. Lang, Art. πῦρ usw., ThWNT, VI, 1959, 943; Nolland a.a.O. Ebenso Fiedler 80; Zahn a.a.O.; Luz I 149; Senior 54f.

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straft.145 Ob der Täufer beide Akte in einem engen zeitlichen Zusammenhang sah, wissen wir nicht sicher, auch wenn manches darauf hindeutet.146 Der 12. Vers zeigt jedoch, dass er beides, Geistes- und Feuertaufe, inhaltlich sehr deutlich voneinander unterschied.147 In V. 12 wird uns der Messias gerade als Weltenrichter vor Augen gestellt:148 Seine Worfgabel ist in seiner Hand, und er wird seine Tenne reinigen und seinen Weizen in die Scheune sammeln; die Spreu aber wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer. Zur Bildhälfte: Die Tenne, ἡ ἅλων [hē halōn], ist der Dreschplatz, wo das Getreide gedroschen und von der Spreu gereinigt wird. Die Worfgabel ist eine mehrzinkige Holzgabel, mit der man das ausgedroschene Getreide gegen den Wind in die Höhe warf („worfelte“), sodass die Spreu vom Wind auf die Seite geblasen wurde und nur die Körner – weil schwerer – fast senkrecht niederfielen.149 So konnte man seine Tenne reinigen und den aufgehäuften Weizen in die Scheune sammeln. Die Spreu aber diente in dem waldarmen Israelland als Brennmaterial.150 „Als Tenne findet ein ebener Platz Verwendung, dessen harter Boden manchmal noch planiert und verbessert wird, dessen Ränder man oft mit Steinen befestigt und der vor allem wegen des Worfelns unter dem Westwind liegen muß.“151 Eindrucksvoll schildert Hendriksen, wie von Mai bis September – also in der Erntezeit – ein „afternoon breeze“ vom Mittelmeer her weht.152 Eine instruktive Darstellung von zwei Männern mit 3-zinkigen Worfgabeln aus Theben in Ägypten, ca. 1400 v.Chr., findet sich im Großen Bibellexikon.153 Die Scheune ist hier wohl ein Speicher, vielleicht ähnlich dem ägyptischen Kornspeicher von ca. 2250 v.Chr. aus Assuan im Großen Bibellexikon.154 Zur Sachhälfte: Die Ernte ist in der ganzen Bibel bis hin zu Offb 14,14ff und 19,15 ein Bild für das endzeitliche Gericht Gottes (vgl. Jes 63,3ff; Jer 51,33; Joel 4,13; Mt 13,24ff.36ff; Joh 15,1ff; Offb 14,14ff; 19,15).155 So ist auch in Mt 3,12 der Bezug auf das Endgericht zweifellos 145 Die Eingrenzung des ὑμᾶς [hymas] auf Pharisäer und Sadduzäer ist unbegründet, gegen Nolland a.a.O.; Grundmann 92. Wie wir Gundry 49; Zahn 139; Gibbs 172. 146 Hendriksen a.a.O. 210; 218: Täufer betont eher „imminence“. 147 Luck 33 bezieht beides auf „das Gericht“, ebenso Gibbs 172f: beides „on the Last Day“. Hendriksen a.a.O. 208f: Feuer des Heiligen Geistes, und außerdem das Endgericht. 148 Grundmann a.a.O. 149 Vgl. b Nidda 31a. 150 Davies-Allison 319. Teilweise bestritten. 151 GBL, 1, 16 (o. Namensangabe). 152 Hendriksen (6. Aufl., 1982) 209. 153 GBL a.a.O. 15. 154 GBL, 1, 14. 155 Auch in den Rabbinica, vgl. Strack-Billerbeck I 122; auch Nolland 148.

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gegeben.156 Der Weltenrichter ist hier der Messias. Als seine erste Handlung wird dargestellt, wie er die Körner von der Spreu scheidet. Wenn die Spreu ganz ausgeschieden ist, ist die Tenne ganz gereinigt. Für reinigen steht hier im Griechischen διακαθαριεῖ [diakathariei] = „ganz und gar reinigen“.157 Es bleibt dann niemand unentdeckt und ungerichtet. Schon Fulgentius von Ruspe (gest. 533 n.Chr.) sah Mt 3,12 erfüllt, wenn Christus „in gerechtem Gericht die Gerechten von den Ungerechten, die Guten von den Bösen, die Frommen von den Sündern scheiden wird“.158 Nach dieser Scheidung wird er seinen Weizen in die Scheune (besser: Speicher) sammeln. In Mt 13,30 sagt Jesus fast wörtlich dasselbe. Weizen ist das, was wertvoll und lobenswert in Gottes Augen ist (vgl. Mt 13,24ff.36ff; Mk 4,26ff; Lk 19,11ff; 1Kor 4,5; schon Jer 23,28). Mit anderen Worten: Die Gläubigen und Erlösten werden durch den als Weltenrichter wiederkommenden Jesus gesammelt (vgl. Mt 24,31; 1Thess 4,14ff ) und ins ewige Leben geführt. Die Spreu dagegen (τὸ δὲ ἄχυρον [to de achyron]) wird der Weltenrichter mit unauslöschlichem Feuer (πυρὶ ἀσβέστῳ [ pyri asbestō]) verbrennen. Wie in Ps 1,4; Hos 13,3 meint Spreu die Gottlosen. Jetzt aber wird das bisherige Bild aufgesprengt.159 Denn normalerweise verbrennt die Spreu rasch: Bei ihr gibt es im normalen Leben kein unauslöschliches Feuer. Warum gebraucht der Täufer also die Bezeichnung unauslöschlich (auch in Lk 3,17)? Die Frage spitzt sich dadurch zu, dass Jesus in Mk 9,43 dieselbe Wendung benutzt. Offensichtlich hält Jes 34,10; 66,24 die Antwort bereit: Die Strafe im Endgericht (Feuer) ist endgültig und ewig.160

IV Zusammenfassung 1. In Mt 3,1-12 schildert uns Matthäus das Wirken von Johannes dem Täufer als dem Vorläufer Jesu. Als ein zweiter Elia hält er sich in der Wüste am Rande des Jordantales und beim Jordan auf. In seiner Verkündigung ruft er Israel und besonders auch Israels Führer zur Umkehr auf. Durch seine Taufe im Sinne von Ez 36,25; Sach 13,1, verbunden mit der Sündenvergebung, sammelt er das umkehrwillige Israel und bereitet es auf den kommenden Messias und die neue Bundesschließung vor.

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Hendriksen a.a.O.; Barclay I 54. Hendriksen a.a.O.: „thoroughly clear“. Regel des wahren Glaubens, Texte KV IV 46. Ebenso Davies-Allison 319. J. Weiß 244; Gaechter 98; Zahn 141. Hendriksen a.a.O. 210: „Their punishment is unending“. Davies-Allison 319 sehr viel zurückhaltender: unauslöschlich sei „not necessarily eternal“.

7. Johannes der Täufer als Vorläufer Jesu, 3,1-12

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2. Der Kommende, der Stärkere, den er ankündigt, nämlich der Messias, ist zweifellos Jesus.161 Hier stimmen alle Evangelien überein (vgl. Mk 1,7f; Lk 3,15ff; Joh 1,26f ). Dreifach steht er über dem Täufer: Als Stärkerer ist er göttlichen Wesens, als Täufer mit Heiligem Geist der Erneuerer und Erlöser der Menschen, als Täufer mit Feuer der Weltenrichter.162 Dennoch ist es ein wichtiges Anliegen des Matthäus, jede Rivalität zwischen Johannes und Jesus auszuschalten. Johannes selbst will Jesu Wegbereiter und Herold sein, aber nicht sein Rivale.163 3. Ein grobes Missverständnis ist es, wenn man Matthäus und den Täufer weiter auf die „physische Abrahams-Nachkommenschaft“ setzen lässt.164 Sie träten dadurch in einen Widerspruch zur ganzen Bibel. Vielmehr rettet nach dem Verständnis beider nur die Umkehr zu Gott als ganzheitlicher Lebensakt.165 4. Abzuweisen sind zwei weitere Missverständnisse. Das erste findet sich z.B. bei Senior und lautet, Matthäus habe in 3,1ff Israels Führer in ein „negatives Licht“ setzen wollen, was für ihn „characteristic“ sei.166 Aber ein Verfasser, der das Jesuswort von Mt 23,2f überliefert, hat kein Interesse daran, Israels Führer schlechtzumachen. Nach unserer Auffassung lebt ja Matthäus noch im Synagogenverband Israels. Das zweite, stärker verdeckte Missverständnis besteht in antijudaistischen Tönen, die hier der Auslegung beigemengt werden, vielleicht eher unbewusst.167 5. Wir können auch nicht zustimmen, wenn Fiedler bei Matthäus eine „Bedrohung durch das Gericht“ und „Polemik“ gegen den Pharisäismus entdecken will, was wir moderne Christen längst hinter uns hätten, und allein „ein menschenwürdiges (Zusammen-)Leben“ zum Maßstab des Gerichts erklärt.168 Diese Reduzierung des Täufers auf einen Anwalt der Humanität wird dem Text nicht gerecht. 6. Interessant ist die theologische und historische Nähe von Mt 3,1-12 zum Johannesevangelium.169

161 162 163 164 165 166 167

Zahn 142, Gibbs 172. Vgl. Gaechter 98. J. Weiß 245. So Fiedler 78. Gundry 143f: „a fundamental change of life direction“. Senior 53. Daran streift sogar Schlatter einmal (27), wenn er von „verstockten Juden“ und ihrer „stolzen Zuversicht“ spricht. 168 Fiedler 81f. 169 Vgl. Gundry 47; Gaechter 95 und Joh 1,25ff.

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7. Zwar wird Mt 3,1-12 historisch gelegentlich angezweifelt.170 Aber schon Johannes Weiß verteidigte die Historizität (1907) und meinte, Mt 3,1-12 zeige „wirklich, was man vor Jesus vom Messias erwartete“, und die Überlieferung sei „nicht erst später“ nach den Forderungen des christlichen Glaubens „gemodelt“ worden.171 Auch Nolland bestätigt 100 Jahre danach die „fundamental historical accuracy of the report of John’s preaching“.172 In der Tat lässt sich nichts erkennen, was Mt 3,1-12 die historische Glaubwürdigkeit rauben würde.

8. Die Taufe Jesu durch Johannes, 3,13-17 I Übersetzung 13 Da kommt Jesus von Galiläa an den Jordan zu Johannes, um sich von ihm taufen zu lassen. 14 Johannes aber versuchte, ihn daran zu hindern, und sagt: Ich bedarf doch dessen, dass ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir? 15 Aber Jesus gab ihm zur Antwort: Lass es für jetzt zu! Denn so geziemt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da lässt er es ihm zu. 16 Als aber Jesus getauft war, stieg er sofort herauf aus dem Wasser. Und siehe, da wurde der Himmel geöffnet, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabkommen und auf sich kommen. 17 Und siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach:1 Das ist mein Sohn, der geliebte, an dem ich Wohlgefallen habe.

II Struktur In dem kurzen Abschnitt heben sich zwei narrative Höhepunkte ab: Das Gespräch zwischen dem Täufer und Jesus sowie die Ereignisse nach der Taufe. Die Worte Τότε παραγίνεται [Tote paraginetai] in V. 13 stehen wohl in bewusster Parallele zu 3,12 und markieren damit den Beginn eines neuen Abschnitts. Wir haben allerdings oben registriert, dass eine ganze Reihe von Auslegern3 das gesamte Kapitel Mt 3,1-17 als einen geschlossenen Abschnitt behandelt. Unstrittig ist dagegen, dass Mt 4,1 durch Τότε ὁ Ἰησοῦς ἀνήχθη [Tote 170 171 172 1 2 3

So bei Bultmann Gesch 263; Fiedler 75; Mello 83. J. Weiß 244. Nolland 149,74. Zur Grammatik vgl. hier BDR § 128,12. Davies-Allison 320. Auch Davies-Allison 285ff.

8. Die Taufe Jesu durch Johannes, 3,13-17

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ho Iēsous anēchthē] wieder einen neuen Abschnitt einleitet und deshalb Mt 3,17 den Schlussvers des alten darstellt. Wie soll man Mt 3,13-17 klassifizieren? Etwa als Berufungsgeschichte (K. Berger)4? Es fällt schwer, hier mit formgeschichtlichen Standardbegriffen zu arbeiten. Davies-Allison dürften recht haben: Mt 3,13ff „does not follow a set scheme“, „the whole does not belong to any one Gattung.“5 Erstmals seit dem Beginn der Erzählung in Mt 1,18 fehlt ein Reflexionszitat oder ein dem Reflexionszitat verwandtes Zitat. Dafür sind die Verse 16 und 17 gesättigt mit Zitaten anderer Art und Anspielungen auf die Schrift. Es setzt sich also das Bemühen des Matthäus fort, Jesus als den schriftgemäßen Messias zu erweisen. Erneut fallen uns die chronologischen Lücken des Evangeliums auf. Es ist ja klar, dass Johannes Jesus schon vor Mt 3,13 gekannt haben muss. Doch bei Matthäus erfahren wir nichts über das frühere Verhältnis beider zueinander. Matthäus hätte jetzt in 3,13ff eine sehr gute Möglichkeit gehabt, manches aus der früheren Geschichte Jesu oder des Täufers nachzutragen. Er hat sie nicht genutzt. Warum? Wir können seine Motive höchstens bruchstückhaft erkennen. Wir sehen ihn nur in höchster Konzentration einige Punkte klären, die er für seine Gemeinde geklärt haben musste. Vielleicht ist der von Martin Zürn ca. 1615/20 geschnitzte Matthäus im Kornhaus-Museum Bad Waldsee eine gute Veranschaulichung dieses Evangelisten, der nach E. von Dobschütz und G. Bornkamm „ein christlicher Rabbi und Katechet“ war.6

III Einzelexegese Die Einleitung des Abschnitts durch Matthäus ist für uns nicht mehr sicher zu erfassen.7 Bezeichnet τότε [tote] in V. 13 das „zeitlich Nachfolgende“?8 Dann muss es mit „darauf “ oder „da“ übersetzt werden. Oder heißt es „zu jener Zeit“ = „damals“?9 In Mt 3,13 gibt beides einen guten Sinn. Weil sich eine Entscheidung zwischen beidem nicht mehr treffen lässt, wählten wir die Übersetzung Da, die beidem gerecht wird. Jedenfalls aber bedeutet παραγίνεσθαι [ paraginesthai] für Matthäus so viel wie das Betreten der Bühne der Ereignisse, wie aus Mt 2,1; 3,1; 3,13 hervorgeht. Nach Johannes ist es jetzt Jesus, der diese Bühne betritt. Matthäus nennt 4 5 6 7 8 9

Vgl. dazu Davies-Allison a.a.O. A.a.O. Bornkamm 763. Carson 106. So BDR § 459,2; Bauer-Aland, 1642. Vgl. Bauer-Aland a.a.O.

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ihn ganz einfach mit seinem Namen ὁ Ἰησοῦς [ho Iēsous] ohne weitere Zusätze oder Erklärungen, die freilich in seiner Gemeinde auch nicht nötig sind. Niemand scheint Jesus aufgefordert oder eingeladen zu haben.10 Es ist offensichtlich seine ureigene Initiative, dass er kommt:11 „Jesus, for the first time, becomes an active character.“12 Von Galiläa aus macht er sich auf den Weg an den Jordan zu Johannes. Die Kommentare registrieren, dass weder Matthäus noch Markus zuvor Galiläa als Herkunftsort der Taufwilligen genannt haben (vgl. Mt 3,5; Mk 1,5). Jesus ist nach der synoptischen Überlieferung der einzige Taufwillige von Galiläa.13 Anders ist es allerdings im Johannesevangelium (vgl. Joh 1,40-45). Erstaunlicherweise wird Nazareth hier nicht erwähnt.14 Der Zweck seines Kommens ist, um sich von ihm (= Johannes) taufen zu lassen. Aber diese einfachen Worte erzeugten eine Flut von Erklärungsversuchen, die alle von der Frage ausgelöst wurden: Warum ließ sich Jesus taufen? Davies-Allison listen folgende Erklärungen auf: 1) Kritiker sahen hier die Lehre von der Sündlosigkeit Jesu widerlegt und gingen davon aus, dass sich Jesus als sündigen Menschen betrachtete, der Sündenvergebung haben wollte.15 2) Andere erklärten, Jesus habe sich dem „geretteten Rest“ Israels anschließen wollen und gewissermaßen aus Solidarität mit diesem geretteten Rest gehandelt.16 3) Tiefer greift die Erklärung von O. Cullmann und anderen, wonach Jesus zu den Sündern treten wollte, um damit zu beginnen, ihre Sünden zu tragen.17 4) Schlatter sieht hier den Gehorsam Jesu gegenüber Gottes Ruf.18 5) Nach Ansicht der Nazarener19 war sich Jesus keiner Sünde bewusst, rechnete aber mit seiner ignorantia und wollte deshalb auf alle Fälle getauft werden. 6) Jesus wollte sich gegen die Selbstgerechten auf die Seite der Sünder stellen (vgl. Hebr 2,17).20 7) Jesus wollte, dass ihn der zweite Elia = Johannes in der Öffentlichkeit als Messias kenntlich mache. 8) Davies-Allison selbst vertreten die Meinung, Jesus habe angesichts des nahenden Gerichts das Siegel der göttlichen Bewahrung gewünscht („a seal of divine pro-

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Anders etwa Joh 7,3; 11,3; Lk 14,1. Hendriksen a.a.O. 211. „Jesus made his public appearance“; ebenso Beare 97. Davies-Allison 321. Davies-Allison 321; Zahn 142. Davies-Allison a.a.O. Wohl aber steht Nazareth in Mk 1,9. Vgl. hier und im Folgenden Davies-Allison 322f; Carson 107f. So France 94. Klostermann 25: aus „Akkomodation“. Vgl. Cullmann, 66. Ebenso Mello 91 und wohl schon Ignatius Ad Smyrn I, 4f. Überliefert im Hebräer-Evangelium, s. Aland Syn 27. Vgl. J. Weiß 245. Dafür nennen Davies-Allison: Beasley-Murray; V. Taylor; Feuillet. Siehe ferner Stuhlmacher II 163f; Nolland 154.

8. Die Taufe Jesu durch Johannes, 3,13-17

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tection“ wie Offb 7,4ff; 9,4; Ps Sal 15,1ff ). – Am Ende aber gestehen sie ehrlich genug: „We remain in the dark.“21 Wir werden bei V. 14f die Frage nach dem Warum noch einmal aufzugreifen haben. Nach V. 13 steht allerdings so viel fest: Jesus kommt nicht, um nur ein Hörer des Johannes zu werden, und schon gar nicht, um ihn kritisch zu beobachten oder gar zu kommentieren, sondern ausgesprochen mit der Absicht, sich von ihm taufen zu lassen. Doch mit dieser Absicht stieß er auf den Widerstand ausgerechnet des Täufers, der für die Taufe warb (Mk 1,4). Johannes versuchte, ihn daran zu hindern (V. 14): Das Imperfekt de conatu διεκώλυεν [diekōlyen]22 enthält zugleich ein duratives Element.23 Der Täufer unternahm also mehrere Versuche, Jesus von der Taufe abzubringen, und die wenigen Worte, die V. 14 aufnotiert, sind nur eine Zusammenfassung dieser Versuche. Überdies zeugt das energische δια-κωλύειν24 [dia-kōlyein] davon, dass der Täufer gewichtige religiöse, fast „kirchenrechtlich“ zu nennende Gründe sah, die der Taufe Jesu im Wege standen. Schlatter hat sie gut zum Ausdruck gebracht: „Nicht du, sagt er, bist der Sünder; ich selber bin es; du bedarfst es nicht, daß ich dir Gottes vergebende Gnade erteile; dagegen bist du der rechte Mann, mir Gottes Vergebung zu bringen. Wenn du mir verzeihst, dann bin ich entlastet und zu Gottes Eigentum gemacht.“25 Das Griechische baut in der Tat in den Personalpronomina ἐγώ [egō] und σύ [sy] eine starke Spannung auf.26 Ich bedarf doch dessen, dass ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir? χρεία [chreia] zeigt den „Bedarf “, die „Mangelhaftigkeit“ an. Jesus hat das, was dem Täufer fehlt: die höhere Würde und die Sündlosigkeit.27 Jesus kann nach Ez 36,25 mit vollem Recht den Täufer taufen, aber nicht der Täufer als bloßes Werkzeug Gottes Jesus. Woher weiß der Täufer das? Zwei Möglichkeiten bieten sich an. Erstens die Erleuchtung durch den Heiligen Geist, der dem Propheten Johannes zeigt, wer Jesus in Wahrheit ist (vgl. Joh 1,33).28 Zweitens die familiäre Bekanntschaft, von der Lukas berichtet29 (1,39ff ). Eine dritte, sozusagen „unmögliche“ Möglichkeit nennt das Ebionitenevange-

21 22 23 24 25 26 27 28 29

A.a.O. 323. Vgl. BDR § 326,1. Zahn 143. Hapaxlegomenon im AT. Schlatter 31. Vgl. BDR § 279. Vgl. Schniewind 27; Zahn 143. So Beare 98. So Carson 107; France 94.

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lium:30 Weil die Himmelsstimme (vgl. Mt 3,17) vorangeht, erkennt Johannes, womit er es zu tun hat; hier werden also die geschichtlichen Ereignisse einfach umgedreht. Uns scheint es nahezuliegen, mit den zuerst genannten Möglichkeiten, und zwar mit beiden zugleich, zu rechnen. Sie schließen sich gegenseitig ja keineswegs aus. Jesu Antwort in V. 15 ist nicht leicht zu verstehen: Lass es für jetzt zu! Denn so geziemt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.31 Eins steht hier allerdings fest: Jesus beharrt auf seiner Taufe.32 Erneut drücken die Formulierungen ὁ δὲ Ἰωάννης [ho de Iōannēs] und δὲ ὁ Ἰησοῦς [de ho Iēsous] einen Gegensatz aus. Lass es zu (ἄφες [aphes]) hat wie hindern (διακωλύειν [diakōlyein]) einen stark juristischen Charakter.33 Der Sinn ist etwa der: „Zieh deine Einwände zurück“, „lass dafür die Freiheit“, nicht aber: „Lass mich gewähren“, „lass mich in Ruhe“.34 Mit anderen Worten: Jesus sieht das Gottesrecht gerade dadurch gewahrt, dass er sich taufen lässt. In dem Ausdruck für jetzt (ἄρτι [arti]) liegt allerdings eine Einschränkung. Unseres Erachtens trifft Bauer-Alands Übersetzung „laß sofort gut sein“35 das in Mt 3,15 Gemeinte nicht. Vielmehr meint das ἄρτι [arti] an unserer Stelle so viel wie: „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“, „für jetzt“.36 Später mag es nach den Worten Jesu anders sein. Wie im Johannesevangelium rechnet also Jesus damit, dass alles seine Stunde hat (vgl. Joh 2,4; 5,25; 7,30; 8,20; 13,27; 16,32; 17,1; aber auch Lk 22,53 und Mt 10,19; 26,45). Jetzt ist die Zeit des prophetischen Bußrufs, der Sammlung des Volkes in Erwartung des Messias. Später aber gilt das Johanneswort: „Er (Jesus) muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Joh 3,30). Denn so geziemt es uns (οὕτως γὰρ πρέπον ἐστὶν ἡμῖν [houtōs gar prepon estin hēmin]): Das so ist wie in Mt 1,18 betont (vgl. auch Joh 3,16). Man könnte auch übersetzen: „Denn für uns ist es angemessen, auf diese Weise alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Es lässt sich nicht übersehen, dass Jesu Wendung uns (ἡμῖν [hēmin]) den Täufer und ihn selbst eng zusammenschließt. Mag der Täufer den Abstand auch noch so sehr empfinden, so gibt es doch andererseits eine besondere Gemeinschaft zwischen ihm und Jesus, die sich nicht allein auf die familiäre Verwandtschaft (Lk 1,36.39ff ) zurück30 Bei Epiphanius, Panar, 30, 13, 7-9 (Aland Syn 27). 31 Die ersten Worte Jesu im Matthäusevangelium! 32 Es gibt keinen Grund, mit Davies-Allison 324 diese Worte dem geschichtlichen Jesus abzusprechen. 33 Vgl. R. Bultmann, Art. ἀφίημι usw., ThWNT, I, 1933, 506. 34 In letztere Richtung geht Bultmann a.a.O. 508. Erst recht lässt die Übersetzung „Laß nur!“ (Fiedler 82) den Sinn nicht mehr erkennen. Richtig Zahn 143. 35 Bauer-Aland, 221. 36 Vgl. wieder Bauer-Aland a.a.O.

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führen lässt. Es ist vielmehr ihre gemeinsame Aufgabe, das messianische Zeitalter einzuleiten. In den Worten alle Gerechtigkeit zu erfüllen (πληρῶσαι πᾶσαν δικαιοσύνην [ plērōsai pasan dikaiosynēn]) hat wieder jede Begrifflichkeit ihre Bedeutung. Alle heißt „in jeder Beziehung umfassend“ = πᾶν ὃ ἂν ᾖ δίκαιον [ pan ho an ē dikaion].37 Gerechtigkeit, δικαιοσύνη [dikaiosynē], bedeutet in Mt 3,15 das Gott wohlgefällige Verhalten.38 Erfüllen, πληρῶσαι [ plērōsai], meint hier die praktische Erfüllung einer Jesus „offenbare(n) Forderung des göttlichen Willens“.39 Mt 3,15 ist typisch für die Sprache Jesu (vgl. Mt 5,6; 5,17.20; 6,33). Aber woher wusste er, dass Gottes Wille gerade so, durch seine Taufe, erfüllt würde? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man voraussetzt, dass ihn der Heilige Geist zu dieser Gewissheit führte (vgl. Lk 2,52). Seine Gewissheit im Heiligen Geist wog schwerer als die Einwände des Täufers. Da lässt er es ihm zu: τότε [tote] drückt hier das „zeitlich Nachfolgende (= „darauf “) aus.40 Das Präsens ἀφίησιν [aphiēsin] fängt die Dramatik des Geschehens ein. Die Entsprechung ἀφίησιν/ἄφες [aphiēsin/aphes] macht den Gehorsam des Täufers gegenüber Jesus als dem „Stärkeren“ sichtbar. Folglich stellt der Täufer seine Einwände zurück und lässt sich von Jesus überzeugen. Der ganze Vorgang macht aber zugleich auch deutlich, dass Jesus und die ganze christliche Gemeinde die Bußtaufe des Johannes für richtig hält. Der Täufer wird sozusagen nicht als ein schwaches Beispiel behandelt, sondern als vollmächtiger Bote und Prophet Gottes. Ob diese Wertschätzung durch Jesus später dazu beigetragen hat, dass die Führer Israels auf Distanz zu Johannes gingen (Mt 21,23ff )? Übrigens hatten manche christliche Abschreiber die Neigung, den Text des Matthäus zu erweitern. So lesen wir zum Beispiel folgenden Zusatz zu Mt 3,15: „Und als er getauft wird, leuchtet ringsum ein ungeheures Licht aus dem Wasser auf, sodass sich alle Anwesenden fürchteten.“41 Solche Dokumente sind Beispiele altchristlicher Predigt, aber im Verhältnis zu Matthäus legendär. Wir kommen zurück zu der viel diskutierten Frage: Weshalb ließ sich Jesus taufen? Von den oben erwähnten Erklärungen scheidet die erste, dass sich Jesus selbst als Sünder betrachtet habe, sofort aus. Denn Mt 3,15 argumentiert nicht mit der angeblichen Sündhaftigkeit Jesu, und die Tatsache, dass sich der Prophet Johannes der Entscheidung Jesu anschloss, sowie Mt 11,27; 12,16ff; 37 38 39 40 41

BDR § 275,2. Vgl. G. Schrenk im Art. δίκη usw., ThWNT, II, 1935, 200; Tasker 51; Stuhlmacher a.a.O. G. Delling im Art. πλήρης usw., ThWNT, VI, 1959, 293. BDR § 459,2. So die Altlateiner a (g1).

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27,4.19.54 sind Zeugen für seine Sündlosigkeit.42 Auch die Erklärung der Nazarener (oben 5.) bringt in das Geschehen einen Ton hinein, den es in Mt 3,13ff nicht hat. Die Erklärung unter 7) setzt bei Jesus ein Drängen in die Öffentlichkeit und eine Abhängigkeit vom Täufer voraus, die Mt 3,13ff fremd sind. Die These unter 8) schneidet den Vorgang zu sehr auf das Eigeninteresse Jesu zu. Auszugehen ist vielmehr von den Worten Jesu in Mt 3,15. Danach hat er die Absicht, zusammen mit dem Täufer (uns!) alle Gerechtigkeit (= den ganzen Willen Gottes) zu erfüllen. Im Gehorsam gegen Gottes Willen kommt er zum Jordan, im selben Gehorsam schließt er sich der von Gott gewollten Bußbewegung am Jordan an und mit den bußfertigen Sündern Israels zusammen, tritt also mitten unter die Sünder, wie es seine Tischgemeinschaft später veranschaulicht, und beginnt so schon, ihre Sünde als der Gottesknecht von Jes 53 zu tragen (vgl. Mt 3,17; 12,16ff und Hebr 2,17). In allen Erklärungen, die wir oben unter 2), 3), 4) und 6) notierten, steckt also eine Wahrheit, sodass sie nicht sich gegenseitig ausschließend, sondern kumulativ einander ergänzend zu verstehen sind.43 Hätte sich Jesus von der Johannestaufe distanziert, dann hätte er sich auch vom Handeln des Vaters distanziert. Die Verse 16 und 17 beschreiben grundlegende Ereignisse bei der Taufe Jesu. Nach Davies-Allison handelt es sich formal um „a heavenly vision“ und „a heavenly voice“.44 Als aber Jesus getauft war: Die Taufe wurde also an ihm wie an anderen vollzogen (V. 16).45 Er stieg sofort herauf aus dem Wasser: Das sofort (εὐθύς [euthys]) befremdet.46 Natürlich stiegen alle Getauften sofort wieder aus dem Wasser herauf. Doch Zahn hat recht:47 Dieses sofort bezieht sich auf das Gesamte der in V. 16f geschilderten Vorgänge. Es besagt, dass unmittelbar nach der Taufe Jesu sich der Himmel öffnete, der Geist herabkam und die göttliche Stimme ertönte.48 Diese drei Wunder werden nun im Folgenden erwähnt. Zuerst sagt Matthäus Und siehe, da wurde der Himmel geöffnet (ἠνεῴχθησαν οἱ οὐρανοί 42 Insofern ist die Ansicht von Luz, die Sündlosigkeit Jesu sei bei Matthäus „überhaupt nicht ausgesprochen“ (I 153), zu relativieren. 43 Luz I 155 lehnt eine Deutung auf Jes 53 und das Tragen der Sünde ab. 44 Davies-Allison 320. 45 Die relativ häufigen Textvarianten an dieser Stelle gehen sämtlich von demselben Sachverhalt aus. 46 Davies-Allison 328: Es „makes little sense“. Klostermann 24: Interpolation. Lohmeyer 51,1 nennt das Streichen eine „Willkür“. 47 Zahn 144. 48 Man sollte das ἀναβαίνειν [anabainein] nicht überfrachten. Davies-Allison meinen beispielsweise: „when Jesus comes out of the waters, new Israel is born“ (328).

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[ēneōchthēsan hoi ouranoi]). Es geschah also Ähnliches wie in Ez 1,1; Apg 7,56; 10,11; Offb 19,11 (vgl. Joh 1,51), wobei Ez 1,1 unserer Stelle am nächsten steht.49 Wurde bezeichnet ein Passivum divinum. Gott selbst ist es, auf dessen Befehl sich der Himmel (oder: „die Himmel“, hebr. ‫שַּׁמיִם‬ ָ ‫[ ַה‬haschschāmajim]) öffnete. Für einen Augenblick verschwindet hier der Vorhang zwischen Diesseits und Jenseits, und um ihn ewig aufzuheben, ist Jesus gekommen (vgl. Apg 19,11). Steht die Verwandtschaft mit Ez 1,1 und Apg 10,11 fest, dann deutet die Himmelsöffnung schon an, dass jetzt eine Berufung und Beauftragung stattfindet. Freilich geht es nicht um die generelle Berufung zum Messias, die Jesus ja schon seit seiner Geburt hatte (vgl. Mt 1,18-25; 2,23; 3,14), sondern, wie V. 17 zeigt, um seinen konkreten Dienst.50 Eine solche Beauftragung nach der Taufe bedeutet nicht weniger, als dass Gott den Gehorsam Jesu bestätigt. Es war also richtig und Gott wohlgefällig, dass er sich von Johannes taufen ließ. Allerdings steckt hier ein textkritisches Problem, das wir nicht mehr lösen können: Stand ursprünglich ein αὐτῷ [autō] vor οἱ οὐρανοί [hoi ouranoi]? Wäre es so, dann hätte sich der Himmel eben speziell für ihn = Jesus geöffnet, und Matthäus würde uns im Ungewissen lassen, ob auch Johannes die Öffnung des Himmels beobachtete. Die Textzeugen sind gespalten. Joh 1,32ff zeigt jedoch, dass auch der Täufer ein Zeuge jener Vorgänge wurde. Weil es textkritisch unsicher ist, ließen wir das αὐτῷ [autō] bei unserer Übersetzung aus.51 Das zweite Wunder, von dem Mt 3,16 berichtet, ist die Herabkunft des Heiligen Geistes: und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabkommen und auf sich kommen. Die Artikel vor πνεῦμα [ pneuma] und θεοῦ [theou] sind wieder unsicher, was aber für die Übersetzer und die Auslegung letztlich kaum ins Gewicht fällt. Man hat freilich den Eindruck, dass während der handschriftlichen Überlieferung an den Versen 16 und 17 viel herumkorrigiert wurde, ähnlich wie an Mt 1,16. Die Übersetzung Geist Gottes (πνεῦμα θεοῦ [ pneuma theou]) darf als gesichert gelten, auch wenn hier die Artikel fehlen. Die gelegentlich anzutreffende Übersetzung „Geistkraft Gottes“52 wird der Fülle des πνεῦμα-Begriffes nicht gerecht. Mit Eduard Schweizer müssen wir vielmehr annehmen, dass die traditionsgeschichtliche „Linie zu einem Bericht über die Geistbegabung des Messias“ führt.53 Diese „Geistbe49 Vgl. Davies-Allison 329; Mello 92. 50 Dies übersieht Bultmann Gesch 263f. Nolland 156: „Jesus is receiving his marching orders“, vgl. France 95; Davies-Allison, 334f. 51 Ebenso Davies-Allison 328,67; Zahn 145; France 95. Anders z.B. Nolland 155. 52 So BigS zur Stelle. 53 Im Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1959, 397f.

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gabung“ schließt aber neben der Ausrüstung mit Kraft auch die Begabung mit Weisheit, Verstand, Rat, Erkenntnis und die Gemeinschaft mit Gott dem Vater ein (vgl. Jes 11,2ff ). Eine solche Geistbegabung ist dem Messias „alttestamentlich verheißen und wird im Judentum wiederholt“.54 Für Mt 3,16 ergibt sich daraus: Weil Jesus der erwählte Messias ist, erhält er am Anfang seines öffentlichen Dienstes vom Vater die Fülle des Heiligen Geistes. Besondere Aufmerksamkeit fand zu allen Zeiten die Erwähnung der Taube.55 Die Versuche, ihr Erscheinen an dieser Stelle zu verstehen, führten zu weiten religionsgeschichtlichen Ausflügen. Hermann Gunkel und Hugo Greßmann vermuteten hinter der Taube ein vorderorientalisches Märchenmotiv, demzufolge ein Vogel den richtigen König auswählt.56 Greßmann sieht speziell in der Taube die vorderorientalische Ischtar/Atargatis abgebildet, die sich einen Menschen zum Sohn oder Geliebten erwählt.57 Rudolf Bultmann setzt die Taube mit der Gotteskraft in eins, die man sich in Persien und Ägypten in Vogelgestalt vorgestellt habe, in Persien sogar in Taubengestalt.58 Demgegenüber lenkten Heinrich Greeven und Eduard Schweizer entschieden zu einer Exegese aufgrund des AT und der Anschauungen des frühen Judentums zurück.59 Beide sehen die Verbindung zu Jes 11,2. Ergänzend weist Erik Sjöberg auf Ps Sal 17,37; 18,7; ä Hen 49,3; 62,2; Test Levi 18,7; Test Juda 24,2 hin.60 Speziell zur Taube ist anzumerken: Die Stimme Gottes lässt sich wie eine gurrende Taube vernehmen61, und im Targum zu Hld 2,12 wird die Taube als Symbol des Heiligen Geistes erklärt.62 Wenn aber die Taube im frühen Judentum an den Heiligen Geist erinnern kann,63 dann liegt es nahe, sie in Mt 3,16 als ein Zeichen zu betrachten, das Jesus und dem Täufer ermöglichte, das wunderbare Geschehen richtig als Geistverleihung zu verstehen (vgl. wieder Joh 1,32ff ).64 Daneben muss ernsthaft erwogen werden, ob die Taube nicht auch eine Erinnerung an die Taube Noahs in der Sintfluterzählung darstellt

54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Schweizer a.a.O. 398. Davies-Allison listen 331ff 16 verschiedene Erklärungen auf. Vgl. Nolland 156. Vgl. dazu Bultmann Gesch 264f. Bultmann Gesch 265f. A.a.O. 266. Beispielhaft in den Beiträgen beider im VI. Band des ThWNT von 1959: H. Greven, Art. περιστερά, 67f; E. Schweizer, im Art. πνεῦμα usw., 397f. Ebenso Davies-Allison 332. Im Art. πνεῦμα a.a.O. 382. b Ber 3a, vgl. Greeven a.a.O. 66. Strack-Billerbeck I 123ff; Greeven a.a.O. Allerdings mahnt das späte Datum der Rabbinica zur Vorsicht. Vorsichtig Strack-Billerbeck a.a.O. Ähnlich Greeven a.a.O. 68.

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(vgl. Gen 8,8ff ).65 Ist sie dort nach Umberto Cassuto „a harbinger of peace“66, dann könnte sie auch bei der Tauferzählung als ein Symbol des Neuen Bundes und des Friedens zwischen Gott und Mensch (vgl. Röm 5,1) in Erscheinung treten. Da Symbole oft mehrere Dimensionen haben, wird man auch hier mit einer Duplizität der Bedeutungen rechnen dürfen. Wir sehen also in der Taube primär den Hinweis auf den Heiligen Geist, außerdem aber auch ein Zeichen des Friedens, den Jesus Christus im Neuen Bund schaffen wird. Eine andere Frage ist es, ob die Worte wie eine Taube sich auf die Art des Herabkommens oder auf die Gestalt des Heiligen Geistes beziehen. Grammatisch ist beides möglich. Jedoch wird ein Bezug auf das Herabkommen zum Teil schroff als „exegetische Phantasterei“ abgetan.67 Andere wie Nolland lassen dies wenigstens als vertretbare Deutung zu.68 Ehrlicherweise wird man sagen müssen, dass hier eine letzte Entscheidung nicht möglich ist. Wir können nicht einmal sicher sein, ob die Alternative „Form oder Herabschweben“ überhaupt im Sinne des Matthäus ist.69 Was wir mit hinreichender Sicherheit sagen können, ist allerdings dies: Das Geschehen der Geistverleihung erinnerte an eine Taube und führte Jesus und Johannes zu der Gewissheit, dass sie es hier mit dem Heiligen Geist zu tun hatten. Jedenfalls flog hier keine Taube umher, sondern das Geschehen bleibt geheimnisvoll und erlaubt lediglich einen Vergleich: wie eine Taube. Das Satz-Subjekt er (er sah) bezieht sich auf Jesus (ὁ Ἰησοῦς [ho Iēsous]). Das gibt uns aber nicht das Recht, hier nur „a private experience of Jesus“ wiederzufinden.70 Auch wenn Jesus die Zentralperson der Verse 16 und 17 darstellt, ist eine Anteilnahme und ein Miterleben des Täufers nicht ausgeschlossen. Joh 1,32 stellt ein solches Miterleben des Täufers sogar ausdrücklich fest.71 Schließlich hat die Schlussbemerkung von V. 16: er sah den Geist Gottes auf sich kommen (ἐρχόμενον ἐπ᾿ αὐτόν [erchomenon ep’ auton]) viel Nach65 Vgl. wieder Greeven a.a.O. 65. Von Davies-Allison 332 immerhin als „plausible“ erachtet. Schlatter 34 bejaht es. Seit Tertullian Bapt 8 ist diese Erklärung nachweisbar. 66 Vgl. dazu C. Westermann, Genesis, 1. Teilband, BK, I/1, 2. Aufl., 1976, 602. 67 So Klostermann 25. 68 Nolland 155: „visual form … rather than … the motion.“ Davies-Allison weisen darauf hin, dass die Deutung auf das Herabschweben uns in eine positive Beziehung zu Gen 1,2 bringt (33), dass jedoch Lk 3,21; Justinus Dial c Tryph 88 und das Ebionitenevangelium von der Gestalt ausgehen. Fiedler 86 bezieht den Vergleich auf den „Landeanflug“; ähnlich Mello 92. 69 Jedoch hat Lk 3,22 „in leiblicher Gestalt“ (σωματικῶ εἴδει [sōmatikō eidei]). Dafür auch Zahn 145f. Wie wir Carson 108. 70 Gegen Nolland 156; France 95. 71 Ebenso Davies-Allison 330; Carson 108.

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denken ausgelöst. Normalerweise versteht man ἔρχεσθαι ἐπί [erchesthai epi] mit dem Akkusativ der Person als ein „kommen zu“ oder „kommen auf “. In Analogie etwa zu Ez 2,2 LXX wird ἐρχόμενον ἐπ᾿ αὐτόν [erchomenon ep’ auton] in Mt 3,16 als „auf ihn kommend“ aufgefasst.72 Auch wenn Matthäus keine zeitliche Angabe macht, meint er offensichtlich, dass der Geist Jesus nicht nur punktuell berührte, sondern beständig auf ihm blieb (vgl. Mt 4,1; 9,4; 10,1; 11,25ff usw.). Joh 1,32f konstatiert dies ausdrücklich. Sehr bald beginnen jedoch Zusatzerklärungen und Neuformulierungen. Zwar bleibt Justinus Martyr (ca. 110–165 n.Chr.) noch dicht am Evangelium, wenn er schreibt, der Heilige Geist sei auf Jesus „gefallen“73, aber häretische Evangelien gehen weiter. So sagt das Ebionitenevangelium, der Heilige Geist sei in ihn „hineingegangen“.74 Ignatius (um 115 n.Chr.), Irenäus (schreibt um 180 n.Chr.) und Augustinus (354–430 n.Chr.) bemühten sich dagegen, bei den schlichten Angaben der Evangelien zu bleiben und das Geheimnisvolle des Vorgangs stehen zu lassen.75 Augustinus weist ausdrücklich darauf hin, dass der Vorgang von Mt 3,16 sich „nicht leiblichen Augen“ darbot, sondern „durch geistige Bilder“ vollzog.76 Halten wir noch einmal fest: Jesus – und mit ihm Johannes – sah den Heiligen Geist vergleichbar einer Taube auf sich herabkommen, um auf ihm zu bleiben. Es geht um seine messianische Wirkungsmöglichkeit.77 Das dritte Wunder nach der Taufe Jesu ist die göttliche Stimme (V. 17). Wiederum berichten Markus (1,11) und Lukas (3,22) fast gleich. Aber auch in Joh 1,33f finden wir einen Widerhall jenes Ereignisses. Matthäus weist mit dem wiederholten καὶ ἰδού (vgl. V. 16) auf das Besondere und Wunderhafte des Vorgangs hin. Die Stimme aus dem Himmel (φωνὴ ἐκ τῶν οὐρανῶν [ phōnē ek tōn ouranōn]) ist die Stimme des Vaters (vgl. „mein Sohn“ in Mt 3,17; Mk 1,11; Lk 3,22).78 Hebräisch liegt ‫[ ַבּﬨ קוׄﬥ‬bat qōl] zugrunde. Diese ‫[ ַבּﬨ קוׄﬥ‬bat qōl] ist auch bei den Rabbinen als Realität anerkannt und spielt Bauer-Aland, 631; Joh. Schneider, Art. βαίνω usw., ThWNT, I, 1933, 520. Dial c Tryph 88,8 (Aland Syn 27). Bei Alan Syn a.a.O. Vgl. Zahn 146,64. Vgl. Ignatius Ad Smyrn I, 4f; Irenäus Adv. haer. III, 9, 3; Augustinus De Trin 2,11 (Texte KV II 504f ). 76 Vgl. vorige Anmerkung. 77 Eine Verschiebung von dieser messianischen Zurüstung zu allgemeineren Endzeitereignissen findet zum Beispiel bei Davies-Allison 334f statt, die hier den Beginn einer eschatologischen Neuschöpfung betonen möchten; ebenso Mello 92. Ähnlich wie wir Zahn 146; Tasker 50. Eine offene Frage ist es, ob die Taube als Opfertier für Reinigungsopfer (Lev 12,6ff ) nicht doch auch ein Hinweis auf den kommenden Opfertod Jesu ist. 78 So auch Betz (s. folgende Anm.) 292; Lohmeyer 51; Zahn 147. 72 73 74 75

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zum Beispiel im Talmud eine wichtige Rolle.79 Sie „meint das auf Erden hörbare Echo einer gewöhnlich vom Himmel ausgehenden Stimme, die Gottes Urteil kundtut.“80 Im 1. Jh. n.Chr., in dem Matthäus schreibt, ist von der späteren Distanz der Rabbinen zur Himmelsstimme „noch wenig zu spüren“.81 So kann Matthäus, wenn er von der Himmelsstimme schreibt, auch bei seinen jüdischen Zeitgenossen mit Akzeptanz rechnen. Diese göttliche Stimme sprach:82 Das ist mein Sohn, der geliebte, an dem ich Wohlgefallen habe. Wie wichtig diese Aussage für das Evangelium ist, sieht man schon daran, dass sie drei Mal im Matthäusevangelium vorkommt (3,17; 12,18; 17,5). Sie besteht aus drei Teilen, die sämtlich aus dem AT genommen sind. Doch zu wem sprach (λέγουσα [legousa]) die Stimme? Mt 3,17 enthält im Unterschied zu Mk 1,11 und Lk 3,22 nicht die Anrede „Du bist“, sondern die allgemeine Botschaft Das ist (οὗτός ἐστιν [houtos estin]). Darin weicht Matthäus auch von dem εἶ σύ [ei sy] der LXX bzw. dem ‫ְבּנִי אַ ָתּה‬ [bᵉnī ʾattāh] des MT in Ps 2,7 ab.83 Keine dieser Formulierungen schließt es aus, dass auch Johannes oder sogar weitere Zeugen die Himmelsstimme vernehmen konnten. Aber die Formulierung Das (Dieser) ist legt doch zumindest die Einbeziehung des Johannes näher, und Joh 1,33f bestätigt sie. Dem ZweiZeugen-Recht des AT ist also auch hier Genüge getan (Dtn 19,15). Im Übrigen sollte es als selbstverständlich gelten, dass man die Himmelsstimme gleichzeitig als ein „Du bist“ und ein „Das ist“ verstehen konnte.84 Zuerst identifiziert die Stimme von Mt 3,17 Jesus als Gottes Sohn: Das ist mein Sohn (οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου [houtos estin ho hyios mou]). Die Worte ὁ υἱός μου [ho hyios mou] sind bei Matthäus, Markus und Lukas genau gleich, und wir haben keinen Grund, anzunehmen, dass die älteste Christenheit jemals etwas anderes überliefert hat. Johannes 1,34 bestätigt dies erneut, wenn auch μου [mou] durch τοῦ θεοῦ [tou theou] ersetzt wird. Das ist mein Sohn nimmt, wie man sofort sieht, Ps 2,7 auf: Υἱός μου εἶ σύ [Hyios mou ei sy], was bei Markus und Lukas noch deutlicher zutage tritt.85 Damit treten wir in das Gebiet der alttestamentlichen Messiaserwartungen ein, die den Messias öfter als Gottes Sohn charakterisieren, vgl. 2Sam 7,14; Ps 2,7; Jes 7,14; 9,5f. Allerdings handelt es sich um ein höchst umstrittenes Gebiet zwischen Christen 79 80 81 82 83 84 85

Vgl. die ausführliche Darstellung bei O. Betz; Art. φωνή usw., ThWNT, IX, 1973, 280ff. Betz a.a.O. 282. Betz a.a.O. Die Ergänzung πρὸς αὐτόν [ pros auton] ist zu schwach bezeugt. Interessanterweise deckt sich darin Joh 1,34 mit Mt 3,17. Vgl. Betz a.a.O. 282 über „das auf Erden hörbare Echo“. E. Schweizer im Art. υἱός usw., ThWNT, VIII, 1969, 369.

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und Juden, zwischen Liberalen und Konservativen, zwischen einzelnen Forschern usw. Im deutschen Sprachraum hat sich offenbar mehrheitlich die Meinung durchgesetzt, dass Ps 2,7 auf ein ägyptisches Ritual zurückgeht und dass die judäische Form dieses Rituals dem davidischen König die göttliche Legitimierung seiner Herrschaft zusagen soll. Auch gewichtige Darstellungen, wie die von Georg Fohrer im ThWNT86 oder Martin Hengels Monografie „Der Sohn Gottes“87, sind von dieser Auffassung geprägt. Das „judäische Krönungsritual (Königsritual)“88 ist jedoch weitgehend hypothetisch. Was wir mit hinreichender Begründung sagen können, ist dies: Schon in vorchristlicher Zeit wurde Ps 2 auf den Messias gedeutet, so in den Psalmen Salomos „um die Mitte des 1. Jahrhunderts v.Chr.“89 (17,22ff; 18,7), in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches um die Zeitenwende90 (45,4f; 48,8) und in einem frühherodianischen91 Florilegium von Qumran (4Q174, III, 18f )92. Die Aussage mein Sohn war also für Jesus, Johannes und auch für Matthäus und seine judenchristlichen Leser ohne Weiteres als messianische Aussage erkennbar. Doch in welchem Sinne? Handelt es sich um eine Adoption? Diese Auffassung erfreute sich längere Zeit großer Beliebtheit.93 Jedoch haben sich schon Georg Fohrer, Martin Hengel, Hartmut Gese und Peter Stuhlmacher energisch von der Auffassung von Mt 3,17 als „Adoptionsformel“ abgesetzt.94 Für Matthäus wenigstens bleibt jede adoptianische Christologie durch Mt 1,16.18-25 ausgeschlossen.95 An dieser Stelle gewinnt die Beobachtung Gewicht, dass keiner der Evangelisten bei der Taufe Jesu die Worte ἐγὼ σήμερον γεγέννηκά σε [egō sēmeron gegennēka se] aus Ps 2,7 zitiert. Die göttliche Würde und ewige Sohnschaft Jesu steht ihnen allen fest. Insofern sagt Peter Stuhlmacher mit Recht, „daß Matthäus eine Hochchristologie vertritt, welche die Anschauung von Jesu Präexistenz und Jungfrauengeburt einschließt.“96 Von daher wird man noch einmal zu reflektieren haben, ob die Alternative „physische Gottessohnschaft“ oder „rechtlich begründete Sohnschaft“97 den 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

Im Art. υἱός usw., ThWNT, VIII, 1969, 349ff. 2. Aufl., Tübingen, 1977, 37-39. Fohrer a.a.O. 351; Hengel a.a.O. 38. S. Holm-Nielsen, Die Psalmen Salomos, JSHRZ, IV, 2, 1977, 58. Nach S. Uhlig 494. So Maier Texte II 102. Vgl. die ausführliche Diskussion bei E. Lohse im Art. υἱός, a.a.O. 361-363. Vertreten u.a. durch Bultmann Gesch 263ff (268: „Adoptionsformel Mk 1,11 Parr.“), in zurückhaltender Form noch von E. Schweizer, a.a.O. 369f. Fohrer a.a.O. 351; Hengel a.a.O. 37-39; Stuhlmacher II 160f. Vgl. G. Schrenk, Art. εὐδοκέω usw., ThWNT, II, 1935, 738; Davies-Allison 334f. Stuhlmacher II 161. Die Gegenposition bei Luz I 157. So Fohrer a.a.O. 351f; ferner Lohse a.a.O.

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Sachverhalt richtig erfasst. Mit Recht hat Hengel die „bloße(n) Alternative ‚physisch – rechtlich‘“ infrage gestellt.98 Natürlich haben sich Juden und Christen gemeinsam gegen die Mythen gewandt, in denen Götter irgendwelche Söhne zeugen, und den Messias streng von dieser Mythenwelt getrennt. Eine „physische“ Sohnschaft in den Denkkategorien unserer modernen Welt oder der Mythenwelt bleibt ausgeschlossen. Aber damit ist die Sohnschaft Jesu noch keineswegs auf dürre juridische Begriffe reduziert. Es geht vielmehr um seinen Ursprung und sein ontologisches göttliches Wesen.99 Dass auch das vorchristliche Judentum für solche Zusammenhänge offen war, zeigt die geheimnisvolle Gestalt des Menschensohnes in den Bilderreden der ä Hen.100 Heute ist aus dem Dialog Christentum–Judentum längst ein Trialog Christentum–Judentum–Islam geworden. Christliche Exegese und Theologie sieht sich heute der Kernthese des Koran gegenüber: „Es gibt nur einen einzigen Gott. Fern von ihm, daß er einen Sohn habe!“ (Sure 4,172). Von daher gewinnt Mt 3,17 neue Aktualität, und es genügt für eine biblische Christologie nicht mehr, dass sie nur das Nein zu einer „physischen Sohnschaft“ herausstellt. Vor allem aber muss sie damit Ernst machen, dass Mt 3,17 parr eine Gottesoffenbarung darstellt, die den Beteiligten erst endgültig aufdeckt, wer Jesus in Wahrheit ist: der unvergleichliche, aus dem Vater stammende Sohn.101 Das Tauferlebnis verschafft also, um es mit Cullmann zu formulieren,102 „den Zugang zum Verständnis des ganzen Lebens Jesu, aber auch aller Christologie“. Vgl. Mt 11,27; 12,18; 28,19. Der zweite Teil des von der göttlichen Stimme Gesagten bezeichnet den Sohn als den geliebten (ὁ ἀγαπητός [ho agapētos]). Für die Erklärung ist es unwesentlich, ob ἀγαπητός [agapētos] hier als Adjektiv oder als zweiter Teil zu verstehen ist.103 Wesentlich ist allein die Beobachtung, dass mein Sohn (ὁ υἱός μου [ho hyios mou]) weder für Matthäus noch für Markus und Lukas genügte, sondern dass alle drei unisono ὁ ἀγαπητός [ho agapētos] anfügten. Deshalb kommt dieser Aussage ein eigenes Gewicht zu. Die Wortverknüpfung Sohn/geliebter führt uns im AT vor allem in den „Umkreis der Opferung des Isaak (Gen 22)“.104 Dort heißt es: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak“ (22,2). Hebräisch ist einzig ‫ [ יִָחיד‬jāchīd]. Die 98 99 100 101 102 103

Hengel a.a.O. 38, Anm. 48. Vgl. das Nicaenum: „Gott von Gott, Licht vom Licht“; Carson 109. Vgl. auch Cullmann 279ff. Vgl. Zahn 150. Cullmann 290. Für Ersteres Schweizer a.a.O. 369 nach G.D. Kilpatrick. Eph 1,6 zeigt jedoch, dass „Geliebter“ (hier ἠγαπημένος [ēgapēmenos]) auch Substantiv sein kann. 104 H.-J. Fabry, Art. ‫יַָחד‬, ThWAT, III, 1982, 600.

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LXX übersetzt es mit ἀγαπητός [agapētos],105 sodass die betreffende Stelle jetzt in der LXX lautet: Λαβὲ τὸν υἱόν σου τὸν ἀγαπητόν, ὃν ἠγάπησας [Labe ton hyion sou ton agapēton, hon ēgapēsas] (vgl. neben Gen 22,2 noch 22,12.16). Es besteht wenig Zweifel, dass in Mt 3,17 parr ein gekürztes Zitat von Gen 22,2 vorliegt. Dann aber befinden wir uns in einem „spezifischen Opferkontext“.106 Und das nahezu Unfassbare besteht darin, dass Gott selbst einen solchen Opferkontext mit Jesus herstellt. Denn er bringt ihn, den einzigen und einzigartigen Sohn (Joh 1,18), den über alles geliebten, zum Opfer dar. Vermutlich beruhen Aussagen wie die in Röm 5,8ff; 8,31ff; Eph 1,6 auf dieser Taufstimme. Solange Mt 3,17 parr im NT steht, gehört der Sühnetod Jesu unlöslich zu einer biblischen Christologie. Wir können Mt 3,17 nicht anders verstehen denn als Auftrag zum Sühnetod. Oder, um es noch einmal mit Oscar Cullmann zu formulieren: „Wer er selber ist, das ist Jesus in diesem Augenblick zugleich mit dem Leidensauftrag direkt von Gott offenbart worden.“107 Auffallenderweise scheint es eine solche betonte Aufnahme von Gen 22 in den messianischen Fragmenten, die uns aus dem frühen Judentum überkommen sind, außerhalb des NT nicht zu geben.108 Zum Dritten spricht die göttliche Stimme von Jesus als dem Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe (ἐν ᾧ εὐδόκησα [en hō eudokēsa]). Bis auf die Alterierung ἐν ᾧ / ἐν σοί [en hō / en soi] bieten Markus und Lukas wieder denselben Wortlaut. Insbesondere Mt 12,17ff legt es nahe, darin eine Bezugnahme auf Jes 42,1 zu sehen. Schon Irenäus hat Mt 3,16f mit Jesaja verbunden.109 In Jes 42,1 MT steht für εὐδοκέω [eudokeō] hebr. ‫[ ָרָצה‬rāzāh], das viel stärker als εὐδοκέω [eudokeō] auch die Bedeutung „lieben“ enthält.110 Neben das Element der liebenden Verbundenheit treten in Jes 42,1 das Element der Erwählung und der Beauftragung.111 Man wird keines dieser Elemente übersehen dürfen: Der Gottesknecht von Jes 42,1 ist 1) von Gott geliebt, b) von Gott erwählt und c) von Gott beauftragt. All dies wird in Mt 3,17 parr auf Jesus übertragen. Er, Jesus, ist also der Gottesknecht von Jes 42,1. Das hat weit105 Die LXX hat nach Fabry a.a.O. 597 das ‫ [ י ִָחיד‬jāchīd] sieben Mal mit ἀγαπητός [agapētos] übersetzt. 106 Fabry a.a.O. 600. 107 Cullmann 290. Ganz ähnlich E. Stauffer, im Art. ἀγαπάω [agapaō] usw., ThWNT, I, 1933, 48. 108 Evtl. trug später Bar Kochba den messianischen Titel hajjachid. Vgl. Fabry a.a.O. 601. 109 Mit Jes 11,1ff; 61,1ff in Adv. haer. III, 9,3. 110 Vgl. Gesenius 771; H.M. Barstad, Art. ‫ָרָצה‬, ThWAT, VII, 1993, 640f. Wilckens I/1, 108 hat darin recht, dass Mt 3,17 parr auf den MT zurückgehen und nicht aus der LXX übernommen wurden. 111 Barstad a.a.O. 642; Zahn 147.

8. Die Taufe Jesu durch Johannes, 3,13-17

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reichende Folgen. Denn dieser Gottesknecht wird ja nach Jes 53 den Leidensweg gehen und sein Leben zum Schuldopfer geben (Jes 53,10). So ist der Opfergedanke in Mt 3,17 parr doppelt ausgesprochen: von Gen 22,2 her und von Jes 42,1; 53,10 her. Mt 3,17 enthüllt sich wirklich als Auftrag zur Passion. Von da an muss es für Jesus klar gewesen sein, dass er sterben muss. Zwei Gesichtspunkte müssen hier noch angefügt werden. Der eine betrifft das Kombinationszitat, das E. Schweizer zufolge im damaligen Judentum „häufig erfolgt“.112 In der Tat treffen wir dort gerade die Zitatkombination von Ps 2 und Jes 42,1ff öfter (Ps Sal 17,22ff. 37ff; ä Hen 45,3ff; 46,3ff; 48,4ff ). Die Gottesstimme von Mt 3,17 nimmt also Erwartungen und Sehnsüchte des damaligen Judentums auf. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Liebe des Vaters zum Sohn. Die bisherige Auslegung ist diesem Gesichtspunkt nicht immer gerecht geworden.113 Drei Mal taucht das Motiv der Liebe in Mt 3,17 auf: a) schon im SohnesBegriff per se, b) im Begriff des ἀγαπητός [agapētos] (vgl. ‫ [ יִָחיד‬jāchīd] und ‫[ ָאַהְב ָתּ‬ʾāhabtā] Gen 22,2), c) in εὐδόκησα [eudokēsa] (vgl. ‫[ ָבִּחיר‬bāchīr] und ‫שׁי‬ ִ ‫[ ָרְצָתה נְַפ‬rāzᵉtāh naphschī ] Jes 42,1). Man kann hier von einer tiefen trinitarischen Liebe im Sinne von Mt 12,17ff; 28,19 sprechen.114 Stärker als die neuzeitliche Theologie hat das Kirchenlied die Erinnerung an diese göttliche Liebe bewahrt, vgl. Paul Gerhardt 1653: „Sollt uns Gott nun können hassen, der uns gibt, was er liebt über alle Maßen?“ (EG 36,3).

IV Zusammenfassung 1. Die Taufe Jesu durch Johannes bedeutet den Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu und führt zu einer wichtigen Weichenstellung für die ganze Jesusgeschichte. 2. Jesus kommt zur Taufe im Gehorsam gegen den Willen Gottes, der hier durch Johannes eine Bußbewegung für ganz Israel schenkt. Hätte sich Jesus dieser Bußbewegung entzogen, wäre er ungehorsam und hochmütig gewesen und hätte die „Versuchung vor der Versuchung“115 nicht bestanden. Das Taufgespräch mit dem Täufer macht jedoch klar, dass er nicht kam, weil er ein Sünder gewesen wäre.116 Jesu Teilnahme an der Johannestaufe geht aber auch nicht darin auf, dass er Solidarität mit den Sündern übt, sondern sie ist schon 112 Schweizer a.a.O. 369. 113 Eine Ausnahme ist Schlatter 35. 114 Vgl. dazu auch F. Büchsel im Art. μονογενής, ThWNT, IV, 1942, 747; G. Schrenk im Art. εὐδοκέω usw., ThWNT, II, 1935, 738. 115 Davies-Allison 355: „a prelude to the temptation“. 116 Gegen Fiedler 82 und das Hebr Ev (bei Aland Syn 27).

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ein Zeichen dafür, dass er unsere Sünde tragen und sühnen will (vgl. Jes 53,10-12). 3. Im Anschluss an die Taufe erhält Jesus die Fülle des Heiligen Geistes. Diese Geistverleihung bildet keinen Gegensatz zu seiner Menschwerdung aus dem Heiligen Geist (Mt 1,18ff ) und auch nicht zu einem früheren geistgeleiteten Leben (vgl. Lk 2,47.52). Vielmehr bedeutet die Geistverleihung bei der Taufe die bleibende Ausrüstung für den vor ihm liegenden Dienst.117 Jetzt wird auch sein Auftrag erkennbar: Es ist der Auftrag zur Passion und zum Sühnetod, durch den er uns von unseren Sünden retten soll (Gen 22,2; Jes 42,1; 53,1ff; vgl. Mt 1,21). 4. Diesen Weg geht Jesus unter den Zusagen Gottes, des Vaters. Sie wurden schon im AT formuliert, werden jetzt aber aktualisiert. Jesus ist der „Sohn“ des Vaters. Dabei bedeutet Sohn nicht nur einen „Zuordnungsbegriff “118, sondern eine Aussage Gottes über den Ursprung und das Wesen Jesu. Das Matthäusevangelium widerspricht jeder adoptianischen Christologie, als sei Jesus zu Gottes Sohn erst bei der Taufe „geworden“ oder in ihr zum Sohn angenommen („adoptiert“).119 Durch das Zitat von Ps 2,7 wird zugleich klargestellt, dass der Weg des Sohnes nicht in der Passion endet, sondern zur Herrlichkeit und einem ewigen Königtum bestimmt ist. Die zweite große Zusage besteht darin, dass Jesus als dem Sohn auch die einzigartige Liebe des Vaters gilt. Mit ihm bringt der Vater ein unausdenklich großes Opfer (Röm 8,31ff; Eph 1,3ff ) für die Rettung einer verlorenen Menschheit. Damit stehen wir vor den Grundlagen der Trinität. 5. An keiner Stelle wird die Historizität des Berichts ernsthaft in Zweifel gezogen120 – es sei denn, man würde Wunder schon an sich oder jede Berührung mit der Transzendenz als unhistorisch bezeichnen.121 Die bei den großkirchlichen wie bei den häretischen Evangelien spürbare Problematik einer Taufe Jesu durch Johannes bestätigt die Historizität des Vorgangs. Die geschichtlich bezeugte und vom Wesen der Geschichte geforderte Unterredung des Täufers mit den Taufwilligen spricht auch für die Geschichtlichkeit des Gesprächs in Mt 3,14-15. Schließlich müsste man die im Kern übereinstim-

117 Davies-Allison 334f. 118 Gegen Hengel Sohn 36. 119 Tasker 50; Davies-Allison; Schniewind 26f; Fiedler 86; Klostermann 25. Gegen Bultmann Gesch 267ff; Beare 99. 120 Gegen Bultmann Gesch 263ff; Beare 99; Luz I 150f; Fiedler 82. Siehe dagegen Tasker 49. 121 Beare a.a.O.: „realm of myth“.

9. Die Versuchung Jesu, 4,1-11

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menden Berichte aller vier Evangelien für unhistorisch erklären, wenn man die geschichtliche Glaubwürdigkeit von Mt 3,13-17 bestreiten wollte. 6. Die Diskussion und Auslegungsgeschichte des Taufberichts beginnt praktisch schon mit dem Erscheinen der Evangelien. Sie zieht sich durch die ganze Kirchengeschichte. Vielleicht ist die Bemerkung, die Ignatius ca. 115 n.Chr. in seinem Brief an die Smyrnäer macht (I,4f ), und zwar über Mt 3,14f, der früheste unbestreitbare Beleg für das Matthäusevangelium.122 Das Hebräer- und das Ebionitenevangelium, Justinus Martyr (ca. 150 n.Chr.), Irenäus (ca. 180 n.Chr.) sind weitere Stationen auf dem Weg der frühen Auslegungsgeschichte. Der Koran nimmt mehrfach darauf Bezug, so in der 2. Sure: „Jesus, dem Sohne Marias, gaben wir Wunderkraft und rüsteten ihn mit dem heiligen Geist“ (2,254; vgl. 4,172). Die Überlegenheit, die Luz für den „heutige(n), historisch-kritische(n) Ausleger“ gegenüber der älteren kirchlichen Auslegung in Anspruch nimmt,123 ist durch nichts gerechtfertigt. Im Gegenteil: Wir als die heutigen Ausleger müssen aufpassen, dass uns nicht der Zusammenhang mit den älteren, den Evangelien viel näheren Auslegern und mit der kirchlichen Glaubenslehre (der „Analogie des Glaubens“, Röm 12,6) verloren geht.

9. Die Versuchung Jesu, 4,1-11 I Übersetzung 1 Darauf wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden. 2 Und nachdem er vierzig Tage und vierzig Nächte lang gefastet hatte, hungerte ihn nach dieser Zeit.1 3 Und der Versucher trat heran und sagte zu ihm: Bist du Gottes Sohn, dann sprich, dass diese Steine Brot werden. 4 Er aber gab zur Antwort: Es ist geschrieben: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt. 5 Darauf nimmt ihn der Teufel mit in die heilige Stadt, und er stellte ihn auf die äußerste Spitze des Tempels 6 und sagt zu ihm: Bist du Gottes Sohn, dann wirf dich hinab! Denn es ist geschrieben: Seinen Engeln wird er dich anbefehlen, und sie werden dich auf Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. 7 Jesus sagte zu 122 Davies-Allison 327: „to the date and circulation of our gospel“. 123 Luz I 157. 1 Vgl. BDR § 62,2.

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ihm: Es ist aber auch geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen. 8 Wiederum nimmt ihn der Teufel mit auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit 9 und sagte zu ihm: Das alles werde ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. 10 Da sagt Jesus zu ihm: Weg, Satan! Denn es ist geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen. 11 Da verlässt ihn der Teufel, und siehe, Engel kamen herbei und dienten ihm.

II Struktur Die Struktur von Mt 4,1-11 besitzt eine große Transparenz. Nach der knappen Schilderung einer geschichtlichen Situation der Jesusgeschichte (V. 1-2) berichtet Matthäus von einem dreifachen Gang der Versuchung Jesu. Der Schlussvers (V. 11) verzeichnet einige wichtige Resultate dieses Vorgangs. Die Worte Τότε ὁ Ἰησοῦς ἀνήχθη [Tote ho Iēsous anēchthē] in V. 1 markieren einen deutlichen Neueinsatz des Berichts, vgl. Τότε παραγίνεται ὁ Ἰησοῦς [Tote paraginetai ho Iēsous] in 3,13. Der Schluss des Abschnitts ist weniger deutlich, was dazu führt, dass z.B. Davies-Allison Mt 4,1-22 zu einem größeren Abschnitt zusammenfassen unter der Überschrift „The Beginning of the Ministry“ und Mt 4,1-11 lediglich als Unterabschnitt behandeln.2 Thematisch und inhaltlich setzt jedoch mit Mt 4,12 eine andere Situation ein, sodass es gerechtfertigt ist, Mt 4,1-11 als selbstständige Einheit zu betrachten. Davies-Allison weisen darauf hin, dass das Dreifachgeschehen der Versuchung bei Matthäus eine Parallele in Mt 26,36-46 und auch in Mt 26,69-75 hat.3 Richtig ist, dass Matthäus solche Dreifachvorgänge liebt (vgl. auch die Fragen der jüdischen Lehrer in Mt 22,15-40). Die wohl in der Katechese bewährte règle de tri hat nur bei Lukas (4,1-13) eine Parallele, nicht bei Markus. Lukas stellt aber den Ablauf um: Die Versuchungen Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 bei Matthäus erhalten bei ihm die Reihenfolge 1 – 3 – 2. Da kein überzeugender Grund für eine solch verschiedene Reihenfolge erkennbar ist, falls es diese Erzählung in Q gegeben hätte,4 wird man auch hier gegenüber einer angeblichen Quelle Q misstrauisch bleiben müssen. Jedoch legen die ähnlichen Berichte bei Matthäus und Lukas die Annahme nahe, dass die Erzählung von der Versuchung Jesu im Urchristentum weitverbreitet war. Vermutlich spielen Stellen wie 1Kor 10,13; Hebr 2,18; 4,15 darauf an. Markus legt lediglich eine Kurzfassung vor. 2 Davies-Allison 350f. 3 Davies-Allison 352. 4 Das Urteil von Davies-Allison a.a.O. über eine „climax“ der Vorgänge ist subjektiv.

9. Die Versuchung Jesu, 4,1-11

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In allen drei Gängen der Versuchung ist der Teufel die aktiv handelnde Person. Das lässt uns vorsichtig bleiben gegenüber einer Exegese, die die Versuchung Israels in der Wüste in eine allzu enge Parallele zur Versuchung Jesu in der Wüste bringen will.5 Denn in der Wüste des Exodus ist es Gott, der Israel „versucht“ (Dtn 8,2 LXX). In Mt 4,1ff aber ist es der Diabolos. Allerdings bleibt auch in Mt 4,1ff die höchste Lenkung der Ereignisse bei Gott. Denn es ist ja „der Geist“, der Jesus zum Zweck der Versuchung (Erprobung) in die Wüste führt. Und es sind die Engel Gottes (V. 11), die den Sieg Jesu feststellen. Näher als die Parallele zum Exodus liegt die Parallele zur Versuchung Adams im Paradies nach Gen 3. Denn auch dort ist der Teufel, die „alte Schlange“ (Offb 12,9; 20,2), eine aktiv handelnde und bestimmende Person. Auch dort geschieht die Versuchung in mehreren Stufen, so wie auch die Bestrafung dreifach erfolgt (Schlange – Frau – Mann). Die vorgegebene Parallelität bezüglich des Maßstabs der Gerechtigkeit und des Gehorsams hat es dann Paulus ermöglicht, seine Gegenüberstellung von Adam und Christus zu entwerfen (Röm 5,12ff; 1Kor 15,20ff.45ff ).6 Zu beachten ist die Verklammerung mit dem vorausgehenden Abschnitt Mt 3,13-17 durch den Begriff des „Sohnes Gottes“. Als „Sohn Gottes“ wurde Jesus bei der Taufe angesprochen (3,17). Jetzt beginnen die Akte der Versuchung zweimal mit den Worten „Bist du Gottes Sohn“ (εἰ υἱὸς εἶ τοῦ θεοῦ [ei hyios ei tou theou], V. 3.6). Schon jetzt lässt sich leicht erkennen, dass „Sohn Gottes“ für Matthäus ein Zentralbegriff der Theologie und Christologie ist (vgl. 14,33; 16,16; 26,63f; 27,54; 28,19).

III Einzelexegese Der Geist (τὸ πνεῦμα [to pneuma], abs.) ist es, der hier zuerst handelt.7 Es kann nur der Heilige Geist gemeint sein, den Jesus bei der Taufe erhielt.8 Aber er ist hier mehr als eine Kraft. Er wird vielmehr als Person geschildert, die führt und Ziele verwirklicht. Mit einem Wort: Der Heilige Geist begegnet uns hier als eine der drei Personen des biblischen Gottes, also wie in Mt 28,19 im Sinne der Trinität. Gott der Vater, Gottes Sohn und Gottes Geist sind in Mt 3,13–4,11 aufs Engste miteinander verschränkt. Eine Vorstufe dazu kann man in der rabbinischen Literatur erblicken, in der „sehr oft vom Geist 5 So etwa Davies-Allison 354ff; France 97; Senior 58. Vgl. dagegen die Ablehnung bei G. Kittel, Art. ἔρημος usw., ThWNT, II, 1935, 655; France 97; Senior 58. 6 Vgl. J. Jeremias, Art. Ἀδάμ, ThWNT, I, 1933, 141ff. 7 Luck 39; Schlatter 36. 8 Carson 111; Zahn 152; Luz I 162.

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in persönlichen Kategorien“ die Rede ist.9 Sogar als Fürsprecher tritt der Geist dort gelegentlich auf.10 Es greift also viel zu kurz, wenn Eduard Schweizer den Geist von Mt 4,1 lediglich als „Gottesknecht“ klassifiziert und sein Handeln in Parallele zu den alttestamentlichen und neutestamentlichen „Entrückungen“ (z.B. Apg 8,39) setzt.11 Vom Geist wurde Jesus in die Wüste geführt (ἀνήχθη [anēchthē]). Das einleitende τότε [tote] bezeichnet hier das „zeitlich Nachfolgende“ und muss deshalb mit darauf übersetzt werden.12 Geführt, ἀνήχθη [anēchthē], heißt genauer „hinaufgeführt“. Gemeint ist vermutlich das Hinaufführen aus der Jordanniederung in die höher gelegenen wüstenhaften Ränder des Jordantales.13 So hat es jedenfalls Lukas (4,1) aufgefasst. Viele Ausleger verstehen das matthäische ἀνήχθη [anēchthē] als Milderung des markinischen ἐκβάλλει [ekballei] (Mk 1,12), sofern sie von der Zwei-Quellen-Theorie ausgehen.14 Eine solche Wort-für-Wort-Korrektur bleibt aber nach wie vor schwer vorstellbar und historisch unwahrscheinlich.15 Im Übrigen hat ἐκβάλλειν [ekballein] keineswegs immer eine gewaltsame Bedeutung. Vielmehr heißt es oft „aussenden“, „entlassen“ und „hinausführen“,16 und so übersetzt es auch Friedrich Hauck in Mk 1,12 mit „hinausführen“17. Ein sachlicher Unterschied zwischen Mt 4,1 und Mk 1,12 besteht demnach nicht. Da in V. 3 Steine erwähnt werden, könnte es sich bei der Wüste um eine Steinwüste handeln. In der Tat weisen die kahlen Ränder des Jordantales oft den Charakter einer Steinwüste auf. Ganz sicher ist das aber nicht. Jesus hungerte zwar in dieser Zeit, muss aber zum Trinken Wasser gehabt haben.18 Eine reine Stein- oder Sandwüste war es also nicht. Entscheidend bleibt, dass es sich um eine „menschenleere Gegend“ handelte.19 Jesus hat solche Gegenden öfter zum Gebet und zur Besinnung aufgesucht.20 Hier aber liegt der Fall anders. Denn das Ziel der Geistesleitung beschreibt Mt 4,1 mit den Worten: um vom Teufel versucht zu werden (πει-

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

E. Sjöberg im Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1959, 385, mit Nachweisen. Sjöberg a.a.O. 387. E. Schweizer im Art. πνεῦμα, a.a.O. 395f.406.360. BDR § 459,2. Bauer-Aland, 103. Vgl. Davies-Allison 354; Zahn 152; Luz I 162; Mello 94. Vgl. Beare 106. Vgl. Carson 111; Zahn 150f. Bauer-Aland, 478; F. Hauck, Art. βάλλω usw., ThWNT, I, 1933, 525f. Hauck a.a.O. 526. Anders Mello 94. So G. Kittel, Art. ἔρημος usw., ThWNT, II, 1935, 655. Kittel a.a.O.

9. Die Versuchung Jesu, 4,1-11

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ρασθῆναι ὑπὸ τοῦ διαβόλου [ peirasthēnai hypo tou diabolou]).21 Zum Teufel vgl. bei V. 3. Hier muss πειράζειν [ peirazein] in seinem negativen Sinne genommen werden, also nicht im Sinne von „prüfen“, „erproben“, sondern als versuchen zum Zweck der Trennung von Gott.22 Heinrich Seesemann sagt mit Recht: Der Teufel „bemüht sich darum, Jesus auf jede Weise von seinem Gehorsam gegen Gott abzubringen“.23 Richtig ist auch, dass nach Mt 4,1ff Jesus bisher ganz in diesem Gehorsam stand.24 Dies alles ändert aber nichts an der grundlegenden Tatsache, dass Gott selbst der Herr des Geschehens bleibt. Er selbst ist es, der den Sohn in der teuflischen Versuchung auf die Probe stellt (vgl. die Erklärung bei V. 11).25 Wir stoßen hier auf zwei wichtige Aussagekreise der Schrift. Der erste betrifft das Wirken des Geistes. Wo Gottes Geist wirkt, findet sich nicht nur Triumph und sieghaftes Leben, gewissermaßen von einem Wunder zum andern, sondern oft auch der Weg nach unten, in Leid, Not und Prüfungen (vgl. Mt 10,20; Apg 6,5; 20,22; Jak 1,2ff ). Der zweite Aussagekreis ist christologischer Art. Der wahre Christus ist ein Christus des Leidens, der immer wieder Versuchungen zu bestehen hat.26 Wer ihm nachfolgt, wird ebenfalls sein Kreuz tragen und mit ihm leiden (Mt 10,38; Lk 4,13; 22,28; Röm 8,17; Hebr 2,17f; 4,15; 5,7f; 9,14f ). In der Wüste fastete Jesus vierzig Tage und vierzig Nächte lang (V. 2). Nach dem Zusammenhang hat der Heilige Geist Jesus zu diesem Fasten angeleitet.27 Im Judentum gehen Fasten und Gebet „Hand in Hand miteinander“.28 Wir können also annehmen, dass Jesus vor allem des Gebets wegen die Einsamkeit aufsuchte, um eine „Zeit des einsamen Umgangs mit Gott“ zu haben.29 So rüstete er sich am besten für die Auseinandersetzung, die ihm bevorstand. Die Zeitspanne gibt Matthäus mit vierzig Tagen und vierzig Nächten an, Mk 1,13 und Lk 4,2 nennen nur vierzig Tage. Matthäus hat offenbar gemäß jüdischem Sprachgebrauch die vierzig Nächte ergänzt.30 Sachlich gehen jedoch alle drei Evangelisten von derselben Zeitspanne aus. 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Davies-Allison 355: ein „telic infinitive“. Vgl. H. Seesemann, Art. πεῖρα usw., ThWNT, VI, 1959, 27ff. A.a.O. 34. A.a.O. 35. Gegen Seesemann a.a.O. 34, Anm. 58. Vgl. Davies-Allison 354; Tasker 52; France 96; Carson 112; Zahn 153. France 96f. G. Kittel im Art. ἔρημος usw., ThWNT, II, 1935, 655. J. Behm, Art. νῆστις usw., ThWNT, IV, 1942, 929. Kittel a.a.O.; Behm a.a.O. 932. Vgl. G. Delling, Art. νύξ, ThWNT, IV, 1942, 1118; G. Delling, im Art. ἡμέρα, ThWNT, II, 1935, 952f.

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Die jüdische Sprachform vierzig Tage und vierzig Nächte scheint einerseits die Länge der Zeit, andererseits die vollen Tage zu betonen.31 Am Ende dieses Fastens (νηστεύσας – ὕστερον [nēsteusas – hysteron]) hungerte ihn. Auch Lk 4,2 erwähnt nur den Hunger Jesu (wie in Mt 4,2 ἐπείνασεν [epeinasen]). Deshalb nehmen wir an, dass sich Jesus in der Nähe eines Wadi aufhielt und Zugang zu trinkbarem Wasser hatte.32 Die Zahl vierzig hat in der Bibel eine auffallende Bedeutung. Vierzig Tage sind Gerichtszeit bei der Sintflut (Gen 7,4.12.17); vierzig Jahre sind Straf- und Erprobungszeit Israels in der Wüste (Num 14,33; 32,13; Dtn 8,2); vierzig Tage und Nächte fastet Mose auf dem Sinai (Ex 24,18; 34,28; Dtn 9,9); vierzig Tage und Nächte geht Elia in der Kraft seiner wunderbaren Speise zum Sinai (1Kön 19,8); vierzig Jahre lang empfängt Israel in der Wüste das Manna (Ex 16,35; Dtn 8,3); vierzig Tage lang sehen die Jünger den auferstandenen Jesus (Apg 1,3).33 Horst Balz stellt Ähnliches in der „spätjüdischen Literatur“ fest: hier werde „die Häufigkeit von 40 nur noch von der Sieben übertroffen“.34 Wir müssen deshalb annehmen, dass die Zahl vierzig in Mt 4,2 nicht nur eine Realzahl darstellt, sondern zugleich auch eine symbolische Bedeutung hat. Sie rückt Jesus in die Nähe des Mose,35 legt also nahe, dass Jesus der zweite Mose ist (vgl. Dtn 18,15ff ), und deutet an, dass sich in Jesus noch einmal die Geschichte Israels wiederholt und er deshalb erneut eine Prüfung in der Wüste zu bestehen hat.36 Die Aussage es hungerte ihn macht die menschliche Natur des Gottessohnes Jesus deutlich.37 Gerade Matthäus weist auf diese menschliche Natur hin (21,18), obwohl die Sohnes-Christologie in seinem Evangelium einen hervorragenden Rang einnimmt. Was später die dogmatische Kurzformel „wahrer Mensch und wahrer Gott“ aussagte, ist schon im Matthäusevangelium vorhanden. Mit V. 3 beginnt die eigentliche Versuchungsgeschichte in drei Anläufen. Und der Versucher trat heran und sagte zu ihm: Bist du Gottes Sohn, dann sprich, dass diese Steine Brot werden. Die Knappheit der biblischen Schilderung (auch bei Lukas!) überrascht. Offenbar hatten die neutestamentlichen Verfasser kein Interesse daran, das Auftreten des Teufels breit auszu31 Delling, νύξ (Anm. 1), 1118; ἡμέρα (Anm. 1), 952f. 32 Ähnlich Carson 112. 33 Vgl. noch Jona 3,4 mit der Erprobungszeit für Ninive; Est 4,16; Apg 7,30.36.42; Hebr 3,9.17. 34 Art. τέσσαρες usw., ThWNT, VII, 1969, 137. 35 Balz a.a.O. 138: „eine Mosetypologie“; Schniewind 29; Schlatter 36. 36 Vgl. Balz a.a.O.; Davies-Allison 352.354.356; Carson a.a.O. 37 France 98.

9. Die Versuchung Jesu, 4,1-11

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führen. Eher herrschte eine Tendenz zur Reduzierung, wie Mk 1,12-13 zeigt. Und obwohl V. 3 keine grammatikalischen Schwierigkeiten bietet, ist der Vers wegen seiner metaphysischen Bezüge heftig umstritten. Lehrreich ist hier ein Blick in Werner Georg Kümmels Das Neue Testament. Das Buch referiert Karl Hase, der die Versuchung Jesu als wahrhafte, innere Geschichte auffasste.38 Ausführlich kommt Johann Philipp Gabler (1753–1826) zu Wort, der zwar keinen Zweifel daran lässt, „daß die Evangelisten diese Scene für eine wahre Begebenheit gehalten haben“,39 aber als kritischer Exeget seine Fragen stellt: „Kann der Teufel Jesum so persönlich … versucht haben?“ „Kann Jesus so gutmüthig dem Teufel überall gefolgt seyn?“40 Schließlich kommt Gabler zu dem Ergebnis, dass „die Phantasie das Bild des Teufels unter“-geschoben habe.41 Aber folgen wir dem Text. ὁ πειράζων [ho peirazōn] ist sicherlich der Teufel (1Thess 3,5), der ab V. 5 ὁ διάβολος [ho diabolos] heißt. Eine Erklärung über seine Vorgeschichte oder seinen Charakter wird hier so wenig gegeben wie in Gen 3,1ff. Aus geheimnisvollem Hintergrund trat er heran, fast beschwingt und ohne Hindernisse.42 Das Mittel der Kommunikation ist auch für ihn das Wort. Er sagte zu Jesus: Bist du Gottes Sohn, dann sprich, dass diese Steine Brot werden (εἰ υἱὸς εἶ τοῦ θεοῦ, εἰπὲ ἵνα οἱ λίθοι οὗτοι ἄρτοι γένωνται [ei hyios ei tou theou, eipe hina hoi lithoi houtoi artoi genōntai]). In dem griechischen εἰ [ei] liegt eine Voraussetzung: „Wenn du wirklich Gottes Sohn bist …“.43 Aber sie spielt in den Irrealis hinüber: „Wenn es wirklich so wäre …“.44 Genialerweise gebraucht der Teufel eine doppelte Tastatur: Er treibt Jesus zur praktischen Umsetzung seiner einzigartigen Position an und sät gleichzeitig in Jesus den leichten Zweifel, ob denn wirklich die Stimme bei der Taufe recht hatte. Muss Jesus also nicht auf alle Fälle handeln? Nach heutigen Mediengesetzen wohl schon. Der Teufel greift gleichzeitig die schwächste Stelle an: Das persönliche Leiden am Hunger. Ein „hungernder Gottessohn“? Dogmatisch schwer vorstellbar. Um welche Dimensionen es sich hier handelt, zeigen die patripassianischen Diskussionen vom Anfang

38 39 40 41 42

Kümmel NT 110. Kümmel NT 121. A.a.O. Kümmel NT 122. Über das persönliche Erscheinen des Teufels herrscht kein Dissens. Vgl. b Sanh 89 b; Davies-Allison 355; Seesemann a.a.O. 34. 43 BDR § 372,1. 44 Vgl. BDR § 360.

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des 3. Jh. n.Chr.45 und Jürgen Moltmanns Der gekreuzigte Gott. Aber dahinter wird eine wesentlich weiter gespannte Thematik erkennbar. Der Teufel benutzt zweimal den Plural: οἱ λίθοι – ἄρτοι [hoi lithoi – artoi] (Steine – wörtlich Brote). An Steinen wird es wahrlich keinen Mangel gegeben haben. Das diese kann wie in Joh 4,21 real-demonstrativ verstanden werden. Brote aber führt weit über die persönliche Hungersituation hinaus. Es lässt an den Welthunger denken, der ja nach Mt 24,7 eschatologisch erwartet wird. Jesus als ein Wundermensch, der allen Menschen der Welt den Hunger stillt und genügend Brot verschafft? Jedenfalls würde im 21. Jh. nichts sehnlicher erwartet. Es ist die materialistische Versuchung schlechthin,46 die uns in Mt 4,3 begegnet. Ein kleiner Punkt bedarf noch unserer Aufmerksamkeit. Der Teufel erwartet den totalen Wandel aller Verhältnisse durch ein schlichtes Wort Jesu (sprich, εἰπέ [eipe]). Kann es eine größere Anerkennung für Jesus geben? In der jüngeren Exegese steht zur Diskussion, ob die Versuchungen Jesu „spezifisch messianische“ sind.47 Diese Diskussion ist wenig fruchtbar, und zwar deshalb, weil Messias im Sinne des AT und des Judentums nur sein kann, wer auch gänzlich gerecht ist. Insofern würde ein Versagen Jesu in den Versuchungen es von vornherein unmöglich machen, dass er der Messias sein kann.48 Zweitens aber geht es bei den verschiedenen Versuchungen nicht nur um „Ethik“ und Sachfragen, wie Bultmann laufend vorauszusetzen scheint,49 sondern um die innigste personale Gemeinschaft zwischen Jesus und dem Vater, die zerbrechen muss, wenn Jesus auf die Stimme des Versuchers hört.50 Unleugbar tritt aber mit Mt 4,3 schon eine doppelte Parallelität zutage: die Parallele zu Adam in Gen 3 und die Parallele zu Mose (Ex 16).51 V. 4 berichtet die Antwort Jesu. An ihrer Spitze steht das γέγραπται [gegraptai]. Da dieses Es steht geschrieben auch in V. 7 und V. 10 einen prominenten Platz an der Spitze einnimmt, tritt im Verhalten Jesu durchweg die Anerkennung der Heiligen Schrift und der Gehorsam ihr gegenüber in den Vordergrund. Er ist der schriftgemäße, und das heißt zugleich: der von Gott gewollte Gerechte schlechthin.52

45 Vgl. Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, 1, hrsg. von Carl Andresen, Göttingen, 1988, 132f. 46 France 98: „an ‚economic Messiah‘“. 47 Vgl. Bultmann Gesch 274. 48 Gegen Bultmann a.a.O.; Luck 39f. Richtig dagegen Fiedler 90. 49 Bultmann Gesch 271ff. 50 Vgl. Cullmann 283ff.291ff. 51 Vgl. Schniewind 29; Tasker 53. 52 Vgl. Mello 95.

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Die Stelle, auf die er sich hier bezieht, ist Dtn 8,3. Sie wird mit denselben Worten zitiert, wie sie in der LXX lauten. Aber auch der MT sagt nichts wesentlich anderes. Neu erscheint in der LXX ῥήματι [rhēmati], wobei zu bedenken ist, dass ῥῆμα [rhēma] nicht nur das Wort, sondern auch das „Ding“ bezeichnet und insofern nur den masoretischen Text verdeutlicht. Dem Inhalt nach aber handelt es sich wirklich um das Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.53 Allerdings hat schon Keil davor gewarnt,54 dieses Wort auf das „Gesetzeswort“ einzuengen. Wir müssen darunter ganz allgemein „überhaupt das Wort, der ausgesprochene Wille Gottes, dem Menschen durch irgend etwas das Leben zu erhalten“ verstehen.55 Kehren wir zurück zu Mt 4,4: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort,56 das aus dem Munde Gottes kommt (ἐπὶ παντὶ ῥήματι ἐκπορευομένῳ διὰ στόματος θεοῦ [epi panti rhēmati ekporeuomenō dia stomatos theou]). Jesus antwortet also nicht: „Der Messias lebt“, oder: „Ich lebe“, sondern exakt wie Dtn 8,3 Der Mensch (ὁ ἄνθρωπος [ho anthrōpos] = ‫[ ָהָאָדם‬hāʾādām]) lebt. Was in Dtn 8,3 steht, hat also gesamtmenschliche Bedeutungen. Dadurch kommt auch der Adam (Mensch) von Gen 3 in den Blick! Die beiden folgenden entscheidenden Worte sind nicht allein. Es wird also weder von Dtn 8,3 noch von Jesus geleugnet, dass Brot ein zentrales Lebensmittel darstellt. Wie könnte Jesus dies denn leugnen, da er die Vaterunserbitte ums tägliche Brot noch der Vergebungsbitte voranstellt (Mt 6,11f )! Jesus setzt den Extremforderungen des Teufels nicht seine Extremforderungen entgegen, sondern – die Wahrheit! Und die ist ja tatsächlich so, dass Brot im äußeren, materiellen Sinne für Israel noch nicht das ersehnte Leben bedeutet. Sonst hätte es bei den Fleischtöpfen Ägyptens bleiben können (Ex 16,3ff; Num 11,1ff; 14,3ff ). Das Wort Gottes aber ist die Grundlage allen Lebens: Es hat die Schöpfung mit all ihren Nahrungsmöglichkeiten hervorgebracht, es kann auf wunderbare Weise Brot und Wasser schaffen, wo wir nichts davon ahnen (Ex 15,22ff; 16,1ff; 17,1ff; Num 11,4ff; 20,2ff; 1Kön 17,1ff ), und es gibt uns alle Güter zum geistlichen Leben (Joh 6,68; Eph 1,3ff ). Wo der Teufel die Abhilfe nur noch im sichtbaren, materiellen Bereich sieht, da sieht Jesus die ungezählten Möglichkeiten Gottes. Mt 4,3 ist sozusagen „die“ materialistische Versuchung des Menschen schlechthin, die alle sichtbaren Leiden und materiellen Defizite beheben will. Jesus sagt Nein, weil er a) im Unter-

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Vgl. auch Rad II 101; Keil 448f. Keil a.a.O. Keil 448. Zur Konstruktion ἐπί τινι [epi tini] vgl. BDR § 235,3.

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schied zu Adam und Eva in Gen 3 der Stimme des Teufels nicht folgen will,57 weil er b) im Unterschied zu Israel das in Dtn 8,3 Gesagte wirklich akzeptieren will und weil er c) nur dann handeln will wenn ihn der Vater dazu beauftragt, dann aber mit den unbegrenzten Möglichkeiten des Vaters rechnet. – Das ist auch nach Joh 4,34 seine Haltung gewesen.58 Seltsamerweise steht überhaupt nicht zur Diskussion, ob Jesus die Steine in Brote verwandeln könne. Das steht vielmehr für beide fest (vgl. Joh 2,1ff ).59 Jesus bräuchte nur ein einziges Wort zu sprechen, damit aus den Steinen Brot würde.60 Der zweite Gang der Versuchung spielt sich in den Versen 5-7 ab. Der Teufel (ὁ διάβολος [ho diabolos]) lässt hier seine Macht viel stärker spüren. Stand er Jesus in V. 3 noch als fast höflicher Gesprächspartner gegenüber, so nimmt er ihn jetzt in Entfaltung seiner Kräfte mit in die heilige Stadt und stellte ihn auf die äußerste Spitze des Tempels (V. 5). Aufgrund des Kontextes – wirf dich hinab!, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest – wird man eher an eine leibliche Entrückung, weniger an ein rein inneres Erlebnis zu denken haben.61 Dass der Teufel göttliche Entrückungswunder (z.B. Apg 8,39f ) nachahmt, braucht niemand zu wundern. Paulus und Johannes rechnen noch mit weit mehr teuflischen Wundertaten (2Thess 2,9f; Offb 13,1ff ).62 Τότε [Tote] hat den Sinn von darauf,63 das Praesens historicum παραλαμβάνει [ paralambanei] verlebendigt die Erzählung.64 Die heilige Stadt meint das damalige geschichtliche Jerusalem,65 der Ausdruck ist für Matthäus typisch (vgl. 27,153; 5,35).66 Doch was ist τὸ πτερύγιον τοῦ ἱεροῦ [to pterygion tou hierou] (wörtlich: „das Flügelchen des Tempels“)? BauerAland67 und Blass-Debrunner-Rehkopf 68 übersetzen „Zinne“. Im Griechischen kommen die Bedeutungen „Türmchen“, „Brustwehr“, „Dachspitze“ in-

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Vgl. J. Jeremias, Art. Ἀδάμ, ThWNT, I, 1933, 142. Jüdischerseits durch Sap Sal 16,26 bestätigt. Vgl. Tasker 53; Fiedler 90. Vgl. Schlatter 37f. Vgl. Wilckens I/1, 112f. Immerhin bevorzugten Theodor von Mopsuestia und die meisten Antiochener eine visionäre Erfahrung (Davies-Allison 364); ebenso Zahn 158, France 99. Davies-Allison a.a.O.: „unclear“. Mit Magie hat das nichts zu tun. Gegen Beare 110 („magic“). BDR § 459,2. BDR § 321. H. Strathmann, Art. πόλις usw., ThWNT, VI, 1959, 530. Strathmann a.a.O. A.a.O., 1455. § 111,8.

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frage.69 Joachim Jeremias plädierte 1936 für „Türsturz (Toraufbau) eines Tempeltors“.70 Gottlob Schrenk nennt drei Bestimmungsmöglichkeiten71: 1) Einen „Balkon“ an der äußersten Tempelmauer (nach Schlatter),72 2) „die Südostecke des äußeren Hofes, die ins Kidrontal hineinragte“ (nach Dalman), 3) eine Stelle im Süden des äußeren Tempelbezirks, auf der man es nach Josephus Ant XV, 412 vor Schwindel nicht aushielt. Eine Fußnote von Ralph Marcus und Allen Wikgren in Band VIII, 199 der Loeb Classical Library mit den Antiquitates des Josephus deutet das „Pinnacle“ von Mt 4,5 auf einen hohen Turm an der Südost-Ecke der Königlichen Halle des Tempelplatzes. Interessant ist auch ein Bericht des Hegesippus aus der Zeit um 160 n.Chr,73 wonach der Herrenbruder Jakobus von dieser „Zinne“ hinabgestürzt und anschließend erschlagen wurde. Eine letztgültige Festlegung ist gegenwärtig noch nicht möglich.74 Deshalb übersetzten wir ganz allgemein die äußerste Spitze.75 Einen „Türsturz“ oder „Balkon“ wird man jedoch ausschließen können. Die Wahrscheinlichkeit spricht eher für die von Josephus erwähnte Stelle oder einen turmartigen Mauervorsprung an der Südostecke des Tempelplatzes.76 Bist du Gottes Sohn, dann wirf dich hinab!, ruft der Teufel dem auf der Spitze Stehenden zu (V. 6). Spätestens dann müsste Jesus allen Anwesenden sichtbar werden, und spätestens ab jetzt muss mit einer leibhaftigen Entrückung gerechnet werden. Dass Mt 4,6 keine Zuschauer erwähnt, ist kein Einwand gegen die vorauszusetzende Anwesenheit ungezählter Tempelbediensteter und Besucher, die ständig im und beim Tempel unterwegs sind.77 Bist du Gottes Sohn: So lautete schon die Einleitung zur ersten Versuchung (V. 3). Der Teufel weiß, welche einzigartige Vollmacht mit der Sohnes-Stellung verbunden ist. Aber er kann sie nur im Sinne der Macht interpretieren (vgl. Offb 13,1ff ), nicht im Sinne der Liebe. Schlatter hat diese Seite der Versuchung ausgezeichnet exegesiert: Der Teufel hielt Jesus „vor, daß sich der Sohn Gottes nicht fürchten dürfe, sondern sich getrost hinabstürzen müsse. Er G. Schrenk, Art. ἱερός usw., ThWNT, III, 1938, 235. Bauer-Aland, 1455. Schrenk a.a.O. Vgl. Schlatter 38. Aufbewahrt bei Eusebius H.E. II, 23,12ff. Vgl. Schrenk a.a.O.: „bleibt zweifelhaft“. Carson 110.113 wie wir: „the highest point“. Skeptisch hier Zahn 157, der an das „Dach“ einer der Tempelhallen denkt. Ähnlich wie wir Mello 96. Vgl. Gaechter 113: „nicht bekannt“; Davies-Allison 365. „uncertain“. 77 Luz I 164; France 110, nach Lagrange: „the transfer to the temple presupposes a mass demonstration“; Gundry 56; Gaechter 113. Andere sehen hier kein anwesendes Publikum: Nolland 165; Zahn 158; France 99.

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solle es denen, die Gott nicht kennen, überlassen, sich zu fürchten, von Gefahr zu reden und auf dem natürlichen Wege von der Höhe herabzusteigen; für ihn passe das nicht, da er ja Gott unbedingten Glauben erweise und an seinem allmächtigen Schutz nicht zweifle.“78 Wir sollten aber auch hier nicht eine gewisse Beimischung des Zweifels übersehen, die Jesus anreizen sollte, eine Bestätigung seiner Sohnschaft zu suchen. Im Unterschied zur ersten Versuchung fügt der Teufel eine Begründung an: Denn es ist geschrieben (γέγραπται γὰρ [gegraptai gar]): Seinen Engeln wird er dich anbefehlen, und sie werden dich auf Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Sein γέγραπται [gegraptai] entspricht formal völlig dem Schriftgebrauch Jesu (vgl. V. 10). Formal also sind beide auf solcher Augenhöhe, dass man meinen könnte, zwei Schriftgelehrte disputierten miteinander. Das Zitat stammt aus Ps 91 (LXX Ps 90) und stimmt von ὅτι [hoti] bis τὸν πόδα σου [ton poda sou] (deinen Fuß) vollkommen mit dem LXX-Text überein. Allerdings wird die Zeile τοῦ διαφυλάξαι [tou diaphylaxai] bis ταῖς ὁδοῖς σου [tais hodois sou] („dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen“) vom Teufel nicht zitiert. Manche Autoren bewerten diese Auslassung sehr hoch. R.V.G. Tasker beispielsweise meint, durch diese Auslassung zerstöre der Teufel die Wahrheit des biblischen Originals („destroys the truth of the original“).79 Mit Recht warnen aber Davies und Allison vor einer Überbewertung dieser Auslassung, die ja immerhin durch das καί [kai] („und“) angedeutet ist.80 Man darf nicht vergessen, dass ja doch Lukas das τοῦ διαφυλάξαι σε [tou diaphylaxai se] („dass sie dich behüten“) im Munde des Teufels referiert. Man sollte sich also nicht irritieren lassen und von einem wahren – allerdings nicht 100% vollständigen81 – Schriftzitat des Teufels ausgehen. Was bedeutet das? Erstens: Der Teufel akzeptiert hier, dass Jesu Widerstand nur durch die Schrift zu überwinden ist. Das ist ein ausgezeichnetes Zeugnis für die Schrifttreue Jesu, ähnlich wie es später von den Pharisäern und Herodianern abgelegt wird (Mt 22,16). Zweitens: Der Teufel ist ein exzellenter Schriftkenner, der auch sehr gut weiß, welche Schriftstelle zu welcher Zeit eingesetzt werden kann. Beide Züge werden uns bei den Irrlehrern der Kirchengeschichte wieder begegnen: Sie wissen, dass der Widerstand der Gemeinde gegen schriftwidrige Lehren nur durch den Gebrauch der Heiligen Schrift überwunden werden kann, und sie besitzen die Fähigkeit, offenbar zutreffende Schriftaussagen an den richtigen Orten und Gelegenheiten einzu78 79 80 81

Schlatter 38. Tasker 54. Davies-Allison 366. Vorsichtig auch Gundry 57; Zahn 158; Carson 113. Davies-Allison a.a.O.: „for no clear reason“.

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bringen. Drittens: Der Teufel setzt dort an, wo Gott sein Wort niemals zurücknimmt, nämlich an der Verheißung seiner Treue. Dem, der ihn liebt (dem Sohn!) gilt nach Ps 91,14ff seine siebenfache Zusage: „ich will ihn erretten“ – „ich will ihn schützen“ – „ich will ihn erhören“ – „ich will ihn befreien“ – „ich will ihn zu Ehren bringen“ – „ich will ihn sättigen mit langem Leben“ – „ich will ihm zeigen mein Heil“. Nimmt Jesus hier Gott beim Wort, dann ist sein Sprung von der Tempelspitze ohne Gefahr. Zum fürsorglichen tragen Gottes vgl. Ex 19,4; Dtn 1,31; 32,11; Jes 63,9. Jesus warf sich nicht hinab. Ein zweites Mal bewährte er sich in der Versuchungsgeschichte als der Sündlose. Seine Weigerung begründet er dem Teufel gegenüber. Jesus sagte zu ihm nach V. 7 so: Es ist aber auch82 geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen. Was Jesus zu sagen hatte, umfasst im Wortbestand ungefähr nur ein Viertel dessen, was der Teufel ausführte.83 Statt einer Stelle aus den Ketubim, wie sie der Teufel wählte, nimmt er eine Stelle aus der Tora, nämlich Dtn 6,16. Es zeigt sich, dass das Mosegesetz, konkret das Deuteronomium, eine entscheidende Rolle in der Versuchung spielt.84 Wie wahr ist das, was Jesus in Joh 5,46 sagt: „Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir, denn er hat von mir geschrieben.“ Die gegenwärtige Exegese ist aber noch weit entfernt davon, diesen Sachverhalt fruchtbar zu machen. Vergleicht man nun Dtn 6,16 in der Fassung des Matthäus mit Dtn 6,16 LXX, dann zeigt sich eine völlige wörtliche Übereinstimmung. Dasselbe mussten wir bei Dtn 8,3 LXX / Mt 4,4 und Ps 91 (90),11f / Mt 4,6 notieren. Weshalb diese Übereinstimmung des hebräisch sprechenden Matthäus mit der Septuaginta? Warum die nahezu gleiche Situation bei Lukas? Eine naheliegende Antwort ist die: Beide wollten Lesern, die eine griechische Bibel (LXX) benutzten, eine genaue Nachprüfung ermöglichen. So sehr also das Matthäusevangelium seinem Charakter nach judenchristlich ist, so sehr bemüht sich Matthäus doch, auch Griechisch sprechende Christen zu erreichen (vgl. Apg 6,1ff ). Damit haben wir Mt 4,7 erst am äußeren Rand berührt. Worauf zielt Jesus? Nach Dtn 6,16 darf man Gott nicht so versuchen, wie ihn Israel in Massa (Ex 17,2ff ) versuchte. In Massa wollte Israel erreichen, dass sich Gott als Gott erwies, als einer, der in der Wüste Wasser schafft, als einer, der entgegen allen „natürlichen“ Bedingungen Wasser auch aus dem Felsen fließen lässt. In der 82 πάλιν [ palin] heißt hier „dagegen“, „andererseits“, BDR § 450,5. Zum Asyndeton an der Spitze von V. 7 vgl. BDR § 462,1. 83 Nach Nestle-Aland 8 Wörter gegenüber 29 des Diabolos. 84 Vgl. Gaechter 114.

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Versuchung Jesu ist der Teufel auf Ähnliches aus: Entgegen allen „natürlichen“ Bedingungen soll Jesus beim Sprung von der Tempelspitze unverletzt bleiben, Gott soll sich als ein Gott zeigen, der allen „natürlichen“ Bedingungen überlegen ist – und sein Sohn ebenso. Vor den Augen Ungezählter hätte Jesus eine einzigartige Sensation, eine Show ohnegleichen vollbracht, ihm wäre grenzenloser Ruhm, weltweite Anerkennung zuteilgeworden, seine messianische Herrlichkeit wäre überall verkündigt worden. Aber ER hätte von sich aus gehandelt. Er hätte den Vater gezwungen, Ps 91,11f einzulösen.85 Und wiederum wäre das Vater-Sohn-Verhältnis zerbrochen. Deshalb lehnt Jesus ab: Du sollst den Herrn (hebr. Jahwe), deinen Gott (den du lieb hast!) nicht versuchen = zum Test zwingen.86 Jesus nimmt diese Antwort aus demselben Kapitel, in dem Israels – und damit auch sein! – Glaubensbekenntnis steht: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,5).87 Jesus blieb in der Liebe zum Vater. Sie wird zu einer Grundmelodie seiner Verkündigung (vgl. Mt 5,43ff; 6,9; 11,25ff; 17,5ff; 26,36ff und das JohEv passim). Interessant ist es, wie sich andere verhielten, die prophetische oder messianische Ansprüche erhoben. So berichtet Josephus aus der Zeit um 60 n.Chr., als Felix Statthalter von Judäa war, dass jüdische Anführer des Aufstands gegen Rom sich auf göttliche Eingebung beriefen und den Menschen versprachen, Gott werde ihnen in der Wüste Wunder (σημεῖα [sēmeia]) zeigen.88 Die ca. 180–190 n.Chr. entstandenen Petrusakten schildern, dass der aus Apg 8,9ff bekannte Simon Magus in Rom versprach, man werde ihn dort fliegen sehen, und dass man ihn tatsächlich in einer Staubwolke ankommen erlebte.89 Diese mit messianischem Glanz auftretenden Gestalten suchten geradezu ein Schauwunder und wollten damit imponieren. Jesus aber lehnte ein Schauwunder oder Sensationswunder ab. Vgl. Mt 24,24; 2Thess 2,9. Ein letzter Blick auf die Verse 5-7 lässt uns nachdenklich werden über die Fülle von Heiligkeit, mit der sich der Teufel umgibt: die heilige Stadt – der Tempel – das es ist geschrieben, also die Heilige Schrift – das Zitat aus Ps 91,11f – die Rede von Gott – und von seinen Engeln.90 Angesichts dieser überbordenden Heiligkeit wird man misstrauisch gegen jedes „super-heilige“

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Ebenso Nolland 166; Gaechter 113; Davies-Allison 367. Dass Jesus Engelhilfe ablehnte (Davies-Allison 368), ist jedoch nicht der Punkt. Vgl. Schniewind 29. B. J. II, 258ff. Act Pt 2,4, bei Hennecke-Schneemelcher II 194. Gaechter 113; nennt Mt 4,6 fast „liturgisch“. Vgl. Zahn 157.

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Wesen und den „Schein der Frömmigkeit“, vor dem schon Paulus warnte (2Tim 3,5; Tit 1,16). Die Verse 8-10 beschreiben den dritten Gang der Versuchung. Hat sich der Teufel in V. 5ff mit dem Wort Gottes präsentiert, so präsentiert er sich jetzt gottgleich, indem er Gottes Handeln nachahmt. Wie Gott Mose, Elia, Hesekiel und den Seher Johannes auf einen sehr hohen Berg stellte (Dtn 3,27; 32,49; 34,1ff; 1Kön 19,11; Ez 40,2; Offb 21,10), so macht es jetzt der Teufel mit Jesus: Wiederum91 nimmt ihn der Teufel mit auf einen sehr hohen Berg.92 Das Präsens παραλαμβάνει [ paralambanei] ist dasselbe wie in V. 5, die Mitnahme dokumentiert die Macht des Teufels, die er mit Gottes Erlaubnis ausüben darf. Die Parallelen Ez 40,2 und Offb 21,10 sprechen ebenso wie Ez 8,1ff für ein lediglich inneres Erlebnis Jesu. Aber wir müssen die Frage, ob es sich um eine leibhaftige Entrückung oder nur um ein inneres Erlebnis handelte, vorsichtigerweise offenlassen. Er zeigt93 ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit (πάσας τὰς βασιλείας τοῦ κόσμου καὶ τὴν δόξαν αὐτῶν [ pasas tas basileias tou kosmou kai tēn doxan autōn]): Die natürlichen geografischen und chronologischen Schranken gelten in jenen Augenblicken nicht mehr: Sie sind jetzt ebenso beseitigt wie in der Prophetie (vgl. Num 24,15ff ). Bei βασιλεία [basileia] wird man deshalb nicht nur an die WeltReiche in unserem Sinne zu denken haben, sondern auch an die „Herrscherstellung“ und „Herrschermacht“ der verschiedensten Potentaten.94 Welt, kann hier nicht die gesamte Schöpfung meinen. Es muss hier im engeren Sinn von „Erde“ gefasst werden, worauf auch die lukanische Parallele οἰκουμένη [oikoumenē] (Lk 4,5) deutet.95 Die Herrlichkeit, von der in Mt 4,8 die Rede ist, griech. δόξα [doxa], geht auf das alttestamentliche ‫[ ָכּבוֹד‬kābōd] zurück.96 Übersetzbar mit „Ruhm“, „Ehre“, „Glanz“, „Pracht“,97 bringt diese δόξα [doxa] sowohl den Ruhm und die glänzende Machtstellung der Herrscher als auch die Prachtentfaltung, den Reichtum und die gesamte politische Macht der Reiche zum Ausdruck. Ein Querschnitt durch alles, was in der irdischen Geschichte möglich ist! V. 9: und sagte98 zu ihm: Das alles werde ich dir ge91 πάλιν [ palin] ist hier anders zu verstehen als in V. 7, nämlich als Wiederholung des παραλαμβάνειν [ paralambanein] von V. 5. Bonnard 45; Gundry 57. 92 Nach W. Foerster, Art. ὄρος, V, 1954, 485, ist kein bestimmter, lokalisierbarer Berg gemeint. 93 Zahn 159: von ‫[ ֶהְרָאה‬härʾāh]. 94 Vgl. K.L. Schmidt im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, 579f; Bauer-Aland, 270ff. 95 H. Sasse, Art. κοσμέω usw., ThWNT, III, 1938, 887f; Bauer-Aland, 906. 96 Bonnard 45. 97 G. Kittel im Art. δοκέω usw., ThWNT, II, 1935, 240. 98 εἶπεν [eipen] ist vorzuziehen, Gundry 57f.

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ben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Mit Recht bemerkt Bonnard: „son invitation est sérieuse“.99 Der Teufel kann die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit tatsächlich an Jesus weiter-„geben“, weil ihm Gott diese Macht verliehen hat (Lk 4,6)100. Sicherlich ist die teuflische Machtstellung zeitlich befristet (Dan 7,12). Aber innerhalb dieses Zeitrahmens ist sie keineswegs „provisorisch“,101 sondern fest etabliert und aufgrund der Selbstvergötzung und Sündhaftigkeit der Weltreiche (Dan 4,25ff; 7,1ff; Mt 20,25; Offb 13,1ff; 17–18) auch gerechtfertigt. Was der Teufel Jesus anbietet, kann jedem Menschen zur Versuchung werden und ist die Quelle zahlloser krimineller Vergehen: der Besitz von Macht.102 Unter dem Gesichtspunkt der Messianität Jesu ist diese Versuchung aber noch viel schärfer: Braucht der Messias denn nicht Macht? Ist er nicht in Ps 2,8 als Weltherrscher angesprochen: „Ich will dir Völker zum Erbe geben und der Welt Enden zum Eigentum“? Zeichnen nicht die frommen Psalmen Salomos – 1. Jh. v.Chr., wohl pharisäischer Herkunft – ein ganz ähnliches Bild des Messias:103 „er wird Heidenvölker ihm fronen lassen unter seinem Joch, und den Herrn wird er verherrlichen vor den Augen der ganzen Welt“ (17,30)? Wenn Hebr 4,15 von Jesus sagt, er sei „versucht worden in allem wie wir“, dann bedeutete das Angebot des Teufels eine echte Versuchung für Jesus.104 Manche Exegeten gehen noch weiter und sagen, die Weltherrschaft, die der Teufel hier anbietet, verstehe „sich ja für den Messias von selbst“,105 und es ginge nur um den Weg, wie diese zu erlangen sei: ob durch Leiden und Kreuz oder – wie der Teufel vorschlägt – „auf eine leichte und mühelose Art“.106 Diesen Exegeten können wir nicht folgen. Denn das Ziel Jesu ist ja nicht ein „Reich der Welt und seine Herrlichkeit“, sondern etwas völlig anderes: Das Reich Gottes!107 So steht die uralte Alternative wieder vor ihm und vor uns: Weltreich oder Gottesreich (von Gen 10,8ff über Daniel bis hin zu Offb 12–20). Der gottlose Charakter der Reiche der Welt kommt gerade an der Bedingung zum Ausdruck, die der Teufel nun stellt: wenn du niederfällst und mich anbetest. Das anbeten (προσκυνεῖν [ proskynein]) bedeutet hier nicht nur „huldigen“, wie Gaechter meint.108 Wie Hein99 100 101 102 103 104 105 106 107 108

Bonnard 46. Vgl. Mello 97. Joh 12,31; 2Kor 4,4; Offb 1,31ff. Gegen Bonnard 45 („provisoire“). Vgl. Hörster 54f. Darauf weist Bonnard 46 hin. Hörster 53ff. Bultmann Gesch 274. Ähnlich Beare 112; Gaechter 115; Zahn 160; France 99. So Gaechter 115. Richtig Mello 97. Gaechter 114.

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rich Greeven und Wilhelm Michaelis mit Recht feststellen, bringen πίπτειν [ piptein] und προσκυνεῖν [ proskynein] auch in Mt 4,9 eine Anbetung zum Ausdruck, „wie sie der Gottheit gebührt“.109 Heinrich Greeven schreibt zu Mt 4,9: „Der widergöttliche Totalanspruch des Versuchers kommt auch darin zum Ausdruck, daß er das προσκυνεῖν [ proskynein] verlangt, das allein Gott gegenüber angebracht ist.“110 Der Teufel, der dem Menschen beim Sündenfall vorspiegelte, er werde „sein wie Gott“ (Gen 3,5), will gerade das: „sein wie Gott“. Würde ihm der Gottessohn göttliche Verehrung zollen, wäre dies der Gipfel seiner Existenz. Am Ende dieser dritten und – wenigstens nach Matthäus – schlimmsten Versuchung kommt ungeschminkt zum Vorschein, worum es dem Teufel geht: Den Gottessohn zu sich herüberziehen. Für den stolzen einstmaligen Erzengel ist dieser Gedanke denkbar. Wenn Rudolf Bultmann schreibt, so etwas könne „doch für den Messias keine Versuchung sein“,111 dann ist ihm die fantastische Attraktivität des Bösen und die Tiefe menschlicher Sündhaftigkeit verborgen geblieben. Stillung der Lebensbedürfnisse, Bewunderung, Macht: Das waren die verlockenden Versuchungen. Wie reagiert Jesus auf die dritte und schlimmste? Da sagt Jesus zu ihm: Weg, Satan! Denn es ist geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen (V. 10). Im Unterschied zu den vorausgehenden Versuchungen führt Matthäus diesmal Jesu Antwort mit einem τότε [tote] ein, im Sinne von da, „darauf “.112 Das verleiht der Szene den Charakter eines Abschlusses, einer Endgültigkeit. Erst recht unterstreicht das Weg, Satan! (ὕπαγε, σατανᾶ [hypage, satana]) die Endgültigkeit. Drei Mal tut Gott Besonderes im Menschenleben (Hiob 33,29f ). Drei Mal bat Jesus in Gethsemane (Mt 26,36ff ). Drei Mal durfte Paulus flehen (2Kor 12,8) – dann war es genug. So ist das Versuchungsgeschehen jetzt nach der dritten Versuchung beendet. Jesus spricht – was er bisher niemals tat – ein Befehlswort: Weg, Satan!113 Weil er in der Sohnesverbindung zum himmlischen Vater treu blieb, hat dieses Wort göttliche Vollmacht. Der Teufel114 muss davon (vgl. Jak 4,7). Aber während der Teufel bei der dritten Versu-

109 W. Michaelis, Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, 163f; vgl. H. Greeven, Art. προσκυνέω usw., ThWNT, VI, 1959, 764ff. 110 A.a.O. 764. Auch Bonnard 46: „adoration“. 111 Bultmann Gesch 274. 112 BDR § 459,2. 113 Der Text ohne ὀπίσω μου [opisō mou] (vgl. aber Mt 16,23) ist wohl der ursprüngliche, Zahn 161, Fn. 24. 114 Die Bezeichnung „Satan“, hebr. Ursprungs, taucht hier zum ersten Mal im Matthäusevangelium auf.

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chung das „terrain scripturaire“ verließ,115 bleibt Jesus auch diesmal bei der Schrift. Er zitiert nach Dtn 8,3 und 6,16 jetzt zum dritten Mal aus dem fünften Mosebuch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen (προσκυνήσεις καὶ αὐτῷ μόνῳ λατρεύσεις [ proskynēseis kai autō monō latreuseis]). Die Fassung, die Jesus gebraucht, weist gegenüber der LXX wie gegenüber dem MT sowohl in Dtn 6,13 als auch in Dtn 10,20 zwei Besonderheiten auf. Erstens spricht Jesus statt von φοβηθήσῃ [ phobēthēsē] = ‫[ ִתּיָרא‬tīrāʾ] von προσκυνήσεις [ proskynēseis] (auch in Lk 4,8!). Zweitens ergänzt er bei αὐτῷ [autō] ein μόνῳ [monō] (auch in Lk 4,8!). Aber dieses μόνῳ [monō] fasst nur zusammen, was in Dtn 6,14 steht, und προσκυνήσεις [ proskynēseis] ist direkte Antwort auf das teuflische προσκυνήσῃς [ proskynēsēs] in V. 9, wobei es sinngemäß und sachlich völlig richtig das hebr. ‫ [ ירא‬jrʾ] als revereri116 aufnimmt. Jesus befindet sich also ganz auf dem Boden der Heiligen Schrift. Die ausschließliche Anbetung Gottes und der Dienst für ihn allein (‫[ עבד‬ʿbd], λατρεύειν [latreuein]117) sind die Grundlage des gesamten Gottesverhältnisses im Alten wie im Neuen Bund.118 Eine Diskussion darüber ist nicht nötig. Es geht, wie Helmer Ringgren zu Dtn 6,13 bemerkt, um „die alleinige und treue Verehrung“ Gottes.119 Alle drei Versuchungen hat Jesus also abgewiesen. Er hat „alle Gerechtigkeit“ erfüllt (Mt 3,15). Damit ist er der gerechte Messias, wie ihn auch die Pharisäer erwarteten (Ps Sal 17,23ff ). Der Schluss der Versuchungsgeschichte bei Mt (V. 11) ist kurz, aber inhaltsreich. Hier setzten Matthäus und Lukas jeweils ihren eigenen Akzent (vgl. Lk 4,13). Zuerst berichtet Matthäus: Da verlässt ihn der Teufel.120 Wie lange, sagt er nicht. Nur Lukas gibt hier Auskunft: „auf eine Weile“ (4,13). Dass aber auch nach Matthäus die Versuchungen Jesu weitergehen, ergibt sich zweifelsfrei aus Mt 16,23; 27,40ff. Jakobus hat offenbar Jak 4,7f aufgrund der Versuchungsgeschichte Jesu geschrieben. Die zweite Angabe in Mt 4,11 lautet: und siehe, Engel kamen herbei und dienten ihm. Die Engel, von denen der Teufel in V. 6 gesprochen hatte, kamen jetzt tatsächlich zu Jesus (Ps 91,11f ). Der Gehorsam des Sohnes wurde von der Liebe des Vaters in einer Weise beantwortet, die dem Sohn die ungetrübte Verbundenheit und 115 Bonnard 45. 116 Gesenius 315. 117 Vgl. H. Strathmann, Art. λατρεύω usw., ThWNT, IV, 1942, 58ff; H. Ringgren / U. Rüterswörden / H. Simian-Yofre, Art. ‫ָעָבד‬, ThWAT, V, 1986, 982ff. 118 Vgl. den Dekalog Ex 20,2ff; Dtn 5,6ff. 119 H. Ringgren a.a.O. 993 (nach Riesner). Vgl. Bonnard 46. 120 Zahn 161: Der Teufel „läßt Jesum fahren“.

9. Die Versuchung Jesu, 4,1-11

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den weiteren Auftrag im Sinne der Taufe bestätigte. Für dienten ihm steht ein duratives Imperfekt,121 das eine länger dauernde Handlung zum Ausdruck bringt. Der griech. Begriff διακονεῖν [diakonein] („dienen“) berührt sich mit dem hebr. ‫[ ָעַבד‬ʿābad], das soeben in V. 10 – griech. allerdings mit λατρεύειν [latreuein] ausgedrückt – eine Rolle spielte. Der Sohn wollte allein dem Vater dienen. Nun dient der Vater dem Sohn durch die Engel. Dieses reziproke Verhältnis wird später das große Thema von Mt 11,25ff sein. Praktisch wird das dienen in Mt 4,11 die Stärkung des durch Fasten geschwächten Jesus (vgl. Lk 22,43) und seine Versorgung mit Brot (vgl. 1Kön 19,5ff; Ps 78,25) bedeutet haben.122 Jedoch kommt darin noch mehr zum Ausdruck. Dem ersten Menschen, Adam, der in der Versuchung unterlag (Gen 3,1ff ), verschlossen die Engel das Paradies. Christus aber und denen, die ihm angehören, öffnen sie das neue Paradies, die neue Schöpfung (1Tim 3,16). In der Tat ist Adam, wie Joachim Jeremias sagt, der „Antityp Christi“.123 Paulus hat dieses Thema breit ausgeführt (Röm 5,12ff; 1Kor 15,20ff.44ff ). Jetzt, am Ende der drei Versuchungen, dienen die Engel Jesus sehr wahrscheinlich auch in Lobgesang und Verehrung124 (vgl. Hebr 1,6).

IV Zusammenfassung 1. Jesus bewährt sich in der dreifachen Versuchung von Mt 4,1-11 als wahrer Sohn Gottes und als neuer Mensch. „Versucht in allem wie wir, doch ohne Sünde“ – diese Aussage des Hebräerbriefes (4,15) trifft exakt auf Mt 4,1ff zu. Im Unterschied zu Adam besiegt Jesus den Satan durch seinen unbedingten Gehorsam. Dieser Gehorsam drückt sich im Festhalten des Wortes Gottes aus. 2. Am Ende bekennt sich Gott der Vater zu seinem Sohn Jesus Christus. Jesus kann vollmächtig den Teufel vertreiben und wird von den Engeln gespeist, gestärkt und verehrt. Es ist jetzt klar, dass der in Mt 3,17 formulierte Lebensauftrag Jesu bestehen bleibt. 3. Die Forschung diskutiert eine Reihe von Fragen. Dazu gehört zunächst die Frage nach der Reihenfolge der Versuchungen, die bei Mt 4,1-11 und Lk 4,1-13 verschieden ist. Es ist nicht möglich, die Ursache dieser Verschiedenheit zweifelsfrei zu benennen. Davies-Allison gehen davon aus, dass Matthäus die ursprüngliche Reihenfolge bewahrt hat, und stützen diese Entscheidung auf drei Überlegungen: 1) Die mit Bist du Gottes Sohn eingeleiteten Versuchungen bilden ein Paar und dürfen nicht auseinandergerissen werden, 2) die 121 122 123 124

Vgl. BDR § 327. Evtl. Brot auch als geistliche oder himmlische Speise. Vgl. Carson 114f; France 100. J. Jeremias, Art. Ἀδάμ, ThWNT, I, 1933, 142. Schon Irenäus Adv. haer. V, 21,2. Vgl. wieder Jeremias a.a.O. Zahn 161 beschränkt auf die leibliche Versorgung Jesu.

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schlimmste Versuchung mit der Forderung des Teufels „Bete mich an!“ gehört an den Schluss,125 3) das hohe Interesse, das Lukas dem Tempel und Jerusalem entgegenbringt, hat ihn dazu bewegt, die Versuchung mit dem Schauwunder von der Tempelspitze an den Schluss zu setzen.126 Ob diese Überlegungen zutreffen, können wir nicht sagen. Wir sind hier ganz im Raum der Vermutungen. Man sollte aber auf jeden Fall festhalten, dass die beiden Berichte von Matthäus und Lukas sich weitgehend decken und gegenseitig ergänzen. 4. Viel schwerer wiegt die Frage nach der Historizität. „Hat sich unsere Geschichte wirklich zugetragen? Hat Jesus seinen Jüngern erzählt von dem, was sich in der Einsamkeit zutrug? Und wie soll es sich zugetragen haben?“ sind beispielsweise Fragen, die Julius Schniewind stellt.127 Und Ulrich Luz konstatiert mit Recht: „In der Neuzeit geriet unsere Perikope in besonderer Weise ins Kreuzfeuer der Kritik. Sie erschien mythologisch, darum nicht nur unhistorisch, sondern auch unwahr.“128 Spätestens seit Johann Philipp Gabler (1753–1826) bezeichnet man die Versuchungsgeschichte als „Mythos“.129 Gabler versucht ihren „Stoff “ aus den „Begierden der (menschlichen) Sinnlichkeit“ abzuleiten.130 Die Auffassung, es handle sich um „schriftgelehrte Haggada“, die die Versuchungsgeschichte erst „geschaffen“ habe,131 lässt sich von Karl August Hase (1800–1890) über Rudolf Bultmann bis Davies-Allison verfolgen.132 Eine Auffassung aber, die nicht mehr mit dem persönlichen Auftreten des Teufels rechnen will,133 widerspricht sowohl unserem heutigen Lebensgefühl als auch den Aussagen der Bibel. Man erinnere sich an das Wort eines orthodoxen Erzbischofs: „Wer die Hölle leugnet, der hat nie in Bagdad gelebt.“ Will man also nicht aus ideologischen Gründen Mt 4,1ff / Lk 4,1ff für unhistorisch erklären, dann lässt sich die Versuchungsgeschichte als prägendes Ereignis der Jesusgeschichte verstehen. Dabei geht es nicht nur um die Gerechtigkeit des Menschen Jesus, sondern auch um den Messias Jesus134 als den Gerechten und um die Sündlosigkeit des Gottessohnes. Es macht keine 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134

Gaechter 114; sagt, sie sei „noch feierlicher und religiöser“ als die anderen. Davies-Allison 364. Schniewind 32. Luz I 166. Kümmel NT 120ff. Ebenso Bultmann Gesch 271ff. Kümmel NT 122. Bultmann Gesch 272.274f. Vgl. Kümmel NT 110; Bultmann a.a.O.; Davies-Allison 352; auch Luz I 167. Luz I 166. Vgl. Gaechter 113f: alle drei Versuchungen haben „eine messianische Seite“. Ebenso Seesemann a.a.O. 34f.

9. Die Versuchung Jesu, 4,1-11

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Schwierigkeiten anzunehmen, dass Jesus selbst das in Mt 4,1ff Berichtete seinen Jüngern erzählt hat.135 Wir halten demnach die Versuchungsgeschichte für historisch.136 5. Diskutiert wird ferner die Frage der Versuchbarkeit Jesu. Konnte der Gottessohn Jesus überhaupt von Gott dem Vater abfallen? Konnte er jemals den Teufel anbeten?137 Das NT antwortet: Ja, das konnte er. Auch Jesus musste nach dem Hebräerbrief (5,8) „den Gehorsam lernen“. Ein Wunder war es, dass er sündlos blieb (4,15). Es macht die unheimliche Tiefe der Versuchungsgeschichte aus, dass Jesus wirklich zu Fall kommen konnte. Ohne diese Möglichkeit wäre Mt 4,1ff nur Spiegelfechterei und Jesus gar nicht in Wahrheit der zweite Adam, der die Versuchung bestand. So setzt es schon Irenäus im 2. Jh. voraus (Adv. haer. V, 21).138 6. Gerne stellt man eine Parallele mit der Wüstenerfahrung Israels her, spricht sogar von einer „Wüsten-Typologie“.139 Eine solche Parallelität besteht tatsächlich.140 Jesus repräsentiert Israel, das ja ebenfalls Gottes „Sohn“ genannt werden kann (Hos 11,1). Dennoch ist mit Carson141 davor zu warnen, dass man jedes Detail der Versuchungsgeschichte in der Wüstenwanderung Israels wiederfinden will. 7. Nur kurz sei darauf hingewiesen, dass die Versuchungsgeschichte schon früh in der Alten Kirche kommentiert und paränetisch ausgewertet wurde. Eventuell nimmt Paulus in 1Kor 10,13 darauf Bezug. Justinus Martyr kommt im Dialog mit Tryphon (103,6; 125,4) auf sie zu sprechen. Irenäus kommentiert sie in Adv. haer. V, 21 relativ ausführlich. Als späteres paränetisches Beispiel erwähnen wir Johannes Chrysostomus mit seinen Homilien zur Genesis.142 Unter den Neueren hat Karl Barth mit seinem feinen Gespür für biblische Wahrheiten darauf hingewiesen, dass dem Teufel die Gottheit Jesu Christi völlig vertraut und zweifelsfrei bekannt ist.143

135 Schniewind 32, hält diese Möglichkeit offen. Zahn 150f, bejaht es; ebenso Carson 111ff. 136 Ebenso wie die Alte Kirche (Irenäus, Adv. haer. V, 21); Zahn 150ff; Carson a.a.O.; Schlatter 41f. 137 Anders Luz I 166f; Bultmann Gesch 271ff; Beare 104ff; Senior 57; Mello 94. 138 Ebenso Hörster 53; Cullmann 124f; Barth KD I/2 173 („alles andere als ein Scheingefecht“). 139 Vgl. Nolland 166; Fiedler 87ff. 140 Vgl. Carson 111ff. 141 Carson 114. 142 Bei Texte KV I 439. Mehr bei Luz I 165. 143 Barth KD I/2 25.

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10. Der Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, 4,12-25 I Übersetzung 12 Als er1 aber hörte, dass Johannes verhaftet worden war, kehrte er zurück nach Galiläa. 13 Und er verließ Nazareth und verlegte seinen Wohnsitz nach Kapernaum am See im Gebiet von Sebulon und Naftali, 14 damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesprochen wurde, der sagt: 15 Das Land Sebulon und das Land Naftali, der Weg am Meer, das Land jenseits des Jordan, das Galiläa der Völker, 16 das Volk, das in Finsternis sitzt, sah ein großes Licht, und denen, die im Land und Schatten des Todes sitzen, ist Licht aufgegangen. 17 Von da an begann Jesus zu verkündigen und zu sagen: Kehrt um! Denn die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen. 18 Als er aber am See von Galiläa unterwegs war, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder, wie sie das Wurfnetz ins Meer warfen. Denn sie waren Fischer. 19 Und er sagt zu ihnen: Kommt! Folgt mir nach! Und ich werde euch zu Menschenfischern machen. 20 Sie aber verließen sofort die Netze und folgten ihm nach. 21 Und als er von dort weiterging, sah er zwei andere Brüder, Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, im Boot mit ihrem Vater Zebedäus, wie sie ihre Netze ausbesserten. Und er rief sie. 22 Sie aber verließen sofort das Boot und ihren Vater und folgten ihm nach. 23 Und er wanderte in ganz Galiläa umher,2 wobei er in ihren Synagogen lehrte und das Evangelium vom Reich verkündigte und alle Krankheit und alle Schwachheit im Volk heilte. 24 Und die Kunde von ihm verbreitete sich in ganz Syrien. Und man brachte alle Leidenden zu ihm, die mit verschiedenen Krankheiten und Qualen belastet waren, von Dämonen Besessene und Mondsüchtige und Gelähmte, und er heilte sie. 25 Und es folgten ihm große Massen aus Galiläa und den Zehn Städten und Jerusalem und Judäa und dem Ostjordanland.

II Struktur Wir haben hier vier Ereignisse vor der Bergpredigt zusammengefasst, die in die Frühzeit des Wirkens Jesu fallen: 1) Die Rückkehr Jesu aus der Jordangegend nach Galiläa (V. 12), 2) seine Übersiedlung nach Kapernaum (V. 13-17), 1 Die Einführung von ὁ Ἰησοῦς [ho Iēsous] in einer Reihe von Handschriften ist wohl sekundär. 2 Vgl. BDR § 308,1.

10. Der Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, 4,12-25

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3) erste Jüngerberufungen (V. 18-22), 4) die erste Zusammenfassung seines öffentlichen Wirkens (V. 23-25). Wie Schlatter und andere3 haben wir den ganzen Abschnitt Mt 4,12-25 zusammengelassen, weil hier Matthäus jeweils in äußerster Kürze Ereignisse berichtet, die er noch vor dem großen Block der Bergpredigt (Kap. 5–7) und vor dem Block der frühen Wunder Jesu (Kap. 8–9) erwähnt haben will. Hier werden Grundlinien des Handelns Jesu erkennbar, die mindestens bis zum Cäsarea-Bekenntnis (16,13ff ) sein Wirken bestimmen. Das betrifft die Ausrichtung seines Lebens nach dem Willen Gottes, seine Verkündigung, den Aufbau seiner Gemeinde und die Suche nach den verlorenen Menschen gemäß Ez 34,11ff. Matthäus setzt hier die Reihe der Erfüllungszitate, die in 1,22 begonnen hatte, fort (V. 14-16). Erneut zeigt er sich als christlicher Schriftgelehrter par excellence. Auffällig ist ab jetzt die Konzentration auf Jesus, nachdem bisher auch andere Gestalten wie Josef, der Täufer, die Magier oder Herodes im Vordergrund gestanden hatten. Die Sprache ist stark alttestamentlich und semitisch gefärbt, das Kolorit ganz jüdisch-palästinisch.

III Einzelexegese 1. Die Rückkehr Jesu aus der Jordangegend nach Galiläa, 4,12 V. 12 spricht von einem einfachen er und wiederholt den Namen Jesus nicht. Das ist ein Ausdruck der Konzentration gerade auf seine Person, von der wir oben sprachen. Zeitlich lässt sich Mt 4,12 nur ganz im Groben einordnen.4 Voraus ging auf jeden Fall die Gefangensetzung des Täufers Johannes auf der Festung Machärus. Bekanntlich ließ ihn dort Herodes Antipas später enthaupten. Wir werden bei Mt 14,1ff darauf zurückkommen. Zur Zeit von Mt 4,12ff aber lebt Johannes noch (vgl. Mk 1,14; Lk 4,14; Joh 4,1ff ). Jesus hörte von seiner Verhaftung. Zwischen beiden lag, auch wenn Jesus sich noch in der Jordangegend befand (vgl. 4,1ff ), also eine räumliche Distanz. Wie das Johannesevangelium berichtet, wirkten Jesus und der Täufer kürzere Zeit parallel nebeneinander im Jordangebiet (Joh 3,22ff; 4,1ff ).5 Mk 1,14 und Lk 4,14

3 Schlatter 42; Fiedler 95; Carson 115; Tasker 56; Zahn 162; Senior 61. 4 Vgl. Zahn 162. 5 Vgl. France, 100; Carson 116; Hendriksen 239.

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schließen eine solche Parallelität nicht aus. Die Rückkehr Jesu nach Galiläa berichten jedenfalls alle vier Evangelisten. Allerdings birgt der Begriff ἀνεχώρησεν [anechōrēsen] ein gewisses Rätsel. Warum kehrte Jesus (oder muss man übersetzen „entwich“?6) ausgerechnet nach Galiläa zurück, wo der Johannesgegner Herodes Antipas regierte? Warum ging er nicht in die Dekapolis oder ins Gebiet des Philippus?7 Wenn übrigens Mk 1,14 dem Matthäus als Vorlage gedient hätte, ist nicht einzusehen, weshalb er sie so kompliziert umgesetzt hätte. 2. Jesu Übersiedlung nach Kapernaum, 4,13-17 Äußerst karg ist auch dieser Bericht. Ausführlich wird er nur beim Schriftzitat V. 14-16. Für alle biblischen Evangelisten ist klar, dass Kapernaum der Hauptwohnsitz Jesu während seiner galiläischen Wirksamkeit war (Mk 1,21ff; Lk 4,31ff; Joh 2,12; 6,17ff.59). Das Interesse des Matthäus aber in 4,13-17 liegt vor allem darin, zu erklären, weshalb Jesus dort seinen Wohnsitz nahm. Und er verließ Nazareth (V. 13): καταλείπω [kataleipō] hat hier die Bedeutung von „den Wohnsitz aufgeben“. Überraschenderweise heißt Nazareth in unserm Vers „Nazara“.8 Dieses Nazara geht wohl auf eine hebräische oder aramäische Namensnebenform nazerah zurück.9 Alle näheren Umstände, wie, unter welchen Umständen Jesus Nazareth als Wohnsitz aufgab, meldet uns Matthäus nicht. Johannes ist da in 2,12 etwas ausführlicher. Und verlegte seinen Wohnsitz nach Kapernaum am See: Wir nehmen κατῴκησεν [katōkēsen] als ingressiven Aorist („begann zu wohnen“, verlegte seinen Wohnsitz).10 εἰς [eis] bedeutet hier in.11 ἐλθὼν κατῴκησεν [elthōn katōkēsen] ist semitisierender Stil. Die Schreibweise Καφαρναούμ [Kapharnaoum] entspricht besser dem jüdischen Namen ‫[ ְכַּפר נַחוּם‬kᵉphar nachūm] = „Nahumsdorf “ als die Schreibweise Καπερναουμ. Es wäre angemessen, wenn die deutschen Bibelübersetzungen von „Kafarnaum“ sprechen würden. Aber der Name Kapernaum hat sich bei uns über Jahrhunderte fest eingebürgert.

6 So Bauer-Aland, 126; France 100; Luck 43; Senior 62; Zahn 163; Hendriksen 239. Gegen die Deutung auf eine Flucht Luz I 170. 7 Vgl. Luz a.a.O. 8 Allerdings bieten viele Handschriften Nazareth bzw. Nazaret: wohl kaum ursprünglich. Vgl. R. Riesner, Art. Nazareth, GBL, 2, 1031. 9 Riesner a.a.O. 10 Vgl. BDR § 331. 11 BDR § 205,4; Bauer-Aland, 862.

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Exkurs: Kapernaum Im AT begegnet uns dieser Name noch nicht. Aber im 1. Jh n.Chr. werden wir über die Existenz des Ortes doppelt informiert: durch das NT und durch den jüdischen Schriftsteller Josephus (ca. 37–100 n.Chr.). Was sagt Josephus? In seinem Leben (Bios, eine Autobiografie) berichtet er, dass er während des Jüdisch-Römischen Krieges (66–73 n.Chr.) an einer sumpfigen Stelle in der Nähe von Kapernaum (Κεφαρνωκόν [Kepharnōkon]) vom Pferd stürzte und dann in diesen Ort gebracht wurde. Er nennt es ein „Dorf “ (κώμη [kōmē]).12 Ausführlicher wird Josephus im Bellum Judaicum. Dort spricht er von einer „sehr kräftigen Quelle, die von den Einwohnern Kapharnaum (Καφαρναούμ [Kapharnaoum]) genannt wird.“13 Michel-Bauernfeind identifizieren diese Quelle mit „ʿain-et-tabigha“ (= Heptapegon, Siebenquell, heute Tabgha), das ja nahe bei Kapernaum liegt.14 Außerdem weisen sie auf weitere „starke Quellen“ in der Umgebung von Kapernaum hin.15 Josephus rühmt die Landschaft am See Genezareth, in der Kapernaum liegt, fast überschwänglich.16 Insbesondere erwähnt er Nussbäume, Palmen, Feigenbäume, Ölbäume, Weintrauben, Feigen. Dazu schreibt er von einer Spezies Fische (Rabenfisch, clarias macracanthus, arab. barbut), die es erst in Alexandria wieder gebe. In der Tat sind Pflanzen und Tiere bei Tabgha sowohl asiatischer als auch afrikanischer Herkunft. Die moderne Ausgrabungsgeschichte, an der u.a. E. Robinson, C. Wilson, H. Kohl, C. Watzinger, G. Orfali, V. Corbo und S. Loffreda beteiligt sind, brachte eine Fülle von Erkenntnissen.17 Seit die Franziskaner 1894 das Gelände erwarben, war es gegen Raub und Plünderung geschützt und ermöglichte den Besuchern ein relativ gutes Bild des früheren Kapernaum. Wir können davon ausgehen, dass es sich um eine größere Ortschaft des 1. Jh. n.Chr. handelt.18 Sie besaß einen eigenen Fischereihafen. Eindrucksvoll ist die Ruine der großen Synagoge, die man jetzt ins 4. Jh. n.Chr. datiert, die aber auf den Resten von älteren Synagogen steht, die man bis ins 1. Jh. n.Chr. zurückdatieren kann. Ferner lassen sich die Häuser des antiken Kapernaum ebenfalls bis ins 1. Jh. n.Chr. zurückverfolgen. Unter ihnen sticht das Haus des Petrus hervor. Über ihm wurde im 5. Jh. n.Chr. eine achteckige byzantinische Kirche errichtet. Offenbar haben aber schon Judenchristen in den Jahrhunderten zuvor die Erinnerung an das Haus des Petrus, das ja zugleich das Haus Jesu war, gepflegt und dort eine Art Memorial gebaut. 12 13 14 15 16 17 18

Josephus Vita 403. Josephus B. J. III, 519. Michel-Bauernfeind I, 463f (Anm. 126 zu B. J. III). A.a.O. B. J. III, 516ff. Arabisch werden die Reste des antiken Kapernaum Tell Chum genannt. Arch BL, 234: „Stadt“, Riesner a.a.O. 765: „Großdorf “.

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In der Nähe des alten Kapernaum gibt es einen Gebäudekomplex mit römischen Bädern. Hier vermutet man eine heidnische Garnison.19 Kapernaum lag günstig an der Straße vom Mittelmeer nach Damaskus und nahe an der Grenze zwischen den Herrschaftsgebieten des Herodes Antipas und des Philippus. So kann man sich die Existenz einer militärischen Garnison und einer Zollstation gut vorstellen. Der ertragreiche Fischfang, begünstigt durch den Heptapegon (Tabgha), und die landwirtschaftlichen Produkte bildeten Quellen des Wohlstandes. Soweit wir wissen, stellte man damals in Kapernaum auch Ölpressen, Getreidemühlen und Glaswaren her.20 Erste Spuren einer sporadischen Besiedlung des Geländes stammen aus der Steinzeit und Bronzezeit. Man glaubt, Gebäudereste aus dem 13. Jh. v.Chr. nachweisen zu können. Doch ist unser Ort Kapernaum erst nach dem babylonischen Exil entstanden und vor allem ab dem 2. Jh. v.Chr. gewachsen. Dorthin also zog jetzt Jesus. Es wird „seine Stadt“ (Mt 9,1).

Matthäus nennt uns zwei Charakteristika von Kapernaum: 1) es lag am See (ἡ παραθαλασσία [hē parathalassia]) = am See Genezareth, 2) es lag im Gebiet von Sebulon und Naftali. Diese Ausdrucksweise ist wohl an Jes 8,23 angelehnt. Natürlich sind Sebulon und Naftali zwei verschiedene israelitische Stammesgebiete (Jos 19,10ff; 19,32ff ). Aber in Jes 8,23 werden sie zu einer größeren Einheit zusammengefasst, und Jesus hat an beiden Anteil: Nazareth gehört zu Sebulon und Kapernaum zu „Naftali“. In V. 14-16 weist Matthäus auf die Schrifterfüllung hin, die in der Übersiedlung nach Kapernaum liegt: damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesprochen wurde, der sagt … Es handelt sich um das siebte Schriftzitat des Matthäusevangeliums, wenn man die vier Schriftzitate der Versuchungsgeschichte einmal außer Acht lässt. Und es ist das vierte Mal, dass Matthäus die Formulierung ἵνα/ὅπως πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν [hina/hopōs plērōthē to rhēthen] benutzt (1,22; 2,15; 2,23; 4,14). Mit den gleichlautenden Formulierungen betont er das Gewicht der Heiligen Schrift. Den Propheten Jesaja nennt er wie in 3,3 namentlich.21 Die wiederholte Namensnennung zeigt, welch hohe Bedeutung Jesaja für Matthäus und das Urchristentum gehabt hat (vgl. Mt 8,17; 12,17; 13,14; 15,7). Es bleibt aber dabei, dass in der Heiligen Schrift Gott selbst spricht und der Prophet nur Mittler der göttlichen Botschaft ist (durch den Propheten – gesprochen, nämlich von Gott).

19 R. Riesner a.a.O. 765. 20 Riesner a.a.O. 21 In 2,17 hat er Jeremia namentlich erwähnt.

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Das Schriftzitat in V. 15-16 stimmt weder mit der LXX noch mit dem MT wörtlich überein, wohl aber sinngemäß. Matthäus benutzt eine eigene Version („his own version“22). Man nimmt überwiegend an, dass Jesaja die Prophetie von Jes 8,23–9,1 in den Jahren des Untergangs des Nordreichs und während einer Zeit schlimmster Verwüstungen durch die Assyrer unter Tiglat-Pileser III. (745–727 v.Chr., andere Namensformen: Pal, Pulu) und Salmanassar V. (727–722 v.Chr.) aussprach.23 Vgl. die biblischen Nachrichten in Jes 8,4; 2Kön 15,29; 16,7ff; 17,3ff; 18,6ff. Eine geschichtliche Erfüllung der jesajanischen Heilsprophetie in 8,23f kann man in der Rückgewinnung Galiläas durch die Makkabäer im 2. Jh. v.Chr. sehen.24 Aber Matthäus deutet Jes 8,23– 9,1 messianisch. Franz Delitzsch hat darauf hingewiesen, dass diese Stelle auch in jüdisch-messianischen Überlieferungen eine Rolle spielt.25 Zum Einzelnen: Das Land Sebulon und das Land Naftali (γῆ Ζαβουλὼν καὶ γῆ Νεφθαλίμ [gē Zaboulōn kai gē Nephthalim], LXX: χώρα Ζαβουλων, ἡ γῆ Νεφθαλιμ [chōra Zaboulōn, hē gē Nephthalim], MT: ‫אְַרָצה זְֻבלוּן וְאְַרָצה נְַפ ָתִּלי‬ [ʾarzāh sᵉbulūn wᵉʾarzāh naphtālī ]) bezeichnen jeweils die Stammesgebiete Sebulons und Naftalis (Jos 19,10ff.32ff ). Hier liegt Matthäus näher am MT. Der Weg am Meer (ὁδὸν θαλάσσης [hodon thalassēs] wie LXX, MT: ‫ֶדֶּרְך ַהיּ ָם‬ [däräk hajjām]) könnte sich als „Akkusativ der Ausdehnung“26 oder „völlig ungriech. – als Präp. –“ verstehen lassen und hieße dann „gegen den See“ zu. Man müsste in diesem Fall davon ausgehen, dass das Land Naftali als ein Land gegen den See (= Genezareth) zu näher bestimmt würde. Damit wäre zwar nichts Falsches gesagt. Aber die Auffassung im MT ist eine andere. Dort fungiert ‫[ ֶדֶּרְך ַהיּ ָם‬däräk hajjām] als eigene geografische Größe, und man kann nur darüber streiten, ob damit das Gebiet am Mittelmeer27 oder „der Landstrich an der Westseite des“ Sees Genezareth gemeint ist.28 Am nächstliegenden scheint es, den Weg am Meer als Bezeichnung der Via Maris zu verstehen,29 die von Damaskus zum Mittelmeer führte und von der ein Zweig Kapernaum berührte. Die Alternative Mittelmeer oder Galiläisches Meer wird dann gegenstandslos. Das Land jenseits des Jordan (πέραν τοῦ Ἰορδάνου [ peran tou Iordanou], LXX ebenso, MT: ‫[ ֵעֶבר ַהיּ ְַר ֵדּן‬ʿebär hajjarden]) ist si22 Hendriksen 242; Zahn 168. 23 Hendriksen 243. Vgl. D.J. Wiseman, Art. Salmanassar, GBL, 3, 1319, und Art. Tiglatpilesar, a.a.O. 1569. 24 Josephus Ant XIII, 254ff. Vgl. R. Riesner, Art. Galiläa, GBL, 1, 406f. 25 Delitzsch 137. Vgl. Jes 58,10. 26 BDR § 161,2; vgl. § 166,2. Ebenso Bauer-Aland, 1123. 27 So Hendriksen 243; Zahn 167; Tasker 56. 28 Für Letzteres Delitzsch a.a.O.; Schniewind 33; Senior 62; Carson 117; Luz I 172. 29 Ebenso Beare 115.

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cherlich das Ostjordanland, von der Warte Jesajas betrachtet.30 Das Galiläa der Völker (Γαλιλαία τῶν ἐθνῶν [Galilaia tōn ethnōn] wie LXX, MT: ‫ְגִּליל‬ ‫[ ַהגּוֹיִם‬gᵉlīl haggōjim]) scheint hier derjenige Teil Galiläas zu sein, der sich nördlich an Sebulon und Naftali anschließt.31 Wir sehen also wie Hendriksen u.a.32 in V. 15 fünf geografische Gebiete aufzählt, die später mit Ausnahme des Ostjordanlandes unter den Sammelnamen Galiläa fallen. Wir bewegen uns hier im Bereich der realen Geografie des damaligen Israellandes. Die Prophetie von Ez 48,1ff hat bemerkenswerterweise darauf keinerlei Einfluss gehabt. V. 15 betrifft den Ort des Heils, V. 16 das Volk des Heils. Das Volk, das in Finsternis sitzt, sah ein großes Licht zitiert Matthäus aus Jes 9,1. Ursprünglich ist wohl bei Jesaja das Volk Israel gemeint, das in Galiläa wohnt. Die entscheidenden Worte das Volk – in Finsternis – ein großes Licht sind bei Matthäus, in der LXX und im MT gleich. Ansonsten gibt es kleinere Differenzen, wobei allerdings Matthäus nicht dem Futur der LXX, sondern dem Präteritum des MT folgt. Auch bei Matthäus bezeichnet das Volk (ὁ λαός [ho laos]) die Einwohnerschaft Galiläas, wobei er sich jedoch nicht nur auf dessen jüdische Einwohner bezieht. Sitzen hat hier den Sinn von „wohnen“.33 In Finsternis ist schon im Hebräischen ein Bild für das Elend der Menschen.34 Die Via Maris, seit alter Zeit die Verbindungsstraße zwischen Ägypten/Mittelmeer und Damaskus/Zweistromland, die Galiläa durchquerte, brachte ägyptische, assyrische, babylonische, syrische, midianitische, ammonitische, griechische, persische und römische Heere in diese Gegend. Verwüstung und Tod begleiteten sie. Grauenhafte Szenen spielten sich dort bis ins 2. Jh. v.Chr. ab (Am 1,3.13; 2Kön 17,3ff; 1Makk 5,9ff ). Hinzu kam die Mischung der Bevölkerung aus jüdischen und heidnischen Elementen, die ja zur Bezeichnung Galiläa der Völker bzw. „Galiläa der Heiden“ führte. Das Mischvolk und die Mischreligion der Samaritaner entstand (2Kön 17,24ff; Neh 3,33ff; Joh 4,5ff ). Auch die religiöse und geistliche Zersplitterung der Bevölkerung bedeutete eine große Not. Und da hinein geschieht die Weissagung des Heils und dort erwartet man sehnsuchtsvoll den Messias – eine Sehnsucht, die wir noch bei den Samaritanern von Joh 4,25 und 4,39ff treffen. Mit den Worten es sah ein großes Licht (‫[ ָראוּ אוֹר ָגּדוֹל‬rāʾūʾōr gādōl], LXX: ἴδετε φῶς μέγα [idete phōs mega]) berühren Jes 9,1 und Mt 4,16 eine höchst 30 Hendriksen 243; Delitzsch a.a.O.; Fiedler 97; Luz I 172. Anders Tasker 56: Israel westlich des Jordan; ebenso Beare 115. 31 Hendriksen a.a.O.; Delitzsch a.a.O.; Zahn 166. 32 Hendriksen a.a.O.; Zahn 166. 33 Bauer-Aland, 790. 34 Gesenius 266, Delitzsch 137.

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interessante Thematik. Licht ist zunächst die Sphäre Gottes (Ps 27,1; 36,10; 43,3; 89,16; 104,2; Jes 60,19; Lk 16,8; Eph 5,9; 1Joh 1,5; Jak 1,17; Offb 21,23; 22,5).35 Aber Gott schafft auch das große Licht (‫[ ַה ָמּאוֹר ַה ָגּד ֹל‬hammāʾōr haggādol]) der Schöpfung, um Leben zu ermöglichen (Gen 1,16). Schließlich wird Licht ein Bild für den Messias (Jes 42,6; 49,6; 60,1; Lk 2,32; Joh 1,4ff; 8,12; 12,35f; Eph 5,14; Offb 21,23). In Jes 9,1 liegt also dies alles in einer geheimnisvollen Weise ineinander: Das große Licht bedeutet Gottes Kommen zum Heil der Geplagten, und es bedeutet gleichzeitig das Kommen des Heils in Gestalt des Messias. Offenbar setzt Matthäus beides voraus. In einem synonymen Parallelismus membrorum bekräftigt die zweite Vershälfte von Mt 4,16 diese Aussage: und denen, die in Land und Schatten des Todes sitzen, ist Licht aufgegangen. Vermutlich hat die LXX das ‫[ ַצְלָמוֶת‬zalmāwät] des hebräischen Textes als „Todesschatten“ verstanden und deshalb mit χώρᾳ καὶ σκιᾷ θανάτου [chōra kai skia thanatou] übersetzt, eine Textform, der sich Matthäus angeschlossen hat.36 Sachlich wird hier dasselbe ausgedrückt wie vorher mit Finsternis. Die Formulierung ist Licht aufgegangen (φῶς ἀνέτειλεν [ phōs aneteilen], LXX: φῶς λάμψει ἐφ᾿ ὑμᾶς [ phōs lampsei eph’ hymas]) erinnert sowohl an Jes 58,10 als auch an Lk 1,78f (ἀνατολὴ … ἐπιφᾶναι τοῖς ἐν σκότει καὶ σκιᾷ θανάτου καθημένοις [anatolē … epiphanai tois en skotei kai skia thanatou kathēmenois]). Auch dort sind wir wieder im Bereich des göttlichen Heils, das messianische Gestalt annimmt. Fazit: Matthäus sieht im Umzug Jesu von Nazareth nach Kapernaum eine Erfüllung von Jes 8,23–9,1. Jesus musste als Messias gerade dort sein Wirken beginnen, und nicht etwa in Jerusalem oder in der Wüste (vgl. Mt 24,26; Apg 21,38). Als einer, der mit Recht von sich sagen konnte: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12), brachte er zuerst der gequälten und oftmals verspotteten Bevölkerung von Galiläa (vgl. Mt 26,69; Mk 14,70; Lk 22,59; Joh 1,46; 7,41f.52; Apg 2,7) das messianische Heil. Es hat schon mehrfach Aufmerksamkeit erregt,37 dass ausgerechnet Matthäus die Übersiedlung Jesu breit darstellt. Das könnte sehr wohl damit zusammenhängen, dass Matthäus selbst in Kapernaum wohnte und dort in die Nachfolge Jesu berufen wurde (Mt 9,9).38 Eine andere Frage ist es, ob Matthäus durch die Nennung von Sebulon und Naftali an die „verlorenen“ Stämme Israels erinnern und auf die Wiederbrin-

35 36 37 38

Vgl. 1QS III, 14ff und das Johannesevangelium passim (Schniewind 34). Vgl. Zahn 169. Vgl. Tasker 56; France 100; Hendriksen 241. Vgl. obige Anm.

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gung aller Stämme durch den Messias hinweisen wollte (vgl. Sir 48,10).39 Diese Möglichkeit bleibt offen, jedoch nur als Vermutung. Matthäus betrachtet das Kommen nach Kapernaum als eine einschneidende Zäsur der Jesusgeschichte. Das ergibt sich jedenfalls aus V. 17: Von da an begann Jesus zu verkündigen und zu sagen: Kehrt um! Denn die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen. Ἀπὸ τότε [Apo tote] markiert einen neuen Zeitabschnitt („Von da an“).40 κηρύσσειν καὶ λέγειν [kēryssein kai legein] bedeutet die öffentliche Verkündigung.41 Was Jesus zu sagen hatte, hat Matthäus aufgrund seiner Kenntnis zusammengefasst. Liest man seine Worte, dann ist es wörtlich dasselbe, was der Täufer sagte: Kehrt um! Denn die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen (vgl. Mt 3,2 sowie 10,7). Auf den ersten Blick könnte man also meinen, Jesus habe nur die Täuferpredigt fortgesetzt. In der Tat muss man dies als Erstes festhalten: Jesus schließt sich eng an Johannes den Täufer als seinen Vorläufer an. Da ist keine Rivalität der Botschaften. Aber inzwischen ist die Geschichte weitergerückt. Der Täufer musste die Bühne der Welt verlassen. Die Gottesherrschaft ist jetzt näher als in den Tagen des Täufers. Deshalb besitzen jetzt die Worte die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen eine gesteigerte Aktualität: Sie ist noch näher als damals. Bald wird Jesus sagen können: „die Gottesherrschaft ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Zum näheren Inhalt der Gottesherrschaft und des „Nahekommens“ vgl. die Erklärung bei Mt 3,2. Markus bietet in 1,14 eine echte Parallele. Lukas bietet keine. Das spricht nicht gerade für die Zwei-Quellen-Theorie. Justinus Martyr (ca. 150 n.Chr.) scheint in Dial c Tryph aus Mt 4,17 zu zitieren (51,2). 3. Erste Jüngerberufungen, 4,18-22 Vorbemerkung: Von diesen „offiziellen“ Jüngerberufungen sind die ersten Begegnungen mit späteren Jüngern zu unterscheiden, die noch am Jordan im Umkreis des Täufers stattfanden und schon damals zu Bekenntnissen und Verheißungsworten führten. Joh 1,35-51 geht also Mt 4,18-22 vorauf. Ohne das Johannesevangelium ist Mt 4,18-22 sehr viel schwieriger zu verstehen. Fast harmlos42 beginnt V. 18: Als er aber am See43 von Galiläa unterwegs war,44 sah er zwei Brüder … Warum war er dort unterwegs? Die 39 So z.B. Fiedler, 98. 40 Vgl. Carson, 117. Nach Hendriksen 239 wäre das im Dezember 27 n.Chr. „or a little later“ gewesen. 41 Vgl. G. Friedrich, Art. κῆρυξ usw., ThWNT, III, 1938, 703. 42 Zahn, 170: Jesus „anscheinend ohne Zweck und Ziel“. 43 Bauer-Aland, 711. 44 Vgl. BDR § 418,8.

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beiden Brüder warfen das Wurfnetz ins Meer. Das tut man ohne Boot, im seichten Uferwasser stehend. Und normalerweise suchte man dieselben Fischgründe auf.45 Wollte Jesus die beiden an dieser Stelle treffen? Eine solche Vermutung wird durch zwei Überlegungen verstärkt: 1) Gewinnt man aus Mk 1,20ff und Lk 4,31ff den Eindruck, dass Jesus von Anfang an in Kapernaum im Haus des Petrus gewohnt hat, 2) kannte er die beiden Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder, längst vom Jordan her (Joh 1,35ff ). Die Angabe sie waren Fischer wird durch Mk 1,16 und Lk 5,1ff bestätigt. Ferner verrät Matthäus ein deutliches Bewusstsein von der Tatsache, dass Petrus nur ein Zuname des Simon war. Wie es zu diesem Zunamen kam, sagt uns Joh 1,40-42. Petrus, griech. Πέτρος [Petros], aramäisch ‫[ ֵכּיָפא‬kēphāʾ], das dann als Κηφᾶς [Kēphas] ins Griechische transkribiert wurde,46 heißt auf Deutsch „Fels“. In Mt 16,18 dient dieser Zuname als Wortspiel: „auf diesen Felsen (Πέτρος – πέτρα [Petros – petra])47 will ich meine Gemeinde bauen.“ Mit der Verleihung eines neuen Namens (Petrus) übt Jesus ein Recht aus, das Gott zusteht (vgl. Gen 17,5; 17,15; 32,29). Das Verhältnis von Mt 4,18ff / Mk 1,16ff zu Lukas ist nicht leicht zu bestimmen. Eine genaue Parallele zu Mt/Mk bietet Lukas nicht, was wieder gegen die Zwei-Quellen-Theorie spricht. Allerdings bringt Lukas in 5,1ff einen ausführlichen Bericht über einen Fischzug des Petrus (und Andreas?) zusammen mit Jakobus und Johannes, an dessen Ende Jesus dem Petrus die Verheißung zuspricht: „Von nun an wirst du Menschen fangen“ (Lk 5,10). Hier lassen sich verschiedene Möglichkeiten denken. Lukas könnte z.B. sehr ausführlich erzählt haben, was Matthäus aufs Äußerste konzentrierte.48 Oder es kam am Galiläischen See zu einer doppelten bzw. wiederholten Berufung. Ob dies oder jenes zutrifft oder eine weitere Lösungsmöglichkeit49 – wir wissen es nicht. Aus der Begegnung Jesu mit Simon Petrus und Andreas berichtet Matthäus nicht ein einziges Wort dieser Brüder. Er berichtet nur Ruf und Verheißung Jesu: Kommt! Folgt mir nach (δεῦτε ὀπίσω μου [deute opisō mou])! Und ich werde euch zu Menschenfischern machen (V. 19). Diese Worte Jesu haben das gesamte Leben der Brüder, ja ihrer Familien verändert. Aber waren sie

45 Evtl. bezieht sich BQ 80b Bar (Strack-Billerbeck I 185) auf unser Wurfnetz (Gnilka I, 101). Vgl. Luz I 175,3. 46 Vgl. hier im Folgenden O. Cullmann, Art. Πέτρος, Κηφᾶς, ThWNT, VI, 1959, 99ff. 47 Im Aramäischen aber beide Male dasselbe Wort: ‫[ ֵכּיָפא‬kēphāʾ] (Cullmann a.a.O., 106)! 48 Vgl. Maier I, 84; France, 103. 49 Carson, 119: Lk 5,1ff vielleicht „the night before“.

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„unerwartet“, wie Gnilka schreibt?50 In der konkreten Situation vielleicht schon. Jedoch im Kontext der Evangelien sind sie zumindest vorbereitet durch die Begegnungen am Jordan nach Joh 1,35ff und auch durch die Täuferpredigt nach Mt 3,11ff. Für δεῦτε ὀπίσω μου [deute opisō mou] wird oft 2Kön 6,19 als Parallele angegeben.51 Allein dort, in der Elisa-Geschichte, findet sich zwar eine wörtliche Übereinstimmung nach der LXX, jedoch ein völlig anderer Sinnzusammenhang. Eine wirkliche Sachparallele ist dagegen 1Kön 19,1921, wo Elisa zum Nachfolger Elias (ὀπίσω Ηλιου [opisō Ēliou], LXX) berufen wird. δεῦτε [deute] ist „Ermunterungs“-,52 besser „Aufforderungs“-Partikel.53 Theologisch geprägt ist ὀπίσω μου [opisō mou], zurückgehend auf hebr. ‫[ ָהַלְך אֲַחֵרי‬hālak ʾachᵃrē]. In ‫[ ָהַלְך‬hālak] liegt die gesamte Lebensgestaltung, in ‫[ אֲַחֵרי‬ʾachᵃrē] die Orientierung an einer Person. Insofern hat Heinrich Seesemann54 recht, wenn er im „Ruf zur Nachfolge Jesu … die Forderung der völligen Hingabe an ihn“ erblickt (vgl. Mk 1,17; 8,34; Mt 10,38; 16,24; Lk 9,23). Folgt mir nach: Das ist weit mehr als die Berufung in ein Lehrer-Schüler-Verhältnis.55 Das ist analog der Berufung in die prophetische Nachfolge, sie aber weit übertreffend, die Berufung in den Dienst und die Gemeinde des Messias. Mit dem Ruf verbindet sich die Verheißung: Ich werde euch zu Menschenfischern machen (ποιήσω ὑμᾶς ἁλιεῖς ἀνθρώπων [ poiēsō hymas halieis anthrōpōn]).56 Einerseits knüpft Jesus hier an die konkrete Situation an. Andererseits nimmt er die Prophetie von den endzeitlichen Fischern in Jer 16,16;57 Ez 47,10 auf. Man sollte diese Bezugnahme auf die Prophetie nicht unterschätzen. Denn sie deutet doch darauf hin, dass Jesus mit seinem Wirken die Erfüllung eschatologischer Ansagen kommen sieht, und dass er für sich (ποιήσω [ poiēsō]!) göttliche Vollmacht voraussetzt. Inhaltlich aber geht es bei den Menschenfischern um die Gewinnung von Menschen für diese Gemeinde Jesu und das Reich Gottes, also um eine „missionarische Tätigkeit“.58 Vgl.

50 51 52 53 54 55

Gnilka I, 101. Aland Syn, 52; Nestle-Aland zur Stelle; Bauer-Aland, 353; Fiedler, 99. Bauer-Aland a.a.O. BDR § 107,8 übersetzt „auf!“. Im Art. ὀπίσω usw., ThWNT, V, 1954, 291. Vgl. jedoch die Parallelen bei Strack-Billerbeck I 187f, die rabbinische Lehrer-SchülerVerhältnisse beschreiben. 56 Vgl. BDR § 157,2. 57 Gnilka I, 101, ist gegen Jer 16,16 skeptisch, weil dort der Sinn ein negativer sei; ebenso France, 104. 58 Gnilka a.a.O.; Luz I 175.

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Mt 13,47; 28,19. Origenes machte zu Mt 4,19 die Bemerkung, Jesus habe hier nicht nur einen Auftrag, sondern auch die Kraft dazu gegeben.59 Der 20. Vers schildert in äußerster Kürze die Antwort der Brüder Simon und Andreas auf diesen Ruf: Sie aber verließen sofort die Netze und folgten ihm (= Jesus) nach. Wie Matthäus selbst (9,9) werden sie aus ihrer alltäglichen Arbeit heraus berufen. Dasselbe war bei Elisa geschehen (1Kön 19,19ff ). Wer aus seiner Alltagsarbeit heraustritt, hat in der Regel eine nüchterne Entscheidung gefällt. Es ist nicht gut, wenn man hier „das Zwingende … des Gotteswortes“ betont.60 Dadurch wird der Anschein erweckt, die Jünger hätten gar keine andere Wahl gehabt. Aber Matthäus zeigt in 10,37; 11,6; 16,24ff; 19,16ff; 19,27ff; 23,37, dass der Ruf in die Nachfolge sehr wohl in eine Entscheidung stellt. Der Mensch hat zu wählen, ob er Jesu Angebot annimmt oder nicht. εὐθέως [eutheōs], sofort, bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie weder wie Elisa in 1Kön 19,19ff Aufschub erbaten, noch analog Lk 9,59 Bedenkzeit wünschten. Ihr „Ja“ galt unverzüglich. Sie verließen … die Netze (hier: δίκτυα [diktya]61) ist vermutlich so aufzufassen, dass sie sofort ihren bisherigen Beruf aufgaben (vgl. 19,27ff ). Den Vorgang so zu übersteigern, dass die „Netze … nicht einmal mehr ans Land gezogen werden“62, ist unbegründet.63 Man sollte auch nicht von „der Armut der Fischer und ihrer Familien“64 sprechen, denn in der Regel florierte das Fischer-Handwerk am See.65 Alle diese Einzelerwägungen dürfen von der Grundtatsache nicht ablenken: Hier traten zwei Menschen ganz in die Nachfolge Jesu und stellten um dieser Nachfolge willen Beruf, Wohnsitz, Besitz und bisherige Familienverhältnisse zurück (vgl. wieder Mt 19,27ff ). Unseres Wissens sind Simon und Andreas die Ersten, die das taten. Sie formten damit das Modell der Nachfolge für alle Zeiten. Der Vorgang, den die Verse 21 und 22 schildern, gleicht in vielem dem Vorgang in den Versen 18-20. Jedoch sind die Einzelheiten nicht immer durchsichtig. V. 21 zeigt uns zunächst die Situation: Und als er (= Jesus) von dort weiterging (καὶ προβὰς ἐκεῖθεν [kai probas ekeithen]), sah er zwei andere Brüder, Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, im Boot mit ihrem Vater Zebedäus, wie sie ihre Netze ausbesserten. Wann 59 60 61 62 63 64 65

Texte KV IV, 363. So Schniewind, 35; ähnlich Sand, 85. Ein allgemeines Wort für Netze. So Luz I 175. Fiedler, 100. Gegen Fiedler, 100. France, 103.

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war das? Am selben Tag? Oder markieren die Worte προβὰς ἐκεῖθεν [ probas ekeithen] nur eine andere Stelle am See, ohne einen direkten zeitlichen Zusammenhang mit V. 18-20? Klar ist, dass εἶδεν ἄλλους δύο ἀδελφούς [eiden allous dyo adelphous] im selben Sinn verstanden werden muss wie εἶδεν δύο ἀδελφούς [eiden dyo adelphous] in V. 18. Wir nehmen also an, dass Jesus auch diese zwei anderen Brüder absichtlich aufsuchen und berufen wollte. Nach Joh 1,35ff kannte er sie ebenfalls schon als Täuferjünger vom Jordan her.66 Es bleibt ja doch eine naheliegende Annahme, dass der namentlich nicht genannte Mitjünger des Andreas niemand anderes war als Johannes, dem dann „sein eigener Bruder“ (ὁ ἀδελφὸς ὁ ἴδιος [ho adelphos ho idios]) zugeordnet werden muss, nämlich Jakobus (vgl. Joh 1,41). Jakobus, hebr. ‫ [ י ֲַעֹקב‬jaʿᵃqob] (vgl. Gen 25–50), wird in Mt 4,21 zuerst genannt. Er ist also der Ältere der beiden Brüder. Auffallenderweise und im Unterschied zu V. 18 wird in V. 21 der Vatersname des Jakobus genannt: Zebedäus. Wahrscheinlich geschieht das auch deshalb, weil man Jakobus, den Sohn des Zebedäus, vom anderen Jakobus des Zwölferkreises, nämlich Jakobus, dem Sohn des Alphäus (Mt 10,3; Mk 3,18; Lk 6,15; Apg 1,13), unterscheiden musste. Aber die Nennung des Namens Zebedäus deutet noch in eine andere Richtung: Dieser Zebedäus muss in der Gemeinde, in der Matthäus lebte, eine bekannte Gestalt gewesen sein. Die Umstände der Berufung des Brüderpaares legen den Schluss nahe, dass der Vater Zebedäus selbst wirklich fromm war und irgendwann zum Glauben an Jesus kam (vgl. auch Mt 20,20ff ). Zebedäus, Ζεβεδαῖος [Zebedaios], entspricht hebr. ‫[ זְַב ַדּי‬sabdaj] oder ‫[ זְַב ִדּי‬sabdī ]67 („Geschenk Jahwes“, vgl. Jos 7,1.17f; 1Chron 8,19; 27,27; Neh 11,17), vermutlich eher von ‫[ זְַב ַדּי‬sabdaj] abgeleitet.68 Nach J.D. Douglas69 war Zebedäus „ein – wahrscheinlich begüterter – galiläischer Fischer (vgl. Mk 1,20), der offensichtlich in oder nahe bei Betsaida lebte“. Aber im Zusammenhang von Mt 4,18ff würde man eher vermuten, dass er in Kapernaum wohnte.70 Jedenfalls traf Jesus die beiden Brüder bei der Arbeit im Boot mit ihrem Vater Zebedäus, wie sie ihre Netze ausbesserten. Sein Handeln wird aufs Äußerste komprimiert: Und er rief sie. Der Ruf ergeht in seine Nachfolge (vgl. V. 19). Eine besondere Verheißung oder weitere Worte werden hier im Unterschied zu V. 19 nicht erwähnt. Das entspricht Lk 5,8ff.

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Zahn, 172; France, 104. Gegen Luz I 177. Nach Gnilka I, 103, hebr. Zibdai, Kurzform für Jozabad. Strack-Billerbeck I 188. Art. Zebedäus, GBL, 3, 1711. Vgl. auch Mk 1,19, wonach Jesus nur „ein wenig“ weiterging.

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V. 22 wiederholt zum Teil wörtlich V. 20 (οἱ δὲ εὐθέως ἀφέντες [hoi de eutheōs aphentes]). Durch diese Wiederholung schafft Matthäus einen besonderen Akzent: Die berufenen Jünger bejahen sofort den Ruf in die Nachfolge. Auch hier entsprechen sich Ruf und Nachfolge: sie folgten ihm nach (ἠκολούθησαν αὐτῷ [ēkolouthēsan autō]). Allerdings wird hier nach der Erwähnung des Zebedäus in V. 21 noch besonders notiert: Sie verließen ihren Vater.71 Es wird jetzt klar, dass Nachfolge bedeutet, alle weiteren Verhältnisse und Verbindungen wie Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester, Häuser oder Äcker auf Rang zwei zu setzen (vgl. Mt 10,37; 19,27ff ), während der erste Rang dem Messias und Gottessohn zukommt. Man darf an der Entschiedenheit dieser (Heraus-)Forderung nichts abbrechen. Schlatter bemerkte einst mit Recht: Jesus „verlangte … auch von ihrem Vater, daß er ihm seine Söhne willig dargebe um Gottes willen.“72 Andererseits kann man an der sofortigen Einwilligung der Söhne und ihres Vaters auch die Kraft ablesen, die im Ruf Jesu steckt. Dafür hatte Origenes ein feines Gespür, wenn er schrieb, Jesus habe Mt 4,19 „durch eine göttliche Kraft an seinen Aposteln erfüllt“.73 Erstaunlich bleibt in jedem Fall, dass beide Brüder zusammen in die Nachfolge Jesu eintraten. Es hätte nach menschlicher Erfahrung ja auch (wie in V. 20) so sein können, dass einer den Ruf angenommen, der andere ihn aber abgelehnt hätte. Erstaunlich ist weiter, dass beide Brüderpaare durch die ganze Evangeliengeschichte hindurch zusammenblieben (vgl. Mt 10,2; 20,20; 27,56; Lk 5,10; 9,54; Joh 21,2). Im Rückblick auf Mt 4,18-22 halten wir fest, dass Matthäus nur noch seine eigene Berufung (Mt 9,9) ähnlich schildert, diejenige aber aller anderen Jünger nicht. Warum? Vermutlich ist es so, dass Matthäus die Rolle von Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes besonders hervorheben wollte. Es sind tatsächlich die führenden Köpfe der Urgemeinde gewesen, wie unser Exkurs genauer zu zeigen versucht. Die Urteile des Paulus und des Lukas stimmen damit grundsätzlich überein (vgl. 1Kor 15,5ff; Gal 2,9; Apg 1–12). Wie Luz aus Mt 4,18-22 die Folgerung ableitet, es habe für Matthäus „weder eine Sondergruppe von Nachfolgern noch eine konstitutive Amtsstruktur“ gegeben,74 bleibt unverständlich.

71 72 73 74

Gnilka I, 103, erinnert hier an 1Kön 19,20. Schlatter, 46. Texte KV IV, 363 (Gegen Celsus I, 62). Luz I 176.

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Exkurs: Die beiden Brüderpaare von Mt 4,18-22: Petrus, Andreas; Jakobus, Johannes Gelegentlich findet man in der Literatur die Meinung, die beiden Brüderpaare deuteten „die neue geistige Bruderschaft“ an, nämlich die Gemeinde.75 Das ist eine Überinterpretation von Mt 4,18ff, auch wenn für Matthäus an anderen Stellen die bruderschaftliche Verfassung der Gemeinde wichtig ist (vgl. Mt 18,1ff; 18,15ff; 23,8ff; 28,10). Es geht Matthäus vielmehr um die heilsgeschichtliche Gründung des Jüngerkreises und der Gemeinde des Neuen Bundes. Sehr bewusst wird hier Petrus betont. Er ist der Erstberufene des Zwölferkreises. Nur von ihm werden zwei Namen angegeben: Simon und Petrus. Den Zunamen der Zebedäus-Söhne, „Boanerges“ (Mk 3,17), nennt Matthäus dagegen nicht. Es besteht kein Zweifel, dass für Matthäus Petrus an der Spitze des Zwölferkreises und der Urgemeinde steht (vgl. nur Mt 8,14; 16,16ff; 17,1ff. 24ff; 26,40). Wir müssen uns also der geschichtlichen Stellung der beiden Brüderpaare zuwenden. Petrus stammt nach Joh 1,44 aus Betsaida. Mit ihm, Andreas und Philippus stellten die Betsaidaner ein Viertel des Zwölferkreises! Das ist umso erstaunlicher, als unseres Wissens kein Nazarener im Zwölferkreis war. Betsaida mit dem Beinamen Julias gehörte zur Tetrarchie des Herodes Philippus (4 v.Chr – 33/34 n.Chr.) und wies einen starken Anteil griechischer Kultur auf. Die Annahme von Carsten Peter Thiede, Petrus sei dreisprachig gewesen: Hebräisch, Aramäisch, Griechisch, besteht wohl zu Recht.76 Der ursprüngliche Name des Petrus, Simon, griech. Σίμων [Simōn], war „bei Griechen … u. Juden“ häufig.77 Hebräisch lautet er ‫שְׁמעוֹן‬ ִ [schimʿōn], was im Deutschen meist mit „Symeon“

wiedergegeben wird, griech. Συμεών [Symeōn] (vgl. 2Petr 1,1).78 In den Evangelien begegnet uns Petrus als Einwohner und Hausbesitzer in Kapernaum, wo er zusammen mit seiner Frau und Schwiegermutter wohnt (Mk 1,29ff; Lk 4,38ff ). Er muss also von Betsaida nach Kapernaum umgezogen sein und sich dort verheiratet haben.79 Er begegnet uns darüber hinaus „als mittelständischer Fischereiunternehmer“.80 Vorauszusetzen ist eine jüdische Elementarbildung.81 Das häufige Urteil, er sei nur ein „einfacher Fischer“ gewesen,82 muss deshalb modifiziert werden. Allerdings war er kein Gelehrtenschüler. Dafür gehörte er mindestens zeitweise zum Jüngerkreis 75 76 77 78 79 80 81 82

So z.B. Gnilka, I, 102. C.P. Thiede, Art. Petrus, GBL, 3, 1166. Bauer-Aland, 1501; Thiede a.a.O.; Cullmann a.a.O., 99. Cullmann a.a.O.; vgl. Gesenius, 847. Vgl. Cullmann a.a.O., 100f. Thiede a.a.O. Thiede a.a.O. Noch bei Cullmann a.a.O., 100.

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des Täufers (Joh 1,40ff ).83 Dort traf er offenbar erstmals auf Jesus. Nach seiner Berufung in den Jüngerkreis nimmt er als der „Fels“, wie ihn Jesus nach Joh 1,42 nannte, dort die führende Rolle ein. Cullmann spricht von seiner „Sonderstellung“ oder „Vorrangstellung, so daß die synoptischen Evangelien ihn uns als immer im Vordergrund der Gruppe stehend zeigen (Mk 9,5)“.84 Er nennt ihn mit Recht den „Sprecher der Zwölf “ und den „markantesten Repräsentanten des Jesuskreises“.85 Jedenfalls steht Petrus in allen Apostellisten an der Spitze (Mt 10,2; Mk 3,16; Lk 6,14; Apg 1,13). Nach der Himmelfahrt Jesu übernimmt Petrus dann entsprechend Mt 16,18f die Leitung der Urgemeinde in Jerusalem (Apg 1–12; Gal 1,18; 2,6ff ). Die Evangelien verschweigen aber auch die andere Seite nicht. Petrus blieb trotz der Zuwendung und Verheißung Jesu ein sündiger Mensch (Lk 5,8). Sein Glaube war immer wieder klein (Mt 14,31), seine Menschenfurcht groß (Mk 26,69ff ). Er wollte Jesus vom Weg ans Kreuz abhalten (Mt 16,22f ) und verleugnete ihn in der Passion (Mt 26,69ff ). Es spricht für die Evangelien und nicht zuletzt für Matthäus, dass sie diese Züge nicht unterschlagen. Die bewegende Sündenvergebung, die Petrus durch Jesus erlebte, schildert Joh 21,15ff. Petrus ist ein Zeuge der Auferstehung Jesu gewesen, offenbar über Joh 20,1ff hinaus auch durch eine besondere Begegnung mit dem Auferstandenen (Lk 24,34; 1Kor 15,5).86 Diese Begegnung, die Sündenvergebung durch den Auferstandenen und die neue Beauftragung nach Joh 21,15ff leiten eine grundlegende und weitreichende Phase des Apostels Petrus ein. In deren erstem Abschnitt, während der Zeit in Jerusalem, vertritt Petrus die Christen-Gemeinde vor dem Hohen Rat (Apg 4–5), vollbringt Wunder (Apg 3,1ff; 5,12ff; 9,36ff ), ordnet das Diakonenamt (Apg 6,1ff ) und vollzieht den Schritt zur Heidenmission (Apg 10–11). Dann aber muss er Jerusalem wegen der Christenverfolgung unter Herodes Agrippa I. (41 n.Chr.?)87 verlassen (Apg 12). Die Leitung der Jerusalemer Urgemeinde geht an den Herrenbruder Jakobus über (Apg 12,17ff ). Über die folgende, überaus fruchtbare „Missionstätigkeit des Petrus wissen wir“ nach Oscar Cullmann „so gut wie nichts“.88 Immerhin gibt es eine Reihe von Spuren. Zunächst berichtet Paulus in Gal 2,11ff von einem längeren Aufenthalt des Petrus in Antiochien, der dritt- oder viertgrößten Stadt des römischen Reiches. Danach hatte Petrus Zugang sowohl zu Juden- wie zu Heidenchristen. Es kam dort zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Paulus, deren Einzelheiten und Hintergründe uns nicht mehr klar sind. Ferner erwähnt Paulus 83 84 85 86 87 88

Cullmann a.a.O., 101. Cullmann a.a.O.; vgl. Thiede a.a.O. A.a.O. Thiede a.a.O.; 1167. Thiede a.a.O. Cullmann a.a.O., 111.

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in 1Kor 9,5, dass Petrus zusammen mit seiner Frau in den Gemeinden gastfrei aufgenommen wurde. Traf das auch für Korinth zu? Die Erwähnung einer „Kephas“-Partei in Korinth (1Kor 1,12) könnte dafür sprechen.89 Bischof Papias von Hierapolis in Kleinasien hat Menschen gekannt, die mit Petrus bekannt waren.90 Zusammen mit 1Petr 1,1 deutet dies auf die Möglichkeit einer kleinasiatischen Missionstätigkeit des Petrus hin.91 Vor allem aber hat Petrus in Rom seine Spuren hinterlassen. Ist Babylon in 1Petr 5,13 ein Deckname für Rom – wie häufig angenommen92 –, dann wäre das ein unmittelbarer neutestamentlicher Beleg. Sehr wahrscheinlich setzt auch der 1. Clemensbrief aus der Mitte der 90er-Jahre ein Wirken des Petrus in Rom voraus.93 Auf jeden Fall existiert seit dem Römer Gaius (ca. 200 n.Chr.) eine ununterbrochene Lokaltradition vom Aufenthalt des Petrus in Rom, seinem Martyrium dort unter Nero94 und seiner Beisetzung am vatikanischen Hügel.95 Er soll frühchristlichen Quellen zufolge (Lactantius, Origenes)96 mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden sein. Das heute bei der Roten Mauer unter dem Petersdom gezeigte antike Grab ist mit hoher Wahrscheinlichkeit dasjenige, das die sterblichen Überreste des Petrus aufnahm.97 Über die Hinrichtung der Christen durch Nero in den Vatikanischen Gärten berichtet Tacitus:98 „Bei ihrem Tod wurde auch noch Spott mit ihnen getrieben, indem sie, bedeckt mit den Fellen wilder Tiere von Hunden zerrissen oder ans Kreuz geheftet starben oder zum Feuertode bestimmt, sich zur nächtlichen Erleuchtung verbrennen lassen mußten, wenn sich der Tag neigte. Nero hatte seinen Park zu diesem Schauspiele geöffnet und gab ein Zirkusspiel, wobei er sich im Aufzug eines Wagenlenkers unter das Volk mischte, oder auf dem Wagen stand.“ Welch ein Weg des Petrus von Betsaida nach Rom! Welche Kraft der Verheißung Jesu! Die frühesten Abbildungen des Petrus in Rom sind keineswegs schematisch-abstrakt, sondern spiegeln ein hohes Maß bleibender historischer Erinnerung.99 Der Streit, welche Kirchen „petrinisch“ sind, welche „paulinisch“ usw., ist großenteils müßig. Denn letztlich stehen alle Kirchen auf dem geschichtlichen Fundament, das Jesus durch die Apostel, in hervorragender Weise auch durch Petrus, gelegt hat (Eph 2,20). 89 Skeptisch Cullmann a.a.O; das Zeugnis bei Eusebius H.E. II, 25,8 macht einen KorinthAufenthalt des Petrus aber sehr wahrscheinlich. 90 Eusebius H.E. III, 39,4. 91 Cullmann a.a.O. 92 So etwa bei Cullmann a.a.O., 112. 93 Dafür Cullmann a.a.O.; Thiede a.a.O., 1168f. 94 Vgl. Tacitus Ann XV, 44. 95 Eusebius H.E. II, 25, 5f; vgl. den Zusammenhang ab 25,1. 96 Quellenangaben bei Thiede a.a.O., 1169. 97 Vgl. Thiede a.a.O. 98 Ann XV, 44. 99 Ein schönes Beispiel bei Thiede a.a.O., 1167.

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Als Letztes muss an die literarische Hinterlassenschaft des Petrus erinnert werden. Sie besteht zunächst aus den zwei Petrusbriefen, die ins NT aufgenommen wurden. Beim 2. Petrusbrief ist besonders umstritten, ob er wirklich von Petrus stammt. Noch Eusebius (gest. 339/340 n.Chr.) rechnet den 2Petr „zu den bestrittenen“ Schriften (Antilegomena) des NT.100 Hätte sich aber in der alten Kirche nicht die Überzeugung durchgesetzt, dass die beiden Petrusbriefe auf Petrus selbst zurückgehen, wäre keiner von ihnen ins NT aufgenommen worden. Denn die Petrusakten, das Petrusevangelium, die Petruspredigt und die Petrusoffenbarung hat die alte Kirche, weil ihr diese Überzeugung fehlte, aus dem Bibelkanon ausgeschlossen.101 Weit stärker noch wirkte Petrus durch das Markusevangelium, das den Nachrichten der alten Kirche zufolge auf ihn zurückgeht. Schon Papias, Bischof von Hierapolis, schreibt um 120 n.Chr., Markus als ἑρμηνευτής [hermēneutēs] (Dolmetscher) des Petrus habe in seinem Evangelium dasjenige aufgeschrieben, was er aus den Lehrvorträgen (διδασκαλίαι [didaskaliai]) des Petrus wusste.102 Eusebius berichtet aufgrund der alten, von Clemens Alexandrinus überlieferten Tradition, wie es dazu kam.103 Dabei erwähnt er sogar, dass Petrus das MkEv „für die Lesung an den Kirchen bestätigt“ habe.104 Dass das Markusevangelium auf Petrus zurückgeht, ist eine durchaus glaubwürdige Überlieferung der alten Christen.105 So prägt Petrus direkt (1Petr, 2Petr) und indirekt (MkEv) bis heute die Christenheit. Andreas, sein Bruder, ist sehr viel weniger bekannt. Diese Beobachtung darf aber nicht über zwei wesentliche Tatsachen hinwegtäuschen: dass nämlich Andreas zu Anfang die intensivere Beziehung zu Jesus hatte, und dass er auf jeden Fall zu den „prominenteren“ Aposteln gehörte. Zum Ersten: Es war Andreas, der seinen Bruder Simon am Jordan zu Jesus führte (Joh 1,40-42), und nicht umgekehrt.106 Andreas war auch einer der beiden Täuferjünger, die Jesus aufgrund der Hinweise ihres Meisters (Joh 1,29ff; 1,35ff ) zuerst aufsuchten (Joh 1,35-40). Folgerichtig steht er in Joh 1,44 vor Petrus. Erst durch die Verheißung Jesu (Joh 1,42) und die Ereignisse am See Genezareth (Mt 4,18ff; Lk 5,1f ) tritt Petrus in den Vordergrund. Jedenfalls war Andreas sehr aktiv an der Täuferbewegung beteiligt. Nur einmal kommt der Name Andreas für eine Gestalt des NT vor.107 Wir sind also sicher, bei Andreas immer demselben Träger dieses Namens zu begegnen. Der Name ist griechisch, vgl. ἀνδρεῖος [andreios] 100 101 102 103 104 105 106

H.E. II, 25,3. Eusebius H.E. II, 3,2. Nach Eusebius H.E. II, 39,15. Vgl. Aland Syn, 531. Ebenso Irenäus Adv. haer. II, 1,1. H.E. II, 15. H.E. II, 15,2. So auch H. Günther, Art. Markus, Evangelium, GBL, 2, 930. Vgl. hier und im Folgenden R. Pesch, Art. Andreas, hl. Apostel. I., LThK, 1, 1993, 625626; R.E. Nixon, Art. Andreas, GBL, 1, 63. 107 Pesch a.a.O., 625.

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= mannhaft. Wie Petrus und Philippus stammt Andreas „aus dem hellenisierten Betsaida-Julias“108 (Joh 1,44), zog aber später (zusammen mit seinem Bruder Petrus?) nach Kapernaum. Bei ihm gibt es keinen Zweifel, dass er über gute griechische Sprachkenntnisse verfügte109 (vgl. Joh 12,20ff ). Zum Zweiten: Die hervorragende Rolle des Andreas im Apostelkreis ergibt sich aus seiner frühen Berufung (Mt 4,18ff ), seiner Platzierung auf dem zweiten oder vierten Platz der Apostellisten (Mt 10,2; Mk 3,18; Lk 6,14; Apg 1,13) und der mehrfachen Erwähnung in den Evangelien (Mk 1,29; 13,3; Joh 1,40.44; 6,8; 12,22). Offenbar betont Johannes in seinem Evangelium diese Rolle stärker als die Synoptiker.110 Will er damit ein gewisses Ungleichgewicht zurechtrücken? Auch die späteren Nachrichten sind nicht uninteressant. Papias von Hierapolis (1. Hälfte des 2. Jh. n.Chr.) zog Schüler des Andreas zu Auskünften heran.111 Das lässt auf Verbindungen des Andreas zu Kleinasien schließen. Solche Verbindungen werden durch die altkirchliche Überlieferung bestätigt, wonach Andreas Skythien (Südrussland) als missionarischen Wirkungskreis erhielt.112 Evtl. erstreckte sich dieser Wirkungskreis auch auf die unteren Donauländer (Thrakien, Griechenland).113 Ob Andreas wirklich in Griechenland gekreuzigt wurde, wissen wir nicht.114 Wie hoch sein Einfluss veranschlagt wurde, geht auch daraus hervor, dass häretische Kreise die „Andreas-Akten“ in Umlauf brachten.115 Heute wird der Andreastag am 30. November gefeiert, und Andreas dient als Schutzpatron und häufiger Namensgeber für Russland, Griechenland, Schottland und Sizilien.116 Wieder kann man nur darüber staunen, was Jesus aus seinen Nachfolgern gemacht hat. Die Vita des Jakobus, Sohn des Zebedäus, sticht bemerkenswert von der des Petrus und Andreas ab. Als einer der Erstberufenen (Mt 4,18ff ) nahm er zur Zeit Jesu ebenfalls einen prominenten Platz im Zwölferkreis ein. Vermutlich gehörte er mit seinem Bruder Johannes zusammen zu denjenigen, die sich zuerst dem Täufer anschlossen und dann am Jordan Jesus begegneten (Joh 1,40ff ). Auch in Lk 5,1ff wird er namentlich erwähnt. Dass ihm Jesus zusammen mit seinem Bruder den Beinamen „Boanerges“ verlieh (Mk 3,17), hebt ihn noch einmal aus dem Kreis der Zwölf heraus. Dieser Beiname Boanerges = Donnersöhne weist nach allgemeiner Ansicht „auf ihren stürmischen Eifer hin“117 (vgl. Lk 9,54). In den Apostellisten erscheint Jakobus auf dem zweiten 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117

Pesch a.a.O. Pesch a.a.O.; Nixon a.a.O. A.a.O. Eusebius H.E. III, 39,4. Eusebius H.E. III, 1,1. Pesch a.a.O. Pesch a.a.O.; Nixon a.a.O. bejahend („Wahrscheinlich“). Eusebius H.E. III, 25,6. Vgl. E. Wimmer im Art. Andreas usw., LThK, 1, 1993, 626. W. Haubeck, Art. Jakobus, GBL, 2, 646.

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(Mk 3,17) oder dritten (Mt 10,2; Lk 6,14; Apg 1,13) Platz. Mehrfach wird sein Name in den Evangelien genannt (vgl. Mt 17,1; Mk 1,29; 5,37; 9,2; 13,3; 14,33; Lk 8,51; 9,28). Als die Zebedäus-(Donner-)Söhne die hervorragendsten Plätze im messianischen Reich Jesu erbaten, kam es zu einer Spannung zwischen ihnen und den übrigen zehn Aposteln (Mk 10,35ff ). Diese scheint sich später wieder gelegt zu haben. Jedoch sagte ihnen Jesus in Mk 10,38f das Martyrium voraus. Johannes erlitt dies durch seine Verbannung auf die Insel Patmos (Offb 1,9). Jakobus aber verlor im Jahre 44 n.Chr. sein Leben, als ihn der jüdische König Herodes Agrippa I., ein Enkel von Herodes dem Großen, hinrichten ließ (Apg 12,2). Vielleicht war er aus der Gruppe der elf treu gebliebenen Apostel der Erste, der starb und sein Leben in einer der frühesten Christenverfolgungen verlor. So endet seine Vita fast abrupt. Clemens Alexandrinus (um 200 n.Chr.) rühmte den Bekennermut, den er bei seinem Prozess bewies.118 Literarisch hat uns der Zebedaide Jakobus nichts hinterlassen. Der jüngste der vier in Mt 4,18ff erwähnten Jünger ist der andere Zebedäussohn, Johannes. Sein Name, griech. Ἰωάννης [Iōannēs], abgeleitet vom hebr. „Jochanan“ (‫ [ יוָֹחנָן‬jōchānān]), in der volleren Form „Jehochanan“ (‫יְהוָֹחנָן‬

[ jᵉhōchānān]), auf Deutsch „Jahwe ist gnädig“, ist im AT und im Judentum relativ häufig.119 Sehr wahrscheinlich verbirgt sich unter dem ungenannten zweiten Jünger von Joh 1,35ff unser Johannes. Demnach gehörte er ebenfalls zu den Täuferjüngern und hat Jesus ganz früh am Jordan kennengelernt. Im Umkehrschluss ergibt sich aus Joh 1,44, dass Johannes nicht aus Betsaida stammte, sondern – wie Mt 4,18ff nahelegt – aus Kapernaum. Die Zebedäus-Söhne kommen also aus einer weniger stark hellenisierten Umgebung wie Petrus, Andreas und Philippus (vgl. Joh 12,20ff ). Die Namen Jakobus und Johannes deuten ebenso wie der Name Zebedäus auf eine traditionell-jüdische, vielleicht sogar fromme Familie. Das ändert aber nichts daran, dass auch Johannes in einem zweisprachigen Land aufwuchs und mit Aramäisch, Hebräisch und Griechisch vertraut gewesen sein muss. In den Apostellisten nimmt er den dritten (Mt 3,17) oder vierten (Mt 10,2; Lk 6,14) Platz ein, in Apg 1,13 sogar den zweiten, was zweifellos mit seiner führenden Stellung in der Urgemeinde zusammenhängt. Die mehrfache namentliche Erwähnung in den Evangelien zeigt die Bedeutung des Johannes im Zwölferkreis und die Wertschätzung, die ihm Jesus erwies (vgl. Mt 17,1; Mk 1,29; 5,37; 13,3; 14,33; Lk 5,10; 9,54; 22,8). Auf eine zugleich verhüllte und enthüllende Weise begegnet uns Johannes im Johannesevangelium. Dieses Evangelium wird von der altchristlichen Tradition einhellig auf den Apostel Johannes zurückgeführt, und die historische Kritik hat sich vergeblich darum bemüht, dieses Zeugnis aufzuheben. Nach dem

118 Eusebius H.E. II, 9, 2-3. 119 Vgl. Gesenius, 291-293; Bauer-Aland, 780.

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Johannesevangelium war Johannes Täuferjünger, der „Jünger, den Jesus lieb hatte“ (Joh 13,23; 19,26; 20,2; 21,7.20), der Jünger, dem Jesus am Kreuz seine Mutter anvertraute (Joh 19,25ff ), der Augenzeuge der Kreuzabnahme (Joh 19,38), ein Zeuge der Auferstehung (Joh 20–21), der vertrauenswürdige Verfasser dieses Evangeliums und Tradent vieler Agrapha (Joh 21,25). Nach der Auferstehung Jesu begegnet uns Johannes in der Apostelgeschichte als führendes Mitglied der Urgemeinde (Apg 3–5; vgl. Gal 2,9). Im Zuge der Wirren vor und während des Jüdischen Krieges (66–73 n.Chr.) hat er vermutlich das Israelland verlassen und kam nach Ephesus in der römischen Provinz Asien.120 Mit H.W. Neudorfer121 ist vor allem auf das Zeugnis des Bischofs Polykrates von Ephesus zu verweisen, der um 190 n.Chr. Leben und Tod des Johannes in Ephesus bestätigt. Den Erzählungen bei Eusebius H.E. III, 23,1ff zufolge hat Johannes in Asien außerordentlich prägend gewirkt. Hochverehrt starb er nach dem zuverlässigen Zeugnis des Irenäus (ca. 180 n.Chr.)122 in der Zeit Trajans (98–117 n.Chr.), also wohl um 100 n.Chr. Johannes hat einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die damals im Entstehen begriffene Kirche ausgeübt. Das geschah zunächst durch seinen immensen Beitrag zum Neuen Testament. Nicht weniger als fünf seiner Schriften wurden in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen: das Johannesevangelium, die drei Johannesbriefe und die Johannesoffenbarung, insgesamt 50 Kapitel im NT. Allein die weltgeschichtliche und historiografische Wirkung der Johannesoffenbarung übersteigt fast die Vorstellungskraft. Dass gerade die Johanneica die stärksten Stürme der Kritik auf sich zogen, hat dieser Wirkungsgeschichte neue, wichtige Bände hinzugefügt. Der Einfluss des Johannes beruht neben seiner schriftlichen Hinterlassenschaft auf seiner mündlichen Lehrbildung in Kleinasien. Ihr Ergebnis ist – wie man in einer Kurzformel sagt – die „johanneische Schule“ oder der „johanneische Kreis“. Berühmte Vertreter der johanneischen Schule waren die Bischöfe Polykarp von Smyrna (den Märtyrertod wohl 156 n.Chr. gestorben) und Papias von Hierapolis (schrieb um 120 n.Chr. ein fünfbändiges Werk). Beide haben Johannes noch persönlich gekannt und erlebt.123 In der folgenden kleinasiatischen Generation ragen Irenäus, Bischof von Lyon (Lugdunum, schrieb um 180 n.Chr. sein Hauptwerk gegen die Häresien), und Melito, Bischof von Sardes (schrieb um 175 n.Chr. über die Johannesoffenbarung), hervor. Damals waren „die Presbyter, die Johannes, den Schüler des Herrn, gesehen haben“, eine feststehende Größe und eine Quelle, aus der sowohl Irenäus124 als auch Clemens Alexandrinus125 schöpften. Von 120 121 122 123 124 125

Vgl. Eusebius H.E. III, 1,1; 5,1ff; 23,1ff. Vgl. seinen Art. Johannes, Apostel, GBL, 2, 697-698. Adv. haer. V, 30,3; II, 22,5. Irenäus Adv. haer. V, 334; Eusebius H.E. III, 36ff. Adv. haer. V, 33,3; 30,1; 36,1.2; II, 22,5. Vgl. Eusebius H.E. VI, 14,5.

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da an reicht ein ununterbrochener Traditionsstrom johanneischer Theologie in die Ost-, aber auch die Westkirchen hinein. Was wir hier in äußerster Knappheit dargestellt haben, ist alles eine Auswirkung jener Berufungen durch Jesus, von denen Mt 4,18-22 erzählt, aber auch ein Segen aus der Bußbewegung des Täufers.

4. Die erste Zusammenfassung des öffentlichen Wirkens Jesu, 4,23-25 In V. 23 ist περιῆγεν [ periēgen] das einzige Verbum finitum. Ihm sind die drei Partizipien διδάσκων [didaskōn], κηρύσσων [kēryssōn] und θεραπεύω [therapeuō] untergeordnet (vgl. die ähnliche Konstruktion in 28,19f ). Das darf aber nicht verbergen, dass gerade mit diesen drei Partizipien die Haupttätigkeit des irdischen Jesus beschrieben wird: Lehren, Verkündigen, Heilen. Zugleich macht Matthäus jetzt schon deutlich, was er auch in der Anordnung der Kapitel 5–9 zum Ausdruck bringt: nämlich die Vorordnung des Wortes vor dem Wunder, der Verkündigung vor dem Heilen.126 Insofern ist Mt 4,23-25 ein wirklicher Prolog zu Kap. 5–9.127 Zum Einzelnen: Mt 4,23-25 ist ein Summarium,128 das viele Details auslässt. Die Art, wie Jesus bei seinem frühesten Auftreten tätig wird, ist nach Gundry „exemplary of itinerant evangelism“.129 Und er wanderte in ganz Galiläa umher (V. 23): Mk 1,39 und Lk 4,14f bestätigen dies. Es kann kein Zweifel sein, dass Galiläa den ersten Schauplatz des Wirkens Jesu bildet.130 Auch Johannes bestätigt dies in 1,43; 2,1ff.12; 4,3.46ff. Mit seinem Wandern durch ganz Galiläa unterschied sich Jesus von Anfang an von anderen jüdischen Lehrern,131 die sich auf ihre Jeschiwah (Sir 51,31 bzw. 51,23.29) oder Synagoge stützten, aber auch vom Täufer, der an die Wasserstellen des Jordantales gebunden war. Am ehesten existiert eine Parallele zu Israels wandernden Propheten wie Elia oder Elisa (vgl. 2Kön 4,8). Ein Stück weit lebt also mit Jesus das alte Prophetentum Israels wieder auf. An die Spitze seiner Tätigkeit stellt Matthäus das Lehren:132 er lehrte in ihren Synagogen. Lehren heißt grundsätzlich: die Schrift auslegen.133 Ein praktisches Beispiel dafür ist uns in Lk 4,16ff überliefert. Für alle drei synoptischen Evangelien ist es wichtig, dass dieses Lehren in ihren Synagogen, das 126 Vgl. Karl Heinrich Rengstorf, Art. διδάσκω usw., ThWNT, II, 1935; 141; Schniewind, 36. 127 Vgl. Senior, 65; Luz I 178. 128 Gundry, 63; Klostermann, 31. 129 Gundry a.a.O. 130 Das Imperfekt περιῆγεν [ periēgen] hat durativen Charakter. Vgl. Klostermann, 31. 131 Gundry a.a.O. 132 Gundry a.a.O. 133 Vgl. Rengstorf a.a.O., 142ff; France, 105.

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heißt im geordneten jüdischen Synagogengottesdienst, stattfand134 (Mt 4,23; Mk 1,39; Lk 4,44). Die Ausdrucksweise ihre Synagogen muss keine Distanzierung bedeuten. Vermutlich wird damit nur ausgesagt, dass Jesus die Synagogen der Galiläer aufsuchte, sooft sich eine Gelegenheit dazu ergab.135 Jedoch erlaubt die Lehrtätigkeit Jesu in den Synagogen einige interessante Rückschlüsse: 1) müssen die von den Pharisäern dominierten Synagogen zumindest am Anfang für Jesus offen gewesen sein, 2) kann man bei den Pharisäern selbst eine solche anfängliche Offenheit für Jesus voraussetzen, 3) hat Jesus ihre Synagogen geschätzt und geliebt, was die Worte in Mt 23,2-3 verständlich macht, 4) muss Jesus das Hebräisch des AT beherrscht haben. Eine zweite Tätigkeit Jesu beschreibt Matthäus mit den Worten er verkündigte das Evangelium vom Reich. Das Stichwort vom Reich erinnert an V. 17. Wir haben es hier also mit dem Skopus der Schriftauslegung Jesu und zugleich mit dem inhaltlichen Kern der jesuanischen Botschaft zu tun. κηρύσσειν [kēryssein] bedeutet nach Gerhard Friedrich „proklamieren“.136 Das, was proklamiert wird, ist der Anbruch der messianischen Zeit.137 Denn sie ist mit Jesu Kommen angebrochen. Weil der Messias Jesus uns von unseren Sünden erlöst (Mt 1,21), ist Jesu Botschaft ein εὐαγγέλιον [euangelion], eine „gute Botschaft“, ja die beste Botschaft. Damit hat auch Gottes Reich begonnen (vgl. wieder Lk 4,16ff ). Als dritte Tätigkeit nennt Matthäus das Heilen: und er heilte alle Krankheit und alle Schwachheit im Volk. νόσος [nosos] ist Krankheit im allgemeinen Sinn,138 μαλακία [malakia] bezeichnet körperliche oder seelische „Schwäche“, Schwachheit.139 Es handelt sich also um eine umfassende Heilungstätigkeit Jesu, was durch das doppelte πᾶσαν (alle) unterstrichen wird. Keine Krankheit kann der Heilungskraft Jesu widerstehen. Heilen, θεραπεύειν [therapeuein], bedeutet „ein wirkliches Gesundmachen“.140 H.W. Beyer formuliert: „Es gehört zur Vollmacht des Messias, daß ihm die Kraft gegeben ist, Kranke zu heilen.“141 Und G. Friedrich hält mit J. Schniewind zusammen fest, dass die Zeichen und Wunder der Heilung darauf hindeuten, dass im Reich

134 Vgl. wieder Rengstorf a.a.O., 142. 135 So jedenfalls BDR § 282,2; Zahn, 173,19; Fiedler, 102. Anders Gaechter, 134f („Trennung“); Senior, 65; Luz I 179; Sand, 87; Mello, 105. 136 Art. κῆρυξ usw., ThWNT, III, 1938, 702. 137 Friedrich a.a.O., 705. 138 Bauer-Aland, 1099f. 139 A.a.O., 991. 140 Hermann Wolfgang Beyer, Art. θεραπεία usw., ThWNT, III, 1938, 130. 141 Beyer a.a.O.

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Gottes alles gesund und heil sein soll (vgl. Offb 22,2).142 An dieser Stelle kommt ein grundlegender Unterschied zwischen Jesus einerseits und den Rabbinen und Propheten anderseits zum Vorschein. Wenn Rabbinen Heilungen erwirken – wie z.B. Chanina ben Dosa (1. Jh. n.Chr.), Choni der Kreiszieher oder Jehuda (um 200 n.Chr.) –, dann geschieht es so, dass sie Gott durch ihr Gebet dazu bewegen, einzugreifen.143 Ganz ähnlich ist es bei den Propheten. So müssen Mose, Elia und Jesaja den Herrn anrufen, um eine Heilung von Menschen zu erreichen (vgl. Num 12,13ff; 1Kön 17,17ff; 2Kön 20,11). Ganz anders Jesus: Er spricht in göttlicher Vollmacht ein Wort oder gebraucht in derselben Vollmacht eine Geste und die Krankheit muss vor ihm weichen. Wir werden dies in Kap. 8 und 9 genauer sehen. Jedenfalls ist es souveränes Gottesrecht, Krankheiten zu schicken oder wegzunehmen (Dtn 7,15). Vgl. Mt 9,35; 10,1. Zuletzt beachten wir die Schlussworte in V. 23: im Volk (ἐν τῷ λαῷ [en tō laō]). Sie knüpfen direkt an V. 16 an: „das Volk (ὁ λαός [ho laos]), das in Finsternis sitzt, sah ein großes Licht“. Indem Jesus also lehrt, verkündigt und im Volk heilt, geht dort in Galiläa das messianische und göttliche Licht auf. Jesus selbst ist dieses Licht! Und der Gegenstand seiner Liebe ist gerade das geschundene, gequälte und verachtete (Joh 7,49) Volk, hebr. der Am-ha-arez. Hier zeigt sich praktisch und symbolisch zugleich, dass Gottes Liebe sich dem armen, hilflosen Sünder zuwendet.144 Die Verse 24 und 25 geben eine Vorstellung von der Ausstrahlung, die Jesus schon am Anfang seines Wirkens besaß. Matthäus greift hier geografisch weit hinaus: Und die Kunde von ihm verbreitete sich in ganz Syrien (V. 24). ἀκοή [akoē] ist hier das, was man von jemandem hört, vom Hörensagen bis zum Ruf, eben die Kunde.145 Ganz Syrien (ὅλη ἡ Συρία [holē hē Syria]) findet sich in diesem Zusammenhang nur bei Matthäus (vgl. jedoch Lk 2,2 und die mehrfachen Erwähnungen in der Apg). Es gibt keinen Grund, unter Syrien in Mt 4,24 mit Gaechter und Klostermann nur „das heidnische Syrien“ zu verstehen146 oder wegen Mt 4,24 anzunehmen, das Matthäusevangelium sei von Antiochia aus formuliert.147 Vielmehr liegt es nahe, ganz Syrien auf die damalige römische Provinz Syrien zu beziehen, die von einem 142 Gerhard Friedrich, Art. εὐαγγελίζομαι usw., ThWNT, II, 1935, 717. 143 Vgl. Beyer a.a.O., 129. 144 Anders interpretiert Zahn, 174: „daß Jesus sich zunächst auf die Heilung kranker Juden beschränkte“. Aber vgl. Sand, 87. 145 Bauer-Aland, 59. 146 Gegen Gaechter, 135; Klostermann, 32. 147 Letzteres wieder gegen Gaechter a.a.O.; Luck, 47; Beare, 122; Senior, 66; Fiedler, 102f.

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Legaten verwaltet wurde.148 Ihre Hauptstadt war Antiochia, und Ignatius, ca. 115 n.Chr. Bischof von Antiochia, nannte sich ἐπίσκοπος Συρίας [episkopos Syrias].149 So viel allerdings wird man der Wendung ganz Syrien entnehmen dürfen, dass Matthäus in der Verbreitung des Rufes Jesu bis nach Syrien hinein schon ein Vorzeichen der in Mt 28,18ff angekündigten Weltmission erblickt. Und man brachte alle Leidenden zu ihm, die mit verschiedenen Krankheiten und Qualen belastet waren, von Dämonen Besessene und Mondsüchtige und Gelähmte, und er heilte sie, V. 24. Der Hauptinhalt ist hier klar, nicht jedoch alle Einzelheiten. Gehört etwa das καί [kai] vor δαιμονιζομένους [daimonizomenous]? Eher nicht – aufgrund der Regel der lectio difficilior. Oder wie ist das Verhältnis der beiden Partizipien ἔχοντας [echontas] und συνεχομένους [synechomenous] zueinander zu beurteilen? Zunächst ergibt sich aus den Worten des Matthäus jedenfalls so viel, dass die Menschen in den betreffenden Regionen alle Leidenden zu Jesus brachten. Die Formulierung alle in V. 24 hat manche Kommentatoren veranlasst, eine Klarstellung vorzunehmen und darauf hinzuweisen, dass Matthäus hier nur „in volkstümlicher Übertreibung“ formuliere.150 In der Tat liegt bei alle eine Hyperbel151 vor, die den Sinn hat: alle möglichen Leidenden.152 Verschiedene Krankheiten und Qualen versucht offensichtlich, ein möglichst umfassendes Spektrum von Krankheit und Not zu benennen.153 Die folgenden Fälle sind nur besonders hervorgehobene oder erwähnenswerte Fälle: von Dämonen Besessene (δαιμονιζόμενοι [daimonizomenoi]), Mondsüchtige (σεληνιαζόμενοι [selēniazomenoi]), Gelähmte (παραλυτικοί [ paralytikoi]). Wir werden später Gelegenheit haben, auf diese besonderen Fälle näher einzugehen, da beispielsweise „das Matthäus-Evangelium relativ am häufigsten“ das Verbum δαιμονίζομαι [daimonizomai] gebraucht.154 Wenn Matthäus sagt: er heilte sie,155 dann betont er, dass Jesus vor keiner einzigen dieser Krankheiten scheiterte. Er konnte sie alle besiegen. Jedoch gab es Fälle, in denen eine Heilung aus

148 Vgl. B. Huwyler, Art. Syrien, GBL, 3, 1513-1516; Fiedler, 102; Luz I 181. 149 IgnRom II, 2. 150 Zahn, 175; Gaechter, 32. Schon Syrus Sinaiticus: πολλους [ pollous]. Ferner Schniewind, 36. 151 Vgl. BDR § 495,5. 152 Zu κακῶς ἔχοντας [kakōs echontas] vgl. W. Grundmann, Art. κακός usw., ThWNT, III, 1938, 470f. 153 Tasker, 58: jede „kind of illness“; Gaechter, 135. 154 W. Foerster, Art. δαίμων usw., ThWNT, II, 1935, 20. 155 Westliche und syrische Überlieferung trägt auch hier ein πάντας [ pantas] ein.

10. Der Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, 4,12-25

229

speziellen Gründen unterblieb (vgl. 13,58). Die spätere apostolische Predigt berichtet ganz ähnlich wie Matthäus (Apg 10,37ff ). Der letzte Blick des Matthäus bei seinem ersten Summarium (4,23-25) gilt der Gefolgschaft, die Jesus in jenen frühen Tagen fand: Und es folgten ihm große Massen aus Galiläa und den Zehn Städten und Jerusalem und Judäa und dem Ostjordanland, V. 25. Willibald Bösen hat recht: Es ist geografisch ein „kleines Land“156 – nicht nur Galiläa, sondern die ganze Region in V. 25. Er berechnet Galiläa auf 1600 qkm,157 was wesentlich weniger ist als die Fläche des Saarlands (ca. 2600 qkm). Allerdings lassen sich die Angaben des Josephus, auf die er sich stützt,158 auch nicht leicht verifizieren. Eins steht jedoch fest: Das damalige Galiläa war „in seiner ganzen Ausdehnung fruchtbar … aber auch die Städte sind zahlreich und die Bevölkerung … überall beträchtlich“, wie Josephus schreibt.159 Daraus konnten sich ohne Weiteres große Massen (ὄχλοι πολλοί [ochloi polloi]) zusammenfinden. Ganz Galiläa lag übrigens auf einem Territorium, das früher zum Nordreich (Israel) gehörte, vgl. 2Kön 15,29; Jes 8,23; Tob 1,1f. Es war Schauplatz schwerer Kämpfe in der Makkabäerzeit (1Makk 5,15; 11,63) und von der Zeit des Herodes an ein Herd des Aufstandes gegen Rom (Apg 5,37). Messianische Bewegungen fanden dort einen fruchtbaren Boden (vgl. wieder Apg 5,37). Sodann nennt Matthäus die Dekapolis, die Zehn Städte. Hierbei handelt es sich um griechische Städte im Ostjordanland – nur Skythopolis = Bet-Schean lag westlich des Jordans –, die jedoch eine beachtliche jüdische Minderheit aufwiesen. Nach R. Riesner gehörten ursprünglich dazu: Abila, Dion, Gadara, Gerasa, Hippos, Kanatha, Pella, Philadelphia (das heutige Amman), Raphana und Skythopolis (früher Bet-Schean).160 Ob der Name Dekapolis sich nur auf ein geografisches Gebiet oder aber auf die politische Verwaltungseinheit bezieht, ist unsicher.161 Auch bei der Dekapolis ist wichtig, dass es sich um ein Gebiet handelt, das ursprünglich israelitisch war und von den Stämmen Gad und Ruben und dem halben Stamm Manasse bewohnt wurde (Num 32),162 ein Gebiet, aus dem wahrscheinlich auch Elia stammt (1Kön 17,1). Ob nur Juden oder auch Heiden aus der Dekapolis zu Jesus strömten, lässt sich schwer sagen. Vorwiegend waren es jedoch höchstwahrscheinlich Juden. 156 157 158 159 160 161 162

Bösen, 18ff. A.a.O., 29. Vor allem B. J. III, 35ff. B. J. III, 42f. Im Art. Dekapolis, GBL, 1, 263-264. Riesner a.a.O., 264. Vgl. Aharoni, 208ff.

230

Anfänge, 1,2–4,25

Nach den Zehn Städten folgt überraschenderweise Jerusalem. Allerdings ergibt sich aus Mt 3,5ff und Joh 1,19ff zweifelsfrei, dass Jerusalemer den Täufer aufsuchten. Warum sollten sie nicht auch zu Jesus gekommen sein? Ebenso verhält es sich mit dem Zulauf aus Judäa (vgl. wieder Mt 3,5ff; Joh 1,19ff ). Es besteht sogar die Möglichkeit, in Judas Iskariot einen „Mann aus Kerijot“, 19 km südlich von Hebron (vgl. Jos 15,25), und damit einen Judäer zu sehen.163 Schließlich erwähnt Matthäus das Ostjordanland, griech. πέραν τοῦ Ἰορδάνου [ peran tou Iordanou].164 Man vgl. dazu die Erklärung bei 4,15. Wieder ist zu bemerken, dass dieses Peräa (Ostjordanland) ursprünglich israelitisches Gebiet darstellt (Num 32). Josephus schreibt, Peräa sei größer als Galiläa, im Großen und Ganzen „dünn besiedelt“, jedoch „in seinem milderen Teil“ reich an „Ölbaum, Weinstock und Palmen“ und ziemlich fruchtbar.165 Es fällt auf, dass Matthäus in V. 25 kein „Ausland“ wie Syrien o.ä. nennt, sondern nur altisraelitische Gebiete.166 Was die großen Massen betrifft, die Jesus nachfolgten, so ist zu beachten, dass auch die Rabbinen solche Ereignisse für die messianische Zeit erwarteten.167 Übrigens war Jesus bei seinen Wanderungen in all den genannten Gebieten tätig (vgl. nur Mk 5,20; 7,31). Bei sie folgten (Aorist ἠκολούθησαν [ēkolouthēsan]) darf man entgegen Gundry nicht an Jüngerschaft („discipleship“) denken,168 sondern nur an das Begleiten und Aufsuchen Jesu.169 Insgesamt ein beeindruckendes Bild!

IV Zusammenfassung 1. In den knapp 15 Versen Mt 4,12-25 zeichnet Matthäus ein beeindruckendes Bild vom Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu. Es ist eine Zeit großer räumlicher und persönlicher Ausstrahlung, ein echter „galiläischer Frühling“. 2. Gerade wegen der Kürze und Kargheit der Schilderung fällt auf, dass Matthäus immer noch 3 von 14 Versen dem Schriftbezug widmet (ca. 20 Prozent). Erneut begegnet er uns als Schriftgelehrter par excellence. 3. Wie vor allem Schniewind betont hat,170 bilden Mt 4,23 und 9,35 eine 163 164 165 166 167 168 169

R.P. Martin, Art. Judas Iskariot, GBL, 2, 738. Die Satzkonstruktion ist auch hier „hart“ (BDR § 479,2). B. J. III, 44f. Vgl. France, 105; Luz I 181; Fiedler, 103f. Strack-Billerbeck I 189. Gundry, 64f; ähnlich Luz I 181; Sand, 88. So auch Bauer-Aland, 60; G. Kittel, Art. ἀκολουθέω usw., ThWNT, I, 193, 214; Carson, 122. 170 Schniewind, 36.

10. Der Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, 4,12-25

231

inclusio, die Verkündigung und Wunder Jesu in der Frühzeit, sein Handeln als „Messias des Wortes“ und „Messias der Tat“,171 zusammenfasst. Hier hat Matthäus absichtlich einen Block geschaffen. Wenn ab Kap. 11 die Kämpfe beginnen, die dann in die Passionsgeschichte münden (ab Kap. 21), dann muss sich jeder Leser die Frage stellen: Warum wird ein solcher Messias bekämpft? 4. Eine Reihe von Auslegern hält Mt 4,12-25 im Wesentlichen für unhistorisch. Nach Bultmann hat beispielsweise die Berufungsgeschichte Mk 1,1620 / Mt 4,18-22 „keinen geschichtlichen Wert“.172 Es handle sich „um eine schematische Darstellung, um Redaktionsarbeit“, und die Angaben kämen eben so, wie „der Schriftsteller sie gebraucht“.173 Nicht viel anders sieht Beare die Dinge.174 Aber allein schon der Zulauf zu den makkabäischen und zelotischen Führern (1Makk 2,27ff; Apg 5,36.37; 21,38) beweist, dass etwa die in Mt 4,23-25 geschilderten Ereignisse in der jüdischen Szenerie ohne Weiteres möglich waren – von der Einzigartigkeit Jesu ganz zu schweigen. Es gibt nichts, was die in Mt 4,12-25 geschilderten Vorgänge ernsthaft infrage stellen könnte. So wird man also mit Julius Schniewind urteilen müssen, „daß Jesu Auftreten wirklich dem hier Beschriebenen ähnlich gewesen sein muß“.175 5. Unter den vielen Beobachtungen, die in der Literatur zu Mt 4,12-25 verzeichnet sind, betrifft eine ganze Reihe das Schriftzitat in den Versen 14-16. Wir haben sie teilweise in der obigen Erklärung schon berührt. Hier sei nur noch einmal die Bewertung aufgegriffen, die Ulrich Luz in seinem Kommentar vollzieht, weil sie wohl für eine größere Strömung in der Gegenwart charakteristisch ist. Luz folgert zunächst durchaus zutreffend, dass der Begriff „Galiläa der Heiden“ (Mt 4,15) für Matthäus die Perspektive der späteren Heidenmission enthalte.176 Er verbindet dann aber fast unversehens Mt 4,15 mit Mt 21,43 und leitet daraus die Folgerung ab, Mt 4,15 werde „ein Ausdruck des grundsätzlichen polemischen Anspruchs, den … der Evangelist auf die Bibel Israels erhebt.“177 Mit anderen Worten: Der Evangelist raube zuerst Israel das Reich, dann seine Bibel. Eine solche Anklage gegen Matthäus bleibt unverständlich. Wie die Betonung der Davidssohnschaft des Messias, die Betonung der Erstlingsschaft Israels (Mt 10,5ff ), die Synagogenverbundenheit 171 172 173 174 175 176 177

Schniewind a.a.O. Vgl. Stuhlmacher II, 161f. Bultmann Gesch, 67. Bultmann a.a.O., 368. Beare, 122. Schniewind a.a.O. Luz I 171. Luz a.a.O.

232

Anfänge, 1,2–4,25

Jesu, die Betonung Galiläas bei den Auferstehungsberichten (Mt 28,7.10.16ff ) und viele Einzelzüge im Evangelium beweisen, nicht zuletzt auch die Gewissheit der endzeitlichen Errettung Israels (Mt 23,39), ist nach der Meinung des Matthäus das Evangelium von Jesus Christus ein Segen für Israel und kein Raub. Ihn eines „polemischen Anspruchs“ gegen Israel zu beschuldigen, stellt die Dinge auf den Kopf. 6. Autoren wie R.V.G. Tasker und R.T. France sehen in der Hervorhebung Kapernaums durch Matthäus (4,12ff; 9,1 u.ä.) einen Ausdruck dafür, dass Matthäus biografisch besonders mit Kapernaum verbunden war (Mt 9,9ff ).178 Das dürfte zutreffen. Allerdings wird der Matthäus-Bericht durch die anderen Evangelien unterstützt (vgl. Mk 1,21ff; 2,1ff; Lk 4,31ff; 7,1ff; Joh 2,12; 6,16ff.59). 7. Das Wort hat in Mt 4,12-25 Vorrang vor dem Wunder. Die Verkündigung ist stärker betont als das Heilen,179 jedoch ohne dass Wunder und Heilungen Jesu irgendwie herabgesetzt würden. Es bleibt doch ein fundamentaler Unterschied zum Täufer, dass von diesem weder Wunder noch Heilungen berichtet werden.

178 Tasker, 56, France, 100. 179 Gegen Gaechter, 136.

Die Bergpredigt, 5,1–7,29 / Einleitung

233

Die Bergpredigt, 5,1–7,29 Einleitung: Die Bergpredigt gleicht einem beinahe unendlichen Gebirge, mit so vielen Formen und Ausblicken, dass es für den Einzelnen niemals ganz zu erfassen ist. Daher die „thousands of books and articles“, von denen Carson spricht.1 Für die praktizierende Christenheit finden sich in diesem Gebirge Gipfel mit ewigem Eis, die niemals zu erklimmen sind und die doch das gesamte Gebirge dominieren und ihm ewiges Wasser spenden. Aus den verschiedenen Dimensionen seien hier vier herausgegriffen: 1. Die messianische Dimension: Inwiefern gehören der Messias, von dem die Kapitel 1– 4 berichteten, und die Bergpredigt zusammen? Julius Schniewind ging von einer Verbindung beider aus, die unauflöslich sei, und charakterisierte demzufolge die Bergpredigt „als das Königswort des Sohnes Gottes, des Messias“.2 Es sei „von vornherein unmöglich“, ein besonderes „Christentum der Bergpredigt“ zu konstruieren und anderen Worten Jesu oder anderen Teilen der Evangelien gegenüberzustellen.3 Der Grund, weshalb wir Schniewind zustimmen – so viel sei schon vorweggenommen –, ist ein doppelter. Erstens hängt die Wahrheit der Bergpredigt ab von der Wahrheit der Messianität und Gottessohnschaft Jesu, zweitens führt uns das Scheitern am göttlichen Gesetz zur Erlösungsbedürftigkeit und zum Kreuz. Der Weg der Geschichte verläuft wie der Weg des Evangeliums: von der Bergpredigt zur Passion. In neuerer Zeit erweitert sich die Diskussion über die messianische Dimension der Bergpredigt um die Frage, ob der Messias im Sinne des Matthäus über Mose oder unter Mose stehe.4 Fiedler plädiert entschieden für das Letztere. Nur die heidenchristliche Tradition vertrete die Überordnung Jesu. „In der biblisch-jüdischen Tradition steht der Messias jedoch nicht über, sondern unter Mose.“5 Eine solche Annahme scheitert aber schon am ἐγὼ δὲ λέγω [egō de legō] der Bergpredigt (Mt 5,22.28.32.34.39.44) sowie an der dem Matthäus wichtigen Gottessohnschaft Jesu (Mt 1,16.18ff; 2,15; 4,3.6; 14,33; 16,16; 26,63f; 27,54; 28,18ff ). Nicht einmal die alttestamentliche Verheißung eines zweiten Mose (Dt 18,15) weiß etwas von einer solchen Unterordnung unter

1 2 3 4 5

Carson, 122. Vgl. das Vorwort bei Luz I VII. Schniewind, 38. Schniewind, 37. Fiedler, 105f. Fiedler, 105.

234

Die Bergpredigt, 5,1–7,29

Mose. Man wird daher an dem zeitlichen (Mt 3,11; Joh 1,30; 8,58) und hoheitlichen prae des Messias Jesus vor Mose festhalten müssen.6 2. Die historische Dimension: Schon ein oberflächlicher Vergleich der matthäischen Bergpredigt mit ihren 111 Versen und der lukanischen Feldpredigt (Lk 6,17-49) mit ihren 33 Versen erweckt die Frage, ob nicht Matthäus in den Kapiteln 5–7 Worte zusammengestellt hat, die Jesus bei verschiedenen Gelegenheiten gesprochen hat. Es erhebt sich also die Frage nach der katechetischen Komposition.7 Gemeinhin antwortet man heute so, dass tatsächlich Matthäus Lehraussagen Jesu zusammengefasst hat, die evtl. allesamt in die Frühzeit Jesu zu datieren sind. Aussagen wie diejenige Theodor Zahns, „daß Jesus eines Tages … die folgende Rede gehalten habe“,8 oder diejenige von John Chapman, dass die originale Rede zum Vortrag nur eine Stunde benötigt habe,9 sind heute in der wissenschaftlichen Literatur selten. Man muss sich allerdings klarmachen, dass beinahe alle unsere Annahmen hypothetischen Charakter haben. Nicht einmal das ist völlig sicher, dass die matthäische Bergpredigt und die lukanische Feldrede dasselbe Ereignis schildern. Augustinus meinte, hier handle es sich um zwei verschiedene Vorgänge.10 Meines Erachtens stellt D.A. Carson die Interpretationsmöglichkeiten am abgewogensten dar.11 Es kommen verschiedene solcher Möglichkeiten in Betracht: a) Es kann sich um eine für Matthäus repräsentative Kollektion von Jesusworten handeln, evtl. aus seiner Frühzeit; b) es kann sich um diejenige Lehre Jesu handeln, die er während des „circuit“ von Mt 4,23-25 vorgetragen hat;12 c) die Bergpredigt kann in die Zeit einer Art „retreat“ gehören, die Jesus mit seinen Jüngern für einige Tage im Bergland durchgeführt hat;13 d) es gab so etwas wie ein außergewöhnliches „Kernereignis“, dass Jesus an einem oder an mehreren Tagen im Bergland eine besondere Lehransprache an seine Jünger richtete und Matthäus an diese Ansprache weitere Jesusworte anschloss. Für die Möglichkeiten c) und d) würden der Täufer oder Eremiten wie Bannus14 eine gewisse Parallele darstellen.

6 7 8 9 10 11 12 13 14

Senior, 67. Vgl. Schnackenburg, 44. Zahn, 158. Vgl. dazu Tasker, 59. Vgl. Carson, 125. Carson, 122ff. So Carson, 126. Auch Carson, 123, erwägt „perhaps over several days“. Vgl. Josephus Vita 11–12.

Einleitung

235

Die Szenerie wechselt noch einmal, wenn man die Frage nach den Quellen der Bergpredigt stellt.15 Handelt es sich um authentische Jesusworte? Oder sind in das Ganze der matthäischen Komposition nur „isolated sayings of Jesus“16 eingesprengt? Wenn man sich an die Heftigkeit der Ablehnung erinnert, die z.B. Mt 5,17-20 erfahren hat – nach Bultmann ein pures „Gemeindeprodukt“17 –, dann ist die Bergpredigt ein historisch höchst komplexes Gebilde mit verschiedenen Graden von Verbindlichkeit. Wie schon angedeutet, ist eines der größeren historischen Probleme das Verhältnis der Bergpredigt (Matthäus) zur Feldrede (Lukas). Die Problematik verschärft sich durch sprachliche Nachlässigkeiten. Zahn musste darauf hinweisen, dass Jesus in Mt 5,1 seine Rede genaugenommen „an einem Berge“ gehalten habe, „da nicht leicht ein Mensch zu solchem Zweck den obersten Gipfel eines Berges wählen wird“,18 also am ehesten in einer Bergmulde. Andererseits liegt der „ebene Platz“ (τόπος πεδινός [topos pedinos]) von Lk 6,17 dem Kontext gemäß ebenfalls im Bergland, sodass zwischen Mt 5,1 und Lk 6,17 jedenfalls kein geografischer Unterschied besteht. Ob nun Lukas bei der Bergpredigt wie beim Vaterunser nur eine „Kurzfassung“ bietet, ob umgekehrt Matthäus seine Bergpredigt mit anderen Jesusworten der Frühzeit oder des „circuit“ von 4,23ff aufgefüllt hat, ja ob Matthäus und Lukas wirklich in Mt 5 / Lk 6 dasselbe Ereignis meinen, wird sich wohl niemals mit letzter Sicherheit entscheiden lassen. Jedenfalls haben beide Evangelisten von der schriftstellerischen Freiheit Gebrauch gemacht, die ihnen zustand, ohne dass die historische Verlässlichkeit ihrer Überlieferung dadurch beeinträchtigt wurde. 3. Die ethische Dimension: Sie begegnet uns in der Grundsatzfrage: Ist die Bergpredigt Weltethos oder Christenethos? Von Leo Tolstoi über den Pazifismus,19 über Mahatma Ghandi und Franz Alt gibt es bis in die Gegenwart hinein eine ununterbrochene Reihe von Interpretationen der Bergpredigt, wonach sie auch für den Staat, ja die gesamte Menschheit gelte. Die Konsequenzen für die Glaubens- und Gesellschaftslehre liegen auf der Hand. Aber inwiefern ist sie überhaupt „Ethik“? Denkt man an die Goldene Regel in Mt 7,12 und ähnliche Stücke, dann scheint es ohne Weiteres klar zu sein, dass wir es bei der Bergpredigt mit Ethik zu tun haben. Viele Kommentare beschreiben demgemäß ihren Inhalt mit „ethical issues of fundamental impor-

15 16 17 18 19

Luz I 187; Carson, 123ff. Vgl. Carson, 123. Bultmann Gesch, 157, vgl. 147f. Zahn, 178. Vgl. Bornhäuser, VI.

236

Die Bergpredigt, 5,1–7,29

tance“,20 als „Ruf zur Verwirklichung der … Sittlichkeit“,21 als „The Ethics of the Kingdom of God“22 oder als „Jesu Unterricht über die Gerechtigkeit“23. Aus den Seligpreisungen werden dann „die Einlaßforderungen für das Himmelreich“24 oder „Einlaßgebote“25. Nun ist die starke ethische Ausrichtung der Bergpredigt gar nicht zu bestreiten. Die Gefahr jeder Ethik besteht aber darin, dass sie sich von der Person ihres Begründers löst und sich verselbstständigt. Mit dem Wort des Messias und Gottessohnes Jesus darf das nicht geschehen, jedenfalls nicht nach der Absicht der Evangelien. Die Bergpredigt (oder „Feldrede“) würde dann ja auch jede Verbindung mit dem Kreuz verlieren. Von daher wird man sagen müssen: Die Bergpredigt hat zwar einschneidende ethische Konsequenzen, ist jedoch per definitionem mehr als eine „Ethik“, nämlich die grundlegende messianische Lehre Jesu. 4. Die kirchengeschichtliche Dimension: Es ist das Verdienst von Ulrich Luz, in seinen Bemerkungen zur Auslegungsgeschichte der Bergpredigt26 noch einmal radikal nach der Berechtigung der reformatorischen Auslegung gefragt zu haben.27 Er macht seine Bedenken an drei Beobachtungen fest: a) Die reformatorische Überzeugung, dass die Bergpredigt für uns Menschen unerfüllbar sei, führe zu einer Verinnerlichung, die nicht mehr auf der Praxis beharre. Die Bergpredigt werde hier analog Röm 3,20 „zum Ankläger vor dem Tribunal Gottes“.28 b) Die reformatorische Unterscheidung zwischen dem christlichen Handeln für sich selbst und dem Handeln für andere führe dahin, dass fast die gesamte Praxis durch das Handeln für andere bestimmt wird und die Radikalität der Bergpredigt nur noch in der „Gesinnung“ des Einzelnen weiterlebt. Im Ereignis kommt dies einem „Rückzug aus der Praxis“ der Bergpredigt gleich.29 c) Die reformatorische Auslegung ziele auf den Einzelnen. Der für Matthäus und beispielsweise die Täufer „so zentrale Gedanke, daß die Gemeinde … der Ort ist, wo die Bergpredigt praktiziert werden muß“,30 entfalle.

20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Carson, 122. Schnackenburg, 44. Tasker, 58. Schlatter, 47. Luz I 190. Bornkamm bei Bornkamm/Barth/Held, 14. Luz I 191ff. Luz I 194ff. Luz I 194f. Vgl. Schackenburg, 44f. Luz I 195f. Luz I 196.

Einleitung

237

Damit hat Luz Erwägungen aufgenommen, die nicht nur die mittelalterliche und katholische Kirche beschäftigen31, sondern auch den „linken Flügel“ der Reformation und den Pietismus. Wir werden die genannten Punkte sorgfältig beachten müssen. Die eigene Lösung, zu der Luz tendiert, ist nun aber keineswegs überzeugender. Im Anschluss an Troeltsch ordnet er „die matthäische Theologie als geradezu klassischen Musterfall von ‚Sektentheologie‘“ ein und äußert seine Sympathie für die Auslegung „der kleinen Gruppen“, „vor allem die Täufer, auch Quäker und frühe Methodisten“.32 Dort käme es zur Praktizierung der Bergpredigt. In den Reformationskirchen aber sei es „zu einer wirklichen Praxis des Christentums von der Bergpredigt her weithin nicht gekommen“.33 Es wird gut sein, den Blick über die reformationskirchliche Problematik hinaus offenzuhalten. Beispielsweise lenkt Don A. Carson den Blick auf lutherische Orthodoxie, täuferisch-mennonitische Tradition, existenziale Interpretation, Interimsethik, Evangelikale und Dispensationsalismus mit ihren jeweils typischen Interpretationen.34 Frühe Kirche, katholische und pietistische Ausleger wollen nicht weniger beachtet sein. Insgesamt muss man jedoch sagen, dass angesichts der Fülle der Literatur, der zahlreichen kirchengeschichtlichen und auslegungsgeschichtlichen Perspektiven, aber vor allem des immensen Inhalts der Bergpredigt jede Auslegung bruchstückhaft bleiben muss. Struktur und Aufbau Wir ziehen hier die Beobachtungen zu Struktur und Aufbau vor, weil wir später jeweils nur abschnittweise übersetzen. Wie Schnackenburg bemerkt, ist der Aufbau der Bergpredigt „umstritten“.35 Hält man sich an die lukanische Parallele in Lk 6,17-49, dann zeigt sich, dass beide Male die Seligpreisungen an der Spitze stehen (Mt 5,3-12; Lk 6,20-23). Beide Male schließt auch das Gleichnis vom Hausbau die Rede Jesu ab (Mt 7,24-27; Lk 6,47-49). Dazwischen gibt es zwar beiderseits gemeinsame Worte (Mt 5,39-48; 7,1-5; Lk 6,27-42), aber andererseits doch beträchtliche Unterschiede in Umfang und Thematik. Immerhin macht der Abschluss durch das Gleichnis vom Hausbau ein besonderes Schwergewicht in der Lehre Jesu erkennbar. 31 32 33 34 35

Vgl. wieder Schnackenburg, 44f. Luz I 193. Luz I 196. Carson, 126f. Schnackenburg, 45.

238

Die Bergpredigt, 5,1–7,29

Betrachtet man Matthäus allein, dann ist die Gliederung von 5,1 bis 6,18 verhältnismäßig gut durchschaubar.36 Nach einer Einleitung (5,1-2) folgen die Seligpreisungen (5,3-12), dann Grundsätzliches zum Auftrag der Jünger (5,13-16) und zur Stellung Jesu zum Gesetz (5,17-20), und schließlich ein größerer Block von Tora-Auslegungen, jeweils eingeleitet durch „Ihr habt gehört, dass gesagt ist“ (5,21-48). In 6,1-18 geht es um drei zentrale Themen der alttestamentlichen und jüdischen Frömmigkeit: Almosen (6,1-4), Gebet (6,515) und Fasten (6,16-18). Von 6,19 bis 7,20 gibt Jesus eine ganze Reihe von Anweisungen für das Leben in der Nachfolge. Der Aufbau ist hier nicht ohne Weiteres durchsichtig.37 Gegen Schluss wird die Gliederung wieder straffer. In zwei Schlussmahnungen (7,21-23 und 7,24-27) legt Jesus das Schwergewicht auf das Tun seiner Lehre, dann schließt der Evangelist Matthäus selbst das Ganze mit einer auffallend kurzen Schlussnotiz ab (7,28-29). In der gesamten Bergpredigt findet sich kein einziger Dialog. Das ist umso überraschender, als das jüdische Lehren sonst weithin in Frage und Antwort geschieht (vgl. Lk 2,46f; Joh 14,5ff ). Dafür zeichnet sich Jesus durch eine unvergleichliche Autorität aus: sein Sitzen (5,1), sein „Ich aber sage euch“ (5,21ff ), die eschatologische Entscheidung, die an ihm fällt (7,21ff ) – dies alles trägt zu einer Autorität bei, über die sich die Anwesenden entsetzen (7,28f ). Die Bergpredigt gewinnt ihre Eindrücklichkeit durch eine unvergleichliche Bildhaftigkeit. Sie ist voller Gleichnisse (Meschalim), Bildworte und dramatischer Vorkommnisse. Dennoch kann man sie nicht als emotional bezeichnen. Vielmehr überrascht sie durch ihre Rationalität. Jesu Schlussfolgerungen scheinen unausweichlich. Jedenfalls ist ihre Rhetorik bewundernswert. Bewundernswert ist aber auch ihre unaufhörliche Verknüpfung mit dem Alten Testament. Eine Abtrennung des Alten Testaments vom Neuen, evtl. unter dem Namen der „Hebräischen Bibel“, wäre schon von der Bergpredigt her ausgeschlossen. Man braucht bei der Auslegung der Bergpredigt offenbar keine Anleihen aus der Religiosität des Orients oder des Hellenismus, benötigt aber ununterbrochen das Alte Testament. Die Einzelexegese wird dies darlegen. An sich wären verschiedene Anfänge der Bergpredigt denkbar. Als „Antrittsrede“, wie sie Schniewind auffasste,38 hätte sie mit einem Ich-bin-Wort Jesu o.ä. beginnen können. Als „Manifest“, wie sie Schnackenburg be36 Schnackenburg a.a.O. 37 Schnackenburg a.a.O. zu 6,19–7,12: Hier sei der Aufbau „am wenigsten durchsichtig“. 38 Schniewind, 38.

1. Einleitung, 5,1-2

239

schrieb,39 hätte sie Jesus beispielsweise mit seinen Worten über Gesetz und Propheten (5,17-20) eröffnen können. Als grundlegende „Jüngerlehre“, wie sie Bornhäuser betrachtete,40 hätte sie ihren Ausgang wie die Qumran-Katechese (1QS III, 15ff ) bei einer grundsätzlichen Besinnung über den Schöpferund Richtergott nehmen können. Oder sie hätte wie der biblische Psalter mit einem Lob des Frommen beginnen können (Ps 1). Aber Jesus begann nach dem gemeinsamen Zeugnis des Matthäus (5,3ff ) und Lukas (6,20ff ) mit einer Einladung und Lockung zum Gottesreich. Und er schließt – wiederum nach dem gemeinsamen Zeugnis beider (Mt 7,21ff, Lk 6,47ff ) – mit der ernsten Ermahnung dessen, der das ewige Leben verfehlt. Es ist Aufgabe der Auslegung, hier dem roten Faden zwischen beiden zu folgen. Angesichts des eher dynamischen Inhalts der Bergpredigt und ihres zielorientierten Verlaufs empfehlen sich statisch konzipierte Strukturentwürfe nicht, auch nicht der Vorschlag einer „ringförmigen Konzeption“, den Ulrich Luz machte.41 Das Vaterunser zum strukturellen „Zentrum“ der Bergpredigt zu erklären,42 ist zwar ein schöner Gedanke, aber wiederum zu statisch gedacht und auch dem Gewicht, das andere Abschnitte haben (z.B. 5,3ff; 5,13ff; 5,17ff; 7,21ff ), nicht angemessen. Ulrich Luz bemerkt einmal, die Bergpredigt sei „zentraler Inhalt auch der christlichen Missionsverkündigung“.43 Das „auch“ ist zu unterstreichen. Denn die Bergpredigt ist ihrem Wesen nach „missio Dei“, das missionarische göttliche Werben um die Menschen durch den Gottessohn.44

1. Einleitung, 5,1-2 I Übersetzung 1 Als er aber die Volksmenge sah, ging er hinauf ins Bergland. Und nachdem er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf und lehrte sie wie folgt:

39 40 41 42 43 44

Schnackenburg, 44. Bornhäuser, Vf. Luz I 185ff. So Luz I 185; Schnackenburg, 45. Luz I 188. Vgl. noch einmal Luz I 197: „Werberede“.

240

Die Bergpredigt, 5,1–7,29

II Das Verhältnis zu den anderen Evangelien Mt 5,1f hat keine genaue Parallele bei den anderen Evangelien. Das in Alands Synopse als Parallele abgedruckte Mk 3,13 betrifft einen ganz anderen Vorgang. Nur Lk 6,20 lässt sich als eine etwas entfernte Parallele zu Mt 5,2 verstehen. Mt 5,1f muss also zunächst aus dem matthäischen Kontext ausgelegt werden.

III Einzelexegese Als er aber die Volksmenge (τοὺς ὄχλους [tous ochlous]) sah (V. 1): bezieht sich zurück auf die „großen Massen“ (ὄχλοι πολλοί [ochloi polloi]) von 4,25. Vermutlich ist also nicht an den Zulauf an einer einzigen Stelle gedacht, sondern an den Gesamteindruck aus der bisherigen Wanderung von 4,23-25. Umso deutlicher tritt Jesu Reaktion auf die Geschehnisse von 4,23-25 hervor. Sie besteht nicht in der Sammlung vieler Tausender Anhänger zu einem messianischen Zug in die Wüste (vgl. Apg 21,38). Sie besteht auch nicht in dem waghalsigen Unternehmen eines Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht wie bei dem galiläischen Hiskia und Judas dem Galiläer (vgl. Apg 5,37).1 Jesu Reaktion verläuft entgegengesetzt. Er verlässt die Via Maris und die übrigen Handelsstraßen Galiläas, verlässt auch das dicht bevölkerte Seeufer und geht – ähnlich wie einst am Jordan (4,1) – hinauf ins Bergland (εἰς τὸ ὄρος [eis to oros]). Man kann lange diskutieren, was mit εἰς τὸ ὄρος [eis to oros] gemeint ist. ὄρος [oros] kann einen einzelnen Berg bezeichnen, und so übersetzen viele „auf einen bzw. den Berg“.2 ὄρος [oros] bedeutet aber auch „Gebirge“,3 und deshalb kommt Werner Foerster bei Mt 5,1 zu der Einschätzung, „die Übersetzung ‚er ging ins Gebirge‘“ sei „sprachlich genau so gut möglich wie ‚er ging auf den Berg‘“.4 Wir sind deshalb vorsichtig und übersetzen mit in das Bergland. Unseres Erachtens erlaubt der Artikel bei ὄρος [oros] nicht, nur von „einem Berg“ zu sprechen.5 Man sollte bei der Übersetzung den Artikel beachten und deshalb „den Berg“ bzw. „das Bergland“ zum Ausdruck bringen.6 Vom Kontext her liegt es nahe, auf „the general vicinity (Nachbarschaft) of Capernaum“ zu tippen.7 Hieronymus und Wettstein dachten an den Tabor.8 Hendriksen erwägt die Anhöhen westlich von 1 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. Mayer, 45ff; Bösen, 160ff. Klostermann, 32f; Lutherbibel; Bauer-Aland, 1179; Luz I 197. W. Foerster, Art. ὄρος, ThWNT, V, 1954, 475ff; Bauer-Aland, 1179f. Foerster a.a.O., 484. Ebenso Carson, 128f. Gegen Klostermann a.a.O. Hendriksen, 255. Hendriksen a.a.O. Wettstein, 285: „Taborem intelligo“. Vgl. Klostermann, 33.

1. Einleitung, 5,1-2

241

Tabgha und die Hörner von Hattin.9 Seit dem 13. Jh. erwog man den „Berg der Seligpreisungen“, und Zeitgenossen des Hieronymus (ca. 345–420 n.Chr.) dachten sogar an den Ölberg.10 Das alles sind – mit Ausnahme des Ölbergs – eindrucksvolle Anschauungsbeispiele. Mehr aber nicht. Man kann mit Zahn und Hendriksen nur sagen: Der Berg bzw. das Bergland „scheint … nicht weit von Kapernaum gelegen zu sein“.11 Allerdings sollte man „den Berg“ bzw. „das Bergland“ auch nicht zu einem bloßen Symbol, „Analogon zum Sinai“ u.ä., verflüchtigen.12 Dagegen darf man mit Recht vermuten, dass Jesus mit der Wahl des Berglandes/Berges an Mose erinnern wollte, der nach Ex 19,3ff auf den Berg Sinai stieg.13 Jesus gibt sich hier als den zweiten Mose von Dtn 18,15 zu erkennen, und das heißt zugleich: als Messias. Der Gang in das Bergland stellt überdies die Menschen vor die Entscheidung, ob sie die Mühen des Aufstiegs auf sich nehmen oder sich bequemerweise von Jesus trennen wollten. Es war eine Probe auf die Ernsthaftigkeit der Nachfolge.14 Von der Landesnatur des Israellandes her verbindet sich mit dem Begriff ὄρος [oros] / „Berg“ / Bergland ja auch die Erfahrung von Öde, Wildnis und gefährlicher Einsamkeit15 (vgl. Mt 4,1ff ). Aber Jesus hat die Berge geliebt (Mt 14,23; 15,29; Lk 6,12; Joh 6,3.15). Und nachdem er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm (V. 1): Dieser Satz enthält zwei wichtige Hinweise. Der erste betrifft das Sitzen Jesu. Der jüdische Lehrer sitzt beim Lehrvortrag (vgl. Mt 23,2; 24,3; Lk 2,46). Auch „Jesus lehrt fast durchweg im Sitzen“.16 Darüber hinaus zeigen uns „Die meisten Darstellungen antiker Schulszenen … den Lehrer sitzend“.17 In der Haltung Jesu spiegelt sich eine bemerkenswerte Autorität,18 die umso mehr überrascht, als er noch relativ jung ist, kein rabbinisches Studium vorweisen kann und erst seit Kurzem in der Öffentlichkeit auftritt. Der zweite Hinweis liegt in der Bezeichnung Jünger (μαθηταί [mathētai]). Dass von seinen Jüngern die Rede ist, macht deutlich, dass schon damals 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Hendriksen, 256. Zahn, 178,5; Klostermann, 33. Zahn a.a.O.; Hendriksen, 255; Carson, 128f; France, 107. Gegen Klostermann a.a.O.; Gnilka I, 109; Schnackenburg, 45; Beare, 124. Wie wir Wettstein, 285. Wettstein a.a.O.; Schnackenburg, 45; Green, 89: „a new Moses“. Foerster a.a.O.; Schlatter, 47. Foerster a.a.O., 483. C. Schneider, Art. κάθημαι usw., ThWNT, III, 1938, 446. Schneider, a.a.O. Gegen Schneider a.a.O.

242

Die Bergpredigt, 5,1–7,29

eine Gruppe von Menschen vorhanden war, die ihre Nachfolge hinter Jesus her als verbindlich betrachtete. Seine Jünger ist nicht dasselbe wie die zwölf Apostel, die ja erst später berufen wurden (Mt 10,1ff ), es schließt aber ziemlich sicher einige der späteren Apostel ein, z.B. Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes (Mt 4,18ff ). Jedenfalls taucht der Name Jünger hier erstmals im Matthäusevangelium auf. Jünger, μαθητής [mathētēs], entspricht dem hebr. ‫[ ַתְּלִמיד‬talmīd], und Zahn weist mit Recht darauf hin, dass auch der Talmud Jesu Nachfolger als Talmidim bezeichnet.19 Wieder überrascht, dass einer, der kein studierter Rabbi war, Jünger hatte. Man sollte aber vorsichtig sein mit der Übersetzung „Schüler“, weil im Begriff „Schüler“ die mit der Jüngerschaft verbundene Hingabe nur unzureichend zum Ausdruck kommt. Deshalb bleiben wir bei der herkömmlichen Übersetzung Jünger. Wir nehmen also an, dass in Mt 5,1 Jünger einen größeren Kreis von Menschen bezeichnet, die sich Jesus vertrauensvoll und verbindlich angeschlossen haben. Inhaltlich bedeutet Jünger-Sein: persönliche Gemeinschaft mit Jesus als dem Messias und Sohn Gottes, Mitarbeit und Dienst für Jesus, Hören auf Jesus und Unterricht bei ihm einschließlich des Auswendiglernens und immer neuer Klärung der Fragen, gemeinsames Studium der Schrift mit Jesus.20 Die Prägung ging deshalb besonders tief, weil die Jünger mit ihrem Meister praktisch Tag und Nacht zusammen waren. Seine Jünger traten zu ihm heißt: Sie bildeten einen engeren Kreis um ihn. Andere befanden sich in einem weiteren Kreis (Mt 7,28), sodass man von „zwei“ konzentrischen Hörerkreisen“ sprechen kann.21 Und er tat seinen Mund auf (V. 2): Eine altisraelitische Redewendung,22 die das Gewicht und die Bedeutung der folgenden Ansprache unterstreicht.23 Und lehrte sie wie folgt (ἐδίδασκεν αὐτοὺς λέγων [edidasken autous legōn]), V. 2: So einfach diese Worte klingen, so wertvoll ist der Verständnisschlüssel, der für die ganze Bergpredigt in ihnen enthalten ist. Zunächst dient das Imperfekt ἐδίδασκεν [edidasken] („er lehrte“) der Schilderung einer längeren Handlung, ist also durativ zu verstehen.24 Sodann bezieht sich sie (αὐτούς [autous]) zweifellos auf die zuvor genannten Jünger (V. 1). Damit ist von vornherein klargestellt, dass es sich bei der Bergpredigt um „Jüngerlehre“ 19 Zahn, 178,6; b Sanh 43a, b Ab zara 17a. Vgl. K.H. Rengstorf, Art. μανθάνω usw., ThWNT, IV, 1942, 445. 20 Vgl. Rengstorf a.a.O., 447ff. 21 Klostermann, 33; Zahn, 178; Luck, 52; Luz I 97; Mello, 113; Beare, 124. 22 Dan 10,16; Hiob 3,1; Apg 8,35; 10,34. 23 Sand, 99. 24 BDR § 327 und 329. Anders Carson, 129: „inceptive“.

1. Einleitung, 5,1-2

243

handelt.25 Jesu Adressaten sind diejenigen, die ernsthaft seine Nachfolger werden möchten, seien sie nun im ersten oder im zweiten Kreis der Hörer. Es handelt sich also nicht um ein gesellschaftliches Programm oder ein politisches Manifest, das wir für den Staat oder auch andere Religionen bzw. irgendwelche Ideologien übernehmen könnten. Sogar Karl Barth geht mit seinem Konzept von „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ (1946) über die Bergpredigt hinaus, wenn er erklärt: „Die Bürgergemeinde hat mit der Christengemeinde sowohl den Ursprung als auch das Zentrum gemeinsam.“26 Wenn die Gemeinde Jesu auf diese Weise „als innerer Kreis inmitten jenes weitern“ des Staates existiert,27 wird der Staat zum „Gleichnis“, zum „Analogon“ der Gemeinde,28 und damit zum Anwendungsfeld der Bergpredigt, was ja doch nicht von Jesus beabsichtigt war. Zwei Punkte bedürfen noch der Klärung. Erstens: Trifft die Bezeichnung „Bergpredigt“ zu? Die Einleitung in Mt 5,1f und der Charakter der Kapitel 5–7 weisen so eindeutig auf ein „Lehren“ Jesu hin, dass man genau genommen von einer „Berglehre“ sprechen müsste.29 Aber der Begriff „Bergpredigt“ hat sich seit Augustinus (De sermone domini in monte)30 so fest eingebürgert, dass wir ihn auch in diesem Kommentar beibehalten wollen. Zweitens: In welchem Verhältnis steht die Bergpredigt (oder Berglehre) zu der vorausgegangenen Predigt des „Evangeliums vom Reich“ (4,23)? Sand erklärt einfach: „Jesu Lehre ist sein Evangelium“.31 Dann wären Evangeliumspredigt und Bergpredigt im Grunde identisch. Aber so einfach ist es nicht. Schon die verschiedene Begrifflichkeit – κηρύσσειν/εὐαγγέλιον [kēryssein/euangelion] einerseits und διδάσκειν/διδαχή [didaskein/didachē] (7,28) andererseits – spricht gegen eine Identifizierung. Aus dem Gesamtkontext des Matthäusevangeliums heraus muss die Antwort lauten: Das „Evangelium“ ist der Oberbegriff, die „Lehre“ ein wichtiger Teil davon. Zum Evangelium gehört beispielsweise der Missionsbefehl (Mt 28,18-20). Ein Teil – ein wichtiger, aber eben nur ein Teil! – davon ist die Lehre von dem, „was ich euch befohlen habe“ (28,20). Zum Evangelium gehört die Proklamation der endzeitlichen Erfüllung: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren“ (Lk 4,21). Zum Evangelium gehören die beglaubigenden Zeichen (Joh 10,37f ). 25 26 27 28 29

Bornhäuser, VI (Vorwort); Klostermann, 33. Barth Christengemeinde, 13. Barth a.a.O., 12. Barth a.a.O., 29. Vgl. meinen Mt-Kommentar, 105; Bornhäuser, V; Sand, 95; Schniewind, 39; Zeilinger, 33. 30 Vgl. Sand a.a.O. 31 Sand, 99. Ähnlich Luz I 198; Schniewind a.a.O.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

Zum Evangelium gehören Trost und Heilung: „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ (Mk 5,36). All dies wird auch lehrmäßig begründet. Aber es geht eben in der Lehre nicht auf. So ist das Evangelium mehr als die Lehre.32 Inwiefern aber die Lehre, speziell gerade die Bergpredigt, im Dienst des Evangeliums steht, werden die folgenden Seiten zu zeigen haben.

2. Die Seligpreisungen, 5,3-12 I Übersetzung 3 Glücklich zu preisen sind1 die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich Gottes. 4 Glücklich zu preisen sind die Leidtragenden, denn sie werden getröstet werden. 5 Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde als Erbe besitzen. 6 Glücklich zu preisen sind die, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden satt gemacht werden. 7 Glücklich zu preisen sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. 8 Glücklich zu preisen sind die, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. 9 Glücklich zu preisen sind die Täter des Friedens, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. 10 Glücklich zu preisen sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Reich Gottes. 11 Glücklich zu preisen seid ihr, wenn sie euch um meinetwillen schmähen und verfolgen und gegen euch alles Böse reden, sofern sie dabei lügen. 12 Freut euch und jubelt! Denn euer Lohn ist groß im Himmel. Denn genauso haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch gewesen sind.

II Struktur Die Gliederung der Seligpreisungen und die Verbindung mit dem Kontext ist keineswegs einheitlich. Zwar besteht darüber Einigkeit, dass die Verse 3-10 zusammengehören. Anders ist die Einschätzung bei V. 11-12. Im Wesentlichen gibt es drei Vorschläge: 1) Man erstreckt die Seligpreisungen von V. 3 bis V. 12;2 2) man nimmt die Verse 11-16 als neuen Abschnitt zusammen;3 3) man behandelt V. 11-12 als eine Art Anhang („expansion“) zu V. 3ff.4 32 Auch Zahn, 179, legt Wert auf die Unterscheidung. 1 Zum fehlenden εἰσίν [eisin] vgl. BDR § 128,1. 2 So mein Kommentar (Maier I, 106ff ), Aland Syn, 75ff; Fiedler, 107ff; Luck, 52ff; Luz I 198ff; Sand, 99ff. 3 So France, 111ff; Beare, 135ff.

2. Die Seligpreisungen, 5,3-12

245

Eng verbunden mit diesen verschiedenen Gliederungsversuchen ist die verschiedene Zählung der Seligpreisungen. Im Anschluss an altkirchliche Ausleger (Hieronymus, Hilarius, Chromatius) zählt beispielsweise Zahn acht Seligpreisungen.5 Andere zählen neun,6 wieder andere sieben.7 Entscheidend ist u.E. der jeweils mit μακάριοι [makarioi] bewusst gestaltete Versanfang (daher die „Makarismen“). Dann aber ergibt sich eine Zahl von neun Seligpreisungen.8 Forscher wie Julius Schniewind haben Wert darauf gelegt, dass die beiden Gruppen V. 3-6 und V. 7-10, also die ersten acht Seligpreisungen, „zwei genau gleiche Strophen bilden“.9 Außerdem besteht durch die vierfache P-Alliteration in Mt 5,3-6 eine Parechese.10 Man kann also tatsächlich in Mt 5,3-10 eine auch mnemotechnisch geformte Zweier-Gruppierung erkennen.11 Jede Gruppe ist überdies ausgezeichnet durch ein wörtlich übereinstimmendes „denn ihrer ist das Reich Gottes“ (V. 3.10). Umso mehr fällt die neunte, die letzte, Seligpreisung auf. Sie ist länger als die andern (V. 11-12). Sie enthält mehr lehrmäßige Verdeutlichungen. Sie wechselt in die 2. Person Plur. („Glücklich zu preisen seid ihr“). Und sie stellt mit dem „um meinetwillen“ einen direkten Bezug zur Person Jesu her. Warum der neunten Seligpreisung ein solches Gewicht zukommt, muss die Einzelexegese prüfen. Eine Frage für sich ist das Verhältnis Matthäus/Lukas. Auffallenderweise hat Lukas ähnlich wie Mt 5,3-10 zwei Vierergruppen,12 die aber viel stärker differenziert sind: 1) Die vier Seligpreisungen Lk 6,20-23; 2) die vier Weherufe Lk 6,24-26. Die Seligpreisungen bei Lukas und Matthäus weisen starke Gemeinsamkeiten auf: Beide stehen am Anfang der Bergpredigt bzw. Feldrede; beide beginnen mit dem μακάριοι [makarioi]; beide sind bei der letzten Seligpreisung (Mt 5,11f bzw. Lk 6,22f ) auffällig lang; beide kennen die Anrede in der 2. Person Plural (Mt nur einmal, in 5,11f ); beide weisen bei der Mehrheit der Seligpreisungen denselben, kurzen Satzbau auf; beide bringen zum Schluss den direkten Hinweis auf Jesus (Mt 5,11 bzw. Lk 6,22); beide decken sich inhaltlich, soweit eben die Parallelenüberlieferung reicht. 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Carson, 129ff; Schniewind, 40. Zahn, 179f. Ebenso France, 107ff; Beare, 135ff; Tasker, 61; Schniewind, 40. Senior, 70; Sand, 100; Luz I 200; Luck, 55; Fiedler, 107; Maier I, 125; Zeilinger, 33. So Bultmann Gesch, 115, für die ursprüngliche Gestalt. Vgl. Zahn, 179,9; Klostermann, 33. Weiteres bei Maier I, 124f. Schniewind a.a.O.; Luz I 199f. Vgl. Klostermann, 34; Fiedler, 107; Zeilinger, 33ff. BDR § 488,7. Luz a.a.O.; Schniewind a.a.O. Vgl. Schniewind, 40.

246

Die Bergpredigt, 5,1–7,29

Was nun die Unterschiede anbelangt, so stechen zwei hervor: Bei Lukas sind die Seligpreisungen durchgehend in der 2. Person Plural gehalten, bei Matthäus dagegen in der Regel in der 3. Person Plural. Sodann: Lukas hat eben nur vier Seligpreisungen gegenüber den neun des Matthäus. Über die Gründe und das Alter der jeweiligen Überlieferung wird lebhaft diskutiert.13 Öfter billigt man Lukas die ältere Tradition zu und macht Matthäus verantwortlich für sekundäre Erweiterungen.14 Gelegentlich findet sich allerdings auch die Warnung, die Unterschiede nicht zu übertreiben.15 Der Raum erlaubt es uns nicht, hier alle Lösungsvorschläge aufzuführen. Wenige Bemerkungen mögen genügen. Bezüglich des Umfangs der Seligpreisungen sind in der Tat verschiedene Denkmöglichkeiten gegeben, die man bis auf Weiteres nebeneinander stehen lassen sollte: 1) Lukas hat wie beim Vaterunser (Lk 11,1ff ) und bei der Feldrede insgesamt eine Tendenz zur Kurzform und fühlt sich nicht verpflichtet, alle ihm bekannten Traditionen niederzuschreiben (vgl. Joh 21,25); 2) Lukas wollte durch die Reduzierung der Seligpreisungen Platz für die Weherufe gewinnen, wobei er jeweils Vierergruppen bildete; 3) Matthäus ging als Lehrer (vgl. Mt 13,52; 23,34) auf Vollständigkeit aus und erweiterte deshalb aus seinem Wissen heraus die Zahl der Seligpreisungen auf neun. Das Nebeneinander der verschiedenen Denkmöglichkeiten darf aber einen elementaren Tatbestand nicht verschleiern: nämlich dass die Seligpreisungen allesamt Jesusworte sind und keine Bildungen der Evangelisten oder der Gemeinden.16 Was schließlich den Wechsel der Anrede zwischen 3. Person und 2. Person Plural betrifft, so zeigt gerade Mt 5,3-12, dass Jesus beide Anredeformen gebrauchte. Keine darf gegen die andere ausgespielt werden. Denn Schniewind sagt mit Recht: „Gemeint ist beidemal dasselbe.“17 Hat Jesus seine Kernsätze einschließlich der Seligpreisungen wiederholt – was bei einem Lehrer selbstverständlich ist –, dann kann er umso leichter zwischen beiden Anredeformen abgewechselt haben.

III Einzelexegese Das erste Wort, μακάριοι [makarioi] (V. 3), hat diesem Teil der Bergpredigt den Namen gegeben. Denn die lange übliche Übersetzung im Deutschen lautet „Selig (sind)“. Schniewind möchte diese alte Übersetzung um der Feierlich13 Vgl. Bultmann Gesch, 114f; Luz I 200ff. 14 Bultmann a.a.O.; Luz a.a.O.; F. Hauck im Art. μακάριος usw., ThWNT, IV, 371; Klostermann, 34. 15 Carson, 130; Schniewind, 41. 16 Anders Bultmann Gesch, 115. 17 Schniewind, 41; Allen, 39: „the same sense“.

2. Die Seligpreisungen, 5,3-12

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keit willen beibehalten.18 Aber „selig“ wird im heutigen Sprachgebrauch gerne mit der ewigen Seligkeit oder einer Seligsprechung verbunden. Deshalb bevorzugen wir die genauere Wortbedeutung Glücklich zu preisen.19 Das neutestamentliche μακάριος [makarios] geht zurück auf hebr. ‫שֵׁרי‬ ְ ‫[ אַ‬ʾaschrē], einen „Zuruf der Glückseligkeit“ (Cazelles20), der bestimmten Menschen Glück wünscht, was wir eben mit der Übersetzung „Glücklich zu preisen“ auszudrücken versuchen.21 Bei diesem ‫שֵׁרי‬ ְ ‫[ אַ‬ʾaschrē] kann man zwei Momente feststellen: 1) ist ‫שֵׁרי‬ ‫אַ‬ [ʾaschrē] „weltoffener“, einladender formuliert ְ ְ als das feierliche „gesegnet“ (‫[ ָבּרוּך‬bārūk]), 2) es betrifft Menschen, die bestimmte Taten oder ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen.22 Beides hat für die Auslegung der Bergpredigt Bedeutung. Eine klassische Stelle im AT ist Ps 1, der mit den Worten beginnt: ‫שֵׁרי־ָהִאישׁ‬ ְ ‫[ אַ‬ʾaschrē-hāʾīsch] / Μακάριος ἀνήρ [makarios anēr] (LXX) / „Wohl dem, der …“ Überhaupt sind die Psalmen „der bevorzugte Ort des Ausdruckes ‫“אשרי‬.23 Was bedeutet dies für die Seligpreisungen Jesu? Erstens macht Jesus die Einladung mit ihrem weiten, offenen Klang zum ersten Hauptakzent seiner Rede. Sie ist von allem Anfang an werbende, missionarische Rede. Zweitens eröffnet er seine Rede in offensichtlichem Anklang an Ps 1, den Beginn des Psalmbuches.24 Er verschafft damit der Volksfrömmigkeit einen schnellen Zugang.25 Drittens zeigt er, dass er ganz im Einklang mit der Heiligen Schrift steht. Und viertens macht er klar, dass der Zugang zum Reich Gottes voraussetzt, dass die Menschen den Willen Gottes tun (vgl. Mt 7,13f.21ff.24ff ). In der ersten Seligpreisung werden die Armen im Geist (οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι [hoi ptōchoi tō pneumati]) glücklich gepriesen. Hier stehen wir vor einem sprachlichen und theologischen Problem: Die Parallele in Lk 6,20 hat nur „die Armen“ (οἱ πτωχοί [hoi ptōchoi]). Meinen also Mt 5,3 und Lk 6,20 verschiedene Personengruppen? Und was heißt überhaupt arm? Der griech. Begriff für arm geht auf hebr. ‫[ ָענִי‬ʿānī ] oder ‫[ ָענָו‬ʿānāw] zurück.26 Ausschlaggebend ist also zunächst der hebräische Kontext. Das zugehörige Substantiv ‫[ ֳענִי‬ʿonī ] bezeichnet überwiegend eine „Notlage, die Jah18 19 20 21 22 23 24 25 26

Schniewind, 40f. Vgl. F. Hauck, Art. μακάριος usw., ThWNT, IV, 369ff. H. Cazelles, Art. ‫שֵׁרי‬ ְ ‫אַ‬, ThWAT, I, 1973, 482. Vgl. Cazelles a.a.O. Cazelles, 482ff. Cazelles, 482. Klostermann, 34. Zahn, 179. F. Hauck / E. Bammel, Art. πτωχός usw., ThWNT, VI, 1959, 885ff; E.S. Gerstenberger, Art. ‫ענה‬, ThWAT, VI, 1989, 270.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

wes Eingreifen erforderlich macht“,27 es ist überall „das Gott angehende Elend“,28 und zwar in einem breiten Spektrum. Die damit verbundenen Adjektive ‫[ ָענִי‬ʿānī ] und ‫[ ָענָו‬ʿānāw] bezeichnen dementsprechend Menschen, die von Feinden unterdrückt und deshalb auf Gott angewiesen sind, bis hin zur Wortbedeutung „demütig“ oder „fromm“.29 Unsere Wortfamilie konzentriert sich auf die Psalmen. Dort charakterisiert sie vor allem die „Existenznot des Beters“.30 Umgekehrt aber gilt: die „Anawim“ sind „die besonderen Schützlinge“ Gottes.31 Er sorgt für die „Anawim“, die gelegentlich in Parallele erscheinen zu denen, die „niedergeschlagen, zerbrochenen Herzens“32 sind (vgl. Ps 109,16.22; 147,3; Jes 61,1; 66,2). Von den Psalmen und Jesaja an verstehen sich ganze jüdische Gemeinden oder sogar das gesamte Israel als eine Gemeinschaft von Anawim.33 Und gerade ihnen gilt der Zuspruch des endzeitlichen Heils und der messianischen Erlösung (Jes 61,1ff; Zeph 3,12ff ).34 Geradezu klassisch ist die Beschreibung des Auftrags des Messias in Jes 61,1: „Er hat mich gesandt, den Elenden (‫[ ֲענָוִים‬ʿᵃnāwīm], LXX: πτωχοῖς [ ptōchois]) gute Botschaft zu bringen (‫שּׂר‬ ְ ‫[ ְלַב‬lᵉbaśśer], LXX: εὐαγγελίσασθαι [euangelisasthai]), die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“ Ganz offensichtlich wollte Jesus mit seiner ersten Seligpreisung diesen Auftrag aus Jes 61,1 ausführen, wie Lk 4,16ff bestätigt.35 Es kann also keine Rede davon sein, dass man die Armen (πτωχοί [ ptōchoi]) vorwiegend unter dem „sozialen Aspekt“ sehen müsse.36 Sie haben von der hebräischen Begriffsgeschichte her eine starke religiöse Konnotation und sind deshalb als Menschen zu verstehen, die wissen, dass sie Gott brauchen. Das gilt sowohl für Matthäus als auch für Lukas, und zwar unabhängig von der Hinzufügung im Geist (Mt 5,3). Von daher entfällt für uns die Möglich-

27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Gerstenberger a.a.O., 256. Gerstenberger a.a.O., 257. Gerstenberger a.a.O., 259ff. Gerstenberger a.a.O., 263. Gerstenberger a.a.O., 262. Gerstenberger a.a.O., 265. Gerstenberger a.a.O., 268. Vgl. Gerstenberger a.a.O., 269. Ebenso Gundry, 67. So aber Luz I 205, für das ursprüngliche Jesuswort. Dahin tendiert auch Gerstenberger a.a.O., 270. Zeilinger, 37: „Auf der Jesus-Ebene … die materiell Armen.“ Anders mit Recht E. Schweizer im Art. πνεῦμα usw., ThWNT, VI, 1959, 398f; E. Bammel bei Hauck/Bammel a.a.O., 903f; Davies Setting, 251; Carson, 131.

2. Die Seligpreisungen, 5,3-12

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keit, Mt 5,3 und Lk 6,20 als Gegensätze zu betrachten. Gemeint ist beide Male dieselbe Personengruppe.37 Nun steht in Mt 5,3 allerdings die Armen im Geist (οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι [hoi ptōchoi tō pneumati]). Teilweise nimmt man an, dass die Worte im Geist erst von Matthäus oder dessen Tradition stammen, also nicht von Jesus selbst.38 Matthäus sei hier einer „Tendenz zur Verinnerlichung“ gefolgt.39 Doch Matthäus führt diese Worte auf Jesus selbst zurück. Wie kann man dann erklären, dass sie in der Parallele Lk 6,20 fehlen? Hier gibt es nicht nur eine, sondern sogar verschiedene Antwortmöglichkeiten: 1) Lukas kann einer allgemeinen Absicht der Verkürzung gefolgt sein (vgl. Vaterunser, die Feldrede insgesamt); 2) Jesus kann bei seiner Erklärung im Jüngerkreis (vgl. Mt 13,10ff.36ff ) die Armen selbst durch den Zusatz im Geist erläutert haben; 3) er kann bei der Wiederholung der Bergpredigt die „Worte“ im Geist benutzt haben, die er in einer anderen Version seiner Rede nicht benutzt hatte. Entscheidend ist die Beobachtung, dass die Worte im Geist nichts wesentlich Neues oder anderes bringen, sondern nur eine Erläuterung darstellen. Das gilt für sämtliche grammatische Verständnismöglichkeiten des Dativs τῷ πνεύματι [tō pneumati]. Am besten fasst man ihn als Dativ der Beziehung auf.40 Der Sinn ist in diesem Fall: „arm bezüglich des Geistes“. Ist damit der menschliche Geist gemeint? Wohl kaum. Denn das Evangelium gilt allen Menschen und nicht nur den Schwachbegabten.41 Dann bleibt nur die Deutung auf den Heiligen Geist: Es sind Menschen, die darunter leiden, dass ihnen Gottes Heiliger Geist fehlt. Es sind Menschen, die mit David beten: „Gib mir einen neuen, beständigen Geist“ (Ps 51,12). Adolf Schlatter hat es gut formuliert: „Gott gibt … den Entbehrenden, weil sie entbehren, und verleiht ihnen, was ihnen fehlt, weil er sich ihrer erbarmt.“42 Sprachlich und inhaltlich kommt man damit in eine Nähe zur Qumranliteratur, die in 1QH XIV, 3 und 1QM XIV, 7 von ‫[ ַענְוֵי רוַּח‬ʿanwē rūach] spricht, von denen, „die demütigen Geistes sind“,43 oder „Demütiggesinnten“.44 Qumran geht hier wohl auf Jes 66,2 zurück und preist „die Haltung der Demut vor Gott“.45 37 38 39 40 41 42 43 44 45

So auch Schniewind, 41; Klostermann, 34; Carson, 134; Allen, 39 („the same sense“). So Beare, 129; Gundry, 67; Klostermann, 34; Fiedler, 109; Allen, 39; Zeilinger, 38. So Luz I 207. BDR § 197,3; Zahn, 183; Zeilinger, 38. Ebenso Klostermann, 34. Schlatter, 48. Mit Recht weist Zeilinger, 39, auf Ez 36,26ff hin. Lohse Qumran, 163.256f. J. Maier I, 109.142; II, 131. J. Maier II, 131. Auf die Demütigen deutet Luz I 206.

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Man kann den Dativ τῷ πνεύματι [tō pneumati] grammatikalisch auch als Dativus instrumentalis auffassen46 und erhält dann den Sinn: „arm durch den Geist“ (= durch Eingebung des Geistes). Entweder der menschliche oder der göttliche Geist hätte in diesem Fall die Betreffenden zu einem Leben in Armut bewegt. Die Armut wäre also ein gewolltes Lebensziel. Ein Beispiel dafür ist das Mönchtum. Ernst Bammel meint, eine solche Deutung werde „durch die Qumran-Parallelen … unwahrscheinlich gemacht“.47 Das ist zu scharf geurteilt. Denn wer demütig lebt vor Gott, kann auch auf Reichtum verzichten (vgl. Mt 19,16ff; Lk 19,8). Dennoch schließen wir uns dieser zweiten Deutung (als Dativus instrumentalis) nicht an.48 Sonst würde Gottes Verheißung (das Reich Gottes) solchen zuteil, die zuvor eine elitäre Vorleistung erbracht hätten. Das aber würde in den Kontext der ersten vier Seligpreisungen schlechter hineinpassen als die erstgenannte Deutung und würde auch nicht mehr mit Jes 61,1 in Verbindung stehen. Fazit: Wir sehen in Mt 5,3 Jesus diejenigen glücklich preisen, die ihre geistliche Armut erkennen und darunter leiden.49 Die Verheißung bei der ersten Seligpreisung ist denkbar kurz: ihrer ist das Reich Gottes (αὐτῶν ἐστιν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [autōn estin hē basileia tōn ouranōn]). Dabei wird ihrer (αὐτῶν [autōn]) stark betont:50 Exakt „sie“, die „Armen im Geist“, erhalten das Reich Gottes. Der Sinn dieser Aussage ist futurisch.51 Das heißt, sie werden am Reich Gottes teilnehmen, sobald es Gott am Ende der Zeiten herbeiführt. Wie in Mt 4,17 steht für Reich Gottes die alte jüdische Form „Reich der Himmel“. Vgl. zur näheren Erläuterung die Auslegung von Mt 4,17. Sagen wir es noch einmal in Kürze: Die Menschen, die unter ihrer geistlichen Armut leiden, werden gerade deshalb von Jesus glücklich gepriesen. Denn ihnen hat Gott sein Reich und damit sein ganzes Heil52 zugesagt. Der tiefe Eindruck, den Mt 5,3 auf die frühe Christenheit gemacht hat, lässt sich noch an Stellen wie 1Kor 1,27f; Kol 3,12 oder Jak 2,5 ablesen.53 Aus der alten Kirche sei nur eine Äußerung des Origenes in seinem Matthäuskommen-

46 47 48 49 50 51 52 53

Vgl. BDR § 195. Vgl. Luz I 205f. Bei Hauck/Bammel a.a.O., 904, 176. Ebenso Klostermann, 34. Ähnlich Klostermann, 34. Vor allem Jes 57,15 und 61,1 sprechen für diese Auffassung. Vgl. Carson, 132; Zahn, 183ff; Tasker, 61; Allen, 39. Vgl. BDR § 277,6. Gundry, 68; Klostermann, 34; Allen, 40. Eine Teilnahme an gegenwärtigen göttlichen Segnungen ist dadurch nicht ausgeschlossen (Carson, 132). Vgl. K.L. Schmidt im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 584ff. Davies Setting, 377.403.

2. Die Seligpreisungen, 5,3-12

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tar zitiert: „Du fragst, in welchem Sinne das Wort gilt: ‚Ihrer ist das Reich der Himmel‘? Und du kannst antworten, dass Christus ihrer ist.“54 Die zweite Seligpreisung (V. 4) gilt den Leidtragenden (οἱ πενθοῦντες [hoi penthountes]).55 Sofort werden wir wieder an den messianischen Auftrag in Jes 61,1ff erinnert, wo es u.a. heißt: „zu trösten alle Trauernden“ (LXX, Jes 61,2: παρακαλέσαι πάντας τοὺς πενθοῦντας [ parakalesai pantas tous penthountas]).56 Interessanterweise stellt das Sirachbuch gerade das Trösten als ein Hauptmerkmal Jesajas heraus: „er tröstete die Trauernden (Leidtragenden) in Zion“ (Sir 48,24 LXX: παρεκάλεσεν τοὺς πενθοῦντας ἐν Σιων [ parekalesen tous penthountas en Siōn]). Jesus beginnt also den messianischen Auftrag so einzulösen, dass er in seiner zweiten Seligpreisung sagt: Glücklich zu preisen sind die Leidtragenden. Nicht die Dominierenden sind demnach die Glückspilze und Glücksritter, sondern die ihr Leid Tragenden genießen von Gott Ehre und Hilfe. Das steht in einem weiten biblischen Kontext. Man denke an Lazarus (Lk 16,19ff ) oder Jak 1,12 „Glücklich zu preisen ist der Mann, der Anfechtung erduldet“ oder an Offb 7,14ff, wonach die Erlösten aus der Trübsal kommen. Schon im AT klagt der Beter: „es haben mich umgeben Leiden ohne Zahl“ (Ps 40,13, LXX Ps 39,13: ὧν οὐκ ἔστιν ἀριθμός [hōn ouk estin arithmos]). Noch einmal fragen wir genauer: Wer sind die Leidtragenden? πενθέω [ pentheō] heißt „klagen“, „trauern“, „Leid tragen“.57 Das betrifft zunächst alles Leid, das Menschen durch andere Menschen oder bestimmte Ereignisse trifft. Im Alten Testament lässt sich sodann beobachten, dass Leid und Trauer vor allem in den prophetischen Gerichts- und Unheilsweissagungen eine Rolle spielen, aber auch durch die Sünde des Volkes oder eigene Sünde entsteht.58 Es ist geradezu typisch, dass in der oben zitierten Psalmstelle von den „Leiden ohne Zahl“ (Ps 40,13) die Fortsetzung lautet: „Meine Sünden haben mich ereilt“ (κατέλαβόν με αἱ ἀνομίαι μου [katelabon me hai anomiai mou]). Man denke ferner an das Leid, das in den Bußpsalmen zum Ausdruck kommt (Ps 6; 32; 38; 51; 102; 130; 143) oder auch in Ps 126 und 137. Von diesem biblischen Gesamtzusammenhang her wird man sagen müssen, dass Jesu zweite Seligpreisung alle einlädt, die unter den Verhältnissen unserer gefallenen Welt oder unter ihrer Sünde leiden. Es empfiehlt sich nicht, hier weitere Einschrän54 Texte KV II, 154. Vgl. a.a.O. 442; III, 387. 55 Die Versanordnung bei Nestle-Aland stimmt. Allen, 40f. 56 So auch R. Bultmann, Art. πέντος usw., ThWNT, VI, 1959, 43,22; Allen, 41; Zeilinger, 38; Carson, 133; Wilckens I/1, 138; France, 109; Luck, 57; Strack-Billerbeck I 195. 57 Bultmann a.a.O.; 40; Bauer-Aland, 1295. 58 Vgl. Bultmann a.a.O., 42.

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kungen vorzunehmen, die am Text keinen Anhalt haben.59 Allerdings muss man auch sagen: Wer zu stolz ist, sein Leiden anzuerkennen oder Gottes Hilfe anzunehmen, der schließt sich selbst vom Trost der zweiten Seligpreisung aus. Worin besteht dieser Trost? Jesus gebraucht dafür im Griechischen nur drei Worte: ὅτι αὐτοὶ παρακληθήσονται [hoti autoi paraklēthēsontai] = denn sie werden getröstet werden. Das sie ist betont.60 Das Passiv drückt als Passivum divinum aus, dass Gott selbst trösten wird. Das „abwischen der Tränen von ihren Augen“ in Offb 7,17; 21,4 zeigt uns anschaulich, was wir uns darunter vorzustellen haben. Ganz eindeutig geschieht also dieses trösten in der Zukunft, bei der Teilnahme am ewigen Heil und am ewigen Leben (eschatologisch).61 Später hat Jesus an der Person des Lazarus klargemacht, was wir unter dem Trösten verstehen sollen (Lk 16,25). Den Leidtragenden/Trauernden wird also in Mt 5,4 nicht versprochen, dass ihr Leid bald ein Ende haben wird oder dass es auf Erden überhaupt endet. Dazu ist Jesus viel zu ehrlich. Bei Lazarus währte das Leiden lebenslang und auch für das apostolische Leben gilt: „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe“ (2Kor 4,10). Jesus verspricht auch nicht, dass bald diejenigen leiden werden, die uns gerade das Leid zufügen. Nach Lk 16,19 lebte der reiche Mann „alle Tage herrlich und in Freuden“. Nein, Gottes Trost im umfassenden Sinne geschieht erst, wenn Gottes Reich sichtbar und vollkommen da ist. Dass Gott uns schon im Heute immer wieder ermutigt und vorweg/vorläufig tröstet, bleibt freilich ebenfalls wahr (2Kor 1,3f ). Ist dies alles „Vertröstung“, wie viele sagen? Nein, es ist Nüchternheit, die uns von Illusionen befreit, und zugleich Vertrauen, dass Gott am Ende der Zeiten alles Böse, alle Tränen und alles Leid (πένθος [ penthos], Offb 21,4) beseitigt. Warum preist Jesus die Leidtragenden heute schon glücklich? Weil Gott sie heute schon in sein Reich einlädt, sie durch alles Leid hindurchtragen und am Ende wunderbar beschenken will. Schließlich sollten wir nicht übersehen, dass die zweite Seligpreisung alle Jünger auf ihr künftiges Leiden vorbereitet.62 Hier sagt Luther sehr treffend: „Wir sollen lernen, auf das Wort und Gottes Willen zu sehen, alsdann werden wir mit geduldigem Herzen alles erleiden, wie schwer es auch immer sein mag.“63

59 60 61 62 63

Ebenso Schniewind, 43; France, 109; Tasker, 61f. BDR § 277,5. O. Schmitz im Art. πραΰς usw., ThWNT, V, 1954, 796. Schlatter, 49. Nach Aland Lutherlexikon, 218.

2. Die Seligpreisungen, 5,3-12

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Der dritten Seligpreisung drohte die Streichung vonseiten historisch-kritischer Exegeten, wie z.B. Wellhausen.64 Ein Argument war, dass πτωχοί [ ptōchoi] V. 3 und πραεῖς [ praeis] V. 5 „practically synonymous terms“ darstellen und beide im Hebräischen durch ‫[ עניים‬ʿnjjm] bzw. ‫[ ענוים‬ʿnwjm] wiedergegeben werden können.65 In der Tat ist diese dritte Seligpreisung nicht so einfach, wie sie aussieht: Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde als Erbe besitzen (V. 5). Klarheit über den Inhalt entsteht auch hier erst dann, wenn man die Schlüsselrolle der alttestamentlichen Verheißungen wahrnimmt. In erster Linie kommt Ps 37,11 (LXX 36,11) eine solche Schlüsselrolle zu: „die Sanftmütigen werden das Land besitzen“66 (LXX: οἱ δὲ πραεῖς κληρονομήσουσιν γῆν [hoi de praeis klēronomēsousin gēn]). Das erinnert schon im Wortlaut an Mt 5,5: μακάριοι οἱ πραεῖς, ὅτι αὐτοὶ κληρονομήσουσιν τὴν γῆν [makarioi hoi praeis, hoti autoi klēronomēsousin tēn gēn]. Der 37. Psalm spricht zunächst vom Untergang der Gottlosen und stellt diesen Gesetzübertretern dann diejenigen gegenüber, die Gottes Gebote halten und auf den Herrn hoffen. „Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn“ und „Sei stille dem HERRN und warte auf ihn“ (Ps 37,5.7) sind deren Lebensregeln. Damit wird der Horizont klar, in dem wir uns mit Ps 37,11 bewegen.67 Es ist die scheinbare Übermacht der Gottlosen und die Gewalttätigkeit, mit der sie gegen die Gerechten vorgehen. Im Unterschied zur ersten Seligpreisung leiden die von Jesus Eingeladenen hier nicht an ihrer eigenen geistlichen Armut, sondern an der Macht der Bösen. Diese Macht der Bösen aber bekämpfen sie nun nicht mit ihren eigenen Waffen – geschweige denn mit den Waffen ihrer Gegner! –, sondern indem sie still und demütig auf Gottes Hilfe warten. Dass dies mehr Kraft kostet als ein Zurückschlagen mit irdischen Waffen, ist klar. Aber auch die Gefahr der Depression und Verbitterung liegt nahe: „Ich wäre fast gestrauchelt … als ich sah, dass es den Gottlosen so gut ging“ (Ps 73,2f ). Jesu Zuspruch Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen wird hier als echtes Evangelium erfahren. Daneben steht nun das Bild des wahren Messias, der diese Sanftmütigkeit in der eigenen Person verkörpert. Ihn kündigt Sach 64 Nestle-Aland, 9. Auch Klostermann, 37. 65 Allen, 40; F. Hauck / S. Schulz, Art. πραΰς usw., ThWNT, VI, 1959, 647; E.S. Gerstenberger, Art. ‫ ענה‬II, ThWAT, VI, 1989, 259. 66 So die Revidierte Elberfelder Bibel. Die Lutherbibel hat: „die Elenden werden das Land erben“; Einheitsübersetzung und Neue Jerusalemer Bibel: „die Armen“; BigS: „die Gebeugten“. Die Unterschiede deuten die Schwierigkeiten an. „Demütig“ bei Schniewind, 42; vgl. Strack-Billerbeck I 197. Wieder anders Luz I 199ff: „die Freundlichen“. 67 Vgl. Allen, 41. Nach Klostermann, 37, ist Mt 5,5 ein „reines Zitat aus Ps 36,11“, vgl. Strack-Billerbeck I 197; Hauck/Schulz a.a.O., 649, 26; Fiedler, 111.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

9,9 an: „ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel“, nach der LXX πραΰς [ praÿs] für „arm“, öfter mit „demütig“ wiedergegeben.68 Dementsprechend sagt Jesus von sich selbst: „ich bin sanftmütig (πραΰς [ praÿs]) und von Herzen demütig (ταπεινός [tapeinos])“, Mt 11,29. Jesus preist also in Mt 5,5 zugleich diejenigen glücklich, die mit ihm den Weg der Sanftmut und der Demut gehen. So unbestreitbar die Verwandtschaft der dritten Seligpreisung mit der ersten ist, so wenig sind sie doch identisch.69 Auch E.S. Gerstenberger nimmt für die Begriffe ‫[ עניים‬ʿnjjm] und ‫[ ענוים‬ʿnwjm] in den prophetischen Büchern „eine bewußte Differenzierung“ an.70 Fassen wir die dritte Seligpreisung noch einmal zusammen: Sie gilt denjenigen, die unter der Macht der Bösen leiden und dabei still und vertrauensvoll auf Gottes Hilfe hoffen. Jesu Verheißung klingt an dieser Stelle überraschend: sie werden die Erde als Erbe besitzen. Erde, γῆ [gē], kann wie hebr. ‫[ ֶאֶרץ‬ʾäräz] auch mit „Land“ übersetzt werden. Aber hier geht es nicht um ein spezielles Land wie in Dt 4,38 oder um das Land im Gegensatz zum Meer, sondern um den Herrschaftsbereich Erde.71 Von ihm sagt das Neue Testament, dass er gegenwärtig unter der Herrschaft der Bösen, der „Herren der Welt“, steht (Mt 4,8; Eph 6,12). In der Zukunft aber werden nicht die Weltreiche und Weltherrscher, nicht mehr die Herrscher und Mächtigen von Mt 20,25 und vom Stil des Herodes, die Erde besitzen, das heißt regieren und verwalten, sondern die Sanftmütigen (οἱ πραεῖς [hoi praeis]). Wann wird das sein? Ohne Zweifel gleichzeitig mit dem „Reich Gottes“ von V. 3 und dem Trost von V. 4. Das heißt eschatologisch am Ende des gegenwärtigen Äons.72 Mt 5,5 ist keine Anleitung zur Revolution, zu einer Umkehrung der Verhältnisse, sondern zum Warten auf Gottes Tun am Ende der Zeiten.73 Dann allerdings, nach der Wiederkunft Jesu (Offb 20,4ff ) und erst recht in der neuen Schöpfung, wird es zu der völligen Veränderung kommen, von der Mt 5,5 spricht. Offb 20,6 drückt genau dasselbe aus, wenn es dort heißt, die Erlösten „werden mit Christus regieren tausend Jahre“ – und zwar noch die alte Erde. Erst recht werden die Erlösten nach Offb 21,1–22,5 die neue Erde als Erbe besitzen – in alle Ewigkeit.74 Dann ist auch Ps 37 erfüllt: „die des HERRN harren, werden das Land erben (LXX Ps 68 So Neue Jerusalemer Bibel; Revidierte Elberfelder Bibel; Einheitsübersetzung; BigS („voll Demut“). 69 Gegen Allen, 40. 70 Gerstenberger a.a.O., 262. Ähnlich Hauck/Schulz a.a.O., 647. 71 Anders Fiedler, 111: „‚das Land‘ Israel“. Dagegen mit Recht Carson, 133ff; Luz I 209. 72 So deuten auch die Rabbinen bei Strack-Billerbeck I 199; vgl. auch Sand, 101. 73 Schniewind, 44. 74 Vgl. Schniewind, 42.

2. Die Seligpreisungen, 5,3-12

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36,9 κληρονομήσουσιν γῆν [klēronomēsousin gēn])“, „die Elenden werden das Land erben (LXX Ps 36,11 οἱ δὲ πραεῖς κληρονομήσουσιν γῆν [hoi de praeis klēronomēsousin gēn]).“ Kurz, aber treffend hat es Julius Schniewind ausgedrückt: „V. 5 führt vom neuen Himmel zur neuen Erde herab, von der jenseitigen zur diesseitigen Hoffnung.“75 Friedrich Hauck und Siegfried Schulz ist darin zuzustimmen, dass Jesus durch sein Verhalten und seine Worte grundsätzlich in einen „Gegensatz zu den Zeloten … und allen Vertretern eines politischen Messianismus“ tritt.76 Mit der dritten Seligpreisung schied sich Jesus von den Aufstandsbewegungen seiner Zeit, mochten sie nun politisch oder theologisch begründet sein. Jakobus wendet in 3,13 Mt 5,5 auf die Streitigkeiten in der Gemeinde an. Schließlich widerstreben die Worte sie werden die Erde als Erbe besitzen einer falschen Spiritualisierung.77 Sie bezeugen, wie realistisch Jesus von einem neuen Himmel und einer neuen Erde am Ende der Zeiten ausging. Die vierte Seligpreisung (V. 6) ist zugleich die vierte nach π [ p] geordnete: πτωχοί – πενθοῦντες – πραεῖς – πεινῶντες [ ptōchoi – penthountes – praeis – peinōntes].78 Sie gilt denen, die nach der Gerechtigkeit (τὴν δικαιοσύνην [tēn dikaiosynēn]) hungern und dürsten. Während die dritte Seligpreisung bei Lukas kein Gegenstück hat, kehrt diese vierte in Lk 6,21 fast wörtlich wieder, wobei Lukas ein νῦν [nyn] einfügt, die Aussage in der 2. Person Plural statt der 3. Person Plural bietet und das Ganze noch kürzt. Hungern und dürsten sind schon früh Bildworte für geistliches Hungern und Dürsten (Ps 42,3; 63,2; Jes 5,1ff; Jer 31,25; Am 8,11; Sir 24,28ff ).79 In Mt 5,6 definiert J. Behm das dürsten als „Leidenschaftlich verlangen“,80 L. Goppelt das hungern als das „brennende Verlangen“.81 Wonach? Nach Gerechtigkeit, sagt Mt 5,6. Für Klostermann ist dies ein „Zusatz des Mt.“82 Aber es ist unmöglich, alle auf Jesus zurückgeführten δικαιοσύνη-Aussagen [dikaiosynē] nur auf das Konto des Evangelisten zu setzen (vgl. Mt 3,15; 5,10.20; 6,1.33). Überdies spielt der Begriff der Gerechtigkeit in den Heilsweissagungen des Jesaja und der Psalmen, auf die Jesus immer wieder zurückgriff, eine 75 Schniewind a.a.O. Ganz ähnlich schon Klostermann, 37. Strack-Billerbeck I 200, sieht die Erfüllung „in der Überwindung der Welt durch das Evangelium“. 76 Hauck-Schulz a.a.O., 649. Ebenso Fiedler, 111,22. 77 Eine solche liegt z.B. bei Irenäus Adv. haer. V, 9,2ff. 78 Vgl. BDR § 488,7. 79 Klostermann, 37; Allen, 41; J. Behm / G. Bertram, Art. διψάω usw., ThWNT, II, 1935, 230ff; L. Goppelt, Art. πεινάω, ThWNT, VI, 1959, 12ff. 80 Behm a.a.O., 230. 81 Goppelt a.a.O., 18. Vgl. BDR § 171,2. 82 Klostermann a.a.O.; Goppelt a.a.O., 17f, Senior, 71; Beare, 130.

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wichtige Rolle (vgl. Ps 24,5; Jes 61,10; 62,1f ). Lukas dagegen hatte alles Recht zu einer Kürzung. Wir gehen also davon aus, dass Jesus selbst von einem hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit sprach. Grammatisch wäre es zwar nicht unmöglich, τὴν δικαιοσύνην [tēn dikaiosynēn] als Akkusativ der Beziehung83 aufzufassen und dann zu übersetzen: „die hungern und dürsten bezüglich der Gerechtigkeit“, das heißt sinngemäß: „die Hunger und Durst leiden (als Verfolgte), weil sie Gerechte sein wollen“. Es wäre dann sogar ein guter sachlicher Anschluss an die dritte Seligpreisung gegeben. Aber die Heilsaussagen im AT (Ps 24,5; 119,123; Prov 9,5; Jes 61,10; 62,1f ) und im Johannesevangelium (4,14; 6,35ff; 7,27ff ) sowie die übrigen GerechtigkeitsAussagen in der Bergpredigt (5,20; 6,1.33) deuten doch eher in die Richtung der von uns gewählten Übersetzung die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten. Nun gibt es auch bei dieser Übersetzung immer noch drei verschiedene Verständnismöglichkeiten: 1) das Verlangen geht auf das Richterhandeln Gottes am Ende der Zeiten84; 2) es geht darauf, dass uns endlich in unserem Leben Gerechtigkeit widerfährt; 3) es geht darauf, dass uns Gott gerecht spricht und in seine Gemeinschaft aufnimmt.85 Am wenigsten begründet ist die zweite dieser Möglichkeiten. Denn Jesus spricht in keiner der neun Seligpreisungen von Belohnung und Erfüllung schon in der Gegenwart, sondern erst einer solchen in der Zukunft, im neuen Äon. Gerechtigkeit auf Erden gibt es für die Jünger Jesu höchstens vorübergehend. Nr. 1) und 3) sind besser begründet.86 Mt 5,20 und 6,33 legen es nahe, von dem Verlangen auszugehen, dass Gott uns gerecht spricht und in seine Gemeinschaft aufnimmt.87 Aber mit dieser dritten Verständnismöglichkeit ist die erste keineswegs ausgeschlossen. Ja, beide lassen sich gut verbinden. Das hungern und dürsten ist erst dann ganz erfüllt, wenn Gott als Richter und Retter am Ende der Zeiten uns als von ihm Gerechtfertigte sichtbar ans Licht treten lässt. Davon spricht jetzt die zweite Hälfte von V. 6: denn sie werden satt gemacht werden. Bauer-Aland übersetzt: „sie werden Genüge finden“.88 Damit wird aber das Passivum divinum aufgelöst, das doch wohl in Parallele zu den Passiva divina in V. 4 und V. 7 steht. Wir fassen also „satt gemacht werden“ / 83 BDR § 160. 84 So Hermann Cremer in seiner Paulinischen Rechtfertigungslehre, 190. Ähnlich Beare, 130; „the fulfilment of God’s will in themselves and in all the earth“; auch Carson, 134. 85 So z.B. Schlatter, 50; Sand, 101f. 86 Der Artikel bei δικαιοσύνη [dikaiosynē] scheint auch auf 1) zu deuten. 87 Vgl. Klostermann, 37; Strack-Billerbeck I 201; G. Schrenk im Art. δίκη usw., ThWNT, II, 1935, 200. 88 Bauer-Aland, 1793.

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„gesättigt werden“ als eine Gabe Gottes auf. Jesus will demnach sagen: Die Gerechtigkeit bei Gott und die Gemeinschaft mit ihm, die ihr aus vollem Herzen89 sucht, wird euch Gott schenken90 (vgl. Offb 7,16ff ). Mt 5,6 ist eine überaus gefüllte Aussage. Wir können nur noch kurz einige Inhalte hervorheben. Zunächst ist klar, dass die hier genannte Gerechtigkeit eine geschenkte Gerechtigkeit ist und mit einem „Verdienst der Werke“ nichts zu tun hat. Insofern hat die reformatorische Dogmatik keine Probleme. Ja, dadurch entsteht Gewissheit über Jesu Verheißung. Man erinnere sich an Luthers Wort: „Wenn es am Verdienst hinge, so könnten wir nie gewiß sein, wann wir Verdienst genug hätten.91 Ulrich Luz verwirrt die Situation, indem er sich an den „katholischen Auslegungstyp“ anschließen will und die Gerechtigkeit auf die menschlichen Werke bezieht.92 Aber wie sollen wir damit die „Sättigung“ durch Gott und auch den Kontext vereinbaren? Ein Korn Wahrheit liegt allerdings in der Position von Luz: Jesus spricht nicht von denen, die die Sehnsucht nur als „Herzenswunsch“ nach Gerechtigkeit in sich tragen, sondern von Menschen, die Gottes Willen mit ganzem Herzen zu erfüllen sich bemühen.93 Übersetzt man δικαιοσύνη [dikaiosynē] sodann ins hebräische ‫[ ְצָדָקה‬zᵉdāqāh],94 dann wird erst recht klar, dass es nicht um eine Tugend oder einen Besitz der Gerechtigkeit geht, sondern dass Gerechtigkeit etwas ist, „was man empfängt“.95 Ferner ist sowohl die göttliche wie die menschliche ‫[ ְצָדָקה‬zᵉdāqāh] im AT mit der Willensfreiheit verbunden – einer Willensfreiheit, die dann in Qumran aufgegeben wird.96 Noch einmal sei betont, dass Jesus in Mt 5,6 sowohl die alttestamentlichen Heilsbitten (vgl. Ps 17,15; 36,11; 37,6; 119,123) als auch die Heilszusagen (vgl. Ps 22,27; Jes 61,10; 62,1f ) aufgreift und ihre Erfüllung verspricht. Paulus und Jakobus haben später das jesuanische Gerechtigkeitsthema je auf ihre Weise aufgegriffen.97 Wie stark im damaligen Judentum die Sehnsucht nach der wahren „Gerechtigkeit“ war, zeigen pharisäische Psalmen98, die qumran-essenische Gemein89 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Allen, 41: „whole-hearted“. Die Parallele zu Prov 21,21 ist eher oberflächlich: Strack-Billerbeck I 201. Bei Aland Lutherlexikon, 353. Luz I 209ff. Allen, 41; Schrenk a.a.O., 200. Dies nach B. Johnson im Art. ‫ָצָדק‬, ThWAT, VI, 1989, 922f, die „regelmäßige“ Übersetzung. Andere Übersetzungsmöglichkeiten: ‫[ חסד‬chs̀ d], ‫[ אמת‬ʾmt], ‫[ משׁפט‬mschpth]. Johnson a.a.O., 923. Vgl. Schniewind, 44. Johnson a.a.O., 914.924. Vgl. Schrenk a.a.O., 202ff; Schniewind a.a.O. Ps Sal 17; 18; 9.

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schaftsregel99 und viele Aussagen der alten Rabbinen.100 Man wünscht sich, dass solche Sehnsucht auch im europäisch-nordatlantischen Raum eines Tages wieder aufbricht. Eine wunderbare Auslegung von Mt 5,6 hat Augustin in seiner Erklärung des 122. Psalms gegeben, die mit den Worten schließt: „Sei Bettler der Gerechtigkeit und höre das Evangelium: ‚Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.‘“101 Mit der fünften Seligpreisung (V. 7) kommen wir zur zweiten Gruppe der Seligpreisungen: Glücklich zu preisen sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Man kann allerdings nicht mit Schniewind die erste Gruppe (V. 3-6) durch „Warten“ und „Entbehren“ und die zweite Gruppe (V. 7ff ) durch „Verhalten“ und „Sein“ kennzeichnen.102 Denn „Verhalten“ und „Sein“ charakterisiert auch die Sanftmütigen (V. 5). Allerdings tritt in der fünften Seligpreisung das Erleiden zurück, während das aktive Tun in den Vordergrund tritt. Die Barmherzigen (οἱ ἐλεήμονες [hoi eleēmones]): Interessant ist, dass man sich nach Meinung der Rabbinen mit der Barmherzigkeit schwertut.103 R. Jochanan legte Prov 15,15 „Alle Tage des Armen sind schlecht“ so aus, dass damit der Mitleidige gemeint sei.104 Auch das NT weiß, dass man zur Barmherzigkeit ermahnen muss (1Petr 3,8; Phil 2,1; Jak 2,13), und dass sie nicht leichtfällt: „Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn“; „Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern“ (Röm 12,8). Barmherzig (ἐλεήμων [eleēmōn]) sein heißt: „die Güte oder das Mitleid …, das sich in Fällen irdischer Not betätigt“ oder das „Erbarmen, das sich um das ewige Heil der anderen sorgt“105 (vgl. Jud 22f ). Es fällt auf, dass Jesus jetzt ausgerechnet die Barmherzigen glücklich preist, also diejenigen, die sich von Mensch zu Mensch erbarmen, obwohl das Alte Testament auf den ersten Blick an das Barmherzigsein keine besondere eschatologische Verheißung knüpft. Allerdings hat das hebr. Grundwort hinter ἐλεήμων [eleēmōn], nämlich ‫[ ַרֲחִמים‬rachᵃmīm], sehr oft den Sinn von „Liebe“.106 Diese aber gehört zu den großen Themen und Geboten des AT (vgl. Lev 19,18). Zweitens ist zu bedenken, dass Gott selbst in den Glaubensbekenntnissen des AT als derjenige gepriesen wird, der barmherzig ist (vgl. Ex 34,6; Ps 103,8; Jona 4,2; Nah 1,7). Sollen wir aber „vollkommen sein, wie 99 100 101 102 103 104 105 106

1QS XI, 9ff. Vgl. Strack-Billerbeck I 201ff. Nach Texte KV II, 414. Schniewind, 46. Strack-Billerbeck I 203. b Baba bathra 145b. R. Bultmann, Art. ἔλεος usw., ThWNT, II, 1935, 480. Bultmann a.a.O., 477.

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unser Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt 5,48), dann gehört dazu in vorderster Linie auch die Barmherzigkeit. Drittens stoßen wir hier in Mt 5,7 auf eine spezielle Priorität Jesu, der gerade der Barmherzigkeit einen hohen Stellenwert gibt (vgl. Mt 9,13; 12,7; 18,33; 23,33; Lk 10,30ff ). Weiter fällt auf, dass Jesus im Unterschied zu manchen Rabbinen107 die Barmherzigkeit nicht auf bestimmte Menschengruppen begrenzt. Er spricht von den Barmherzigen, ohne irgendeine Grenze zu ziehen (vgl. Mt 5,43ff ).108 Andererseits muss man festhalten, dass auch viele Rabbinen die Barmherzigkeit hoch schätzten. Vielleicht bietet dafür b Schab 151b eines der eindrucksvollsten Beispiele, das stark an Mt 5,7 erinnert: „Wer sich seiner Mitmenschen erbarmt, dessen erbarmt man sich im Himmel.“109 Jesu Zusage lautet: sie werden Barmherzigkeit erlangen (αὐτοὶ ἐλεηθήσονται [autoi eleēthēsontai]). Das Futur macht den Zeitpunkt der Erfüllung klar: Es ist das Endgericht.110 Jakobus hat gerade diese Barmherzigkeit Gottes im Endgericht betont, wenn er schreibt: „Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“, und: „es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat“ (Jak 2,13; ganz nach Mt 5,7!). Aus dem Passivum divinum in Mt 5,7 geht ja hervor, dass Gott wiederum der Handelnde ist. Vgl. noch Prov 14,21; 17,5; Mt 18,33. Damit ist allerdings noch nicht alles gesagt, was zu Mt 5,7 zu bemerken ist. Denn die Worte: sie werden Barmherzigkeit erlangen haben neben dem futurischen durchaus auch einen präsentischen Sinn. Zahlreiche Stellen des AT sprechen nämlich davon, dass derjenige, der an andern Barmherzigkeit übt, von Gott selbst Barmherzigkeit erfährt: „Lass dein Brot über das Wasser fahren; denn du wirst es finden nach langer Zeit“ (Koh 11,1; vgl. Ex 20,6; Dtn 7,9; Ps 25,6.10; 103,4; 115,13; Klgl 3,22; Hos 2,21). Ähnlich wie die vierte Seligpreisung enthält also auch die fünfte eine doppelte Zusage: Gott wird uns sowohl in dieser als auch in der kommenden Welt wohltun. Nicht weil wir es verdient haben, sondern weil er seine Kinder liebt (vgl. Mt 5,35.48; 6,9). Man sollte meinen, dass Jesus jetzt weiterhin ein bestimmtes Tun bewertet. Dann wäre natürlich V. 9 ein idealer Anschluss an V. 7, und in der Tat nehmen manche Ausleger V. 7 und V. 9 zusammen.111 Aber Jesus hält sich nicht an unsere Ideale oder unsere abendländische Logik, übrigens auch nicht Matthäus. Die Seligpreisungen kehren jetzt mit V. 8, der sechsten Seligpreisung, 107 108 109 110 111

Zum Beispiel b Sanh 92a. Vgl. Strack-Billerbeck I 205. Zahn, 188. Vgl. b Sukka 49b; Strack-Billerbeck a.a.O. Klostermann, 37. So Sand, 102.

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zu dem Herz zurück, das in V. 4 Leid trug, in V. 5 von Sanftmut erfüllt war und in V. 6 nach der Gerechtigkeit hungerte: Glücklich zu preisen sind die, die reines Herzens sind (οἱ καθαροὶ τῇ καρδίᾳ [hoi katharoi tē kardia]). Vorweg sei festgehalten, dass weder die fünfte noch die sechste Seligpreisung eine Parallele bei Lukas haben. Reines Herzens: Damit sind wir erneut bei einem der wichtigen Themen der Psalmen.112 „Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reines Herzens ist“ (καθαρὸς τῇ καρδίᾳ [katharos tē kardia], Ps 24,3f, LXX Ps 23,3f ). Eine Teilnahme am Gottesdienst und an der Gemeinschaft des glaubenden Israel setzt also ein reines Herz voraus. Nicht anders ist es in der Welt der Bußpsalmen. „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“ betet David (Ps 51,12; LXX 50,12: καρδίαν καθαρὰν κτίσον ἐν ἐμοί, ὁ θεός [kardian katharan ktison en emoi, ho theos]). Vgl. Ps 73 (72),1. Aber nun besteht schon im AT völlige Klarheit darüber, dass der Mensch sich selbst kein reines Herz verschaffen kann. „Wie kann ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat?“ (= vor Gott) ist die Frage in Hiob 4,17, und Prov 20,9 sekundiert: „Wer kann sagen: Ich habe mein Herz geläutert und bin rein von meiner Sünde?“ Vgl. Hiob 14,4; 15,14f; 25,4f. Gerade deshalb erfolgt ja die Bitte an Gott, dass Er ein reines Herz schaffen möge (Ps 51,9.12). Und in Ez 36,26 antwortet Gott mit der prophetischen Zusage: ich will euch ein neues Herz (LXX: καρδίαν καινήν [kardian kainēn]) geben. Wie kann dann Jesus Menschen glücklich preisen, die reines Herzens sind? Antwort: Er kann es auf doppelte Weise. Erstens kann er damit die Sehnsucht nach einem reinen Herzen erwecken. Zweitens kann er die Menschen zur Bitte und Bereitschaft erwecken, sich ein solches Herz von Gott schenken zu lassen. Ps 51 wird dann zu ihrer eigenen Bitte. Wann aber hat der Mensch ein reines Herz? Die Teilnahme an Kult und Gottesdienst tut es nicht (Jes 1,10ff; Am 5,21ff ). Vielmehr entsteht ein reines Herz dort, wo einem Menschen die Schuld abgenommen wird (Jos 22,17; Jer 13,27; 33,8; Ez 36,23.25; 37,23; Sach 3,5; Prov 30,12).113 Dabei bezeichnet Herz den „Mittelpunkt des inneren Lebens des Menschen“, nicht zuletzt den 112 Schnackenburg I, 48; Blomberg, 100; Luz I 211. 113 H. Ringgren, Art. ‫ָטַהר‬, ThWAT, III, 1982, 313f. Die vielen Versuche, das „reine Herz“ auf der menschlichen Ebene aufzuweisen, etwa „Aufrichtigkeit“, „Geradheit der Gesinnung“, „Lauterkeit“, „Einfalt“, „ungeteilter Gehorsam ohne Sünde“, Freiheit „von unreinen Dingen“, „single-minded devotion“, „inner moral purity“, „sittliche Reinheit“, enthalten viel Wahrheit, bleiben aber auch unbefriedigend. Am ehesten könnte man von der Erfüllung des Schma Jisrael, des „höchsten Gebotes“ (Mt 22,34ff ) ausgehen (vgl. Maier I, 119; France 110). Noch besser aber geht man vom „gereinigten“, schuldbefreiten Herzen aus. Vgl. 1Kor 1,30; Carson, 134f.

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„Sitz des Willens, die Quelle der Entschlüsse“.114 Fazit: Jesus erweckt mit der sechsten Seligpreisung die Sehnsucht und die Bereitschaft, von Schuld frei zu werden und sich von Gott ein reines Herz schenken zu lassen. Er deutet zugleich an, dass sich jetzt, mit seinem Kommen, Ez 36,26f zu erfüllen beginnt. Deshalb kann er so zuversichtlich sagen: sie werden Gott schauen (αὐτοὶ τὸν θεὸν ὄψονται [autoi ton theon opsontai]). Damit ist erneut ein Thema aufgegriffen, das im Alten Testament ein eigenes Gewicht hat. Zunächst gilt, dass ein sündiger Mensch Gott nicht sehen kann: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (Ex 33,20.23; Joh 1,18; 1Tim 6,16; 1Joh 4,12).115 Aber Israels Sehnsucht bleibt es: „Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab“ (Jes 63,19). Und in der tiefsten Not seiner Seele erwartet es Hiob als gewiss: „Ich werde Gott schauen“ (‫ֶאֱחזֶה‬ [ʾächᵆsäh]), Hiob 19,26f. Entgegen W. Michaelis ist hier doch wohl an ein wirkliches, eschatologisches Sehen Gottes nach dem Tode gedacht.116 Vgl. Jes 35,4. Noch für die alten Rabbinen galt das Schauen Gottes in der Heilszeit als „höchste Seligkeit“.117 Für schauen steht übrigens griech. ὁράω [horaō], ein Verb, das sowohl die normale sinnliche Wahrnehmung als auch die visionäre Schau ausdrückt.118 Der endzeitliche Kontext in den Seligpreisungen legt es nahe, bei Mt 5,8 nicht nur an ein visionäres, sondern an ein tatsächliches, leibhaftiges Sehen Gottes zu denken. Eine solche Auslegung stimmt jedenfalls mit 1Joh 3,2: „wir werden ihn sehen, wie er ist“ (ὀψόμεθα αὐτόν, καθώς ἐστιν [opsometha auton, kathōs estin]), und Offb 22,4 überein. Nach dem soeben Ausgeführten können wir Werner Michaelis nicht zustimmen, wenn er sagt: „Mt 5,8 und die Gewißheit 1J 3,2 haben … keine unmittelbaren Vorläufer im AT.“119 Vorläufer sind vielmehr durchaus da.120 Aber die Hervorhebung des reinen Herzens in seiner Bedeutung für das Gottesreich und die Betonung der Gottesschau als endzeitliches Gottesgeschenk sind doch wieder typisch jesuanisch (vgl. Mt 5,17). Insofern hat Michaelis recht.121 Man wird ihm auch darin zustimmen müssen, dass er in 1Joh 3,2 eine

114 J. Behm im Art. καρδία usw., ThWNT, III, 1938, 614f. 115 Vgl. W. Michaelis, Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, 365f. 116 Ebenso G. Kittel, Art. ἀκούω usw., ThWNT, I, 1933, 218; G.v. Rad im Art. ζάω usw., ThWNT, II, 1935, 850. 117 Strack-Billerbeck I 214, Keener, 105. 118 Bauer-Aland, 1170ff. 119 Michaelis a.a.O., 335. 120 Auch Schnackenburg II, 48: „Aus jüdischer Frömmigkeit“ stammend; Fiedler, 114. 121 Vgl. Michaelis a.a.O., 366-368; Strack-Billerbeck I 214.

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„bewusste“ Anknüpfung an Mt 5,8 erblickt.122 Dasselbe gilt für Jak 4,8; Offb 22,4; Hebr 12,14. Rudolf Schnackenburg weist darauf hin, dass die Seligpreisung in Mt 5,8 „die alte Kirche … tief bewegt“ hat.123 Irenäus hielt an der Realität der Gottesschau im Himmelreich fest,124 Clemens Alexandrinus und Athanasius nahmen darauf Bezug,125 Johannes Chrysostomus konnte sich reine Gebete nur aus reinem Herzen vorstellen126 und für Augustinus war die Gottesschau die Vollendung unseres Heils.127 Noch einmal sei bemerkt, dass Jesus auch in Mt 5,8 nicht über die Köpfe hinweg sprach, sondern mit dem Thema vom reinen Herzen eine starke jüdische Sehnsucht jener Zeit ansprach (vgl. Ps Sal XVI,1ff; 1QS X, 21ff; 4Esr 7,98). Die siebte Seligpreisung ist die am raschesten zu politisierende: Glücklich zu preisen sind die Täter des Friedens, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden (V. 9). Herrscht doch auch unter Konservativen der Konsens, dass wir „für die Versöhnung zu arbeiten“ haben,128 unter Einzelnen und Völkern. In neuerer Zeit wurde Mt 5,9 „ein Wegweiser für die … Friedensbewegung“.129 Hinter dem griech. εἰρηνοποιοί [eirēnopoioi] steckt das hebr. ‫שׁלוֹם‬ ָ ‫שׂה‬ ָ ‫ָע‬ 130 [ʿāśāh schālōm]. Man muss deshalb bei εἰρήνη [eirēnē] (Frieden) die ganze Bandbreite einbeziehen: Friede, ‫שׁלוֹם‬ ָ [schālōm], εἰρήνη [eirēnē], heißt „Unversehrtsein“, „Heilsein“, „Freundschaftsverhältnis“, „Frieden“ – also ein umfassender Begriff. Die Wendung ‫שׁלוֹם‬ ָ ‫שׂה‬ ָ ‫[ ָע‬ʿāśāh schālōm] ist im Hebräischen wohlbekannt. Es ist aber hochinteressant, dass sie in Jes 27,5 (LXX εἰρήνην ποιεῖν [eirēnēn poiein]) bedeutet: „Frieden machen“ mit Gott.131 Wir dürfen diese Dimension bei Mt 5,9 nicht ausklammern. εἰρηνοποιοί [eirēnopoioi] ist mehr als „Friedfertige“, mehr als „die, die Frieden stiften“. Es bedeutet: „die, die Frieden herstellen“.132 Darin liegt ein 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132

Michaelis a.a.O., 367. Schnackenburg I, 48. Vgl. Luz I 212f. Adv. haer. V, 20,4ff. Texte KV III, 387; I, 340. Texte KV II, 418. DCD XX, 21.30. Keener, 105: „work für reconciliation“; Blomberg, 100: „work for shalom“; Schnackenburg I, 48; Zahn, 189f; Tasker, 62. Schnackenburg a.a.O. Vgl. hier und im Folgenden W. Foerster, ThWNT, II, 1935, 417f. Gesenius, 623. Vgl. BDR § 119,1; auch Gaechters Übersetzung „die auf Frieden Bedachten“ (151) bringt den Tatcharakter zu wenig zum Ausdruck.

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aktives Element: die Suche, das „Jagen“ nach Frieden. Gerade so wird es in der apostolischen Lehre verstanden. Am nächsten an Mt 5,9 steht wieder Jakobus in 3,18. Er spricht von denen, „die Frieden machen“ (τοῖς ποιοῦσιν εἰρήνην [tois poiousin eirēnēn], 3,18). Wie so oft hat sich Jakobus auch hier an die Bergpredigt angelehnt.133 Aber auch Röm 12,18; 14,19; 2Tim 2,22; 1Petr 3,11ff; 2Kor 13,11; 1Thess 5,13; Hebr 12,14 sind aus der siebten Seligpreisung in Mt 5,9 herzuleiten.134 In der apostolischen Lehre steht der Friede unter den Gemeindegliedern im Vordergrund. Denn die Gemeinden des apostolischen Zeitalters haben sich so gut auf Streit verstanden wie die heutigen. In Mt 5,9 ist der Horizont aber umfassender. Täter des Friedens heißt: 1) Menschen, die den Frieden mit Gott suchen und finden;135 2) Menschen, die den Frieden in der Gemeinde fördern; 3) Menschen, die den Frieden auch in der gegenwärtigen, argen Welt (Gal 1,4) herzustellen versuchen.136 Michael Green machte zu Mt 5,9 die schöne Bemerkung, Jesus erwarte hier von den Jüngern das Gleiche, was Gott selbst tue.137 In der Tat heißt es von Gott: „Er versöhnte die Welt mit sich selber“ (2Kor 5,19). Das Ergebnis ist Röm 5,1: „wir haben Frieden (εἰρήνην ἔχομεν [eirēnēn echomen]) mit Gott“. Wir sollten Mt 5,9 also nicht einschränken, sondern alle drei oben genannten Dimensionen im Auge behalten. Alttestamentlich stellt Ps 34,15 eine Anknüpfungsstelle dar: „suche Frieden und jage ihm nach“ (LXX 33,15: ζήτησον εἰρήνην καὶ δίωξον αὐτήν [zētēson eirēnēn kai diōxon autēn]). Vgl. Prov 10,10 LXX. Auch hier hat Jesus offenbar die Psalmen zur Grundlage genommen. Aber indem er eine solche Psalmstelle in den Vordergrund schiebt, geschieht wieder etwas typisch Jesuanisches: Jesus wertet den Frieden mit Gott, den Frieden in der Gemeinde (vgl. Mt 18,15ff; Joh 13,34f ) und den Frieden mit der Umwelt so hoch, dass er ihn in die Seligpreisungen aufnimmt. Seine Verheißung lautet: sie werden Söhne Gottes genannt werden (αὐτοὶ υἱοὶ θεοῦ κληθήσονται [autoi hyioi theou klēthēsontai]). Sohn Gottes zu sein kommt im AT einer Reihe von Menschen zu: 1) den Israeliten (Dtn 1,41; Hos 11,1); 2) vor allem dem Messias (Ps 2,7; 2Sam 7,14; Jes 9,5); 3) den Erlösten der Endzeit (Hos 2,1 LXX: κληθήσονται υἱοὶ θεοῦ [klēthēsontai hyioi theou]). Offensichtlich greift Jesus hier die göttliche Verheißung von Hos 2,1

133 134 135 136 137

Maier Jak, 172; Schnackenburg I, 48. Vgl. Gaechter, 152. Jes 27,5; Blomberg, 100. Carson, 135. Green, 91; ähnlich France, 111; Senior, 72; Beare, 133; Schlatter, 52.

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auf.138 Seine Zusage bedeutet in diesem Zusammenhang: Die Betreffenden werden Gottes endzeitliches Volk sein, in nächster Nähe zu ihm, denn er wird unter ihnen wohnen (Ez 34,30f; 36,28; Offb 21,3). Aber schon jetzt wird Gott sie als seine Kinder behüten, bewahren, leiten und segnen (Mt 5,43ff; 6,9.32).139 Klar ist, dass die siebte Seligpreisung (Mt 5,9) eine Stellungnahme gegen den Zelotismus und darüber hinaus gegen alle gewaltsamen Revolutionen und gewaltsamen Fundamentalismen enthält.140 In seiner ganzen Verkündigung hat Jesus den Zelotismus abgelehnt (vgl. Mt 5,43ff; 11,12; 22,15ff; 26,52). Klar ist ferner, dass wir nur insoweit Täter des Friedens sein können, als die Sache an uns liegt.141 Röm 12,18 ist dazu der beste Kommentar: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“ In der achten Seligpreisung (V. 10) erscheint das Thema, das die letzten drei Verse der Seligpreisungen durchziehen wird, die Verfolgung: glücklich zu preisen sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden (οἱ δεδιωγμένοι ἕνεκεν δικαιοσύνης [hoi dediōgmenoi heneken dikaiosynēs]). Mit der Verfolgung berührt Jesus eines der schmerzlichsten Themen der jüdischen Geschichte seit der babylonischen Gefangenschaft, vor allem der letzten 200 Jahre vor Christi Geburt.142 Verfolgt waren die Makkabäer und Chasidim des 2. Jh. v.Chr. (1Makk 1ff; 2Makk 3ff ). Verfolgt waren die Pharisäer am Anfang des 1. Jh. v.Chr. unter Alexander Jannai (103–76 v.Chr.), der einmal achthundert von ihnen ans Kreuz schlagen ließ.143 Verfolgt waren sie auch unter Herodes d.Gr., wie die bewegenden Klagen in den Psalmen Salomos zeigen. Der „Lehrer der Gerechtigkeit“, auf den sich Qumran berief, wurde verfolgt (1QpHab). Ja, viel früher schon, in der Zeit des persischen Königs Xerxes (485–465 v.Chr.), hatte der Großwesir Haman danach getrachtet, alle Juden im Perserreich auszulöschen (Est 3,5ff ). Der Rettung durch das Eingreifen der Königin Ester verdankt Israel bis heute das Purimfest (Est 9,17ff ). In diese Geschichte der Verfolgung jüdischer Frommer reihten sich bald nach Jesu Kreuzigung die schrecklichen Kriege der Römer mit den Juden 66–73 und 130–135 n.Chr. ein. Aber auch wir Christen können uns nur mit Schmerz 138 Schnackenburg I, 48. 139 Wir werden Gottes Kinder durch den Glauben an Jesus (Mt 5,43ff; 6,9; Röm 8,14ff; 1Joh 3,1f ), also in der jetzigen Welt und nicht erst „beim jüngsten Gericht“, wie Schniewind, 47f, vermuten lässt. 140 Keener, 105; Carson, 135; Beare, 134. 141 Keener a.a.O. 142 Für Luz I 214 ist diese Seligpreisung bloß „redaktionell“ und verliert dadurch all ihre Kraft. Ganz anders Schniewind, 49; Schlatter, 52f. 143 Josephus Ant XIII, 380.

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an die jüdische Verfolgungsgeschichte erinnern, weil wir sie seit dem 4. Jh. n.Chr. fortgesetzt haben. Glücklich zu preisen sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden: Mit diesen Worten erinnert Jesus nicht nur an jene schmerzliche Geschichte, sondern nimmt gleichzeitig eine Weichenstellung vor. Denn die Worte um der Gerechtigkeit willen (ἕνεκεν δικαιοσύνης [heneken dikaiosynēs]) betreffen diejenigen nicht, die im Machtkampf der jüdischen Parteien im Staat gelitten haben. Sie betreffen nur diejenigen, die wegen ihrer Gebotserfüllung (δικαιοσύνη [dikaiosynē] = ‫[ ְצָדָקה‬zᵉdāqāh]) verfolgt werden. δικαιοσύνη [dikaiosynē] ist hier wirklich mit Gottlob Schrenk „das mit Gottes Willen übereinstimmende … Verhalten des Menschen“.144 Deshalb kommt Jesus sofort auf die Propheten zu sprechen – und nicht auf die galiläischen oder zelotischen Aufstandsführer. Nun ist allerdings eine weitere Klarstellung nötig. Wie sich aus der Wendung zur 2. Person Plural in V. 11 ergibt, gibt Jesus ein Urteil nicht über die Vergangenheit, sondern über die Gegenwart und Zukunft ab. Verfolgte sind deshalb seine Jünger!145 Denn sie verkündigen diejenige Gerechtigkeit, die aus seinem Erlösungshandeln kommt (Mt 6,33; Röm 1,17; 3,21ff; 1Kor 1,30; 2Kor 3,9; 2Petr 3,13) und leben selbst von dieser Gerechtigkeit (Mt 5,6; Röm 10,6; 1Kor 1,30; 1Tim 6,11). Denn ihrer ist das Reich Gottes: Das ist dieselbe Verheißung wie in V. 3. Zur Erklärung vgl. dort. Was uns noch nach 2000 Jahren fasziniert, ist die Klarheit, mit der Jesus die Verfolgung seiner Gemeinde voraussah, und zwar schon in den allerersten Anfängen seiner Predigt! Erklärbar ist das im Grunde nur, wenn er bei der Taufe in Mt 3,17 selbst den Auftrag zum Sühnetod, zum Sterben also, erhielt. Und erstaunlich bleibt es, dass er es mitten im „galiläischen Frühling“ wagte, davon zu sprechen. Übrigens gehen 2Tim 3,12; 1Petr 3,14; Jak 1,2 auf Mt 5,10 zurück.146 Erst langsam entdecken wir im 21. Jahrhundert, dem Jahrhundert der grausamsten Christenverfolgung, von Neuem die Wahrheit der Worte in Mt 5,10-12. Mit der neunten und letzten Seligpreisung (V. 11f ) erfolgt der Umschlag in die 2. Pers. Plur. Der Umschlag zeigt, dass wir bei Matthäus keinen grundsätz144 Im Art. δίκη usw., ThWNT, II, 1935, 200. Gundrys Definition „right conduct“ (51.70.72 u.ö.) genügt nicht. 145 Fiedler geht an diesem Sachverhalt vorüber, wenn er lediglich von „Menschen, die verfolgt wurden oder werden“ spricht (115). Das Part. Perf. δεδιωγμένοι [dediōgmenoi] sollte nicht als Pass. divinum, sondern in der Art eines Adjektivs verstanden werden, vgl. Carson, 136; Zahn Fn. 190, 36. 146 Vgl. Gaechter, 152.

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lichen Unterschied zwischen Aussagen in der 3. Person Plural und Aussagen in der 2. Person Plural konstruieren dürfen. Matthäus kann mühelos vom einen zum andern übergehen. Die Frage zu stellen, ob die Verse 11-12 redaktionell, also von Matthäus,147 sind oder von Jesus, ist wenig sinnvoll. Denn streng genommen lässt sich weder das eine noch das andere beweisen. Wir bleiben also auf die Auskunft des Matthäus angewiesen, wonach hier Jesus selbst redet. Lk 6,22f kann das nur bestätigen. Glücklich zu preisen seid ihr, wenn sie euch um meinetwillen schmähen und verfolgen und gegen euch alles Böse reden, sofern sie dabei lügen (V. 11): die Verheißung folgt erst in V. 12. Jesus wird hier relativ ausführlich. Nach dem Gesetz des Achtergewichts ist zu vermuten, dass Jesus ein besonderes Interesse daran hat, seine Jünger auf die kommende Verfolgung vorzubereiten. Dasselbe beobachten wir bei Paulus (Apg 14,22). Im atlantisch-christlichen Raum dagegen fiel eine solche Vorbereitung in den letzten hundert Jahren nahezu aus. Seid ihr (ἐστε [este]): Das ist Direktansprache an die Hörenden. Vgl. Lk 6,20ff. Wenn sie euch um meinetwillen schmähen (ὅταν ὀνειδίσωσιν … ἕνεκεν ἐμοῦ [hotan oneidisōsin … heneken emou]): Schmähen (ὀνειδίζειν [oneidizein]) bedeutet ein Anklagen, das Schmach mit sich bringt.148 Darin teilen die Jünger „das Leidensschicksal mit ihrem Meister“.149 Das Subjekt sie ist bewusst unbestimmt gehalten. Die Jünger müssen an allen Orten und zu allen Zeiten damit rechnen. Und verfolgen (καὶ διώξωσιν [kai diōxōsin]): Das ist eine Stufe gefährlicher. Denn das verfolgen schließt schon ein begonnenes Gerichtsverfahren mit ein.150 Nach Albrecht Oepke begegnet διώκειν [diōkein] (verfolgen) vor allem im Psalter als Leiden der Frommen. Und gegen euch alles Böse reden (καὶ εἴπωσιν πᾶν πονηρὸν καθ᾿ ὑμῶν [kai eipōsin pan ponēron kath’ hymōn]): Hier ist der Sinn nicht ohne Weiteres eingrenzbar. Auch Günther Harder definiert nur sehr allgemein: „Gemeint ist das Böse, das die Feinde den Jüngern nachsagen.“151 Vielleicht ist die schädliche Aussage im Prozess gegen die Jünger gemeint (vgl. Mt 10,16ff; 12,34; 26,59ff ). Jesus verdeutlicht seine Seligpreisung an zwei Stellen. Die erste markiert er mit den 147 So Luz I 214f. Nach Gaechter, 152, stammt Mt 5,11 „aus der späteren Lehrtätigkeit Jesu“, ebenso 1Petr 4,14. Wie Luz auch Beare, 136f. 148 Vgl. Joh. Schneider, Art. ὄνειδος usw., ThWNT, V, 1954, 239f. Gaechter a.a.O. dagegen: „beschimpfen“. 149 Schneider a.a.O., 240. 150 Vgl. A. Oepke, Art. διώκω, ThWNT, II, 1935, 232f. Dagegen definiert Gaechter, 152, verfolgen als „gemieden, gehaßt und ungerecht behandelt“. 151 Art. πονηρός usw., ThWNT, VI, 1959, 562.

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Worten um meinetwillen (ἕνεκεν ἐμοῦ [heneken emou]).152 Das ist eine überraschende Aussage. Denn sie steht in Parallele zu ἕνεκεν δικαιοσύνης [heneken dikaiosynēs] (um der Gerechtigkeit willen) in V. 10. Ein Rabbi könnte so nicht reden (vgl. Mt 7,29). Die Aussage um meinetwillen ergibt nur Sinn, wenn es sich um den Messias und Welterlöser handelt. Sie setzt voraus, dass die Jünger wegen ihrer Zugehörigkeit zu Jesus, wegen ihres Christusnamens verfolgt werden. Sollten sie wegen eigener Interessen verfolgt werden, dann gilt diese Seligpreisung nicht. Auch die zweite Markierung schärft das Gewissen der Jünger: „sofern sie dabei lügen (ψευδόμενοι [ pseudomenoi])“.153 Das Böse, von dem die Ankläger reden, darf also nicht wahr sein. Den Kommentar dazu gibt Petrus in 1Petr 4,15f: „Niemand aber unter euch leide als ein Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder als einer, der in ein fremdes Amt greift. Leidet er aber als ein Christ, so schäme er sich nicht, sondern ehre Gott mit diesem Namen.“ Überhaupt hat Mt 5,11 in der frühen Christenheit tiefe Spuren hinterlassen (vgl. Apg 5,41; 1Petr 2,19ff; 3,13ff; 4,12ff; Jak 2,7ff ). Für alle Zeitalter bleibt es eine christliche Herausforderung zu prüfen, ob ich wegen meines eigenen Charakters, meines Eigensinns, meiner eigenen Verfehlungen leide oder wirklich um Christi willen. Weil erfahrungsgemäß bei allen Verfolgungen gegen Christen immer irgendwelche Verstöße, manchmal auch nur angebliche, in den Vordergrund geschoben werden und eine Mischsituation entsteht, ist die Prüfung umso schwieriger. In vielen Fällen werden wir die Sache nur nach Röm 12,19 Gott anheimstellen können. Wie stark Jesus schriftgebunden ist, enthüllt sich auch bei der neunten Seligpreisung. Denn sie ist in enger Parallele zu Jes 51,7 formuliert, wo es heißt: „Fürchtet euch nicht, wenn euch die Leute schmähen (LXX: ὀνειδισμὸν ἀνθρώπων [oneidismon anthrōpōn]), und entsetzt euch nicht, wenn sie euch verhöhnen!“154 Neu aber ist in Mt 5,11 das um meinetwillen = um Jesu willen. Denn jetzt, mit Jesu Kommen, ist die messianische Zeit angebrochen. Halten wir mit Gaechter noch fest, dass „Von blutiger Verfolgung … hier nicht die Rede“ ist.155 Mt 5,11 als „Doppelung zu V. 10“ zu betrachten, gibt es keinen Grund.156 Es handelt sich vielmehr um die aktuelle und pointierte Anwendung der all-

152 Die Varianten sind nur schwach bezeugt. 153 Textkritisch ist ψευδόμενοι [ pseudomenoi] ausreichend bezeugt (Carson, 137). Anders Schniewind, 50. 154 Gundry, 72, weist außerdem auf Ps 15,1 hin. Vgl. France, 111. 155 Gaechter, 153. 156 Gegen Schniewind, 50; Senior, 72.

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gemeinen Seligpreisung in Mt 5,10 auf die damalige Jüngerschaft. Ein solcher Vorgang gehört durchaus zum Repertoire Jesu (vgl. Mt 10,24ff ). Erstaunlicherweise bleibt Jesus auch in Mt 5,12 beim Thema der Verfolgung. Auch Lk 6,22-23 bestätigt, dass er bei diesem Thema verhältnismäßig ausführlich verweilte. Freut euch und jubelt! Denn euer Lohn ist groß im Himmel. Denn genauso haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch gewesen sind: Dies also ist der Lohn der verfolgten Jünger. Schlatter hat ganz recht, wenn er die Frage stellt: „Wird denn nicht Christus … sie beschirmen?“157 So dachte auch der Täufer nach Mt 11,2ff. So wäre es nach den pharisäischen Psalmen Salomonis 17 und 18 zu erwarten gewesen. Aber Jesu Weg verläuft anders. Es ist ein Weg zum Kreuz: Für ihn und seine Anhänger (Mt 10,38f; 16,22ff ). Und gerade für diesen Leidensweg fordert er auf: Freut euch und jubelt (χαίρετε καὶ ἀγαλλιᾶσθε [chairete kai agalliasthe])! Beide Worte, ἀγαλλιάομαι [agalliaomai] und χαίρω [chairō], bezeichnen den eschatologischen Jubel158 (vgl. Offb 19,7). Weil durch Jesu Kreuz die Erlösung geschieht, steht auch der Kreuzesweg seiner Jünger unter einer unausdenkbaren Verheißung. „Durch Leiden zur Herrlichkeit“: Diese neutestamentliche Grundregel wird auch zu einer Auslegungsregel von Mt 5,12. Hier hat Theodor Zahn recht: „Nicht trotz der Anfeindung“ sollen Jesu Jünger „fröhlich sein, … sondern über die Anfechtung“.159 Damit trifft er auch Jak 1,2; Röm 5,3; 1Petr 1,6; 4,12ff; die allesamt Kommentare zur Bergpredigt darstellen.160 Rudolf Bultmann hat dazu einen wertvollen Hinweis gegeben: Diese Freude ist sowohl gegenwärtig als auch zukünftig.161 Der Satz euer Lohn ist groß im Himmel (ὁ μισθὸς ὑμῶν πολὺς ἐν τοῖς οὐρανοῖς [ho misthos hymōn polys en tois ouranois]) ist für Protestanten nicht einfach zu verstehen. Gibt es einen Lohn im Himmel?162 Nach Jesus zweifellos (Mt 5,12.46; 6,1ff.5.16; Offb 11,18; 14,13; 22,12). Dabei kann man nicht an irdische Lohnabrechnungen denken, sondern nur an die überschwänglichen, ewigen Wohltaten Gottes (vgl. Eph 3,20). Jesus spezifiziert den Lohn nicht weiter, sondern spricht nur davon, dass er groß (πολύς [ polys]) sei im Himmel (ἐν τοῖς οὐρανοῖς [en tois ouranois]) = bei Gott. Er übersteigt also unsere menschliche Vorstellungskraft (vgl. Eph 3,20; Gen 15,1). Paulus hat 157 Schlatter, 53. 158 R. Bultmann, Art. ἀγαλλιάομαι usw., ThWNT, I, 19; H. Conzelmann, im Art. χαίρω usw., ThWNT, IX, 1973, 358f. 159 Zahn, 197. 160 Ebenso H. Conzelmann, a.a.O., 359. 161 Bultmann a.a.O., 20. 162 Vgl. Schlatter, 53f.

2. Die Seligpreisungen, 5,3-12

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das sehr schön auf den Nenner gebracht: „Unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17). Für die leidende Gemeinde, gerade im 21. Jh., scheint das Leiden allerdings manchmal zu schwer zu sein. In seiner typisch rationalen Art fügt Jesus hinzu: Denn genauso (οὕτως γάρ [houtōs gar]) haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch gewesen sind. Diese Verfolgung der Propheten ist ein ständiges Standardmerkmal bei Jesus und den frühen Christen (Mt 23,29ff; Apg 7,52; Hebr 11,36ff; Jak 5,10f ). Mit den Worten Denn genauso (οὕτως γάρ [houtōs gar]) stellt Jesus eine Schicksalsgemeinschaft zwischen Israels Propheten und den Jüngern her. Er rückt die Apostel damit auf den Rang der alttestamentlichen Propheten (vgl. Eph 2,20). Zu Leiden und Verfolgung der Propheten vgl. man Mt 2,29ff.37; Apg 7,2ff; Hebr 11,32ff; Jak 5,10f; 1Kön 19,1ff; 2Kön 1,1ff; 1Kön 22,7ff; Jer 19,14ff; 26,20ff; 37,11ff; 43,1ff; Am 7,10ff; Mt 14,6ff. Das Leiden der Jünger bringt sie also in die Gemeinschaft mit den Propheten. Ihr Leiden ist geradezu der Ausweis der Echtheit ihrer Nachfolge. Unausgesprochen dahinter steht: Es bedeutet auch die Gemeinschaft mit dem leidenden Messias, mit der Passion des Erlösers der Welt (vgl. Mt 10,22ff.38; Röm 6,3ff; Phil 3,10; 1Joh 1,6).

IV Zusammenfassung 1. Die Seligpreisungen in der Form nach Matthäus sind eines der literarisch prägenden Dokumente der Menschheitsgeschichte. 2. Sie zeigen zusammen mit der Bergpredigt am profiliertesten die Lehre Jesu in seinen Anfängen. 3. Sie sind historisch glaubwürdig alle auf Jesus zurückzuführen. 4. Ihr Charakter ist der einer weitgespannten Einladung an alle Hörer, in die Nachfolge Jesu zu treten. Sie sind werbende Rede, mit ganzem Herzen zu Gott umzukehren und am Reich Gottes teilzunehmen. 5. Ihre Verheißung ist das Reich Gottes am Ende der Geschichte in seinem weitesten Sinne einschließlich der Verheißung, Gott zu schauen. Dabei geht es nicht um eine „Kompensierung der unbefriedigenden Gegenwart“,163 sondern um die ewige Gemeinschaft mit Gott und den ewigen, seligen Dienst für ihn (vgl. Offb 22,4). Es geht also auch nicht nur um eine Belohnung für die Gerechten (sie ist allerdings mit eingeschlossen164), sondern um das unausdenkbare, alle menschlichen Begriffe sprengende Heil in der neuen Welt Gottes.

163 Gegen Allen, 40. 164 Vgl. Strack-Billerbeck I 205ff.

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6. Dieses Heil ist an Jesus als den Messias und Erlöser gebunden (um meinetwillen). Eine Trennung von Berglehre und Berglehrer ist nicht möglich. Schon darin liegt das Grundstürzende einer neuen Zeit.165 7. Hier kommen auch ganz typische Prioritäten Jesu zum Ausdruck. Das ist vor allem dort der Fall, wo er die geistlich Bedürftigen und Sehnsüchtigen (V. 3 und 6), die Barmherzigen und die Menschen reines Herzens sowie die Verfolgten V. 7.8.10ff unter seine Verheißung stellt. Nicht, als ob es nicht auch da Grundlagen in der Heiligen Schrift gäbe. Aber dass er hier so konzentriert und so betont spricht, das ist doch seine typisch jesuanische Art. 8. Besonders auffallend sind die achte und die neunte Seligpreisung. Sie sind länger als die andern, sie bewahren in ihrer Doppelung das eine Thema von der Verfolgung, sie weisen direkt auf die Christusnachfolge hin und vollziehen den Wechsel von der 3. zur 2. Person Plural. Ohne Weiteres erkennt man hier ein wichtiges Ziel der Seligpreisungen: die Jünger auf dem Kreuzesweg mitzunehmen und sie auf die kommenden Verfolgungen vorzubereiten.166 9. Durchweg beeindrucken die Seligpreisungen durch ihre enge Verbundenheit mit der Heiligen Schrift. Die Psalmen und Jesaja stehen dabei im Vordergrund. Gerade die Psalmenfrömmigkeit, aber auch die prophetischen Schriftlektionen der Synagoge boten für die jüdischen Hörer einen guten Zugang. Umso mehr musste man auf die kommende Schriftauslegung Jesu gespannt sein.

3. Die Aufgabe der Jünger, 5,13-16 I Übersetzung 13 Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz fade wird, womit soll man dann salzen? Es taugt zu nichts mehr, als dass man es hinauswirft und es von den Menschen zertreten wird. 14 Ihr seid das Licht der Welt. Es kann eine Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. 15 Man1 zündet auch nicht eine Lampe an und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter. Und so2 leuchtet sie allen, die im Hause sind. 165 Gegen Beare, 134, der meint: „All these sayings are expressions of simple Jewish piety. There is nothing distinctively Christian about them.“ 166 Ganz anders Beare, 135, der die Dinge auf den Kopf stellt: Matthäus blicke hier auf die bereits in der Vergangenheit liegenden Verfolgungen zurück. 1 Vgl. BDR § 130,5.

3. Die Aufgabe der Jünger, 5,13-16

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16 So soll euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

II Struktur Der Abschnitt Mt 5,13-16 wird dominiert durch das doppelte Ὑμεῖς ἐστε [Hymeis este] (Ihr seid). Es setzt sich ab von der in V. 3-12 vorherrschenden 3. Person Plural, wobei freilich V. 11-12 einen Übergang bedeutet, aber auch von der 1. Person Singular, die in den Versen 17-20 im Vordergrund steht. Dieses doppelte Ὑμεῖς ἐστε [Hymeis este] verklammert gleichzeitig die Verse 13-16 untereinander. In V. 13-16 liegt also ein Doppelspruch vor, genauer noch ein Doppelgleichnis. Das heißt, Salz und Licht sind von vornherein Bildworte. Jesus hat die Doppelgleichnisse geliebt, sodass Joachim Jeremias festhalten konnte, „daß uns in den drei ersten Evangelien eine große Zahl von Doppelgleichnissen bzw. Doppelbildworten begegnet“.3 Die Zusammenstellung von Salz und Licht überrascht allerdings. Paare wie „Licht und Heil“ (Ps 27,1), „Licht und Wahrheit“ (Ps 43,4) oder „Licht und Leben“ (Joh 1,4; 8,12) sind uns vertraut. Dagegen scheint die Zusammenstellung von Licht und Salz auf Jesus zurückzugehen.4 Mt 5,13-16 gibt so etwas wie eine „Bodenhaftung“ zu erkennen. Denn Jesus spricht hier in engem Anschluss an die Lebenswelt der Hörer: Salz, das fade wird, spielt offenbar an auf „Das am Toten Meer gewonnene, mit Gips ua versetzte Salz“, das „leicht einen faden, laugigen Geschmack“ gewann.5 Die Stadt … auf einem Berge erinnert an die Orte des bergigen Galiläa in einer Höhenlage, die weithin sichtbar sind. Lampe, Scheffel, Leuchter sind wohlbekannte Alltagsgeräte. Die kurzen, einprägsamen Sätze von Mt 5,13-16 enthüllen unter anderem einen pädagogischen Aspekt. David Flusser hat diesen Aspekt mit den Worten festgehalten: „Die Literaturgattung des Doppelgleichnisses trägt in sich das Vermögen, eine Lehre mit Hilfe von zwei parallelen, kurzen Gleichnissen mit verschiedener Thematik zu wiederholen und so die Verkündigung einprägsam und dringlich zu gestalten.“ Er spricht geradezu von einer „Methode“ Jesu.6 Auch an dieser Stelle erweist es sich demnach als richtig, die Bergpredigt als Lehre Jesu zu verstehen. 2 3 4 5

Vgl. BDR § 442,2. Jeremias Gleichnisse, 89. Ebenso Flusser, 204f. Flusser a.a.O. F. Hauck, Art. ἅλας, ThWNT, I, 1933, 229. Auch der Spott R. Josuas b Chananja in b Bek 8b ändert daran nichts. 6 Flusser, 205.

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III Einzelexegese Ihr seid das Salz der Erde (V. 13): Da vorher die Jünger in eine Reihe mit den Propheten gestellt wurden (V. 12), wäre ein unmittelbarer Anschluss der Salz- und Licht-Worte an 5,3-12 durchaus denkbar.7 Es kann aber auch sein, dass mit V. 13 ein völliger Neueinsatz erfolgt, der eben einen neuen Teil der Berglehre, unabhängig von V. 3-12, eröffnet. Ihr [betontes ὑμεῖς [hymeis]: gerade ihr] kann nur die Jünger von V. 1 meinen. τῆς γῆς [tēs gēs] ließe sich auch übersetzen: „des Landes“ = des Israellandes. Aber die Parallele mit κόσμος [kosmos] in V. 14 und der weite Ansatz in den Seligpreisungen legen die Übersetzung Erde nahe.8 Doch inwiefern sind die Jünger Salz? Sind sie ein Gott wohlgefälliges Opfer, das der Menschheit Gottes Gnade und Gunst bringt? Mk 9,49 sowie die gottesdienstlichen Vorschriften in Ex 30,35; Lev 2,13 könnten dafürsprechen. Oder sind sie ein Symbol für die Dauer,9 das sozusagen den Bestand der Erde für eine längere Frist ermöglicht? Dass Abrahams Fürbitte sogar für Sodom und Gomorra akzeptiert wurde (Gen 18,16ff ), rückt auch eine solche Deutung in den Bereich des Möglichen. Oder stiften die Jünger eine feste Verbindung Gottes mit seiner Erde, erkennbar zum Beispiel in einer Fortsetzung des Noahbundes (Gen 9; Apg 15,21)? Immerhin stellt Friedrich Hauck fest: das „Genießen … von Salz … stiftet festeste Bündnisse: Num 18,19; 2Chron 13,5.“10 Für Mt 5,13 schlug Hauck jedoch eine vierte Deutung vor: Das Salz bedeute hier „den besonderen Wert, der den Jünger innerlich auszeichnet und dessen Verlust ihn alles Wertes berauben würde“.11 Aber wollte Jesus in Mt 5,13 wirklich vom Wert der Jünger sprechen und nicht vielmehr von ihrem Auftrag? Jedenfalls meint Erde in Mt 5,13 als Parallele zu Kosmos V. 14 und ähnlich wie in Offb 13,3 die Menschheit.12 Für diese Menschheit wirken die Jünger mit ihren „guten Werken“ (V. 16). Folglich stehen die Schmackhaftigkeit des Salzes und die Gewährleistung der Dauer im Vordergrund.13 Im Kontext des Evangeliums ist es wohl in erster Linie die Nächstenliebe (vgl. Mt 22,34ff ), die die Jünger und ihre Gemeinde für ihre Mitwelt „schmackhaft“ und anziehend macht. Anderen Menschen eine „Dauer“ zu vermitteln, geschieht dann durch ihre Botschaft, die ewiges Leben ermöglicht, und ihre 7 8 9 10 11 12 13

Vgl. Luz I 219.221. Vgl. H. Sasse, Art. γῆ usw., ThWNT, I, 1933, 676f. Vgl. Hauck a.a.O. Hauck a.a.O. Hauck a.a.O. Auf den „Wert“ hebt auch Sand, 105, ab. Ebenso Sasse a.a.O., 677; Zahn, 198. Anders Fiedler, 119: Land Israel. Grundsätzlich ebenso Zahn, 199f.

3. Die Aufgabe der Jünger, 5,13-16

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Fürbitte, die noch einmal Gnadenzeit schaffen kann (vgl. Röm 2,4; 2Petr 3,9ff ). Bei alledem braucht der Opfergedanke nicht ausgeschlossen zu werden. Denn Nächstenliebe, missionarische Verkündigung und Fürbitte setzen eine hohe Opferbereitschaft voraus (vgl. Mt 5,38ff; 9,13; 10,9ff.16ff.38f; 16,24ff ). Wenn aber das Salz fade wird, womit soll man dann salzen?14 Oben unter II. wurde schon auf die Salzgewinnung am Toten Meer hingewiesen, bei der Beimischungen anderer Stoffe auftreten konnten. Dann taugt es in der Tat zu nichts mehr, als dass man es hinauswirft und es von den Menschen zertreten wird. Hinauswerfen (βάλλειν ἔξω [ballein exo]) und zertreten (καταπατεῖν [katapatein]) sind typische Gerichtstermini.15 Die Hörer der Bergpredigt werden also in eine ernste Verantwortung gestellt.16 Salz der Erde zu sein ist eine wunderbare Aufgabe. Sind sie dafür aber nicht mehr zu gebrauchen – fade geworden –, dann wird sie Gott aus seiner Gemeinde und letzten Endes aus seinem Reich entfernen (vgl. das ἔξω [exo] Offb 22,15). Von den Menschen zertreten hat vermutlich eine besondere Nuance. Es sind ja a) dieselben Menschen (Erde!), denen der Jünger als Salz dienen sollte, und b) kann es besonders schlimm sein, von den Menschen gestraft zu werden. David jedenfalls wollte lieber in die Hand des Herrn, „aber … nicht in Menschenhände fallen“ (1Chron 21,13). Die Möglichkeit besteht, dass Jesus in Mt 5,13 eine profane Lebensweisheit vom „salzlosen Salz“ aufgegriffen hat.17 Doch bleibt dies eine bloße Vermutung. Viel wichtiger ist der Hinweis von R.V.G. Tasker, dass das Bildwort vom Salz eine fundamentale Differenz von Salz und Gesalzenem voraussetzt: „Its power lies precisely in this difference.“18 Wenn die Jünger sich an die Welt angleichen, geht ihre Salzkraft verloren (vgl. Röm 12,1-2). Die Aufgabe der Jünger wird zweitens mit dem Maschal (Bildwort) vom Licht zum Ausdruck gebracht: Ihr seid das Licht der Welt (V. 14). Die beiden Sätze „Ihr seid das Salz der Erde“ und „Ihr seid das Licht der Welt“ sind streng parallel aufgebaut. Welt, κόσμος [kosmos], ist wie die „Erde“ von V. 13 14 Zur Übersetzung vgl. Jeremias Gleichnisse, 168. Zahn, 202, sieht jedoch im Salz selbst das Subjekt zu ἁλισθήσεται [halisthēsetai]. 15 Vgl. F. Hauck, Art. βάλλω usw., ThWNT, II, 1933, 525, sowie Mt 7,6; Lk 8,5; Mt 8,12; 22,13; 25,30. 16 Der Begriff „Gerichtsdrohung“ (Luz I 219) ist zu einseitig. Jeremias Gleichnisse, 168, lässt Mt 5,13 als „Drohwort“ an „Israel“ gerichtet sein, was aber dem Kontext von Mt 5 widerspricht. 17 So Bultmann Gesch, 102.107. 18 Tasker, 93. Ebenso Carson, 139.

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die Menschenwelt.19 Die Größe des Titels Licht überrascht. Licht der Welt ist ja zunächst der Messias selbst (Joh 8,12; Jes 8,23f; 42,6; 49,6; 60,1f; Mt 4,16).20 In Qumran heißen die Angehörigen der Gemeinschaft „Söhne des Lichts“, aber nicht „Licht der Welt“ (1QS I, 9; II, 16; III, 13ff ).21 Jesus zeichnet die Jünger also mit einer erstrangigen Würde aus, die man nur so erklären kann, dass er sie in sein messianisches Wirken einbezieht (vgl. Mt 10,7ff.40; Lk 10,16; Joh 15,18ff ). Jesus verdeutlicht sofort mit zwei weiteren Bildworten, wie seine Aussage zu verstehen ist. Das erste dieser Bildworte gehört noch zu V. 14: Es kann eine Stadt, die auf22 einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Eine Stadt, die auf einem Berge liegt, ist im Israelland keineswegs selten. Jerusalem, Sepphoris (Zippori), Safed, auch Nazareth sind dafür Beispiele.23 Die betreffende Stadt macht man am Tage leicht aus durch ihre Silhouette, aber auch in der Dämmerung durch ihre Lichter. Verstecken, „vor dem Gesehenwerden schützen“,24 kann man sie nicht. Vielleicht benutzt hier Jesus wieder ein profanes Sprichwort.25 Was will er damit sagen? Offensichtlich doch dies: Wenn die Jünger ihrem Auftrag treu bleiben, wirklich Licht der Welt sind, dann kann man sie gar nicht übersehen. Dann haben sie eine Ausstrahlung, die bis in die letzten Winkel der Welt dringt.26 Und dies wird in einem galiläischen „Winkel“ gesagt, um dann tatsächlich bis nach Rom und durch alle fünf Kontinente hindurch seine Wahrheit zu beweisen! Die apostolische Paränese hat in Eph 5,8f; Phil 2,15 unser Bildwort aufgenommen. Eine auffallende Auslegung findet sich in der Pastoralregel von Gregor dem Großen: Wer Tugenden empfangen hat und sich weigert, ein Hirtenamt zu übernehmen, verstößt gegen Mt 5,14f.27 Das zweite verdeutlichende Bildwort ist das von der Lampe in V. 15: Man zündet auch nicht eine Lampe an und stellt sie unter den Scheffel. Lampe, λύχνος [lychnos], hebr. ‫[ נֵר‬ner],28 bezeichnet in der Regel ein Tongefäß, in das 19 H. Sasse, Art. κοσμέω usw., ThWNT, III, 1938, 890. 20 So auch im rabbinischen Schrifttum, vgl. H. Conzelmann, Art. φῶς usw., ThWNT, IX, 1973, 319. 21 Vgl. Conzelmann a.a.O., 317f. 22 Zu ἐπάνω [epanō] vgl. BDR § 215,3. 23 Vgl. W. Foerster, Art. ὄρος, ThWNT, V, 1954, 483. 24 Bauer-Aland, 922. 25 Möglicherweise lehnt er sich auch an die Gottesstadt in Jes 2,2ff an. So Jeremias Gleichnisse, 215, nach G.v. Rad. 26 Ebenso A. Oepke, Art. κρύπτω usw., ThWNT, III, 1938, 975; Flusser, 256. 27 Texte KV IV, 225. 28 D. Kellermann, Art. ‫נֵר‬, ThWAT, V, 1986, 626; W. Michaelis, Art. λύχνος usw., ThWNT, IV, 1942, 326.

3. Die Aufgabe der Jünger, 5,13-16

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Öl eingegossen, über einen Docht angezündet und zur Beleuchtung gebraucht wurde. Kurz: Es ist die allbekannte Öllampe, die man immer noch in ungezählten Exemplaren findet. Sie besaß zwei Öffnungen, eine für den Docht und eine fürs Nachfüllen des Öls. Wie Dieter Kellermann bemerkt, hat man zur Zeit Jesu „die geschlossenen Lampen mit Hilfe von Modeln, z.T. reich verziert, hergestellt“. Zur „Ausstattung eines Gästezimmers“ gehörte schon zur Zeit Elisas „neben Bett, Tisch und Stuhl ein Leuchter, auf dem man eine Lampe befestigen konnte (2Kön 4,10)“.29 Jesus griff also mitten ins Alltagsleben hinein, um das, was ihn bewegte, zum Ausdruck zu bringen. Der Scheffel, ὁ μόδιος [ho modios], ist eigentlich ein Hohlmaß, mit dem man Getreidemengen abmaß. Es umfasste 16 sextarii nach römischer Einteilung, das sind ca. 8,75 Liter nach heutiger Rechnung.30 Der Name Scheffel wurde dann auf das Gefäß übertragen, mit dem man das Getreide abmessen konnte. So ist auch hier in Mt 5,15 das Gefäß gemeint. Aber gibt es das überhaupt, dass man eine Lampe unter ein Gefäß setzt? In Ausnahmefällen kann es durchaus der Fall sein, wie Ri 7,16f.20; Josephus Ant V, 223; b Schab 30a u.a. lehren.31 Jesus konstruiert also keinen abstrusen Vorgang, sondern bleibt in der Erfahrungswelt der Hörer. Aber normal gehört die Lampe eben nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter. Ein Leuchter, λυχνία [lychnia], hebr. ‫[ ְמנוָֹרה‬mᵉnōrāh]32, wurde aus Metall, Keramik oder Holz gefertigt33 und diente als Ständer für die Lampe. Auf diese Weise wurde die Leuchtkraft einer Lampe optimal ausgenutzt.34 Und so leuchtet sie allen, die im Hause sind: Genau dies ist der Zweck von Lampe und Leuchter. Man vgl. wieder die Prophetenstube von Elisa nach 2Kön 4,10. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Begriffe Licht, Lampe und Leuchter in der alttestamentlichen und jüdischen Tradition alle auch eine geistlich-symbolische Bedeutung haben. Man denke an 2Sam 21,17; 22,29; Hiob 18,5f; 21,17; 29,3; Ps 18,29; 119,5; 132,17; Prov 6,23;

29 Kellermann a.a.O., 622. 30 Jeremias Gleichnisse, 120. Nach BDR § 5,5 ist μόδιος [modios] ein Latinismus (= modius). 31 Michaelis a.a.O., 327; Jeremias Gleichnisse, 120. 32 Vgl. Kellermann a.a.O., 617; Michaelis a.a.O., 326; C. Meyers, Art. ‫ְמנוָֹרה‬, ThWAT, IV, 1984, 981ff. 33 Meyers a.a.O., 982. 34 Vgl. auch A.R. Millard, Art. Lampe, Leuchter, GBL, 2, 863ff.

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20,27.35 Insofern fordern schon die Bildworte an sich das existenzielle und geistliche Engagement der Jüngerschaft heraus.36 Evtl. ist bei Haus (οἰκία [oikia]) an ein Haus mit einem einzigen Raum gedacht, „überhaupt an einfache Verhältnisse“.37 Da in Mk 4,21; Lk 8,16 und Lk 11,33 das Bildwort von der Lampe und vom Leuchter in anderen Zusammenhängen auftaucht, stellt sich die Frage nach dem ursprünglichen historischen Ort und dem ursprünglichen Sinn.38 Grundlegend ist die Einsicht, dass Bildworte dieser Art durchaus geeignet waren, mehrfach gebraucht zu werden. Sie konnten auch je nach Situation und Bedürfnis einmal mit diesem und einmal mit jenem anderen Bildwort kombiniert werden. Mit Recht bemerkte David Flusser: „Es zeugt von ästhetischer Taubheit, wenn man alle diese unzertrennlichen Doppelgleichnisse als erst nachträgliche Redaktions- bzw. Konstruktionsarbeit abqualifiziert.“39 In knappen Worten fasst Jesus in V. 16 das Resümee der Worte Mt 5,14-15 zusammen: So soll euer Licht (τὸ φῶς ὑμῶν [to phōs hymōn]) leuchten vor den Leuten (ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων [emprosthen tōn anthrōpōn]), dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. So (οὕτως [houtōs]) drückt die „Nutzanwendung“ aus.40 Dass jetzt von eurem Licht die Rede ist, sollte uns nicht wundern. Denn die Jünger sind das Licht der Welt gerade dadurch, dass sie ihr Licht leuchten lassen. Und zwar in aller Öffentlichkeit. Salz schmeckt man, Licht sieht man. Flusser hat also recht, wenn er bei Mt 5,13-16 eine „antiesoterische Einstellung Jesu“ feststellt.41 Von allem Anfang an lehnten die Christen jede Geheimlehre ab (vgl. Mt 10,26ff ). Was Jesus zu sagen hatte, sagte er „frei und offen vor aller Welt“: „Ich habe allezeit gelehrt in der Synagoge und im Tempel, … und habe nichts im Verborgenen geredet“ (Joh 18,20). Wer mit einer Geheimlehre kommt, erregt deshalb bei den Christen Verdacht. Aber Mt 5,16 geht noch weit über die Thematik der Esoterik hinaus. Mt 5,16 sagt nämlich, dass die Christen ihr Christsein und ihren Missionsauftrag nicht einmal im Falle der Verfolgung verbergen sollen. Wohl kann man ihnen die öffentliche Organisation verbieten, aber nicht die guten Werke und nicht die Rechenschaft des Glaubens (1Petr 3,15) und auch nicht das persönliche 35 36 37 38 39 40 41

Michaelis a.a.O.; A.R. Millard und R.E. Nixon, GBL, 2, 865f; Kellermann a.a.O., 623f. Michaelis a.a.O., 327. Michaelis a.a.O.; Jeremias a.a.O. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 90f.120f. Flusser, 205. Bauer-Aland, 1209. Flusser, 257.

3. Die Aufgabe der Jünger, 5,13-16

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Zeugnis und die missionarische Verkündigung (vgl. Apg 4,20; 5,29 neben Mt 10,26-39). Der Zusammenhang des 16. Verses erlaubt uns nicht, bei diesen Beobachtungen stehen zu bleiben. „The world will see them“42 bedeutet vielmehr zugleich, dass die Welt durch die Existenz der Jünger das Evangelium erkennt, ja sogar Jesus selbst kennenlernt. Im Leuchten des Lichts vor den Leuten liegt also auch eine missionarische Dimension.43 Gerade diese missionarische Dimension wird jetzt am Ende von V. 16 präzisiert. Zunächst: Erde (V. 13), Welt (V. 14) und die Leute (ἄνθρωποι [anthrōpoi], V. 16) bezeugen in der Tat den universalen Horizont der Jesusworte. Davies-Allison haben recht: „The universal mission (28.19) is presupposed.“44 Sodann sollen die Menschen eure guten Werke sehen. Erstaunlich, dass Jesus an dieser Stelle nicht sagt: „eure gute Verkündigung hören“, wobei die Verkündigung freilich in die guten Werke eingeschlossen ist. Jedenfalls aber greifen die guten Werke weiter als die Verkündigung, sie bringen das gesamte Verhalten zum Ausdruck. Wir sind hier bei den „maʿasim tobim“ der Rabbinen45 und der Propheten (Jes 1,17; 29,15; Am 5,4ff; Mi 6,9ff ). Man darf hier die spätere, ganz anders gelagerte protestantische Debatte um „Werkgerechtigkeit“ und „Verdienst“ nicht eintragen. Es geht vielmehr um dasjenige Verhalten, das mit dem Willen Gottes übereinstimmt. In diesem Sinn sind unsre guten Werke ein Anliegen des gesamten Neuen Testaments (vgl. Röm 2,10; 12,9ff; Gal 6,9; Phil 2,15; 2Thess 3,13; 2Tim 3,17; Tit 2,14; 1Petr 2,12; 3,11). Aus dem Sehen der guten Werke der Jünger resultiert dann der Lobpreis Gottes: dass sie euren Vater im Himmel preisen. Das Ziel aller Dinge ist bei Jesus also die Doxologie,46 so wie die Doxologie später bei Paulus und bei der Johannesoffenbarung das Ziel der Geschichte ist (Röm 11,33ff; Offb 19,1ff; 22,4). Jesus hat hier die Theologie der Apostel geprägt. Man kann zum Beispiel mit Fug und Recht vermuten, dass 1Petr 2,12 auf Mt 5,16 zurückgeht.47 Albrecht Oepke hat den missionarischen Zusammenhang sehr gut herausgearbeitet: „Die Jünger Jesu sollen das durch ihn vom himmlischen Vater empfangene Licht in die Welt hinausleuchten lassen, um Gott zu verherrlichen.“48 42 43 44 45 46 47 48

Davies-Allison, 478. Vgl. Wilckens I/4, 66. A.a.O. Davies-Allison, 478f. Davies-Allison a.a.O. Davies-Allison a.a.O. Im Art. λάμπω usw., ThWNT, IV, 1942, 26.

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Erstmals spricht Jesus hier im Matthäusevangelium vom Vater im Himmel (πατὴρ ἐν τοῖς οὐρανοῖς [ patēr en tois ouranois]). Genauer gesagt: Er nennt ihn euer Vater (ὁ πατὴρ ὑμῶν [ho patēr hymōn]) und erklärt damit seine wahren Jünger zu Kindern Gottes. Gottlob Schrenk hat in dem reichhaltigen πατήρ-Artikel des ThWNT49 herausgearbeitet, wie die Redewendung „Vater in den Himmeln“ Gott als den „schlechthin Überlegenen, souverän Waltenden“ und gleichzeitig als den Nahen zum Ausdruck bringt.50 Sowohl Gottfried Quell als auch Gottlob Schrenk weisen in diesem Artikel darauf hin, dass der Vater in den Himmeln, ‫שַּׁמי ִם‬ ָ ‫[ ָאב ֶשׁ ַבּ‬ʾāb schäbbaschschāmajīm], häufig bei den Rabbinen zu finden ist, auffallenderweise aber nicht in der Apokalyptik und in den Pseudepigraphen.51 Für alttestamentliche und frühjüdische Belege, in denen Gott als Vater bezeichnet wird, vgl. 2Sam 7,14f; Dtn 14,1; Jes 1,2; 63,16; 64,7; Jer 3,19; Hos 2,1; 11,1; Sir 23,1; 51,10 (14). Man kann also die Redewendung und euren Vater im Himmel preisen aus der alttestamentlichbiblischen und aus der jüdisch-synagogalen Tradition bestens verstehen. Interessant ist, dass diese Dimension im Koran fehlt. Die Eröffnungssure nennt zwar eine ganze Anzahl von Namen Allahs, aber der Vater-Name fehlt sowohl hier als auch später. Interessant ist weiter, dass der Talmud in b Schab 116b aus Mt 5,16 zitiert.52 Mt 5,16 weist keine synoptische Parallele auf.53 Dennoch sollte man den Vers nicht vorschnell für „redaktionell“ erklären.54 Es kann jedenfalls nicht widerlegt werden, dass er von Jesus stammt.55 Vgl. insbesondere Joh 15,8.

IV Zusammenfassung 1. In Mt 5,13-16 beschreibt Jesus den Auftrag der Jüngerschaft. 2. Es hat seinen tiefen Sinn, wenn bei Matthäus die Worte über den Auftrag den Worten über die Seligpreisungen folgen. Denn sie lassen genauso wie die Seligpreisungen die Herrlichkeit der Jüngerschaft erkennen. Der theologische Indikativ steht sozusagen auch in der Bergpredigt dem theologischen Imperativ („Du sollst“) voran. 3. Auftrag der Jünger ist es, „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ zu sein. Sie sollen wirken, und sie sollen die Menschen zur Erkenntnis Gottes und 49 50 51 52 53 54 55

ThWNT, V, 1954, 946ff. G. Schrenk a.a.O. 986. Quell a.a.O., 970ff; Schrenk a.a.O., 979. Davies-Allison, 478. Davies-Allison a.a.O. Gegen Davies-Allison a.a.O. Vgl. Luz I 220.

3. Die Aufgabe der Jünger, 5,13-16

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seiner Erlösung führen. Mit Recht sieht man darin denselben „Universalismus“ wie im Missionsbefehl Mt 28,18-20.56 4. Welche Würde den Jüngern hier beigelegt wird, sieht man daran, dass „Licht der Welt“ zu sein der Auftrag des Messias ist (Jes 42,6; 49,6; Mt 4,16; Joh 8,12). Jesus gibt also den Jüngern Anteil an seinem eigenen Auftrag. Hinter dem unbestimmten Man zündet an steht letztlich Gott selbst. Er, Gott, entzündet also die Jünger, damit sie ihrem Auftrag gerecht werden können. 5. Gleichzeitig darf man nicht übersehen, welch ungeheures Risiko darin liegt, dass die Jünger auf diese Weise in die Öffentlichkeit der Welt gesandt werden. Sie können dieses Risiko, das sich z.B. in den Verfolgungen dokumentiert, nur im Vertrauen auf sich nehmen. An dieser Stelle sei aus dem Matthäuskommentar des Johannes Chrysostomus zitiert: „Ich sage nicht: Verlasse die Stadt und gib alle gesellschaftlichen Verbindungen auf! Nein, bleibe darin und übe die Tugend da! Ich möchte lieber, dass jene in Tugend erglänzen, die mitten in den Städten wohnen, als jene, die sich in die Berge zurückgezogen haben. Warum? Weil daraus ein gewaltiger Nutzen entstünde. Denn niemand zündet ein Licht an und stellt es unter den Scheffel.“57 6. Der synoptische Vergleich zeigt, dass eine genauere Parallele zu Mt 5,1316 in der lukanischen „Feldpredigt“ fehlt. Dafür tauchen ähnliche Worte in Mk 4,21; 9,49f; Lk 8,16; 11,33; 14,34f und Joh 8,12 auf. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass Jesus als Lehrer die dafür hervorragend geeigneten Bildworte mehrfach und mit unterschiedlichen Akzentuierungen einsetzte.58 7. Die Historizität der Jesusüberlieferung in Mt 5,13-16 ist – wie nicht anders zu erwarten – mehrfach angefochten worden. Bultmann rechnete in seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“ in V. 13 und 14 mit „Bildungen des Mt“ und betrachtete V. 16 als „seine [= des Mt] Schlußbildung“.59 Beare bemerkte zu Mt 5,13-16: „The words … can hardly be taken as a record of words spoken by Jesus of Nazareth.“60 Die genannten Urteile beruhen jedoch so stark auf subjektiven Erwägungen, dass Ulrich Luz davon Abstand nahm und eine andere Einschätzung bevorzugte: „M.E. spricht nichts dagegen, daß“ die Logien vom Salz und vom Licht „beide auf Jesus zurückge-

56 57 58 59 60

Davies-Allison, 478f; Beare, 137; vgl. Carson, 140. Nach Texte KV III, 43f. „Alltagsweisheiten“ sind es allerdings nicht, gegen Fiedler, 120. Bultmann Gesch, 100. Beare, 136.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

hen“.61 Im Kommentar haben wir an keiner Stelle ernsthaft Anlass gehabt, an der Herkunft dieser Worte von Jesus zu zweifeln.

4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20 Vorbemerkung: Mt 5,17-20 wird in der modernen protestantischen Auslegung besonders kritisch betrachtet. Für Rudolf Bultmann und seine Schule war Mt 5,17-20 eindeutig „ein Gemeindeprodukt“,1 hervorgegangen aus den „Gesetzesdebatten der Urgemeinde“,2 worin „die Stellung der konservativen palästinensischen Gemeinde im Gegensatz zu der der hellenistischen“ vertreten wurde.3 Selbst konservative Forscher wie Peter Stuhlmacher4 sahen in Mt 5,17-20 eine „den Antithesen … nachträglich vorangestellte Sprachgruppe … aus judenchristlicher Perspektive“. Unter den gegenwärtigen Kommentaren erklärt Ulrich Luz klipp und klar zu Mt 5,17: „Es ist verwegen, diesen Spruch auf Jesus zurückzuführen und zum Angelpunkt einer Deutung von Jesu Gesetzesverständnis zu machen.“5 Aber ist der Versuch, diese Verse Jesus absprechen zu wollen, nicht noch verwegener?

I Übersetzung 17 Glaubt nicht, dass ich gekommen bin, um6 das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen. 18 Denn amen, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder Häkchen vom Gesetz vergehen,7 bis alles geschieht. 19 Wer nun ein einziges dieser geringsten Gebote auflöst und dementsprechend die Menschen lehrt, wird im Reich Gottes der Geringste genannt werden. Wer es aber tut und lehrt, der wird im Reich Gottes groß genannt werden. 20 Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei Weitem übertrifft, werdet ihr nicht in das Reich Gottes hineinkommen. 61 Luz I 220. Vgl. das Zitat bei Justinus Martyr Apol I, 16,1f; in b Schab 116b sowie Riesner, 457ff. 1 Bultmann Gesch, 157. 2 Bultmann Gesch, 176. 3 Bultmann Gesch, 147. 4 In: Vom Verstehen des Neuen Testaments, NTD, Ergänzungsreihe, 6, 1979, 57f. Vgl. Stuhlmacher II, 160. 5 Luz I 229. Ähnlich Senior, 73. 6 Nach BDR § 390,1 ist der Infinitiv hier „gleichwertig einem Finalsatz“. 7 Zur Übersetzung vgl. BDR § 247,5; Jeremias Gleichnisse, 198.

4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20

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II Struktur Zweifellos bilden die Verse 17-19 eine Einheit. Darüber ist man sich in der Literatur auch weitgehend einig.8 Schwieriger ist V. 20 zu beurteilen. Während die ältere Literatur des vergangenen Jahrhunderts dazu neigt, V. 20 von 17-19 zu trennen,9 sieht man jetzt wieder stärker die Argumente, die für die Einheitlichkeit sprechen: die Dreifach-Erwähnung der βασιλείᾳ τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn] in V. 19 und 20, die Konkretisierung des διδάσκειν [didaskein] in V. 19 durch die „Schriftgelehrten und Pharisäer“ in V. 20 und der innere Zusammenhang der δικαιοσύνη [dikaiosynē] von V. 20 mit dem πληρῶσαι [ plērōsai] von V. 17. Für Matthäus stellte demnach der Abschnitt V. 17-20 eine Einheit dar. Über die Historizität ist damit allerdings noch nicht entschieden. Unser Abschnitt ist gegen das Vorausgehende klar abgesetzt durch Μὴ νομίσητε [Mē nomisēte]. Ebenso klar ist er vom Folgenden geschieden durch das wiederholte Ἠκούσατε [Ēkousate] in V. 21ff. Durchweg wird die 2. Person Plur. gebraucht: νομίσητε [nomisēte] V. 17 – ὑμῖν [hymin] V. 18 – ὑμῖν [hymin], ὑμῶν [hymōn], εἰσέλθητε [eiselthēte] V. 20. Das stimmt mit der Ausgangssituation in V. 1f und mit dem Duktus des ganzen Kapitels bestens überein.

III Einzelexegese Glaubt nicht (Μὴ νομίσητε [Mē nomisēte]) in V. 17 setzt offenbar voraus, dass an Jesu Schrifttreue Zweifel angemeldet werden.10 Woher diese stammen, ist schwer zu sagen. Geht Jesus nur von evtl. gedachten Zweifeln aus, die sich im Bewusstsein der Menschen langsam zu formulieren beginnen (vgl. Joh 2,24f )?11 Sind schon in relativ früher Zeit solche Zweifel an Jesus geäußert worden, der ja nicht in einer rabbinischen Überlieferungskette stand (vgl. Mk 2,18ff.23ff; Joh 3,22ff )?12 Oder will Jesus nicht doch nur von vornherein falschen Einschätzungen vorbeugen? Wir können es nicht mehr sagen. Nur so viel ist klar: Ein Messias konnte in Israel nicht auftreten, ohne seine Stellung zu Gesetz und Propheten abzuklären. Das war schon im Blick auf Dtn 13,2ff notwendig. Deshalb ist es ein grobes Missverständnis, wenn man Mt 5,17ff in die Zeit der urchristlichen Gemeindedebatten herabdatieren will.13 8 Vgl. Bultmann Gesch, 146f; Luz I 228ff; Davies-Allison, 481. 9 Bultmann a.a.O., 147.161. 10 Angeredet sind selbstverständlich die Jünger und nicht die spätere Gemeinde. Gegen Luz I 232. 11 BDR § 336,4 meint, die falsche Meinung könne noch gar nicht gefasst sein. 12 So Wilckens I/4, 63. 13 So Bultmann Gesch, 146f.176.

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… dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen: Auch die „Ich bin gekommen“-Worte standen häufig unter dem Verdacht, sekundäre Gemeindebildungen zu sein. Man betrachtete sie als Reflexion über die in der Vergangenheit liegende Tätigkeit Jesu.14 Aber diese ἦλθον-Worte [ēlthon] reflektieren nicht die Vergangenheit, sondern deuten die Zukunft vom Standpunkt dessen, der sich von Gott berufen weiß (vgl. Mt 10,34). Deshalb akzeptiert auch die jüngere historisch-kritische Exegese die Möglichkeit, dass die „Ich bin gekommen“-Worte sehr wohl auf Jesus selbst zurückgehen können.15 Johannes Schneider spricht hier von der „Sendungsgewißheit Jesu“.16 Was also ist sein Auftrag? Er macht ihn fest an Gesetz und Propheten17 (ὁ νόμος καὶ οἱ προφῆται [ho nomos kai hoi prophētai], hebr. ‫ַהתּוָֹרה וְַהנְִּביִאים‬ [hattōrāh wᵉhannᵉbīʾīm]). Sie bezeichnen die ganze heilige Schrift Israels (vgl. Mt 7,12; 11,13; 22,40; Lk 16,16; 24,44).18 Nicht, um das Gesetz oder die Propheten [= die heilige Schrift] aufzulösen, ist er gekommen, sondern um zu erfüllen.19 Sachlich dasselbe lesen wir in Joh 10,35. Für auflösen steht καταλῦσαι [katalysai]. Nach Otto Procksch hat καταλύειν [katalyein] im NT „sehr häufig“ die Bedeutung „zerstören“,20 nach Friedrich Büchsel bedeutet es speziell in Mt 5,17 „aufheben“, „abschaffen“, „außer Kraft setzen“.21 Jesu Auftrag ist es also gerade nicht, die heilige Schrift aufzuheben oder um ihre Geltung zu bringen. Im Gegenteil: Sein Auftrag ist es, sie zu erfüllen. Dafür steht griech. πληρόω [ plēroō], hebr. ‫[ מלא‬mlʾ],22 mit der Grundbedeutung „bis obenan füllen“, „völlig ausführen“.23 Nun hat allerdings πληρόω [ plēroō] verschiedene Nuancen. Im Einzelnen kann man folgende Bedeutungen unterscheiden:24 1) Jemand oder etwas mit einem Inhalt erfüllen. Jesus würde dann in Mt 5,17 die Heilige Schrift mit ihrem wahren göttlichen Sinn erfüllen, das heißt auslegen. 2) Ein Versprechen oder eine Verheißung erfüllen. Jesus wäre dann in Person die wahre Erfüllung dessen, was die Heilige Schrift will, ihr Ziel und ihre eschatologische Erfüllung. 3) Etwas vollenden oder zu einem Ganzen werden lassen, was bisher 14 Charakteristisch wieder Bultmann Gesch, 161ff. 15 Beispiel: Davies-Allison, 483, unter Verweis auf den Lehrer der Gerechtigkeit in Qumran und Josephus B. J. III, 400. Man kann ferner an Dan 9,22.23; 10,12.14 LXX erinnern. 16 Im Art. ἔρχομαι usw., ThWNT, II, 1935, 664. 17 Nach BDR § 446,2 entspricht ἤ [ē] in Mt 5,17 einem kopulativen καί [kai]. 18 W. Gutbrod im Art. νόμος usw., ThWNT, IV, 1942, 1051. 19 Carson, 142: „neither is to be abolished“. 20 Im Art. λύω usw., ThWNT, IV, 1942, 330. 21 A.a.O., 337.339. Vgl. Davies-Allison, 483. 22 G. Delling, Art. πλῆρης usw.,ThWNT, VI, 1959, 286.292. 23 Delling a.a.O., 286f. 24 Vgl. die Auflistung bei Luz I 232 sowie Delling a.a.O., 289ff; Bauer-Aland, 1348ff.

4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20

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kein Ganzes war. Jesus würde dann den vollen Sinn der Heiligen Schrift ans Licht bringen und ergänzen, was bisher nur in Teilen vorhanden war. 4) Nahe dabei liegt die Bedeutung: etwas Unvollkommenes vollenden. Jesus würde dann die Heilige Schrift durch seine Lehre erst vollkommen machen. 5) „Voll machen“ im Sinne von „zum Abschluss bringen“. Jesus wäre dann auch in Mt 5,17 wie in Röm 10,4 „des Gesetzes Ende“. 6) Eine Forderung erfüllen. Gerhard Delling weist darauf hin, dass diese Bedeutung von πληρόω [ plēroō] sich im NT immer auf den Willen Gottes bezieht.25 Alle diese Gesichtspunkte haben in der Auslegungsgeschichte von Mt 5,17 eine Rolle gespielt, wovon die informative Skizze bei Ulrich Luz26 Zeugnis ablegt. Das gilt sogar für sehr frühe Zeiten, wie das Beispiel des Irenäus (ca. 180 n.Chr.) zeigt. In einer Auslegung von Mt 5,17ff sagt er: Jesus „steht nicht im Gegensatz zum Gesetz … und löst nicht das Gesetz auf, sondern erfüllt es, dehnt es aus, erweitert es“.27 Dabei darf man die oben 1) bis 6) genannten Bedeutungsmöglichkeiten nicht als strenge Alternativen auffassen. Vielmehr werden in der Auslegungsgeschichte häufig verschiedene Möglichkeiten kombiniert.28 Eine solche Kombination ist auch für die heutige Auslegung legitim.29 Doch wie lässt sich nun das πληρόω [ plēroō] von Mt 5,17 genauer erfassen? Entscheidend ist der Kontext. Der unmittelbar vorausgehende Vers (V. 16) zielte auf die guten Werke. In V. 19 verbindet Jesus λύειν [lyein] mit den ἐντολαί [entolai]. Ebendort fasst er das notwendige Verhalten in die beiden Begriffe tun (ποιεῖν [ poiein]) und lehren (διδάσκειν [didaskein]). Von daher gewinnt das πληρῶσαι [ plērōsai] von V. 17 einen starken Akzent im Sinne des Erfüllens einer Forderung der Heiligen Schrift (oben Nr. 6). Es ist durchaus möglich, dass der rabbinische Sprachgebrauch mit den aramäischen Begriffen ‫[ בטל‬bthl] (auflösen) und ‫[ קיים‬qjjm] (aufrichten) auf die Formulierungen in Mt 5,17-20 eingewirkt hat.30 Aber dieser Sprachgebrauch würde doch für Mt 5,17 eher ein ἱστάνειν [histanein] erwarten lassen wie in Röm 3,31 und Hebr 10,9, und weniger ein πληρῶσαι [ plērōsai]. So behält Mt 5,17 einen eigenen Sprachcharakter. Zuzugeben ist, dass Mt 5,17-20 einen „verwickelten Zshg.“ [Zusammenhang] aufweist31 und der präzise Sinn für Mt

25 A.a.O., 291. 26 Luz I 233. 27 Adv. haer. IV, 13,1. Vgl. dazu Mello, 121f, der sich auf den lat. Irenäus-Text stützt: non dissolvit, sed extendit et implevit. 28 Luz I 235. 29 Vgl. Mello, 123. 30 Bejahend Riesner, 157. 31 Bauer-Aland, 1350.

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5,17 „schwierig“ zu finden ist.32 Aber die vorrangige Bedeutung von πληρῶσαι [ plērōsai] scheint uns doch diejenige zu sein, die Gerhard Delling herausgearbeitet hat, nämlich die ganze Erfüllung des göttlichen Willens durch seinen Gehorsam33 (vgl. Mt 3,15). Darin sieht er seinen Auftrag. Dieser Auftrag und dieser Anspruch Jesu ist im Grunde ungeheuerlich. Denn die Heilige Schrift selbst sagt ja: „Da ist keiner, der Gutes tut“ (Ps 14,3; 53,2.4). Erfüllt Jesus tatsächlich den Willen Gottes nach der Heiligen Schrift, dann ist er sündlos und ganz anders als alle übrigen Menschen. Er ist ferner in einem sehr speziellen Sinn der vollendete Toralehrer, ein Messias, wie ihn Israel erwartete. Noch die Frau am Jakobsbrunnen ist von dieser Erwartung geprägt: „Wenn Messias (ohne Artikel!) kommt, wird er uns alles verkündigen“ (Joh 4,25). Überhaupt lebte im Judentum der Zeitenwende die Erwartung einer besseren Gesetzeserkenntnis und besseren Gebotserfüllung, so im Buch der Jubiläen,34 in Qumran mit dem Lehrer der Gerechtigkeit35 und in den Psalmen Salomonis, wo der Messias ein „von Gott gelehrter König“ sein wird.36 Mt 5,17 ist in der Tat eine Weichenstellung. Denn Mt 5,17 macht es uns unmöglich, Jesus in einem Gegensatz zum AT zu sehen.37 Das Schriftzeugnis blieb für Jesus verbindlich, auch nach seiner Auferstehung (vgl. Mt 9,13; 12,3ff; 19,3ff; 22,29ff.43; Lk 24,44; Joh 5,39ff; 10,35). Mt 5,17 macht es aber auch der Christenheit unmöglich, in einem Gegensatz zur Schrift Entscheidungen zu treffen. Der Begriff „Bibelkritik“ ist eine contradictio in se. Den alttestamentlichen Hintergrund zu Mt 5,17 bilden Dtn 4,2 und 13,1ff. Er ist im ganzen NT bis hin zu Offb 22,18f spürbar. Er verbindet aber auch Christen und Juden aufs Engste, wie man an Josephus Contra Apionem I, 37ff und Pirqe Abot I sehen kann. Auffallend bleibt, dass Jesus nicht sagt: ἀλλὰ ἱστάνειν (ἑστάναι) [alla histanein (hestanai)] – wie Paulus in Röm 3,31 oder der Hebräerbrief in 10,9 – sondern πληρῶσαι [ plērōsai].38 Man kann diese Wortwahl eigentlich nur so verstehen, dass er seine persönliche Gebotserfüllung und sein praktisches Tun des Willens Gottes zum Ausdruck bringen will.39 Dass auch die Propheten in

32 33 34 35 36 37 38 39

Luz I 235. Delling a.a.O., 292f. Jub 1,23ff. Vgl. Gutbrod a.a.O., 1042. CD I, 10ff. Ps Sal 17,32. Vgl. Gutbrod a.a.O., 1049. Flusser, 229.51; Davies-Allison, 481f; Tasker, 64f. Anders Luz I 230; Beare, 140. Vgl. Davies-Allison zur Stelle. Vgl. dazu Schniewind, 54; Sand, 106f.

4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20

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der Heiligen Schrift auf dem Tun des Willens Gottes bestehen, kann nicht bezweifelt werden (vgl. nur Jes 1,10ff; Jer 7,3; Hos 8,12).40 Der 18. Vers wird durch ein Denn an V. 17 angeschlossen. Matthäus sah also die beiden Verse in einem engen Zusammenhang. Zum ersten Mal erscheint bei Mt ein amen-Wort.41 Das amen wird von Lukas mit ἀληθῶς [alēthōs] („Wahrhaftig“) oder ἐπ᾿ ἀληθείας [ep’ alētheias] (4,25; „wie es Wahrheit ist“) wiedergegeben, bleibt aber im NT meist unübersetzt.42 Es geht zurück auf das hebr. ‫[ ָאֵמן‬ʾāmen]. Schlier übersetzt es so: „es steht fest und es gilt“.43 Normalerweise stand amen als Zustimmung und Bekräftigung am Ende des betreffenden Ausspruchs. Jesus aber stellte sein amen an den Anfang dessen, was er sagte.44 Dadurch hat er seine folgenden Worte als „sicher und zuverlässig“ gekennzeichnet.45 Heinrich Schlier meinte, im amen sei „die ganze Christologie in nuce enthalten“. Jesus sei hier „der, der sein Wort als ein wahres = festes aufstellt“, und „zugleich der, der sich dazu bekennt und es in seinem Leben festmacht“.46 Im Verhältnis von V. 18 zu V. 17 bedeutet dies, dass Jesu Wort ebenso zuverlässig ist wie das Wort der Heiligen Schrift. In seiner Bedeutung kommt dieses „Amen“ dem Schwören Gottes im AT gleich – obwohl Gott ein solches Schwören niemals nötig hatte (vgl. Gen 22,16; 26,3; Ex 32,13; Jes 45,23; Am 6,8; Mi 7,20; Ps 110,4). Denn amen, ich sage euch: euch knüpft an 5,1ff an. Jesus wendet sich also an seine Jünger (vgl. V. 20). Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder Häkchen vom Gesetz vergehen, bis alles geschieht: Der schwer umkämpfte Vers47 enthält eine Reihe von Aussagen und Aspekten. Bis, ἕως [heōs], kann eigentlich nur im Sinne einer zeitlichen Termination verstanden werden.48 Jesus rechnet also damit, dass der gegenwärtige Himmel und die gegenwärtige Erde, das heißt die gesamte gegenwärtige Schöpfung (Gen 1,1), eines Tages vergehen und sich damit die biblische Prophetie erfüllt (Hiob 14,12; Jes 34,4; 51,6; 65,17; 66,22). Die beliebte Deutung, bis der Himmel und die Erde vergehen sei eben eine populäre Redeform49 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Öfter in der Literatur unterbewertet, z.B. bei France, 113f. Insgesamt 30 Mal nach H. Schlier, Art. ἀμήν, ThWNT, 1, 1933, 341. Schlier a.a.O., 340. A.a.O., 339. Vgl. Schlier a.a.O., 341. Schlier a.a.O. A.a.O., 341f. Vgl. die ausführliche Exegese bei Luz I 236ff. Vgl. Bauer-Aland, 675; H. Traub im Art. οὐρανός, ThWNT, V, 1954, 515; Carson, 145. Wettstein, 294: „locutio proverbialis“; Luz I 236f, der allerdings die Belege selbst „spärlich“ nennt; Fiedler, 124.

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für ein „niemals“, scheidet damit aus. Im Christentum ist dieses Wissen um die Vorläufigkeit der gegenwärtigen Welt über viele Jahrhunderte prägend geblieben. Man denke an Heinrich von Laufenbergs Vers um 1430: „Ade, Welt, Gott gesegne dich! Ich fahr dahin gen Himmelreich“50 oder Paul Gerhardts Vers von 1643: „Du füllst des Lebens Mangel aus mit dem, was ewig steht, und führst uns in des Himmels Haus, wenn uns die Erd entgeht.“51 Die letzten Generationen sind allerdings viel diffuser gestimmt, vgl. EG 432 in V. 3: „Gott will mit uns die Erde verwandeln. Wir können neu ins Leben gehn.“ Solange also die gegenwärtige Schöpfung Bestand hat, besteht auch das Gesetz Gottes fort: Es wird nicht ein einziges Jota oder Häkchen vom Gesetz vergehen. So hat es auch frühchristliche Tradition und Auslegung weitergegeben.52 Man darf dies aber nicht im pejorativen Sinne missverstehen,53 als ob das Gesetz nur bis zum Weltende gelte, danach aber obsolet sei. Denn 1) hat Gesetz, νόμος [nomos], hier den Sinn vom ganzen Wort Gottes in den Heiligen Schriften Israels, ist also die Kurzfassung von „Gesetz“ und „Propheten“;54 2) will Jesus ja gerade betonen, dass im ganzen gegenwärtigen Äon keine Macht in der Lage ist, das Wirken des Wortes Gottes zu verhindern. Über das, was in der Ewigkeit sein wird, spricht er hier dezidiert nicht. Dass Gottes Wort auch im neuen Himmel und auf der neuen Erde seine Geltung behält, sagen im Übrigen Ps 119,89; Jes 40,8; Mt 24,35 deutlich genug. Doch was sind nun Jota und Häkchen? Ersteres, ἰῶτα [iōta], entspricht dem hebräischen Jod, ‫ [ יוֹד‬jōd], also dem kleinsten Buchstaben des hebräischen Alphabets.55 Häkchen, κεραία [keraia], meint wohl ein „Strichlein am Buchstaben“.56 Das könnte ein Zierstrich an hebräischen Buchstaben sein.57 Es könnte aber auch die Hälfte des Jod sein.58 Jesus würde dann sagen: „Es wird nicht der kleinste Buchstabe oder auch nur die Hälfte des kleinsten Buchstabens vergehen, bis alles geschieht.“ Eine weitere Möglichkeit schlagen Blass-Debrunner-Rehkopf nach G. Schwarz vor: Das Häkchen könnte die Übersetzung des hebräischen Buchstabens ‫[ ו‬w], ‫[ וָו‬wāw], sein, „weil es im Griech. keine Bezeichnung für ‫[ ו‬w] (= w) gibt“.59 Aber dann würde dem 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

EG 517,12. EG 324,12. Vgl. Irenäus Adv. haer. III, 24,1, IV, 3, IV, 34,2; Luz I 236, 73. So leider bei Luz I 237; Schniewind, 54f. France, 115; Carson, 145. BDR § 4,3. Bauer-Aland, 871. Strack-Billerbeck I 248f; Schniewind, 54; Tasker 67. Vgl. außerdem Fiedler 124, Fn. 76; Carson, 145. BDR § 4,3. Vgl. France, 115.

4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20

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kleinsten Buchstaben der größere Buchstabe an die Seite gestellt, was der Aussage Jesu viel von ihrer Spannung nehmen würde. Insgesamt ziehen wir es vor, das Häkchen als die Hälfte des Jod, des kleinsten Buchstabens im hebräischen Alphabet, zu verstehen. Fazit: Nicht einmal der kleinste Buchstabe des Gesetzes oder seine Hälfte wird während der gegenwärtigen Weltzeit außer Kraft gesetzt – am wenigsten von ihm. Dass sich Jesus hier am äußeren Wortbestand der Heiligen Schrift orientiert hat, bleibt ein erstaunliches Faktum. Er scheute sich nicht einmal, vom Buchstaben zu sprechen.60 Hier wird uns der Wandel der Entwicklung schmerzlich bewusst. Ohne Zweifel wäre Jesus mit dieser Auffassung auch von vielen heutigen konservativen protestantischen Theologen abgelehnt worden. Es ist interessant, dass sich schon Irenäus gegen valentinianische Ausleger wehren musste, die die Buchstaben von Mt 5,18 ins Allegorische zogen.61 Hinzu kommt für viele Ausleger ein weiteres, spezielles Problem: Wie konnte ein Jesus, der die „Gesetzesfreiheit“ predigte, so sprechen wie in Mt 5,18?62 Wir müssen am Ende der Verse 19 und 20 darauf zurückkommen. Bis dahin hat V. 18 schon Entscheidendes gesagt. Aber Jesus fügt noch eine weitere Bemerkung an: bis alles geschieht (ἕως ἂν πάντα γένηται [heōs an panta genētai]). Die Wortwahl ist auffallend. Jesus sagt ja nicht ἕως ἂν πάντα πληρωθῇ [heōs an panta plērōthē] („bis sich alles erfüllt“) oder „bis alles vollendet wird“ oder „bis alle Wahrheit erkannt wird“. Zwar meinte Friedrich Büchsel in seinem Artikel über γίνομαι:63 „Ein religiöses oder theologisches Interesse haftet im NT an γίνεσθαι in der Regel nicht.“ Aber dass γίνεσθαι [ginesthai] in Mt 5,18 einen dezidiert theologischen Charakter hat, kann man schwer bestreiten. Doch worin besteht er? Bauer-Aland bieten die Übersetzung an: „bis alles eingetreten (= vorbei) ist“.64 Damit wird der temporale Gesichtspunkt betont: Irgendwann hat sich alles in der Heiligen Schrift Niedergelegte ereignet und folglich erledigt. Doch macht diese Vorstellung einige Mühe. Enthält die Heilige Schrift nicht auch „Worte des ewigen Lebens“ (vgl. Joh 6,68)? Und gilt nicht Ps 119,89: „Herr, dein Wort bleibt auf ewig?“65 So wird man sich mit einer Interpretation des „vorbei“ nicht begnügen können. Wie bewusst Jesus hier formuliert, ergibt sich übrigens auch aus dem Ver60 Vgl. Lk 16,17. 61 Adv. haer. I, 3,2. 62 Schniewind, 54; Beare, 140; Senior, 75; Bultmann Gesch, 146. Ganz anders Fiedler, 125, und Wilckens I, 286f. 63 Im ThWNT, I, 1933, 680f. 64 Bauer-Aland, 317. 65 Übersetzung Neue Jerusalemer Bibel. Vgl. 1Petr 1,25.

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gleich mit Mt 24,34 / Mk 13,30 / Lk 21,32. Näher an das Gemeinte kommt man, wenn man die Aussagen über die Dynamik des Wortes betrachtet. Das Wort des HERRN „geschieht“ (1Sam 15,19; Jer 1,2), es „wächst“ und „wird mächtig“ (Apg 19,20), es „läuft“ (2Thess 3,1), es gleicht dem Samen und bringt Frucht (Mt 13,8ff ) und lässt sich mit dem Sauerteig vergleichen (Mt 13,33). Die Aussage es geschieht erinnert besonders an Jes 55,10-11: „gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“66 Wie ein Bote, wie ein Agent und Bevollmächtigter Gottes handelt hier das Wort in der Geschichte und setzt in Ereignisse um, was er will. Noch kürzer formuliert: Es sorgt dafür, dass Gottes Wille geschieht. Eine solche dynamische Auffassung ist auch für Mt 5,18 prägend. Bis alles geschieht hat also den Sinn: „bis alles bewirkt wird, was Gott will“.67 Hier sind alle Bereiche des Wortes Gottes eingeschlossen: die nur temporären wie die auf das Ewige ziehenden; die nur lokal bzw. nur auf Israel bezogenen Aussagen wie die universalen und der ganzen Völkerwelt geltenden; die prophetischen Aussagen wie die Gesetzesvorschriften. Hier nur einen Bereich, z.B. Prophetie oder Sittengesetz, herausnehmen zu wollen, ergibt keinen Sinn:68 alles, sagt Jesus, geschieht, weil das Wort der Heiligen Schrift eine solche Kraft hat.69 Ebenso wenig will er, wenn er den dynamischen Aspekt der Schrift betont, freilich die anderen Aspekte, wie beispielsweise den doxologischen oder weisheitlichen, ausschließen. Es gibt aber zu denken und bleibt eine Herausforderung für die christliche Theologie, dass Jesus gerade den dynamischen Charakter des Wortes Gottes betont. In V. 19 zieht Jesus daraus eine wichtige Konsequenz (οὖν [oun] ist „folgernde Konjunktion“70) für die Jünger: Wer nun ein einziges (oder: auch nur ein einziges) dieser geringsten Gebote auflöst und dementsprechend die Menschen lehrt, wird im Reich Gottes der Geringste genannt werden. Auflöst (λύσῃ [lysē]) greift auf den Sprachgebrauch von V. 17, καταλῦσαι [katalysai], zurück – ein Zeichen dafür, dass unsere Spruchgruppe von Anfang 66 67 68 69

Vgl. auch Jer 23,29. Vgl. Zahn, 218. Auch Luz I 237; Mello, 123f; Zahn, 217; Sand, 107. Eine Reihe von Forschern sieht „bis alles geschieht“ erfüllt im Wirken Jesu. So France, 115. 70 Bauer-Aland, 1199. Vgl. BDR § 451,1; Fiedler, 126.

4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20

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an zusammengehörte.71 Auflösen heißt „außer Kraft setzen“, „abschaffen“.72 Der Unterschied, ob man nur theoretisch bzw. denkerisch auflöst oder das betreffende Gebot auch praktisch missachtet, spielt hier keine Rolle. Doch was sind diese geringsten Gebote (αἱ ἐντολαὶ αὕται αἱ ἐλάχισται [hai entolai hautai hai elachistai])? Zunächst weist das Demonstrativpronomen (diese) zurück auf V. 18. Damit ist klargestellt, dass es um die geringsten Gebote im Gesetz geht. Gemeint sind also keinesfalls die Gebote, die Jesus selbst gibt. Andererseits hat Jesus sehr wohl „die gewichtigeren Bestimmungen des Gesetzes (τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου [ta barytera tou nomou])“73 unterschieden von den weniger gewichtigen (Mt 23,23). So verfuhren auch die Rabbinen.74 Von da aus möchte man gerne die geringsten Gebote verstehen als die nach Umfang oder (besser) Bedeutung geringsten. Allerdings herrscht in der Literatur darüber keine Einigkeit. Unter den jüngeren Beispielen greifen wir Rainer Riesner heraus, der sich sehr sorgfältig mit Mt 5,19 beschäftigt hat.75 In Anlehnung an E. Lohmeyer und R. Banks will er diese geringsten Gebote „als Bezeichnung für die Weisungen Jesu“ verstehen.76 Damit ließen sich „die Echtheitszweifel“ an Mt 5,19 überwinden.77 Begründung: ἐλάχιστος [elachistos] und μικρός [mikros] beziehen sich in Mt 10,42; 18,6ff; 25,40ff auf die Jünger, folglich würden sich auch ἐλάχισται ἐντολαί [elachistai entolai] auf die Gebote Jesu beziehen. Aber ist dies zwingend? Außerdem muss Riesner das Demonstrativpronomen τούτων [toutōn] „als Pleonasmus erklären“,78 was wiederum keine sehr naheliegende Erklärung ist. Deshalb ziehen wir die enge Verbindung der geringsten Gebote mit dem Jota und dem Häkchen in V. 18 vor.79 Es handelt sich demnach wirklich um die Gesetzesbestimmungen, die im Verbund der Heiligen Schrift weniger wiegen als andere, also zum Beispiel diejenigen über Minze, Dill und Kümmel (Mt 23,23).80

71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Riesner, 457. Bauer-Aland, 982. Bauer-Aland, 269. Vgl. schon P. Abot I, 2.18, früher noch Koh 12,13. Vgl. G. Schrenk, Art. ἐντολή, ThWNT, II, 1935, 543f. Riesner, 456ff. Riesner, 459. A.a.O. A.a.O. Ebenso Luz I 238: „Die geringsten Gebote entsprechen dem Jota und dem Häkchen des Gesetzes“; Zahn, 219; France, 116; Carson, 146. Ebenso Luz a.a.O.; Schniewind, 54f; O. Michel, Art. μικρός, ThWNT, IV, 1942, 658f; G. Schrenk a.a.O., 544; K.H: Rengstorf, Art. διδάσκω usw., ThWNT, II, 1935, 143. Gegen Bengel, Schrenk (a.a.O.).

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Und dementsprechend (οὕτως [houtōs]) die Menschen lehrt: Jesus konzentriert sich jetzt auf das lehren (διδάσκειν [didaskein]). Er fasst hier die Jünger als künftige Lehrer in den Blick (vgl. Mt 23,34; 28,20). Die Verantwortung der Lehrer als Wegweiser zum Himmelreich ist außerordentlich groß (vgl. Mt 15,9; 23,10; Jak 3,10ff ). Interessanterweise spricht Jesus davon, dass seine Jünger die Menschen (τοὺς ἀνθρώπους [tous anthrōpous]) lehren werden: also nicht nur ihre jüdischen Volksgenossen, nicht nur Israel, sondern die ganze Welt! Vgl. wieder Mt 28,18-20. Wer so handelt, wird im Reich Gottes der Geringste genannt werden. Auf diese Weise macht Jesus klar, dass er auf kein einziges Gebot der Heiligen Schrift Israels, und sei es das geringste, verzichten will. Er schätzt, liebt und praktiziert sie alle, auch wenn er sie verschieden gewichtet. Die Frage Jesu in Joh 8,46: „Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen?“, wäre völlig unmöglich gewesen, wenn er auch nur ein einziges Gebot abgeschafft hätte. Schniewind hat Beispiele seiner Gesetzestreue in beeindruckender Weise zusammengestellt: „er trägt sogar Quasten an seinem Gewand … Er schickt den geheilten Aussätzigen zum Priester (Mk 1,44 par), er verweist den reichen Jüngling auf die Gebote (Mt 19,17ff par; vgl. Lk 16,19-31)“, er will den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel eingehalten wissen (Mt 23,23).81 Wer ein einziges Gebot abschaffen will, wird also im Reich Gottes der Geringste genannt werden. Was heißt das genau? Ist es der Ausschluss aus dem Reich Gottes?82 Oder eine niedere Stufe im Reich Gottes? Beide Erklärungen werden in der Literatur vertreten. Wir gehen davon aus, dass Jesu Formulierungen immer wieder erstaunlich präzise sind. Sollte er jetzt von dieser Präzision abrücken, wo es um die Genauigkeit der Gesetzes- und Schrifttreue geht? Wer im Reich Gottes der Geringste genannt wird, der befindet sich offenbar immer noch im Reich Gottes, der ist nicht ausgeschlossen. Voraussetzung dafür ist, dass es im Reich Gottes Stufen gibt. Aber gerade solche Stufen lehrte Jesus (Mt 5,21ff; 11,11; 18,1ff; Mk 10,40; Lk 12,47f; 19,17-19). Auch Paulus geht von solchen Stufen aus (vgl. 1Kor 3,12ff; 2Kor 5,10), ebenso die frühchristliche Tradition.83 Wir nehmen also an, dass die Verfehlung der Lehrer von Mt 5,19 zwar ein strenges Gericht nach sich zieht, aber doch für sich allein genommen noch nicht den Ausschluss aus dem Reich Gottes bedeutet.84 Man denke an das Wort des Paulus von dem Menschen, dessen ganzes Werk untauglich ist, der aber dennoch gerettet wird (1Kor 3,15). 81 82 83 84

Schniewind, 55. So z.B. W. Grundmann, Art. μέγας usw., ThWNT, IV, 1942, 540. Irenäus Adv. haer. V, 36. Ebenso Schniewind, 55; Riesner, 457; Fiedler, 126; Zahn, 219; Carson, 146.

4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20

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Wer es aber tut und lehrt, der wird im Reich Gottes groß85 genannt werden (μέγας κληθήσεται [megas klēthēsetai]): Hier, wo es um die wahre Größe im Reich Gottes geht, begnügt sich Jesus nicht mehr mit dem Stichwort lehren. Er benutzt die beiden Begriffe tun (ποιεῖν [ poiein]) und lehren (διδάσκειν [didaskein]), um denjenigen zu kennzeichnen, der auch das allergeringste Gebot noch praktiziert und aufrechterhält. Eine Abkoppelung des persönlichen Verhaltens von der Professionalität oder Theoriebildung des Lehrers ist für Jesus undenkbar. Vielmehr gilt der Grundsatz der Integrität und Ganzheitlichkeit. Im positiven Fall des Tuns und Lehrens wird die Belohnung wie in Dan 12,3 und Mt 13,43 groß sein: der Betreffende wird im Reich Gottes groß (oder: ein Großer) genannt werden. Von Großen im Reich Gottes sprach Jesus öfter. (Mt 5,19; 11,11; 18,1.4; 20,26; 23,11).86 Offensichtlich wollte er hier einen missionarischen Anreiz geben. Im Sprachgebrauch schließt er sich dabei an die Rabbinen an.87 Aber nun ist ebenso offensichtlich, dass der Begriff groß ein offener Begriff ist, der mehrere konkrete Möglichkeiten enthalten kann (vgl. Lk 9,48). Nur so viel können wir sagen: ein Großer im Reich Gottes ist ein „Ehrenname“.88 Vielleicht liegt hier auch ein gewisses Wortspiel vor. Denn aramäisch dient ‫[ ַרב‬rab] = „großer“ zur Bezeichnung eines Lehrers.89 Gemeint wäre dann, dass der Betreffende im Reich Gottes wahrhaft „ein Lehrer genannt wird“. Im letzten Vers unserer Spruchgruppe (V. 20) zieht Jesus erneut eine Konsequenz (vgl. das Denn) aus dem in V. 17 und 18 Gesagten: Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei Weitem übertrifft, werdet ihr nicht in das Reich Gottes hineinkommen. Angeredet sind wie im ganzen Abschnitt die Jünger (V. 1ff; euch – eure – ihr). Zunächst irritiert der Begriff der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη [dikaiosyne]). Dieser Begriff hat in der Bibel bekanntlich eine ganze Reihe von Aspekten.90 Man wird ihn in Mt 5,20 vor allem von Mt 3,15 und 5,6 her verstehen müssen. Dann ergibt sich als Grundsinn für Gerechtigkeit „das mit Gottes Willen übereinstimmende … Verhalten des Menschen“.91 Nach dem Zusammenhang geht es dabei konkret um die Übereinstimmung mit Gott im BDR § 245,2 übersetzen „der größte“. So auch Grundmann a.a.O., 537. Grundmann a.a.O., 538. Schniewind a.a.O. O. Michel, Art. μικρός, ThWNT, IV, 1942, 659, 40; Schniewind a.a.O. Vgl. H. Ringgren / B. Johnson, Art. ‫ָצַדק‬, ThWAT, VI, 1989, 898ff; G. Quell / G. Schrenk, Art. δίκη usw., ThWAT, II, 1935, 176ff. 91 So Schrenk a.a.O., 200.

85 86 87 88 89 90

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Tun und Lehren (vgl. V. 19). Gerade um dieses Zusammenhangs willen erwähnt Jesus wohl die Schriftgelehrten neben den Pharisäern. Die Geschichte der Pharisäer gehört zu den am meisten untersuchten Themen des NT. Josephus nennt für das erste nachchristliche Jahrhundert drei wesentliche jüdische Religionsrichtungen: die Pharisäer, die Sadduzäer und die Essener.92 Seine Beschreibung trifft historisch vor allem in zwei Punkten zu: 1) Die Pharisäer sind zu Jesu Zeit die „erste“ und wichtigste Religionspartei (ἡ πρώτη αἵρεσις [hē prōtē hairesis]); 2) sie gelten als gewissenhafte Gesetzesausleger (οἱ μετὰ ἀκριβεῖας δοκοῦντες ἐξηγεῖσθαι τὰ νόμιμα [hoi meta akribeias dokountes exēgeisthai ta nomima]). Noch heute legt der TalmudTraktat Pirqe Abot („Sprüche der Väter“) Zeugnis ab von dieser intensiven Beschäftigung mit der Heiligen Schrift. Die in Mt 5,20 genannten γραμματεῖς [grammateis] (Schriftgelehrten) sind wahrscheinlich in erster Linie pharisäische Schriftgelehrte. Wenn Jesus jetzt von der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer spricht, dann gebraucht er den höchsten Maßstab. Das ist zunächst ein Zeichen seiner Hochachtung. Es ist dieselbe Hochachtung, der wir auch an anderen Stellen des Matthäusevangeliums (9,18ff; 23,1ff ) und überhaupt in den Evangelien begegnen (Mk 12,34; Lk 10,28; 18,18ff; Joh 3,1ff ). Wir müssen annehmen, dass Jesus aufgrund seiner Erziehung in der Synagoge den Pharisäern besonders nahegestanden hat (vgl. Lk 2,41ff; 4,16). Umso schärfer ist sein Urteil in Mt 5,20: Wenn die Gerechtigkeit = die Erfüllung des Willens Gottes bei den Jüngern nicht die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer bei Weitem übertrifft, werden sie nicht in das Reich Gottes hineinkommen. Ihre Gerechtigkeit muss einer ganz anderen Kategorie angehören. Denn das πλεῖον περισσεύειν [ pleion perisseuein] – eine Parechese und eine Paronomasie93 –, das bei Weitem übertreffen, enthält eine doppelte Steigerung: ein mehr gegenüber den Pharisäern94 und ein Überschießen95 zugleich. Die Aussage Jesu ist auch deshalb so hart, weil nicht von einer niedrigen Stufe im Reich Gottes (Geringster o.ä.) die Rede ist, sondern tatsächlich von einem Ausschluss: werdet ihr nicht hineinkommen. Mit dieser Zuspitzung beendet Jesus seine Worte für den Augenblick. Bis heute bleibt der Hörer nachdenklich zurück. Wie soll der Mensch die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer übertreffen? Menschlich ist das unmöglich. Aber wenn Jesus ein Ziel benennt, dann will er es doch mit seinen 92 B. J. II, 119ff. Vgl. aus der zahlreichen Literatur Maier Mensch und freier Wille, 1ff.264ff; R. Meyer / K. Weiß, Art. Φαρισαῖος, ThWNT, IX, 1973, 11ff. 93 BDR § 488. 94 Bauer-Aland, 1382. 95 Bauer-Aland, 1311. Vgl. BDR § 246,2.

4. Jesu Stellung zu Gesetz und Propheten, 5,17-20

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Jüngern erreichen! Es deutet sich schon an, dass die bessere Gerechtigkeit nur aus der Verbindung mit ihm kommen kann. Es wird der Weg des Evangeliums, der Erlösung sein. Es ist also letztlich das Kreuz Jesu Christi, zu dem uns die Bergpredigt führt. Johannes Chrysostomus hat hier einen sehr wesentlichen Punkt getroffen, wenn er auf die Frage, wie es zu der größeren Tugend von Mt 5,20 kommt, die Antwort gibt: „Weil jetzt die mächtige Gnade des Heiligen Geistes ausgegossen ist.“96

IV Zusammenfassung 1. In Mt 5,17-20 klärt Jesus als Messias seine grundsätzliche Stellung zum alttestamentlichen Gesetz, ja zur Heiligen Schrift überhaupt. Eine solche Grundsatzerklärung war für jemand, der als Messias auftrat, unabdingbar. 2. Jesus bekräftigt, dass er die Heilige Schrift bis hin zum kleinsten Buchstaben, ja bis zur Hälfte des kleinsten Buchstabens, anerkennt und für gültig betrachtet. Er unterstreicht die Kraft des göttlichen Wortes, alles zu bewirken, was Gott mit ihm vorhat. 3. Die Forderung einer Gerechtigkeit, die diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer übertrifft, ist für uns menschlich unerfüllbar. Sie setzt die neuen, besonderen Kräfte des Reiches Gottes voraus. Deren Zustrom aber ist wiederum gebunden an die Erlösung von unserer Schuld. So führt uns die Bergpredigt letztlich zum Kreuz. 4. Angesichts von Mt 5,17-20 kann man die Gesetzesauslegung Jesu in Mt 5,21ff nicht mehr mit dem Namen „Antithesen“ benennen. Denn Jesus widerspricht hier nicht dem Gesetz, sondern er bringt es in seiner ganzen Fülle zur Geltung. Um diese (richtige) Sicht haben schon die Christen des 2. Jahrhunderts gekämpft. Irenäus schrieb um 180 n.Chr.: „nicht Aufhebung oder Auflösung“ des Gesetzes sei von Jesus beabsichtigt, „sondern die Erfüllung und Ausdehnung“.97 Der Begriff „Antithesen“ hat in der Kirchengeschichte immer wieder dazu geführt, Jesus und seine Kirche in einen Gegensatz zum Alten Testament und zum göttlichen Gesetz überhaupt zu bringen. 5. Gelegentlich nennt man die Zusammenstellung von Schriftgelehrten und Pharisäern in Mt 5,20 stereotyp und leitet daraus einen Mangel an Historizität bei Matthäus ab.98 Ein solcher Vorwurf ist aber unberechtigt. Die Auslegung zeigt, dass die Pharisäer und ihre Schriftgelehrten damals das

96 Texte KV II, 511. 97 Adv. haer. IV, 13,1. 98 Senior, 76; Weiß a.a.O., 39f.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

Höchstmaß an Schriftgenauigkeit verkörperten und ihre Zusammenstellung in Mt 5,20 auch historisch durchaus berechtigt ist. 6. Heiß umstritten ist die Frage, ob das in Mt 5,17-20 Niedergeschriebene jemals vom historischen Jesus gesprochen wurde oder nicht vielmehr auf Matthäus und seine Redaktion zurückgeht. Rudolf Bultmann stufte die Verse als „Christliche“ oder „Redaktionelle Bildungen“ ein, entstanden in den Debatten der palästinensischen „mit der hellenistischen Gemeinde“, wobei Matthäus „sie unbefangen Jesus selbst in den Mund legt“.99 Im Wesentlichen folgt ihm Ulrich Luz, allerdings mit einem gehörigen Schuss Skepsis: „Die Überlieferungsverhältnisse sind hoffnungslos undurchsichtig.“100 Auch Peter Fiedler steht in dieser Traditionslinie, öfter mit Vorwürfen gegen Matthäus, dass dieser mit „Unterstellungen“ arbeite und vor „Polemik“ nicht zurückschrecke.101 Ihnen gegenüber steht eine Reihe von Forschern, die in Mt 5,1-20 mit echten Herrenworten rechnen, unter anderen Carson,102 Flusser,103 Schniewind104 und Wilckens105. Etwas vorsichtiger äußern sich Riesner106 und Davies-Allison107, wobei Letztere immerhin einen historischen jesuanischen Kern annehmen. Entscheidend sind für uns die Beobachtungen, dass Mt 5,17-20 mit den anderen Worten und dem Verhalten Jesu in Übereinstimmung steht und dass eine solche Grundsatzaussage Jesu nicht einfach „freihändig“ von einem Evangelisten gebildet werden konnte. An keiner Stelle lässt sich ernsthaft begründen, dass diese Worte nicht von Jesus stammen könnten. So gehen wir von ihrer Historizität aus.

5. Die Gesetzesauslegung Jesu, 5,21-48 I Übersetzung 21 Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten, wer aber tötet, soll dem Gericht verfallen. 22 Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen. Wer aber zu seinem 99 100 101 102 103 104 105 106 107

Bultmann Gesch, 156f.158.161. Ähnlich Beare, 138ff. Luz I 229. Fiedler, 127f. Carson, 144f. Flusser, 99f. Schniewind, 53ff. Wilckens I/1, 286f. Riesner, 456ff. Davies-Allison, 482f.

5. Die Gesetzesauslegung Jesu, 5,21-48

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Bruder sagt: Raka!, soll dem Hohen Rat verfallen. Wer aber sagt: Gottloser, soll der Feuerhölle verfallen. 23 Wenn du nun deine Gabe zum Altar herbeibringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24 dann lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh zuerst hin, versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und bringe deine Gabe herbei. 25 Sei deinem Gegner wohlgesinnt1 – rasch, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter übergibt und2 der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen wirst! 26 Amen, ich sage dir: Du wirst von dort nicht herauskommen, bis du auch den letzten Quadrans bezahlst. 27 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst nicht ehebrechen. 28 Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um seine Begierde auf sie zu richten, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen. 29 Wenn dich aber dein rechtes Auge zur Sünde verführt, dann reiß es aus und wirf es von dir. Denn es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. 30 Und wenn dich deine rechte Hand zur Sünde verführt, dann hau sie ab und wirf sie von dir. Denn es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geht. 31 Es wurde gesagt: Wer seine Frau entlässt, soll ihr einen Scheidebrief geben. 32 Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt, es sei denn wegen Unzucht, der macht, dass mit ihr Ehebruch getrieben wird. Und wer eine Entlassene heiratet, der bricht die Ehe. 33 Weiter habt ihr gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst keinen falschen Eid schwören, sondern dem Herrn deine Eide halten! 34 Ich aber sage euch: Ihr sollt überhaupt nicht schwören! Weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, 35 noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße, noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs. 36 Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören, denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen. 37 Es sei aber eure Rede: Ja, ja. Nein, nein. Was darüber hinausgeht, kommt vom Bösen. 38 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge um Auge und Zahn um Zahn. 39 Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht Widerstand leisten! Sondern wenn dir jemand eine Ohrfeige auf deine rechte Backe gibt, dem halte auch die andere hin! 40 Und dem, der mit dir prozessieren und dein Untergewand nehmen will, dem lass auch den Mantel! 41 Und wenn dich jemand eine Meile zwingt, dann gehe mit ihm zwei! 42 Gib dem, der 1 Vgl. BDR § 353,9. 2 καί [kai] als Ausdruck der Folge, BDR § 442,8.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der von dir leihen will! 43 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für eure Verfolger, 45 damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet! Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und über Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr dann? Tun nicht sogar die Zöllner dasselbe?3 47 Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr dann Besonderes? Tun nicht sogar die Heiden dasselbe? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.

II Struktur Den Abschnitt 5,21-48 hat Matthäus offenbar besonders sorgfältig zusammengestellt. Als Sondergut des Matthäus kann man dabei nur Mt 5,33-37 bezeichnen, wobei allerdings Jak 5,12 eine sehr enge Parallele darstellt. Alle übrigen Teile von Mt 5,21-48 weisen mehr oder minder starke Parallelen bei Markus und Lukas auf. Das ist ein Hinweis darauf, dass wir es bei Mt 5,21-48 mit in der Urchristenheit weit verbreiteten Lehrstoffen zu tun haben. Noch einmal sei auf die besondere Nähe des Jakobusbriefes zur Bergpredigt bei Mt hingewiesen, die ich in meinem Kommentar zum Jakobusbrief detaillierter nachzuzeichnen versuchte.4 Das Gerüst des Abschnitts bilden die sechsfach wiederholten Aussagen Ihr habt gehört, dass gesagt wurde – Ich aber sage euch (V. 21f.27f.31f.33f. 38f.43f, mit jeweils leichten Modifizierungen). Solche Wiederholungen erleichtern das Memorieren.5 Dass die Formulierung Ich aber sage euch im Rahmen der Berglehre tatsächlich jesuanischen Stil wiedergibt, zeigen Lk 6,27 und 12,59. Hinter dem Gerüst der Ich aber sage euch-Aussagen erhebt sich ein zweites inhaltliches Gerüst. Das ist die Anlehnung an den Dekalog (V. 21.27) und Levitikus 19 (V. 33.43) neben anderen Aussagen der Tora (V. 31.38). Man kann daraus schon mit einer gewissen Vorsicht schließen, dass für den Lehrer Jesus der Dekalog und das Heiligkeitsgesetz des Buches Levitikus einen zentralen Platz einnahmen.

3 Vgl. BDR § 442,23. 4 G. Maier, Der Brief des Jakobus, Historisch-Theologische Auslegung, Witten/Gießen, 2. Aufl., 2009, 7ff und passim. 5 Vgl. Riesner, 365ff.

5. Die Gesetzesauslegung Jesu, 5,21-48

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Für die Struktur des Abschnitts ist weiter die eschatologische Prägung wesentlich. Sie wird signalisiert durch Begriffe wie Gericht (κρίσις [krisis]), Feuerhölle (γέεννα τοῦ πυρός [geenna tou pyros]), Gefängnis (φυλακή [ phylakē]), Richter (κριτής [kritēs]), verloren gehen (ἀπόλλυμι [apollymi]) oder Lohn (μισθός [misthos]). Ohne den eschatologischen Bezug wäre die Rede Jesu überhaupt nicht verständlich. Schließlich greift Mt 5,21-48 das Thema von eurem Vater im Himmel aus V. 16 wieder auf (V. 45.48; vgl. auch V. 9), ja, es führt gezielt auf die Gotteskindschaft hin (V. 45 und besonders V. 48). So ist Mt 5,21-48 trotz vieler Wiederholungen in der Wortwahl ein spannungsvoller und inhaltlich facettenreicher Abschnitt. Ein Problem besonderer Art, das aber über die Struktur-Ebene hinausführt, stellt sich durch die Frage nach der Überschrift zu Mt 5,21-48. Passt die Überschrift „Antithesen“, die bis heute viele Ausleger verwenden?6 Wer freilich Jesus nicht gegen das Gesetz argumentieren sieht, der kann nicht gut von Antithesen sprechen. Deshalb gibt es eine ganze Reihe anderer Überschriften: „Alte und neue Tora“,7 „Contrasts“,8 „The Great Instruction“,9 „Examples of True and False Righteousness“,10 „Die neue Gerechtigkeit“,11 „Examples of Jesus’ radical ethic“,12 „Die Bergpredigt als Beispiel des Lehrens Jesu“13 usw. Wir beließen es jedoch bei der einfachen Überschrift „Die Gesetzesauslegung Jesu“.14 Aus dem Gleichklang der Eingangsformeln in V. 21 und V. 33 schloss man, dass dadurch zwei Dreiergruppen (V. 21-32 und V. 33-48) gebildet würden.15 Diese Beobachtung bleibt jedoch rein formal und trägt inhaltlich nichts aus.

III Einzelexegese 1. Die Auslegung des sechsten Gebotes, 5,21-26 Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde (V. 21): Die Alten (ἀρχαῖοι [archaioi]) sind die früheren Israeliten, „the people of old“,16 vor allem die 6 So Berger WMANT, 586; Nolland, 226; Gnilka I, 150; Carson, 147; Luz I 244; Sand, 108. 7 Lohmeyer, 116. 8 Turner, 164; ähnlich Senior, 76f. 9 Albright-Mann, 60. 10 Weber, 65. 11 Schniewind, 57. Ähnlich Davies-Allison, 504: „The Better Righteousness“. 12 France, 117. 13 Zahn, 176ff. 14 Vgl. noch Fiedler, 130f; Mello, 124. 15 So Luz I 244f; Fiedler, 129. 16 Turner, 168; Nolland, 226. Vgl. Lohmeyer, 117; Gnilka I, 153; Luz I 249; Beare, 147.

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Generation der Gesetzesempfänger am Sinai (Ex 19–24). Wenn AlbrightMann den Ausdruck weit fassen und allgemein von „prerabbinic stage“ sprechen,17 verschieben sie den Akzent. Im Unterschied zu παλαιός [ palaios] hat ἀρχαῖος [archaios] nämlich den Charakter des weit Zurückliegenden, des Ehrwürdigen und Ursprünglichen, und entspricht damit dem hebr. ‫[ ֶקֶדם‬qädäm]18 (vgl. Lk 9,8; Apg 15,21; Offb 12,9; 20,2). Vermutlich wollte Jesus durch das ἀρχαῖοι [archaioi] gerade das Ehrwürdige der israelitischen Gesetzgebung zum Ausdruck bringen. Im Übrigen kann τοῖς ἀρχαίοις [tois archaiois] auf zweifache Weise übersetzt werden. Entweder heißt es zu den Alten oder „von den Alten“.19 Die Parallele zu dem Ich aber sage euch in V. 22 lässt uns die erstgenannte Möglichkeit vorziehen.20 So stehen sich also gegenüber: Vom früheren Autor wurde zu den Alten gesagt – vom jetzigen Autor (Jesus) wird zu den Menschen der Gegenwart gesagt. Aber wer ist der frühere Autor? Handelt es sich bei ἐρρέθη [errethē] um ein Passivum divinum? Eine Reihe von Auslegern bejaht diese Frage und betrachtet demgemäß Gott als den Redenden.21 Man kann aber auch an Mose als den Redenden denken.22 Eine dritte Möglichkeit ist die Deutung auf die Rabbinen ganz allgemein, die zum Beispiel von Zahn vertreten wird.23 Aber eine solche Deutung auf die Rabbinen lässt sich nur durchführen, wenn man die Alten in Abweichung vom üblichen Sinngehalt auf alle voraufgehenden Generationen, ja sogar noch auf die gegenwärtige Generation erstreckt. Am ehesten leuchtet die Deutung auf Mose ein.24 Sie lässt sich durch den matthäischen Sprachgebrauch an anderen Stellen stützen (vgl. Mt 8,4; 19,7f; 22,24; 23,2). Vor allem aber entgeht sie der Schwierigkeit, dass Jesus dem Wort des Vaters sein eigenes gegenübergestellt haben soll. Im Vorgriff auf die folgenden Erläuterungen müssen wir das es wurde gesagt noch genauer umschreiben: Es handelt sich um das, was „von Mose im Auftrag Gottes zu den Alten gesagt wurde“.25 Die Formel Ihr habt gehört (Ἠκούσατε [Ēkousate]) bedarf ebenfalls der Erklärung. Ihr sind wie sonst in Mt 5,1ff die Jünger.26 Wo haben sie die Ge17 18 19 20 21 22 23 24

Albright-Mann, 60. G. Delling, Art. ἄρχω usw., ThWNT, I, 1933, 485. Vgl. Bauer-Aland, 223. Lohmeyer a.a.O.; Bauer-Aland a.a.O. Im Ergebnis ebenso Zahn, 224, Fn. 90. So Lohmeyer a.a.O.; Nolland a.a.O., Gnilka a.a.O. So z.B. Schniewind, 57. Zahn, 222fff. Ähnlich auch Turner, 165. Es gibt entferntere rabbinische Parallelen, vgl. Albright-Mann, 61; Luz I 247; Fiedler, 130; France, 118. 25 Vgl. Schlatter, 64. 26 Turner, 165.

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bote gehört? In der Synagoge, im Gottesdienst, im Tempel, von den Eltern.27 Das Hören schließt das Lernen ein.28 Nun wird in V. 21 das sechste (bei Luther das fünfte) Gebot aus dem Dekalog zitiert: Du sollst nicht töten. In der Formulierung οὐ φονεύσεις [ou phoneuseis] (Indikativ Futur) spiegelt sich die Gesetzessprache des AT.29 οὐ φονεύσεις [ou phoneuseis] steht wörtlich auch in LXX Ex 20,13; Dtn 5,17. Vom Hebräischen her ist es klar, dass die genauere Übersetzung „Du sollst nicht morden“ lauten muss.30 Denn ein von der Rechtsordnung erlaubtes Töten in der Strafjustiz oder im Krieg wird natürlich durch dieses Gebot nicht ausgeschlossen. Jesus fügt an: wer aber tötet (mordet), soll dem Gericht verfallen. Gericht (κρίσις [krisis]) ist hier das lokale Strafgericht.31 Diese Zufügung Jesu gehört nicht mehr zu den Zehn Geboten, findet sich jedoch inhaltlich ebenfalls im Mosegesetz (Ex 21,12; Lev 24,17; Num 35,16ff; Dtn 17,8).32 Es ist verständlich, dass Jesus mit den Zehn Geboten beginnt. Aber warum gerade mit dem sechsten Gebot? Vielleicht ist es doch so, dass Jesus die Gebote der zweiten Gesetzestafel als die leichteren betrachtete (vgl. Mt 19,18ff ) und deshalb bewusst bei den leichteren Geboten anfing, um von dort zu den schwereren, nämlich den Geboten der Gottes- und der Menschenliebe, zu kommen (vgl. Mt 5,43; 6,34; 19,21; 22,34ff ). Gerade beim sechsten Gebot, das die Juden allgemein zu halten glaubten (Röm 2,21ff ), konnte er die bessere Gerechtigkeit lehren. V. 22 bringt das erste Ich aber sage euch: Dieses Ich aber hat die Ausleger aller Zeiten herausgefordert. Peter Fiedler möchte das δέ [de] – zugegebenermaßen gegen den „üblichen“ Sprachgebrauch – nicht als Gegensatz, nicht als aber verstehen, sondern als weiterführendes nun.33 Grammatisch ist dies möglich.34 Aber er tritt damit nicht nur in einen Gegensatz zur altchristlichen Exegese eines Irenäus,35 sondern er zerbricht auch die Parallelität der Versanfänge in V. 21 und V. 22. ἐγώ [egō] (Ich) ist die (Gegensatz-)Parallele zum Subjekt des „es wurde gesagt“, euch steht in Parallele zu den Alten, λέγω 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Vgl. Riesner, 97ff; Lohmeyer a.a.O.; Gnilka a.a.O. Riesner, 377. BDR § 362,1f; 427,1. Albright-Mann, 61; F.-L. Hossfeld, Art. ‫ָרַצח‬, ThWAT, VII, 1993, 654ff; France, 119; Schlatter, 64. Nolland, 226; Lohmeyer, 120; als „Gerichtshof der Dreiundzwanzig“ Strack-Billerbeck I 275. Albright-Mann a.a.O.; Turner, 168; Gnilka I, 153; Lohmeyer a.a.O.; Luz I 252. Fiedler, 130ff. Vgl. BDR § 447. Adv. haer. II, 32,1; IV, 13,1.

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[legō] mit seinem Präsens in Parallele zur Vergangenheitsform ἐρρέθη [errethē]. Es liegt daher näher, mit Blass-Debrunner-Rehkopf36 und anderen37 an dem adversativen Charakter des δέ [de], also an dem aber, festzuhalten. Während das unbestimmte Passiv ἐρρέθη [errethē] im Stile der Pirqe Abot auch die nachfolgende Tradentenkette einschließen kann, hat das ἐγώ [egō] (Ich) einen exklusiven Charakter.38 Nur er, Jesus, kann das Folgende sagen. Dabei sind mehrere Dimensionen eingeschlossen: Er ist der „rechte Lehrer“ (vgl. Mt 22,16) und „der rechte Gesetzesausleger“,39 er ist der „sole authoritative interpreter“ des AT,40 vor allem aber der Messias, der „in der Macht seines Wortes“41 sprechen kann. Angesichts der heutigen Diskussion sind zwei entscheidende Gesichtspunkte hervorzuheben. Den ersten hat besonders Don A. Carson betont: Jesus ist hier nicht mit innerhalachischen oder innerrabbinischen Diskussionen befasst, sondern mit dem Anbruch der messianischen Zeit und mit der Frage, wie jetzt die Heiligen Schriften Israels fortgelten.42 Den zweiten Gesichtspunkt hat schon 1935 Ethelbert Stauffer in aller Deutlichkeit herausgearbeitet: Es geht Jesus um die eschatologische Erfüllung der Schrift. Um Stauffer zu zitieren: „Dies λέγω ὑμῖν schließt eine Epoche ab in der Geschichte der Religion und Ethik, es schafft eine neue Situation.“43 Es genügt daher nicht, nach Übereinstimmungen mit den damaligen Rabbinen zu forschen, so sinnvoll dies auch in Einzelfragen ist. Vielmehr muss das christologische Vorzeichen der Bergpredigt beachtet werden, das uns in Mt 1–4 vorliegt. Doch nun zum Inhalt der Aussage Jesu: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen. Jesus geht hier zurück zum Ausgangspunkt des Mordens. „Morden“ ist nicht nur im Akt der Lebensvernichtung gegeben, sondern auch in einem Prozess, der nach Mt 15,19 im Herzen beginnt. „Zorn ist die erste Stufe des Mordes“.44 Jesus hat hier nicht „freihändig“ formuliert. Er griff vielmehr Lev 19 auf – ein häufig von ihm benutztes Kapitel –, wo es in V. 17 heißt: „Du sollst deinen Bruder in deinem Herzen nicht hassen.“45 Vorsicht ist jedoch geboten gegenüber einer zu engen Auslegung des Begriffes 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

§ 447,1.2. Vgl. Zahn, 222f; Stauffer (1. folgende Anm.), 345. Vgl. E. Stauffer, Art. ἐγώ, ThWNT, II, 1935, 341. Zahn, 223. Carson, 144. Vgl. Turner, 166. Schniewind, 60. Carson, 144.148. Vgl. Turner, 167. Stauffer a.a.O., 345. Dieser Gesichtspunkt droht bei Fiedler verloren zu gehen. G. Stählin im Art. ὀργή usw., ThWNT, V, 1954, 421. Fiedler, 133.

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Bruder. Wenn Fiedler hier auf „Gemeindemitglieder“ einschränken will,46 greift das zu kurz. Schon in Lev 19,17 hat ‫[ ָאח‬ʾāch] die Bedeutung „Nächster“.47 Beim Gericht (κρίσις [krisis]) ist wieder an das Lokalgericht zu denken.48 In der Auslegung fragt man, wie ein innerer Vorgang, das Zürnen, Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sein soll. Gustav Stählin spricht von einem „grotesken Charakter“ dieses Wortes.49 Aber Jesus lehrt hier kein juristisches Verfahren, sondern lässt die Hörer das Ausmaß ihrer Schuld erkennen. Jeder Zorn müsste angeklagt und verurteilt werden, weil er einen Verstoß gegen das sechste Gebot darstellt. Angesichts der Debatte über den „heiligen Zorn des Menschen“50 bleibt es bemerkenswert, dass Jesus einen solchen überhaupt nicht erwähnt. Wir können daraus nur schließen, dass er einen wirklich „heiligen“ Zorn nur bei Gott annimmt (vgl. Mt 22,7). Wie tief die Worte Jesu die Apostel geprägt haben, zeigt das NT. Der Bergpredigt am nächsten steht Jakobus in 1,19f.51 Gustav Stählin hat die zutreffende Beobachtung gemacht, dass „menschlicher Zorn im NT nie“ ein gerechter oder heiliger Zorn genannt wird.52 Gerade dies kommt im Jakobusbrief zum Ausdruck.53 Weiter ist zu erinnern an Johannes in 1Joh 3,15 und Paulus in Eph 4,26f.54 Es bleibt bemerkenswert, dass manche Rabbinen hier ähnlich lehrten wie Jesus. Am bekanntesten ist das Wort von Rabbi Elieser vom Ende des 1. Jh. n.Chr.: „Der, der seinen Bruder hasst, gehört zu denen, die Blut vergießen.“55 Das zeigt, dass Jesu Wort den Hörern sofort verständlich war. Eine feine Nuance trennt allerdings Rabbi Elieser von Jesus. Er spricht in Aufnahme des hebr. ‫[ שׂנא‬śnʾ] aus Lev 19,17 von „hassen“, während Jesus von zürnen spricht.56 Zürnen aber ist weiter verbreitet als „hassen“.

46 Fiedler a.a.O. Auch Carson, 149; Jeremias Gleichnisse, 108. Auch Zahn, 229, vertritt die weitere Auslegung. 47 Gesenius, 22. Vgl. France, 120. 48 Stählin a.a.O.; Lohmeyer, 118, Strack-Billerbeck I 275f. 49 A.a.O. 50 So J. Fichtner, im Art. ὀργή usw., ThWNT, V, 1954, 394 und ff; Stählin a.a.O., 419; Weber, 67. Vgl. die Einfügung von εἰκῇ [eikē] durch viele HSS; Luz I 256ff. 51 Seine Vernachlässigung in der Exegese ist ein etwas düsteres Kapitel. 52 Stählin a.a.O., 420. 53 Stählin a.a.O., 420f. 54 Vgl. wieder Stählin a.a.O., 420ff. 55 Nach Albright-Mann, 61. Vgl. ferner Lohmeyer, 119, der auf Pirqe Abot II, 14 und Strack-Billerbeck I 276ff verweist, sowie Luz I 254; Fiedler, 133. 56 Siehe dazu O. Grether / J. Fichtner im Art. ὀργή, ThWNT, V, 1954, 394f.

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Nun folgen in Mt 5,22 zwei Steigerungen, wobei schon umstritten ist, ob es sich wirklich um Steigerungen handelt.57 Zuerst sagt Jesus: Wer aber zu seinem Bruder sagt: Raka!, soll dem Hohen Rat verfallen. Zum Begriff Bruder vgl. oben. Raka (ῥακά [rhaka]) oder, wie manche Handschriften lesen, „Racha“ bleibt ein umstrittenes Wort. Lohmeyer nannte drei mögliche Ableitungen: a) von aram. rega = Hohlkopf, b) von hebr. reg = leer, eitel, c) von griech. ῥαχιστής [rhachistēs], „Prahlhans“.58 Die Variante ῥαχά [rhacha] ist spärlicher bezeugt und deshalb wohl auszuschließen.59 Joachim Jeremias erblickt in ῥακά [rhaka] eine „Transkription des aram[äischen] Schimpfwortes ‫“ֵריָקא‬.60 Letzteres wiederum hängt seiner Meinung nach mit dem hebr. ‫[ ֵריק‬rēq] = leer zusammen.61 Das Vorkommen in der rabbinischen Literatur ermöglicht es, seinen Sinngehalt zu erfassen: ῥακά [rhaka] ist „ein Ausdruck der ärgerlichen Geringschätzung, die mit Unwillen, Zorn oder Verachtung gepaart sein kann, und wird regelmäßig gegenüber einem törichten, gedankenlosen oder anmaßenden Menschen angewandt. „Man empfand das Schimpfwort als harmlos: Schafskopf, Esel.“62 Des Weiteren meint Jeremias, κρίσις [krisis] bedeute nicht das Lokalgericht, sondern die Strafe, genauer: die Todesstrafe.63 Seine Deutung bleibt grundsätzlich möglich. Sie leidet aber unter einer Inkongruenz: Bei der Todesstrafe selbst fehlt die Instanz, dann folgen zwei Instanzen (Synhedrium und Feuerhölle) ohne ausdrückliches Strafmaß. Wir ziehen es deshalb vor, bei einer Steigerung durch die drei Instanzen zu bleiben: Lokalgericht – Hoher Rat (Synhedrium, Sanhedrin, in Jerusalem) – Feuerhölle. Die Strafe allerdings ist jedes Mal die Todesstrafe entsprechend Ex 21,12; Lev 24,17. Zum Hohen Rat, griech. συνέδριον [synedrion], hebr. ‫[ ַסנְֵהְדִרין‬s̀ anhedrīn]: Es handelt sich um das höchste jüdische Gericht zur Zeit Jesu, das ihn dann später zum Tod verurteilte (Mt 26,57ff ).64 Mt 5,22 schließt mit dem Satz: Wer aber sagt: Gottloser, soll der Feuerhölle verfallen. Wieder geht es um ein Sagen, eine „Zungensünde“. Während 57 Bejahend Lohmeyer, 118; J. Jeremias, Art. ῥακά, ThWNT, VI, 1959, 975,16; Schlatter, 65ff; Mello, 125; Strack-Billerbeck I 276. Ablehnend Turner, 168; Luz I 252f; Carson, 149; Fiedler, 133. 58 Lohmeyer, 119. Weitere Ableitungsmöglichkeiten bei J. Jeremias, Art. ῥακά, ThWNT, VI, 1959, 974, 5. 59 Jeremias a.a.O., 973,1. 60 A.a.O., 973. 61 A.a.O., 974. 62 Jeremias a.a.O., 947f. 63 A.a.O., 975. 64 Strack-Billerbeck I 276.

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zürnen sich nur im Zürnenden selbst abspielen kann, greift das Sagen den anderen verbal an. Es kann, wie alles böse Wirken der Zunge (vgl. Jak 3,1ff ), schädigen, verletzen, evtl. den andern in den Tod treiben. Auch darin liegt eine Steigerung, nicht nur bei der Gerichtsinstanz.65 Gottloser, griech. μωρέ [mōre], gibt wieder Anlass für eine lebhafte Diskussion. Was ist daran so Schlimmes?, fragt der moderne Leser. Schon das Griechisch-deutsche Wörterbuch nennt eine ganze Reihe von Deutungsversuchen, darunter auch den, μωρέ [mōre] als griech. Übersetzung von ῥακά [rhaka] aufzufassen.66 Dann würde Jesus sinngemäß sagen: „Wer andere mit ῥακά oder μωρέ beschimpft, muss vom Hohen Rat zum Tod verurteilt werden, ja mehr noch: Gott wird ihn in die ewige Hölle werfen.“ Aber es gibt eine Reihe von Beobachtungen, die in eine andere Richtung deuten: μωρός [mōros] ist an mehreren Stellen der LXX Übersetzung für ‫[ נָָבל‬nābāl], was den Gottlosen bezeichnet.67 So zum Beispiel in Dtn 32,6, wo Israel im Lied des Mose als „törichtes Volk“ (LXX: λαὸς μωρός [laos mōros]) getadelt wird, das heißt als gottloses Volk. Man denke ferner an Davids Gegner in 1Sam 25,1ff, der „Nabal“ (‫[ נָָבל‬nābāl]) = „Tor“ hieß. Ferner ist zu beachten, dass im Judentum Beleidigungen wie „Gottloser“ sehr ernst genommen wurden. Fiedler zitiert aus b Bab Mez 58b: „Wenn jemand seinen Nächsten öffentlich beschämt, ist es ebenso, als würde er Blut vergießen.“68 Die genannten Beobachtungen legen es nahe, μωρός [mōros] in Mt 5,22 tatsächlich als schwerwiegende Beschimpfung – Gottloser – aufzufassen.69 1Joh 3,15 kann dies nur unterstützen. Es liegt dann also eine dreifache Klimax (Steigerung) vor: vom inneren Vorgang des Zürnens zum äußerlich registrierbaren Sagen; vom Lokalgericht zum Gottesgericht der Feuerhölle; von der harmlosen Beschimpfung „Schafskopf “ zur schwerwiegenden Beschimpfung „Gottloser“.70 Nur kurz sei hier angemerkt, dass Feuerhölle (γέεννα τοῦ πυρός [geenna tou pyros]) die ewige Strafe im Gottesgericht nach Jes 66,24 bedeutet. Alle Steigerungen, die wir in Mt 5,22 beobachtet haben, dienen dazu, den Hörern

65 Schlatter, 66. 66 Bauer-Aland, 1076. 67 Vgl. hier und im Folgenden G. Bertram, Art. μωρός usw., ThWNT, IV, 1942, 838f; Strack-Billerbeck I 279. 68 Fiedler, 133. Vgl. Bertram a.a.O., 846. 69 Auch die Annahme von Jeremias a.a.O., 975, dass μωρέ [mōre] auf ein aram. „Schothja“ (‫שְׁטי ָא‬ ָ [schothjāʾ]) zurückgeht, bleibt weiterhin eine gute Erklärungsmöglichkeit. Vgl. Luz I 252; Schniewind, 58. 70 In puncto Klimax schließen wir uns also an die Alte Kirche an. Vgl. Luz I 253.

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das Ausmaß ihrer Schuld deutlich zu machen und auf diesem Hintergrund das Bild einer besseren Gerechtigkeit im Gottesreich entstehen zu lassen.71 Geht Mt 5,22 historisch tatsächlich auf Jesus zurück? Dabei spielt es eine Rolle, ob die Worte über ῥακά [rhaka] und μωρέ [mōre] als Zusätze (V. 22b bzw. 22c) zu betrachten sind. Ulrich Luz, der die Sachlage relativ ausführlich darstellt,72 spricht von „zahlreichen traditionsgeschichtlichen Dekompositionsversuchen“.73 Er selbst entscheidet sich am Ende im Einklang mit einer Reihe anderer Forscher für die Echtheit, das heißt, Mt 5,21f bildet ein „einheitliche(s) Überlieferungsstück“ und geht „auf Jesus zurück“.74 Matthäus jedenfalls lag daran, dass unser Vers wirklich auf den Messias Jesus zurückgeht, und es gibt kein durchschlagendes Argument, diese Aussage des Evangelisten zu widerlegen.75 Nach V. 22 setzt sich die Liste von Einzelfällen, die unter das sechste Gebot fallen, nicht mehr fort. Das ist typisch für Jesus und auch für Matthäus, die eben die Kasuistik ablehnen. Stattdessen entfaltet Jesus anhand zweier Beispiele in V. 23f und 25f die positive Zielrichtung, die im sechsten Gebot liegt. Interessanterweise besitzen also die Zehn Gebote für Jesus einen Doppelcharakter: 1) Sie wehren dem Bösen (vgl. 1Tim 1,9f ); 2) sie fördern ein Gott wohlgefälliges Leben. Der reformatorische Katechismus hat diese Anliegen Jesu ausgezeichnet bewahrt, wenn er das 5. (= 6. biblisches) Gebot so auslegt: „dass wir unsrem Nächsten an seinem Leib keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und ihn fördern in allen Leibesnöten“. In V. 23 zeichnet Jesus das Bild eines Israeliten, der mit seiner Opfergabe (Gabe = Opfer76) unterwegs ist: Wenn du nun deine Gabe zum Altar herbeibringst … Gemeint ist der Brandopfer-Altar im inneren Vorhof des Tempels77 (vgl. Ex 27,1ff; 38,1ff ). Herbeibringen (προσφέρειν [ prospherein]) lässt sich auf alle Opferarten anwenden,78 erinnert aber im Kontext von Mt 5,23f vor allem an ein Opfertier (Schaf, Ziege, Taube).79 Jesus schildert in Mt 5,23f vermutlich „eine schon im Gang befindliche Opferhandlung“, präziser 71 Mit Kasuistik hat das nichts zu tun. So mit Recht Luz I 253f. Kasuistisch hingegen die Gemeinschaftsregel von Qumran (1QS VI, 25ff; VII, 2ff ). Vgl. Schlatter, 65. 72 Luz I 251f. 73 Luz, 251. Kritisch u.a. Bultmann Gesch, 142ff, Beare, 146ff. 74 Luz a.a.O. 75 Im Ergebnis ebenso Bertram a.a.O.; Jeremias a.a.O., 976. 76 F. Büchsel, Art. δίδωμι usw., ThWNT, II, 1935, 169. 77 Bauer-Aland, 745. 78 Vgl. Bauer-Aland, 1441. 79 France, 120f.

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noch, den Vorgang der „Übergabe des zu Opfernden an den Priester“.80 Es handelt sich also um den letzten Moment vor Vollendung des Opfers. Und du dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat: Dort, ἐκεῖ [ekei], meint gerade diesen letzten Moment. Dein Bruder sollte wie in V. 22 nicht nur als Gemeindemitglied (das aber ganz besonders!), sondern weiter gefasst als „Nächster“ verstanden werden. Es ist typisch für Jesus, dass er von diesem Nächsten her denkt (vgl. Lk 10,36f ). Deshalb sagt er nicht „dass du etwas gegen deinen Bruder hast“, sondern: dass dein Bruder etwas gegen dich hat. Auffallenderweise gibt es dazu in den Handschriften keine Varianten.81 Hat aber dein Bruder etwas gegen dich, dann gilt die Pflicht zur Versöhnung, wie jetzt sofort V. 23 beweist. Formal fällt auf, dass Jesus in Mt 5,23 zum du, also zur 2. Person Singular, übergeht, nachdem er bisher die 2. Person Plural benutzte. Ist das ein Zeichen dafür, dass Mt 5,21f und 5,23f ursprünglich nicht zusammengehörten?82 Eine solche Folgerung ginge zu weit.83 Denn gerade in Mt 5,21-48 beobachten wir einen relativ häufigen Wechsel von Plural und Singular (vgl. 5,21f/5,23ff; 5,27f/5,29f; 5,33ff/5,36/5,37; 5,38f/5,40ff ). Im Übrigen fragt Jesus hier nicht danach, wer recht hat: du oder dein Bruder. Ihm genügt die Tatsache, dass das Verhältnis gestört ist.84 V. 24 gibt die Anweisung: dann lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh zuerst hin, versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und bringe deine Gabe herbei. Es ist richtig, dass hier die Versöhnung Vorrang hat vor der Kulthandlung.85 Dennoch sollte man bei Vergleichen mit Hos 6,6; Mt 9,13 usw. vorsichtig sein. Denn bei Hosea und verwandten Stellen geht es um eine grundsätzliche Höherwertung der Barmherzigkeit gegenüber dem Opfer (vgl. Mt 23,3), während es in Mt 5,23f um eine konkrete Einzelfallentscheidung geht. Was aber in Mt 5,23f im Vordergrund steht, und womit sich der Hörer schwer tut, ist die Rigorosität der Anweisung. In den Kommentaren fragt man: Wie soll das geschehen, was Jesus fordert? Wo soll die Opfergabe / 80 K. Weiß, Art. φέρω usw., ThWNT, IX, 1973, 68, in Anlehnung an Zahn und Klostermann. Vgl. Zahn, 229. 81 Vgl. den ganz anderen Fall bei V. 22, wo häufig ein εἰκῇ [eikē] eingefügt wurde. 82 Bultmann, Gesch, 101.140.350 glaubt, dass erst Matthäus die Verse 23f in den jetzigen Zusammenhang eingefügt hat. Ähnlich Davies-Allison, 517. 83 Wie wir Carson, 150. 84 Luz I 259; Beare, 150; Sand, 112f. Anders Schlatter, 68: Der andere muss „Grund zur Klage“ haben. Auch Zahn, 229: Es muss „Anlaß zur Klage“ bestehen, aber Zahn erweitert dann auf Seite 230: einen „gerechten Anlaß“ setzt Jesus nicht voraus. Wie Schlatter noch Schniewind, 61; Tasker, 69. 85 Luz a.a.O.; Zahn, 230; Senior, 77; Wilckens I/1, 272.

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das Opfertier bleiben? Soll ein Galiläer drei Tage lang in seine Heimat zurückwandern?86 Aber der Sinn der Worte Jesu ist klar und schon längst in Ps 24,3f angeklungen: Nur „wer unschuldige Hände hat und reines Herzens ist“, darf auf den heiligen Tempelberg kommen. Mit Recht erinnert Theodor Zahn an die Seligpreisung der Täter des Friedens.87 Die einzelnen Umstände hat Jesus nicht besprochen. Ob man die Gabe solange an Freunde oder Bekannte übergibt, ist nicht sein Thema. Was geschieht, wenn der Bruder die Versöhnung ablehnt, bleibt ebenfalls dahingestellt. Das übrige Neue Testament hat sich allerdings zu diesem im praktischen Leben sehr häufigen Fall geäußert, und zwar in einer sehr barmherzigen Weise. In Röm 12,18 schreibt Paulus: „Soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Was nicht an uns liegt, können wir weder bewegen noch verändern. Das macht uns innerlich frei und nimmt den Krampf aus unseren Bemühungen. Da es der erhöhte Herr ist, der durch die Apostel spricht (Lk 10,16; 2Kor 3,17), dürfen wir auch Röm 12,18 als Jesuswort ernst nehmen. Leicht überhört man die letzten Worte: und dann komm und bringe deine Gabe herbei. Jesus hat also den Tempelgottesdienst und die Opferdarbringung in Mt 5,23f nicht aufgehoben.88 Ja, Mt 5,23f ist sogar eine Stütze für die Annahme, dass das Matthäusevangelium noch vor der Tempelzerstörung im Jahre 70 n.Chr. geschrieben ist.89 Rainer Riesner geht so weit, aus Mt 5,23 abzuleiten, dass es damals ortsansässige Jünger gab, „die regelmäßig Opfer darbringen“.90 In Mk 11,25 taucht ein Mt 5,23f verwandtes Wort auf. Demnach hat Jesus auch später in seiner Lehre an die Bergpredigt angeknüpft. Der Einfluss von Mt 5,23f auf die Kirchenväter ist beträchtlich, wie die Beispiele des Cyrill von Jerusalem und des Hieronymus beweisen.91 Als zweites Lehrbeispiel wählt Jesus die Situation in einem Prozess, den zwei Prozessgegner miteinander führen (Mt 5,25f ). Joachim Jeremias nennt Mt 5,25f das „Gleichnis vom Gang zum Richter“.92 Es versetzt uns in ein Stadium, in dem beide schon auf dem Weg zum Richter sind: Sei deinem Gegner wohlgesinnt – rasch, so lange du noch mit ihm auf dem Wege bist … Der Umstand, dass es sich um den letzten Augenblick handelt, in dem sich die Dinge noch zum Guten wenden lassen, verbindet also Mt 5,25f 86 87 88 89 90 91 92

Vgl. Luz a.a.O.; Fiedler, 135. Zahn a.a.O. Luz a.a.O.; Jeremias Gleichnisse, 40,1. Carson, 149. Riesner, 488. Texte KV IV, 284; III, 356. Jeremias Gleichnisse, 39.

5. Die Gesetzesauslegung Jesu, 5,21-48

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mit 5,23f. Dieser letzte Augenblick ist für Jeremias der Anlass, auch Mt 5,25f den Krisisgleichnissen zuzuordnen und mit dem Gleichnis von Lk 12,58f zu identifizieren.93 Matthäus habe durch seinen Kontext sekundär aus dem Krisisgleichnis ein Gleichnis für die Lebensführung gemacht.94 Das Urteil von Jeremias ist nur berechtigt, wenn Jesus diesen Gleichnisstoff nur ein einziges Mal zur Anwendung brachte und tatsächlich Mt 5,25f und Lk 12,58f identisch sind. Aber solche Annahmen lassen sich nicht begründen. Ihnen widersprechen die verschiedenen Kontexte der Evangelien und auch die Lebenserfahrung, wonach ein Lehrer dieselben Stoffe, teilweise anders zugespitzt, mehrfach verwenden kann. So gehen wir zwar von der Verwandtschaft zwischen Mt 5,25f und Lk 12,58f aus, sehen aber Mt 5,25f in einem historischen Zusammenhang mit der Auslegung des sechsten Gebotes und schon in der Frühzeit des lehrenden Jesus beheimatet.95 Wir dürfen also von der Stimmigkeit des Kontextes bei Matthäus ausgehen. ἀντίδικος [antidikos] ist auch im griech. Sprachgebrauch der Prozessgegner.96 Die Rabbinen haben dieses griechische Wort „als Fremdwort übernommen“.97 Manchmal nimmt es den Sinn von Kläger an.98 Obwohl G. Schrenk hier skeptisch ist,99 könnte es auch in Mt 5,25 den „Kläger“ bedeuten, sodass also dein Gegner derjenige ist, der dich vor Gericht zieht und eine Forderung durchdrücken will.100 Von der Vokabel her könnte mit dem Gegner auch der Satan als Widersacher gemeint sein (vgl. 1Petr 5,8).101 Aber unser Kontext schließt eine solche Deutung auf den Satan aus, weil man von einem Jünger Jesu nicht sagen kann, er solle dem Satan wohlgesinnt sein (vgl. Jak 4,7). Es bleibt interessant, dass die Karpokratianer, eine Häresie des 2. Jh. n.Chr., den Gegner tatsächlich auf den Teufel deuteten und aus Mt 5,25 / Lk 12,58 die Folgerung ableiteten, dass der Mensch auch alle Sünden begehen müsse, um erlöst zu werden.102 Griech. εὐνοέω [eunoeō] bedeutet „wohlgesinnt sein“ oder „entgegenkommen“.103 Behm übersetzt in Mt 5,25 „einige dich schleu-

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Jeremias Gleichnisse, 39ff. Jeremias a.a.O. Also von der Eschatologie zur Ethik. Ebenso Carson, 150. G. Schrenk, Art. ἀντίδικος, ThWNT, I, 1933, 373. Schrenk a.a.O., 374. Schrenk a.a.O., 373. Schrenk a.a.O., 374. So Jeremias Gleichnisse, 179; Tasker, 69 (der Jünger ist der „offender“); Schlatter, 70: „Gläubiger“; ebenso Fiedler, 135. 101 Vgl. wieder Schrenk, 374f. 102 Irenäus Adv. haer. I, 25,4. 103 J. Behm im Art. νοέω usw., ThWNT, IV, 1942, 968; im NT Hapaxlegomenon.

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nigst mit ihm durch gütlichen Vergleich“104, Bauer-Aland „sei deinem Gegner schleunigst wieder Freund“105. Johannes Behm erklärt dabei Mt 5,25 so, dass dem „Gegner Unrecht getan worden sei“.106 Davon steht aber im Wort Jesu – jedenfalls direkt – nichts. Jeremias kommt unserem Text näher, wenn er interpretiert: „Setze alles daran, Deinen Prozeßgegner zu befriedigen. Gib nach! Tu den ersten Schritt! Tu ihn gleich! Es könnte sonst für Dich gefährlich werden!“107 Jedenfalls drängt Jesus zur Eile – rasch –, weil sonst die Chance vertan sein könnte. Die Worte so lange108 du noch mit ihm auf dem Wege bist versetzen uns ins ländliche Galiläa. Die beiden Prozessierenden kommen offenbar aus einem kleineren Ort, an dem es kein Lokalgericht gibt, und befinden sich auf dem Wege – zu Fuß oder auf dem Eselsrücken – zum Bezirksgericht, dem sog. „Gerichtshof der Dreiundzwanzig“.109 Der Weg ist die Chance. Hier kann man sich noch verständigen. Handelt es sich um vermögensrechtliche Streitigkeiten, wie Strack-Billerbeck u.a. annehmen,110 kann man sich eine solche Verständigung umso leichter vorstellen. Dabei setzt Jesus in der Tat voraus, dass man nachgibt und nicht bis zum Letzten auf dem eigenen Recht beharrt (vgl. V. 38-48; Mt 5,9; Hebr 12,14). Er begründet es allerdings – und das irritiert viele Ausleger – sehr rational, indem er auf die Gefahr hinweist, die hier lauert: damit dich der Gegner nicht dem Richter übergibt und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen wirst! Selbst wenn der Gegner Unrecht hat, kann er mithilfe eines ungerechten Richters siegen (vgl. Lk 18,6). Der Richter im Singular kann nach dem jüdischen Prozessrecht formuliert sein, wonach unter Umständen ein einziger autorisierter und ordinierter Rechtsgelehrter entscheidet.111 ὑπηρέτης [hypēretēs] ist der Gerichtsdiener, wie er dem Richter „zum Zweck der Durchführung von Urteilen zur Verfügung steht“.112 Modern formuliert: der „Vollzugsbeamte“. Und du ins Gefängnis geworfen wirst: das 104 A.a.O., 970. 105 Bauer-Aland, 654. Strack-Billerbeck I 288: „Sei deinem Widersacher eilends wohlgesinnt“; Davies-Allison, 519: „make an effort to be reconciled with him“; Schlatter, 68f: „Sei nachgiebig“ [sic!]. 106 Behm a.a.O., 970. 107 Jeremias a.a.O., 40. 108 Zu ἕως ὅτου [heōs hotou] vgl. BDR § 455, 5.3. 109 Vgl. Strack-Billerbeck I 275. 110 Strack-Billerbeck I 288, unter Verweis auf eine Baraita in b Sanh 46; Davies-Allison, 521. Anders Zahn, 232: „jede Versündigung am Nächsten“. 111 Strack-Billerbeck a.a.O. nach b Sanh 4b. Vgl. F. Büchsel im Art. κρίνω usw., ThWNT, III, 1938, 944. 112 K.H. Rengstorf im Art. ὑπηρέτης usw., ThWNT, VIII, 1969, 540. Vgl. Strack-Billerbeck I 290. Jeremias Gleichnisse, 22, dagegen: „Synagogendiener“.

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griech. φυλακή [ phylakē] für Gefängnis wurde zum rabbinischen Lehnwort ‫ [ ִפּיָלֵקי‬pīlāqē].113 Davies-Allison meinen, dass Geldschuldner nach jüdischem Recht nicht ins Gefängnis geworfen wurden.114 Aber Jesus setzt auch in Mt 18,30ff voraus, dass es eine Gefängnishaft für solche Schuldner gab. Eins jedenfalls ist klar: Mt 5,25 lässt sich nicht auf einen Rechtsstreit unter Christen begrenzen.115 Es geht hier wirklich um Frieden und Versöhnung mit jedermann, um, wie Davies-Allison sagen116, „peace with all“. Ein Nebenthema in der Diskussion ist die Frage, ob Jesus hier auf „heidnische Verhältnisse“ Bezug nimmt.117 Weil uns keine Schuldhaft nach jüdischem Recht bekannt sei, müsse man annehmen, dass Jesus auf römisches Recht rekurriere. Gerade durch außerjüdische, als unmenschlich empfundene Rechtsverhältnisse könne er „die Furchtbarkeit des Gerichtes … eindringlich … machen“.118 Eine solche Annahme bleibt möglich. Aber ausgerechnet in den ländlichen Gebieten Galiläas mit ihren Lokalgerichten ein römisches Prozedere anzunehmen, erweckt doch andererseits Bedenken.119 Mit einem bekräftigenden Amen, dem zweiten im Matthäusevangelium nach 5,18, leitet Jesus sein Schlusswort zur Auslegung des sechsten Gebotes ein: Amen, ich sage dir: Du wirst von dort nicht herauskommen, bis du auch den letzten Quadrans bezahlst (V. 26). Ein Quadrans ist die kleinste römische Münze oder 1/4 As, also ein Viertel der gängigsten römischen Kupfermünze (Mt 10,29; Lk 12,6). Ein As wiederum ist je nach Berechnung der 16. oder 24. Teil eines Silberdenars.120 Seinerseits enthält ein Quadrans zwei Lepta, in jüdischer Sprache: zwei Peruten. Ein solches Lepton bzw. eine solche Peruta stellte die kleinste jüdische Münze dar (vgl. Mk 12,42; Lk 21,2). Demnach sagt Jesus: Du musst deine Schuld bis auf die kleinste Münze in der römischen Reichswährung bezahlen, bevor du aus dem Gefängnis (von dort) wieder herauskommst.121 In Mt 18,34 sagt er dasselbe. Die Frage erhebt sich: Bezieht sich Mt 5,25-26 nicht auf das Jüngste Gericht? Zweifellos ist die Parallelaussage in Lk 12,58f eschatologisch orientiert.

113 114 115 116 117 118 119

Strack-Billerbeck a.a.O. Davies-Allison, 520; ebenso Jeremias Gleichnisse, 179; Fiedler, 135. Gegen Tasker, 69; Zahn, 231. A.a.O., 519. So Fiedler, 136. Jeremias Gleichnisse, 179.210; vgl. Fiedler a.a.O.; Luz I 260. Luz a.a.O. behilft sich damit, dass er Matthäus mit seiner ganzen Gemeinde in Syrien leben lässt. Auch Carson, 150, bleibt hier vorsichtig. 120 Vgl. Strack-Billerbeck I 290f; Schröder, 174f.310. 121 Vgl. Davies-Allison, 521.

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Aber gilt dies auch für Mt 5,25f? Viele Forscher bejahen dies.122 Auf einem eschatologischen Hintergrund lassen sich die Schlüsselbegriffe leicht deuten: der Richter = Gott,123 Gefängnis = Gehenna, Schuldner = Sünder, Gerichtsdiener = Engel. Auf jeden Fall wird man festhalten müssen, dass Mt 5,25f transparent bleibt für den Ernst des Jüngsten Gerichts. Aber trotz dieser Transparenz sollte man nicht den Gesichtspunkt der gegenwärtigen, gottgewollten Lebensführung vernachlässigen,124 der nach der Bergpredigt durchaus nicht sekundär ist: Aus dem sechsten Gebot ergibt sich die Aufgabe des Jüngers, Frieden und Versöhnung zu suchen. Er soll nicht nur nicht töten, sondern auch andere Menschen fördern. Damit hat er die Aufgabe, andere vor ihrem Zorn zu bewahren (vgl. Lev 19,17). Es genügt also nicht, wenn wir uns nur selbst vor dem Zorn bewahren wollen!125 In dieser Perspektive verliert die Frage, ob Jesus denn mit einer Rückkehrmöglichkeit aus der „Hölle“ (Gehenna) rechne, an Gewicht. Für die alten Rabbinen stellten Strack-Billerbeck fest, dass sie eine solche Rückkehrmöglichkeit „durchaus“ bejahten.126 Für Jesus aber kann man dies nicht annehmen (vgl. Mk 9,43-48). Die Worte bis du auch den letzten Quadrans bezahlst müssen also dahin verstanden werden: „Das kannst du nicht, und deshalb wirst du dort bleiben.“ Am Ende von Mt 5,21-26 stellen Davies-Allison die Frage, weshalb Jesus127 überhaupt antithetisch (in „antithetical form“) spreche.128 Er führe doch nichts Neues ins Judentum ein, alle seine Aussagen ließen sich auch bei den Rabbinen nachweisen.129 Strack-Billerbeck haben diesen Sachverhalt ebenfalls betont.130 In der Tat lassen sich bei Mt 5,21-26 für alle Einzelaussagen rabbinische Parallelen finden. Bei ihrer Antwort erwähnen Davies-Allison vier Gesichtspunkte: 1) vollziehe das AT selbst noch nicht die Gleichsetzung von Hass/Zorn mit Mord; 2) genüge eine strenge Beachtung des Gesetzes Jesus zufolge noch nicht für ein gottgewolltes Leben; 3) habe Jesus bewusst provozieren wollen; 4) würde Jesus den ansonsten respektierten „heiligen 122 Darunter sind: Carson, Davies-Allison, France, Jeremias, Luz, Rengstorf, Schlatter, Schniewind, Zahn, auch mein früherer Mt-Kommentar. 123 Vgl. Davies-Allison, 519ff. 124 Leider scheint Jeremias Gleichnisse, 39ff „das Paräenetische“ bei Mt gegenüber dem „Eschatologischen“ bei Lk weniger hoch zu veranschlagen. 125 Vgl. Davies-Allison, 517. 126 Strack-Billerbeck I 290. 127 Dass Mt 5,21-26 auf ihn zurückgeht, nehmen sie mit Recht an (519). 128 A.a.O., 521. 129 A.a.O. 130 Strack-Billerbeck I 282.

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Zorn“ nicht mehr erlauben.131 – Diese Gesichtspunkte behalten ihr Recht. Sie können durch weitere Einzelpunkte ergänzt werden, zum Beispiel den, dass Jesus als „ein ganz vorzüglicher Gleichniserzähler“132 unter allen anderen hervorsticht. Das Wesentliche aber scheint uns in einem Doppelten zu liegen: 1) Jesus als Gottessohn und Messias ist der Einzige, der mit höchster Autorität sagen kann, was denn nun Gottes Wille ist; 2) er ermäßigt das Gesetz an keiner Stelle und führt uns deshalb unausweichlich zu der Erkenntnis, dass wir es nicht erfüllen können, und deshalb mit Notwendigkeit zum Kreuz, an dem er uns erlöst.

2. Die Auslegung des siebten Gebotes, 5,27-32 Diese Auslegung setzt in V. 27 wieder mit den Worten ein, die uns aus V. 21 vertraut sind: Ihr habt gehört, dass gesagt wurde. Nur fehlt jetzt τοῖς ἀρχαίοις [tois archaiois]. Der Sinn bleibt dennoch derselbe. Du sollst nicht ehebrechen (οὐ μοιχεύσεις [ou moicheuseis]) entspricht wieder dem Wortlaut des siebten Gebotes in der LXX (Ex 20,13; Dtn 5,17). Die Bedeutung dieses Gebotes geht auch aus Mt 19,18; Röm 2,22; Hebr 13,4 und alttestamentlich aus Num 5,11ff hervor. Über die zahlreichen rabbinischen Diskussionen zu diesem Thema informieren Strack-Billerbeck zur Stelle und Friedrich Hauck im ThWNT.133 Während Israel die eheliche Treue hoch bewertete und sowohl den Mann als auch die Frau dafür verantwortlich machte, galt sie in der antiken Welt der Griechen und Römer viel weniger. Unbedingte eheliche Treue wurde hier nur von der Frau verlangt.134 Dem Mann war freier Umgang mit einer oder mehreren Geliebten, oft mit „Hetären“, erlaubt. Nach griechischem Recht war nur „der heimliche geschlechtliche Verkehr mit der freien Frau ohne Zustimmung“ ihres Mannes oder Vaters verboten.135 Die Zeit der römischen Kaiser, also auch die Zeit Jesu, sah eine „fortschreitende Entsittlichung“.136 Augustus konnte ihr nicht wehren, obwohl er mit Gesetzen dagegensteuerte. „Ehescheidungen waren sehr häufig … Eheliche Untreue der Frauen galt fast als allgemeine Tatsache.“137 Die heutigen Verhältnisse im westlich-nordatlantischen Raum entsprechen weitgehend

131 132 133 134 135 136 137

Davies-Allison a.a.O. Flusser, 284. Art. μοιχεύω usw., ThWNT, IV, 1942, 738ff. Hauck a.a.O., 740. Hauck a.a.O. (nach Latte). Hauck a.a.O., 741. Hauck a.a.O.

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den damaligen Verhältnissen der griechisch-römischen Antike. Das macht unsere Auslegung nicht leichter. In V. 28 beginnt Jesus, das siebte Gebot mit seiner Autorität auszulegen. Das Ich aber sage euch (ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν ὅτι [egō de legō hymin hoti]) wiederholt wörtlich V. 22. So wie er in V. 21ff von der Mordtat zum Zorn und zum Herzen zurückgegangen ist, so geht er auch jetzt konsequent zum Auge und zum Herzen zurück. Das Auge ist hier gewissermaßen ein Organ des Herzens. Vgl. Mt 15,19. Wie in 5,21ff der Zorn, so wird in 5,27ff die ehebrecherische Begierde138 verurteilt: Jeder, der eine Frau ansieht, um seine Begierde auf sie zu richten, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen. Auch hier muss man sorgsam hören. Mit Frau ist die Ehefrau, also die mit einem anderen verheiratete Frau, gemeint.139 Für ansieht ist das Allerweltswort gebraucht, βλέπειν [blepein] = „sehen“, „hinsehen“.140 Die entscheidenden Worte sind πρὸς τὸ ἐπιθυμῆσαι αὐτήν [ pros to epithymēsai autēn], um seine Begierde auf sie zu richten. πρὸς τό [ pros to] bezeichnet hier den Zweck und die Folge.141 Im Verlauf des Anblickens entsteht also die Begierde (vgl. Jak 1,14f ), und der Betreffende erliegt ihr innerlich und bleibt dabei, die Frau anzusehen. Seit Klaus Haackers Beitrag in der Biblischen Zeitschrift von 1977142 wird aktuell diskutiert, ob die Übersetzung in Mt 5,28 nicht lauten müsse: „so dass die Begierde in ihr [= der Frau] erweckt wird“.143 Grammatisch ist eine solche Übersetzung möglich. Aber sowohl der Umstand, dass Jesus hier offensichtlich von der Schuld des Mannes reden will, als auch die betonten Worte in seinem Herzen widerraten der von Haacker vorgeschlagenen Übersetzung. Jesu Auslegung des siebten Gebotes folgt der elementaren Linie, dass er die Ursache des Ehebruchs aufdeckt und ebenso verurteilt wie den Vollzug des Ehebruchs selbst: Der Mann hat dann schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen. Wieder stellen wir fest, dass Jesus hier nicht völlig Neues bringt. Er schärft im Grunde nur das letzte der Zehn Gebote ein: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau“ (Ex 20,17; Dtn 5,21). Die LXX berührt sich dabei im Wortlaut eng mit Mt 5,28: οὐκ ἐπιθυμήσεις τὴν γυναῖκα τοῦ πλησίον σου [ouk epithymēseis tēn gynaika tou plēsion sou]. Das Achten auf das Auge 138 139 140 141 142

Hauck a.a.O. Bauer-Aland, 336; A. Oepke, Art. γυνή, ThWNT, I, 1933, 776. Bauer-Aland, 285ff. BDR § 402,5. Luz I 264 betrachtet die Redewendung als „schwierig“. K. Haacker, Der Rechtssatz Jesu zum Thema Ehebruch (Mt 5,28), BZ, NF, 21, 1977, 113-116. 143 Vgl. dazu Luz a.a.O.

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und den Blick durchzieht dann die Weisheitsliteratur (Hiob 31,1; Sir 9,5.8). Es setzt sich fort in der intertestamentarischen Literatur, zum Beispiel Test Benj VIII, 2: „Wer reinen Verstand in Liebe hat, sieht keiner Frau zum Ehebruch nach.“144 Dabei wird die Verantwortung der Frau nicht weniger betont. Man sieht das an Test Jos XII, 1, wo der Frau Potiphars vorgeworfen wird: „sie warf ihre Augen auf mich“ [= Josef].145 Qumran nimmt diese Linie auf. Die Mitglieder der Qumran-Gemeinschaft verpflichten sich, den „Augen der Unzucht“ nicht mehr zu folgen (1QS I, 6, evtl. nach Num 15,39). In den Rabbinica finden sich ähnliche Aussagen, obwohl man hier immer bedenken muss, dass sie später zu datieren sind als die Aussagen Jesu. Strack-Billerbeck zitieren aus LevR 23 (122b): „Auch der, welcher mit seinen Augen die Ehe bricht, wird Ehebrecher genannt.“146 Und in b Sota 8a wird erklärt, „dass der böse Trieb nur über das Gewalt habe, was man mit den Augen sieht“. Man kann also nicht sagen, dass Jesus der Erste und Einzige sei, der eine solche Lehre vertreten habe. Und Ulrich Luz ist darin zuzustimmen, dass wir als Christen nicht krampfhaft die Originalität Jesu verteidigen müssen.147 Wie aber ist dann das hoheitsvolle Ich aber sage euch zu verstehen? Antwort: Ein schematisches Antithesen-Denken reicht gerade hier nicht aus. Das Ich aber sage euch ist in erster Linie ein Ausdruck der messianischen Autorität, in der Jesus das Gültige und Gottwohlgefällige formuliert – ohne Rücksicht darauf, ob es schon früher oder gegenwärtig ebenso oder ähnlich formuliert wurde. Sein Ich aber sage euch bestätigt zunächst das Alte Testament (vgl. Ex 20,17). Es bestätigt zweitens die nach-alttestamentliche und frührabbinische Auslegung, die mit der Seinen übereinstimmt. Ich aber sage euch muss keinen Gegensatz ausdrücken, es kann auch die Bestätigung durch einen Höheren als Mose darstellen! Vgl. Mt 23,2f. Jesus vertritt drittens das, was wir „eine strenge Linie“ nennen würden, und entfaltet in V. 29f dessen eschatologischen Ernst. Viertens: Jesus stellt sich damit gegen die Zerfallserscheinungen im eigenen Volk, von denen Mischna Sota IX, 9 zur Zeit R. Jochanans ben Zakkaj ein erschütterndes Zeugnis ablegt. Im 29. Vers beginnt Jesus, die Entschiedenheit seiner Weisung zu unterstreichen: Wenn dich aber dein rechtes Auge zur Sünde verführt, dann reiß es aus und wirf es von dir. Da in V. 28 vom Blick die Rede war, wird jetzt natürlicherweise das Auge zum Anschauungsmaterial. Rechts ist im biblischen Sprachgebrauch die wertvollere Seite (vgl. 1Kön 2,19; Ps 16,11; 144 145 146 147

Nach J. Becker, Die Testamente der zwölf Patriarchen, JSHRZ, III, 1,1974, 135. Nach Becker a.a.O., 125. Strack-Billerbeck I 299. Luz I 265.

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110,1; Jes 41,10; Jer 22,24), das rechte Auge also besonders wertvoll. Aber was in unsern Augen besonders wertvoll ist, kann auch die stärkste Quelle der Verführung werden. So kennt schon das AT die Gefahr, die vom Auge ausgeht (vgl. Hiob 31,1; Ps 18,28; Prov 6,17; 21,4; 23,33; 30,17; Jes 2,11). Ähnlich sprachen die Rabbinen vom „bösen Auge“ (P. Abot II, 14).148 Die Hörer wussten also sehr wohl, wovon Jesus sprach. Das griech. σκανδαλίζειν [skandalizein] bedeutet „zum σκάνδαλον machen“, „eine Falle stellen“ oder „ein Hindernis herstellen, an dem man strauchelt“.149 Gustav Stählin vermutet als Äquivalent aram. ‫[ תקל‬tql] oder hebr. ‫[ כשׁל‬kschl].150 Für Mt 5,29 nimmt er die Bedeutung „zur Sünde reizen“ an.151 Bauer-Aland: „zur Sünde verführen“,152 was wir übernommen haben, weil es nicht nur um den Reiz zur Sünde geht, sondern um ein Instrument, das uns die Tat der Sünde ermöglicht. Dann reiß es aus und wirf es von dir: Meint dies Jesus „echt“, soll das Ausreißen also real vollzogen werden? Teile der Alten Kirche haben es so verstanden, wie die Selbstverstümmelung des Origenes noch vor dem Jahr 211 n.Chr. zeigt.153 Oder sind ausreißen und wegwerfen nur Begriffe für eine innere, geistliche Reinigung?154 Die radikale Zuspitzung, die Jesus in den Versen 29 und 30 vollzieht, spricht eher für das erstgenannte, reale Verständnis.155 Doch im Kontext des Evangeliums wird klar, dass selbst ein Ausreißen des Auges keine Besserung bringt. Denn das Böse wohnt in unserem Herzen (Mt 15,19) und der Mensch ist nach Jesus von Grund auf böse (Mt 7,11).156 Würde aber das Ausreißen des Auges helfen, dann wäre der Verlust des Auges wesentlich leichter zu ertragen als die Verdammnis zur Hölle. Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Die Hölle nennt Jesus hier wie in V. 22 auf aramäisch γέεννα [geenna] (Gehenna, ‫[ ֵגּיִהנָּם‬gēhinnām]).157 Diese Bezeichnung leitet sich ab vom hebr. ‫[ ֵגּי־ִהנּ ֹם‬gē-hinnom] (Jos 15,8; 18,16), ursprünglich ‫[ ֵגּי ֶבּן־ִהנּ ֹם‬gē bän-hinnom] oder ‫[ ֵגּי ְבנֵי ִהנּ ֹם‬gē bᵉnē hinnom],158 einem Tal im 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158

Vgl. Strack-Billerbeck I 302; G. Stählin, Art. σκάνδαλον usw., ThWNT, VII, 1964, 340. Vgl. wieder Stählin a.a.O., 339f. Stählin a.a.O., 340: „wahrscheinlich … ‫“תקל‬. A.a.O., 351. Bauer-Aland, 1504. Vgl. A. Harnack, Art. Origenes, RGG, 1. Aufl., 4. Bd., 1913, 1029; Eusebius H.E. VI, 8,1-3. So die meisten Exegeten, vgl. Luz I 266; Fiedler, 138; Beare, 152f; Schlatter, 72; Schniewind, 63; Carson, 151; France, 122f. Zahn, 236f. Das sah man auch in der Alten Kirche so, vgl. Isaak von Antiochien in Texte KV I, 406. Vgl. J. Jeremias, Art. γέεννα, ThWNT, I, 1933, 655f. Jeremias a.a.O., 655.

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Süden des alten Jerusalem, das auch als Wadi er-rababi bezeichnet wird. In diesem Tal wurden zur Zeit der Könige Ahas und Manasse Menschenopfer dargebracht – ein unfassbarer Gräuel für den Glauben Israels (vgl. 2Kön 16,3; 21,6; Lev 18,21). Jeremia verkündigte das Gericht über das „Tal Ben-Hinnom“ (Jer 7,32; 19,6). Später wurde das „Gehinnom“ zum Namen für die endzeitliche Feuerhölle und für die ewige Verdammnis (ä Hen 27,1ff; 54,1ff; 56,3f; 90,26f; 4Esr 7,36; syr Bar 59,10).159 Es ist bemerkenswert, dass nach Jesus nicht nur die Seele in die ewige Verdammnis kommt, sondern auch der ganze Leib.160 Das wird durch Mt 10,28; Mk 9,43ff und Jes 66,24 bestätigt. Wie V. 22 stellt uns also Mt 5,29 vor die Tatsache, dass Jesus a) mit einem Gericht Gottes, b) mit einem möglichen Verwerfungsurteil und c) mit ewiger Verdammnis rechnet. Große Teile der heutigen protestantischen Theologie lehnen diese Sicht ab. „Die traditionelle Vorstellung einer Gerichtsverhandlung am Ende der Zeit ist kaum mehr lebendig“, stellte Heinrich Ott schon 1972 fest.161 Viele neigen zur Allversöhnung oder lassen die Frage nach einem Gericht Gottes bewusst offen. Letzteres ist bei Ott selbst der Fall: „Es ist hier schlechterdings keine Auskunft möglich.“162 Aber sowohl das Offenlassen wie die Ablehnung bringen uns in eine Spannung zur Lehre Jesu. Mehr noch: in einen Gegensatz sowohl zu dem, was die ganze Bibel lehrt, als auch speziell zu Jesus selbst. V. 30 ist weitgehend parallel zu V. 29 aufgebaut. Solche Parallelismen erleichterten das Auswendiglernen.163 Darüber hinaus decken sich 25 Wörter von insgesamt 32 in V. 30 mit dem 29. Vers, das sind fast 80 Prozent. Und wenn dich deine rechte Hand zur Sünde verführt, dann haue sie ab und wirf sie von dir: „Wie in der ganzen Antike, so wird auch im AT der rechten Hand gegenüber der linken ein höherer Wert zugeschrieben.“164 Ein Auge kann man ausreißen, eine Hand nur abhauen. In der Tat kennt das AT in bestimmten Fällen die Strafe des Handabhauens (Dtn 25,11f ), und auch die Rabbinen ließen sie im Ausnahmefall vollziehen.165 Deshalb kann man bei V. 30 mit mehr Recht als bei V. 29 fragen, ob Jesus eine reale Selbstbestrafung ins Auge fasst. Gustav Stählin bejaht diese Frage: „Jesus (hat) offenbar eine

159 160 161 162 163 164

Jeremias a.a.O. Jeremias a.a.O. Zahn 236,5 verweist auf Joh 5,29. Ott, 466. Ott, 471. Riesner, 398. E. Lohse, Art. χείρ usw., ThWNT, IX, 1973, 415. Gegen Carson, 151, ist wirklich die Hand und nicht das männliche Geschlechtsorgan gemeint. 165 b Nidda 13b.

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rigorose Selbstbestrafung im Auge.“166 Seine Forderung sei „wörtlich gemeint“.167 Aber auch da ist zu sagen, dass die Entfernung der Hand die sündige Begierde nicht beseitigt. Deshalb deckt Mt 5,30 wie Mt 5,29 unsere Sünde auf, der wir selbst nicht entrinnen können (vgl. Röm 3,20). Der Schlusssatz von V. 30: Denn es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geht, hat dieselbe Bedeutung wie in V. 29. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass Mk 9,43-48 und Mt 18,8f ganz ähnliche Worte enthalten wie Mt 5,29f. Meist geht man davon aus, dass Matthäus seine Markusvorlage bearbeitet hat. Darin haben sich viele moderne Kommentare Rudolf Bultmann angeschlossen.168 Betrachtet man aber – wie wir – das Matthäusevangelium als das ältere, dann muss man eine andere Erklärung finden. Hier teilen wir die Meinung von Don A. Carson: „The point is so fundamental that Jesus doubtless repeated it on numerous occasions.“169 Wie in vielen Fällen hat Jesus einprägsame Bilder und Begriffe mehrfach und bei verschiedenen Gelegenheiten benutzt. Ein Zeugnis der Wirkung seiner Predigt begegnet uns in Kol 3,5; Jak 4,8. Zu seiner Auslegung des siebten Gebotes gehören auch die Verse 31 und 32. Formal betrachtet handelt es sich hier allerdings um die dritte „Antithese“ (Ἐρρέθη δέ [Errethē de] …). Es wurde gesagt: Wer seine Frau entlässt, soll ihr einen Scheidebrief geben (V. 31): Die Bezugsstelle ist Dtn 24,1-4. Es geht also um die Ehescheidung. In Mt 19,3ff greift Jesus dieses Thema noch einmal auf, und es ist deshalb nicht möglich, Mt 5,31f ohne Mt 19,3ff auszulegen.170 In V. 31 liegt ein Wortlaut vor, der sich so weder im hebräischen noch im griechischen Text von Dtn 24,1ff findet; es scheint sich um eine spätere schriftgelehrte Zusammenfassung von Dtn 24,1ff zu handeln. Insofern ist auch die Kürze der Eingangsformel berechtigt: Es wurde gesagt (ἐρρέθη [errethē]). Sie ist die kürzeste aller Einleitungen in Mt 5. Es fehlt sowohl das „Ihr habt gehört“, weil Dtn 24,1-4 einen andern, vollständigeren Text bietet, als auch das „zu den Alten“, weil es sich offensichtlich um eine spätere Zusammenfassung handelt. ἀπολύειν [apolyein] ist hier „aus dem Eheverhältnis entlassen“, „fortschicken“,171 ἀποστάσιον [apostasion] als Kurzform für βιβλίον ἀποστασίου [biblion apos166 167 168 169 170 171

Im Art. κοπετός usw., ThWNT, III, 1938, 859. A.a.O. Vgl. Bultmann Gesch, 160.340.350. Carson a.a.O. Schniewind, 64; France, 122. Bauer-Aland, 193.

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tasiou] der Scheidebrief, „das Dokument der Ehescheidung, das der Frau bei ihrer Entlassung ausgehändigt werden mußte“.172 Mit V. 32 trifft Jesus eine seiner wichtigen Lehrentscheidungen, die bis heute die Kirchen bestimmt: Ich aber sage euch: Jeder, der seine Frau entlässt, es sei denn wegen Unzucht (παρεκτὸς λόγου πορνείας [ parektos logou porneias]), der macht, dass mit ihr Ehebruch getrieben wird. Und wer eine Entlassene heiratet, der bricht die Ehe. Eine der Kernfragen bei dieser Stelle lautet: Ist das nun eine echte Antithese zum AT? Viele Ausleger teilen die Meinung Schniewinds: „Der Gegensatz unseres Spruches richtet sich bestimmt gegen die Gesetzgebung des A.T. selbst und nicht nur gegen deren Auslegung bei den Pharisäern.“173 Aber dieses Urteil ist falsch. Schon ein Blick auf Mt 19,8 zeigt, dass Jesus Mose in Schutz nimmt, und andere Stellen bestätigen seine pro-mosaische Haltung (Mt 17,3; 23,2; Lk 16,29.31; 24,27.44; Joh 3,14; 5,45). Speziell steht Mt 5,17-20 der Annahme, Jesus wolle hier das alttestamentliche Gesetz ändern oder aufheben, im Weg. Weit mehr empfiehlt sich die Annahme, dass Jesus gegen die ausufernde Erlaubnis zur Ehescheidung bei den Gesetzeslehrern seiner Zeit Stellung nimmt. Hier behält also Zahn recht.174 Es geht dabei auch um das richtige Verständnis der Worte „weil er etwas Schändliches (‫[ ֶעְרוַת ָדָּבר‬ʿärwat dābār]) an ihr gefunden hat“ in Dtn 24,1. H. Niehr macht darauf aufmerksam, dass der „Gegenbegriff “ zu „schändlich“ in Dtn 23,15 „heilig“ sei.175 Folglich muss „etwas Schändliches“ in Dtn 24,1 „etwas Anstößiges“176 sein, das gegen Gottes Willen verstößt. Die Schule Hillels hat aber zur Zeit Jesu das hebr. ‫[ ֶעְרוַת ָדָּבר‬ʿärwat dābār] (LXX ἄσχημον πρᾶγμα [aschēmon pragma]) so gedeutet, dass es nur „etwas Schändliches“ in menschlichen Augen meine, präziser: in den Augen des Ehemannes. „Selbst wenn sie ihm die Suppe versalzen hat (oder: hat anbrennen lassen)“, reicht dann für eine Scheidung aus,177 ja nach Rabbi Akiba, „wenn er eine andere schöner als sie findet“.178 Die Schule Schammajs urteilte hier weit strenger. Aber durchgesetzt hat sich die Schule Hillels.179 Wie wir gleich sehen werden, lenkt Jesus entschieden zur ursprünglichen Wortbedeutung zurück und verwirft auf jeden Fall die „liberale“ Deutung der Schule Hillels. 172 G. Schrenk, Art. βίβλος usw., ThWNT, I, 1933, 616; BDR § 111,9. 173 Schniewind, 63. Ebenso Bultmann Gesch, 143; F. Hauck, Art. μοιχεύω usw., ThWNT, IV, 1942, 741. 174 Zahn, 239. Ebenso Tasker, 66. 175 Im Art. ‫ָעָרה‬, ThWAT, VI, 1989, 372. 176 Niehr a.a.O. 177 Gittin IX, 10; b Gittin 90a. 178 A.a.O. 179 b Gittin 90a. Zu den beiden Schulen vgl. Strack-Billerbeck I 313ff.

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Wie leicht Letztere als führende pharisäische Schule eine Scheidung machen konnte, zeigt das Beispiel des Josephus. Er entließ zur Zeit der Apostel seine erste Ehefrau, weil ihm ganz allgemein „ihr Verhalten missfiel (ἀρεσκόμενος αὐτῆς τοῖς ἤθεσιν [areskomenos autēs tois ēthesin])“.180 Ein Problem lag freilich in der offenen Formulierung von Dtn 24,1, worin die Worte „etwas Schändliches“ verschieden interpretiert werden konnten und eben doch Mose „um der Herzen Härte“ willen die Scheidung nicht grundsätzlich ausschloss (vgl. Mt 19,8). Mit Ich aber sage euch deckt Jesus in messianischer Autorität den wahren Willen Gottes auf. Dieser Wille zielt auf Bewahrung der Ehe. Deshalb tritt er generell jeder Ehescheidung entgegen: Jeder, der seine Frau entlässt, … der macht, dass mit ihr Ehebruch getrieben wird. Auf das obige Beispiel des Josephus angewandt: Bei seiner Scheidung hat er gegen den Willen Gottes verstoßen, auch wenn er Priester und pharisäisch geschult war. Das griech. αὐτὴν μοιχευθῆναι [autēn moicheuthēnai] lässt sich doppelt übersetzen. Entweder heißt es, „dass sie die Ehe bricht“,181 oder es heißt, dass mit ihr Ehebruch getrieben wird.182 Weil damals der Mann der aktiv Handelnde war, ist die zweite Übersetzung vorzuziehen. Jedoch laufen beide Übersetzungen auf dasselbe hinaus: Wer sich von seiner Frau scheidet, treibt sie in den Ehebruch. Jesus setzt hier die normalen Lebensvorgänge voraus. Dieser Normalität entsprach es, dass die geschiedene Frau wieder heiratete. Um ihrer Versorgung willen musste sie das sogar in vielen Fällen tun. Der Scheidebrief sollte gerade eine solche Wiederverheiratung möglich machen183 und konnte als Muster etwa die Worte enthalten „zu gehn, um dich zu verheiraten an jeden beliebigen Mann“.184 Die Traktate Gittin und Ketubot des babylonischen Talmud schildern eine Fülle von Fällen und auch die Komplikationen, die damit zusammenhingen. In den Augen Jesu bedeutete aber eine solche zweite oder gar mehrfache Ehe generell einen Bruch der ersten Ehe. Hier wird der meilenweite Abstand zwischen ihm und der heutigen westlichen Welt erkennbar. Wir fügen gleich den zweiten Satz von V. 32 an: Und wer eine Entlassene heiratet, der bricht die Ehe. Wieder geht Jesus vom Mann aus, der damals der aktiv Handelnde war. Heiratet ein Mann eine geschiedene Frau (eine Entlassene), dann zerstört er endgültig die vorausgehende Ehe. Jesus spricht die180 Josephus Vita § 426. Strack-Billerbeck I 312, bezeichnet hier Hillels Schule als „zum Teil lax bis zur Frivolität“. 181 So übersetzt Gaechter, 182; Beare, 153f; Carson, 152f. 182 So übersetzt Schniewind, 62; Zahn, 240; Schlatter, 73. 183 Gaechter, 181f; Strack-Billerbeck I 310ff. 184 Zitiert bei Strack-Billerbeck I 311.

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sen Grundsatz in aller Klarheit aus. Er wird auch hier nicht kasuistisch, er setzt keine „neue Halacha“.185 Er trennt sich aber von der Praxis der damaligen Synagoge, indem er die Wiederverheiratung zum Ehebruch erklärt. In aller Schärfe stellen Strack-Billerbeck fest: „Dergleichen Gedanken kennt die Synagoge nicht.186 Nur die Wiederverheiratung mit dem Ehebrecher wurde auch von den damaligen Rabbinen verboten.187 Es ist wichtig, zusammen mit Paul Gaechter daran festzuhalten, dass schon Dtn 24,1 dem Schutz der Frau diente und einen rein „konzessiven“ Charakter hatte.188 Deshalb bringt Jesus tatsächlich „den Geist“ des mosaischen Gesetzes zur Geltung, und es liegt „kein Verstoß gegen die Tora und keine Korrektur des göttlichen Gebotes“189 vor. Allerdings hat Jesus in derselben Klarheit einen Grund benannt, der eine Scheidung auch nach dem Willen Gottes ermöglicht. Das ist die Unzucht (πορνεία [ porneia]): es sei denn, wegen Unzucht (παρεκτὸς λόγου πορνείας [ parektos logou porneias]). Genauer übersetzt heißt es hier: „abgesehen von etwas von Unzucht“.190 Denn λόγος [logos] geht, wie G. Kittel bemerkt, auf das hebr. ‫[ ָדָּבר‬dābār] in Dtn 24,1 zurück.191 Jesus will also, wie es unsere Stelle erneut bestätigt, wirklich Dtn 24,1 auslegen.192 Unzucht (πορνεία [ porneia]) entspricht demnach dem hebr. ‫[ ֶעְרוַת ָדָּבר‬ʿärwat dābār]. Sie ist ein weiter gefasster Begriff als „Ehebruch“ (μοιχεία [moicheia]), auch wenn es sich häufig „praktisch“ um Ehebruch handelt.193 In den Begriff Unzucht sind eingeschlossen alle geschlechtlichen Betätigungen außerhalb der Ehe von Mann und Frau, in erster Linie Ehebruch, aber auch homophile Beziehungen, Beziehungen nur auf Zeit und Beziehungen, die sonst gegen die Gebote verstoßen.194 Liegt ein solcher Fall der Unzucht vor, dann darf der Ehemann seine Frau entlassen und die Frau die Scheidung verlangen. Es handelt sich allerdings nur um das Recht, sich zu scheiden, und nicht um eine Pflicht, wie sie von den Rabbinen nach Mischna Sota V, 1 aufgestellt wurde. Das heißt, dass

185 186 187 188 189 190 191 192 193 194

Gegen E. Stauffer, Art. γαμέω usw., ThWNT, I, 1933, 648. Strack-Billerbeck I 320. Mischna Sota V, 1. Vgl. Strack-Billerbeck I 320. Gaechter, 181.182. Gaechter, 182.183. Vgl. G. Kittel im Art. λέγω usw., ThWNT, IV, 1942, 105; F. Hauck / S. Schulz, Art. πόρνη usw., ThWNT, VI, 1959, 591. A.a.O. Kittel a.a.O.; Luz I 274. So F. Hauck / S. Schulz a.a.O. Luz I 273: ganz allgemein „sexuelles Fehlverhalten“; Zahn, 241: „alle ungesetzliche, außereheliche Befriedigung des Geschlechtstriebes“. Vgl. France, 123.

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ein Ehebruch auch vergeben werden kann.195 Zu einer solchen Vergebung darf man jedoch auch unter Christen niemanden drängen. Der Grund zum Scheidungsrecht bei Unzucht liegt offensichtlich darin, dass Ehebruch und Unzucht die bisherige Ehegemeinschaft in der Tat schon zerbrochen haben.196 Der Klarheit willen sei noch hinzugefügt, dass πορνεία [ porneia] nicht als matrimonium nullum im Sinne des katholischen Kirchenrechts zu verstehen ist, sondern eben im Sinne der biblischen Aussagen.197 Diese „Unzuchtklausel“ von Mt 5,32 hat eine intensive Diskussion darüber ausgelöst, ob sie ein echtes Jesuswort ist. Weil sie in Mk 10,1ff und Lk 16,18 fehlt, nimmt man häufig an, dass sie nicht von Jesus stammt und erst von Matthäus in die Jesusworte Mt 5,32; 19,9 eingefügt wurde, vielleicht um „der Rechtfertigung frühkirchlicher Praxis“ zu dienen.198 Daneben macht man geltend, sie sei „juristisch-kasuistischer Natur“, Jesus aber habe „nirgends Rechtsentscheidungen gegeben“.199 Beides trifft nicht zu. Erstens musste Jesus klären, welche Scheidungen nach Dtn 24,1 erlaubt sind. Das hat aber mit Kasuistik nichts zu tun. Zweitens traf Jesus durchaus Entscheidungen über göttliches Recht,200 zum Beispiel beim Ährenraufen (Mt 12,1ff ) und bei der Steuerfrage (Mt 22,15ff ). Wir gehen also mit Schlatter,201 Schniewind,202 Hauck, Schulz203 und anderen204 davon aus, dass Matthäus die Ausnahmeklausel historisch zu Recht auf Jesus zurückführt. Fazit: 1) Jesus legt in Mt 5,31f die von Gott gegebene Scheidungsmöglichkeit nach Dtn 24,1-4 aus. 2) Er schließt grundsätzlich um der Bewahrung der Ehe willen die Scheidung aus. Damit befindet er sich in der Nähe der Schule Schammais, aber im Gegensatz zur Schule Hillels. Darüber hinaus stimmt er mit Mal 2,13ff überein.205 3) Im Falle der Unzucht hat aber jeder der beiden Ehegatten ein gottgegebenes Recht auf Scheidung. Der gedemütigte Ehegatte kann allerdings vergeben. 4) Wer das Recht auf Scheidung hat, hat auch das 195 Wie Luz I 275 behaupten kann, dieses Thema habe sich der matthäischen Gemeinde „gar nicht“ gestellt, bleibt rätselhaft. 196 Strack-Billerbeck I 312; Schlatter, 73f; Luz I 275; Zahn, 242; France, 124. 197 Gegen Gaechter, 183, u.a. 198 Stauffer a.a.O., 648, 14. Vgl. F. Hauck, Art. μοιχεύω usw., ThWNT, IV, 1942, 741, 33. Ebenso Luz I 269; Fiedler, 139; Beare, 155; Senior, 78; Bultmann Gesch, 140; Wilckens I/1, 262; Sand, 116. 199 So Gaechter, 183. 200 Wilckens I/1, 263, spricht von „Jesu Rechtsentscheid“. 201 Schlatter, 73. 202 Schniewind, 64. 203 Hauck/Schulz a.a.O., 590f. 204 Z.B. Fiedler, 139; Tasker, 69. 205 Siehe meinen Maleachikommentar in der WStB zur Stelle.

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Recht auf Wiederverheiratung.206 5) Positiv ist festzuhalten, dass aus Mt 5,31f die außerordentliche Hochschätzung der Ehe durch Jesus hervorgeht.207 6) Auf dem Hintergrund der Kulturgeschichte erweist sich Jesu Auslegung als Schutz für die Frau, die auch in Mt 5,31f „zu gleicher persönlicher Würde wie der Mann erhoben“ wird.208 7) Weder Dtn 24,1ff noch Mt 5,31f schließen eine Trennung „von Tisch und Bett“ aus. Eine solche Separation bleibt aus geistlich-seelsorgerlichen Gründen möglich.209 Nachbemerkung: Der Kommentar von Ulrich Luz beschreibt in dankenswerter Weise die Wirkungsgeschichte von Mt 5,31f.210 Am Ende entdeckt er bei Jesus „ein Moment potentieller Lieblosigkeit“, das „sachkritisch“ angegangen werden müsse.211 Er selbst kann jedoch keine Lösung vorschlagen und bleibt bei „Fragen“ stecken. Dabei übersieht er zwei Tatsachen: Erstens verkündet Jesus hier kein Staatsgesetz, sondern eine vollmächtige Lehre für seine Gemeinde. Zweitens hat die westliche Gesellschaft, die sich wie Luz auf die „unbedingte Liebe Gottes zum Menschen“212 beruft und deshalb die Scheidung vollkommen liberalisiert hat, eine unsagbare Verelendung der Ehen heraufgeführt und gelingende lebenslange Ehen zu einer Randerscheinung gemacht.213 Hier ist Jesus barmherziger.

3. Die Auslegung des dritten Gebotes im Blick auf das Schwören, 5,33-37 Hier treffen wir wieder die Wendung Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde aus V. 21. Sie ist nur durch πάλιν [ palin] (weiter214) erweitert, um sie in die Kette der Auslegungen einzufügen.215 Ein Vergleich von Lev 19,12 und Ex 20,7 zeigt, dass sich Jesus jetzt dem dritten Gebot des Dekalogs (Ex 20,7) zuwendet, es aber sofort im Bereich des 206 Anders Stauffer a.a.O., 648, der zwar ein Scheidungsrecht sehen, aber eine Wiederheirat verbieten will. Doch Letzteres verstößt gegen die Grundstelle Dtn 24,1ff. Anders auch Zahn, 242. 207 In der Kirchengeschichte zu einem christlichen Standard geworden, vgl. Luthers Äußerungen in Lutherlexikon, 76f. In der frühen Kirche vgl. Barnabasbrief 19,4; Justinus Apol I, 15, 1ff; Clemens Alex., Johannes Chrysostomus und Ambrosius nach Texte KV II, 564f.600.624. 208 F. Hauck, Art. μοιχεύω usw., ThWNT, IV, 1942, 741; vgl. Wilckens I/1, 263. 209 Schlatter, 73. 210 Luz I 276ff. 211 Luz I 279. 212 Luz a.a.O. 213 Das sieht Fiedler, 138, deutlicher. 214 Bauer-Aland, 1228. 215 Davies-Allison I 533, lassen hier die zweite „Triade“ der sechs „Antithesen“ beginnen. Ebenso Luz I 280; Fiedler, 142.

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Schwurs konkretisiert.216 Am Ende von Mt 5,33-37 spannt er den Bogen noch weiter bis zur allgemeinen Wahrheitspflicht der Jünger und berührt damit auch das neunte Gebot (Ex 20,16). Du sollst keinen falschen Eid schwören: οὐκ ἐπιορκήσεις [ouk epiorkēseis] lässt sich doppelt übersetzen. Entweder heißt es: „Du sollst keinen Meineid leisten“, oder es heißt: „Du sollst deinen geschworenen Eid nicht brechen.“217 Im ersten Fall steht es näher an Lev 19,12 und Dtn 23,22, im zweiten Fall näher an Num 30,3. Aber es ist anzunehmen, dass hier beides gemeint ist.218 Dafür spricht jedenfalls V. 37. Dafür spricht ferner der hebr. Text in Lev 19,12 (‫שֶּׁקר‬ ָ ‫שִׁמי ַל‬ ָ ‫[ ל ֹא־ִת‬loʾ-tischschābᵉʿū bischmī laschschāְ ‫שְּׁבעוּ ִב‬ qär]). Sondern dem Herrn deine Eide halten (ἀποδώσεις δὲ τῷ κυρίῳ τοὺς ὅρκους σου [apodōseis de tō kyriō tous horkous sou]): Hier drängt sich schon wegen ἀποδοῦναι [apodounai] die Nähe zu Dtn 23,22 einerseits und zu Ps 49,14 LXX (MT 50,14) andererseits auf.219 Wir stehen also wie bei V. 21 vor einem Sinnzitat aus dem AT, bei dem Jesus verschiedene Stellen kombiniert und zugleich kürzt.220 Davies-Allison221 erinnern an Ex 20,7; Lev 19,12; Num 30,3-15; Dtn 23,21-23; Ps 50,14; Sach 8,17; Sap Sal 14,28. Einem solchen Sinnzitat entspricht es am ehesten, wenn man Mt 5,33 insgesamt auf Eide und nicht auf Gelübde bezieht. In Kürze formuliert: „Alle deine Eide sollen wahrheitsgemäß sein.“222 Warum greift Jesus gerade dieses Thema auf? Weil Eid und Schwur im Rechtsleben unverzichtbar und überdies gang und gäbe waren. Davon legen die Aussagen und Rechtsdiskussionen bei Ben Sira (23,9ff; 27,15), in den Testamenten der Zwölf Patriarchen (Test Ass 2,6), in Qumran (11Q19, 53f ) und bei den Rabbinen, vor allem b Nedarim (Gelübde) und b Schebuoth (Eide), Zeugnis ab. In Mt 23,16ff taucht unser Thema erneut auf. Jakobus, der

216 Vgl. Schniewind, 64. In meinem früheren Kommentar (Maier I, 171) habe ich wohl eine Verbindung zum 2. und 8. (3. und 9.) Gebot bejaht, aber Mt 5,33ff schon aus der „Reihe der zehn Gebote“ herausgenommen. 217 Bauer-Aland, 601; Davies-Allison, 534. 218 Vgl. Joh. Schneider im Artikel ὅρκος usw., ThWNT, V, 1954, 467. Auch in Didache 2,3 halten es Davies-Allison a.a.O. für „ambiguous“. 219 Vgl. Davies-Allison a.a.O. 220 Davies-Allison I 533: Jesus „presumably summarizes OT teaching“; ebenso Tasker, 66; Carson, 153; Fiedler, 142. 221 A.a.O., 533f. 222 Davies-Allison I 534. Sowohl den Eid als auch das Gelübde sehen in V. 33 angesprochen Beare, 155f; Joh. Schneider im Art. ὀμνύω, ThWNT, V, 1954, 178. Wie DaviesAllison auch Fiedler a.a.O.

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noch im Synagogenverband lebt, muss sich ebenfalls mit ihm auseinandersetzen (5,12).223 In messianischer Autorität nimmt Jesus nun in V. 34-37 Stellung: Ich aber sage euch … Der Spitzensatz und zugleich Grundsatz besteht lediglich aus drei griechischen Worten: μὴ ὀμόσαι ὅλως [mē omosai holōs] = Ihr sollt überhaupt nicht schwören! (V. 34). Um diese Weichenstellung richtig zu verstehen, muss man sich zunächst daran erinnern, dass Jesus zu seinen Jüngern spricht (euch – ihr). Er formuliert also kein Gesetz für das Rechtsleben eines Staates. Deshalb ist es verfehlt, auf Num 5,11ff oder ähnliche Teile des AT zu verweisen und dann am Ende die Folgerung zu ziehen, Jesus stehe hier in einem Gegensatz zum AT.224 Mit Recht sagt R.V.G. Tasker: „His prohibition is limited to personal relationships and does not apply to the taking of an oath in a civil court of law.“225 Von da aus versteht man es, dass Jesus im Prozess selbst unter Eid aussagte (Mt 26,63f ). Jak 5,12 bestätigt, dass es sich allein um eine Anweisung für die Gemeinde handelt („meine Brüder“).226 Klar ist dann auch, dass Gott selbst schwören kann, um unsern schwachen Glauben zu stützen (vgl. Hebr 6,13ff; 7,20ff; Gen 22,16; 50,24). Im Übrigen mahnt das AT bei Gelübden zur Vorsicht (Koh 5,4). Halten wir positiv fest: Für das Gemeindeleben verbietet Jesus den Schwur. Das Reden der Jünger soll wahr sein, auch ohne Schwur. Damit ist er radikaler als der Prediger oder Ben Sira, die nur zur Vorsicht mahnten (Koh 5,4; Sir 23,9ff; 27,15). Er ist auch radikaler als die Essener, die beim Eintritt „furchtbare Eide schwören“ (ὅρκους … ὄμνυσι φρικώδεις [horkous … omnysi phrikōdeis])227 und die Schwurpraxis der Gelübde fortsetzen.228 Erst recht wird durch Jesu Wort „die christliche Gemeinde von der jüdischen Praxis des Schwörens geschieden.229 Um der Gerechtigkeit willen muss man allerdings auch sagen, dass sich die Rabbinen der Zeit Jesu um Wahrhaftigkeit bemüht haben. So galt beispielsweise bei Gelübden der Grundsatz: „Er soll sein Wort nicht entweihen.“230 Aber die Eindeutigkeit der Weisung Jesu teilten sie nicht.

223 Vgl. Maier Jak, 222ff; Joh, Schneider a.a.O., 460ff und im Art. ὀμνύω, ThWNT, V, 1954, 177ff. 224 Ambivalent hier Luz I 285. Richtig Fiedler, 144. 225 Tasker, 67. Anders Luz I 284. 226 Vgl. Maier Jak, 223ff; France, 125. 227 Josephus B. J. II, 139; 1QS V, 8ff. 228 11Q19, 53f. 229 Joh. Schneider a.a.O., 182. 230 b Ned 146.

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In ihrer komplizierten Rechtsprechung kam es doch zu einem häufigen Missbrauch des Schwurs. Um der Anschaulichkeit willen nennt Jesus vier Beispiele, die sein Schwurverbot illustrieren. Das Erste ist der Schwur beim Himmel:231 Weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron. Dass beim Himmel geschworen wurde, zeigt auch Mt 23,22. Jesu Begründung zielt auf den Schutz des Namens Gottes. Er zitiert hier Jes 66,1: „Der Himmel ist mein Thron“ (Ὁ οὐρανός μοι θρόνος [Ho ouranos moi thronos]), vgl. Ps 11,4. Auch in der Stephanusrede wird Jes 66,1 zitiert (Apg 7,49). Fazit: Wir sollen Gott nicht zu einem Mittel machen, um unsere Wahrhaftigkeit zu unterstreichen. Hier ist klar, dass es um das dritte Gebot geht (Ex 20,7). Vers 35 nennt als zweites Beispiel den Schwur bei der Erde: noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße. Wieder haben wir ein Zitat aus Jes 66,1 vor uns: „die Erde ist der Schemel meiner Füße“ (ἡ δὲ γῆ ὑποπόδιον τῶν ποδῶν μου [hē de gē hypopodion tōn podōn mou]). Vergleiche Ps 99,5; 132,7; Klgl 2,1. Und wieder zeigt es sich, dass es Jesus um die Würde Gottes geht, die der Mensch nicht in seine Wahrheitsdiskussionen hineinziehen soll. Wir bleiben somit im Bereich des dritten Gebotes. Drittes Beispiel ist der Schwur bei Jerusalem: noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs. Hier zitiert Jesus aus Ps 48,3: „die Stadt des großen Königs“ (ἡ πόλις τοῦ βασιλέως τοῦ μεγάλου [hē polis tou basileōs tou megalou]). Vgl. Mt 23,16ff. Er wahrt auch hier die Grundlinie seiner Argumentation: Der Schwur bei Jerusalem berührt Gottes Würde und Heiligkeit und zieht damit Gottes Namen in unsere Diskussionen und Rechtssachen hinein. Jesus sieht hier eine Verletzung des dritten Gebotes. Nach Himmel, Erde und Jerusalem zieht Jesus in V. 36 ein viertes Beispiel heran, nämlich den Schwur beim eigenen Haupt: Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören, denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen. Jesus hat das Bild vom Haar gerne benutzt (vgl. Mt 10,30). Das gilt auch für die ganze Bibel (1Sam 14,45; Ps 40,13; Apg 27,34). Das Haupt steht im AT öfter für den ganzen Menschen.232 Wer bei seinem Haupt schwört, schwört bei sich selbst. Aber nicht einmal das minimalste Stück unseres Ichs steht in unserer eigenen Verfügung (vgl. Mt 6,25ff ). Ein Haar kann von uns unbemerkt zur Erde fallen, aber niemals ohne Gottes Willen (Mt 10,30). Seine Farbe bestimmen nicht wir – weiß oder schwarz – sondern Gott allein. Und weil dies alles in Gottes Macht liegt, sollen wir es 231 Zur grammatischen Konstruktion vgl. BDR § 149,3. 232 Vgl. H. Schlier, Art. κεφαλή usw., ThWNT, III, 1938, 674.

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nicht für einen menschlichen Schwur in Anspruch nehmen. So weit zieht Jesus den Geltungsbereich des dritten Gebotes!233 Die Schriftzitate in V. 34 und 35 haben Zweifel erweckt, ob es sich um echte Jesusworte oder nicht vielmehr um Gemeindebildungen handelt.234 Davies-Allison rechnen zum originären Text nur V. 34a neben V. 33a und V. 37.235 Aber der Schriftbeweis gehört zur Lehre Jesu, und es ist kein Grund ersichtlich, weshalb man Teile von Mt 5,33-37 Jesus absprechen sollte. Im Gegenteil. Der evtl. um 50 n.Chr., jedenfalls aber vor 62 n.Chr. geschriebene Jakobusbrief236 bestätigt in 5,12, dass schon in der ältesten christlichen Tradition eine Überlieferung über das Schwurverbot existiert, die Mt 5,33-37 ganz nahe steht, einschließlich der Bezugnahme auf Himmel, Erde und „anderes“.237 Die Frage, ob Jak 5,12 vom Matthäusevangelium abhängig ist oder einen vor-matthäischen Ursprung hat,238 braucht uns hier nicht zu beschäftigen. In V. 37 geht Jesus zu einer allgemeinen Wahrheitsregel über: Es sei aber eure Rede: Ja, ja. Nein, nein. Was darüber hinausgeht, kommt vom Bösen. Eure Rede (ὁ λόγος ὑμῶν [ho logos hymōn]) schließt alles ein, was Menschen sagen.239 Auffällig ist das doppelte Ja (ναὶ ναί [nai nai]) und das doppelte Nein (οὒ οὔ [ou ou]). Bauer-Aland erklären es als ein „deutliches Ja“ und ein „deutl. Nein“.240 Blass-Debrunner-Rehkopf setzen für unsere Epanadiplosis einen etwas anderen Akzent. Sie verstehen sie im Sinne von Jak 5,12: „Es sei aber euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein“,241 also ein wirkliches Ja oder Nein. Weil Jak 5,12 eine Art Kommentar zum Jesuswort in Mt 5,37 darstellt, ist die zweite Verstehensmöglichkeit vorzuziehen. Jesus will also ein wirkliches Ja oder Nein ohne Abstriche an deren Wahrheitsgehalt.242 Vor allem soll man sich nicht durch Schwüre oder andere Zusätze absichern: Was darüber hinausgeht, kommt vom Bösen. Auch ἐκ τοῦ πονηροῦ [ek tou ponērou] kann man doppelt interpretieren. Entweder heißt es: „es ist etwas vom Bösen = etwas Böses“, oder es heißt: es kommt vom Bösen im personalen 233 Wie Luz I 285 einen „weisheitlich resignierenden“ Ton in Mt 5,36 vernehmen kann, lässt sich nicht nachvollziehen. 234 Von Bultmann Gesch, 143, bis Davies-Allison I 533. Vgl. Luz I 280ff. 235 A.a.O. 236 Vgl. Maier Jak, 43f. 237 Vgl. Maier Jak, 222ff. 238 Vgl. Maier a.a.O.; Davies-Allison a.a.O. 239 Vgl. G. Kittel im Art. λέγω usw., ThWNT, IV, 1942, 100ff. 240 Bauer-Aland, 1079. 241 BDR § 432,1; 266,3. Ebenso Tasker, 70; Zahn, 247. 242 Ebenso Luz I 286; Maier I, 173; France, 125; Fiedler, 143.

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Sinn, also vom Teufel. Die formale und inhaltliche Nähe von Mt 6,13 spricht eher für Letzteres, also die personale Deutung.243 Resultat: Jedes Wort der Jünger soll der Wahrheit entsprechen. Schwüre und Lüge bleiben ausgeschlossen. Wie stark Jesu Anweisung die Gemeinde prägte, lässt sich bei Paulus (2Kor 1,17) und Jakobus (5,12) nachweisen.244 Übrigens ist es kaum möglich, die Abfassung pseudonymer Schriften durch Christen anzunehmen, solange Mt 5,37 bei ihnen in Geltung stand. Die Wirkungsgeschichte von Mt 5,33-37245 kann einige Bände füllen. Wir greifen hier nur wenige Stationen heraus. Die alte Kirche hat uns ein Dreifaches hinterlassen: 1) Sie sah Jesus nicht im Widerspruch zum AT, sondern betrachtete seine Worte als „Erfüllung und Ausdehnung“ des AT;246 2) sie ging von der Erfüllbarkeit seiner Worte aus;247 3) sie sah in Mt 5,33-37 die bessere Gerechtigkeit von Mt 5,20.248 Im Mittelalter entzweite sich die Auslegung in der Frage, ob der Eid bei staatlichen Anlässen möglich sei oder ob auch dort ein absolutes Schwurverbot herrsche. Für ein solches absolutes Schwurverbot traten zum Beispiel die Albigenser, Katharer, Waldenser, Täufer, Mennoniten und Jansenisten ein.249 So heißt es im 7. Schleitheimer Artikel von 1527: „es ist alles Schwören verboten“.250 Jedoch erkannte das kanonische Recht der römischen Kirche die Möglichkeit der Eidesleistung im Staat an.251 Ebenso das lutherische Bekenntnis: Nach CA XVI sind vom Staat „aufgelegte Eide“ zu leisten (iurare postulantibus magistratibus), von Röm 13,1ff und 1Petr 2,13ff her begründet.252 Ebenso die Konkordienformel,253 Calvin,254 der Heidelberger Katechismus,255 die Anglikanische Kirche.256 Bei Luther finden wir beide Linien. Einmal sagt er: „ein Christenmensch … soll … nicht schwören“, ein andermal hält er den Eid sogar innerhalb der christlichen Gemeinde aus seelsorgerlichen Gründen für richtig: „Wenn ich jemand in 243 Anders Luz I 280.286; Zahn, 245, Fn. 17; G. Harder, Art. πονηρός usw., ThWNT, VI, 1959, 561. 244 Vgl. Riesner, 85. 245 Von Luz I 286ff relativ ausführlich dargestellt. 246 So Irenäus nach Texte KV II, 431f. Vgl. Fiedler, 144. 247 So Chrysostomus nach Texte KV II, 447. 248 Wieder Chrysostomus a.a.O., 511. 249 O. Scheel, Art. Eid: III. Ethisch, RGG, 1. Aufl., II, 1920, 240. Auch die Quäker, Handbuch DTG II, 609. Vgl. Handbuch DTG II, 631.651.654ff. 250 Maier Jak, 224. 251 Scheel a.a.O. 252 BELK, 70f. 253 BELK, 824. 254 Handbuch DTG II, 260. 255 Frage 101. 256 Scheel a.a.O.

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geistlichen Nöten und Gefahr, schwach im Glauben, verzagten Gewissens oder irrenden Verstandes und dgl. sehe, da soll ich nicht allein trösten, sondern auch dazu schwören, sein Gewissen zu stärken.“257 Man wird hier bei aller Achtung vor anderen Meinungen nur Klarheit bekommen, wenn man die Bergpredigt als solche ernst nimmt: als Anweisung für die Nachfolge Jesu und seine Gemeinde.258 Sie ist aber nicht Staatsgesetz und lässt dem Staat seinen gottgegebenen Raum nach Röm 13,1ff, also auch die Möglichkeit, von Nichtchristen und Christen den Eid zu verlangen.259 Dass Ulrich Luz für die „nonkonformistischen Gruppen“ schwärmt,260 kann deren Anliegen exegetisch nicht stärken. Man hat die Herkunft dieser Worte (Mt 5,33-37) von Jesus bestritten unter Hinweis auf die Amen-Worte.261 Aber man darf die ganz andere Kategorie der Amen-Worte nicht vermischen mit dem Schwur. Jesu Bekräftigung durch das Amen vermeidet gerade den Schwur und ist ein Hinweis auf die Wahrhaftigkeit seiner Worte (vgl. Joh 21,24; Röm 9,1). Es spricht nichts dagegen, Mt 5,33-37 auf Jesus selbst zurückzuführen.

4. Gottes Urteil über das Vergelten, 5,38-42 Jesus bleibt auch hier bei der Auslegung des mosaischen Gesetzes. Allerdings verlässt er jetzt den Dekalog, was sich schon in 5,33-37 mit der starken Abstützung durch Lev 19,12 andeutete. Hier, in V. 38-42, setzt Jesus im Bundesbuch bei Ex 21,24 an, einer Bestimmung, die sich in Lev 24,20 und Dtn 19,21 wiederfindet: Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Auge um Auge und Zahn um Zahn (V. 38). Jesus zitiert die erste Hälfte von Ex 21,24. Sie hat sich auch bei uns als gängiges Sprichwort durchgesetzt. Die große Leistung jener alttestamentlichen Gesetzgebung lag in der Zügelung des Rachegedankens und in der Strafgerechtigkeit.262 Niemand sollte über die Schuld und über den tatsächlichen Schaden hinaus haften. Für den Schaden am Auge eines andern haftete man nur bis zur Höchstgrenze des Wertes des eigenen Auges. Entsprechendes galt für den Schaden am Zahn, an der Hand, am Fuß usw. (Ex 21,23-25). Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass sich dieses sog. Talionsprinzip auch in anderen antiken Rechtsordnungen findet, z.B. im 257 258 259 260

Beides nach Aland Lutherlexikon, 80. Richtig Fiedler, 144f. Maier I, 174f. Luz I 288f. Das deutsche Grundgesetz verlangt in Art. 56 den Amtseid des Bundespräsidenten, in Art. 64 vom Bundeskanzler und seinen Ministern. Ebenso Zahn, 248f. 261 So Fiedler, 144f. 262 Der Gegensatz liegt in Gen 4,24 vor.

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Codex Hammurapi § 196.197.263 Es wurde fester Bestandteil der abendländisch-westlichen Gesetze.264 In messianischer Autorität, zugleich in der Autorität des Sohnes Gottes (Mt 3,17) legt Jesus nun auch da den Willen Gottes aus: Ich aber sage euch. Ein Widerspruch zum Gesetz ist auch jetzt nicht beabsichtigt.265 Sein Kernsatz lautet: Ihr sollt dem Bösen nicht Widerstand leisten (μὴ ἀντιστῆναι τῷ πονηρῷ [mē antistēnai tō ponērō], V. 39). Nachdem wir πονηρός [ ponēros] soeben in V. 37 personal verstanden haben, müssen wir in V. 39 dasselbe tun. Dem Bösen heißt also: dem Menschen, der uns „einen Schaden oder sonst ein Unrecht … zugefügt hat“.266 Den Bösen auf den Teufel zu beziehen, ist dagegen nicht möglich. Denn nach Eph 6,14ff; 1Petr 5,9 und Jak 4,7 sollen wir ihm Widerstand leisten (ἀντιστῆναι [antistēnai]).267 Allerdings sind die Argumente, die Günther Harder zugunsten einer neutrischen Deutung auf „das Übel“ vorträgt,268 beachtlich. Das Problem einer neutrischen Deutung liegt aber vor allem darin, dass Jesus im ganzen Abschnitt Mt 5,21-48 zum Widerstand gegen „das Böse“ / „das Übel“ auffordert! Sollte er jetzt in V. 38ff das Gegenteil verlangen? Außerdem haben es alle Beispiele in Mt 5,38-42 eben mit Menschen zu tun. Deshalb ziehen wir zusammen mit der Alten Kirche269 in Mt 5,37 und 39 doch die personale Deutung vor, wobei das erste Mal (5,37) der Teufel, das zweite Mal in Übereinstimmung mit Mt 5,45; 13,49 und 22,10 der böse Mensch gemeint ist.270 Doch was bedeutet dieser Kernsatz Jesu? Schlatter beschreibt es so: „Ihr dürft … Unrecht dulden, ohne es zu vergelten, dürft euch wehtun lassen, ohne dass ihr auch wehtut!“271 Fiedler hat ebenfalls einen wesentlichen Teil des Sachverhalts erfasst, wenn er von einem „Verzicht auf das Recht, das einem zusteht“, spricht.272 Denn es kann nach dem Zusammenhang kein Zweifel daran bestehen, dass uns das Recht zusteht, Schadensersatz und Sanktionen nach dem Talionsprinzip zu fordern. Um noch einmal Schlatter zu zitieren: „Wer die Regel: Auge um Auge, Zahn um Zahn, hart oder barbarisch schilt, 263 264 265 266 267 268 269 270

Vgl. France, 125; Fiedler, 146. Vgl. § StGB vom 25. August 1953. Fiedler, 145ff; Schlatter, 77. Fiedler, 146. Ebenso G. Harder, Art. πονηρός usw., ThWNT, VI, 1959, 562. A.a.O., 561f. Für die neutrische Deutung auch Luz I 296. Harder a.a.O., 561. Vgl. wieder Harder, 558. So auch Johannes Chrysostomus Texte KV III, 343.512f und Salvian von Marseille a.a.O., 438; ebenso Schlatter, 78; Fiedler, 146; Carson, 155; France, 126. 271 Schlatter, 77f. 272 Fiedler, 145.

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dessen Tadel ist so lange lauter Heuchelei, solange er selbst kleine Kränkungen mit großem Leid vergilt und für jede kleine Wohltat einen unendlich großen Dank begehrt.“273 Die personale Deutung des Bösen auf einen bösen Menschen schließt hier das Missverständnis aus, als wollten wir alles Übel und alles Böse wachsen und am Ende über uns selbst herrschen lassen. Nein! Nach Röm 12,21 sollen wir das Böse „überwinden“ (νίκα [nika]!). Warum dann einem bösen Menschen mit so viel Dulden, so viel Rechtsverzicht begegnen? Die erste Antwort kommt aus dem AT.274 Schon hier wird der Verzicht auf Vergeltung gepredigt (Prov 20,22; 24,29; Klgl 3,30; vgl. Röm 12,19; 1Petr 3,9). Denn Dulden führt in die Nähe Gottes und unter den Schutz seiner Liebe. Dulden bewahrt uns davor, dass wir selbst zu Sündern werden. Die zweite Antwort kommt speziell aus den messianischen Verheißungen. Prophetisch zeichnet Jesaja ein Bild des Messias und Erlösers: „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel“ (Jes 50,6). Wer duldet, entspricht also Jesus als unserem messianischen Vorbild, wird ihm ähnlich, ja tritt in Gemeinschaft mit ihm (1Petr 2,21ff; Phil 3,10; 1Thess 5,15). Deshalb fordern uns die apostolischen Briefe zur Freude am Dulden auf (1Kor 13,7; 2Tim 2,12; 1Petr 4,13; Jak 1,12). Dies alles hat aber nur Sinn und Kraft, wenn der lebendige Gott für den duldenden, verzichtenden Menschen eintritt. Und gerade dieses Eintreten Gottes gehört zur ständigen Verkündigung der Bibel: „Harre des HERRN, der wird dir helfen“ (Prov 20,22) – „gebt Raum dem Zorn Gottes“ (Röm 12,19). Wenn ich nicht weiß, dass Gott mich nicht im Stich lässt, kann ich Jesu Anweisung niemals befolgen. So wie Jesus in V. 33-37 vier anschauliche Beispiele der Hauptthese folgen ließ, so lässt er auch jetzt wieder vier Beispiele folgen. Das Erste steht in V. 39b: wenn dir jemand eine Ohrfeige auf deine rechte Backe gibt, dem halte auch die andere hin! ὅστις [hostis] ist „jeder beliebige, der“ oder „wer auch immer“.275 Jesus will gerade keine Kasuistik. ῥαπίζειν [rhapizein] ist der Schlag mit der Hand ins Gesicht. Schlägt ein Rechtshänder zu, trifft er normalerweise die linke Backe des anderen. Er muss mit dem Handrücken zuschlagen, um die rechte zu treffen. Ein solcher Schlag mit dem Handrücken galt als besonders ehrenrührig. Zum Schmerz der Ohrfeige kam also der Ehrverlust hinzu.276 Und dennoch verlangt Jesus Unerhörtes: Nicht nur das Dulden des Schlages, sondern auch die Bereitschaft, den 273 274 275 276

Schlatter, 77. Vgl. Fiedler, 146f. BDR § 293,2. Vgl. Carson, 156; France, 126; Baba Qam 8,6.

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Ehrverlust zu tragen, ja mehr noch: das Angebot weiteren Duldens und weiterer Preisgabe der Ehre einem hässlichen Gegner gegenüber, ohne zurückzuschlagen (dem halte auch die andere hin!).277 Dieses Beispiel hat Jesus nicht „freihändig“ geschaffen, sondern der Schrift entnommen (Klgl 3,30; Jes 50,6). Die Kirchenväter haben an Mt 5,39 unter anderem zwei Gedanken geknüpft. Der Erste drückt die Erwartung aus, dass christliches Dulden auch böse Menschen beeindruckt und zu einer Umkehr veranlasst: „Denn wer ist so tierisch roh, daß er dadurch nicht beschämt würde?“278 Der zweite Gedanke erwächst aus der Beobachtung der Realität unter Christen. So fragt Salvian von Marseille nach einem Zitat von Mt 5,39 voll Skepsis: „Wie viele, glaubt ihr, gibt es, die dieser Rede … Gehör schenken?“279 Offenbar war es damals nicht anders als heute. Das zweite Beispiel zu der These V. 39a steht in V. 40: Und dem, der mit dir prozessieren und dein Untergewand nehmen will, dem lass auch den Mantel! κριθῆναι [krithēnai] ist hier „sich vor Gericht auseinandersetzen“,280 „im Rechtsstreit liegen,281 kürzer ausgedrückt: „prozessieren“. Es geht also nicht um Raub, sondern um Rechtsstreit, folglich auch um Rechtsverzicht.282 Den „Chiton“ trug man als Untergewand unmittelbar auf dem Leib, das ἱμάτιον [himation] als Obergewand oder Mantel darüber. Dabei war der Mantel als unentbehrliche Decke der Armen beim Schlafen prozessrechtlich besser geschützt als das Untergewand (Ex 22,25f; Dtn 24,13). Jesus sagt also: Lass dem Prozessgegner nicht nur das, worum er prozessiert und was er im Falle seines Obsiegens leicht nehmen kann, nämlich das Untergewand, sondern sogar das, was für ihn höchstens mit Einschränkungen zu bekommen ist, nämlich den Mantel. Auffallenderweise gibt er auch hier keine Begründung. Ist das nun das Ende des Rechtslebens? Der Beginn einer schrankenlosen Herrschaft der Bösen?283 Keineswegs. Denn Jesus „organisiert“ nicht die Gewaltlosigkeit als neue „Bewegung“, schafft keine neue Politikform wie unsere modernen Nicht-Regierungs-Organisationen. Viel weniger hebt er das Recht auf (vgl. V. 38), geschweige denn, dass er ein neues Staatsgesetz schafft. Es geht vielmehr um das persönliche, individuelle Verhalten des Jüngers, der ein

277 Die rabbinischen Beispiele in b Schab 88b; b Gittin 36b, auf die Fiedler, 147, aufmerksam macht, sprechen nicht von einem solchen Angebot wie Mt 5,39. 278 Johannes Chrysostomus nach Texte KV III, 343. Ebenso Fiedler, 147. 279 Nach Texte KV III, 438. 280 Bauer-Aland, 917. 281 F. Büchsel im Art. κρίνω usw., ThWNT, III, 1938, 922. 282 Fiedler, 147. 283 Vgl. Schniewind, 67f.

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Zeugnis seines Glaubens gibt und auf Gott vertraut (Prov 20,22; Jes 50,7). Genau diese Linie nimmt Paulus in 1Kor 6,1-8 auf.284 V. 41 bildet das dritte Beispiel: Und wenn dir einer eine Meile Frondienst auferlegt, dann gehe mit ihm zwei! Es ist erstaunlich, wie viele unserer Sprichwörter aus diesem Teil der Bergpredigt stammen: „Auch die andere Backe hinhalten“; „Wer deinen Rock nehmen will, dem lass auch den Mantel“; „Auch die zweite Meile gehen“; „Gib dem, der dich bittet“ (Lutherübersetzungen). Das zeigt, dass Jesus mitten ins Leben getroffen hat. Die wenigen Worte in V. 41 sind stark vom Lateinischen geprägt. Meile, μίλιον [milion], ist aus milia passuum (tausend Schritte) abgeleitet,285 zwingen, ἀγγαρεύειν [angareuein], ursprünglich persisch oder babylonisch, wohl vom lateinischen angariare nahegelegt.286 Dieses zwingen hat den Sinn von „zur Fron für den Beförderungsdienst heranziehen“.287 Der unterworfenen Bevölkerung des Römischen Reiches oblagen Transportleistungen für die Römer (vgl. Mt 27,32), die man meist mit Unwillen oder Hass erbrachte. Und nun sagt Jesus: Leiste freiwillig das Doppelte – zwei Meilen! Dass er dies als Jude zu Juden sagte, die sich damals schon mitten im Guerillakrieg gegen Rom befanden, macht seine Worte umso erstaunlicher. Irenäus hat den Sinn von Mt 5,41 ausgezeichnet getroffen, wenn er erklärt: „damit du ihm nicht wie ein Sklave folgst, sondern ihm wie ein Freier vorangehst, indem du dich in allem für den Nächsten dienstbereit und nützlich erweist“.288 Mit Recht sieht er darin schon die Vollkommenheit von Mt 5,45.48 angedeutet. Das Glaubenszeugnis der Jünger bezieht nach Mt 5,41 unstrittig auch die Heiden mit ein. Im Übrigen konnte Jesus aufgrund von Mt 5,41; 9,11; 22,15ff; Lk 13,1ff so prorömisch erscheinen, dass ihm der Talmud bis heute vorwirft; „er stand der (römischen) Regierung nahe“.289 Dass er sich von den Zeloten kräftig unterschied, ist sicher.290 Im vierten Beispiel (V. 42) verbinden sich die Stichworte geben und leihen: Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab291 von dem, der von dir leihen will! Die alttestamentlichen Bezugsstellen sind hier vor allem Dtn 15,7f, sodann Ex 22,24; Lev 25,35ff; Dtn 23,20. Überraschenderweise be-

284 285 286 287 288 289 290 291

Fiedler, 148; France, 127. BDR § 5,5. Vgl. dazu BDR § 6,2; Bauer-Aland, 11. BDR a.a.O.; Bauer-Aland a.a.O. Übersetzung nach Texte KV II, 433 (Adv. haer. IV, 13,3). b Sanh 43a. Carson, 156; France, 127. Vgl. dazu BDR § 149,2.

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gnügt sich Jesus damit, diese Barmherzigkeitsgebote erneut einzuschärfen.292 Hier würde niemand auf den Gedanken kommen, dass eine „Antithese“ vorliegt. Die alttestamentlichen Bezugsstellen machen auch klar, dass Bittende und Leihende wirklich Bedürftige sind. Wer nur etwas „herausschlagen“ will, kann sich nicht auf Mt 5,42 berufen (Dtn 15,7: „Wenn einer deiner Brüder arm ist“ – Lev 19,11: „Ihr sollt nicht betrügerisch handeln einer mit dem anderen“). Allerdings hat Jesus eine Begrenzung aufgegeben, die noch in Dtn 15,7f usw. vorliegt, nämlich die Begrenzung auf den „Bruder“ als Volksgenossen. Jesus erweitert hier auf alle Menschen.293 Wir versuchen, Mt 5,38-42 kurz zusammenzufassen: 1) Diese wenigen Worte Jesu haben die christliche Tradition und Kirche tief geprägt. Die frühen Überlieferungen in der Didache (I,4f ), bei Justinus (Apol I, 16,1f ) und bei Irenäus (Adv. haer. IV, 11,4ff ), und dann bei den Kirchenvätern,294 ja bis hin zu den Sprichwörtern Deutschlands legen davon Zeugnis ab. Die Literatur ist fast unendlich.295 2) Auch Mt 5,38-42 darf nicht als Gegensatz zum AT gesehen werden. Vielmehr legt Jesus aufgrund des AT aus, was der wahre Gotteswille ist. Er tut dies in seiner messianischen Vollmacht und Autorität. 3) Mt 5,38-42 ist kein Angriff auf die Rechtsordnung. Wieder ist daran festzuhalten, dass die Bergpredigt kein Staatsgesetz darstellt. Sie stellt vielmehr dar, wie wir als Christen und Jünger Jesu ein Zeugnis von unserem Glauben durch „gute Werke“ (Mt 5,16) geben können. 4) Im Vordergrund steht hier Dulden, Verzicht und Barmherzigkeit.

5. Vollkommenheit in der Liebe, 5,43-48 Ihr habt gehört, dass gesagt wurde (V. 43) wiederholt wörtlich V. 38 und 27. Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen ist ein Mischzitat. Seine erste Hälfte stammt aus Lev 19 (V. 18), dem Kapitel, das Jesus abgesehen vom Dekalog am häufigsten ausgelegt hat. Du sollst deinen Nächsten lieben bildet das erste Grundmotiv für die Verse 43-48. Ergänzt um die Worte „wie dich selbst“ ist es für Jesus neben dem Schma Jisrael (Dtn 6,5) das höchste Gebot (Mt 22,34ff ). Er hat es immer wieder ausgelegt (Mt 5,43ff; 19,19; 22,34ff; Lk 10,27) und die apostolische Verkündigung ist ihm darin gefolgt (Röm 13,9f; Gal 5,14; 1Joh 4,7ff; Jak 2,8). Doch woher stammt die zweite Hälfte: und deinen Feind hassen? Die manchmal herangezogenen Stellen Ex 34,12; Dtn 7,2; 23,7 betreffen eine an292 293 294 295

Luz I 296. Deutlich in Lk 6,30 ausgedrückt: Παντὶ αἰτοῦντί [Panti aitounti]. Zu Mt 5,42 vgl. noch Basilius d. Gr. Texte KV III, 398. Vgl. den Überblick bei Luz I 298ff.

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dere Problematik und helfen uns hier nicht weiter. Im Gegenteil: Eine Reihe von Stellen im AT ermutigt sogar zur Feindesliebe (Lev 19,33f; Ex 23,4f; Prov 25,21f ). So müssen wir annehmen, dass deinen Feind hassen eine Formel von damaligen Schriftgelehrten wiedergibt, die die Erlaubnis zu Ausnahmen vom Liebesgebot erteilen wollten. Dafür spricht die Gemeinderegel von Qumran, die „ewigen Hass gegen alle Männer des Verderbens“, das heißt gegen alle Nicht-Essener, vorschreibt.296 Dafür sprechen ferner die Vergeltungsgedanken in den pharisäischen Ps Sal 2,25ff. Nach Otto Michel „kennt auch die rabb Überlieferung den erlaubten, ja den gebotenen Haß“.297 Im Anschluss an Strack-Billerbeck298 sieht er in V. 43b „eine populäre Maxime“.299 Eine weitverbreitete Maxime ist aber nicht nachweisbar. In königlich-messianischer Vollmacht (Ich aber sage euch) legt Jesus das „königliche Gesetz“ (Jak 2,8) der Liebe aus: Liebt300 eure Feinde und betet für eure Verfolger (V. 44). Die Ersetzung von τὸν πλησίον [ton plēsion] durch τοὺς ἐχθρούς [tous echthrous] eröffnet neue Räume. Auch mein Feind kann im Sinne der Bibel „mein Nächster“ sein, nämlich der Mensch, den mir Gott vor die Füße gelegt hat (Lk 10,29ff ). Jesus bewegt sich hier nicht in der Welt der Ideologien und der Programme, nicht einmal der religiösen. Es kommt, wie Julius Schniewind wieder und wieder betont hat, auf das „Vor Gott stehen“ an.301 Auch Gottesfeinde sollen zum Glauben bewegt werden. Im praktischen Leben erweist sich die Feindesliebe als „ein hartes Gebot“, wie schon Fulgentius von Ruspe feststellte.302 Wir weichen ihr schon aus, wenn wir sagen, wir hätten keine Feinde. Sind unsere Feinde die eigenen Hausgenossen (Mt 10,36), mit denen wir täglich zusammenleben, wird es besonders hart. Für die Kirche aber, die von weltlichen Machthabern und fremden Religionen unterdrückt wird, ist die Liebe zu den Verfolgern menschlich nicht mehr vorstellbar. Dennoch greift Jesus diesen vielleicht schwersten Fall heraus, um sein Liebesgebot außerhalb aller Zweifel zu stellen: und betet für eure Verfolger. Lk 6,27ff berichtet in der Sache dasselbe.303

296 297 298 299 300 301 302 303

1QS IX, 21f; vgl. II, 4ff; Carson, 157. Art. μισέω, ThWNT, IV, 1942, 692. Strack-Billerbeck I 353. Michel a.a.O., 694. Ähnlich Carson a.a.O. ἀγαπᾶτε [agapate] ist durativ und iterativ, BDR § 336,1. Schniewind, 71, vgl. 57ff. Texte KV III, 348. Es trifft Mt 5,44 nicht, wenn Fiedler, 152, es als „Hassgefühle bändigen“ und „menschlich begegnen“ auslegt.

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Hier taucht mit Wucht noch einmal die Frage auf, die uns durch die ganze Bergpredigt begleitet: Wer kann das? Die Antwort gibt das NT selbst: Nur die Liebe, die der Heilige Geist den Gläubigen schenkt (Röm 5,5; 1Kor 12,31ff ). Es gehört zu den erstaunlichen Taten der apostolischen Generation, dass sie diese Worte Jesu ohne Einschränkungen weiter überliefert hat (vgl. auch Röm 12,14.20; 1Kor 4,12; 1Petr 2,20ff; 3,9). Jesus selbst ist das leuchtende Beispiel (Lk 23,34; 1Petr 2,21ff ). Aber auch Stephanus hat uns ein Vorbild hinterlassen (Apg 7,60). Auf einen wichtigen Punkt hat unter anderen Augustinus unsere Aufmerksamkeit gelenkt. Er schreibt: „Gewiß, wie ich denke, befiehlt uns der himmlische Meister nicht, die Gottlosigkeit zu lieben, wenn er uns befiehlt, unsere Feinde zu lieben.“304 In der Tat: Unsere Liebe kann weder dem Feind schlechthin, dem Teufel (Mt 13,25ff ), gelten, noch der Gottlosigkeit, noch der Irrlehre. Hier gibt es nur Trauer, Scheidung, Widerstand, ja „Kampf “.305 Aber die Menschen, die den Teufel, die Gottlosigkeit oder die Irrlehre gewählt haben und die auf diese Weise unsere weltlichen oder geistlichen Verfolger werden, sollen wir nicht aufhören zu lieben. In einer überraschenden Weise, wie es uns bisher nicht begegnet ist, bringt jetzt V. 45 den Vergleich mit Gott: damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. Hier lässt sich γένησθε [genēsthe] doppelt übersetzen: ihr werdet306 oder „ihr seid“ bzw. „ihr erweist euch“.307 Mit unserem früheren Kommentar308 bleiben wir bei ihr werdet. Denn für ein „ihr seid“ hätten ja die Formen von εἶναι [einai] zur Verfügung gestanden, und auch der parallele V. 48 hat futurischen Sinn. „Kinder Gottes“ sind die Jünger noch nicht im Sinne des NT, sondern sie sollen es durch Christi Wirken erst werden (vgl. Joh 17,1ff ). Sohn Gottes kann Israel heißen (Hos 11,1). Sohn Gottes ist der Messias (Jes 7,14; 9,5; Ps 2,7; 89,27ff; 2Sam 7,14). Wenn jetzt die Jünger Söhne des Vaters im Himmel = Gottes werden sollen, werden sie zur Würde des wahren Israel, ja zu einer Würde als Brüder des Messias erhoben (vgl. Mt 28,10; Mk 3,34f; Hebr 2,10ff ). Die Übersetzung „Kinder eures Vaters im Himmel“309 verwischt leider dieses Profil und führt den Leser nur zur Annahme eines allgemeinen „Menschenkinder“-Begriffes. Die Übersetzung „Töchter und Söhne 304 Im Brief an Macedonius nach Texte KV IV, 190. 305 Schniewind, 70. 306 So z.B. Bauer-Aland, 319; Schlatter, 82; Luz I 305; Einheitsübersetzung, Neue Jerusalemer Bibel, BigS; Sand, 120; Fiedler, 149; Carson, 159. 307 So z.B. Zahn, 254; Revidierte Elberfelder Bibel; Lutherbibel; NGÜ. 308 Maier I, 186. 309 So Lutherbibel.

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Gottes“ der „Bibel in gerechter Sprache“ macht daraus vollends ein bürgerliches Familienidyll. Stattdessen ist mit Eduard Schweizer daran festzuhalten, dass die Sohnschaft in Mt 5,45 „nicht eine natürliche gegebene“ ist, sondern erst durch die Vaterliebe Gottes und unsere Gemeinschaft mit ihm zustande kommt.310 Gott als himmlischer Vater gehört seit früher Zeit zu den Glaubensinhalten Israels (Dtn 32,6; Jes 1,2f; 63,15f; 64,7; Jer 3,19; Hos 11,1).311 Ebenso ist diese Bezeichnung Gottes den Rabbinen und der Synagoge wohlvertraut, nicht nur aus den biblischen Stellen, sondern auch als Gebetsanrede.312 Niemals musste Jesus seinen Hörern erklären, was das denn sei: Vater im Himmel. Er konnte es als bekannt voraussetzen. Nun hat man aufgrund von Lk 6,35, wo von „Söhnen des Allerhöchsten“ die Rede ist, gegen Mt 5,45 Einwände erhoben. Man sah das Vater im Himmel, wörtlich „in den Himmeln“ (= aram. ‫שַׁמיּ ָא‬ ָ ‫[ ַבּ‬baschschāmajim]), als matְ ‫[ ִבּ‬bischmajjāʾ], hebr. ‫שַּׁמיִם‬ thäische Formulierung an, die Jesus selbst nicht gebraucht habe, und betrachtete es als eine Art Rejudaisierung. Es gibt für diese Annahme aber, außer der Berufung auf ein rein hypothetisches Q, keine Begründung. Gottlob Schrenk kommt denn auch zu dem Ergebnis: „Ohne die Frage pedantisch-biographisch lösen zu wollen, können wir sagen: Jesus wird sowohl „Vater“ wie „Vater in den Himmeln“ gesagt haben.“313 Wir schließen uns diesem vernünftigen Urteil Schrenks an. Beim Vaterunser (Mt 6,9) kommen wir auf die Wendung Vater in den Himmeln (ὁ πατὴρ ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς [ho patēr ho en tois ouranois]) noch einmal zurück. Hier sei nur noch zweierlei festgehalten: 1) Der himmlische Vater ist eine Art Leitfaden durch die Bergpredigt (Mt 5,16.45.48; 6,1.4.9.14.15.18.26.32; 7,11), 2) Der Vater in den Himmeln vereinigt in unüberbietbarer Weise beides: größte Nähe und höchste Erhabenheit.314 Das ist also der Maßstab für die Jünger: das Handeln und das Sein Gottes. Jesus illustriert dies in der zweiten Hälfte von V. 45: Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und über Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Was er sagt, ist alles andere als selbstverständlich. Denn Gott kündigt dem ungehorsamen Israel an, dass er „euren Himmel wie Eisen und eure Erde wie Erz machen will“ (Lev 26,19; Dtn 11,17; 28,23f; 1Kön 17,1). Dennoch gibt es gerade im AT auch die Erfahrung der wunderbaren 310 E. Schweizer im Art. υἱός usw., ThWNT, VIII, 392f. Ebenso A. Oepke, Art. παῖς usw., ThWNT, V, 1954, 651. 311 Vgl. G. Quell, Art. πατήρ usw., ThWNT, V, 1954, 969ff. 312 G. Schrenk im Art. πατήρ usw., 977ff. 313 Schrenk a.a.O., 986. 314 Vgl. wieder Schrenk a.a.O., 987.

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Güte Gottes, der dem götzendienerischen Volk wieder Regen schenkt (1Kön 18,44f ), der Jona den Rhizinus aufwachsen lässt (Jona 4,6) und dessen weltumspannende Güte Paulus in Ikonion und Athen rühmt (Apg 14,17; 17,25). Man vgl. die Gottesbekenntnisse Israels in Ex 34,6; Ps 103,8; Jona 4,2; Nah 1,7. Man vgl. ferner Gottes Wohltaten an Bösen und Guten in Mt 13,47f; 22,10. Es ist ja seine Sonne, die den Menschen Licht und Wärme gibt, sein Regen, der uns nährt. Offenbar ist gerade dieser Gedanke von der Liebe und Güte Gottes bei Jesus besonders stark (vgl. wieder Mt 5,45; 13,47f; 20,15; 22,10; Joh 3,16). Die Apostel haben ihn aufgenommen (vgl. Röm 5,8; 1Joh 4,7ff; Jak 5,11.20). Bis heute wird die Christenheit dadurch geprägt, wie es die Zeilen von Paul Gerhardt zeigen: „Wer hat das schöne Himmelszelt hoch über uns gesetzt? Wer ist es, der uns unser Feld mit Tau und Regen netzt?“315 Vers 46 beleuchtet noch einmal das Gebot der Feindesliebe: Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr dann? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Gegenliebe für die, die uns lieben, ist ein völlig normaler, fast automatischer Vorgang: bei Tieren und bei Menschen. Allerdings bleibt bei der heutigen Destruktion der Moral auch dieses „Normale“ häufig aus. Jesu Prophezeiung „dann wird die Liebe in vielen (wörtlicher: der Vielen) erkalten“, erfüllt sich auch in diesen „normalen“ Verhältnissen (Mt 24,12). Für die damalige Lebenserfahrung jedoch konnte Jesus vom Tatbestand „Gegenliebe für Liebe“ ausgehen. Es war die allgemeine Regel „do, ut des“ („ich gebe, damit du gibst“), die man auch den Göttern gegenüber anwandte. Welchen Lohn habt ihr dann (τίνα μισθὸν ἔχετε [tina misthon echete]): Das Wort vom Lohn ist philosophisch höchst verdächtig. Gotthold Ephraim Lessing, ein führender Dichter und Denker der Aufklärung in Deutschland, sehnte sich nach einer Zeit, in der der Mensch „das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind“.316 Aber Lohn im Sinne der Bibel ist ein Gottesgeschenk.317 Das merkt man schon daran, dass Gott selbst unser Lohn sein kann (Gen 15,1). Dieses Gottesgeschenk hat aber nur dort Platz, wo es angenommen wird, anders formuliert: wo man in der Gemeinschaft mit Gott lebt. Insofern besteht ein enger Zusammenhang mit Gehorsam und Erfüllung des Gebotes. Es ist biblisch nicht möglich, dass Gott 315 EG 324,4. Unter den Kirchenvätern haben sich Irenäus, Origenes, Augustinus, Leo d. Gr. und Fulgentius von Ruspe mit Mt 5,45 beschäftigt (Texte KV II, 433; I, 603.619; II, 348.456). 316 In „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, § 85. 317 Das hat Preisker im Art. μισθός usw., ThWNT, IV, 1942, 722ff gut herausgearbeitet, obwohl sein Beitrag leider das Verständnis für die jüdische Verwurzelung und Lehre vermissen lässt.

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denen, die ihm dienen, sein Lob und seinen Lohn versagt. Vielleicht trifft der Ausdruck „wohltuende Vergeltung“ die biblische Vorstellung vom „Lohn“ am besten. Insofern trifft für beide Testamente zu, was das Lexikon der katholischen Dogmatik bezüglich des AT sagt: „Mit Lohn meint das AT … keinen Rechtsanspruch, sondern eine Belohnung aus Gnade.“318 Weil das Prinzip „Liebe gegen Liebe“ nur dem natürlichen Trieb folgt, aber weder die Gemeinschaft mit Gott noch die Erfüllung seines Willens voraussetzt, verneint Jesus, dass es Gottes Lob und wohltuende Vergeltung (Lohn) findet. Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Jesus legt hier die „gängige Einschätzung“ der Zöllner zugrunde.319 In der damaligen jüdischen Gemeinschaft galten die Zöllner als unrein, als Diebe und Räuber.320 Dabei bezeichnet der Begriff τελώνης [telōnēs] „eine Person, welche die Ausübung staatlicher Besteuerungs- u[nd] Abgaberechte dem Staat abkauft … u[nd] die Abgaben von den Schuldnern eintreibt“.321 Kurz gesagt: Es handelt sich um Zoll- und Steuerpächter. Innerhalb des Römischen Reiches unterschied man die vornehmen und kapitalstarken publicani von deren Angestellten, den portitores, die im eigentlichen Sinne Zöllner genannt wurden. In der Regel hatte man es im Israelland mit Letzteren zu tun.322 Dass sie, unter dem Druck von Staat und Gesellschaft und von den religionsstrengen Israeliten ausgegrenzt, untereinander zusammenhielten, war sehr natürlich. Dass Matthäus, selbst ehemaliger Zöllner, das zöllnerkritische Wort Jesu323 in 5,46 überliefert, zeigt seine verlässliche Treue zur Lehrtradition Jesu. Vers 47, eine Art Doppel zu V. 46, führt diese Argumentation noch einmal vor Augen: Und wenn ihr nur (μόνον [monon]) eure Brüder grüßt, was tut ihr dann Besonderes (περισσόν [ perisson])? Tun nicht sogar324 die Heiden dasselbe? Der Grundgedanke ist klar. Doch fallen einige Einzelheiten auf. Dazu gehört das μόνον [monon] (nur). Man soll also durchaus seine „Brüder“ grüßen – aber nicht nur!325 Der μόνον-Gebrauch [monon] in Mt 5,47 erinnert stark an den des Jakobus (1,22; 2,24). Sodann hat das grüßen (ἀσπάζεσθαι [aspazesthai]) im biblischen Kontext eine besondere Bedeutung. Nach Hans 318 319 320 321 322 323

Lkath Dogm, 533. O. Michel, Art. τελώνης, ThWNT, VIII, 1969, 104. Genaueres bei Michel a.a.O., 101ff. Michel a.a.O., 89. Vgl. Carson, 159; Bösen, 200. Völlig abwegig ist es, wie Fiedler, 154, eine Alternative zwischen zöllnerfreundlichem (z.B. Mt 11,19) und zöllnerkritischem Verhalten Jesu zu konstruieren. Jesus kam, um auch den Zöllnern das Heil zu bringen, sah sie aber notwendigerweise auch realistisch. 324 Vgl. wieder BDR § 442,23. 325 Fiedler, 154f.

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Windisch ist der Gruß „bei den Juden eine gewichtige Zeremonie“.326 Grüßen geschah durch „Umarmung, Kuß, Reichen der Hand, unter Umständen auch Proskynese … und in Worten, vor allem der Grußformel“.327 Weil grüßen so gewichtig ist und Gemeinschaft herstellt, untersagt man es gegenüber Irrlehrern (2Joh 10). Weil es viel Zeit in Anspruch nimmt, kann es bei eiligen Missionaren unterwegs nur hindern (Lk 10,4). Aber Jesus hat es jetzt nicht mit solchen Sonderfällen zu tun, sondern mit der Alltagspraxis. Und da ist es üblich, dass derjenige, den man ehren will, zuerst gegrüßt wird (vgl. Mt 23,6f; Mk 12,38; Lk 20,46; 11,43).328 Die Formulierung wenn ihr grüßt setzt voraus, dass sie, die Jünger, die zuerst Grüßenden sind. Das dürfen sie im Blick auf ihre Brüder durchaus tun. „Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor“, schreibt Paulus (Röm 12,10). Was sind die Brüder? Mit Zahn kann man von Lev 19,18 her an die „Volksgenossen“ = Mitisraeliten denken.329 Oder sind es die Mit-Jünger?330 Eher Letzteres, dem sonstigen Sprachgebrauch bei Mt entsprechend (Mt 7,3ff; 18,15ff.21; 25,40ff; 28,10). Nur seine Brüder grüßen, genügt nicht, um den Willen Gottes zu erfüllen: Denn sogar die Heiden tun dasselbe, wenn sie den Banden des Blutes, der Sprache und der Kultur folgen. ἐθνικοί [ethnikoi] sind die „Heidnischen“ außerhalb Israels, die nach landläufiger Meinung – von Jesus auch hier aufgenommen – das Gesetz Gottes weder kennen noch befolgen.331 Zöllner und Heiden werden hier wie in Mt 18,17 nebeneinandergestellt. Und was ist das Besondere (περισσόν [ perisson]), das, „was hinausgeht über das sonst Übliche“?332 V. 44 gibt die Antwort: Aus der Feindesliebe heraus auch die Widerwärtigen und Widersacher zuerst grüßen.333 Den jüdischen Lehrern war die Anweisung von Mt 5,47 nicht ganz fremd. Man erzählte zum Beispiel von Rabbi Jochanan ben Zakkaj, einem Zeitgenossen der Apostel, „daß ihm niemals jemand mit einem Gruß zuvorgekommen sei, nicht einmal ein Nichtjude auf der Straße“.334 Jesu Gesetzesauslegung nach dem Bericht des Matthäus schließt mit V. 48: Darum335 sollt ihr336 vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater voll326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336

Im Art. ἀσπάζομαι usw., ThWNT, I, 1933, 496. Windisch a.a.O., 494. Windisch a.a.O., 496. Zahn, 255f; Jeremias Gleichnisse, 108,2. France, 129; Carson, 159; Sand, 121. Vgl. K.L. Schmidt im Art. ἔθνος usw., ThWNT, II 1935, 369f. Bauer-Aland, 1312. Windisch a.a.O., 497. b Berachot 17a. Vgl. Windisch a.a.O. οὖν [oun] drückt hier eine Folgerung aus (Bauer-Aland, 1200). Ihr (ὑμεῖς [hymeis]) ist hier betont: „gerade ihr, die Jünger“, vgl. France, 129.

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kommen ist. Für uns ist Jesu Wortgebrauch an dieser Stelle etwas überraschend. Wir könnten uns eher Wendungen wie „lieben, wie euer Vater liebt“, „gerecht sein (vgl. V. 20), wie euer Vater gerecht ist“, „treu sein, wie euer Vater treu ist“ (vgl. 1Thess 5,24; 2Thess 3,3) oder Ähnliches vorstellen. Stattdessen spricht Jesus von τέλειος [teleios], vollkommen. Dieser Begriff hat in der griechischen Philosophie eine hervorragende Bedeutung, wobei es inhaltlich „um das ganze Menschsein“ geht und um die vollkommene Tugend (ἀρέτη [aretē]), „die verwirklicht werden sollen“.337 Wir müssen jedoch auf das Alte Testament zurückgehen, um den Sinn der Worte Jesu zu erfassen. Von den für τέλειος [teleios] vorgeschlagenen hebr. Äquivalenten ‫[ ָּכִליל‬kālīl],338 ‫שֵׁלם‬ ָ [schālem]339 und ‫[ ָתִּמים‬tāmīm]340 kommt wohl primär das zuletzt Genannte 341 infrage. Denn ‫שֵׁלם‬ ָ [schālem], das Delling stark heranzieht, ist doch sehr stark von den Aussagebereichen „vergelten“, „Gelübde erfüllen“ und „Ersatz leisten“ geprägt,342 was in Mt 5,48 kaum Sinn ergibt. Anders die Wurzel tmm. Mit ihr ist „die Vorstellung von einer Ganzheit, einer Vollständigkeit ohne jeglichen Abstrich“343 verbunden. Mehr noch: Die Wurzel tmm „weist äußerst viele Belege auf “, die „beinahe ausschließlich in den Bereich moralisch-sittlicher Bewertung“ gehören.344 Das aber ist der Bereich, den wir auch in Mt 5,48 vorfinden. Und nicht zuletzt: Gott selbst wird im AT vollkommen (‫[ ָתִּמים‬tāmīm]) genannt. „Vollkommen ist sein Tun“ (‫[ ָתִּמים‬tāmīm]) nach Dtn 32,4, „vollkommen ist sein Weg“ nach 2Sam 22,31; Ps 18,31 (‫[ ָתִּמים‬tāmīm]), vollkommen sein Gesetz nach Ps 19,8 (‫[ ְתִּמיָמה‬tᵉmīmāh]). Deshalb sollen die Menschen seines Volkes ebenfalls ‫[ ָתִּמים‬tāmīm] = vollkommen, „ungeteilt“, „ganz und gar“ bei ihrem Gott sein (Dtn 18,13).345 Fazit: Jesus greift in Mt 5,48 nicht auf ein menschliches oder philosophisches Vollkommenheitsideal zurück, sondern auf Aussagen des Alten Testaments.346 Ihnen zufolge eignet Gott eine uneingeschränkte Vollkommenheit in Sein und Handeln. Der mit ihm verbundene Mensch aber hat das Ziel, ihm ähnlich zu werden, und zwar dadurch, dass er Gott ungeteilt und ganz und gar gehört und vollkommen nach seinem Willen lebt. Genau dies bringt nun Jesus zum Ausdruck mit den Wor337 338 339 340 341 342 343 344 345 346

G. Delling, Art. τέλειος, ThWNT, VIII, 1969,70. Gesenius, 1003. Delling a.a.O., 72ff. Vgl. K.-J. Illman, Art. ‫שֵׁלם‬ ָ , ThWAT, VIII, 1995, 93ff. Delling a.a.O. Vgl. dazu B. Kedar-Kopfstein, Art. ‫ ָתַּמם‬, ThWAT, VIII, 1995, 688ff. Delling a.a.O. Illman a.a.O., 95ff. Kedar-Kopfstein a.a.O., 691. Kedar-Kopfstein a.a.O., 694. Vgl. Kedar-Kopfstein a.a.O., 698f. Auch Luz I 313. Schon Zahn, 257.

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ten: Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. Zusätzlich sei bemerkt, dass die LXX an den oben genannten alttestamentlichen Stellen mit der Übersetzung τέλειος [teleios] vorsichtig ist und meist ἄμωμος [amōmos] gebraucht. Der Grund könnte darin liegen, dass sie das philosophisch befrachtete τέλειος [teleios] als gefährlich ansah. Anders in Dtn 18,13. Das dortige τέλειος ἔσῃ [teleios esē] kommt Mt 5,48 sehr nahe.347 Anders auch die Apostel, die offenbar τέλειος [teleios] ohne große Hemmungen benutzten, relativ markant Jakobus (1,4; 1,17; 1,25; 3,2), aber auch Paulus (Röm 12,2; 1Kor 2,6; 14,20; Eph 4,13; Phil 3,15; Kol 1,28; 4,12), der Hebräerbrief (5,14) und Johannes (1Joh 4,18). Vgl. Mt 19,21. Zu Gott als Vater / die Jünger als „Söhne“ und Gottes Kinder vgl. die Erklärung bei V. 16.45. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass Vollkommenheit und Liebe nach Mt 5,43-48 aufs Engste zusammengehören. Es zeichnet sich ab, dass für Jesus das Liebesgebot ein Spitzengebot ist (vgl. Mt 22,34ff; Lk 10,25ff; Joh 13,1.34f; Röm 13,10; Jak 2,8).

IV Zusammenfassung 1. Die Aussagen in Mt 5,21-48 sind von einzigartiger Prägnanz und Sprachkraft. 2. Sie beeindruckten sogar kritische Theologen so stark, dass sie geneigt waren, viele dieser Aussagen auf Jesus selbst zurückzuführen. Typisch ist hier, was einst Rudolf Bultmann zu Mt 5,44-48 schrieb: „Wenn irgendwo, so muß hier das Charakteristische der Verkündigung Jesu zu finden sein.“348 3. Dennoch bleiben manche Passagen schwierig. Beispielsweise urteilt R.V.G. Tasker über Mt 5,21-26, es sei eine „very difficult passage“.349 4. Insbesondere steht das Verhältnis Jesu zu den jüdischen Rabbinen zur Diskussion, noch allgemeiner formuliert: das des NT zum Talmud. Man kann die Tendenz der letzten Jahre so kennzeichnen, dass die christliche Auslegung eher bereit war, jüdische Parallelen anzuerkennen. Das gilt etwa im Blick auf b Schab 88b, wo diejenigen gepriesen werden, „die gedemütigt werden, ohne zu erwidern, die aus Liebe [die Gebote] ausüben und der Züchtigungen froh sind“, oder im Blick auf b Ber 17a, wo von Rabbi Jochanan ben Zakkaj (1. Jh. n.Chr.) rühmend erzählt wird, „daß ihm niemals jemand mit einem Gruß zuvorgekommen sei, nicht einmal ein Nichtjude auf der Straße“. 347 France, 129f, rechnet damit, dass Jesu τέλειος [teleios] aus Dtn 18,13 stammt, ebenso Fiedler, 155. Schon Zahn, 217. 348 Bultmann Gesch, 110. 349 Tasker, 68; vgl. Albright-Mann, 61.

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Da die christliche Exegese aber die Neigung zu Extremen hat, droht auch die Gefahr, Jesus ganz in das Rabbinat einzuebnen. Dieser Gefahr ist offensichtlich der Kommentar von Peter Fiedler erlegen.350 Wir müssen nicht krampfhaft die Originalität Jesu vertreten, als habe nur er und als habe er als Erster etwas gesagt. Was aber bleibt, ist seine Gottessohnschaft und seine Messianität, und damit seine Einzigartigkeit und Autorität. Nur er kann in göttlicher Vollmacht (Mt 7,29) sagen, was Gottes vollständiger Wille ist: in Bestätigung, Erklärung und Weiterführung der alttestamentlichen Gesetzgebung.351 Im Übrigen sind seine Aussagen in aller Regel früher als die der talmudischen Rabbinen. 5. Dagegen muss man denen zustimmen, die wie Fiedler der Meinung sind, es sei „notwendig, die irreführende Bezeichnung „Antithesen“ aufzugeben.352 Unsere Kommentararbeit hat gezeigt, dass Jesus Gesetz und Propheten festhält (Mt 5,17ff ) und nicht gegen sie, sondern in ihrem Sinne argumentiert. Irenäus von Lyon behält recht: Er „löst … das Gesetz nicht auf, sondern erfüllt es und erweitert es“.353 6. Wie schon die Einleitung der Bergpredigt klargemacht hat, legt Jesus in Mt 5–7 kein Staatsgesetz nieder, sondern trifft Anweisungen für die Glaubensnachfolge. Jeder Grenzverschiebung ins Politische ist zu widerstehen, mögen auch Politik und Gesellschaft, ja sogar andere Religionen, viele wertvolle Anregungen und Ideen aus der Bergpredigt schöpfen. Auf der anderen Seite gerät vor allem die protestantische Auslegung in die Gefahr, jesuanische Paränese und Rechtsordnung voneinander zu trennen, so etwa Ulrich Luz, der von einer „Abwertung des Rechts“ bei Jesus spricht, der „die Paränese … der geltenden Rechtsordnung antithetisch gegenüberstellt“.354 Aber die Bergpredigt zielt darauf, der Gemeinde die Richtung vorzugeben, in der sie Gemeindeleben und Kirchenrecht gestalten soll. 7. In einer eigenartigen Spannung zu jener Abwertung der Rechtsordnung steht die Vorliebe, die gerade jüngere Kommentare für „nonkonformistische Gruppen“ und „kleinere Gemeinschaften“ entwickeln, die nach Ansicht ihrer Verfasser die Bergpredigt eher umgesetzt hätten.355 Dass alle Kirchen und Gemeinschaften die Bergpredigt immer wieder zur Seite geschoben haben, ist richtig. Aber die viel geschmähten Großkirchen haben durch ihre Überlie350 351 352 353 354 355

Vgl. Fiedler, 132ff. Vgl. Schniewind, 73ff. Fiedler, 131. Adv. haer. IV, 13,3. Luz I 256.255. Beispiele: Luz I 278.288; Fiedler, 158.

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ferung der ganzen Schrift und ständige Erneuerungs- und Erweckungsbewegungen nicht weniger als andere Kirchen und Gemeinschaften versucht, die Bergpredigt zu befolgen. 8. Es ist eine positive Entwicklung, dass wieder neu nach der Umsetzbarkeit der Bergpredigt gefragt wird. Ist zum Beispiel „die Feindesliebe eine utopische Forderung?“356 Ist die Bergpredigt erfüllt, wenn wir wie die alten Rabbinen „einen menschlichen Umgang“ pflegen?357 Und erreichen wir diesen menschlichen Umgang durch unsere menschliche „Selbstsucht“?358 Schniewind sah hier wohl tiefer, wenn er die Botschaft der Bergpredigt so auffasste, dass sie „jeden Hörer Jesu bis aufs Letzte verurteilt“.359 Nur in Jesus ist ihm zufolge die Erfüllung gegeben.360 Deshalb versteht er „die Verkündigung des Kreuzes“ als „eine Entfaltung der Bergrede“.361 Unsere Antwort auf die oben gestellten Fragen bewegt sich in dieselbe Richtung: Die Bergpredigt führt uns zum Kreuz. Erst die Erlösung durch Jesu Kreuzestod bringt uns die Kräfte des Geistes, die mit der Erneuerung des Herzens auch die Freude an der Erfüllung der Bergpredigt geben. Vollständig wird unsere Nachfolge zwar nie in diesem Leben (vgl. Röm 7,18f ). Aber wir haben den Willen und die Freude, sie praktisch umzusetzen, weil „Jesus das wirkliche Tun erwartet“362 und nicht nur eine Gesinnungsethik oder eine Interimsmoral.363

6. Wahre Frömmigkeit, 6,1-18 I Übersetzung 1 Gebt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr sie nicht vor den Menschen praktiziert, um ihnen ein Schauspiel zu bieten. Andernfalls habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. 2 Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und in den Gassen tun, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon weg.1 3 Wenn du aber 356 357 358 359 360 361 362 363 1

Frage bei Luz I 316. Fiedler, 156, vgl. 157f. So Fiedler, 138. Schniewind, 59. A.a.O., 75. A.a.O. Schniewind, 74. Vgl. Schniewind, 75. Zur Übersetzung vgl. BDR § 322,2.

6. Wahre Frömmigkeit, 6,1-18

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Almosen gibst, soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut, 4 damit dein Almosen im Verborgenen bleibt. Und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. 5 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler. Denn sie lieben es, in den Synagogen und an den Straßenecken zu stehen und zu beten, um vor den Menschen in Erscheinung zu treten. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon weg. 6 Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer und schließ deine Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. 7 Wenn ihr aber betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden. Denn sie meinen erhört zu werden, wenn sie viele Worte machen. 8 Gleicht ihnen also nicht! Denn euer Vater weiß, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet. 9 So sollt ihr nun beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt! 10 Dein Reich komme! Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden! 11 Unser nötiges Brot gib uns heute! 12 Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unsern Schuldnern vergeben haben! 13 Und bringe uns nicht in Versuchung hinein, sondern rette uns vor dem Bösen! 14 Denn wenn ihr den Menschen ihre Übertretungen vergebt, wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. 15 Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater eure Übertretungen auch nicht vergeben. 16 Wenn ihr fastet, dann macht kein wehleidiges Gesicht wie die Heuchler. Denn sie entstellen ihre Gesichter, damit sie als Fastende vor den Leuten glänzend herauskommen. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon weg. 17 Du aber, wenn du fastest, dann salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, 18 damit du als Fastender2 nicht vor den Leuten in Erscheinung trittst, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist. Und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.

II Struktur Nahezu unumstritten ist, dass Jesus in Mt 6,1-18 drei zentrale Bereiche alttestamentlich-jüdischer Frömmigkeit anspricht: Almosen, Gebet und Fasten. Sie haben auch im Islam zentrale Bedeutung. Dagegen hat im westlichen Christentum nur das Gebet seine zentrale Bedeutung behauptet. Anders ist es im orthodoxen und orientalischen Christentum. Eigenartigerweise und ganz gegen Matthäus nehmen moderne Ausleger die Verse 6,9-13, das Herrngebet, aus dem Ganzen des Abschnitts 6,1-18 heraus und behandeln sie als „Sonderüberlieferung“, so z.B. Davies-Allison als „Ex2 Vgl. BDR § 414,7.

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cursus IV“3 oder Schniewind4. Über die Wortfelder προσεύχεσθαι [ proseuchesthai], πατήρ [ patēr] und ὑμεῖς [hymeis] sind jedoch Mt 6,5ff und 6,9ff viel zu eng miteinander verzahnt, als dass man sie auseinanderreißen dürfte.5 Προσέχετε [ prosechete] ist gegenüber dem fünffachen Ἠκούσατε [Ēkousate] in 5,21-48 ein unbestreitbarer Neueinsatz. Dasselbe gilt für Μὴ θησαυρίζετε [Mē thēsaurizete] in V. 19 gegenüber den Versen 1-18. So weist V. 1-18 stilistisch eine große Geschlossenheit auf. Innerhalb von Mt 6,1-18 bedeutet das wiederholte ὅταν [hotan] bzw. ἐάν [ean] (V. 2.5.6.14.15.16) eine prägende Stilfigur. Die sog. „Antithesen“ und das „Ich aber sage euch“ sind verschwunden. Stattdessen regelt Jesus das Verhalten für den Fall, dass die Jünger Almosen geben, beten und fasten. Seine Worte haben also ermutigende, korrektive und komplettierende Bedeutung. Davies-Allison ist darin zuzustimmen, dass V. 1 eine Einleitung darstellt, „a general statement of principle“.6 Von daher ergibt sich die Gliederung: 1. Einleitung und Generalanweisung V. 1, 2. Worte zum Almosen V. 2-4, 3. Worte zum Gebet V. 5-15, 4. Worte zum Fasten V. 16-18.7

III Einzelexegese 1. Allgemeine Anweisung, 6,1 Der Generalsatz lautet: Gebt acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr sie nicht vor den Menschen praktiziert, um ihnen ein Schauspiel zu bieten (V. 1). προσέχειν [ prosechein] heißt hier achtgeben, „aufpassen“. Bauer-Aland und Blass-Debrunner-Rehkopf schlagen an unsrer Stelle „sich hüten, dass“ vor.8 Diese Akzentuierung ist wohl etwas scharf, ändert aber kaum etwas am Sinn. Entscheidend wird für V. 1 der Sinn des griech. δικαιοσύνη [dikaiosynē], hinter dem hebr. ‫[ ְצָדָקה‬zᵉdāqāh] zu vermuten ist.9 Die übliche Übersetzung „Gerechtigkeit“ trifft hier offenbar nur teilweise das, was Jesus meint. BauerAland und Gottlob Schrenk ziehen deshalb die Übersetzung „Frömmigkeitsübung“, „Frömmigkeit“ vor.10 Andere bleiben bei „Gerechtigkeit“. Inhaltlich 3 Davies-Allison, 590; ebenso Nolland, 279. 4 Schniewind, 78f. Ebenso Luz I 332ff; Bornhäuser, 148 („Einschub“). Anders Fiedler, 158ff. 5 Vgl. Gundry, 101. 6 Davies-Allison, 577 (ein „kelal“). Ebenso Bornhäuser, 134; Gundry, 100. 7 Vgl. Gundry, 101f. 8 Bauer-Aland, 1431; BDR § 392,3. 9 G. Schrenk im Art. δίκη usw., ThWNT, II, 1935, 197. 10 Bauer-Aland, 395; Schrenk a.a.O., 200f. Ebenso Lutherbibel, NGÜ; Davies-Allison: „true piety“ (S. 575); Tasker, 71: „piety or religious practise“; France, 130: „piety“; Bornhäuser, 132ff; BigS: „gerechtes Handeln“.

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geht es um die Erfüllung des Gotteswillens im Alltag. Weil der Begriff „Gerechtigkeit“ dabei doch eher Missverständnisse produziert, haben wir mit Frömmigkeit übersetzt. Achtgeben sollen die Jünger, dass sie die praxis pietatis, das praktizierte (ποιεῖν [ poiein]!) Frömmigkeitsleben, nicht mit falschen Motivationen und Verhaltensweisen verknüpfen. Explizit warnt Jesus davor, dass sie vor den Menschen ein Schauspiel bieten oder „in Erscheinung treten“11 wollen. Frömmigkeit soll nicht zur Schau werden! Bis heute ist diese Mahnung wichtig. Frömmigkeit bleibt ein „Handeln vor und für Gott“.12 All das ändert freilich nichts daran, dass man den heutigen europäischen Christen die Feigheit vor dem Bekenntnis nehmen muss. Vgl. noch Mt 23,5. Jesus nennt sofort die Konsequenz eines solchen „sich zur Schau Stellens“: Andernfalls13 habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Darin steckt zweierlei: Erstens kann ein solches öffentliches Praktizieren durchaus einen Lohn bei den Menschen zur Folge haben, zweitens gibt es aber im Reich Gottes und nach der Auferstehung keinen Lohn mehr. Der Jünger muss sich zwischen diesen zwei Optionen entscheiden. Euer Vater im Himmel nimmt die Formulierung von 5,45 auf. Vgl. die Erklärung dort. Auch die späteren Rabbinen unterstrichen übrigens, dass die Frommen nach Mi 6,8 „bescheiden wandeln“ sollten „vor Gott“.14 Sie sahen hier deutlich: „Alles hängt von der Intensität des Herzens ab.“15 Hier stoßen wir erneut auf die Problematik des Lohn-Gedankens (μισθός [misthos]), mit dem sich vor allem Karl Bornhäuser intensiv beschäftigt hat.16 Er möchte die „Belohnung“ im Vater-Sohn-Verhältnis streng unterscheiden von der „Entlohung“ im Arbeitsverhältnis. Auf Letztere besteht ein Anspruch, auf Erstere nicht. Erstere ist ein Geschenk,17 Letztere ein Rechtstitel. Bornhäuser kann sich dabei auf Röm 4,4 berufen, wo der „Lohn nach Gnade“ (ὁ μισθὸς κατὰ χάριν [ho misthos kata charin]) dem „Lohn nach Schuldigkeit“ (ὁ μισθὸς κατὰ ὀφείλημα [ho misthos kata opheilēma]) gegenübergestellt wird.18 Damit hat er die richtige Spur gelegt. Er wies bei gleicher Gelegenheit auch

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Bauer-Aland, 718: „sich zur Schau stellen“. Schrenk a.a.O., 201. Vgl. BDR § 376,5. b Sukka 496. b Meg 20a. Bornhäuser, 134ff. Vgl. unsere Erklärung bei Mt 5,46. Bornhäuser, 136.

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auf die beiden verschiedenen Lohn-Auffassungen in Pirqe Abot I, 3.13 einerseits und II, 15.16 andererseits hin.19

2. Almosen, 6,2-4 Zuerst wendet sich Jesus dem Almosen zu: Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und in den Gassen tun, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon weg (V. 2). Nach R. Bultmann ist ἐλεημοσύνη [eleēmosynē] im NT „stets Wohltätigkeit an Armen“.20 Heute spricht man gern von „Privatwohltätigkeit“.21 Es handelt sich meist um finanzielle Zuwendungen, obwohl zum Beispiel in b Sukka 49b unter Hinweis auf Mi 6,8 „Wohltätigkeit“ und „sich der Liebe befleißigen“ identifiziert werden und damit ein weiterer Anwendungsbereich existiert.22 Vgl. Lk 11,41; 12,33; Apg 3,2; 10,2; 24,17. In der jüdischen Tradition wurde das Almosengeben schon Jahrhunderte vor Jesus hoch geschätzt.23 Vor allem das Tobit-Buch ist davon geprägt, vgl. Tob 12,8f: „(8) Gut ist ein Gebet mit Fasten und Almosen und Gerechtigkeit; besser das Wenige mit Gerechtigkeit (zu geben) als viel mit Ungerechtigkeit. Besser (ist es,) Almosen zu geben als Gold anzuhäufen. (9) Denn Barmherzigkeit errettet vom Tode, und sie reinigt jede Sünde.“24 Vergleiche ferner Tob 4,7ff; Dan 4,24. Hinter ἐλεημοσύνη [eleēmosynē] steht hebr. ‫[ ְצָדָקה‬zᵉdāqāh]. Jesus setzt voraus, dass die Jünger Almosen geben. Hier findet keine Trennung von jüdischer Sitte und jüdischem Gottesdienst statt. R. Riesner sieht in Mt 6,2 die ortsansässigen Jünger und nicht die Wanderjünger angesprochen, weil Erstere „noch frei über ihr Eigentum zum Almosengeben verfügen können“.25 Ein posaunen/ausposaunen kam Luz zufolge gar nicht vor: „Es kam nicht vor, daß bei spektakulärer Wohltätigkeit Trompete geblasen wurde.“26 Aber woher will er das wissen? Ganz anders urteilt Gerhard Friedrich. Nach sorgfältiger Durchsicht der rabbinischen Belege kommt er zu dem Ergebnis: „Wahrscheinlich hat man in den Synagogen, wenn besonders hohe Spenden gemacht waren, … in das Horn gestoßen, um andere zu ähnlichen Taten anzuspornen und um den Wohltäter 19 20 21 22 23 24

Bornhäuser, 135. Im Art. ἔλεος usw., ThWNT, II, 1935, 483. Luz I 323; Fiedler, 161. Vgl. Bornhäuser, 142. Vgl. Bultmann a.a.O., 482f; ferner die Diskussion in b Sukka 49b. Übersetzung nach Beate Ego, Buch Tobit, JSHRZ, II, 6,1999, 989. Ego datiert das Buch „in das späte dritte bzw. frühe zweite Jahrhundert“ (A.a.O., 899), also ca. 200 v.Chr. 25 Riesner, 488. 26 Luz I 323.

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bei Gott in Erinnerung zu bringen.“27 Warum sollte auch Jesus oder Matthäus in einem an Juden gerichteten Wort von posaunen gesprochen haben, wenn es dies gar nicht gab?28 Jesus nimmt Bezug auf die Praxis der Heuchler. Damit begegnet uns zum ersten Mal ein Begriff, der fortan im Matthäusevangelium eine Rolle spielt (vgl. Mt 6,5.16; 7,5; 15,7; 22,18; 23,13.15.23.25.27.29; 24,51). Heuchelei ist der Widerspruch zwischen Schein und Sein.29 In Mt 6,2 wird der Schein eines Handelns für Gott bewusst aufrechterhalten, während doch tatsächlich der Ruhm bei den Leuten/Menschen gesucht wird.30 Hier, in Mt 6,2, wird auch der Unterschied zwischen Mt 6,1ff und Mt 5,16 ganz klar: In Mt 5,16 zielt der Betreffende auf den Lobpreis für den himmlischen Vater, in Mt 6,1ff dagegen auf den Lobpreis für sich selbst.31 δοξάζω [doxazō] ist mehr als „loben“. Es bedeutet „rühmen“, preisen, ehren, verherrlichen, „verklären“32 – lauter Lobpreisungen, die im Grunde nur Gott zukommen. Die Heuchler aber wollen „sein wie Gott“ (Gen 3,5) und selbst gepriesen werden. Dies ist es, was Jesus ablehnt. Zum ersten Mal taucht jetzt im Matthäusevangelium die Feststellung auf: Sie haben ihren Lohn schon weg (ἀπέχουσιν τὸν μισθὸν αὐτῶν [apechousin ton misthon autōn]). Sie ist typisch für die Bergpredigt (Mt 6,2.5.16; vgl. Lk 6,24).33 Das griech. ἀπέχειν [apechein] übersetzt Hermann Hanse mit „Geschuldetes bekommen haben“ und sieht es wie Bauer-Aland aus der Geschäftssprache übernommen. Dort bedeutet es, dass ein Betrag empfangen und quittiert wird.34 Der Sinn der Worte Jesu ist also: Die Betreffenden haben ihren Lohn, nämlich die Anerkennung durch die Menschen, schon empfangen, er ist „himmlisch“ quittiert. Beim Endgericht steht dann nichts mehr zu erwarten. Ist es so, dann muss sich der Jünger jetzt und hier entscheiden, ob er für den Selbstruhm lebt oder für die Gemeinschaft mit dem Vater in Ewigkeit. Öfter wird Matthäus „theologische Polemik“ vorgeworfen35, weil er den 27 Im Art. σάλπιγξ, ThWNT, VII, 1964, 86; ähnlich Bornhäuser, 143. 28 France, 131, fasst „posaunen“ nicht wörtlich, sondern bildhaft auf „for calling attention to oneself “. Schlatter, 88, hält dies für möglich. Wie France Schniewind, 77; Zahn, 262; Nolland, 274 („grotesque exaggeration“). 29 U. Wilckens, Art. ὑποκρίνομαι usw., ThWNT, VIII, 1969, 566f; Bornhäuser, 139: „Scheinheilige“. 30 Wilckens a.a.O., 567 31 Vgl. Bornhäuser, 139f. 32 Bauer-Aland, 410f. 33 H. Hanse, Art. ἔχω usw., ThWNT, II, 1935, 828. 34 Hanse a.a.O.; Bauer-Aland, 169. 35 U. Wilckens, Art. ὑποκρίνομαι usw., ThWNT, VIII, 1969, 566; Fiedler, 162, noch schärfer: „blanke Polemik“.

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Vorwurf Heuchler auch gegen die Pharisäer erhebe (vgl. Mt 23,13ff ). Dieser Vorwurf geht ins Leere. Denn 1) spricht in Mt 6,2 Jesus und nicht Matthäus, 2) ist die innerjüdische Auseinandersetzung an anderen Stellen weit schärfer,36 3) werden in Mt 6,2 die Pharisäer im Unterschied etwa zu 23,13ff nicht genannt und damit der Begriff Heuchler jeder parteilichen Festlegung entzogen. Ein ganz anderes Problem ergibt sich, wenn man die heutige kirchliche und christliche Praxis bedenkt. Der Begriff Almosen wird abgelehnt. Die Privatwohltätigkeit erstickt in Spendenaffären, Bestechungsskandalen und Steuerregeln. Hinzu kommt, dass Hilfe für Bedürftige meistens auf bestimmte Institutionen wie z.B. die diakonischen Werke verlagert wurde. Wer übt und wer will noch Almosen? Aber die persönliche, menschliche und oft pädagogische Wohltätigkeit ist zu wertvoll, als dass sie verloren gehen dürfte. Vergleiche noch Sir 3,33; 1Kor 13,3. Das positive Gegenbild, das für die Jünger gelten soll, zeichnet Jesus in V. 3 und 4. Wie so oft sind seine Formulierungen überraschend: Wenn du aber Almosen gibst (wörtlich: tust), soll deine Linke nicht wissen37, was deine Rechte tut (V. 3). Zunächst ist klar, dass Jesus von seinen Jüngern das Almosengeben erwartet. Es wird auch nicht gegenüber der alttestamentlichen und jüdischen Sitte eingeschränkt, sondern eben reichlich erwartet. Aber: Es wird nicht der Öffentlichkeit mitgeteilt und präsentiert, sondern gehört ins „Verborgene“ (V. 4). Gerade diese Anweisung wird von Jesus so zugespitzt, dass ein neues Sprichwort entsteht: Deine Linke soll nicht wissen, was deine Rechte tut. Vor Jesus gab es diese Formulierung nicht.38 Moderne Kommentare empfinden sie als „überspitzt und hyperbolisch“.39 Aber sie ist eher pädagogisch und ein unvergessliches Ideal. Wenn die linke Hand von der rechten nicht darüber informiert werden soll, was diese rechte Hand tut,40 dann soll der betreffende Mensch sich nicht selbst in sein Almosen verlieben und daraus eine Art „High“-Sein ableiten. Geschweige denn, dass er damit an die Öffentlichkeit geht. Die alten Kirchenlehrer haben hier ein gutes Gespür gehabt. So, wenn Petrus Chrysologus bei der Auslegung von Mt 6,1ff sogar zum Wohltun in der Öffentlichkeit auffordert und dabei sagt: „gerade sie, die Straßen und die Plätze sind es“ [wo die Barmherzigkeit geübt werden soll], und danach 36 37 38 39 40

Vgl. den Täufer Mt 3,7; Qumran in 1QS II, 4ff; die pharisäischen Ps Sal XII, 1ff. Oder: „erfahren“, vgl. Bauer-Aland, 322. Nolland, 276. Luz I 324; Nolland, 275. W. Grundmann, Art. δεξιός, ThWNT, II, 1935, 37: „ἡ δεξιά bezeichnet die rechte Hand“, BDR § 241,8.

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fortfährt: „Der Herr beschuldigt hier durch seine Mahnung nicht den Ort, sondern die innere Gesinnung.“41 An diesem letzten Punkt, dass Jesus nämlich die innere Gesinnung heiligen, das heißt ganz auf Gott ausrichten will, trifft sich die alte Auslegung mit der modernen Exegese.42 Davies-Allison haben in diesem Zusammenhang auf Röm 2,28f hingewiesen.43 Vergleiche Röm 12,8. Das Wort von der linken und rechten Hand lässt die Ausleger fragen, ob hier nicht doch metaphorisch auf bestimmte Personen angespielt wird. So wollen zum Beispiel Wellhausen und Bornhäuser die linke Hand als den „vertrauten Freund“ verstehen.44 Eine solche Deutung wäre durchaus möglich. Aber nötig ist sie nicht. Sie nimmt außerdem dem Wort Jesu die letzte Zuspitzung, da sie doch wieder die Mitteilung an die Umwelt zum Thema macht. Unseres Erachtens will aber Jesus sagen, dass der Almosengebende nicht einmal bei sich selbst daraus eine Sache von Bedeutung macht.45 Bei V. 4 stellt sich zunächst ein Textproblem. Sind die Worte ἐν τῷ φανερῷ [en tō phanerō] („in der Öffentlichkeit“ / „im Sichtbaren“46) ursprünglich? Im Unterschied zu 6,18 sind sie stark bezeugt. Schlatter meinte deshalb, es sei „nicht sicher“, ob Matthäus wirklich das ἐν τῷ φανερῷ [en tō phanerō] „beigesetzt“ habe.47 Aber die meisten Autoren betrachten diese Worte als sekundär48 – wohl mit Recht. Weiß deine Linke nicht, was deine Rechte tut, dann bleibt dein Almosen im Verborgenen. Der, dem es zugute kommt, ist dadurch aber nicht weniger gesegnet. Mehr noch: Dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. Die Ausleger sind sich weitgehend darin einig, dass die Vergeltung eschatologisch zu verstehen ist, also im Endgericht erfolgt. Auch diejenigen, die ἐν τῷ φανερῷ [en tō phanerō] („in der Öffentlichkeit“) für ursprünglich halten, denken an den Jüngsten Tag, „der alles offenbar macht“.49 Bornhäuser verweist auf 1Kor 4,5; 3,13; 2Kor 5,10; Jes LXX 8,16; 64,2.50 Zu beachten ist, dass Jesus in Mt 6,4 Gott erneut als Vater der Jünger bezeichnet.

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Nach Texte KV III, 465. Vgl. Bornhäuser, 134; Gundry, 101; Davies-Allison, 576. A.a.O. Vgl. Bornhäuser, 145; Beare, 166. Ebenso Zahn, 262; Schniewind, 77. Vgl. Bauer-Aland, 1699f. Schlatter, 88. Ähnlich Bornhäuser, 145. Luz I 320; Zahn, 263; France, 132; Carson, 164. Bornhäuser a.a.O.; Schlatter a.a.O. Anders Zahn, 263ff: Vergeltung schon hier im irdischen Leben. Beachtenswert Carson, 164: sowohl in der Zeit wie in der Ewigkeit. 50 A.a.O.

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Für ihn steht fest, dass seine wahren Jünger Gott als ihren Vater verehren und lieben dürfen. Vergleiche 5,16.45.48; 6,1. Zwei Punkte fordern noch unsere Aufmerksamkeit. Der erste Punkt betrifft die Nähe von Mt 6,1-4 zu Aussagen der Weisheit und der jüdischen Rabbinen. Vergleiche Prov 21,14; Sir 3,34 einerseits und b BB 10a andererseits, wo Rabbi Jochanan ben Zakkaj im 1. Jh. n.Chr. sagt: „Ich wollte, dass ihr gute Werke um ihrer selbst willen ausübt“51 und R. Jehoschua b. Qorha nichtswürdige Gedanken bei der Wohltätigkeit mit dem Götzendienst gleichgesetzt.52 Der zweite Punkt betrifft die wiederholte Selbstverständlichkeit, mit der Jesus eine lohnende Vergeltung im Endgericht verspricht. Entspricht dies nicht weit besser dem Wesen des Menschen, der Lob und Liebe ersehnt, als die blutleere Aufklärung, die Gutes tun um seiner selbst willen als Ideal aufstellt53 und damit den Menschen auf den realitätsfernen Intellekt reduziert?54

3. Gebet, 6,5-15 Vers 5 erinnert stark an V. 2, teilweise auch an V. 1. Auch V. 5 beginnt mit der typischen ὅταν-Einleitung [hotan] (vgl. V. 2.16). Sie drückt den Iterativus aus, also „immer wenn ihr betet …“55 Jesus hält es für selbstverständlich, dass seine Jünger beten. Das Gebet wird hier mit dem allgemeinen Ausdruck προσεύχεσθαι [ proseuchesthai] bezeichnet.56 Gemeint ist also das Gebet in den verschiedensten Formen. Der Wechsel von der 2. Pers. Sing. in V. 2-4 zur 2. Pers. Plur. in V. 5 kann dadurch veranlasst sein, dass die Redeweise von V. 1 wieder aufgenommen wird. Eine Änderung der Adressaten ergibt sich dadurch nicht. Zum Vergleich mit den Heuchlern siehe die Erklärung bei V. 2. Sie stehen57 in den Synagogen58 und an den Straßenecken59, eben dort, wo sie von vielen Menschen gesehen werden können. Wieder ist es ihr Ziel, vor den Menschen in Erscheinung zu treten (ὅπως φανῶσιν τοῖς ἀνθρώποις [hopōs Man fühlt sich an G.E. Lessings „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ § 85 erinnert. Vgl. die verschiedenen Äußerungen in b Sukka 49b. Vgl. Lessing a.a.O. Vgl. Schniewind, 76f. BDR § 382,3. H. Greeven im Art. εὔχομαι usw., ThWNT, II, 1935, 807: „das Gebet im umfassendsten Sinne“. 57 Vgl. Strack-Billerbeck I 401: „Für gewöhnlich hat man beim Gebet gestanden“ und Lk 18,11ff; B. Weiss, 129. 58 Das Gebet in der Synagoge wurde empfohlen, Strack-Billerbeck I 396ff. 59 Nach Strack-Billerbeck I 401 gab es die sog. „Eckensitzer“, nämlich Leute, „die als Müßiggänger oder als Hausierer an den Straßenecken herumstehen“.

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phanōsin tois anthrōpois])60 und dafür menschliches Lob zu ernten (vgl. V. 2). Den Schluss des Verses Amen, ich sage euch … kennen wir aus V. 2. Die Verse 2-4 und 5 sind also ein Schulbeispiel für „parallelistic style“.61 Es sprengt die Grenzen eines Kommentars, wollte man die Rolle des Gebets im Israel der Zeit Jesu auch nur annähernd beschreiben. Große Teile des AT sind nichts anderes als Gebete. Man denke an die 150 Psalmen, an ganze Kapitel in den Propheten und in den Geschichtsbüchern wie 2Sam 22; Jes 38; Jona 2; Dan 9; Esr 9; Neh 9. Man denke an die Rolle der Fürbitten Abrahams, Moses, Hesekiels oder Daniels. Man denke daran, wie viele Gebete Israel der Gemeinde des Neuen Bundes mitgegeben hat, weit über den Psalter hinaus, z.B. 1Chron 29,11-13. Gerade in der Zeit Jesu war man sich dessen bewusst. Am Anfang der rabbinischen Überlieferung steht der Satz: „Auf dreierlei hat die Welt Bestand: Auf der Tora, dem Gottesdienst und den Liebeswerken“,62 wobei der Gottesdienst eben die Gebete als Hauptteil enthält. Und der Pharisäer in Lk 18,9ff63 reklamiert für sich: „Ich faste zweimal in der Woche“, wobei Fasten und Gebet eng zusammengehören. Schließlich bildete die Lehre vom Gebet einen wichtigen Bereich der Tätigkeit Johannes des Täufers (Lk 11,1). Qumran (1QH) und die Psalmen Salomos (pharisäisch) lassen etwas vom Reichtum des Gebetslebens in jener Zeit ahnen.64 Es sind nur wenige wichtige Richtlinien, die wir jetzt in V. 6-8 vorfinden: Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist (V. 6). Du aber (σὺ δέ [sy de]) ist betont und hebt die persönliche Verantwortung eines jeden Jüngers hervor. ὅταν [hotan] bedeutet auch hier wieder „immer wenn“. ταμεῖον [tameion] ist das innerste Gemach (Ex 7,28),65 das Zuschließen der Türe soll jede andere Person ausschließen. Vergleiche 2Kön 4,33 in der Elisa-Geschichte sowie Mk 5,40f (auch Jes 26,20).66 Nolland hat darin recht, dass hier der Fokus „on secrecy“ liege.67 Dein Vater, der im Verborgenen ist bzw. der in das Verborgene sieht, nimmt V. 3 wieder auf. Im Verborgenen bedeutet analog Joh 1,18; 1Tim 6,16 und Ex 33,20, dass Gott für uns Menschen unsichtbar ist. Dass er in das Verborgene sieht, bedeutet, dass alles, auch das Geheimste, B. Weiss, 129, übersetzt: „damit sie den Menschen erscheinen“. Klostermann, 52. Gundry, 102. P. Abot I,2. Vgl. Bornhäuser, 133f. Vgl. ferner den Talmud-Traktat Berachot. Bauer-Aland, 1603. Schniewind, 77, zufolge „die Vorratskammer, ein lichtloser Schuppen“. Ebenso Luz I 325; Schlatter, 89; France, 132; Riesner, 488. 66 Vgl. ferner Test Jos 3,3. 67 Nolland, 276. 60 61 62 63 64 65

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

vor ihm offenbar ist (1Sam 16,7; Jer 23,24; Joh 2,25). Vom vergelten des Vaters sprach Jesus schon in V. 1 und 4. Auch in Mt 6,6 sind die Worte ἐν τῷ φανερῷ [en tō phanerō] („öffentlich“ / „im Sichtbaren“) vermutlich erst später eingefügt worden.68 Vielleicht ist es doch empfehlenswert, mit Don A. Carson das Vergelten des Vaters sowohl auf das irdische Leben als auch auf das Endgericht zu beziehen – um so mehr, als Jesus in Mt 6,6 auf jede nähere Terminierung verzichtet. In V. 6 hat sich Jesus zum Ort des Gebets geäußert. In V. 7 und 8 äußert er sich nun zur Länge des Gebets: Wenn ihr aber betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden. Denn sie meinen, erhört zu werden, wenn sie viele Worte machen (ἐν τῇ πολυλογίᾳ αὐτῶν [en tē polylogia autōn]). Schon in Mt 5,47 war uns deutlich geworden, dass Jesus zwischen Juden und Heiden (ἐθνικοί [ethnikoi] Mt 5,47; 6,7; 18,17) unterschied.69 Keine Art von Synkretismus kann sich auf Jesus berufen. Interessanterweise geht es in Mt 6,7 nicht um die Frage, wer der wahre Gott ist, sondern um das richtige menschliche Reden. Wenn ihr aber betet oder besser: „Beim Beten aber“ (Προσευχόμενοι δέ [ proseuchomenoi de]) eröffnet keinen neuen Abschnitt, wie manche annehmen,70 sondern setzt als Partizipialkonstruktion V. 5f fort. Entscheidender Inhalt in V. 7 ist das μὴ βατταλογήσητε [mē battalogēsēte] (ihr sollt nicht plappern). Es zeigt sich, wie leicht die Anrede Jesu zwischen der 2. Person Singular und 2. Person Plural wechselt, ohne dass man diesem Wechsel jedes Mal einen Bedeutungswandel unterstellen dürfte. Das griech. βατταλογεῖν [battalogein], ein neutestamentliches Hapaxlegomenon, ist in seinem Ursprung ungeklärt.71 Aber die Bedeutung plappern wird allgemein angenommen.72 Daneben wird die Bedeutung „Leeres/Nichtiges reden“ öfter vertreten.73 Die Verbindung mit πολυλογία [ polylogia] = Vielrednerei, Geschwätzigkeit, Wortschwall in Mt 6,7 zeigt jedenfalls, dass in Mt 6,7 der Akzent nicht auf der Art des Sprechers liegt,74 sondern auf der Anhäufung der Worte und damit auf der Länge des Gebets. Insofern ist eine Berührung mit dem fatigare deos der Römer75 gegeben. Es handelt sich also um ein

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Carson, 164f. K.L. Schmidt im Art. ἔθνος usw., ThWNT, II, 1935, 370: „Gegensatz zum Judentum“. Aland Synopse, 86; Fiedler, 164. G. Delling, Art. βατταλογεῖν, ThWNT, I, 1933, 598; BDR § 40,3; Sand, 124. Delling a.a.O., 597; Bauer-Aland, 275. F. Blass nach BDR § 40,3; Bauer-Aland a.a.O. Gegen B. Weiss, 130, der auf das „hastige unermüdliche Wiederholen derselben Worte“ abhebt. 75 Seneca Ep. 31,5; Martial VII, 60,3.

6. Wahre Frömmigkeit, 6,1-18

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eigenwilliges „Bestürmen“ Gottes.76 Dabei meinen die Betreffenden erhört zu werden, wenn sie viele Worte machen. Blass-Debrunner-Rehkopf übersetzen ἐν τῇ πολυλογίᾳ αὐτῶν [en tē polylogia autōn] mit „durch ihren Wortschwall“.77 In der Tat kann man bei Heiden einen solchen Wortschwall häufig feststellen: bei der Häufung von Gottesbezeichnungen in Assyrien und Babylonien bei den Beschwörungsformeln im Zauberwesen, bei den asiatischen Gebetsmühlen, aber auch bei den langen Gebeten der Baalspriester in 1Kön 18,26ff und bei den falschen Propheten in Jerusalem (Jes 28,7ff ).78 Eine interessante Diskussionslage zeigt der Talmud. Demnach wird sowohl das lange als auch das kurze Gebet von den Rabbinen gelobt.79 Nach Ansicht mancher Ausleger werde eher das lange Gebet bevorzugt.80 Aber dieses Urteil ist fragwürdig.81 Jesus jedenfalls will das echte, mit Herzblut gefüllte, Gebet:82 Gleicht ihnen [= den Heiden] also nicht! (V. 8). Das ist eine klare Anweisung. Den Grund fügt Jesus sofort hinzu: Denn euer Vater weiß, was ihr braucht, bevor83 ihr ihn bittet. Dasselbe finden wir in Mt 6,32 – ein Wort größter Zuversicht. Es enthält ein Doppeltes: 1) Gott als euer Vater muss nicht informiert werden, er begleitet euch mit ganzer Zuwendung, sodass er weiß, was ihr braucht.84 Das griech. χρείαν ἔχειν [chreian echein] hebt auf das Nötige ab, vom Unnötigen wird gar nicht gesprochen. 2) Gott wird euch alles geben, was ihr braucht: Also alles, was für euch nötig ist, aber nicht das Schädliche (Mt 6,11). Die wenigen Worte Jesu zum Gebet in Mt 6,6-8 fordern noch einmal unser Nachdenken heraus. Wir versuchen ein kurzes Fazit: 1. Die Bemerkungen zum Ort des Gebets, zum „Gebet im Kämmerlein“, leiten dazu an, ganz auf den Vater im Himmel zu vertrauen und deshalb auf menschliche Anerkennung zu verzichten. Es geht um unsere innere Orientierung („Motivation“ ist zu wenig). 2. Es wäre aber ein Missverständnis, Mt 6,6ff als „die Forderung einer rein innerlichen Frömmigkeit“85 aufzufassen. Nein, Jesus will nicht nur eine inner76 Delling a.a.O.; Klostermann, 54. 77 BDR § 219,2. 78 Klostermann a.a.O.; B. Weiss a.a.O.; Zahn, 268; Delling a.a.O.; Schniewind, 79; Luz I 330; France, 132. Gegen Fiedler, 164, „polemisiert“ Matthäus hier nicht. 79 Strack-Billerbeck I 403ff. 80 Strack-Billerbeck I 403. 81 Vgl. etwa b Ber 33b. 82 Vgl. Carson, 166. 83 Vgl. BDR § 403,6. 84 Vgl. Ps 139,4. 85 So Klostermann, 54.

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liche, sondern eine ganzheitliche, auch den Leib und das Bekenntnis einschließende Frömmigkeit (vgl. Mt 10,26ff ), also das, was die Apostel später mit „Heiligung“ bezeichneten (2Kor 7,1; 1Thess 4,3ff; 1Tim 2,15; 1Petr 1,2; Hebr 12,10.14). 3. Das zeigt sich gerade daran, dass die Anweisung zum Gebet in der Kammer keinesfalls den Ausschluss oder auch nur die Geringschätzung des öffentlichen oder gemeinsamen Gebets bedeutet.86 Stärkstes Beispiel des gemeinsamen Gebets ist sofort anschließend das Vaterunser: „Vater unser“ kann man nur gemeinsam sagen. Gebetsgemeinschaften, Gebetskreise, Gebetszellen, Gottesdienste sind also ganz nach dem Willen Jesu (Mt 18,19f ). Vergleiche Apg 1,14.24; 2,4f; 4,24ff; 5,12; 12,5; 13,3. Ferner gibt es zahlreiche Beispiel dafür, dass Jesus selbst in aller Öffentlichkeit gebetet hat (Mt 14,19; 19,13ff; 26,26ff; Joh 11,41f; 12,27f ). Wir brauchen also das einsame wie das gemeinsame Gebet.87 4. Mt 6,6-8 beinhaltet, dass unser Gebet ein Gespräch mit dem Vater ist. Gebete, die die Gemeinde informieren wollen oder versteckte Propaganda oder Handlungsanleitungen sind, verstoßen gegen Mt 6,6ff. 5. Das beliebte „Sturmbeten“ in christlichen Kreisen bleibt von Mt 6,7 her fragwürdig. Ein herzliches, gelegentlich sogar langes, ja leidenschaftliches Vor-Gott-Bringen ist biblisch. Aber ein Endlos-Beten, das nicht mehr mit einer letztgültigen Antwort Gottes rechnet (vgl. Mt 26,36f; 2Kor 12,8f ), oder ein Beten, das auf die Menge oder Leidenschaft der Gebete baut, stimmt nicht mit Mt 6,7 überein. 6. Die Worte euer Vater weiß, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet (V. 8) dürfen nicht dazu missbraucht werden, das Bittgebet einzuschränken oder gar abzuschaffen. Es müsste sonst zu einer Abschaffung aller Gebete kommen. Denn was können wir beten, was nicht Gott zuvor schon weiß?88 Außerdem fordert Jesus mit Nachdruck zum Bittgebet (Mt 7,7ff ) und zu allen Gebeten auf (Lk 18,1). 7. Gerade zu Mt 6,7f gibt es entsprechende Anweisungen schon im AT (Jes 1,15; Koh 5,1; vgl. Sir 7,15). Ebenso lassen sich bei den Rabbinen, zum Beispiel im Traktat Berachot, viele Parallelen finden.89 Aber unter den vielen Stimmen seiner Zeit ist es die Stimme des Messias und Gottessohnes, die uns

86 87 88 89

Ebenso Klostermann a.a.O.; B. Weiss, 129. Vgl. Carson, 165. Vgl. Schlatter, 90f. Vgl. Strack-Billerbeck I 396ff. Schon deshalb ist das Urteil von B. Weiss, 127, es handle sich bei Mt 6,1-18 um eine „Polemik gegen die pharisäische Tugendübung“, unhaltbar.

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verlässlich sagt, wie das AT zu verstehen sei und wie wir wirklich nach Gottes Willen beten sollen. 8. Zur äußeren Haltung beim Gebet hat sich Jesus nicht geäußert. Jüdischerseits konnte man „im Gehen, Sitzen und Liegen“ beten.90 Diese Freiheit hat Jesus gelassen. Eine Kirche mag für ihre Gottesdienste und ihre Liturgie gewisse Ordnungen einführen – mit Recht. Aber die Freiheit des einzelnen Christen, an allen möglichen Orten, in allen möglichen Situationen und in den verschiedensten Gebetshaltungen zu beten, wird dadurch nicht aufgehoben. Nun folgt gewissermaßen der positive Teil von Mt 6,5-15: So sollt ihr nun beten (Οὕτως οὖν προσεύχεσθε ὑμεῖς [Houtōs oun proseuchesthe hymeis]). So (οὕτως [houtōs]) legt ein Wort oder einen Vorgang auf einen bestimmten Inhalt oder eine bestimmte Art und Weise fest (Mt 1,18; 19,10).91 So heißt also „folgendermaßen“92 „mit diesen Worten“. Ganz offensichtlich ist es die Absicht Jesu, dass die Jünger das folgende Gebet auswendig lernen und es rezitieren können.93 Über das Verhältnis zu Lk 11,1-4 später. οὖν [oun], nun, zieht die Konsequenz aus V. 5-8. Ihr, ὑμεῖς [hymeis], ist betont.94 Es setzt einen Unterschied nicht nur zu den Heiden von V. 795 voraus, sondern auch zu den Heuchlern von V. 5. Es folgt zunächst eine Gebetsanrede:96 Unser Vater im Himmel! (V. 9). Mit zwei Worten werden zwei Dimensionen aufgerissen, von denen jede unverzichtbar ist und die engstens zusammengehören: Vater und Himmel, Liebe und Macht. Es gibt gute Gründe, sowohl die Nähe zum „Achtzehngebet“ (Schemone Esre)97 als auch die Verwandtschaft mit dem liturgischen Qaddisch-Gebet98 zu betonen. Diese Verwandtschaft lehrt uns, dass Jesus im Vaterunser seine Jünger bewusst in das Gebetsleben des Alten Testaments und damit bewusst auch in das Gebetsleben Israels hineinstellen wollte (vgl. Sir 23,1; 51,10; Sap Sal 2,16; 14,3; Schemone Esre 4.6).99

90 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Strack-Billerbeck I 401. Vgl. BDR § 434,3. Bauer-Aland, 1209. Riesner, 446; Gundry, 104f. Gundry, 105. Gundry a.a.O. Vgl. Gnilka I, 212. Gnilka a.a.O.; Strack-Billerbeck I 406-408. Strack-Billerbeck I 408ff; Gundry, 104; Schniewind, 81; France, 134. Vgl. Strack-Billerbeck I 394; Gundry, 106; Luz I 341. Die Überlegung, ob Jesus nicht mit dem Vaterunser das Achtzehngebet verdrängen wollte (Strack-Billerbeck I 407), ist deshalb fehl am Platz. Vgl. noch Zahn, 270f.

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Was die Wirkungsgeschichte am tiefsten geprägt hat, ist die Vater-Anrede. Sie findet sich auch bei Lukas (11,2) und in der Didache (8,2). Mag sie auch jüdisch verbreitet und geschätzt gewesen sein,100 so konzentriert sich doch Jesus darauf in einzigartiger Weise. Gott ist sein Vater, und Gott ist der Vater seiner Jünger. Stellt man die Eröffnungssure des Koran, Al-Fatiha, daneben, so wird der ganze Unterschied offenbar. Barmherzigkeit und Macht sind deren Aussagen über Gott, aber der Vater-Name wird dort vergebens gesucht. Mit „aller Wahrscheinlichkeit“101 benutzte Jesus für Vater das aramäische ‫אַ ָבּא‬ [ʾabbāʾ], dessen hebräisches Äquivalent ‫[ ָאב‬ʾāb] ist. Mk 14,36; Röm 8,15; Gal 4,6 bezeugen es.102 ‫[ אַ ָבּא‬ʾabbāʾ], „Abba“, wird als ein „Laut des bittenden Kindes“103 aus der Kindersprache abgeleitet.104 Für die Zeitgenossen Jesu klang es, „weil dem Alltagssprachgebrauch der Familie angehörig, … unfeierlich und respektlos“.105 Doch gerade so wurde es ein Ausdruck größter Innigkeit und völligen Vertrauens. Andererseits blieb in der Bezeichnung Vater die unvergleichliche Autorität und Macht des hebräischen ‫[ ָאב‬ʾāb]106 stets gegenwärtig. Ob Jesus im Vaterunser nur ‫[ אַ ָבּא‬ʾabbāʾ]107 oder die Mehrzahlform ‫[ ָאִבינוּ‬ʾābīnū] gebrauchte, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Bewusst stellt Jesus neben ‫[ אַ ָבּא‬ʾabbāʾ], den „Vater“, die Aussage im Himmel (ἐν τοῖς οὐρανοῖς [en tois ouranois]) = ‫שַּׁמי ִם‬ ָ ‫[ ֶשׁ ַבּ‬schäbbaschschāmajim]. Der Synagoge war sie wohlvertraut.108 Aber auch für Jesus lässt sie sich nachweisen.109 Diese Aussage im Himmel kennzeichnet Gott als den schlechthin allen Geschöpfen Überlegenen. Sie ist, wie es Helmut Traub formuliert, ein „Ausdruck absoluter Weltherrschaft“.110 Und gerade dieser uns unendlich überlegene und das All regierende Gott ist unser liebevoller Abba! Es folgt in V. 9 die erste von insgesamt sieben Bitten111: Dein Name werde geheiligt (ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου [hagiasthētō to onoma sou]). Hier sind wir nahe an der Formulierung des gottesdienstlichen Qaddisch-Gebetes: „verherrlicht und geheiligt werde sein großer Name“.112 Dieses Gebet lehrt uns, 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112

Vgl. die obigen Erklärungen zu Mt 5,16.45.48; 6,1.4.6.8. G. Kittel, Art. ἀββᾶ, ThWNT, I, 1933, 5. G. Schrenk im Art. πατήρ usw., ThWNT, V, 1954, 984; Gundry, 105. Schrenk a.a.O., 985. Auch Kittel a.a.O. Kittel a.a.O.; Schrenk a.a.O. Vgl. dazu H. Ringgren, Art. ‫ָאב‬, ThWAT, I, 1973, 1ff. So Kittel a.a.O., 4f. Schrenk a.a.O., 979. Schrenk a.a.O., 985ff; H. Traub, Art. οὐρανός usw., ThWNT, V, 1954, 520. Traub a.a.O. Vgl. Gnilka I, 212. Nur sechs Bitten zählen Schniewind, 87; Wilckens, I/4, 67. Vgl. Strack-Billerbeck I 408; Bornhäuser, 154.

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dass die Heiligung des Gottesnamens auch seine Verherrlichung einschließt. Dabei ist der Name im biblischen Sinne alles andere als „Schall und Rauch“. Im biblischen Denken ist Name vielmehr ein „Austauschbegriff “ für die betreffende Person.113 So heißt Gott (Jahwe) im Judentum einfach „haschschem“ = „der Name“.114 Dein Name steht demnach im Vaterunser gleichbedeutend für „Du, Gott“. Das Passiv werde geheiligt verstehen wir wie Gnilka115 als „Ausdruck der Ehrfurcht“. Einigermaßen überraschend bleibt es, dass weder ein konkreter Name noch ein Gottesprädikat („der Höchste“ o.ä.) genannt wird.116 Doch was heißt nun werde geheiligt? Eine erste Antwort ergibt sich aus Ez 36, einem der großen Endzeitkapitel des AT. Es betont, dass in der Endzeit der Name Gottes geheiligt werden soll, und zwar durch Gott selbst: „Und ich werde meinen großen Namen heiligen“ (V. 23). Jesus bittet also darum, dass die Endzeit jetzt beginnen soll und diese Heiligung stattfindet. Ez 39,7 und Jer 29,23 zielt in dieselbe Richtung, nur dass es dort die Israeliten der Endzeit sind, die Gottes Namen heiligen. Deshalb muss man bezüglich der Aussage von Otto Procksch: „Subjekt der Heiligung ist einzig und allein Gott, nicht der Mensch“117, vorsichtig bleiben. Besser ist es anzunehmen, dass die Heiligung des Namens von beiden vollzogen werden soll, von Gott und den Menschen.118 Der konkrete Inhalt des Begriffes heiligen ist schwer zu erfassen. Otto Procksch geht vom Faszinosum aus und schreibt: „Wenn Gottes Gottheit dem Menschen im Schauer der Anbetung offenbar wird …, dann heiligt sich Gott an ihm.“119 W. Kornfeld definiert das „sich als heilig erweisen“ in Ez 36,23 als die „keiner Änderung unterworfene göttliche Heiligkeit … zur Selbstdarstellung“ bringen.120 Für die Heiligung des Namens Gottes auf Seiten des Menschen hat Martin Luther in seiner „Auslegung deutsch des Vater unser“ 1519 Entscheidendes gesagt: Es ginge darum, dass wir „leben als Gottes Kinder“121 und dass „Gott allein der Name und Ehre gebühre“.122 Dem Grundsinn nach bedeutet also heiligen: in Ehrfurcht vor dem einzigartigen Gott leben. Wenn Gott selbst sich als „heilig erweist“, 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122

F.V. Reiterer im Art. ‫ ֵשׁם‬, ThWAT, VIII, 1995, 128; Schniewind, 82. Vgl. wieder Reiterer a.a.O. Gnilka a.a.O. Gnilka a.a.O. Im Art. ἅγιος usw., ThWNT, I, 1933, 113. Ähnlich Schlatter, 92; Beare, 172f. So auch Strack-Billerbeck I 208ff; Fiedler, 168f; Sand, 127; Senior, 85; Luz I 344. Unter den Kirchenvätern z.B. Leo d. Gr. (Texte KV III, 95). Procksch a.a.O. Im Art. ‫קדשׁ‬, ThWAT, VI, 1989, 1185. Nach Martin Luther, Ausgewählte Werke, hrsg. von H.H. Borchert und Georg Merz, I, 3. Aufl., München, 1951, 303. A.a.O. 306.

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dann erweckt er diese einzigartige Ehrfurcht. Sie erfüllt am Ende die ganze Schöpfung (Offb 22,43f ). Jesus und seine Jünger beten also darum, dass dies geschehen soll (vgl. 1Petr 1,17).123 Schließlich sei noch auf einen wesentlichen Punkt in Mt 6,9 hingewiesen: Das ist der Charakter, den das Vaterunser als Gemeinschaftsgebet hat. Es hat, wie Gundry formuliert, eine „communal nature“.124 Ein „Vater mein“ gibt es auf gleicher Ebene nicht. Solange die christlichen Kirchen dieses Gebet beten, bekennen sie ihre Zusammengehörigkeit und die Unmöglichkeit, sich zu trennen. Mt 6,10 enthält die zweite und dritte „Du-Bitte“.125 Die zweite lautet: Dein Reich komme (ἐλθέτω ἡ βασιλεία σου [elthetō hē basileia sou]). Wieder geht es um das Kommen der End- und Erlösungszeit, also die eschatologische Verherrlichung Gottes.126 Erneut fällt die Nähe zum gottesdienstlichen Qaddisch auf, das ebenfalls nach der Bitte um Heiligung des Gottesnamens die Bitte formuliert: „er lasse herrschen seine Königsherrschaft“.127 Zahn behält also recht, wenn er sagt: „Das Vaterunser konnte und kann noch heute jeder Jude beten.“128 Zur βασιλεία [basileia] vgl. die Erklärung oben bei Mt 3,2; 4,17; 5,3.19.20. Trotz ihrer außerordentlichen Kürze eröffnet die zweite VaterunserBitte weitreichende Perspektiven. Erstens leitet Jesus dazu an, um des Vaters Reich zu bitten – und nicht um das Reich des Christus.129 Man kann freilich sagen, dass das Christus-Reich „zugleich die βασιλεία Gottes“ ist.130 Aber bemerkenswert bleibt es doch, dass Jesus selbst das Reich des Vaters in den Mittelpunkt rückt. Dadurch verlängert sich die Perspektive bis zur letzten Seite der Bibel (Offb 22,1ff ). Zweitens bedeutet die sprachliche Wendung vom „Kommen“, dass es Gottes Gabe sein wird. Nicht Menschen bauen es, sondern Gott der Schöpfer und Weltenherrscher. Gelegentlich können sogar Liedzeilen des Evangelischen Gesangbuchs („Gott will mit uns die Erde verwandeln“, EG 432,3) diese Wahrheit verdunkeln. Drittens ist es von Mt 6,10 her klar, dass das Reich, das Jesus meint, noch nicht vorhanden ist. Seine Endzeitrede (Mt 24 parr) wird das unterstreichen. Es gibt wohl ein beginnendes Reich, verkörpert in seiner Person (Lk 17,21). Es gibt die gegenwärtige Sammlung erlöster Menschen, die in jenes vollendete Reich eingehen werden 123 124 125 126 127 128 129 130

Vgl. Carson, 170. Gundry, 106; Riesner, 446: „Formular für das Gemeinschaftsgebet“; France, 133. Gnilka I, 212; Luz I 341. Aber nicht um einen „stets andauernden Prozeß“, von dem Sand, 127, spricht. Strack-Billerbeck I 419. Zahn, 270. Vgl. K.L. Schmidt im Art. βασιλεύς usw., ThWNT, I, 1933, 583. So Schmidt a.a.O., 581.

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(Apg 14,22; Mt 28,18ff ). Aber eben im Vollsinn ist das Reich von Mt 6,10 immer noch Zukunft und wir müssen damit leben, „daß die königliche Herrschaft Gottes in der Gegenwart noch nicht hergestellt … ist.“131 Viertens aber entsteht aus unserer Bitte die Sehnsucht nach jenem Reich, verbunden mit der höchsten Hingabe in der Mission. Sehr gut spiegelt ein Lied von Christian Gottlob Barth (1799–1862) sowohl die Hoffnung als auch die missionarische Hingabe: „Tu der Völker Türen auf; deines Himmelreiches Lauf hemme keine List noch Macht. Schaffe Licht in dunkler Nacht … Gib den Boten Kraft und Mut, Glaubenshoffnung, Liebesglut, lass viel Früchte deiner Gnad folgen ihrer Tränensaat“ (EG 263,4-5). Im Verlauf der Geschichte hat sich gezeigt, dass ein theologisches Denken, das beim Reichs-Gedanken ansetzt, fähig ist, ohne faule Kompromisse die Konfessionsgrenzen zu überwinden. Ein Beispiel bildet der Pietismus. So konnte Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) in seiner Predigt zum Feiertag des Jacobus maior sagen: „Das Königreich Gottes“ sei „der Mittelpunkt aller Lehre“.132 Die zweite Bitte in V. 10 – und damit die dritte des Vaterunsers überhaupt – lautet: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden! Diese Bitte fehlt bei Lukas, und wir werden später mögliche Gründe zu bedenken haben. Wir sind hier noch im Bereich der „Du-Bitten“.133 Allerdings fällt nach den kurzen Bitten in V. 9 und 10a die erweiterte Fassung (wie im Himmel, so auch auf Erden) auf.134 Rainer Riesner macht jedoch darauf aufmerksam, dass Mt 6,10b dem Gebet Jesu in Lk 22,42 entspricht und daher auch die Erweiterung als jesuanisch betrachtet werden muss.135 Dein Wille geschehe (γενηθήτω τὸ θέλημά σου [genēthētō to thelēma sou]): Auch im Qaddisch sind Name und Wille Gottes eng miteinander verknüpft.136 Wille, θέλημα [thelēma], geht vor allem auf das hebr. ‫[ ָרצוֹן‬rāzōn] zurück, daneben auf die Wurzel ‫[ חפץ‬chpz].137 Konstituierend sind zwei Elemente: das Wohlgefallen und der überlegene, wohlüberlegte Entschluss Gottes. Die häufige jüdische Wendung ‫[ עשׂה רצון‬ʿśh rzwn] = ποιεῖν τὸ θέλημα [ poiein to thelēma] bedeutet, diesem göttlichen Entschluss Folge zu leisten. Mit Recht sagt deshalb Gottlob Schrenk, die dritte Bitte des Herrengebets 131 132 133 134 135 136 137

Zahn, 172. Friedrich Christoph Oetinger, Die Epistelpredigten, Metzingen, 1978, 464. Gnilka a.a.O. France, 135, will die Erweiterung auf alle drei Du-Bitten des Vaterunsers beziehen. Riesner, 446. Beare, 173, betrachtet sie als sekundär. Strack-Billerbeck I 408. Vgl. G. Schrenk, Art. θέλω usw., ThWNT, III, 1938, 53.

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drücke „nicht nur Ergebung aus, sondern Zustimmung zur umfassenden Durchführung des Wollens Gottes“.138 Jesus hat diese Bitte in Gethsemane selbst praktiziert (Mt 26,42)139 und uns für alle Zeiten ein Muster für eine solche Gebetshaltung und die willige Übernahme der Konsequenzen hinterlassen. Bemerkt sei noch, dass 1Makk 3,60 eine „wichtige Par(allele) zum Herrengebet“ darstellt.140 Ps 103,21; Jona 2,11 und Sir 43,18 besagen zusammen mit Offb 4,11, dass in Gottes Schöpfung alle Geschöpfe seinen Willen erfüllen. Nur Engel und Menschen widersetzen sich ihm. Gerade diesen dunklen Fleck der Schöpfung spricht Jesus mit seiner dritten Bitte an. Denn wenn der Wille Gottes erst noch geschehen soll (γενηθήτω [genēthētō] = ‫[ רצון יהי‬rzwn jhj]141), dann ist klar, dass er heute noch nicht überall geschieht. Fragen kann man, wie die Worte wie im Himmel, so auf Erden zu verstehen sind. Zwei gut begründbare Möglichkeiten stehen nebeneinander: 1) Sowohl im Himmel als auch auf Erden muss sich der Wille Gottes erst noch ganz durchsetzen. Diese Deutung lässt sich begründen a) mit der biblischen Aussage, dass „selbst die Himmel nicht rein sind“ vor Gott (Hiob 15,15; 25,5); b) mit dem damals noch zukünftigen Drachensturz nach Offb 12,7ff (vgl. Hiob 1,6ff; 2,1ff ); c) mit der Notwendigkeit, einen „neuen Himmel“ zu schaffen (Jes 65,17; 66,22; 2Petr 3,13; Offb 21,1ff ).142 2) Die Erfüllung des Willens Gottes soll auf Erden genauso geschehen wie im Himmel, also im Himmel jetzt schon ihr Vorbild haben. In diesem Fall muss man allerdings den Himmel auf die engere Umgebung Gottes beschränken (Dan 7,9ff; Offb 4–5). – In den Textvarianten, die das ὡς [hōs] in Mt 6,10 streichen, wird offensichtlich die erste Deutungsmöglichkeit vertreten. Näher liegt jedoch ein korrelatives Verständnis. Die Abfolge ὡς – καί [hōs – kai] dient normalerweise einer Vergleichung.143 Deshalb verstehen wir wie im Himmel, so auf Erden als Bitte, die auf Erden dieselbe unbeschränkte Geltung des Gotteswillens ersehnt, wie sie bereits in der Umgebung Gottes Wirklichkeit ist.144 Hier ist zu beachten, dass nicht nur die eschatologischen Feinde Gottes überwunden werden sollen, sondern dass sich diese dritte Du-Bitte auch gegen die Planungen und den Willen der Gläubigen richten kann (vgl. 2Kor 12,8f; Jak 4,15). Eine Liedzeile wie die 138 139 140 141 142 143 144

Schrenk a.a.O., 55. Schrenk a.a.O. Schrenk a.a.O., 53. Schrenk a.a.O., 55, Anm. 12. Zu dieser Deutung neigt Schniewind, 84; Beare, 174. BDR § 453; Bauer-Aland, 1790. So auch Luz I 344; Zahn, 273f; Carson, 170; Schlatter, 93.

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von Paul Gerhardt: „Treib unsern Willen, dein Wort zu erfüllen; hilf uns gehorsam wirken deine Werke“ (EG 447,8) nimmt gerade diese Anliegen auf. Auf die drei Du-Bitten folgen im Vaterunser vier „Wir-Bitten“.145 An die Stelle des dein tritt das uns. Dass Jesus die drei auf Gott bezüglichen Bitten an die Spitze stellt, zeigt, dass er selbst sich auf den Vater im Himmel konzentriert und dass auch wir in unserm Gebet dasselbe tun sollen. Dass er dann aber vier Bitten für die Anliegen des Menschen formuliert, zeigt, dass er die menschlichen Bedürfnisse ernst nimmt. Die vierte Bitte ist wieder bemerkenswert kurz: Unser nötiges Brot gib uns heute (τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον [ton arton hēmōn ton epiousion dos hēmin sēmeron]). Aber in dem griech. Wort ἐπιούσιος [epiousios] enthält sie das schwierigste Wort des ganzen Vaterunsers. Es ist „der gesamten Profangräzität fremd“ und im NT „nur noch Lk 11,3“.146 Nur ein Papyrus der frühen Kaiserzeit spricht von τὰ ἐπιούσια [ta epiousia] = diaria („Tagessold“).147 Origenes meinte, das Wort sei erst von den Evangelisten gebildet worden.148 Dementsprechend bleibt die Deutung schwierig und die Literatur umfangreich.149 Es lassen sich folgende Deutungsmöglichkeiten auflisten:150 1) Die Übersetzung mit „morgig“ bzw. „für den folgenden (oder: kommenden, oder: anbrechenden) Tag“. Dafür spricht das ‫[ ָמָחר‬māchār] im HebrEv sowie das venientem und crastinum der koptischen Übersetzungen (bo, mae, sa).151 Die Bitte würde dann lauten: „Unser Brot für morgen gib uns heute.“ Eine solche Bitte ist weniger erstaunlich, als es auf den ersten Blick scheint. Denkt man z.B. an die Situation eines Tagelöhners, der mit seinem Tagesverdienst für seine Familie die Lebensmittel des folgenden Tages kauft, dann leuchtet sie ohne Weiteres ein. Im Anschluss an Zahn152 haben deshalb viele diese Deutung übernommen, darunter Bornhäuser und Schlatter.153 Ja, Foerster konnte 1935 feststellen, sie sei „gegenwärtig die verbreitetste“.154 Gegen diese Deutung gibt es allerdings einige Einwände: a) Kann man angesichts von Mt 6,34 schon heute das erbitten, was man morgen 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154

Gnilka I, 212. Strack-Billerbeck I 420. Preisigke Sammelbuch I 5224, 20. Vgl. BDR § 123,2. De orat. 27,7. Vgl. die Literaturhinweise bei W. Foerster, Art. ἐπιούσιος, ThWNT, II, 1935, 587ff; Bauer-Aland, 601f. In Anlehnung an Bauer-Aland a.a.O.; BDR a.a.O.; Foerster a.a.O. Vgl. Foerster a.a.O., 588; BDR a.a.O. Zahn, 281f. Bornhäuser, 157f; Schlatter Ev, 211f; auch Gundry, 105; Fiedler, 171; Schniewind, 84; Luz I 346f; Senior, 86. Foerster a.a.O., 589.

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braucht?155 b) Durfte man nicht das Himmelsbrot, das Manna von Ex 16,4ff nur „täglich sammeln“, aber gerade nicht für morgen?156 c) Haben nicht die alten Rabbinen des 2. Jh. n.Chr. die Gebetskonzentration auf das Heute empfohlen, so Elieser der Große, wenn er sagt: „Wer Brot im Korbe hat und sagt: was werde ich morgen essen?, gehört zu denen, die klein im Vertrauen sind.“157 Bornhäuser erklärt dies als „bewußte Polemik“ gegen Christen.158 Aber eine solche Erklärung bleibt eine unsichere Vermutung. 2) Eine andere Möglichkeit ergibt sich, wenn man ἐπι-ούσιος [epi-ousios] von ἐπὶ τὴν οὖσαν ἡμέραν [epi tēn ousan hēmeran] ableitet und als „zum Dasein gehörig“, „zum Leben gehörig“, kürzer noch: als „nötig“ versteht. Eng damit verwandt ist die Übersetzung „für den betreffenden Tag“.159 Von hier aus führt ein verständlicher Weg zu der Übersetzung „täglich“, die wir vor allem vom Luthertext gewohnt sind. Schon alte Übersetzungen haben diese Deutungsmöglichkeit vertreten, so die Itala (cottiadianum) und Teile der Vulgata.160 3) Schließlich findet sich bei den Syrern die Deutung „ständig“ (syc) oder „nötig“ (syp.h). Die beiden Deutungen 2) und 3) verbindet die Orientierung an der Menge des Erbetenen, während die Deutung 1) auf den Zeitpunkt der Erfüllung blickt. Dem inneren Gefälle der Bergpredigt folgend und vor allem Mt 6,8 einerseits und Mt 6,32f andererseits zur Interpretation heranziehend, wird man in der Tat eine Deutung auf die Menge des Erbetenen vorziehen müssen. Nachdrücklich hat besonders Werner Foerster dafür plädiert, „daß ἐπιούσιος keine Zeit-, sondern eine Maßangabe enthalten muß“.161 Er selbst kam („mit hinreichender Sicherheit“) zu der Übersetzung: „Das Brot, das wir brauchen, gib uns heute.“162 Blass-Debrunner-Rehkopf halten dies für eine positive Möglichkeit163, Autoren wie Strack-Billerbeck oder Gnilka unterstützen es.164 Wir schlagen deshalb in unserm Kommentar die Übersetzung Unser nötiges Brot gib uns heute! vor.165 Auf diese Weise ist die innere Einheit mit Mt 6,8.32.33.34; 7,11 gewahrt. Aber auch Zusammenhang und Einklang mit Prov 30,8-9 einerseits und 1Tim 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165

Foerster a.a.O., 592. Foerster a.a.O., 593. b Sota 48b. Bornhäuser a.a.O. Vgl. BDR § 123,2; 124,2; Bauer-Aland, 601f; Foerster a.a.O., 590f.594. Bauer-Aland, 602, nennen außerdem Origenes, Chrysostomus und Hieronymus. Foerster a.a.O., 593. Foerster a.a.O., 595. BDR § 123,2. Strack-Billerbeck I 420f; Gnilka I, 212. Vgl. Beare, 176 („sufficient“); Sand, 127. Sachlich ebenso Einheitsübersetzung; Neue Jerusalemer Bibel; BigS.

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6,6-8 andererseits sind gegeben. Die Vaterunser-Bitte Unser nötiges Brot gib uns heute! überlässt es dem Vater im Himmel, wie viel Brot für uns nötig ist. Mit dem Brot ist gut alttestamentlich der ganze Lebensunterhalt gemeint (vgl. Gen 3,19; Ex 23,25; Lev 26,5; Dtn 8,3). Eine Deutung des Brotes auf geistliche Speise darf man nicht ausschließen (vgl. Joh 4,8.30ff ).166 Aber wir sollten nicht vergessen, dass Jesus zuerst vom Brot für den Leib spricht. Es ist ja gerade das Besondere, dass er die menschlichen Lebensbedürfnisse an die Spitze seiner vier „Wir-Bitten“ rückt. Im Schemone Esre kommt eine solche Bitte erst bei der neunten von 18 Benediktionen vor.167 Jesus als einer, der selbst gehungert hat (Joh 4,31ff; Mt 21,18; 4,2), weiß, wovon er spricht. Er war kein Schwärmer, der „auf Wolke sieben“ ging.168 Und auch das andere wird man mit Adolf Schlatter hören müssen: Unsere Bitte ums Brot ist nötig, weil „die Kraft des arbeitenden Mannes nur mit Gottes Hilfe ihm sein Brot verschafft“.169 In der Betonung des heute170 drückt sich schließlich ein getrostes Vertrauen aus, das den morgigen Tag wieder ganz neu aus Gottes Hand nehmen kann. Vergleiche schon Klgl 3,22f und Mt 6,34. Nicht zu vergessen ist die zweimalige „Wir“-Form: Unser und uns. Jeder Jünger betet hier „als Glied der Gemeinschaft“.171 Das heißt, er betet, dass die gesamte Gemeinde Jesu – und nicht nur er selbst! – an diesem Tag das nötige Brot empfängt. Was das angesichts der Verfolgungssituation, die die Christen ständig begleitet, bedeutet, müssen wir im nordatlantischen Raum erst wieder langsam lernen.172 Von der leiblichen Lebensgrundlage geht Jesus in der fünften VaterunserBitte (der zweiten Wir-Bitte) weiter zur geistlichen Lebensgrundlage: Und vergib uns unsere Schulden (τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν [ta opheilēmata hēmōn]), wie auch wir unsern Schuldigern vergeben haben! (V. 12). Das Wort für Schulden, ὀφειλήματα [opheilēmata], ist auffällig, und man kann beobachten, dass Lukas dafür „Sünden (ἁμαρτίαι [hamartiai])“ wählt (Lk 11,4). ὀφείλημα [opheilēma] wird im NT nur zweimal gebraucht (Mt 6,12; Röm 4,4), und zwar 166 Traditionell deuteten frühe christliche Ausleger auf das Abendmahl oder das Wort Gottes. Aber auch in der Neuzeit findet sich die Deutung auf das „Brot der Heilszeit“ o.ä. So Jeremias Gleichnisse, 220. 167 Vgl. Strack-Billerbeck I 421. 168 Interessant Schlatter Ev, 213: Jesu Jünger haben „keine das Sterben herbeiwünschende Sehnsucht“. 169 Schlatter, 94. 170 σήμερον [sēmeron] mit Achtergewicht. 171 Schlatter Ev, 210. 172 Deutlich wird das an der Auslegung von Luz I 347: Es gehe hier „nicht um besondere Anliegen des Jüngerkreises Jesu“, sondern um „sehr offen(e)“, allgemeine Menschheitsbitten.

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von Autoren, die ausgesprochene Gesetzeslehrer sind. Friedrich Hauck führt ὀφείλημα [opheilēma] zurück auf das aramäisch-neuhebräische ‫[ חוֹב‬chōb].173 Sowohl das Substantiv ‫[ חוֹב‬chōb] als auch das Verb ‫[ חוב‬chwb], im Piel „schuldig machen“, finden sich vereinzelt in den Exilschriften des AT (Ez 18,7; Dan 1,10). Im frühen rabbinischen Judentum wird dann ‫[ חוֹב‬chōb] ein „geläufiger Ausdruck“ für das, was der Mensch Gott schuldig bleibt, ja für Sünde.174 Prägend bleibt „das Bild von der Zahlungsschuld“.175 Es kann sich verdichten zum Bild von Schuldbriefen, die auf den Menschen lauten.176 Bezeichnet ὀφειλήματα [opheilēmata] genau genommen das Geschuldete, die Schulden, die aus Pflichtverletzungen Gott gegenüber erwachsen, dann muss man ἄφες [aphes] dementsprechend mit „erlasse“ übersetzen.177 Sieht man in ὀφειλήματα [opheilēmata] eher ein Synonym für Sünden, dann passt nur die Übersetzung vergib. Sehr wahrscheinlich sollten wir in Mt 6,12 jeweils beides zusammensehen, weshalb wir in der Übersetzung beide Bedeutungsebenen zusammenbringen wollten: vergib uns unsere Schulden. Es bleibt interessant, dass Jesus offenbar auch ganz freimütig über die Sünde als Pflichtverletzung Gott gegenüber reden konnte. Insofern liegt er auf einer Linie mit Daniels Bußgebet in Dan 9,18 und auch dem Rabbi Akiba des 2. Jhs. in b Taan 25b. Im Übrigen ist die Bitte um Sündenvergebung ein Hauptpunkt im AT (vgl. Ps 51; 130) wie im Judentum der Zeitenwende.178 Nur wenn unsre Schuld vergeben ist, kann Gemeinschaft mit Gott entstehen. Martin Luther hat bei seiner Auslegung des Vaterunsers zu Recht auf zwei wesentliche Inhalte hingewiesen: 1) dass die Bitte um Vergebung deutlich macht, dass wir auch in der Nachfolge Jesu „noch täglich“ sündigen und kein Gedanke an eine mögliche Sündlosigkeit aufkommen kann (vgl. 1Joh 1,8f ); 2) dass Gottes Vergebung aus reiner Gnade und nicht wegen unserer Verdienste geschieht.179 Schwer zu verstehen sind die hinzugefügten Worte wie180 auch wir unsern Schuldnern181 vergeben haben. Dafür, dass sie ursprünglich sind, spricht schon die frühe Überlieferung in 1Clem 13,2; Did 8,2; Polykarp ad Phil 6,2. Im Art. ὀφείλω usw., ThWNT, V, 1954, 565. Hauck a.a.O.; Bauer-Aland, 1210f. Hauck a.a.O., 561. Hauck a.a.O.; Strack-Billerbeck I 421 (im Abīnu Malkēnu). Luther im Großen Katechismus: „verlasse“ (BELK, 682). Vgl. die 6. Benediktion des Schemone Esre; 1QS XI, 2ff; 1QH IX, 13ff; Weiteres bei Strack-Billerbeck I 421. 179 Im Großen Katechismus BELK, 682ff. 180 Vgl. BDR § 453,2. 181 Zu „Schuldner“, ὀφειλέτης [opheiletēs], vgl. Hauck a.a.O., 565: „der einer Verfehlung Schuldige“.

173 174 175 176 177 178

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Schwanken kann man aber, ob das Präsens ἀφίομεν/ἀφίεμεν [aphiomen/ aphiemen]182 oder der Aorist ἀφήκαμεν [aphēkamen] im ursprünglichen MtText stand. Beides ist textlich gut bezeugt. Als lectio difficilior verdient aber wohl doch das bei Nestle-Aland abgedruckte ἀφήκαμεν [aphēkamen] den Vorzug, also: wir haben vergeben.183 Ist hier eine Bedingung ausgesprochen?184 Muss also der Mensch, ehe er Gottes Vergebung erbittet, zuerst allseits vergeben haben? Oder kann man mit Rudolf Bultmann Mt 6,12 abmildern zu der Bereitschaft, „andern zu vergeben“?185 Oder darf man Mt 18,2135 als eine Art Anleitung zum Verständnis von Mt 6,12 und 6,14f betrachten? Im letzteren Fall wäre ἀφήκαμεν [aphēkamen] nicht unbedingt als zeitliches prae zu verstehen, sondern als ein Prozess, in dem Gott uns und auch wir den andern immer wieder vergeben. Es ist interessant, dass das sog. Gleichnis vom Schalksknecht in Mt 18,21ff so aufgebaut ist, dass zuerst der König = Gott vergibt und erst danach der Knecht = Jünger seinem Mitknecht vergeben soll.186 Unseres Erachtens ist die fünfte Vaterunser-Bitte tatsächlich im Sinne dieses Gleichnisses zu verstehen. Das heißt: Wenn wir nicht unsern Schuldigern vergeben, vergibt uns auch der Vater im Himmel nicht. Diese Verzahnung darf nicht aufgeweicht werden. Aber es kann durchaus so sein, dass Gottes Vergebung zeitlich am Anfang steht.187 Auf diese Weise stimmen wir überein mit Sir 28,2: „Vergib das Unrecht deinem Nächsten, dann werden dir, wenn du darum bittest, auch deine Sünden vergeben werden.“188 Auch in V. 12 sind die vierfachen Pluralformen (ἡμῖν – ἡμῶν – ἡμεῖς – ἡμῶν [hēmīn – hēmōn – hēmeis – hēmōn]) mehr als eine formale Angleichung an die übrigen Wir-Bitten. Sie dienen neben der individuellen Konzentration zur Fürbitte für das ganze Gottesvolk. Demnach kann die Kirche als ganze ebenso schuldig werden wie der einzelne Gläubige. Joh 16,13 steht dem nicht im Wege. Der 13. Vers enthält zwei Bitten. Mit Recht sieht J. Gnilka die Siebenzahl der Vaterunser-Bitten als „beabsichtigt“ an.189 Trotz ihrer grammatikalischen

182 183 184 185 186 187 188 189

Vgl. BDR § 94,6.7. So auch BDR a.a.O.; Zahn 282,88. So Fiedler, 172. R. Bultmann, Art. ἀφίημι usw., ThWNT, I, 1933, 508. Treffend dagegen Schniewind, 86: „nicht ein Versprechen dessen, was wir tun wollen“. Vgl. Beare, 178. Ebenso France, 136. Übersetzung nach Georg Sauer, Jesus Sirach, JSHRZ, III, 5,1981, 573. Vgl. Joma VIII, 8f. Gnilka I, 212. Ebenso Gundry, 105; Strack-Billerbeck I 408; Nolland, 291.

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Verbindung (μή – ἀλλά [mē – alla]) sind deshalb die beiden Vershälften in V. 13 als jeweils eigenständige Bitten aufzufassen.190 Und bringe uns nicht in Versuchung hinein (καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν [kai mē eisenenkēs hēmas eis peirasmon]): Sofort werden wir an das Gethsemane-Wort erinnert: „Betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt (προσεύχεσθε, ἵνα μὴ εἰσέλθητε εἰς πειρασμόν [ proseuchesthe, hina mē eiselthēte eis peirasmon], Mt 26,41).“ Es handelt sich um die Bitte, von einem unerträglichen πειρασμός [ peirasmos] verschont zu werden. Wer baut diesen πειρασμός [ peirasmos] auf? Die Versuchungsgeschichte Jesu gibt die Antwort: Es ist der „Versucher“, der Teufel (vgl. Mt 4,3).191 Und wo handelt Gott? Wieder gibt die Versuchungsgeschichte die Antwort: Gott leitet die Seinen im ganzen Leben durch seinen Heiligen Geist, deshalb leitet er sie nach seinem Willen auch hinein in versuchliche Situationen (vgl. Mt 4,1). Stehen die Dinge so, dann gibt es auch keinen Widerspruch zwischen Mt 6,13 und Jak 1,13. Denn Gott „selbst versucht (πειράζει [ peirazei]) niemand“ in dem Sinne, dass er ihn von der Wahrheit und vom Gehorsam abbringen will (Jak 1,13). Er kann es aber zulassen, dass der Teufel, „der Versucher“, an uns herantritt, um uns von Gott abzubringen. In diesem Sinn bringt er uns in Versuchung hinein. Dabei sind die Zielsetzungen diametral verschieden: Gott will, dass unser Glaube durch solche Proben gestärkt wird und wächst (vgl. Röm 5,3ff ). Der Teufel aber will, dass unser Glaube geschwächt wird und zerbricht.192 Deshalb können, ja müssen wir bitten: Und bringe uns du, lieber Vater im Himmel, nicht in eine Versuchung hinein, die unsern Glauben zugrunde richtet. Die Apostel haben die Gemeinde an diesem Punkt getröstet: „Der Herr weiß die Frommen aus der Versuchung zu erretten“ (ῥύεσθαι [rhyesthai]), 2Petr 2,9, und „Gott macht, dass die Versuchung (πειρασμός [ peirasmos]) so ein Ende nimmt, dass ihrʼs ertragen könnt“, 1Kor 10,13 (vgl. Joh 17,15; 2Thess 3,3; 2Tim 4,18). Erneut befindet sich Jesus in Übereinstimmung mit dem Sirachbuch, das in 33,1 versichert: „wenn er [= der, der den Herrn fürchtet] in Versuchung kommt, wird er ihn wiederum erretten.“193 Überhaupt fällt auf, wie eng das Sirachbuch mit diesem Teil der Bergpredigt verwandt ist (vgl. Sir 7,14; 23,1; 28,2; 33,1).

190 Schniewind, 87, rechnet in V. 13 nur mit einer Bitte. 191 Anders Fiedler, 173: Gott ist der „Urheber der Versuchung“. Fiedler sieht deshalb Mt 6,13 im Widerspruch zu Jak 1,13, ebenso Schniewind, 87. Zahn, 284, erblickt in solchen Deutungen eine „Lästerung“. 192 Vgl. Schlatter, 96. 193 Übersetzung nach Sauer a.a.O., 585.

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Zur sechsten Vaterunser-Bitte ist noch festzuhalten: Sie rechnet mit Gottes Allmacht, die allen bösen Mächten überlegen ist und uns bewahren kann. Sie rechnet außerdem mit Gottes Erbarmen, das diese Bitte erfüllen will. Sie geht ferner davon aus, dass der Teufel und die Versuchung vor allem die Jünger angreifen.194 Trotz des Protestes von Heinrich Seesemann195 wird man auch daran festhalten müssen, dass die Schlatter’sche Übersetzung von πειρασμός [ peirasmos] mit „Erprobung“196 immer noch die beste ist, die sich dann im Falle des teuflischen Handelns gut mit Versuchung wiedergeben lässt. Erneut bietet die rabbinische Literatur eine Reihe von Parallelen. Als Beispiel zitieren wir b Ber 60b: „laß mich nicht zur Sünde kommen noch zur Versuchung noch zur Schmach“.197 Fazit: Der Jünger Jesu weiß, dass er aus eigener Kraft die Versuchung nicht bestehen kann. Er ist darauf angewiesen, Gott zu bitten, dass er ihn vor übermächtigen Versuchungen bewahrt – Luther meinte sogar, das müsse man „alle Stunden“ tun.198 Nur durch Gebet können wir dem Teufel widerstehen (vgl. 1Petr 5,9; Jak 4,7). Das gilt auch für die ganze Kirche (uns!). Die siebte und letzte Vaterunserbitte hat erneut mit dem Thema Teufel/ Macht des Bösen zu tun: sondern rette uns vor dem Bösen! (V. 13). Mit einem „kurzen, scharfen Blick in diese Ecke“, den Karl Barth für genügend hielt, hat sich Jesus also nicht begnügt. Der Teufel war ihm zu sehr Realität. Er ist ja gekommen, um „die Werke des Teufels zu zerstören“ (1Joh 3,8). Dazu gehört es, den Menschen aus der Gefangenschaft des Teufels zu befreien und für ihn das Lösegeld zu bezahlen (Mt 20,28; 1Petr 1,18f ). Warum dann auch heute noch diese letzte Bitte des Vaterunsers? Luther hat auf diese Frage eine exzellente Antwort gefunden: Weil der Teufel durch die ganze Kirchengeschichte hindurch „alles, was wir bitten, unter uns hindert: Gottes Namen oder Ehre, Gottes Reich und Willen, das täglich Brot, fröhlich gut Gewissen etc.“199 In der Tat bäumt sich der Teufel bis zum Schluss gegen Gottes Heilsgeschichte auf. Ja, gegen das Ende hin sogar am rasendsten (Offb 12,1ff ), sodass auch diese Bitte einen eschatologischen Ton trägt. Ob ἀπὸ τοῦ πονηροῦ [apo tou ponērou] (vor dem Bösen) maskulinisch („der Böse“ = der Teufel) oder neutrisch („das Böse“) aufzufassen ist, wird seit Langem diskutiert. Schon Luther deutete es vorwiegend maskulinisch, 194 195 196 197 198 199

Vgl. Schlatter Ev, 215. Im Art. πεῖρα usw., ThWNT, VI, 1959,31. Schlatter Ev, 215f. Dagegen neben Seesemann a.a.O. auch Fiedler, 173, 260. Vgl. Strack-Billerbeck I 422, Schlatter Ev, 215. Im Großen Katechismus, BELK; 687. Im Großen Katechismus, BELK, 689.

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also auf den Teufel.200 Darin folgen ihm bis heute viele Ausleger.201 Luther war allerdings klug genug, auch die neutrische Deutungsmöglichkeit auf „das Böse“ offenzulassen.202 Für beide Deutungsmöglichkeiten kann man Parallelen aus der rabbinischen Literatur beibringen.203 Es ist deshalb empfehlenswert, in Mt 6,13 beides angesprochen zu sehen: „den Bösen“ = den Teufel und „das Böse“. Bei rette uns (ῥῦσαι ἡμᾶς [rhysai hēmas]) warnte Schlatter vor der „unrichtige(n) Wiedergabe“ mit „bewahre uns“. Denn es sei ja „die Gefahr“ schon „vorhanden“.204 Darin muss man ihm zustimmen. Nach Wilhelm Kasch geht neutestamentlich ῥύεσθαι [rhyesthai] weit überwiegend auf hebr. Verben des „Rettens“ zurück: ‫נצל‬, ‫גאל‬, ‫פלט‬, ‫[ מלט‬nzl, gʾl, plth, mlth] und ‫ישע‬ [ jschʿ].205 Seinem Sinngehalt nach bedeutet es auch an allen „Stellen des NT „retten“.206 Man muss dieses retten entsprechend dem oben Gesagten ganz umfassend verstehen. Es schließt ein: 1) die grundsätzliche Rettung des Menschen „von der Macht der Finsternis“ und die Versetzung in das Reich Christi bzw. Gottes (Kol 1,13; vgl. Lk 1,74; Röm 11,26; 1Thess 1,10); 2) die Errettung vor bösen Mächten und Menschen, die die Jünger gefährden (Röm 15,31; 2Kor 1,10; 2Thess 3,2; 2Tim 3,11; 2Petr 2,7), 3) die Errettung vor dem Teufel, der die Gemeinde Jesu angreift und vernichten will (2Thess 3,3; 2Tim 4,17f ), 4) die Errettung vor der Versuchung (2Petr 2,9). Die eben erwähnten neutestamentlichen Stellen sind zum Teil ausgesprochen eschatologisch geprägt (Kol 1,13; 1Thess 1,10; 2Thess 1,10; 2Tim 4,18).207 Manche lassen sich als direkte Zitate von Mt 6,13 verstehen, zum Beispiel 2Tim 4,18. Jedoch geht es nicht an, die letzte Vaterunser-Bitte nur eschatologisch aufzufassen und sie ausschließlich als „Bitte … um endgültige Errettung von der Macht des Bösen“ zu definieren.208 Gegen eine solche Engführung spricht schon der apostolische weit gefasste Gebrauch der Rettungsbitte und der Rettungsaussagen in Röm 15,31; 2Kor 1,10; 2Thess 3,2.3; 2Tim 3,11; 4,17; 2Petr 2,7.9. Nein, die letzte Vaterunserbitte hat neben dem eschatologischen auch einen präsen200 A.a.O. Ebenso viele Kirchenväter des Ostens, vgl. G. Harder, Art. πονηρός usw., ThWNT, VI, 1959, 560. 201 Zum Beispiel Schlatter Ev, 216; Gundry, 105; Schniewind, 88; Carson, 174; Schlatter, 211. Dafür auch der typische neutestamentliche Sprachgebrauch, Harder a.a.O. 202 A.a.O.: es sei „nichts desteweniger [sic!] … mit eingeschlossen“. 203 Strack-Billerbeck I 422; Harder a.a.O., 561; Fiedler, 174, zeigt dasselbe im Blick auf Qumran. 204 Schlatter a.a.O. 205 Art. ῥύομαι, ThWNT, VI, 1959, 999f. 206 A.a.O., 1003. 207 Vgl. Kasch a.a.O.; Harder a.a.O., 561. 208 Gegen Kasch a.a.O., 1004; auch Harder a.a.O. betont einseitig „die eschatologische Errettung“.

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tischen Bezug auf den täglichen Glaubenskampf der Jünger.209 Als „Wir-Bitte“ (rette uns) erinnert sie uns daran, dass gleichzeitig die ganze Kirche diesen Glaubenskampf zu bestehen hat und sie ebenso gefährdet bleibt wie der einzelne Jünger (vgl. Joh 17,15). Abschließend stellen wir fest, dass im Vaterunser die wichtigsten Voraussetzungen des Glaubenslebens zur Sprache kommen. „Nur die zentralen Anliegen sind in das Gebet aufgenommen. Alles Wechselnde, Zufällige, Entbehrliche und Einzelne bleibt weg.“210 Ein Problem besonderer Art ist das Verhältnis von Mt 6,9-13 zum Vaterunser bei Lukas (11,1-4). Wir können es bis heute nur ansatzweise erklären. In ganzen Partien haben wir wörtliche Übereinstimmungen, so bei der ersten, zweiten und sechsten Bitte. An anderen Stellen registrieren wir bei Lukas Kurzformen, so bei der Anrede „Vater!“ (Lk 11,1). Es gibt sodann teilweise Umformulierungen, so bei der vierten und fünften Bitte, wobei umstritten ist, inwieweit etwa die Formulierung „wir vergeben“ in Lk 11,4 (Präsens), vom aramäischen Urtext aus betrachtet, tatsächlich verschieden vom matthäischen „wir haben vergeben“ sein soll.211 Schließlich fehlen bei Lukas die dritte und siebte Bitte des Matthäus. Warum, weiß kein Mensch zu sagen. Wir können nur feststellen, dass das NT für das Vaterunser eine Kurzform (Lk) und eine Langform (Mt) bietet. Unseres Erachtens ist die nächstliegende Erklärung die, dass die Jünger schon während der Wanderschaft mit Jesus beide Formen benützt haben, dass sie dazu die geistliche Freiheit hatten und dass evtl. schon Jesus selbst beide Formen benutzte. Die Abweichungen aber innerhalb des Wortbestandes der beiden Parallelfassungen sind für die Praxis der Christusnachfolge ohne Gewicht. Karl Bornhäuser ging sogar so weit zu sagen, es schrumpfe „die Bedeutung der Verschiedenheiten zwischen Matthäus und Lukas fast zur Belanglosigkeit zusammen“.212 Der Lobpreis „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen“ hat ein merkwürdiges Schicksal gehabt. Er steht in einer großen Gruppe von Handschriften, aber nicht bei denen, die wir normalerweise als Textgrundlage betrachten: nämlich beim Sinaiticus und Vaticanus. Allgemein nimmt man deshalb an, dass diese Doxologie erst später ins Evangelium eingefügt wurde, vielleicht über eine Randglosse.213 Auffallenderweise 209 Richtig Zahn, 286: „allezeit ist die 7. Bitte am Platz“. Nolland, 287, noch schärfer: Keine der Wir-Bitten ist eschatologisch. Anders z.B. Gnilka I, 213. 210 Schlatter Ev, 210. 211 Zur Vorsicht mahnen Beare, 178; Luz I 348. 212 Bornhäuser, 155. 213 Vgl. Schniewind, 89.

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wird aber die Mt-Fassung schon in der sog. Didache (Zwölf-Apostel-Lehre), die aus der Zeit um 100 n.Chr. stammt, zusammen mit dem (etwas kürzeren) Lobpreis überliefert.214 Die historische Gemengelage ist so schwierig zu beurteilen, dass zum Beispiel Adolf Schlatter auf ein abschließendes Urteil verzichtete und sich mit der Aussage begnügte, es sei „nicht sicher, ob er [= der Lobpreis] von Anfang an im Evangelium stand“.215 Leider verzichten manche Bibelübersetzungen216 sogar auf einen Vermerk an der betreffenden Stelle. Mit hinlänglicher Gewissheit lässt sich sagen: 1) Der Lobpreis ist älter als das NT. Denn er geht in seinem Grundbestand auf Davids Dankgebet in 1Chr 29,11-13 zurück. Aus dessen LXX-Text stammen die Worte καὶ ἡ δύναμις καὶ ἡ δόξα [kai hē dynamis kai hē doxa] (und die Kraft und die Herrlichkeit) sowie sachlich auch die Aussage dein ist das Reich. Mit dem Verweis auf die Ewigkeit schloss man zur Zeit Jesu die Lobsprüche im Tempel.217 2) Dass dieser Lobpreis zugleich ganz dem NT entspricht, bezeugen Offb 1,6; 4,9.11; 5,12.13; 7,12; 11,15; 12,10; 19,1. Unser Lobpreis enthält also nichts „Falsches“, sondern Wahres und Echtes. 3) Es ist kaum vorstellbar, dass Jesus oder seine Jüngerschaft das Vaterunser ohne eine Schluss-Doxologie gesprochen haben.218 Darunter kann sehr gut auch unsere Doxologie aus 1Chron 29,1113 gewesen sein. Allerdings müssen wir mit wechselnden Lobsprüchen rechnen. Ein solcher Wechsel der Doxologien könnte sogar der Grund dafür gewesen sein, dass die Urfassung des Matthäus eben keine bestimmte Doxologie aufgenommen hat, sondern dies der Liturgie der Gemeinden überließ. In einer solchen Liturgie hat aber allem Anschein nach seit den ältesten Zeiten unser Denn dein ist das Reich usw. gestanden.219 Inhaltlich besagt dieser Lobpreis, dass das Reich = die Herrschaft, die Kraft und alle himmlisch-göttliche Herrlichkeit nur dem dreieinigen Gott (vgl. Mt 28,19) zukommen. Weil der Vater im Himmel ein solcher Allherrscher und der einzig wahre, lebendige Gott ist, können die Jünger voll Vertrauen zu ihm beten. Eine Wirkungsgeschichte des Vaterunsers zu schreiben, würde mehrere Bände fordern. Unter den zahllosen Beispielen erwähnen wir nur die Anleitung, die Martin Luther 1535 dazu gab. Unter dem Titel „Wie man beten soll,

214 215 216 217 218 219

Vgl. dazu Schniewind a.a.O. Schlatter, 97. Etwa die Benedikt-Bibel; BigS. Strack-Billerbeck I 424 unter Berufung auf Ber IX, 5. Vgl. Schniewind, 89; Schlatter, 97. Vgl. wieder Did 8,2.

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für Meister Peter den Barbier“220 empfiehlt er das tägliche Vaterunser „ganz durch Wort für Wort“,221 so, „wie ich selbst zu beten pflege“.222 Er fügt hinzu: „denn ich sauge noch heutigen Tages an dem Pater noster wie ein Kind, trinke und esse davon wie ein alter Mensch, kann daran nicht satt werden“.223 Mag sein, dass ein Hauptmangel der heutigen Kirche in ihrer „superficiality“ (Oberflächlichkeit) besteht,224 gerade beim Beten des Vaterunsers. Schlimmer noch wäre es, wenn das Vaterunser außer Gebrauch käme. Der Abschnitt über das Gebet schließt mit den Versen 14 und 15: Denn wenn ihr den Menschen ihre Übertretungen vergebt, wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater eure Übertretungen auch nicht vergeben. Ihr Inhalt entspricht der fünften Vaterunser-Bitte und braucht deshalb nur kurz erklärt zu werden. Auffällig ist zunächst der Begriff Übertretungen (παραπτώματα [ paraptōmata]). Das zugrunde liegende Verb παραπίπτειν [ parapiptein] bedeutet ursprünglich „auf die Seite fallen“, in der LXX „sich schuldhaft verfehlen“, „sündigen“ (hebr. ‫[ מעל‬mʿl]).225 Das Substantiv bedeutet deshalb „Fehltritt“, „Sünde“.226 Eine „milde Bezeichnung“ ist παραπτώμα [ paraptōma] gerade nicht.227 Dabei lässt Mt 6,14f keine Unterscheidung von Sünden gegen den Nächsten und Sünden gegen Gott zu.228 Auffälliger noch ist das doppelte ἀφῆτε [aphēte] in V. 14f. ἐὰν ἀφῆτε [ean aphēte] stellt einen Konditionalsatz dar, wobei der Konjunktiv Aorist futurischen Sinn hat.229 Hier steht also nicht mehr die Vergangenheitsform wie in V. 12 (ἀφήκαμεν [aphēkamen])! Offensichtlich will aber die Sequenz V. 14-15 keinen anderen Ablauf einführen, als er in V. 12 zum Ausdruck kam. Das heißt, Mt 6,14f bestätigt den präsentischen Charakter der Vergebungsbitte in Lk 11,4. Diese Beobachtung ist interessant, zeigt sie doch, dass man in V. 12 den chronologischen Ablauf (wir haben vergeben – vergib uns) nicht pressen darf.230 Festgehalten ist in V. 14f dagegen die Reziprozität: Gottes Vergebung geschieht nur dort, wo wir 220 Neu hrsg. von Ulrich Köpf / Peter Zimmerling unter dem Titel „Martin Luther, Wie man beten soll, Für Meister Peter den Barbier“, Göttingen, 2011. Wir zitieren nach dieser Ausgabe. 221 A.a.O., 41. 222 A.a.O., 47. 223 A.a.O. 224 Lloyd-Jones, 9f. 225 W. Michaelis, Art. πίπτω usw., ThWNT, VI, 1959, 170f. 226 Michaelis a.a.O., 171; Nolland, 293 („false step“). 227 Michaelis a.a.O. 228 Michaelis a.a.O., 172. 229 BDR § 363.373. 230 Vgl. France, 137.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

selbst vergeben. Die Tatsache, dass gerade die Vergebungsbitte in der Bergpredigt erneut aufgenommen wird, zeigt, welches Gewicht sie für Jesus und Matthäus hatte.231 Jesus kam auch in Mk 11,25 darauf zurück. Kol 3,13 bezeugt ihr Gewicht für die apostolische Unterweisung. Wir erinnern uns ferner, dass Jesus auf Sir 28,1ff zurückgreifen konnte232 und dass es in der rabbinischen Literatur durchaus Parallelen gibt (z.B. b Schab 151b, b Meg 28a).233 In der frühchristlichen Literatur vgl. man Clem 13,2; Polykarp ad Phil 6,2.234

IV Zusammenfassung 1. Das Vaterunser und auch Jesu Kommentar in Mt 6,14-15 werden weithin als echte Jesusworte anerkannt.235 Es gibt keinen einleuchtenden Grund, sie Jesus abzusprechen. 2. Die Frage, was das Neue daran ist, sollte man mit Vorsicht stellen. Denn wie wir bei der Auslegung gesehen haben, wollte Jesus seine Jünger in die lebendige Gebetstradition des AT und des alttestamentlichen Judentums hineinstellen. Neu ist jedoch, dass Jesus die messianische Zeit und die Zeit des Neuen Bundes angebrochen sieht. Von daher erfolgt eine Konzentration auf Gott als den Vater, die Jüngerschaft als seine Kinder und eine starke eschatologische Orientierung. Gleichzeitig lassen sich viele Parallelen zu den Rabbinen, zu Qumran und zu den Weisheitsschriften wie Sirach aufweisen. 3. Das Vaterunser hat einen Doppelcharakter: Es ist sowohl ein Gemeinschaftsgebet der Jüngerschaft und der Kirche als auch ein Gebet für jeden einzelnen Gläubigen. Dadurch, dass es in den ersten drei Bitten, den Du-Bitten, die Ziele Gottes in den Mittelpunkt stellt, befreit es von der Gefühlsgefangenschaft und von der Ichsucht, die uns christliche Gläubige als ständige Laster begleiten. 4. Jede der beiden Fassungen, die in Mt 6,9-13 und die in Lk 11,2-4, hat ihre geschichtliche Berechtigung. Offenbar sind sie in verschiedenen Situationen entstanden, was ihre inhaltliche Übereinstimmung nur umso wertvoller macht. Eine Erklärung wie die von Robert Gundry, dass das matthäische Vaterunser durch die Bitte von Lk 11,1f veranlasst worden sei,236 schießt über das Ziel hinaus. Denn woher will er das wissen? Mt 6,9-13 könnte man sich

231 232 233 234 235 236

Nolland, 293. Strack-Billerbeck I 424. Strack-Billerbeck a.a.O. Einige Texte aus den Kirchenvätern zu Mt 6,14f in Texte KV II, 322.378; II, 457. Luz I 336.350.353. Gundry, 104.

6. Wahre Frömmigkeit, 6,1-18

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zwar so entstanden denken, aber eben rein abstrakt, und etwas Positives wissen wir nicht. 5. Unstrittig bleibt dagegen die zentrale Bedeutung der Vergebung. Es ist eine ernste Frage an die Christen, weshalb sie sich so viel mit der Endzeit, mit der Rolle Israels oder mit dem Los der ungläubig Verstorbenen beschäftigen, wenn sie so viel untereinander streiten und es sogar Mann und Frau schwerfällt, einander zu vergeben.

4. Fasten, 6,16-18 Vers 16 ist ganz ähnlich aufgebaut wie V. 2 und 5: Ὅταν δὲ νηστεύητε, μὴ γίνεσθε ὡς οἱ ὑποκριταὶ σκυθρωποί [Hotan de nēsteuēte, mē ginesthe hōs hoi hypokritai skythrōpoi]. Wieder setzt Jesus voraus, dass seine Jünger fasten (Wenn ihr fastet). Zwar unterbleibt ihr Fasten in der Zeit seines irdischen Wirkens („solange der Bräutigam bei ihnen ist“, Mt 9,14ff ), danach aber wird es wieder aufgenommen (Apg 13,2f; 14,23). Von allen drei Äußerungen der Frömmigkeit, die Jesus in Mt 6,1-18 anspricht, ist uns Heutigen das Fasten die fremdeste. Vielleicht kann man das Fasten am ehesten beschreiben als eine konzentrierte Zuwendung zu Gott. Im AT begegnet es uns vor allem in zwei Bereichen: bei der Vorbereitung auf den Offenbarungsempfang und bei der Buße bzw. besonderen Gebetsanliegen (vgl. Ex 34,28; Dtn 9,9; Dan 9,3; 10,3; Jona 3,7ff ). Es ist eng mit dem Gebet verbunden. Fasten besteht in der Enthaltung von Speisen und manchmal auch von Getränken (Dtn 9,9). Es dauerte in der Regel einen Tag, vom Morgen bis zum Abend. Ein dreitägiges Fasten wie Est 4,16 bildete die Ausnahme.237 Dabei machte schon den Propheten ein oberflächliches oder rein äußerliches Fasten zu schaffen (Jes 58,1ff; Jer 14,12; Sach 7,5ff ). Nun hat aber im Judentum seit dem Abschluss des AT das Fasten an Häufigkeit und Bedeutung zugenommen.238 Wie ernst es die Pharisäer schon in frühen Zeiten damit nahmen, geht aus Ps Sal 3,8; Lk 18,12; Did 8,1 hervor. Private Fasttage bei den Pharisäern waren Montag und Donnerstag. Aber auch die Jünger des Johannes fasteten (Mt 9,14). Auf diesem Hintergrund wird es verständlich, dass Jesus in der Bergpredigt auch das Thema Fasten aufgreift. Seine erste Äußerung ist erstaunlicherweise eine Warnung: Wenn ihr fastet, dann macht kein wehleidiges Gesicht wie die Heuchler (μὴ γίνεσθε ὡς οἱ ὑποκριταὶ σκυθρωποί [mē ginesthe hōs hoi hypokritai skythrōpoi]). Das

237 Behm a.a.O., 929. 238 Vgl. Behm a.a.O., 929ff.

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griech. Wort σκυθρωπός [skythrōpos]239 gibt ein relativ breites Spektrum hebräischer Begriffe und Bedeutungen wieder: „schlecht aussehend“, „verdrießlich“, „finster“, „traurig“, „niedergeschlagen“. Für Mt 6,16 empfahl Werner Bieder die Übersetzung „traurig“.240 Wir ziehen die Übersetzung „ein wehleidiges Gesicht machen“ vor, weil es sich um ein geschauspielertes Auftreten handelt. Jesu Warnung ist umso erstaunlicher, als im AT das Fasten öfter mit echter Trauer einhergeht (1Kön 21,27; Neh 9,1; Est 4,3; Dan 9,3; Jona 3,5ff ).241 Jesus aber verwirft die traurige Gebärde als solche und fragt nicht danach, ob sie echt oder unecht ist. Allerdings lehnt er sich dabei eng an Jes 58,5 an. Den Grund des Anstoßes benennt er mit den Worten: Denn sie entstellen ihre Gesichter, damit sie als Fastende vor den Leuten glänzend herauskommen (φανῶσιν [ phanōsin]). ἀφανίζουσιν [aphanizousin] muss hier so viel bedeuten wie „entstellen“, „ihr normales Aussehen verändern“, wohl kaum „ihre Gesichter verhüllen“242 oder „sich durch Unterlassen der Säuberung unkenntlich machen“.243 Damit sie glänzend herauskommen oder „damit sie sich darstellen“244 setzt wieder das hohe Ansehen voraus, das die Praxis des Fastens im damaligen Judentum genoss. Bei den Menschen, die sie auf diese Weise beeindrucken, ernten sie also einen hohen Lohn. Aber für das Himmelreich gilt: Sie haben ihren Lohn schon weg, also im Reich Gottes nichts mehr zu erwarten. Der letzte Satz von V. 16 ist uns schon in V. 2 und 5 begegnet. Siehe die Erklärung dort. Vers 17 überrascht uns erneut. Jesus setzt scheinbar ganz äußerlich an: Du aber [= im Gegensatz zu den Heuchlern], wenn du fastest, dann salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht. In Israel salbt man sein Haupt, wenn die Zeit der Trauer vorbei ist und es Grund zu Fest und Freude gibt (2Sam 12,20; 14,2; Prov 9,8). Damit ordnet Jesus an, dass das Fasten in seiner Gemeinde „als eine freudige und festliche Angelegenheit vor den anderen und vor dem Fastenden selbst „geschieht“.245 Ja, es kann damit vor den Menschen, auf die es hier nicht ankommt, völlig verborgen bleiben. Ähnliches gilt für Jesu Anweisung wasche dein Gesicht. Möglich, dass die Heuchler von damals „durch Nichtwaschen ihre Frömmigkeit zur Schau stellen“ wollten.246 Jeden239 240 241 242 243 244 245 246

Vgl. dazu W. Bieder, Art. σκυθρωπός, ThWNT, VII, 1964, 451f. Bieder a.a.O., 452. Vgl. Behm a.a.O., 929. Jedoch Schlatter, 98: „verhüllen ihre Gesichter“. Gegen Bauer-Aland, 249; Bornhäuser, 167. Vgl. R. Bultmann / D. Lührmann, Art. φαίνω usw., ThWNT, IX, 1973,2. H. Schlier, Art. ἀλείφω, ThWNT, I, 1933, 230. F. Hauck, Art. νίπτω usw., ThWNT, IV, 1942, 946.

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falls zeigte man auch durch Waschen an, dass die Zeit der Trauer vorbei war (2Sam 12,20). Worauf Jesus also beim Fasten Wert legt, ist die „Freude am Herrn“ (Neh 8,10), wodurch es den Menschen nicht mehr als trauriger Verzicht und als Opfer erscheint. Die frühe Kirche hat an dieser Linie festgehalten, wie die Fastenpredigt von Basilius dem Großen zeigt.247 Jetzt nennt uns Mt 6,18 die entscheidende geistliche Grundorientierung: damit du als Fastender nicht vor den Leuten in Erscheinung trittst (μὴ φανῇς [mē phanēs]), sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist. Beachten wir zunächst, dass die dreimalige Benutzung des Wortstammes φαίνω [ phainō] in diesen kurzen Zeilen die Aussagen Jesu leichter memorierbar macht. Halten wir sodann fest, dass für die Gemeinde des Messias die geistliche Grundorientierung am Verhältnis zum Vater erfolgt. Es ist entscheidend, wie wir als Fastende vor unseren Vater treten. Fehlt die Gotteskindschaft, dann fehlt den Sätzen Jesu die Grundlage. Insofern stimmt Luthers Bemerkung: „Willst du recht fasten, so bedenke, daß du zuvor ein frommer Mann seiest.“248 Mit Mt 6,18 schließt der kurze Abschnitt der Bergpredigt über das Fasten. Es scheint, dass Jesus keine exemplarischen Fälle genannt hat, in denen ein Fasten infrage kommt, und auch sonst keine Einzelheiten erwähnte. Auch die Seitenreferenten (Mk, Lk) geben solche Informationen nicht her. Dadurch entsteht für die Gemeinde Jesu eine große geistliche Freiheit in der Fastenpraxis. Zum letzten Satz von V. 18 vgl. V. 4 und 6 und die Erklärung dort.

7. Reichtum und Sorgen, 6,19-34 I Übersetzung 19 Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, wo Motte und Rost sie verzehren und wo Diebe nachgraben und stehlen. 20 Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Rost sie verzehren, und wo Diebe nicht nachgraben und stehlen. 21 Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. 22 Die Leuchte des Leibes ist das Auge. Wenn nun dein Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib erleuchtet sein. 23 Wenn aber dein Auge böse ist, wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß ist dann die Finsternis! 24 Niemand kann 247 Texte KV III, 285f. 248 Zitiert nach Lutherlexikon, 98 (WA 32,432,33f ).

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

zwei Herren dienen. Denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben oder dem einen anhangen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. 25 Darum sage ich euch: Sorgt nicht für euer Leben, was ihr essen oder was ihr trinken sollt,1 und auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen sollt. Ist das Leben nicht mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Schaut euch die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen. Und euer himmlischer Vater ernährt sie doch!2 Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? 27 Wer von euch kann durch Sorgen seiner Lebensdauer auch nur eine einzige Zeitspanne hinzufügen?3 28 Und was sorgt ihr euch um Kleidung? Betrachtet die Lilien auf dem Feld, wie sie wachsen: Sie plagen sich nicht und spinnen auch nicht. 29 Ich sage euch aber: Nicht einmal Salomo in all seiner Pracht kleidete sich wie eine von diesen. 30 Wenn aber Gott das Gras auf dem Feld, das heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet – sollte er dann nicht viel mehr euch kleiden, ihr Kleingläubigen? 31 Ihr sollt also nicht sorgen und sagen: Was sollen wir essen? Oder: Was sollen wir trinken? Oder: Womit sollen wir uns kleiden? 32 Denn auf all das sind die Heiden aus. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. 33 Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles zusätzlich gegeben. 34 So sorgt nun nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

II Struktur Jesus verlässt das Gebiet der Tora (5,21-48) und der Säulen der jüdischen Frömmigkeit (6,1-18). Er kommt zu einer umfassenden Lebensethik, die er unter zwei Bedrohungen sieht: Reichtum und Sorge. Es geht um die den Menschen zutiefst bewegende Daseinsvorsorge, und wir sind erstaunt, davon manches in der späteren Philosophie, zum Beispiel Martin Heidegger, wieder anzutreffen. Die Friedensbewegung, etwa bei Franz Alt, konnte das nie richtig in den Blick bekommen. Jesus bejaht die Daseinsvorsorge. Aber sie muss in einer Gemeinschaft und in der richtigen Richtung stattfinden: in der Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater und nach oben ausgerichtet.

1 ἢ τί πίητε [ē ti piēte] ist besser bezeugt, auch wenn es im Sinaiticus fehlt. 2 Vgl. BDR § 442,1. 3 Zur Übersetzung vgl. Jeremias Gleichnisse, 198.

7. Reichtum und Sorgen, 6,19-34

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Es bleibt bewegend, wie Jesus immer an den beiden Polen ansetzt: bei den Reichen (hier mit dem Mammon) und bei den Armen mit ihren Sorgen.4 Das kommt auch in Mt 13,7.22 zum Ausdruck. Hierin dokumentiert sich, dass Jesu Gemeinde von Anfang an Reiche und Arme umfasste (vgl. Jak 1,9ff; 2,1ff; 5,1ff ). Dieser Sachverhalt hat die Kirche in allen Zeiten geprägt. Die Parole: „Kirche für die Armen“ / „Option für die Armen“ stammt aus der Ideologie, nicht aus der Bibel.5 Betrachtet man Mt 6,19-34 im Einzelnen, dann zeichnen sich vier Aussagegruppen ab: 1) Worte über den Schatz (V. 19-21), 2) Worte vom Licht des Leibes (V. 22-23), 3) Worte über die Herren (V. 24) und 4) Worte über das Sorgen (V. 25-34). Der ἐάν-Stil [ean] der Verse 1-18 ist vorüber. In V. 19-34 herrscht der Stil der prophetischen Analyse und Aufforderung, stark verbunden mit weisheitlichen Gedanken. Die Sprache Jesu ist umwerfend direkt und durch viele Wiederholungen geprägt.

III Einzelexegese Wie in 5,17 eröffnet ein μή [mē] mit Imperativ die folgenden Sätze. Es ist der Ton prophetischer Warnung. Sammelt euch nicht Schätze auf Erden (V. 19): Das ergibt nur Sinn für die Reichen. Denn die Beifügung auf Erden zeigt, dass es sich um irdische Güter handelt und nicht um geistliche. Mit der Warnung vor einer solchen Schatz-Ansammlung (hebr. ‫[ אוָֹצר‬ʾōzār]) auf Erden steht Jesus in einer Reihe mit jüdischen Rabbinen,6 aber auch mit der biblischen Weisheit (Prov 23,4f; 30,8f; Sir 29,14ff ). Lk 12,33f und Jak 5,2f zeigen, dass dieses Thema auch später aktuell blieb. Bemerkenswert ist, dass die Bergpredigt an keiner Stelle die reichen Gemeindeglieder verpflichtet, ihren Reichtum wegzugeben.7 Sie gibt ihnen nur die Richtung vor, in der sie ihre Schätze anlegen sollen. Die Begründung in V. 19 ist durchaus rational: Die Schätze auf Erden fallen Motte und Rost anheim und auch den Dieben. Was die Motte (σής [sēs]) bzw. deren Raupe verzehrt oder vernichtet, sind Textilien. Was der Rost frisst, sind Metalle. Demnach legte man seine Schätze in Textilien (Luxusgewändern, Feierkleidern) oder Metallen (Münzen, Barren, Gefäßen usw.) an. Vergleiche Jak 4 Vgl. Zahn, 288; Schniewind, 91. 5 Bornhäuser, 168f, verengt die Geltung von Mt 6,19ff auf den Kreis der Apostel. 6 Vgl. Strack-Billerbeck I 430f, vor allem T Pea 4,18; F. Hauck, Art. θησαυρός usw., ThWNT, IV, 1942, 137. 7 Ganz anders Luz I 357: Mt 6,19-34 erhebt Mt die „Forderung nach Besitzverzicht“. Wie wir Carson, 177; Schniewind, 91.

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5,2f. Das griech. Wort βρῶσις [brōsis] bezeichnet aber möglicherweise auch den Wurm oder ein Insekt (vgl. Jes 51,8).8 Wenn Jak 5,2f eine treffende Interpretation von Mt 6,19 darstellt, muss man allerdings bei der Übersetzung Rost bleiben. Dass Diebe in allen Kulturen die Schätze bedrohen, ist klar. Jesus erwähnt speziell das διορύσσειν [dioryssein], wörtlich „durchgraben“, freier übersetzt „einbrechen“,9 weil sich damals die Diebe gelegentlich durch die aus Lehm errichteten Hausmauern hindurchgruben (vgl. Ez 12,5; Hiob 24,16). Im parallelen Satzbau schließt sich V. 20 an: Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Rost sie verzehren, und wo Diebe nicht nachgraben und stehlen. Noch im Griechischen ist Jesu Sprache eindrucksvoll. Sie ist sowohl schön als auch zweckmäßig, das heißt leicht memorierbar. Kommentatoren sprechen von „memorable aphorism“ und bestätigen ihr einen „poetical character“.10 Inhaltlich sticht zuerst hervor, dass Jesus geradezu dazu auffordert, Schätze zu sammeln. Schlatter hat das prägnant zum Ausdruck gebracht: „Gewiß sollen wir Schätze sammeln, weder müßig sein noch umsonst arbeiten ohne bleibenden Gewinn, der uns in der Zukunft zugute kommt.“11 Das Entscheidende ist, wo wir die Schätze sammeln (fünfmal erscheint in V. 19-21 das ὅπου [hopou], wo). Jesus will, dass wir sie im Himmel (ἐν οὐρανῷ [en ouranō]) sammeln, also bei Gott. Die Kommentare sprechen gelegentlich von einer „Kapitalanlage im Himmel“,12 die glaubende Gemeinde von einer „Himmelsbank“. Jesu Ausdrucksweise macht solche Veranschaulichungen möglich. Es geht aber, wie Zahn es zutreffend beschrieben hat, um „ein Gott wohlgefälliges Verhalten, welches bei Gott im Himmel unvergessen bleibt“.13 Paulinisch gesprochen: Es geht um das „Lob“ (ἔπαινος [epainos]), das uns der Herr im Endgericht zukommen lässt, weil wir ihn und seinen Willen gesucht haben (1Kor 4,5). Steht es aber so, dann sind die Schätze in V. 20 geistlicher Art. Dann wird man mit Fiedler14 auch die Schätze in V. 19 im Blick auf immaterielle Güter offenhalten müssen. Sie dürfen also nicht nur materiell verstanden werden, sondern schließen Ruhm und Ehre, Berufserfolg und den Genuss von Kunst und Kultur, das Erleben von Macht und Selbstverwirklichung und anderes mit ein. Steht es so, dann greift die 8 Bauer-Aland, 295f. Luz I 355 übersetzt βρῶσις [brōsis] wörtlich: „Fraß“. Ebenso France, 138; Zahn, 290; Schniewind, 91; Schlatter, 99. Wie wir Tasker, 78; Fiedler, 177; Carson, 176f. 9 Vgl. Bauer-Aland, 400. 10 Carson, 176. 11 Schlatter a.a.O. 12 Zahn, 290; Schniewind, 91. 13 Zahn a.a.O. 14 Fiedler, 177.

7. Reichtum und Sorgen, 6,19-34

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These von Ulrich Luz, in 6,19-34 formuliere „Matthäus … seine Kritik am Besitz“,15 viel zu kurz. In Wirklichkeit geht es Jesus in diesen Versen um die Kritik an der Gottesferne und um die Einladung zum Gottesreich. Wie gut Jesus dabei an die Weisheit und die frühen jüdischen Lehrer anschließen konnte, zeigen Stellen wie Tob 4,9ff; Sir 29,10ff; Ps Sal 9,5; 4Esr 7,77. Wie stark seine Lehre die Apostel prägte, zeigen zum Beispiel Kol 3,1f; 1Tim 6,19; Jak 2,18; 5,2f. Die Worte über den Schatz schließen mit einer kurzen Sequenz: Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz (V. 21). Sie überrascht. Denn liegt nach dem Vorausgehenden nicht die Formulierung „wo dein Herz ist, da ist auch dein Schatz“ näher? Bestimmt sich die Entscheidung, wo wir unsere Schätze sammeln, nicht nach der Richtung unseres Herzens? Zweifellos. Doch gerade dann gibt der Zielpunkt unseres Schätzesammelns Auskunft über unser Herz. Und offenbar will Jesus unser Herz gerade so offenbar machen, dass er uns Klarheit gewinnen lässt über den Ort, an dem wir unsere Schätze sammeln. Obwohl Jesus sich immer wieder auf das Herz als das innerste Entscheidungsorgan des Menschen konzentrierte (vgl. Mt 5,8.28; 6,21; 15,18f ), blieb ihm jeder verweichlichte Herzenskult fremd. Gegenüber einer zum Radikalismus neigenden Exegese mussten besonnene Ausleger immer wieder darauf hinweisen, dass in Mt 6,19-21 nicht der Reichtum an sich verurteilt wird. So sagt R.V.G. Tasker mit Recht, die Jünger sollten es zu ihrem Ziel machen, ihren materiellen Reichtum weise und großzügig einzusetzen („they should make it their aim to use their material wealth wisely and generously“),16 und R.T. France bemerkt: „It is not so much the disciple’s wealth that Jesus is concerned with as his loyalty.“17 Solange wir als Gemeinde Jesu auf Erden leben, sind wir auch auf reiche Gemeindeglieder angewiesen (Lk 8,3; 10,38; Joh 19,38ff; Apg 4,34ff; 5,4; 16,14ff; 1Tim 6,17ff; Jak 1,10; 4,13ff ). Die Verse 22 und 23 enthalten Worte vom Licht des Leibes, nämlich vom Auge. Manches davon scheint uns schwer verständlich.18 Ungewöhnlicherweise beginnt Jesus mit einer Definition: Die Leuchte des Leibes ist das Auge (V. 22). Leuchte, λύχνος [lychnos], ist die täglich im Gebrauch befindliche Lampe, normalerweise also die Öllampe.19 Das Auge macht unsere Um15 16 17 18

Luz I 357. Tasker, 95. France, 138. Vgl. Schniewind, 91; Carson, 177. Vgl. Luz I 360: Die Verse Mt 6,22f „sind schwierig“; France, 138: ein „enigmatic saying“; Tasker, 75: „difficult saying“. 19 W. Michaelis, Art. λύχνος usw., ThWNT, IV, 1942, 325f.

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gebung hell und wahrnehmbar. Insofern ist das Bild Jesu rasch verständlich. Die „Lampe“ des Auges erleuchtet uns aber nicht nur nach innen, sondern sie scheint auch nach außen, sodass Menschen von ihrer Helligkeit oder ihrer Düsterheit angerührt werden. Strahlende, fröhliche, gütige Augen sind eine Wohltat. Von dieser Beobachtung ausgehend sind die jüdischen Redewendungen vom guten, fröhlichen, gütigen oder einfältigen Auge einerseits (vgl. Prov 22,9; Sir 35,10ff; Eph 1,18) und vom bösen Auge andererseits (vgl. Ps 18,28; Prov 6,17; 21,4; Jes 2,11; Mt 20,15) zustande gekommen. Man vgl. auch Ps 32,8: „Ich will dich mit meinen Augen leiten“, und Ps 145,15: „Aller Augen warten auf dich.“ Dabei ist selbstverständlich vorausgesetzt, dass das Auge kein Entscheidungsorgan ist, sondern Helligkeit und Finsternis dieser „Lampe“ vom Herzen gesteuert werden (Prov 6,17f; 21,4). Wenn nun dein Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib erleuchtet sein (V. 22): Es bleibt möglich, mit Karl Bornhäuser und anderen das einfältige Auge (ὁ ὀφθαλμὸς ἁπλοῦς [ho ophthalmos haplous]) auf das gütige Geben zu beziehen.20 Dafür sprechen vor allem zwei Gründe: 1) Die Verbindung von ἁπλοῦς/ἁπλότης [haplous/haplotēs] mit dem gütigen, opferbereiten Geben auch an anderen Stellen (Röm 12,8; 2Kor 8,2; 9,11.13; Jak 1,5)21, 2) die Verbindung mit dem Thema Schätze/Reichtum. Bornhäuser möchte deshalb in Mt 6,22 ἁπλοῦς [haplous] (hebr. ‫ ֹתּב‬, ‫ ָתּם‬, ‫שׁר‬ ָ ָ ‫י‬, ‫יֹ ֶשׁר‬, ‫[ ֵכּן‬tob, tām, jāschār, joschär, ken])22 mit „gut“ übersetzen.23 Als Sinn ergibt sich für ihn: „geht mit strahlendem Auge, d.h. – als fröhliche Geber aus einem Herzen voll Güte heraus“.24 Es irritiert allerdings, dass das Stichwort geben/mitteilen im ganzen Abschnitt Mt 6,22-34 nicht auftaucht. Auch die Parallele Lk 11,34-36 enthält es nicht. Bauernfeind wählt deshalb einen andern Zugang. Er meint, in Mt 6,22 sei nur von leiblichen Zuständen die Rede, und übersetzt ἁπλοῦς [haplous] mit „gesund“.25 Es geht dann also darum, dass unser Auge gesund wird, damit es das Licht = Jesus und sein Evangelium wahrnehmen kann.26 Joachim Jeremias deutet das Bildwort vom Auge in ähnlicher Weise.27 Er übersetzt: „Ist dein Auge heil, so ist dein ganzer Körper hell, ist dein Auge krank, so ist dein ganzer Körper finster.“28 Nach diesem Verständnis bedeutet Mt 6,22f „eine 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Bornhäuser, 171f. Vgl. O. Bauernfeind, Art. ἁπλοῦς usw., ThWNT, I, 1933, 385f. Bauernfeind a.a.O., 385. Bornhäuser, 172. Ebenso Carson, 177. A.a.O. Bauernfeind a.a.O. Ebenso France, 138f; Tasker, 75f; Zahn, 291; Tholuck, 459f. Ebenso Michaelis a.a.O., 328. Jeremias Gleichnisse, 162f. A.a.O., 163.

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Warnung … vor innerer Blindheit“,29 ebenso wie Lk 11,34ff. Ein Vorteil dieser Deutung liegt darin, dass sie sowohl auf die Matthäus-Stelle wie auf die Lukas-Stelle angewandt werden kann. Problematisch wird dann jedoch der Zusammenhang mit anderen Aussagen in Mt 6,19-34 und nicht zuletzt der Wechsel im Duktus: Mt 6,19-34 hat ansonsten eine ermutigende, tröstende und korrigierende Ausrichtung, während Mt 6,22f in der Deutung von Jeremias eine äußerste Schärfe gewinnt: „Ihr seid verstockt!“30 Eingedenk dessen, dass wir nicht wissen, ob Lk 11,34-36 und Mt 6,22f wirklich bei derselben Gelegenheit gesprochen wurden und die Adressaten bei Matthäus und Lukas doch verschieden sind, sollten wir uns auf das Verständnis des Bildwortes bei Matthäus konzentrieren. Angesichts der umfassenden Aussagen des ganzen Abschnitts empfiehlt sich in Mt 6,22 eine Spezialisierung auf „die verschiedene Weise, dem Bedürftigen zu geben“ nicht.31 Viel näher liegt eine Interpretation in Anknüpfung an Sir 35,10, wo wir aufgefordert werden: „Mit rechtschaffenem Auge ehre den Herrn!“32 So wie unser Schätzesammeln bei Gott erfolgen soll (V. 19-21), so soll unser Auge einfältig, ganz und gar auf Gott ausgerichtet sein, um sein Licht für unsere ganze Person zu empfangen: dann wird dein ganzer Leib erleuchtet sein. Nahe an dieser Aussage stehen übrigens johanneische Stellen (Joh 11,10; 12,35). Ist aber das Gegenteil der Fall, nämlich dein Auge böse (ὁ ὀφθαλμός σου πονηρός [ho ophthalmos sou ponēros]), dann dringt kein göttliches Licht mehr in uns ein. Dann wird dein ganzer Leib finster sein (V. 23). Hier schließen wir uns also an die Deutung von Bauernfeind und Michaelis an. Zum bösen Auge vgl. Mt 5,29; 18,9; 20,15; Mk 7,22; 2Petr 2,14; 1Joh 2,16. Ähnlich wie in V. 21 schließt Jesus die Worte vom Licht mit einer zugespitzten Sequenz: Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß ist dann die Finsternis? Die Begrifflichkeit wechselt von der Lampe (λύχνος [lychnos]) zum Licht (φῶς [ phōs]) – ein Hinweis darauf, dass wir mit der obigen Deutung richtig lagen. Nicht ganz eindeutig ist die Wendung ἐν σοί [en soi]. Heißt es „an dir“? Dann wäre das Auge als Lichtquelle gemeint. Oder heißt es „in dir“? Dann wäre das innere Licht gemeint, also der Zustand, den das Auge im Menschen hervorbringt. Lk 11,34ff spricht für Letzteres. Ein böses Auge jedenfalls kann im Menschen nur Finsternis erzeugen, also Abwendung von Gott. Die Bestimmung des Auges ist es aber, im Menschen Licht zu erzeugen, ins Geistliche übertragen: Liebe zu Gott und Verbindung 29 30 31 32

A.a.O. Jeremias Gleichnisse, 163. Gegen Bornhäuser, 171; Gundry, 113. Übersetzung nach Georg Sauer, Jesus Sirach, JSRZ, III, 5, 1981, 590.

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mit ihm. Zweifellos geht Jesus in Mt 6,23 vom Leiblichen (Lampe) zum Geistlichen (inneres Licht) über.33 Wir brauchen das gute, das einfältige Auge, um Licht zu sein (Mt 5,14) und im Licht zu wandeln (Joh 12,36; Eph 5,8). Besitzen wir es nicht, wird aus der Lichtvermittlung eine Finsternisvermittlung: wie groß ist dann die Finsternis! Diese Worte sind eine Einladung und kein drohender Gerichtsruf: „Ihr seid verstockt!“34 Es folgen die Worte über die Herren (V. 24): Niemand kann zwei Herren dienen. Denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben oder dem einen anhangen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Da Jesus am Ende vom Mammon spricht, beziehen die Ausleger den Vers sofort auf Gott und das Geld. Es könnte jedoch auch eine geplante Überraschung vorliegen, wenn Jesus am Anfang formuliert: Niemand kann zwei Herren dienen (δυσὶ κυρίοις δουλεύειν [dysi kyriois douleuein]). Ist das nicht im politischen Bereich eine Aussage der Zeloten? Doch Jesus befindet sich seit V. 19 beim Thema „Reichtum“ und so ist kein Zweifel, dass seine Worte dem irdischen Besitz und nicht dem Kaiser in Rom gelten. Ökonomisch betrachtet stimmt die Aussage Niemand kann zwei Herren dienen zunächst nicht. Denn sowohl in der jüdischen als auch in der römischantiken Welt kam es öfter vor, dass ein Sklave oder eine Sklavin zwei Herren hatte, zum Beispiel zwei Geschäftsteilhaber oder zwei Brüder.35 Apg 16,16 ist ein solches Beispiel. Es konnte sogar vorkommen, dass ein Sklave von einem der beiden freigelassen wurde, vom andern aber nicht. In einem solchen Falle war er zur Hälfte ein Freier und zur Hälfte ein Sklave.36 Was ein Sklave in solchen Fällen aber nicht kann, ist, wie August Tholuck mit Recht schrieb, zwei „Willensrichtungen“ uneingeschränkt nebeneinander aufrechtzuerhalten37, nämlich beide Herren gleich zu lieben und ihnen gleich loyal zu dienen. Dabei sollte man δουλεύειν [douleuein] nicht auf die Ergebenheit eines Sklaven verengen.38 Hinter δουλεύειν [douleuein] steckt vielmehr das hebr. Wortfeld ‫[ ָעַבד‬ʿābad], ‫[ ֶעֶבד‬ʿäbäd], was durchaus eine Ehrenstellung bezeichnen kann. So wird das δουλεύειν [douleuein] gerade Gott gegenüber anwendbar. 33 So auch H. Conzelmann, Art. φῶς usw., ThWNT, IX, 1973, 335; Zahn, 291; Carson, 178; Tholuck, 458. 34 Gegen Jeremias Gleichnisse, 163. Wie wir France, 138. 35 Strack-Billerbeck I 433; Gundry, 114; K.H. Rengstorf, Art. δοῦλος usw., ThWNT, II, 273; Jeremias Gleichnisse, 164,7. 36 Strack-Billerbeck a.a.O.; Rengstorf a.a.O. 37 Vgl. Tholuck, 463. 38 So die Gefahr bei Gundry a.a.O. Vgl. aber Luz I 361.

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Jesus erklärt sich sofort deutlicher: Denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben oder dem einen anhangen und den anderen verachten. Die erste Alternative ist stärker auf die Praxis des Handelns bezogen. Gemäß semitischem Sprachgebrauch bestimmt sich dabei lieben (ἀγαπᾶν [agapan]) und hassen (μισεῖν [misein]) nicht von der reinen Emotionalität her, sondern drückt ein praktisches „bevorzugen“ und „benachteiligen“ aus (vgl. Gen 29,30.33; Dtn 21,15-17).39 Die zweite Alternative hingegen – anhangen40 oder verachten – ist mehr auf die innere Haltung bezogen. Es ist nicht zu übersehen, dass Jesus hier auch die galiläische Lebenserfahrung zum Ausdruck bringt.41 Wie in V. 19ff und V. 22f schließt Jesus mit einer kurzen Sentenz: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Sofort ist klar, dass Jesus jedes Nebeneinander von zwei Orientierungen oder Willensrichtungen ausschalten will.42 Denn der Wille, zu Geld und Vermögen zu kommen, „wird … praktisch zur Versklavung unter dasselbe“.43 Gottes Kraft oder Mammons Sklave, lautet die unausweichliche Alternative, deren Wucht Jesus im eigenen Leben erfahren hat (vgl. Mt 19,16ff ). Jakobus hat vermutlich in Jak 4,4 die genialste Auslegung von Mt 6,24 gegeben: „Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein.“ Jesu Stellungnahme ist hier unerbittlich, gerade weil er keine Kasuistik entfaltet und auch nicht der Welt enthoben jedes Eigentum verteufelt. Was er will, ist, dass die Jünger dem Glaubensbekenntnis Israels entsprechend mit ganzer Liebe an Gott hängen (Dtn 6,4f; Mt 22,36ff ). Damit ist zugleich gesagt, dass er wie immer seit 5,1ff zu den Jüngern spricht und nicht allgemein zur Menschheit.44 Der Begriff μαμωνᾶς [mamōnas] hat den Auslegern viel Mühe verursacht. Seine Herkunft ist unsicher.45 Am ehesten scheint eine Ableitung vom hebr. ‫[ אמן‬ʾmn] („Hinterlegtes“, „Geld“) infrage zu kommen46 oder auch von einem kanaanäischen Lehnwort mit der Bedeutung „Nahrung“, „Verpflegung“, „Vorrat“.47 Nach einer Notiz Augustins soll man noch zu seiner Zeit im punischen Dialekt von „mammon“ gesprochen haben.48 Jedenfalls handelt es sich um ein 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Strack-Billerbeck I 434; Gundry, 115; Rengstorf a.a.O.; Jeremias Gleichnisse, 201,9. Vgl. BDR § 170,5. Luz I 361. Tholuck, 463ff; F. Hauck, Art. μαμωνᾶς, ThWNT, IV, 1942, 392. Hauck a.a.O. Gegen Tholuck, 458. Hauck a.a.O., 390; Bauer-Aland, 994. Hauck a.a.O. nach G. Dalman; Strack-Billerbeck I 434. So H.P. Rüger in der ZNW 64, 1973, 127-131; ihm folgt Luz I 362,50. Zitiert bei Tholuck, 465. In MPL 34,1290. Vgl. Hauck a.a.O., 390,2.

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semitisches Wort, das im AT noch nicht vorkommt und das allgemein Besitz, Vermögen, Habe und Geld bezeichnet. Anfangs ethisch neutral, wird der Mammon im Judentum bald im negativen Sinn gebraucht.49 In diesem negativen Sinn hat es Jesus aufgegriffen, um vor der inneren Hingabe an den Mammon zu warnen, vgl. seine Redewendung vom „ungerechten Mammon“ in Lk 16,9.11.50 Bisher hat Jesus die Gefahr des Reichtums (vgl. Mt 13,22; 19,23ff ) angesprochen. In V. 25-34 geht er nun auf den Gegenpol ein: die Sorge, die auch gerade bei den Armen zu Hause ist. Dabei darf man nicht den Fehler machen, vorwiegend an soziologische Gruppen – „die Reichen“, „die Armen“ – zu denken. Nein, die Gefahr, den Mammon zu verehren, droht auch den Armen. Und Sorgen bewegen auch die Reichen. Jesus hat also überall in 6,19-34 den ganzen Menschen im Blick, der als Gotteskind im Vertrauen leben soll. Darum sage ich euch beginnt V. 25. Diese Einleitung schafft nicht nur eine redaktionelle Verklammerung mit dem Vorausgehenden, sondern bedeutet auch eine inhaltliche Weiterführung der Verse 19-24. Jesus sieht also im Mammonsstreben nicht nur den Ausdruck des Willens zur Macht oder Anerkennung, sondern auch die tiefe Sorge des gottfernen Menschen um seine Existenz. Zweitens gilt es mit Luz51 die Ich-Form zu beachten. Das λέγω ὑμῖν [legō hymin] (ich sage euch) ist wie in 5,18ff; 6,2.5.16 der Ausdruck der messianischen Autorität Jesu. Es bestätigt sich erneut, dass „Jesus … als Messias die Zeit einer neuen Thora inauguriert“, wie es August Strobel formuliert.52 Sorgt nicht für53 euer Leben (V. 25) ist die Überschrift und die Grundlinie für das Folgende. Sicher ist ψυχή [ psychē], ‫[ נֶֶפשׁ‬näphäsch], hier Leben und nicht „Seele“.54 Sorgt nicht (μὴ μεριμνᾶτε [mē merimnate]), „macht euch nicht solche Sorgen“,55 greift das allgemeine „menschliche Dasein als ein von der Sorge bewegtes“56 auf. Diese Worte gehen also alle Jünger, ja sogar alle Menschen, an. Dass es berechtigte Sorgen gibt, zeigen neutestamentliche Stellen wie 1Kor 12,25; Phil 2,20 und die alttestamentliche Weisheit (z.B. Sir 18,20; 22,2). Aber berechtigte Sorgen sind es, weil vom Menschen ein planendes, verantwortungsvolles Verhalten verlangt wird. Jak 4,13ff ist dafür ein 49 50 51 52 53 54 55 56

Hauck a.a.O., 393. Vgl. dazu ä Hen 63,10; Sir 5,8. Luz I 367. Strobel, 191. BDR § 176,3; 188,1. E. Schweizer im Art. ψυχή usw., ThWNT, IX, 1973, 635. Bauer-Aland, 1781. So übersetzt BDR § 337,3. R. Bultmann, Art. μεριμνάω usw., ThWNT, IV, 1942, 595.

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gutes Beispiel, vor allem aber Lk 16,1ff, ein Beispiel, das Jesus selbst verwendet hat. Die Sorgen, die er in Mt 6,25ff anspricht, gehören jedoch in eine andere Kategorie.57 Sie betreffen das Urvertrauen des Kindes zu seinem himmlischen Vater. Um es paradox zu formulieren: Nur wer die Sorgen von Mt 6,25ff an Gott abgibt, kann für sich und andere richtig sorgen.58 Dass die Apostel hier Jesus gut verstanden haben, geht aus Phil 4,6 und 1Petr 5,7 hervor.59 Die folgenden Fragen deuten genau in diese Richtung: was ihr essen oder was ihr trinken sollt und … was ihr anziehen sollt. Essen, Trinken, Kleidung sind die täglichen Existenzsorgen und elementare Bedürfnisse des Menschen (vgl. Jes 22,13; 1Kor 15,32; Ps 127,2; 1Tim 6,6f ). Beim anziehen konkretisiert Jesus die Sorge für euer Leben als Sorge für euren Leib. Der Leib ist hier wie in V. 22f die ganze Person, fast so viel wie die Persönlichkeit.60 Eduard Schweizer definiert den Leib von Mt 6,25 als „das eigentliche Ich“.61 So muss die Antwort auf die Fragen: Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?, selbstverständlich lauten: Ja, so ist es. Jesus folgt hier wieder einem rationalen Überzeugungsverfahren, gesättigt mit Lebenserfolg und Common Sense. Es erinnert an die Weisheit, ist aber von einem viel leidenschaftlicheren Werben um die Hörer geprägt, da es in allem immer auch um seine Person geht (ich sage euch). Bei den frühen Kirchenlehrern wurde Mt 6,25 vielfach, aber auch sehr vielfältig interpretiert. Manchmal diente es zur Aufdeckung der Schuld, der selbst die Heiligen verfallen.62 Manchmal diente es auch dem Ruf, die Seele von Irdischem unbefleckt zu halten, und bahnte damit einen Dualismus der Existenzweisen an, so wenn Johannes Damascenus schreibt: „Gott wollte, dass wir so leidenschaftslos seien … außerdem auch sorglos, daß wir nur eine Beschäftigung haben, jene der Engel: unaufhörlich und unablässig den Schöpfer zu preisen … und unsere Sorge auf ihn zu werfen.“63 Um das Sorgen im Sinne von V. 25 zu überwinden, richtet Jesus in V. 26 die Blicke der Jünger auf Gottes Schöpfungswunder: Schaut euch die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in 57 Noch einmal anders Bornhäuser, 174ff: μεριμνᾶν [merimnan] nicht „sich sorgende Gedanken machen“, sondern „sich mühen“, „Arbeit leisten“. Ihm folgt Jeremias Gleichnisse, 212. 58 Das ist auch den Kritikern, die Luz I 366 zitiert, zu antworten. 59 Vgl. Bultmann a.a.O., 595. 60 Bauer-Aland, 1593f. 61 Im Art. σῶμα usw., ThWNT, VII, 1964, 1055. 62 Johannes Cassianus Texte KV I, 571f. 63 Texte KV I, 306.

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die Scheunen. Und euer himmlischer Vater ernährt sie doch! Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? In ἐμβλέψατε [emblepsate] kommen zwei Aspekte zusammen: 1) das zielgerichtete Sehen, 2) das geistige Betrachten und Schauen.64 Beides versucht unsere Übersetzung Schaut euch an aufzunehmen. Statt dem Luther’schen Vögel unter dem Himmel heißt es in stehender Redewendung eigentlich „Vögel des Himmels“ (τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ [ta peteina tou ouranou]), also die Vögel, die im Luftraum fliegen, von Gott nach Gen 1,20ff geschaffen sind und unter seiner Fürsorge leben65 (vgl. Gen 2,19; Hiob 12,7; 38,41; Ps 104,13ff; 147,9; Dan 4,9.18 [LXX 4,12.21]; Mt 6,26; 8,20; Mk 4,32; Lk 8,5; Apg 10,12; 11,6). Jesus muss in seiner wunderschönen galiläischen Heimat66 eine tiefe Liebe zur Schöpfung gefasst haben, die ihn nun erzählen lässt: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in die Scheunen. Sie sind darin das Gegenteil des fleißigen galiläischen Bauern. Und jetzt das Wunder: Und euer himmlischer Vater ernährt sie doch! Es ist ein Gotteswunder, denn nur Gott kann so etwas tun. Es ist eine Wiederaufnahme der Weisheit Israels, die Gott den Vögeln „Futter bereitstellen“ und sogar die Vögel zu Gott rufen lässt (Hiob 12,7; 38,41; Ps 104,13ff; 147,9). Es ist drittens und hauptsächlich ein Ruf an die Jünger, als Gottes Kinder zu leben, zu beten (vgl. V. 11) und ihrem himmlischen Vater zu vertrauen. Mt 6,26 liegt vollkommen auf der Linie von Mt 6,11. Seid ihr (die Jünger) nicht viel mehr wert als sie (die Vögel unter dem Himmel)? Das griechische μᾶλλον διαφέρετε [mallon diapherete] stellt eine Häufung mehrerer Komparative und demnach eine Verstärkung des Komparativs dar.67 Trotz seiner Liebe zu den Geschöpfen erklärt also Jesus eindeutig, dass der Mensch viel mehr wert ist als ein Tier. Das ist keineswegs eine selbstverständliche Erklärung. Bei den Völkern Amerikas verkörpern die Tiere oft Mächte, die dem Menschen überlegen sind. Vielleicht steckt auch im „Jagdzauber“ der Höhlenmalereien des steinzeitlichen Europa eine ähnliche Anschauung. Die Menschen des Orients haben durch die Zusammensetzung ihrer Götzenbilder aus Menschen und Tieren zum Ausdruck gebracht, dass sie beide Götter sein können. Man denke vor allem an die Tiergestalten der ägyptischen Religion. Und auch im modernen nordatlantischen Raum gibt es eine Denkweise, die Menschen und Tiere als Wesen der „Mutter Erde“ gleichrangig behandeln will. Woher also hat Jesus sein viel mehr wert? Es stammt aus dem Schöpfungsbericht der Bibel Gen 1 und 2, auf den Jesus immer wieder zurückgegriffen hat (vgl. Mt 19,3ff ). Nach 64 65 66 67

Bauer-Aland, 513. Vgl. BDR § 202,3. Vgl. H. Traub im Art. οὐρανός, ThWNT, V, 1954, 534. Josephus BJ III, 35ff. BDR § 246,2; 180,4.

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diesem Schöpfungsbericht ist der Mensch Krone und Ziel der Schöpfung, das Ebenbild Gottes, das nur „wenig niedriger gemacht“ ist als Gott selbst (Ps 8,6). So kann die Antwort auf seine Frage nur ein Ja sein. Auf zweierlei ist noch hinzuweisen. Erstens zeigen die biblischen Weisheitsstellen in Hiob 12,7; 38,41; Ps 147,9, an die Jesus anknüpft, dass er die Welt wirklich nicht als eine Trauminsel betrachtet. Denn dort ist vom hungrigen Schreien der Vögel die Rede und ihrem „irrefliegen, weil sie nichts zu essen haben“. In Ps 104,27 und 145,15f lesen wir vom Warten darauf, dass Gott die Speise zur rechten Zeit gibt. Auch Vögel fallen tot zur Erde, weil sie verhungern oder sonst zu Tode kommen (Mt 10,29; Lk 12,6). Ohne Zweifel hat Jesus selbst gehungert (Mt 4,2; Joh 4,6.31). Das ist all den Kultur- und sonstigen Kritikern zu sagen, die Jesus als Sozialromantiker verstehen wollen.68 Es geht ihm, wie schon die Versuchungsgeschichte zeigte (Mt 4,2ff ), um ein auch in Tiefe und Not festzuhaltendes Vertrauen auf Gott und nicht eine garantierte Tagesration an Essen und Trinken. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Jesus relativ oft die Vögel des Himmels als Anschauungsbeispiel wählte (vgl. Mt 6,26; 8,20; 10,29; 13,4.32). Aus solchen Überlieferungen muss auch das Anschauungsmaterial entstanden sein, das im halbhäretischen und häretischen Christentum Arabiens umlief und aus dem Mohammed wahrscheinlich die Geschichte schöpfte, die in der 5. Sure des Koran steht: dass nämlich der junge Jesus einen Vogel aus Ton gebildet habe, der dann ein wirklicher Vogel wurde (5,111). Von solchen Legenden ist der Jesus der Bibel weit entfernt. In Vers 27 setzt sich der lebhafte und doch sehr rationale Lehrstil Jesu fort: Wer von euch69 kann durch Sorgen seiner Lebensdauer auch nur eine einzige Zeitspanne hinzufügen? Wörtlich: „Wer von euch, der sorgt (μεριμνῶν [merimnōn]) …“ Das euch macht darauf aufmerksam, dass wir uns noch immer in einer Rede an die Jünger befinden (seit 5,1ff ).70 Diskutiert werden die beiden Begriffe ἡλικία [hēlikia] und πῆχυς [ pēchys]. Ersteres hat drei Bedeutungen: 1) Lebensalter, 2) Zeitalter, 3) Körpergröße.71 Infrage kommen für Mt 6,27 Nr. 1) und Nr. 3). Da nachher von einem πῆχυς [ pēchys], „Elle“, die Rede ist, würde man zunächst an die Körpergröße denken. Aber der πῆχυς [ pēchys] hat als Längenmaß ca. einen halben Meter (45-52cm).72 Ergibt es 68 Luz I 366 erwähnt in diesem Zusammenhang J. Weiss, H. Montefiore und E. Bloch. 69 Dieses τίς ἐξ ὑμῶν [tis ex hymōn] hat nach Jeremias Gleichnisse, 102, wohl „keine zeitgenössischen Parallelen“ (nach H. Greeven). 70 Anders Jeremias Gleichnisse, 171: „Ursprünglich … zur Öffentlichkeit gesagt.“ 71 Joh. Schneider, Art. ἡλικία, ThWNT, II, 1935, 943. 72 Vgl. heute die Elle als Längenmaß auf dem Brunnen vor der Burg in Wildberg/Württ.

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Sinn, zu sagen: „Ihr könnt eurer Körpergröße nicht einen einzigen halben Meter hinzufügen?“ Deshalb schlägt Johannes Schneider 1935 im ThWNT vor, ἡλικία [hēlikia] in Mt 6,27 und Lk 12,25 als Lebensdauer und πῆχυς [ pēchys] als Zeitspanne aufzufassen.73 So übersetzt man heute gewöhnlicherweise,74 und auch wir folgen diesem Vorschlag.75 Wieder kann die Antwort auf Jesu Frage nur lauten: Keiner.76 Nicht eine einzige Sekunde leben wir länger, als Gott es bestimmt hat (vgl. Ps 36,10; 39,5; 90,3ff; Prov 9,9; Sir 11,14). Alles Sorgen ändert daran bis zum heutigen Tage nichts. Paul Gerhardt hat den Sachverhalt vollkommen treffend erfasst: „Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen, es muss erbeten sein“ (EG 361,2).77 Vers 28 stellt uns vor eine vierte Frage: Und was sorgt ihr euch um Kleidung? Sie aktiviert das in V. 25 Gesagte noch einmal. Erneut fordert Jesus dazu auf, die Schöpfungswunder zu betrachten. Dabei wechselt er von den Tieren zu den Pflanzen, von den Vögeln zu den Blumen: Betrachtet die Lilien auf dem Feld, wie sie wachsen: Sie plagen sich nicht und spinnen auch nicht. καταμανθάνω [katamanthanō], griech. „das Intensivum zu μανθάνω“,78 steht in der LXX grundsätzlich für ‫[ ראה‬rʾh], „sehen“.79 Es bedeutet „genau untersuchen“, „erfassen“, „begreifen“, „beachten“. Dieses betrachten, wie wir übersetzten, enthält also die Elemente der genauen verstandesmäßigen Erfassung genauso wie die Elemente der Klarheit über die Konsequenzen.80 Für die Lilien auf dem Feld81 gilt immer noch der Satz: „eine genaue Bestimmung muss offen bleiben“.82 Michael Zohary schreibt in seinem Abschnitt über Feldblumen, mit den Lilien von Mt 6,28; Lk 12,27 seien einfach „schöne wilde Blumen“ gemeint.83 Bei der „Weißen Lilie“, Lilium candidum, notiert er die häufige Verwendung als Schmuckmotiv in vielen 73 Schon Wettstein, 334: „ἡλικία … tempus vitae“; Jeremias Gleichnisse, 171. 74 Lutherbibel; Einheitsübersetzung; Neue Jerusalemer Bibel; NGÜ; BigS; Fiedler, 180; Carson, 179f; Zahn, 296f; France, 140. Anders z.B. Revidierte Elberfelder Bibel: „Lebenslänge“ und „Elle“; Bauer-Aland, 1322 („Elle“); Luz I 369 (Körpergröße und Elle). Vgl. Strack-Billerbeck I 437; Gaechter, 231; Bornhäuser, 176. 75 Schneider a.a.O., 944. 76 Vgl. Jeremias Gleichnisse, 102.158. 77 Wie Luz I 370 diesen Vers „eine resignierte Stimmung“ atmen lassen kann, ist unverständlich. Besser Fiedler a.a.O. 78 K.H. Rengstorf, Art. μανθάνω usw., ThWNT, IV, 1942, 416. 79 Rengstorf a.a.O. 80 Vgl. Rengstorf a.a.O., 416f. 81 τοῦ ἀγροῦ [tou agrou] ist nach Jeremias Gleichnisse, 81,12 ein typischer Semitismus. 82 Bauer-Aland, 916. 83 Zohary, 169. Ebenso Gaechter, 231: Blumen überhaupt; Fiedler, 180f; France, 141.

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antiken Zivilisationen, jeweils als „Symbol der Schönheit“.84 Auszuscheiden sind seines Erachtens die Meerstrandnarzisse und die Tazette.85 F.N. Hepper erwägt ebenfalls verschiedene Möglichkeiten, wobei er Mt 6,28 mit der Kronenanemone, der Kronenmargarite oder dem weißen Gänseblümchen verbinden könnte.86 Das Jerusalemer Bibellexikon schlägt beispielsweise Anemone, Narzisse, wilde Tulpe und Krokus vor.87 Wir begnügen uns wie Michael Zohary damit, an die „Schönheit Hunderter von Blumen“88 im Frühling des Israellandes zu denken. All diese wunderbaren Geschöpfe in den Tälern und Bergen Israels plagen sich nicht und spinnen auch nicht. Sie wachsen einfach. In Mk 4,28 hat Jesus einen ganz ähnlichen Gedanken geäußert. Vielleicht nimmt er hier mit sich plagen / „sich abmühen“ und spinnen89 Anschauungsbilder aus dem Bereich der Frau, so wie er in V. 26 seine Anschauungsbilder aus dem Bereich des Mannes („säen“, „ernten“, „in Scheunen sammeln“) genommen hatte.90 Jedenfalls steht im Hintergrund wieder die Erfahrungswelt des AT, das den Menschen ebenfalls mit einer Blume oder dem Gras auf dem Felde vergleichen kann (Ps 90,5ff; 102,12; 103,15; Jes 40,6ff ). In V. 29 wiederholt Jesus zunächst sein Ich sage euch (λέγω ὑμῖν [legō hymin]) aus V. 25. Es bleibt in all diesen Versen unübersehbar, dass hier nicht ein Rabbi oder Weisheitslehrer spricht, der seine Meinung zu den Meinungen anderer hinzufügt, sondern der Messias und Gottessohn mit seiner einmaligen Autorität. Nun aber, in V. 29, geht er von den Schöpfungswundern zu geschichtlichen Erscheinungen über. Sowohl die Schöpfung als auch die Geschichte dienen ihm als Gleichnis: Ich sage euch aber: Nicht einmal91 Salomo in all seiner Pracht kleidete sich wie eine von diesen [= den Lilien auf dem Felde]. Salomo, neutestamentlich und griechisch Solomon = der Friedevolle (1Chron 22,9),92 wird schon im AT außerordentlich gewürdigt: als Dichter, Schriftsteller, Weiser und Friedenskönig Israels.93 Vergleiche besonders 1Kön 5,12-14; 10,14ff; Hld 3,11. Dabei wird immer wieder seine Pracht

84 85 86 87 88 89 90 91 92 93

Zohary, 176. Zohary, 178. F.N. Hepper et al., Art. Pflanzen, GBL, 3, 1177f. Jer Bibellexikon, 681. Zohary, 169. νήθω [nēthō] ist wie καταμανθάνω [katamanthanō] neutestamentliches Hapaxlegomenon. So jedenfalls Fiedler, 181; Luz I 368. Vgl. BDR § 445,2. Vgl. E. Lohse, Art. Σολομών, ThWNT, VII, 1964, 459ff; H. Pehlke, Art. Salomo, GBL, 3, 1320ff. Lohse a.a.O., 460ff.

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und sein Reichtum hervorgehoben.94 Im antiken Judentum verstärken sich diese Züge noch, ja die „Lebenshaltung Salomos erscheint sprichwörtlich“.95 Einer der Zeugen ist hier Josephus. Ihm zufolge rühmt die Königin von Saba seine εὐδαιμονία96 [eudaimonia] (Glückseligkeit, Pracht), und nach des Josephus eigenem Schlussurteil übertraf Salomo alle anderen Könige an Pracht und Reichtum.97 Jesus hat mehrfach Salomo als bewundertes Beispiel aus der Geschichte Israels erwähnt (Mt 6,29; 12,42). Seinen Hörern war es wohl vertraut. Sie konnten bei den Lilien auf dem Feld auch an die purpurne Anemone (Anemone coronaria) denken, die Dalman einst vorschlug und die „an einen Königsmantel“ erinnert.98 Summa: Jede einzelne dieser Feldblumen übertrifft Salomos Pracht, weil sie Gott unnachahmlich schön gemacht hat. Wenn aber Gott das Gras auf dem Feld, das heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet – sollte er dann nicht viel mehr euch kleiden, ihr Kleingläubigen? (V. 30). Mit dieser fünften Frage setzt Jesus seine an das Denken gerichtete Werbung um Vertrauen zum himmlischen Vater fort. Erneut vollzieht er die Schlussfolgerung vom Kleineren (Pflanzen) zum Größeren (Gotteskinder). Einer atheistischen Naturbetrachtung wird das nicht einleuchten. Aber Jesus spricht zu Juden, die in der Offenbarung Gottes erzogen worden sind.99 Gott also ist es, der das Gras auf dem Feld (τὸν χόρτον τοῦ ἀγροῦ [ton chorton tou agrou]) so unübertrefflich in Schönheit kleidet.100 Bei Gras darf man nicht an die mitteleuropäischen Grasfluren denken. Es handelt sich vielmehr um „blühendes Unkraut“101 bzw. um das, „was grün“ auf den Fluren steht102, im Gegensatz zu den Kulturgewächsen (vgl. Mk 6,39). Dieses Gras dient öfter zum Vergleich mit der Menschenwelt, vor allem im Hinblick auf seine kurze Lebensdauer und seine Vergänglichkeit (vgl. Hiob 14,2; Ps 90,5; 102,12; 103,15; Jes 40,6; 1Petr 1,24f ). Auch den Rabbinen war diese Redeweise vertraut (Schab III, 1).103 Daran konnte Jesus gut anknüpfen. Er weist darauf hin, dass das Gras … heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird. Im waldarmen Israelland heizte man unter anderem auch mit den Stän94 95 96 97 98 99 100 101 102 103

Lohse a.a.O., 461f. Strack-Billerbeck I 438. Vgl. b Taan 29b; B Mezia VII, 1. Ant VIII, 171. Ant VIII, 211.186. Gaechter 232; Lohse a.a.O., 465, 36. Riesner, 97ff. Vgl. den diesbezüglichen Lobpreis des Ambrosius in Texte KV I, 170f. Gaechter, 232. Bauer-Aland, 1763. Vgl. Strack-Billerbeck I 438.

7. Reichtum und Sorgen, 6,19-34

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geln des verdorrten Grases.104 Wenn Gott dem rasch vergänglichen Gras so viel Ehre und Zuwendung schenkt – sollte er dann nicht viel mehr euch kleiden, ihr Kleingläubigen? W.D. Davies hat recht: In Mt 6,25-34 „Christ demands final loyalty.“105 Und: Ein solch uneingeschränktes, kindliches Vertrauen lohnt sich. Wie sehr alles auf dieses Vertrauen zuläuft, zeigt das letzte Wort von V. 30: Kleingläubige (ὀλιγόπιστοι [oligopistoi]). Es wird uns bei Matthäus öfter begegnen (8,26; 14,31; 16,8; 17,20). ὀλιγόπιστος [oligopistos] ist deutlich von ὀλιγόψυχος [oligopsychos] („kleinseelig“, „kleinmütig“, 1Thess 5,14) zu unterscheiden. „Kleinen Glauben“ tadelt Jesus an solchen, die aufgrund ihrer Erziehung und Gotteserfahrung schon mehr Vertrauen zu Gott haben sollten, als sie tatsächlich haben. Bei den Rabbinen finden sich ganz ähnliche Aussagen (Sota IX, 12; b Sot 48b).106 Man hat überlegt, weshalb Jesus so früh vom Kleinglauben seiner Jünger sprach. Ist hier in Mt 6,30 nicht etwas eingetragen bzw. in eine frühere Sammlung aufgenommen worden, was in Wirklichkeit auf ein späteres konkretes Ereignis zurückgeht? Das hat jedenfalls Bornhäuser angenommen.107 Doch erübrigt sich eine solche Annahme, wenn man sieht, dass 1) bereits die Propheten den Glaubensmangel in Israel beklagt haben (Jes 28,16; Jer 5,1ff ), und 2) Jesus seine Jünger auf die Zukunft vorbereiten will, in der es eben den Kleinglauben zu überwinden gilt. Interessant ist, dass Augustinus das Präsens er kleidet betont auf die „gegenwärtige Tätigkeit“ Gottes, also die creatio continua, bezogen hat.108 In V. 31 zieht Jesus selbst die Konsequenz (οὖν [oun], also!) aus dem zuvor Gesagten: Ihr sollt also nicht sorgen und sagen (μεριμνήσητε109 λέγοντες [merimnēsēte legontes]): Was sollen wir essen? Oder: Was sollen wir trinken? Oder: Womit sollen wir uns kleiden? Dieser Vers hilft noch einmal zum richtigen Verständnis des Abschnitts Mt 6,25ff. Erstens wäre es eine Engführung, das Sorgen (μεριμνᾶν [merimnan]) mit Bornhäuser und Jeremias nur als „sich abmühen“ zu verstehen, nicht aber als „sich sorgende Gedanken machen“, und daraus ein „Verbot der Arbeit“ abzuleiten.110 Nein: Das Sorgen von Mt 6,25ff ist tatsächlich das sorgende Herz und damit gerade auch das „sich sorgende Gedanken machen“. Ein entsprechendes „sich mühen“ kann 104 105 106 107 108 109

Schab III, 1. Davies Setting, 384. Weiteres bei Strack-Billerbeck I 438f. Bornhäuser, 178. Texte KV I, 216. Prohibitiver Konjunktiv, also imperativisch. Der Imperativ Aorist kennzeichnet „besonders gern kategorische Verbote“, BDR § 337,3. 110 Bornhäuser, 174ff; Jeremias Gleichnisse, 212.

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durchaus folgen – aber es ist eben nur die Folge der Sorge in Herz und Gedanken. Zweitens bedeutet es erneut eine Engführung, wenn Bornhäuser diese Worte nur an die „Apostel“ gerichtet sein lässt und meint, Jesus wolle sie um ihrer apostolischen Aufgabe willen von aller Arbeit freistellen.111 Wir haben kein Recht, den Hörerkreis, der sich bisher allgemein aus den Jüngern112 und weiteren Zuhörern zusammensetzte (Mt 5,1f; Lk 6,17), plötzlich auf die Apostel einzugrenzen. Drittens räumt Mt 6,31 mit dem Missverständnis auf, Jesus wolle seinen Anhängern in V. 25-34 die Arbeit verbieten. Schon der Vorwurf von Karl Kautsky, Jesus spreche von der Arbeit „in der wegwerfendsten Weise“,113 war skurril. Auch die Verteidigung der Arbeit gegen den Vorwurf, Jesus mache uns „leichtsinnig und träge“, mutet uns seltsam an.114 Es geht doch, wie W.D. Davies richtig betont, in Mt 6,25-34 im Kern nicht um das Thema „Arbeit“,115 sondern um das Thema Vertrauen und Kindschaft. Wie alle Gleichnisse, so sind auch diese Meschalim Jesu vom springenden Punkt her zu verstehen. Jesus hat selbst gearbeitet. Die Jünger, soweit sie ortsansässig waren, arbeiteten weiter,116 Jesus verstand auch den Dienst für Gott als „Arbeit“ (Mt 9,38; 10,10; 20,1f ) und maß jeder Arbeit ihren Wert bei: „Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert“ (Lk 10,7).117 Wie sollte jemand, der das ganze Gesetz verwirklichte (Mt 5,17-20), nun plötzlich gegen die Zehn Gebote Stellung beziehen, in denen es heißt: „Sechs Tage sollst du arbeiten“ (Ex 20,9)? Stattdessen lehrt uns Jesus, weder im Erfolg noch im Misserfolg unseres Lebens das Vertrauen auf den himmlischen Vater und seine Allmacht aufzugeben.118 Denn auf all das [= Essen, Trinken, Kleidung] sind die Heiden aus (V. 32). ἐπιζητεῖν [epizētein] bedeutet „das Streben, die Einstellung von Wunsch und Wille des Menschen“.119 Eine erstaunliche, nahe Parallele zu Mt 6,32, auf die Theißen-Merz aufmerksam machen,120 findet sich im Aris-

111 Bornhäuser, 175ff. Auch Riesner, 428.472 spricht von einem Verbot der „Erwerbsarbeit“ der Jünger. Ebenso Theißen-Merz, 517: Jesus will ein „Leben ohne Arbeit“. 112 Die Zwölf werden erst in Kapitel 10 so berufen. 113 Der Ursprung des Christentums, Hannover, 1968, 394. 114 Vgl. Schlatter, 105f. 115 Davies Setting, 458. 116 Theißen-Merz, 206, beziehen Mt 6,25ff par auf „die wandernden Nachfolgerinnen und Nachfolger“. 117 Vgl. Schniewind, 94; Zahn, 300. 118 Lk 10,38ff steht damit nicht in Widerspruch, sondern bestätigt das Obige. 119 H. Greeven, Art. ζητέω usw., ThWNT, II, 1935, 898. 120 Theißen-Merz, 334.

7. Reichtum und Sorgen, 6,19-34

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teasbrief (wohl zu Anfang des 1. Jh. v.Chr. entstanden121). Dort schreibt der jüdische Verfasser, die Juden würden von den Ägyptern „Gottesmenschen“ genannt, während die Nichtjuden = Heiden „Menschen der Speise und des Tranks und der Kleidung“ seien, „denn all ihr Streben ist darauf gerichtet“ (Aristeas 140f ). Wo keine Hoffnung auf das Reich Gottes und das ewige Leben besteht, beherrschen noch heute Essen, Trinken und Kleidung die Gedanken. In der zweiten Hälfte von V. 32 wiederholt Jesus das in V. 8 Gesagte teilweise wörtlich. Siehe die Erklärung dort. Man beachte die erneute Bezugnahme auf den Vater und auf das, was man braucht, also wirklich nötig hat. Jedenfalls dürfen die Jünger nicht leben wie die Heiden122 – ein Standpunkt, den Jesus mit den Rabbinen teilt. Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit! (V. 33) – das ist der Zielpunkt,123 auf den der ganze Abschnitt zuläuft. Es ist die Orientierung an der Gottesgemeinschaft und am Ewigen, die jedem Gläubigen und der ganzen Kirche aufgegeben ist.124 ζητέω [zēteō] ist mehr als „das weltanschauliche Suchen und Fragen des Menschen“,125 so gewiss es das einschließt. Denn das hebr. ‫[ דרשׁ‬drsch], auf das es zurückgeht, drückt ein zielgerichtetes „zu erreichen suchen“, eben ein trachten aus.126 Erstrebt werden soll die Teilnahme am sichtbaren kommenden Gottesreich. Zu Reich Gottes vgl. die Erklärung bei Mt 3,2. Jesus fügt hinzu: und seiner Gerechtigkeit (καὶ τὴν δικαιοσύνην αὐτοῦ [kai tēn dikaosynēn autou]). Gottlob Schrenk versteht hier Gerechtigkeit als „Einklang mit dem göttlichen Willen“.127 Dem ist zuzustimmen. Da aber vor und nach V. 33 immer wieder vom kindlichen Vertrauen auf den himmlischen Vater die Rede ist, darf diese Gerechtigkeit nicht nur als Gehorsam aufgefasst werden.128 Sie bedeutet zugleich ein umfassendes Verhältnis der Gottesgemeinschaft im Sinne der alttestamentlichen ‫[ ְצָדָקה‬zᵉdāqāh].129 121 Nach Paul Wendland in Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, übersetzt und herausgegeben von E. Kautzsch, II, Tübingen, 1900, 3, zwischen 96 und 63 v.Chr. anzusetzen; nach Fiebig, RGG, 1, 1909, 684, „um 96 v.Chr.“. 122 Theißen-Merz, 331; Zahn, 299. 123 France, 141. 124 πρῶτον [ prōton] setzt eine eindeutige Priorität, Fiedler, 182. 125 Gesenius, 112. 126 So Greeven a.a.O., 895. 127 Im Art. δίκη usw., ThWNT, II, 1935, 200. 128 Die Gefahr einer solchen Verengung bei Fiedler, 182. 129 Vgl. dazu B. Johnson, Art. ‫צדק‬, ThWAT, VI, 1989, 912ff. Wie wir France, 141f; Schlatter, 107.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

Die zweite Aussage von V. 33 lautet: dann wird euch das alles zusätzlich gegeben (καὶ ταῦτα πάντα προστεθήσεται ὑμῖν [kai tauta panta prostethēsetai hymin]). Wörtlich heißt es: „es wird hinzugefügt werden“ (Fut. Pass.). Das alles muss sich wie in V. 32 auf Essen, Trinken und Kleidung beziehen. Der, der dies hinzufügt, ist Gott (Passivum divinum).130 Die Sicht Jesu ist, aus dem Gesichtskreis des nordatlantischen Materialismus heraus betrachtet, mehr als erstaunlich. Bei Jesus sind die materiellen Grundwerte nur „Zutaten“ zur geistlichen Lebensführung. Ihre Notwendigkeit wird keineswegs bestritten, vgl. die Brotbitte im Vaterunser (Mt 6,11). Aber um wie viel notwendiger sind dann die geistlichen Güter, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit! Ein Satz wie: „Der Mensch ist, was er isst“ wäre Jesus nie über die Lippen gekommen. Man vgl. seinen Standpunkt in der Versuchung (Mt 4,4). Jesus lehrt auch an dieser Stelle in Übereinstimmung mit dem AT (Ps 37,4; 1Kön 3,13f ). Die Apostel greifen seine Wegweisung auf (Röm 14,17). Zugleich muss man klar sagen, dass Mt 6,33 keine Automatik oder Garantie bedeutet, dass jeder einzelne Gläubige ununterbrochen Essen, Trinken und Kleidung von Gott erhält. Jesus selbst sieht Leiden und Kreuz vor sich. Für seine Jünger erwartet er Verfolgung und sogar das Blutmartyrium (Mt 5,11f; 10,17ff.28ff; Joh 15,18ff ). Märtyrer sind verhungert und verdurstet. Paulus spricht von Hunger und Blöße, die uns bedrohen (Röm 8,35). Was uns Gott an Essen usw. hinzufügt, das entscheidet er in seiner Liebe, die uns das schenkt, was wir unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit und der geistlichen Bewahrung unserer Seele brauchen (vgl. V. 8.32). Es kann unser Auftrag sein, gerade durch Leiden ein Zeugnis des Glaubens zu geben (Mt 10,18; Apg 4,33; 1Tim 6,12f; Hebr 11,39; Offb 1,9; 6,9). Der abschließende V. 34 findet sich nur bei Mt: So (οὖν [oun]) sorgt nun nicht für morgen131, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat. Auch dieser Vers ist wie V. 24 im Deutschen sprichwörtlich geworden. Trotz seiner Kürze enthält er eine dreifache Botschaft. Die erste Botschaft hält uns in der Gegenwart fest. Das morgen mit seinen verhüllten Geheimnissen und seiner Einladung, „utopisch“ zu denken und zu hoffen, nimmt uns schnell gefangen. Wir sollen uns aber im Hier und Heute mit unserem Glauben bewähren. So sehr die Bibel an das Ziel des Lebens und der Geschichte zu denken lehrt (Ps 39,5ff; 73,23ff; 90,1ff ), so stark betont sie andererseits das Heute, in dem unsere Entscheidungen fallen (Dtn 11,26; 30,15; Jos 24,15; Ps 95,7; Mt 6,11; Lk 4,21; 19,5f; Hebr 130 BDR § 130,3. 131 Wörtlich: „für den morgigen Tag“.

7. Reichtum und Sorgen, 6,19-34

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3,13). Wir verlassen diese beiden Brennpunkte der Ellipse, wenn wir unseren Sorgen erlauben, sich auf das morgen zu konzentrieren. Das geistgeleitete Planen für das morgen, ja für die nächsten Jahre ist dadurch nicht ausgeschlossen (Lk 13,6ff; Jak 4,13ff ).132 Aber es soll uns nicht für die Gegenwart entwurzeln. Die zweite Botschaft ist eine Verheißung: der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Mit anderen Worten: Er hält genug für euch bereit. Nicht, weil Tage eine Art Macht wären oder ein gnädiges Schicksal waltet, sondern weil Gott auch den morgigen Tag regiert, für uns auch morgen im Gebet zugänglich bleibt und als Vater für uns sorgt. Aber eben für das Seine – für das, was morgen nötig ist. Hier wird Mt 6,11 (die vierte Vaterunser-Bitte) wieder aufgenommen, aber auch die Wüstenerfahrung mit dem Manna (Ex 16,19). Die dritte Botschaft ist ein Trost: Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat (ἀρκετὸν τῇ ἡμέρᾳ ἡ κακία αὐτῆς [arketon tē hēmera hē kakia autēs]). Dieses Wort Jesu überrascht. Aber es liegt ganz in der Linie der alttestamentlichen Bibel, die sich nicht scheut, von „bösen Tagen“ zu sprechen (Ps 27,5; Prov 7,14; 12,1) und auch von der bösen Plage und den Übeln unseres Lebens (Gen 47,9; Hiob 2,10). Das hebr. ‫[ ַרע‬raʿ], das wohl hinter dem griech. κακία [kakia] steht,133 weist zwei Bedeutungsdimensionen auf: 1) böse, schlecht im ethischen Sinn, 2) Übel, Unglück im existentiellen Sinn. Von da aus lässt sich ἡ κακία αὐτῆς [hē kakia autēs] zweifach verstehen: 1) vom Bösen, das jeden Tag aktiv ist, 2) vom Übel oder von der Plage, die uns täglich begegnet. Im Kontext der Sorgen von Mt 6,25ff liegt die zweite Bedeutung näher, also Übel oder Plage.134 Zu genug, „es reicht“, vgl. G. Kittel135 und Bauer-Aland136. Demzufolge sagt Jesus: Wahrhaftig, jeder Tag hat seine eigene Plage und Plackerei. Er wird damit seinen galiläischen Landsleuten und Hörern aus dem Herzen gesprochen haben.137 Aber die Erfahrung des „modernen Menschen“ ist dieselbe! Wie gut tut es, dass der Messias und der dreieinige Gott das weiß, es am eigenen Leib erfahren hat (Phil 2,6f; Hebr 2,9f; 5,7ff ). Es ist genug (griech. nur ein Wort: ἀρκετόν138 [arketon]) heißt: Ver-

132 133 134 135 136 137

Vgl. France, 142. Vgl. W. Grundmann, Art. κακός usw., ThWNT, IV, 1942, 477. So auch Bauer-Aland, 805; Carson, 182; Luz I 372. Art. ἀρκέω usw., ThWNT, I, 1933, 464f. Bauer-Aland, 214f. Der Sitz im Leben ist gerade nicht „der Kreis von Wandercharismatikern und Wandercharismatikerinnen um Jesus“, gegen Theiß-Merz, 335. Carson, 182, notiert die Nähe zum „common sense“. 138 Vgl. BDR § 127,2; 131,2.

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mehre die Plage jedes einzelnen Tages nicht dadurch, dass du dir auch noch die Sorgen des morgigen Tages auflädst!139

IV Zusammenfassung Einige Gedanken aus dem Abschnitt Mt 6,19-34 seien nochmals hervorgehoben: 1) In Mt 6,19-34 spricht Jesus zwei große Gefährdungen an, die unsere Hingabe an Gott hemmen oder verhindern: den Reichtum und die Sorgen. 2) Es geht dabei weder um eine Kritik des Matthäus am Besitz140 noch um den Wert der Arbeit oder Ähnliches,141 sondern im Sinne des israelitischen Glaubensbekenntnisses (Dtn 6,4f; Mt 22,34ff ) um unsere völlige Liebe zu Gott und unser ganzes Vertrauen. 3) Deshalb ist hier betont vom Vater im Himmel die Rede und nicht vom Schöpfer oder Allmächtigen. 4) Deshalb können wir Mt 6,19-34 auch keine sicheren Aufschlüsse über die soziologische Zusammensetzung der Jüngerschaft entnehmen, sondern höchstens indirekte und sehr allgemeine Andeutungen. 5) Die Bemerkung Schniewinds, dass Mt 6,25-34 seine stärkste Kraft „in Zeiten der Verfolgung und Not“ entfaltet,142 besteht zu Recht. In „Zeiten der Sicherheit und Sattheit“143 neigt die Kirche entweder zu extremistisch-unrealistischen Auslegungen oder der Auskunft, man könne dies unmöglich erfüllen. 6) Dass aber „die völlige Sorglosigkeit … das Kennzeichen der Jesus-Jünger“ sei, bedeutet, an Mt 6,25ff vorbeizuinterpretieren.144 Dagegen spricht schon V. 34. Dagegen spricht erst recht die Notwendigkeit, Mt 6,19-34 permanent einzuschärfen (vgl. Phil 4,6; 1Petr 5,7). Nein, Jesus will, dass unser Vertrauen zum Vater immer wieder das heidnische Trachten und Sorgen überwindet und wir im ständigen Angewiesensein auf Gott seine Fürsorge immer wieder neu erfahren.145

139 140 141 142 143 144 145

Vgl. Schlatter, 107. Gegen Luz I 357. Vgl. dazu Luz I 366.372. Schniewind, 96. A.a.O. Schniewind, 95. Treffend die Liedstrophe von Otto Riethmüller: „Schließ auf, Herr, über Kampf und Sorgen das Friedenstor der Ewigkeit …“. Vgl. Fiedler, 183.

8. Regeln für das Leben in der Nachfolge, 7,1-20

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7) Es besteht heute ein verstärktes Einverständnis darüber, dass Mt 6,19-34 zumindest in den wesentlichen Inhalten auf Jesus selbst zurückgeht.146 Wenn z.B. Luz Mt 6,34 für sekundär erklärt,147 ist dies eine Ausnahme.

8. Regeln für das Leben in der Nachfolge, 7,1-20 I Übersetzung 1 Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! 2 Denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Maß ihr messt, wird euch gemessen werden. 3 Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken aber in deinem Auge bemerkst du nicht? 4 Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen:1 Lass! Ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen2 – und siehe, der Balken ist in deinem Auge. 5 Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann sieh zu, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst! 6 Gebt das Heilige nicht den Hunden und werft eure Perlen nicht vor die Säue, damit sie sie nicht mit ihren Füßen zertrampeln und kehrtmachen und euch zerreißen. 7 Bittet, so wird euch gegeben. Sucht, so werdet ihr finden. Klopft an, so wird euch aufgetan. 8 Denn jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan. 9 Oder wer ist unter euch Menschen, den sein Sohn um Brot bittet, der ihm einen Stein gäbe? 10 Oder wenn er ihn um Fisch bittet, der ihm eine Schlange gäbe? 11 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, um wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten! 12 Alles nun, von dem ihr wollt, dass es euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Denn das ist das Gesetz und die Propheten. 13 Geht hinein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der zur Verdammnis führt, und viele sind es, die durch es hineingehen. 14 Denn eng ist das Tor und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden. 15 Nehmt euch in Acht vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, aber

146 147 1 2

Luz I 366f.370f; Schniewind, 90ff. Anders Fiedler, 176ff. Luz I 372. Zur Übersetzung vgl. BDR 366, 9.10. Vgl. BDR § 364,1.

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inwendig sind sie reißende Wölfe. 16 An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Liest man etwa Trauben von den Dornen oder Feigen von den Disteln? 17 So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der schlechte Baum bringt böse Früchte. 18 Ein guter Baum kann nicht böse Früchte bringen und ein schlechter Baum nicht gute Früchte bringen. 29 Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird herausgehauen und ins Feuer geworfen. 20 An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen.

II Struktur Der Abschnitt Mt 7,1-20 wird zusammengehalten durch eine Kette von sechs Imperativen, vier im Präsens (7,1.7.12.15), zwei im Aorist (7,6.13). Diese imperativische Struktur ist strenger als im vorausgehenden Abschnitt 6,19-34 und zugleich deutlich abgesetzt vom Schlussteil der Bergpredigt in Mt 7,21-27. Allerdings weist Mt 7,1-20 im Verhältnis zu seinem Umfang eine große Vielfalt von Themen auf. Es sind sechs, jeweils durch einen Imperativ eingeleitet (V. 12 weicht etwas ab): 1) Worte vom Richten (7,1-5), 2) von der Entweihung des Heiligen (7,6), 3) vom Gebet (7,7-11), 4) vom Handeln anderen Menschen gegenüber (7,12), 5) von den zwei Wegen (7,13-14) und 6) Worte der Warnung vor den falschen Propheten (7,15-20). Der Redestil in diesen sechs Aussagegruppen wechselt. Eher apodiktische Sätze (z.B. V. 1-2) wechseln mit eher argumentativen (z.B. V. 9-11) oder sich kreisförmig erweiternden (z.B. V. 15-20). Es gibt ferner Sätze, die stark auf die Jüngergemeinschaft bezogen sind (z.B. V. 3-5 oder 15-20), und solche, die jeden einzelnen Gläubigen für sich ansprechen (z.B. 7-11.12.13-14). Manchmal ergibt sich zum Mindesten formal eine Nähe zur qumranischen Gemeinschaftsregel (1QS). Der anschauliche Inhalt von Mt 7,1-20 hat dafür gesorgt, dass relativ vieles in den deutschen Sprichwortschatz eingegangen ist: so das „messen mit dem Maß“, der „Splitter im Auge“ und die „Splitterrichter“, das „Perlen vor die Säue werfen“, „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“, das Kommen in „Schafskleidern“ und als „reißender Wolf “. Insgesamt hat man den Eindruck, dass hier eine Sammlung von Jesusworten aus der Frühzeit Jesu vorliegt.3 Sie sind alle erkennbar an den „messianischen“ Imperativen, bezogen auf die neue Gemeinschaft der Jesusjünger, sodass wir von Regeln für das Leben in der Nachfolge sprechen können.

3 Schniewind, 96: „Eine Einteilung des Kapitels Mt 7 ist schwer zu gewinnen.“

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III Einzelexegese 1. Worte vom Richten, 7,1-5 Richtet nicht (Μὴ κρίνετε [Mē krinete]) ist eine Weisung, die eine Differenzierung voraussetzt. Das macht schon der Vergleich mit Lk 6,37 deutlich. Denn dort ist richten mit dem „Verurteilen“ eines Unschuldigen (καταδικάζω [katadikazō]) und mit dem „Freigeben“ eines Schuldners (ἀπολύω [apolyō]) zusammengestellt. Auch die Kommentierungen in Jak 4,11f; 5,9 zeigen, dass in Mt 7,1 ein negatives Verhalten gemeint sein muss, das an üble Nachrede und Unterdrückung grenzt.4 Vergleiche noch Röm 2,1; 14,4; 1Kor 4,5; 5,12. Vor-Urteil und Vor-Verurteilung wären die deutschen Begriffe, die in das Umfeld des Richtens von Mt 7,1 gehören. Es kann also keine Rede davon sein, dass Mt 7,1 die Beurteilung und Prüfung religiöser, theologischer oder geistlicher Äußerungen verbieten würde oder dass damit die Gemeindezucht aufgehoben wäre5 (vgl. 1Kor 5,1ff; 6,5; 1Joh 4,1ff; Offb 2,2). Mt 18,15ff, die sog. Gemeindeordnung des Mt, setzt ein solches richten geradezu voraus. Was Jesus in Mt 7,1 untersagt, ist ein überhebliches, unbarmherziges Richten, das sich nicht mehr bewusst ist, „daß Gottes Urteil auch den Urteilenden trifft“6 (vgl. Röm 2,1). Verstoßen wir gegen diese Weisung Jesu, dann trifft uns in der Tat Gottes Gericht. Dann werden wir gerichtet. Offensichtlich ist in Mt 7,1 in erster Linie an die Jüngerschaft (Gemeinde) Jesu und die Verhältnisse innerhalb dieser Gemeinschaft gedacht. Ulrich Luz erörtert die Frage, ob hier auch „das staatliche Gerichtswesen … angetastet“ werde.7 Diese Frage liegt jedoch völlig außerhalb der Berglehre Jesu. Schon durch Mt 5,1ff; Lk 6,17ff ist die Berglehre als Jüngerlehre gekennzeichnet, als Wegweisung für das Gottesreich und nicht für die Weltreiche. Mt 22,15ff; Joh 19,11 und Röm 13,1ff stellen völlig klar, dass der Staat die Aufgabe der Rechtsprechung hat und in der irdischen Welt behalten muss. In V. 2 ist erneut das ihr zu beachten. Es geht dezidiert um die Jüngerschaft: Denn mit welchem Gericht (κρίματι [krimati]) ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Maß (μέτρῳ [metrō]) ihr messt, wird euch gemessen werden. Jesus spricht hier das Talionsprinzip aus, wonach sich die Strafe genau nach der Schuld bemisst, uns bekannt als „Auge um Auge“, „Zahn um Zahn“ (Ex 21,23ff ). κρίμα [krima] ist „Urteil“ und „Verur-

4 Fiedler, 184: „über Mitmenschen abfällig zu urteilen“ – „jede Art von Verurteilung“. 5 Anders, nämlich als „absolutes“ Richtverbot, fasst es Deißner auf (Art. μέτρον usw., ThWNT, IV, 1942, 637). 6 F. Büchsel im Art. κρίνω usw., ThWNT, III, 1938, 940. 7 Luz I 376f.

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teilung“.8 Auch Jakobus sagt, dass ein unbarmherziges Gericht (κρίσις [krisis]) über den ergeht, „der nicht Barmherzigkeit getan hat“ (Jak 2,13). Maß, μέτρον [metron], bedeutet hier die Menge,9 die in einem Gefäß gefasst wird. Wir würden sagen: Es ist der „Maßstab, den wir gebrauchen“. Man kann einem Menschen ein hohes oder geringes Maß an Schuld oder Fehlern zurechnen. Wer nach sorgfältigem Überlegen und barmherzigem Abwägen das geringere Maß in Anschlag bringt, dem wird Gott selbst ein geringeres Maß an Strafe zu-messen. Mk 4,34 und Lk 6,38 zeigen, dass Jesus dieses Bildwort vom Maß mehrfach verwendet hat.10 Es ist auch den Rabbinen wohlbekannt, vgl. Sota I,7: „Mit dem Maße, mit welchem der Mensch misst, misst man [= Gott] ihm.“11 Das Denn (γάρ [gar]) in V. 2 hat die beiden ersten Verse fest miteinander verbunden. Die Verbindung von V. 1f zum Folgenden über das δέ [de] von V. 3 ist wesentlich schwächer. Deshalb kann man mit J. Jeremias zu dem Schluss kommen, dass das Bildwort vom Splitter und Balken (Mk 7,3-5) ursprünglich ein selbstständiges Bildwort war.12 Jedoch haben wir es jetzt im Zusammenhang von V. 1-5 auszulegen, das heißt als konkreten Fall des Richtens. Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken aber in deinem Auge bemerkst du nicht? (V. 3): Was, griech. τί [ti], kann ein „Warum?“ ausdrücken13 oder auch den erstaunten Ausruf „Wie (kann das geschehen)!“14 Jedenfalls setzt Jesus ohne Weiteres voraus, dass wir den Splitter im Auge des Bruders sehr gut entdecken. Das bestätigt auch die moderne Lebenserfahrung in Politik, Gesellschaft und Kirche. Der Splitter (τὸ κάρφος [to karphos]) bezeichnet im übertragenen Sinn etwas „ganz Geringfügiges“.15 Wenn hier vom Bruder die Rede ist, dann ist klar, dass dieses Beispiel die Verhältnisse innerhalb des Jüngerkreises betrifft. Wie kritisch sich selbst die Apostel im Auge hatten, bezeugen Stellen wie Mt 20,24ff, Joh 21,20ff oder Apg 15,36ff. Der Balken, ἡ δοκός [hē dokos], ist natürlich hyperbolisch gemeint. Er verstärkt die Anschaulichkeit und den Gegensatz. Wie viel Grund hat einer, der einen Balken in seinem Auge trägt, den andern wegen seines Splitters zu kritisieren und zu korrigieren? Aber so ichverliebt sind wir Menschen – sogar noch als Jünger! –, dass wir den Balken im eigenen Auge 8 9 10 11 12 13 14 15

Büchsel a.a.O., 943. Deißner, Art. μέτρον usw., ThWNT, IV, 1942, 635f. France, 143. Vgl. Strack-Billerbeck I 444ff; Deißner a.a.O., 636f. Jeremias Gleichnisse, 38.167. So Bauer-Aland, 1633; BDR § 299,3. BDR a.a.O. Bauer-Aland, 823.

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gar nicht bemerken. Die Du-Form der Anrede in V. 3 intensiviert die Frage Jesu.16 Übrigens sind Splitter und Balken beide vom selben Material, nämlich vom Holz des Zimmermanns.17 Wird dadurch angedeutet, dass beide unter derselben Sünde leiden, der Kritisierte wie der Kritisierende? So sagt es jedenfalls Röm 2,1. Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass! Ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen – und siehe, der Balken ist in deinem Auge (V. 4): Zunächst hört sich dies an wie eine wohlmeinende, brüderliche Hilfe. Es kann sogar subjektiv so gemeint sein. Aber objektiv existiert ein schreiender Widerspruch zwischen der viel größeren Not des Helfenwollenden und der weitaus kleineren des angeblich so Hilfebedürftigen. πῶς ἐρεῖς [ pōs ereis] heißt wohl nicht „wie wirst du sagen“, sondern deliberativ als ein Futur des Zweifels: wie kannst du sagen?18 Wieder geht es um den Bruder, also die Gemeinschaft der Christen. Derjenige, der sagt: Lass! Ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, hat noch gar nicht begriffen, dass in seinem eigenen Auge ein Balken steckt. Wie ist das möglich? Auf mehrfache Weise. Es gibt beispielsweise ein Helfer-Syndrom, das die eigene Person ausspart. Es gibt – heute sehr häufig – einen Mangel an Selbstwahrnehmung, der sogar ganz Offensichtliches übersieht. Und es gibt eine Resistenz gegenüber der Predigt, die die eigene Umkehr und Änderung verhindert. In der Regel sind solche Menschen schlechte Helfer für andere. Wie wollen sie dem Bruder oder der Schwester behilflich sein, wenn ihnen an derselben Stelle – beide Male ist es Holz! – noch viel Schlimmeres fehlt, wenn sie von noch schwererer Sünde belastet sind? Besonders tragisch ist es, wenn Theologen, Prediger oder Seelsorger unter Mt 7,4 fallen. Hart, aber heilsam ist es, was Jesus in V. 5 sagt: Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann sieh zu, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst! Fast erstaunt notiert Fiedler, dass sich die Bezeichnung Heuchler (ὑποκριτής [hypokritēs]) in Mt 7,5 auf „Gemeindeglieder“ bezieht.19 Das ist übrigens auch in Mt 24,51 der Fall.20 Die Heuchelei besteht in dem Widerspruch zwischen dem äußeren Anschein und dem inneren Sein.21 Aber in Mt 7,5 kann der Heuchler selbst seiner Heuchelei ein 16 Luz I 379. 17 Vgl. France, 143. 18 BDR § 366,9.10. Als permissiv fasst es Jeremias Gleichnisse, 201,8 auf: „wie darfst Du sagen?“ 19 Fiedler, 185, Anm. 299. 20 Falsch also U. Wilckens im Art. ὑποκρίνομαι usw., ThWNT, VIII, 1969, 565, Anm. 39: Jesus bezeichne so „Nicht seine Jünger!“ 21 Wilckens a.a.O., 566.

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Ende machen, und zwar so, dass er zuerst den Balken aus seinem Auge zieht. Die Erkenntnis, die er dazu braucht, bekommt er durch Jesu Verkündigung, die Hilfe durch das Gebet zu Gott und durch die Brüder/Schwestern. Jedenfalls gilt Schlatters Satz: „Es ist Heuchelei, das Böse an den anderen zu bekämpfen und nicht an sich selbst.“22 Verfährt man aber nach der ersten Hälfte von V. 5, dann – und erst dann (τότε [tote])! – gilt auch die zweite Hälfte: sieh zu, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst! „Jesus will uns nicht verbieten, einander behilflich zu sein, unser Böses zu lassen.“23 διαβλέψεις [diablepseis], sieh zu oder „du kannst zusehen“,24 enthält keine Erfolgsgarantie. Wo es um geistliche Dinge geht, darf man nicht drängen. Es bleibt ein Geheimnis zwischen Gott und jedem einzelnen Menschen, in das wir nicht eindringen können. Nur „Wer meint, er müsse der Richter der anderen sein, macht sich auch zu ihrem Bekehrer.“25 Die frühe Christenheit blieb sich dessen bewusst und ging mit Irrenden in großer Geduld um (Mt 18,12ff.15ff; Jak 5,19f; Jud 22f ).26

2. Worte von der Entweihung des Heiligen, 7,6 Joachim Jeremias sah in den Worten von den Hunden und Schweinen ein Doppel-Bildwort.27 Das Thomasevangelium unterstützt ihn dabei (93). Aber auch 2Petr 2,22 bezeugt die enge Zusammengehörigkeit von Hunden und Schweinen. Beide sind unreine Tiere (Offb 22,15; Lev 11,7). Beide können zur Darstellung teuflischer Gottes- und Messiasfeinde dienen (Ps 22,17; Mk 5,9ff ). Gebt das Heilige nicht den Hunden: Der Hund (κύων [kyōn]) gilt als „das verachtetste, frechste und elendeste Geschöpf “, wie Otto Michel in Aufnahme der Beschreibung von Strack-Billerbeck sagt.28 Im AT vgl. 1Sam 17,43; 28,15; 2Sam 9,8; 16,9; 1Kön 21,19; 22,38; Ps 22,17.21; Prov 26,11. Dtn 23,19 verbietet es, „Hundegeld“ (wahrscheinlich von männlichen Prostituierten) in den Tempel zu bringen. Es könnte sein, dass Jesus hier in Anlehnung an Dtn 23,19 formuliert.29 Doch was ist in Mt 7,6 das Heilige (τὸ ἅγιον [to

22 23 24 25 26 27 28 29

Schlatter, 109. Schlatter a.a.O. Ebenso Schniewind, 97f. BDR § 366. Schlatter, 109f. Vgl. Schniewind, 98. Jeremias Gleichnisse, 89. O. Michel, Art. κύων usw., ThWNT, III, 1938, 1100. Michel a.a.O., 1101f, favorisiert eine Anlehnung an rabbinische Opferfleisch-Vorschriften.

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hagion])? Man muss es wohl als die Botschaft Jesu verstehen.30 Sie soll, so ist der Sinn von Mt 7,6, den Menschen, die starrsinnig gottlos bleiben wollen, nicht aufgedrängt werden. Sie ist für die bestimmt, die sich wie die Hörer der Bergpredigt einladen lassen, aber nicht für die, die ihre Unreinheit zur fraglosen Lebenskultur gemacht haben.31 Es erstaunt, ein solches Wort bei Jesus zu finden.32 Aber es hat seiner Predigt nie an Klarheit gemangelt. Es gibt tatsächlich ein Böses, das sich nie bekehrt (Offb 16,9.11.21). An ihm sollen sich die Jünger nicht abarbeiten. Am Schluss des Verses legt Jesus die Gefahr dar, die damit verbunden ist. Seelsorgerlich empfiehlt sich allerdings eine langmütige Geduld (vgl. 1Kor 13,4ff ), da wir oft nicht wissen, ob Mt 7,6 in einem konkreten Fall zutrifft. Deshalb ist es nicht gut, wenn in der Theologie auf Mt 15,26; 10,11-14 o.Ä. als Parallelstellen verwiesen wird.33 Dagegen ist Prov 9,7 eine echte Parallele zu Mt 7,6. Ferner zeigen Phil 3,2; Offb 22,15; Did 9,5 und Ign Eph 7,1 ebenso wie das Thomasevangelium (93) und das Basilidesevangelium das Weiterwirken von Mt 7,6.34 Und werft eure Perlen nicht vor35 die Säue: Im Parallelismus membrorum wird die Aussage von vorher (das Heilige nicht den Hunden) wiederholt. Jedoch wird sie jetzt zugleich begreifbar. Perlen galten sowohl im Orient wie im Okzident als große Kostbarkeit, nicht zuletzt bei den Rabbinen.36 Jesus hat die Perle dann zum Bildwort für das Heil gemacht (Mt 13,45f ). Die Perlen sind also hier in Mt 7,6 ein Bildwort für die Heilsbotschaft, die die Glaubenden der Welt zu bringen haben. Aber den Säuen (ὁ χοῖρος [ho choiros] = Ferkel, Schwein) sollen sie sie nicht vorwerfen. Wieder empfiehlt sich die seelsorgerliche Langmut, von der wir oben sprachen. Aber nun nennt Jesus einen bestimmten Grund für seine Warnung: damit sie sie nicht mit ihren Füßen zertrampeln und kehrtmachen und euch zerreißen. Zwar bleibt er am Bild von den Säuen orientiert – αὐτούς [autous] bezieht sich auf die Perlen, mit den Füßen zertrampeln ist typisch für die Schweine –, aber er will doch vor beiden warnen, vor den Hunden und vor den Säuen. Beide können aggressiv werden, beide zu einer Gefahr für den 30 Ähnlich Michel a.a.O., 1101; Carson, 185. 31 Fiedler, 186, deutet nur auf die „Heiden“. Das ist viel zu eng und widerstreitet der Universalmission Jesu (Mt 28,18ff ). 32 Grammatikalisch ein „kategorisches Verbot“, BDR § 337,3. 33 So Aland Syn, 93; Nestle-Aland, 15. 34 Michel a.a.O., 1102f; Aland Syn a.a.O. 35 Zur Grammatik vgl. BDR § 214,9. 36 Vgl. b Qid 39b; Strack-Billerbeck I 447ff; F. Hauck, Art. μαργαρίτης, ThWNT, IV, 1942, 475f.

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Menschen. In καταπατέω [katapateō] steckt das Moment der Verachtung und der Wille zur Vernichtung,37 deshalb wählten wir die Übersetzung zertrampeln. Diejenigen, die Jesus drastisch mit den Bildworten Hunde und Säue bezeichnet, haben den unbedingten Willen, in ihrer Unreinheit und ihrer Feindschaft gegen Gott und seinen Messias zu verharren. Deshalb suchen sie das Evangelium mit allen Mitteln zu zerstampfen und zu vernichten. Deshalb greifen sie auch die Jünger selbst an und möchten sie am liebsten mit ihren Zähnen zerreißen.38 Vor dieser lebensbedrohenden Gefahr warnt Jesus. Es ist insofern „ein Schutzwort Jesu“.39

3. Worte vom Gebet, 7,7-11 Gerade in diesem Abschnitt begegnen wir der ungewöhnlichen Gabe Jesu, geistliche Sachverhalte zu formulieren. Unser Sprichwortschatz hat davon reichlich profitiert. Vers 7 beginnt mit einer Trias: Bittet – Sucht – Klopft an. Vers 11 macht endgültig klar, wo dies alles geschieht: beim Vater im Himmel. Bittet, so wird euch gegeben (V. 7): Das Passiv ist ein Passivum divinum. Also Gott wird geben. καί [kai] hat konsekutive Bedeutung: so = „und dann“.40 Bis heute fasziniert diese Erhörungsgewissheit Jesu. Sie geht durch alle Evangelien (Mt 18,19; 21,22; Mk 11,24; Lk 11,9; Joh 14,13; vgl. Jak 1,5f ). Ein Vater im Himmel (V. 11), der seine Kinder überhört, existiert für Jesus nicht. Allerdings kann die liebende Antwort des Vaters in dreierlei Richtung erfolgen: Als ein Ja, von uns teilweise „über Bitten und Verstehen“ erlebt (Joh 12,28; Eph 3,20) – als ein Erhören, das aber anders geschieht, als wir erwartet haben (Mk 2,5) – als ein Nein (Mt 26,39ff; 2Kor 12,8f ), das aber nicht weniger liebevoll ist als ein Ja. Die Erhörungsgewissheit reicht bis ins AT zurück (Ps 50,15; 65,3; 91,15; 138,3; Jer 29,12). Das Verb αἰτέω [aiteō], das Jesus in Mt 7,7 benutzt, hat er nach Gustav Stählin „nie vom eigenen“ Beten gebraucht.41 Es bedeutet bitten, aber auch „verlangen“, und zwar in erster Linie zugunsten des Bittenden selbst. Eine Grenze, oder irgendwelche „Qualitätsmerkmale“, hat Jesus weder in Mt 7,7 noch in Lk 11,9 genannt. In 37 Vgl. H. Seesemann / G. Bertram, Art. πατέω usw., ThWNT, V, 1954, 941. 38 Vgl. Bauer-Aland, 1471. Nach Ansicht mancher passt „zerreißen“ besser zu den Hunden, BDR § 477,5. 39 Maier I, 233. Für Luz I 381 bleibt Mt 7,6 „ein Rätsel“. Weder der Ursprung noch der ursprüngliche Sinn noch die Bedeutung im matthäischen Kontext seien „aufzuhellen“. France, 143: „enigmatic saying“. 40 BDR § 442,2. 41 Im Art. αἰτέω usw., ThWNT, I, 1933, 192.

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ihrem Bitten vor Gott haben seine Kinder vollkommene Freiheit. Das Kleinste ist ebenso erlaubt wie das Größte. Sucht, so werdet ihr finden: hier ist die Anlehnung an das AT offensichtlich. Vergleiche Prov 8,17 LXX: οἱ δὲ ἐμὲ ζητοῦντες εὑρήσουσιν [hoi de eme zētountes heurēsousin], und Am 5,4 LXX: Ἐκζητήσατέ με καὶ ζήσεσθε [Ekzētēsate me kai zēsesthe], sowie Prov 2,4-5 LXX: ἐὰν ζητήσῃς …, τότε … εὑρήσεις [ean zētēsēs …, tote … heurēseis]. ζητέω [zēteō] drückt ein zielbewusstes Gottsuchen aus, also das Gegenteil des Zweifels von Jak 1,6, und zugleich das Zuwartenkönnen, wenn es nicht gleich klappt.42 Dahinter steht das hebr. ‫[ בקשׁ‬bqsch]. Mit dem finden (εὑρίσκειν [heuriskein]) kommt die Suche an ihr Ziel, wobei Überraschung mitschwingen kann.43 Wieder erstaunt es, mit welcher Gewissheit Jesus dieses Finden verspricht. Klopft an, so wird euch aufgetan: Angeklopft wird an eine Tür.44 Auch die Rabbinen sprechen davon, dass jemand „an die Pforten der Barmherzigkeit geklopft hat, und sie ihm geöffnet wurden“.45 Jesus fordert also seine Jünger auf, an Gottes Tür zu klopfen. Sie wird mit Bestimmtheit „geöffnet werden“, aufgetan. Mit Recht lehnt Georg Bertram die Auffassung Bultmanns ab, wonach sich hier „der volkstümliche Gottesglaube“46 äußere. Vielmehr erwecke die Zusage Jesu in Mt 7,7 / Lk 11,9 erst „das Vertrauen, auf dem alles Bitten beruht“.47 Es liegt nahe, hier an die Praxis der orientalischen Bettler zu denken.48 Auf der Straße betteln und bitten sie. Haben sie keinen Erfolg, dann gehen sie dem Betreffenden nach und suchen ihn zu erreichen. Nützt auch dies nichts, dann verfolgen sie den Angebettelten bis nach Hause und klopfen dort an seine Tür. Ihre Zähigkeit führt leicht auf den Gedanken, auch beim Gebet von Mt 7,7 sei die Zähigkeit empfohlen: Ihr dürft „wissen, daß Euer Anhalten am Gebet die Hände Eures himmlischen Vaters öffnet!“49 Aber so sicher es auch ist, dass Jesus eine solche „Zähigkeit“ wollte (vgl. Lk 18,1ff ), so zweifelhaft ist doch, ob dies auch der Skopus von Mt 7,7ff ist. Es ist ebenso gut möglich, dass Jesus hier einfach verschiedene Aussagen des AT in einem anschaulichen 42 H. Greeven, Art. ζητέω usw., ThWNT, II, 1935, 895. 43 Vgl. H. Preisker, Art. εὑρίσκω, ThWNT, II, 1935, 767f. 44 Bauer-Aland, 921: „in uns. Lit. nur vom Klopfen an die Tür“. Vgl. G. Bertram, Art. κρούω, ThWNT, III, 1938, 956ff. 45 b Meg 126. 46 Bultmann Gesch, 109. 47 Bertram a.a.O., 956. 48 Vgl. Jeremias Gleichnisse, 159. 49 So Jeremias a.a.O. Ähnlich Tasker, 80f, der Mt 7,7-11 mit „Perseverance in prayer“ überschreibt. Wie Jeremias auch France, 144.

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Bild zusammenfassen will. Allerdings setzt er ein ernsthaftes, dringliches Gebet voraus (suchen, „anklopfen“, vgl. 2Kor 12,8). Mt 7,7 wiederholt sich wortwörtlich in Lk 11,9. Die Einprägsamkeit der Sprache hat hier eine gemeinsame Überlieferung ohne Abweichungen geschaffen. Lukas ordnet dieses Wort jedoch nicht in seine Feldrede ein. Immerhin gehört es auch nach Lukas in die Frühzeit Jesu. Wichtig ist, dass Jakobus in 1,5 aus unserem Wort Mt 7,7 zitiert, wohl auch in 1,6f und 4,3.50 Überhaupt stellt der Jakobusbrief so etwas wie den ältesten Kommentar zur Bergpredigt dar. Vers 8, „der wie ein Sprichwort klingt“,51 bestätigt die Aussage von V. 7: Denn jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird aufgetan. Mit dem Stichwort jeder wird die Erhörungsgewissheit verstärkt. Jesus macht also zum wiederholten Male „Mut zum Gebet“52 (vgl. Mt 6,5ff; 6,25ff ). Die Gefahr liegt nahe, dass Mt 7,8 als Automatismus oder auf der Welle eines „Gebets-Enthusiasmus“53 missverstanden wird. Damit würde Gott aber auf die Rolle eines Automaten oder Befehlsempfängers herabgewürdigt. Jeder aufrichtig Betende folgt dem Grundsatz Jesu: „Nicht wie ich will, sondern wie du (Vater) willst“ (Mt 26,39). Das Gebet ist also ein Gespräch mit Gott oder besser, wie der alte Konfirmanden-Katechismus sagt, „ein Reden des Herzens mit Gott“.54 In diesem Gespräch werden wir auch korrigiert und wachsen in unserer Gotteserkenntnis. Verloren geht kein Gebet. Die Verse 9-11 dienen der Veranschaulichung des in V. 7-8 Gesagten. Sie tragen einen zugleich dialogischen und rationalen Charakter, der uns an manche prophetische Passagen des AT erinnert (vgl. Jes 40,12ff.18ff; Ez 18,1ff; Mal 1,6ff; 2,10ff; 3,6ff.13ff ). Das erste Oder in V. 9 will die Aussagen von V. 7-8 weiterführen. Die Frage wer ist unter euch Menschen (genauer: „wer von euch ist ein Mensch“) kennen wir schon aus Mt 6,27.55 Die Antwort heißt: niemand. Den sein Sohn um Brot bittet, der ihm einen Stein (über-)gäbe? Sohn und

50 Vgl. Maier Jak, 7ff. 51 Schniewind, 99. 52 So die Überschrift bei Luz I 382. Wie Gundry, 123, zu der Auffassung kommt, Mt wolle nicht „teach about prayer himself “, ist nicht ganz einsichtig. 53 Vgl. Schniewind, 99. 54 Konfirmationsbuch der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, 12. Aufl., Stuttgart, 1967, 33. 55 BDR § 469,1 nennt unseren Satz einen „ganz semitisch konstruierten Spruch“. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 102.158.

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Vater stehen im AT im engsten Verhältnis zueinander56 (vgl. Dtn 1,31; Prov 3,12; Mal 1,6; 3,17; 2Sam 7,14; Jes 9,5). Brot ist wie in Mt 6,11 das Grundnahrungsmittel. Einem Sohn die Bitte ums Brot abzuschlagen, ist unvorstellbar. Erst recht ist es unvorstellbar, dass der Vater dem Sohn einen Stein als Symbol der Härte (Ez 3,9) gibt. „Der Stein“, so sagt J. Jeremias, „ist Sinnbild des Toten und Ungenießbaren“.57 Vers 10 bringt ein paralleles Bildwort: Oder, wenn er ihn um Fisch bittet, der ihm eine Schlange gäbe? Brot und Fisch gehören zur Grundnahrung der Juden“58 – bis heute (vgl. Joh 21,9ff; Mt 14,13ff; 15,32ff ). Die Bitten des Sohnes betreffen also nur das Notwendigste. Brot und Fisch liegen für die Bergpredigt besonders nahe, weil der See Genezareth sehr fischreich ist59 und in Galiläa hervorragender Weizen (Weizen von Chorazin!)60 wächst. Außerdem sind unter den Hörern viele Fischer (Mt 4,18ff ). Essbar bei Fischen war nach Lev 11,9 „alles, was Flossen und Schuppen hat“. Warum stellt Jesus dem Fisch die Schlange gegenüber? Weil nach Am 9,3 auch Schlangen im Wasser lebten (Seeschlangen)? Oder weil er an den unreinen Barbut (Clarias macracanthus) denkt, der nach J. Jeremias „fast das Aussehen einer Schlange hat“?61 Unseres Erachtens schwingt noch etwas anderes mit. In der Versuchung Jesu Mt 4,1ff gehört das Brot auf die Seite Gottes, der Stein zum Teufel. Gleichzeitig heißt der Teufel beim Täufer und bei Jesus auch Schlange (Mt 3,7; 23,33; vgl. Offb 12,9; 20,2). Die „guten Gaben“ Gottes sind Brot und Fisch (vgl. V. 11), die schlechten Gaben des Teufels, der Schlange par excellence, sind Stein und Schlange. Auch wenn man mit allegorischen Deutungen vorsichtig sein muss,62 kann man solche Bezüge nicht einfach übersehen. Unseres Erachtens ist auch der Einfluss der Versuchungsgeschichte auf die Lehre Jesu größer, als gemeinhin angenommen wird.63 Vers 11 bringt den bekannten Schluss a minore ad maius (vom Geringeren aufs Größere): Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, um wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten! Im nun setzt Jesus voraus, dass kein normaler menschVgl. H. Ringgren, Art. ‫ָאב‬, ThWAT, I, 1973, 8ff. Im Art. λίθος usw., ThWNT, IV, 1942, 273. Luz I 384. Vgl. J.A. Thompson, Art. Fisch und Fischfang, GBL, 1, 383f. Vgl. Bösen, 49f. Jeremias Gleichnisse, 223. France, 144, denkt an den aal-ähnlichen Katzenfisch (clarias lazera); ähnlich Schniewind, 99; Zahn, 308. 62 Wie sehr sich diese Vorsicht empfiehlt, sieht man an den Gnostikern, Irenäus Adv. haer. II, 13,10; II, 18,3; II, 30,2. 63 Eine Ausnahme bildet z.B. Sand, 148.

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licher Vater dem Sohn einen Stein oder eine Schlange gibt (V. 9f ). Nun hat fast den Sinn von „also“.64 In ihr (betontes ὑμεῖς [hymeis]) fasst Jesus seine Jünger mit allen Menschen zusammen,65 weil ja zuvor die Vater-Sohn-Beispiele alle Menschen betrafen. Es ergibt also keinen Sinn, alternativ zu überlegen, ob Jesus die Jünger oder allgemein die Menschen meint. Umso interessanter ist Jesu Urteil. Er sagt: ihr, die ihr böse seid (ὑμεῖς πονηροὶ ὄντες [hymeis ponēroi ontes]), wobei der Sinn ist: „ihr, obwohl ihr böse seid“.66 Alle Menschen, auch die Jünger, sind also von Grund auf böse = Sünder. Das kommt mit Jesu sonstiger Lehre überein, z.B. Mt 19,17: „Gut ist nur einer“, nämlich Gott (vgl. Mt 15,19). Wie kann der sündige Mensch gut werden? Diese Frage wird uns durch das ganze Evangelium begleiten.67 Aber auch der sündige Mensch kann manchmal Gutes tun. Er kann, wie Jesus sagt, seinen Kindern gute Gaben geben. Davon unberührt bleibt, dass „jede gute Gabe“ von Gott kommt (Jak 1,17). Was Gott ermöglicht, gibt der menschliche Vater an den Sohn weiter: Brot und Fisch. Mt 7,11 warnt uns davor, den Nichtchristen oder Atheisten jede Fähigkeit zum Guten abzusprechen. Doch erst recht gilt: um wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten! Das um wie viel mehr – Schluss a minore ad maius – ist uns seit Mt 6,26.30 wohlvertraut. Dreierlei fällt hier auf. Erstens wiederholt τοῖς αἰτοῦσιν [tois aitousin] das αἰτεῖτε [aiteite] von V. 7. Zweitens bleibt Jesus bei der Bezeichnung Vater im Himmel, die sich jetzt schon seit 5,16 durch die ganze Bergpredigt hindurchzieht. Jesus betont also wieder und wieder, dass seine Jünger als Gottes Kinder leben sollen. Die Gotteskindschaft äußert sich aber vor allem im Gebet. Drittens gibt der Vater im Himmel auch an dieser Stelle nur, was gut ist, so wie er in 6,9ff und 6,25ff nur gibt, was „not“ ist.68 Anderes kann man von Gott nicht erwarten. Insofern stimmt Lk 11,13 seinem innersten Gehalt nach mit Mt 7,11 überein, wenn es dort heißt: „Er wird den Heiligen Geist geben.“ Es ist sehr gut möglich, dass Jesus bei seinen Erläuterungen zur Bergpredigt, die in jedem Fall erfolgt sind (vgl. Mt 7,28; 13,10ff.36ff ), den Heiligen Geist als gute Gabe erwähnt hat und Lukas diese Erläuterung in 11,13 aufnahm.69 64 65 66 67

Vgl. BDR § 451,1. Ebenso Gundry, 125. Vgl. BDR § 418,3. Völlig anders die Einschätzung bei Luz I 385: „Der Hinweis auf die Bosheit des Menschen ist [nur] ein rhetorisches Mittel.“ 68 Zu Gottes guten Gaben vgl. b Ber 5a. 69 Gundry, 124f, hält sogar den Heiligen Geist für ursprünglich. Vgl. b Ber 5a: Tora, Israelland und zukünftige Welt.

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Fazit: Jesus fordert seine Jünger intensiv zum Gebet auf70 und stärkt das Vertrauen auf den himmlischen Vater, der uns mit Gutem beschenken will. Paulus (Phil 4,6) und Jakobus (1,5ff.17; 4,2f ) setzen diese Linie in gleicher Weise fort.

4. Worte vom Handeln anderen Menschen gegenüber, 7,12 Mt 7,12 ist bekannt als „goldene Regel“,71 eine Art Generalregel für das Handeln der Jünger. Sie erinnert an Lev 19,18,72 ebenfalls eine Art Generalregel im AT, die Jesus oft ausgelegt hat (Mt 5,43; 19,19; 22,39; Lk 10,27). Auch Lukas hat die „Goldene Regel“ in seiner Feldrede, und zwar an prominenter Position (Lk 6,31). Alttestamentliche Vorformen sind Tob 4,15: ὃ μισεῖς, μηδενὶ ποιήσῃς [ho miseis, mēdeni poiēsēs] („was du hasst, das tue niemand an“, LXX) und Sir 31,15:73 „Erkenne, daß dein Nächster ist, wie du, und alles, was du haßt, bedenke.“ Unser Sprichwort „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ ist nach Tob 4,15 gebildet. Aber während Tob 4,15 und Sir 31,15 auf das Unterlassen des Bösen zielen, zielt die Goldene Regel auf das positive Tun:74 Alles nun, von dem ihr wollt, dass es euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch! Das konsekutive nun (vgl. V. 11) nimmt darauf Bezug, dass schon in V. 11 vom Tun des Guten die Rede war.75 Der Gedankengang ist folgender: Wie euer Vater im Himmel Gutes tut, so tut auch ihr als seine Kinder Gutes.76 Und zwar allen Leuten (οἱ ἄνθρωποι [hoi anthrōpoi])! Paulus scheint in Gal 6,10 aus Mt 7,12 zu zitieren. Die Brücke zwischen der messianischen Gemeinde und ihrer Umwelt sieht Jesus im Tun des Guten. Jeder Gedanke an ein messianisches Reich mit dem Schwert oder dem „Harnisch“ Davids (so die Münsteraner Täufer77) war ihm ein Gräuel. Der Maßstab für das Tun des Guten ist derselbe wie bei der Nächstenliebe in Lev 19,18: ὡς σεαυτόν [hōs seauton] = „wie dich selbst“, „was ihr wollt für euch selbst“. Erstaunlich ist der Schlusssatz von Mt 7,12,78 der bei Lukas fehlt: Denn das (dieses) ist das Gesetz und die Propheten. Das Gesetz und die Prophe70 71 72 73 74 75 76 77 78

Es gibt keinen Grund, mit Gundry, 124, Brot und Stein als unjesuanisch zu betrachten. So z.B. Aland Syn, 95. Hengel-Schwemer, 436. Nach Sauer, 581. Für Bultmann Gesch, 107, ein „bloßer Zufall“. Zahn, 310, will das οὖν [oun] streichen. So auch Sand, 149. Maier JO, 233ff. Für Bultmann ein „Zusatz“ des Mt (Gesch, 93), ebenso für Luz I 387; Fiedler, 188.

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ten ist wie in Mt 5,17 die ganze Heilige Schrift Israels (vgl. 11,13). In Mt 22,39f sagt Jesus, dass Gottesliebe und Nächstenliebe gemeinsam das Gesetz und die Propheten erfüllen. Nach Röm 13,10 und Gal 5,14 ist „die Liebe des Gesetzes Erfüllung“. Und wieder stimmen Paulus und Jakobus zusammen, denn für Jakobus ist Lev 19,18 „das königliche Gesetz“ (Jak 2,8). Offensichtlich beruht diese apostolische Lehrtradition auf Mt 7,12 und Mt 5,43; 19,19; 22,39f; Lk 10,27. Dass man Gesetz und Propheten in Kurzform zusammenfasste, charakterisiert auch die „Sprüche der Väter“ im Talmud. Zwischen Jesus und Hillel existieren hier manche Berührungen. So konnte Hillel sagen: „Sei die Menschen liebend und sie der Tora zuführend“ (P. Abot I, 12).79 Man muss jedoch beachten, dass Jesus – und auch die frühen jüdischen Lehrer – das Gesetz und die Propheten niemals als „Prinzipien“ auffassten, wie es die „moderne“ Theologie gerne tut. Trotz der Konzentration auf Kerngebote suchten sie überall den konkreten Willen Gottes und hielten auch die kleinsten Gebote (Mt 23,23).80 Die Worte das ist das Gesetz und die Propheten darf man also nicht so lesen, als ob da stünde: „Nur das steht im Gesetz und in den Propheten, alles andere könnt ihr weglassen.“ Im Übrigen hat Calvin zum Gebot der Nächstenliebe und damit auch zu Mt 7,12 eine interessante Anmerkung gemacht, auf die Karl Barth hinweist81: Ubi ergo cognoscitur Deus, etiam colitur humanitas. Dass die Goldene Regel vielfältig weiterwirkte, zeigen 1Clem 13,2; Did 1,2 und die Kirchenväter.82

5. Worte von den zwei Wegen, 7,13-14 Eine Reihe von Autoren zählt Mt 7,13f schon zu den Schlussmahnungen der Bergpredigt.83 Wir dagegen haben uns unter II. entschieden, Mt 7,1-20 zusammenzufassen und den Schlussteil erst ab V. 21 beginnen zu lassen. Für die Auslegung haben diese Einteilungen aber nicht allzu viel Gewicht. Das Bild vom Tor und vom Weg in V. 13f führt uns gegenüber V. 9ff und 12 in eine neue Anschauungswelt. Dabei handelt es sich in Mt 7,13f um ein einheitliches Gleichnis.84 79 80 81 82

Vgl. b Schab 31a. Ebenso Fiedler, 188. Im KD I/2, 458. Zum Beispiel Augustinus, Chrysostomus und Salvian von Marseille (Texte KV III, 428.438; IV, 378). In der neueren Dogmatik vgl. Barth KD I/2, 426f.458. Abwertend Bultmann Gesch, 107: Mt 7,12 sei „die Moral eines naiven Egoismus“. 83 So Luz I 394; Fiedler, 189; Tasker, 81; Schniewind, 101; France, 146; Carson, 188; Davies-Allison, 693; Beare, 193. 84 Jeremias Gleichnisse, 89,1.

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Geht hinein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der zur Verdammnis führt, und viele sind es, die durch es hineingehen (V. 13): Wie in V. 1.6.7 und 15 steht der Imperativ vornean. Es ist ein Imperativ, der zugleich eine Mahnung und eine Einladung darstellt. In Lk 13,24, wo evtl. eine andere Situation vorliegt,85 steht dafür ἀγωνίζεσθε [agōnizesthe] = „kämpft darum“, „ringt danach“, hineinzukommen. Jedenfalls ist der scharfe Imp. Aor. εἰσέλθατε [eiselthate] „momentan“86 und nicht auf ein fortdauerndes Bemühen, sondern wie der Ruf zur Umkehr auf ein grundsätzliches Handeln in der Lebensgeschichte abgestellt. Jesus redet87 von einem Eingang durch das enge Tor (διὰ τῆς στενῆς πύλης [dia tēs stenēs pylēs]). Er hat das Bild vom Tor oder von der Tür überhaupt sehr geliebt (vgl. Mt 16,18; 19,24; 24,33; 25,10; Lk 13,25; Joh 10,1ff ). Ihm mussten von seinem Zimmermannsberuf her solche Bilder wie die vom Holz (Mt 7,2-5), vom Hausbau (Mt 7,24-27) oder vom Tor/Tür (Mt 7,13f ) besonders naheliegen. Das Tor befindet sich am Ende des Weges und kennzeichnet bildhaft den Eingang ins Reich Gottes bzw. ins ewige Leben (Mt 5,20; 7,21; 19,17.24; 23,13; 25,21.23).88 Aber Jesus bezeichnet dieses Tor als eng. Es ist kein Tor für Massen oder Wagen, sondern für zielstrebige Fußgänger. Im Übrigen ist der Eingang durch ein Tor schon deshalb keine Selbstverständlichkeit, weil Tore verschlossen werden konnten (vgl. Offb 21,25; 22,14). Unmittelbar daneben steht ein zweites Bild: Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der zur Verdammnis führt, und viele sind es, die durch es hineingehen. Erneut sorgt ein Hysteron-Proteron dafür, dass das Tor zwar vor dem Weg erwähnt wird, aber doch erst am Ende des Weges zu denken ist.89 ἡ πύλη [hē pylē] (das Tor) ist so gut bezeugt,90 dass man es nicht streichen darf. πλατεῖα [ plateia] kann mit weit oder breit übersetzt werden,91 εὐρύχωρος [eurychōros] heißt breit, geräumig. Auch Massen, auch unförmige Ladungen können diesen zweiten Weg benutzen. Aber dieser zweite Weg führt zur Verdammnis. Im griech. Wort ἀπάγουσα [apagousa] treffen verschiedene Bedeutungen zusammen: „führt weg“, führt hin, „führt ab“ (einen 85 Für eine andere Situation spricht auch die Analyse von J. Jeremias im Art. πύλη usw., ThWNT, VI, 1959, 923. In unsere Richtung geht auch W. Michaelis, Art. ὁδός usw., ThWNT, V, 1954, 71; Carson, 189; Davies-Allison, 695. 86 BDR § 335. 87 Für jesuanischen Ursprung auch Bultmann Gesch, 110. 88 Vgl. Jeremias a.a.O., 922. 89 Jeremias a.a.O. 90 Jeremias a.a.O.; Michaelis a.a.O., 72; Tasker, 82. Anders Zahn, 312. 91 Bauer-Aland, 1341.

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Verhafteten oder Verurteilten), „verführt“.92 Die Verdammnis (ἀπώλεια [apōleia]) ist die Strafe der im Endgericht Verurteilten.93 Jesus rechnet also mit einem doppelten Ausgang des Lebens: mit dem ewigen Leben oder der ewigen Verdammnis. Erschreckend ist es, dass er sagt: viele sind es, die durch es hineingehen. Die griechischen Schlusswörter in V. 13, δι᾿ αὐτῆς [di’ autēs], kann man sowohl auf das Tor als auch auf den Weg beziehen. Da aber im ersten Satz von V. 13 das hineingehen mit dem Tor verbunden ist, liegt es aufgrund der Parallelstruktur nahe, auch im zweiten Satz das hineingehen auf das Tor zu beziehen.94 Deshalb übersetzten wir durch es (= das Tor).95 Jedenfalls sieht Jesus die Mehrheit in Israel, ja die Mehrheit der Menschheit, auf dem breiten Weg. Die Frage stellt sich: Könnten denn wirklich alle Menschen, wenn sie nur wollten, durch das enge Tor zum ewigen Leben eingehen?96 Jesus antwortet: Ja. Denn jeder kann Gottes Einladung annehmen (Mt 11,28ff; Joh 6,37; vgl. 1,12; 7,37). Jesus sprach sein Geht hinein! nicht zu einer speziell ausgewählten Gruppe, nicht zu einem ausgesonderten Teil Israels, nicht zu einer Elite. Er sprach es viel mehr zu allen, die dort im Bergland hörten, und zu allen späteren Hörern des Evangeliums (vgl. Lk 10,16). Was unsere Entscheidung für oder gegen Gott betrifft, sah er die menschliche Entscheidung frei, und nicht etwa einer Prädestination unterworfen (Mt 23,2.37; vgl. Sir 15,11ff; P. Abot III, 19). Allerdings ist der Weg zum ewigen Leben kein Spazierweg, sondern einer, der einen entsprechenden Willensentschluss, eine ernsthafte Umkehr zu Gott und ein wirkliches Ringen (ἀγωνίζεσθε [agōnizesthe] Lk 13,24!) voraussetzt. Jeremias spricht hier mit Recht von „Opfer“ und „Passionsweg“.97 Das darf uns jedoch nicht vergessen lassen, dass wir als Jesu Jünger glücklich gepriesen werden (Mt 5,3ff ) und in einer unbeschreiblichen Freude leben (Mt 13,44; Joh 15,11; 16,22ff ). Das Bild von den zwei Wegen, das Jesus hier aufnimmt, ist uralt und hat Israel in seiner ganzen Geschichte begleitet: Bei Mose (Dtn 30,15ff ), bei den Propheten (Jer 21,8; Ez 18,1ff; 33,1ff ), in den Psalmen (Ps 1,6 u.ö.) und in der Weisheitsliteratur (Prov 4,18f; 15,19; 21,10; Sir 33,1ff ).98 Es setzt sich fort in der frühjüdischen Literatur99 und bei den Rabbinen. Be92 93 94 95 96 97 98 99

Bauer-Aland, 158. Bauer-Aland, 208. Vgl. Jeremias a.a.O., 923, 18; Zahn, 312f. Anders die Lutherbibel. Vgl. Schniewind, 102. Jeremias a.a.O, 923; ebenso Schlatter, 114f. Vgl. W. Michaelis, Art. ὁδός usw., ThWNT, V, 1954, 53ff. Öfter wird hier 4Esr 7,6-14 genannt. Aber die Berührungen mit Mt 7,13f sind nur spärlich. Näher an Mt 7,13f steht 1QS III, 13ff (Riesner, 364).

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sonders eindrücklich ist in b Ber 28b der Bericht vom Sterben des berühmten R. Jochanan ben Zakkaj (1. Jh. n.Chr.), der seinen Schülern sagt: „vor mir sind zwei Wege, einer zum Paradies, und einer zum Fegefeuer.“100 Das Bild war also den Hörern Jesu so gut bekannt, dass er es nicht näher erläutern musste. Gerade seine Aussage, dass viele auf dem Weg zur Verdammnis sind, musste sie erschüttern und aufs Äußerste herausfordern.101 Das Bild von den zwei Wegen hat auch bei den Apostolischen Vätern stark nachgewirkt, wie vor allem Didache 1–6 und Barnabasbrief zeigen (Barn 1820).102 Weitere Spuren führen zu den Kirchenvätern, bei denen Leo der Große feststellt, dass wir ohne „Christus selbst als Führer“ den Weg und das Tor zum Leben nicht finden können.103 Denn eng ist das Tor und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden (V. 14): Am Anfang dieses Verses ist der Text nicht sicher. Er kann ὅτι [hoti] oder τί [ti] lauten, beides ist in den Handschriften gut bezeugt. Obwohl Nestle-Aland dem τί [ti] = „wie!“104 den Vorzug geben, scheint uns von der handschriftlichen Bezeugung und vom Parallelismus her das ὅτι [hoti] = denn ein leichtes Plus zu haben.105 Auf jeden Fall aber muss man ἡ πύλη [hē pylē] (das Tor) festhalten. Dem weiten Tor und dem breiten Weg von V. 13 stellt Jesus jetzt das enge Tor und den schmalen Weg gegenüber. Das griech. Wort für schmal, τεθλιμμένη [tethlimmenē], hat immer wieder Reflexionen ausgelöst. Eigentlich bezeichnet es einen Weg, der schmal wird, der eingeengt wird, der bedrängt wird.106 Es scheint, als wolle Jesus damit ausdrücken, dass dieser Weg durch äußere Mächte gefährdet wird. Sie versuchen, den Weg immer noch schwieriger zu machen, den darauf Gehenden den Atem zu nehmen. Das Substantiv zu θλίβω [thlibō] ist die θλῖψις [thlipsis], das übliche neutestamentliche Wort für Drangsal, Not und Verfolgung. Mit Recht sieht man deshalb im schmalen Weg die Verfolgung angeknüpft.107 Wieder erstaunt es, wie ehrlich Jesus die Karten auf den Tisch legte und wie früh er seine Jünger schon auf die kommende Verfolgung vorbereitete (Mt 5,10ff ). Aber mag auch die Trübsal noch so schwer und der Weg noch so beschwerlich sein – es bleibt dabei, dass 100 Das Material ist umfangreich. Vgl. den Versuch der Aufarbeitung bei Michaelis a.a.O. 101 Beim heutigen Menschen würde das Wort von der Verdammnis eher „den Glauben … deformieren“, meint Fiedler, 190. 102 Vgl. Michaelis a.a.O., 98ff. 103 Texte KV III, 93. 104 Vgl. BDR § 299,4. 105 So auch mein früherer Kommentar (Maier I, 240); Fiedler, 190. 106 Vgl.Bauer-Aland, 735. 107 Carson, 188f; Fiedler, 191; Luz I 397.

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es ein Weg ist, der zum (ewigen) Leben führt (vgl. Apg 14,22). Was sind dann im Vergleich dazu alle diese Beschwernisse (2Kor 4,17; Offb 7,14ff )? Noch einmal rüttelt Jesus die Hörer auf: und wenige sind es, die ihn finden. Das Stichwort wenige taucht in solchen Zusammenhängen öfter auf (Mt 7,14; 9,37; 22,14; Lk 13,23; 1Petr 3,20; Offb 3,4). Offenbar ging Jesus in seiner Verkündigung davon aus, dass nur eine Minderheit in Israel ihm folgen werde (Lk 13,23f ) und dass keineswegs alle Menschen das Evangelium wünschen. Ihn finden (εὑρίσκοντες αὐτήν [heuriskontes autēn]) bezieht sich hier auf den Weg (ἡ ὁδός [hē hodos]). Man muss an dieser Stelle aber vorsichtig bleiben mit Spekulationen. Es greift zu weit, wenn man sagt, Jesus habe von vornherein nur eine Minderheitenkirche gewollt. Er wirbt vielmehr um ganz Israel (Mt 10,5ff; Lk 10,1ff ) und will, dass durch das Evangelium jeder Mensch gerettet wird (Mt 28,18ff; Mk 16,15f; Apg 1,8). Und man fällt ins andere Extrem, wenn man die christliche Botschaft die ganze Welt verändern sieht und am Ende eine Auflösung der Kirche als „Salz“ der Welt annimmt. Stattdessen sieht Jesus in prophetischer Nüchternheit voraus, dass nicht jeder Eingeladene das Heil annimmt und gar nicht alle Eingeladenen ins Reich Gottes kommen werden (Mt 22,11ff ). In die Perspektive dieser prophetischen Voraussicht gehört auch Mt 7,14: und wenige sind es, die ihn finden. Am Schluss der Verse 13 und 14 erinnern wir uns noch einmal an das Wort Leos des Großen: Ohne „Christus selbst als Führer“ werden wir weder den schmalen Weg finden noch durch das „enge Tor“ zum Leben eingehen.108

6. Worte der Warnung vor den falschen Propheten, 7,15-20 Manche versuchen, Mt 7,15ff als organische Fortsetzung von Mt 7,13f zu verstehen, etwa unter dem Motto: „falsche Weisung“, die auf den Weg zur Verdammnis führt.109 Möglicherweise hat Jesus bzw. Matthäus an einen solchen Anschluss gedacht. Aber die verschiedene Anordnung der Stoffe bei Lukas (13,23f und 6,43ff ) spricht dagegen, sodass es ratsamer ist, Mt 7,1520 als Spruchgruppe für sich auszulegen. Nehmt euch in Acht110 (Προσέχετε [Prosechete]) vor den falschen Propheten (ἀπὸ τῶν ψευδοπροφητῶν [apo tōn pseudoprophētōn]), V. 15: Der

108 Texte KV III, 93. Vgl. dazu Barth KD I/2, 284, der freilich vom Prädestinationsgedanken herkommt. 109 So Zahn, 313; Davies-Allison, 703 (unter Berufung auf Chrysostomus); Fiedler, 192; France, 147; Tasker, 82. 110 Vgl. BDR § 149,2; Bauer-Aland, 1431.

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Imperativ Präsens hat durative und iterative Bedeutung.111 Die Jünger sollen sich also fortwährend und immer wieder in Acht nehmen. Die Geschichte der Falschpropheten (ψευδοπροφῆται [ pseudoprophētai]) in Israel beginnt schon in der Mosezeit, in der selbst Mirjam und Aaron zu falschen Propheten wurden (Num 12,2ff; vgl. Dtn 13,2f; 18,20ff ). Über längere Strecken besaßen die falschen Propheten sogar die Mehrheit (1Kön 22,5ff; Jer 19,14ff; 23,9ff; Ez 13,1ff; 22,23ff; Mi 3,5ff ).112 In der Zeit Jesu traten häufig Propheten verschiedener Couleur auf. Zwar endete die allgemein anerkannte Prophetie Josephus zufolge mit der Epoche des Artaxerxes (Artahsasta, 464–424 v.Chr., Esr 4,7; 7,1; Neh 2,1).113 Das stimmt mit der hebräischen und protestantischen Bibel, aber auch mit den Rabbinen114 überein, die Maleachi als letzten Schriftpropheten (ca. 480–450 v.Chr.) betrachten.115 Anschließend sprechen frühjüdische Quellen von einer prophetenlosen Zeit (1Makk 4,46; 9,27; 14,41).116 Aber etwa zeitgleich mit dem Täufer, Jesus und den Aposteln stoßen wir auf relativ viele Zeugnisse prophetischer Bewegungen. Dazu gehören der Täufer (Mt 14,5; 21,28ff ) und Jesus selbst (Mt 16,14; Lk 7,16). Dazu gehört die Erwartung, dass berühmte Propheten wiederkommen sollen (Mt 16,14; 17,10ff ). Dazu gehören Simeon und Hanna (Lk 2,25ff.36). Dazu gehören bekannte essenische Propheten wie Judas ca. 100 v.Chr.117 oder Menachem118 ca. 50 v.Chr., der dem jungen Herodes seinen Aufstieg voraussagte. Ja, es gab ganze Gruppen von Propheten unter den Essenern119 wie auch unter den Pharisäern.120 Josephus erwähnt weitere Beispiele. Unter anderem berichtet er von zelotischen Falschpropheten in den letzten Tagen Jerusalems.121 Besonders hervorzuheben ist Jesus, der Sohn des Ananias, der im Jahre 62 n.Chr. den Untergang Jerusalems verkündigte.122 Dass Jesus unter diesen Umständen und angesichts der ganzen Geschichte Israels auf Propheten und speziell auf falsche Propheten zu sprechen kommt,

111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122

BDR § 336. Vgl. R. Rendtorff im Art. προφήτης usw., ThWNT, VI, 1959, 805ff. Contra Ap. I, 41. b Baba bathra 15a; vgl. b Meg 15a. Vgl. Maier Haggai/Maleachi, 100. Anders die Deutung bei R. Meyer im Art. προφήτης usw., ThWNT, VI, 1959, 816f. Josephus Ant XIII, 311ff. Josephus Ant XV, 373ff. Vgl. zu beiden Meyer a.a.O., 823f, und Ant XVII, 345ff. Josephus B. J. II, 159. Josephus Ant XVII, 43ff. B. J. VI, 285ff. Josephus B. J. VI, 300ff. Vgl. Meyer a.a.O., 824ff.

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ist begreiflich.123 Erst recht legt die endzeitliche Erwartung es nahe, vor falschen Propheten zu warnen (vgl. neben Mt 7,15ff noch Mt 24,4ff.11.23ff; Lk 6,26; 2Thess 2,1ff; 2Petr 2,1ff; 1Joh 4,1ff; Offb 13,11ff; 16,13ff; 19,20; 20,10). Jesus sieht also sein Werk von allem Anfang an durch „falsche Propheten“ gefährdet. Er beschreibt sie so: die in Schafskleidern zu euch kommen, aber inwendig sind sie reißende Wölfe (V. 15). Der Bildvorrat Jesu, abgeleitet aus dem AT, ist unerschöpflich. Die Schafe sind ein uraltes Bild für Israel (Num 27,17; 1Kön 22,17; Ps 77,21; 80,2; 100,3; Jes 53,6).124 Jesus hat es auf seine Gemeinde übertragen (Mt 10,16; Joh 10,3ff; 21,16). Die falschen Propheten wenden alle Mittel an, um als echte Schafe = Jünger Jesu zu erscheinen.125 Noch der große Falschprophet des antichristlichen Reiches tritt auf „wie ein Lamm“ (Offb 13,11). Zu den angewandten Mitteln gehören Schriftbezug (Mt 4,6), Schriftauslegung (Kol 2,16ff ), das Vollbringen von Wundern (Mt 24,24; Offb 13,13f ), hochgeistige Denksysteme (Kol 2,8), strenge und asketische Regeln neben einer ausschweifenden Liberalität (1Tim 4,1ff; 2Petr 2,2) sowie eine Erkenntnis, die in die tiefsten Tiefen gehen und sogar das Geheimnis des Satans entschlüsseln will (Offb 2,24). Aber auch ihre mitreißenden Predigten und Theoriebildungen enden in der Irrlehre.126 Inwendig aber sind sie reißende Wölfe: Auch dieses Bild ist alt (vgl. Gen 49,27). Nach G. Bornkamm „wird der Wolf seit ältester Zeit an ungezählten Stellen der antiken Literatur erwähnt“, er gilt „als furchtbares Raubtier“.127 Im AT vgl. Jer 5,6; Ez 22,27; Hab 1,8; Zeph 3,3.128 Reißend oder „räuberisch“ (ἅρπαγες [harpages]) sind die Wölfe. Ihr Ziel ist es, zu töten. Darin stimmt der Wolf mit dem Teufel überein (Joh 8,44). Ein weiteres Resultat seines Einbrechens in die Herde ist es, dass sie zerstreut wird (Joh 10,12). Geistlich werden Gemeindeglieder getötet oder zerstreut, wenn die falschen Propheten in der Gemeinde akzeptiert werden, und es ist eher zu schwach, was Ambrosius über sie sagt: Sie „schwächen die Seele und untergraben den Geist“.129 Die wahren, 123 Anders die Exegese derjenigen, für die mit Bultmann Gesch, 131, unser Vers „eine ganz sekundäre Bildung des Mt selbst ist“. 124 Vgl. H. Preisker / S. Schulz, Art. πρόβατον usw., ThWNT, VI, 1959, 689ff. 125 Nach Davies-Allison, 704, begegnen „Schafskleider“ sonst nirgendwo in einem antiken jüdischen Text. Dass die Falschpropheten „in all probability“ Christen sind, sehen auch Davies-Allison, 702. Zahn, 314, interpretierte die Schafskleider als „den rauhaarigen Prophetenmantel …, den auch falsche Propheten trugen“ (Sach 13,4). Dagegen Davies-Allison, 704; Luz I 404. 126 Nach Davies-Allison, 703, handelt es sich „at least in part“ um „teachers and preachers“. 127 Im Art. λύκος, ThWNT, IV, 1942, 309. 128 Test Benj 11,1 ist wohl nach Gen 49,27 gebildet. 129 Texte KV I, 366.

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mit Jesus verbundenen Jünger brauchen jedoch keine Angst zu haben. Denn sie stehen unter der Verheißung Jesu: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen (ἁρπάσει [harpasei])“, Joh 10,28. Doch wie kann sich die Gemeinde Jesu vor den falschen Propheten in Acht nehmen? Dieses Problem hat die Kirche ständig begleitet.130 Nach Davies-Allison wurde es „never really solved by the early Christianity“.131 Aber ist das richtig? Die Überwindung der gnostischen Irrlehren, die Vermeidung eines Rückfalls in ein legalistisches Judentum oder die Ausscheidung des Montanismus und nicht zuletzt die christologischen Grundsatzentscheidungen der Konzilien beweisen etwas anderes: dass es nämlich der Kirche im Großen und Ganzen gelungen ist, die falschen Propheten zu erkennen und abzuweisen. Über die Mittel, die dafür die Verkündigung Jesu bereitstellt, siehe beim nächsten Vers. Eine Beobachtung von Davies-Allison verdient es, festgehalten zu werden:132 Die Worte Jesu in Mt 7,15 sind durchaus ein positives Zeugnis dafür, dass es in seiner Gemeinde auch echte Propheten gibt. Vergleiche dazu Mt 10,41; 23,34; Apg 13,1; 1Kor 12,28; Did 10ff. Jedoch gehen Davies-Allison darin fehl, dass sie meinen, Matthäus attackiere in Mt 7,15 einen ihm und seiner Gemeinde „bekannten Opponenten“ („against a known opponent“).133 Der lässt sich nun einfach nicht entdecken, wie sie selbst zugeben.134 So bleibt es dabei, dass in Mt 7,15 „a standard … warning“ ausgesprochen ist.135 Gerade Mt 7,15 hat in der folgenden Geschichte der Christenheit und der Kirche eine starke Wirkung entfaltet. Schon in Apg 20,29 sind die „grausamen Wölfe“ offensichtlich eine Erinnerung an Mt 7,15. In der Didache erscheinen die Stichworte ψευδοπροφῆται [ pseudoprophētai], πρόβατα [ probata] und λύκοι [lykoi] nebeneinander (16,3), sodass man daraus schließen kann, dass die Didache hier das Matthäusevangelium benutzte.136 Ignatius Ad Phil 2,2 führt unser Bild fort. Justinus Martyr zitiert gar in Apol I, 16,12 wörtlich aus Mt 7,15: ἔσωθεν δὲ ὄντες λύκοι ἅρπαγες [esōthen de ontes lykoi harpages], ebenso in Dial 35,3.137 Schließlich zitiert auch Irenäus in seiner Vorrede „Gegen die Häresien“ aus Mt 7,15.

130 131 132 133 134 135 136 137

Vgl. G. Friedrich im Art. προφήτης usw., ThWNT, VI, 1959, 858ff. Davies-Allison, 708. Davies-Allison, 703. Ähnlich Carson, 191. Davies-Allison, 708. Derselbe Fehlweg bei Luz I 402. A.a.O.: „its original application cannot be determined“. Vgl. Davies-Allison, 701. Wie wir Carson, 190f. Vgl. Davies-Allison, 704. Davies-Allison, 705.

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An ihren Früchten (ἀπὸ τῶν καρπῶν αὐτῶν [apo tōn karpōn autōn]) werdet ihr sie erkennen (V. 16): Mit diesem Satz nennt Jesus das entscheidende Instrumentarium, das die Falschprophetie von der echten Prophetie unterscheiden hilft. Falschpropheten erzeugen Falschpropheten. Natürlich haben sie Früchte, das heißt Ergebnisse ihres Lebens und Wirkens.138 Aber diese Ergebnisse entsprechen nicht dem Willen Gottes, auch wenn sie von außen betrachtet glänzend, hochgeschätzt und sehr religiös sind (vgl. Mi 6,8; Röm 12,2). Der Begriff Früchte setzt voraus, dass man den Menschen mit einem Baum oder einer Pflanze vergleichen kann (Ri 9,7ff; Ps 1,3ff; Jes 5,1ff; 11,1). Sowohl der Täufer als auch Jesus haben sich dieses Bildes bedient (Mt 3,8ff; Mt 7,16ff; 12,33; 15,13; 20,1ff; 21,18ff.37ff; Lk 6,43f; 13,6ff; Joh 15,1ff ), auch die Apostel (Röm 11,17ff; Jak 3,12). Für erkennen steht in Mt 7,16 ἐπιγινώσκω [epiginōskō], „intensiv erkennen“, „genau“ oder „durch und durch erkennen“.139 Ein solches genaues Erkennen setzt eine ebenso genaue Prüfung voraus. Außerdem sollte man das Futur ihr werdet erkennen beachten. Das heißt, dass Jesus keine bereits in seiner Gegenwart gegebene Falschprophetie angreift, sondern ganz allgemein für die Zukunft vorbereitet.140 Es überrascht, für wie sicher er dieses Erkennungszeichen hält: Liest man141 etwa Trauben von den Dornen oder Feigen von den Disteln? Vielleicht hat er hier ein Sprichwort aufgegriffen, das evtl. in verschiedenen Variationen umlief. Ein Sprichwort in verschiedenen Variationen würde auch leicht verständlich machen, weshalb in Lk 6,44 bei gleichem Grundgedanken Änderungen in den Details auftreten, nämlich „Feigen von den Dornen“ bzw. „Trauben vom Dornbusch“. Auch Davies-Allison erwägen, ob die Varianten einschließlich Jak 3,12 nicht auf „mündliche Tradition“ zurückgehen.142 Freilich ziehen sie die Antwort vor, dass die matthäische und die lukanische QVorlage hier eben „nicht identisch“ („not identical“) waren.143 Aber das Spekulieren mit lauter hypothetischen Q-Vorlagen, die nie ein Mensch gesehen hat, zeigt nur, auf welch tönernen Füßen die gesamte Q-Hypothese steht. Jedenfalls kann man Jesus zufolge am Lebenswandel erkennen, ob jemand ein echter oder falscher Prophet ist. Allerdings braucht man dafür Zeit. Denn noch nicht an den Blättern, sondern erst an den Früchten, die wachsen müssen, 138 Vgl. F. Hauck, Art. καρπός usw., ThWNT, III, 1938, 618. 139 Bauer-Aland, 589f. 140 Auch das spricht gegen die Deutung Davies-Allisons u.a., wonach Matthäus eine der Gemeinde wohlbekannte Opposition im Auge habe. 141 Zur Grammatik vgl. BDR § 130,2. 142 Davies-Allison, 706f. 143 Davies-Allison, 707.

8. Regeln für das Leben in der Nachfolge, 7,1-20

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wird man erkennbar.144 Falschprophetie lässt sich also nicht schon auf Anhieb erkennen. Davies-Allison nennen dies alles „a commonplace“ („einen Gemeinplatz“).145 Für Israels Weisheit trifft dieses Urteil jedenfalls zu (Sir 27,6), und unsere Sprache hat Mt 7,15 ja in ihren Sprichwortschatz übernommen. Doch ist damit das Problem „Wie erkennt man im konkreten Fall die Falschprophetie?“ noch nicht gelöst. Biblisch gilt zunächst Dtn 13,2ff: Wer vom lebendigen, wahren Gott abspenstig macht, ist ein falscher Prophet. Das Kriterium dafür ist die Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift. Ferner gilt das Kriterium von Dtn 18,21f: Wenn das Prophezeite nicht eintrifft, hat ein falscher Prophet gesprochen. Mt 24,23ff; Röm 16,17; 2Tim 3,5; Offb 2,20ff sind Anwendungsfälle dieser beiden Kriterien. Unerlässlich ist in beiden Fällen ein sorgfältiges Prüfen (Röm 12,2; Eph 5,10; 1Thess 5,21; 1Joh 4,1; Offb 2,2). Und zwar nicht durch selbsternannte Richter, sondern durch Beauftragte der Gemeinde (Offb 2,2). Die Confessio Augustana (1530) sah darin das Amt der Bischöfe: Sie sollten „Lehr urteilen und die Lehre, so dem Evangelio entgegen, verwerfen!“ („reiicere doctrinam ab evangelio dissentientem“).146 Gerhard Friedrich verweist auf die Didache, der zufolge eine „Übereinstimmung von Lehre u[nd] Leben“ beim Propheten gegeben sein muss (Did 11,8: ἐὰν ἔχῃ τοὺς τρόπους κυρίου [ean echē tous tropous kyriou]). Wer nicht uneigennützig ist, wer einen gedeckten Tisch für sich selbst erbittet, ist ein Lügenprophet (Did 11,9.12; 16,3).147 Ein Prüfen in diesem Sinne ist etwas anderes als das Richten von Mt 7,1-5. Gegen Davies-Allison besteht also keine „tension with 7,1-5“.148 Vergleiche unsere Erklärung oben zu Mt 7,1-5. Trauben und Feigen sind edle und erwünschte Früchte im AT (vgl. Ri 9,7ff; Ps 105,33; Hld 2,13; Jer 5,17; Hos 9,10; Joel 2,22). Jesus verneint also schon in Mt 7,15, dass Falschpropheten eine edle Frucht bringen können. Sie sind Dornen und Disteln, vgl. Ez 2,6.149 Die Verse 17-20 sind nichts anderes als eine Epexegese, also eine verdichtete Erklärung von V. 16. So150 bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der schlechte Baum bringt böse Früchte (V. 17): Lk 6,43 sagt mit nur wenig veränderten Worten dasselbe. Man sollte solche Wortunterschiede nicht über144 145 146 147 148 149 150

Vgl. Carson, 191. Davies-Allison, 706. BELK, 123f. Friedrich a.a.O., 862. Davies-Allison, 706. Auch Luz I 404f. οὕτως [houtōs] „subordinates 7.17-18 to 7.16“ (Davies-Allison, 709).

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

betonen. ἀγαθός [agathos] und πονηρός [ ponēros] in Mt 7,17 sind ethische Grundbegriffe für gut und böse151 – aber gemessen am Willen Gottes, wie er in der Heiligen Schrift ausgedrückt ist (Mi 6,8; Mt 5,17ff; Röm 12,2; Jak 3,17f ). σαπρός [sapros] meint „faulig“, „morsch“, „unbrauchbar“ oder eben „schlecht“.152 Auf Menschen angewandt formulieren Davies-Allison: „Man ist, was man tut“ (709). Vergleiche Mt 12,33. In V. 18 kommt es besonders auf das Wort kann an: Ein guter Baum kann nicht böse Früchte bringen und ein schlechter Baum nicht gute Früchte bringen. Im Griechischen steht οὐ δύναται [ou dynatai] betont voran. Nahe verwandt ist Mt 23,33, wo aber gerade das δύναται [dynatai] fehlt. Dieselben Grundgedanken sind auch in Joh 15,5ff, 1Joh 3,9 und natürlich Lk 6,43 zu finden.153 Auf längere Sicht – so die Erklärung Jesu – wird der falsche Prophet sich durch seine gottwidrige Lebensweise verraten.154 Vers 19 enthält ein Gerichtswort über die falschen Propheten und überhaupt alle Gottlosen: Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird herausgehauen und ins Feuer geworfen. Abgesehen von der Partikel οὖν [oun] ist der Wortlaut genau derselbe wie bei der Täuferpredigt in Mt 3,10. Vergleiche die Erklärung dort. ἐκκόπτεται [ekkoptetai] muss nach der Analogie von Mt 3,10 als ein heraushauen einschließlich der Wurzel verstanden werden. Im übertragenen Sinne bedeutet dies ein Gericht, das die gesamte Existenz umfasst. Das Feuer ist das Gerichtsfeuer, in das die Verurteilten kommen (vgl. Jes 66,24; Mk 9,48). Wie der falsche Prophet ins ewige Feuer kommt, macht Offb 19,20 anschaulich. Die Kommentare vertreten zum Teil die These, Matthäus habe in 7,19 eine „Stelle aus der Täuferpredigt“ „repetiert“.155 Sie können sich eine solche Wiederholung nur aufgrund der Redaktionsarbeit des Evangelisten vorstellen. Diese Sichtweise ist eingeschränkt und dazu monoton. Viel einleuchtender ist die Annahme, dass Jesus selbst bewusst an die Täuferpredigt angeknüpft hat (s. Mt 4,17 im Verhältnis zu Mt 3,2).156 Vers 20 zieht noch einmal die Summe im Sinne einer bewussten Wiederholung: An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen. Hier geschieht das, was Rainer Riesner in seinem Abschnitt über das Memorieren mit den 151 Luz I 405. 152 Bauer-Aland, 1485. Nach Davies-Allison, 710, „worthless“; nach O. Bauernfeind, Art. σαπρός usw., ThWNT, VII, 1964, Anm. 97, in Mt 7,17 „minderwertig“, „unbrauchbar“. 153 Mit Recht betont aber Fiedler, 193, „dass V. 18 nicht im Sinn einer Vorherbestimmung (miss-)zuverstehen ist“. 154 Tasker, 83: „in the long run“. 155 So Luz I 401; ähnlich Theißen-Merz, 192; Beare, 197. 156 Wie wir Carson, 191f.

9. Schlussmahnungen, 7,21-27

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Worten beschreibt: „daß Jesus die Essenz der Debatte in einem prägnanten Satz zusammenfaßte“.157 Vers 20 ist in der Tat bis auf die einleitenden Partikel ἄρα γε [ara ge] wörtlich mit V. 16a identisch. Bei ἄρα γε [ara ge] ist γε [ge] „zum unbedeutenden Anhängsel“158 geworden, ἄρα [ara] hat konsekutive Funktion und bedeutet also, „folglich“.159 Jesus hat hier das Achten auf die Früchte eingeprägt und hat damit in der apostolischen Literatur zahlreiche Spuren hinterlassen (Röm 1,13; 6,21; 7,4; Gal 5,22; Eph 5,9; Phil 1,11.22; Hebr 12,11; 13,15; Jak 3,17f ). Schlatter bemerkte zu Mt 7,16-20, es sei „unmöglich …, daß der Teufel fromm mache und die Lüge in die Wahrheit führe“.160

9. Schlussmahnungen, 7,21-27 I Übersetzung 21 Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in das Reich Gottes kommen, sondern nur der, der den Willen meines Vaters im Himmel tut. 22 Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophezeit und in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele Wunder getan? 23 Und dann werde ich ihnen unumwunden erklären: Ich habe euch niemals gekannt. Weicht von mir, ihr Übeltäter! 24 Jeder also, der diese meine Worte hört und sie tut, gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf den Felsen baute. 25 Und als der Regen herabfiel und die Wasserfluten kamen und die Stürme wehten und gegen jenes Haus tobten, da fiel es nicht. Denn es war auf den Fels gegründet. 26 Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf den Sand baute. 27 Und als der Regen herabfiel und die Wasserfluten kamen und die Stürme wehten und gegen jenes Haus stießen, da fiel es. Und sein Fall war schwer.

II Struktur Wir erinnern uns, dass eine Reihe von Auslegern einerseits Mt 7,15-23 und andererseits Mt 7,24-27 als zusammengehörende Abschnitte behandelt. So 157 158 159 160

Riesner, 447f. BDR § 439,2. BDR § 451,2; Bauer-Aland, 208f. Schlatter, 116.

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fassen Davies-Allison die Verse 15-23 unter der Überschrift „False prophets“ und die Verse 24-27 unter der Überschrift „The two builders“ zusammen.1 Aber Luz sagt mit Recht: „V. 21 bringt einen Neueinsatz.“2 In der Tat ändert sich jetzt der Stil. Die Reihe der Imperative, die die Verse 1-20 bestimmte, ist zu Ende. Die Terminologie, die infolge des Gebrauchs zahlreicher Bilder (Splitter/Balken; Hunde/Schweine; Vater/Sohn; Brot/Stein; Fisch/Schlange; Tor/Weg; Schafe/Wölfe; Dornen/Disteln/Bäume) die Verse 1-20 beherrscht hatte, ändert sich ebenfalls mit den Versen 21-23. Es rückt jetzt auch die Person Jesu in die Mitte: Zu ihm spricht man (zweimal μοι [moi], V. 21.22), um seinen Namen geht es (dreimal τῷ σῷ ὀνόματι [tō sō onomati], V. 22), seine Worte muss man halten (zweimal μου τοὺς λόγους τούτους [mou tous logous toutous]). Deshalb liegt es unseres Erachtens näher, in Mt 7,21-27 einen neuen, eigenständigen Abschnitt zu sehen. Er zerfällt in zwei Unterabschnitte. 1) eine scharfe Mahnung, den Willen Gottes zu tun (V. 21-23), 2) ein einheitliches Gleichnis, von J. Jeremias als Sintflutgleichnis3 bezeichnet (V. 24-27), das vom Bestehen im eschatologischen Gericht spricht. Eine Gemeinsamkeit aller sieben Verse beruht darin, dass sie von Vorgängen innerhalb des Jüngerkreises reden. Demzufolge hat Jesus von den ersten Tagen seines Wirkens an mit der Entstehung eines eigenen Jüngerkreises gerechnet, ja sogar mit der Entstehung eines messianischen Gottesvolkes. Ziel der Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu bleibt es, in das Reich Gottes zu kommen. Der Begriff Reich Gottes (βασιλεία τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn]), der uns zum letzten Mal in Mt 6,33 begegnete, gewinnt jetzt am Schluss der Bergpredigt erneut Gewicht (V. 21). Damit erhält auch die Eschatologie noch einmal einen hervorragenden Platz. Offen gibt sich Jesus als der endzeitliche Richter zu erkennen (V. 23). Es geht für die Jünger um die Frage, die schon in Mal 3,2 gestellt wurde und die in der Apokalypse noch einmal erscheint: „Wer wird den Tag seines Kommens [des Gerichts] ertragen können?“ (vgl. Offb 6,17). Man darf nicht alles in der Bergpredigt über den eschatologischen Leisten schlagen. Aber dass sie insgesamt doch stark eschatologisch orientiert ist, kommt gerade in den Schlussmahnungen 7,21-27 zum Ausdruck.

1 Davies-Allison, 694; vgl. Luz I 400. 2 Luz I 405. 3 Jeremias Gleichnisse, 46.87.163.

9. Schlussmahnungen, 7,21-27

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III Einzelexegese Nicht jeder (Οὐ πᾶς [Ou pas], V. 21) eröffnet etwas hart eine neue Satzfolge: Wir befinden uns im Gebiet der Paränese, im Gebiet ernster Mahnungen, die mit dem Hinweis auf das Jüngste Gericht motiviert sind. Nicht jeder (Οὐ πᾶς [Ou pas])4 ist nicht dasselbe wie οὐδείς [oudeis] = „keiner“. Denn es gibt genügend Jünger, die Herr, Herr zu Jesus sagen und gerade deshalb in das Reich Gottes kommen. Nicht jeder teilt, wie Schlatter und andere bemerken,5 „die Glaubenden in zwei Gruppen“. Aber Jesus will, dass seine Hörer gerade nicht zum Kreis der Verworfenen gehören, und mahnt deshalb mit strengen Worten. Die Verworfenen sagen zu Jesus Herr, Herr (κύριε κύριε6 [kyrie kyrie]). Das ist nach den Evangelien und nach den apostolischen Briefen (1Kor 12,3) korrekt. Man vgl. das marana tha = „Unser Herr, komm!“ nach 1Kor 16,22; vgl. Offb 22,20. Herr, griech. κύριος [kyrios], besitzt eine sehr große Bedeutungsbreite, angefangen von der Höflichkeitsanrede unter Menschen bis hin zu einer Anrede Gottes.7 Für den Gebrauch von Herr im NT wird dabei entscheidend, dass die griechische Bibel den alttestamentlichen Gottesnamen Jahwe „In der Regel“8 mit κύριος [kyrios] = Herr wiedergibt. So muss man stets fragen, ob nicht die Bezeichnung Herr für Christus auch dessen Gottheit aussagen soll. Für Mt 7,21 ist diese Frage zu bejahen. Denn 1) werden im Namen Jesu Dämonen ausgetrieben und Wunder getan, und 2) begegnet uns Jesus hier wie in Mt 25,31ff; 16,27f; 19,28 als Weltenrichter.9 Die Verdoppelung Herr, Herr „entspricht palästinischem Sprachgebrauch“.10 Aber trotz des korrekten Bekenntnisses werden nicht alle Jünger Jesu in das Reich Gottes kommen. Denn dorthin kommt nur ein Jünger, der den Willen Gottes tut. Jesus nennt Gott hier mein Vater im Himmel. Damit befinden wir uns auf einer anderen Ebene, als wenn bezüglich der Jünger von „eurem Vater im Himmel“ (Mt 5,16 usw.) die Rede ist. Mein Vater ist noch einmal etwas anderes als die inklusive Anrede „unser Vater“ (Mt 6,9). Mein Vater drückt ein einzigartiges, exklusives Verhältnis zwischen Jesus und dem Vater aus. Es spiegelt die Tatsache, dass Jesus der einzigartige „Sohn Gottes“ ist. 4 5 6 7 8 9

Vgl. BDR § 302,2: Bauer-Aland, 1194. Schlatter, 117; Jeremias Gleichnisse, 224; Zahn, 318. Vgl. dazu BDR § 493,2 (Epanandiplosis). Vgl. G. Quell / W. Foerster, Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, 1038ff. So Quell a.a.O., 1056. Beare, 198, hält dies für den irdischen Jesus für ausgeschlossen. Für „echt“ plädiert dagegen Riesner, 250.459. 10 Foerster a.a.O., 1085.

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Aber was heißt nun der den Willen Gottes tut? Jesus hat diese Wendung auch bei anderer Gelegenheit benutzt (vgl. Mt 12,50). In der Sache geht es darum schon in Mt 5,17-20, ja durch die ganze Bergpredigt hindurch (vgl. 6,10; 7,19). Tun steht in einem Gegensatz zu einem bloßen „Hören“ oder einem bloßen „Sagen“ bzw. „Bekennen“ (vgl. noch Mt 23,3f ). Das Tun ist die Ausführung des Willens Gottes, wie er in der Heiligen Schrift offenbart ist, in der eigenen Lebenspraxis. Daran knüpfen sich zwei Beobachtungen. Die Erste betrifft das Weiterwirken von Mt 7,21 in der Geschichte. Derjenige, der unter den neutestamentlichen Verfassern hier Jesus am nächsten steht, ist doch wohl Jakobus (vgl. Jak 1,22.25; 2,14ff ). Aber auch Paulus und Johannes haben Jesu Wort in Mt 7,21 aufgenommen und verarbeitet (Röm 2,13; 1Joh 2,17). Es zeigt sich, dass gerade Paulus und Jakobus (samt Johannes) an dieser Stelle völlig einig sind.11 Die zweite Beobachtung betrifft das Defizit, das in den lutherischen Kirchen durch die Distanz gegenüber dem Tun entstanden ist. In Theologie und Volksfrömmigkeit standen die „guten Werke“ immer wieder unter Verdacht, als wären sie Feinde des sola gratia. Verhängnisvoll war hier die Zurückweisung des Jakobus als „stroherne Epistel“12 zusammen mit einer exegetischen Distanz zum Matthäusevangelium.13 Man muss hier deutlich sagen, dass es nicht genügt, die Kirche nur durch das Hören auf das Wort Gottes zu definieren. Kirche im Sinne Jesu ist vielmehr dort, wo man dieses Wort hört und zugleich ins praktische Leben umsetzt. Ausgezeichnet bleibt die Definition des Täufers Hans Schlaffer aus der Reformationszeit: „ein Nachfolger Christi, der ist ein Christ“.14 Lk 6,46-49 beweist, dass wir es auch geschichtlich mit dem Schluss jener ersten großen Jüngerunterweisung, der Bergpredigt, zu tun haben. Vers 2215 schildert die Selbstverteidigung jener, die Herr, Herr sagen (vielleicht flehentliche Bitte?), aber den Willen Gottes nicht getan haben: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophezeit und in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele Wunder getan? Es wiederholt sich die verdoppelte Anrede Herr, Herr. Sie soll eine intensive Beziehung zu Jesus zum Ausdruck bringen. Aber die Wirklichkeit steht ganz konträr zu den Worten. Die innere Beziehung zu Jesus kann gar 11 12 13 14

Vgl. Maier Jak, 10ff. Luther Vorreden, 141. Vgl. Maier Jak, 26ff; Kümmel Einl, 365ff. Vgl. wieder Kümmel a.a.O., 83ff; Theißen-Merz, 255. Maier, JO, 206. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 207: „im Endgericht fragt Gott nach dem gelebten Glauben“. Fälschlich zieht Luz I 403 aus Mt 7,21 den Schluss, „daß es für die Gemeinde keine Heilsgewißheit gibt“. Vgl. dagegen Mt 11,28ff; 26,20. Wie Schlaffer auch Kierkegaard (EG 740). 15 Lk 13,26f keine echte Variante: Riesner, 354 (nach Schlatter).

9. Schlussmahnungen, 7,21-27

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nicht existieren (Ich habe euch niemals gekannt), weil der Wille Gottes nicht getan wurde. Dreimal betonen die Betreffenden, sie hätten in deinem Namen gehandelt.16 Das sieht aus wie ein Handeln wahrer Apostel (vgl. Apg 2,38; 3,6.16; 4,7ff; 1Kor 5,4f usw.). Aber wieder gilt: Der Wille Gottes wurde nicht getan. Von außen betrachtet sind ihre Taten extraordinär: 1) Wir haben in deinem Namen prophezeit (ἐπροφητεύσαμεν [eprophēteusamen]). Die Ausführungen des Paulus in 1Kor 14,1ff zeigen, dass jedes Mitglied der Gemeinde die Gabe des Prophezeiens (προφητεύειν [ prophēteuein]) haben sollte. Im Kontext des NT17 ist deutlich, dass die Propheten in der Gemeinde Jesu ebenso wie die Lehrer, mit denen sie aufs Engste zusammengestellt sind (Apg 13,1; 1Kor 12,28f; Röm 12,6f; schon Mt 23,34), „Wortverkündiger“ sind.18 Es handelt sich um vollmächtige Verkündiger, deren Predigt auf das Wort Gottes gestützt ist. Es ist also nicht richtig, wenn Gerhard Friedrich schreibt, die Propheten würden reden, „ohne an die Schrift und Tradition gebunden zu sein.“19 Aber gerade dann, wenn man unter prophezeien die vollmächtige Predigt versteht, evtl. unter Einschluss von Zukunftsweissagungen (Apg 11,28; 21,10f ), macht Mt 7,22 betroffen. Während viele – nicht „wenig“! – sich darauf berufen, im Namen Jesu gepredigt zu haben, schließt sie Jesus aus der Gemeinschaft der Erlösten aus. Mt 7,22 ist demnach kein Gerichtswort an einen dubiosen „Propheten“-Stand, sondern eine erschütternde Mahnung an die ganze Kirche: War das, was sie predigte, wirklich nach dem Willen Gottes? 2) Wir haben in deinem Namen Dämonen ausgetrieben. Sie versuchen es nicht nur wie die Jünger in Mt 17,16, sondern sie vollbrachten die Austreibung zunächst im Sinne von Mt 10,8; Mk 16,17. Man kann hier sogar an das gesamte heilende Wirken denken, von dem seit einiger Zeit in den Kirchen vermehrt die Rede ist. Zum Gelingen solcher Dämonenaustreibungen vgl. Mk 9,38; Lk 9,49. Sind sie irgendetwas schuldig geblieben am Auftrag Jesu? 3) Wir haben in deinem Namen viele Wunder getan (δυνάμεις πολλὰς ἐποιήσαμεν [dynameis pollas epoiēsamen]). Welche Kirche wäre heute nicht stolz darauf? δυνάμεις [dynameis] hat hier den Sinn von „Krafttaten“, „Wundertaten“.20 Paulus hat diese „Wundertaten“ in seine Liste der Geistesgaben aufgenommen (1Kor 12,10.28.29). Aber auch die falschen Christusse und Propheten der Endzeit können Wunder tun, nicht zuletzt der Antichrist und sein Prophet (Mt 24,24; 2Thess 2,9; Offb 13,2; 13,11ff ). Wunder tun ist also 16 17 18 19 20

Nach BDR § 206,4 liegt hier ein Dat. instr. vor. Vgl. dazu G. Friedrich, im Art. προφήτης usw., ThWNT, VI, 1959, 829f. Vgl. wieder Friedrich a.a.O., 856. Friedrich a.a.O. Vgl. W. Grundmann, Art. δύναμαι usw., ThWTN, II, 1935, 302ff.

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kein Tatbestand, der eine eindeutige Zuordnung erlaubt. Wie zwielichtig „Prophetie“ und „Wunder“ schon in der Zeit des AT sein konnten, zeigen Stellen wie Jer 14,13f; 27,14f; Ez 13,1ff einerseits und Ex 7,11f.22; 8,3 andererseits (vgl. auch 1Kor 13,1f ). Dass an jenem Tag im biblischen Kontext „am Tage des Gerichts“ bedeutet, beweisen z.B. Jes 2,11.17; Sach 14,6. Vers 23 bringt das abschließende Wort Jesu: Und dann werde ich ihnen unumwunden erklären: Ich habe euch niemals gekannt. Weicht von mir, ihr Übeltäter! Als Erstes klärt sich hier endgültig, dass Jesus der Weltenrichter ist, der Richter im Jüngsten Gericht. Denn seine Erklärung erfolgt in letztgültiger, göttlicher Hoheit. Mt 7,23 bestätigt also seine Aussage in Joh 5,24ff. Mt 25 wird sie noch einmal bestätigen, ebenso Offb 20,11ff. Man könnte darüber staunen, dass Jesus so früh schon über seine Rolle als Weltenrichter sprach. Aber da er von Anfang an als Messias auftrat, war damit auch die Stellung als Weltenrichter gegeben (vgl. Mt 16,27). Nicht nur seine Erklärung geschieht in göttlicher Hoheit, sondern auch der Vollzug seines Richterspruchs: Weicht von mir! Hier wird das Ich Jesu geradezu mit dem Reich Gottes und mit dem ewigen Leben in eins gesetzt. Ob καὶ τότε [kai tote] (Und dann) besagt, dass sich die Verworfenen schon in V. 22 gegen die erwartete Verurteilung verteidigt haben, ist nicht ganz sicher. Immerhin betrachtete Joachim Jeremias Mt 7,22 als „Einwand gegen das bereits ergangene Urteil“.21 Im Deutschen ist ὁμολογήσω [homologēsō] schwierig wiederzugeben. Wörtlich heißt es „ich werde zusagen“ oder „eine Aussage machen“ oder „bekennen“. Bauer-Aland schlagen für Mt 7,23 unumwunden erklären vor,22 Otto Michel sieht hier eine Proklamation vor Gericht gegeben,23 Zahn eine „unverhohlene Aussage“.24 Gemeint ist eine forensische, endgültige Aussage, die keinen Zweifel mehr lässt. Ob die Worte Ich habe euch niemals gekannt (οὐδέποτε ἔγνων ὑμᾶς [oudepote egnōn hymas]) auf eine synagogale Bannformel zurückgehen,25 ist strittig. Auszugehen ist jedoch vom hebr. ‫ [ ידע‬jdʿ], das in der Regel mit γινώσκειν [ginōskein] wiedergegeben wird.26 ‫ [ ידע‬jdʿ] ist mehr als ein technisches oder erkenntnismäßiges „kennen“. Es bedeutet vielmehr an zahlreichen Stellen die „praktische emotionale und volitive … Bekanntschaft“,27 ja ganz umfassend die Gemeinschaft 21 22 23 24 25 26 27

Jeremias Gleichnisse, 205. Bauer-Aland, 1152. Im Art. ὁμολογέω usw., ThWNT, V, 1954, 208. Zahn, 320. So Michel a.a.O. im Anschluss an Strack-Billerbeck I 469. Ablehnend Luz I 406. R. Bultmann, Art. γινώσκω usw., ThWNT, I, 1933, 696. So G.J. Botterweck im Art. ‫י ַָדע‬, ThWAT, III, 1982, 494.

9. Schlussmahnungen, 7,21-27

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(vgl. Ex 33,12; Ps 1,6; 36,11; Jes 1,3; 31,34; Mt 11,27). Die feierliche, forensische Aussage des Weltenrichters: Ich habe euch niemals gekannt, heißt also: „Ich habe niemals mit euch Gemeinschaft gehabt.“28 Im äußeren Sinn handelt es sich wohl um bekennende Christen. Im Innenverhältnis aber handelt es sich um Menschen, die keine persönliche Gemeinschaft mit Jesus hatten. Denn wer nicht den Willen Gottes tut, kann keine Gemeinschaft mit Jesus haben (vgl. 1Joh 1,6; 2,3ff; 3,7ff; 4,5f ). Klar wird jetzt auch vollends, was sich schon länger andeutete: dass auch die Christen ins Gericht kommen (vgl. Mt 5,13.20.25f.29f; 6,1ff.15; 7,2.19). Sie müssen vor dem Richterstuhl Christi erscheinen (2Kor 5,10). Die Entscheidung fällt an dem Tun, das ihr Glaube hervorgebracht hat. Dieses Tun wird verschieden bezeichnet: als „Frucht“ (Mt 7,16ff; Joh 15,5), als „tätiger Glaube“ (Gal 5,6), als „Werk des Glaubens“ (Jak 2,14ff ), als „Gottes Werk“ (Joh 6,28f ) oder einfach als „Werk“/„Werke“ (Offb 14,13). Eine Nachfolge in Gestalt eines reinen Denkens oder als konsequenzloses Glauben gibt es im NT nicht. Wo dieses Tun fehlt, da ergeht das schneidende, letztgültige Urteil Jesu: Weicht von mir, ihr Übeltäter! Von mir: das heißt vom dreieinigen lebendigen Gott und seinem ewigen Reich. Für Übeltäter steht wörtlich „Täter der Gesetzlosigkeit“29 oder „die Gesetzlosigkeit Bewirkende“ (ἐργαζόμενοι τὴν ἀνομίαν [ergazomenoi tēn anomian]). In der griech. Formulierung ἐργάζεσθαι [ergazesthai] liegt so etwas wie Trauer und Zorn zugleich. Denn ἐργάζεσθαι [ergazesthai] ist ja das Verb zu ἔργον [ergon] = „Werk“. „Werke“ haben sie also vollbracht – und was für welche! Aber nicht die Werke, die Gott wohlgefallen. An dieser Stelle merkt man, welche Bedeutung Röm 12,2 mit seinem „prüfen“ (δοκιμάζειν [dokimazein]) hat. Ein Leben als Christ zu führen und dann im Gericht zu scheitern – welche Tragödie! Das Wort von Mt 7,23 ist endgültig, wie Johannes Chrysostomus sagt30 (vgl. Mt 25,41). Auf einen Punkt sei noch hingewiesen: Jesus hat das „Weicht von mir …“ bei dieser Gelegenheit nicht frei formuliert, sondern aus Ps 6,9 übernommen, das in der LXX-Fassung fast genauso lautet. In Mt 25,12.41 und wohl auch 13,41 hat er dann Ps 6,9 noch einmal benutzt. Don Carson hat aus dem Umstand, dass in Ps 6 ein Leidender spricht, die Folgerung gezogen, dass in der Sicht Jesu seine Messianität und sein Leidensweg zusammengehören.31 Nahe verwandt mit Mt 7,23 ist 2Tim 2,19. 28 29 30 31

Vgl. Schlatter, 118; Fiedler, 194; Zahn, 320f; France, 149. Schniewind, 104. Texte KV IV, 566. Carson, 193.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

Auffallenderweise erhält die Berglehre bei Mt und Lk denselben Abschluss, nämlich in Gestalt der Bildworte über den Hausbau (Mt 7,24-27; Lk 6,47-49). Das kann als ein Hinweis darauf gelten, dass Jesus selbst das Lehren in der damaligen Zeit mit diesen Bildworten abgeschlossen hat. Jeder also (οὖν [oun]), der diese meine Worte hört und sie tut, gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf den Felsen baute (V. 24): Das also zieht die Konsequenz aus den vorausgehenden Darlegungen. Diese meine Worte sind alle Worte Jesu im Kontext der Kapitel 5–7, das heißt von Mt 5,2 an (vgl. V. 28f ).32 Das Wortpaar hören und tun entspricht dem Wortpaar „tun und lehren“ in Mt 5,19. Die Jünger sollen sich also am Vorbild Jesu ausrichten. Zugleich zeigen Lk 8,21 und Jak 1,22, dass Jesu Worte mit den Worten des Vaters auf derselben Stufe stehen. Es kann also trotz der bedenkenswerten Ausführungen von David Flusser keine Rede davon sein, dass Jesus in Mt 7,21ff „den Kult seiner Person“ abwehren wolle.33 Stattdessen wird die Kirche Jesu Christi erneut darauf hingewiesen, dass sie sich nicht nur über das hören der Worte Jesu definieren kann. Wer Hörer und Täter zugleich ist (vgl. Jak 1,22ff ), der gleicht einem klugen Mann. Das Griechische spricht von einem ἀνὴρ φρόνιμος [anēr phronimos]. φρόνιμος [ phronimos] heißt „verständig“, „klug“, „einsichtsvoll“.34 Wenn Georg Bertram den φρόνιμος [ phronimos] mit den Worten beschreibt, es sei einer, „der die eschatologische Lage des Menschen erfaßt hat“,35 so ist das zu eng. Vermutlich steht hinter φρόνιμος [ phronimos] die hebr. Wurzel ‫[ שׂכל‬śkl], obwohl das Verb in der LXX meist mit συνιέναι [synienai] oder νοεῖν [noein] wiedergegeben wird.36 Die Grundbedeutung von ‫[ שׂכל‬śkl] ist „einsichtig sein“, das gelegentlich an „vernünftig sein“ streift.37 „Am häufigsten erscheint die Wurzel śkl in den ‚Lehrbüchern‘“ des AT38 (Prov, Ps, Hiob, auch Dan und Sir). Gemeint ist ein Mensch, der Gott anerkennt und seine Verhältnisse nach Gottes Willen ordnen will (Prov 1,3). Wendet Jesus ein Wort aus dem Denk- und Sprachhorizont von ‫[ שׂכל‬śkl], nämlich φρόνιμος [ phronimos] = „einsichtig“, klug, auf seine Zeit an, dann drückt er damit aus, dass man ihn als Messias erkennt, sich ihm öffnet und ihm nach Gottes Willen folgt. Man denke auch an Aussagen wie Lk 19,41 „Wenn doch auch du er32 33 34 35 36 37 38

Flusser, 99; Fiedler, 194. Gegen Flusser, 178.98. Bauer-Aland, 1728. Im Art. φρήν usw., ThWNT, IX, 1973, 230. Ebenso Luz I 414; Jeremias Gleichnisse, 43. K. Koenen, Art. ‫שׂכל‬, TWAT, VII, 1993, 785. Vgl. Koenen a.a.O., 781ff. Koenen a.a.O., 784.

9. Schlussmahnungen, 7,21-27

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kenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!“ oder Lk 16,8 „Der Herr lobte den ungetreuen Verwalter, weil er klug (φρονίμως [ phronimōs]) gehandelt hatte.“ In alledem stoßen wir auch wieder auf den stark rationalen, weisheitlichen Zug der Lehre Jesu (vgl. Ps 14,2; 90,12; 94,8).39 Jener kluge Mann baute sein Haus auf den Felsen. Fels ist aber auch eine Bezeichnung Gottes (Dtn 32,4ff; Ps 18,3; 31,3; 42,10; 62,8). Wir werden hier beides hören müssen: Baue auf eine zuverlässige Grundlage – baue auf Gott. Wenn später aus Petrus eine πέτρα [ petra] wird (Mt 16,18), dann kann dies nur durch ein Wunder geschehen.40 Vermutlich sind diejenigen im Recht, die im Futur ὁμοιωθήσεται [homoiōthēsetai] einen Hinweis auf das Geschehen im Jüngsten Gericht sehen.41 Und als der Regen herabfiel und die Wasserfluten kamen und die Stürme wehten und gegen jenes Haus tobten, da fiel es nicht, denn es war auf den Fels gegründet (V. 25): Hier lehnt sich Jesus an Ez 13,10-15 an. Doch finden sich ähnliche Bilder auch in Hiob 1,19; Ps 32,6; Jes 28,15f; Sir 22,16 (19). Angesichts der weiten Verbreitung solcher Bilder, die ja aus dem Alltagsleben in Israel resultieren, ist es fraglich, ob die von Joachim Jeremias gebrauchte Bezeichnung „Sintflutgleichnis“42 zutrifft. Klar ist allerdings der Sinn des Bildes: Es zeichnet das Hereinbrechen des göttlichen Gerichts. βροχή [brochē], neutestamentliches Hapaxlegomenon, bedeutet den Regen, spezifischer noch den „Platzregen“.43 Die Wasserfluten, οἱ ποταμοί [hoi potamoi], sind „die Gießbäche, … die bei schwerem Regen plötzl. alles mit sich fortreißen“.44 Joachim Jeremias denkt an den „vom Sturm45 begleitete(n) wolkenbruchartige(n) Herbstregen“,46 Karl Heinrich Rengstorf ganz allgemein an „die Herbst- und Winterregen“.47 Sie sind gefährlich und unberechenbar, und den durch die Schluchten und Rinnen „des Landes schießenden Wassermassen“ ist nur das sorgfältig gebaute Haus „gewachsen“.48 In Jesu Beispiel: Das auf den Fels gegründete Haus fiel nicht. Wieder nehmen wir wahr, dass die

39 Vgl. auch Carson, 194. 40 Sind Jesu „Bau“-Beispiele (Mt 7,24ff; 16,18; 7,3ff ) auch von seinen Berufserfahrungen geprägt? Flusser, 104, spricht von einem „Handwerkervergleich“. 41 So Luz I 413; Zahn, 321. 42 Vgl. Jeremias Gleichnisse, 46.87.163.170; Schniewind, 105. 43 Bauer-Aland, 294; BDR § 126,9. 44 Bauer-Aland, 1392. 45 ἄνεμοι [anemoi] in Mt 7,25.27 bedeutet „Stürme“: Bauer-Aland, 128. 46 Jeremias Gleichnisse, 193. 47 Im Art. ποταμός usw., ThWNT, VI, 1959, 603. 48 Rengstorf a.a.O.

430

Die Bergpredigt, 5,1–7,29

Rabbinen häufig eine ähnliche Bildsprache benutzten.49 Interessant ist im Zusammenhang damit Flussers Urteil: „Das Gleichnis vom Haus auf dem Felsen wird bei Matthäus (7,24-27) vorzüglich erzählt.“50 Das Verhältnis dieser matthäischen Fassung zur lukanischen in Lk 6,47-49 wird in der Literatur häufig thematisiert. Dabei besteht Einigkeit über mindestens zwei Punkte: 1) „Matthäus gibt die palästinischen Verhältnisse … besser wieder als Lukas, der an ein Haus am Flußufer dachte“;51 2) beide Fassungen stimmen im Wesentlichen, vor allem im Zielpunkt, überein.52 Vermutlich hat Rainer Riesner recht, wenn er schreibt, „daß wir es mit zwei voneinander unabhängigen Parallelüberlieferungen zu tun haben“.53 Der 26. Vers ist parallel zum 24. Vers gebaut: Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf den Sand baute. Der Kontrast liegt in tut einerseits und nicht tut andererseits,54 und nicht darin, ob „faith in Christ is whole-hearted“.55 Bauen in Mt 7,24-27 zwei Jünger, wie Jeremias meinte?56 Diese Annahme liegt nahe, aber Jesu Beispiel ist sehr allgemein gehalten, und so belässt man es am besten mit Schlatter57 bei „zwei Männern“. Die Kommentare sehen richtig, dass ein Unterschied zwischen den beiden Häusern lange nicht wahrgenommen wird und erst bei der Katastrophe ans Licht kommt.58 Dann aber gleicht (ὁμοιωθήσεται [homoiōthēsetai] als Futur!) der Zweite einem törichten Mann. Hinter töricht, im Griech. μωρός [mōros], steht wohl das hebr. ‫[ נָָבל‬nābāl].59 Dieser hebr. Begriff charakterisiert nicht den „Mangel an Verstand“,60 sondern den Mangel an „rechte(r) Gotteserkenntnis“, ja mehr noch: den „Abfall von Gott“.61 Gerade so gebraucht es auch Jesus in Mt 5,22. Der törichte Mann gibt sich also wie ein echter Nachfolger Jesu, ist aber innerlich nicht mit Jesus verbunden und ungehorsam, weil er Jesu Worte nicht tut. Von daher bekom49 Flusser, 98ff; Rengstorf a.a.O., 599; BQ X, 4.2; b BQ 117b.118a; Pes III, 7; Rosch Hasch II, 5; Taan III, 7; Strack-Billerbeck I 469. 50 Flusser, 103. 51 Riesner, 348. 52 Riesner, 347ff. 53 Riesner, 347f. 54 France, 149. 55 So Tasker, 84. 56 Jeremias, 169. 57 Schlatter, 119. 58 So Tasker, 85; Schlatter a.a.O.; Carson, 194. 59 Vgl. G. Bertram, Art. μωρός usw., ThWNT, IV, 1942, 838ff; Art. ‫נָָבל‬, ThWAT, V, 1986, 185. 60 Bertram a.a.O., 838. 61 Bertram a.a.O.; Maiböck a.a.O., 175ff.

9. Schlussmahnungen, 7,21-27

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men die Mahnungen des Jakobus in Jak 1,22ff ihr Gewicht. Im Bild gesprochen: Der törichte Mann baute sein Haus auf den Sand, das heißt, auf das falsche Fundament. Falsch also ist das bloße Hören, mag man es auch mit Leidenschaft geübt haben. Der christologische Bezug ist durch die Wendung meine Worte gegeben. Zum Wort Jesu merkte Schlatter an: „Die einen werden an ihm zu Toren, die anderen zu Weisen.“62 Das Geschick des Törichten wird weitgehend mit Worten aus dem 25. Vers erzählt: Und als der Regen herabfiel und die Wasserfluten kamen und die Stürme wehten und gegen jenes Haus stießen, da fiel es. Und sein Fall war schwer (V. 27).63 Es trifft wohl zu, dass stoßen an (προσκόπτειν [ proskoptein]) in V. 27 eine Steigerung der Wucht gegenüber „toben gegen / sich losstürzen auf (προσπίπτειν [ prospiptein])“ in V. 25 bedeutet.64 Aber das Haus in V. 27 fällt nicht, weil Regen/Wasserfluten/Stürme schlimmer wären als in V. 25, sondern weil es auf den Sand gebaut war. Unter den Regengüssen und im Toben der Wasserfluten und der Stürme wird der Sand weggespült. Das Haus verliert sein Fundament und fällt ein. Und sein Fall war schwer: Es ist eindrücklich, dass sowohl Matthäus als auch Lukas die Bergpredigt mit diesem Wort Jesu schließen lassen. Beiderseits bildet μεγάλη/μέγα [megalē/ mega], „groß“, schwer, in betonter Weise das letzte Wort.65 Mit den Einladungen in Gestalt der Seligpreisungen hatte Jesus begonnen (Mt 5,3-12 / Lk 6,20-23). Mit ernsten Gerichtsmahnungen schließt er. Damit ist von vornherein klar, dass seine Nachfolger kein leichtes Leben und kein „Erfolgschristentum“ erwartet. Das Glück des ewigen Lebens und der hohe Lebenseinsatz im Nachfolgeweg stehen von Anfang an fest. Augustinus fürchtete, dass die Christen angesichts dieser ernsten Mahnungen überhaupt den Mut zum geistlichen und gemeindlichen Bauen verlieren könnten. Einer solchen Mutlosigkeit trat er entschieden entgegen und schrieb in einem seiner Briefe: „Wenn man also auf diese Worte hört, so baut man.“66 Ulrich Luz diskutiert darüber, ob man den Felsen von Mt 7,24 auch geistlich auf Christus und das Wort Gottes deuten könne. Seiner Meinung nach werde dadurch der Text „verfehlt“.67 Man wird jedoch die Freiheit zu solchen

62 63 64 65 66 67

Schlatter, 119. Jesus kann sich dabei auch auf Worte wie Jes 28,17; Sir 22,21f; Sap Sal 4,4 stützen. Vgl. Fiedler, 195; Flusser, 302. Vgl. France, 149. Texte KV III, 80. Luz I 414 unter Bezugnahme auf Georg Neumarks Lied: „Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut“ (EG 369,1).

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

geistlichen Deutungen lassen müssen,68 auch wenn Mt 7,24-27 eine Parabel ist und keine Allegorie.

10. Schlussnotiz des Matthäus, 7,28-29 I Übersetzung 28 Und es geschah, als Jesus mit diesen Worten zu Ende gekommen war, dass sich die Menge entsetzte über seine Lehre. 29 Denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.

II Struktur Der Evangelist schildert hier die hauptsächliche Reaktion der Hörer der Bergpredigt. Er tut dies in seinem knappen Stil mit kurzer Situationsangabe (V. 28a), der Angabe der Handelnden und der Reaktion selbst (V. 28b) und schließlich einer kurzen Begründung (V. 29). Solch kommentierende oder geschichtliche Notizen der Evangelisten finden sich in allen Evangelien. Sie helfen uns die Geschehnisse richtig einzuordnen. Die nächste Parallele zu Mt 7,28f ist Lk 7,1. Vom ἐκπλήσσεσθαι [ekplēssesthai] der Zeitzeugen Jesu ist aber öfter die Rede (vgl. Mt 13,54; 19,25; 22,33; Mk 1,22; 6,2; 7,37; 10,26; 11,18; Lk 4,32; 9,43; auch Joh 7,46; Apg 13,12).

III Einzelexegese Und es geschah, als Jesus mit diesen Worten zu Ende gekommen war (ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς τοὺς λόγους τούτους [hote etelesen ho Iēsous tous logous toutous]), V. 28: Das ist die Situationsangabe, die Matthäus dem Leser an die Hand geben will. Sie hat a) eine chronologische Bedeutung (ὅτε [hote]!):1 Zu einem bestimmten Zeitpunkt / in einem bestimmten Zeitrahmen schloss Jesus diese Unterweisung ab, und b) eine inhaltliche Bedeutung: Jesus ließ es damals mit diesen Worten bewenden und beabsichtigte nicht, mit ähnlichen Lehrvorträgen fortzufahren. Solche Einschritte, die typisch sind für Matthäus

68 Weitere Beispiele bei Tasker, 84f. 1 Vgl. BDR § 382; Bauer-Aland, 1190f.

10. Schlussnotiz des Matthäus, 7,28-29

433

(vgl. 11,1; 13,53; 19,1; 26,1; aber auch Lk 7,1), markieren den Übergang zu anderen Wirkungsfeldern.2 … dass sich die Menge (οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]) entsetzte über seine Lehre: Auffallenderweise spricht Matthäus von der Menge oder „den Massen“ und nicht von den Jüngern. Das zeigt, dass er völlig mit Lukas d’accord ist, der ja auch in Lk 6,17 bemerkt, dass „eine große Menge des Volkes“ die Bergpredigt hörte. Für Matthäus ist dies ebenfalls von 5,1 und 7,28 her klar.3 Vielleicht dürfen wir in die Reaktion von Mt 7,28 sogar die Jünger mit einbeziehen. ἐκπλήσσεσθαι [ekplēssesthai] hat Matthäus gerne verwendet (vgl. wieder 7,28; 13,54; 19,25; 22,33). Es bedeutet „außer sich geraten“, „fassungslos sein“, in diesem Sinne auch sich entsetzen. Die Anwesenden konnten also das Geschehen nicht in ihre bisherige Erfahrung einordnen. Es schwingt sicher ein fascinosum und tremendum mit.4 Was die Menge außer Fassung brachte, war seine Lehre (ἡ διδαχὴ αὐτοῦ [hē didachē autou]), nicht etwa ein Wunder Jesu oder sein Auftreten oder seine Gestalt oder seine Rhetorik. Vers 29 gibt weiteren Aufschluss: Denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten. Auf zwei Aussagen kommt es hier an: 1) Wie in V. 28 ist es das lehren Jesu, das die Hörer fassungslos macht. Ebenso ist es in Mt 13,54; 22,33; Mk 1,22.27; 6,2; Lk 4,32; Joh 7,46. 2) Jesus erschien wie einer, der Vollmacht hat (ὡς ἐξουσίαν ἔχων [hōs exousian echōn]). Mit Recht kann man damit Mose vergleichen, der nach den Rabbinen in der Vollmacht Gottes spricht (b Chag 15a; b Sanh 99a; b Meg 31b).5 Es ist ja Gott selbst, der solche Vollmacht verleiht.6 Nur muss man dabei im Auge behalten, dass Jesu Vollmacht als die des Sohnes Gottes weit höher ist als die des Mose (vgl. Mt 1,18ff; 3,17; 4,1ff ). Das aramäische Äquivalent ist ‫[ ְרשׁוּת‬rᵉschūt]. Sehr schön definiert Werner Foerster ἐξουσία [exousia] als „die Macht, die ‚zu sagen hat‘“,7 also Verfügungsrecht und Verfügungsmacht in einem. Jesu Lehre ist demnach die Lehre, die Gott selbst durch ihn erteilt.8 Und nicht wie ihre Schriftgelehrten (καὶ οὐχ ὡς οἱ γραμματεῖς αὐτῶν [kai ouch hōs hoi grammateis autōn]): Das ihre ist weder Polemik9 noch Herabsetzung, sondern traditionelle Zugehörigkeit. Ihre Schriftge2 Vgl. noch G. Delling, Art. τέλος usw., ThWNT, VIII, 1969, 61. 3 Anders Jeremias Gleichnisse, 38,3: Mt 7,28 sei „im Widerspruch“ zu 5,1f. 4 Das Imperfekt hat durativen Charakter: Man war längere Zeit fassungslos. Vgl. Fiedler, 196. 5 Strack-Billerbeck I 470. 6 A.a.O. 7 Im Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1935, 563. 8 Vgl. wieder Foerster a.a.O., 565f. 9 Gegen Fiedler, 196; Davies-Allison I 729.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

lehrten, die sie seit Jahrhunderten gewohnt waren,10 lehrten im Namen ihrer rabbinischen Lehrer, das heißt in der Regel aufgrund der Lehre der vorausgehenden Traditionen und Generationen, aber „nicht mit unmittelbarer Autorität“.11 Typisch sind hier die Anweisungen in den „Sprüchen der Väter“: „Schaffe dir einen Lehrer!“12 und „Mehr Schule (‫)ישיבה‬, mehr Weisheit“.13 Man „empfängt“ die Tora jeweils von den Früheren. Jesus aber verdankt seine Lehre wie Mose und die Propheten unmittelbar dem Vater (Mt 13,54ff; Joh 7,14ff ). Man wird das Staunen der Menge sowohl auf den Eindruck dieser Unmittelbarkeit als auch auf den Inhalt seiner Lehre beziehen müssen14 (vgl. Mk 1,27; Joh 7,46).

IV Zusammenfassung Die Bergpredigt, genauer: Berglehre, gleicht einem Gebirgsmassiv mit immer neuen Gipfeln. Eine Totalansicht in allen Dimensionen ist beinahe nicht möglich. Wir heben hier nur noch einmal Weniges hervor: 1. Die Bergpredigt ist grundsätzlich eine Jüngerlehre. Auch die Menge, die dabei ist und dabei sein soll, „wird als potentielle Jüngerschaft angesprochen“.15 2. Wir haben es mit Jesu Lehre aus seiner Frühzeit zu tun. Das wird auch durch Lukas bestätigt. Bei jeder Einheit oder bei jedem einzelnen Logion genau zu sagen, wann es gesprochen wurde, ist nicht mehr möglich. Doch sind die Zusammenhänge, die Matthäus in Mt 5–7 hergestellt hat, durchaus inhaltlich plausibel. 3. Die Hypothese, dass Matthäus und Lukas auf eine Quelle Q zurückgehen,16 ist eher unwahrscheinlich. Die penible Art, wie in manchen Kommentaren eine Wort-für-Wort-Bearbeitung einer Quelle, die nach externen Kriterien bisher unauffindbar war, vorgenommen wird, lädt nicht gerade dazu ein, eine solche Größe Q vorauszusetzen. Dagegen sind Logien-Sammlungen, die vor Abfassung der Evangelien liegen, wahrscheinlich. 4. Ebenso zweifelhaft ist es, ob das Vaterunser wirklich das kompositorische „Zentrum“ der Bergpredigt17 darstellt. Diese These ist verführerisch, steht aber in Spannung mit den Schlussmahnungen Mt 7,13-23 und der 10 11 12 13 14 15 16 17

Vgl. P. Abot I, 1ff. Foerster a.a.O., 566; Strack-Billerbeck a.a.O. P. Abot I, 6.16. P. Abot II, 8 (Hillel). Bezüglich des Inhalts von Fiedler, 196f, geleugnet. Luz I 416. Vgl. K. Barth KD I/2, 231. Vgl. etwa Davies-Allison I 730. So Luz I 185.

10. Schlussnotiz des Matthäus, 7,28-29

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Schlussnotiz Mt 7,28-29. Viel eher bildet die Berglehre einen Leitfaden, dessen Anfang (Seligpreisungen) und Ende (Schlussmahnungen) besonders akzentuiert sind, um zum Tun des Willens Gottes aufzufordern und dadurch ins Reich Gottes zu kommen. 5. Von „Antithesen“ im Verhältnis zum AT sollte man nicht sprechen. Vielmehr entfaltet Jesus die Gottesoffenbarung des AT und deckt sie in ihrem Vollsinn auf. 6. Gibt es eine „Neuheit der Lehre Jesu“ oder nur Jüdisches in der Berglehre?18 Es ist richtig, dass man früher allzu schnell eine „Originalität“ der Lehre Jesu postulierte und die zahlreichen Parallelen in der rabbinischen Literatur gerne übersah.19 Heute liegt allerdings die Gefahr nahe, den zeitlichen Unterschied zwischen den Äußerungen Jesu und späteren rabbinischen Stimmen zu übersehen. Es bleibt der Tatbestand bestehen, dass eine solche kohärente Lehre mit einer solchen Prägnanz des Ausdrucks und einem solchen umfassenden Anspruch des Willens Gottes in der Geschichte Israels einmalig ist (vgl. Mk 1,22; Joh 7,46).20 7. Schniewind hat wiederholt betont: „Die Bergrede ist von Anfang bis zu [sic!] Ende nichts anderes als das Wort des Messias.“21 In der Tat ist die Person Jesu der Schlüssel zum richtigen Verständnis von Mt 5–7. Es geht Matthäus – eingerahmt durch das „Immanuel“ in 1,23 und das ἐγὼ μεθ᾿ ὑμῶν [egō meth’ hymōn] in 28,20 – mehr um den Bergprediger als um die Bergpredigt.22 Von daher ist sowohl die Aufnahme als auch die Korrektur jüdischer Lehrtradition in Mt 5–7 zu verstehen.23 Als Messias und Gottessohn besitzt Jesus die letztgültige Autorität in Auslegung und Anwendung der heiligen Schriften Israels. 8. Unausweichlich stellt sich für Hörer und Leser die Frage: Wer kann dies alles erfüllen? Die Mauer des Gesetzes wird gewissermaßen noch höher gezogen als bei den Schriftgelehrten und Pharisäern (5,20). Die Frage bleibt in Mt 5–7 noch offen. 9. Aus dem Zusammenhang des Evangeliums enthüllt sich jedoch, dass die Lösung der Frage nur in der Erlösung der sündigen Menschen durch das 18 So Fiedler, 196f. Auf frühere Literatur in dieser Richtung verweist Strack-Billerbeck I 470ff. 19 Vgl. wieder Strack-Billerbeck I 470.473. 20 Strack-Billerbeck I 473 argumentiert schon ähnlich. 21 Schniewind, 106. 22 Schon Strack-Billerbeck I 474: „das Neue … liegt … allein in Jesu, in seiner Person u. seinem Werk“. 23 Es ist einseitig, wenn Davies-Allison in Mt 5–7 eine „programmatic antithesis to rabbinic doctrine“ sehen.

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Die Bergpredigt, 5,1–7,29

Kreuz Jesu gefunden werden kann. Sind die Evangelien tatsächlich Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung, dann sind wir bei der Bergpredigt folgerichtig schon auf dem Weg zum Kreuz. Die Bergpredigt wird dadurch nicht obsolet, sondern erfüllt zwei wesentliche Aufgaben: Sie deckt erstens auf, was uns vor Gott fehlt (vgl. Röm 3,9ff ), und sie dient zweitens als Modell eines neuen Lebens in der Nachfolge Jesu.

1. Die Heilung eines Aussätzigen, 8,1-4

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Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1–9,38 Vorbemerkung Die Kapitel 8 und 9 bei Matthäus werden meist als geschlossener Block aufgefasst.1 Das ist insofern berechtigt, als hier die Wunder Jesu dominieren, im Unterschied zu den ganz der Lehre gewidmeten Kapiteln 5–7. Auch die Seitenreferenten lassen erkennen, dass wir es mit Stoffen aus der Frühzeit Jesu zu tun haben. Die Atmosphäre wechselt, wenn wir dann zu Mt 10 und den folgenden Kapiteln kommen: Die Auseinandersetzungen nehmen dort zu. Sobald man aber nach einer konkreten Gliederung sucht, gehen die Meinungen beträchtlich auseinander. Man vergleiche den Überblick zu Anfang des zweiten Bands von Davies-Allison.2 Davies-Allison selbst schlagen, weil sie „Matthew’s love of the triad“ voraussetzen, eine Triadengliederung vor und fassen Mt 8–9 in drei Gruppen zu je drei Erzählungen zusammen.3 Dem steht freilich im Wege, dass Mt 8–9 nicht neun, sondern vierzehn Berichte enthält.4 Bei der Vorliebe des Matthäus für eine Siebenergliederung (1,17) wäre es deshalb näherliegend, in zwei Gruppen zu je sieben Erzählungen zu gliedern.5 Aber das alles bleiben spekulative Vermutungen. Da uns Matthäus selbst keinen Einteilungsschlüssel an die Hand gibt, verzichtet man besser auf solche Untergliederungen.6

1. Die Heilung eines Aussätzigen, 8,1-4 I Übersetzung 1 Als er aber vom Berg herabstieg, folgte ihm eine große Menge. 2 Und siehe, ein Aussätziger kam herbei, warf sich vor ihm nieder1 und sagte: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen. 3 Und er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will, sei rein! Und sofort wurde er von seinem Aussatz gereinigt. 4 Und Jesus sagt zu ihm: Sieh zu, sage es nie1 2 3 4 5 6 1

Zum Imperfekt vgl. BDR § 328,3. Davies-Allison II 1ff. Vgl. Luz II 5. Davies-Allison II 3 (nach Gaechter). Ebenso Tasker, 85. Vgl. Aland Syn, 112ff. Wie es übrigens der jetzigen Aufteilung in die Kap. 8 und 9 entspricht. Im Ergebnis ebenso France, 151. Zum Imperfekt vgl. BDR § 328,3.

438

Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1–9,38

mand! Sondern geh hin, zeige dich dem Priester und opfere die Gabe, die Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.

II Struktur Knapper kann man kaum erzählen. Das merkt man auch beim Vergleich mit den Seitenreferenten Markus (1,40-45) und Lukas (5,12-16), die beide ausführlicher berichten. Nach Ulrich Luz „stammt der Text aus Mk 1,40-45“.2 Dass Markus aber die Vorlage für Matthäus gewesen sei, wird von der gesamten altchristlichen Überlieferung und deren Auslegungen verneint. Wie sehr man sich bei solchen Markus-Hypothesen verrennen kann, zeigt wiederum Luz, der jede Wortveränderung gegenüber Mk 1,40-45 mit hypothetischen Überlegungen des Matthäus erklären will und sich sogar Gedanken über den „Papierkorb“ des Matthäus macht.3 Der Aufbau des kleinen Stückes Mt 8,1-4 ist klar: 1) Situationsangabe (V. 1-2), 2) Heilung (V. 3), 3) abschließende Ermahnung (V. 4).

III Einzelexegese In V. 1 ist die Rede von dem Berg (τοῦ ὄρους [tou orous], mit Artikel). Das ist ein deutlicher Rückverweis auf „den Berg“ von Mt 5,1. Jesus kommt also von der Bergpredigt zurück. Der Berg muss in demselben allgemeinen Sinn verstanden werden wie in 5,1: also im Sinne von Bergland und einsamer Gegend. Es ist natürlich, dass er von dort herabstieg, nämlich zur tieferen Uferregion am See Genezareth.4 Markus 1,40ff und Lk 5,12 lassen beide einen Ort in der Nähe von Kapernaum vermuten, machen aber ebenso wenig wie Matthäus eine bestimmte Ortsangabe. In V. 1 hält Matthäus außerdem fest, dass Jesus eine große Menge folgte (ἠκολούθησαν αὐτῷ ὄχλοι πολλοί [ēkolouthēsan autō ochloi polloi]). Das ist nach 7,29 die zweite ausdrückliche Bestätigung, dass neben dem engeren Jüngerkreis tatsächlich eine größere Volksmenge die Bergpredigt hörte. Nachfolgen ist hier im äußeren Sinn gebraucht: Sie zogen hinter ihm her.5 Fast unvermittelt setzt die Begegnung mit dem Aussätzigen ein: Und siehe, ein Aussätziger kam herbei, warf sich vor ihm nieder und sagte … (V. 2). 2 Luz II 8. 3 Luz II 8f. Vor allem Bultmann hat einer solchen Sicht die Bahn gebrochen, vgl. Gesch, 376ff. 4 Für Fiedler, 199; Luz II 9 liegt hier eine „Mose-Sinai-Typologie“ vor. Das ist möglich. Aber wie hätte Matthäus sonst den Anschluss an die Bergpredigt herstellen sollen? 5 Nämlich vom Berg herab. Zahn, 332.

1. Die Heilung eines Aussätzigen, 8,1-4

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Aussätzige (λεπροί [leproi]) sind Jesus mehrfach begegnet (Lk 17,12ff; Mt 11,5 par). Aussatz, griech. λέπρα [lepra], hebr. ‫[ ָצַרַעת‬zāraʿat], wird in der sog. Aussatz-Tora Lev 13f ausführlich besprochen.6 In der genaueren medizinischen Bestimmung ist man vorsichtig geworden. Man spricht heute nur noch „von nicht näher spezifizierbaren Hautanomalien, die Diagnose und Unreinerklärung durch den Priester … erfordern und Quarantänemaßnahmen … nach sich ziehen“.7 Darin ist die klassische Lepra mit eingeschlossen. Außerdem spricht das AT von einem Aussatz an Kleidern und Häusern, wobei die sachliche „Problematik ungeklärt ist“.8 Die Folgen einer Aussatz-Diagnose waren für die Betroffenen verheerend. Das normale Leben blieb ihnen bis zur Feststellung einer Heilung verschlossen. Sie mussten anderen Menschen zurufen „Unrein, unrein!“ (Lev 13,45) und damit jeden warnen, in ihre Nähe zu kommen (vgl. Lk 17,12f ). Tempel, Synagoge, Wohnhäuser, Dorfgemeinschaft, Festversammlungen – dies alles blieb ihnen verschlossen. Schon dass der Aussätzige herbeikam und sich vor Jesus niederwarf,9 war kühn. Er übertrat damit das Abstandsgebot (Lev 13,46). Aber warum kam er überhaupt? Der Ruf Jesu muss schon damals völlig ungewöhnlich gewesen sein. Mt 8,2 bestätigt, was Mt 4,23f sagte: Bereits vor der Zeit der Berglehre hat Jesus Heilungen vollbracht. Es bleibt ein Ruhmesblatt des Talmud, dass er die Wundertaten Jesu bestätigt, etwa an der bekannten Stelle b Schab 104b: „er brachte Zauberkünste aus Ägypten“. Hingegen hat die kritische christliche Theologie die Wunder weithin geleugnet.10 Nicht minder bemerkenswert ist, was der Aussätzige sagte: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen. Bis auf das Herr (κύριε [kyrie]), das bei Markus fehlt, stimmen hier Matthäus (8,2), Markus (1,40) und Lukas (5,12) wortwörtlich überein. Dabei kann offenbleiben, ob dem griech. κύριε [kyrie] ein aramäisches ‫ַר ִבּי‬11 [rabbī ] oder ein ‫[ ָמִרי‬mārī ] entspricht.12 Höflichkeitsanrede ist das κύριε [kyrie] jedenfalls nicht, sondern Anerkennungsanrede und Würdebezeichnung. Vor allem aber fordern die Worte wenn du willst, kannst 6 Vgl. Th. Seidl, Art. ‫ָצַרַעת‬, ThWAT, VI, 1989, 1127ff; W. Michaelis, Art. λέπρα usw., ThWNT, IV, 1942, 240. 7 Seidl a.a.O., 1132. 8 Seidl a.a.O. 9 Griech. προσεκύνει [ prosekynei], das meist eine Gottesverehrung bezeichnet und auch hier die Verehrung der Präsenz des Göttlichen in Jesus ausdrückt. Vgl. H. Greeven, Art. προσκυνέω usw., ThWNT, VI, 1959, 764. 10 Typisch hier Bultmann Gesch, 244: Wundergeschichten sind nicht „historische Berichte“. 11 Dies ist das Wahrscheinlichere nach W. Foerster im Art. κύριος usw., ThWNT, III, 1938, 1092f. 12 Vgl. wieder Foerster a.a.O., 1085ff.

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du mich reinigen unsere Aufmerksamkeit. Sie schildern einen völlig anderen Vorgang, als wir ihn von jüdischen Wundergeschichten her erwarten würden. Nach b Ber 34b „erkrankte der Sohn R. Gamliels und er sandte zwei Schriftgelehrte zu R. Chanina ben Dosa, daß er für ihn um Erbarmen flehe. Als dieser sie sah, stieg er auf den Söller und flehte für ihn um Erbarmen“. Zur selben Stunde wird der Sohn R. Gamliels gesund. Auf dieselbe Weise wird der Sohn von R. Jochanan ben Zakkaj geheilt. Das Entscheidende ist hier die Fürbitte von Chanina ben Dosa. Der Rabbi selbst heilt nicht. Ähnlich ist es bei den Propheten Elia (1Kön 17,17ff ) und Elisa (2Kön 4,18ff; 5,1ff ). Aber bei Jesus liegt die Sache völlig anders. Hier ist es er selbst, der heilt. Wenn du willst stellt völlig auf seinen Willen ab. Der Aussätzige sagt ja nicht: „Wenn Gott will.“13 Bemerkenswert sind die Worte wenn du willst aber noch aus einem anderen Grund. Sie zeigen nämlich, dass der Aussätzige nicht einfach fordert, sondern es Jesus freilässt, ob er heilen will oder nicht. Seine Bitte berührt sich also mit der späteren Gethsemane-Bitte Jesu (Mt 26,39ff ). Damit gibt der Aussätzige eine wichtige Regel zu erkennen, die für alle christlichen Gebete gilt. Auf die Bedeutung des du kannst (δύνασαι [dynasai]) haben wir schon hingewiesen. Die singuläre Heilungsmacht Jesu steht im NT außer Zweifel (vgl. Mt 9,33; 15,31). Zugleich spricht hier ein Glaube, der alle Bedenken überwindet. Eine entfernte Parallele zu Mose in Num 12,11ff ist für Mt 8,1ff anzunehmen. Aber gerade diese Mose-Parallele lässt noch einmal den gravierenden Unterschied erkennen: Mose selbst kann nicht heilen, nur Fürbitte tun, aber Jesus kann heilen. Für heilen steht hier reinigen (καθαρίζειν [katharizein]), das heißt von leiblicher und kultischer Unreinheit befreien.14 Und er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will, sei rein! (V. 3). In matthäischer Knappheit wird jede Gemütsbewegung Jesu ausgelassen (im Unterschied zu Mk 1,41). Jesus hat keinerlei Schema für seine Heilungen. Manchmal gebraucht er nur ein Wort (Mt 8,13), manchmal berührt er die Kranken oder ergreift ihre Hand (Mt 8,3.15), manchmal geht er schrittweise vor (Mt 7,33ff; Joh 9,6ff ). Gerade das Fehlen jedes Usus oder Schematismus zeigt, dass er nicht mit Magie heilt und dass er völlig souverän ist. Das Ausstrecken der Hand ist relativ selten (vgl. Mt 14,31). Das Berühren eines Aussätzigen machte unrein15 (Lev 5,2ff; 14,33ff ). Jesus hätte durch ein einziges Wort heilen können, ohne sich durch Berührung unrein zu machen. Warum also berührte er ihn? Matthäus gibt hier keine direkte Auskunft. Man 13 Vgl. Luz II 9. 14 Vgl. Bauer-Aland, 785; F. Hauck im Art. καθαρός usw., ThWNT, III, 1938, 427ff. 15 Strack-Billerbeck I 474; Davies-Allison II 13; France, 152.

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kann jedoch vermuten, dass das Berühren mit der Hand die persönliche Zuwendung ausdrückt: Ja, ich als Sohn Gottes und Messias handle jetzt an dir. Vielleicht kommt noch eine zweite Bedeutung hinzu: Das Ausstrecken oder Ausrecken der Hand symbolisiert in der Exodusgeschichte (Ex 7–14) die göttliche Macht.16 So kann es auch hier in Mt 8,3 gemeint sein.17 Ich will, sei rein! ist ein königliches Wort. Es nimmt in genauer Parallele das Anliegen des Aussätzigen auf: wenn du willst – Ich will / mich reinigen – sei rein. Das θέλω [thelō] signalisiert die „Ausführung befreiender Gewalt“.18 Der Gottessohn kann in der Gewissheit der Verbindung mit dem Vater unmittelbar handeln. Die Worte θέλω, καθαρίσθητι [thelō, katharisthēti] sind bei Mt, Mk und Lk gleich. Mit Recht bezeichnen Davies-Allison und France die Heilungsberichte in Num 12,9ff; 2Kön 5,14; b Ber 34b als „contrast“,19 wobei Davies-Allison zu Mt 8,3 bemerken: „He does not say ‚God wills‘“.20 Und sofort wurde er von seinem Aussatz (ἡ λέπρα [hē lepra]) gereinigt: Die sofortige Heilung bezeugen alle drei Synoptiker. Gegen Bultmann21 genügt es nicht, hier nur von Stileigentümlichkeiten der Wundergeschichten zu sprechen. Vielmehr erleben die Anwesenden (Mt 8,1; Lk 5,12) mit Staunen die Macht des Wortes Jesu. Nähere Einzelheiten erwähnt Matthäus nicht. Der 4. Vers macht den Auslegern besondere Beschwer: Und Jesus sagt zu ihm: Sieh zu, sage es niemand! Sondern geh hin, zeige dich dem Priester und opfere die Gabe, die Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. Wie soll der Geheilte seine Heilung verschweigen? Was ist mit der Menge von V. 1? Was heißt ihnen zum Zeugnis? Sieh zu, sage es niemand!22 bedeutet eine energische Aufforderung, vgl. das ἐμβριμησάμενος [embrimēsamenos] in Mk 1,43. Derartige Aufforderungen finden sich bei Jesus häufig (vgl. Mt 9,30; 12,16; Mk 1,34; 3,12; 5,43; 7,36; 8,30; 9,9; Lk 8,56). Bei der Erklärung kann man sich also nicht auf die Situation von Mt 8,1-4 beschränken. William Wrede hat 1901 in seinem Buch über Das Messiasgeheimnis in den Evangelien die These vertreten, für die Schweigegebote Jesu komme „ein geschichtliches Motiv“ überhaupt „nicht in Frage“.23 Alle diese Schweigegebote entsprängen

16 Ebenso Ri 6,21; Jer 1,9. Vgl. Davies-Allison II 13. 17 Für Luz II 10,12 „unwahrscheinlich“. France, 152, sieht hier den Vorrang der Liebe vor den kultischen Vorschriften. Kann man das angesichts von Mt 5,17-20 sagen? 18 So G. Schrenk, Art. θέλω usw., ThWNT, III, 1938, 48. 19 Davies-Allison a.a.O.; France a.a.O. 20 Davies-Allison II 14. 21 Bultmann Gesch, 236ff.240. 22 Zur Grammatik vgl. BDR § 364,3. 23 Nach Kümmel NT, 362f.

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nur der „theologischen … Auffassung“24 des Markus und ihm folgend der übrigen Evangelisten. Mithilfe dieser theologischen, aber ganz und gar „nicht-geschichtlichen Auffassung“25 hätten sie die Brücke von ihrem Glaubensdogma der Messianität Jesu zu dem geschichtlichen, unmessianischen Leben Jesu geschlagen. Allein dann müsste die ganze Erzählung von der Heilung des Aussätzigen aus einer lediglich theologischen Idee stammen: und zwar bei drei Evangelisten gleichzeitig. Denn der Aussätzige setzt eine messianische Wunderkraft Jesu voraus! Eine andere Erklärung bietet Adolf Schlatter. Er sieht ein wesentliches Motiv Jesu darin, dass er unnötige Kämpfe, die „seine Arbeit … voreilig“ abbrechen konnten, vermeiden wollte: „Das war sein Los, daß er anderen nicht helfen konnte, ohne daß er sich mit jeder hilfreichen Tat dem Kreuze näherte.“26 Aber Schlatter verrät schon durch seine eigene Wortwahl, dass eine solche Zurückhaltung in der Öffentlichkeit praktisch nicht zu verwirklichen war. Das wird durch Mk 1,45 und Lk 5,15 explizit bestätigt. Ulrich Luz versteht das Schweigegebot im Sinne einer Konzentration: „Tu überhaupt nichts anderes, als mit deiner Opfergabe zum Priester zu gehen.“27 Ein solches Verständnis ist nachvollziehbar. Aber noch näher liegt die Annahme, dass Jesus jede propagandistische Verkündigung unterbinden wollte, die seine Wundertaten in den Vordergrund rückte. Er wäre sonst der Versuchung der Sensation und der Show von Mt 4,5f erlegen (vgl. auch Apg 16,16ff ).28 Sieht man die Dinge so, dann spielt es auch keine Rolle, ob die Menge von V. 1 noch dabei war oder nicht.29 Matthäus jedenfalls erwähnt sie in V. 4 nicht mehr, Markus und Lukas ebenso wenig. Klar ist die Anweisung geh hin, zeige dich dem Priester und opfere die Gabe, die Mose geboten hat. Damit erfüllen Jesus und der Geheilte die Gesetzesvorschriften von Lev 14,2ff. Jesus hält also, was er Mt 5,17-20 versprochen hat. Für ihn als Messias ist die Gesetzestreue wichtiger als ein Propagandaerfolg. Übrigens hat Jesus niemals ein negatives Wort über Mose gesagt. Doch was heißt ihnen zum Zeugnis (εἰς μαρτύριον αὐτοῖς [eis martyrion autois])? Ihnen kann man verschieden beziehen: a) auf alle Israeliten, die damals lebten, repräsentiert durch die Menge von V. 1; b) auf die Priester, die Jesus zu gewinnen hoffte. Jedenfalls ist das Zeugnis (μαρτύριον [martyrion])

24 25 26 27 28 29

A.a.O., 364f. A.a.O., 364. Schlatter, 122f. Luz II 10; ähnlich Fiedler, 201. Ähnlich France, 153; Zahn, 335; Carson, 199. Nach France, 152f, war sie nicht dabei, nach Zahn, 334, jedoch anwesend.

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gegen Strathmann30 kein „Belastungszeugnis“ oder anklagendes Zeugnis, sondern wie in Mt 10,18; 24,14 ein missionarisches Zeugnis. Am besten bezieht man das ihnen auf die Priester, unabhängig davon, ob Jesus schon damals ihre Feindschaft verspürte oder nicht.31 Er will auch sie, deren Position er soeben durch seine Anweisung stützte, für das Reich Gottes gewinnen. In der Tat meldet die Apostelgeschichte, dass nach seiner Auferstehung „viele Priester dem Glauben gehorsam wurden“ (Apg 6,7).32

IV Zusammenfassung 1. Die Heilung des Aussätzigen gehört vermutlich zur ältesten Jesusüberlieferung. Denn sie ist in allen synoptischen Evangelien überliefert und von allen in die Frühzeit Jesu gesetzt, überdies in Mt 11,5 erwähnt.33 Carson macht mit Recht darauf aufmerksam, dass das Gebot, sich dem Priester zu zeigen, eine Abfassung des Matthäusevangeliums vor der Tempelzerstörung favorisiert.34 2. Mt 8,1-4 zeigt, dass Jesus mehr ist als Mose und die Propheten. Denn er hat unmittelbare Heilungsvollmacht und heilt nicht nur auf dem Weg über die Fürbitte wie Mose (Num 12,10ff ), Elia (1Kön 17,17ff ) und Elisa (2Kön 4,32ff ). Auch die neutestamentliche Gemeinde hat keine eigene, unmittelbare Heilungsvollmacht, sondern nur die im Namen Jesu oder durch die Fürbitte (vgl. Mk 9,29; 16,17f; Apg 3,6; Jak 5,14ff ). 3. Aussatz-Heilungen werden in den messianischen Propheten des AT nicht ausdrücklich erwähnt. Dass sie aber in der Jesusgeschichte eine Rolle spielen, erklärt sich daraus, dass Mose und die Propheten von Aussatz heilten (Num 12,10ff; 2Kön 5,1ff ) und Jesus als der zweite Mose (Dtn 18,15ff ) ebenfalls durch solche Heilungen erkannt werden sollte. Außerdem bestätigt sich dadurch, dass uns Jesus neues, ewiges Leben geben kann (vgl. Joh 4,14; 10,10).

30 Im Art. μάρτυς usw., ThWNT, IV, 1942, 508f. Gegen Strathmann auch Luz a.a.O., France, 153; Zahn, 336; Carson, 199. 31 Ebenso Schlatter, 123; France, 153; Zahn, 336; Schniewind, 17. 32 Mit unserer Erklärung berührt sich die von Sand, 176: Jesus beweist durch das Schweigegebot, dass er der Gottesknecht von Jes 42,2 ist. 33 Vgl. Davies-Allison II 12. 34 Carson, 199.

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2. Der Hauptmann von Kapernaum, 8,5-13 I Übersetzung 5 Als er aber nach Kapernaum hineinging, kam ein Hauptmann zu ihm, bat ihn 6 und sagte: Herr, mein Knecht liegt im Hause gelähmt, mit fürchterlichen Schmerzen. 7 Und er sagt zu ihm: Ich komme und werde ihn heilen. 8 Aber der Hauptmann gab ihm zur Antwort: Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst. Sondern sprich nur ein Wort, dann wird mein Knecht gesund. 9 Denn auch ich bin ein Mensch unter Befehlsgewalt und habe unter mir Soldaten. Und sage ich zu dem einen: Geh!, dann geht er, und zu einem anderen: Komm!, dann kommt er, und zu meinem Sklaven: Tu das!, dann tut erʼs. 10 Jesus aber, als er das hörte, staunte und sagte zu denen, die nachfolgten: Amen, ich sage euch: Bei keinem in Israel habe ich einen solchen Glauben gefunden. 11 Ich sage euch aber. Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tische liegen im Reich Gottes. 12 Aber die Söhne des Reiches werden hinausgeworfen werden in die Finsternis draußen. Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein. 13 Und Jesus sagte zu dem Hauptmann: Geh hin! Wie du geglaubt hast, geschehe es dir! Und sein Knecht wurde gesund in eben jener Stunde.

II Struktur Nur Lk 7,1-10 bildet eine Parallele zu Mt 8,5-13. Bei Markus fehlt der Bericht vom Hauptmann von Kapernaum. Wer die Q-Hypothese vertritt, nimmt deshalb an, dass unsere „Geschichte aus Q“ stammt.1 Obwohl nie jemand Q gesehen hat, weiß Ulrich Luz sogar, dass sie in Q „unmittelbar hinter der Feldrede stand (Lk 7,1-10 nach 6,20-49)“.2 Der auffallendste Unterschied zwischen Mt 8,5-13 und Lk 7,1-10 ist der, dass nach Lukas der Hauptmann jüdische Älteste (7,3) und Freunde (7,6) zu Jesus schickt, die in seinem Namen das Gespräch führen. Da aber nach jüdischer Auffassung der Bote eines Menschen wie dieser selbst ist, bleibt der Hauptmann auch nach Lk 7,1ff der eigentliche Gesprächspartner. Vermutlich hat Matthäus die Ältesten und die Freunde weggelassen, um das Ganze knapper zu halten, was niemand unter seinen jüdischen Lesern als unwahrhaftig empfand. Gelegentlich wird Joh 4,46-53 als eine weitere „Rezension“ unserer 1 Luz II 12. 2 Luz a.a.O.

2. Der Hauptmann von Kapernaum, 8,5-13

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Geschichte betrachtet,3 aber zu Unrecht. Die Unterschiede zwischen Mt 8,5ff / Lk 7,1ff und Joh 4,46ff sind so groß, dass Joh 4,46ff eine andere Begebenheit darstellen muss: 1) In Mt 8,5ff par handelt es sich um einen ἑκατόνταρχος [hekatontarchos], in Joh 4,46ff um einen βασιλικός [basilikos]; 2) in Mt 8,5ff par ist ein παῖς/δοῦλος [ pais/doulos] krank, in Joh 4,46ff der υἱός [hyios]; 3) in Mt 8,5ff par geht Jesus nach Kapernaum hinein, in Joh 4,46ff wird er in Kana angesprochen; 4) in Mt 8,5ff par will Jesus zum Hauptmann kommen, in Joh 4,46ff lehnt er zuerst ab; 5) in Mt 8,5ff heilt er erst auf Intervention des Hauptmanns durch sein Wort, in Joh 4,46ff ist das von Anfang an beabsichtigt; 6) in Mt 8,5ff par tadelt Jesus den Unglauben Israels, in Joh 4,46ff nicht; 7) in Joh 4,46ff glaubt am Ende das ganze Haus, in Mt 8,5ff par wird darüber nichts gesagt.4 Wir müssen also davon ausgehen, dass Joh 4,46ff ein anderes Wunder berichtet als Mt 8,5ff / Lk 7,1ff.5 Der Aufbau von Mt 8,5-13 ist transparent genug: 1) Die Situation, V. 5, 2) die Bitte um Heilung, V. 5-6, 3) das Gespräch zwischen Jesus und dem Hauptmann, V. 7-9, 4) Worte Jesu an seine Nachfolger, V. 10-12, 5) die Heilung, V. 13. Der Wortanteil in Mt 8,5-13 ist hoch.6 Man kann aber nicht sagen, hier „dominiert das Gespräch“.7 Denn auch der Wortanteil, der um den Glauben kreist, bleibt auf Jesu Wundermacht bezogen. Oder umgekehrt formuliert: Der „Messias der Tat“ hört niemals auf, auch der „Messias des Wortes“ zu sein.8 Es geht eben nicht um Formen wie Apophthegma oder Wundergeschichte, sondern stets um die Christologie.

III Einzelexegese Die schlichten Worte Als er aber nach Kapernaum hineinging (V. 5, vgl. Lk 7,1) deuten an, dass die Bergpredigt in der Nähe von Kapernaum stattfand. Auffällig ist, dass in V. 5 ebenso wenig wie in V. 1 der Name „Jesus“ erwähnt wird. Matthäus nennt ihn nur er. Das zeigt, dass er nach der Bergpredigt keine zu scharfe Zäsur setzen wollte und die gesamten Kapitel 5–9 in einem großen Zusammenhang sah. Seit Mt 4,13 wohnt Jesus in Kapernaum. Griech. heißt der Ort Καφαρναούμ [Kapharnaoum], hebr. ‫[ ְכַּפר נַחוּם‬kᵉphar nachūm] = „Dorf des 3 4 5 6 7 8

So Luz II 13, Hengel-Schwemer, 277. Vgl. Maier I, 258. Ebenso France, 153; Carson, 200; Zahn, 343, Fn. 30. Vgl. Luz II 12. Luz a.a.O. Zu den Begriffen vgl. Schniewind, 37.106.

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Nahum“.9 Was hat der Hauptmann (ἑκατόνταρχος [hekatontarchos]) damit zu tun? Wir müssen in Kapernaum neben einer Zollstation (Mt 9,9ff ) auch eine heidnische Garnison im Dienste des Landesfürsten Herodes Antipas (Mt 14,1ff; Lk 3,1f ) annehmen. Rainer Riesner sucht ihren Standort bei dem größeren Gebäudekomplex mit römischen Bädern, den V. Tsaferis ausgegraben hat.10 Darf man vom Titel des Offiziers (ἑκατόνταρχος [hekatontarchos], ἑκατοντάρχης [hekatontarchēs] = centurio)11 ausgehen, dann könnte es sich bei dieser Besatzung um eine centuria, eine Hundertschaft, gehandelt haben. Eine solche Besatzung wäre bei einem Grenzort mit günstigen Verkehrsverbindungen, wie es Kapernaum damals war, durchaus denkbar. Willibald Bösen spricht sehr selbstverständlich von einer „römischen Besatzung“.12 Ulrich Luz dagegen ist mit Recht vorsichtiger. Er weist darauf hin, dass Herodes Antipas eigene Truppen unterhielt.13 F.F. Bruce weist ebenfalls darauf hin, dass Herodes Antipas eine eigene „Armee“ besaß, die im Krieg gegen den Araberkönig Aretas IV. eine schwere Niederlage erlitt.14 So müssen wir die Frage, ob es sich um römische Truppen oder herodianische Söldner handelte, gegenwärtig offenlassen.15 Eins aber ist sowohl nach Mt 8,8-12 als auch nach Lk 7,3ff unzweifelhaft: Dieser Hauptmann war ein Nichtjude, also ein Heide.16 Er gehört in eine Reihe mit dem Hauptmann am Kreuz (Mt 27,34 par), dem Hauptmann Cornelius (Apg 10,1ff ) und dem Hauptmann Julius (Apg 27,1.3.43). Er kam zu ihm muss nach Lk 7,3ff als ein Herantreten an Jesus über Mittelsmänner verstanden werden. παρακαλῶν [ parakalōn] bedeutet hier er bat ihn. Und sagte: Herr, mein Knecht liegt im Hause gelähmt, mit fürchterlichen Schmerzen (V. 6): Der zentrale Inhalt dieses Verses ist der Glaube des Hauptmanns. Denn seine Bitte (vgl. V. 5) resultiert aus seinem Vertrauen, dass Jesus heilen kann. Damit tritt neben den glaubenden Juden von Mt 8,1-4 in Mt 8,5ff der glaubende Heide. Die beiden Stichworte „David“ (für Israel) und „Abraham“ (für alle Völker auf Erden) aus dem Buchtitel Mt 1,1 werden in Erinnerung gerufen. Daneben darf das einigende Merkmal beider Geschichten, sowohl von Mt 8,1ff als auch von Mt 8,5ff, auf das Zahn 9 10 11 12 13 14 15

Der Prophet Nahum ist aber kaum gemeint. Riesner a.a.O. Vgl. auch Josephus B. J. II, 63; Ant XVII, 282. Bösen, 76f. Luz II 14,16. F.F. Bruce, Art. Herodes, GBL, 2, 566. Vgl. Josephus Ant XVIII, 113ff. Für herodianische Söldnertruppen France, 154; Fiedler, 202; Beare, 207; Schlatter, 124; Zahn, 337; Carson, 200; Klostermann, 74; Tasker, 88. Für einen römischen Offizier Schniewind, 108; Wilckens I/2, 151. 16 Gundry, 141, vermutet einen Syrer.

2. Der Hauptmann von Kapernaum, 8,5-13

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hingewiesen hat, nicht vergessen werden: Das ist die Unreinheit auf beiden Seiten, beim Juden durch Aussatz, beim Heiden durch sein Heidentum.17 Weitere parallele Merkmale von Mt 8,1ff und 8,5ff sind die Anrede Herr (κύριε [kyrie])18 und die indirekte Art der Bitte. Allerdings drückt Lk 7,3 die Bitte auf direkte Art aus. Gelähmt (παραλυτικός [ paralytikos]) rechnet unter die Krankheiten, die Jesus nach Mt 4,24 heilte. Mit fürchterlichen Schmerzen oder „schrecklich gequält (δεινῶς βασανιζόμενος [deinōs basanizomenos])“ war er vielleicht deshalb, weil seine Lähmung mit Entzündungssymptomen einherging.19 Lukas schildert in 7,2 die Sache nicht viel anders: ἤμελλεν τελευτᾶν [ēmellen teleutan], „er war dem Tode nahe“. Diskutiert wird aber, ob ὁ παῖς [ho pais] in Mt 8,6 mit mein Knecht oder „mein Sohn“ zu übersetzen ist. Beides ist möglich.20 Jedoch hat schon Zahn darauf hingewiesen, dass παῖς [ pais] in der LXX „äußerst selten“ den Sohn bezeichne und dass vor allem im NT nur für Joh 4,47ff die Bedeutung „Sohn“ feststehe.21 Der lukanische Parallelbericht klärt durch das δοῦλος [doulos] von Lk 7,2 endgültig, dass auch in Mt 8,6 die Bedeutung mein Knecht den Vorzug verdient.22 Nicht zuletzt werden im antiken und biblischen Sprachraum „vertraute Diener“ mit ὁ παῖς μου [ho pais mou] bezeichnet.23 Um einen solchen vertrauten Diener handelt es sich offenbar in Mt 8,6, der deshalb auch im Hause des Hauptmanns Pflege findet. Klostermann vermutete, man habe den Knecht deshalb nicht zu Jesus gebracht, weil er so große „Schmerzen“ litt.24 Und er sagt zu ihm: Ich komme und werde ihn heilen (V. 7): Ist dieses Wort Jesu eine Aussage, wie wir jetzt übersetzt haben, oder eine Frage? Im letzteren Fall müsste man mit Klostermann übersetzen: „Ich [betont!] soll kommen und ihn heilen?25 Jesus würde sich dann gegen die Zumutung wehren, in ein heidnisches, verunreinigendes Haus zu gehen, ähnlich wie Petrus in Apg 10,9ff (vgl. Joh 18,28). Uns scheint aber, dass die Fortsetzung des Dialogs in V. 8 und 9 voraussetzt, dass Jesus bereits im Kommen begriffen ist. Dann aber muss V. 7 ein Aussagesatz sein. Auf dasselbe Ergebnis führt Lk 7,6 17 Zahn, 337. 18 Nur von einer kleinen Zahl von HSS ausgelassen. 19 Vgl. Luz II 14. Strack-Billerbeck I 475 halten ihn für „gichtisch gelähmt“, was sehr wohl zutreffen kann; ebenso Zahn, 338: „gichtbrüchig“. 20 Bauer-Aland, 1223f; Strack-Billerbeck I 475. 21 Zahn, 338, Fn. 16. Ebenso Klostermann, 74; Carson, 200. 22 Für „Knecht/Diener“ auch Schlatter, 124f; Carson, 200f; Hengel-Schwemer, 463; Schniewind, 108f; Tasker, 88; Bauer-Aland, 1223; Zahn, 338; Klostermann, 74. 23 Bauer-Aland, 1224. 24 Klostermann, 74. Schon Zahn, 338. 25 Klostermann, 74. Ebenso Fiedler, 201f; Luz a.a.O.; Zahn, 338f; France, 154; Carson, 201; Bultmann Gesch, 39; Tasker, 88.

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mit sehr klaren Worten. Uns scheint überdies, dass die Auffassung von V. 7 als einem Fragesatz das majestätische ἐγώ [egō], das uns seit der Bergpredigt begleitet hat, auflöst und stattdessen Jesus in einen „traditionell eingestellten Juden“ verwandelt.26 So bleiben wir beim Aussagesatz.27 Jesus gibt auf die Bitte des Hauptmanns hin eine Zusage: Ja, ich (betontes ἐγώ [egō] in Entsprechung zum κύριε [kyrie]) komme und werde ihn heilen. Keine Frage, dass Jesus die Heilung auch tatsächlich vollbringt! Mit Recht konstatiert Hermann Wolfgang Beyer: „Es gehört zur Vollmacht des Messias, daß ihm die Kraft gegeben ist, Kranke zu heilen.“28 Die Frage, ob Jesus zum Zwecke der Heilung ein heidnisches Haus betreten durfte, löst sich leicht von b Gittin 61a her. Als Lehre der Rabbanan ist dort festgehalten: „man besuche die Kranken der Nichtjuden mit den Kranken Israels.“ Das heißt, Jesus steht im Einklang mit der Halacha,29 und schon deshalb muss V. 7 kein Fragesatz sein. In V. 8 will der Hauptmann Jesus die Mühe des Kommens ersparen: Herr (κύριε [kyrie]), ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst. οὐκ εἰμὶ ἱκανός [ouk eimi hikanos] wird von Strack-Billerbeck30 zurückübertragen in ‫[ ֵאינִי ְכַדאי‬ʾēnī kᵉdaʾj]. Zu ἱκανός [hikanos], das auch in Lk 7,6 erscheint, vgl. man Mt 3,11 und die Variante bei Joh 1,27. Demnach berühren sich ἱκανός [hikanos] und ἄξιος [axios] offenbar eng.31 „Passend“, „würdig“, wert sind demnach angemessene Übersetzungen. Dem Hauptmann geht es also nicht um die kultische Unreinheit, die beim Betreten seines Hauses entstünde, sondern um die Zumutung an den Messias, die Wege und Umständlichkeiten eines Besuchs auf sich zu nehmen. Karl Heinrich Rengstorf schreibt mit Recht, den Hauptmann bestimme „die Gewißheit der Hoheit und Vollmacht Jesu, die ihn weit über alles Menschliche und noch dazu Nichtjüdische hinaushebt“.32 Der Hauptmann sieht einen anderen Weg: Sondern sprich nur ein Wort, dann33 wird mein Knecht gesund (καὶ ἰαθήσεται ὁ παῖς μου [kai iathēsetai ho pais mou]). Nur durch ein Wort (μόνον λόγῳ [monon logō]) vermag Jesus die Heilung zu vollbringen! Nur „durch Gottes Wort (ῥήματι θεοῦ [rhēmati theou])“ wurde die ganze Welt geschaffen (Hebr 11,3). Nur durch sein Wort 26 27 28 29 30 31 32 33

So Fiedler, 202; Luz II 14. Ebenso Sand, 179; Carson 199ff; Schniewind, 109; Beare, 207. Im Art. θεραπεία usw., ThWNT, III, 1938, 130. Fiedler, 202f. I, 475. Vgl. Bauer-Aland, 760; K.H. Rengstorf, Art. ἱκανός usw., ThWNT, III, 1938, 294ff. Rengstorf a.a.O., 295. Ähnlich Carson, 201. Zur Grammatik vgl. BDR § 442,7.

2. Der Hauptmann von Kapernaum, 8,5-13

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gestaltet Gott die ganze Weltgeschichte: „Wenn er spricht, so geschiehtʼs“ (Ps 33,9). Gott „sandte sein Wort und machte die Kranken gesund“ (Ps 107,20) – so lesen wir schon im AT.34 Im NT vgl. Lk 5,5. Diese göttliche Wortmächtigkeit setzt also der Hauptmann voraus. Und welcher Glaube drückt sich darin aus! Die Vermutung ist unabweisbar, dass dieser Hauptmann schon viel vom Glauben Israels gehört und auch für sich persönlich übernommen hat. Dagegen liest die Interpretation „Gewiß, das wäre freilich zu viel verlangt!“35 in V. 8 etwas hinein, was gar nicht da steht. Vers 9 fällt auf, weil sowohl Matthäus als auch Lukas die Begründung des Hauptmanns in voller Länge angeben: Denn auch ich bin ein Mensch unter Befehlsgewalt (ὑπὸ ἐξουσίαν [hypo exousian]) und habe unter mir Soldaten. Und sage ich zu dem einen: Geh!, dann geht er, und zu einem anderen: Komm!, dann kommt er, und zu meinem Sklaven: Tu das!, dann tut erʼs. Was der Hauptmann illustrieren will, ist das eine: Das Wort genügt (V. 8)! Man darf sich hier nicht zu Spekulationen darüber hinreißen lassen, unter wem Jesus stehe und was seine Soldaten wären.36 Der Hauptmann erlebt vielmehr die Macht des Wortes gleichzeitig an zwei Stellen: 1) steht er selbst unter Befehlsgewalt und muss seinen Kommandeuren gehorchen, 2) hat er unter sich Soldaten, die ihm aufs Wort gehorchen müssen, ebenso seine Sklaven. Wohl ist es nicht falsch, wenn Zahn die Soldaten „unter dem Befehl des κύριος“ auf die Engel deutet.37 Aber darin liegt kein Zielpunkt des Textes. Vielmehr geht es um die ἐξουσία [exousia] Jesu, mit der dieser die Krankheit zum Verschwinden bringen kann, und dafür genügt eben ein Wort. Andererseits klingt es seltsam, wenn Klostermann schreibt: „Sehr hübsch stellt sich der Offizier Jesu Macht … vor.“38 Es geht ja nicht um ein Kinderspiel. Besser hat Alexander Sand die Sachlage dargestellt, wenn er schreibt: Jesu „Autorität sich zu unterwerfen, ist der Hauptmann um der Gesundheit seines Dieners willen bereit.“39 Halten wir als Fazit fest: Weil Jesus Herr über die Krankheit ist, braucht er auch nur ein Wort zu sagen, dann muss die Krankheit weichen.40 Bevor die Antwort an den Hauptmann in V. 13 berichtet wird, wendet sich Jesus in V. 10-12 an seine Nachfolger. Jesus aber, als er das hörte (V. 10): 34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Schniewind, 109. So Bultmann Gesch, 39. Richtig France, 155. Zahn, 339f. Klostermann, 74. Sand, 179. Maier I, 262.

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Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1–9,38

Bis auf ταῦτα [tauta] enthält Lk 7,9 genau die gleichen Worte (ἀκούσας δὲ ὁ Ἰησοῦς ἐθαύμασεν [akousas de ho Iēsous ethaumasen]). Dadurch, dass Matthäus vom bisherigen „er“ abschwenkt und erstmals wieder seit 8,4 den Namen Jesus nennt, bekommt der Anfang von V. 10 fast den Sinn von: „Sogar Jesus staunte.“ Das ἐθαύμασεν [ethaumasen] drückt die „Verwunderung Jesu“41 über den Glauben des Hauptmanns aus. Der Tatbestand, dass Jesus bleibend mit dem Heiligen Geist erfüllt war (Mt 3,16; Joh 1,32), schloss nicht aus, dass er überrascht wurde und staunte (Mt 8,10; Mk 6,6).42 Die, die nachfolgten (Partizip Präsens), sind die ihn damals begleitenden Menschen und nicht nur die Jünger (vgl. Mt 8,1; Lk 7,9).43 Amen leitet einen feierlichen Ausspruch ein: Bei keinem in Israel habe ich einen solchen Glauben gefunden. Es ist also der Glaube das, was Jesus in erster Linie in Israel sucht. Das griech. πίστις [ pistis] geht zurück auf das hebr. Wortfeld ‫[ אמן‬ʾmn],44 das im Hiphil ‫[ ֶהֱאִמין‬häʾᵆmīn] „glauben“ bedeutet. Solchen Glauben „im Sinne des AT“ definiert Artur Weiser als „eine Gottesbeziehung, die den ganzen Menschen in der Gesamtheit seines äußeren Verhaltens und seines Innenlebens umfasst.“45 In Mt 8,10 kann mit solchem Glauben nur der Glaube an Jesus als den Messias gemeint sein. Die Definition Bultmanns als „Glaube an Jesu Wunderkraft“46 ist viel zu eng. Denn der Hauptmann glaubt nicht nur an „Jesu Wunderkraft“, sondern er hält sich für nicht wert, dass Jesus in sein Haus kommt.47 Nicht bei der Bitte um Heilung in V. 6, sondern erst bei dem Glauben, dass allein ein Wort genügt (V. 8f ), sagt Jesus: Bei keinem in Israel habe ich einen solchen Glauben gefunden. Halten wir also fest: 1) Jesus kommt es auf den Glauben an, 2) es geht nicht um einen allgemeinen Gottesglauben, sondern ganz konkret um den Glauben an ihn, Jesus, den Messias und Erlöser, 3) wobei Jesus bisher in Israel bei keinem einen so großen Glauben gefunden hat, wie eben bei diesem heidnischen Hauptmann. Dass die Zeit des bisherigen Wirkens eine solche Feststellung wie unter 3) nicht erlaube,48 kann man im Ernst nicht behaupten. Denn

G. Bertram, Art. θαῦμα usw., ThWNT, III, 1938, 39. Vgl. Carson, 202, der hier Calvin zitiert. Carson a.a.O., anders Fiedler, 203: „die Gemeinde“. Vgl. A. Weiser im Art. πιστεύω usw., ThWNT, VI, 1959, 182ff.197. Weiser a.a.O., 188. R. Bultmann im Art. πιστεύω usw., a.a.O., 206. Ebenso Klostermann, 75: „Vertrauen auf Jesu Wundermacht“. 47 Wie wir Fiedler, 203; Carson a.a.O.; Schniewind, 109f; Schlatter, 125f; Wilckens I/4,5; Sand, 179. 48 Luz II 15. 41 42 43 44 45 46

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der Bergpredigt geht ja mindestens die Zeit des öffentlichen Wirkens nach Mt 4,17-25 voraus. Mit Mt 15,21-28 liegen enge Berührungen vor. Sie beweisen, dass Jesus immer wieder Kontakt mit der heidnischen Umgebung Israels hatte und dass Matthäus darin ein Vorzeichen der Weltmission sah.49 An die Feststellung vom Glauben des Hauptmanns knüpft Jesus eine Prophetie über die zukünftige Heilsgeschichte: Ich sage euch aber: Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tische liegen im Reich Gottes (V. 11). Das Λέγω δὲ ὑμῖν [Legō de hymin] (Ich aber sage euch) ist uns seit der Bergpredigt wohlvertraut (vgl. Mt 5,21.22.27; 6,25 u.ö.). Allerdings fehlt – wie an manchen Stellen der Bergpredigt – in Mt 8,11 ein betontes ἐγώ [egō]. Es ist aber dennoch klar, dass Jesus in der Autorität des Gottessohnes und Messias spricht: Jesus sieht viele kommen, nämlich Heiden, wie ja auch der Hauptmann ein Heide ist. Offenbar geht er hier von Mal 1,11 aus, aus dessen LXX-Text ἀπὸ ἀνατολῶν καὶ δυσμῶν [apo anatolōn kai dysmōn] stammen. Dagegen haben Stellen, die von Israels Rückkehr in sein Land sprechen, wie Ps 107,3; Jes 43,5; 49,12; Jer 3,18, mit Mt 8,11 nichts zu tun. Von Osten und Westen bedeutet: aus der ganzen Welt. Jesus sieht sich also als den Gottesknecht, der den „Inseln“, ja der ganzen Erde, die Heilsbotschaft bringt (Jes 42,4; 49,6; vgl. Mt 12,18-21). Zu Tische liegen im Reich Gottes ist ein Ausdruck für die Freude der Erlösten im künftigen Gottesreich. Dieser Ausdruck stammt aus der bildhaften Prophetie vom Freudenmahl, das Gott einmal den Erlösten bereiten wird (z.B. Jes 25,6ff ).50 In Jes 25,6 sind die zum Glauben gekommenen Heiden ausdrücklich als Teil der Heilsgemeinde erwähnt, wenn es dort heißt: „Der HERR Zebaoth wird auf diesem Berge allen Völkern ein fettes Mahl machen.“51 Dass dann die von Gott erwählten Erzväter Abraham und Isaak und Jakob mit dabei sind, erwartete man in Israel. Ein Zeugnis dafür ist das um die Zeitenwende geschriebene 4. Makkabäer-Buch (13,17). Jesus jedenfalls bestätigte die Richtigkeit dieser Erwartung (Lk 16,22ff; Mt 22,32). Mt 8,11 lässt uns erkennen, wie hoch Jesus die Erzväter Abraham und Isaak und Jakob schätzte. Werden sie doch an unserer Stelle als prominente Teilnehmer am Gottesreich betrachtet. Speziell zu Abraham bemerkte Joachim Jeremias: „Im NT ist Abraham die nächst Mose am häufigsten erwähnte alttestamentliche Gestalt.“52 Schon Johannes Chrysostomus stützte auf Mt 49 50 51 52

Vgl. Carson, 202. Von Fiedler, 205, fälschlich als „hellenistisch“ ausgegeben. Vgl. Klostermann, 75; France, 156. Im Art. Ἀβραάμ, ThWNT, I, 1933, 8.

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8,11 seine Ermahnung, das AT zu ehren: „Beachte, wie ehrenvoll der Herr das Alte Testament behandelt.“53 Vers 12 schildert die dunkle zweite Seite dieser Prophetie: Aber die Söhne des Reichs werden hinausgeworfen werden in die Finsternis draußen. Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein. Söhne des Reichs (υἱοὶ τῆς βασιλείας [hyioi tēs basileias]) ist ein Hebraismus. Ähnlich wie „Söhne des Lichts“ (‫[ ְבּנֵי אוֹר‬bᵉnē ʾōr]) in Qumran54 kennzeichnet er eine Zugehörigkeit.55 Gemeint sind hier die Israeliten, wobei Israel in Hos 11,1 sogar als „Sohn Gottes“ (‫[ ְבּנִי‬bᵉnī ]) bezeichnet werden kann. Die Israeliten sind das von Gott erwählte und geliebte Volk (Dtn 7,7f ), das Gott deshalb auch für die Teilnahme an seinem sichtbaren, endzeitlichen Reich vorgesehen hat. Aber ebenso wie bestimmte Generationen durch ihren Ungehorsam das Land wieder verlieren können (Lev 26,33), so können auch ungehorsame Israeliten ihren Anteil am Reich Gottes wieder verlieren. Die Bibel kennt keinen Heilsautomatismus und keine vom Glauben unabhängige Garantie, sondern stellt auf den Glauben und Gehorsam ab (Ez 18,1ff; 33,10ff; Jes 28,16; Hab 2,4). So bedeutet Mt 8,12 eine ernste Mahnung Jesu: Wer sich unter den Israeliten dem Handeln Gottes im Messias verschließt, der riskiert es, in die Finsternis draußen hinausgeworfen zu werden. Finsternis bedeutet den Ausschluss vom Gottes-Reich. Die Betreffenden können sich dann nicht mehr darauf berufen, dass sie ja auch Abrahams Kinder und dem Fleisch nach Glieder des erwählten Gottesvolkes sind. Weil Jesus in dieser prophetischen Rede klar voraussieht, dass ihn Israels Mehrheit ablehnt, formuliert er im Futur: sie werden hinausgeworfen werden. In Mt 22,13 und 25,30 wiederholt sich dieser Sprachgebrauch. Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein (vgl. Mt 13,42.50; 24,51; 25,30): Ähnliche anschauliche Bilder von Wut, Trauer und Verzweiflung gibt es schon im AT (Ps 35,16; 112,10). Auch im jüdischen Schrifttum zwischen den Testamenten kommen ähnliche Aussagen vor (ä Hen 108,3.5.15).56 Jesus unterstreicht hier, dass das Gericht über den Unglauben schwer sein wird, und warnt dadurch ein weiteres Mal. Wenige Stellen sind bei den Auslegern so umstritten wie Mt 8,11-12. Das beginnt schon mit der Herauslösung dieser Verse aus ihrem Kontext, die sich seit Bultmanns Geschichte der synoptischen Tradition häufig findet. Bultmann war der Meinung, Matthäus hätte 8,11f „in fertige Szenen eingefügt“, wobei 53 54 55 56

Texte KV IV, 335. 1QS I, 0 u.ö. Gundry, 145. Vgl. K.H. Rengstorf, Art. βρύχω usw., ThWNT, I, 1933, 639f; Strack-Billerbeck I 478, wo auch rabbinische Paralleltexte genannt werden.

2. Der Hauptmann von Kapernaum, 8,5-13

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diesen Versen ursprünglich die „Beziehung zur Person Jesu“ fehlte.57 Als Argument dient Lk 13,28f, wo dieses Jesuswort an anderer Stelle und in einem anderen Zusammenhang auftauche. Dabei wird übersehen, dass Jesus solche Aussagen mehrfach machen konnte und Lukas überdies viele Jesusworte anders einordnete als Matthäus.58 Der Bezug zur Person Jesu ist deutlich genug, weil es ja in Mt 8,5-13 insgesamt um Glauben oder Unglauben Jesus gegenüber geht.59 So mutet die Herauslösung von 8,11f aus unserer Perikope gewaltsam an. Ein zweiter Aspekt ist mit der Frage der formgeschichtlichen Bestimmung gegeben. Ist Mt 8,11f ein „Drohwort“, wie die Titulatur bei Bultmann60 lautet? Weit besser trifft die Benennung „Machtwort“ oder „prophetische Warnung“ zu.61 Denn Jesus will ja in Israel denselben Glauben finden wie beim Hauptmann! Dass Israels Mehrheit am Ende anders entscheidet, sieht er mit Schmerzen, als Teil seiner Passion. Ein weiteres Problem hängt mit dem kommen (ἥξουσιν [hēxousin]) von V. 11 zusammen. Die zugespitzte These von Joachim Jeremias lautet: Jesus erwarte die Beteiligung der Heiden „nicht in Form der Mission, sondern des Hinzuströmens der Heiden“.62 Zugrunde liege die alttestamentliche Anschauung von der Völkerwallfahrt zum Zion.63 Diese These beschwert aber das kommen von Mt 8,11 mit einem unangemessenen Gewicht. Hätte Jeremias recht, dann wären die Aufforderungen Jesu zur Mission in Mt 10,5ff; 13,47ff; 22,8ff; 28,19f unverständlich. So reflektiert zwar Jesus die Gründe des „Kommens“ in Mt 8,11 nicht, schließt aber gerade dadurch die „Form der Mission“ nicht aus, sondern ein. Schwerer noch wiegen die Bedenken, die gegen Mt 8,11-12 wegen des darin vermuteten Antijudaismus geltend gemacht werden. Schon 1975 erklärte David Flusser Mt 8,12 als „antijüdische Montage“ des Matthäus.64 Er hielt Matthäus für einen Heidenchristen, der theologisch die „Verwerfung der Juden und die Übertragung der göttlichen Erwählung an die Heiden“ vertrete.65 Dagegen sieht Fiedler klar, dass Matthäus kein Vertreter dieser „klassischen“ Substitutionstheorie ist. Er lässt deshalb die „Drohung“ von Mt 8,12 nur gegen 57 58 59 60 61 62 63 64 65

Bultmann Gesch, 65.122.136f.161. Ihm folgt Luz II 15; France, 155. Vgl. Carson, 202; Maier I, 264. Gaechter, 268. Bultmann Gesch, 122. Ebenso Luz II 15; Theißen-Merz, 242. Gaechter, 269, spricht von „Drohweissagung“. Jeremias Gleichnisse, 62.220. Ebenso Theißen-Merz, 233.242. David Flusser, Two Antijewish Montages in Matthew, Immanuel, 1975, 39-43. Flusser, 124.113, Anm. 77

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die „pharisäischen Widersacher“ gerichtet sein. Mt 8,11 deutet er dann auf „die endzeitliche Rückführung“ Israels.66 In dieser Diskussion gilt es festzuhalten, dass die Mehrzahl der Argumente für einen judenchristlichen Verfasser des Matthäusevangeliums spricht. Sein Evangelium vertritt nicht die endzeitliche Verwerfung der Juden, sondern im Gegenteil das endzeitliche Heil für Israel (Mt 19,28; 23,39; 27,37).67 Mit Recht kann deshalb Peter Fiedler schreiben: „Solche Übereinstimmungen des Mt mit entsprechenden Äußerungen des Paulus in Röm 9,4f; 11,28f und 15,8 schließen es daher grundsätzlich aus zu behaupten, Mt lasse Jesus mit 8,11f (bzw. 10-12) die Heilshoffnung Israels bestreiten.“68 Folglich sind die Söhne des Reichs ebenso wenig auf Israel als Ganzes zu deuten wie die Vielen in V. 11 auf die komplette Heidenwelt. Es geht vielmehr in V. 12 um eine Mehrheit von Juden, die aufgrund ihres persönlich verantworteten Unglaubens in die Finsternis hinausgeworfen wird. Dabei bleibt die Aussage der Schrift, die auch die Aussage Jesu ist, bestehen, dass Israel am Ende zur Erkenntnis seines Messias kommt und alle seine Gläubigen im Reich Gottes sein werden (Mt 23,39; Röm 11,25ff; Eph 2,11ff ). Jetzt kann auch eine Beurteilung einer weiteren hier relevanten Diskussion erfolgen. Sie betrifft die Position mancher Exegeten, darunter Julius Schniewind, wonach die gläubigen Heiden von Mt 8,11 „an Israels Stelle treten“.69 Schniewind verdeutlicht noch: Hier in Mt 8,11f „wird Israel ganz von Gottes Herrschaft ausgeschlossen“.70 Es handelt sich also um die sogenannte Substitutionstheorie. Eine solche Substitutionstheorie trifft aber den Text nicht, und kann deshalb nicht aufrechterhalten werden. Schon die Formulierung des Jesuswortes mit (μετά [meta]) Abraham und Isaak und Jakob zu Tische liegen setzt eine eschatologische Gemeinschaft aus Juden und Heiden voraus. Auf dem Hintergrund von Mt 19,28; 23,39; 28,18ff sowie der apostolischen Verkündigung von Offb 20,11-15 und Röm 9–11 ist ganz deutlich, dass die Gemeinde der Erlösten aus den Gläubigen beider Herkunftsbereiche gebildet wird: aus den Völkern und aus Israel. Die Verurteilung von Mt 8,12 ist deshalb mit einer doppelten biblischen Einschränkung ausgesprochen: 1) Sie betrifft nur die Zeit vor der „Rettung ganz Israels“ (Röm 11,26; Mt 23,39), 2) sie betrifft nur diejenigen in Israel, die persönlich die Heilsbotschaft Jesu ablehnen – auch wenn sie in der genannten Zeit die Mehrheit darstellen.71 66 67 68 69 70 71

Fiedler, 204f. Ebenso Fiedler, 204f. Fiedler, 204. So Schniewind, 112. Schniewind a.a.O. Ähnlich Zahn, 341; Carson, 203; France, 156; Gaechter, 269; Gundry, 145.

2. Der Hauptmann von Kapernaum, 8,5-13

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Der letzte Vers unseres Abschnitts ist wieder von prägnanter Kürze (V. 13): Und Jesus sagte zu dem Hauptmann: Geh hin! Wie du geglaubt hast, geschehe es dir! Und sein Knecht wurde gesund in eben jener Stunde. Geh hin (ὕπαγε [hypage])! bedeutet nicht nur „Geh nach Hause!“,72 sondern auch „Sei nicht mehr bekümmert!“. Zentral ist hier die Entsprechung von Glaube und Erfahrung:73 Wie (ὡς [hōs]) du geglaubt hast, geschehe es dir (γενηθήτω σοι [genēthētō soi]). Ähnliches lesen wir in Mt 9,29; 15,28. Kleiner Glaube macht keine oder geringe Erfahrungen, großer Glaube große (vgl. Mt 9,2.22; 15,28; 17,20; 21,21). Aber wie bekommen wir einen großen Glauben? Dadurch, dass wir ganz auf die Hilfe Gottes und Jesu setzen (Jak 1,6), und dadurch, dass wir wie die Apostel bitten: „Stärke (πρόσθες [ prosthes]) uns den Glauben!“ (Lk 17,5). Der letzte Satz konstatiert den Vollzug des Wunders in eben jener Stunde (ἐν τῇ ὥρᾳ ἐκείνῃ [en tē hōra ekeinē]),74 in der Jesus das Wort von V. 13 gesprochen hatte. Vergleiche Mt 9,22; 15,28; 17,18. Augustin folgerte aus Mt 8,5-13, dass der Kriegsdienst von Gott nicht verworfen werde.75 Das ist richtig, allerdings keine Hauptaussage unseres Abschnitts.

IV Zusammenfassung 1. Die Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum ist zunächst einmal „eine der schönsten Glaubensgeschichten in den Evangelien“.76 2. Sie ist weit konzentrierter als Mt 8,1-4 mit dem Glauben befasst. In V. 10 und 13 wird er ausdrücklich thematisiert, die Heilung wird dabei in Korrelation (ὡς [hōs]!) zum Glauben gesetzt. 3. Diese Geschichte ist als Einheit zu betrachten. Eine Herauslösung der Verse 11-12 aus dem Matthäustext empfiehlt sich nicht, auch wenn Lukas von der Freiheit des Evangelisten Gebrauch macht, die Geschichte auf seine eigene Weise zu erzählen. 4. Matthäus und Lukas widersprechen sich nicht. Lukas hat unseres Erachtens den detaillierteren Erzählverlauf, Matthäus aber das Recht zur Konzentration auf den Hauptmann. 5. Bei Matthäus sind mehrere Gründe denkbar, weshalb er gerade die Wunder in 8,1-4 und 8,5-13 an die Spitze des Blocks der Kapitel 8 und 9 gestellt hat. Einer dieser Gründe könnte sein, dass er ähnliche Wunderheilungen so72 73 74 75 76

So Bauer-Aland, 1667. Anders Carson, 203. Die abweichenden Varianten sind zu schwach bezeugt. Texte KV III, 516. Wiederholt aus Maier I, 258.

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Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1–9,38

wohl bei einem Juden als auch bei einem Heiden zeigen wollte, um der Doppelheit „Israel und die Völker“ gerecht zu werden. Ein anderer Grund könnte sein, durch die Heilung von zwei Unreinen (Aussätziger und Heide) zu zeigen, dass Jesus alle Unreinheit von uns wegnimmt.77 6. Wie wir gesehen haben, begründet Mt 8,11-12 keine Substitutionstheorie. Wohl aber blickt Jesus auf eine Zeit hinaus, in der auch Heiden zum Gottesvolk des Neuen Bundes gehören werden. Insofern kann man von einem „Wetterleuchten“ der Weltmission sprechen.78 Der Zugang zum Gottesreich ist für beide Seiten, Israel und die Heiden, gleich: Es ist der Zugang über den Glauben zu Jesus. Oder umgekehrt: Fehlt dieser Glaube, dann gibt es für die Betreffenden keinen Zugang zum Gottesreich, auch nicht für die „Söhne des Reichs“. 7. Ist Mt 8,5-13 geschichtlich? Bultmann verneinte die Geschichtlichkeit mit dem kurzen Satz, es werde „sich kaum Jemand für die Geschichtlichkeit der Fernheilungen einsetzen“.79 Warum Fernheilungen vom Prinzip her unmöglich sein sollen, wird nicht klar. Schließlich sind alle jüdisch-rabbinischen Heilungswunder Fernheilungen. Man kann die Wunder nicht per Gewaltstreich aus den Jesusgeschichten entfernen: „it is not permissible to delete the miraculous element“.80 Für Matthäus jedenfalls stellt Luz ohne Wenn und Aber fest: „Daß es [= das Wunder] geschehen ist, ist für Matthäus wichtig.“81

3. Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus, 8,14-15 I Übersetzung 14 Und als Jesus in das Haus des Petrus kam, sah er dessen Schwiegermutter im Fieber daliegen.1 15 Und er berührte ihre Hand, und das Fieber verließ sie, und sie stand auf und diente ihm.

II Struktur Fraglich kann sein, ob man Mt 8,14f gegenüber Mt 8,16f als selbstständigen Abschnitt betrachten soll,2 oder ob man beides zu einem einheitlichen Ab77 78 79 80 81 1

Vgl. Zahn, 337. Vgl. Maier I, 263; Carson, 203; Luz II 16; Gaechter, 269f. Bultmann Gesch, 39.169. Ihm folgt Beare, 209. Gundry, 147. Luz II 16. Zur Übersetzung vgl. BDR § 471,4.

3. Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus, 8,14-15

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schnitt zusammennimmt.3 Für die Auslegung selbst hat diese Einteilungsfrage aber wenig Bedeutung. Im Vergleich mit den Parallelberichten in Mk 1,29-31 und Lk 4,38-39 fällt erneut die Kürze der matthäischen Schilderung auf. Gundry4 versucht hier wie so oft, die Motive des Matthäus darzulegen, die ihn zu einer solchen Änderung bewegen konnten, und macht sich damit ganz abhängig von der Zwei-Quellen-Theorie. Sein Unterfangen muss fruchtlos bleiben, wenn – wie anzunehmen ist – Matthäus die zeitliche Priorität zukommt. Sachlich stimmen übrigens alle drei synoptischen Berichte erstaunlich überein. Wenn Petrus in der Pfingstpredigt von Jesus sagen kann, er sei „von Gott unter euch ausgewiesen (ἀποδεδειγμένον [apodedeigmenon]) durch Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst“ (καθὼς αὐτοὶ οἴδατε [kathōs autoi oidate]), Apg 2,22, dann hat es vermutlich schon damals Sammlungen von Taten Jesu gegeben, aus denen die Synoptiker schöpfen konnten. Eine solche Annahme liegt weit näher als die imaginäre Quelle Q, die man heute sogar in verschiedenen Rezensionen voraussetzt. Im Übrigen bestätigen uns alle drei Synoptiker, dass die Heilung der Schwiegermutter des Petrus in die Frühzeit Jesu gehört.

III Einzelexegese Liest man Mt 7,28; 8,1.5.14 unmittelbar nacheinander, dann könnte man den Eindruck bekommen, Jesus habe auf dem Weg vom „Berg“ bis zum Haus des Petrus alle diese Taten nacheinander vollbracht. Der griechische Text lässt aber einen größeren Spielraum. Insofern übersetzt Gaechter mit Recht: „Einstmals kam Jesus in das Haus des Petrus.“5 Auch die Abfolge der Ereignisse in Mk 1,21ff und Lk 4,16ff legt es nahe, zwischen Mt 8,5ff und Mt 8,14f einen gewissen Abstand anzunehmen.6 Wir wissen also nicht mehr genau, wann Jesus in das Haus des Petrus kam. Stellen wie Mt 9,1; Mk 2,1 legen es nahe, dass das Haus des Petrus zugleich dasjenige Haus war, in dem Jesus während seiner Aufenthalte in Kapernaum wohnte. Offenbar hat eine vertrauenswürdige Lokaltradition die Erinnerung an die Stätte dieses Hauses mindestens bis in die byzantinische Zeit zuverlässig bewahrt.7 Im 5. Jh. n.Chr. befand sich über einem Haus aus dem 1. Jh. n.Chr. ein 2 3 4 5 6 7

So z.B. Aland Syn, 117; Fiedler, 205f; Carson, 204; France, 157; Sand, 181f. So z.B. Luz II 17; Schniewind, 111f. Gundry, 147ff. Gaechter in Mt 8,14. Zahn, 333.343; Gundry, 150. Vgl. R. Riesner, Art.: Kapernaum, GBL, 2, 765ff.

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Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1–9,38

Memoriale (Erinnerungsbau) mit drei ineinanderliegenden Oktogonen. Diese Anlage ist heute ausgegraben und zugänglich,8 und wir haben keinen Grund daran zu zweifeln, dass das Haus des 1. Jh., das unter dem mittleren Oktogon liegt, jenes Haus des Petrus von Mt 8,14 parr gewesen ist. Da Petrus aus Betsaida stammte (Joh 1,44), hat er vermutlich nach Kapernaum geheiratet und ist dort in den Fischereibetrieb seines Schwiegervaters eingestiegen (vgl. Mt 4,18f; 19,27ff; Lk 5,1ff; Joh 21,2f ). Das Haus des Petrus ist also ursprünglich das Haus seiner Schwiegermutter, die dort noch lebte und wohnte. Den Namen der Frau des Petrus kennen wir nicht mehr, sie wird jedoch 1Kor 9,5 erwähnt.9 Mk 1,29 und Lk 4,38 sprechen vom „Haus des Simon“. Nur Matthäus spricht vom Haus des Petrus. Für den Gebrauch des Petrus-Namens kann man zwei Gründe vermuten: 1) Matthäus hat die von Jesus verliehenen Zunamen besonders geschätzt, so wie er ja auch in Mt 9,9 seinen ursprünglichen Namen Levi durch den Zunamen „Matthäus“ ersetzt (vgl. Mt 16,17f ), 2) Matthäus hat eine besonders enge Beziehung zu Petrus, wie beispielsweise Mt 14,28ff; 16,13ff beweisen. Er sah dessen Schwiegermutter im Fieber daliegen (βεβλημένην καὶ πυρέσσουσαν [beblēmenēn kai pyressousan]): Fieber gab es in vielen Formen.10 Dass es hier um ein gefährliches, evtl. lebensbedrohendes Fieber ging, kann man aus dem „großen“ Fieber bei Lk 4,38 schließen.11 βεβλημένη [beblēmenē] hat zwar in βέβληται [beblētai] in Mt 8,6 eine Parallele, aber daraus muss man nicht folgern, dass auch Petrusʼ Schwiegermutter gelähmt gewesen sei. βεβλημένη [beblēmenē] heißt einfach „darniederliegend“.12 Und er berührte ihre Hand, und das Fieber verließ sie (V. 15): So schlicht wird die Heilung erzählt. Jesus entschied sich öfter, Kranke bei der Heilung zu berühren (vgl. Mt 8,3.15; 9,29; 20,34; Mk 1,31; 7,33; 8,22ff; 9,27). Notwendig war aber eine solche Handlung nicht (vgl. Mt 8,5ff ). Es geht hier nicht nur um die „Vermittlung e. Segenswirkung“,13 sondern auch um ein sichtbares Zeichen der persönlichen Zuwendung. In denkbar knapper Form

8 Vgl. Riesner a.a.O. 9 Nach Eusebius H.E. III, 30,1 erwähnte Clemens Al. auch Kinder des Petrus. Außerdem weist er auf Stromateis VII, 63f hin, wo Clemens vom Martyrium der Frau des Petrus berichtet. 10 Vgl. Strack-Billerbeck I 479f; K. Weiß, Art. πυρέσσω usw., ThWNT, VI, 1959, 956ff. 11 Vgl. Nolland, 359. 12 Bauer-Aland, 264. 13 Bauer-Aland, 207. Theißen-Merz, 500, rücken Berührungen in die Nähe von „Manipulationen“.

3. Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus, 8,14-15

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berichten Matthäus (8,15) und Markus (1,31) und das Fieber verließ sie. Offenbar erfolgte die Heilung sofort. Das geht auch aus Lk 4,39 hervor. Der Vers schließt mit der Bemerkung: und sie stand auf und diente ihm. Vergleiche Mt 27,55; Mk 15,41; Lk 8,3. Wer ihm = Jesus dient, dient selbstverständlich zugleich seiner Jüngergruppe. Deshalb ist die Pluralform αὐτοῖς [autois] („ihnen“) ebenfalls sachgemäß (bei Mk 1,31; Lk 4,39). Alle drei Referenten (Mt, Mk, Lk) benutzen für diente ein Imperfekt (διηκόνειν [diēkonein]), das iterative und durative Bedeutung hat.14 Mit der Heilung begann also ein längerwährendes, wiederholtes dienen. Was heißt das praktisch? Wesentliche Bedeutungen des griech. διακονεῖν [diakonein] sind „bei Tisch aufwarten“ und „für die Mahlzeit sorgen“.15 Dementsprechend versteht Hermann Wolfgang Beyer Mt 8,15 so, dass „die Schwiegermutter des Petrus für die Gäste im Hause sorgt“. Dann ist aber auch der weitergehende Schluss unausweichlich, dass sich Jesus relativ lange im Haus des Petrus aufgehalten hat. Ein solches längeres Verweilen im Haus einer Art patrona hat seine Vorbilder in den Prophetengeschichten des AT, nämlich bei Elia und Elisa (vgl. 1Kön 17,8ff; 2Kön 4,8ff ). Übrigens lässt sich ἠγέρθη [ēgerthē] in doppelter Weise verstehen. Entweder heißt es schlicht sie stand auf oder es heißt „sie wurde aufgerichtet“ (von Gott oder Jesus).16 Strack-Billerbeck meinen: „Das Dienen der Frau bei Tisch war verpönt.“17 Aber die vorgelegten Belege stammen alle aus späterer Zeit.18

IV Zusammenfassung 1. Nach einem Aussätzigen (V. 1-4) und einem Heiden (V. 5-13) wird nun eine Frau geheilt. Von „Randgruppen“ kann man hier nicht sprechen, da alle drei Fälle – Lepröse, Heiden, Frauen – große und „normale“ Bevölkerungsgruppen im Israelland darstellen. Dagegen handelt es sich in allen drei Fällen um Benachteiligte und unter der Krankheit Leidende. Ihnen aber gelten in besonderer Weise die messianischen Verheißungen (Jes 29,17ff; 35,4ff; 60,1ff; 61,1ff; 66,18ff; Ez 34,16). Die Heilungen Jesu zeigen also: Die messianische Zeit ist angebrochen.

14 BDR § 325ff. Anders Carson, 204: conativ. 15 H.W. Beyer, Art. διακονέω usw., ThWNT, II, 1935, 81ff. 16 Vgl. A. Oepke, Art. ἐγείρω usw., ThWNT II, 1935, 333; Bauer-Aland, 432f; Nolland, 359. 17 Strack-Billerbeck I 480. 18 Ähnlich France, 157.

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2. Dadurch ist Jesus als Messias für alle erkennbar geworden (vgl. Mt 11,1ff ). Die Heilungsgeschichten sind samt und sonders Jesusgeschichten. Der frühere, vom Rationalismus der Aufklärung ausgelöste Streit, ob solche Heilungen wirklich historisch sind, erscheint heute als überholt und sollte überwunden sein. 3. Mt 8,14-15 zeigt, dass früh schon nicht nur Einzelne, sondern ganze Familien zum Glauben an Jesus kamen.19 Im Falle der Schwiegermutter des Petrus und auch seiner Frau kann man ja berechtigterweise von einer JesusNachfolge sprechen.20 Vergleiche Mt 27,55; Mk 5,41; Lk 8,3. Solche Nachfolgefamilien finden wir auch im Haus des Zebedäus (Mt 4,21; 20,20ff; 27,56) oder des Lazarus (Lk 10,38ff; Joh 11,1ff; 12,1ff ). Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn die frühe christliche Mission stark auf Häuser und Familien ausgerichtet war (Mt 10,11ff; Lk 10,5ff; Apg 2,46; 10,24ff; 16,15.31ff; 1Kor 1,16).21 4. Die Feststellungen älterer und jüngerer Exegeten, dass Petrus auch nach der Berufung ins Apostelamt sein Haus behalten, seine Familie aufrechterhalten und gerade als Verheirateter sein Amt empfangen habe, sind berechtigt.22 Paulus bestätigt hier die Angaben der Evangelien (1Kor 9,5), spätere Tradenten wie Clemens Alexandrinus und Eusebius nehmen darauf Bezug.23 Man darf aber bei allem Interesse für solche soziologischen und dogmatischen Fragestellungen nicht vergessen, dass jedenfalls für Matthäus alles Gewicht auf der Gestalt Jesu liegt.

4. Krankenheilungen am Abend, 8,16-17 I Übersetzung 16 Am Abend aber brachten sie zu ihm viele von Dämonen Besessene. Und er trieb die Geister aus durchs Wort und heilte alle Kranken, 17 damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesprochen wurde, wenn er sagt: Er hat unsere Schwachheiten auf sich genommen und unsere Krankheiten getragen.

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Vgl. Hengel-Schwemer, 335f; Riesner, 487. Sand, 182. Auffallend unterbewertet bei Sand, 181f. Vgl. Luz II 18f, der insbesondere Bullinger erwähnt; Schniewind, 112. Eusebius H.E. III, 30,1.

4. Krankenheilungen am Abend, 8,16-17

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II Struktur Die Gliederung unseres kleinen Abschnitts ist durchsichtig: 1) Situation (V. 16a), 2) Wunder der Heilung (V. 16b), 3) Feststellung der Erfüllung der Schrift, sog. Erfüllungszitat (V. 17). Überraschenderweise taucht hier wieder eines der bei Matthäus beliebten Erfüllungszitate auf, zum ersten Mal seit Mt 4,14-16. Das beweist, dass für Matthäus Schriftbezug und Schriftbeweis auch fernerhin wichtig bleiben. Dass auch solch relativ „kleine“ Ereignisse wie die jenes Abends berichtet werden, zeigt überdies, dass Matthäus nicht nur Höhepunkte des Jesus-Lebens herausstreichen will, sondern einen Eindruck vom permanenten Wirken Jesu vermitteln möchte.

III Einzelexegese Der Abend erklärt sich am besten, wenn ein Sabbat vorausgegangen war, wie es Mk 1,21ff und Lk 4,31ff nahelegen. Denn mit Sonnenuntergang (vgl. Mk 1,32) brach ein neuer Tag an, der Arbeiten und Tragen erlaubte.1 Aber auch sonst war der Abend für anstrengende Tätigkeiten eine günstige Zeit (Mk 4,35).2 Ganz allgemein brachte man Leidende zu Jesus – aus Kapernaum oder Umgebung. Beispielhaft erwähnt Matthäus viele von Dämonen Besessene (δαιμονιζομένους πολλούς [daimonizomenous pollous]), V. 16. Schon in 4,24 sind solche Besessene erwähnt. Es kann nach den Berichten der Evangelien kein Zweifel sein, dass Jesus über eine einzigartige Vollmacht zur Dämonenaustreibung verfügte. Der Talmud bestätigt sie auf seine Weise.3 Das apodiktische Urteil Rudolf Bultmanns, Wundergeschichten einschließlich der Dämonenaustreibungen seien keine historischen Berichte,4 lässt sich nicht aufrechterhalten. Wenn, wie Werner Foerster formulierte, in den Besessenheitsgeschichten „eine Zerstörung und Verkehrung der schöpfungsgemäßen Gottesebenbildlichkeit des Menschen“ vorliegt,5 dann war es die Aufgabe des Messias, sich der Auseinandersetzung mit den Dämonen zu stellen und die betroffenen Menschen wieder zu ihrer schöpfungsgemäßen Menschlichkeit zu befreien. In 1Joh 3,8 ist dies klassisch formuliert. Unser heutiges Prob-

1 Vgl. Gaechter, 271; Nolland, 360. 2 Nolland a.a.O. rechnet auch mit einer möglichen Erfrischung Jesu zwischen 8,14f und 8,16f. 3 P. Schäfer, Jesus im Talmud, Tübingen, 2007, 41f.105f. 4 Bultmann Gesch, 244. 5 Art. δαίμων usw., ThWNT, II, 1935, 19.

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lem liegt in einer Paradoxie: Wir sprechen ununterbrochen von „dämonisch“, „Dämonen“ und „Dämonien“, nehmen sie aber nicht mehr wahr. Jesus trieb die Geister (τὰ πνεύματα [ta pneumata]) aus durchs Wort (λόγῳ [logō]). Die knappe Formulierung die Geister fällt auf, gemeint sind die unreinen Geister. Dass eine solche Formulierung wie τὰ πνεύματα [ta pneumata] für Matthäus möglich war, zeigt, dass seine Gemeinde pneumatisch-charismatische Umtriebe ablehnte. Durchs Wort (λόγῳ [logō]) erinnert uns an Mt 8,8. Die unendliche Überlegenheit Jesu über alle Geisterwesen könnte nicht deutlicher formuliert werden.6 Und heilte (ἐθεράπευσεν [etherapeusen]) alle Kranken (πάντας τοὺς κακῶς ἔχοντας [ pantas tous kakōs echontas]): Gleichwertig ist die Übersetzung „alle Leidenden“. Erneut werden wir an Mt 4,24 erinnert, wodurch auch der Inhalt des κακῶς ἔχειν [kakōs echein] als Kranksein geklärt ist. Alle Kranken bedeutet: alle Arten von Krankheit bei denen, die man zu ihm brachte. Jesus enttäuscht kein Vertrauen. Matthäus stellt die ganzen Ereignisse von V. 16 ins Licht der Bibel. Sie sind geschehen, damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesprochen wurde, wenn er sagt: Er hat unsere Krankheiten getragen, V. 17. Matthäus nennt den Propheten beim Namen. Es ist wie in Mt 4,14 und 12,17 Jesaja. Diese relativ häufige Nennung des Jesaja-Namens zeigt, wie wichtig gerade dieser Prophet für Matthäus gewesen ist.7 Zitiert wird aus Jes 53,4.8 Damit werden zwei Fragen angerissen: 1) Was besagt Jes 53,4 für die Heilungen – nicht die Passion! – Jesu? 2) Inwiefern kann man Jes 53,4 auf den Messias deuten? Zu 1): Die Stichworte ἀσθένειαι [astheneiai] (Schwachheiten) und νόσοι [nosoi] (Krankheiten) finden sich in der LXX nicht. Dort ist von ἁμαρτίαι [hamartiai] und ὀδυνάομαι [odynaomai] die Rede. Stattdessen ist der Mt-Text ganz nahe am hebr. Text von Jes 53,4. Dort erscheinen die Begriffe ‫[ ֳחִלי‬chᵒlī ], „Krankheit“, und ‫[ ַמְכֹאב‬makʾob], „Schmerz“, beide im Plural. Allerdings hat Matthäus ‫[ סבל‬s̀ bl] und ‫[ נשׂא‬nśʾ] durch λαμβάνειν [lambanein] und βαστάζειν [bastazein] zum Ausdruck gebracht, was aber den Sinn nur wenig verändert. Matthäus hat sich also im Wesentlichen an den hebr. Text gehalten.9 Doch inwiefern hat Jesus unsere Schwachheiten10 auf sich ge6 So ungefähr das Gegenteil hat der Talmud, wenn er von den Zauberzeichen auf dem Leib Jesu spricht (b Schab 1046). 7 Vgl. Gundry, 156. 8 Gundry a.a.O. 9 G. Stählin, Art. ἀσθενής usw., ThWNT, I, 1933, 491, meint sogar, er habe „wörtlich übersetzt“. Vgl. France, 158; Zahn, 344. Vgl. Hengel-Schwemer, 470; Fiedler, 207. 10 Nach Stählin, a.a.O., 489, ist „Schwäche“ die Hauptbedeutung für ἀσθένεια [astheneia].

4. Krankenheilungen am Abend, 8,16-17

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nommen bzw. unsere Krankheiten getragen,11 wenn er Heilungen vollzog? Man kann die Antwort nur so finden, dass Jesus die Not der Leidenden teilte.12 Er handelte also im Sinne des barmherzigen Hirten von Ez 34,11ff. Zu 2): Eine messianische Deutung von Jes 53 finden Strack-Billerbeck zum ersten Mal in den Bilderreden des äth Henoch.13 Speziell zu Jes 53 bleiben aber die Nachweise unsicher. Offensichtlich hat jedoch der Täufer (Joh 1,29.36) Jes 53 auf den Messias gedeutet. Außer Zweifel steht, dass Jesus Jes 53 messianisch deutete, nämlich auf seine eigene Person (Mt 20,28; Mk 10,45; Lk 24,44ff ).14 Von ihm ist diese Deutung ins Urchristentum gekommen. Mt 8,17 ist ein Beleg dafür, dass Matthäus diese Deutung teilte.15 Es bleibt ein Grundanliegen des Matthäus, dass Jesu ganzes Reden und Handeln mit der Schrift übereinstimmte.16

IV Zusammenfassung 1. Jesus hat unzählbar viele Menschen geheilt. Zu diesem Heilungshandeln gehört auch jener Abend in Kapernaum. Vergleiche Joh 21,25. 2. Seine Anteilnahme, seine Zuwendung, sein Helfen bedeuten eine Erfüllung von Jes 53,4. Dadurch grenzt sich Jesus ab von allen Religionsstiftern, die nur ihre Ehre und ihre Macht suchen. 3. Die Botschaft des Matthäus schließt es geradezu aus, von „Rückschlägen“ oder „Misserfolgen bei den Heilungen“ zu sprechen.17 Der Judenchrist Matthäus, der sich noch vor vielen Zeitzeugen rechtfertigen musste, betont im Gegenteil, dass Jesus „alle Kranken heilte“. Eine Kritik, die das Wunder im Sinne Spinozas prinzipiell negiert, lässt sich nur ideologisch, nicht aber historisch begründen.

BDR § 489,3 hält ἀσθένειαι [astheneiai] und νόσοι [nosoi] für Synonyma. Vgl. Theißen-Merz, 262; Schlatter, 129; Zahn, 345. Strack-Billerbeck I 481. Cullmann, 64. 163; R. Riesner, Homiletisch-Liturgisches Korrespondenzblatt, 29, 2012, 15ff. 15 Vgl. auch Carson, 206. 16 Alle Jesaja-Zitate zeigen übrigens, dass Matthäus nur ein einziges Jesaja-Buch kannte. Begriffe wie „Deuterojesaja“ oder „Tritojesaja“ wären für ihn totale Fremdbegriffe gewesen. 17 Gegen Hengel-Schwemer, 470.

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5. Möglichkeit und Notwendigkeit der Nachfolge, 8,18-22 I Übersetzung 18 Als Jesus aber sah, wie sich Menschen massenhaft um ihn sammelten, befahl er, hinüber ans andere Ufer zu fahren. 19 Und ein Schriftgelehrter kam auf ihn zu und sagte zu ihm: Rabbi, ich will dir nachfolgen, wohin auch immer du gehst. 20 Und Jesus sagt zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester. Aber der Menschensohn hat nichts,1 wo er sein Haupt hinlege. 21 Ein andrer aber von seinen Jüngern sagte zu ihm: Herr, erlaube mir, dass ich zuerst hingehe und meinen Vater begrabe. 22 Jesus aber sagt zu ihm: Folge mir! Und lass die Toten ihre Toten begraben!

II Struktur Sowohl Mt 8,18-22 als auch der Parallelbericht in Lk 9,57-62 besitzen eine ausgesprochen dialogische Struktur. Solche Stücke kommen im Evangelium öfter vor, z.B. 12,1ff; 15,21ff, und spiegeln wohl eine häufigere Situation im Leben Jesu. Bei Mt 8,18-22 fällt wieder die Kürze gegenüber Lk 9,57-62 auf. Matthäus berichtet nur zwei von den drei Dialogen des Lukas. Matthäus teilt weder die Erzählfreude des Markus noch das Bestreben nach Informationsfülle, das wir bei Lukas finden. Warum ordnet Matthäus den Abschnitt 8,18-22 in den Block der Wunder (Kap. 8 und 9) ein, während man bei Lukas den Eindruck hat, Jesus habe schon den Passionsweg eingeschlagen (vgl. Lk 9,51ff )? Vielleicht wollte Matthäus nicht ein monotones Bild von Wundertaten erzeugen, sondern zeigen, dass es stets um die Person und die Botschaft Jesu ging, der wir unsere Erlösung verdanken.

III Einzelexegese Der 18. Vers hat einen eigenartigen Beginn: Als Jesus aber sah, wie sich Menschen massenhaft um ihn sammelten … Weil es um die Bedeutung der Person Jesu geht und nicht nur um die Beurteilung eines einzelnen Wunders, setzt Matthäus den betonten Namen Jesus. Der genaue griech. Wortlaut ist unsicher: Heißt es, dass er „viele/große Massen sah“, wie in 8,1? Heißt es, „eine große Menge“? Oder „Massen“ (Mehrzahl)? Aus der Bewertung der 1 Zur Grammatik vgl. BDR § 368,5.6.

5. Möglichkeit und Notwendigkeit der Nachfolge, 8,18-22

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Handschriften ist kein sicheres Urteil zu gewinnen. Das pure ὄχλον [ochlon] im Nestle-Aland-Text kann sich eigentlich nur auf den Vaticanus stützen. So haben wir eher sinngemäß übersetzt: Jesus sah, wie sich Menschen massenhaft um ihn sammelten. Solche Situationen hat er öfter erlebt (Mt 8,1.16; 12,15; 19,2; 20,29; Mk 1,33; 2,2; 3,7f ). Es ist typisch für ihn, dass er sich der Massensuggestion entziehen will: er befahl, hinüber ans andere Ufer zu fahren, oder: „ans gegenüberliegende Ufer wegzufahren“.2 Dieses hat er oft aufgesucht (Mt 8,28; 14,22; 16,5; Mk 5,1.21; 6,45; 8,13; Lk 8,22; Joh 6,1). Es war gebirgiger und weniger besiedelt. „Wäre er Weltverbesserer gewesen, dann hätte er jetzt, bei solchen günstigen Umständen, nur noch aktivisch zugepackt. Wäre er Revolutionär gewesen, hätte er jetzt Bewußtseinsbildung, Schulung und revolutionäre Vorbereitung in Angriff genommen. Wäre er Wundermann gewesen, hätte er jetzt Propaganda getrieben. Wäre er ein religiöser Scharlatan gewesen, dann hätte er jetzt den guten Glauben für seine Tasche ausgenützt.“3 Ob Matthäus an einen unmittelbaren zeitlichen Anschluss an das Geschehen von V. 16 dachte,4 müssen wir offenlassen.5 Dem 19. Vers sieht man es auf den ersten Blick nicht an, wie viele Diskussionen er ausgelöst hat. Und ein Schriftgelehrter kam auf ihn zu und sagte zu ihm: Rabbi, ich will dir nachfolgen, wohin auch immer du gehst. Dies geschieht, während die Jünger, an die der Befehl von V. 18 gerichtet war, schon zur Abfahrt rüsteten.6 Schriftgelehrter, hebr. ‫[ סוֵֹפר‬s̀ ōpher], aram. ‫[ ָסְפָרא‬s̀ āphrāʾ], war nach damals feststehendem Sprachgebrauch ein Gesetzeskundiger, ein ordinierter Theologe, einer der Rabbinen.7 Ist es möglich, dass ein solcher Schriftgelehrter mit einem solchen Anliegen auf Jesus zukam? Waren nicht Schriftgelehrte und Pharisäer seine Gegner? Lukas sagt: „irgendeiner“ (τίς [tis]), 9,57. Aber die Formulierung in Mt 8,21 geht noch weiter, wenn dort von „einem anderen seiner Jünger“ die Rede ist. Demnach wäre also auch der Schriftgelehrte von V. 19 „einer seiner Jünger“ gewesen. Man wird die Aussagen des Matthäus in der Tat stehen lassen müssen:8 Erstens ist Nikodemus in Joh 3,1ff ein noch viel höherstehender Schriftgelehrter, der sich zu Jesus bekennt (vgl. Joh 7,50ff; 19,39ff ), zweitens schildert Matthäus schon 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. Bauer-Aland, 168f. Maier I, 270. So Bultmann Gesch, 376; Schlatter, 129. Zahn, 346, verneint es. Auch Carson, 207, ist vorsichtig. Zahn, 347. J. Jeremias, Art. γραμματεύς, ThWNT, I, 1933, 740. Vgl. Carson, 207f; G. Kittel, Art. ἀκολουθέω usw., ThWNT, I, 1933, 214.

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im nächsten Kapitel (9,18ff ) einen Hilfe suchenden Synagogenvorstand, drittens gibt es im Matthäusevangelium durchaus positiv beurteilte Schriftgelehrte (13,52; 23,1ff ), viertens zeigt die urchristliche Geschichte eine ganze Reihe von Schriftgelehrten, die in die Nachfolge Jesu traten (Joh 12,42; Apg 6,7; 9,1ff; 15,5).9 – Die Geschichte lässt sich eben auch hier nicht mit SchwarzWeiß-Malerei, sondern nur durch Differenzierung erfassen.10 Ein11Schriftgelehrter also, der schon in einem beginnenden Nachfolgeverhältnis zu Jesus stand, äußerte vor der Abfahrt ans Ostufer: Rabbi (διδάσκαλε [didaskale]), ich will dir nachfolgen (ἀκολουθήσω [akolouthēsō]), wohin auch immer du gehst. Das griech. διδάσκαλε [didaskale] ist die damals übliche Übersetzung des jüdischen ῥαββί [rhabbi], ‫[ ַר ִבּי‬rabbī ] (Joh 1,38; vgl. 20,16).12 Wir haben es deshalb in unserer Übersetzung gleich mit Rabbi wiedergegeben und das etwas steifere „Lehrer“ bzw. das altertümliche „Meister“ vermieden.13 Inhaltlich bleibt es dabei, dass Jesus von ordinierten Rabbinen in Israel mit dem Ehrennamen Rabbi angeredet werden konnte (vgl. Mt 22,16.24; Joh 3,1ff ) – ein erstaunlicher Vorgang, da jedermann wusste, dass er kein spezielles Studium absolviert hatte (vgl. Mt 13,54ff ). Mehr noch: Dieser Schriftgelehrte von Mt 8,19 wollte sein Schüler werden. Damals bewarben sich jüngere oder künftige Rabbinen bei einem Lehrer mit hoher Autorität darum, dass sie seine Schüler werden durften (vgl. Apg 22,3). Ebenso suchte jener Schriftgelehrte Jesus als Lehrer. Das Wort für „folgen“, nachfolgen (ἀκολουθεῖν [akolouthein]) kann man hier nur im Sinne eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses verstehen.14 Hat die Nachfolge des Schriftgelehrten schon einen Anfang gehabt,15 dann drückt V. 19 einen doppelten Wunsch aus: 1) den Wunsch, bei Jesus zu sein, 2) den Wunsch, Jesu Schüler auch dann zu bleiben, wenn Jesus neue Wege einschlägt (wohin auch immer du gehst).16 Es ist gut möglich, dass sich der Schriftgelehrte gerade jetzt der ins Boot steigenden Gruppe anschließen wollte.17 Dem Mann ist es ernst. Er kommt von der Emotion zu einer willensmäßig entschlossenen Motivation.

9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. auch P. Schäfer, Jesus im Talmud, 2007, passim. Vgl. Theißen-Merz, 208f. εἷς [heis] hat hier die Bedeutung von τις [tis], BDR § 247,2. K.H. Rengstorf, Art. διδάσκω usw., ThWNT, II, 1935, 156; Zahn, 347. Vgl. das ῥαββί in Joh 3,2; 1,49. G. Kittel, Art. ἀκολουθέω usw., ThWNT, I, 1933, 214. So Kittel a.a.O. Er setzt gerade nicht die stabilitas loci voraus (gegen Hengel-Schwemer, 364, 107). Vgl. Theißen-Merz, 337. 17 Carson, 207.

5. Möglichkeit und Notwendigkeit der Nachfolge, 8,18-22

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Jesu Antwort in V. 20 hat unsere klassische Sprichwort-Tradition mitgeformt: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester. ἡ ἀλώπηξ [hē alōpēx] kann sowohl den Fuchs wie den Schakal bezeichnen.18 Beide kamen „überall im Vorderen Orient vor“.19 Da der Schakal ein Rudeltier ist, denkt Jesus hier wohl eher an den Fuchs. Beide Tiere besaßen wenig Ansehen (vgl. Lk 13,32). Sie haben Gruben (φωλεούς [ phōleous]): Gemeint sind ihre Höhlen bzw. die Schlupfwinkel des Fuchsbaus. Dort haben die Füchse ein Zuhause und zugleich Schutz. Die Vögel unter dem Himmel sind eine stehende Redewendung (Mt 6,26; 8,20; 13,32; Mk 4,32; Lk 8,5; 9,58; 13,19; Apg 10,12; 11,6). Gemeint sind die Vögel, die den Luftraum unter dem Firmament besiedeln. Das Israelland war besonders reich an ihnen, aufgrund der Vielfalt der Lebensräume und weil eine der Hauptrouten der Zugvögel von Afrika nach Europa vom Roten Meer über das Israelland verlief.20 Sie haben Nester sagt Jesus: eigentlich „Wohnstätten“ (κατασκηνώσεις [kataskēnōseis]).21 Gerade der Begriff κατασκήνωσις [kataskēnōsis] verrät, dass die Vögel dort Heimat und einen gewissen Schutz haben.22 Vergleiche Ps 84,4. Aber der Menschensohn hat nichts,23 wo er sein Haupt hinlege: Zuerst ist klar, dass Jesus von sich als dem gegenwärtigen Menschensohn (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου [ho hyios tou anthrōpou]) redet. Was für einen Sinn hätte für den Schriftgelehrten der Hinweis auf einen künftigen Menschensohn denn gehabt?24 Die Präsensformen ἔχουσιν [echousin] und ἔχει [echei] handeln von der Gegenwart. Der Begriff Menschensohn erscheint hier bei Matthäus zum ersten Mal.25 Weder Jesus noch Matthäus erklären den Begriff. Wir müssen also voraussetzen, dass sich Jesus an Dan 7,13 mit seinem ‫[ ְכַּבר ֱאנָשׁ‬kᵉbar ʾᵆnāsch] anschloss. Wichtig ist, dass in Dan 7,13 nicht einfach von einem Menschen die Rede ist – das wäre ‫[ ַבּר ֱאנָשׁ‬bar ʾᵆnāsch] –, sondern von einem „Menschenähnlichen“: Daniel sieht eine besondere Gestalt „wie einen Sohn des Menschen“.26 Der Sinn des Jesuswortes in Mt 8,20 kann also nicht sein: 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Vgl. G.S. Cansdale / M. Schütz-Schuffert, Art. Tiere, GBL, 3, 1562. A.a.O. Cansdale-Schütz-Schuffert a.a.O., 1563. Vgl. Bauer-Aland, 851. Vgl. Friedrich Nietzsches Gedicht „Die Krähen schrei’n / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / Bald wird es schnei’n, / Weh dem, der keine Heimat hat.“ „Hat nicht zur Verfügung“, „weiß nicht“, vgl. BDR § 368,4. Vgl. Cullmann, 154ff. Nur einen künftigen Menschensohn lässt Bultmann Theol, 45f, in den Jesuslogien gelten. Luz II 23. Nach Aland Syn, 119, erscheint er danach noch 30 Mal im Matthäusevangelium. Vgl. meinen Danielkommentar 280f.

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„Die Füchse haben Gruben und die Vögel haben Nester, aber der Mensch hat nichts.“27 Vielmehr stellt Jesus den verachteten (Fuchs) und gering taxierten (Vögel, z.B. „zwei Sperlinge für einen Groschen“, Mt 10,29) Tieren die göttliche Gestalt des Menschensohnes gegenüber, der kein Zuhause und keinen menschlichen Schutz hat.28 Wohl ist Jesus Gast bei seinen Jüngern und Freunden in Kapernaum. Aber die Heimat in Nazareth hat er verlassen (Mt 4,13; Joh 2,12) und das Haus in Kapernaum gehört ihm nicht. Uns scheint, dass in Mt 8,20 überdies ein prophetisches Programm zum Ausdruck kommt: Jesus muss in der kommenden Zeit wandern und wirken, „so lange es Tag ist“ (Mt 9,35; Mk 1,38; Joh 9,4). Jesus hat in Mt 8,20 die Bitte des Schriftgelehrten nicht abgelehnt.29 Er hat auch seine Motivation nicht in Zweifel gezogen. Er hat ihm nur gezeigt, welche Konsequenzen die Erfüllung seiner Bitte hat, und ihm damit indirekt die Frage gestellt, ob er dies alles um der Nachfolge willen auf sich nehmen wolle.30 Eine Frage bleibt es, warum Matthäus nicht am Anfang des Menschensohn-Sprachgebrauchs deutlicher erklärt, was der Menschensohn sei.31 Erst im Prozess Jesu (Mt 26,63f ) bekommen wir ein genaueres Bild von dem, was damit gemeint ist. Vorläufig können wir uns nur auf folgende Feststellungen beschränken: 1) Matthäus hat den Menschensohn-Titel geschätzt. Auch diejenigen, die Matthäus aus der Redequelle Q, aus Markus und einem Sondergut ableiten, bestätigen, dass er die Menschensohn-Sprüche beibehalten hat.32 2) Jesus selbst hat den Menschensohn-Titel bevorzugt für sich gebraucht und mit dem „Gottesknecht“ von Jesaja verbunden.33 3) Die biblische Wurzel dieser Bezeichnung ist Dan 7,13ff, eine vorjesuanische jüdische Tradition liegt in den Bilderreden des äthiopischen Henoch (Kap. 37–71) vor.34 4) Einerseits war also der Begriff Menschensohn für jüdische Hörer verständlich. Andererseits war es wohl kein allseits üblicher Begriff für den Messias, sondern typisch jesuanisch.

27 Gegen Bultmann Gesch, 27; C. Colpe, Art. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, ThWNT, VIII, 1969, 435; Beare, 213; Theißen-Merz, 474. Wie wir Cullmann, 157. 28 Vgl. Cullmann, 165f; Luz II 23; Jeremias Gleichnisse, 217. 29 Anders Riesner, 416: Mt 8,20 komme einer Ablehnung gleich. 30 Vgl. Riesner, 416f. 31 Vgl. Schlatter, 130. 32 Colpe a.a.O., 464f. 33 Cullmann, 138ff; Colpe a.a.O., 440f; Stuhlmacher I, 107ff; Riesner, 329f. 34 Cullmann, 142ff. Der 4. Esra scheint mir als Interpretationsquelle zu spät zu sein.

5. Möglichkeit und Notwendigkeit der Nachfolge, 8,18-22

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Vers 21 schildert eine zweite Begegnung: Ein anderer aber von seinen Jüngern sagte zu ihm: Herr, erlaube mir,35 dass ich zuerst hingehe und36 meinen Vater begrabe. Wir sahen schon, dass die Wendung ein anderer von seinen Jüngern (ἕτερος δὲ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ [heteros de tōn mathētōn autou]) voraussetzt, dass beide Männer, der von V. 19 und der von V. 21, bereits zu den Jüngern Jesu gezählt wurden. Diese Beobachtung ist unabhängig von der Lösung der textkritisch schwierigen Frage, ob αὐτοῦ [autou] ursprünglich ist. Die Situation in V. 21 scheint zeitlich dieselbe zu sein wie in V. 19, nämlich kurz vor Abfahrt des Bootes. Lk 9,57ff lässt die Zeit allerdings offen. Die Anrede Herr ist respektvoll wie in V. 2 und 6. Sie sollte jedoch nicht dem Rabbi von V. 19 entgegengesetzt werden, denn auch Rabbi ist durch Verehrung und Respekt geprägt (vgl. Joh 20,16). Der Sinn der Bitte erlaube mir, dass ich zuerst hingehe und meinen Vater begrabe ist offensichtlich der: „Lass mich für kurze Zeit deine Nachfolge unterbrechen (ἀπελθεῖν [apelthein] = weggehen) und meinen Vater begraben, danach will ich als dein Jünger wiederkommen.“ Die Begräbnispflicht, insbesondere Vater und Mutter gegenüber, galt im Judentum als eine der höchsten Pflichten. Ein frühes Zeugnis dafür ist das Tobitbuch (Tob 1,20f; 2,2ff; 4,3ff ). Beate Ego rechnet „Die Totenbestattung … zu den bedeutendsten Liebeswerken im Tobitbuch“.37 Für die späteren Rabbinen stellt Gottlob Schrenk fest: „Die Bestattung der Leiche – auch für den Priester die des Vaters – ist unbedingte Pflicht der Pietät.“38 Nach b Meg 3b ist die Bestattung eines „Pflichttoten“ (in erster Linie der Vater!) wichtiger als Tempeldienst und Studium der Tora.39 Die Bitte von V. 21 ist also höchst verständlich. Oder sollte die Nachfolge Jesu wichtiger sein als Tempeldienst, Torastudium und Bestattungspflicht? Die Antwort Jesu in V. 22 ist wesentlich schroffer als in V. 20, und sie geht in eine ganz andere Richtung. Es wird sowohl durch Mt 8,18ff als auch durch Lk 9,57ff deutlich, dass Jesus im seelsorgerlichen Gespräch durchaus verschiedene Antworten geben konnte. Den Schriftgelehrten (V. 19) warnte er, den zweiten Jünger (V. 21) drängte er zur Nachfolge. Jesus aber sagt zu ihm: Folge mir! Und lass die Toten ihre Toten begraben! Mit anderen Worten: Jesus erlaubt dem Bittsteller nicht, seinen Vater zu begraben. Diese Antwort hat heiße Diskussionen ausgelöst: Handelt es sich

35 36 37 38 39

Oder: „gestatte mir“, vgl. BDR § 409,1. καί [kai] im Sinne von „damit“, BDR § 442,9. JSHRZ II, 6, 1999, 924. Im Art. πατήρ usw.,ThWNT, V, 1954, 982, 236. Schon Mischna Ber III, 1.

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um einen „Gesetzesbruch“, einen „Verstoß gegen das Elterngebot“40? Aber wie reimt sich dann Mt 8,22 mit Mt 5,17-20 zusammen? Hengel-Schwemer weisen auf Ez 24,15-17 hin, sehen aber Mt 8,21f „weit über“ die HesekielStelle „hinaus“-gehen und meinen, Mt 8,21f sei ein Beleg für das „radikale“ Verständnis der Gottesherrschaft bei Jesus.41 Gottlob Schrenk erklärt die Schroffheit Jesu damit, dass der Bittsteller nicht zurückkommen wolle.42 Aber wir müssen eher annehmen, dass er bereit war, nach dem Begräbnis in die Nachfolge zurückzukehren.43 Dafür spricht jedenfalls das sonst unverständliche πρῶτον [ prōton] (zuerst!), aber auch der Wille Jesu, ihn als Jünger zu behalten. Wie zugespitzt die Antwort Jesu ist, zeigt ein Vergleich mit 1Kön 19,20f. Diese Elia-Elisa-Geschichte ist in manchem fast ein Modell für die Jüngerberufungen Jesu. Aber dort erlaubt Elia sogar einen zeitweiligen Aufschub der Jüngerschaft Elisas durch das Abschiednehmen von Vater und Mutter. Hier, in Mt 8,21f, erlaubt Jesus nicht einmal das Begräbnis des Vaters durch seinen Jünger. Ist Jesus also mehr als Elia? Manche Autoren vermuten, dass der Fragende ein Zauderer sei, ja einer, der sich „an der entschlossenen Nachfolge vorbeizudrücken“ sucht,44 oder gar ein Mann ohne „commitment“ und voller „insincerity“.45 Damit würde Jesu Verhalten verständlicher. Sehr schwierig wird es mit dem Verständnis aber dort, wo man wie Ulrich Luz „etwas Unmenschliches“ an Jesus konstatiert.46 Ausgangspunkt für das Verständnis müssen die Worte Folge mir (ἀκολούθει μοι [akolouthei moi])! sein. Sie sind in Mt 8,22 und Lk 9,59 gleich. Der „Gegensatz“ liegt also nicht in der Alternative: „Tote begraben“ oder „die Botschaft versäumen“,47 sondern in der Alternative: Pietät gegenüber dem Vater oder Pietät gegenüber dem göttlichen Messias. In der Tat sind Mt 10,37; Lk 14,26 eng mit Mt 8,22 verwandt.48 Der Ruf Folge mir!, der an den Zöllner Matthäus (Mt 9,9), an den reichen Jüngling (Mt 19,21) und viele andere erging (vgl. Joh 1,43; 21,19.22), bindet das gesamte Leben an Jesus, was allen anderen Bindungen vorgeht, weil es eine Bindung an den lebendigen, dreieinigen Gott ist. Ist das klar, dann werden auch die Vorbilder im AT 40 41 42 43 44 45 46 47 48

So Theißen-Merz, 327.330. Hengel-Schwemer, 290, Anm. 84. Schrenk a.a.O., 982, Anm. 235. So auch Zahn, 348; Beare, 214; Schlatter, 131. Schrenk a.a.O., 982. Carson, 209; ähnlich Tasker, 91. Luz II 25. Gegen Schrenk a.a.O. Schniewind, 114.

5. Möglichkeit und Notwendigkeit der Nachfolge, 8,18-22

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erkennbar. Das sind zunächst die Ordnungen für den Hohepriester und für den Nasiräer (Gottgeweihten). Beiden wird untersagt, zu einem Toten zu kommen, sogar wenn es der eigene Vater ist (Lev 21,11; Num 6,6f ).49 Darüber hinaus enthält der Mosesegen in Dtn 33 eine allgemeine Aussage über den ganzen Stamm Levi: „der von seinem Vater und von seiner Mutter spricht: Ich sehe ihn nicht, und von seinem Bruder: Ich kenne ihn nicht, und von seinem Sohn: Ich weiß nichts von ihm“ (Dtn 33,9). Hier wird das Verhältnis zu Gott dem Verhältnis zum Vater und den engsten Verwandten eindeutig vorgeordnet. Dieselbe Vorordnung nimmt Jesus in Mt 8,22 für sich in Anspruch. Dazu hat er das Recht, weil er Gottes Sohn und der messianische Welterlöser ist (Mt 1,1ff ).50 Mit einem „Wandercharismatikertum“51 oder einer „Radikalität“ der Reich-Gottes-Auffassung52 hat das zunächst wenig zu tun. Schon gar nicht geht es um einen Gesetzesverstoß Jesu,53 sondern im Gegenteil um die Erfüllung des Gesetzes. Einzelheiten: Das zweimalige Präsens λέγει [legei] in V. 20 und 22 unterstreicht die Allgemeingültigkeit der Aussagen Jesu. Letztere lassen sich deshalb auch auf weitere Fälle der Nachfolge anwenden. Die Toten von V. 22 sind im übertragenen Sinn zu verstehen.54 Allerdings liegt ein Wortspiel vor, das die geistlich Toten (erste Erwähnung) mit den leiblich Toten (zweite Erwähnung) verbindet. Der Sinn des letzten Satzes in V. 22 ist also: „Lass die geistlich Toten, die noch nicht meine Nachfolger sind, ihre (= in ihrer Familie) leiblich Toten begraben!“

IV Zusammenfassung 1. Die Bindung an Jesus in Treue und Liebe geht allen anderen Bindungen vor. Auch den Bindungen an engste Verwandte wie Vater und Mutter. 2. Das ist kein Gesetzesverstoß, sondern entspricht der Priorität des ersten Gebotes im Dekalog und den Ordnungen des AT (Dtn 33,8ff; Lev 21,11; Num 6,6f ).55 49 Von da aus möchte man annehmen, dass auch der Vater in Mt 8,21 schon tot war. Ebenso Schlatter, 131. 50 Vgl. France, 160; Schniewind, 114. 51 Gegen Theißen-Merz, 330.206.179; Fiedler, 209. 52 Gegen Hengel-Schwemer, 290, Anm. 84. 53 Gegen Fiedler, 209. 54 R. Bultmann, Art. νεκρός usw., ThWNT, IV, 1942, 898; France, 160. Die Angehörigen des Jüngers von V. 21 scheinen noch keine Jesus-Anhänger gewesen zu sein (Zahn, 348f ). „Der verstorbene Vater hat andere Angehörige, die in der üblichen Weise für seine Bestattung sorgen werden“ (Zahn, 348). 55 Vgl. Beare, 214.

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3. Mt 8,18-22 setzt innerhalb des Matthäusevangeliums erstmals Regeln für die Nachfolge Jesu fest. Warum hat sie Matthäus ausgerechnet in die Mitte des Wunderkapitels Kap. 8 hineingestellt? Es hätte ja auch andere Möglichkeiten gegeben (vgl. Lk 9,57ff ). Eine Antwort könnte sein, dass er betonen wollte: Nicht die geschehenen Wunder sind das Wichtigste, sondern die Person Jesu.56 4. Jedenfalls handelt es sich bei Mt 8,18-22 nicht um „ideale“ oder fiktive Szenen,57 sondern um echte geschichtliche Begegnungen.58 5. Auffällig sind die vielen wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Mt 8,19-22 und Lk 9,57-60.59 Wir haben also beiderseits den Bericht über dieselben Vorgänge. Auch sachlich decken sich Matthäus und Lukas. Der größte Unterschied besteht darin, dass Lukas in 9,60 anfügt: „Du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes.“ Aber dieser Satz bleibt dem ἀκολούθει μοι [akolouthei moi] von V. 59 untergeordnet und stellt folglich eine Explikation von V. 59 dar. Weshalb Matthäus nur zwei, Lukas aber drei derartige Begegnungen bringt, wissen wir nicht. 6. Es deutet sich hier schon sachlich an, dass Jesus mehr ist als Elia (Mt 16,14ff ), mehr als Jona (Mt 12,41), mehr als Salomo (Mt 12,42), mehr als der Tempel (Mt 12,6), mehr als die Tora (Mt 12,8), mehr als Jakob und die Patriarchen (Joh 4,12), mehr als Abraham (Joh 8,53).

6. Die Stillung des Seesturms, 8,23-27 I Übersetzung 23 Und als er ins Boot stieg, folgten ihm seine Jünger. 24 Und siehe, da erhob sich ein großes Unwetter auf dem Meer, sodass das Boot von den Wellen bedeckt wurde. Er aber schlief. 25 Und sie kamen und weckten ihn mit den Worten: Herr, hilf! Wir gehen unter! 26 Und er sagt zu ihnen: Warum seid ihr furchtsam, ihr Kleingläubigen? Dann erhob er sich und gebot den Winden und dem Meer. Und es trat eine große Stille ein. 27 Die Menschen aber staunten und sagten: Was für einer ist das, dass ihm sogar die Winde und das Meer1 gehorchen? 56 57 58 59 1

Vgl. Riesner, 427. Gegen Bultmann Gesch, 27f. So auch Colpe a.a.O., 435. Vgl. Colpe a.a.O. Vgl. BDR § 444,4.

6. Die Stillung des Seesturms, 8,23-27

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II Struktur Mt 8,23-27 ist eng mit Mt 8,18-22 verflochten. Die Erwähnung des Bootes und das Einsteigen ins Boot nehmen direkt Bezug auf V. 18. Das hat dazu geführt, dass Ausleger wie Luz aus Mt 8,18-27 einen Gesamtabschnitt bildeten, etwa unter der Überschrift „Nachfolge in den Sturm“.2 Aber die Situationen und der Stil der Erzählung sind doch sehr verschieden. In V. 18-22 geht es um Lehrentscheidungen, in V. 23-27 um Jesu messianische Wundertat. Der Skopus von V. 18-22 lautet: Die Nachfolge geht allem vor, der Skopus von V. 23-27 dagegen: Seine Macht geht über alles. Erneut erzählt Matthäus knapper als Markus und Lukas, ohne dass man alle Eigenarten des Matthäus zwingend aus einer „Theologie des Matthäus“ ableiten könnte. Im Wortlaut stehen sich Markus und Lukas am nächsten. Am meisten leuchtet die Annahme ein, dass jeder der drei Evangelisten auf eine mündliche oder schriftliche Überlieferung zurückgreifen konnte, die in der Gemeinde Jesu schon länger tradiert wurde und die in bestimmten Zügen schon nachhaltig durchgeformt war.

III Einzelexegese Vers 23 schildert die Ausführung der Absicht und des Befehls von V. 18: Und als er ins Boot stieg, folgten ihm seine Jünger. Folgen, ἀκολουθεῖν [akolouthein], hat hier einen Doppelsinn: Gemeint ist sowohl das äußerliche Nachfolgen als auch die innere Haltung des Jüngers. Wie groß der Kreis dieser nachfolgenden Jünger war, lässt sich nicht sagen. Die auffallende Bemerkung des Markus: „und es waren noch andere Boote bei ihm“ (Mk 4,36), deutet auf eine größere Zahl von Jüngern.3 Jedenfalls geht die Fahrt vom Westufer zum Ostufer des Sees Genezareth. Jesus hat diese Fahrt öfter unternommen (Mt 14,22; 16,5; Joh 6,1). Bei der Überfahrt erhob sich ein großes Unwetter auf dem Meer = auf dem See Genezareth (V. 24). Mk 4,37 und Lk 8,23 sprechen von einer λαῖλαψ [lailaps], einem Wirbelsturm oder Sturmwind. Nach Mk 4,35 war schon die Dunkelheit hereingebrochen. Matthäus gebraucht hier das Wort σεισμός [seismos], das sonst ein Erdbeben oder kosmisches Beben bezeichnet.4 Günther Bornkamm glaubt, dass Matthäus mit der Wahl des Begriffes σεισμός [seismos] bewusst „an die apokalyptische Bedeutung“ von σεισμός [seismos] er2 Luz II 20. Auch Fiedler, 207. 3 Diese Bemerkung ist keineswegs „unverständlich“ (gegen Bultmann Gesch, 230), sondern bei größerer Jüngerzahl sachlich und gut begründet. Nach Klostermann, 76, „überflüssig“, nach Davies-Allison, 71, „enigmatic“. 4 Vgl. G. Bornkamm, Art. σείω usw., ThWNT, VII, 1964, 197.

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innern wollte, um „eine beispielhafte und sinnbildliche Auslegung zu geben“.5 Das ist aber wenig wahrscheinlich, weil alle drei Evangelisten ihren Skopus offen auf den Tisch legen: Was für einer ist das …? Mit Apokalyptik hat das wohl wenig zu tun.6 Vielmehr legt es sich vom Verb σείω [seiō] (= erschüttern) her nahe, σεισμός [seismos] als „die (heftige) Bewegung des Wassers, hervorgerufen durch einen Sturm“7 aufzufassen. Ich selbst habe es am See Genezareth erlebt, wie häufig um ca. 15 Uhr ein Wind hereinfiel, der bald das Wasser zu Wellen formte. Im Fall von Mt 8,23ff parr entwickelte sich das Unwetter so, dass das Boot von den Wellen bedeckt wurde. Wellen, Sturm und Dunkel – wie rasch konnte das alles zu einem Bild für das bedrängte Gottesvolk werden. Sap Sal 14,1ff und Jud 13 sind dafür ebenso Belege wie Jona 2,3ff unter den Propheten und Ps 18,5; 69,2f; 77,17ff; 107,23ff in den Psalmen. Eine Transparenz von Mt 8,23ff zu einer geistlichen Auslegung war daher von Anfang an gegeben. Dagegen ist eine Deutung des σεισμός [seismos] auf ein Seebeben nicht sehr wahrscheinlich.8 Er aber schlief (αὐτὸς δὲ ἐκάθευδεν [autos de ekatheuden]): Welch ein Gegensatz zu den sturmgepeitschten Elementen! Welch ein Gegensatz zu den verzweifelten Jüngern! Sowohl das Imperfekt ἐκάθευδεν [ekatheuden] als auch die markinische Partizipialkonstruktion ἦν καθεύδων [ēn katheudōn] (Mk 4,38) machen klar, dass Jesus die ganze Zeit über, in der das Unwetter entstand und tobte, ermüdet9 und friedlich schlief. Ps 4,9 erfüllte sich hier buchstäblich, ebenso Ps 139,3. Jesu Leben war von einer tiefen Psalmenfrömmigkeit geprägt. Nicht weniger als die Schilderung des Bootes in Sturm und Wellen lud der 25. Vers zu einer geistlichen Deutung ein: Und sie kamen und weckten ihn mit den Worten: Herr, hilf (κύριε, σῶσον [kyrie, sōson])! Wir gehen unter (ἀπολλύμεθα [apollymetha])! Sie kamen (προσελθόντες [ proselthontes] auch Lk 8,24) meint natürlich nicht das Zurücklegen einer Wegstrecke,10 sondern bedeutet so viel wie: „Sie wandten sich an ihn“ / „Sie fingen an, ihn zu wecken …“ / „Sie sprachen ihn an“.11 Sie weckten ihn: Von alleine wurde er also nicht wach. Davies-Allison weisen auf biblische Aussagen hin, die den vermeintlich schlafenden Gott 5 6 7 8 9 10 11

Bornkamm a.a.O., 198. Ebenso Carson, 214f; France, 161. Bauer-Aland, 1493. Hier hat Bornkamm a.a.O., 197f, recht. France, 161; Schlatter, 132. Anders Hendriksen, 410: „They went to the stern of the boat.“ Bauer-Aland, 1428; Gundry, 155; Beare, 215.

6. Die Stillung des Seesturms, 8,23-27

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Israels aufwecken wollen (Ps 35,23; 44,23f; 59,5f; Jes 51,9). Im Grunde aber weiß Israel: „Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht“ (Ps 121,4). Es geht in den genannten Bibelstellen also nur darum, Gott zum Eingreifen zu bewegen. Ganz anders in den außerisraelitischen Religionen. Hier rechnet man tatsächlich mit einem Gottesschlaf (1Kön 18,27). In die Szene von Mt 8,24 sollte man jedoch keine mythologischen Züge einmischen. Vielmehr ist Jesus hier der vollkommen Vertrauende, fern von sündigem Zweifel und Misstrauen gegen Gott. Zwei Rufe notiert Matthäus: Herr, hilf! und: Wir gehen unter! Das ἀπολλύμεθα [apollymetha] findet sich bei allen drei berichtenden Evangelien (vgl. Mk 4,38; Lk 8,24). Die verschiedenen Fassungen der Anrede – κύριε [kyrie] bei Matthäus, διδάσκαλε [didaskale] bei Markus, ἐπιστάτα [epistata] bei Lukas – geben keinen Grund, von „Widersprüchen“ zu reden. Wie Tasker mit Recht bemerkt,12 werden in der Todesangst verschiedene Rufe laut geworden sein. Wer nur einen dieser Rufe für erlaubt hält, zeigt, dass er nichts dergleichen durchgemacht hat. Das gilt auch hinsichtlich des Ausrufs bei Markus (4,38): „kümmerst du dich nicht darum, dass wir untergehen?“ Die verschiedenen Versuche, hier eine Bearbeitung des Markustextes durch Matthäus aufzuweisen,13 wirken frustrierend und wenig sinnvoll. Wichtig aber ist, dass ἀπολλύμεθα [apollymetha] zwei Aussage-Ebenen enthält: 1) den äußeren Untergang in Sturm und Wellen, 2) das ewige Verlorensein im Gericht Gottes.14 Hier in Mt 8,25 steht zweifellos die erste dieser Ebenen im Vordergrund. Das Ganze bleibt aber transparent in Richtung 2). Es gibt zu denken, dass in Mt 8,23ff parr vier professionelle Fischer, die mit den Tücken des Sees vertraut waren, in solche Todesangst geraten.15 Herr, hilf (κύριε, σῶσον [kyrie, sōson]) oder „Herr, rette“16 ist ein Ruf, den nur Matthäus niederschrieb. Herr (κύριε [kyrie]) begegnete uns schon öfter als typische Anrede Jesu durch die Jünger (7,21.22; 8,2.6.8.21). Vermutlich geht σῴζειν [sōzein] auf hebr. ‫ [ ישׁע‬jschʿ] zurück. Dann entspricht σῶσον [sōson] einem hebr. ‫שׁיָעה־נָא‬ ִ ‫[ הוֹ‬hōschīʿāh-nāʾ] („Hoschianna“) oder ‫שׁיָעה‬ ִ ‫[ הוֹ‬hōschīʿāh] („Hoschia“). Dies ist ein häufiger Hilferuf in den Psalmen (Ps 3,8; 6,5; 7,2; 12,2; 20,10; 22,22; 28,9; 31,17; 54,3; 59,3; 60,7; 69,2; 71,2; 86,16; 108,7; 109,26; 118,25; 119,94).17 Es kann sich dabei aber auch um einen ganz 12 13 14 15 16 17

Tasker, 92f; Maier I, 276; auch Hendriksen, 410; Carson, 215. Vgl. Gundry, 156; Beare a.a.O. A. Oepke, Art. ἀπόλλυμι usw., ThWNT, I, 1933, 393ff. Davies-Allison II 72; Hendriksen a.a.O.; Schlatter, 132f. So Klostermann, 78; Luz II 20.27. G. Fohrer im Art. σῴζω usw., ThWNT, VII, 1964, 976.

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gewöhnlichen Hilferuf unter Menschen handeln.18 Im NT kommt σῴζειν [sōzein] nach der Feststellung von Werner Foerster „Abgesehen vom religiösen Sprachgebrauch … nur in bezug auf eine akute Gefahr des leiblichen Lebens vor.“19 Das bestätigt unsere bisherigen Beobachtungen zu der lebensbedrohenden Situation in Mt 8,23ff. Aber nun zeigen sich auch bei σῴζειν [sōzein] zwei Aussage-Ebenen: 1) die äußere Rettung aus Sturm und Wellen, 2) die ewige Rettung aus dem Gericht Gottes und damit das ewige Heil.20 Wieder müssen wir festhalten, dass es in Mt 8,23ff zunächst um die äußere Rettung geht. Danach klingt im Hintergrund auch die zweite Aussage-Ebene an. Pierre Bonnard21 dachte daran, dass κύριε σῶσον [kyrie sōson] einen liturgischen Charakter haben könnte, entsprechend dem κύριε ἐλέησον [kyrie eleēson] der griechischen Liturgie. Aber σῶσον [sōson] ist nicht dasselbe wie ἐλέησον [eleēson]. Matthäus wollte in 8,23ff auch wohl kaum einen Bezug zum Gottesdienst herstellen, sondern viel eher zur verfolgten und leidenden Gemeinde.22 Positiv bleibt festzuhalten, dass sich die Jünger nicht ihrer Verzweiflung überlassen, sondern den Weg zu Jesus finden. In ihren Hilferuf hat R. Gundry aber zu viel hineingelegt, wenn er schreibt: „the disciples ask for a miracle“.23 Nein, Jesus soll tun, was er für richtig hält.24 Seine Zuwendung – und das geht über Gundry hinaus – ist mindestens ebenso gefragt wie die Beendigung der Not (vgl. Mk 4,38). Jesu „majesty“ und „authority“, die die angelsächsischen Autoren so sehr betonen,25 tritt nun in V. 26 unverhüllt hervor: Und er sagt zu ihnen: Warum seid ihr furchtsam, ihr Kleingläubigen? Dann erhob er sich und gebot den Winden und dem Meer. Und es trat eine große Stille ein. Damit tut Jesus mehr, als die Jünger erbeten hatten. Ihre Bitte hatte nicht gelautet: „Herr, stille den Sturm und die Wellen!“, sondern viel einfacher: Herr, hilf! Dass Gott und Jesus „über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen“ (Eph 3,20), handeln können, blitzt in dieser Stunde auf. Die Reihenfolge der Geschehnisse ist bei Matthäus anders als bei Markus und Lukas. In Mk 4,39f und Lk 8,24f stillt Jesus zuerst Sturm und Wellen und stellt dann die Frage nach dem Glauben der Jünger. In Mt 8,26 dagegen stellt 18 19 20 21 22 23 24 25

Fohrer a.a.O., 974. Foerster a.a.O., 989. Vgl. Foerster a.a.O., 990ff. Bonnard, 120. Ähnlich Beare a.a.O.; Fiedler, 210. Ähnlich wie wir Carson, 215. Gundry, 156. Vgl. Beare a.a.O.; Sand, 187. Davies-Allison II 73ff; Gundry, 156; Hendriksen, 412.

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er zuerst die Glaubensfrage und stillt dann Sturm und Wellen. Wie die Abfolge in Wirklichkeit war, können wir nicht mehr sagen. Weil beides in der gottgeschenkten Bibel nebeneinandersteht, sollen wir es offenbar auch nicht wissen. Aber beide Reihenfolgen geben einen tiefen geistlichen Sinn. Oft muss Gott zuerst die Frage nach unserem Glauben stellen, bevor er eingreift. In anderen Fällen jedoch zeigt er sich zuerst als Herr aller Dinge und geht dann mit uns in ein seelsorgerliches Gespräch.26 Bei Matthäus jedenfalls hat die Glaubensfrage Vorrang. Das stimmt mit den Grundlinien des Evangeliums überein (vgl. Mt 6,30; 8,10; 14,31; 15,28; 16,8; 17,20). Warum seid ihr furchtsam (δειλοί [deiloi])? In Jesu Augen gibt es keinen Grund dazu. δειλός [deilos] ist „feige“, „verzagt“, furchtsam. Nach Offb 21,8 sind die δειλοί [deiloi] von der neuen Schöpfung ausgeschlossen. Sie fürchten nämlich nicht den lebendigen Gott, sondern jemand oder etwas aus der Welt der Schöpfung. Wer wirklich Gott fürchtet, kann die Furcht vor den Elementen und Mächten dieser Welt überwinden. Jesus spricht den Jüngern nicht etwa den Glauben total ab – das tut er auch in Mk 4,41 und Lk 8,25 nicht.27 Aber ihr Glaube reicht nicht aus für die Nachfolge. Sie sind Kleingläubige (ὀλιγόπιστοι [oligopistoi]), vgl. Mt 6,30; 14,31; 16,8. Gerade auf dem Hintergrund des großen Glaubens, den der heidnische Hauptmann hatte (8,10), ist das ein herber Tadel. Der Begriff ὀλιγόπιστοι [oligopistoi] geht auf das aramäische ‫ְקַטנֵּי ֲאָמנָה‬ [qᵉthannē ʾᵃmānāh] zurück28 und fehlt bei den Griechen.29 Adolf Schlatter hat in seiner Auslegung von Mt 8,26 einige bemerkenswerte Sätze zu diesem Kleinglauben geschrieben: Der Kleingläubige ist jemand, „der seinen Glauben gerade dann, wenn er sich als groß und stark bewähren sollte, verliert. Der Kleingläubige läßt Gottes Macht und Hilfe aus den Augen, sowie er sie in besonderem Maße nötig hat. Er läuft in verkehrter Richtung.“30 Dann erhob er sich und gebot den Winden und dem Meer: Das erhob sich (ἐγερθείς [egertheis]) erinnert an Gottes Sich-Aufmachen, um alle seine Feinde in die Schranken zu weisen (Ps 68,2; 76,10; 82,8; 94,2 usw.). Das griechische ἐπιτιμᾶν [epitiman] bedeutet „anfahren“, „schelten“, gebieten.31 Es drückt in der LXX das machtvolle Schelten und Strafen Gottes aus, das

26 27 28 29 30 31

Vgl. Tasker, 93. Carson, 215. Anders Gundry, 156. Vgl. b Sota 48b; Strack-Billerbeck I 438f. R. Bultmann, Art. πιστεύω usw., ThWNT, VI, 1959, 205. Schlatter, 133. Vgl. E. Stauffer, Art. ἐπιτιμάω usw., ThWNT, II, 1935, 620ff.

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allem Gottwidrigen seine Grenze setzt.32 Jesu herrscherliches Gebieten, das weder bei Mose noch bei den Propheten oder Rabbinen eine Parallele hat,33 geschieht in der Vollmacht des Gottessohnes. Gerade Sturm und Wellen gegenüber hat Gott immer wieder so gehandelt (Ps 65,8; 74,13; 76,8ff; 78,13; 89,10; 93,3f; 107,23ff ).34 Wenn irgendwo, dann ist hier das Wort von Luz berechtigt: „Die alte Kirche hat hier sachlich zu Recht von der Gottheit Jesu gesprochen.“35 E. Stauffer erklärt, dieser Christus sei „wieder Gebieter, wieder Herr und König der Natur“.36 Der Plural die Winde spiegelt die λαῖλαψ [lailaps], den Wirbelwind (Mk 4,37; Lk 8,23), der Böe um Böe über das Wasser fegt. Und es trat eine große Stille ein: Ein Wort Jesu hat genügt (genauer berichtet Mk 4,39). Offenbar müssen wir uns Winde und Meer als „Willensmächte“ denken,37 das heißt als von Engelmächten gesteuerte Elemente. In dem Wort Stille sammelt sich eine ganze Reihe von Erfahrungen aus der Gottesgeschichte: Eine göttliche Ruhe beschließt das Schöpfungsgeschehen (Gen 2,2), zur Stille brachte Gott Meer und Wellen (Ps 65,8; 89,10), zur Stille das Ungewitter (Ps 107,29), und Stille entstand nach den ersten sechs Siegeln der Offenbarung (Offb 8,1). Vergleiche auch Hab 2,20. Hier vollzieht sich die Anerkennung der Gottheit Jesu durch die Mächte der Schöpfung. Vers 27 schildert die Reaktion, die die Sturmstillung auslöste: Die Menschen aber staunten (οἱ δὲ ἄνθρωποι ἐθαύμασαν [hoi de anthrōpoi ethaumasan]). Man diskutiert, weshalb Matthäus von οἱ ἄνθρωποι [hoi anthrōpoi] spricht und wer mit den Menschen gemeint sei.38 Nicht auszuschließen ist, dass die Jünger im Boot gemeint sind, die als Menschen der Gottheit Jesu gegenübergestellt werden.39 Oder sind es Leute, „die später von der Stillung des Sturmes hörten“?40 Oder solche, die wie die Jünger ebenfalls Zeugen jener Vorgänge wurden?41 Am nächstliegenden scheint die Annahme, dass nicht spätere Hörer, sondern direkte Zeugen der Sturmstillung gemeint sind und

32 Stauffer a.a.O., 620. 33 Strack-Billerbeck I 489f weisen auf b BM 59b als Parallele hin. Aber dort kommt das Meer erst auf das Gebet R. Gamliels hin zur Ruhe. 34 Vgl. Davies-Allison II 74. 35 Luz II 27. 36 Stauffer a.a.O., 623. 37 So Stauffer a.a.O. Vgl. Davies-Allison II 74. 38 Vgl. Bultmann Gesch, 230. 39 So Hendriksen, 412. 40 Zahn, 362 (nach Fritzsche); Klostermann, 76. 41 Zahn a.a.O. und Klostermann a.a.O. nach Hieronymus. Weitere Überlegungen bei Zahn a.a.O.; Luz II 27f.

6. Die Stillung des Seesturms, 8,23-27

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dass der Begriff Menschen Jünger und Nicht-Jünger zusammenfasst.42 Dahin deuten jedenfalls Mk 4,41 und Lk 8,25. Eine solche Annahme verträgt sich bestens mit den „anderen Booten“ von Mk 4,36. Sie empfiehlt sich schließlich auch durch Mt 9,33. Nach Matthäus sagten sie: Was für einer ist das, dass ihm sogar die Winde und das Meer gehorchen? Sachlich lautet die Reaktion in Mk 4,41 und Lk 8,25 genauso. Gundry versteht das ποταπός [ potapos] als „How wonderful!“ und nicht als „What kind of?“43 Aber der Zusammenhang und der überwiegende Sprachgebrauch erfordern ein stark deliberatives Element: Was für einer?44 Vergleiche auch Mk 1,27; Lk 4,36; Joh 7,15. Dass ihm (ὅτι [hoti]) hat den Sinn von „in Anbetracht dessen, dass“.45 Die in V. 27 gestellte Frage betrifft in erster Linie nicht die Möglichkeit eines solchen Wunders („Wie ist es möglich, dass“ u.ä.), sondern die entscheidende Person: Was für einer ist Jesus? Sie setzt also tiefer an als ein ideologisch gefangener Rationalismus, in dessen Interessenmittelpunkt die „Wundererklärung“ steht. Die Menschen haben damals begriffen, dass der Schlüssel zum Verständnis nicht in einem Weltbild, sondern in der Person Jesu liegt. Alle drei Evangelisten lassen übrigens die gestellte Frage offen, damit der Leser selbst sie aufnehmen und beantworten soll.

IV Zusammenfassung 1. In Mt 8,23-27 zeigt sich Jesus als Herr und König über die Schöpfung. Dies ist ein wesentlicher Aspekt seiner Gottessohnschaft. Spätere Aussagen wie 1Kor 8,6; Kol 1,16 wurzeln unter anderem in solchen Erfahrungen, wie sie in Mt 8,23ff geschildert sind. 2. Man kann überlegen, ob nicht die Jonageschichte eine Art Modell für Mt 8,23ff abgegeben hat. Im Einzelnen finden sich manche Parallelen.46 Insgesamt wird man jedoch mit Fiedler urteilen müssen: „Die Übereinstimmung mit Jona … ist … rein äußerlich.“47 3. Anders steht es beim „symbolischen Sinn“, den Theißen-Merz neuerdings wieder betont haben.48 Schon aufgrund der Rolle, die Metaphern wie Sturm, Wind, Wellen, Meer im AT spielen (Nachweise oben), bleibt Mt 8,23ff 42 43 44 45 46 47 48

Ähnlich France, 162. Gundry, 156. BDR § 298,3. BDR § 456,2.6. Vgl. Gundry, 156; Davies-Allison II 70.73. Fiedler, 210. Theißen-Merz, 282. Aber auch Luz II 27ff.

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transparent und aussagefähig für geistliche Deutungen. Diese gab es schon in der alten Kirche. Ephraem der Syrer beispielsweise zog aus Mt 8,23ff den Schluss, dass unser Geist mit den „Wogen“ der Streitsucht und des Grübelns fertigwerden könne.49 Petrus Chrysologus sprach von „Christus in unserem Lebensschiff “, der uns gegen alle Unbill, Sturm und Unwetter hilft.50 Gerne haben auch die Erweckungsprediger späterer Zeiten Mt 8,23ff geistlich gedeutet. Ein Beispiel dafür ist Charles Haddon Spurgeon (1834–1892), der den christlichen Prediger für höchst gefährdet betrachtet, „wenn die Zucht der Gnade nicht das Schiff unseres eitlen Ruhmes durch den Sturm zerbräche.“51 Die Grenze solcher geistlichen Deutungen liegt dort, wo sie für alle geistlichen Deutungen liegt: Sie müssen sich durch klare Aussagen der Heiligen Schrift begründen lassen und dürfen keine neuen Offenbarungen einführen. Noch engere Grenzen zu ziehen, empfiehlt sich nicht.52 4. Was die unterschiedliche Reihenfolge der Geschehnisse bei Matthäus einerseits und bei Markus/Lukas andererseits betrifft, so entscheiden sich die Kommentare gerne zugunsten der Markus-Reihenfolge.53 Man sollte aber den Mut haben, einzugestehen, dass wir die äußere Reihenfolge nicht mehr kennen. Für die theologische und geistliche Deutung hingegen sind beide Arten von Reihenfolge wertvoll und wichtig. 5. Martin Hengel und Anna Schwemer nannten den Bericht in Mt 8,23-27 „legendär“.54 Dem steht die Beobachtung gegenüber, dass die Sturmstillung für Matthäus „ein Bericht über ein wirklich geschehenes Wunder“ ist.55 Hier stoßen zwei fundamental verschiedene Auffassungen aufeinander. Ein der Aufklärung verhaftetes Denken betrachtete die „Naturwunder“, zu denen man die Sturmstillung zählt,56 als grundsätzlich unhistorisch.57 Rudolf Bultmann ging davon aus, dass „Wundergeschichten aus Worten herausgesponnen“ oder aus „volkstümliche(n) Wundergeschichten“ übernommen wurden.58 Das heißt: Solche Wunder sind im Leben Jesu nicht wirklich passiert. Ganz anders das biblische und altchristliche Denken, das in der kirchlichen 49 50 51 52 53 54 55 56

Texte KV I, 76. Texte KV II, 160f. Weitere Beispiele bei Luz a.a.O. In Ratschläge für Prediger, Wuppertal, 1962, 125. Gegen Luz II 30. So Davies-Allison II 73; Klostermann, 76; Gundry, 156. Hengel-Schwemer, 475. So Luz II 28. Heute zieht man für die Sturmstillung teilweise den Terminus „Rettungswunder“ vor: Theißen-Merz, 265.267f; Hengel-Schwemer, 463.483ff. 57 Bultmann Gesch, 230ff. 58 A.a.O., 246.

7. Die Heilung von zwei Besessenen bei den Gergesenern, 8,28-34

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Überlieferung und Praxis lebendig geblieben ist: Hier lernte man durch die von Jesus tatsächlich vollbrachten Wunder erst richtig verstehen, wer Jesus ist und wer Gott ist. Unter den verschiedenen Trends unserer Tage ist vielleicht derjenige besonders bemerkenswert, der versucht, die Aufklärungstradition zu korrigieren. So fordern Davies-Allison in typisch englischem Understatement, man solle sich den synoptischen Wundergeschichten mit derselben Offenheit nähern, wie den anderen Aussagen der Evangelien.59 Weiter gehen Martin Hengel und Anna Maria Schwemer. In einem grundsätzlichen Abschnitt „Zur Beurteilung der Wundergeschichten“ kritisieren sie die Annahme, Naturwunder seien grundsätzlich unmöglich, und bemerken dazu: „mit diesem Schema macht man es sich zu einfach. Es entspricht zu sehr unserem ‚Weltbild‘ und erfaßt die Problematik der Evangelienerzählung auf unzureichende Weise bzw. – überhaupt nicht.“60 Ins Grundsätzliche stößt Marius Reiser vor, wenn er über die „Ambivalenz der Aufklärung“ schreibt und dabei die Frage stellt: „müssen wir alle ihre Glaubenssätze [d.h. die der Aufklärung] festhalten, selbst wenn sie christlichen Dogmen strikt widersprechen? Zum Beispiel den Glaubenssatz von der Unmöglichkeit von Wundern, der zur Folge hat, daß alle biblischen Wunder unterschiedslos als literarische Fiktionen gelten …“.61 Da wir erstens davon ausgehen, dass der dreieinige Gott die ganze Schöpfung geschaffen hat und noch erhält, und wir zweitens in unserem Kommentar gesehen haben, dass Matthäus die Sturmstillung als ein wirkliches historisches Geschehen berichtet, betrachten wir Mt 8,23-27 sowohl als historisch als auch als Christusoffenbarung.

7. Die Heilung von zwei Besessenen bei den Gergesenern, 8,28-34 I Übersetzung 28 Und als er ans jenseitige Ufer kam, in das Land der Gergesener, begegneten ihm zwei dämonisch Besessene, die aus den Grabstätten hervorkamen, äußerst gefährliche Leute, sodass niemand jenen Weg benutzen konnte. 29 Und siehe, sie schrien laut: Was haben wir mit dir zu schaffen, 59 Davies-Allison II 65. 60 Hengel-Schwemer, 483. 61 M. Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift, WUNT, 217, 2007, 77.

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Sohn Gottes? Bist du hierhergekommen, um uns vor der Zeit zu quälen? 30 Es befand sich aber in einigem Abstand von ihnen eine große Herde von Schweinen auf der Weide. 31 Die Dämonen aber baten ihn: Wenn du uns austreibst, dann sende uns in die Schweineherde. 32 Und er sagte zu ihnen: Geht hin! Sie aber fuhren aus und fuhren in die Schweine. Und siehe, da stürmte die ganze Herde den Abhang hinunter in den See, und sie starben in den Wassern. 33 Die Hirten aber flohen und kamen in die Stadt und berichteten alles, und besonders auch das mit den dämonisch Besessenen. 34 Und siehe, die ganze Stadt ging hinaus, Jesus entgegen. Und als sie ihn erblickten, baten sie ihn, dass er ihr Gebiet wieder verlasse.

II Struktur Die Struktur weist sehr deutlich drei Teile auf: 1) Die Exposition, V. 28, 2) die Heilung der Besessenen, V. 29-32, 3) die Reaktion der Hirten und der Stadt, V. 33-34. Auffällig ist das Gespräch zwischen Jesus und den Dämonen. Was bezweckte Jesus damit? Auffällig ist aber auch der Schluss der Geschichte mit nur teilweisem Happy End. Was bezwecken die Evangelisten, wenn sie diese Geschichte weiter tradieren? Diesen Fragen müssen wir im Kommentar nachgehen. Stünde Matthäus ohne Seitenreferenten da, wäre die Auslegung manchmal leichter. Im Vergleich zu Markus und Lukas erscheint Matthäus noch knapper und gedrängter als sonst (vgl. Mk 5,1-20; Lk 8,26-39). Es fällt ins Auge, dass auch Markus und Lukas ihre Berichte von der Heilung der Besessenen am Ostufer unmittelbar an die Sturmstillung anschließen. Die Möglichkeit besteht, dass es Erzählsammlungen wie „Gleichnisse am See“ (z.B. Mt 8,23-34; 13,1ff ) gegeben hat. Eine geistliche Deutung bleibt auch für Mt 8,28ff stets offen.

III Einzelexegese Jesus kam also trotz der Sturmnacht mit seinen Begleitern ans jenseitige Ufer (εἰς τὸ πέραν [eis to peran]). Das ist das Ostufer des Sees Genezareth (V. 28). Doch stoßen wir sogleich auf ein textkritisches Problem, das mit einem geografischen Problem verknüpft ist. Nestle-Aland fügen nach πέραν [ peran] an: εἰς τὴν χώραν τῶν Γαδαρηνῶν [eis tēn chōran tōn Gadarēnōn]. Als HSSZeugen nennen sie B C Θ al sys.p.h; Epiph. Da sowohl der alexandrinische Text mit B und C (?) als auch der Koridethianus und syrische Übersetzungen das τῶν Γαδαρηνῶν [tōn Gadarēnōn] unterstützen, ist die geografische An-

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gabe „Gadarener“ textlich begründet. Dies umso mehr, als man „den alexandrinischen Text im großen und ganzen als die beste alte Rezension“ ansieht.1 Gadara, eine Stadt der Dekapolis („Zehn Städte“) mit betont griechischer Kultur, aber auch einer jüdischen Minderheit, lag ca. 10 km südöstlich vom See Genezareth.2 Reichte sein Gebiet bis an den See? Das ist zweifelhaft.3 Oder will Matthäus mit dem Ausdruck „Land der Gadarener“ nur ganz allgemein auf das heidnische Land am Ostufer hinweisen?4 Jedenfalls ist χώρα τῶν Γαδαρηνῶν [chōra tōn Gadarēnōn] so viel wie Land oder Gegend der Gadarener.5 Nun gibt es aber andere Handschriften, die von der χώρα τῶν Γερασηνῶν [chōra tōn Gerasēnōn] sprechen, nämlich die gesamte lateinische Überlieferung (latt) zusammen mit einer syrischen (syhmg) und einigen ägyptischen Textformen (sa mae).6 „Land der Gerasener“ würde Bezug nehmen auf das antike Gerasa, das heutige Dscherasch in Jordanien. Gerasa gehörte wie Gadara zur Dekapolis. Es lag jedoch 60 km südostlich vom See Genezareth, ein wenig nördlich des Jabbok.7 Darin liegt das Problem: Kann Jesus soweit in die Dekapolis hineingewandert sein, und würde dies mit dem Ostufer (τὸ πέραν [to peran]) identifiziert werden?8 Allerdings sprechen gute Textzeugen in Mk 5,1 und Lk 8,26 für „Land der Gerasener“. Statt von Gadarenern oder Gerasenern spricht in Mt 8,28 eine dritte Handschriftengruppe von Gergesenern (Γεργεσηνοί [Gergesēnoi]). Es sind Zeugen der zweiten und dritten Kategorie nach Kurt und Barbara Aland (L, W neben ‫א‬²), des Mehrheitstextes, der Lake- und Ferrargruppe (ƒ¹, ƒ¹³) und andere.9 Interessant ist, dass auch in Mk 5,1 und Lk 8,26 bestimmte Handschriftengruppen eine solche Lesart vertreten. Wir wissen, dass Origenes um 250 n.Chr. in Anlehnung an eine Ortstradition den Gergesenern vor den Gadarenern und Gerasenern den Vorzug gab (In Ioann VI, 41).10 Die Gergesener führen uns zum heutigen Ortsnamen el-Kursi südlich vom Wadi Samach. Diese Ortslage hat den Vorteil, dass sie direkt am Ostufer liegt und am besten mit dem Bericht Mt 8,28ff parr harmoniert. Für el-Kursi sprechen: 1) eine byzan1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Metzger Text, 219; ebenso K. und B. Aland, 116. Vgl. den Artikel von R. Riesner in GBL, 1, 401ff. Näheres bei Riesner a.a.O., 402. So eine Vermutung bei Riesner a.a.O. Bauer-Aland, 1772f. Nestle-Aland erwähnen darüber hinaus 892. Vgl. T.C. Mitchell, Art. Gerasa, GBL, 1, 441f; R. Riesner, Art. Gerasener, a.a.O., 442f. Vgl. Riesner, Art., Gerasener, a.a.O., 442. Vgl. K. und B. Aland, 116ff.167ff; Metzger Text, 42ff. Riesner, Art. Gerasener, a.a.O.; Bauer-Aland, 313.

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tinische Klosteranlage wohl schon aus dem 5. Jh. n.Chr., 2) Grabhöhlen und Felsengräber in der Umgebung, 3) eine kleine Hafenanlage aus antiker Zeit, 4) ein Hang, der bis an den See heranreicht, 5) Überreste einer Kapelle, die im Steilhang errichtet wurde, 6) die alte Lokaltradition, auf die sich Origenes verließ, 7) der aramäische Ortsname Kursa, der im Talmud vorkommt und wohl der Vorgänger des heutigen arabischen Kursi ist,11 8) der Grenzverlauf in neutestamentlicher Zeit, der das Gebiet der Dekapolis nördlich von el-Kursi am Wadi Samach enden ließ und so el-Kursi noch zum mehrheitlich heidnischen Gebiet (Schweinezucht!) rechnete. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass die Angabe Land der Gergesener im Matthäusevangelium die ursprüngliche war.12 Wie dann die Angabe „Gadarener“ oder „Gerasener“ in die neutestamentlichen Texte kam, darüber kann man nur Vermutungen anstellen.13 Kurz schildert Matthäus, was dort geschah. Zwei dämonisch Besessene begegneten Jesus. Markus (5,2) und Lukas (8,27) erwähnen nur einen Besessenen. Sie berichten also exemplarisch und auf eine Person konzentriert, während Matthäus die zahlenmäßige Vollständigkeit liebt. Wenn Matthäus von Markus abgeschrieben hätte, wäre kein Grund ersichtlich, weshalb er die Zahl freihändig verdoppelt haben sollte.14 Dämonisch Besessene (δαιμονιζόμενοι [daimonizomenoi]) wurden schon in 4,24 erwähnt.15 Wie und warum sie Jesus begegneten, schlüsselt uns Matthäus nicht weiter auf. Aber die Dämonen erregten sich offenbar über die Anwesenheit des „Stärkeren“ (Mt 12,29), des göttlichen Erlösers.16 Sie kamen aus den Grabstätten hervor: also nicht aus der Stadt, sondern aus den Grabstätten (μνημεῖα [mnēmeia]) an den Berghängen. Die von Gott Abgefallenen „sitzen“ schon nach Jes 65,4 „in Gräbern und bleiben über Nacht in Höhlen, essen Schweinefleisch und haben Gräuelsuppen in ihren Töpfen“. Bis hin zu den „Grufties“ unserer Tage gibt es eine merkwürdige Anziehung zwischen Todes- und Teufelswelt (vgl. Joh 8,44). Es waren äußerst gefährliche Leute, die sogar den Weg in der Nähe ihrer Be11 Kopp, 284. 12 Vgl. Kopp, 282ff; Riesner, Art. Gerasener, a.a.O. Schlatter, 134, lehnt Gergesa zugunsten von Gadara ab. Für Gergesa in Mk 5,1 / Lk 8,26 votierte schon Zahn, 363f. Textlich und sachlich für Gadara in Mt 8,28 ist Carson, 219f. 13 Vgl. wieder Kopp und Riesner a.a.O. 14 Vermutungen verschiedener Art bei Bultmann Gesch, 343ff und France, 163, die aber nicht weiterführen. Bedenkenswert dagegen Carson, 217: Mt hatte „independent knowledge“ von der Geschichte. Interessant Luz II 31 (nach Gründen des Mt bei seiner Bearbeitung des Mk darf man nicht fragen). 15 W. Foerster beobachtet im Art. δαίμων usw., ThWNT, II, 1935, 20, „daß gerade das Matthäus-Evangelium am relativ häufigsten dies Verbum gebraucht“. 16 Vgl. Tasker, 93.

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hausung unbenutzbar machten.17 Hatte Jesus keine Angst vor ihnen? Wer sogar Wind und Wellen zurechtweisen kann (V. 27), braucht vor solchen Besessenen keine Angst zu haben. In V. 29 berichtet Matthäus von einigen Äußerungen der dämonisch Besessenen: Was haben wir mit dir zu schaffen, Sohn Gottes? Bist du hierhergekommen, um uns vor der Zeit zu quälen? Angesichts von Mk 5,6-10 und Lk 8,28-31 ist kaum zweifelhaft, dass Matthäus auch ausführlichere Versionen dieser Geschichte kannte, zumindest das Gespräch zwischen Jesus und den Dämonen über deren Namen. So viel wir erkennen können, konzentrierte er jedoch alles auf die unvergleichliche Macht des Sohnes Gottes. Darin hat er richtig gehandelt. Denn alle drei synoptischen Evangelien enthalten die Anrede Sohn Gottes (υἱὲ τοῦ θεοῦ [hyie tou theou]) und zeigen damit, dass es tatsächlich um die Gottessohnschaft Jesu geht. Ob Matthäus darüber hinaus das Interesse an einer Dämonenlehre in seinen Gemeinden bremsen wollte (vgl. Offb 2,24)? Das griech. ἔκραξαν [ekraxan] (sie schrien laut) bezeichnet nicht nur lautes Rufen und Sprechen, sondern auch Brüllen.18 Die Besessenen äußern sich zwar verständlich, aber doch in einem unmäßigen Tonfall. Was haben wir mit dir zu schaffen (τί ἡμῖν καὶ σοί [ti hēmin kai soi]) ist eine dem Hebräischen entstammende Redewendung (vgl. 2Sam 16,10; 19,23; 1Kön 17,18; 2Kön 3,13), die eine Abweisung oder den Wunsch nach getrennten Wegen ausdrückt.19 Sohn Gottes: Längst vor der Jüngerschaft bekennen die Dämonen die Messianität und Gottessohnschaft Jesu (vgl. Mk 1,24; 3,11; Lk 4,41). Denn nicht die Besessenen als menschliche Wesen sprechen hier, sondern die Dämonen, die in ihnen hausten (vgl. V. 31). Das Böse ist listiger und schlauer als das Fromme, aber es fehlt ihm die wahre Erkenntnis, die in der Gemeinschaft mit Gott besteht (vgl. Gen 3,1; Lk 16,8; Prov 1,7; 1Kor 2,6ff ). Bist du hierhergekommen, um uns vor der Zeit zu quälen? Interessanterweise beschweren sich die Dämonen nicht einfach darüber, dass er sie quält. Sondern darüber, dass dies außerhalb der gottgesetzten Zeit (πρὸ καιροῦ [ pro kairou]) geschieht.20 Quälen heißt in Entsprechung zu Offb 14,10; 20,10 die endzeitliche Strafe verhängen.21 Ist es schon so weit?, fragen empört die Dämonen. Ja, es ist so weit, denn „die Gottesherrschaft ist schon mitten

17 18 19 20 21

Mk 5,3-5 gibt eine genauere Beschreibung. Bauer-Aland, 909. Vgl. Grundmann, Art. κράζω usw., ThWNT, III, 1938, 898f.900f. Bauer-Aland, 438. Vgl. BDR § 127,4. Vgl. G. Delling, Art. καιρός usw., ThWNT, III, 1938, 462f. Vgl. Joh. Schneider, Art. βάσανος usw., ThWNT, I, 1933, 561: „In der Apk wird βασανίζειν von den Qualen der Endzeit gebraucht“.

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unter euch“ (Lk 17,21). Wo Jesus auftritt, müssen sie weichen.22 Allerdings sind solche Dämonenaustreibungen vorderhand nur Zeichen (vgl. Joh 20,30f ). Man darf diese An-zeichen der Gottesherrschaft nicht mit der endgültigen Errichtung des Gottesreiches verwechseln. Vergleiche Mt 6,10: „Dein Reich komme!“ Johannes Chrysostomus hat einst Mt 8,29 als Beleg dafür gewertet, dass es ein Gericht gibt23 – mit Recht. Hinter Mt 8,29 lauert auch die Angst.24 Insofern ist auch der Verweis auf Jak 2,19 berechtigt.25 Vers 30 klärt die Situation, sodass wir die folgenden Verse verstehen können: Es befand sich aber in einigem Abstand von ihnen eine große Herde von Schweinen auf der Weide. Matthäus will mit μακράν [makran] natürlich nicht sagen, dass die Schweine ganz woanders weideten. Er drückt sachlich nur aus, dass sich die Schweine ein ganzes Stück weit weg von der Ortschaft befanden. Markus und Lukas bringen dasselbe zum Ausdruck, wenn sie von der Weide „am Berg“ oder „auf dem Berg“ sprechen (Mk 5,11; Lk 8,32). Deshalb übersetzten wir in einigem Abstand.26 Die Schweine-Herde zeigt, dass wir uns in einem vorwiegend heidnischen Gebiet befinden. Für Juden waren Schweine wegen Lev 11,7 ein Gräuel. Bei den Heiden dagegen waren sie geschätzt. Sie waren Opfertiere der Römer – vgl. den Decennalienstein Diokletians auf dem Forum Romanum –, gefürchtete Repräsentanten der Wildnis (vgl. Kaledonischer Eber, die Schweine der Kelten) und begehrte Wappentiere (vgl. die römischen Legionen und die Heraldik deutscher Adelsgeschlechter). Eine große Herde (alle synoptischen Evangelien!) ist ein Ausweis von Wohlhabenheit. Man muss das Ganze jedoch sehr bewusst auch mit jüdischen Ohren hören: Schweine wurden von Jesus selbst als böse, reißende Tiere geschildert (Mt 7,6), wer mit ihnen zu tun hat, wird erniedrigt (Lk 15,15), und sie geben ein Bild ab für Irrlehrer (2Petr 2,22). Warum hat Jesus überhaupt ein solches Gebiet aufgesucht? Unseres Erachtens gibt es nur eine Antwort: Weil es altes Israelgebiet war (Num 32,33ff; 34,10ff ), betrachtete er als der Messias Israels es als sein eigenes Land. Wie Markus (παρεκάλεσαν αὐτόν [ parekalesan auton], 5,12) und Lukas (παρεκάλεσαν αὐτόν [ parekalesan auton], 8,32) berichtet Matthäus in V. 31 von einer Bitte der Dämonen: Wenn du uns austreibst, dann sende uns in die Schweineherde. Das sende uns (ἀπόστειλον ἡμᾶς [aposteilon hēmas]) bei Matthäus macht die Verfügungsgewalt Jesu noch anschaulicher als das 22 23 24 25 26

Vgl. France, 163f. Texte KV I, 635. Schlatter, 134. Tasker, 93. Tasker, 93, und France, 164: „some distance away“.

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„erlauben“ bei Lukas (8,32). Vergleiche Mk 5,12. Wenn du uns austreibst (εἰ ἐκβάλλεις ἡμᾶς [ei ekballeis hēmas]):27 Das nehmen die Dämonen als sicher an. Warum? Weil Jesus als Arzt und Heiland gekommen ist, der die besessenen Menschen frei machen will (Mt 9,12; 4,23ff; 8,16f; Ez 34,11ff ). Aber weshalb die Bitte,28 ausgerechnet in die Schweineherde fahren zu dürfen? Weder Matthäus noch Markus noch Lukas geben dafür eine spezielle Begründung. Jedoch helfen uns die Worte Jesu in Mt 12,43ff weiter. So wie der Geist des Menschen in einem Körper wohnt (Gen 2,9; Ps 146,4), so suchen auch die bösen Geister (πνεύματα [ pneumata]) einen Körper, in dem sie wohnen können. Ein Mensch, sogar der auferstandene Mensch, ist biblisch niemals denkbar ohne Leib. Auch zur Vollexistenz des Bösen gehört ein Leib. Die Bezugnahme auf die Schweineherde aber lag deshalb besonders nahe, weil dann unreine Geister in unreine Tiere einziehen konnten. Wertlos waren die Tiere allerdings nicht. Unreines ist oft wertvoll. Und er sagte zu ihnen: Geht hin (ὑπάγετε [hypagete])!, V. 32. Über das ὑπάγετε [hypagete] kann man verschiedener Meinung sein. Ulrich Luz29 wehrt sich dagegen, dass es eine „Konzession“ sei30 und will es als „Machtwort“ im Sinne von „Weg mit euch!“ verstanden wissen. Bauer-Aland31 und Delling32 dagegen nehmen es als normale Aufforderung. Am souveränsten äußert sich hier Schlatter, der Jesus „mit ruhiger, freudiger Überlegenheit“ den Dämonen ihre Bitte gewähren lässt.33 Unseres Erachtens trifft Schlatter die Situation am besten, vor allem, wenn man an das vorausgehende Gespräch einschließlich Mk 5,8-10 / Lk 8,29-30 denkt. Aber warum stimmte Jesus zu? Wusste er nicht, was geschehen würde? Nach Joh 2,25; 13,1ff; Mt 9,4 müssen wir annehmen, dass er es sehr wohl wusste. Dann aber beabsichtigte er wahrscheinlich ein Doppeltes: 1) dass die besessenen, gequälten Menschen frei wurden, 2) dass allen Anwesenden demonstriert wurde, welches Ende das Böse erwartet. Schlatter fügt dem einige Erwägungen hinzu: Die Geister konnten „ihre Macht zuerst noch an einem großen Zerstörungswerk sichtbar“ machen; dass „Jesus die Herde nicht schützt“, hängt vielleicht damit zusammen, dass die Schweine vom Gesetz verboten waren. „Übrigens hat er ohne Zweifel jeden Verlust … für gering gehalten neben dem 27 28 29 30 31 32 33

Vgl. Bauer-Aland, 478. Das Imperfekt παρεκάλουν [ parekaloun] drückt eine wiederholte, inständige Bitte aus. Luz II 33. Ähnlich Fiedler, 213. Als solche betrachten es BDR § 387,1. Bauer-Aland, 1667. G. Delling, Art. ὑπάγω, ThWNT, VIII, 1969, 507f. Schlatter, 135.

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Gewinn, den die Geplagten durch ihre Heilung davontrugen.“34 Es kam, wie er befohlen hatte: Die Dämonen fuhren aus den Besessenen aus (ἐξελθόντες [exelthontes]) und fuhren in die Schweine. Das Folgende war mit normalen Augen wahrnehmbar: da stürmte die ganze Herde den Abhang hinunter in den See, und sie starben in den Wassern. Das Wort κρημνός [krēmnos], „steiler Abhang, „Absturz“,35 beweist, dass auch Matthäus das Weiden an einem Berg voraussetzt (Mk 5,11; Lk 8,32). Er muss sich nahe an den See erstreckt haben.36 Die angelsächsische Forschung spricht hier gerne von einer „stampede“.37 Jedenfalls stürmte die ganze Herde von panischem Schrecken ergriffen38 hinunter in den See. Die Tiere starben,39 obwohl Schweine schwimmen können, wohl vom Schreck getötet, in den Wassern.40 Was aus den Dämonen wurde, wird nicht erzählt.41 Den Zuschauern aber wird klar: Wo die Dämonen einziehen, bewirken sie letztlich den Tod. Die Hirten, die man sich wohl als gemietete Hirten vorstellen muss,42 flohen, vom Schrecken über die Begegnung mit den Dämonen erfasst,43 V. 33. Sie kamen in die Stadt (εἰς τὴν πόλιν [eis tēn polin]) und berichteten alles: Bis Gadara (10 km) oder Gerasa (60 km) sind sie wohl kaum geflohen. Wir müssen also annehmen, dass sie nach Kursa = el-Kursi kamen. War aber das antike Gergesa = Kursi für eine Stadt nicht zu klein? Für damalige Begriffe nicht. πόλις [ polis] konnte schon im außerbiblischen Griechisch „Ganz unbefestigte Städte, ja selbst offene Landschaften“ bezeichnen.44 Erst recht bedeutet πόλις [ polis] im NT „einfach die geschlossene menschliche Siedlung“, mit fließender Grenze zwischen πόλις [ polis] (Stadt) und κώμη [kōmē] (Dorf ).45 Mk 5,14 und Lk 8,34 erwähnen sogar ausdrücklich ἀγροί [agroi] („Höfe“ oder „Dörfer“),46 die zum antiken Gergesa gehörten. Beim Bericht der Hirten bildet das mit den dämonisch Besessenen den Mittelpunkt. Mit V. 34 erreicht die Erzählung von Mt 8,28-34 einen zweiten Gipfel. Was ist der Erfolg, den Jesus hier erlebt? Sicher die Heilung der beiden Besesse34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Schlatter a.a.O. Vgl. France, 164. Bauer-Aland, 914. Kopp, 285f, will sogar die genaue Stelle ausfindig machen. Tasker a.a.O.; France a.a.O. Vgl. G. Bertram, Art. ὁρμή usw., ThWNT, V, 1954, 470. Markus und Lukas: „ertranken“. Vgl. Bauer-Aland, 183. Vgl. Fiedler a.a.O.; France, 164. Anders aber Luz II 34: „die Dämonen … sterben“. Vgl. J. Jeremias, Art. ποιμήν usw., ThWNT, VI, 1959, 485. Vgl. Jesu Auswertung dieses Bildes in Joh 10,12f. Vgl. H. Strathmann, Art. πόλις usw., ThWNT, VI, 1959, 517. Strathmann a.a.O., 529. Bauer-Aland, 24.

7. Die Heilung von zwei Besessenen bei den Gergesenern, 8,28-34

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nen, von denen aber Matthäus im Unterschied zu Mk 5,15.18ff; Lk 8,35f.38f nichts Näheres berichtet. Sicher auch seine souveräne Macht über die Dämonen. Aber im Blick auf Gergesa schließen sich nun die Türen. Hätten die Evangelisten nur „Erfolgsgeschichten“ berichten wollen, dann hätten sie alle Mt 8,34 parr weggelassen. So, wie die Erzählung jetzt dasteht, fordert sie jeden Leser zum Nachdenken heraus: „Und was hättest du getan?“ Und siehe, die ganze Stadt [= ihre Einwohnerschaft] ging hinaus, Jesus entgegen, V. 34. Ulrich Luz erklärt:47 „Sie kommt zu Jesus, wie wenn er ein Fürst wäre. Aber sie holen ihn nicht in die Stadt …“. Im Gegenteil: Und als sie ihn erblickten, baten sie ihn, dass er ihr Gebiet wieder verlasse. Das war nicht nur die Stimmung der Stadtoberen, sondern aller (ἅπαν τὸ πλῆθος [hapan to plēthos] Lk 8,37).48 Sie baten ihn,49 weil sie dem Gebieter über die Dämonen keine Befehle erteilen konnten. Bis heute kommt uns diese Bitte an Jesus, wieder fortzugehen (ἀπελθεῖν [apelthein] in Mk 5,17 / Lk 8,37), seltsam vor. Aber wie oft findet sie in unserer heutigen Gesellschaft ihre Fortsetzung! Man hat erwogen, ob „dies aus Verärgerung über den Verlust der Schweine“50 geschah. Markus und Lukas nennen jedoch einen anderen Grund: Es sei die Furcht vor dem mit göttlicher Vollmacht wirkenden Jesus gewesen (Mk 5,15; Lk 8,37).51 Jesus gab ihrer Bitte statt (Mt 9,1; Mk 5,18; Lk 8,37). Man kann Mt 8,34 auch so verstehen, dass die Zeit der Heidenmission noch nicht angebrochen sei.52 Aber Mt 8,5ff; 15,21ff erwecken Zweifel, ob eine solche Erklärung richtig ist. Schließlich ist das Ostufer des Sees, ja sogar die ganze Dekapolis, uraltes israelitisches Gebiet, folglich auch das Gebiet des israelitischen Messias (vgl. Mt 4,25; Mk 5,19f; 7,31ff ). Außerdem gab es in der Dekapolis, wie oben festgestellt, beachtliche jüdische Minderheiten. Eine bessere Erklärung wäre die, dass die Gergesener keinen mit solchen Kräften ausgestatteten jüdischen Magier wünschten (vgl. Mt 12,24ff; Apg 8,9ff; 13,6ff; 19,13ff ).53 Aber nach der Botschaft der Evangelien liegt die Sache wohl noch tiefer: Man kann Jesus einladen (Mt 9,10) oder abweisen (Mt 13,58), seine Erlösung annehmen (Mt 13,28ff ) oder zurückweisen (Mt 11,20ff ). Was sich bei den Gergesenern vollzog, war die Abweisung Jesu und seines rettenden Evangeliums. 47 48 49 50 51 52 53

Luz II 34. G. Delling, Art. πλῆθος usw., ThWNT, VI, 1959, 279: der „Bevölkerung“. Vgl. BDR § 328,3. Luz a.a.O. Schlatter, 135: „ein Grauen vor Jesus“. So Luz a.a.O., France, 164; Fiedler, 214. Vgl. Maier I, 285.

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IV Zusammenfassung 1. Wenn man sich heute mit einem Wunder der Dämonenaustreibung beschäftigt, muss zunächst der dogmatische Umbruch vor Augen stehen, den wir in den jüngsten Jahrzehnten erlebten. Ich selbst erinnere mich, wie einer der Tübinger Dozenten, als er an Markus 5,1-20 kam, vor uns Studierenden sagte: „Diese Geschichte überschreitet die Grenze des guten Geschmacks“, und sie überging. Rudolf Bultmann erklärte solche Wunder für „erledigt“,54 das heißt als für den modernen Menschen völlig unglaubwürdig. In seiner Geschichte der synoptischen Tradition bezeichnet er Mt 8,28ff parr als einen „volkstümlichen Schwank“, der „auf Jesus übertragen wurde“.55 Zugrunde liege das Motiv „vom betrogenen Teufel“.56 Doch schon 1958 verzeichnete der Dogmatiker Gerhard Gloege einen „Umbruch“.57 Er leitete ihn ab aus der „Erfahrung unmittelbarer Weltwirklichkeit“58 in zwei Weltkriegen und angesichts des totalitären Staates. Historiker, Nationalökonomen, Kultursoziologen, Psychologen und Philosophen bekamen es nun neben den Theologen59 mit „Erscheinungen“ zu tun, „die mittels exakter Methoden nicht mehr deutbar waren“.60 Von da her öffnet sich der Raum neu, auch einen Bericht wie den von Mt 8,28ff in seinen biblischen Bezügen zu bedenken. 2. Mt 8,28ff zeigt Jesus als den vollmächtigen Gottessohn (vgl. Mt 1,18ff; 3,17; 4,3ff; 8,27), der durch ein einziges Wort die Dämonen zum Weichen bringt. 3. Es zeigt ihn aber auch als einen Helfer und Erlöser, der entweder eingeladen und willkommen geheißen oder ab- und ausgewiesen werden kann. 4. Die Zweizahl der Geheilten, die Bultmann ebenfalls als „volkstümliches Motiv“ erklärte, „beruhend wohl auf dem Bedürfnis der Anschauung bzw. der Symmetrie“,61 erklärt man besser aus dem Interesse des katechetisch arbeitenden Matthäus an der Vollständigkeit. Die Evangelien lassen immer wieder die Freiheit der Evangelisten erkennen, die Dinge so oder so zu ordnen und zwischen einer exemplarischen und einer vollständigen Darstellung zu wählen. Das haben wir gerade erst beim Verhältnis von Mt 8,5-13 zu Lk 7,1-10 beobachtet. Im Übrigen scheint es durchaus nicht so, als ob Matthäus den Markus 54 55 56 57 58 59

NuM, 17-18. Bultmann Gesch, 225. A.a.O. 224. G. Gloege, Art. Dämonen, RGG, 3. Aufl., 2. Bd., Ungekürzte Studienausgabe, 1986, 4. A.a.O. Gloege weist a.a.O. allerdings auch auf die Skepsis von Karl Barth gegenüber jeder „Dämonologie“ hin. 60 Gloege a.a.O. 61 Bultmann Gesch, 343.345.

8. Die Heilung des Gelähmten, 9,1-8

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oder Lukas „bearbeitet“ hätte.62 Eventuell hat er eine längere Form dieser Erzählung gekannt.

8. Die Heilung des Gelähmten, 9,1-8 I Übersetzung 1 Und er stieg in ein Boot und fuhr hinüber und kam in seine eigene Stadt. 2 Und siehe, da brachten sie einen Gelähmten zu ihm, der auf einer Matte lag. Und als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind vergeben. 3 Und siehe, einige Schriftgelehrte sagten zu sich selbst: Der lästert. 4 Und Jesus erkannte ihre Gedanken und sagte: Warum denkt ihr Böses in euren Herzen? 5 Denn was ist leichter? Zu sagen: Deine Sünden sind vergeben? Oder zu sagen: Steh auf und geh? 6 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben – da sagt er zu dem Gelähmten: Steh auf, nimm deine Matte und geh nach Hause! 7 Und er stand auf und ging weg in sein Haus. 8 Als aber die Menge das sah, fürchtete sie sich und pries Gott, der den Menschen solche Vollmacht gegeben hat.

II Struktur Trotz der wenigen Verse ist die Struktur nicht einfach. Zunächst überrascht die Kürze der Situationsangabe (V. 1-2a), vor allem, wenn man sie mit der bei Mk 2,1-12 und Lk 5,17-26 vergleicht. Fast unvermittelt rekurriert Jesus dann bei seiner Vergebungszusage (V. 2b) auf den Glauben der Träger. Diese Vergebungszusage wird wie ein rocher de bronce in den geschichtlichen Augenblick gestellt, ohne jede nähere Erläuterung. Es folgt in V. 3 eine Reaktion im Publikum. Nun setzt sich Jesus relativ lange (V. 4-6a) mit dieser Reaktion auseinander. Darauf erreicht die Erzählung einen zweiten Gipfel mit dem Heilungswort Jesu (V. 6b). Schließlich berichten V. 7 und 8 den Heilungserfolg und das Echo bei den Anwesenden. Wieder notieren wir die Kürze des Berichts bei Matthäus. Der MatthäusText erreicht nur stark die Hälfte des Texts bei Markus und bei Lukas. Man kann erneut von einer christologischen Konzentration bei Matthäus sprechen.

62 Gegen Luz II 31, u.a.

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Andererseits verklammert Matthäus seine Erzählung eng mit dem Vorausgehenden. Erst in V. 2b wird der Name Jesus genannt, vorher ist von einem er die Rede, was 9,1-8 als eine Art Fortsetzung von 8,28-34 erscheinen lässt.1 Man kann sogar mit guten Gründen Mt 9,1 als Schlussvers von Mt 8,28ff betrachten.2 Doch scheint die Formulierung seine eigene Stadt ebenso wie Mk 2,1 zu betonen, dass Mt 9,1-8 sich gerade in Kapernaum ereignet hat (vgl. Mt 11,23). Wir beließen es deshalb bei der traditionellen Versfolge Mt 9,1-8.3 Mk 2,1-12 und Lk 5,17-26 ordnen unsere Erzählung zwar etwas anders in ihre Kontexte ein, stimmen aber darin mit Matthäus überein, dass sie in die Frühzeit Jesu gehört. Bei Mt 9,1-8 parr muss uns bewusst sein, dass hier eine der häufigsten Geschichten aus den Katakomben vorliegt, besonders eindrucksvoll in SS. Pietro e Marcellino.

III Einzelexegese Er stieg in ein4 Boot und fuhr hinüber (V. 1) bezieht sich auf die Abfahrt vom Ostufer (Mk 5,18; Lk 8,37), wo Jesus von den Gergesenern abgewiesen worden war. Er kam in seine eigene5 Stadt (εἰς τὴν ἰδίαν πόλιν [eis tēn idian polin]): Das kann nach Mt 4,13 nur Kapernaum sein. Vergleiche die Erklärung dort. Mk 2,1 bestätigt es. ἴδιος [idios] tritt in der Koine für αὐτός [autos] oder ἑαυτός [heautos] ein.6 Ganz tonlos scheint es aber in Mt 9,1 nicht zu sein. Denn hier spielt der Unterschied zur πόλις [ polis] der Gergesener (8,33f ) ebenso eine Rolle7 wie die Anknüpfung an Mt 4,13 und 8,5. Hier war sein zwischenzeitliches Zuhause! Entsprechend groß ist später die Enttäuschung in 11,23. In Kapernaum brachten sie einen Gelähmten (παραλυτικόν [ paralytikon]) zu ihm, der auf einer Matte8 lag (V. 2). So wenig genügt für Matthäus! Vermutlich kannte er auch hier die längere Erzählform, die wir heute in Mk 2,3-4 und Lk 5,18-29 vorfinden. Aber er hält es nicht für nötig, sie zu über1 2 3 4 5

Vgl. Tasker, 92. So z.B. Luz II 30ff; Fiedler, 212. Ebenso Aland Syn, 124; Schlatter, 136; France, 165. So die besseren Handschriften. So übersetzen z.B. auch Zahn, 369; Luz II 31; Schlatter, 136; France, 165; Tasker, 94; Theißen-Merz, 159; Hengel-Schwemer, 347. 6 BDR § 286; Bauer-Aland, 752. 7 Zahn, 369. Vgl. auch Luz II 36, zu πόλις. 8 Bauer-Aland, 887: „Bahre“; Luz II 37ff: „Bett“; Beare, 223: „a light mattress or pallet“.

8. Die Heilung des Gelähmten, 9,1-8

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nehmen. Es ist der zweite Fall eines Gelähmten (vgl. Mt 8,6), den Matthäus in den Komplex der Wundertaten Jesu Kap. 8–9 aufnimmt. Und dieser Fall muss schon damals unter den Wundern, die man von Jesus erzählte (vgl. Joh 20,30; 21,25; Apg 2,22; 10,38), einen prominenten Platz eingenommen haben. Und als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind vergeben: Die schlichten Worte als Jesus ihren Glauben sah (ἰδὼν ὁ Ἰησοῦς τὴν πίστιν αὐτῶν [idōn ho Iēsous tēn pistis autōn])9 bedeuten für den heutigen Leser eine doppelte Herausforderung. Erstens glaubt vor allem der protestantische Leser, Glaube sei eine Herzenssache, folglich könne man ihn nicht sehen. Aber für Jesus, Matthäus, Jakobus und auch den Hebräerbrief ist es klar, dass man den Glauben sehen kann, nämlich an seinen Auswirkungen (vgl. Mt 5,16; Jak 2,14ff; Hebr 13,7). Übrigens auch für Paulus (1Thess 1,4-10) und Johannes (1Joh 5,1-5). Zweitens meint man vielfach, dass der Glaube nur in den persönlichen Verantwortungsbereich hineingehöre. Hier aber erleben wir so etwas wie einen stellvertretenden Glauben. Die vier Träger (Mk 2,3) des Kranken glauben für ihn10 (ihren Glauben, τὴν πίστιν αὐτῶν [tēn pistin autōn]!), dass Jesus ihm helfen könne. Wie weit geht der Wirkungsbereich eines solchen stellvertretenden Glaubens, den auch Paulus in 1Kor 13,7 voraussetzt? Den Heilsglauben an Jesus, der zur Wiedergeburt und zum ewigen Leben führt (Joh 3,14ff; Mk 16,16; Apg 16,31; Röm 1,16), können wir bei anderen nicht ersetzen. Aber so weit können wir für andere glauben, dass Jesus sich über sie erbarmt, sie heilt, ja sogar ihre bisherigen Sünden vergibt (Mt 9,2 parr).11 Gerade weil die Vergebungszusage so unvermittelt ausgesprochen wird, wirkt sie stark auf Leser und Hörer (V. 2b). Zahn suchte die beiden Berichtselemente 1) Sei getrost, mein Sohn, und 2) deine Sünden sind vergeben so zu verbinden, dass Jesus mit Ersterem Zaghaftigkeit und Zweifel des Kranken überwinden wollte und mit dem Zweiten das Schuldgefühl, in dem der Zweifel wurzelte, und deshalb insgesamt die Sündenschuld beseitigen wollte.12 Das ist vermutlich zu eng und zu penibel. Der weit gefasste Plural deine Sünden (σου αἱ ἁμαρτίαι [sou hai hamartiai]13), die Anlehnung ans Vaterunser 9 Sie sind bis auf ὁ Ἰησοῦς [ho Iēsous] in allen drei Evangelien gleich. 10 Fiedler, 214, rechnet allerdings auch mit einem Glauben des Gelähmten; ebenso Bultmann Gesch, 12; Carson, 221. Schlatter erwähnt dagegen nur den „Glauben der Träger“. Ähnlich France, 165; Zahn, 369; Beare, 221; Hengel-Schwemer, 474. 11 Leider geht Bultmanns Artikel über πιστεύω, πίστις usw., im ThWNT, VI, 1956, auf solche Zusammenhänge gar nicht ein. Vgl. dort 206. Auch der Artikel „Glaube“ in RGG, 2. Bd., 3. Aufl., 1614ff (H. Graß) geht daran vorüber. 12 Zahn, 369f. 13 Bei allen drei Evangelisten (einmal σοι).

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(Mt 6,12) und die Reaktion der Schriftgelehrten deuten eher auf einen umfassenden Sündenerlass. Ja, Jesus hilft! Aber zuerst und grundlegend so, dass er „sein Volk von ihren Sünden rettet“ (Mt 1,21). Dies ist das Neue gegenüber Mt 8,5ff. Sei getrost (θάρσει [tharsei]) oder: „Sei guten Mutes!“, „Fürchte dich nicht!“,14 drückt die gnädige Zuwendung des Erlöser-Messias aus. Die liebevolle Anrede mein Sohn (τέκνον [teknon]) unterstreicht den Willen Jesu, dem Kranken zu helfen und ihn aufzurichten. Sicher hat die folgende Aussage deine Sünden sind vergeben auch die damals Anwesenden überrascht. Man muss jedoch auch die „fremden“ Seiten Jesu gelten lassen, der in Seenot zuerst über den Glauben spricht (Mt 8,26) und in Krankheitsnot zuerst die Sünde vergibt. ἀφίενται [aphientai] ist in Mt 9,2 besser bezeugt, also: „sie werden [jetzt in diesem Augenblick] vergeben“ (Präsens Passiv).15 Wieder fällt auf, dass Jesus nicht Gott im Himmel um die Sündenvergebung bittet, sondern in unmittelbarer Vollmacht in diesem Augenblick die Vergebung ausspricht. Es ist wenig sinnvoll, zu fragen, ob das Passivum divinum (sind vergeben) sich auf den Vater im Himmel oder auf Jesus als den Gottessohn bezieht.16 Beide sind eins (Mt 10,40; 28,19; Lk 10,16; Joh 10,13). Vers 3 fasst in Kürze die wichtigste Reaktion im Publikum zusammen: Und siehe, einige Schriftgelehrte (τινες τῶν γραμματέων [tines tōn grammateōn]) sagten zu sich selbst: Der lästert. Wir können nicht mehr entscheiden, ob die Wendung einige Schriftgelehrte alle anwesenden Schriftgelehrten bezeichnet oder nur eine Gruppe innerhalb der anwesenden Schriftgelehrten.17 Im letzteren Fall hätte es auch Schriftgelehrte gegeben, die keinen Anstoß nahmen. Jedenfalls spricht Matthäus ebenso wie Markus und Lukas von Schriftgelehrten (γραμματεῖς [grammateis]) und nicht von Pharisäern. Es geht also in erster Linie um eine Frage der Schriftauslegung. Der Protest wird nicht laut geäußert, was darauf hindeutet, dass sich die betreffenden Schriftgelehrten ihres Urteils noch keineswegs sicher sind (sie sagten zu sich selbst).18 Aber von ihrer augenblicklichen Einschätzung her sind sie der Meinung: Der lästert. Der (οὗτος [houtos]) ist keine sehr respektvolle Bezeichnung, zeugt vielmehr von einer negativen Bewertung. Lästern, griech. βλασφημεῖν [blasphēmein], bedeutet eine schwere Anklage. Denn gelästert wird in der Regel Gott, und Bauer-Aland, 715; W. Grundmann, Art. θαρρέω (θαρσέω), ThWNT, III, 1938, 25f. BDR § 97,7; 320,2; Bauer-Aland, 252; Luz II 36; Zahn, 370; Carson, 222. Gegen Fiedler, 215; Zahn, 370. BDR § 164,2 denkt an Letzteres; ebenso Fiedler, 216; Zahn, 370; Carson, 222. France, 165, denkt offenbar an Ersteres. 18 Nach Jeremias Gleichnisse, 192, so viel wie „sie dachten bei sich selbst“. Jedoch Carson, 222: „whispered consultation“. 14 15 16 17

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zwar so, dass man ihm die Ehre abspricht. Deshalb ist auch die Strafe schwer: „Wer des HERRN Namen lästert, der soll des Todes sterben“ (Lev 24,16). Die Anklage wegen „Lästerung“ wurde gegen Jesus öfter erhoben (vgl. Joh 10,33). Sie brachte ihm am Ende den Tod (Mt 26,65f ). Im Falle von Mt 9,3 ist die hauptsächliche Bezugsstelle gut erkennbar. Es ist Ps 130,4, wo deutlich zum Ausdruck kommt, dass die Sündenvergebung allein Gottes Sache ist: „bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte“.19 Im hebräischen und im griechischen Bibeltext ist das „bei dir“ sogar besonders betont: ‫‘[ ִע ְמָּך‬immᵉkā] bzw. παρὰ σοί [ para soi] (LXX). Wer – so offensichtlich der Gedankengang der Schriftgelehrten – als Mensch die Sündenvergebung erteilt und Gott das Recht der Sündenvergebung streitig macht, der lästert. Zunächst kann man ihnen durchaus zustimmen. Ist Jesus aber nicht nur ein menschlicher Rabbi oder Religionsstifter, sondern vielmehr der Messias, der Erlöser und Gottessohn, dann kann ihn der Vorwurf nicht treffen. Dann hat er recht. In Mt 9,1ff ist also die Kernfrage wie in Mt 8,23ff und 8,28ff eine christologische: Wer ist Jesus in Wirklichkeit?20 Und Jesus erkannte (ἰδὼν ὁ Ἰησοῦς [idōn ho Iēsous]) ihre Gedanken (V. 4): ἰδών [idōn] muss hier als Ausdruck für erkennen verstanden werden.21 Ein solches Erkennen Jesu resultiert aus der Begabung mit dem Heiligen Geist (Jes 11,2; Mt 3,16; Joh 2,25).22 Evtl. ist dieses Erkennen im Geist schon in V. 2 vorausgesetzt. Es fällt auf, dass die Wortgruppe ἰδών, ἰδόντες, εἰδῆτε [idōn, idontes, eidēte] in Mt 9,1-8 eine erhebliche Rolle spielt (V. 2.4.6.8). Vermutlich hängt das mit dem stark christologischen Charakter der Perikope zusammen: Der Messias Jesus erkennt die Menschen, und die Menschen sollen ihn erkennen. ἐνθυμήσεις [enthymēseis] sind die „Überlegungen“, die Gedanken, sodass man23 keine geflüsterte Unterhaltung der Schriftgelehrten annehmen muss. Und sagte: Warum denkt ihr Böses in euren Herzen? Böses denken sie nicht, weil sie an der Schrift prüfen – was höchst notwendig ist! –, sondern weil sie über Jesus Böses denken. Den Gottessohn und Messias zum Gotteslästerer zu machen, ist böse und bedeutet eine Umkehrung aller Werte. Man vergesse aber nicht, dass Jesus hier eindringlich um sie wirbt, sie mit Respekt

19 Vgl. Lk 7,49; Ex 34,6f; Jes 43,25; 44,22; 55,7; Ps 103,3. 20 Vgl. W. Grundmann im Art. ἁμαρτάνω usw., ThWNT, I, 1933, 306; H.W. Beyer, Art. βλασφημέω usw., a.a.O., 621f. 21 Bauer-Aland, 445; W. Michaelis, Art. ὁράω usw., ThWNT, V, 1954, 342. 22 Vgl. Mt 12,25; Lk 6,8; 9,47; Ps 139,1ff sowie Hengel-Schwemer, 463; Beare, 223. 23 Gegen Carson, 222.

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behandelt, und dass ja auch auf ihrer Seite noch eine Offenheit für Jesus besteht. Denn was ist leichter? Zu sagen: Deine Sünden sind vergeben? Oder zu sagen: Steh auf und geh? (V. 5): Wie schwer die Frage Jesu war, sieht man daran, dass heutige Kommentare verschieden urteilen. So hält Fiedler das vergeben für schwerer, während für Luz die Heilung schwieriger ist.24 Von einem menschlichen Standpunkt aus muss die Antwort wohl lauten: Beides ist gleich schwer.25 Sünden zu vergeben ist der viel weiter greifende und tiefer angesetzte Vorgang, weil er die ganze Gottesbeziehung eines Menschen heilt. Aber er ist unanschaulich und lässt sich menschlich nicht kontrollieren. Dagegen lässt sich der Erfolg einer Heilung mit menschlichen Augen feststellen, ändert aber unter Umständen unsere Gottesbeziehung in keiner Weise (vgl. Lk 17,11ff ). Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben – da sagt er zu dem Gelähmten … (V. 6): εἰδῆτε [eidēte] lässt sich auch übersetzen „ihr erkennt“ (vgl. V. 4).26 Mit V. 6 erreicht die erstaunlich lange Ausführung Jesu in V. 4-6 ihren Gipfel.27 Von da aus ist das Urteil berechtigt, dass in Mt 9,1-8 die Sündenvergebung durch Jesus das zentrale Thema darstellt.28 Zugleich wird klar, dass Jesus hier um die Schriftgelehrten wirbt. Er tut dies sogar durch das Angebot eines Zeichens, was nicht immer der Fall war (Mt 12,38ff; 16,1ff ). In den kleinen Synagogen Galiläas wird er manche Schriftgelehrten gekannt haben. Oft tut die Exegese so, als würden sich in den Evangelien „Großmächte“ gegenüberstehen: „Die Schriftgelehrten“ – „die Gegner des Mt“ – „the scribal belief “ usw.29 Aber wir müssen mit einer teilweise sehr familiären Atmosphäre rechnen. Hier konnte Jesus differenzieren. Jedenfalls fällt sein Werben in Mt 9,1-8 auf. Erkannt werden soll, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben. Nach dem Zusammenhang „ist der ‚Menschensohn‘ zweifellos Jesus“.30 Vergleiche Mt 8,20 und die Erklärung dort. Hier in Mt 9,6 fällt auch die Beifügung auf Erden (ἐπὶ τῆς γῆς [epi tēs gēs]) auf. Jesus unterscheidet also zwischen einem irdischen und einem himmlischen Wirkungskreis des Menschensohns, wie er es auch in Joh 3,12ff getan hat. 24 25 26 27 28 29 30

Fiedler, 216; Carson, 222; Luz II 37. Ebenso Schlatter, 138; France, 165; Tasker, 96. Vgl. Zahn, 371. Vgl. Michaelis a.a.O. Luz II 37: „Höhepunkt der Geschichte“. Fiedler, 216. Vgl. Fiedler a.a.O.; Beare, 223; Bultmann Gesch, 13; Luz II 37. Bultmann a.a.O.

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Das irdische Werk ist es, „sein Volk von ihren Sünden zu retten“ (Mt 1,21). Dazu gehört in erster Linie, Sünden zu vergeben. Sein himmlisches Werk dagegen besteht im Regieren zur Rechten des Vaters (Mt 26,64; 28,18; „er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters“) und im Wiederkommen als Weltenrichter (Mt 24,30f; 26,64). Jesus spricht hier in Mt 9,6 von seiner Vollmacht (ἐξουσία [exousia]) zur Sündenvergebung. Das heißt, der Vater hat ihm das Recht und die Autorität zur Sündenvergebung verliehen, in der johanneischen Sprache: „gegeben“ (vgl. Joh 5,22ff; 6,37ff; 17,2; Mt 11,27). Das Zeitwort hat (ἔχει [echei]) bringt zum Ausdruck, dass Jesus diese Vollmacht nicht nur von Fall zu Fall erhält, sondern dauerhaft im Heiligen Geist besitzt (vgl. Mt 3,16). Jesus stellt diese Gabe bewusst unter Beweis: Damit ihr wisst (erkennt) … da sagt er (τότε λέγει [tote legei]) zu dem Gelähmten: Matthäus bricht mitten im Satz ab, um das Ungewöhnliche zu markieren. Dieser Hervorhebung dient auch das Präsens λέγει [legei] (er sagt). Der Heilungsbefehl ist einfach: Steh auf, nimm deine Matte und geh nach Hause (ὕπαγε εἰς τὸν οἶκόν σου [hypage eis ton oikon sou]). Aber so einfach er auch lautet, so deutlich bleibt andererseits: der Gelähmte wird mit seinem Willen einbezogen. Jesus verfügt über ihn nicht wie über ein Stück Holz. Er muss aufstehen, er muss die Matte nehmen, er muss nach Hause gehen. Wäre er liegen geblieben, so wäre nichts geschehen (vgl. Joh 5,8). Vers 7 ist unüberbietbar einfach formuliert: Und er stand auf und ging weg in sein Haus. ἐγερθείς [egertheis] wiederholt dasselbe Wort in V. 6, εἰς τὸν οἶκον αὐτοῦ [eis ton oikon autou] wiederholt das Ende von V. 6, ἀπῆλθεν [apēlthen] entspricht dem ὕπαγε [hypage] von V. 6. Man kann Luz nur zustimmen, wenn er die „Repetition von Formulierungen als Ausdruck des Gehorsams“ einschätzt.31 Sein Haus stand demnach in Kapernaum. Nach Lk 5,25 pries der Geheilte Gott. Matthäus schweigt davon. Er erzählt das Wunder der Heilung, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Aber gerade diese Selbstverständlichkeit hebt Jesus über alle menschlichen Parameter hinaus. Der Leser sollte jedoch eines nicht vergessen: Die Gewissheit der Heilung drückt gleichzeitig die Gewissheit der Sündenvergebung aus (V. 6). Geheilt und befreit von der Sündenlast: Wie gesegnet war der ehemals Gelähmte nach den Evangelien!32 Es ist interessant, wie die einzelnen Evangelisten um die Worte gerungen haben, damit sie das Echo der damals Anwesenden ausdrücken konnten. Markus spricht von ἐξίστασθαι [existasthai] und δοξάζειν [doxazein] (2,12), Lu31 Luz II 37, Anm. 17. 32 Vgl. Schlatter, 139.

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kas von ἔκστασις [ekstasis], δοξάζειν [doxazein] und πλησθῆναι φόβου [ plēsthēnai phobou] (5,26), Matthäus von φοβεῖν [ phobein] und δοξάζειν [doxazein] (9,8). Zunächst halten wir fest, dass die Menge (eigentlich Plural: οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]) Zeuge jener Vorgänge wurde, all das Vorgefallene sah. Die Wunder Jesu geschahen in der Regel öffentlich, sie stellten sich also der Kontrolle und dem Test. In ἐφοβήθησαν [ephobēthēsan] (sie fürchteten sich) kommt ein heiliges Tremendum zum Ausdruck.33 Die Menge spürt die Gegenwart göttlicher Kraft. Folgerichtig pries sie Gott.34 Auch das geschah öffentlich. In Israel hatte das öffentliche Gotteslob eine lange Tradition. Dass Religion nur eine „Herzenssache“, nur eine „Provinz im Gemüte“, nur etwas Privates sei, wie der moderne Europäer behauptet, wäre dem alten Israel völlig unverständlich gewesen, so wie es auch dem modernen Moslem unverständlich ist. Über die Beifügung, die Mt 9,8 zu Gott macht, wird am häufigsten diskutiert: der den Menschen solche Vollmacht gegeben hat (τὸν δόντα ἐξουσίαν τοιαύτην τοῖς ἀνθρώποις [ton donta exousian toiautēn tois anthrōpois]). Solche Vollmacht kann sich nur auf die Vollmacht des Menschensohnes beziehen, von der Jesus in V. 6 gesprochen hatte.35 Von vornherein ist also deutlich, dass die Anwesenden nicht der Meinung waren, es hätten ab sofort alle Menschen diese Vollmacht. Die ἐξουσία τοιαύτη [exousia toiautē] ist etwas so Ungewöhnliches, dass alle sich fürchten. Dann aber bleiben zwei Lösungsmöglichkeiten: 1) τοῖς ἀνθρώποις [tois anthrōpois] (den Menschen) ist ein Dativus commodi und heißt „für die Menschen / zugunsten der Menschen“,36 2) den Menschen ist sachlich gleichbedeutend mit „auf der Erde“ und meint die jetzt von Jesus unmittelbar ausgeübte Sündenvergebung.37 Diese beiden Lösungsmöglichkeiten unterscheiden sich nur wenig voneinander. Vielleicht verdient 2) den Vorzug, weil es so eng zum Kontext passt. Staunen, Gottesfurcht, Lobpreis: Solche Reaktionen gab es in der Zeit Jesu öfter (Mt 9,33; 15,31; Lk 7,16; 18,43). Vom Glauben, etwa im Sinne von Ex 14,31, ist hier jedoch nicht die Rede. Insofern hat Mt 9,1-8 einen offenen Abschluss.

33 Vgl. H. Balz im Art. φοβέω usw., ThWNT, IX, 1973, 205f, der von der „Epiphanie Gottes“ spricht. 34 Zu δοξάζειν [doxazein] vgl. G. Kittel im Art. δοκέω usw., ThWNT, II, 1935, 235f. 35 Vgl. W. Foerster, Art. ἔξεστιν usw., ThWNT, II, 1935, 565f. 36 Luz II 38, Anm. 19 erklärt gegen J.A. Bengel und W. Schenk einen Dativus commodi für „Unmöglich“, ohne dies ausreichend zu begründen. 37 Auf die Vollmacht der späteren Gemeinde deutet jedoch Bultmann Gesch, 14; Luz II 37f.

8. Die Heilung des Gelähmten, 9,1-8

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IV Zusammenfassung 1. Mt 9,1-8 ist nach Mt 8,5-13 schon der zweite Bericht des Matthäus über die Heilung eines Gelähmten (παραλυτικός [ paralytikos]). 2. Im Unterschied zu Mt 8,5-13 geht es jetzt aber nicht mehr in erster Linie um die Thematik des Glaubens, sondern um die der Sündenvergebung. Außerdem geschieht die Heilung nicht bei Heiden, sondern bei Juden. Ferner spricht Jesus jetzt den Kranken direkt an. Eine neue Dimension kommt schließlich ins Bild durch die anwesenden Schriftgelehrten. 3. Heilung und Sündenvergebung sind die beiden Doppelgipfel. Dabei ist klar, dass hier die Heilung als Beweis für die Vollmacht Jesu dient, der im Auftrag des Vaters die Vergebung unmittelbar aussprechen kann. 4. Jesus wirbt um die Schriftgelehrten. Wir haben noch nicht jene Zone der Entwicklung erreicht, in der führende Köpfe der pharisäischen und sadduzäischen Religionspartei zur Verfolgung übergehen werden. 5. In Bultmanns einflussreicher Darstellung der Geschichte der synoptischen Tradition wird die These vertreten, dass Mt 2,5b-10 = Mt 9,2b-6a ein sekundärer Einschub in die ursprüngliche Wundergeschichte ist.38 Andere haben diese These übernommen.39 Bultmanns These lässt sich allerdings auf kein einziges Handschriftenexemplar stützen. Auch die Tatsache, dass alle drei Evangelisten (Mt, Mk, Lk) Heilung und Sündenvergebung zusammen berichten, stützt seine These nicht. Darüber hinaus bliebe von der ganzen Heilungsgeschichte nur ein armseliges Gerippe übrig, wenn man die Thematik der Sündenvergebung herausschneiden wollte. So müssen wir Mt 9,1-8 parr im gegenwärtigen Profil stehen lassen. 6. Obwohl die Überlieferung von Mt 9,1-8 offensichtlich alt ist, werden gelegentlich Zweifel an der Historizität geäußert. Manche sehen Matthäus und die anderen Evangelisten bzw. auch die (palästinische, hellenistische) Gemeinde am Werk, die diese Geschichte nach ihren Interessen konzipiert hätten.40 Es gibt aber keine ernsthaften Gründe, Jesus diese Tat abzusprechen bzw. sie für unhistorisch zu erklären. Selbst für kleinere Züge lässt sich die Historizität gut begründen.41

38 39 40 41

Bultmann Gesch, 12ff. Z.B. Beare, 220ff; Luz II 38, Anm. 20. Bultmann Gesch, 12ff.68ff; Fiedler, 215; Luz II 36ff. Z.B. Riesner, 457.

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9. Die Berufung des Matthäus, 9,9-13 I Übersetzung 9 Und als Jesus von dort weiterzog, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, Matthäus genannt. Und er sagt zu ihm: Folge mir nach! Und er stand auf und folgte ihm nach. 10 Und es geschah, als er im Hause zu Tisch lag, dass da viele Zöllner und Sünder kamen und zusammen mit Jesus und seinen Jüngern zu Tisch lagen. 11 Und als es die Pharisäer sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern? 12 Er aber sagte, als er es hörte: Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Denn ich bin nicht gekommen, um1 Gerechte zu rufen, sondern Sünder.

II Struktur Mt 9,9-13 enthält genau genommen zwei Berichte: den Bericht von der Berufung des Matthäus (V. 9) und den von der Mahlgemeinschaft Jesu mit den Zöllnern und Sündern (V. 10-13). Aber sie sind bei Matthäus, Markus und Lukas so eng miteinander verflochten, dass man sie als einheitlichen Abschnitt behandeln kann. Immerhin lassen die Versanfänge in Mt 9,10; Mk 2,15 und Lk 5,29 so viel Platz zu dem Vorangehenden, dass man sich zwischen Berufung und Mahlgemeinschaft auch einen gewissen zeitlichen Abstand vorstellen kann. Wir beobachten ferner, dass sowohl in Mt 9 wie in Mk 2 und Lk 5 die Heilung des Gelähmten und die Berufung des Matthäus/Levi unmittelbar aufeinanderfolgen. Vielleicht hat bei den frühen Christen ein alter Erzählblock existiert, in dem beides nacheinander erzählt wurde (vgl. Lk 1,1ff ). Das könnte auch der Grund gewesen sein, weshalb Matthäus jetzt auf die Berufung und das sog. „Zöllnermahl“2 zu sprechen kommt, obwohl er die Kapitel 8 und 9 offensichtlich dem Thema „Wunder“ gewidmet hat. Darf man von einer chronologischen Grundlinie der Evangelien ausgehen, dann bedeutet die Platzierung von Berufung des Matthäus und Zöllnermahl in den frühen Kapiteln der Evangelien, dass sich beides tatsächlich in der Frühzeit Jesu ereignet hat. Für die Berufung des Matthäus wäre dies bereits von der Sache her anzunehmen. 1 Vgl. BDR § 390,2. 2 Aland Syn, 126.

9. Die Berufung des Matthäus, 9,9-13

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Nur Matthäus hat das Schriftzitat aus Hosea 6,6 (V. 13). Es passt in die Reihe der anderen Schriftzitate bei Matthäus und beweist, dass unser Evangelist sehr bewusst ein christlicher Schriftgelehrter sein will (vgl. Mt 23,34).

III Einzelexegese Die Worte Καὶ παράγων ὁ Ἰησοῦς ἐκεῖθεν [Kai paragōn ho Iēsous ekeithen] (V. 9) können nur so verstanden werden, dass Jesus im Begriff war, Kapernaum, „seine eigene Stadt“ (V. 1), zu verlassen. παράγων [ paragōn] wird allerdings verschieden bestimmt. Karl Ludwig Schmidt fasst es als „vorübergehen“ auf.3 Dazu passt aber schlecht ἐκεῖθεν [ekeithen] = „von dort“.4 Blass-Debrunner-Rehkopf sehen es als ein „verschwinden“,5 also „fortgehen“. Weil aber im heutigen Sprachgebrauch „fortgehen“ häufig den nachhaltigen, länger dauernden Ortswechsel bezeichnet, der bei Jesus nicht vorliegt (vgl. Mt 13,1.36), ziehen wir die Übersetzung weiterziehen vor.6 Jesus verlässt also gerade Kapernaum für eine begrenzte Zeit. Die Nennung seines Namens in V. 9 zeigt, dass wir jetzt in eine neue Phase seines Wirkens eintreten. Er sah einen Menschen am Zoll sitzen, Matthäus genannt: Mensch (ἄνθρωπος [anthrōpos]) hat hier keine besondere Betonung, es entspricht einfach dem hebr. ‫[ ִאישׁ‬ʾīsch] und wird von Bauer-Aland7 ganz schlicht übersetzt: „er sah einen sitzen“. Am Zoll (ἐπὶ τὸ τελώνιον [epi to telōnion]) heißt „am Zollgebäude“.8 Mt 9,9 (ebenso Mk 2,14; Lk 5,27) zufolge muss dieses Gebäude außerhalb von Kapernaum gestanden haben, wenn auch in seiner Nähe.9 Das sitzen am Zoll bedeutet, dass er praktisch Zölle und Steuern eintrieb, also „Zöllner“ war (ὁ τελώνης [ho telōnēs] Mt 10,3). Über die soziologische Einordnung der damaligen Zöllner gehen die Meinungen auseinander. Der Grundvorgang ist allerdings klar: Im Römischen Reich herrschte das System der publicani, der Steuer- oder besser Abgabenpächter. Dabei handelte es sich um Privatpersonen, die dem Staat im Voraus eine bestimmte Summe für ein bestimmtes Gebiet bezahlten, die sodann vom Staat das Recht zum Einzug von Abgaben (Steuern und Zölle) erhielten, und die dann sehen mussten, wie sie die gezahlte Summe wieder hereinbekamen, oft mit unsozialen und unangemessenen Aufschlägen. In der Regel waren sie reich, aber verhasst. Neu3 4 5 6 7 8 9

Im Art. ἀγωγή usw., ThWNT, I, 1933, 130. BDR § 104,1. § 308,1. Ebenso Lutherbibel; Bauer-Aland, 1241. Vgl. Luz II 40: „weiterging“; ebenso Schniewind, 118; Schlatter, 139; Fiedler, 216. A.a.O., 136. BDR § 111,9; Bauer-Aland, 1619. Carson, 223.

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erdings ist die notwendige Differenzierung in diesem System deutlicher herausgearbeitet worden. Neben den relativ wenigen publicani im Vollsinn, die oft ganze Provinzen abgabenrechtlich verwalteten, gab es kleinere Unternehmer in ihrem Dienst, die lokale oder regionale Zuständigkeit besaßen, und schließlich deren Bedienstete vor Ort. In der Regel begegnen uns in den Evangelien die zuletzt Genannten, also die Bediensteten vor Ort. Mindestens einmal begegnet uns jedoch auch ein Mitglied der mittleren Gruppe, nämlich Zachäus, „ein Oberer der Zöllner“ (ἀρχιτελώνης [architelōnēs], Lk 19,2).10 Während Willibald Bösen die Kleinpächter in den Evangelien, die Bediensteten, der soziologischen Unterschicht zurechnet,11 betrachtet sie Rainer Riesner im Anschluss an F. Herrenbrück als Teil der gehobenen Mittelschicht.12 Interessant ist Riesners Feststellung, dass die Zöllner unter den damaligen Umständen „ein Mindestmaß an Bildung“ aufweisen mussten.13 Die religiöse Einschätzung der Zöllner seitens der jüdischen Schriftgelehrten war negativ. Sie galten als unehrlich und unrein, als Diebe und Räuber, und man stellte sie „auf eine Stufe mit Würfelspielern, Wucherern … Gewalttätigen, Hirten und Sklaven“.14 So bildet in b Ab zara 39a ein Zöllner den dezidierten Gegenpol zu einem Schriftgelehrten. Und in b BQ 94b wird konstatiert: „Für Hirten, Zolleinnehmer und Zollpächter ist die Buße schwierig.“15 Der Mensch, dem Jesus damals begegnete, wurde nach V. 9 Matthäus genannt (Μαθθαῖον λεγόμενον [Maththaion legomenon]). Die Formulierung λεγόμενος [legomenos] (genannt) zeigt an, dass Matthäus nur sein Beiname war.16 Markus und Lukas nennen jedoch den Eigennamen (nicht Mt!): nämlich Levi. Weshalb nennt Matthäus nur den Beinamen? Weshalb fügt er in Mt 10,3 noch einmal ausdrücklich hinzu: „der Zöllner“? Es gibt eigentlich nur eine einzige befriedigende Erklärung für beides: Weil es sich hier um den Verfasser des Evangeliums selbst handelt. Ein anderer hätte mit der Berufung des Matthäus kaum so souverän umgehen können.17 Vermutlich hat Jesus diesem Levi, wie er mit dem ursprünglichen Namen hieß, den neuen Namen Matthäus gegeben, so wie er Simon in Petrus umbenannte oder wie früher 10 Vgl. insgesamt O. Michel, Art. τελώνης, ThWNT, VIII, 1969, 88ff. 11 Bösen, 200, anders aber 183. 12 Riesner, 497. Ähnlich Michel a.a.O., 103ff. Vgl. F. Herrenbrück, Art. Zöllner, GBL, 3, 1729f. 13 Riesner a.a.O. 14 Michel a.a.O., 102, unter Verweis auf b Sanh 25b. 15 Bezogen auf die Rückerstattung unrechtmäßigen Gutes. Vgl. Weiteres bei Michel a.a.O., 101ff. 16 BDR § 412,2.6. 17 Ähnlich Zahn, 374. Vgl. Tasker, 98f.

9. Die Berufung des Matthäus, 9,9-13

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einmal Abraham und Israel ihre Namen erhielten (Joh 1,42; Gen 17,5; 32,29). Matthäus, griech. Μαθθαῖος [Maththaios] oder Ματθαῖος [Matthaios] oder Μαθαῖος [Mathaios],18 aram. ‫[ מתי‬mtj] oder ‫[ מתא‬mtʾ], erklärt man als Kurzform aus Mattanja (2Kön 24,17) oder Mattitja (Neh 8,4). Auf Deutsch bedeutet dieser Name „Geschenk Jahwes“.19 Der Talmud nennt überraschenderweise Matthäus als Ersten unter den Jüngern Jesu,20 vermutlich deshalb, weil es die Rabbinen im Israelland vornehmlich mit dem Matthäusevangelium zu tun hatten. Er heißt dort Mathaj, was der oben genannten aramäischen Namensform entspricht. Allerdings geht der Talmud nicht von der Bedeutung „Geschenk Jahwes“ aus, sondern vom hebr. ‫[ ָמַתי‬mātaj] = „wann“. Dass Jesus dem Zöllner Levi später den Namen Μαθθαῖος [Maththaios] = Mattanja (Mattitja) = „Geschenk Jahwes“ verlieh, könnte darauf schließen lassen, dass er in dessen Bekehrung ein besonderes Zeichen des Vaters sah, dass nach ihm noch weitere Zöllner und Sünder zum Glauben kommen sollten.21 Und er sagt zu ihm: Folge mir nach! Im Griechischen zwei Worte (ἀκολούθει μοι [akolouthei moi]). Aber sie umschließen alles: das Jüngersein, die Verheißungen Jesu, die volle Gemeinschaft mit dem Messias und Gottessohn. Vergleiche Mt 8,22; 19,21; Joh 1,43. Und er stand auf und folgte ihm nach: Matthäus tat genau, was Jesus wollte. Von einem Dialog wird hier nichts berichtet. Matthäus markiert in V. 9 ohne weiteres Beiwerk ausschließlich die beiden Grundpfeiler seiner Jesus- und Gottesbeziehung: Ruf und Antwort. So kommt bis heute Christsein, so kommt bis heute Kirche zustande. Es fehlt hier auch jede Zeitangabe – wie übrigens auch bei Markus und Lukas, die im ἀκολούθει μοι [akolouthei moi] völlig mit Matthäus übereinstimmen. Wir müssen also annehmen, dass sich Matthäus augenblicklich von seinem Platz am Zoll erhob und sich schon für diesen Tag Jesus anschloss. Folgte ihm nach drückt Matthäus wie Markus (anders Lukas) durch einen Aorist aus. Dadurch wird der einmalig-punktuelle Moment im Leben des Matthäus und der Entscheidungscharakter jenes Vorgangs hervorgehoben. Ob und was sich um jene lebensentscheidende Begegnung am Zoll abgespielt hat, ist jetzt für Matthäus nicht mehr wichtig.22 Matthäus bleibt eine der bewegendsten Figuren im NT. Erst Zöllner, dann Jünger, dann Apostel (Mt 10,3), dann Evangelist. Spätere Nachrichten fließen 18 19 20 21

Vgl. Bauer-Aland, 986; Zahn 373, Anm. 50; Carson, 223. Luz II 41. b Sanh 43a. Carson, 224, vertritt eine andere Lösung: Der Zöllner hatte einfach wie andere Juden gleichzeitig zwei Namen, nämlich Levi und Matthäus. 22 Vielleicht noch eine Spur davon im lukanischen „Und er verließ alles“ (Lk 5,28).

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spärlich. Bischof Papias von Hierapolis hat um 120 n.Chr. das Matthäusevangelium ausgelegt und sich intensiv um schriftliche und mündliche Überlieferungen des Matthäus bemüht.23 Eusebius berichtet als Bemerkung des Papias: „Matthäus hat in hebräischer Sprache (διαλέκτῳ [dialektō]) die Logien (τὰ λόγια [ta logia]) zusammengestellt. Jeder aber übersetzte (ἡρμήνευσεν [hērmēneusen]) sie, so gut er konnte.“24 Hier ist fast jedes Wort umstritten. Was Papias sagte, wird bei Irenäus (ca. 180 n.Chr.) erneut berichtet: „Matthäus verfasste seine Evangelienschrift bei den Hebräern in hebräischer Sprache, als Petrus und Paulus zu Rom das Evangelium verkündeten.“25 Weil das Matthäusevangelium in der ganzen alten Kirche als das älteste galt,26 steht es heute an der Spitze der Evangelien. Wir müssen annehmen, dass auch Matthäus im Verlaufe der Verfolgungen (Apg 12,1ff ) oder im Zusammenhang der Kriegsereignisse 66–73 n.Chr. das Israelland verlassen musste. Ging er nach Syrien oder Kleinasien, dann konnte Papias von Hierapolis dort durchaus mit persönlichen Reminiszenzen betreffs Matthäus rechnen. Gelegentlich liest man, der Ruf Jesu Folge mir nach! sei „unwiderstehlich“ gewesen.27 Dadurch entsteht der Eindruck, dass Matthäus folgen musste, ob er wollte oder nicht. Nichts ist fälschlicher als dieser Eindruck. Denn dass man Jesu Ruf auch ablehnen konnte, ergibt sich aus Mt 19,21f, und Matthäus trat seine Nachfolge ebenso wie die vier Jünger von Mt 4,18-22 deshalb an, weil er sich für die Annahme dieses Rufes entschied (vgl. Mt 8,18-22; 23,37). Sowohl nach Matthäus als auch nach Markus und Lukas schloss sich an die Berufung ein großes Gastmahl an: Und es geschah, als er im Hause zu Tische lag, dass da (καὶ ἰδού [kai idou]) viele Zöllner und Sünder kamen und mit Jesus und seinen Jüngern zu Tisch lagen (V. 10). Mit καὶ ἐγένετο [kai egeneto] (und es geschah, Mt 9,10) und καὶ γίνεται [kai ginetai] (Mk 2,15) machen die Evangelisten klar, dass das folgende Ereignis seine eigene Bedeutung hat und dass zwischen Mt 9,9 parr und Mt 9,10ff parr wohl ein gewisser Zeitabstand anzunehmen ist. Sachlich ergibt sich aus Lk 5,29ff dasselbe. Lukas spricht ausdrücklich von einem „großen Mahl“ und verwendet für dieses Zöllnermahl denselben Begriff (δοχή [dochē]) wie für das Pharisäermahl in Lk 14,13. Es ist ein Hinweis auf die Bescheidenheit des Matthäus, dass er im Unterschied zu Lukas und Markus weder von einem großen Gastmahl noch von „seinem Hause“ spricht (vgl. Lk 5,29; Mk 2,15), sondern ganz einfach 23 24 25 26 27

Eusebius H.E. III, 39,4. H.E. III, 39,16. Adv. haer. III, 1,1. Vgl. Origenes Comm in Matth nach Eusebius H.E. VI, 25,3ff. So Hengel-Schwemer, 363; auch Schniewind, 119: „Der zwingende Ruf Jesu“.

9. Die Berufung des Matthäus, 9,9-13

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sagt im Hause (ἐν τῇ οἰκίᾳ [en tē oikia]).28 Aber dass das Haus des Matthäus gemeint ist, ist klar.29 Mit Beare30 kann man außerdem annehmen, dass das Haus und die vielen Tischgenossen auf einen gewissen Wohlstand des Matthäus deuten. Ebenso ist Schlatters Annahme berechtigt, dass dieses Mahl abends stattfand.31 Entscheidend für den Vorgang ist nun, dass da viele Zöllner und Sünder kamen und zusammen mit Jesus und seinen Jüngern zu Tisch lagen. Bei Tisch liegen (ἀνάκειμαι [anakeimai]) begegnet uns öfter in den Evangelien.32 „Die Sitte, auf Polstern zu Tisch zu liegen, war bei den Juden – zZt Jesu üblich … Man lag auf der linken Seite, um die rechte Hand zum Essen frei zu haben.“33 Viele kamen, sagen alle Evangelisten. Dass sie zusammen (συν! [syn-]) mit Jesus und seinen Jüngern zu Tisch lagen, zeigt, dass es sich nicht um zwei getrennte Gastmähler handelte, sondern um ein einziges, gemeinsames. Da es im Haus des Matthäus stattfand, war er, Matthäus, der Gastgeber (vgl. Lk 5,29). Was beabsichtigte er mit dieser gemeinsamen Einladung an Jesus – seine Jünger – und viele Zöllner und Sünder? Zwei Vermutungen legen sich nahe: 1) Es sollte ein Abschiedsmahl für die bisherigen Berufskollegen (Zöllner) sein, 2) er wollte seinen bisherigen Berufskollegen und Bekannten, die im Widerspruch zur Tora lebten (Sünder, ἁμαρτωλοί [hamartōloi]34), die Gelegenheit geben, Jesus kennenzulernen und in seine Nachfolge zu treten. Das heißt, Nachfolge und Bekehrung verknüpfen sich bei Matthäus sofort mit der Mission. Man denke an J.A. Bengels berühmte Definition des Theologen: „ein Mensch, der von Hertzen entschlossen ist, Gottes Ehre zu befördern, Christo wahrhaftig zu leben und zu dienen, selbst in den Himmel zu kommen, und auch fein Viele andere zu gewinnen“.35 Die Missionsabsicht des Evangeliums ist in Mt 9,10 schon in nuce angelegt. Von da aus schließen sich weitere Beobachtungen an. Wenn seine Jünger eingeladen waren (vgl. Joh 2,2), muss damals bereits ein engerer, kleinerer Kreis von Jüngern existiert haben, der Jesus konstant begleitete, also noch vor der Berufung der Zwölf (Mt 10,1ff; vgl. Mt 4,18ff; Joh 1,35ff ). Wer die 28 Vgl. Zahn, 375. 29 Fiedler, 217, jedoch: „unklar“. Luz II 43, vermutet das Haus Jesu in Kapernaum. Offensichtlich auch Schlatter, 140. Wie wir Carson, 224; Zahn, 374; Tasker, 99. 30 Beare, 225f: „this man was well off “. 31 Schlatter, 140. 32 F. Büchsel, Art. κεῖμαι usw., ThWNT, III, 1938, 654f, erwähnt Mt 9,10; 22,10.11; 26,7.20; Mk 14,18; 16,14; Lk 22,27; Joh 6,11; 12,2; 13,23.28. 33 Büchsel a.a.O., 655. 34 Vgl. K.H. Rengstorf, Art. ἁμαρτωλός, ThWNT, I, 1933, 331. 35 Nach O. Wächter, Johann Albrecht Bengel, Stuttgart, 1865, 146.

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Sünder waren, wird uns nicht aufgeschlüsselt. Sind Zöllner und Sünder dieselbe Personengruppe? Oder – und dieser Annahme neigen wir zu36 – bilden die Sünder einen weiteren Bekanntenkreis des Matthäus, gekennzeichnet eben durch das Überschreiten der Tora? Klar ist zuletzt, dass Jesus diesem gemeinsamen Mahl zustimmte. Er wollte die Gemeinschaft mit Sündern, aber nicht mit der Sünde. Das musste zu schweren Spannungen führen, wie gleich der nächste Vers zeigt. Und als es die Pharisäer sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern? (V. 11): Die Pharisäer waren dem Zusammenhang nach nicht unter den Eingeladenen. Aber in dem überschaubaren Kapernaum, wo das Haus des Matthäus zu suchen ist, erfuhr man wohl ganz schnell vom Vorhaben der Einladung und vom Verlauf des Gastmahls.37 Die überraschend großen Reste der Synagoge und die modernen Ausgrabungen38 lassen vermuten, dass schon zur Zeit Jesu eine solche Synagoge existierte (bestätigt durch Joh 6,59). Dann aber müssen wir auch pharisäische Chaberim in Kapernaum annehmen, die Zeugen jener Vorgänge wurden (es sahen). Sie befragen seine Jünger. Haben sie sie während des lange dauernden Mahles herausgebeten (vgl. Mt 12,46ff )? Das griech. Imperfekt ἔλεγον [elegon] deutet auf eine längere Unterhaltung. Warum isst euer Lehrer (ὁ διδάσκαλος ὑμῶν [ho didaskalos hymōn]) …? Sie nennen Jesus immer noch „Rabbi“, „Lehrer“ (διδάσκαλος [didaskalos]). Sie vermeiden auch im Unterschied zu Mt 12,2ff jede direkte Attacke. Aber was Jesus tut, darf der wahre Messias niemals tun: nämlich Sünder in seine Mahlgemeinschaft aufnehmen. Darüber waren sich Pharisäer und Essener einig.39 Der wahre Messias muss „ein heiliges Volk sammeln“,40 „Sünder (ἁμαρτωλοί [hamartōloi]) vom Erbe verstoßen“ und „die Sünder züchtigen“,41 aber sie nicht zu Tischgenossen machen. Oder, wie es die Essener in Qumran sagten, eine „heilige Gemeinde“ (‫[ ֲעַדת קוֶֹדשׁ‬ʿᵃdat qōdäsch]) sammeln, die sich trennt vom „Weg des Volkes“ (‫[ ֶדֶּרְך ָהָעם‬däräk hāʿām]).42 Warum also nimmt Jesus am Gastmahl des Matthäus teil? „Mit jemand essen … ist Zeichen naher Bekanntschaft und

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Ebenso Carson, 224; Zahn, 375; Luz II 43. Vgl. Zahn, 375f. Vgl. R. Riesner, Art. Kapernaum, GBL, 2, 767. Vgl. Psal Sal 17,21ff. Ps Sal 17,26. Ps Sal 17,23.25. 1QSa I, 9.2f.

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Gemeinschaft.“43 Ja, es kann sogar das messianische Mahl der Endzeit symbolisieren.44 Vergleiche Mt 11,19; Lk 7,34; 15,2; 19,7. Die Antwort kommt aber nicht von den Jüngern, sondern von Jesus selbst: Er aber sagte, als er es hörte: Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken (V. 12). Diese Antwort ist weder „semi-satirical“45 noch einfach „a proverbial saying“.46 Sie ist vielmehr biblisch bestimmt. Das kurze ἀκούσας [akousas] (als er es hörte oder „als er es gehört hatte“) deutet an, dass die Frage der Pharisäer von den Jüngern an Jesus weitergegeben wurde. Die Antwort beruht zunächst auf einem Gottesprädikat des AT: „Ich bin der HERR, dein Arzt“ (‫[ ֲאנִי י ְהוָה ֹרְפֶאָך‬ʾᵃnī jhwh rophʾäkā]), Ex 15,26. Im AT ist Jahwe „Der eigentliche und alleinige Arzt“.47 Bald werden die Begriffe Arzt, „heilen“ o.ä. auch im übertragenen Sinne für Sündenvergebung und Errettung aus Not gebraucht, wie z.B. in dem bekannten Wort aus Jer 8,22: „Ist denn keine Salbe in Gilead, oder ist kein Arzt da?“ Vergleiche Jer 3,22; 17,14; 30,17; Hos 6,1; 7,1.48 Ist aber der Vater im Himmel der Arzt seines Volkes, dann ist es der Gottessohn und Messias nicht weniger. Zweitens: Jesus konnte seine messianische Aufgabe, Arzt zu sein, direkt aus den messianischen Programmen des AT ablesen: Er sollte die zerbrochenen Herzen verbinden (Jes 61,1), „durch seine Wunden sind wir geheilt“ (‫[ נְִר ָפּא־ָלנוּ‬nirpāʾ-lānū], Jes 53,5),49 ja er hat das auszuführen, was Gott in Ez 34,11-16 als sein eschatologisches Handeln ankündigt: „Ich will das Zerbrochene verbinden und das Schwache stärken“ (vgl. Ez 34,4). Diesen biblischen Hintergrund haben wir bei Mt 9,12 parr in erster Linie zu beachten.50 Der Form nach kann es sich bei Mt 9,12 allerdings um ein Sprichwort o.Ä. handeln.51 Die Anwendung ist jedenfalls klar: Jesus nennt die Zöllner und Sünder Kranke (κακῶς ἔχοντες [kakōs echontes], in allen drei Evangelien).52 Sie brauchen tatsächlich einen Arzt! Sie brauchen Genesung im geistlichen Sinne! Insoweit ist er mit den Pharisäern einig. Aber wer sind die Gesunden (οἱ ἰσχύοντες [hoi ischyontes])? Die Pharisäer sagen: Wir sind die Gesunden (Joh 9,40f ). Doch gibt es 43 J. Behm, Art. ἐσθίω, ThWNT, II, 1935, 690. 44 Behm a.a.O.; Hengel-Schwemer, 413f. 45 So Tasker, 97. Ähnlich A. Oepke, Art. ἰάομαι, usw., ThWNT, III, 1938, 204: „aus Ernst und Ironie gemischt“. 46 So France, 197. 47 Oepke a.a.O., 201. 48 Vgl. wieder Oepke a.a.O., 202f. 49 Vgl. Oepke a.a.O., 203. 50 Leider weist Luz II 44 nur auf hellenistische Parallelen hin. 51 Zahn, 376: „Sprichwort“, „Parabel“; ebenso Oepke a.a.O., 204; Beare, 226: „a proverb“. 52 Jeremias Gleichnisse, 125.

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einen einzigen Menschen in dieser Welt, der von sich sagen kann, er sei ohne Sünde und deshalb „stark“, gesund? Nach der Bibel nicht (Ps 14,3; 51,1ff; 53,4; Röm 3,9ff ). So bleibt die Frage wie eine Wunde offen.53 Albrecht Oepke hat recht: „Kaum ein Bild hat sich der urchristlichen Überlieferung so tief eingeprägt, wie das von Jesus als dem großen Wunderarzt.“54 Mehr noch: Dieses Bild hat mit zu unserer Redewendung vom „Heiland“ geführt. Generationen von Christen sind dadurch geprägt worden. Und dies war eine der Ursachen, die zum raschen Eindringen des Christentums in die Gesellschaft der Antike beitrugen. Man erinnere sich an das bekannte Wort des Ignatius Eph 7,2: εἷς ἰατρός ἐστιν [heis iatros estin].55 Es ist nicht selbstverständlich, dass Jesus dem Wort von V. 12 in V. 13 noch eine längere Ausführung hinzufügt. Ein Grund dafür mag sein, dass ihn die Anklage der Pharisäer (V. 11, vgl. 11,19) sehr getroffen hat. Ein anderer Grund56 mag sein, dass er Unsicherheit bei den eigenen Jüngern bemerkte. Vers 13 hat zwei Zielpunkte. Der erste unterstreicht, dass den Kranken gegenüber Barmherzigkeit erforderlich ist: Geht aber hin und lernt, was das heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.57 Geht hin bedeutet so viel wie „Macht euch ans Werk“, entsprechend dem hebr. ‫[ ְלכוּ‬lᵉkū] oder ‫[ קוּמוּ‬qūmū]. Vielleicht meint Jesus aber auch ganz konkret, dass sie sich eingehend in der Synagoge mit der von ihm zitierten Stelle beschäftigen sollten. Jedenfalls bedeutet lernt (μάθετε [mathete]) so viel wie „erkennt Gottes Willen aus der Schrift“.58 Wenn sie aber nach Jesu Hinweis die Schrift studieren (μανθάνειν [manthanein]), werden sie dann nicht zur Jüngerschaft bewegt (μαθηταί [mathētai])? Die Stelle, die er zitiert, ist Hos 6,6. In Mt 12,7 wird er sie noch einmal zitieren. Der griech. Wortlaut bei Matthäus stimmt mit der LXX überein: ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν [eleos thelō kai ou thysian] trifft aber auch den Sinn des hebr. Textes.59 Das hebr. ‫[ ֶחֶסד‬chäs̀ äd], griech. mit ἔλεος [eleos] übersetzt, ist „Liebe“, „Güte“60, „Wohlwollen“, Barmherzigkeit.61 Daran hat Gott „Wohlgefallen“ (‫[ ָחַפְצ ִתּי‬chāphaztī ]). Dieser Vorrang der Liebe und Barmherzigkeit vor dem Opfer als einer rituellen Gabe hat in Israel eine uralte prophetische Tradition (vgl. 1Sam 15,22; Ps 40,7; 51,19; Hos 6,6; Am 53 54 55 56 57 58 59 60 61

W. Grundmann, Art. ἰσχύω usw., ThWNT, III, 1938, 402. Oepke a.a.O., 204. Weiteres Material bei Oepke a.a.O., 215. In diese Richtung denkt Schlatter, 141. Bei Markus und Lukas fehlt dieser Satz. K.H. Rengstorf, Art. μανθάνω usw., ThWNT, IV, 1942, 410; Flusser, 103. Zahn, 376. Vgl. die verschiedenen Bibelübersetzungen. Gesenius, 247.

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5,21ff; Mi 6,6-8; Jes 1,11ff ). An sie schließt sich Jesus an. Die Vergleichspunkte im Hintergrund sind: Opfer und Gesetzeserfüllung gesteht er den Pharisäern zu (wie auch in Mt 23,23), aber die Barmherzigkeit (vgl. wieder Mt 23,23!) fehlt ihnen, wenigstens im ausreichenden Maß. Er dagegen lebt die Barmherzigkeit wie der himmlische Vater selbst (Ex 34,6; Ps 103,8; Jona 4,2) und will deshalb den Sündern Vergebung und ewiges Leben vermitteln. Der „Sündenheiland“ ist eben nicht nur lukanisch, sondern genauso auch matthäisch. Der zweite Zielpunkt von V. 13 ist die Selbstaussage Jesu: Denn ich bin nicht gekommen (οὐ γὰρ ἦλθον [ou gar ēlthon]), um Gerechte zu rufen, sondern Sünder. Schon oben bei Mt 5,17 haben wir darauf hingewiesen, wie umstritten die ἦλθον-Aussagen [ēlthon] Jesu sind. Ich bin gekommen (ἦλθον [ēlthon]) heißt zunächst: „Ich habe den Auftrag.“ Zugleich aber bedeutet es: „Ich bin gesandt, nämlich vom Vater im Himmel,62 und letztlich: „Ich bin vom Himmel gekommen“ (vgl. Joh 6,38; 3,13).63 Welchen Auftrag, welche Sendung hat nun Jesus? Mt 9,13 gibt dazu eine negative und eine positive Bestimmung. Negativ: Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen (καλέσαι δικαίους [kalesai dikaious]). Ist das eine direkte Entgegensetzung zu Ps Sal 17, wonach der Messias ein heiliges Volk sammelt? Man beachte, dass die Gerechten hier nicht angegriffen werden.64 Ihr Bild wird keineswegs polemisch verzerrt. Jesus sagt nur so viel: Für die δίκαιοι [dikaioi] bin ich nicht gekommen. Allerdings bricht im Hintergrund wieder die Frage auf: Gibt es wirklich Gerechte in dieser Welt? Positiv: Ich bin gekommen, Sünder zu rufen (καλέσαι ἁμαρτωλούς [kalesai hamartōlous]). Das war die konstante „Sendungsgewißheit Jesu“65 (vgl. Lk 15,4ff; 19,10; 1Tim 1,15). Sie leitet sich ab aus dem eschatologischen Programm Ez 34,16: „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken“ (vgl. Sach 11,16). Und noch einmal erhebt sich die Frage: Wer ist denn kein Sünder? Gibt es überhaupt jemand, der nicht gerufen ist? An Mt 9,13 schließt sich eine dreifache Erwägung an. Erstens bedeutet rufen keine automatische Rettung, schon gar nicht gegen den Willen der Betreffenden, sondern eine einladende Aufforderung, die ebenso im Glauben angenommen werden muss, wie sie Matthäus soeben am Zoll angenommen hat 62 Vgl. Joh. Schneider, Art. ἔρχομαι usw., ThWNT, II, 1935, 664f. 63 Vgl. Beare, 227. 64 Vgl. France, 168. Gegen Fiedler, 218, wonach Matthäus den Pharisäern Defizite „unterstellt“. 65 Schneider a.a.O., 664, gegen Bultmann Gesch, 166f.

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(V. 9). Mit Recht wird das von Lukas in 5,32 durch die Worte εἰς μετάνοιαν [eis metanoian] („zur Buße“) verdeutlicht.66 Zweitens sollte uns Mt 9,13 nicht zu der „Fluchtbewegung“ verführen, von der Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik sprach. Er wandte sich mit Recht gegen eine Auslegung, die uns „vom rechten Opfer, von der rechten Gottesdienstlichkeit, Erbauung und Theologie“ ablenken will: „Es könnte ja auch eine ebenso willkürliche und unvollziehbare Flucht aus der Gottesliebe in eine dann gewiß ebenso falsch verstandene Nächstenliebe geben.“67 In der Tat ist eine solche Fluchtbewegung in der protestantischen Auslegung öfter latent oder manifest vorhanden. So wenn Theißen-Merz Mt 9,13 als „Tempel-/Kultfeindlich“ klassifizieren.68 Drittens ist zu erwägen, ob das μάθετε [mathete] (lernt) in der ersten Vershälfte nicht direkt durch Hos 6,6 veranlasst ist,69 wo nach οὐ θυσίαν [ou thysian] folgt: καὶ ἐπίγνωσιν θεοῦ [kai epignōsin theou], hebr. ‫[ ַדַּעת ֱאל ִֹהים‬daʿat ʾᵆlohīm]. Jesus möchte also, dass sich die „Erkenntnis Gottes“ unter den Pharisäern durchsetzt. Noch immer können wir auf der Seite Jesu ein Werben70 und auf der Seite der Pharisäer eine Offenheit beobachten.

IV Zusammenfassung 1. Mt 9,9-13 schildert die Berufung des Matthäus mit anschließendem Gastmahl im Haus des Matthäus. Sie ist nach Mt 4,18-22 die fünfte und letzte persönlich namhaft gemachte Jüngerberufung und hat von daher eine besondere, exemplarische Bedeutung. 2. Manche erklären Mt 9,9-13 als „ideale Szene“, es sei kein historischer Bericht,71 die Situationsangabe habe „keinen geschichtlichen Wert“.72 Die Gründe für eine solche These sind aber nicht ausreichend, weshalb andere Forscher wie z.B. Flusser73 grundsätzlich an der Historizität festhalten. Auch für uns hat sich kein Grund ergeben, weshalb wir an der Historizität zweifeln sollten.

66 67 68 69 70 71 72 73

Vgl. aber Fiedler, 110, Anm. 18. Barth KD I/2, 480. Theißen-Merz, 519. Anders Zahn, 376f. Es ist freilich auch eine typisch rabbinische Formel. France, 168; Luz II 45; Strack-Billerbeck I 499. Diese Dimension kommt bei Schniewind zu kurz, wenn er auf Seite 119 vom „Kampf Jesu gegen die Pharisäer“ spricht. So Bultmann Gesch, 27.58f.60; Fiedler, 217; Beare, 228. Bultmann a.a.O., 67. Flusser, 72.108.110, Anm. 18.

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3. Entscheidend ist in Mt 9,9-13 wieder die christologische Dimension.74 Jesus als Messias und Gottessohn ruft in seine Nachfolge (V. 9). Er sieht seinen Auftrag als Arzt und Retter der Sünder und Verlorenen, sehr wahrscheinlich von den eschatologischen und messianischen Verheißungen des AT her (Jes 53,4ff; 61,1; Ez 34,11ff ). Dabei verdienen die ἦλθον-Worte [ēlthon] als Ausdruck seiner Sendung unser Vertrauen.75 4. Die „Heilandsfrömmigkeit“ der letzten Jahrhunderte war deshalb kein prinzipieller Fehlweg, trotz der Defizite im Einzelnen. 5. Ein Fehlweg dagegen ist es, aus Mt 9,9-13 eine Kult- oder Tempelfeindschaft Jesu abzuleiten.76 Weder Hosea, den Jesus hier zitiert, noch ein anderer Prophet in Israel wollte den Gottesdienst oder das Opfer abschaffen. Sie wollten nur den rechten Gottesdienst, das rechte Opfer, wie Jesus selbst auch (vgl. Mt 5,23ff; 23,16ff; Mk 12,41ff par). Mit Recht wehrte sich zum Beispiel Karl Barth77 gegen eine Fehldeutung von Mt 9,13. 6. Man darf Mt 9,9-13 nicht vorschnell in das Schema „Jesu Kampf gegen den Pharisäismus“ einordnen oder gar als Ausdruck von Polemik und Unterstellung gegenüber dem Pharisäismus bewerten.78 Die Frage, ob es wirklich Gerechte gibt, lässt Jesus hier offen,79 während er Zöllner und Sünder durchaus als „Kranke“ betrachtet. Jesu Werben gerade auch um die Pharisäer wird in der Literatur häufig zu wenig beachtet. 7. Wahrscheinlich erzählt der Evangelist in Mt 9,9-13 seine eigene Berufungsgeschichte. 8. Stellen wie Did 4,10; Barn 5,9; 2Clem 2,4; Justinus Mart Apol I, 15,8; Clemens Al Quis dives 39,2ff zeigen, wie intensiv Mt 9,9-13 schon von den frühen Auslegern bedacht wurde.

74 75 76 77 78 79

Luz II 45. Joh. Schneider a.a.O., 664f, gegen Bultmann Gesch, 164ff. Gegen Theißen-Merz, 519. Barth KD I/2, 480. Gegen Schniewind, 119, einerseits und Fiedler, 217f, andererseits. Vgl. France a.a.O.; Luz II 45, Anm. 44.

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10. Die Fastenfrage, 9,14-17 I Übersetzung 14 Darauf kommen die Jünger des Johannes zu ihm mit der Frage: Warum fasten wir und die Pharisäer,1 deine Jünger aber fasten nicht? 15 Und Jesus sagte zu ihnen: Können denn die Hochzeitsleute trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam von ihnen genommen wird, und dann werden sie fasten. 16 Niemand setzt einen Flicken neuen Stoffes auf ein altes Gewand. Denn das Eingesetzte reißt vom Gewand, und der Riss wird schlimmer. 17 Man füllt auch nicht neuen Wein in alte Schläuche. Sonst zerreißen die Schläuche und der Wein wird verschüttet und die Schläuche gehen kaputt. Sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche, sodass beide erhalten bleiben.

II Struktur Schon dass Kurt Aland in seiner Vier-Evangelien-Synopse eine Doppelüberschrift gebraucht – „Die Fastenfrage, Gleichnisantworten“2 –, zeigt, dass die Struktur von Mt 9,14-17 nicht problemlos ist. Es befriedigt auch nicht, wenn man einen einzelnen Gedanken herausnimmt und das Ganze wie Ulrich Luz unter die Überschrift „Der Bräutigam“ stellt.3 Das strukturelle Problem liegt in der Fülle der Aussagen und Bilder. Auf eine Frage der Johannesjünger (V. 14) antwortet Jesus mit dem Bild vom Bräutigam und von der Hochzeit (V. 15a). Daran schließt er eine kaum verhüllte Prophetie seines Leidens an, aber immer noch in Bezug auf die Fastenfrage (V. 15b). Dann folgen die beiden Gleichnisse vom neuen Flicken und vom neuen Wein (V. 16-17). Bei ihnen ist der Bezug auf die Fastenfrage nicht mehr ohne Weiteres erkennbar.4 Trotz der Vielfalt der Aussagen und Bilder sollte man 9,14-17 als einen zusammengehörigen Abschnitt behandeln. Der Hauptgrund liegt darin, dass Markus und Lukas im Wesentlichen mit Matthäus parallel gehen. Eine entferntere Parallele in Joh 3,29f zeigt, dass auch der Täufer ähnliche Bildworte verwenden konnte. Ein weiterer Grund dafür, Mt 9,14-17 als ein zusammen1 πολλά [ polla] in V. 14 ist zu schwach bezeugt. Anders Zahn, 378. Wie wir Fiedler, 18, Anm. 73; France, 169; Tasker, 99. 2 Aland Syn, 128. 3 Luz II 45. 4 Vgl. France, 169.

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hängendes Ganzes zu behandeln, liegt im Kontext. Denn alle drei Evangelisten bringen diesen Abschnitt in unmittelbarem Anschluss an die Berufung des Matthäus und das Zöllnermahl. Man kann deshalb annehmen, dass die Ereignisse und Worte von Mt 9,9-17 parr in dieselbe Zeit – die Frühzeit Jesu – gehören. Die Frage, warum ein solches Stück wie Mt 9,14-17 ins Heilungskapitel eingefügt wurde, wird uns später noch beschäftigen.

III Einzelexegese Matthäus verzichtet auf eine Einführung ins Thema, wie sie Markus in Mk 2,18 bietet. Denn er muss seine judenchristlichen und jüdischen Leser ja nicht über Fastenbräuche im Judentum aufklären. Anders Markus mit seinem römisch-petrinischen Evangelium. Matthäus setzt in V. 14 direkt beim Vorgang an: Darauf kommen die Jünger des Johannes zu ihm mit der Frage … τότε [tote] nach V. 13 heißt „damals“ oder darauf, „danach“.5 Nach dem Wortlaut des Matthäus stehen also V. 14-17 in einem zeitlichen Zusammenhang mit V. 9-13. Ebenso Markus und Lukas. Wir befinden uns also noch in der Frühzeit Jesu. Sie kommen zu ihm ist historisches Präsens.6 Im Unterschied zu den Pharisäern in V. 11 sprechen die Fragesteller Jesus direkt an (zu ihm). Es handelt sich hier um die Jünger des Johannes. Der Artikel die (οἱ [hoi]) bedeutet natürlich nicht, dass sich alle Johannesjünger bei Jesus versammelt hätten. Er bedeutet nur, dass es sich um typische, repräsentative Johannesjünger handelte.7 Doch wer sind die Jünger des Johannes? Manchmal als Täuferjünger apostrophiert sind es Menschen, die sich bei Johannes dem Täufer der Bußtaufe unterzogen und sich ihm anschlossen. In ihnen leben die Propheten-Jünger der Zeit Elias, Elisas und Jesajas (1Kön 19,19ff; 2Kön 2,1ff; 4,1ff; 6,1ff; 9,1ff; Jes 8,16ff; Am 7,14) wieder auf. Der Täufer unterrichtete sie über Taufe und Reinigung (Joh 3,25ff ), über Gebet und Fasten (Lk 11,1; Mt 9,14) und nicht zuletzt über den Messias und die Eschatologie (Joh 1,29ff; Mt 3,1ff ).8 Karl Heinrich Rengstorf zufolge sind die Johannesjünger ein „fester, äußerlich und innerlich geschlossener Kreis“.9 Aus Joh 4,1 kann man schließen, dass dieser Kreis relativ groß war.10 Er überdauerte auch den Tod des Täufers (Mt 14,12; Apg 5 6 7 8 9 10

Bauer-Aland, 1642. BDR § 321. Zahn, 378. Vgl. K.H. Rengstorf, Art. μανθάνω usw., ThWNT, IV, 1942, 460f. Rengstorf a.a.O., 460. Rengstorf a.a.O.

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18,25; 19,1ff ). Ob spätere Taufbewegungen, zum Beispiel die Mandäer, mit den Täuferjüngern in Verbindung zu bringen sind, bleibt umstritten.11 So viel kann man jedoch sagen, dass die Johannesjünger der Jesusbewegung besonders nahestanden und die Grenzen zwischen Johannesjüngern und Jesusjüngern fließend waren. Immerhin hatte sich ja Jesus von Johannes taufen lassen. So werden wir davon ausgehen dürfen, dass die Frage (λέγοντες [legontes]) in Mt 9,14 nicht aggressiv oder polemisch gestellt wird, sondern eine echte, an der Bibel orientierte Frage darstellt.12 Offenbar lebte der Täufer damals schon nicht mehr.13 Warum (διὰ τί [dia ti] wie V. 11) fasten wir und die Pharisäer, deine Jünger aber fasten nicht? Das Fasten gehörte seit früher Zeit zum Glauben Israels (Jes 58,1ff; Jer 14,12; Sach 7,1ff ).14 Vergleiche auch die Erklärung bei Mt 6,16ff. Die Pharisäer fasteten zweimal in der Woche, montags und donnerstags (vgl. Lk 18,12). Andere, wie z.B. Hanna (Lk 2,37), noch häufiger. Wie oft die Johannesjünger fasteten, wissen wir nicht. Warum also die Jünger Jesu nicht? Diese Frage setzt übrigens voraus, dass es schon vor Mt 10,1ff einen definierbaren Kreis von Jesusjüngern gab und dass dieser konstant auf das Fasten verzichtete. In V. 15 übernimmt Jesus die Verantwortung für seine Jünger:15 Und Jesus sagte zu ihnen: Können denn die Hochzeitsleute trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Das Bild wird sofort verständlich. Der Bräutigam ist der Messias16 (vgl. Mt 22,2; Joh 3,29; Offb 19,7ff ), die Hochzeitsleute (wörtlich „Söhne des Brautgemachs“) sind seine Gemeinde. Die messianische Zeit wird im AT öfter als Freudenzeit beschrieben (Jes 12,1ff; 35,10; Jer 33,11; Sach 9,9). In diesem Zusammenhang spielen auch die Bilder vom Bräutigam und von der Braut eine Rolle (Jes 61,10; 62,5; Jer 33,11). Fasten dagegen verbindet sich meist mit der Trauer (2Sam 12,16ff; Ps 69,11; Joel 2,12; Mt 6,16ff ). Wie, so lautet Jesu Gegenfrage, passen Fasten und Trauern zur messianischen Freudenzeit, die jetzt angebrochen ist (Lk 4,21)? Wie also können (δύναται [dynatai]) seine Jünger jetzt fasten, da der Messias mitten unter ihnen ist (Lk 17,21)? Jesu Argument gewinnt an Durchschlagskraft, wenn man schon für damals die rabbinischen Regeln von b Sukka 25b voraus11 12 13 14

Rengstorf a.a.O., 461f; R. Schneider / C.P. Thiede, Art. Johannes, Täufer, GBL, 2, 699f. Anders Carson, 226: Frage spiegelt „criticism“; ebenso Beare, 229; Zahn, 378; Luz II 47. Mt 14,3ff ist nachholende Erzählung. Vgl. J. Behm, Art. νῆστις usw., ThWNT, IV, 1942, 925ff; Flusser, 216ff; Hengel-Schwemer, 318. 15 Vgl. Riesner, 431. 16 Trotz der Bedenken von J. Jeremias, Art. νύμφη usw., ThWNT, IV, 1942, 1094ff.

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setzen darf. Denn b Sukka 25b hebt fast alle religiösen Verpflichtungen für die Hochzeitsleute während der Hochzeit auf, folglich auch das Fasten.17 Die Verteidigung der Jünger durch Jesus hängt allerdings von einem zentralen Punkt ab: nämlich dass er wirklich der Messias ist. Das Messiasbewusstsein Jesu wurde immer wieder bestritten. Aber Mt 9,15 zeigt, dass ihn das Bewusstsein, der Messias zu sein, in seiner ganzen Tätigkeit begleitete. Mt 9,15 enthält noch einen weiteren Satz: Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam von ihnen genommen wird, und dann werden sie fasten. Dieser Satz erläutert zugleich die letzten Worte des vorangehenden (solange der Bräutigam bei ihnen ist). Solange, ἐφ᾿ ὅσον [eph’ hoson] (= χρόνον [chronon]),18 drückt demnach eine tatsächliche Zeitspanne, ja eine Befristung aus. Sie endet damit, dass der Bräutigam von den Jüngern weggenommen, ihnen entrissen wird.19 Das Passiv ἀπαρθῇ [aparthē]20 kann sowohl als Passivum divinum (Gott der Handelnde) als auch im Sinne menschlichen Handelns verstanden werden. Es werden Tage kommen ist wieder ganz hebräisch formuliert = „es wird eine Zeit kommen“.21 Das ist nichts anderes als eine Leidensweissagung Jesu – und dies in seiner Frühzeit! An die Leidensweissagung knüpft Jesus eine zweite Weissagung an: dann22 werden sie fasten. Der Sache nach wiederholt er diese Weissagung in Lk 17,22; Joh 16,20ff. In der Tat fastete man später im Urchristentum aus besonderen Anlässen oder persönlichen Gründen (Apg 13,2f; 14,23; 1Kor 7,5; 2Kor 6,5; 11,27).23 Allmählich hat die Alte Kirche die Fastenpraxis sogar verstärkt, man fastete zum Beispiel mittwochs und freitags.24 In der Literatur ist die Deutung von Mt 9,15 bezüglich der darin enthaltenen Weissagungen umstritten. Stark wiegen die Bedenken von Joachim Jeremias, der „beides“ als „Gemeindebildung“ erklärt.25 Vor ihm betrachtete Rudolf Bultmann die beiden Weissagungen als „sekundär“ und als „Zusatz“.26 Unter den Autoren der jüngeren Zeit sei noch David Flusser genannt, der hier ebenfalls eine „Gemeindebildung“ annimmt.27 Für solche Annahmen macht man 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

Vgl. Flusser, 183. BDR § 455,5. Vgl. Bauer-Aland, 159. In allen drei referierenden Evangelien. Bauer-Aland, 704. Zeitliches τότε [tote]. Bauer-Aland, 704. Näheres bei J. Behm a.a.O., 934f. Jeremias a.a.O., 1096. Bultmann Gesch, 96.162. Flusser, 183.

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vor allem zwei Gründe geltend: 1) alle „Leidens- und Auferstehungs-Weissagungen“ werden „als sekundäre Gemeindebildungen“ klassifiziert,28 weil Jesus sein Leiden und Sterben unmöglich vorausgewusst haben kann, 2) Mt 9,15 parr würde auch dann guten Sinn geben, wenn man die Weissagungen daraus entfernte.29 Doch tragen diese Gründe nicht.30 Es ist erstens nicht einzusehen, weshalb Jesus im prophetischen Geist nicht stimmige Aussagen über seine Zukunft gemacht haben soll. Und zweitens ist das Argument vom verbleibenden Restsinn völlig unpraktisch, weil man dann aus vielen Stücken ganze Szenen, wenn nicht sogar ganze Akte streichen könnte. Wir sehen keinen Grund, weshalb wir nicht Mt 9,15; Mk 2,19f; Lk 5,34f im erhaltenen Text als grundsätzlich jesuanisch behandeln sollten.31 Nun erweitert sich die Argumentation Jesu durch zwei neue Gleichnisse. Das erste ist dem Bereich des häuslichen Lebens entnommen (V. 16): Niemand setzt einen Flicken neuen Stoffes auf ein altes Gewand. Denn das Eingesetzte32 reißt vom Gewand, und der Riss wird schlimmer. Fiedler meint, Jesus wolle hier das alte Gewand schützen, sprich: die bisherigen jüdischen Fastenregeln.33 Da Jesus soeben (V. 15) diese Fastenregeln wegen der neuen, messianischen Zeit für nicht mehr angebracht erklärte, geht Fiedlers Meinung fehl. Doch klären wir zunächst die Bildhälfte: In der Parechese34 ἐπιβάλλει ἐπίβλημα … ἐπί [epiballei epiblēma … epi] bedeutet ἐπίβλημα [epiblēma] den aufgesetzten Flicken, ἐπιβάλλειν [epiballein] das Aufsetzen desselben,35 ἱμάτιον [himation] das Gewand im allgemeinen Sinne,36 ῥάκος [rhakos] das Stoffstück, den „Lappen“, ἀγναφος [agnaphos] „ungewalkt“ oder neu.37 Die Bildhälfte besagt also: Niemand schneidet aus einem neuen Tuch einen Flicken heraus, um damit ein altes Gewand zu reparieren.38 Die Folge wäre nur, dass das alte Gewand, schwach und rissig, diesen eingesetzten Flicken nicht halten kann.39 Der löst sich wieder (reißt) und der soeben geflickte Riss wird noch schlimmer. Was besagt dieses Gleichnis? Das Neue 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Bultmann Gesch, 163. Jeremias a.a.O.; Flusser a.a.O. Vgl. Schniewind, 120. Ähnlich Carson, 227. Oder: „Füllstück“, „Ergänzung“ (Bauer-Aland, 1351). Fiedler, 219. Vgl. BDR § 488,2. Bauer-Aland, 588.587. Jeremias Gleichnisse, 117f, verengt auf den „Mantel“. Vgl. Bauer-Aland, 18. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 117.25. Bauer-Aland, 46, schlagen „Evtl.“ als Übersetzung vor: „d. Flicken reißt etwas vom Kleid ab“.

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kann nach dem Zusammenhang nur die neue messianische Zeit sein. Demnach sind die bisherigen Verhaltensregeln, konkret: die Fastenregeln, einem alten Gewand zu vergleichen. Das besagt freilich nicht – und bis hierher ist Fiedler recht zu geben –, dass das alte Gewand eo ipso wertlos sei. Vielleicht ist es sehr kostbar, sehr ehrwürdig. Aber ein neuer Flicken passt eben nicht auf ein altes Gewand. Mit anderen Worten: Das Erscheinen des Messias ändert nicht nur Äußerlichkeiten in seiner Gemeinde, sondern Grundsätzliches. Noch einmal: Das bedeutet nicht, dass das alte Gewand wie ein Lumpen in die Ecke geworfen wird. Noch weniger heißt es, dass Gottes Anordnungen für ungültig erklärt werden (vgl. Mt 5,17ff ). Aber man muss wissen, welche Anordnungen für welche Zeiten getroffen werden. „Distingue tempora“, sagte Bengel richtig, „et concordabit Scriptura“.40 Das folgende Gleichnis in V. 17 zielt in dieselbe Richtung: Man füllt auch nicht neuen Wein in alte Schläuche. Sonst zerreißen die Schläuche und der Wein wird verschüttet und die Schläuche gehen kaputt. Das Bildmaterial ist alt (vgl. Hiob 32,19). Das Israelland ist seit Jahrtausenden Wein-Produzent (Gen 14,18; Ps 4,8; Jes 5,1ff ).41 Jesus wuchs in dieser Kultur auf und trank selbst Wein (Mt 11,19). Eventuell hat er hier (auch V. 16?) ein Sprichwort aus dieser Kultur benutzt? Niemand, der mit Verstand arbeitet, füllt neuen Wein in alte Schläuche. Denn der neue Wein gärt und dann zerreißen die alten Schläuche. Der Wein geht verloren (und verschüttet) und die alten Schläuche gehen kaputt. Das bedarf keiner weiteren Erklärung. Aber was ist der Sinn dieser Worte? Für manchen Bibelleser vielleicht überraschend wird darüber heftig gestritten. Don A. Carson notiert „Two extreme interpretations“:42 1) Matthäus erstrebe durch diese Worte „die Erneuerung und Bewahrung des Judentums, nicht seine Abschaffung (the renewal and preservation of Judaism, not its abolition)“, 2) das Neue, das Jesus bringt, sei so radikal neu, dass es keine Verbindung zur früheren jüdischen Frömmigkeit mehr gebe. Carson warnt vor beiden Extremen und sucht einen anderen Weg. Auch die gegenwärtige deutsche Diskussion zeigt erhebliche Spannungen. So entnimmt Luz Mt 9,16f „die grundsätzliche Unvereinbarkeit des alten, durch die jesusfeindlichen Schriftgelehrten, Pharisäer und Johannesjünger repräsentierten Israel mit Jesus und der Jüngergemeinde.43 Die Worte beide 40 Auf Deutsch: „Unterscheide die Zeiten, dann wird die Schrift zusammenstimmen (= zu einer Einheit)“, nach Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi, 2. Aufl., Stuttgart, 1773, 964. 41 Vgl. Bösen, 52f; Zohary, 54f. 42 Carson, 227f. 43 Luz II 48.

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bleiben erhalten möchte er gerne „auf die Verkündigung Jesu und … die Gemeinde“ beziehen.44 Wegen dieser Auslegung wird er jedoch von Fiedler attackiert. Fiedler sieht in Mt 9,16f „eine Bekräftigung des Rückgriffs auf das Alte, des Festhaltens am freiwilligen Fasten“.45 Die Aussage beide bleiben erhalten bedeute, dass „Neues neben Altem existieren“ und Jesu Bewegung sich mit dem jüdischen Glauben „wechselseitig ergänzen“ solle.46 Auszugehen ist von einem relativ einfachen Grundtatbestand: Jesus begründet hier, warum seine Jünger jetzt nicht fasten. Sie tun es nicht, weil jetzt der Messias da und die Freudenzeit angebrochen ist.47 Erst „so“ (καί [kai]) kann beides erhalten bleiben: der neue Wein und die neuen Schläuche,48 der messianische Jubel und die neuen Verhaltensweisen. Danach freilich können die Fastenregeln als Ausdruck von Trauer wieder aufleben.49 Deutet man so, dann hat das Kommen Jesu in dessen eigenen Augen den Charakter einer einmaligen weltgeschichtlichen Zäsur. Nichts ist seinem Kommen als Messias vergleichbar, nichts löst größere Freude aus. Aber spricht das AT etwa weniger über eine solche Bedeutung des Messias (vgl. Jes 11,1ff; 12,1ff; 25,1ff; 35,1ff )? Und hat nicht auch der Täufer in ähnlicher Weise davon gesprochen (Mt 3,11; Joh 3,27ff )? Man darf hier nicht den Fehler machen, in Mt 9,16f einen grundsätzlichen Vergleich von Judentum und Christentum zu erblicken.50 Es geht hier überhaupt nicht um die Frage, ob die Fastenzeit gut oder schlecht sei oder welcher Lehre über das Fasten der Vorzug zu geben ist. Sondern es geht um die Erkenntnis der Zeit, die Gott jetzt im Kommen Jesu schenkt, und um die Einsicht, was das Kommen des Messias bedeutet. Joachim Jeremias hat das gut erfasst, wenn er Mt 9,16f parr unter den Überschriften „Die Gegenwart des Heils“ und „Realisierte Eschatologie“ behandelt.51 Vergleiche Lk 4,21; 19,42; Gal 4,4.

IV Zusammenfassung 1. Der wachsende Jüngerkreis Jesu befolgte teilweise andere Lebensregeln als die Pharisäer oder Johannesjünger. So bezüglich des Fastens, später bezüg44 45 46 47 48 49 50

A.a.O. Fiedler, 219. A.a.O. Ähnlich Zahn, 382f; Sand, 199. France, 170; Carson, 227. Vgl. Sand,199. Diesen Fehler macht Luz II 48; aber auch France, 169 („an important general truth“); Tasker, 98; Flusser, 224ff, der praktisch Mt 9,16f auf den Kopf stellt; Beare, 231f. 51 Jeremias Gleichnisse, 115ff.

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lich des Händewaschens (Mt 15,1ff ). Hier in Mt 9,14-17 parr geht es um das Fasten. Zur Diskussion gestellt wird es von den Johannesjüngern. 2. Auch andere jüdische Gruppen hatten ihre eigenen Frömmigkeitsregeln, z.B. die Essener. Ein Dissens in der Fastenpraxis bedeutete also noch längst nicht die Trennung vom Judentum. Deshalb darf man Mt 9,14-17 nicht als einen grundsätzlichen Schritt zur Trennung vom Judentum verstehen, freilich auch nicht als grundsätzliche Bestätigung des traditionellen Judentums. 3. Es ist ferner zu beachten, dass es in Mt 9,14ff nicht um die biblischen Fastengebote z.B. an Yom Kippur geht (Lev 16,29ff ), sondern um die „Aufsätze der Ältesten“, also lediglich die traditionellen Fastenregeln. 4. Jesus selbst wird hier angefragt. Mt 9,14-17 ist seine Antwort und nicht die der Jünger oder Evangelisten. Und das Entscheidende in dieser Antwort ist der Hinweis auf seine Messianität und den Anbruch der messianischen Freudenzeit. Wer mit ihm verbunden ist wie seine Jünger, lebt in dieser Freudenzeit und kann jetzt keine traditionellen Fasten-(Trauer-)Regeln mehr befolgen. Im Grunde geht es also in Mt 9,14-17 um die Christologie. 5. Daraus ergibt sich ferner: Später können und werden seine Jünger wieder fasten. Deshalb ist Mt 9,14-17 keine grundsätzliche Stellungnahme zum Fasten überhaupt. 6. Wohl aber enthält Mt 9,15 die erste Leidensweissagung, die Jesus an die Öffentlichkeit richtet. Die Schatten des Todes werden schon in der Frühzeit seines Wirkens erkennbar (vgl. Mk 3,6). 7. Warum hat Matthäus einen solchen Bericht in das Wunderheilungskapitel 9 eingefügt? Unsere Vermutung ist die, dass er damit zweierlei klarmachen wollte: 1) Jesus ist kein θεῖος ἀνήρ [theios anēr] (gottgleicher Mensch des Hellenismus), der nur das Wundertun als Lebensinhalt hat, 2) als Christus der Tat bleibt Jesus immer zugleich auch der Christus des Wortes. 8. Die altkirchlichen Ausleger haben sich öfter mit Mt 9,14-17 parr beschäftigt, so zum Beispiel Irenäus52 oder Pseudo-Makarius.53 Gerne deuteten sie den neuen Wein auf den Heiligen Geist und die neuen Schläuche mitsamt dem neuen Wein auf den Neuen Bund.

52 Adv. haer. IV, 33,14; IV, 35,2. 53 Nach Texte KV II, 150.

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11. Die Auferweckung der Jaïrustochter und die Heilung der Blutflüssigen, 9,18-26 I Übersetzung 18 Während er mit ihnen darüber redete, siehe, da kam ein Synagogenvorstand, fiel vor ihm nieder und sagte: Mit meiner Tochter ist es soeben zu Ende gegangen. Aber komm und lege deine Hand auf sie, dann wird sie wieder lebendig werden. 19 Und Jesus stand auf und folgte ihm, und auch seine Jünger. 20 Und siehe, eine Frau, die zwölf Jahre lang den Blutfluss gehabt hatte, kam von hinten herzu und berührte die Quaste seines Gewandes. 21 Denn sie sagte sich: Wenn ich nur sein Gewand berühre, werde ich gerettet. 22 Jesus aber wandte sich um, und als er sie erblickte, sagte er: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Und von jener Stunde an war die Frau gerettet. 23 Und als Jesus in das Haus des Synagogenvorstands kam und die Flötenspieler und die aufgewühlte Menge sah, 24 sagte er: Geht weg! Denn das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft. Und sie lachten ihn aus. 25 Als aber die Menge hinausgetrieben war, ging er hinein, ergriff ihre Hand, und das Mädchen stand auf. 26 Und die Nachricht davon ging hinaus in jenes ganze Land.

II Struktur Schon ein flüchtiger Blick in die Synopse lehrt, dass Matthäus gegenüber Mk 5,21-43 und Lk 8,40-56 „besonders stark gekürzt“ hat.1 Statt der 23 Verse bei Markus bietet Matthäus nur 9. Es ist schlechterdings kein überzeugender Grund erkennbar, weshalb Matthäus so vieles aus dem Mk-Bericht ausgelassen haben sollte, falls er wirklich Markus zur Vorlage hatte.2 In der Literatur wird deshalb teilweise die Meinung vertreten, Matthäus hätte hier aus dem Gedächtnis geschrieben.3 Unseres Erachtens spricht gerade das Verhältnis von Mt 9,18-26 zu Mk 5,21-43 gegen die These, dass Matthäus den Markus als Quelle benutzte. In Mt 9,18-26 fällt weiter die „Verflechtung zweier Wundergeschichten“ auf.4 Bultmann war überzeugt, dass „es sich hier um zwei ursprünglich isolierte Wundergeschichten handelt“.5 Aber eine solche Annahme bleibt zwei1 2 3 4 5

Klostermann, 81. Vgl. Schniewind, 121f. So Allen, den Klostermann a.a.O. notiert. Bultmann Gesch, 228. A.a.O.

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felhaft, denn alle synoptischen Evangelien weisen dieselbe Verflechtung auf, und zwar an derselben Stelle. Warum sollen sich die Geschehnisse nicht so zugetragen haben, wie es hier geschildert wird? Bei Matthäus ist dieser Abschnitt klar in drei Teile gegliedert: 1) Die Bitte um Hilfe, V. 18-19, 2) die Heilung der blutflüssigen Frau, V. 20-22, 3) die Auferweckung des Mädchens vom Tode, V. 23-26. Unsicher bleibt die genaue Abfolge der Ereignisse. Zwar platzieren alle drei Synoptiker diese Wundertaten in die Frühzeit Jesu. Aber bei Markus und Lukas haben wir die Abfolge Sturmstillung – Heilung des besessenen Gergeseners – Auferweckung der Tochter des Jaïrus, während Matthäus diese Auferweckung nach der Fastenfrage bringt. Wir können die genaue Abfolge an diesem Punkt nicht mehr feststellen.

III Einzelexegese Es hängt mit der speziellen matthäischen Geschehnis-Abfolge zusammen, wenn V. 18 mit den Worten einsetzt: Während er mit ihnen darüber redete … (Ταῦτα αὐτοῦ λαλοῦντος αὐτοῖς [Tauta autou lalountos autois]). Man kann dies so verstehen, dass Jesus mitten im Gespräch über das Fasten (V. 1417) von einem Hilfesuchenden unterbrochen wurde.6 Man kann das λαλεῖν [lalein] aber auch in einem weiteren, allgemeinen Sinne nehmen7 und dann die Worte Ταῦτα αὐτοῦ [Tauta autou] usw. so auffassen: „Als darüber noch die Diskussion zwischen ihm und ihnen lief.“ Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Mt 9,14ff und 9,18ff wäre dann im letzteren Falle nicht gegeben. Aber wir müssen hier offenlassen, welche Deutung zutrifft. Mehr Klarheit herrscht dagegen bezüglich des anschließenden Ereignisses: siehe, da kam ein Synagogenvorstand, fiel vor ihm nieder und sagte: Mit meiner Tochter ist es soeben zu Ende gegangen (ἄρτι ἐτελεύτησεν [arti eteleutēsen]). Das griech. ἄρχων [archōn] entspricht dem ἀρχισυνάγωγος [archisynagōgos] bei Mk 5,22 (Lk 8,41: ἄρχων τῆς συναγωγῆς [archōn tēs synagōgēs]), hebr. ‫[ ֹראשׁ ַה ְכּנֶֶסת‬roʾsch hakkᵉnäs̀ ät].8 „Synagogenvorsteher“ oder Synagogenvorstand ist deshalb die angemessene Übersetzung.9 Weil wir uns noch in Kapernaum befinden (9,1ff.9ff ), muss es sich um ein leitendes Mitglied der Synagoge von Kapernaum handeln.10 „Der Eigenname fehlt“ bei

6 7 8 9 10

So Klostermann, 82. Vgl. Bauer-Aland, 940ff. Strack-Billerbeck I 519. Strack-Billerbeck a.a.O.; Bauer-Aland, 747.226. Zahn, 383.

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Matthäus.11 Nach den Parallelstellen in Mk 5,22; Lk 8,41 lautete er Ἰάϊρος [Iaïros], Jaïrus, = hebr. ‫ [ יִָאיר‬jāʾīr], auf Deutsch „er [nämlich Gott] wird erleuchten“,12 oder hebr. ‫ [ י ִָעיר‬jāʿīr], „er wird erwecken“.13 Obwohl der Name Symbolkraft hat – „Gott wird die Finsternis erleuchten“ oder „Gott wird auferwecken“ –, verzichtet Matthäus auf eine Namensnennung. Umso schärfer tritt deshalb die Position des Mannes hervor. Als Synagogenvorstand hatte er die Leitung des Gottesdienstes. Er verteilte die Aufgaben im Gottesdienst und wählte unter anderem „diejenigen aus, die die Gebote u. Schema-Rezitationen vortrugen u. die Schriftabschnitte vorlesen u. auslegen sollten“.14 Auch kommunale Verwaltungsaufgaben konnte er wahrnehmen.15 Dabei muss man den Synagogenvorstand als Einzelperson von dem mehrköpfigen Vorstandsgremium einer Synagoge unterscheiden.16 Ein Synagogenvorstand „genoß hohes Ansehen17 … Oft blieb das Amt mehrere Generationen in einer Familie“.18 In Kapernaum ist davon auszugehen, dass der Synagogenvorstand zu den Pharisäern gehörte. Wir nehmen deshalb an, dass Jaïrus wie Nikodemus (Joh 3,1ff; 7,50ff; 19,39ff ) und später Gamaliel (Apg 5,34ff ) zu der pharisäischen Minderheit gehörte, die Jesus offen oder sogar positiv gegenüberstand (vgl. Apg 15,5ff ). Das Judentum war damals alles andere als ein monolithischer Block. Er fiel vor Jesus nieder19 als Ausdruck der Ehrerbietung.20 Strack-Billerbeck weisen auf b Ketubot 63a hin, wonach um 135 n.Chr. R. Akibas Frau vor ihrem heimkehrenden Gatten auf ihr Angesicht fiel und seine Füße küsste.21 Aber was er zu sagen hat, erstickt beinahe alle Hoffnung: Mit meiner Tochter ist es soeben zu Ende gegangen (ἄρτι ἐτελεύτησεν [arti eteleutēsen]). Das griech. τελευτάω [teleutaō] bedeutet ähnlich wie das verwandte τέλος ἔχειν [telos echein]22 „ein Ende nehmen“, „sterben“. Dementsprechend

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Klostermann, 82. Vgl. Num 32,41; Ri 10,3ff; Est 2,5. Vgl. 2Sam 21,19; 1Chron 20,5. W. Schrage, Art. συναγωγή usw., ThWNT, VII, 1964, 843f. Schrage a.a.O., 843. Schrage a.a.O. Es scheint, als wäre Jaïrus eher ein Mitglied des mehrköpfigen Vorstandsgremiums gewesen, vgl. Maier I, 306, Zahn, 383, Anm. 67. Schrage a.a.O. Schrage a.a.O., 844. Das Imperfekt ist durativ. Strack-Billerbeck I 519. Strack-Billerbeck a.a.O. Vgl. dazu G. Delling, Art. συναγωγή usw., ThWNT, VIII, 1969, 51.

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lautet die übliche Übersetzung „sie ist soeben gestorben“.23 Doch ist den Seitenreferenten hier eine gewisse Zurückhaltung abzuspüren. Mk 5,23 sagt ἐσχάτως ἔχει [eschatōs echei] = „sie liegt in den letzten Zügen“,24 Lk 8,42 ἀπέθνῃσκεν [apethnēsken] = „sie lag im Sterben“ (moribunda erat).25 Der Vater kommt also in dem Zeitraum zu Jesus, in dem die Tochter das Leben aushaucht. Aber komm und lege deine Hand auf sie, dann wird sie wieder lebendig werden: Was für ein Glaube! Er erinnert an den Glauben der Träger des Gichtbrüchigen (Mt 9,1ff ), auch an den Glauben des Hauptmanns von Kapernaum (Mt 8,5ff ). Wie viel Vertrauen hat Jesus damals in Kapernaum genossen! Aber der Synagogenvorstand übertrifft die anderen noch, weil er Jesus die Kraft der Totenauferweckung zutraut. Denn seine Worte dann wird sie wieder lebendig werden (καὶ ζήσεται [kai zēsetai])26 setzen voraus, dass sie wirklich tot ist, wenn Jesus kommt. Bultmann formuliert hier richtig: Es gilt, „das entflohene (Leben) zurückzurufen“.27 Das Handauflegen hat bei Jesus keinen magischen Charakter, sondern ist ein Ausdruck intensiver Zuwendung (vgl. Mk 6,5; 7,32; 8,23.25; Lk 4,40; 13,13). Totenauferweckungen sind auch bei den großen Propheten Israels, Elia und Elisa, vorgekommen (1Kön 17,17ff; 2Kön 4,18ff ). Allerdings mit dem Unterschied, dass Elia und Elisa durch ihre vorausgegangenen Gebete Gott zum Eingreifen bewegten, während Jesus durch unmittelbares Befehlswort auferweckt (Mk 5,41; Lk 7,14; 8,54; vgl. Joh 11,41f ). Strack-Billerbeck haben drei Möglichkeiten der Totenauferweckung nach Jüdischem Glauben aufgelistet: 1) durch Gott, 2) durch Gerechte, 3) durch den Messias. Letzteres begegnet in der Literatur nur in späterer Zeit.28 Jedoch ist 3) nur ein Spezialfall von 2). Jaïrus bezeugt jedenfalls, dass Jesus als Rabbi und Messias, der von Gott gekommen ist (vgl. Joh 3,2), Tote wieder zum Leben erwecken kann. Überraschend knapp schildert V. 19, wie Jesus auf die Bitte des Synagogenvorstands reagierte: Und Jesus stand auf (ἐγερθείς [egertheis]) und folgte (ἠκολούθησεν [ēkolouthēsen]) ihm, und auch seine Jünger. Aufstehen kann bedeuten: 1) aufstehen vom Mahl oder vom Sitzen,29 2) aufstehen im Sinn von „aufbrechen“. Wir neigen hier zur zweiten Bedeutung, die einem 23 So Luz II 50; Fiedler, 219; BDR § 480,2; Lutherbibel; Maier I, 306; Schlatter, 147; Carson, 228. 24 Bauer-Aland, 636. 25 BDR § 326,1. 26 Bauer-Aland, 680. 27 Im Art. ζάω usw., ThWNT, II, 1935, 863. 28 Strack-Billerbeck I 523f. 29 So Carson, 230.

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hebr. ‫[ קוּם‬qūm] entspricht.30 Für folgen wird griech. ἀκολουθεῖν [akolouthein] benutzt, das oft die Nachfolge im geistlichen Sinne bezeichnet, aber eben doch auch das äußere „Mitkommen“. So auch hier: Der Synagogenvorstand bahnt den Weg durch das Gewimmel der Menschen und Jesus folgte ihm.31 Und auch seine Jünger ist wieder Kurznotiz: Von der späteren Rolle der Jünger, die in Mk 5,37 und Lk 8,51 erwähnt wird, erzählt Matthäus nichts. Entschlossen zur Hilfe, reagiert also Jesus sofort. In V. 20 setzt überraschend die zweite Wundergeschichte ein: Und siehe, eine Frau, die zwölf Jahre lang den Blutfluss gehabt hatte, kam von hinten herzu und berührte die Quaste seines Gewandes. Keiner der Evangelisten nennt den Namen der Frau – wohl, weil die Krankheit etwas Beschämendes an sich hatte. Diese Krankheit währte schon zwölf Jahre (vgl. Mk 5,25; Lk 8,43). Blutfluss (αἱμορροοῦσα [haimorrousa]) bezeichnet geschlechtliche Blutungen, von denen Lev 15,25 ausdrücklich auch solche erwähnt, die „eine lange Zeit“ dauern. Die Folgen waren äußerst unangenehm. Die betreffende Frau galt als unrein, und wer sie berührte oder was sie berührte, wurde ebenfalls unrein (Lev 15,19ff ).32 Die Frau von Mt 9,20 hätte sich also weder in der Volksmenge bewegen noch Jesus berühren dürfen (vgl. Mk 5,33; Lk 8,47). Nur die schreckliche Not (vgl. Mk 5,26; Lk 8,43) trieb sie dazu. Sie wagt es weder, ihre Bitte auszusprechen, noch Jesus von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Deshalb kam sie von hinten herzu (vgl. Mk 5,27; Lk 8,44). Jesus direkt berühren wollte sie nicht. So berührte sie die Quaste seines Gewandes. Das griech. Wort κράσπεδον [kraspedon] bezeichnet den „Saum“, „Rand“ oder eben die Quaste.33 Gemeint ist hier eine der vier Quasten am Obergewand, die der fromme Israelit nach Num 15,37ff; Dtn 22,12 trug, hebr. ‫[ ִציִצית‬zīzīt]. Auch Jesus trug also die fromme jüdische Kleidung. Sie war ja biblisch vorgeschrieben (Num 15,37ff; Dtn 22,12; Sach 8,23). Nur die Überlänge verurteilte er (Mt 23,5). Vergleiche noch Mt 14,36; Mk 6,56; Lk 6,19. Denn die Frau sagte sich: Wenn ich nur (μόνον [monon]) sein Gewand berühre, werde ich gerettet (σωθήσομαι [sōthēsomai]) (V. 21). Wer die Quaste berührt (V. 20), berührt zugleich das Gewand. Ich werde gerettet (σωθήσομαι [sōthēsomai]) hat offensichtlich einen Doppelsinn: 1) „ich werde 30 Auch Zahn, 383. 31 Nach Fiedler, 220, ist Mt 9,19 die einzige Stelle bei Mt, die von einem „Folgen“ Jesu spricht. Vgl. Zahn, 384. 32 Vgl. Strack-Billerbeck I 520 und Zebaim V, 6. 33 Joh. Schneider, Art. κράσπεδον, ThWNT, III, 1938, 904, übersetzt „Saum des Gewandes“.

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gesund werden“,34 2) „ich werde von Gott angenommen“, das heißt das ewige Heil empfangen.35 Bei der Frau traf beides ein (vgl. V. 22). Einer eigenen Erörterung wert ist das kleine Wort μόνον [monon] (nur). Nur ein Wort Jesu hielt der Hauptmann von Kapernaum für ausreichend (Mt 8,8). Nur eine Quaste am Gewand Jesu reichte für die Heilung der blutflüssigen Frau. Nur ein Becher kalten Wassers für die Jünger hilft im Gericht Gottes (Mt 10,42). Vor allem Jakobus setzt diese Tradition fort: Nur Hörer zu sein, genügt nicht (Jak 1,22). Nur den Glauben auf den Lippen zu tragen, ohne die Tat des Glaubens, bringt keine Rechtfertigung im Endgericht (Jak 2,24). Aber nur eine Quaste am Gewand Jesu bringt alles Heil dieser und jener Welt. Es ist nicht das Nur der Magie oder des Aberglaubens, auf das es ankommt. Es ist das Nur des Glaubens. Und über diesen Glauben der Frau haben die Christen aller Generationen gestaunt.36 Vers 22 enthält die Antwort Jesu auf diesen Glauben: Jesus aber wandte sich um, und als er sie erblickte, sagte er: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Und von jener Stunde an war die Frau gerettet. Matthäus übergeht dabei viele Einzelheiten, die wir bei Markus und Lukas finden. Nur so viel erzählt er: Jesus wandte sich nach rückwärts, von wo er berührt worden war, und erkannte die Frau, die ihn berührt hatte (vgl. Mk 5,30ff; Lk 8,45ff ). Er tröstet sie in ihren Ängsten: Sei getrost, meine Tochter. Meine Tochter ist liebevolle Anrede, vergleichbar Mt 9,2. Sei getrost oder „Hab Vertrauen“ ist typisch „als Anruf im Munde Jesu“.37 Dein Glaube hat dich gerettet (ἡ πίστις σου σέσωκέν σε [hē pistis sou sesōken se]) ist nicht weniger typisch für Jesus (vgl. Mk 10,52; Lk 7,50; 17,19). Es zeigt, wie zentral der Glaube für ihn ist. Mit σέσωκεν [sesōken] nimmt er das gerettet (σωθήσομαι [sōthēsomai]) in den Überlegungen der Frau wieder auf. Wir rechnen deshalb auch hier mit einer Doppelbedeutung: 1) „Dein Glaube hat dich gesund gemacht“, 2) „Dein Glaube hat dich mit mir und mit Gott verbunden“. Die äußere Erfüllung im Sinne von 1) wird sofort konstatiert: Und von jener Stunde an war die Frau gerettet. Mt 8,13; 15,28 und 17,18 enthalten ähnliche Feststellungen. Auch durch lange thematische Abhandlungen hätte Matthäus nicht im Entferntesten einen solchen Eindruck von Jesu Macht und Barmherzigkeit schaffen können, wie es diese wenigen Verse (V. 20-22) tun. 34 Bauer-Aland, 1592. 35 Bauer-Aland a.a.O. 36 Vgl. Act Pilati 7; Eusebius H.E. VII, 18,1ff; Hermes Past Vis III, 8,3, Zahn, 385; Luz II 53; Fiedler, 220. 37 W. Grundmann, Art. θαρρέω (θαρσέω), ThWNT, III, 1938, 26.

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Im Haus des Synagogenvorstands trifft Jesus chaotische Verhältnisse an (V. 23). Flötenspieler sind da, eine aufgewühlte Menge (ὄχλος θορυβούμενος [ochlos thoryboumenos]). Markus und Lukas erzählen wieder ausführlicher: Die Menge weinte, heulte und klagte (Mk 5,37; Lk 8,52). Das Schicksal des wohlbekannten Synagogenvorstands und des zwölfjährigen Mädchens, seiner einzigen Tochter (Mk 5,42; Lk 8,42), bewegte sie. Die Schilderung in V. 23 macht eines klar: Das Mädchen ist inzwischen wirklich gestorben, und alle Anwesenden gingen von ihrem Tode aus. Flötenspieler und Klageweiber „gehörten zu den notwendigen Requisiten der Begräbnisfeier“, sie standen auch dem Ärmsten zu.38 Angesichts all der Unruhe sagte Jesus: Geht weg! (V. 24). Markus formuliert es noch härter: „er trieb sie alle hinaus“ (ἐκβαλὼν πάντας [ekbalōn pantas], 5,40). Schauwunder sind nicht seine Sache (vgl. Mt 4,5ff ). Dann sagt Jesus einen Satz, der ihm sehr übel genommen wurde: das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft (καθεύδει [katheudei]). Dieser Satz beschäftigt uns heute noch und hat zu zwei völlig konträren Auslegungen geführt. Heißt καθεύδει [katheudei]: Das Mädchen ist nicht tot, sondern im Koma? Dann geht es nicht um eine Totenauferweckung, sondern um die Heilung einer Krankheit. Oder heißt es: es schläft, im jüdischen Sprachgebrauch: „es harrt seiner Auferstehung39 entgegen“, soll also jetzt vom Tode erweckt werden?40 Albrecht Oepke zufolge drängt sich in καθεύδειν [katheudein] „die gesamte Problematik des menschlichen Lebens und Sterbens zusammen“.41 Grammatisch und wortkundlich sind beide Auslegungen, die oben erwähnt wurden, möglich. Aber für die zweite spricht doch ein Plus von Argumenten: 1) Flötenspieler, Klageweiber und das Verlachen/Auslachen von V. 24 spiegeln die feste Überzeugung auch der professionellen Sterbebegleiter wider, dass der wirkliche Tod eingetreten war; 2) Lukas sagt in 8,55 klar, dass „ihr Geist“ wiederkehrte, also das Sterben nach Ps 90,3 eingetreten war; 3) sollen sich die Nachrichtenüberbringer von Mk 5,35; Lk 8,49 getäuscht haben?; 4) Jesus selbst spricht in Mt 11,5 ausdrücklich von Totenauferweckungen. So stimmen wir Albrecht Oepke zu: „Daß die Evangelisten eine wirkliche Totenauferweckung erzählen wollen, läßt sich nicht bezweifeln.“42 Und sie lachten ihn aus: Auch das lässt sich besser begreifen, wenn die Anwesenden vom irreparablen Tod überzeugt waren. Auslachen gibt den Ausgelachten der Verach38 39 40 41 42

Strack-Billerbeck I 521f; Klostermann, 82; Ket IV, 4; b MQ 27b; 28b. Vgl. Paulus 1Kor 15,20.51; 1Thess 4,13. Vgl. A. Oepke, Art. καθεύδω, ThWNT, III, 1938, 439f. Oepke a.a.O., 436. Oepke a.a.O., 440.

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tung preis. In Korea deuten noch heute alle Verkehrsteilnehmer auf den Fahrer, der sich eines Fehlers schuldig gemacht hat. Für Jesus war das Auslachen schon Teil der Passion (Ps 22,8ff ). Im Blick auf Mt 9,24 konstatierte Karl Heinrich Rengstorf: Es sei „das höhnische Gelächter gemeint, das aus dem Besserwissen und damit aus der Überlegenheit über Jesus kommt, die nicht daran denkt, sich irgendwie imponieren zu lassen“.43 Interessant ist ein Blick auf die Geschichte des Lazarus in Joh 11. Auch dort sagt Jesus: er schläft (κεκοίμηται [kekoimētai]), 11,11. Auch dort ist dieses er schläft Ausdruck des realen Todes, 11,14. Auch dort will Jesus vom Tode auferwecken, 11,11-15. Eine einfachere Schilderung des Wunders kann man sich nicht denken, als sie Mt 9,25 bietet: Als aber die Menge hinausgetrieben war, ging er hinein, ergriff ihre Hand, und das Mädchen stand auf (ἠγέρθη [ēgerthē]). Nach dem Hinaustreiben der Menge mithilfe des Vaters (Mk 5,40) betritt Jesus den Raum (ging er hinein). Er ergriff die Hand des Mädchens: Zeichen der Zuwendung und Ausdruck seiner Macht. Ohne dass Matthäus das Befehlswort Jesu erwähnt (Mk 5,41; Lk 8,54), berichtet er das Resultat seines Handelns: das Mädchen stand auf (ἠγέρθη τὸ κοράσιον [ēgerthē to korasion]). Wahrscheinlich hat ἠγέρθη [ēgerthē] einen doppelten Sinn:44 1) Sie erhob sich von ihrem Lager,45 2) sie wurde vom Tode auferweckt.46 Ein angesichts des riesigen Wunders unglaublich dürrer Vers schließt Mt 9,18-26 ab: Und die Nachricht davon ging hinaus in jenes ganze Land (εἰς ὅλην τὴν γῆν ἐκείνην [eis holēn tēn gēn ekeinēn]). Jenes ganze Land meint vermutlich wie in Mt 4,23; 9,31 Galiläa und die angrenzenden Gebiete (vgl. Lk 4,14.37; 5,15; 7,17). Zweifellos ist es – menschlich gesprochen – ein Höhepunkt im Leben Jesu.

IV Zusammenfassung 1. Es ist nicht leicht, Mt 9,18-26 angemessen zu würdigen. Der Bericht kommt sehr bescheiden daher und enthält doch ein Spitzenwunder Jesu, die Totenauferweckung der Tochter des Jaïrus, und dies sogar zusammen mit einem weiteren bemerkenswerten Wunder, der Heilung der blutflüssigen Frau.

43 44 45 46

Im Art. γελάω usw., ThWNT, I, 1933, 657f. Strack-Billerbeck I 523. Klostermann, 82. Fiedler, 220, übersetzt „sie wurde auferweckt“, ebenso mein Kommentar Maier I, 310.

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2. Wir gehen mit Theodor Zahn47 davon aus, dass beide Ereignisse auch „in Wirklichkeit“ so ineinander verschlungen waren, wie dies sämtliche referierende Evangelisten erzählen (Mt 9,18-26; Mk 5,21-43; Lk 8,40-56). 3. Gerade das Historische macht uns Heutigen Beschwer. Wir zitieren Ulrich Luz: „Da m. E. die Erfahrung einer Totenauferweckung für uns nach wie vor undenkbar ist, sehe ich dafür keine Lösung.“48 Doch wie steht es dann mit der Auferweckung Jesu von den Toten? Ganz anders fällt das Urteil von Julius Schniewind aus: „Daß Ähnliches wie das V. 20ff Erzählte tatsächlich vorkommt, ist nicht zu bestreiten … und es ist vielleicht wieder unser Mißtrauen gegen die Wirklichkeit dieser wirklichen Welt, wenn wir es bezweifeln, daß schon die Gegenwart des Helfers Jesus auch der äußeren Not wehren kann. Unsere ‚Weltanschauung‘ scheidet vielfach zu Unrecht eine Welt der Innerlichkeit, in der Gott waltet, von einer äußeren Wirklichkeit, die sich selbst überlassen bleibt.“49 4. Totenauferweckungen werden in den messianischen Verheißungen des AT nicht ausdrücklich erwähnt (vgl. Jes 61,1ff; Ez 34,11ff ). Aber sie geschahen bei Elia und Elisa (1Kön 17,17ff; 2Kön 4,18ff ). Und zu Jes 26,19; Ez 37,1ff gehört explizit die Zusicherung: „deine Leichname werden auferstehen“. So kann man es verstehen, dass vom Messias auch Totenauferweckungen erwartet wurden. In der Antwort an den Täufer, der selbst keine Wunder tat, hat dies Jesus bestätigt (Mt 11,5). Mt 9,18ff parr hat also eine hohe christologische Bedeutung. 5. Auf der menschlichen Seite bekommt erneut der Glaube eine zentrale Bedeutung. Viele Ausleger denken, dass das σέσωκεν [sesōken] in Mt 9,22; Mk 5,34; Lk 8,48 zum Ausdruck bringt, dass die Frau schon geheilt war, bevor Jesus sie entdeckte.50 Jedenfalls sagt Jesus, dass ihre Heilung nur durch ihren Glauben geschah. Die Ausleger beschäftigt die Frage, ob die Berührung der Quaste bzw. des Gewandes Jesus nicht „Abergläubisches“ enthielt.51 Darauf kann man nur antworten: „Die Meinung, in welcher die Kranke gehandelt hat, wird nicht korrigiert“,52 und: Dieses Anrühren hatte in den Evangelien stets Erfolg (Mt 14,36; Mk 6,56; Lk 6,19; vgl. Mk 3,10; 8,22; Apg 5,15; 19,11f ).53 47 48 49 50 51 52 53

Vgl. Zahn, 385. Luz II 57. Schniewind, 122. Carson, 230; Zahn, 385. Carson a.a.O.: „the superstition mingled with it“; vgl. Zahn, 386. Zahn, 385. Maier I, 308.

12. Die Heilung von zwei Blinden, 9,27-31

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6. Bei allen Einzelfragen darf eins nicht aus dem Blick geraten: Jesus kann auch vom Tode erwecken. Er ist der Herr über Leben und Tod (Röm 14,9).54

12. Die Heilung von zwei Blinden, 9,27-31 I Übersetzung 27 Und als Jesus von dort weiterzog, folgten ihm zwei Blinde, die schrien: Erbarme dich unser, Sohn Davids! 28 Als er aber ins Haus ging, traten die Blinden an ihn heran, und Jesus sagt zu ihnen: Glaubt ihr, dass ich das tun kann? Sie sagen zu ihm: Ja, Herr. 29 Da berührte er ihre Augen und sagte: Euch geschehe nach eurem Glauben. 30 Und ihre Augen wurden geöffnet. Aber Jesus erteilte ihnen das strenge Verbot: Seht zu, dass es niemand erfahre! 31 Sie aber gingen hinaus und machten ihn in jenem ganzen Land bekannt.

II Struktur Im Unterschied zu Mt 9,18-26 erweckt diese Geschichte zunächst den Eindruck eines sehr einfachen Aufbaus. Jesus begegnet die Not in Gestalt zweier Blinder (1), V. 27 – er führt vor der Heilung das Gespräch über den Glauben (2), V. 28 – er vollzieht das Heilungswunder (3), V. 29-30a – er verbietet den Geheilten die öffentliche Propaganda (4), V. 30b – sie übertreten dieses Gebot (5), V. 31. Nichtsdestoweniger gibt es einige Auffälligkeiten. Dazu gehört die anfängliche Ablehnung der Hilfe durch Jesus (V. 27), ferner das Verfolgtwerden durch die Blinden bis zur Haustür (V. 28), die explizite Glaubensforschung durch Jesus (V. 28) und schließlich das strenge Verbot, die Heilung bekannt zu machen. Auch das Verhältnis der Synoptiker untereinander ist schwierig zu bestimmen. Sind Mk 10,46-52 und Lk 18,35-43 wirkliche Parallelberichte zu Mt 9,27-31, wie z.B. Aland in seiner Synopse annimmt?1 Kaum, denn zu Mk 10,46ff und Lk 18,35ff ist Mt 20,29-34 der matthäische Parallelbericht und nicht Mt 9,27-31.2

54 Schniewind, 121f. 1 Ebenso Luz II 57. Dennoch empfindet Luz (II, 58) Mt 9,27ff und Mt 20,29 als ganz „verschieden“! Auch Fiedler, 222; Beare, 236; Sand, 202. 2 Ebenso Carson, 232; Zahn, 386; Schlatter, 149.310; France, 172; Hengel-Schwemer, 475; Tasker, 101; Riesner, 438.

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III Einzelexegese Mit den Eingangsworten Καὶ παράγοντι ἐκεῖθεν [Kai paragonti ekeithen] lokalisiert Matthäus unsere Geschichte wie die von 9,9ff in der Nähe des Seeufers (V. 27). Alle weiteren Angaben wie die der Route, die Jesus damals einschlug, oder den Grund seines Weiterziehens lässt Matthäus weg. Er konzentriert sich auf den Kern der Geschichte: es folgten ihm zwei Blinde (ἠκολούθησαν [ēkolouthēsan]). Ihr lautes Geschrei begleitete Jesus: Erbarme dich unser, Sohn Davids! Ihr Ruf in der abgewandelten Form „Kyrie, eleison!“ prägt bis heute die Liturgie der christlichen Gottesdienste. Der Ruf nach Erbarmen (ἐλέησον ἡμᾶς [eleēson hēmas]) erklingt hier zum ersten Mal im Matthäusevangelium. Hinter dem griech. ἐλεεῖν [eleein] steht das hebr. ‫חנן‬ [chnn] oder ‫[ רחם‬rchm].3 In diesen Worten kommen die Bedeutungen von Liebe, Gnade, Mitleid und Erbarmen zusammen. Wer Gottes Erbarmen anruft, rührt an sein Herz (Ps 103,13; 145,9; Jes 49,15; Jer 31,20; Mi 7,19; Ex 34,6). Dasselbe geschieht bei Jesus. Und auch die Anrufung Jesu als Sohn Davids ist hier zum ersten Mal im Matthäusevangelium vernehmbar (vgl. 12,23; 15,22; 20,30f; 21,9.15; 22,42ff ). „Du bist Davids Sohn“ heißt: „Du bist der Messias aus Davids Geschlecht.“4 Über die Einzelheiten des Begriffes Sohn Davids vgl. die Erklärung oben bei Mt 1,1. Wir halten hier nur fest, dass die messianische Hoffnung auf den Nachkommen Davids den Pharisäern (Ps Sal 17,21ff ), den Qumran-Essenern (4QFlor I, 11ff ), dem Rabbinat5 und wichtigen jüdischen Gebeten (z.B. Achtzehngebet, 14. bzw. 15. Benediktion) gemeinsam war.6 Am Rufen der Blinden ist noch dreierlei hervorzuheben: 1) das Bekenntnis, dass Jesus der Messias sei, 2) das Wissen, dass er aus einer davidischen Familie stammt, 3) die Überzeugung, dass er als Messias Heilungswunder vollbringen kann (vgl. Dtn 18,15; Jes 29,18ff; 35,3ff; Mt 11,5). Eduard Lohse hat darauf hingewiesen, dass Matthäus die Davidssohnschaft Jesu noch stärker betont als Markus und Lukas.7 Er meint ferner, in Mt 9,27 sei Sohn Davids durch den Evangelisten „nachträglich eingefügt“ worden – ohne jeden Anhalt am Text.8 Dagegen ist das Verhalten der Blinden weitgehend durch eine Frömmigkeit bestimmt, wie wir sie in Ps 86,1ff vorfinden.

3 So Bultmann, Art. ἔλεος usw., ThWNT, II, 1935, 475f. 4 Vgl. hier und im Folgenden E. Lohse, Art. υἱὸς Δαυίδ, ThWNT, VIII, 1969, 483ff. Seltsam die Deutung bei Fiedler, 222: Hier sei Salomo gemeint. 5 Vgl. die Stellen bei Lohse a.a.O., 484f. 6 Lohse a.a.O. 7 Lohse a.a.O., 489. 8 Lohse a.a.O., 490.

12. Die Heilung von zwei Blinden, 9,27-31

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Wie schon angedeutet enthält V. 28 einige Besonderheiten. Als er aber ins Haus ging, traten die Blinden an ihn heran: Zwischen dem Weiterziehen von V. 27 und dem Erreichen des Hauses muss eine Zeitspanne gelegen haben. In dieser Zeit hat Jesus offensichtlich geschwiegen. Ein solches zeitweiliges Schweigen begegnet uns öfter im Evangelium (vgl. Mt 14,23ff; 15,23f; 20,30f ). Adolf Schlatter sieht dieses Schweigen in einem inneren Zusammenhang mit der Glaubensfrage. Damit hat er grundsätzlich recht.9 Aber man muss auch die andere Seite sehen. Wenn Jesus sich nach Schlatters Worten „die Freiheit“ nimmt, „die Bittenden warten zu lassen und zeitweilig zu handeln, als wäre er für sie hart“,10 dann kann die existentielle Not enorm steigen. Hier war das Ziel des Weges allerdings rasch erkennbar. Matthäus nennt als Ziel das Haus: ἡ οἰκία [hē oikia] mit Artikel! Dafür kommen wohl nur zwei historische Häuser infrage:11 das Haus des Zöllners und Jüngers Matthäus, in dem Jesus nach V. 10 gegessen hatte,12 und das Haus des Petrus, in dem sich Mt 9,2-8 abspielte. Sehr wahrscheinlich haben wir von diesem Petrus-Haus auszugehen, das durch die Ausgrabungen in Kapernaum wieder zugänglich geworden ist.13 Nun sagt Matthäus, Jesus sei in das Haus gegangen (ἐλθόντι δὲ εἰς τὴν οἰκίαν [elthonti de eis tēn oikian]), als die Blinden an ihn herantraten. Man kann dies von dem Moment verstehen, in dem Jesus über die Schwelle gehen wollte, oder – wie es üblicherweise geschieht14 – so auffassen, als hätte Jesus zusammen mit den Blinden schon das Haus betreten. Die Öffentlichkeit war in dem einen wie dem andern Fall praktisch ausgeschlossen (vgl. V. 30). Die Blinden handeln hier genau so, wie es Jesus in Mt 7,7 geschildert hat. Aber noch immer entspricht Jesus ihrer Bitte nicht. Vielmehr stellt er zuerst die Frage nach ihrem Glauben: Glaubt ihr, dass ich das tun kann – nämlich sie heilen? Auch bei der Stillung des Seesturms hat Jesus zuerst die Frage nach dem Glauben gestellt (Mt 8,26). Wir erinnern uns ferner an die Marta-Szene in Joh 11,26: „Glaubst du das?“ So wichtig ist der Glaube! Ja, man muss nach dem Zusammenhang des Evangeliums sogar sagen: Er ist wichtiger als die Heilung und das Wunder. So können Christen auch mit dem Ausbleiben von Heilungen umgehen. Es ist diese Gewichtung Jesu und des Evangeliums, die der Jakobusbrief fortgesetzt hat (Jak 5,13ff ). Bis heute be9 Schlatter, 149. 10 Schlatter a.a.O. 11 Carson, 232. Möglich wäre es auch, an ein anderes Haus irgendwo auf der Wanderroute Jesu zu denken (Maier I, 314). 12 So France, 172. 13 Zahn, 386. 14 Schlatter, 149; Carson, 232; Zahn, 386; Beare, 236.

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eindruckt überdies die direkte Art, in der Jesus seine Frage gestellt hat. Dabei tritt ein weiterer Punkt ans Tageslicht: Es geht Jesus wirklich um den Glauben an ihn, den Gottessohn und Erlöser. Man hätte in der protestantischen Theologie nie leugnen dürfen, dass es ihm darum ging. Oscar Cullmann hat eine Facette dieses Sachverhalts noch hervorgehoben, als er schrieb, an Mt 9,27 werde deutlich, „daß Jesus den Titel ‚Davidssohn‘ für seine Person … nicht … abgelehnt hat, wenn andere ihm diesen beilegten“.15 Als Antwort der Blinden notiert Matthäus das einfache Ja, Herr (ναὶ κύριε [nai kyrie]). Vergleiche Mt 15,27. Als ehrliche Antwort reichen diese zwei Worte völlig aus. Und ehrlich war sie: Sonst hätten sie die Erprobung durch das anfängliche Schweigen Jesu nicht durchgestanden. Vers 29-30a schildert jetzt die Heilung. Ohne weitere Diskussion berührte er [= Jesus] ihre Augen. Auch diese Berührung ist als Geste intensiver Zuwendung zu verstehen und nicht etwa im Sinn magischer Praktiken.16 Die Heilung wird durch sein Wort bewirkt: Euch geschehe nach eurem Glauben (κατὰ τὴν πίστιν ὑμῶν [kata tēn pistin hymōn]). Dasselbe geschieht in 8,13 und 15,8. κατὰ τὴν πίστιν [kata tēn pistin] heißt: Die Heilung entspricht dem Glauben, aber nicht: „euer Glaube hat die Heilung verdient“, auch nicht: „ihr habt die Heilung durch eure Glaubensleistung zuwege gebracht“. Wie ein Vater das Vertrauen seines Kindes nicht enttäuschen will, so Jesus nicht das Vertrauen der Menschen. Und ihre Augen wurden geöffnet (V. 30): Das Wort Jesu genügte. „Wenn er spricht, so geschieht’s“ (Ps 33,9). Niemand in der ganzen Weltgeschichte hat eine solche Heilungsvollmacht gehabt wie Jesus. In ihm erfüllt sich Jes 29,18; 35,5; 61,1ff. Unser Wunderbericht hat in V. 30 einen eigenartigen Abschluss:17 Aber Jesus erteilte ihnen das strenge Verbot: Seht zu, dass es niemand erfahre! Schon das Verb ἐμβριμάομαι [embrimaomai] ist nicht einfach zu übersetzen. Blass-Debrunner-Rehkopf übersetzen es mit „zürnen“,18 Bauer-Aland geben die Bedeutungen „anschnauben“, „anfahren“, „schelten“ an, aber auch „unwillig werden“, „ergrimmen“.19 Das Wort ist im NT nicht ganz selten (Mt 9,30; Mk 1,43; 14,5; Joh 11,33). In unserem Zusammenhang kann es jedenfalls nicht einen Tadel am bisherigen Verhalten der Blinden meinen. Es muss sich um eine ernste, geistgeleitete (vgl. Joh 11,33) Mahnung für die Zukunft

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Cullmann, 134. Vgl. Maier I, 315. Ebenso Carson, 233. Luz II 62: „schwer zu deuten“. Vgl. BDR § 90; 187,1. Bauer-Aland, 514.

12. Die Heilung von zwei Blinden, 9,27-31

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handeln. Daher unsere Übersetzung er erteilte das strenge Verbot.20 Der Sinn dieser Mahnung wird in der Literatur immer wieder diskutiert. Liegt hier eine Sentenz der Urgemeinde vor, die mit dem „Messiasgeheimnis in den Evangelien“ (W. Wrede) ringt, also damals einen „unmessianischen“ Jesus voraussetzt, der sein „Messiasgeheimnis“ verbergen will?21 Oder will Jesus zum Zeitpunkt von Mt 9,27ff seine „offene Proklamation“ als Messias verhindern?22 Oder will er überhaupt nicht als Sensation in der Öffentlichkeit behandelt werden bzw. will er „nicht unter so lärmenden Kundgebungen seine Taten der Barmherzigkeit tun“, wie Zahn schrieb23 (vgl. Mt 4,5ff )? Oder muss Jesus befürchten, dass ihm die Blinden „seine Arbeitszeit [= sein öffentliches Wirken] … vorzeitig abkürzen“,24 wenn sie seine Wunder herumerzählen und damit Jesu Gegner zum Eingreifen veranlassen? Oder bringt Matthäus diese Notiz nur, um wie der Dramaturg eines Theaters „die Breitenwirkung von Jesu Heilungstätigkeit … zu betonen“?25 Matthäus selbst gibt keine Begründung an. Nur vorsichtige Vermutungen sind möglich. Unsere Vermutung ist die, dass Jesus mit der Mahnung Seht zu, dass es niemand erfahre! tatsächlich eine Propaganda-Aktion der Blinden verhindern wollte, die einerseits die Geheilten am geistlichen Wachstum in der Stille hinderte, und andererseits ihn selbst als permanenten Wundertäter in ein befremdliches Licht rückte, so als suche er seinen eigenen Ruhm. Sehr wahrscheinlich steht doch Jesu Ablehnung von Schauwundern in der Versuchungsgeschichte (Mt 4,5ff ) im Hintergrund.26 Vergleiche auch Mt 8,4.27 Sie aber gingen hinaus und machten ihn in jenem ganzen Land bekannt (διεφήμισαν αὐτόν [diephēmisan auton]): Erwiesen sie sich dadurch als echte Glaubende? Man muss eher das Gegenteil annehmen. Denn das Wort διαφημίζειν [diaphēmizein] hat bei Matthäus und Markus einen negativen Klang („verbreiten“, „herumerzählen“ Mt 28,15; Mk 1,45).28 Sie verstoßen hier klar gegen ein Gebot Jesu. Das ist ja einer der Hauptunterschiede zwischen Mt 9,27ff und Mt 20,29ff parr: Dort, in Mt 20,29ff, werden die geheilten Blinden Nachfolger Jesu, hier aber, in Mt 9,27ff, nicht. In jenem ganVgl. France, 172: „Sternly charged“; Carson, 232f: „warned sternly“. Vgl. Kümmel Einl, 62ff; Kümmel NT, 362ff. Schniewind, 123. Zahn, 387. Schlatter, 150. Auch Bengel Gnomon, 64: „ne pharisaeis daretur occasio“. So Luz II 62; ähnlich Fiedler, 222. Ähnlich Carson, 233. Natürlich lässt sich die Heilung auf die Dauer nicht verbergen (Fiedler, 222, Anm. 91)! Vgl. Maier I, 316; France, 172f. 28 Auch Josephus „braucht das Wort vom falschen Gerücht“ (Schlatter Ev, 321).

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zen Land bedeutet analog V. 26 Galiläa und die angrenzenden Gebiete. Menschlich kann man die geheilten Blinden gut verstehen.29 Aber Jesus wird durch sie gegen seinen Willen als Heilsbringer laut proklamiert (vgl. Jes 42,2 und Mt 12,16ff ) und damit dem Missverständnis ausgeliefert.30 Gläubig zu sein und gehorsam zu sein sind verschiedene Dinge.

IV Zusammenfassung 1. Mt 9,27-31 ist der erste Bericht des Matthäus von einer Blindenheilung. Vorher hat Jesus vom Aussatz, von Lähmung, von Fieber, von Besessenheit, von Blutfluss und vom Tode befreit (Mt 8,1–9,26). 2. Auf dem Hintergrund von Jes 29,18; 35,5; 61,1ff zeigt auch diese Blindenheilung, dass Jesus der wahre Messias und Erlöser ist. Die Anrede mit „Sohn Davids“ (V. 27) ist also berechtigt. 3. Erneut kommt es auf den Glauben an. Und zwar auf den Glauben an ihn, Jesus, und nicht nur auf einen allgemeinen Gottesglauben. 4. Eine Besonderheit von Mt 9,27-31 liegt im sog. „Schweigegebot“ von V. 30. Erstmals taucht es hier bei Matthäus auf. Es wird sogar von den glaubenden Blinden gebrochen. Vermutlich will Jesus verhindern, dass er als Sensation und als Krankenheiler propagiert wird (vgl. Mt 12,16ff ). Seine Aufgabe ist seit der Taufe eine ganz andere, nämlich uns Menschen von Sünde zu erlösen (vgl. Mt 1,21; 4,1ff ). 5. Anzeichen dafür, dass Mt 9,27-31 unhistorisch sei,31 gibt es nicht.

13. Die Heilung eines stummen Besessenen, 9,32-34 I Übersetzung 32 Als sie hinausgingen, siehe, da brachten sie einen Stummen zu ihm, der besessen war. 33 Und nachdem der Dämon ausgetrieben war, redete der Stumme. Und die Menge staunte und sagte: Niemals ist so etwas in Israel vorgekommen! 34 Die Pharisäer aber sagten: Durch den Obersten der Dämonen treibt er die Dämonen aus.

29 Positiv interpretiert bei Schlatter, 150: sie „meinten …, sie täten ihm den größten Dienst“. 30 Vgl. Carson a.a.O. 31 So Bultmann Gesch, 228: „sekundäre schriftstellerische Arbeit des Mt“. Noch seltsamer Luz II 62: „Matthäus scheint aus seinem Papierkorb, in den er nicht gebrauchte Markustexte warf, einen verwendbaren Zettel gezogen zu haben“.

13. Die Heilung eines stummen Besessenen, 9,32-34

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II Struktur Dieser zehnte und letzte Wunderbericht im Block der Kapitel 8 und 9 ist der kürzeste. Die drei wesentlichen Teile: Schilderung der Not (V. 32), Heilung (V. 33a) und Reaktion der Anwesenden (V. 33b) sind in ganze zwei Verse zusammengefasst. Dann folgt allerdings in einem dritten Vers (34) eine Stellungnahme der Pharisäer, die schon in die Zeit der Diskussionen und Auseinandersetzungen (ab Kap. 10) hinüberleitet. Sind Mt 9,32-34 und Mt 12,22-24 Dubletten desselben Ereignisses?1 Das ist schon wegen der Vielzahl der Heilungen Jesu (Mt 4,23f; 8,16; 14,34ff; 15,29ff; Joh 21,25; Apg 2,22; 10,38) kaum anzunehmen. Außerdem ist der Kontext von Mt 12,22-24 ein ganz anderer, und auch in den Details weicht Letzteres von Mt 9,32ff ab.2 Vermutlich hat Matthäus den Bericht der Verse 32-34 deshalb in seine Kollektion der Kapitel 8 und 9 aufgenommen,3 weil die Heilung von Stummen eines der Zeichen der messianischen Zeit darstellt (Jes 35,6).

III Einzelexegese Als sie hinausgingen (V. 32) bezieht sich auf die Geheilten von V. 27ff. Hinausgehen kann meinen: Sie verließen das Haus Jesu (V. 28),4 oder: Sie gingen ins Land hinaus. Man darf den zeitlichen Zusammenhang nicht zu eng machen. Ähnlich wie die Träger von V. 1ff 5 sind es hilfsbereite Menschen, die einen Stummen zu Jesus brachten (ἄνθρωπον κωφόν [anthrōpon kōphon]). Mit Recht schreibt Bengel: „hominem, qui vix poterat sua sponte venire“.6 Das griech. κωφός [kōphos] kann heißen: „stumm“, „taub“ oder „taubstumm“.7 Aus dem reden von V. 33 schließt man, dass es sich in Mt 9,32 um einen Stummen handelt.8 Ganz sicher ist das nicht. Es könnte auch ein Taubstummer sein.9 Jedenfalls war er besessen (δαιμονιζόμενος [daimonizomenos]), das heißt, sein Gebrechen war die Folge der dämonischen Besessenheit.

1 Bultmann Gesch, 226, hält Mt 9,32f nur für eine „Variante“ von Mt 12,22ff; ebenso Luz II 63; Fiedler, 223; Hengel Evglien, 297 („Dublette“); Sand, 204; Beare, 236. 2 Ebenso Carson, 234. 3 Die Verse sind Sondergut des Matthäus. 4 So Zahn, 387. 5 Vgl. Maier I, 317. 6 Bengel Gnomon, 64. 7 Bauer-Aland, 938; Strack-Billerbeck I 526. 8 Klostermann, 84; Luz II 62f; France, 173; Zahn, 387. 9 So jedenfalls Schniewind, 124; Fiedler, 222f; auch Carson, 234, erwägt diese Möglichkeit.

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Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1–9,38

Die Heilung selbst wird nur in einem Nebensatz berichtet: Und nachdem der Dämon ausgetrieben war … (V. 33). Kürzer kann man nicht berichten. Für Matthäus genügt es, dass Jesus die Macht dazu hatte. Das „Wie“ und alle weiteren Details lässt er weg. Nur drei griechische Worte reichen, um das Resultat zu beschreiben: redete der Stumme. Es war also wirklich der Dämon, der ihm die Sprachkraft raubte, und Jesu Heilungshandeln bewirkte beides: die Dämonenaustreibung und die Heilung von der Stummheit. Strack-Billerbeck machen darauf aufmerksam, dass von Rabbi um ca. 110 n.Chr. etwas Ähnliches erzählt wird.10 Es heißt in b Chagiga 3a, Rabbi habe für zwei Stumme aus der Nachbarschaft „um Erbarmen“ gefleht, worauf „sie geheilt wurden“. Es ist aber typisch, dass Rabbi als Gesetzeslehrer die Heilung im Gebet erflehte und dann die Stummen aufgrund seiner Fürbitte geheilt wurden, während Jesus die Heilung nicht nur erbittet, sondern in Vollmacht selbst vollzieht. Gerade deshalb staunte die Menge (οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]) und sagte: Niemals (οὐδέποτε [oudepote]) ist so etwas (οὕτως) in Israel vorgekommen! (V. 33).11 Ähnlichen Aussagen begegnen wir in Mt 8,27; 15,31; 21,20; Mk 2,12; 7,37; Lk 7,16; Joh 7,31. Der Ausspruch der anwesenden Menge beweist, dass Jesus nicht wie einer der Fürbitte übenden Rabbinen, sondern als ein einzigartig anderer betrachtet wurde.12 Die Pharisäer aber sagten: Durch13 den Obersten der Dämonen treibt er die Dämonen aus (V. 34): Erstmals notiert Matthäus eine solche „gespaltene Reaktion“14 bei einem Heilungswunder. Denn in 9,3ff konnte Jesus noch die Bedenken der Schriftgelehrten stillen, jedenfalls berichtet Matthäus dort nichts, was mit 9,34 vergleichbar wäre. Aber gehört Mt 9,34 überhaupt zum ursprünglichen Evangelium? Verschiedene Handschriften – D, Itala-Handschriften, Sinai-Syrer – enthalten unsern Vers nicht. Ist das der ursprüngliche Zustand und V. 34 demnach mit Klostermann und Bultmann „zu streichen“?15 Eine solche Streichung wäre falsch, denn erstens ist die Auslassung des Verses zu schwach bezeugt,16 zweitens bereitet der Vers gut auf die Auseinandersetzungen und Diskussionen ab

10 Strack-Billerbeck I 526. 11 Man sollte den Bezug auf Mt 9,32f festhalten und nicht wie Klostermann a.a.O. auf 8,18– 9,33 erweitern; gegen Zahn, 388; Fiedler, 223. 12 Vgl. France, 173; Cullmann, 328. 13 Zur Grammatik vgl. BDR § 219,1. 14 Luz II 63, Theißen-Merz, 514. 15 Klostermann, 84; Bultmann Gesch, 226; Zahn, 388. 16 Luz II 62,2.

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Kap. 10 vor,17 drittens gibt er einen guten Einblick in die Entwicklung der Jesusgeschichte, die zunehmend von Kritik begleitet wird.18 Nach Matthäus sind in V. 34 die Pharisäer die Träger des Widerstands. Die Schärfe ihrer Gegenargumentation überrascht. Denn in Mt 9,11 sind sie nur als Fragesteller an die Jünger herangetreten. Was sie jetzt sagten (ἔλεγον [elegon]), hat zwei Teile: 1) Unleugbar treibt (ἐκβάλλει [ekballei] – Präsens!) Jesus die Dämonen aus. Das entspricht genau dem späteren Zeugnis des Talmud in b Schab 104b, wonach Jesus „Zauberkünste“ beherrschte. Nur die Theologie der Aufklärung war so töricht, die Wunder Jesu mindestens teilweise zu leugnen. Johann Albrecht Bengel hat in seinem Gnomon den Tatbestand exakt erfasst: „Magnitudinem miraculorum negare non poterant“.19 2) Sie unterstellen Jesus, dämonisch inspiriert zu sein: Durch den Obersten der Dämonen (ἐν τῷ ἄρχοντι τῶν δαιμονίων [en tō archonti tōn daimoniōn]) treibt er die Dämonen aus. Damit treffen sie die innerste Wurzel Jesu. Statt im Heiligen Geist (Mt 3,16) soll er in dämonischem Geist handeln, statt als Gottes Sohn (Mt 3,17) als ein Geschöpf des Teufels. Rabbinisch ist der Oberste oder „Herrscher der Dämonen“ der „Fürst der Geister“, der „Herr der Geister“,20 in Qumran ist es „Belial“. Die Pharisäer setzen dabei voraus, dass der Teufel scheinheilig gegen seine eigenen Agenten vorgeht, um dahinter umso schlimmer seine dämonische Macht aufzubauen. Jesus hat in Mt 12,25f dieses Argument der Pharisäer widerlegt: „Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet … Wenn der Satan den Satan austreibt … wie kann dann sein Reich bestehen?“ Von da an geht der Vorwurf gegen Jesus, einen Dämon zu haben, durch die ganze Jesusgeschichte (Mt 9,34; 10,25; 12,24; Lk 11,14ff; Joh 7,20; 8,48; 10,20).21 Mit Fiedler22 nehmen wir dabei an, dass das Imperfekt ἔλεγον [elegon] (sagten) auf mehrfach wiederholte Vorwürfe hindeutet. Bei der Beurteilung des Verhaltens der Pharisäer muss der Ausleger zwischen Szylla und Charybdis hindurchgehen. Die Pharisäer sind zunächst einmal typische Repräsentanten der pharisäischen Richtung jener Region, aber beileibe nicht alle Pharisäer Galiläas (vgl. Jaïrus V. 18ff ). Man darf ihr Verhalten weder als zynisch23 betrachten noch einfach auf ein literarisches Kunst17 Luz a.a.O. hält ihn für „unentbehrlich“, was aber doch übertrieben ist. 18 France, 174; schon Schniewind, 124, Carson, 234; Tasker, 102; auch Fiedler, 223; Sand, 204f. 19 Bengel Gnomon, 64. 20 Strack-Billerbeck I 526f. 21 Im Talmud vgl. wieder b Schab 104b sowie b Sanh 43a; Riesner, 258; Hengel-Schwemer, 331. 22 Fiedler, 223; auch Carson, 234. 23 Carson a.a.O.: „cynical“.

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produkt des Matthäus zurückführen, der hier seinen „Konflikt … mit den pharisäischen Schriftgelehrten“ austrage.24 Eine konkrete Sünde konnten sie dem sündlosen Jesus nicht vorwerfen (vgl. Mt 22,16; Joh 8,46). Gegen seine Wunder der Barmherzigkeit konnten sie nichts einwenden. So griffen sie das innerste Gottesverhältnis Jesu an, seinen Glauben und seine Einheit mit Gott, über die sie doch nichts wussten. Man kann dies Diffamierung nennen, ja sogar „Verleumdung“.25 Jesus warnte sie daraufhin in Mt 12,31 aufs Dringlichste. Der heutige wie der damalige Leser aber steht vor der Wahl: Entweder ist Jesus der von Gott gesandte Heilsbringer oder ein vom Bösen inspirierter Betrüger.

IV Zusammenfassung 1. Mt 9,32-34 ist der letzte Wunderbericht von den insgesamt zehn Wunderberichten der Kapitel 8 und 9. Er stammt aus dem sog. Sondergut des Matthäus und ist keine Dublette o.Ä. zu Mt 12,22ff, sondern hat ein Ereignis eigener Art zum Gegenstand. 2. Er vervollständigt die messianischen Zeichen im Sinne von Jes 35,6. An der Historizität des Geschehens zu zweifeln, gibt es keinen Anlass. 3. Die Besonderheit von Mt 9,32-34 liegt in der gespalteten Reaktion. Während die Anwesenden staunen: „Niemals ist so etwas in Israel vorgekommen!“, führen pharisäische Gelehrte die unleugbaren Wunder Jesu auf dämonische Kräfte zurück. Widerstand und Kritik aus pharisäischen Kreisen, die sich schon in Mt 9,3.11.14ff meldeten, nehmen zu und lassen bereits die Passion ahnen. 4. Äußerlich betrachtet, steht Jesus am Ende des „galiläischen Frühlings“ auf dem Höhepunkt seines Ansehens.

14. Abschlussnotiz zu den Kapiteln 5–9; 9,35-38 I Übersetzung 35 Und Jesus wanderte umher in allen Städten und Dörfern, lehrte in ihren Synagogen und verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jede Schwachheit. 36 Als er aber die Massen sah, 24 Fiedler a.a.O. 25 Hengel-Schwemer, 331; zu hart wohl Schniewind, 124, und Schlatter, 150: „der tödliche Haß“. Vgl. dagegen Maier I, 318f. Sand, 205: „Verleumdung“ und „Rufmord“; Luz II 65 („Verleumdung“).

14. Abschlussnotiz zu den Kapiteln 5–9; 9,35-38

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packte ihn das Erbarmen mit ihnen, denn sie waren gequält und lagen darnieder wie Schafe, die keinen Hirten haben. 37 Da sagt er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige. 38 Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.

II Struktur Die Zuordnung von Mt 9,35-38 kann man verschieden vornehmen: Diese Verse können entweder Jesu Mission in Israel (bis 11,1) einleiten1 oder als Abschlussnotiz zu den Kapiteln 5–9 aufgefasst werden. Die letztere Zuordnung wird hier versucht. Aber der Umstand, dass beide Möglichkeiten sinnvoll sind, zeigt, dass unsere Verse tatsächlich Übergangscharakter haben. Ihr Inhalt ist ein doppelter:2 Vers 35 stellt ein Summarium dar, das Jesu Tätigkeit in jener Zeit zusammenfasst, V. 36-38 bringen eine grundlegende Erfahrung jener Zeit zum Ausdruck und zeigen, wie Jesus darauf reagiert hat.3 Es fällt auf, dass Matthäus diesmal in der Länge und der Geschlossenheit des Abschnitts die Seitenreferenten Markus und Lukas übertrifft. Der Abschnitt muss ihm also sehr wichtig gewesen sein. Außerdem finden sich 20 von 28 Wörtern des 35. Verses schon in Mt 4,23, das heißt über 70 Prozent. Dadurch schafft Matthäus die bekannte inclusio für Kap. 5–9 in Gestalt von 4,23 und 9,35. Hier liegt es zweifelsfrei zutage, dass Matthäus sein „Buch“ bewusst komponiert hat. Im Übrigen unterscheidet sich Mt 9,35-38 in Thematik und Stil deutlich von den vorausgehenden und nachfolgenden Teilen des Evangeliums. Es bildet also auf jeden Fall einen eigenständigen Abschnitt.

III Einzelexegese Im Verhältnis zum voraufgehenden Vers 34 fällt zunächst auf, dass Jesus sich nicht mit langen Diskussionen aufhält, ob nun die Gegner recht haben oder nicht. Offenbar war ihm dafür die Zeit zu schade – ein Wink mit dem Zaunpfahl für unsere moderne Generation. Er wanderte umher (V. 35): Das Imperfekt ist durativ und zeigt eine länger dauernde Tätigkeit an. Es ist Jesus selbst, der hier die Initiative entfaltet und alle Städte und Dörfer besucht, vorwiegend wohl in Galiläa (vgl. 4,23). 1 So mein Kommentar Maier I, 321. Theißen-Merz, 46, subsummieren Mt 9,35ff unter die „Aussendungsrede“ 9,35–10,42; ebenso Bultmann Gesch, 359; France, 174; Schlatter, 150; Schniewind, 124; Zahn, 388ff; Tasker, 102. 2 Ulrich Luz teilt deshalb auf: 9,35 als „Abschließendes Gesamtbild“ (II, 64), 9,36ff als Teil der „Jüngerrede“ 9,36–11,1 (II, 74). 3 Vgl. France, 174.

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Jedoch lässt Matthäus diesmal die Worte „in ganz Galiläa“ und „im Volk“ (4,23) weg und deutet damit an, dass sich der Wirkungskreis Jesu vergrößert hat: Er schließt jedenfalls die Dekapolis und Gebiete des Herodes Philippus ein (Mt 8,23ff.28ff ). Seine Tätigkeit wird wie in 4,23 durch drei Partizipien beschrieben: er lehrte (διδάσκων [didaskōn]), er verkündigte (κηρύσσων [kēryssōn]), er heilte (θεραπεύων [therapeuōn]). Zur Erklärung vgl. oben bei 4,23. Nur ein Detail sei hier noch aufgegriffen. Wenn Jesus in ihren Synagogen lehren konnte, dann muss ihm der Zugang zur Mehrheit der pharisäisch beherrschten Synagogen noch immer offen gestanden haben. Das bedeutet vermutlich auch, dass nach wie vor viele Pharisäer für ihn offen waren, ja sogar für ihn Partei nahmen. Vergleiche Mk 1,39; 6,6; Lk 4,15.44; 8,1. Jesus reagiert auf die damalige Situation nicht mit gesteigerter Aktivität, sondern ganz anders: Als er aber die Massen (τοὺς ὄχλους [tous ochlous]) sah, packte ihn das Erbarmen mit ihnen (ἐσπλαγχνίσθη περὶ αὐτῶν [esplanchnisthē peri autōn]), denn sie waren gequält und lagen darnieder wie Schafe, die keinen Hirten haben (V. 36). Vor allem in protestantischen Kommentaren liest man von der „unablässigen Tätigkeit Jesu in Predigt und Heilung“4 und über „Das rastlose Wandern und Wirken Jesu“.5 Aber stammt dieses Bild nicht aus dem typisch protestantischen Berufsethos (Max Weber: „Idealtypus“) mit seinem Ideal des ständigen Wirkens und Schaffens? – Ein Bild, das schließlich zu Otto Dibelius’ berühmten Satz führte: „Ein Christ ist immer im Dienst.“ Damit wird aber der Nerv der Dinge bei Jesus verfehlt. Jesus war nicht nur der Meister der Predigt und der Herr ohne Grenzen. Er war auch ein Meister der Stille und des Hörens im Gebet. Nicht die Aktivität faszinierte Matthäus bei Jesus, sondern sein Erbarmen. Die Massen (οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]) oder „Volksmengen“6 werden hier nicht negativ betrachtet. Im Gegenteil: Sie stellen jenen Teil des Volkes dar, der Jesus suchte. Der Zulauf ist also nach wie vor riesig. Da packte ihn das Erbarmen mit ihnen: Sein Grundmotiv auf der Höhe des äußeren Erfolgs ist nicht Stolz und Triumph, viel weniger noch ein revolutionärer Impuls, sondern ein wahrhaft göttliches Erbarmen. Zum Erbarmen als wesentliches Grundmotiv Gottes vgl. Ex 34,6; Num 14,18; Ps 103,8; Jona 4,2. Gott der Vater und Gott der Sohn entsprechen sich hier vollständig. Rudolf Meyer bezeichnete dieses Erbarmen als „Mitleid“.7 Das greift zu kurz. Besser Helmut 4 5 6 7

Schniewind, 125. Zahn, 389. Auch France, 175: „ceaseless activity“. Vgl. R. Meyer / P. Katz, Art. ὄχλος, ThWNT, V, 1954, 582ff. Meyer a.a.O., 586. Auch Fiedler, 224.

14. Abschlussnotiz zu den Kapiteln 5–9; 9,35-38

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Köster,8 der hier „eine messianische Charakterisierung Jesu“ vorliegen sieht. Das göttliche Erbarmen Jesu ist darin begründet, dass er die Massen auf dem Weg ins ewige Verderben sieht. σπλαγχνίζομαι [splanchnizomai] als relativ spätes Verbum9 drückt die „von Herzen kommende Barmherzigkeit“ als „leitende innere Einstellung“ aus.10 Die Ursprungsbedeutung des Wortstammes liegt nahe an unserem deutschen „Mir dreht sich alles rum“. Der Vergleich mit Schafen, die keinen Hirten haben, legte sich von der biblischen Überlieferung her nahe. Schlatter meinte sogar: „Jesus hat an Moses Gebet 4. Mose 27,17 gedacht.“11 Zur biblischen Tradition vgl. 2Sam 24,17; 1Kön 22,17; Ez 34,2ff; Ps 23,1; 100,3; Jes 53,6; Jer 23,1ff.12 Zur rabbinischen Tradition vgl. Preisker und Schulz.13 Beispiele für den zur Zeit Jesu üblichen Sprachgebrauch sind ä Hen 89-90 und Ps Sal 17,40. Das Bild von den Schafen als Bezeichnung Israels in Mt 9,36 bereitete also keinerlei Verständnis-Schwierigkeiten. Gequält oder „abgemattet“/„geplagt“14 und darniederliegend15 sind die Israeliten, weil sie keinen Hirten haben. Zwar erinnert der Wortlaut von Mt 9,36 an Num 27,17; 2Chron 18,16 LXX, aber es geht hier nicht um einen „Führer“ oder „König“. Vielmehr geht es um einen geistlichen Hirten, genauer: um den Messias = Hirten (Ez 34,5ff; Mi 5,3). Die Massen brauchen einen Hirten, der ihnen den Weg zum Reich Gottes und zum ewigen Leben zeigt (vgl. Joh 14,6). Das konnten die damaligen Führer nach Jesu Urteil nicht (Mt 23,13ff ).16 Was würde Jesus in der Welt der heutigen Kirchen dazu sagen? Vgl. Mt 15,32; 20,34; Mk 1,41; 6,34; 8,2; 9,22; Lk 7,13. In V. 37 und 38 wendet sich Jesus an seine Jünger: Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige. Darum (οὖν [oun]) bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. Wieder verhält sich Jesus anders, als so mancher es erwarten würde. Er sagt nicht: Helft mir beim Verkündigen, Lehren und Heilen. Er sagt auch nicht: Ihr seid die Arbeiter – macht euch an die Ernte!, und auch nicht: SamIm Art. σπλάγχνον usw., ThWNT, VII, 1964, 554. Vgl. Köster a.a.O., 550ff. Köster a.a.O., 549.551. Schlatter, 151. Weitere Stellen bei H. Preisker / S. Schulz, Art. πρόβατον usw., ThWNT, VI, 1959, 689f. Preisker und Schulz a.a.O., 690. Bauer-Aland, 1514. Bauer-Aland, 1474. Gundry, 181, nennt die Tiere „attacked and scottered by wild beasts“, aber Bauer-Aland, 1474, finden hier keinen „Begriff des Gewaltsamen“. 16 Vgl. Preisker/Schulz a.a.O.; 691. Ganz zeitvergessen deutet Fiedler, 224, die Ermattung auf die Ereignisse vor und nach 66–70 n.Chr.

8 9 10 11 12 13 14 15

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Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1–9,38

melt mir die Massen zu einem neuen Exodus! Messiasprätendenten wie Theudas (Apg 5,36), Judas der Galiläer (Apg 5,37) oder der Ägypter (Apg 21,38) handelten da ganz anders (vgl. Joh 10,1ff ).17 Das Erste, was in Mt 9,37f beeindruckt, ist die positive Sicht bei Jesus: Die Ernte ist groß (ὁ θερισμὸς πολύς [ho therismos polys]). Was für eine herrliche Zeit, die er erlebt (Joh 4,35)! Demgegenüber wirkt die heutige Christenheit skeptisch, mutlos und depressiv. Die Entwicklung der Christenheit in der Apostelgeschichte, im Römischen Reich und im Nahen Osten gab Jesus recht. Die zweite Feststellung in V. 37 ist nüchtern: der Arbeiter sind wenige. Friedrich Hauck verstand die Ernte in seinem Artikel im ThWNT „als Bild des Gerichtes, das Gott am Ende … hält“.18 Für Mt 9,37 ergäbe sich daraus, dass hier die eschatologische „Entscheidungsstunde als unmittelbar bevorstehend erwartet“ werde.19 Es ist jedoch sehr fraglich, ob diese Deutung für Mt 9,37 zutrifft.20 Der Vergleich mit den Saatgleichnissen (Mt 13,1ff ), mit Joh 4,35 und sogar Offb 14,15 lehrt etwas anderes: Es geht Jesus um die Sammlung des endzeitlichen Gottesvolkes und nicht um das Gericht über dieses Gottesvolk oder über die Menschheit.21 Für diese Sammlung werden Arbeiter gesucht. Das Ganze hat also eine deutliche missionarische Dimension.22 Man darf bei der Ernte den Gedanken der Reifung keinesfalls vernachlässigen. Wenn Jesus nun von den nötigen Arbeitern spricht, dann meint er Landarbeiter23 (Jak 5,4) und Weinbergarbeiter (Mt 20,1ff ), also Menschen, die Hitze und Last aushalten, die nicht bei jedem Anlass alles hinwerfen, die ihrem Herrn die Treue halten, ihn sogar lieben, die nicht jeden Augenblick mit einem Wechsel liebäugeln, die gehorchen, statt herumzukommandieren.24 Solche sieht Jesus wenige. Vergleiche Mt 7,14; 20,16. Der Anklang an Ps 12,2 ist unüberhörbar: „gläubig sind wenige unter den Menschenkindern“. Vers 38 bedeutet noch einmal eine Überraschung: Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. Jesus sagt also nicht: „Stellt euch als Arbeiter zur Verfügung!“, „Lasst euch senden!“, oder gar „Geht hin zu ernten!“. Nein, er ruft die Jünger auf zum Gebet. Er lässt es 17 18 19 20 21

Gaechter, 309. Im Art. θερίζω usw., ThWNT, III, 1938, 133. Hauck a.a.O. Vgl. Maier I, 323f. Auch Jeremias Gleichnisse, 77, sieht „die Verkündigung mit dem Einbringen der Ernte verglichen“; Klostermann, 85: „Einbringen der … reifen Volksmassen“; Theißen-Merz, 244; Zahn, 390; France, 175; Fiedler, 224; Schlatter, 152; Carson, 235. 22 Riesner, 428; Bultmann Gesch, 103. 23 Klostermann, 85. Vgl. Bösen, 199. 24 Vgl. Maier a.a.O.

14. Abschlussnotiz zu den Kapiteln 5–9; 9,35-38

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offen, ob ihnen dann unter dem Gebet klar wird, dass sie selbst „arbeiten“ müssen. Hier tritt der Jesus des Gebets vor unsere Augen, der alle Evangelisten so tief beeindruckt hat (vgl. Mt 9,38; 27,46; Lk 10,2; 23,34.46; Mk 9,26; 14,32ff; Joh 6,15; 17,1ff ). Für bitten steht das typische Wort (δέομαι [deomai]), das ein Gebet um Behebung eines Mangels bezeichnet.25 Herr der Ernte kann hier nur Gott im Himmel sein.26 Im semitisch gedachten27 Begriff des Herrn kommt sowohl das Besitzersein als auch das Verfügungsrecht zum Ausdruck.28 Wann und wie die Ernte gesammelt wird, wann und wie Mission erfolgreich arbeitet, liegt also allein bei Gott dem Herrn. Dieselbe Erkenntnis ergibt sich aus dem auffallenden griech. Wort für senden, ἐκβάλλειν [ekballein]. Denn ἐκβάλλειν [ekballein] heißt eigentlich „hinaustreiben“, hat hier aber keine „Nuance des Gewaltsamen“.29 Unverkennbar geht es jedoch um ein sehr gebieterisches senden. Jedenfalls ist es seine [= Gottes] Ernte. Klostermann nennt es eine „Unstimmigkeit“, dass Jesus in V. 38 zum Gebet auffordere, aber in 10,1 „selbst zur Aussendung“ schreite.30 Sein Urteil wäre aber nur dann berechtigt, wenn Jesus in 10,1 eigenmächtig und ohne die Vollmacht des Vaters handeln würde. Das ist jedoch nicht der Fall, wie wir sehen werden. Zur Diskussion steht ferner das Verhältnis von Mt 9,37f zu einem ähnlichen Ausspruch des Rabbi Tarphon um 100 n.Chr. (P. Abot II, 20, nach anderer Zählung II, 15). David Flusser geht so weit, dass er Jesus von einem rabbinischen Spruch abhängig sein lässt, der schon vor R. Tarphon existierte. Beide, Jesus und Tarphon, hätten dann denselben rabbinischen Spruch benutzt.31 Aber ein genauerer Blick zeigt, dass Jesus und Tarphon zwar gemeinsames Bildmaterial verwenden und insofern eine formale Ähnlichkeit aufweisen, aber inhaltlich doch weit auseinanderliegen. Tarphon sagte: „Kurz der Tag, viel der Arbeit, träge die Arbeiter, hoch der Lohn, und der Arbeitgeber drängt.“ In Mt 9,37f ist weder von einem „kurzen Tag“ noch von „trägen Arbeitern“ noch vom “Lohn“ noch von einem „drängenden Arbeitgeber“ die Rede. In Pirqe Abot II,20(15)f geht es um das Torastudium, in Mt 9,37f um die Mission. Das entscheidende Wort von der „Ernte“ fehlt bei R. Tarphon gänz25 Vgl. H. Greeven, Art. δέομαι usw., ThWNT, II, 1935, 39ff. Zur Grammatik vgl. BDR § 180,5; 369,9. 26 Anders Gundry, 180: Jesus selbst ist der Herr der Ernte. 27 Flusser, 141: „exakt aus dem Hebräischen übersetzt“. 28 Bauer-Aland, 932. 29 Klostermann, 85; Bauer-Aland, 478. 30 Klostermann a.a.O. 31 Flusser, 56.75.141ff.169.208.231.273.

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Jesu Wundertaten in der Frühzeit, 8,1–9,38

lich, genauso wie der messianische Kontext fehlt. Wie Klostermann und Strack-Billerbeck kann man also lediglich die formale Ähnlichkeit konstatieren.32

IV Zusammenfassung 1. Die Abschlussnotiz zu den Kapiteln 5–9 in Mt 9,35-38 zeigt noch einmal Jesus am Ende der Frühzeit seines Wirkens. Dies geschieht in dreifacher Dimension: 2. Jesus sucht als Lehrender, als Verkündiger des Reiches Gottes und als Heilender alle ihm zugänglichen Ortschaften des nördlichen Israellandes auf. Dabei hat er offene Türen und offenbar auch von pharisäischer Seite viel Anerkennung. 3. Als sein Grundmotiv wird das göttliche Erbarmen über die Gottesferne der Massen enthüllt. Als der göttliche messianische Hirte will er sie zu Gott und in Gottes Reich führen. 4. Jesus als Beter führt auch seine Jünger zuerst ins Gebet. Das Gebet ist offenbar die vordringlichste Aufgabe seiner Jünger. 5. Es gibt keinen Grund, mit Bultmann anzunehmen, dass Matthäus die „Situationsangaben“ von Mt 9,35ff künstlich geschaffen habe.33 Vielmehr war die geschichtliche Situation so, wie sie Matthäus beschreibt.34 6. Von da aus muss man am neuerdings beliebten35 Bild vom „Wandercharismatiker“ Jesus einige Korrekturen anbringen. Der Begriff des „Wanderpredigers“ mit seiner Nähe zu den Wanderphilosophen und den Wanderpredigern der Didache (11,3ff ) suggeriert, dass es in erster Linie um die Verbreitung einer Lehre ging. Aber Jesu Ziel war ein anderes: die Menschen aus der Verlorenheit in das ewige Reich Gottes zu holen. Der Begriff „Charismatiker“ stellt ihn vollends auf die immanente Ebene der vielen Charismatiker von damals und heute. Ganz anders ist zum Beispiel das „Jesusbild“, das Paul Gaechter zeichnet:36 Jesus werde dargestellt „als befehlender Herr“, das Bild reiche „bis in die Gottheit hinein“. Für Gaechter ist „Sohn Gottes“ „tatsächlich der Schlüssel zu dem bisher Gesagten“.37 Ohne Zweifel steht diese Interpretation nahe bei dem, was uns Matthäus in 9,35-38 sagen will.

32 33 34 35 36 37

Klostermann a.a.O., Strack-Billerbeck I 527. Gegen Bultmann Gesch, 355. Vgl. die interessanten Ausführungen bei Luz II 64ff sowie Hengel-Schwemer, 350. Vgl. Theißen-Merz, 493ff; Hengel-Schwemer, 329ff; Riesner, 353. Gaechter, 307. Gaechter a.a.O.

14. Abschlussnotiz zu den Kapiteln 5–9; 9,35-38

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7. Korrigiert werden muss aber auch das Bild von dem rastlos tätigen Jesus.38 Nach Mt 9,35-38 handelt Jesus gerade nicht wie ein Reformator, der weiß, dass er wenig Zeit hat. Der Jesus des Gebets, der auf den Vater im Himmel schaut, verkörpert eine erstaunliche Ruhe und Kontinuität. Aber auch eine Entschlusskraft, im richtigen Augenblick richtig zu handeln39 (Mt 10,1ff ).

38 Vgl. die oben schon erwähnten Zitate aus Schniewind, 125; Zahn, 389; France, 175. 39 Vgl. France, 174.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

II. Jesu Ringen um Israel, 10,1–16,20

Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

1. Die Berufung der Zwölf, 10,1-4 I Übersetzung 1 Und er rief seine zwölf Jünger herbei und gab ihnen Vollmacht über unreine Geister, um sie auszutreiben, und jede Krankheit und jede Schwachheit zu heilen. 2 Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: als Erster Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, sein Bruder, und Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder, 3 Philippus und Bartholomäus, Thomas und Matthäus, der Zöllner, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus, 4 Simon, der Kananäer, und Judas, der Ischariot, der ihn dann verriet.

II Struktur Der kleine Abschnitt Mt 10,1-4 hat eine ganz eigenartige Struktur. Im Gang der Erzählung trägt zunächst V. 1 den Hauptakzent und enthält den Hauptinhalt des Fortgangs der Jesusgeschichte. Rein formal betrachtet sind die Verse 2-4 nur eine Art Epexegese zu V. 1: „Die Namen aber … sind diese“. Aber gerade diese Verse wecken unser Interesse durch die Bezeichnung „Apostel“ und die konkreten Namen der die Kirche mitbegründenden Zwölf. Die Anbindung von Mt 10,1-4 an die voraufgehenden Verse (9,35ff ) ist eng. So eng, dass der Name „Jesus“ im Unterschied zu 9,35ff gar nicht auftaucht und beim Lesen zwischen 9,38 und 10,1 keine Pause gemacht zu werden braucht. Dennoch ist der Wechsel zwischen 9,38 und 10,1 in Stil und Inhalt unübersehbar. Mt 9,35-38 schildert Jesus aus der späteren Perspektive des Matthäus. Mt 10,1-4 folgt gewissermaßen der Filmkamera der Geschichte, die den nächsten Schritt beleuchtet. Wir ziehen also im Unterschied zu Klostermann und anderen1 nicht 9,35–11,1 in ein großes Ganzes zusammen, sondern lassen mit 10,1-4 einen neuen Großabschnitt des Matthäusevangeliums beginnen, nämlich 10,1–16,20, das Ringen Jesu um Israel. 1 Auch meinem früheren Kommentar. Klostermann, 84.

1. Die Berufung der Zwölf, 10,1-4

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Sowohl der Neueinsatz von Mt 10,5 Τούτους τοὺς δώδεκα … [Toutous tous dōdeka …] als auch der schwergewichtige Inhalt der Missionsinstruktion in Mt 10,5-15 lassen es empfehlenswert erscheinen, auch in der Auslegung mit 10,5 einen gegenüber 10,1-4 selbstständigen Abschnitt zu eröffnen.

III Einzelexegese Und er rief seine zwölf Jünger herbei (V. 1): Matthäus sagt nicht, wann das war. Zwischen dem Gebetsaufruf in Mt 9,38 und dem Geschehen von Mt 10,1 scheint eher eine Pause zu liegen. Jedenfalls aber müssen wir annehmen, dass auch Jesus selbst betete und im Gebet Gewissheit erhielt, bevor er die Zwölf herbeirief 2 (Lk 6,12). Der Ausdruck seine zwölf Jünger überrascht. Denn bisher war im Matthäusevangelium von den Zwölf nicht die Rede. Matthäus muss bei den Lesern voraussetzen, dass sie im Großen und Ganzen schon wissen, was es mit den Zwölf auf sich hat.3 Offenbar handelt es sich um einen engeren Kreis der Jüngerschaft, wozu V. 2 nähere Informationen liefert. Das Herbeirufen hat den Zweck, einen besonderen Auftrag zu erteilen. Nach Lk 6,13 scheint es so, dass Jesus die Zwölf aus einer größeren Jüngergruppe auswählte.4 Vergleiche Mt 8,23ff parr. Jesus erteilt ihnen eine doppelte Vollmacht: 1) über unreine Geister,5 um sie auszutreiben, 2) jede Krankheit und jede Schwachheit zu heilen. Auch hier muss man genau zuhören: Jesus bittet hier nicht etwa Gott, den Vater, seinen Jüngern eine solche Vollmacht zu geben, sondern hat selbst nach seinem Gebet die Gewissheit, dass er als der Sohn diese Vollmacht (ἐξουσία [exousia]) erteilen darf. Nach dem Wortlaut ist sie in Kap. 10 auf die Zwölf beschränkt. Offensichtlich kann nicht jeder Jünger zu jeder Zeit jede Vollmacht in Anspruch nehmen. Inhaltlich hat Jesus selbst alle diese Tätigkeiten – böse Geister austreiben, Krankheit und Schwachheit heilen – schon seit Mt 4,23ff vollzogen. Das ist in Mt 4,23; 9,33.35 nachzulesen. Vergleiche die Einzelerklärung dort. Wenn jetzt diese Tätigkeiten auch den Zwölf aufgetragen werden, macht sie Jesus dadurch zu seinen engsten Mitarbeitern. Während also die Einzelberufungen vorausgehen (Mt 4,18ff; 9,9ff ), geschieht die Berufung der Zwölf als Kollegium mit speziellem Auftrag erst jetzt (vgl. Mk 3,13ff; 6,7ff; Lk 6,12ff; 9,1ff ). 2 Maier I, 327. 3 Klostermann, 85; Zahn, 391. Setzt auch Matthäus die Zwölf schon für eine frühere Phase voraus? Vgl. Maier I, 326; Luz II 83; France, 176; Zahn, 391; Carson, 236. 4 Zahn, 390. 5 Mit Carson, 236, lassen wir den im Griechischen fehlenden Artikel weg.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

Der Anfang von V. 2 ist ungewöhnlich: Die Namen aber der zwölf Apostel (Τῶν δὲ δώδεκα ἀποστόλων [Tōn de dōdeka apostolōn]) sind diese … Hier treffen wir auf drei bedeutsame Aussagen. Zuerst spricht Matthäus von Namen. Offenbar soll seine Gemeinde die Namen der zwölf Apostel kennen und stets gegenwärtig haben. Das kann man nur so verstehen, dass diese Namen/Apostel für die ganze Kirchengeschichte grundlegende Bedeutung haben (vgl. Eph 2,20; Offb 21,14). Sodann ist hier die Zahl Zwölf erneut betont (vgl. V. 1). Sie steht in engem Zusammenhang mit der Zwölf-Zahl der Stämme Israels und bedeutet, dass durch den Neuen Bund die Stämme Israels wiederhergestellt werden (vgl. Jes 49,17ff; 60,4; Sir 48,10; Mt 19,28; Jak 1,1). Zwar wehrt sich Karl Heinrich Rengstorf dagegen, dass die Zwölf als die Repräsentanten der zwölf Stämme Israels betrachtet werden,6 entnimmt der Zahl Zwölf andererseits aber doch die Perspektive „auf die Endgestalt der messianischen Gemeinde“.7 Darin eingeschlossen ist der Anspruch Jesu, dass seine Sendung dem ganzen Volk Israel gilt. Wir fügen hier hinzu, dass auch die Stämme des Nordreichs nicht gänzlich aus der Geschichte verschwunden sind: 1) ließ die Deportation der Nordstämme durch die Assyrer doch einige Israeliten im ehemaligen Nordreich übrig (2Chron 30,1ff ), 2) gibt es auch nach dem Untergang des Nordreichs 721 v.Chr. Angehörige der verschiedenen Stämme: Ephraim, Manasse, Asser, Sebulon (2Chron 30,10f; Lk 2,36), Naftali (Tob 1,19), 3) reklamieren die Juden in Armenien, Georgien, Mesopotamien, Persien und Indien, dass sie Reste jener Nordstämme darstellen. Drittens fällt am Anfang des 2. Verses die Bezeichnung Apostel auf. Das ist das erste und einzige Mal, dass Matthäus diese Bezeichnung verwendet.8 Aber Mt 10,1f hat einen prominenten Platz im Evangelium. Apostel, griech. ἀπόσ9 τολος [apostolos], hebr. ‫שִׁליַח‬ ָ [schālīach], ist im jüdisch-rabbinischen Sprachraum der Beauftragte und Repräsentant seines Auftraggebers „und vertritt in seiner Person dessen Person und Recht“.10 In M. Ber V,5 steht der berühmte Satz: „Der Beauftragte des Menschen gleicht diesem selbst.“ Den Hintergrund bildet das semitische Botenrecht.11 Apostel wird also sachgemäß durch „Gesandter“ oder „Beauftragter“ übersetzt. Es wird sich im Fortgang des Evange6 7 8 9 10 11

Im Art. δώδεκα usw., ThWNT, II, 1935, 326. A.a.O. Carson, 236. Vgl. K.H. Rengstorf, Art. ἀποστέλλω usw., ThWNT, I, 1933, 413ff. Rengstorf a.a.O., 415. Rengstorf a.a.O.

1. Die Berufung der Zwölf, 10,1-4

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liums, ja sogar im ganzen NT, zeigen, dass die zwölf Apostel den wichtigsten und mit den höchsten Vollmachten ausgestatteten Mitarbeiterkreis Jesu darstellten. Insofern ist es berechtigt, wenn das „Apostolische Glaubensbekenntnis“12 bis heute gültig ist und wenn unser nizänisches Glaubensbekenntnis auch den Glauben an die „apostolische Kirche“ enthält.13 Die zwölf Apostel erfahren die Geheimnisse des Reiches Gottes (Mt 4,10ff ), sie begleiten Jesus auf dem Weg zum Kreuz, werden Zeugen der Auferstehung, leiten die Jerusalemer Urgemeinde (Apg 2–6) und sind die verlässlichen, autorisierten (Lk 10,16) Überlieferer der Taten und Worte Jesu.14 In der zuletzt genannten Funktion werden sie zur Bastion gegen die Irrlehre, wie dies zum Beispiel Irenäus um 180 n.Chr. herausgearbeitet hat: „Was sie zuerst gepredigt und dann nach dem Willen Gottes uns schriftlich überliefert haben, das sollte das Fundament und die Grundsäule unseres Glaubens werden.“15 Vergleiche Apg 2,42. Von den zwölf Aposteln zu unterscheiden sind im Sprachgebrauch des NT die Apostel im weiteren Sinne, das heißt Missionare als Gesandte Jesu, oft mit besonderer Autorität ausgestattet.16 So legte Paulus Wert darauf, ein Apostel zu sein, obwohl er keiner von den Zwölfen war (Röm 1,1ff; 1Kor 9,1; Gal 1,1). Weitere Beispiele sind Andronikus und Junias (Röm 16,7), Barnabas (1Kor 9,6; Apg 14,4.14), Epaphroditus (Phil 2,25) und Anonyme in 2Kor 11,5; Offb 2,2. Hier ist noch ein wesentlicher Punkt festzuhalten, den Karl Heinrich Rengstorf herausgearbeitet hat:17 Als Jakobus, der Bruder des Johannes, tot war (Apg 12,2), fand keine Nachwahl in den Kreis der Zwölf statt. Daraus ergibt sich, dass man die zwölf Apostel als historisch einmalig betrachtete und keine Sukzession für die folgenden Generationen einführte: Die Zwölf sind nicht „erblich“. Die Liste des Matthäus in 10,2-4 ist eine von den vier Listen im NT (vgl. Mk 3,16-19; Lk 6,13-16; Apg 1,13). Johannes setzt diese Listen voraus und bringt keine eigene Liste. Der Talmud hat eine unvollständige Liste, die nur fünf Namen enthält: Mathaj (= Matthäus), Naqaj (= Nikodemus?), Nezer, Bunni, Toda.18 Im NT sind die Listen erstaunlich stabil.

12 13 14 15 16 17 18

EG 789. EG 790. Vgl. Maier I, 327f. Adv. haer. III, 1,1. Vgl. Rengstorf a.a.O. Im Art. δώδεκα usw., ThWNT, II, 1935, 327. b Sanh 43a.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

Als Erster Simon, der Petrus genannt wird (πρῶτος Σίμων ὁ λεγόμενος Πέτρος [ prōtos Simōn ho legomenos Petros]): Es gibt keine neutestamentliche Liste, in der nicht Simon Petrus an der Spitze stünde. Der Papst und der Petersdom haben den protestantischen Kirchen einen Ur-Reflex gegen Petrus eingeimpft. Erst langsam haben auch moderne Forscher wie Martin Hengel19 oder Roland Deines für eine klarere Wahrnehmung gesorgt. Deines nennt Petrus den „besonders ausgezeichneten Apostel“, dessen Rolle „in der Heilsgeschichte … bei aller Hochschätzung des Paulus nicht fraglich sein“ kann.20 Vor Hengel hat beispielsweise schon Oskar Cullmann auf die „bedeutende Sonderstellung“ des Petrus unter den Aposteln hingewiesen.21 Mt 10,2 trägt hier drei Angaben bei: 1) Vor dem Namen steht ein πρῶτος [ prōtos]. Dies ist die einzige Ordinalzahl der Zwölferliste, ein δεύτερος [deuteros] folgt nicht. Mit Bauer-Aland22 muss man aus diesem Sachverhalt schließen, dass Matthäus dadurch „nicht den Platz des Simon in der Liste angeben, sondern ihn als Bedeutendsten aus der Schar der Zwölf herausheben“ will. 2) Es wird der „bürgerliche“ Name des Petrus angegeben, nämlich Simon. Simon war sowohl bei Griechen als auch bei Juden ein häufiger Personenname.23 Hebräischerseits geht er auf ‫שְׁמעוֹן‬ ִ [schimʿōn] (von ‫[ שמע‬schmʿ], „hören“) zurück. Die ältere Transkription von ‫שְׁמעוֹן‬ ִ [schimʿōn] ist Simeon bzw. Symeon. Der zweite Sohn Jakobs, einer der zwölf Stämme, der fromme Simeon von Lk 2,25 und Simeon Niger in Antiochia (Apg 13,1) trugen diesen Namen. Auch Petrus wird in Apg 15,14; 2Petr 1,1 im Griechischen so bezeichnet. In neutestamentlicher Zeit hat sich jedoch Simon durchgesetzt. Vergleiche den Hohepriester Simon in Sir 50,1ff sowie Mt 10,2.4; 13,55; 26,6; Mk 15,21; Lk 7,36ff; Joh 6,71; Apg 8,9ff; 9,43.24 In einem Ort wie Betsaida, wo Petrus aufwuchs und Juden und Griechen zusammenwohnten, war es wohl ein Vorteil, einen Namen zu haben, den beide Volksgruppen benutzten. 3) Die Angabe der Petrus genannt wird setzt voraus, dass die Leserschaft des Matthäusevangeliums gewöhnlich den Namen Petrus gebrauchte. Petrus ist aber nur ein Zu-Name, und zwar ein „Ehrenname“.25 Er wurde ihm von Jesus verliehen (Joh 1,42; Mk 3,16). Aramäisch heißt er ‫[ ֵכּיָפא‬kēphāʾ], im Griechischen „Κηφᾶς“ [kēphas] geschrieben, ins Griechische übersetzt „Petros“ (Πέτρος 19 20 21 22 23 24

Hengel Evglien, 141ff. Deines, 30.32. So im Art. Πέτρος usw., ThWNT, VI, 1959, 101. Bauer-Aland, 1453; Carson, 237; Zahn, 392; France, 176f; Fiedler, 225; Tasker, 106. Bauer-Aland, 1501. Siehe R.E. Nixon, Art. Simeon, und F.S. Fitzsimmonds, Art. Simon, in GBL, 3, 14461448; Cullmann, a.a.O., 99f; Hengel Evglien, 149. 25 Hengel a.a.O.; vgl. BDR § 412,4.

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[Petros]), lateinisch „Petrus“, auf deutsch „Fels“. Zugrunde liegt ein Wortspiel: πέτρα [ petra] ist griech. eben „Fels“. Man muss sich nur einmal die Häufigkeit der Gottesbezeichnung „Fels“ im AT vor Augen führen, um zu begreifen, was der Ehrenname „Fels“ für Simon bedeutete (von der Mosezeit, Dtn 32,4, an). Paulus deutet in 1Kor 10,4 den wasserspendenden Felsen auf Christus. Der Ehrenname Petrus, „Fels“, kündigt eine hervorragende Beauftragung in der Heilsgeschichte an. Es ist im Rahmen eines Kommentars nicht möglich, eine Biografie des Petrus zu entwerfen. Deshalb nur wenige Stichworte:26 Als Simon war er Sohn des Jona = Johannes, hebr. Jochanan (Joh 1,42.44; 21,15; Mt 16,17),27 aufgewachsen in Betsaida im Herrschaftsgebiet des Herodes Philippus, dann verheiratet in Kapernaum, dort „mittelständischer Fischereiunternehmer an einer der bedeutendsten internationalen Handelsstraßen des Vorderen Orients, der Via Maris“,28 „in ‚Compagnie‘ (Lk 5,10) mit den beiden Zebedäussöhnen“,29 darauf einer der Jünger des Täufers Johannes, dort mit Jesus bekannt geworden und mit dem Ehrennamen Petrus ausgezeichnet, danach in die Nachfolge Jesu und in den Kreis der Zwölf berufen, der Sprecher der Zwölf, der auch das Messias-Bekenntnis von Cäsarea Philippi aussprach (Mt 16,13ff ), in der Passion Jesu zum Verleugner geworden, dem der Auferstandene aber vergibt und den er erneut beauftragt (Joh 21), ein Zeuge der Auferstehung, der Leiter der Jerusalemer Urgemeinde, der erste Missionar, der die Grenze zur Heidenwelt überschritt (Apg 8,14ff; 10,1ff; 15,14; 1Kor 9,5), der in Antiochien (Gal 2,11ff ), Kleinasien (1Petr 1,1) und Griechenland (1Kor 9,5) wirkte, danach aber in Rom das Ziel seines irdischen Lebens erreichte und dort der wichtigste Repräsentant der Christen wurde, bis er in den Gärten des Nero den Märtyrertod erlitt und am Vatikan beigesetzt wurde. Zwei Briefe hinterließ er uns im NT. Das Markusevangelium geht auf ihn zurück.30 Bewegend der Stein vor dem Petrusgrab mit der Inschrift PETROS ENI, „Petrus ist hier drinnen“.31 Auf Simon Petrus folgt in Mt 10,2 Andreas, sein Bruder (Ἀνδρέας ὁ ἀδελφὸς αὐτοῦ [Andreas ho adelphos autou]). Matthäus stellt die Brüderpaare Petrus/Andreas und Jakobus/Johannes an die Spitze seiner Zwölferliste. Das 26 Vgl. dazu Cullmann a.a.O., 99ff; R.E. Nixon a.a.O., F.S. Fitzsimmonds a.a.O.; C.P. Thiede, Art. Petrus, GBL, 3, 1166ff. 27 Zur Problematik Jona = Johannes vgl. J. Jeremias, Art. Ἰωνᾶς, ThWNT, III, 1938, 410. 28 Thiede a.a.O., 1166. 29 Cullmann a.a.O., 100. 30 Eusebius H.E. III, 39,13; Hengel Evglien, 141ff. 31 Abgebildet bei Thiede a.a.O., 1168.

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geschieht in allen vier neutestamentlichen Listen – ein Beweis für die Bedeutung dieser Brüderpaare. Allerdings wechselt die Reihenfolge der Namen. Bei Matthäus lautet sie: Petrus – Andreas – Jakobus – Johannes, in Mk 3,16ff: Petrus – Jakobus – Johannes – Andreas, in Lk 6,13ff: Petrus – Andreas – Jakobus – Johannes, in Apg 1,13: Petrus – Johannes – Jakobus – Andreas. Den einzigen stabilen Platz hat also Petrus inne. Andreas aber wechselt zwischen dem zweiten (Mt 10,2; Lk 6,14) und dem vierten (Mk 3,18; Apg 1,13) Platz. Charakterisiert wird er in Mt 10,2 dadurch, dass er der Bruder des Petrus ist. Der Eindruck bleibt – auch vom Fortgang des Evangeliums her –, dass Andreas der weniger bekannte und weniger angesehene der beiden Brüder ist.32 Das darf allerdings nicht über die historische Tatsache hinwegtäuschen, dass Andreas vor Petrus die Messianität Jesu erkannte, und dass Andreas es war, der Petrus zu Jesus führte und nicht umgekehrt (Joh 1,40ff ). Vater, Heimatort und Übersiedlung nach Kapernaum sind bei Andreas die gleichen wie bei Petrus. Jedoch ist der Name Andreas ganz griechisch. Wie sein Bruder Petrus gehörte er zu den Jüngern des Täufers (Joh 1,35ff ), lernte dort Jesus kennen, wurde zusammen mit Petrus erst in die Jüngerschaft (Mt 4,18ff ) und danach in den Kreis der zwölf Apostel berufen, hielt offenbar missionarischen Kontakt zu Griechisch Sprechenden (Joh 12,20ff ) und zeigt sich vor allem im Johannesevangelium als vertrauter Jünger Jesu (Joh 1,40ff; 6,8f; 12,20ff; vgl. Mk 13,3). Später treffen wir ihn in Kleinasien.33 Wahrscheinlich kam er missionierend an die Küsten des Schwarzen Meeres. Denn Eusebius34 berichtet, Andreas habe „Skythien“ (Russland) als Missionsgebiet erhalten. Ob er in Achaia (Griechenland) tatsächlich gekreuzigt wurde,35 muss offenbleiben. An die Überlieferung von seinem Märtyrertod erinnert das sog. Andreaskreuz.36 Zu Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder vgl. oben bei Mt 4,21f. Jakobus, griech. Ἰάκωβος [Iakōbos], hebr. ‫ [ יֲַעֹקב‬jaʿᵃqob], deutsch „Jakob“, „wird … in den Evv. stets (außer Lk 8,51; 9,28) vor Johannes genannt“.37 Demnach war er der Ältere der beiden Brüder. Während sein jüngerer Bruder Johannes bis in die Zeit Trajans, also bis ca. 100 n.Chr., lebte,38 starb Jakobus relativ früh. Um das Jahr 44 n.Chr. wurde er in der Christen32 33 34 35 36 37 38

Gundry, 182f, allegorisiert: Andreas sei „the larger brotherhood of the church“. Papias nach Eusebius H.E. III, 39,4. Vgl. auch Kanon Muratori, 14. H.E. III, 1,1. So R.E. Nixon, Art. Andreas, GBL, 1, 63. In Russland ist heute noch Andrej = Andreas ein häufiger Name. W. Haubeck, Art. Jakobus, GBL, 2, 646. Irenäus Adv. haer. II, 22,5; III, 3,4; V, 30,3.

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verfolgung des Herodes Agrippa I. hingerichtet (Apg 12,2). Vorher jedoch gehörte er mit Petrus und Johannes zum engsten Kreis um Jesus (Mt 17,1; Mk 1,29; 5,37; 10,35; 13,3; 14,33; Lk 9,54). Auch er trägt zusammen mit Johannes, seinem Bruder, einen Zunamen, den Jesus verliehen hat: „Boanerges“ = „Donnersöhne“ (Mk 3,17).39 Überhaupt fällt auf, dass Jesus einem Drittel der Apostel einen Zunamen verliehen hat: Simon = Petrus, Jakobus und Johannes = Boanerges, Levi = Matthäus. Johannes, sein Bruder, scheint in Mt 10,2 im Schatten des Jakobus zu stehen. Jedoch war er die zweitwichtigste Apostelgestalt. Johannes, griech. Ἰωάννης [Iōannēs], hebr. ‫ [ יוָֹחנַן‬jōchānan], vermutlich der jüngste der Zwölf (Joh 13,23; Irenäus Adv. haer. II, 22,5; III, 3,4; V, 30,3), kannte Jesus seit der Täuferbewegung am Jordan (Joh 1,41) und wurde wie Petrus und Jakobus ein Mitglied des innersten Kreises um Jesus (Mt 17,1; Mk 1,29; 5,37; 10,35; 13,3; 14,33; Lk 9,54). Als einziger der Apostel stand er nach den Evangelien unter dem Kreuz (Joh 19,25ff ). In der Urgemeinde spielte er eine prominente Rolle (Apg 3ff; Gal 2,9). Später treffen wir ihn in Kleinasien (Offb 1,9ff; Eusebius H.E. IV, 1,1). Ihm verdanken wir die „johanneische Schule“ Kleinasiens, ein Evangelium, die Johannesoffenbarung und drei Briefe im NT. Er hat die Ostkirchen aufs Tiefste geprägt. Irenäus und Eusebius erwähnen eine Menge mündlicher Traditionen über Johannes noch über das NT hinaus. Begraben wurde er in Ephesus. Zur Zeit der Berufung konnte menschlich niemand ahnen, welche Bedeutung die vier Gestalten von V. 2 einmal haben würden. Auch Matthäus wusste es noch nicht. Den 3. Vers eröffnet Philippus. In allen Apostellisten nimmt er denselben Platz ein, nämlich den fünften. Er ist also ein führender Kopf im Mittelfeld der Zwölf. Das stimmt mit der Historie überein. Philippus ist ein griechischer Name. Seine Heimat Betsaida (Joh 1,44) war auch die Heimat von Petrus und Andreas. Und wie die eben Genannten gehörte er zu den Jüngern von Johannes dem Täufer (Joh 1,43ff ). Man kann also sagen, dass der „harte Kern“ der Zwölf aus der Täuferbewegung stammte. Seine erste Berufung durch Jesus geschah schon dort (Joh 1,43). Philippus war es dann, der Nathanael zu Jesus führte (Joh 1,45ff ). Auch das Verhältnis zu den Griechen in Joh 12,20ff zeigt seinen missionarischen Charakter. An zwei Stellen nimmt Philippus eine prominente Position ein: 1) im Johannesevangelium (1,43ff; 6,5ff; 12,20ff; 14,8ff ), 2) in der frühen Kirchengeschichte Kleinasiens. Dort bezieht 39 Bis heute philologisch umstritten, vgl. Bauer-Aland, 287. BDR § 162,8: „Donnerschläge“.

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sich Bischof Papias von Hierapolis ca. 120 n.Chr. auf ihn als wichtige Quelle der Tradition.40 Ein anderer kleinasiatischer Bischof des 2. Jh. n.Chr., Polykrates von Ephesus, schreibt um 190 n.Chr., dass Philippus, einer der zwölf Apostel, in Hierapolis begraben sei.41 Allerdings vermutet man, dass Philippus der Apostel und Philippus der Diakon und Evangelist (Apg 6,5; 8,5ff; 21,8ff ) evtl. verwechselt wurden.42 Von der Hochschätzung des Philippus zeugt auch das apokryphe Philippusevangelium.43 Als Sechster folgt in Mt 10,3 Bartholomäus. Auch er hat in den Apostellisten einen stabilen Platz: dreimal der Sechste (Mt 10,3; Mk 3,18; Lk 6,14), nur einmal der Siebte (Apg 1,13). Die paarweise Anordnung sieht also Philippus und Bartholomäus zusammen an der Spitze des Mittelfeldes. Aber er ist eine geheimnisvolle Gestalt. Bisher konnten wir alle – Petrus, Andreas, Jakobus, Johannes, Philippus – auch außerhalb der Apostellisten nachweisen. Dasselbe gilt vom folgenden Paar, Thomas und Matthäus. Für Bartholomäus aber gilt es nicht. Er ist kein einziges Mal außerhalb der vier Listen erwähnt, obwohl er doch eine gewisse Bedeutung gehabt haben muss, wie seine Position auf dem sechsten Platz beweist. Bartholomäus, griech. Βαρθολομαῖος [Bartholomaios], geht zurück auf hebr. ‫[ ַבּר־ ַתְּלַמי‬bar-talmaj] und heißt auf Deutsch „Sohn des Talmai“.44 Damit ist nur der Vatername genannt, nicht aber der Eigenname. Wie lautete Letzterer? Das NT schweigt zunächst. Wir vermuten jedoch wie viele andere,45 dass der Eigenname „Nathanael“ lautete. Für diese Vermutung spricht die auffallende Nähe zu Philippus sowohl in den Apostellisten als auch in Joh 1,45ff sowie die Bedeutung, die Nathanael im Johannesevangelium zukommt (Joh 1,45ff; 21,2). Trifft diese Vermutung zu, dann gehörte auch Bartholomäus zu den Täuferjüngern (Joh 1,45ff ), kam dort am Jordan in eine Verbindung mit Jesus, wurde in den Kreis der zwölf Apostel berufen und erlebte den auferstandenen Jesus am See Genezareth (Joh 21,1ff ). Nach Joh 21,2 stammte er aus Kana. Mit den fünf zuvor Genannten bildet er die Gruppe jener Sechs, die Jesus vom Jordan her kannte und die menschlich gesprochen den „harten Kern“ der Apostelschar darstellten, jedenfalls die volle Hälfte der zwölf Apostel. Übrigens gibt es ein apokryphes Bar40 41 42 43 44

Eusebius H.E. III, 39,4; 39,9. Eusebius H.E. III, 31,3, vgl. 31,4 sowie V, 24,2. Vgl. D.H. Wheaton, Art. Philippus, GBL, 3, 1199f. Vgl. Schneemelcher I, 148ff. Oder auch, wie F.F. Bruce, Art. Bartholomäus, GBL, 1, 167, zu erwägen gibt, „Sohn des Ptolemaios“; Carson, 238, erwägt „Sohn des Tholami“ und „Sohn des Tholomaeus“. Siehe aber Strack-Billerbeck I 536. Der Name Talmai schon Num 13,22; 2Sam 3,3. 45 Vgl. Bruce a.a.O.; Carson, 238, neigt dazu; Fiedler, 225, Anm. 103, lässt es offen; skeptisch France, 177.

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tholomäusevangelium.46 Nach Pantänus (ca. 200 n.Chr.) soll Bartholomäus später in Indien gewirkt haben.47 Das nächste Paar, Thomas und Matthäus, der Zöllner, weist ebenfalls eine feste Position in den Apostellisten auf. Nur in Apg 1,13 schiebt sich Bartholomäus zwischen die beiden (vgl. Mk 3,18; Lk 6,15). Thomas, als Θωμᾶς [Thōmas] ein griech. Name, aramäisch ‫[ ְתּאוָֹמא‬tᵉʾōmāʾ] = Zwilling (vgl. Joh 11,16; 20,24; 21,2), hat also wie Simon einen Namen, der sowohl in die griechische wie in die jüdische Sprachwelt passt. Ähnlich wie Philippus und Nathanael wird er im Johannesevangelium öfter erwähnt (Joh 11,16ff; 14,5; 20,24ff; 21,2). Demnach besaß er einen entschlossenen Charakter und wollte den Dingen auf den Grund gehen. Ihm verdanken wir Jesu Wort in Joh 14,6. Die Redensart vom „ungläubigen Thomas“ bleibt also an der Oberfläche.48 Die Tatsache, dass sich Thomas in Apg 1,13 zwischen Philippus und Bartholomäus schiebt und damit auf den sechsten Rang vorrückt, lässt sich vielleicht so deuten, dass er später an Bedeutung gewonnen hat und auch im lukanisch-paulinischen Bereich hoch geschätzt wurde. Dieselbe Hochschätzung lässt Eusebius erkennen, der in H.E. III, 1,1 berichtet, Thomas habe in Parthien (Persien) gewirkt. Von dort aus muss sich sein Wirkungskreis weiter nach Osten ausgedehnt haben, denn die Mar-Toma-Kirche in Indien führt sich auf den Apostel Thomas zurück. Das sog. „Thomasevangelium“, evtl. „um die Mitte des 2. Jh. im östlichen Syrien entstanden“,49 wurde von Kurt Aland sogar der Aufnahme in seine Vier-Evangelien-Synopse gewürdigt. Zum Kreis der häretischen Thomasschriften gehören ferner die Thomasakten, wohl aus dem 3. Jh. n.Chr.,50 und die Thomasapokalypse („vor dem V. Jh. entstanden“51?). Spätere Nachrichten, die Eusebius überliefert hat,52 erzählen, dass Thomas den Thaddäus nach Edessa im östlichen Syrien gesandt habe. Matthäus, der Zöllner, nimmt in Mt 10,2-4 den achten Rang ein. Ebenso in Apg 1,13. Anders aber in Mk 3,18 und Lk 6,15. Dort steht er auf dem siebten Rang. Die Unterschiede lassen sich vielleicht am besten so erklären: In der Apostelgeschichte ist Matthäus als betonter Judenchrist etwas weniger gewichtig (vgl. Gal 2,9), weil der Paulusschüler Lukas ja primär in der Heidenmission engagiert war. In Mt 10,3 aber bewegt ihn – wie Zahn mit Recht 46 47 48 49 50 51 52

Vgl. dazu Hengel Evglien, 108; Schneemelcher I, 424ff. Eusebius H.E. V, 10,3. Vgl. R.E. Nixon, GBL, 3, 1550f. Beate Blatz in Schneemelcher I, 97. Vgl. Hengel Evglien, 110. So G. Bornkamm in Hennecke-Schneemelcher II, 307. So A. de Santos Otero in Hennecke-Schneemelcher II, 568. Eusebius H.E. I, 13,4.11; II, 1,6.

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sagt53 – persönliche Bescheidenheit dazu, sich erst hinter Thomas einzustufen. Die Formulierung Matthäus, der Zöllner (Μαθθαῖος ὁ τελώνης [Maththaios ho telōnēs]), fällt in doppelter Hinsicht auf: 1) benutzt Matthäus keine Umschreibung, die Joh 7,50; 19,39 analog gewesen wäre, also zum Beispiel „Matthäus, der einstmals am Zoll saß“, 2) verschweigt er noch viel weniger, dass er der Zöllner von Mt 9,9ff war. Denn nur auf diesen Zöllner kann sich die Notiz beziehen. Es ist, als wolle Matthäus allen folgenden Zeiten einhämmern: Matthäus, das ist der Zöllner. Beachtet man, wie in Mt 5,43ff über die Zöllner geredet wurde und welche Diskussion sie in Mt 9,10ff auslösten, dann bekommt der Zöllner in Mt 10,3 sein konkretes Profil. Schließlich: Matthäus ist der Einzige, der die Worte der Zöllner in der Apostelliste hinzufügt. Alle diese Beobachtungen erlauben nur den nüchternen Schluss: Dieser Matthäus ist der Verfasser des Evangeliums. Was dagegen vorgebracht wird, ist nur ein protestantisch-kritisches Vorurteil.54 Indem Matthäus den Zunamen der Zöllner beibehält, der ihm seit Mt 9,9ff und der Umbenennung durch Jesus („Levi“ zu „Matthäus“) beigelegt wurde, rühmt er die göttliche Gnade, die aus einem Zöllner einen Apostel machte. Von Matthäus berichtet das NT sonst nichts mehr. Man würde ihn zu den „Stillen im Land“ rechnen, wenn er das Evangelium nicht geschrieben hätte.55 Es ist unvorstellbar, dass man gerade ihm ein Evangelium untergeschoben hätte, das er nicht geschrieben hatte.56 Matthäus, griech. Μαθθαῖος [Maththaios] oder Ματθαῖος [Matthaios], geht wohl auf hebr. ‫[ ַמ ַתּנְיָה‬mattanjāh] = „Geschenk Jahwes“ zurück.57 Vermutlich stammt dieser neue Name für Levi (Mk 2,14; Lk 5,27) von Jesus. Spätere Nachrichten über Matthäus sind nicht ganz selten. Er soll als Missionar auch über Israel hinaus unter „andern Völkern“ gewirkt haben.58 Papias von Hierapolis, der um 120 n.Chr. schrieb, hat Matthäus persönlich und sein Evangelium hoch geschätzt.59 Irenäus von Lyon hielt um 180 n.Chr. fest, dass das Matthäusevangelium das älteste der vier kanonischen Evangelien ist.60 Überhaupt galt das Matthäusevangelium in der ganzen alten Kirche einhellig als das erste und älteste Evangelium. So bei 53 Zahn, 392; vgl. Carson, 237. 54 Vgl. Zahn a.a.O. 55 Die Beurteilung durch Martin Hengel Evglien, 138ff, leidet unter seinem Vorurteil, Mt sei „relativ spät anzusetzen“ (137) und nicht apostolisch. 56 Hengel Evglien, 131. 57 Strack-Billerbeck, 536: ‫[ ַמ ַתּי‬mattaj] oder ‫[ ַמ ַתּאי‬mattaʾj] oder ‫[ ַמְתי ָא‬matjāʾ] oder ‫ַמְתי ָה‬ [matjāh]. 58 Eusebius H.E. III, 24,6. 59 Eusebius H.E. III, 39,4.16. 60 Adv. haer. III, 1,1.

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Papias, Irenäus, im Kanon Muratori, bei Clemens Alexandrinus, bei Origenes u.a.61 Nach Pantänus war das Matthäusevangelium schon um 200 n.Chr. bei den Christen Indiens verbreitet.62 Mit Jakobus, der Sohn des Alphäus beginnt das fünfte Paar des Apostelkreises. Zum Namen Jakobus vgl. oben bei Mt 4,21; 10,2. Jetzt tritt also der zweite Jakobus unter den Aposteln vor unsere Augen. Den Versuch, diesen zweiten Jakobus mit Klopas/Kleopas (Lk 24,18) in Verbindung zu bringen, hat Theodor Zahn mit Recht zurückgewiesen.63 Alphäus, griech. Ἁλφαῖος [Halphaios], hebr. ‫[ ַחְל ִפּי‬chalpī ], aram. ‫[ ַחְל ַפּי‬chalpaj], ist bei Jakobus der Vatername.64 Denselben Namen trug auch der Vater des Levi = Matthäus nach Mk 2,14. Aber man sollte diese beiden Alphäus nicht miteinander identifizieren.65 Von beiden wissen wir sonst nichts. Aber auch vom zweiten Jakobus wissen wir nur, dass er in den Apostellisten steht, und zwar ständig auf dem neunten Platz. Diese nüchterne exegetische Beobachtung enthält ein geistliches Ausrufezeichen. Jesus scheute sich offenbar nicht, unauffällige Menschen, so etwas wie „Stille im Lande“, unter die zwölf Apostel aufzunehmen. Menschliches Ansehen oder Berühmtheit war jedenfalls für ihn nicht der Maßstab. Das „ich habe euch erwählt“ von Joh 15,16 bekommt von daher ein eigenartiges Profil. Thaddäus ist der letzte Name in Mt 10,3. Bis heute bleibt seine Gestalt mit Rätseln verbunden. Sie beginnen mit dem Namen. Hieß er Thaddäus oder „Lebbäus“? Beide Namen tauchen in den Handschriften bei Mt 10,4 und Mk 3,18 auf. Aufgrund der Bezeugung entschied sich Zahn bei Mt 10,3 für „Lebbäus“.66 Aber die Bezeugung spricht eher für Thaddäus,67 wie es im Text der Synopse von Aland und bei Nestle-Aland gesetzt ist. Doch wie verhält es sich mit „Judas, der Sohn des Jakobus“, der in den lukanischen Listen (Lk 6,16; Apg 1,13) anstelle des Thaddäus/Lebbäus genannt wird? Vermutlich enthalten gerade die beiden lukanischen Listen den Schlüssel zur Lösung des Namensproblems. Judas, der Sohn des Jakobus wäre demnach der erste Name des 61 Vgl. W. Bauer in Hennecke-Schneemelcher II, 30f. 62 Eusebius H.E. V, 10,3. Weiteres bei Bauer a.a.O. In b Sanh 43a ist Mathaj vielleicht mit Matthäus identisch (so Strack-Billerbeck I 536). Dort wird Mathaj auffallenderweise als erster Jünger Jesu genannt, was eventuell damit zusammenhängt, dass die Rabbinen das Matthäusevangelium am besten kannten. 63 Zahn Forsch VI, 343ff; Bauer-Aland, 81; R.E. Nixon, Art. Alphäus, GBL, 1, 46; Carson, 239. 64 Zahn a.a.O., 343. 65 Nixon a.a.O. 66 Zahn, 393. 67 Ebenso Carson, 239; Tasker, 106.

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Thaddäus/Lebbäus gewesen. Diese Annahme wird durch Joh 14,22 gestützt.68 Nach dem Verrat durch Judas Ischariot legte der zweite „Judas“ dann seinen kompromittierten Namen ab und lebte fortan unter dem Namen Thaddäus (evtl. auch „Lebbäus“) im Jüngerkreis weiter. Mit Theodor Zahn neigen wir weiter zu der Annahme, dass dieser Apostel durchaus alle drei Namen getragen haben kann: „Thaddäus“, „Lebbäus“ und „Judas, Sohn des Jakobus“ (vgl. Apg 1,23 „Josef Barsabbas Justus“).69 Eine andere Frage ist, ob die semitische Namensform für „Thaddäus“, griech. Θαδδαῖος [Thaddaios], nämlich ‫[ ַתּ ַדּי‬taddaj] oder ‫[ ַתּ ַדּאי‬taddaʾj], auf ein griech. Θευδᾶς [Theudas] zurückgeht. Θευδᾶς [Theudas] könnte eine Abkürzung für Θεόδοτος [Theodotos] oder Θεόδωρος [Theodōros] („Gottesgabe“) sein.70 Zahn und Strack-Billerbeck gehen noch einen Schritt weiter und erwägen eine Verbindung zu dem in b Sanh 43a genannten Jesusjünger „Toda“.71 Wir müssen diese Fragen offenlassen.72 Spätere kirchengeschichtliche Nachrichten wissen – im Unterschied zum NT – noch manches über Thaddäus zu berichten. Eusebius erwähnt mehrfach Berichte, wonach Thaddäus einer der Siebzig (Lk 10,1ff ) gewesen sei.73 In H.E. II, 1,6 ist aber offenbar an Thaddäus den Zwölferapostel gedacht. In der Erinnerung hat sich sicher manches verwischt. Jedoch hängen alle diese Berichte mit Syrien zusammen, sodass man eine spätere Tätigkeit des Apostels Thaddäus in Syrien vermuten kann. Mit Simon, der Kananäer kommt in Mt 10,4 ein zweiter Simon in Sicht. Wir haben also im Zwölferkreis/Apostelkreis zwei Simon, zwei Jakobus und zwei Judas. Um den zweiten Simon vom ersten (= Petrus) zu unterscheiden, nennt Matthäus seinen Beinamen: ὁ Καναναῖος [ho Kananaios]. Eine schwächere Handschriftengruppe wandelt diesen Beinamen ab in ὁ Κανανίτης [ho Kananitēs]. Aber ὁ Κανανίτης [ho Kananitēs] = „der Mann aus Kana“74 ist nicht nur schwächer bezeugt, sondern offensichtlich ein gut gemeinter Ersatz „für das unverstandene Καναναῖος“.75 So muss es bei ὁ Καναναῖος [ho Kananaios] bleiben. Wir lassen es unübersetzt und geben es mit der Kananäer

68 So auch Zahn, 393, Fn. 14; Riesner, 484 (nach J. Jeremias); Tasker, 107. 69 Zahn a.a.O. Dieser Meinung war schon Origenes (W. Bauer bei Hennecke-Schneemelcher, II, 32). 70 Vgl. wieder Zahn a.a.O. sowie Strack-Billerbeck I 536. 71 Zahn a.a.O.; Strack-Billerbeck I 537. 72 Vgl. W. Bauer bei Hennecke-Schneemelcher a.a.O. 73 H.E. I, 12,3; 13,5; 13,11; 13,13ff. 74 Bauer-Aland, 817. 75 Bauer-Aland a.a.O.

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wieder.76 Ohne Zweifel entspricht der Kananäer in Mt 10,4; Mk 3,18 dem Simon „Zelotes“ in Lk 6,15; Apg 1,13. „Der Zelot“, ὁ ζηλωτής [ho zēlōtēs], ist „der Eiferer“, woraus sich der Parteiname der „Zeloten“ ableitete, die gegen Rom kämpften. Auch Kananäer, abgeleitet vom aram. ‫[ ַקנְָאן‬qanᵉʾān], heißt „Eiferer“.77 Der Sinngehalt ist also bei „Zelot“ und „Kananäer“ gleich. Wenn der zweite Simon so konstant als „Zelot“ bezeichnet wird, liegt der Schluss nahe, dass er früher der Partei der Zeloten angehörte.78 Jesus hat also in seinem Jüngerkreis sowohl ehemalige Zöllner als auch ehemalige Zeloten gehabt – Parteien, die sich sonst im jüdischen Alltag aufs Heftigste bekämpften. Schlatter schreibt mit Recht: „So machte die Zusammensetzung des Jüngerkreises deutlich, wie alle die Buße nötig hatten.“79 Allerdings wechselt der Platz des Simon Kananäus in den Apostellisten. Bei Matthäus und Markus ist er auf Platz elf, in Lk 6,15 und Apg 1,13 auf Platz zehn. Simon der Kananäer taucht später in den Thomasakten und im Manichäischen Psalmbuch auf,80 ist sonst aber unbekannt. Über den Letzten in allen Apostellisten, Judas, der Ischariot, gibt es heute zahllose Romane und Versuche, sein Ansehen wiederherzustellen. Sie haben ihr Vorbild in der Irrlehre der Kainiten während des 2. Jh. n.Chr. Irenäus, der um 180 n.Chr. schrieb, berichtet über die Anschauungen dieser Kainiten: Judas „allein habe die Wahrheit erkannt und das Geheimnis des Verrats vollendet … Diese Dichtung nennen sie das Evangelium des Judas.“81 Wir halten uns jedoch an die Nachrichten des Neuen Testaments. Mt 10,4 setzt hinter den Namen die längste Notiz, die sich überhaupt im matthäischen Apostelkatalog findet: der ihn dann verriet (ὁ καὶ παραδοὺς αὐτόν [ho kai paradous auton]). Wo immer Judas unter den Zwölfen erscheint, wird er mit ganz ähnlichen Worten gekennzeichnet (vgl. Joh 6,71; 12,4; 13,2). Judas, der Verräter Jesu, steht ständig auf dem zwölften und letzten Platz der Apostellisten. Aber eines haben die Verfasser und Evangelisten des NT nicht getan: Sie haben ihn niemals verschwiegen bzw. aus den Apostellisten gestrichen. Damit war klar: Er ist einer von uns. Judas, griech. Ἰούδας [Ioudas], das alttestamentliche „Juda“ (Gen 29,35), hebr. ‫ [ יְהוָּדה‬jᵉhūdāh], hängt mit „Dank“ (an Gott) zusammen. Es ist ein häu-

76 77 78 79 80 81

Vgl. Lutherbibel „Simon Kananäus“. Bauer-Aland, 817. Vgl. F.S. Fitzsimmonds, Art. Simon, GBL, 3, 1447. Carson, 239; Zahn, 394; Hengel Evglien, 345. Schlatter, 153. W. Bauer bei Hennecke-Schneemelcher, II, 31. Irenäus Adv. haer. I, 31,1.

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figer alttestamentlicher und jüdischer Name.82 Der Stamm Juda ist Träger höchster Verheißungen: „Juda, du bistʼs!“ (Gen 49,8). Auch Jesus war Judäer und Abkömmling Judas (Mt 1,2f ). Der Beiname Ischariot (Ἰσκαριώτης [Iskariōtēs]), in Mk 3,19 und Lk 6,16 einfach Ἰσκαριώθ [Iskariōth],83 wird verschieden gedeutet. Manche leiten es von σικάριος [sikarios], „Meuchelmörder“, „Bandit“, ab.84 Eine andere Ableitung geht vom hebr. ‫[ ִאישׁ ְקִריּוֹת‬ʾīsch qᵉrijjōt] = „Mann aus Kerioth“ aus. Dann käme der Betreffende aus einem Ort namens Kerioth. Eine solche Ortschaft gab es nach Jos 15,25 tatsächlich im Stammesgebiet von Juda. Da schon der Vater des Judas, nämlich Simon, den Beinamen „Ischariot“ trug (Joh 13,2), ist die Abteilung von Sikarier (σικάριος [sikarios]) die weniger überzeugende. Wahrscheinlich bedeutet also Judas, der Ischariot, so viel wie Judas, der Mann aus Keriot in Juda (Jos 15,25).85 Ist diese Annahme richtig, dann war Judas, der Ischariot, der vermutlich einzige Judäer im Kreis der zwölf Apostel. Er war außerdem als Judäer mit Jesus, dem Judäer, stammverwandt. Erst von daher erfassen wir die Bedeutung des Zitats aus Ps 41,10 in Joh 13,18: „Der mein Brot isst, tritt mich mit Füßen.“ Über Judas gibt es viele Nachrichten im NT. Entscheidend war, dass er Jesus an die Hohepriester verriet (Mt 26,14ff parr). Er endete im Selbstmord (Mt 27,3ff; Apg 1,16ff ). Vor allem Johannes zeichnet seine Gestalt detaillierter: Jesus wusste schon früh, dass er ihn verraten würde (Joh 6,64ff ), beließ ihm aber die Finanzverwaltung des Zwölferkreises (Joh 12,4ff ) und warnte ihn beim Abendmahl vergeblich vor dem Verrat (Joh 13,1ff ). Vergleiche noch Joh 18,1ff sowie den „Judaskuss“ in Mt 26,47ff. Die mündliche Tradition der johanneischen Schule beschäftigte sich mit ihm, Papias und Irenäus sprachen von ihm.86 Er wird im Ebionitenevangelium, im Manichäischen Psalmbuch, in der syrischen Didaskalia, bei Hippolyt, Tertullian und Origenes erwähnt.87 Bei den Häretikern lief sogar ein „Evangelium des Judas“ um.88 Judas, der Ischariot, bleibt für die Kirche aus zwei Gründen wichtig: 1) sieht die Kirche an ihm, wozu auch der innerste Kreis der Christen fähig ist, 2) erkennen wir alle an seinem Lebenslauf, wie

82 83 84 85 86 87 88

Vgl. Gesenius, 289; Bauer-Aland, 770. So die überwiegende Bezeugung. Vgl. Bauer-Aland, 772. So auch Gesenius, 729. Irenäus Adv. haer. V, 33,4. Näheres bei W. Bauer a.a.O., 32f. Vgl. Schneemelcher I, 309f.

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tief die Sünde in den Menschen eindringt und wie sehr wir die Erlösung brauchen. Die Zusammenstellung mit Simon Kananäus deutet darauf hin, dass auch Judas früher ein Zelot war.

IV Zusammenfassung 1. Ebenso wie Markus (3,13-19) und Lukas (6,12-16) berichtet Matthäus in einem eigenen Abschnitt (10,1-4) von der Berufung der zwölf Apostel. Auch Johannes setzt eine solche voraus (Joh 6,67; 15,16). 2. Die Berufung eines Zwölferkreises durch Jesus kann historisch nicht ernsthaft bezweifelt werden.89 3. Die zwölf Apostel repräsentieren Israel als ganzes Gottesvolk, zu dem Jesus gesandt wurde, und zugleich als das Gottesvolk des Neuen Bundes, das durch Jesus entsteht. 4. Sie sind in Mt 10,1-4 paarweise gegliedert. Vermutlich geht diese Gliederung auf das Zeugenrecht des AT zurück (Dtn 17,6; 19,15). Vergleiche Lk 24,48: „seid dafür Zeugen“. Auch die Sprüche der Väter weisen eine ZweierGliederung auf (I, 4ff ). 5. Unter sich werden die Zwölf so geordnet, dass die kirchengeschichtlich Wichtigeren vorne stehen. Nach Matthäus (Rang acht in Mt 10,1ff ) folgen die weniger Bekannten, wobei freilich Judas, der Ischariot, eine Sonderrolle einnimmt.

2. Die Aussendungsrede, 10,5-42 2.1 Der Sendungsauftrag, 10,5-15

I Übersetzung 5 Diese Zwölf sandte Jesus und gebot ihnen: Geht nicht auf den Weg zu1 den Heiden und geht nicht in eine Stadt der2 Samaritaner! 6 Sondern geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. 7 Geht und verkündigt Folgendes: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen! 8 Kranke heilt, Tote weckt auf, Aussätzige macht rein, Dämonen treibt aus! Um89 Gegen Bultmann Gesch, 366ff, der diese Vorstellung für „dogmatisch“ hält; Beare, 239f. 1 Vgl. BDR § 166,2. 2 Vgl. BDR § 262,1.

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sonst habt ihrʼs empfangen, umsonst gebt es auch. 9 Besorgt weder Gold noch Silber noch Kupfer für eure Gürtel, 10 weder eine Tasche für den Weg noch zwei Untergewänder noch Sandalen noch einen Stab! Denn der Arbeiter ist seine Speise wert. 11 Wenn ihr in eine Stadt oder in ein Dorf hineingeht, dann forscht nach, wer es darin wert ist. Und dort bleibt, bis ihr fortgeht. 12 Beim Eintritt in das Haus sollt ihr es grüßen. 13 Und wenn es das Haus wert ist, dann komme auf es euer Friede! Wenn es aber dessen nicht wert ist, dann kehre euer Friede zu euch zurück. 14 Und wenn jemand euch nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, dann geht hinaus aus jenem Haus oder jener Stadt und schüttelt den Staub eurer Füße ab. 15 Amen, ich sage euch: Dem Lande der Sodomer und Gomorrer wird es erträglicher gehen am Tage des Gerichts als jener Stadt.

II Struktur Während der Anfang des Abschnitts mit V. 5 klar vorgegeben ist, fragt man sich, wo er endet. Soll man die Verse 5-42 als zweite große Rede Jesu nach der Bergpredigt zusammenfassen?3 Oder nötigt der unterschiedliche Inhalt des 10. Matthäuskapitels zu einer schärferen Aufteilung?4 Wir neigen hier zu der ersteren Auffassung. Dafür gliedern wir die Verse 5-42 in mehrere Unterabschnitte. Dann bleibt immer noch die Frage, wo man den Unterabschnitt V. 5ff, mit dem wir es hier zu tun haben, enden lässt. Eine Reihe von Autoren bezieht V. 16 noch mit ein.5 Uns scheint es besser, diesen Unterabschnitt mit V. 15 abzuschließen:6 Erstens enden mit V. 15 die unmittelbaren Missionsinstruktionen, zweitens tritt ab V. 16 an die Stelle der Imperative mehr und mehr die futurische Prognose, drittens weitet sich ab V. 16 der Blick von Israel auf die ganze Welt. – Man muss aber offen zugeben, dass solche Erwägungen zur Gliederung nur begrenzten Einfluss auf die Auslegung besitzen. Inhaltlich wird Mt 10,5-15 durch die betonte Einschränkung auf Israel charakterisiert. Auffallend ist ferner die Fülle der Vollmacht für die Zwölf. Sie reicht nahe heran an die Vollmacht Jesu. Das Nähere siehe bei der Einzelexegese. Drittens überrascht der Umfang der Anweisungen betreffs Ausrüstung und Missionsmethode. Ihnen ist der größere Teil des Sendungsauftrages in Mt 10,5-15 gewidmet, nämlich die sieben Verse 9-15. 3 So Fiedler, 227; ähnlich Sand, 216; Carson, 240ff. 4 So Maier I, 337; Luz II 86ff; France, 177. 5 So Aland Syn, 138; Schniewind, 126; France, 177; Carson, 244; Bultmann Gesch, 155; Sand, 218. 6 Wie wir Klostermann, 88; Schlatter, 159; Beare, 244; Fiedler, 230.

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Der Sendungsauftrag Mt 10,5-15 hat Parallelen bei Markus (6,7-11) und Lukas (9,1-5). Aber diese Parallelen sind sehr viel kürzer. Matthäus schenkt also der Mission in Israel mehr Raum und Aufmerksamkeit als Markus und Lukas – auch dies ein Zeichen dafür, dass das Matthäusevangelium ein judenchristliches Evangelium ist.

III Einzelexegese Der erste Satz in V. 5: Diese Zwölf sandte Jesus hat eine echte Parallele in Mk 6,7 und Lk 9,1f. Diese Zwölf steht in engem Rückbezug auf V. 1-4. In ἀπέστειλεν [apesteilen] erscheint das Zeitwort zu den „Aposteln“ (ἀπόστολοι [apostoloi]). Das gebot ihnen (παραγγείλας αὐτοῖς [ parangeilas autois]) drückt den Befehl der Autoritätsperson aus.7 In diesem Befehl dominiert zunächst das nicht (μή [mē]): Geht nicht auf den Weg zu den Heiden – geht nicht in eine Stadt der Samaritaner! Das heißt: In der damaligen Zeit sah Jesus weder die Stunde der Heidenmission noch die Stunde der Samaritanermission gekommen. Später ändert sich dies, vgl. Apg 1,8; Mk 16,15; Mt 28,19. Im Reich Gottes folgt die Entwicklung wie bei den Pflanzen bestimmten Wachstumsgesetzen. Noch Paulus ging davon aus, dass das Evangelium „zuerst die Juden“ betreffe (Röm 1,16). Auf den Weg zu den Heiden bezeichnet die Richtung der missionarischen Tätigkeit.8 Eine Stadt der Samaritaner ist eine biblische Wendung (2Kön 17,24) und meint jede samaritanische Ortschaft unter Einschluss der Dörfer.9 Die deutliche Anweisung Geht nicht! wäre unnötig gewesen, wenn nicht der Gang zu den Heiden oder Samaritanern für die Jünger nahegelegen hätte. Die bisherige Tätigkeit Jesu, die gelegentlich Heiden (Mt 4,25; 8,5ff.28ff ) oder Samaritaner einschloss (Joh 4,5ff ), konnte sie dazu ermutigen. Außerdem musste sich der Messias im Laufe der Zeit der ganzen Welt (τῷ κόσμῳ [tō kosmō], Joh 7,4) offenbaren.10 Aber jetzt war eben in den Augen Jesu diese Zeit noch nicht gekommen. Israel hatte das erste Recht auf den Messias und seine Botschaft!11 Die Verse 5b und 6 sind Sondergut des Matthäus:12 Ein neuer Beweis dafür, dass wir es mit einem 7 8 9 10 11

Bauer-Aland, 1240. Bauer-Aland, 1123; LSB: „among the Gentiles“; BDR § 166,2. Schlatter, 154, hält den „Weg“ durch Samarien für erlaubt. Ganz anders Beare, 241: „no relevance to the actual situation“. Man denke an J.A. Bengels exegetische Regel: „Distinque tempora et concordabit scriptura.“ Wie die Exegese sich in Theorien ergehen kann, die dem Text fremd sind, zeigen die teils komplizierten, teils gekünstelten Überlegungen bei Luz II 91ff. Vergleiche dagegen Schniewind, 128; France, 178; Riesner, 472; Carson, 244f; Zahn, 396f; HengelSchwemer, 26. 12 Luz II 88; Schniewind, 128; France, 178.

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judenchristlichen Evangelium zu tun haben. Aber auch Markus (7,24ff ) und Lukas (24,47.49; Apg 1,8) halten daran fest, dass Jesus zuerst zu Israel gesandt wurde. Positiv und eindeutig lautet Jesu Anordnung: Sondern geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (V. 6). Haus Israel ist eine alte prophetische Bezeichnung für das Volk Israel (‫[ ֵבּית י ִ ְשָׂרֵאל‬bēt jiśrāʾel], Jes 5,7; Jer 3,18; 31,31; 33,14.17; Ez 3,1ff; 37,11). Häufig findet sich auch das Bildwort Schafe für die Israeliten (Num 27,17; 1Kön 22,17; Ps 74,1; 77,21; 78,52; 80,2; 95,7; 100,3; 110,176; Jes 53,6; Ez 34,5.12ff ). Der Terminus verlorene Schafe hat im AT eine doppelte Dimension: a) die Hirten fehlen, versagen oder vergreifen sich an der Herde (vgl. Jer 50,6), b) die Schafe leiden, sind verirrt und verwundet. Offenbar schließt das Wort Jesu in Mt 10,6 beide Dimensionen ein. Das Israel seiner Zeit hat weder die rechten Hirten (vgl. Joh 10,1ff ) noch ist es bei seinem treuen Gott geblieben. Vielmehr liegt Schuld auf ihm. Schlatter hat die Sendung zu den Verlorenen richtig beschrieben: „Ich sende euch zu denen, die zum Hause Israel, zur alten heiligen Gemeinde Gottes, gehören, aber wie verirrte Schafe ihrem Gott entlaufen sind und sich an die natürlichen Begehrungen verkauft haben.“13 Der Auftrag ergibt sich schon aus Ez 34,16: „das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden“. In einer Zeit wie der unseren, in der das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich ist, müssen einige Punkte noch hervorgehoben werden: V. 6 ist ganz alttestamentlich geprägt. Jesus schließt sich hier bewusst an die Umkehr-Predigt der alten Propheten an, besonders Hesekiel und Jeremia. Jesus geht ferner davon aus, dass Israel seit alters das von Gott geliebte und erwählte Volk ist, die „Schafe seiner Weide“ (Ps 100,3; Dtn 7,7f ). Jesus geht drittens davon aus, dass ein Mensch, der gott-los lebt, verloren ist, das heißt nicht ins ewige Leben kommt.14 Viertens geht er davon aus, dass Israel in seiner Zeit nicht die Lehrer und Wegweiser hat, die es braucht – nur falsche Messiasse (Joh 10,1ff ) und unzureichende Lehrer (Mt 5,20; 23,1ff ). Nur er, als Gottes Sohn und Messias, hat die Macht, zu helfen, das heißt aus der Verlorenheit zu Gott zu führen (Joh 14,6).15 Geistlich gesehen, sind Mt 10,6 und Joh 10 eng miteinander verwandt. Vergleiche noch Mt 9,36; 15,24; 18,12. Die

13 Schlatter, 154. 14 Vgl. A. Oepke, Art. ἀπόλλυμι usw., ThWNT, I, 1933, 394; H. Preisker / S. Schulz, Art. πρόβατον usw., ThWNT, VI, 1959, 689. 15 Jeremias Gleichnisse, 121.

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verlorenen Schafe des Hauses Israel sind also nicht einzelne Sünder unter den Israeliten, sondern das ganze damalige Israel.16 Die Verse 7-8 schlüsseln den Sendungsauftrag näher auf. Dabei steht die Wortverkündigung an der Spitze (V. 7): Geht und verkündigt Folgendes (κηρύσσετε λέγοντες [kēryssete legontes]): Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen! Die Jünger müssen hier die Botschaft Jesu weitergeben (Mt 4,17; vgl. Lk 9,2; 10,9). Zum Inhalt dieser Aussage vgl. die Erklärung bei 4,17. Der Heilungsauftrag in V. 8 erwähnt Kranke, Tote, Aussätzige und von Dämonen Besessene. Alle solche Zeichen hat Jesus selbst schon vollbracht (Mt 8,1ff.5ff.28ff; 9,18ff; vgl. 4,23ff; 9,35). Die Apostelgeschichte berichtet, wie sie tatsächlich in der frühen Kirche auch von den Jüngern bewirkt wurden (vgl. Apg 3,6ff; 5,16; 8,7; 9,34.40; 14,9ff; 28,8f sowie Mk 16,17f; 1Kor 12,9.28; Jak 5,14ff ). Mit anderen Worten: Jesus überträgt seinen Jüngern einen guten Teil seiner eigenen Vollmacht und seiner eigenen Aufgaben. Sie sind sozusagen sein verlängerter Arm. Noch der Talmud ist beeindruckt von der Heilkraft der Jünger Jesu.17 Die Frage stellt sich, weshalb heute in der Christenheit weniger Wunder geschehen. Darauf ist zu sagen: Erstens war damals der Messias auf Erden, und in dieser besonderen Epoche des Erdenwandels Jesu waren die Wunder gemäß den prophetischen Verheißungen häufiger (vgl. Jes 29,18; 35,5; Mt 11,4ff; Apg 2,22), zweitens gibt Gott die Vollmacht zu Wundern, wie er will, und nicht, wie wir es gerne hätten (Röm 12,3; 1Kor 12,11). Gott gibt jedem Zeitalter und jeder Kirche, was sie nach seinem Willen brauchen. Den 8. Vers schließt ein auffälliger Satz: Umsonst habt ihrs empfangen, umsonst gebt es auch. Umsonst empfangen: Das ist wahr. Jesus verlangte kein Geld, keine „Studiengebühr“. Ja, nicht einmal persönliche Dienste von seinen Jüngern, wie sie in den Lehrhäusern und bei den Rabbinen üblich waren.18 Ganz zu schweigen von dem riesigen Unterschied, der Jesus von den hellenistischen Philosophen und Wanderlehrern trennte. Letztere charakterisierte Paulus in Tit 2,2 und ebenso Irenäus Adv. haer. I, 4,3: Sie lehren nur die, „welche hohes Honorar für so beschaffene Geheimnisse zu zahlen vermögen“. Jesus jedoch setzte die Linie des Mose fort, der in Num 16,15 von sich sagen konnte: „Ich habe nicht einen Esel von ihnen genommen.“ Vergleiche 2Kön 5,6 zu Elia. Umsonst gebt es auch: Wie sie dann überhaupt 16 Luz II 90; Beare, 242; France, 178; Fiedler, 227. 17 b Ab zara 27b. 18 Vgl. Strack-Billerbeck I 527ff.

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leben können, werden die folgenden Verse zeigen. Bis heute ist dieses Jesuswort ein Sperrriegel gegen Habgier und Geldgelüste in der Kirche. Paulus hat sich streng daran gehalten (Apg 20,33; 1Kor 9,4ff; Phil 4,15; 2Thess 3,7ff ). Man kann aus diesem Wort aber nicht den Schluss ziehen, es dürfe keine Hauptamtlichen in der Kirche geben. Vielmehr ist jeder Arbeiter seines Lohnes wert und hat Anspruch auf Versorgung aus der Gemeinde (vgl. V. 10; 1Kor 9,1ff ). Was man nicht bezahlen kann, sind Predigt, Gebet, Seelsorge und Zeugnis. Das Gegenteil wollte Simon Magus in Apg 8,18ff, wovon unser Begriff „Simonie“ (Kauf geistlicher Ämter) abgeleitet ist. Es macht nachdenklich, was Carson schreibt: „The danger of profiteering ist still among us“, unter Hinweis auf Mi 3,11 und Did 11,3–13,2. Wie schon bemerkt, sind die Verse 9-14 ganz dem Verhalten bei der Durchführung der damaligen Mission gewidmet. Man spricht hier von „Botenregeln“.19 Wenn Luz schreibt, hier sei „nichts mehr von einer zeitlichen Begrenzung auf die damalige Situation spürbar“,20 dann bringt er das Gegenteil dessen zum Ausdruck, was in Wirklichkeit diese Verse charakterisiert. Sie gehören ganz und gar ins Israelland und in Jesu Ringen um sein Volk. In V. 10 heißt κτήσησθε [ktēsēsthe] besorgt oder „erwerbt“. Gold und Silber sind allgemeine Bildworte für Schätze oder Vermögen, aber zugleich auch Bezeichnungen für Gold- (Aureus, Mine, Talent) und Silbermünzen (Stater, Denar).21 Bei χαλκός [chalkos], Kupfer,22 kann an „Geld“ im Allgemeinen oder speziell an Kupfermünzen (Lepton, Quadrans, Semis, As, Doppel-As, Sesterze) gedacht sein.23 Für eure Gürtel erinnert daran, dass in jener Zeit die Männer ihr Geld in einem Gürtel oder Gurt um den Leib aufbewahrten.24 Fazit: Die Apostel sollten bei ihrer Israelmission keine finanzielle Ausrüstung bei sich tragen. Auch das musste sich später ändern (Phil 4,14ff ). Mk 6,8f; Lk 9,3 und Lk 10,4 enthalten ähnliche Anordnungen Jesu. Das gilt noch mehr bezüglich der ersten Hälfte von V. 10: weder eine Tasche für den Weg noch zwei Untergewänder noch Sandalen noch einen Stecken! Tasche, πήρα [ pēra], ist ein Sack oder Beutel, „Meist aus gegerbtem Ziegenleder hergestellt“,25 „an einem über die rechte Schulter gelegten Riemen an der linken Hüfte“ oder auf dem Rücken getragen.26 „Bauern trugen darin Hühner 19 20 21 22 23 24 25 26

Riesner, 472. Luz II 93. Vgl. Schröder, 310f. Vgl. Bauer-Aland, 1746. Schröder a.a.O. Bauer-Aland, 690. GBL, 3, 1529. W. Michaelis, Art. πήρα, ThWNT, VI, 1959, 119; GBL a.a.O.

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oder ein Lämmlein zum Markt, … Hirten und Wanderer ihren Proviant.“27 Aber auch die heidnischen Wanderphilosophen, vor allem die Kyniker, trugen eine πήρα [ pēra], oft als Bettelsack benutzt. Was meint Jesus nun mit der Tasche in Mt 10,10; Mk 6,8; Lk 9,3? Den Bettelsack oder den Proviantsack? Michaelis ist darin zuzustimmen, dass der Kontext auf einen Proviantsack deutet.28 Betteln wird von Jesus oder seinen Jüngern niemals berichtet. Dann sollen also die Apostel bei ihrer Mission nicht nur auf Geld, sondern auch auf Proviant verzichten. Das Untergewand, griech. χιτών [chitōn], bezeichnet dasjenige Kleidungsstück, das unmittelbar auf dem Leib getragen wurde, „u. zwar v. beiden Geschlechtern“.29 Der Verzicht auf zwei Untergewänder und die Beschränkung auf ein einziges bedeutet einen Verzicht auf Bequemlichkeit und gesellschaftliche Kultur. Nicht einmal Sandalen erlaubt hier Jesus (vgl. aber Mk 6,9). Barfuß zu gehen war ein Zeichen von Armut und Erniedrigung, vgl. 2Chron 28,15; Jes 20,2; Lk 15,22 sowie noch die Barfüßermönche des Mittelalters.30 Das Anlegen der Sandalen mit ihren Riemen kostete aber Zeit. Für das Ausziehen waren oft Sklaven zuständig.31 So bringt das Barfußgehen der Apostel zweierlei zum Ausdruck: Ihre Mission ist eilig und vertraut auf die Güte des himmlischen Vaters und nicht auf menschliche Mittel. Bekräftigt wird dies durch den vierten Verzicht, den Mt 10,10 ausspricht: den Verzicht auf einen Stab (ῥάβδον [rhabdon]). Das griech. ῥάβδος [rhabdos] kann mit „Rute“, Stab, Stock oder Zepter übersetzt werden,32 in Mt 10,10 wohl am ehesten mit Stab. Gemeint wäre dann der Wanderstab, den man bei weiten Wanderungen benutzte.33 Auch hier sollen also die Jünger nicht auf menschliche Mittel, sondern auf den HERRN vertrauen, der selbst ihr „Stecken und Stab“ ist (Ps 23,4). Möglich ist aber auch eine andere Deutung. ῥάβδος [rhabdos] könnte nämlich in Mt 10,10 auch den „Stock“ bezeichnen, mit dem man im Orient die wilden Hunde fernhielt.34 Dann müssten die Apostel auf den Schutz des Herrn vertrauen, weil sie selbst keine eigenen Waffen besitzen.35 Beide Deutungen sind sinnvoll und müssen nebeneinander stehen bleiben. Schlatter hat auf einen wesentlichen Punkt hingewiesen: „Es soll an den Jüngern sichtbar sein, daß die Gaben, die sie dem Volk anbieten, einer anderen 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Michaelis a.a.O. Vgl. 1Sam 17,40ff (Michaelis a.a.O., 120). Michaelis a.a.O., 120f. Bauer-Aland, 1759. Für die Rabbinen vgl. b Schab 129a; 152 a. Insgesamt Luz II 96. Vgl. GBL, 3, Art. Schuhe, 1409. Vgl. C. Schneider, Art. ῥάβδος usw., ThWNT, VI, 1959, 966ff. Schneider a.a.O., 969. Vgl. Schneider a.a.O., 967. So Luz II 96; Fiedler, 229.

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Welt angehören als Geld und Kleider, weshalb sie das Herz von der irdischen Sorge frei machen.“36 Vers 10 schließt mit einem Generalsatz: Denn der Arbeiter ist seine Speise wert. Arbeiter, ἐργάται [ergatai], sind die Apostel nach Mt 9,37f. Jetzt wird endgültig klar, dass auf den Gebetsauftrag der Apostel nach Mt 9,38 nun der Arbeitsauftrag folgt. Arbeiter: Das gibt unzweideutig zu erkennen, dass die gesamte Mission Mühe, Hingabe, Leiden – und eben Arbeit ist. Man denke an das schöne Wort des Paulus in 1Kor 15,58. Wenn Jesus geradezu in Sprichwort-Form sagt, dass jeder Arbeiter seine Speise wert ist, dann bündelt er in dieser Aussage eine ganze Reihe von Aspekten: Erstens versichert er, dass Gott die Apostel nicht ohne Speise = Lebensunterhalt lassen wird (vgl. Lk 22,35), zweitens prophezeit er, dass Menschen bereit sein werden, diese Speise bereitzustellen, drittens ermutigt er seine Jünger, diese Versorgung guten Gewissens anzunehmen, sofern sie angemessen ist, viertens lehnt er es ab, dass seine Jünger von Almosen oder vom Betteln leben sollen.37 Mt 10,10b hat eine starke Wirkungsgeschichte entfaltet. Das Logion wird schon innerhalb des NT zitiert, allerdings in der lukanischen (Lk 10,7) Form: „Der Arbeiter ist seines Lohnes wert“, 1Tim 5,18. Paulus setzt es in 1Kor 9,5ff vermutlich voraus.38 Die Didache zitiert es 13,1 in der matthäischen Form.39 Die sprichwörtliche Redensart „Ein (jeder) Arbeiter ist seines Lohnes wert“ ging in Deutschland in viele politische Debatten ein. Jedoch ist klar, dass sich Mt 10,10 nicht unbedingt für gewerkschaftliche oder gesellschaftliche Diskussionen eignet, weil es hier nicht nur um Geld, sondern auch um die Arbeit für Gott geht. Problematisch bleibt das Verhältnis zu Mk 6,8f, wo Sandalen und Stab erlaubt sind, während Lk 9,3; 10,4 mit Mt 10,10 übereinstimmen. Gab es mehrere Aussendungen der Zwölf ?40 Das ist möglich und lässt sich durch Lk 10,1ff begründen. Immerhin wäre eine solche Annahme einleuchtender als die Unterscheidung von Prophetenstab (2Kön 4,29ff ), der nach Mk 6,8 erlaubt wäre, und einem andern Stab, der nach Mt 10,10 untersagt wäre. Aber wir bleiben hier im Ungewissen.41 36 37 38 39 40 41

Schlatter, 156. Schlatter, 157. Vgl. Zahn, 399; Fiedler, 229; France, 180. Vgl. 2Thess 3,9; Theißen-Merz, 65. Einer von mehreren Hinweisen, dass die Didache das Matthäusevangelium kannte. Vgl. Riesner, 472, der auf E. Power, Bibl, 4, 1923, 241ff verweist. Bezüglich der Schuhe unterscheidet Luz II 96,47 die ὑποδήματα [hypodēmata] als gute Schuhe mit Oberleder von den σανδάλια [sandalia] als einfache Schuhe, sodass nach Mk 6,9 nur einfache Schuhe erlaubt wären: eine diskutable Lösung. Vgl. auch Tasker, 107; Carson, 245; Schniewind, 129.

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Luz ordnet Mt 10,10 einem Konzept von „Wanderradikalen“ zu. Es gehe „um eine demonstrative, schockierende Armut und Wehrlosigkeit, die dem Gottesreich entspricht. Sie ist Beglaubigungszeichen für die Verkündigung.“42 Eine solche Interpretation verschiebt die Akzente, ja den gesamten Verständnisrahmen. Die Apostel haben nicht „Armut und Wehrlosigkeit“ zu demonstrieren, sondern den Messias zu bezeugen und Menschen für das Reich Gottes zu sammeln. Wenn sie ohne menschliche Ressourcen und Waffen auftreten, predigen sie schon durch ihre Lebenspraxis den lebendigen Gott Israels und das Vertrauen auf ihn.43 Wohl unterscheidet sie dieses Auftreten deutlich von anderen, zum Beispiel den gewaltausübenden Zeloten und den reichen sadduzäischen Familien. Aber der Begriff „Wanderradikale“44 – der sie unglücklicherweise in die Nähe hellenistischer Wanderprediger rückt – lässt nach Parallelen in der damaligen Welt der Antike suchen, statt sie mit der Geschichte der israelitischen Propheten und ihrer Bußpredigt zu verbinden.45 Die Verse 11-14 haben es nicht mehr mit der Ausrüstung, sondern mit den Verfahrensregeln der Mission zu tun. Wenn46 ihr in eine Stadt oder in ein Dorf hineingeht, dann forscht nach, wer es darin wert47 ist (V. 11) – nämlich euch aufzunehmen. Hier fällt zweierlei auf. Das griech. ἐξετάζω [exetazō] meint das genaue nachforschen. Man geht also nicht unüberlegt, enthusiastisch in eine Ortschaft hinein, sondern strategisch kalkuliert. Zweitens soll der Aufnehmende der Apostel wert sein: Es ist eine Auszeichnung, wenn man missionierende Apostel aufnehmen darf. Die Apostel müssen sich nicht dafür entschuldigen, dass sie da sind. Sucht man hier nach Parallelen, dann findet man sie wieder am ehesten in der Geschichte der Propheten und ihrer „Prophetenstuben“ (vgl. 1Kön 17,8ff; 2Kön 4,8ff ). Wer es wert ist: Man kann an Israeliten denken, die wie Simeon auf den Messias warteten (Lk 2,25ff ), oder an fromme Häuser wie das der Geschwister in Bethanien (Lk 10,38ff; Joh 11,1ff ). Die zweite Hälfte von V. 11 birgt wieder eine Überraschung: Und dort bleibt, bis ihr fortgeht. Die Apostel sollen also nicht von Haus zu Haus ziehen, auch wenn sie freundlich eingeladen oder dringlich aufgefordert werden. Das eine, erste Haus soll ihr festes Standquartier bleiben. Dadurch wird der 42 43 44 45 46 47

Luz II 97. Vgl. Zahn, 399: „völlige Sorglosigkeit“; Carson, 245. Auch bei Theißen-Merz, 337. Vgl. zu Letzterem 1Kön 17,5ff; 2Kön 1,8; 5,16f; Jes 20,2ff; Mt 3,4. Iterativ zu verstehen, BDR § 380,2. Zum matthäischen ἄξιος [axios] vgl. Riesner, 409f; W. Foerster, Art. ἄξιος usw., ThWNT, I, 1933, 379.

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Wettbewerb um ihre Gunst im Keim erstickt. Man denke an Jesu eigene Praxis: In Kapernaum blieb er im Petrus-Haus, statt in verschiedene Häuser herumzuziehen. Mit dem bleiben setzt Jesus einen kräftigen Akzent gegen wandernde Rabbis und Philosophen. Dass der Begriff „Wanderradikale“ unangebracht ist, merkt man auch hier. Im Übrigen folgt diese apostolische Mission dem Prinzip, von einem Kern aus die gesamte Ortschaft zu durchdringen. Beim Eintritt (εἰσερχόμενοι [eiserchomenoi]) in das Haus sollt ihr es grüßen (V. 12): Das Haus (mit Artikel) meint jenes Haus, das die paarweise einkehrenden Apostel nach V. 11 ausfindig gemacht haben. Grüßen war „bei den Juden eine gewichtige Zeremonie“48 (vgl. Mt 23,6f; Mk 12,38; Lk 11,43; 20,46). Dazu gehörten Worte, Gesten und Gespräche.49 Die übliche Grußformel lautete ‫שׁלוֹם ָעֶליָך‬ ָ [schālōm ʿāläjkā] = „Friede sei mit dir“ bzw. ‫שׁלוֹם ָעֶליֶכם‬ ָ [schālōm ʿāläjkäm] = „Friede sei mit euch.“50 Im Orient nimmt man sich dafür Zeit. Die Gespräche während des Grüßens gaben noch einmal Gelegenheit zu prüfen, ob es der Aufnahme der Apostel wert ist. Eine feine Nuance liegt darin, dass die Apostel nach Mt 10,12 zuerst grüßen müssen:51 Sie sollen also dem Hause die Ehre erweisen und nicht umgekehrt Ehrungen vonseiten des Hauses erwarten. Wieder gibt es im Talmud Aussagen, die mit unserem Jesuswort übereinstimmen:52 „Man erzählte von Rabbi Johanan b. Zakkaj [Ende 1. Jh. n.Chr.], dass ihm niemals jemand mit einem Gruß zuvorgekommen sei, nicht einmal ein Nichtjude auf der Straße.“53 Vers 13 bereitet unserem Verständnis Schwierigkeiten: Und wenn es das Haus wert ist, komme auf es euer Friede! Wenn es aber dessen nicht wert ist, dann kehre euer Friede zu euch zurück. Ist der Friede hier im Sinne der liberalen Exegese als „ein Stück dinglicher Präsenz“ gedacht?54 Dieser Sinn scheint Jesus, der die Anbetung „im Geist und in der Wahrheit“ will (Joh 4,24), jedoch fernzuliegen. Näher am Gemeinten liegt Theodor Zahn, der die Imperative ἐλθάτω [elthatō] und ἐπιστραφήτ_ω [epistraphētō] als „eine überaus kraftvolle Form der

48 H. Windisch, Art. ασπάζομαι usw., ThWNT, I, 1933, 496. 49 Windisch a.a.O., 494ff. 50 Vgl. Joh 20,19; Lk 10,5. Ohne Grund vermutet Luz II 101, „ein besonderer Segensgruß“ sei gemeint. Das Richtige bei Schlatter, 158; Carson, 246; France, 181; W. Foerster im Art. εἰρήνη usw., ThWNT, II, 1935, 409. 51 Windisch a.a.O., 496. 52 Strack-Billerbeck I 382ff. 53 b Ber 17a. 54 So Luz II 101.

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Verheißung“ versteht.55 Er befindet sich damit in Übereinstimmung mit der alttestamentlichen Überzeugung, „daß ‫שׁלוֹם‬ ָ in Wahrheit nur von Jahwe kommt.“56 Hinter den Aposteln steht die Autorität Jesu und Gottes. Ihr Friedensgruß ist die Verheißung göttlichen Friedens, der als Friede mit Gott (Röm 5,1; Eph 2,14) und eschatologischer Friede zu verstehen ist.57 Das Wirksamwerden dieses Friedens hängt aber von unserer Annahme und unserem Glauben ab:58 mit den Worten des Matthäus also davon, ob es das Haus wert ist (vgl. Lk 1,79; 2,14.29; 19,42; 24,36; Joh 20,19.21.26; Röm 3,17; 14,17). Ein Haus, in dem „Haß gegen das Evangelium“ lebt oder in dem sich „üble Gerüchte“ an die Apostel heften59 oder das sich einfach innerlich der Botschaft verschließt, ist es nicht wert, kann den verheißenen Frieden nicht empfangen. Dann kehre euer Friede zu euch zurück: Die Verheißung bleibt unwirksam, das ausgesandte Friedenswort kehrt gewissermaßen erfolglos zu den Aposteln zurück. Es ist hoch interessant, wie nüchtern Jesus hier auch mit einem Scheitern der Mission rechnet. Johannes Chrysostomus hat eine wesentliche Seite des Vorgangs erfasst, wenn er schreibt: „Bin ich es etwa, der den Frieden gibt? Nein, Christus ist es“, der durch unseren Mund spricht.60 Und wenn jemand euch nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, dann geht hinaus aus jenem Haus oder jener Stadt und schüttelt den Staub eurer Füße ab (V. 14): Dass Aufnahme und das Hörenwollen der Botschaft zusammengehören, bestätigt sich jetzt noch einmal. In der Regel ist also ein bestimmtes Haus Zentrum und Sitz der örtlichen Gemeinde. Vers 14 verhindert, dass die Apostel „sich … den Widerwilligen auf(zu)drängen“.61 Von daher wäre manche christliche, evangelische und auch evangelikale Missionsstrategie noch einmal zu durchdenken. In der Ablehnung der Apostel wirkt sich ja ebenso gut Gottes Führung aus wie in ihrer Aufnahme. Den Staub eurer Füße abschütteln bedeutet ein sinnfälliges Zeichen, dass die Apostel das Ihre getan haben und keine Schuld an der Trennung tragen (Apg 18,6), aber auch ein Zeichen dafür, dass die Apostel nicht einmal mehr den Staub mit jenem Haus oder jener Stadt teilen wollen. In der Frühzeit der Christenheit hat man Mt 10,14 wörtlich befolgt (Apg 13,51; 18,6). Der Streit, ob der 55 56 57 58 59 60 61

Zahn, 400. So G. von Rad im Art. εἰρήνη usw., ThWNT, II, 1935, 402. Vgl. Foerster a.a.O., 410ff. Schlatter, 158. Schlatter, 157; Fiedler, 230. Nach Texte KV III, 352. Zahn a.a.O.

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Staub gemeint ist, der an den Füßen der Apostel haftet,62 oder der Staub, den sie mit ihren Füßen aufgerührt und an ihre Kleidung gebracht haben,63 ist müßig. Im Blick auf V. 15 enthüllt sich das Verlassen von Haus und Stadt und die Zeichenhandlung des Staub-Abschüttelns schon als Ankündigung des Gerichts.64 Wertvoll ist Taskers Anmerkung zu V. 14: Das Abschütteln des Staubes markiert jenen Ort als heidnischen Boden, von dem nichts ins „heilige Land“ zurückgetragen werden soll.65 Vers 15, der Schlussvers unseres Abschnitts, erhält besonderen Nachdruck durch die Voranstellung des Amen, ich sage euch: Dem Lande der Sodomer und Gomorrer wird es erträglicher gehen am Tage des Gerichts als jener Stadt. Warum wird die Abweisung der Apostel (vgl. V. 14) so hart geahndet? Weil derjenige, der die Apostel abweist, Jesus selbst und damit Gott abweist (Mt 10,1.7f; Lk 10,16). Zu diesem sehr gefüllten Vers notieren wir noch einige Einzelpunkte: 1) Jesus rechnet mit einem Gericht Gottes am Ende der irdischen Geschichte, wobei der Tag des Gerichts dem alttestamentlichen „Tag des HERRN“ entspricht (vgl. Jes 34,8; Am 5,18ff ). 2) In diesem Gericht sind die göttlichen Urteile nach dem Maßstab vollkommener Gerechtigkeit nicht pauschal, sondern abgestuft. Deshalb kann es einigen erträglicher gehen als anderen (vgl. Mt 11,22.24; Lk 12,47f; 2Kor 5,10). Auffallenderweise hat Jesus mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass es Sodomern und überhaupt manchen Heiden besser ergehen wird als den verurteilten Israeliten (Mt 11,22.24; 12,41.42). 3) Sodomer und Gomorrer sind immer noch die Urbilder für Sünde und Gericht (vgl. Gen 19,24; Jes 9,1; Ez 16,48ff; Am 4,11; Lk 17,29; Röm 9,29; 2Petr 2,6; Jud 7).66 4) Das Gericht ziehen sich die Abweisenden selbst zu, weil sie Jesu Boten zurückweisen. Das Gericht resultiert also nicht aus der Prädestination (Vorherbestimmung). 5) Jesus bereitet die Jünger von Anfang an auf Ablehnung und Verfolgung vor67 (vgl. Mt 5,11f ). Ihre Mission wird kein „Triumphzug“.

62 63 64 65

So Bauer-Aland, 496; Zahn, 401; Sand, 221. So Schlatter, 158; Beare, 243f. Theißen-Merz, 243; Hengel-Schwemer, 373. Tasker, 108; Carson, 246. Noch einmal anders Schniewind, 127: Abschütteln bedeutet, „daß nichts vom Fluch Derer, die Gott abweisen, den Boten Gottes anhaftet“. 66 Strack-Billerbeck I 571ff. 67 Riesner, 472f.

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IV Zusammenfassung 1. Den Mittelteil seines Evangeliums eröffnet Matthäus mit dem Sendungsauftrag an die Apostel. Darin kommt das Werben Jesu um Israel zum Ausdruck. 2. Man darf diesen historisch einmaligen Vorgang68 nicht in eine zeit-unabhängige Missionsinstruktion verwandeln. Wohl aber kann eine typologische Deutung Grundsätze erschließen, die auch für andere Missionsepochen gelten. 3. Einer dieser Grundsätze, die bis heute gelten, lautet: An der Aufnahme der Boten und der Botschaft Jesu entscheidet sich unser Verhältnis zum dreieinigen Gott und damit unser Heil oder unsere Verdammnis. 4. Jesus eröffnet eine doppelte Perspektive: Seine Boten werden Aufnahme finden. Aber sie werden auch auf Ablehnung stoßen. Beides gehört zum Leben der Christen. 5. Dass Jesus den Zwölfen einen solchen Sendungsauftrag gegeben hat, ist als ein echter historischer Vorgang aufzufassen.69

2.2 Die Voraussage des Geschicks seiner Boten, 10,16-39

I Übersetzung 16 Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter70 die Wölfe. So seid71 nun klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben. 17 Hütet euch aber vor den Menschen! Denn sie werden euch den Gerichten übergeben und euch in ihren Synagogen geißeln. 18 Und vor Statthalter und Könige werdet ihr geführt werden um meinetwillen, um ihnen und den Völkern Zeugnis zu geben. 19 Wenn sie euch aber übergeben, dann sorgt nicht, wie oder was ihr reden sollt. Denn es wird euch in jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. 20 Denn nicht ihr seid es, die da reden, sondern der Geist eures Vaters, der in euch redet. 21 Es wird aber ein Bruder den Bruder übergeben, damit er getötet wird, und ein Vater das Kind, und Kinder werden sich erheben gegen die Eltern und sie ums Leben bringen. 22 Und ihr werdet von allen gehasst werden um meines Namens willen. Wer aber beharrt bis zum Ende, der wird gerettet werden. 23 Wenn sie euch aber in der einen Stadt verfolgen, dann flieht in die andere. Denn amen, ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels 68 69 70 71

Hengel-Schwemer, 372f, gegen Luz II 93ff. Mit Schniewind, 127; Hengel-Schwemer a.a.O.; Carson, 245. ἐν μέσῳ [en mesō] = ‫[ ְבּתוְֹך‬bᵉtōk], BDR § 215,3. „Seid“ wie Bauer-Aland, 320; ebenso Schniewind, 126; Fiedler, 230. Luz II 104: „werdet“; ebenso Schlatter, 159.

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nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt. 24 Der Jünger ist nicht mehr72 als der Lehrer, noch der Knecht mehr als sein Herr. 25 Es genügt für den Jünger, dass er wird wie sein Lehrer, und der Knecht wie sein Herr. Wenn sie den Hausherrn Beelzebul genannt haben, um wie viel mehr seine Hausgenossen! 26 Fürchtet euch also nicht vor ihnen! Denn nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt werden wird, und verborgen, was nicht bekannt werden wird. 27 Was ich euch sage in der Finsternis, das sagt im Licht, und was ihr im Ohr vernehmt, das verkündigt auf den Dächern! 28 Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, aber die Seele nicht töten können! Fürchtet euch aber umso mehr vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verloren gehen lassen kann! 29 Kauft man nicht zwei Spatzen um ein As? Und doch fällt keiner von ihnen auf die Erde73 ohne euren Vater. 30 Bei euch aber sind auch die Haare auf dem Kopf alle gezählt. 31 Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen. 32 Jeder nun, der sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem werde ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel. 33 Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den werde ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel. 34 Denkt nicht, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. 35 Denn ich bin gekommen, um den Menschen und seinen Vater und die Tochter und ihre Mutter und die Schwiegertochter und ihre Schwiegermutter zu entzweien. 36 Und die Feinde des Menschen werden seine eigenen Hausgenossen sein. 37 Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert. 38 Und wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nachfolgt, der ist mein nicht wert. 39 Wer sein Leben findet, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.

II Struktur Von V. 16 an weist das 10. Matthäuskapitel eine Fülle von Themen auf. Dementsprechend sind die Gliederungsvorschläge vielgestaltig. Zum Beispiel teilt die Synopse von Aland Mt 10,16-42 auf sechs verschiedene Abschnitte auf. Nur in einem Punkt besteht eine deutliche Mehrheitsmeinung: Matthäus hat das ganze Kapitel sehr bewusst als eine Sammlung von Jesusworten im Anschluss an die Aussendung der Apostel zusammengestellt. Er platziert es an 72 Vgl. BDR § 230,3. 73 Vgl. BDR § 442,4.

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den Beginn des Mittelteils des Wirkens Jesu. Die durchgehende Grundstimmung ist ein Werben um Israel, das aber auf zunehmenden Widerstand stößt. Die Verse 16-23 kündigen gerade diesen Widerstand an, öffnen aber zugleich den Blick in die gesamte künftige Kirchengeschichte. Die Verse 24-25 trösten die Jünger in dieser Situation durch den Hinweis auf Jesu eigenes Schicksal. Die Verse 26-33 sind Verse der Ermutigung, ohne den Ernst der Situation abzumildern. Die Verse 34-39 betonen noch einmal, dass die Jesusnachfolge eine Kreuzesnachfolge sein wird. Damit ist die Untergliederung des Abschnitts Mt 10,16-39 vorgegeben. Unübersehbar bildet Mt 24,9-14 eine enge Parallele zu Mt 10,20-23. Die Eschatologie ist also auch in Mt 10,16ff „drin“. Von daher bestimmt sich der Charakter von Mt 10,16-39 als aktuelle Voraussage mit eschatologischem Hintergrund. Auffallend bleiben die relativ häufigen Imperative des Abschnitts. Sendungsauftrag und Mahnung durchdringen sich. Innerhalb der 11 Imperative in Mt 10,16-39 bildet das viermalige μὴ φοβεῖσθε/φοβηθῆτε [mē phobeisthe/ phobēthēte] bzw. φοβεῖσθε [ phobeisthe] (V. 26.28a.28b.30) eine Gruppe mit besonderem Gewicht. Daraus ergibt sich, dass Jesus vor allem der Furcht der Jünger entgegentreten musste. Dies bedeutet aber nicht, dass eine negative Grundlinie die inhaltlich dominierende positive Grundlinie zudeckt. Diese positive Grundlinie beschreibt sich mit den Worten „Ich sende euch“ – „Es wird euch gegeben, was ihr reden sollt“ – „Wer beharrt, wird gerettet werden“ – „Fürchtet euch nicht“ – „Verkündigt“ – „Bekennt euch zu mir“ – „Ihr werdet euer Leben finden“. Die Sachparallelen in den andern Evangelien, die sich dort in verschiedenen Kapiteln finden, sind an Ort und Stelle zu besprechen. Nur so viel vorweg: Markus fällt hier weithin aus.

III Einzelexegese 2.2.1 Die Sendung trifft auf Widerspruch, 10,16-23 Mit den Worten Siehe, ich sende euch (Ἰδοὺ ἐγὼ ἀποστέλλω ὑμᾶς [Idou egō apotellō hymas]) bezeichnet Jesus den Horizont, in dem alles Folgende bis V. 39 zu verstehen ist. Es ist der Horizont der Sendung der Apostel, genauer: der Horizont der Sendung zu ihrem eigenen Volk, zu Israel (V. 16). Zu senden vgl. die Erklärung bei V. 5. Ich, ἐγώ [egō], ist betont.74 Er, der Messias und Gottessohn, ist der Herr dieser Mission. Das Bildmaterial in V. 16 74 Anders Klostermann, 88. Vgl. BDR § 277,1f. Wie wir Luz II 109; Zahn, 401.

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ist reich, lässt sich aber leicht entschlüsseln. Schafe und Wölfe tauchten schon in der Bergpredigt auf (Mt 7,10), während die Taube in der Taufgeschichte (Mt 3,16) Erwähnung fand. Vergleiche die Erklärungen dort. Alle diese Bildworte haben einen alttestamentlichen Hintergrund und sind auch den Rabbinen bekannt.75 Schafe sind jene Israeliten, die zu Gott gehören (Ps 23,1; 100,3; Ez 34,1ff ). Wenn Jesus die Apostel wie Schafe sendet, hat das etwas sehr Tröstliches und Stärkendes: Als seine Apostel gehören sie wirklich zu Gott, dem „großen Hirten“ (Hebr 13,20). Wölfe bezeichnet jene Mächte, die Israel bedrohen (Hab 1,8; Zeph 3,3; 4Esr 5,18). Wie seltsam, dass jene, die Israel gegen die „Sekte“ der „Nazarener“ (Apg 24,5) verteidigen wollen, von Jesus selbst zu den Wölfen gezählt werden!76 Zweierlei fordert Jesus in dieser Situation von den Aposteln: Erstens dass sie klug wie die Schlangen sind. Vermutlich bezieht sich Jesus hier auf Gen 3,1 wonach die Schlange listiger war als alle Tiere des Feldes.77 Klug (φρόνιμοι [ phronimoi]) wie der Teufel also? Nein. Gefordert ist eine Klugheit ganz anderer Art (vgl. Lk 16,8), nämlich eine Klugheit, die aus der Gottesfurcht geboren wird und aus Gottes Geist und Wort lebt (vgl. Ps 111,10; 119,104.130). Schon in der Bergpredigt forderte Jesus solche Klugheit (Mt 7,24). Fazit: klug wie die Schlangen heißt ebenso klug, wie die Schlangen sind, aber in einer von Gott geschenkten Art. Zweitens fordert Jesus, dass sie arglos wie die Tauben sein sollen. Das griech. ἀκέραιος [akeraios] meint „lauter“ in dem Sinn, dass nichts anderes beigemischt ist bzw. kein anderer Beigeschmack dabei ist. Die Bezeichnung Taube ist ein Kompliment für die betreffende Frau (Hld 5,2; 6,9). Meistens wird die Taube im AT sowieso positiv gewertet (Gen 8,8ff; Ps 55,7; Hld 2,14).78 Hos 7,11 ist eine Ausnahme. Im AT sticht besonders ihre Wehrlosigkeit hervor, so wird sie zum Bild für Juda und für den gläubigen Beter (Ez 7,16; Ps 55,7).79 Für Mt 10,16 reicht aber der Gedanke der Wehrlosigkeit nicht aus. Vielmehr tritt an seine Seite der Gedanke der Arglosigkeit.80 Ob die messianische Deutung von Hld 2,14 einer der Gründe war, weshalb Jesus hier den Maschal von den Tauben gebrauchte, lässt sich nicht sagen. Jedenfalls findet sich der Maschal von den Schlangen

75 Vgl. Strack-Billerbeck I 574f. 76 Vgl. noch Joh 10,12, Apg 20,29; Sir 13,21. 77 So auch Klostermann, 89. Auch Gen 3,1 LXX hat φρόνιμος [ phronimos]. Vgl. W. Foerster, Art. ὄφις, ThWNT, V, 1954, 579f. 78 Auch bei den späteren Rabbinen (Strack-Billerbeck I 574f ). 79 Vgl. H. Greeven, Art. περιστερά usw., ThWNT, VI, 1959, 66. 80 Greeven a.a.O., 69.

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und den Tauben nur bei Matthäus.81 Möglicherweise geht er auf ein profanes Sprichwort zurück.82 Er sorgt dafür, dass „die Norm in Geltung (bleibt), daß das Herz rein und das Auge lauter sei“.83 Wie sollen die Apostel unter solchen Maßgaben in einer gefährlichen Welt missionieren, wo „der Mensch dem Menschen ein Wolf “ ist? Sie können nur existieren, wenn Gott vom Himmel her real in unsere Welt eingreift. Hütet euch aber vor den Menschen! (V. 17): Das griech. δέ [de] ist hier kopulativ84 und hat den Sinn von „also“. Die Menschen fasst Juden und Heiden zusammen. Es gibt also keine sicheren Rückzugsgebiete. Vielmehr sind Jesu Jünger überall da bedroht, wo Menschen sind. So steht es auch in Joh 15,18ff. Προσέχετε [Prosechete], „seid auf der Hut“,85 bedeutet aber nicht den Verzicht auf Mission. Vielmehr bedeutet es, während der Mission auf die Menschen im Umfeld aufmerksam, klug und innerlich lauter zu achten. Die Verse 17-23 enthalten nun eine ausführliche Prophezeiung künftiger Verfolgungen: Denn sie werden euch den Gerichten übergeben (παραδώσουσιν γὰρ ὑμᾶς εἰς συνέδρια [ paradōsousin gar hymas eis synedria]) bezieht sich noch auf Israel. Denn συνέδρια [synedria] – Plural von „Sanhedrin“ – ist typisch für Israel. Als συνέδριον [synedrion] bezeichnete man nicht nur den Hohen Rat in Jerusalem, sondern auch die kleineren Gerichtshöfe im Israelland, die mit 23 Personen besetzt waren. Dreiundzwanzig waren es, weil in Num 35,24f eine „richtende Gemeinde“ und eine „rettende Gemeinde“ (10+10=20) erwähnt wird, weil außerdem nach Dtn 19,15 zwei Zeugen hinzuberufen wurden, und weil schließlich kein Gerichtshof mit einer geraden Zahl von Richtern besetzt sein sollte, sodass noch eine weitere Person hinzutreten musste.86 In Mt 10,17 meint Jesus vermutlich diese kleineren Gerichtshöfe.87 Wer die Jünger den Gerichten übergibt, sagt Jesus nicht im Einzelnen. Genug, dass die Apostel darauf vorbereitet sind. Auf Israel bezieht sich auch die Ankündigung sie werden euch in ihren Synagogen geißeln. Man denke an 2Kor 11,24: „Von den Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen“ (nach Dtn 25,3), sowie Apg 5,40; 22,19. Das ihre bei den Synagogen sollte man nicht als Distanzierung vom Judentum missverste81 Vgl. Klostermann a.a.O. Aber häufig zitiert: IgnPol II, 2; 2Clem 5,2; Ev. Ebion; Ev. Thomae, s. Aland Syn, 141. 82 So Bultmann Gesch, 107; Greeven a.a.O. 83 Greeven a.a.O. 84 Vgl. BDR § 447; Carson, 248. 85 Vgl. Bauer-Aland, 1431. 86 Vgl. Strack-Billerbeck I 575; Sanh I, 6. 87 Strack-Billerbeck a.a.O. Nach Luz II 110 ist nur „allgemein“ von Gerichtshof die Rede. Vgl. jedoch E. Lohse, Art. συνέδριον, ThWNT, VII, 1964, 864f.

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hen.88 Es kennzeichnet diese Synagogen nur als solche, in denen die Gegner Jesu die Mehrheit haben. Ausgeführt wurde die Geißelung vom Synagogendiener.89 Hier liegen schon Charakteristika einer Verfolgungssituation vor. Klostermann kam deshalb zu der Auffassung, Mt 10,17-22 passe nicht in die damalige Situation, weil hier eine „ausgesprochene Verfolgung“ geschildert werde.90 Aber Jesus hat schon seit der Bergpredigt (Mt 5,10ff ) mit Verfolgung gerechnet und darauf vorbereitet. Wie rasch sie seine Jünger traf, zeigen Joh 7,13; 9,22; 12,42; Apg 4ff. Jedoch hat das Urteil Klostermanns auch einen Wahrheitskern: Mt 10,17ff blickt nicht nur auf die Apostel zur Zeit Jesu, sondern enthält typische Züge, die auch in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten zutage traten. Vers 18 erweitert den Blick auf Verfolgungen durch die Heiden: Und vor Statthalter und Könige werdet ihr geführt werden um meinetwillen, um ihnen und den Völkern Zeugnis zu geben. Statthalter, ἡγεμών [hēgemōn], hießen die kaiserlichen Statthalter in den Provinzen des Römischen Reiches, auch die Prokuratoren von Judäa wie beispielsweise Pontius Pilatus.91 Könige, βασιλεῖς [basileis], ist eine Bezeichnung, die auch die römischen Kaiser einschließt. Wieder hat die Geschichte die Prophezeiung Jesu bestätigt: Jakobus, der Bruder des Johannes, wurde durch König Herodes Agrippa I. getötet (Apg 12,2), Paulus wurde vor den römischen Kaiser geführt (Apg 25,10ff ). Von da an standen Christen ununterbrochen vor Statthaltern und vor Königen. Um meinetwillen geschieht das, sagt Jesus. Das heißt: Solange es eine Jesusverkündigung gibt, so lange wird es auch Verfolgung geben. Aber gerade dadurch wird der ganzen Völkerwelt das Zeugnis von Jesus bekannt gemacht. Die positive Grundlinie der Verse 16-39 kommt also gerade hier in V. 18 zum Ausdruck! Vergleiche dazu Apg 9,15; 26,2; 27,24 sowie Ps 119,46. In den Versen 19 und 20 verspricht Jesus den Verfolgten den Beistand des Heiligen Geistes: Wenn sie euch aber übergeben, dann sorgt nicht, wie oder was ihr reden sollt (V. 19). In einer etwas veränderten Situation überliefert Lukas in 12,11f ganz ähnliche Jesusworte. Wir müssen damit rechnen, dass Jesus solche Verheißungen öfter ausgesprochen hat. Für sorgen steht dasselbe Wort wie in Mt 6,25ff. Das wie betrifft die Art, wie man sich äußert, das was die Auskunft, die man gibt oder evtl. auch nicht gibt. Die Aufgabe, richtig zu reden, hat die frühe Christenheit stark beschäftigt. Man denke an 88 89 90 91

Carson, 248. b Makk 22b/23a. Klostermann, 89; ebenso später Luz II 111. Bauer-Aland, 695.

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Paulus in 1Kor 1,17; 2,4ff; Kol 4,6 oder an Jakobus in Jak 3,1ff. Sie ist aber auch heute noch lebensentscheidend für viele Christen in der Verfolgung. Denn es wird euch in jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt:92 Gegeben werden (δοθήσεται [dotēsetai]) ist Passivum divinum, der Sinn demnach: „Gott wird es euch geben.“ In jener Stunde bedeutet „zu jenem Zeitpunkt, in dem es darauf ankommt“. Also nicht früher, aber auch nicht zu spät. Die Zusage, dass Gott das richtige Wort in den Mund legt,93 haben einst Mose und die Propheten bekommen (Ex 4,12; Dtn 18,18; Jer 1,9). Jesus stellt die Apostel hier also den Propheten gleich.94 Vers 20 enthält ein zweites Denn, das die Sorge nehmen soll: Denn nicht ihr seid es, die da reden, sondern der Geist eures Vaters, der in euch redet. Matthäus spricht selten vom Heiligen Geist95 (vgl. jedoch 3,11.16; 12,25ff; 28,19). Aber nach ihm leben die Christen so selbstverständlich im Heiligen Geist wie bei Paulus (Mt 28,19). Gerade in der Verfolgung wird dessen Beistand entscheidend. Matthäus nennt ihn hier den Geist eures Vaters (τὸ πνεῦμα τοῦ πατρὸς ὑμῶν [to pneuma tou patros hymōn]). Das macht wie in der Bergpredigt (vgl. Mt 6,25ff ) die Jünger Jesu gewiss, dass sie Kinder ihres himmlischen Vaters sind, der sie nicht im Stich lässt.96 Dass sein Geist in euch redet, bedeutet eine ganz bestimmte Markierung: a) nur Gottes Kinder können den Heiligen Geist in sich tragen,97 b) der Geist formuliert sich zwar in schwachen menschlichen Worten, wirkt aber mit göttlicher Kraft. Vermutlich hat sich Paulus in 1Kor 2,4.13 auf dieses Jesuswort bezogen.98 Man muss aber auch wahrnehmen, was hier nicht steht: Es gibt keinerlei Zusicherung Jesu, dass der Beistand des Heiligen Geistes zur Freilassung der Verfolgten führt. Das Wirken des Heiligen Geistes kann ebenso gut die Verhärtung des Richters wie seine Milde oder gar Bekehrung zur Folge haben. Die Besonderheit von V. 21 liegt darin, dass er von den Behörden (Gerichten/Synagogen/Statthaltern/Königen) übergeht zu den Individuen, die bei der Verfolgung der Apostel und Jünger eine Rolle spielen. Überraschenderweise sind es die engsten Familienangehörigen: Es wird aber ein Bruder den Bruder übergeben, damit er getötet wird (εἰς θάνατον [eis thanaton]), und ein 92 93 94 95 96 97

Zur Grammatik vgl. BDR § 368,4. Davies-Allison II 185: „a … reassurance“. Vgl. Davies-Allison a.a.O. Carson, 249. Vgl. Davies-Allison II 184. Zu Recht warnt Carson, 249, davor, die Wendungen ihr und der Geist zu sehr als Gegensatz zu betrachten. 98 Davies-Allison a.a.O. erinnern daran, dass der Geist des Vaters bei der Taufe Jesu geredet hat.

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Vater das Kind, und Kinder werden sich erheben gegen die Eltern und sie ums Leben bringen. Wir erleben das heute im Iran und in Arabien, aber auch in Deutschland. Die Erfüllung des Wortes Jesu liegt auf der Hand. Dabei ist die Rede nicht von Fahrlässigkeiten, die zum unbeabsichtigten Tod des andern führen, sondern von absichtlichen Handlungen: damit (εἰς [eis]).99 θανατώσουσιν [thanatōsousin] = „umbringen“, auch bezüglich „der Verurteilung z. Tode“.100 Wenn man dem Christentum vorwirft, dass es die Glaubensbindung über die Familienbindung setzt (vgl. Mt 10,37), dann trifft dasselbe für die Gegner des Christentums zu, siehe Mt 10,21. Für Juden (Dtn 33,9ff ) und erst recht Muslime gilt dasselbe. Besonders schlimm ist die Empörung der Kinder gegen die Eltern. Sie nehmen den Menschen, die ihnen das Leben gaben, ihr Leben. Als die Verderbnis im Nordreich ihren Höhepunkt erreicht hatte, beklagte Micha solche Zustände im 8. Jh. (Mi 7,5ff ). Jetzt hören wir von Jesus, dass es der Gemeinde des Neuen Bundes ebenso gehen wird. Fiedler weiß als Ursache dieser katastrophalen Vorgänge nur anzugeben, dass „die Entscheidung, sich der Messias-Jesus-Gemeinschaft anzuschließen, … weithin individuell“ fiel.101 Dass solche Dinge in der Endzeit geschehen werden, erwartet auch die jüdische Apokalyptik (ä Hen 100,1ff; 4Esr 5,9; 6,24; vgl. Jes 19,2).102 Evtl. ist bei dem Begriff Bruder auch der geistlich-übertragene Sinn, also der Glaubensbruder, eingeschlossen. Dass Mt 10,21 die nachösterliche Perspektive „einschließt“, ist mit Davies-Allison zu bejahen.103 Der Vers hat aber zugleich reale Ansatzpunkte in der Zeit Jesu, wenn man beispielsweise an manche Spannungen zwischen Jesus und seiner Familie denkt (Mk 3,21.31ff; Joh 7,5).104 Die beiden Sätze in V. 22 umgreifen ein unwahrscheinlich breites Spektrum. Der erste: Und ihr werdet von allen gehasst werden um meines Namens willen erinnert sofort an Joh 15,18ff, aber auch an Joh 16,2 und Mt 5,10ff.105 Jesus hat also oft davon gesprochen und seine ganze Kirche auf die Verfolgung vorbereitet. Alle, schreibt Fiedler,106 dürfe „nicht wörtlich“ verstanden werden. Aber damit bricht er dem Wort die Spitze ab. Alle: das sind 99 Vgl. BDR § 207,4. 100 Bauer-Aland, 714. Davies-Allison II 186: „hand over to be killed“. Vgl. R. Bultmann im Art. θάνατος usw., ThWNT, III, 1938, 21f; Zahn, 405. 101 Fiedler, 231. 102 Vgl. Davies-Allison II 186. 103 Davies-Allison II 186. 104 Vgl. Riesner, 488. Beare, 245, lehnt einen Bezug auf die Zeit Jesu radikal ab. Richtig Luz II 113; Hengel-Schwemer, 290. 105 Davies-Allison II 187. 106 Fiedler, 232.

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Juden und Heiden, Verwandte (V. 21) und Ferne, Behörden und Individuen. Das sind auch sämtliche anderen Religionen – heute oft übertüncht. Gehasst (μισούμενοι [misoumenoi]) werden nicht die Personen der Jünger als solche, sondern der Hass ist ein Christushass: um meines Namens willen. Der Christushass kann sich sogar mit persönlicher Sympathie für einzelne Christen verbinden. Von allen gehasst: Das lässt weder für die Zeit Jesu noch danach einen „safe haven“ zu.107 Nirgends sind Christen sicher. Es gibt keinen „Bergungsort“.108 Zu μισούμενοι [misoumenoi] schrieb Otto Michel: „es wird zur Anfechtung und zum Zeichen der apokalyptischen Zukunft.“ Sollen die Christen mit Gegen-Hass antworten? Das ist ausgeschlossen. Denn die konstante Lehre Jesu und der Apostel verbietet den Hass, ja gebietet sogar die Liebe zu den Verfolgern (Mt 5,43ff; Lk 6,27ff; Röm 12,19ff ). Der zweite Satz in V. 22 lautet: Wer aber beharrt bis zum Ende, der wird gerettet werden (οὗτος σωθήσεται [houtos sōthēsetai]). Nicht der Starke wird hier gelobt, nicht der, der dagegenschlägt, nicht der, der diplomatisch alle Klippen umschifft, sondern ὁ ὑπομείνας [ho hypomeinas] = der, der beharrt, der „drunterbleibt“, „standhält“, „durchhält“, „aushält“.109 Ein grandioses Beispiel für dieses „Drunterbleiben“ sind die orientalischen Kirchen, die 1400 Jahre Moslem-Herrschaft aushielten. Bis zum Ende (εἰς τέλος [eis telos]) meint a) das Ende des Lebens (Märtyrer!), b) das Ende dieses Äons (vgl. 1Kor 1,8; 2Tim 2,12; Hebr 10,36.39; Jak 5,11; Offb 13,10; Did 16,5110 sowie Dan 12,12f; Mi 7,7; Hab 2,3; 4Esr 6,18ff ).111 Mt 10,22 ist insofern ein beeindruckendes Beispiel für die Zuversicht Jesu: Es wird tatsächlich Jünger geben, die bis zum Ende treu bleiben. Hier kommt mit aller Vehemenz erneut die positive Grundlinie von Mt 10,16-23 zum Vorschein: Bis ans Ende der Welt wird es treue Jesusnachfolger geben. Die Nachwirkung gerade von Mt 10,22 war enorm. Zitiert wird es in der Didache 16,5, bei Justinus Dial c Tryph 82,1f, Augustinus DCD XIV, 9 und Cyprian Vom Segen der Geduld 11f.112 Für die heutige Situation bleibt bedenkenswert, was Schlatter zu Mt 10,22 äußerte: „Wenn das ganze Volk sie einmütig verurteilt und jedermann darüber sicher ist, daß Jesus nichts als ein Verführer war und seine Jünger verblendete 107 Davies-Allison a.a.O. 108 Gegen Friederich und die Templer, die die Wahrheit des Wortes Jesu so bitter erfahren mussten. 109 Bauer-Aland, 1685. 110 Davies-Allison a.a.O. 111 Carson, 250; Zahn, 405. 112 Texte KV I, 484; III, 133.

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und bösartige Menschen sind, dann braucht es Kraft, daß sie bei ihm bleiben.“113 Der Schlussvers unseres Unterabschnitts, V. 23, verursacht besondere Verständnisschwierigkeiten. Davies-Allison sprechen von „very difficult questions“.114 Relativ leicht verständlich ist noch der erste Satz: Wenn sie euch aber in der einen Stadt verfolgen, dann flieht in die andere. Das ist nichts anderes als eine Konkretisierung der Anweisung in V. 14. Wie das in der Praxis aussah, kann man Apg 8,1 entnehmen. Schwieriger aber ist der zweite Satz: Denn amen, ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt. Mit anderen Worten: Die Apostel, die hier angeredet sind (V. 5ff ), werden vor der Wiederkunft Jesu gar nicht alle Städte Israels missionieren können, sondern nur einen Teil. Der Begriff Stadt verknüpft V. 23 mit V. 5.11.14 und 15. Durch die Bezugnahme auf die Wiederkunft115 scheint unser Wort in eine Reihe mit Aussagen wie 16,28; 24,34 zu gehören, die allesamt als akute Naherwartung gedeutet werden können. Ergibt sich nun aus der Tatsache, dass Jesus bisher nicht wiederkam, der Schluss, „daß sich Jesus in seiner Naherwartung getäuscht hat“ (so Ulrich Luz116)? An dieser Stelle ist es gut, einen Blick auf die Geschichte zu werfen. Sie zeigt, dass Christen schon zu Anfang der 30er-Jahre des 1. Jh. Jerusalem verlassen mussten, weil die Verfolgung zu schwer wurde und der Fall von V. 23a eintrat (Apg 8,1ff ). Sie zeigt, dass man sich Samarien und der teilweise heidnischen Mittelmeerküste zuwandte, bevor man überall im Israelland Fuß gefasst hatte (Apg 8–10). In Jerusalem gingen die Verfolgungen weiter (Apg 12,1ff ). Sie gipfelten in der Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus im Jahre 62 n.Chr. Dann brach auch schon der Jüdisch-Römische Krieg von 66–73 n.Chr. aus, der die Christen nach dem Wort Jesu (Mt 24,15ff ) zur Flucht aus dem Israelland trieb. Das heißt: Die Apostel sind bei ihrer Mission tatsächlich mit den Städten Israels nicht zu Ende gekommen.117 Wir sind es bis heute nicht. Unter diesen Umständen kann man Jesus nicht vorwerfen, er habe „sich 113 Schlatter, 161. 114 Davies-Allison II 187. France, 184: „a centre of controversy“. Vgl. Carson, 250; Tasker, 108. 115 Allerdings ist umstritten, ob es in Mt 12,23 wirklich um die Wiederkunft Jesu geht, vgl. France, 185: „It is far from clear that any reference to the parousia ist intended.“ Tasker, 108: Herrschaft Christi nach der Auferstehung. Von der Wiederkunft gehen Schlatter, 161f; Beare, 245; Zahn, 405ff aus. 116 Luz II 114. 117 In meinem früheren Kommentar (I, 351f ) deutete ich Mt 10,23b von der Verstockung Israels her, was sachlich auf dasselbe hinausläuft.

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getäuscht“. Allerdings muss man neben Mt 10,23 auch Mt 23,39 beachten. Dort prophezeit Jesus: „Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ In der Zukunft wird ihn also ganz Israel als den Messias sehen. Dann wird das Evangelium vom Messias und Welterlöser bis in die letzten Städte und Dörfer Israels dringen. Aber eben erst, wenn der Menschensohn (wieder-)kommt! Mit der Annahme, Jesus habe sich in Mt 10,23 getäuscht, belädt sich die kritische Exegese überdies mit einem neuen Problem. Sie setzt ja das Matthäusevangelium in die Zeit ca. 80–100 n.Chr. Welches Interesse soll der Verfasser des Evangeliums runde 50 Jahre nach den Ereignissen gehabt haben, eine unerfüllte Prophetie in sein Evangelium aufzunehmen?118 Mt 10,23b ist ja Sondergut des Evangelisten! So viel ist jedenfalls klar: Für Matthäus stellt V. 23 eine erfüllte Prophetie dar und keine Täuschung Jesu.119

IV Zusammenfassung 1. Nach Mt 10,16.23 trifft die Sendung der Apostel in Israel auf Widerstand. Die nüchterne Beurteilung dieser von Jesus prophezeiten Situation darf aber nicht dazu führen, den positiven und dominierenden Grundton dieser Verse zu überhören: Das ist die Prophezeiung, dass die Mission von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, ja sogar von Land zu Land unaufhaltsam weitergehen wird. 2. Dabei kommt dem Beistand des Heiligen Geistes eine Schlüsselrolle zu. Die Verheißung des „Geistes eures Vaters, der in euch redet“ (Mt 10,20), wurde in der Geschichte der Märtyrer wieder und wieder gehört und ihre Erfüllung erlebt. Als Beispiel zitieren wir aus Cyprians Brief an die Verfolgten (250 n.Chr.): „Ein Wort, des Heiligen Geistes voll, war es, das dem Munde des Märtyrers entströmte, als der hochselige Mappalicus inmitten seiner Qualen zum Prokonsul sprach …“120 3. Für die Verkündiger Jesu gibt es nur ein duldendes Leiden: „Throughout chapter 10 it is presupposed that Christian missionaries suffer passively.“121 Einen Aufruf zur Gegenwehr, zum Dschihad, gibt es bei Jesus nirgends (vgl. Offb 13,10). Dabei gab es schon im 1. Jh. n.Chr. eine Reihe von Blutzeugen:

118 Einen Ausweg findet man darin, dass Mt 10,23 gar nicht von Jesus stamme. So TheißenMerz, 234. 119 Ganz anders Luz II 117: „daß für Matthäus unser Logion teilweise nicht mehr galt“ (!). Wie wir Schniewind, 131. Ähnlich Hengel-Schwemer, 538. 120 Texte KV IV, 74. 121 Davies-Allison II 184.

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Johannes der Täufer, Jesus selbst, Stephanus, der Herrenbruder Jakobus, Jakobus der Sohn des Zebedäus, Petrus, Paulus, Antipas. 4. Aus heutiger Sicht ist Mt 10,16-23 weithin erfüllte Prophetie. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten gegenwärtiger Exegese, dass sie über diesen ja gar nicht selbstverständlichen Tatbestand fast achtlos hinweggeht. 5. Historisch nimmt man weithin an, dass Jesus selbst eine solche Sendung an Israel vorgenommen hat.122 Gelegentlich findet man freilich auch die Meinung, es sei nur eine „Behauptung“ des Matthäus, „dass Jesus selbst solche Verfolgungen angekündigt“ hat;123 oder die Meinung, bei Mt 10,17ff handle es sich im Wesentlichen um „jüdische Worte“.124 Vor allem bei Mt 12,23 ist heiß umstritten, ob es sich um ein echtes Jesuswort handelt.125 Mit Zahn, Schniewind, Hengel-Schwemer und Carson126 nehmen wir aber an, dass Mt 10,16-23 in die damalige Situation passt und dass die Aussage des Matthäus, es seien Worte Jesu, nicht widerlegt werden kann.

2.2.2 Der Blick auf den Herrn tröstet, 10,24-25 Im Kontext von Mt 10,5-42 haben die Verse 24 und 25 eine tröstliche Funktion. Sie besagen: Wenn es mir, Jesus, eurem Haupt und Herrn, so geht, dann dürft ihr euch über Widerstand und Verfolgung nicht verwundern.127 StrackBillerbeck haben dazu einige spätere rabbinische Parallelen gesammelt,128 die aber die Zuspitzung und Inhaltsfülle der Jesusworte nicht erreichen. Der Jünger ist nicht mehr als der Lehrer, noch der Knecht mehr als sein Herr (V. 24): Hier scheint eine „sprichwörtliche Redensart“ vorzuliegen.129 Wir finden sie ähnlich in Lk 6,40 und Joh 13,13f; 15,20. Geschichtliche Beispiele konnte Israel im Verhältnis Mose/Josua und Elia/Elisa (vgl. 2Kön 2,9) entdecken. Natürlich zeigt die Lebenserfahrung, dass es auch andere Beispiele gibt, in denen Schüler ihre Lehrer, Knechte ihre Herren übertreffen. Aber Jesus spricht hier nicht über die Wahrheit von Sprichwörtern, sondern benutzt sie als guter Pädagoge, um etwas für ihn Wichtiges auszudrücken. In den Worten von Joh 15,20 lautet seine Botschaft: „Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen.“ Die Begriffe μαθητής

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Vgl. Hengel-Schwemer, 538. So Fiedler, 230. Bultmann Gesch, 129. Vgl. Davies-Allison II 187. Zahn, 405ff; Schniewind, 131; Hengel-Schwemer, 538; Carson, 250ff. Schluss a maiore ad minus. Vgl. Riesner 258ff.473. Strack-Billerbeck I 577f. Strack-Billerbeck I 578; Gaechter, 340.

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[mathētēs] = Talmid, διδάσκαλος [didaskalos] = Rabbi, δοῦλος [doulos] = Ebed und κύριος [kyrios] = Mare sind ganz aus seinem Umfeld genommen. Der erste Satz von V. 25 wiederholt das in V. 24 Gesagte. Möglicherweise liegt in dem ἀρκετόν [arketon] (es genügt) aber auch eine Mahnung: „Denkt nicht, dass ihr eine Nachfolge ohne Leiden schaffen oder anstreben solltet“ (vgl. Mt 16,22f ). Bei solchen Versuchen, dem Leiden zu entrinnen, ist ja die abendländische Christenheit sehr erfinderisch. Der zweite Satz wirkt dagegen wie ein Fanal: Wenn sie den Hausherrn Beelzebul genannt haben, um wie viel mehr seine Hausgenossen! Der Hausherr (οἰκοδεσπότης [oikodespotēs]) ist Jesus. Das ist nicht selbstverständlich. Denn in der Regel wird Gott, der Vater, als οἰκοδεσπότης [oikodespotēs] bezeichnet.130 Mit οἰκοδεσπότης [oikodespotēs] spielt Jesus also auf seine göttliche Würde an. Und wie im AT Haus eine der Bezeichnungen für das Volk Gottes ist (Num 12,7), so betrachtet Jesus offenbar seine Gemeinde jetzt schon als ein „Haus Gottes“.131 Hinter Mt 10,25 stecken also hochinteressante ekklesiologische Strukturen. Aber nun kommt es auf etwas anderes an: Der οἰκοδεσπότης [oikodespotēs] Jesus wird von den Gegnern Beelzebul genannt. Man kann sich das im Anschluss an Mt 9,34 gut vorstellen. Aber auch die Beelzebul-Debatte in Mt 12,24ff gibt ja kein Datum an, sodass solche Vorwürfe schon länger zirkulieren konnten. Der Begriff Beelzebul macht Schwierigkeiten.132 Die HSS überliefern „Beezebul“, „Beelzebub“ und „Beelzebul“. Heute betrachtet man überwiegend die Lesart Beelzebul als die ursprüngliche.133 Ein Bezug auf den Gott von Ekron in 2Kön 1,2, Baal-Zebub = „Herr der Fliegen“, ist vermutlich gegeben. Man nimmt an, dass dieses Baal-Zebub eine tendenzielle Entstellung des noch älteren Baal-Zebul = „Herr (oder Gott) der Wohnung“ darstellt.134 Jedenfalls ist für die Pharisäer zur Zeit Jesu Beelzebul ein Dämonenfürst (Mt 12,24; Lk 11,15), der Jesus die Kraft zur Dämonenaustreibung gibt. Jesus fasst diesen Tatbestand zusammen in die Wendung sie haben mich Beelzebul genannt. In ihren Augen galt Jesus als besessen (Mk 3,30; Joh 7,20; 8,48; 10,20). Dass Jesus dieser Vorwurf tief verwundet hat, kann man Mt 10,25 abspüren.135 Um wie viel mehr werden dann seine Hausgenossen beschul130 131 132 133

Vgl. Bauer-Aland, 1131. Vgl. O. Michel, Art. οἶκος usw., ThWNT, V, 1954, 122ff. BDR § 39,10. Bauer-Aland, 277f; Nestle-Aland28 zur Stelle; Gaechter, 340; Zahn, 407f. Anders freilich W. Foerster, Art. Βεεζεβούλ, ThWNT, I, 1933, der mit B und ‫ א‬diese Form für die ursprüngliche hält (605f ). 134 Auch die Ableitung von baal-zibbul = Herr des Mistes (= der heidnischen Opfer) wird vertreten: Gaechter a.a.O. 135 Schlatter, 163: „das Schlimmste, was Jesus damals erlitten hat“.

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digt werden! Für Hausgenossen steht das griech. οἰκιακοί [oikiakoi], das „die Familien- od. Geschlechtsgenossen“ bezeichnet.136 Es liegt hier schon der Gedanke von der „Familie Gottes“ vor, der eine so starke Wirkungsgeschichte haben sollte (vgl. Mt 12,46ff; Eph 2,19ff; Hebr 3,1ff ). Auch die Jünger werden demnach als Besessene bezeichnet werden, die vom Teufel inspiriert sind. Das wird ein Höhepunkt der Verfolgung sein. Die Behandlung von Christen in psychiatrischen Krankenhäusern ist ein modernes Beispiel, das uns die Wahrheit der Worte Jesu bewusst macht.

IV Zusammenfassung 1. Jesus vermittelt den Jüngern „Gelassenheit“, „Geduld“,137 letzten Endes Trost,138 indem er auf sein eigenes Schicksal hinweist. Was sie an ihrem Lehrer, Herrn und Hausherrn sehen, werden sie selbst erfahren. Sie brauchen dann nicht erstaunt oder entsetzt zu sein (vgl. Joh 14,25; 16,1). Daraus ergibt sich eine tiefe Gemeinschaft im Leiden zwischen dem Herrn und den Jüngern (vgl. Phil 3,10). Im Rückblick erkennt man zwei weitere wichtige Linien: 2. Nach Mt 10,24f hat Jesus von Anfang an mit seinem Leidensweg gerechnet.139 3. Es gibt keine Nachfolge und keine Kirche ohne Leiden. Das Leiden ist konstitutiv für die Kirche.

2.2.3 Ermutigung zum Zeugnis, 10,26-33 Die positive Grundlinie des Kapitels setzt sich in Mt 10,26-33140 fort: Fürchtet euch also nicht vor ihnen! (V. 26). Drei Mal begegnet dieses Fürchtet euch nicht! in unsern Versen (26.28.31). Die Furcht der Apostel war groß. Unsere ist noch größer. Das οὖν [oun] (also) zieht die Konsequenz aus dem Vorigen. Weil sie das alles vorauswissen, weil sie in der Gemeinschaft mit Jesus stehen, deshalb brauchen sie sich nicht zu fürchten. Ihnen bezieht sich ganz allgemein auf alle Verfolger in der Geschichte. Jesus fasst also in V. 26ff die Erfahrungen der

136 137 138 139 140

Bauer-Aland, 1131. Gaechter, 340; Carson, 253. Luz II 121. Carson, 253. Im Einzelnen differieren die Abgrenzungen, so z.B. Gaechter, 341: 10,26-31 als „Gottes Schutz“; Zahn, 407: 10,24-33.

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Israelmission mit den Erfahrungen der gesamten Missionsgeschichte zusammen.141 Er nennt in V. 26 noch einen weiteren Punkt: Denn nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt werden wird, und verborgen, was nicht bekannt werden wird. Man kann auch hier an ein Sprichwort denken142 (vgl. Lk 12,2f; Mk 4,22; Lk 8,17). Der Sinn ist: Man kann nichts geheim halten. Am wenigsten die Zugehörigkeit zu Jesus! Anders versteht Albrecht Oepke unsern Vers: Er wolle sagen, „daß Gott die Reichsgottesbotschaft trotz aller Unscheinbarkeit und trotz aller Anfeindung öffentlich zur Geltung bringen wird.“143 Aber es geht im ganzen Kontext um das Verhalten der Jünger und nicht um das Handeln Gottes. Darum hat auch V. 27 im Verhältnis zu V. 26 epexegetischen Charakter.144 Noch einmal anders Zahn: Gott wird die Anfeindung Jesu ans Licht ziehen und richten.145 Eine solche eschatologische Deutung ist an sich richtig und in Mt 10,26 auch nicht ausgeschlossen. Aber das Spezifische von Mt 10,26 liegt doch in einer Ermutigung für „Hier und Jetzt“ und nicht im Verweis auf das Endgericht.146 Vers 27 zieht die praktische Konsequenz aus V. 26 und erklärt zugleich den Vers: Was ich euch sage in der Finsternis, das sagt im Licht, und was ihr im Ohr vernehmt, das verkündigt auf den Dächern! Rainer Riesner hat aus diesem Vers den Schluss gezogen, dass Jesus zunächst „esoterisch“ lehrte, aber diese Lehre in der Öffentlichkeit bekannt gemacht haben wollte.147 So viel ist jedenfalls deutlich: Alles, was Jesus sagt, soll nicht Geheimwissen bleiben, sondern hinaus ins Licht der Öffentlichkeit. Für Christen gibt es keine Geheimlehre.148 Erst recht darf eine drohende Verfolgung den Jüngern nicht den Mund verschließen. Finsternis bedeutet hier natürlich nicht die Welt des Gottfeindlichen, sondern das Abseits von der Öffentlichkeit: „Jesus’ private teaching“.149 Die Worte: was ihr im Ohr vernehmt, wörtlich „was ihr 141 Gaechter, 342, fasst nur noch die Kirchengeschichte ins Auge und will in Mt 10,26ff deshalb nur noch „Worte des Auferstandenen“ annehmen. 142 Ist Hillel in P. Abot II, 4 vom selben Sprichwort ausgegangen? Vgl. Strack-Billerbeck I 579; A. Oepke, Art. καλύπτω usw., ThWNT, III, 1938, 559: „Allgemeinsatz“. 143 Oepke a.a.O.; ebenso Art. κρύπτω, a.a.O.; Riesner, 482. 144 Wie wir Bultmann Gesch, 99f; Schniewind, 132; Schlatter, 163; France, 186; Carson, 254; Flusser, 256; schon Irenäus Adv. haer. praefatio. 145 Zahn, 408f. Ebenso Luz II 125f unter Hinweis auf Hilarius, Hieronymus, Theodor von Mopsuestia, Cyrillus Alex.; ferner Fiedler, 233; Jeremias Gleichnisse, 219. 146 Das hat auch Jeremias a.a.O. gespürt. 147 Riesner, 466f.482. 148 Flusser, 257: Jesus ist „antiesoterisch“. 149 France, 186; Carson a.a.O.: „in private“. Anders Schniewind, 132: die „Rätselworte“ Jesu seien gemeint.

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ins Ohr hört“, bezeichnen in einem Parallelismus membrorum denselben Vorgang wie die erste Hälfte des Verses. Sie meinen also die Jüngerunterweisung, bei der noch keine Öffentlichkeit hergestellt ist. Aber sie muss hergestellt werden! Das verkündigt auf den Dächern: Die orientalischen Flachdächer bildeten eine „natürliche Plattform für eine öffentliche Ansprache“,150 einen „excellenten Platz für Redner“.151 In der Literatur zieht man eine Parallele zum jüdischen Gottesdienst, bei dem der Prediger einen Meturgeman zur Seite hatte, dem er seine Ansprache zuflüsterte und der diese dann laut an die Zuhörer weitergab.152 Wir wissen aber nicht, ob schon zur Zeit Jesu solche Verhältnisse herrschten. Auch esoterische Lehren flüsterte man einander zu.153 In diesem Zusammenhang erinnern wir uns an die Aussage Jesu im Prozess: „Habe ich doch täglich im Tempel gesessen und gelehrt“ (Mt 26,55; vgl. Lk 19,47). Hinaus mit der Botschaft! – das bleibt bis heute die Devise der Gemeinde Jesu. Vers 28 wird von der Literatur der „Martyriumsparänese“154 zugerechnet. Welche Begriffe! Als ginge es um die Einschätzung von Literaturgattungen und nicht um die blutige Wirklichkeit. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, aber die Seele nicht töten können! Ein zweites Mal erklingt das fürchtet euch nicht (μὴ φοβεῖσθε [mē phobeisthe]), vgl. V. 26. Ganz zielbewusst stellt Jesus seine Apostel und Jünger unter eine Ermutigungsbotschaft. Hier ist sie so dicht wie sonst nirgends im Evangelium. Diejenigen, die den Leib töten, aber die Seele nicht töten können, sind die Herrscher der Welt. Der Sprachgebrauch Jesu erinnert an 4Makk 13,14: „Wir wollen uns vor dem nicht fürchten, der da meint, er könne töten.“155 Dort geht es um das Martyrium von sieben Brüdern und ihrer Mutter zur Zeit der Makkabäer, vgl. 2Makk 7,1ff. Die „Fürchte dich nicht“-Botschaft ist aber nicht nur bei den Märtyrern, sondern auch bei Propheten (Jes 8,11ff; Jer 1,8; Ez 3,9) und den frühen Christen (1Petr 3,14; Offb 2,10) zu Hause. Solange es ein Volk Gottes gibt, ist dieses Volk beständig von Furcht angefochten (Joh 16,33), auch und gerade vor den Verfolgern. Jesu Weisung ist hier klar. Viele seiner Zeugen werden Leib und Leben opfern müssen, aber sie werden ihre Seele

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France a.a.O. Carson, 254, unter Hinweis auf Josephus B. J. II, 611; vgl. Strack-Billerbeck I 580. Strack-Billerbeck I 579. A.a.O. Fiedler, 233; Luz II 126. Nach A. Deißmann in: Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, hrsg. von E. Kautzsch, II, Tübingen, 1900, 168. Deißmann setzt 4Makk in die Zeit zwischen Pompeius und Vespasian (a.a.O. 150).

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retten.156 Denn die Herrscher der Welt und die Verfolger können (δυνάμενον [dynamenon]) die Seele (τὴν ψυχήν [tēn psychēn]) nicht töten. Jesus setzt hier im Sinne des AT voraus, dass der Mensch aus Leib (σῶμα [sōma]) und Seele (ψυχή [ psychē]) besteht (vgl. Gen 2,7), also aus dem materiellen Leib und der inneren, unsichtbaren Persönlichkeit (Seele). Diese lebt nach dem Tod des Leibes weiter (vgl. Offb 6,9ff; Lk 16,19ff; 23,42). Der ganze Kampf der protestantischen Theologie in der ersten Hälfte des 20. Jh. um die Behauptung, auch die Seele sei sterblich, hätte also nicht geführt werden müssen. Jesus erläutert den ersten Satz von V. 28 durch einen zweiten: Fürchtet euch aber umso mehr vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verloren gehen lassen kann! Das ist nur einer: Gott. Die Gottesfurcht besiegt also die Menschenfurcht. Zu Gott, der „töten und lebendig machen kann“, vgl. Dtn 32,39; 1Sam 2,6; Sap Sal 16,13; Jak 4,12. Für Hölle steht hier γέεννα [geenna], ein Wort, das uns seit Mt 5,22.29 bekannt ist. Vergleiche die Erklärung dort. Jesus denkt also in Mt 10,28 an die ewige Verdammnis und bringt das durch ἀπολέσαι [apolesai] zum Ausdruck.157 Unzweifelhaft erleidet der Mensch also die ewige Verdammnis sowohl am Leib, den er nach seiner Auferstehung hat, als auch an der Seele = seiner inneren Persönlichkeit.158 Eine reine „Seelenstrafe“ gibt es nicht (vgl. Jes 66,24; Dan 12,2; Joh 5,28f ). Angesichts von V. 28 fragt der moderne Mensch, wie sich der Gott, der Seele und Leib in die Hölle werfen kann, mit dem „Vater im Himmel“ (Mt 6,9), also dem Gott der Liebe, verträgt? Wir besitzen ja nicht die Möglichkeit, eine der beiden Aussagen Jesus abzusprechen. Antwort: Beides kommt in der Ehrfurcht vor Gott zusammen. Der lutherische Katechismus hat das wunderbar erfasst, wenn er jede Gebotserklärung mit den Worten beginnt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben.“ Fehlt eine der beiden Aussagen, dann wird die Gottesbotschaft der Bibel zerstört. Auch das kann man bei Jesus lernen. Fazit zu V. 27 und 28: Die Jünger sollen sich an der Gottesfurcht und nicht an der Menschenfurcht orientieren und deshalb ihre Sendung fortsetzen.159 Die Verse 29-31 dienen dazu, ähnlich wie die Bergpredigt (Mt 6,25ff ) das Vertrauen der Jünger zum Vater im Himmel zu stärken. Und ähnlich wie dort 156 Richtig hier Bultmann Gesch, 126: Jesus redet hier „charakteristisch prophetisch“. 157 Falsch die Erklärung von Luz II 126: Die Bösen würden „ganz, mit ihren Seelen, vernichtet“. Es geht nicht um Vernichtung, sondern um ewige Strafe, vgl. A. Oepke, Art. ἀπόλλυμι usw., ThWNT, I, 1933, 395: „nicht einfach das Erlöschen der physischen Existenz, sondern das ewige Versinken im Hades“. 158 Carson, 255. 159 Vgl. France, 186, der allerdings vorsichtig für „annihilation“ plädiert; Schniewind, 133; Zahn, 409.

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(Mt 6,26.28.30) nimmt Jesus Bilder aus der Natur zu Hilfe, um das Gemeinte zu veranschaulichen. Kauft man nicht zwei Spatzen um ein As? Und doch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater (V. 29): Spatzen, im Israelland „in mehreren Arten vertreten“,160 waren „ein geschätzter Leckerbissen“.161 Zugleich waren sie billig. Ein As, „die gangbarste römische Kupfermünze“,162 „war die kleinste Münze im römischen Währungssystem, auf der der Kopf des Kaisers aufgeprägt werden durfte“, wertmäßig der 24. Teil eines Denars.163 Die Preise für Vögel schwankten aber stark (vgl. Lk 12,6: fünf Spatzen für zwei As).164 Selbst bei den Spatzen, den billigen Vögeln, stirbt keiner165 (fällt keiner auf die Erde), sagt Jesus, ohne euren Vater = ohne dass euer Vater im Himmel es will.166 Jesus geht davon aus, dass der lebendige Gott alles weiß, alles sieht und alles regiert. Er teilt damit die Überzeugung der alttestamentlichen Propheten (Am 3,5ff ), aber auch der Rabbinen.167 Vers 30 bringt ein zweites Bild, um das Vertrauen auf Gott zu stärken: Bei euch aber sind auch die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Dass das Haar auf dem Kopf schon in alten Zeiten zur Bildersprache gehörte, zeigen 1Sam 14,45; 2Sam 14,11; 1Kön 1,52. Gezählt, ἠριθμημέναι [ērithmēmenai], ist eine Form des Passivum divinum, also: Gott hat gezählt. Hinter ἀριθμέω [arithmeō] steht hebr. ‫[ מנה‬mnh] oder ‫[ ספר‬s̀ pr]. Ist Gott das Subjekt von ‫[ מנה‬mnh] oder ‫[ ספר‬s̀ pr], dann bedeutet hier das zählen „seine unbegrenzte Souveränität … Er entscheidet über die Zahl der Sterne“, der Haare usw. und bestimmt ihr Geschick.168 Hier wird die Weite des Gottesbegriffes Jesu deutlich: Er, Gott, unser Vater, ist zugleich der unermesslich Große und Souveräne. Vergleiche Apg 27,34. Die Folgerung angesichts des unendlich fürsorglichen und großen Gottes kann nur sein: Fürchtet euch also nicht (V. 31). In seiner erstaunlich rationalen Art zieht Jesus einen „Schluß vom Geringeren auf das Größere“:169 Ihr

160 161 162 163 164 165 166 167 168 169

Schröder, 135. Schröder a.a.O. Schröder, 136. Schröder a.a.O. Andere: der 16. Teil, so Carson, 255; Fiedler, 234; Sand, 228. Vgl. Schröder, 137f. Zahn, 410, Fn. 48; Schlatter, 165. Schniewind dagegen mit Textvarianten: „von der Falle erhascht“ (133); Luz II 128: „Jagdbeute“. So deutet schon Irenäus Adv. haer. II, 26,2; France, 187. Strack-Billerbeck I 582f. J. Conrad, Art. ‫ָמנָה‬, ThWAT, IV, 1984, 978; ders., Art. ‫ָסַפר‬, ThWAT, V, 1986, 913. Schniewind a.a.O.

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seid mehr wert170 als viele Spatzen. Das ist nicht „humorvoll“,171 sondern Anwendung der biblischen Einsicht aus Gen 1,26f; 9,6; Ps 8,6ff. Es ist beeindruckend, dass Jesus mehrfach davon spricht (vgl. Mt 6,25.26.28.30). Gerade heute, wo so oft von „Mutter Erde“ und vom Menschen nur als „Mitgeschöpf unter anderen Geschöpfen“ die Rede ist, bedeutet Mt 10,31 eine notwendige Korrektur. Der Mensch ist mehr wert als viele Spatzen in dem Sinne, dass er im Gespräch mit Gott leben kann und als höchstes der Geschöpfe die Verantwortung für die anderen Geschöpfe trägt. Umso mehr gilt das von den Jüngern. „Mit ihnen verfährt Gottes Obhut väterlich, und alles, was ihnen geschieht, ist wohl bedacht.“172 Mit aller Deutlichkeit ist aber auch festzustellen, dass V. 31 (und 29-31) keine Verschonung vor dem Martyrium verspricht. Der Vers verspricht nur so viel, dass Gottes Fürsorge im Leben und im Sterben, im Verschontwerden und genauso im Blutmartyrium über seinen Kindern waltet, und dass er am Ende alles wohlmacht (Ps 37,5). Mt 10,31 ist bereits der inhaltliche Vorläufer von Offb 13,10. Viele mussten sterben, und viele werden noch sterben müssen. Aber alle, die Jesus folgten, konnten sagen: „Ich habe Glauben gehalten, hinfort liegt für mich bereit die Krone der Gerechtigkeit“ (2Tim 4,7f ).173 Die beiden Verse 32 und 33 kreisen um die Themen bekennen und verleugnen. Ihr Anschluss an V. 26-31 ist nicht ganz klar,174 aber noch viel weniger sind sie mit V. 34ff verbunden. Zahn dürfte recht haben, wenn er sie „an die ganze hier zu Ende gehende Ausführung“ ab V. 17 angeknüpft sieht.175 Jeder nun, der sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem werde ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel (V. 32): Das Stichwort bekennen hat zu Überschriften geführt wie „Mahnung zu furchtlosem Bekennen“176 oder „Verkündigung ohne Furcht“.177 Aber es gibt kein „furchtloses Bekennen“. Es gibt nur ein Bekennen unter Angst, Gefahr und Anfechtung. Bekennen (ὁμολογεῖν [homologein]) heißt für Christen: Jesus bekennen (der sich zu mir bekennt), oder mit den Worten von Röm 10,9f: „mit dem Mund bekennen, dass Jesus der Herr ist“ (vgl. 1Kor 12,3). Dem Wesen nach ist bekennen ein feierliches Zeugnis, für das Otto Michel drei konstitutive Elemente herausgearbeitet hat: Öffentlichkeit, Verbindlichkeit, Endgültig170 171 172 173 174 175 176 177

Bauer-Aland, 382, zu διαφέρετε. Gegen Luz II 128. Schlatter, 165. Vgl. France, 187. Trotz des οὖν [oun] in V. 32. Zahn, 410, der so auch das οὖν [oun] erklärt. Aland Syn, 145. Luz II 121.

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keit.178 Es gibt also kein Bekenntnis allein in der Innerlichkeit, kein Bekenntnis im Stil des „Vielleicht“ und kein Bekenntnis bloß auf Zeit. Das Christusbekenntnis in Mt 10,32 geschieht vor den Menschen, das heißt öffentlich, gerade auch vor den Verfolgern. Eine gegenteilige Haltung, die vielleicht sogar gute Gründe hatte, kann man Joh 12,42 entnehmen. Ein Gottesbekenntnis also ist in Mt 10,32 nicht gemeint. Denn im Gottesbekenntnis sind sich alle Menschen einig, mit Ausnahme einiger weniger Atheisten. Gemeint ist das Jesusbekenntnis. Zu dem werde ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel: Jesus denkt an das endzeitliche Gericht. Hier ist er Richter und Zeuge in einer Person (Joh 5,22ff; Offb 3,5). Der, zu dem sich Jesus bekennt (vgl. auch Mt 7,23), wird freigesprochen. Mit anderen Worten: Zwischen Jesus und seinen Gläubigen (Jeder …, der sich zu mir bekennt) entsteht eine Gemeinschaft, in der einer für den andern einsteht.179 Es ist interessant, dass sogar der Koran die Gemeinschaft zwischen Jesus und seinen Aposteln in den höchsten Tönen preist.180 Er hat damit Mt 10,32 besser verstanden als eine christliche Exegese, die Mt 10,32f unter die „Drohworte“ einreiht.181 Hat Jesus 1Sam 2,30 auf sich angewandt?182 Übrigens ist die Sprache hier ganz semitisch.183 Zu V. 32 ist V. 33 das Pendant: Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den werde ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel. Verleugnen (ἀρνεῖσθαι [arneisthai]) ist ein charakteristischer Begriff des NT. Man vgl. 2Tim 2,12; 1Joh 2,23; Jud 4. Heinrich Schlier hat herausgearbeitet, dass er sich im NT in der Regel auf eine Person, nämlich Jesus Christus, bezieht.184 Verleugnung besteht im Bruch eines Gehorsams- und Treueverhältnisses. Wichtig ist auch die Beobachtung von Schlier, dass es sich dabei nicht um momentane Akte handelt, sondern um „eine Verfehlung des ganzen Menschen“.185 Ein unbedachter Satz, eine unkontrollierte Reaktion ist noch kein verleugnen im Sinne des NT. Aber auch wiederholte, schwerwiegende Akte der Verleugnung können vergeben werden, wie das Beispiel des Petrus zeigt (Mt 26,31ff.69ff; Joh 21,15ff ). Jesu Warnung ist ernst: Den Verleugner werde ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel. Das heißt, Jesus wird im Endgericht feierlich feststellen, dass der Betreffende nicht zu ihm ge178 179 180 181 182 183 184 185

O. Michel, Art. ὁμολογέω usw., ThWNT, V, 1954, 211, vgl. überhaupt 206ff. France, 187. Sure 61,15. So Bultmann Gesch, 117. So France a.a.O. BDR § 220,3; 466,4; Riesner, 456; Carson, 256. Art. ἀρνέομαι, ThWNT, I, 1933, 469f. Schlier a.a.O., 470.

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hört und deshalb der Verdammnis verfällt. Man vgl. Mt 7,23; 25,12; 2Tim 2,19. Aus Mt 10,32f haben die Märtyrer eine ungeheure Kraft geschöpft. Es war so, wie es Augustinus in DCD V, 14 beschreibt: „die heiligen Apostel … blieben … eingedenk der Mahnung des guten Meisters und Arztes der Seelen [folgt Mt 10,33] … und ließen sich trotz aller Schmähungen und Lästerungen, trotz schwerster Verfolgungen und grausamer Strafen“ nicht abschrecken. Heinrich Schlier hat in seinem oben erwähnten Artikel auch angemerkt, dass die Häresie, die Ablehnung oder Verfälschung der rechten Lehre, ebenfalls ein Verleugnen im Sinne von Mt 10,33 darstellt.186 Zu Recht, denn wer Jesus liebt, hält auch sein Wort (Joh 14,15.21.23.24); wer ihn nicht liebt, hält auch sein Wort nicht (1Joh 2,22f; 4,2ff; Jud 4; 2Tim 1,8; 2,12).

IV Zusammenfassung 1. In Mt 10,26-33 konzentriert sich Jesus darauf, die Jünger unter allen Umständen zum Zeugnis zu ermutigen. Er hält ein solches Zeugnis für möglich. 2. Sehr klar sagt er die künftige Verfolgung der Jünger und der Kirche voraus. Sie kann zum Martyrium und leiblichen Tod führen. Nicht weniger deutlich erklärt er, dass er selbst durch Leiden und Sterben gehen muss. Mt 10,2633 ist also eine implizite Leidensweissagung. 3. Den Jüngern ist eine Gegenwehr mit irdischen Waffen verwehrt. Es gibt keinen christlichen Dschihad. 4. Umso wichtiger ist es, dass gerade in Mt 10,26-33 die Verheißung des Heiligen Geistes als Beistand der Jünger ausgesprochen wird.187 5. Alles entscheidet sich an unserer Beziehung zu Jesus, konkret unser ewiges Schicksal, ob wir im Gericht Gottes angenommen oder verworfen werden. Mt 10,26-33 ist insofern ein Vorläufer von Joh 14,6. 6. Historisch gibt es keinen ausreichenden Grund, an der Echtheit der Worte Jesu in Mt 10,26-33 zu zweifeln.188

186 Schlier a.a.O. 187 Wenn Fiedler, 234, beklagt, Jesus nehme in seinem „Rigorismus“ keine Rücksicht auf schwierige Lebensumstände, dann hat er die Geistverheißung vergessen. 188 Vgl. Jeremias Gleichnisse, 205ff. Gegen Jeremias a.a.O. ist aber die Vorstellung von Christus als Richter kein „später Zug“, sondern von Anfang an mit seiner Messianität gegeben.

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2.2.4 Die Zukunft der Jünger in der Kreuzesnachfolge, 10,34-39 Die große Aussendungsrede Jesu, die Matthäus im 10. Kapitel (10,5-42) zusammengefasst hat, kommt in V. 34-39 zu einem vorläufigen Abschluss, zugleich stehen wir vor dem Abschluss des engeren Komplexes Mt 10,16-39. Vers 34 beginnt mit einer Klarstellung, die für den Messias unumgänglich war: denkt nicht, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen. Aufgrund der alttestamentlichen Friedensverheißungen für die messianische Zeit mussten die Jünger in der Tat denken, Jesus werde den Frieden auf die Erde bringen (vgl. Ps 72,7; Jes 9,6; 52,7; 53,5; 54,10; 60,17; 66,12; Ez 34,25; 37,26; Mi 5,4). Doch wie soll die Zeit der Verfolgung und des Gehasstwerdens, die Jesus voraussagt, eine Zeit des Friedens sein? Wohl gehen alle Friedensverheißungen in Erfüllung, aber erst nach der Wiederkunft Jesu (vgl. Offb 20,1ff ). Es gehört zu den Grundirrtümern der Gegenwart, dass die Zeit der verfolgten Kirche und die Zeit des in Macht und Herrlichkeit wiedergekommenen Jesus nicht mehr unterschieden werden und deshalb unwahrhaftige Friedensankündigungen seitens der Kirchen erfolgen. Stattdessen sagt Jesus: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. R.T. France nannte dies „Jesus’ divisive mission“.189 Vergleiche Lk 12,51ff. Die Wendung Ich bin gekommen (ἦλθον [ēlthon]) bezeichnet Auftrag und Sendung vom Vater. Sie schließt die Präexistenz Jesu und den ewigen Ratschluss des Vaters ein. Vergleiche die Erklärung bei Mt 5,17. Warum bringt Jesus nicht den Frieden? Weil ihn der Hass der Welt verfolgt und derselbe Hass auch seine Jünger verfolgen wird. Jesus fasst dies zusammen in die Worte Ich bin gekommen, das Schwert zu bringen. Wohlgemerkt: Es ist nicht das Schwert, das er über seinen Gegnern schwingen wird,190 noch das Schwert, das seine Jünger über ihre Gegner bringen sollen. Sondern es ist das Schwert, das die Gegner gegen sie gebrauchen! Dafür sind Mt 26,47.52.55; Apg 12,2; Röm 8,35; Offb 13,10 Belegstellen. Man hat überlegt, ob Schwert in Mt 10,34 nicht nur „bildliche Rede“ sei, die die Feindschaft gegen Jesus zum Ausdruck bringt.191 Aber heute, wo man Filme darüber sehen kann, wie ehemaligen Muslimen, die Christen wurden, langsam der Kopf abgeschnitten wird, reicht die Erklärung nicht mehr aus, dass es nur um bildliche Rede geht. Nein, das Schwert (ursprünglicher Wortsinn: „Mes-

189 France, 188. Vgl. Tasker, 108. 190 Nicht „military conflict“! France a.a.O. 191 So W. Michaelis, Art. μάχαιρα, ThWNT, IV, 1942, 531f; Luz II 138; Sand, 230f; Beare, 249.

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ser“192) in Mt 10,34 ist beides: das reale Schwert, unter dem die Jünger das Leben verlieren, und ein Bild für alle Feindschaft, die sie trifft. Ein Ausleger des Neuen Testaments kann heute Mt 10,34 nicht bedenken, ohne zu erkennen, dass wir hier wieder eine erfüllte Prophetie vor uns haben. Unzählige Menschen sind wegen ihres Bekenntnisses zu Jesus gestorben. Und der Hass gegen ihn und die Seinen nimmt noch zu. Nicht einmal in der eigenen Familie kann der Jünger mit Frieden rechnen: Denn ich bin gekommen, um den Menschen und seinen Vater, und die Tochter und ihre Mutter, und die Schwiegertochter und ihre Schwiegermutter zu entzweien (V. 35). Unausweichlich erhebt sich hier die von der Exegese diskutierte Frage: Beschreibt das ἦλθον [ēlthon] (ich bin gekommen) eine Absicht Jesu? Will er das Schwert bringen, den Frieden von der Erde nehmen, die nächsten Angehörigen entzweien? Und wie, so fragt die kritische Exegese weiter, reimt sich Mt 10,34-36 zusammen mit Mt 5,9; 11,28ff; 12,19?193 Fiedler vermisst einen „Ausgleich“ dieser Aussagen untereinander.194 Bultmann beurteilt Mt 10,34-36 als sekundäre Gemeindebildung und entlastet damit Jesus.195 Theißen-Merz erblicken in Mt 10,34-36 „Ein afamiliäres Ethos“, wonach Jesus die „Bereitschaft zum Bruch mit der Familie“ zur Voraussetzung der Nachfolge mache.196 Die Antwort auf die oben gestellten Fragen kann jedoch nur so lauten, dass Jesus die Konsequenzen seines Redens und Handelns ganz klar sah – also auch Verfolgung, Hass, Entzweiung –, aber diese Konsequenzen doch nicht der Zweck seines Handelns waren!197 Jesus beschreibt die Leiden der kommenden Zeit unter Verwendung von Mi 7,6. Die Begriffe Vater, Tochter, Mutter, Schwiegertochter und Schwiegermutter sind dort ebenso zu finden wie die Gegnerschaft unter den Genannten. Nur ersetzt in Mt 10,35 ἄνθρωπος [anthrōpos] das υἱός [hyios] von Mi 7,6 LXX – sachlich keine Änderung. Entzweien, διχάσαι [dichasai], entspricht dem lukanischen διαμερισθήσονται/διαμερισμός [diameristhēsontai/ diamerismos] (Lk 12,51.53). Was bei Micha die sittliche Verwahrlosung198 vor dem Angriff der Assyrer beschreibt, dient jetzt bei Jesus zur Beschreibung der Zustände nach dem Kommen des Messias. Ähnlich wie zu Mt 10,34 sind 192 193 194 195 196 197

Michaelis a.a.O., 530. Fiedler, 235; ähnlich Luz II 135f. A.a.O. Bultmann Gesch, 166.176. Theißen-Merz, 337, vgl. 207. Richtig Tasker a.a.O.: „Consequences“, aber nicht „intentions“; ferner Zahn, 412; Beare, 249. 198 Vgl. das ganz andere Familienbild in Ruth 1,6ff.

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wieder folgende Punkte festzuhalten: 1) Nicht die Jünger betreiben die Entzweiung, sondern die Entzweiung geht von den andern Familienangehörigen aus, die Jesus ablehnen. 2) Es kann keine Rede davon sein, dass Jesus die „Bereitschaft zum Bruch mit der Familie“ und den „endzeitlichen ‚Familienkrieg‘“ predigt,199 sondern er prophezeit die Leiden, die für die Apostel und Jünger entstehen werden, wobei sie in ihrer Liebe zu ihren Angehörigen nicht nachlassen dürfen (Mt 5,43ff ). Jesu Haltung ist meilenweit entfernt von jenen extremistischen Täufergruppen der Reformationszeit, die mit Anthoni Erdtfordter sangen: „Beim fromen ist mein freid und lust, die Gott förchten und lieben. Weib, Kind, haußgsind, weltlicher wust, dein tail hab mit den dieben. Far hin, far hin, weltlicher pracht, du unflat, gee dein strassen! Dein tail wirt gleich in feurigen teich nach deim schlemen und prassen.“200 3) Mt 10,34-36 gilt nicht nur für eine ferne Zukunft oder gar nur für die Endzeit im spezifischen Sinne, sondern auch jetzt schon für die Israelmission der Apostel. Jesus nimmt also in Mt 10,35 die Ankündigung wieder auf, die er schon in Mt 10,21 gemacht hat – ein Zeichen, wie wichtig ihm die Vorbereitung auf die Kreuzesnachfolge war. Vers 36 bestätigt das alles nur: Und die Feinde des Menschen werden seine eigenen Hausgenossen sein. Auch darin geht er auf Mi 7,6 zurück. Bei Feinden, ἐχθροί [echthroi], ist doch wohl an persönliche Feindschaft mit all ihren Bitterkeiten gedacht.201 Hausgenossen, griech. οἰκιακοί [oikiakoi], meint die „Familien- od. Geschlechtsgenossen“,202 also die engsten Verwandten. Jesus selbst hat in seiner eigenen Familie Unverständnis und Ablehnung zu ertragen gehabt (Mk 3,20f; 6,4; Joh 7,5).203 Er wusste gut, wovon er redete.204 Gerade für Mt 10,36 ist der Bezug zur Bergpredigt wichtig: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44). Das gilt gerade den feindlich gesinnten Hausgenossen gegenüber, so übermenschlich schwer es auch zu praktizieren ist.205 Die Verse 37-39 sind eng miteinander verbunden. Sie kreisen alle drei um die Priorität, die Jesus als Gottessohn und Messias hat. Um sie zu verstehen, muss man sich an zwei wichtige Aussagen des AT erinnern. Die erste steht in Dtn 6,4f und bildet Israels Glaubensbekenntnis (das Schma Jisrael): „Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen.“ Dieses „größte 199 200 201 202 203 204 205

So aber Theißen-Merz, 337. Maier JO, 250. W. Foerster, Art. ἐχθρός usw., ThWNT, II, 1935, 813. Bauer-Aland, 1131. Vgl. Hengel-Schwemer, 290. Ohne mit Lieblosigkeit zu antworten! Vgl. Joh 19,25ff; 1Kor 15,7; Jak 1,1. Vgl. wieder Foerster a.a.O.

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und erste Gebot“, wie es von Jesus genannt wird (Mt 22,38), gibt der Liebe zu Gott die höchste Priorität. Von daher kommt auch dem Gottessohn Jesus die oberste Priorität zu. Die zweite Aussage, die hier relevant ist, steht im Mosesegen über die Priester Israels aus dem Stamm Levi: „der von seinem Vater und von seiner Mutter sagte: ‚Ich habe ihn nicht gesehen!‘ und der seine Brüder nicht kannte und von seinen Söhnen nichts wusste“ (Dtn 33,9). Die Aussage steht fest, dass Israels Priester ihren Gott sogar den engsten Verwandten wie Vater, Mutter, „Bruder“ und Sohn vor-ordnen.206 Auch daraus ergibt sich, dass der Gottessohn Jesus höher steht als die engsten Verwandten. Genau dies bringt jetzt V. 37 zum Ausdruck: Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert. Eine Jesusnachfolge, in der Jesus nicht die höchste Liebe zukommt, hat keinen Bestand. Mt 10,37 enthält nicht weniger als die Selbstaussage Jesu, dass er in der Tat Gottes Sohn ist. Der Vers ist also christologisch aufs Höchste „geladen“.207 In Bezug auf die Verse 34-36 ergibt sich, dass auch die Feindschaft der engsten Verwandten nicht dazu führen darf, die Jesusnachfolge aufzugeben. Erneut ist das Missverständnis zu vermeiden, als predige Jesus Lieblosigkeit gegen die Familie. Nein, der Familie soll die ganze Liebe geschenkt werden, die uns der Heilige Geist eingibt. Aber vor die Alternative gestellt: entweder Jesus aufgeben oder sich die Gegnerschaft von Vater, Mutter, Sohn oder Tochter einzuhandeln, geht Jesus vor. Die Kommentare weisen auf die schweren sozialen und familiären Verwerfungen hin, die Mt 10,37 damals auslösen konnte und die heute noch drohen.208 Gegenüber diesen bürgerlichwestlichen Kommentaren der letzten Generation hat sich die heutige Situation durch die zunehmende Verfolgung und Unterdrückung der Christen enorm verschärft. Schwierig wurde die Jesusnachfolge speziell in Israel, wenn die Angehörigen glaubten, aufgrund von Dtn 13,7ff gegen Häretiker vorgehen zu müssen. Eine noch größere Zuspitzung erfährt heute die Situation unter Muslimen, bei denen der Abfall vom Islam mit der Todesstrafe geahndet wird. Noch einmal sei betont, dass von Jesus kein „Verfall der Familien“ programmiert wird209 (Joh 19,25ff; Mt 5,43ff; 19,17ff; 22,39; Mk 7,10ff; Lk 10,28). Obwohl Mt 10,37-39 untereinander eng verbunden sind, bleibt doch eine Ungewissheit, ob sie bei derselben Gelegenheit gesprochen wurden. Die Einordnung bei Lukas ist eine andere (vgl. Lk 14,25-27; 17,33). Immerhin ist das 206 207 208 209

Vgl. Riesner, 443. Vgl. Cullmann, 165. Theißen-Merz, 207. Gegen Theißen-Merz, 207.

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Kreuzeswort (Mt 10,38; Lk 14,27) auch bei Lukas mit dem Wort von der Jesus-Liebe verbunden. Es wäre außerdem töricht, zu vermuten, dass Jesus so grundlegende Worte nur einmal gesprochen haben sollte. Und wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nachfolgt, der ist mein nicht wert (V. 38): Stärker noch als Eltern- oder Kinderliebe ist die Liebe zum eigenen Leben. Aber nicht einmal diese soll uns von der Nachfolge abhalten. Sein Kreuz auf sich nehmen (λαμβάνειν τὸν σταυρὸν αὐτοῦ [lambanein ton stauron autou]) orientiert sich als sprachliche Wendung an der Strafe der Kreuzigung. Das Kreuz im strafrechtlichen Sinne war ein aufrecht stehender Pfahl oder T-förmig mit einem senkrechten und einem querliegenden Balken oder aus „zwei sich schneidenden Balken“ errichtet.210 Cicero nannte sie „die ärgste, höchste, grausamste oder scheußlichste Todesstrafe“,211 Origenes die „mors turpissima crucis“.212 Der Verurteilte musste den Querbalken selbst zur Hinrichtungsstätte tragen: daher die Redewendung sein Kreuz auf sich nehmen. Eingeführt wohl durch die Perser, wurde die Kreuzigung von Alexander d. Gr., den Diadochen, Puniern und Römern praktiziert, teilweise auch von den Makkabäern. Jüdisch war diese Strafe nicht.213 Die von Jesus in Mt 10,38 gebrauchte Redewendung214 findet sich nicht einmal in der älteren rabbinischen Literatur.215 Offenbar meint Jesus in Mt 10,38 beides: erstens das Kreuz aufnehmen im wörtlichen Sinne, er rechnet also mit Hinrichtungen unter seinen Jüngern (vgl. Mt 23,34); zweitens das Kreuzaufnehmen im bildlichen Sinne als Bereitschaft zum Leiden (vgl. Mt 5,10ff ).216 Welchen Mut frühchristliche Märtyrer aus Mt 10,38 schöpften, zeigt beispielsweise der Brief römischer Bekenner an Bischof Cyprian von Karthago.217 Vers 39 ist offenbar ein absichtliches Rätselwort, das Betroffenheit und Besinnung auslösen soll: Wer sein Leben findet, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden. Auf der nächstliegenden Ebene geht es um den Lebensverlust durch Kreuz und Leiden (V. 28). Hier sagt Jesus: Wer dem Kreuz und dem Leiden entflieht, um sein irdisches Leben zu retten (zu finden), der wird das ewige Leben verlieren. Wer aber sein Leben in Kreuz und Leiden opfert (verliert), der wird das 210 211 212 213 214 215 216 217

Joh. Schneider, Art. σταυρός usw., ThWNT, VII, 1964, 572. Schneider a.a.O., 573. Im Kommentar zu Matthäus XXVII, 22ff (M. Hengel, Crucifixion, London, 1977, XI). Schneider a.a.O., 573f. Auch Herodes d. Gr. wandte sie nicht an (Hengel a.a.O., 84f ). Vgl. Mt 10,38; 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23; 14,27. Schneider a.a.O., 578; Strack-Billerbeck a.a.O. Vgl. Schneider a.a.O, 577ff, der Letzteres vertritt. In Texte KV IV, 77f.

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ewige Leben finden = erhalten.218 Auf einer zweiten Ebene führt das Wort weit über die Situation der Verfolgung hinaus.219 Auf diese zweite Ebene weist schon die Tatsache hin, dass es uns „in vier verschiedenen Formen“ begegnet: Mk 8,35 parr; Mt 10,39; Lk 17,33; Joh 12,25.220 Hier schärft Jesus den Jüngern ein: Der Mensch muss grundsätzlich wählen, ob er das irdische oder ob er das ewige Leben zu seinem Ziel machen will. Wer im irdischen Lebenszweck sein Ziel findet, wird das ewige Leben verlieren. Wer aber sein irdisches Leben als zweitrangig einstuft (verliert), der wird durch Gottes Gnade das ewige Leben erhalten (finden). Das Wort finden, εὑρίσκειν [heuriskein] (sachlich nicht weit entfernt: ζητεῖν [zētein]), drückt aus, dass der Mensch sich das Leben (ψυχή [ psychē]) niemals selbst geben kann: Es bleibt Geschenk – auch das irdische Leben. Doch Gott lässt uns die Wahl zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen. Bisher haben wir zwei entscheidende Worte noch nicht betrachtet: ἕνεκεν ἐμοῦ [heneken emou], um meinetwillen. Zu Unrecht beurteilt sie Eduard Schweizer als sekundär:221 Jesus trug doch nicht nur Sprichwort-Weisheit vor, sondern er sprach auch über sich selbst. Dieses um meinetwillen stellt ein Leitwort durch den ganzen Abschnitt Mt 10,16-39 dar (10,18.22.39). Mt 10,39 ist also nicht abstrakt-philosophisch gemeint als eine Art Déjà-vu über den Lebenssinn, sondern sehr konkret über unser Verhältnis zu Gott, das bestimmt wird durch unser Verhältnis zu Jesus. Versucht man, Mt 10,39 mit der Gegenwart zu verbinden, dann erschrickt man. Unser gegenwärtiges Leben im atlantischen Raum ist bestimmt durch ein diesseitsgerichtetes Genussprinzip. „Carpe diem“ steht nicht nur auf der Wand unseres Thermalbades, sondern regiert Herzen und Sinne, Zeiteinteilung und Geldausgaben, die politischen Wahlen, den Urlaub, das Berufsleben und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Und die Kirchen verwenden mehr Sorgfalt auf Erklärungen, wie sie die Freude des Lebens bejahen, als auf die Einladung zum ewigen Leben. Einsam stehen die Gotteszusagen der letzten Generationen auf diesem Areal. Karl Barth: „In Jesus Christus unausweichlich seinen Meister haben heißt … Keine eigene Sache, sondern seine, Christi Sache, zur eigenen Sache haben.“222 Dagegen beweisen Gal 6,14; 1Petr 2,21; Hebr 12,2, wie stark Mt 10,38f die apostolische Generation geprägt hat.

218 219 220 221 222

Vgl. E. Schweizer, im Art. ψυχή usw., ThWNT, IX, 1973, 640ff. Vgl. Tasker, 109. Schweizer a.a.O., 640. A.a.O., 641. Barth KD I/2, 303.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

IV Zusammenfassung 1. In der Voraussage des Geschicks der Boten Jesu (Mt 10,16-39) bildet Mt 10,34-39 einen Höhepunkt. Hier sind die Apostel und Jünger Jesu gefragt, ob sie zur Hingabe ihres Lebens bereit sind, und ob sie der Jesusnachfolge die Priorität geben noch vor den liebsten und engsten Angehörigen und vor dem irdischen Leben. 2. Hier spricht Jesus selbst.223 Es ist nicht möglich, diese Worte auf die „Erlebnisse der Urgemeinde“ zurückzuführen.224 Gegen die Ableitung von frühchristlichen Erlebnissen spricht schon der für Jesus charakteristische christologische Gehalt der „Ich-bin-gekommen“-Worte in V. 34 und 35. 3. Denn dies muss mit Nachdruck hervorgehoben werden: Mt 10,34-39 vermittelt eine konzentrierte Christologie. Einmal durch die Betonung der Priorität Jesu, die sich nur aus seiner göttlichen Würde erklären lässt. Sodann durch die Transparenz für das „Kreuz“, das er selbst tragen musste, und den Ruf in die Kreuzesnachfolge. Niedrigkeit und Hoheit Jesu vereinen sich hier.225 4. Zu dem Friedenbringen der Jünger nach Mt 10,12-15 besteht kein Widerspruch. Denn die Jünger bringen den Frieden mit Gott aufgrund ihrer Sendung durch Jesus, sie erleiden aber zugleich die Feindschaft der Welt um Jesu willen. 5. Die aktuelle Bedeutung von Mt 10,34-39 kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie deutet sich schon an durch die zahlreichen Bezugnahmen auf Mt 10,34ff in der apostolischen und frühchristlichen Literatur.226 Sie zeigt sich erst recht heute durch die Christenverfolgung auf allen Kontinenten.227 Der Ausleger muss daher einem verflachten Christentum widersprechen, das der Kirche und der Welt ein Zeitalter zunehmenden Friedens vorgaukeln will. Stattdessen müssen wir uns alle auf zunehmende Verfolgungen mit all ihren Tücken einstellen. Andererseits sehen wir heute deutlicher als die frühen Christen, wie sich Jesu Zukunftsweissagungen erfüllen. 6. Mt 10,34-39 ist nicht nur eschatologisch zu verstehen, obschon es eschatologische Komponenten aufweist, sondern es will auch für die ganze Zeit der Kirche, die mit Jesus beginnt, aufzeigen, was die Christen erwartet.

223 224 225 226

So auch Hengel-Schwemer, 290.503; Riesner, 418. Gegen Bultmann Gesch, 164ff.176. Vgl. wieder Cullmann, 165. Justinus Martyr Dial c Tryph 35,3; Mart Pol 6,2; Herm. Sim IX, 26,3; Texte KV II, 479; IV, 77. 227 Vgl. Carson, 256f.

2. Die Aussendungsrede, 10,5-42

601

2.3 Verheißungen für die Aufnahme seiner Boten, 10,40-42

I Übersetzung 40 Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf. Und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. 41 Wer einen Propheten aufnimmt, weil er ein Prophet ist, wird den Lohn eines Propheten empfangen. Und wer einen Gerechten aufnimmt, weil er ein Gerechter ist, wird den Lohn eines Gerechten empfangen. 42 Und wer auch nur einem von diesen Kleinen einen Becher kalten Wassers228 zu trinken gibt, weil er ein Jünger ist – amen, ich sage euch: Er wird seinen Lohn bestimmt empfangen.

II Struktur Der kleine Abschnitt kreist um das Schlüsselwort aufnehmen. Sechs Mal begegnet uns δεχόμενος/δέχεται [dechomenos/dechetai]. Dieses Schlüsselwort bildet einen starken Kontrast zu den schweren Verfolgungen, die vorher geschildert sind. Jetzt treten Verheißungen ans Licht. Weitere Kennworte sind das dreifache μισθός [misthos] und das dreifache εἰς ὄνομα [eis onoma]. Letzteres sichert die christologische Einbindung. Der Sprachcharakter wird durch Relativsätze und Partizipialkonstruktionen bestimmt, mehr noch durch den Parallelismus der Sätze.229 So kommt ein sehr geschlossener Abschnitt zustande, eindrucksvoll abgeschlossen durch ein Amen-Wort am Ende.

III Einzelexegese 1 Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf (V. 40): Jesus identifiziert sich hier mit seinen Jüngern,230 in erster Linie mit den Aposteln (euch, vgl. V. 5). Aufnehmen, δέχεσθαι [dechesthai], knüpft an δέξηται [dexētai] in V. 14 an. Es bedeutet nicht nur die Gastfreundschaft,231 sondern das bereitwillige Hören der Botschaft samt der Versorgung der Jünger.232 Ein Schulbeispiel ist das Handeln Marias und Martas in Lk 10,38ff oder Lydias in Apg 16,15. Aufnahme oder Ablehnung sind Entscheidungen des Menschen. Aber die Folgen reichen bis in die Ewigkeit. Denn: Wer Jesu Boten aufnimmt, der nimmt 228 229 230 231

Vgl. BDR § 241,10. Vgl. BDR § 492. Nolland, 443: „equivalence“. Vgl. W. Grundmann, Art. δέχομαι usw., ThWNT, II, 1935, 52. Nach Strack-Billerbeck I 589, gibt es zu Mt 10,40 rabbinische Parallelen nur in puncto Gastfreundschaft. 232 Vgl. Nolland, 444.

602

Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

ihn auf. Und wer Jesus aufnimmt, der nimmt den Vater im Himmel auf, der Jesus gesandt hat. Schlatter hat recht: „Wir nehmen seine Boten auf; das schließt uns in seine Liebe ein, und mit der Liebe Jesu ist Gottes Gnade eins.“233 Es entsteht eine regelrechte Kette234 vom Jünger zu Jesus, von Jesus zum Vater und umgekehrt. Wie längst beobachtet wurde,235 spielt Mt 10,40 auf das semitische Botenrecht und speziell das jüdische „Schaliach“-Institut an, dessen Grundsatz lautet: „Der Beauftragte eines Menschen ist wie dieser selbst.“236 Aber es gibt unseres Wissens keine rabbinische Stelle, in der ein Rabbi beansprucht, Gott zu gleichen. Diesen Anspruch hat nur der Sohn Gottes, Jesus, vertreten, und deshalb wurde er später hingerichtet (Mt 21,37; Joh 10,31ff; 19,7). Insofern bedeutet Mt 10,40 nicht zuletzt die Verleihung besonderer Autorität237 an die Jünger. Im Fokus von Mt 10,40 stehen jedoch zwei andere Punkte: erstens die Verheißung für die Aufnehmenden, dass sie in Gestalt der Jünger zugleich Gott und Jesus aufnehmen, zweitens die Ermutigung für die Jünger, im Namen Jesu missionarisch zu wirken.238 Mt 10,40 steht nicht vereinzelt. Stellen wie Mt 18,5 parr; Lk 10,16; Joh 5,23; 12,44f; 13,20 zeigen, dass Jesus ähnliche Themen öfter ansprach. Gal 4,14 scheint solche Jesusworte zu reflektieren. Wer einen Propheten aufnimmt, weil er ein Prophet ist, wird den Lohn eines Propheten empfangen. Und wer einen Gerechten aufnimmt, weil er ein Gerechter ist, wird den Lohn eines Gerechten empfangen (V. 41): Dieser Ausspruch formuliert zeitloses Gottesrecht. Bultmanns Einschätzung, Mt 10,41 sei im Kontext der Verse 40-42 ein „fremdes Stück“,239 enthält also ein Korn Wahrheit. Alttestamentlich kann man an 1Kön 17,9ff; 2Kön 4,8ff; Jer 38,7ff; 39,15ff; Jona 3,1ff denken, neutestamentlich an 1Thess 2,13ff oder den Philipperbrief. Es empfiehlt sich nicht, in den Begriffen Prophet, Gerechter und später Kleine verschiedene Klassen von Jüngeren wiederzufinden.240 Vielmehr stellen Propheten, Gerechte und Kleine Bezeichnungen für alle Apostel und für alle Jünger dar (vgl. Mt 13,17; 23,29). Es handelt sich nur

233 234 235 236 237 238 239 240

Schlatter, 169. Schlatter a.a.O. Vgl. Grundmann a.a.O.; Hengel-Schwemer, 504; Zahn, 391, Anm. 7. Mischna Ber V, 5; b Qid 41b; b BQ 113b. Vgl. Strack-Billerbeck I 590; Nolland, 444; Riesner, 463. Nolland, 444: „legal authorisation“. Nolland a.a.O.: Mt 10,40 „offers great confidence of empowerment and assurance of the significance“. Nur das Zweite betont Zahn, 415. Bultmann Gesch, 152. Siehe die Diskussion bei Carson, 258f.

2. Die Aussendungsrede, 10,5-42

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um Entfaltungen und Konkretisierungen des euch in V. 40.241 Lohn eines Propheten bzw. Lohn eines Gerechten bezeichnet den Lohn, den der Prophet oder Gerechte selbst empfängt.242 Empfangen drückt das belohnende Geschenk Gottes aus. Eine großartige Zusage für die Aufnehmenden! Dass Jesus unbedenklich vom göttlichen Lohn spricht, weil dieser ein Gnadengeschenk darstellt, haben wir schon mehrfach gesehen (vgl. Mt 5,12.46; 6,1ff und die Erläuterungen dort). Dass alle Christen infolge des Sühnetodes Jesu Gerechte sind, sagt uns 1Kor 1,30,243 dass sie in einem weiteren Sinne alle Propheten sind, geht aus 1Kor 14,1 hervor. Allerdings kann man die Möglichkeit nicht ausschließen, dass mit den Propheten einzelne führende Mitglieder der Gemeinde gemeint sind (vgl. Mt 23,34; 1Kor 12,28ff ). Für das Verständnis von Mt 10,41 sind die Aussagen weil er ein Prophet ist und weil er ein Gerechter ist unentbehrlich. Die griech. Wendung εἰς ὄνομα [eis onoma] hat ebenso wie das hebr. ‫[ ְבּ ֵשׁם‬bᵉschem] kausale Bedeutung.244 Die in Mt 10,41 gemeinte Aufnahme geschieht also nicht aus humanitären Gründen, sondern gerade deshalb, weil der Betreffende ein Jünger Jesu ist. Die Aufnahme ist schon ein erster Schritt zum Glauben. Sie drückt je nach den Umständen eine hohe Bereitschaft zum Glaubenswagnis aus. Und wer auch nur einem von diesen Kleinen einen Becher kalten Wassers zu trinken gibt, weil er ein Jünger ist (εἰς ὄνομα μαθητοῦ [eis onoma mathētou]) – amen, ich sage euch: Er wird seinen Lohn bestimmt empfangen (V. 42): Das Tränken mit Wasser gehört zu den biblischen Werken der Barmherzigkeit (vgl. Dtn 15,11; Jes 58,7; Ez 18,7.16; Tob 4,17ff; Mt 25,35.42; Jak 2,15ff ). In einem heißen Land, in Wüste und Wildnis, kann ein Becher kalten Wassers eine Erquickung, unter Umständen lebensrettend sein.245 Wie die Eliesergeschichte zeigt, bedeutet das Tränken mit Wasser eventuell sogar den ersten Schritt zur Aufnahme ins Haus (Gen 24,17ff ). Nun geht es hier speziell um den Fall des Jüngers. Kleiner, μικρος [mikros], hebr ‫[ ָקָטן‬qāthān], ist in der Tat ein Name für die Jünger Jesu (vgl. Mt 18,6.10.14).246 Otto Michel schreibt: „Wer von Gott gerufen wird, ist ‚klein‘ und ‚arm‘, macht sich und hält sich für niedrig wie ein Kind.“247 Zugleich 241 So auch Carson a.a.O.; Tasker, 109; France, 190; Riesner, 464; Beare, 251; Nolland, 444. Anders Luz II 151; Sand, 233; Fiedler, 236. 242 G. Schrenk im Art. δίκη usw., ThWNT; II, 1935, 192: „hat teil an seinem Lohn“; ebenso Schniewind, 137; Zahn, 416; Schlatter, 170. Unsicher Nolland, 444f. 243 Nolland, 445: Wir kennen nicht „the precise nuance“. 244 Vgl. BDR § 206,4; Carson, 259; Strack-Billerbeck I 590f. 245 France, 190f: „an essential act of courtesy and hospitality in the East“. 246 O. Michel, Art. μικρος, ThWNT, IV, 1942, 653. 247 A.a.O.

604

Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

weist dieser Begriff „im Munde Jesu in paradoxer Weise auf ein Geheimnis, auf eine verborgene innere oder zukünftige Würde hin.“248 Man hat das Demonstrativpronomen diese für „überflüssig“ erklären wollen.249 Dagegen meint Michel, diese bezeichne „anwesende Personen“ oder wolle ausdrücken, dass die Kleinen eben dasselbe seien wie die zuvor genannten Propheten und Gerechten.250 Vermutlich müssen wir in die zuletzt erwähnte Richtung gehen. Diese Kleinen sind also die in V. 41 genannten Propheten und Gerechten, kurzum: die Jünger Jesu.251 Bestätigt wird eine solche Deutung durch die Worte weil er ein Jünger ist. Damit sind wir wieder bei der Situation der Verfolgung der Verse 16-39. Wer inmitten von Not und Bedrängnis auch nur einen einzigen – diesen Sinn hat ἕνα [hena] – Jünger mit einem Becher kalten Wassers stärkt, und zwar gerade deshalb, weil er ein Jünger ist, der tut Jesus etwas Gutes (vgl. Mt 25,31ff ). Der dient dem Evangelium und dem Reich Gottes. Ja, der riskiert etwas für Jesus und seine Gemeinde. Deshalb wird ihm feierlich mit einem Amen-Wort die Verheißung gegeben: er wird seinen Lohn bestimmt empfangen, wörtlich: „er wird seinen Lohn niemals verlieren“.252 Was dieser Lohn genau ist, wird nicht gesagt. Aber Gottes Gnade ist reich, und so wird auch sein Lohn reich sein.253 Mt 25,31ff bildet dazu eine treffende Illustration. Interessant ist, dass es für die Bezeichnung Kleine = Jünger keine rabbinischen Belege gibt.254 Sind diejenigen, die den Becher kalten Wassers reichen, ortsansässige Jünger? Und diejenigen, die getränkt werden, sog. „Wanderradikale“?255 Bei aller Beliebtheit der „Wanderradikalen“-These könnte man diese nur mit Fantasie in den Text hineinlesen. Man sollte bei der Weite der Jesusworte bleiben, die allen Wohltuenden den Lohn verheißen256 (vgl. Mk 9,41).

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Michel a.a.O. Jeremias Gleichnisse, 206,6. Michel a.a.O., 653.654f. Anders Nolland, 445f: Jünger, die nur ein „modest level“ haben und deshalb auch weniger Belohnung erhalten. Ähnlich Schniewind, 137: „Kleinste unter den Christen“; Luz II 152: „unbedeutende Christen“; H. Preisker, Art. μισθός usw., ThWNT, IV, 1942, 704. Wie wir Carson, 259; France, 192; Zahn, 416f; Hengel-Schwemer, 439; Schlatter, 170; Riesner, 459; Fiedler, 236. Vgl. die bei Strack-Billerbeck I 592 genannten talmudischen Stellen b Nazir 23b; b BQ 38b; P. Abot II, 16; b Menachot 44b sowie Nolland, 446. Gaechter, 353: „ewiger Lohn“. Strack-Billerbeck I 592. Vgl. Nolland, 446; Luz II 153. Ebenso Beare, 251.

3. Das Ringen um Johannes und seine Jünger, 11,1-19

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IV Zusammenfassung 1. Dass die Verheißungen von V. 40-42 am Schluss der großen Rede von Mt 10,5-42 stehen, bedeutet eine bewusst positive Perspektive. Der Dienst der Apostel und Jünger ist nicht umsonst (vgl. Mt 19,28f; 1Kor 15,58). 2. Adressaten sind zunächst die Zwölf.257 Aber weil sie das neue Gottesvolk repräsentieren, gilt das Gesagte auch der gesamten Jüngerschaft. 3. Bei Mt 10,40-42 wird es am deutlichsten, dass man Mt 10,5ff nicht nur auf die Endzeit beziehen kann. Eine rein eschatologische Deutung scheidet aus. Das Gesagte gilt vielmehr von der Zeit der Apostel an für die ganze Kirchengeschichte. 4. Gottes Gnade greift weit hinaus. Jede Wohltat an einem Glied der Gemeinde Jesu – „weil er ein Jünger ist“ – empfängt reichen Lohn, weil sie Gott selbst erwiesen wird. Gerade Mt 10,40-42 weist auf die implizite Christologie hin: Jesus ist Gottes Sohn und Gottes Gesandter. 5. Mt 10,40-42 sind originäre Herrenworte.258 Es ergibt wenig Sinn, aus der stilistischen und inhaltlichen Einheit von Mt 10,40-42 einzelne Verse – V. 41 und/oder V. 42 – herauszulösen und sie auf „urgemeindliche Gegebenheiten“ statt auf Jesus zurückzuführen.259 Weshalb sollte Jesus Begriffe wie Prophet, Gerechter, Kleiner nicht auf seine Jünger angewandt haben (vgl. Mt 23,34; 25,40ff; 10,27; 5,12)? 6. Wie intensiv diese Aussagen Jesu die frühen Christen beschäftigt haben, zeigen Ignatius Eph 6,1; Didache 11,4; Justinus Martyr Apol I, 16,9f; 63,5.

3. Das Ringen um Johannes und seine Jünger, 11,1-19 I Übersetzung 1 Und es geschah, als Jesus die Anweisung für seine zwölf Jünger beendet hatte, dass er von dort wegging, um in ihren Städten zu lehren und zu verkündigen. 2 Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken des Messias hörte, schickte er durch seine Jünger Botschaft 3 und ließ ihm sagen:1 Bist du der, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten? 4 Und Jesus gab ihnen zur Antwort: Geht hin und berichtet 257 Wiefel, 207. 258 Hengel-Schwemer, 375.388.439; Riesner, 461; wenigstens für V. 40 auch Luz II 150; Wiefel, 206. Gegen Bultmann Gesch, 152f.167.176; Beare, 253. 259 Gegen Wiefel a.a.O.; Luz a.a.O. 1 BDR § 420,4; 223,3.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

Johannes, was ihr hört und seht: 5 Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, und Tote werden auferweckt und Arme empfangen gute Botschaft. 6 Und glücklich zu preisen ist, wer keinen Anstoß nimmt an mir! 7 Als diese sich auf den Weg gemacht hatten, begann Jesus zu der Menge über Johannes zu reden: Was wolltet ihr denn sehen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid? Ein Rohr, vom Winde bewegt? 8 Oder was wolltet ihr sehen, als ihr hinausgegangen seid? Einen Menschen, der sich in weiche Gewänder hüllt? Siehe, die weiche Gewänder tragen, sind in den Häusern der Könige. 9 Oder was wolltet ihr sehen, als ihr hinausgegangen seid? Einen Propheten? Ja, ich sage euch: Sogar mehr als einen Propheten. 10 Der ist es, über den geschrieben worden ist: Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll. 11 Amen, ich sage euch: Unter den von Frauen Geborenen ist kein Größerer erweckt worden als Johannes der Täufer. Aber der Kleinste im Reich Gottes ist größer als er. 12 Aber von den Tagen Johannes des Täufers an bis jetzt erleidet das Reich Gottes Gewalt, und Gewalttäter reißen es an sich. 13 Denn alle Propheten und das Gesetz weissagten bis hin zu Johannes. 14 Und wenn ihr es annehmen wollt: Er ist Elia, der da kommen soll! 15 Wer Ohren hat, der höre! 16 Womit aber soll ich diese Generation vergleichen? Sie gleicht Kindern, die auf den Marktplätzen sitzen und einander zurufen 17 und sagen: Wir haben euch aufgespielt, und ihr habt nicht getanzt. Wir haben ein Klagelied gesungen, und ihr habt nicht getrauert. 18 Denn Johannes kam und aß und trank nicht, und sie sagen: Er hat einen Dämon. 19 Der Menschensohn kam und aß und trank, und sie sagen: Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern! Und doch wurde die Weisheit gerechtfertigt durch2 ihre Werke.3

II Struktur Im ganzen Abschnitt Mt 11,1-19 ist das Thema „Täufer“ präsent – mit Ausnahme von V. 1. Strukturell wird die Stellung von Mt 11,1 immer umstritten bleiben. Diese Ausnahmestellung kommt schon dadurch zum Ausdruck, dass die Aland’sche

2 ἀπό [apo] heißt „wegen“, „um willen“, „durch“. Vgl. BDR § 210,2. 3 τέκνων [teknōn] ist vermutlich aus Lk 7,35 sekundär eingedrungen: Zahn, 434; G. Schrenk / G. Quell, Art. δίκη usw., TWNT, II, 1935, 218; U. Wilckens, Art. σοφία usw., ThWNT, VII, 1964, 516, Anm. 352. Für „Kinder“ z.B. Schlatter, 180f; Tasker, 119.

3. Das Ringen um Johannes und seine Jünger, 11,1-19

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Synopse Mt 11,1 als selbstständigen Abschnitt auffasst,4 ebenso Carson5 unter der Überschrift „Transitional conclusion“. Moderne Bibelübersetzungen wie BasisBibel, Benedikt-Bibel oder NGÜ verzichten auf jede Zuordnung. Der Grund liegt in einer Doppelfunktion des Verses: Er „dient sowohl dem Abschluß der Rede in Kp. 10 wie auch der Einführung“ von Kapitel 11.6 Infolgedessen verstehen manche Kommentare Mt 11,1 als Abschluss der Aussendungsrede,7 wieder andere jedoch als Beginn des Abschnitts 11,1-19.8 Im Unterschied zu unserem früheren Kommentar9 halten wir jetzt die inhaltliche Nähe zu Mt 11,2ff für stärker und ordnen den Vers folglich dem Abschnitt Mt 11,2ff zu. Dass die Weherufe über die unbußfertigen Städte ab V. 20 einen neuen Abschnitt darstellen, ist dagegen klar. Andererseits sollte man Mt 11,1-19 als Gesamtzusammenhang verstehen, weil ja bis V. 18f der Täufer eine gewichtige Rolle spielt. Für Mt 11,1-19 ergibt sich demnach folgende Untergliederung: 1) ein Summarium über Jesu damalige Tätigkeit (V. 1), 2) die Anfrage des Täufers (V. 26), 3) Jesu Urteil über den Täufer (V. 7-15), 4) Jesu Urteil über die gegenwärtige Generation (V. 16-19).

III Einzelexegese 3.1 Summarium über Jesu damalige Tätigkeit, 11,1 Wie die Kommentare mit Recht bemerken,10 fehlt bei Matthäus jeder Bericht über Erfolg oder Misserfolg der apostolischen Israelmission. Bei Markus (6,12f ) und Lukas (9,6; 10,17ff ) ist das anders. Weshalb verfährt Matthäus so? Die beste Erklärung für diesen Sachverhalt ist die, dass sich Matthäus ganz auf Jesus konzentriert (vgl. 1,1) und deshalb viele Erfahrungen der Jünger übergehen kann.11

4 5 6 7

Aland Syn, 150. Carson, 259; auch France, 191. Gaechter, 355; ebenso Hendriksen, 483; Luz II 153. So Wiefel 205; Luz II 153; Schniewind, 136; Zahn, 417; Bultmann Gesch, 359; TheißenMerz, 46; Beare, 153; Sand, 234. 8 So Klostermann, 92ff; Hendriksen, 480; Tasker, 113; LSB, 1602; Schlatter, 171; Fiedler, 237. 9 Maier I, 368. 10 Hendriksen, 483; Beare, 251f; Luz II 154. 11 Hendriksen a.a.O.; Carson, 260.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

Das Summarium in V. 1 greift einerseits 4,23 und 9,35 auf,12 andererseits ist es wie 7,28; 13,53; 19,1; 26,1 gestaltet.13 Solche Wiederholungen erhöhen pädagogisch die Einprägsamkeit und unterstreichen den lehrhaften Charakter des Evangeliums. Doch hat gerade Mt 11,1 seine Besonderheiten. Matthäus möchte mit diesem Vers zunächst die Aussendung von 10,5-42 abschließen. Vergleiche unsere Erwägungen zur Struktur. Sodann kennzeichnet er den Inhalt von Mt 10,5-42 mit dem Partizip διατάσσων [diatassōn]. Das Verb διατάσσειν [diatassein] begegnet nur hier im Matthäusevangelium. Übersetzt wird es in Mt 11,1 mit „Verordnungen“ (Klostermann z. St.), „Beauftragung“ (Gaechter), „Befehle“ (Luz) u.Ä. Die Kernbedeutung ist „mit Autorität anordnen“.14 Deshalb haben wir es mit „Anweisung“ übersetzt. Vermutlich nimmt Paulus in 1Kor 9,14 auf unseren Sachverhalt Bezug.15 In den Augen des Matthäus hat also Mt 10,5-42 verbindlichen Charakter auch für die apostolische und die kommende Zeit. Drittens gebraucht Mt 11,1 die Bezeichnung Jünger (μαθηταί [mathētai]) für die Apostel, ebenso wie 10,1 und an späteren Stellen. Für Matthäus repräsentieren die zwölf Apostel die Jüngerschaft überhaupt. Vers 1 sagt, dass Jesus von dort – also dem Ort der Aussendungsrede, der ungenannt bleibt – wegging, um in ihren Städten zu lehren und zu verkündigen. Wichtig ist hier die Beobachtung von Klostermann:16 Es sieht so aus, „als ob Jesus sich mit den Zwölfen weiter begibt“. Zwischen 10,42 und 11,1 läge also eine Zeit der Mission, über die wir nichts weiter erfahren. Aber wie in 9,35ff und 4,23ff müssen wir voraussetzen, dass ihn seine Jünger in 11,1ff wieder begleiten. Lehren und verkündigen (διδάσκειν καὶ κηρύσσειν [didaskein kai kēryssein]) sind uns schon von 4,23 her vertraut. Siehe die Erklärung dort. Diskutiert wird die Wendung in ihren Städten.17 Wer sind ihre Städte? Die Verse 20ff legen es nahe, an die Städte der Galiläer zu denken.18 Aber warum sagt Matthäus ihre Städte? Ist das ein Ausdruck von Distanz? Nicht unbedingt. Es könnte – vielleicht noch besser – auch ein Ausdruck von Stolz und Trauer sein: Stolz über Israel, weil gerade ihm die erste Mission galt (vgl. Mt 10,5f ), und Trauer über das geliebte Galiläa, das sich dieser Mission teilweise verschloss (vgl. Mt 11,20ff ). Jedenfalls hat Gaechters ansonsten 12 13 14 15 16 17 18

Gaechter, 355; Luz a.a.O. Vgl. Wiefel, 207. G. Delling, Art. τάσσω usw., ThWNT, VIII, 1969, 34f. Delling a.a.O., 35. Klostermann, 93. Vgl. Carson, 260. Carson a.a.O.; Zahn, 417; LSB, 1602.

3. Das Ringen um Johannes und seine Jünger, 11,1-19

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wertvoller Kommentar hier falsch geurteilt, wenn er Mt 11,1 als „literarisch, nicht historisch“ einstuft.19 Nein, Mt 11,1 ist eine zutreffende historische Notiz über Jesu damalige Tätigkeit.

3.2 Die Anfrage des Täufers, 11,2-6 In jener Zeit der fortgesetzten Tätigkeit Jesu passiert, was V. 2 schildert: Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken des Messias (τὰ ἔργα τοῦ Χριστοῦ [ta erga tou Christou]) hörte, schickte er durch seine Jünger Botschaft (πέμψας διὰ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ [ pempsas dia tōn mathētōn autou]). Johannes der Täufer ist mehr als eine Ouvertüre des Evangeliums. Er bleibt wie bei Johannes und in der Apostelgeschichte über weite Strecken präsent (vgl. Mt 4,12; 9,14; 11,7ff; 14,2ff; 16,14; 17,13; 21,25.32; Joh 3,23ff; 4,1; 5,33ff; 10,40ff; Apg 1,5.22; 10,37; 11,16; 13,24; 18,25; 19,3f ). Seit Mt 4,12 wissen wir, dass Johannes verhaftet wurde. Er befand sich in Festungshaft auf Machärus in Peräa, also bei Herodes Antipas (4 v.Chr. – 39 n.Chr.).20 Nach Mt 11,2 bestand jedoch seine Jüngerschaft weiter. Es muss immer wieder Kontakte zwischen ihm und seinen Jüngern gegeben haben (Lk 7,18). So konnte er aus ihren Reihen auch Boten zu Jesus schicken. Die Vermutung liegt nahe, dass herodianische Beamte heimlich zu Johannes hielten und solche Kontakte ermöglichten. Der Manaën von Apg 13,1 könnte ein Beispiel dafür sein. Auffällig ist die Redewendung Werke des Messias (ἔργα τοῦ Χριστοῦ [erga tou Christou]). Sie ist zweifellos älter als die Varianten Ἰησοῦ/κυρίου [Iēsou/kyriou].21 Dann aber wollte Matthäus offensichtlich Johannes zitieren, der eben vom Messias / ‫שׁיָחא‬ ִ ‫[ ְמ‬mᵉschīchāʾ] / ‫שׁיַח‬ ִ ‫[ ָמ‬māschīach] / μεσσίας [messias] sprach.22 Es ist nicht nur ein semantischer Verlust, wenn im Deutschen dauernd von „Christus“ statt vom „Messias“ die Rede ist.23 Denn dadurch lockert sich die Verbindung zum alttestamentlichen und jüdischen Messias und macht aus dem Messias Jesus einen geschichtsenthobenen Christus. Was sind die Werke des Messias? Biblisch sind es die Werke von Jes 8,23f; 9,5f; 11,1ff; 29,18ff; 35,4ff; 42,1ff; 49,1ff; 50,4ff; 52,13f; 53,1ff; 61,1ff und verwandter

19 Gaechter, 355. Besser Hendriksen, 483: „The Great Galilean Ministry is continuing“! Sand, 234, folgt wörtlich Gaechter. 20 Josephus Ant XVIII, 119. 21 Zahn, 418, Anm. 2. 22 Anders Tasker, 117: Χριστός [Christos] ist matthäische Formulierung; ebenso Carson, 261; Luz II 167. 23 Selbst in der BasisBibel.

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Stellen im AT (vgl. V. 4ff ).24 Für Johannes in seiner konkreten Situation sind es die Worte und Taten Jesu.25 Gehört hat er sie durch seine Jünger (Lk 7,18). Die Frage, die der Täufer stellt, ist bei Lukas (7,19) und Matthäus (11,3) bis auf eine kleine Abweichung wörtlich übereinstimmend überliefert:26 Bist du der, der kommen soll27 (σὺ εἶ ὁ ἐρχόμενος [sy ei ho erchomenos]), oder sollen wir auf einen anderen warten? Der, der kommen soll, wörtlich: „Der Kommende“, geht sehr wahrscheinlich auf Ps 118,26 zurück, wo das Hebr. ‫[ ָבּרוְּך ַה ָבּא‬bārūk habbāʾ] und die LXX εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος [eulogēmenos ho erchomenos] hat. Ps 118,26 wird ja gerade beim Einzug Jesu in Jerusalem angestimmt, wobei das εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος [eulogēmenos ho erchomenos] in allen vier Evangelien vorkommt (Mt 21,9; Mk 11,9; Lk 19,38; Joh 12,13)!28 Auf jeden Fall ist der Sinn der Anfrage des Täufers: „Bist du der Messias?“ Vergleiche Mt 3,11. Dabei trägt das vorangestellte σύ [sy] einen starken Ton: Bist „du“ es wirklich? Ist es Jesus nicht, dann müssen Israel und der Täufer auf einen anderen warten – eben den wahren Messias. Die Überlieferung dieser Anfrage besitzt ein kaum zu überschätzendes Gewicht. Denn zweifellos ergibt sich eine Spannung zu früheren Täuferaussagen, die Jesus eindeutig als den wahren Messias bezeichnen (Mt 3,14; Joh 1,29ff.35ff; Apg 13,23ff ). Wenn die Urkirche dennoch von den Zweifeln des Täufers berichtet, muss sie erstens von der Messianität Jesu tief überzeugt und zweitens bereit gewesen sein, sich jeder Diskussion zu stellen. Sodann macht diese Anfrage klar, dass es bei Jesus von Anfang an um seine Messianität ging. Die Vorstellung, dass die Urkirche „das Messiasbewusstsein ins Leben Jesu zurückgetragen“ hat29 oder William Wredes These, „dass sich Jesus thatsächlich nicht für den Messias ausgegeben hat“,30 erweisen sich von daher als skurril.31 Drittens bleibt zu beachten, dass der Täufer weder die Frömmigkeit Jesu noch seine bisherige Vollmacht kritisiert.32 Es geht einzig und allein um den Punkt: Ist Jesus wirklich der angekündigte Messias? Fast scheint es, als sei der Täufer bereit, in Jesus den biblisch angekündigten Vorläufer des Mes-

24 25 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. 4Q521 (Theißen-Merz, 197). Luz II 167; Zahn, 418. Vgl. Carson, 261. ὁ ἐρχόμενος [ho erchomenos] hat futurischen Sinn (BDR § 323,3). Vgl. in der LXX Dan 7,13; Hab 2,3; Mal 3,1 sowie Mt 3,11 und BDR § 323,3; Tasker, 118. Kümmel NT, 362. Bei Kümmel NT, 366f. Ähnlich Luz II 166f; Theißen-Merz, 188ff. Vgl. Carson, 261; Hengel-Schwemer, 338; Riesner, 299ff. Ebenso Zahn, 420.

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sias zu sehen33 und für sich selbst auf diese Rolle zu verzichten. Erst jetzt darf man Vermutungen über die Beweggründe des Täufers anstellen. Sie scheinen in zwei Anfechtungen zu liegen. Die erste entstand vermutlich dort, wo er den kommenden Messias als Richter ankündigte (Mt 3,12). Jesus aber trat nicht als Richter auf, sondern als Retter (vgl. Mt 1,21). Erst bei seiner Wiederkunft wird er der Richter sein (Mt 13,40ff; 16,27; 19,28; 21,44; 24,29ff; 25,19ff.31ff; 26,64; Offb 19,11ff ). Joh 3,17ff klärt diesen Sachverhalt. Die zweite Anfechtung scheint in der persönlichen Situation des Johannes zu liegen. Soll er als Prophet des Herrn auf Machäus elend zugrunde gehen, während der Messias in Israel präsent ist?34 Das erscheint als widersinnig und verträgt sich nicht mit der Erwartung der Pharisäer (Ps Sal 17-18) und der Essener (1QSa). Lassen die Vorbilder des Messias, Mose und David, nicht etwas anderes erwarten? Jesus aber geht davon aus, dass er in dieser Welt zunächst leiden muss (vgl. Mt 9,15; 10,24f.38f ). Erst danach kommt er in Macht und Herrlichkeit und befreit die Seinen (Mt 24,29ff ). Hat nicht Johannes selbst gesagt, Jesus sei „Gottes Lamm“ (Joh 1,29.36)? Die Antwort Jesu erstreckt sich bei Matthäus über drei Verse (V. 4-6). Wieder fällt die Zahl wörtlicher Übereinstimmungen mit Lk 7,22f auf. Und Jesus gab ihnen zur Antwort: Geht hin und berichtet Johannes, was ihr hört und seht (V. 4): Der Täufer und seine Jünger werden einer ausführlichen Antwort gewürdigt. Auch Jesus rechnet mit der Möglichkeit, dass sie Johannes berichten können. Es fällt nun aber auf, dass Jesus auf die Frage „Bist du der Messias?“ nicht mit einem „Ich binʼs“ (ἐγώ εἰμι [egō eimi], vgl. Mk 14,62) antwortet, auch nicht mit einem messianischen Statement, sondern ganz auf die eigene Erfahrung der Täuferjünger abhebt: was ihr hört und seht. Die Berührung mit Joh 1,39.46 ist unübersehbar. Warum diese Antwort? Vermutlich soll sie dem Zwei-Zeugen-Recht des AT entsprechen.35 Die Täuferjünger sollen dem angefochtenen Johannes nicht nur Jesusworte überbringen, sondern selbst als Zeugen der Werke des Messias (V. 2) auftreten – welche Barmherzigkeit gegenüber Johannes!36 Vers 5 zählt sechs „Werke des Messias“ (V. 2) auf:37 Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, und Tote werden auferweckt und Arme empfangen gute Botschaft. Der Ton ist 33 34 35 36 37

Ebenso Zahn, 420. Vgl. Schlatter, 172. Dtn 17,6; 19,15. Vgl. Zahn, 423. Anders Jeremias Gleichnisse, 116: „nicht … aufzählen – sondern“ nur „Bilder für die Erlösungszeit“.

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nüchtern und sachlich, fast wie bei einer Registrierung. Bei Blinden vgl. 9,27ff, bei Lahmen 8,5ff und 9,1ff, bei Aussätzigen 8,1ff, bei Toten-Auferweckungen 9,18ff, bei guter Botschaft für die Armen 4,23; 5,1ff; 9,35. Taube sind vermutlich in 4,23; 9,35 eingeschlossen. Jesus nennt also die Fakten. Erklärungen scheint er nicht abgegeben zu haben. Dass die Werke als solche für Jesus zeugen, ist auch im Johannesevangelium ein wichtiger Gedanke (Joh 5,36; 10,25.37f; 14,10f; 15,24). Von daher hätte die Debatte über die „Faktizität“ der Wunder in der protestantischen Exegese anders verlaufen müssen. Es fällt auf, dass Mt 11,5 im Wesentlichen mit den Aussagen Jesajas (29,18f; 35,5f; 42,18; 61,1ff ) über die messianische Zeit übereinstimmt.38 Infolgedessen ist Mt 11,5 ein klares Ja auf die Frage des Johannes:39 „Bist du der Messias?“ Aber Jesus liebt es, die Realität sprechen zu lassen, statt mit großen Deklarationen vor die Welt zu treten. Übrigens zählt Mt 11,5 viele Machttaten Jesu gar nicht auf, die schon geschehen sind: Heilung vom Fieber (8,14f ), von Besessenheit (4,24; 8,16.28ff ), von Mondsucht (4,24), von Blutfluss (9,18ff ), von Stummheit (9,32ff ) oder die Sturmstillung (8,23ff ). Vergleicht man Johannes den Täufer oder die Rabbinen oder auch die früheren Propheten Israels mit Mt 11,5, dann ist Jesus Israels größter Wundertäter gewesen. Niemand in dieser Welt kann beanspruchen, größere Wunder getan zu haben als Jesus. Jesus schließt seine Antwort mit einer kurzen Seligpreisung, die eine Einladung und Warnung zugleich ist: Und glücklich zu preisen ist, wer keinen Anstoß nimmt (σκανδαλισθῇ [skandalisthē]) an mir! (V. 6). Diese Seligpreisung gilt dem Täufer, seinen Jüngern und selbstverständlich allen Hörern. Fiedler hat hier recht: „Indem Jesus sich … als endzeitlicher Gesandter Gottes ausweist, kann er erwarten, dass er angenommen wird.“40 Dieses glücklich zu preisen – wörtlich übereinstimmende Überlieferung bei Matthäus und Lukas (7,23) – führt nicht in die eisige Höhe akademischer Gedanken, auch nicht in Esoterik oder Mystik, sondern in die Bereitschaft, sich an den von Gott geschaffenen Tatsachen und an seinem Wort zu orientieren. Der alte Prälat Friedrich Albert Hauber, Generalsuperintendent und erster Frühprediger am Münster zu Ulm, hat es 1864 so formuliert: „durch Thatsachen löst er ihm seinen Zweifel“.41 Das griechische σκανδαλίζειν [skandalizein], zurückgehend wohl auf hebr. ‫[ כשׁל‬kschl] und aram. ‫[ תקל‬tql],42 bedeutet im Passiv „zur Sünde 38 39 40 41 42

Hengel-Schwemer, 393; Riesner, 300; Beare, 257. Schlatter, 174. Fiedler, 238. In „Evangelisches Hauspredigtbuch“, Ulm (1864), 19. G. Stählin, Art. σκάνδαλον usw., ThWNT, VII, 1964, 340.

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verleitet werden“,43 im Verhältnis zu Gott „straucheln“, „zu Fall kommen“, „am Glauben gehindert werden“ und in diesem Sinne: Anstoß nehmen.44 Kurz gesagt: Der Makarismus gilt denen, die in ihrem Glauben an Jesus nicht irre werden. Welche Tragödie, wenn Johannes als Prophet in seinem Glauben an Jesus irre würde! Aus Mt 11,6 ergibt sich, dass der Täufer bisher an Jesus als den Messias glaubte. Allerdings war er jetzt von Zweifeln geplagt. Matthäus erzählt nicht, wie der Täufer die Antwort Jesu aufnahm. Aber aus Mt 11,7ff; 17,10ff und 21,32 müssen wir folgern, dass Johannes Glauben gehalten hat.45 Nach seinem Tod schlossen sich viele seiner Jünger an Jesus an (Mt 14,12; Apg 19,1ff ). Extreme jedoch spalteten sich ab. Aus ihnen gingen spätere Täuferbewegungen wie z.B. die Mandäer hervor. Zurück zu Mt 11,6: Der Vers hat, wie besonders Stählin betonte,46 eschatologische Bedeutung. Denn an der Stellung zu Jesus entscheidet sich unsere Beurteilung im Jüngsten Gericht. Deshalb sind diejenigen „glücklich zu preisen“ (μακάριοι [makarioi]), die den Glauben an Jesus als Messias und Sohn Gottes bewahren.47 Noch größer ist die christologische Bedeutung des Verses. Denn hier kommt das Selbstverständnis Jesu klar zum Ausdruck, dass er Gottes Gesandter, Messias und Gottes Sohn ist.48

IV Zusammenfassung 1. Die Frage des Täufers betrifft einen Punkt, der für das gesamte Judentum wichtig war und der zugleich eine existenzielle Krise des gefangenen Täufers enthüllt: Ist Jesus wirklich der Messias? 2. Dass die Urkirche eine solche Zweifelsfrage in zwei Evangelien (Matthäus, Lukas) überlieferte, zeigt, wie tief und unumstößlich ihre Überzeugung von der Messianität Jesu war. 3. Jesus beantwortet die Frage mit einem klaren Ja, und zwar so, dass er seine Taten und mehrere Zeugen – die abgesandten Täuferjünger – für sich sprechen lässt. Er macht im Anschluss daran (V. 6) klar, dass sich ewiges Leben und ewiges Gericht an der Stellung zu seiner Person entscheiden. 4. Wie überall in den Evangelien wird auch hier die kritische Frage nach der Historizität gestellt. Autoren wie Bultmann oder Beare rechnen mit Gemein43 44 45 46 47 48

Bauer-Aland, 1504. Vgl. Stählin a.a.O., 346ff. So auch Zahn, 430. Stählin a.a.O., 349f. Mt 13,57; 18,6; 24,10; 26,31; Joh 6,61; 16,1. Vgl. wieder Stählin a.a.O., 350; Cullmann, 162ff; Hengel-Schwemer, 333.427.

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debildung in Mt 11,2-6.49 Mit Recht wird diese Hypothese von anderen Exegeten abgelehnt.50 Jesus weist offensichtlich auch nicht auf künftige Vorgänge hin,51 sondern auf die gegenwärtige Realität,52 die helfen kann, dem Täufer seinen Glauben zu bewahren. 5. Angesichts der Vorgänge, die in Mt 11,2ff; Lk 7,18ff geschildert werden, erweist sich die These von William Wrede, „dass sich Jesus thatsächlich nicht für den Messias ausgegeben hat“,53 als historisch unmöglich. Vielmehr enthalten Jesu Worte in Mt 11,2-6 bereits eine „explizite Christologie“.54

3.3 Jesu Urteil über den Täufer, 11,7-15 Ob V. 7ff „Sofort nach Abfertigung der Boten des Joh. –, noch während man sie fortgehen sieht“,55 gesprochen sind, muss offenbleiben. Die einleitenden Worte Als diese sich auf den Weg gemacht hatten (Τούτων δὲ πορευομένων [Toutōn de poreuomenōn], V. 7) lassen auch Raum für einen größeren Abstand.56 Aber es ist nun Jesus, der zu reden begann. Offenbar war es ihm ein Anliegen, in der gegebenen Situation ein Wort für Johannes einzulegen.57 Er wendet sich an die Menge (τοῖς ὄχλοις [tois ochlois]), was sehr wohl die Jünger einschließen kann. Schon jetzt bemerken wir, dass Lk 7,24ff als Parallele zu Mt 11,7ff bis in den Wortlaut gehende Überstimmungen aufweist. Jesus beginnt mit einer Reihe von Fragen, die die Hörer zum Nachdenken bringen sollen. Er steht darin in einer Linie mit den Gottesworten im AT, die ebenfalls häufig Fragen an die Menschen richten – seit Gen 3,9. Was wolltet ihr denn sehen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid? Jesus nimmt hier Bezug auf das in Mt 3,5ff berichtete Geschehen. Ein Rohr, vom Winde bewegt? Rohr ist hier Schilfrohr,58 das vom Winde bewegte Rohr taucht in jüdischer (1Kön 14,15; 3Makk 2,22) wie in hellenistischer Literatur auf.59 Eine Bezugnahme auf das Rohr in Jes 42,3 ist eher unwahrscheinlich. „Rohr im Winde“ entspricht der deutschen Redensart „sein Fähnlein nach dem Win-

49 50 51 52 53 54 55 56 57

Bultmann Gesch, 22; Beare, 257. Schlatter, 173f; Stählin a.a.O., 349; Riesner, 299ff; Hengel-Schwemer, 466f. Gegen Bultmann Gesch, 136. Hengel-Schwemer, 333.466f; Theißen-Merz, 320. Zitiert nach Kümmel NT, 366f. Hengel-Schwemer, 333. So Zahn, 423. Für Letzteres Tasker, 118; Carson, 263. Zahn a.a.O.: Jesus wollte „den üblen Eindruck, welchen das Schwanken des Joh. – … machen konnte, … verwischen“. 58 Bauer-Aland, 809. 59 G. Bertram, Art. σαλεύω usw., ThWNT, VII, 1964, 69.

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de hängen“.60 Nein, Johannes war ein Charakter und blieb trotz Zweifel und Anfechtung in seiner Haltung fest.61 Vers 8 ist parallel zu V. 7 gebaut: was wolltet ihr sehen …? – Einen Menschen, der sich in weiche Gewänder hüllt (ἐν μαλακοῖς [en malakois])? Weich, μαλακός [malakos], hat einen negativen Klang. Man denke an die Lasterkataloge (1Kor 6,9). Weil gleichzeitig von denen die Rede ist, die in den Häusern der Könige sind, bezieht man diese Beschreibung mit Recht auf die Höflinge.62 Bei den Häusern der Könige kann man an Tiberias, Cäsarea Philippi, aber auch an die Paläste der Herodianer in Jerusalem, Jericho, Masada, Machärus, Kypros oder Alexandrium denken. Was Jesus sagte, war unmittelbar anschaulich. Man muss hier keine Benutzung Äsop’scher Fabeln annehmen.63 Nein, Johannes war kein Höfling, keiner, der sich in weiche Gewänder hüllt. Vielmehr trug er raue, härene Kleidung aus Kamelhaaren (Mt 3,4). Unüberhörbar lobt hier Jesus den Johannes. Aus dem Vers jedoch herauslesen zu wollen, dass Jesus ein Verdammungsurteil über jede höfische oder schöne Kleidung spricht, wäre zu viel.64 Der 9. Vers wahrt formal die Parallelität mit V. 7 und 8, führt aber inhaltlich in eine andere Richtung. Hier muss die Antwort „Ja“ lauten: Oder was wolltet ihr sehen, als ihr hinausgegangen seid? Einen Propheten? Das folgende ναί [nai], Ja, teilt Jesus mit dem Volk, wie auch aus Mt 14,5; 17,10ff; 21,25ff.32 hervorgeht. Aber die Annahme, dass Johannes ein „Prophet des Höchsten“ (Lk 1,76) sei, ist alles andere als selbstverständlich. Nach allgemeiner jüdischer Auffassung gab es seit Maleachi keinen Propheten im Vollsinne mehr.65 Letzten Endes folgten auch die führenden rabbinischen Autoritäten der Zeit Jesu dem Johannes nicht (Mt 21,25ff.32). Jesus aber konnte sagen: Ja, ich sage euch: Sogar66 mehr als einen Propheten. Mit dem περισσότερον προφήτου [ perissoteron prophētou] tut sich eine Kluft auf. Auf der einen Seite stehen Johannes mit seinem prophetischen Bewusstsein67 (Joh 1,23.31ff ), seine Familie (Lk 1,76), das Volk (Mt 14,5; 60 Hengel-Schwemer, 278.312, deuten das schwankende Rohr wie Theißen auf Herodes Antipas. Auf die herodianischen Höflinge deutet Flusser, 153, das Rohr – alles Möglichkeiten, aber eben nur Vermutungen. Vgl. noch Fiedler, 239; Luz II 174. 61 Bertram a.a.O.; Zahn, 423f. 62 Siehe vorletzte Fußnote. Beispiele für weiche Gewänder: chinesische Seide oder die königlichen Kleider am persischen Hof (Est 6,8). Vgl. Schniewind, 142. 63 Gegen Luz a.a.O.; Flusser, 151. 64 In diese Gefahr gerät Wilckens I/1, 122. 65 1Makk 4,46; 9,27; 14,41; Josephus Contra Ap I, 41; b Baba bathra 14b. 66 BDR § 442,23. 67 Riesner, 292.

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21,25ff.32) und Jesus (Mt 11,7ff ). Auf der anderen Seite stehen die Herodianer (Mt 14,1ff ) und die jüdischen Autoritäten (Mt 21,25ff ). Sollte diese Kluft nicht doch etwas mit dem historischen Vorgang zu tun haben, dass der Täufer für die Messianität Jesu eintrat? Dass Evangelium und Apostelgeschichte sich auf den Täufer berufen, zeigt, wie eng das Verhältnis zum Täufer war.68 Was ist mehr (wörtlich: überschießender) als ein Prophet?69 Darauf gibt es zwei Antworten: 1) Es ist einer, der nicht nur verkündigt, sondern sogar die endzeitliche Erfüllung seiner Verkündigung erlebt. Das war bei Johannes der Fall (vgl. Mt 11,5; 13,17). 2) Es ist einer, den Gott gewürdigt hat, der Vorläufer seines Sohnes und des Messias zu sein. Auch das war bei Johannes der Fall (vgl. Mal 3,1.23f; Lk 1,76ff; Mt 17,10ff ).70 Die folgenden Verse werden davon handeln. Der ist es – also Johannes ist es –, über den geschrieben worden ist: Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll (V. 10). Jesus zitiert hier Mal 3,1. Allerdings haben sowohl MT als auch LXX ein anderes Possessivpronomen: „meinen Weg / vor mir“. Eventuell liegt ein Kombinationszitat aus Mal 3,1 und Ex 23,20 vor,71 was insofern sinnvoll wäre, als Jesus, der Messias und Gottessohn, zugleich der zweite Mose ist. Mose aber gilt die Verheißung: „Siehe, ich sende ein Boten/Engel vor dir her, damit er dich auf dem Weg bewahrt und dich an den Ort bringt, den ich bereitet habe.“ Jesus konnte beide Stellen, Mal 3,1 und Ex 23,20, gut miteinander verbinden, wenn er als Gottessohn das göttliche „ich“ in Mal 3,1 auch auf sich beziehen durfte. Schließlich steht als dritte alttestamentliche Stelle Jes 40,3 im Hintergrund. Dort ruft eine Stimme: „Bereitet den Weg des HERRN (Jahwes)!“ Gerade diese Stimme wollte Johannes nach Joh 1,23 sein. Fazit: Alle drei Stellen sprechen von einer Vorbereitung des göttlichen Weges in der Endzeit durch einen Gesandten Gottes („Bote“/„Stimme“). Jesus als Gottes Sohn wusste, dass es sich um seinen Weg auf dieser Erde handelte. Man kann Mt 11,10 schwerlich überschätzen. Drei Punkte seien hervorgehoben: 1) Johannes ist also der Vorbereiter des Weges, der Vorläufer Jesu. So hat er die Dinge selbst gesehen (Mt 3,11f; Joh 1,23.30; 3,28). So haben es die Evangelisten gesehen (Mk 1,2 parr), und so haben es viele Ausleger der Alten Kirche ausgelegt (Irenäus, Ephraem, Hieronymus, Cyrill, Theodoret).72 Diese 68 69 70 71 72

Hengel-Schwemer, 325.337. Vgl. BDR § 60,5. Vgl. Schniewind, 143; Schlatter, 176; Irenäus Adv. haer. III, 11,4; Beare, 259. France, 194. Vgl. Fiedler, 239. Vgl. meinen Kommentar „Der Prophet Haggai und der Prophet Maleachi“ in der WStB, 1985, 166, und Irenäus Adv. haer. III, 11,4.

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Enge des Verhältnisses zu Jesus, diese einmalige heilsgeschichtliche Position macht ihn zu mehr als einem Propheten73 (V. 9). 2) In Jesu Augen beginnt also jetzt die Endzeit. Es kommt der Neue Bund. Es kommt die Zeit der Erfüllung. So hat er es in Nazareth gepredigt (Lk 4,21). Auch deshalb steht der Prophet Johannes über allen bisherigen Propheten, die nur verkündigt, die Erfüllung aber nicht erlebt haben.74 3) Jesus selbst kann diese Worte nur sagen, weil er der göttliche Herr von Mal 3,1; Jes 40,3 ist und zugleich der zweite Mose nach Dtn 18,15; Ex 23,20. Sein Messiasbewusstsein, sein Gottessohnbewusstsein stehen nach Mt 11,10 fest, es sei denn, man hätte ihm diese Worte fälschlich in den Mund gelegt. Von daher ist eine Reihe von Messiasbewusstsein-Debatten umsonst geführt worden. Man versteht jetzt, dass es keinen Größeren unter den Menschen gibt als Johannes (V. 11). In V. 11 fällt die stark semitische Sprachfärbung auf. Die von Frauen Geborenen sind eben die Menschen (Hiob 14,1; 15,14; 25,4). Dass jemand erweckt wird im Sinne von „geboren werden“, geht wieder auf das hebr. ‫[ קוּם‬qūm] zurück.75 In den zweiten Satz von V. 11 hat Jesus eine herausfordernde Botschaft gepackt, immer noch eingeleitet durch das feierliche Amen: Aber der Kleinste im Reich Gottes ist größer als er. Der allgemeine Sinn dieser Aussage liegt auf der Hand: Das Reich Gottes übertrifft alles bisher Dagewesene. Deshalb sind auch diejenigen, die dort aufgenommen werden, glücklicher zu preisen und höher zu gewichten (größer) als der Täufer während seines irdischen Wirkens. Aber die genauere philologische Erfassung macht Mühe. Ist ὁ μικρότερος [ho mikroteros] Komparativ („der Kleinere“) oder Superlativ („der Kleinste“)? Beides ist möglich.76 Schlatter nimmt einen Komparativ an und übersetzt „wer aber kleiner ist, wird bei der Herrschaft der Himmel größer als er“.77 Daraus resultiert für ihn eine doppelte Auslegung: 1) Der Jünger (der Kleinere) steht über dem Täufer, weil er „Empfänger des göttlichen Reiches“ ist;78 2) jeder, der sich im Dienst für Gott wie Jesus „klein“ macht, wird von Gott noch über den Täufer erhoben.79 Die Auslegung Schlatters bleibt im Rahmen des NT weiterhin möglich. Uns scheint jedoch, dass die Themen „Täufer“ und „Reich Gottes“ im Kontext von Mt 11,4-19 eine führende Rolle spielen, nicht aber der „Dienst für Gott“. 73 74 75 76 77 78 79

Carson, 264. Vgl. Schniewind, 143. Vgl. Gesenius, 708; J. Gamberoni, Art. ‫קוּם‬, ThWAT, VI, 1989, 1259ff. Vgl. BDR § 60ff; 244ff; Tasker, 118. Schlatter, 177. A.a.O. Ebenso Beare, 259f. Schlatter, 177f.

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Deshalb liegt für uns die zweite oben erwähnte Auslegungsmöglichkeit zu weit ab. Ferner sollte man es vermeiden, in V. 11 eine Alternative Jünger/Täufer aufzubauen. Wohl erinnert ὁ μικρότερος [ho mikroteros] = der Kleinste80 an die Jüngerbezeichnung „Kleine“ (μικροί [mikroi]) in Mt 10,42.81 Aber in Mt 11,5ff will Jesus ja keinen Vergleich zwischen dem Täufer und seinen Jüngern anstellen, sondern verkündigen, wie Gott den Täufer und die Menschen beurteilt. Und da gilt: In der bisherigen Menschengeschichte ist der Täufer der Größte, aber im kommenden Gottesreich – zu dem Jesus einlädt! – ist noch der Kleinste größer als er.82 Nicht Täufer und Jünger, sondern das Jetzt und das Dann stehen sich in V. 11 gegenüber.83 Nur so findet man eine Brücke zu V. 12: Vers 12 beinhaltet den sog. Stürmerspruch: Aber von den Tagen Johannes des Täufers an bis jetzt erleidet das Reich Gottes Gewalt, und Gewalttäter reißen es an sich. Bis heute hat dieser Vers keine allseits befriedigende Erklärung gefunden.84 Gottlob Schrenk stellte die Auslegungsmöglichkeiten übersichtlich zusammen:85 1) βιάζεται [biazetai], intransitiv und medial aufgefasst, kann heißen: „bricht sich mächtig Bahn“.86 Das würde mit Mt 12,28 übereinstimmen, stößt aber auf die Schwierigkeit, dass βιαστής [biastēs], Gewalttäter, grundsätzlich im üblen Sinn gebraucht wird87 und folglich in V. 12 zwei völlig verschiedenartige Aussagen nebeneinanderstünden. 2) Grammatisch möglich ist die Übersetzung „das Reich Gottes gebraucht Gewalt“.88 Aber eine solche Aussage verstößt gegen Jesu gesamte Predigt (Mt 5,1ff; 9,33ff; 10,5ff; 11,28ff; 12,19ff ) und scheidet deshalb aus. 3) Seit Clemens Alexandrinus vertreten und besonders von Luther praktiziert ist eine passivische Deutung von βιάζεται [biazetai] im Sinne von „man 80 Mit Tasker, 118, nehmen wir einen Superlativ an. Ebenso France, 194; Schniewind, 142f; Luz II 172ff; Carson, 262ff. Für Komparativ Fiedler, 238; Hengel-Schwemer, 174.337f (Deutung auf Jesus selbst wie Schlatter a.a.O.); Cullmann, 23 (= Jesus); Sand, 238. 81 Vgl. dazu O. Michel, Art. μικρός usw., ThWNT, IV, 1942, 655f. 82 Offensichtlich gibt es im Reich Gottes verschiedene Rangstufen „Kleinste“ und andere, die aber nicht nach den Maßstäben sündiger Menschen (Neid, Rivalität) beurteilt werden dürfen: Mt 5,19; 11,11; 18,1ff; 25,14ff; Lk 19,11ff. Vgl. Riesner, 457f; Theißen-Merz, 258. 83 Ähnlich France, 194; Zahn, 426f. Anders aber Luz II 175f. 84 Schniewind, 144: „Die Auslegung von V. 12 gehört zu den schwierigsten Fragen der Evangelien-Erklärung.“ Carson, 265; Luz II 176; Sand, 240. 85 Im Art. βιάζομαι usw., ThWNT, I, 1933, 609f. 86 Vgl. Bauer-Aland, 281. Vertreten von Zahn, 428. 87 Bauer-Aland a.a.O. 88 Vgl. Bauer-Aland a.a.O.

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drängt ungestüm hinein“. Philologisch ist eine solche Deutung möglich.89 Sie ist die Ursache für die Bezeichnung „Stürmerspruch“. Doch stehen ihr zwei Argumente entgegen: a) normalerweise drückt βιάζεσθαι [biazesthai] feindselige Gewalt aus, b) Jesus hat nirgends sonst die Meinung vertreten, dass die Teilnahme am Gottesreich durch Gewalt erzwungen werden könnte. 4) Eine weitere Möglichkeit wäre die passivische Auffassung in dem Sinne: „das Gottesreich wird von Gott her machtvoll betrieben“ („Magna vi praedicatur“). Doch erheben sich dagegen dieselben Bedenken wie bei 1). 5) Eine fünfte Möglichkeit der Deutung geht von dem Gewaltcharakter des βιάζεται [biazetai] aus und bezieht es auf Menschen, die wie die Zeloten die Gottesherrschaft mit gewaltsamen Aktionen erstreben.90 Schrenk wendet gegen diese Deutung ein, „ein solcher Sonderhinweis auf ein abwegiges Trachten“ passe nicht in den Zusammenhang von Mt 11,7ff. Warum eigentlich nicht? Lässt sich nicht auch Lk 16,16 in diesem Sinne verstehen? 6) Schließlich kann das Passiv βιάζεται [biazetai] auch aussagen, dass dem Reich Gottes Feindschaft entgegenschlägt, es „wird bekämpft, angefeindet oder gehemmt“.91 Schrenk entscheidet sich für diese sechste Möglichkeit. Wie oben angedeutet, scheiden die Deutungen 1) bis 4) unseres Erachtens aus. Es bleiben also 5) und 6), wobei die Unterschiede zwischen diesen beiden gering sind. Fazit: Man sollte bei der Hauptbedeutung von βιάζεσθαι [biazesthai], nämlich Gewalt erleiden im üblen Sinne, bleiben.92 Dann stimmen beide Hälften von V. 12 zusammen. Jesu Aussage zieht also darauf, dass von den Tagen Johannes des Täufers an bis jetzt, das heißt bis hier zur Predigt Jesu,93 der Weg der Buße verkündigt wurde, der ins Reich Gottes führt (Mt 3,2.7f; 4,17). Aber viele Menschen lehnten diesen Weg ab (Mt 21,25ff.32). Stattdessen suchten sie auf selbstgewählten Wegen oder gar durch zelotischgewaltsame Aktionen das Reich Gottes zu erzwingen. Auf diese Weise erleidet das Reich Gottes Gewalt (ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν βιάζεται [hē basileia tōn ouranōn biazetai]). Weiteres Fazit also: Jesus wendet sich in V. 12 gegen die Gegner Johannes des Täufers und sagt, dass sie unrecht haben. Auf diese Weise passt V. 12 hervorragend in den Kontext. Und was den Zelotismus anbelangt, entfiele das Argument, es habe ihn doch schon vor den Tagen Johan-

89 Bauer-Aland a.a.O. Vgl. BDR § 311,1. Vertreten auch von Schniewind, 145; HengelSchwemer, 337.423. 90 So z.B. Sand, 240. 91 Schrenk a.a.O., 610; Bauer-Aland, 281. 92 Fiedler, 240. 93 Inkludierend (BDR§ 216,10). Carson, 266.

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nes des Täufers gegeben.94 Sicherlich – aber erst von den Tagen des Täufers an macht der Zelotismus Front gegen den gepredigten Gottesweg der Buße. Die zweite Hälfte von V. 12 und Gewalttäter reißen es an sich (καὶ βιασταὶ ἁρπάζουσιν αὐτήν [kai biastai harpazousin autēn]) bildet einen synthetischen Parallelismus zur ersten Vershälfte.95 Auch hier sind die βιασταί [biastai] Gewalttäter im üblen Sinne.96 ἁρπάζειν [harpazein] meint das gewaltsame An-sich-Bringen,97 das im Falle des Reiches Gottes freilich scheitern muss. Die Unsicherheit der Exegeten ist auch hier zu spüren. Werner Foerster, der den Artikel ἁρπάζειν [harpazein] für das ThWNT bearbeitete,98 lehnt die Übersetzungen „herbeizwingen“ und „ausplündern“ aus philologischen Gründen ab und lässt nur die drei Bedeutungen a) „wegnehmen/zuschließen“, b) „an sich reißen“ und c) „an sich bringen“ im positiven Sinne (Stürmerspruch) gelten.99 Trotz der von ihm gesehenen Schwierigkeiten – Mt 13,19; 23,13 decken einen solchen positiven Stürmerspruch nicht – entscheidet sich Foerster für die dritte der soeben erwähnten Deutungen.100 Darin können wir ihm nicht folgen. Das Geschehen von V. 12 Gewalttäter reißen es an sich wird von Jesus als Gegensatz zum Täufer beurteilt, wie a) die Wortwahl βιάζεται/βιασταί [biazetai/biastai] und b) V. 16ff beweisen. Jesus stellt sich an die Seite des Täufers. Aber viele sind ihm ungehorsam (βιάζεται [biazetai] und ἁρπάζουσιν [harpazousin] stehen im Präsens!) und suchen sich einen eigenen Zugang zum Reich Gottes, ohne Buße zu tun.101 Denn alle Propheten und das Gesetz weissagten bis hin zu Johannes (V. 13): Klar ist, dass Johannes den Wendepunkt darstellt. Von ihm an tritt das Reich Gottes in Erscheinung (V. 12). Vermutlich hat ἕως [heōs] hier inkludierende Bedeutung wie in V. 12,102 meint also bis einschließlich Johannes. Wie in V. 9-11 wird Johannes noch zum Alten Bund gerechnet, aber doch schon als eine Art „Scharnier“ zum Neuen betrachtet.103 Alle Propheten und das Gesetz sind so viel wie das Alte Testament. Jedoch ruht der Hauptakzent auf den Propheten, weil es ja um das weissagen geht. Es bleibt aber bemer94 95 96 97 98 99 100 101 102

So Schrenk a.a.O. Vgl. BDR § 489.492. Bauer-Aland, 281. Bauer-Aland, 218f. Vgl. Joh 6,15. ThWNT, I, 1933, 471ff. Foerster a.a.O., 472. Foerster a.a.O. Auch Zahn, 428. Ähnlich Schlatter, 178: „eine Klage Jesu über … Israel“; France, 195; Luz II 178. Obwohl BDR § 216,10.11 zur exkludierenden Bedeutung neigt. Aber soll ἕως [heōs] in V. 12 und V. 13 jeweils verschieden gemeint sein? Richtig France, 196; Carson, 268; Hengel-Schwemer, 337. 103 Vgl. Luz II 180; Beare, 260.

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kenswert, dass in den Augen Jesu auch das Gesetz (ὁ νόμος [ho nomos]) prophezeit. Was will V. 13 sagen? Der Vers ist ein Pendant zu V. 12:104 Bis Johannes wurde das Reich Gottes erst nur prophezeit, aber von seinen Tagen an wird es zur Realität (vgl. 1Petr 1,10-12). An V. 14 überrascht seine lapidare Kürze: Und wenn ihr es annehmen wollt: Er ist Elia, der da kommen soll! Annehmen (δέξασθαι [dexasthai]) kann hier doppelte Bedeutung haben: a) eine Aussage für richtig halten, b) eine Aussage verstehen.105 Bei Mt 11,14 entscheidet sich Walter Grundmann für die Bedeutung „verstehen“. Aber dann reibt sich δέξασθαι [dexasthai] mit dem voluntaristischen θέλετε [thelete]. Wenn ihr wollt (εἰ θέλετε [ei thelete]) besagt nach Gottlob Schrenk „Wenn ihr bereit seid“ / „Wenn ihr euch dazu versteht“.106 Die Entscheidung also, ob sie die folgende Aussage Jesu als zutreffend annehmen wollen, liegt im Willen der Hörer. Von „scheinbarer Gleichgültigkeit“ kann man hier bei Jesus nicht reden, wie Zahn mit Recht feststellt.107 Vielmehr handelt es sich um den Appell, „den großen Mann“ und seine „Epoche“ angemessen zu würdigen.108 Er ist Elia, der da kommen soll: Diese absolut eindeutige Identifizierung des Täufers mit dem erwarteten Elia vermittelt eine dreifache Botschaft: 1) Jesus hält sich an die Schrift, denn die sagt, dass Elia kommen soll (ὁ μέλλων ἔρχεσθαι [ho mellōn erchesthai]);109 2) der biblisch angekündigte Elia ist bereits gekommen; 3) mit Recht kann Jesus deshalb beanspruchen, der Messias zu sein. Elia, im NT Ἡλιάς [Hēlias], Ἠλιάς [Ēlias], Ἡλειάς [Hēleias] oder Ἠλειάς [Ēleias],110 hebr. ‫’[ ֵאִליּ ָהוּ‬elījāhū] oder ‫’[ ֵאִליּ ָה‬elījāh] (vgl. 1Kön 17–19.21; 2Kön 1–2; 2Chron 21,12ff; Mal 3,23f; Sir 48,1ff ), ist der einzige Prophet des AT, dessen zweites Kommen direkt in den Heiligen Schriften angekündigt wird (Mal 3,23f ). Wie stark sich das Judentum mit dieser Weissagung beschäftigte, zeigen Sir 48,1ff und 1Makk 2,58.111 Seine Aufgabe sollte die innere und äußere „Restitution“ Israels sein,112 damit Israel das endzeitliche Heil empfangen kann. Elia galt in Israel als der Höchste der Propheten. JereDie Verbindung geschieht durch γάρ [gar]: Carson, 268. Vgl. W. Grundmann, Art. δέχομαι usw., ThWNT, II, 1935, 49ff. Im Art. θέλω usw., ThWNT, III, 1938, 44. Zahn, 430. Zahn a.a.O. Nach Cullmann, 35, ist nur der Name gleichgültig. J. Jeremias, Art. Ἡλ(ε)ίας, ThWNT, II, 1935, 940. Zu den wechselnden Spiritus vgl. BDR § 38,2; 39,7. Weitere Stellen, darunter 4Esr 6,26; 7,109, nennt Jeremias a.a.O., 931. Vgl. Smith-Holland a.a.O., 309. 112 Vgl. Jeremias a.a.O., 935f, sowie B.L. Smith / M. Holland, Art. Elia, GBL, 1, 308ff.

104 105 106 107 108 109 110 111

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mias meint sogar: „Keine biblische Persönlichkeit hat das religiöse Denken des nachbiblischen Judentums so stark beschäftigt wie diejenige des Propheten Elias.“113 Im NT ist Elia nach Mose, Abraham und David die am häufigsten erwähnte Gestalt des AT.114 In allen Evangelien spielt die Erwartung seiner Wiederkunft eine Rolle, wobei Mal 3,23f und 3,1 schon miteinander verbunden sind (Mt 11,7ff; 16,14; 17,10ff; Mk 1,2; 9,11ff; Lk 7,24ff; Joh 1,21). Jesus bestätigt also in Mt 11,14 diese Elia-Erwartung ausdrücklich (vgl. Lk 1,17.76). Aber warum sagt dann Johannes in Joh 1,21 auf die Frage: „Bist du Elia?“ sein „Ich binʼs nicht“? Die beste Erklärung ist immer noch die, dass der Täufer mit sehr bescheidenen Ansprüchen auftreten wollte. Er musste erst Treue gehalten haben, bevor dann ein anderer, nämlich Jesus, sagen konnte Er istʼs (αὐτός ἐστιν [autos estin]).115 Noch einmal sei unterstrichen, dass Mt 11,14 zugleich eine kaum zu überbietende Bestätigung des Messiasbewusstseins Jesu darstellt.116 Vier griechische Worte117 schließen in V. 15 den Abschnitt: Wer Ohren hat, der höre (ὁ ἔχων ὦτα ἀκουέτω [ho echōn ōta akouetō])! Schniewind hat recht: Diese Worte weisen auf „ein Geheimnis“ hin.118 Denn „nicht in Form einer Reinkarnation“ des historischen Elia kam Johannes, sondern, wie es Lk 1,17 ausdrücklich sagt, „in Geist und Kraft Elias“.119 Man konnte sich also in der Beurteilung des Täufers täuschen. Man brauchte geistliche Ohren und geistliche Augen, um ihn als den zweiten Elia zu erkennen. Sonst verhörte man sich „mit hörenden Ohren“ (vgl. Mt 13,13ff; Jes 6,9ff ). Durch die ganze Jesuspredigt, ja durchs NT zieht sich dieser Aufmerksamkeitsruf Wer Ohren hat, der höre! (Mt 13,9.43; Mk 4,23; Lk 14,35; Offb 2,7.11.17.29; 3,6.13.22; 13,9; Ez 3,27). Wer dieses hören herbeisehnt, soll darum beten (Jak 1,5ff ), denn „Ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge, die macht beide der HERR“ (Prov 20,12).

IV Zusammenfassung 1. Mt 11,7-15 enthält eine Würdigung des Täufers durch Jesus. Sie ist maßgeblich für die Christenheit. In seiner Würdigung nennt Jesus den Täufer einen echten Propheten (V. 9), „sogar mehr als einen Propheten“ (V. 9), den 113 114 115 116

Jeremias a.a.O., 930f. Jeremias a.a.O., 936. Anders erklärt Carson, 269: Der Täufer erkannte nicht, dass er Mal 3,23f erfüllte. So mit Recht Cullmann, 35ff; Jeremias a.a.O., 940; Schlatter, 179; Schniewind, 145; Hengel-Schwemer, 338f. 117 ἀκούειν [akouein] in Mt 11,15 ist spätere Auffüllung. 118 Schniewind, 145. 119 Jeremias a.a.O., 940.

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Größten unter den Menschen vor Beginn des Gottesreiches (V. 11), den Gottesboten von Mal 3,1 (V. 10) und den wiederkommenden Elia von Mal 3,23f (V. 14). Höher kann man Johannes den Täufer nicht würdigen. Dass „Die Stellung der christlichen Tradition zum Täufer … eine gespaltene“ gewesen sei, dass die frühe Gemeinde teilweise „antitäuferische Polemik“ betrieben habe,120 lässt sich angesichts der Jesusverkündigung und des Gesamtzeugnisses des NT nicht halten.121 2. An der Historizität der Jesusworte in Mt 11,7-15 kann man schwerlich zweifeln.122 Wer von seinen Zeitgenossen hat Johannes ähnlich hoch angesiedelt? Das tat nicht einmal er selbst (Joh 1,21). 3. Obwohl die Gewalttäter im Stürmerspruch (V. 12) nicht näher identifiziert werden und sowohl politische als auch religiöse Gruppen in weitem Sinne umfassen können, wäre es jedenfalls schwierig zu bestreiten, dass auch die Zeloten darunterfallen dürften. Dann aber ist Mt 11,7-15 ein Zeugnis der Distanz Jesu zum Zelotismus. 4. Der gesamte Horizont der Überlegungen in Mt 11,7-15 und insbesondere das Urteil Jesu über den Täufer, die Orientierung am Reich Gottes und die Elia-Thematik enthüllen dem Leser, dass Jesus sich als der von Gott gesandte Messias verstand.

3.4 Jesu Urteil über die gegenwärtige Generation, 11,16-19 Der Anfang von V. 16 Womit aber soll ich diese Generation vergleichen? (Τίνι δὲ ὁμοιώσω τὴν γενεὰν ταύτην [Tini de homoiōsō tēn genean tautēn]) führt uns in ein anderes literarisches Genre, nämlich das der Gleichnisse. Gleichnisforscher wie Joachim Jeremias und David Flusser haben unserem „Gleichnis von den spielenden Kindern“ besondere Beachtung geschenkt.123 Weil es in Mt 11,16-19 immer noch um den Täufer geht, besteht durchaus die Möglichkeit, dass Jesus Mt 11,7-15 und 11,16-19 „bei einer und derselben Gelegenheit gesagt“ hat.124 Was ist ἡ γενεὰ αὕτη [hē genea hautē]? αὕτη [hautē], diese, bezeichnet, was in der Gegenwart existiert,125 γενεά [genea] die Generation. Die Wendung ἡ γενεὰ αὕτη [hē genea hautē], hebr. ‫ַה ֹדּר ַהזֶּה‬ [haddor hassäh], „enthält … immer eine verurteilende Nebenbedeutung“.126 120 121 122 123 124 125 126

Bultmann Gesch, 177. Vgl. die andere Gesamtsicht bei Jeremias a.a.O., 930ff. Gegen Bultmann Gesch, 177f; Beare, 261. Jeremias Gleichnisse, 160ff; Flusser, 151ff. Flusser, 75. BDR § 290,1. F. Büchsel, Art. γενεά usw., ThWNT, I, 1933, 661.

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Bauer-Aland charakterisieren sie für die Evangelien so: „Jesus sieht sich dem gesamten gegenwärtigen Geschlecht d. Juden als einer einheitlichen Masse gegenüber.“127 Nun erzählt Jesus als „ein ganz vorzüglicher Gleichniserzähler“:128 Sie gleicht Kindern, die auf den Marktplätzen sitzen und einander zurufen und sagen … (V. 16-17). Kinder, παιδία [ paidia], hat hier nicht wie in Mt 18,3; 19,14 einen positiven Klang, sondern wie in 1Kor 14,20; Eph 4,14; Hebr 5,13 einen negativen: Es fehlt der Verstand. Die Marktplätze der orientalischen Städte waren „öffentlicher Aufenthaltsort“, auf ihnen „spielte sich das öffentliche Leben ab“,129 deshalb waren sie beliebt auch bei den Kindern. Vielleicht sollten wir in der Schilderung Jesu das Sitzen doch besonders beachten. Während die von Jesus erwähnten Kinder eben nur sitzen und anderen (ἑτέροις [heterois]) zurufen, sollen diese anderen den schwierigeren Part des Tanzens und Trauerns übernehmen.130 Die sitzenden Kinder aber haben „nur zu kommandieren und zu kritisieren“.131 Die Kinder rufen vorwurfsvoll: Wir haben euch aufgespielt, und132 ihr habt nicht getanzt. Wir haben ein Klagelied gesungen, und ihr habt nicht getrauert (V. 17). Kurz gesagt: ihr habt nicht getan, was wir wollten. Trotz der Anschaulichkeit des Bildes wird um die Bedeutung eine breite Diskussion geführt. Von den Deutungen, die Luz133 auflistet, seien folgende erwähnt: a) Die andern, die nicht tun, was sie sollen, sind gleichbedeutend mit dieser Generation, also der gegenwärtigen Mehrheit Israels.134 Diejenigen, die rufen und sagen, sind dann Johannes und Jesus.135 b) Die zweite Deutung folgt der umgekehrten Richtung: Die Rufenden stehen für diese Generation, diejenigen, die ihnen nicht folgen, sind Johannes und Jesus.136 c) Eine dritte Deutung identifiziert alle Kinder, sowohl die rufenden wie die angesprochenen, mit dieser Generation.137 Resultat: Diese Generation weiß nicht, was 127 Bauer-Aland, 308. Vgl. Flusser, 151. Anders Schniewind, 145: „diese Art“. Vgl. aber Luz II 187f, Carson, 270. Gut Hengel-Schwemer, 469: „Die gegenwärtige Mehrheit seines Volks“. 128 Flusser, 284. 129 B.F. Harris, Art. Markt, Marktplatz, GBL, 2, 927. 130 So Jeremias Gleichnisse, 161, nach E.F.F. Bishop, Jesus of Palestine, London, 1955, 104. 131 Jeremias a.a.O. 132 Adversatives καί [kai] (BDR § 442,4). 133 Luz II 184ff (184: „eine crux interpretum“). 134 Vgl. Hengel-Schwemer, 469. 135 So z.B. France, 196f; Fiedler, 241. 136 So Wilckens I/1, 126. 137 So Carson, 270.

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sie will. Hinzu kommen andere Diskussionspunkte: Geht es um zwei Spiele138 oder eines? Oder rufen Knaben und Mädchen getrennt?139 Hat Jesus rabbinisches Gleichnisgut oder eine Äsop’sche Fabel benutzt?140 Wir kehren zum Text zurück. ηὐλήσαμεν [ēylēsamen] heißt wörtlich: „wir haben die Flöte gespielt“, im weiteren Sinn: … aufgespielt“. Gedacht ist wohl an Kinderflöten, wie sie zum Spielen benutzt wurden. Weil der Reigentanz „überwiegend Sache der Männer“ war, könnte bei diesem Zug des Gleichnisses an Knaben gedacht sein.141 θρηνέω [thrēneō], „klagen“, „jammern“, kann speziell „einen Klagegesang anstimmen“ heißen.142 Weil die Totenklage „Sache der Frauen“ war,143 könnten hier Mädchen agieren. κόπτω [koptō] heißt eigentlich „sich an die Brust schlagen“ (vor Trauer).144 Der springende Punkt für Jesus ist nicht, wer was macht, sondern die Disparität zwischen dem, was diese Generation sich vorstellt (sagen bedeutet oft: „denken“!), und dem, was in der Realität geschieht. Das heißt: Von den oben erwähnten Deutungen a) bis c) trifft am ehesten die Deutung b) zu. Ob Jesus hier auf Koh 3,4 rekurriert, wie verschiedentlich angenommen145 (eher unwahrscheinlich), oder ob er gar die Fabeln Äsops im Kopf hat146 oder einfach sprichwörtliche Redewendungen aufnimmt,147 muss offenbleiben (Letzteres legt sich nahe). Mit völliger Klarheit spricht Jesus in V. 18 und 19 aus, dass Johannes und er selbst, der Menschensohn, der Vorstellung des Volkes nicht entsprachen. Obwohl die Kommentare meist darüber schweigen, muss doch festgehalten werden, dass eine solche gründliche Analyse bereits in der Frühzeit Jesu erstaunlich ist. Denn (γάρ [gar]) Johannes kam und aß und trank nicht, und sie sagen: Er hat einen Dämon (V. 18). Das denn muss beachtet werden. Es übersetzt ja die Bildhälfte von V. 17 in die Sachhälfte. Es begründet, warum Jesus zu dem Gleichnis von V. 17 griff. Johannes kam besagt, dass er von Gott gesandt wurde (ἦλθον [ēlthon]). Er aß und trank nicht muss im Vergleich zu seiner 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147

So Sand, 241. So Jeremias Gleichnisse, 161. Vgl. dazu Flusser, 151ff, Anm. 52; Maier I, 383. Jeremias a.a.O. Bauer-Aland, 738. Jeremias a.a.O. sehr frei: „Wir wollten Begräbnis spielen“ unter Hinweis auf b Jeb 121b. Jeremias a.a.O. Bauer-Aland, 902. Flusser, 152f. Er denkt auch an Sach 12,10. So Flusser, 153f. Vgl. wieder Flusser, 151ff.

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Umwelt gesehen werden. Natürlich aß und trank er, was zur Erhaltung des Lebens nötig war!148 Aber im Vergleich zur Umwelt lebte er asketisch. Nach Mt 3,4 bestand seine Speise aus Heuschrecken und wildem Honig. Nach Lk 1,15 mied er Wein und starkes Getränk (in dieser Beziehung trank er nicht). Außerdem fastete er regelmäßig (Mt 9,14). Eine Weile verschaffte ihm das große Beliebtheit im Volk (Joh 5,35). Aber im Laufe der Zeit nehmen die kritischen Stimmen zu. Schließlich urteilte eine unbestimmte Menge149 (allgemeines sie sagen): Er hat einen Dämon (δαιμόνιον ἔχει [daimonion echei]). Später trifft dieser Vorwurf auch Jesus (vgl. Joh 7,20; 8,48.52; 10,20; Mk 3,21f ). Mit diesem Urteil wird zweierlei ausgedrückt: a) Johannes sprengt das Maß des Gewohnten, b) seine Kraft ist von unten, letztlich vom Satan. – So hart ist das Urteil gegen Johannes! Doch Jesus springt ihm bei: Der Menschensohn kam und aß und trank, und sie sagen: Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern! (V. 19). Längst vor Luther hat Jesus bewiesen, dass es gut ist, „dem Volk aufs Maul zu schauen“. Mt 11,18 und 11,19 stehen dafür. Zuerst ist bemerkenswert, dass Jesus wie in 8,20; 9,6; 10,23 den Titel Menschensohn auf sich anwendet. Denn das Kommen des Menschensohnes ist schon Vergangenheit (kam) und kann nur auf Jesus bezogen werden. Es ist richtig, dass das doppelte ἦλθεν [ēlthen] in V. 18 und 19 eine Gemeinsamkeit zwischen Johannes und Jesus anzeigt.150 Beide haben einen Auftrag Gottes, die beiden Aufträge sind allerdings sehr verschieden. Aß und trank (ἐσθίων καὶ πίνων [esthiōn kai pinōn]) ist ein Ausdruck menschlicher Normalität. Paulus hat diese Normalität mit den Worten festgehalten: „indem er den Menschen gleich geworden ist und der Gestalt nach wie ein Mensch erfunden“ (Phil 2,7), direkter noch Johannes: „das Wort ward Fleisch“ (Joh 1,14). Jesus hungerte (Mt 4,2; 21,18), dürstete (Joh 4,7), aß und trank. Letzteres deutet vermutlich darauf hin, dass er die Fastenregeln der Pharisäer und Johannesjünger weder für sich noch für seine Jünger übernahm (Mt 9,14ff; Lk 18,12), obwohl er durchaus von Zeit zu Zeit fastete (Mt 4,2; 6,16f; 17,21). Der weit gefasste Ausdruck aß und trank deutet ferner darauf hin, dass er alles vom Gesetz Erlaubte (vgl. Lev 11) aß und trank und nicht etwa bestimmte Speisen oder Getränke ablehnte. Das unterschied ihn kräftig von den „Gottgeweihten“ (Nasiräern), denen Wein, starkes Getränk und Weintrauben untersagt waren (Num 6,1ff ). Wäre Jesus Nasiräer gewesen, 148 Zahn, 432. 149 Die Mehrheit war es wohl nicht, vgl. Mt 14,5; 21,26. 150 Luz II 188.

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hätte er all dies nicht anrühren dürfen. Nun aber stand es ihm frei, Wein zu trinken. Die Stellung der Bibel zum Wein ist klar. Er gilt als kostbares Geschenk Gottes, ja dient sogar zum Sakrament (Dtn 6,11; Ps 104,15; Lk 10,34; Joh 2,3ff; Gen 14,18; 49,11; Jes 25,6; Mt 26,29; Lk 22,14ff; 1Kor 11,23ff ), andererseits warnt sie vor dem Weinsaufen (Gen 9,21; Prov 20,1; 23,29ff; Jes 5,11ff; Eph 5,18). Darum gebietet sie Mäßigkeit (Sir 31,30ff ) und empfiehlt „ein wenig Wein“ aus medizinischen Gründen (1Tim 5,23). Dass in der Seelsorge mit Alkoholikern und ehemaligen Alkoholikern um der Liebe willen auf Wein verzichtet werden muss, ebenso in bestimmten Gemeindesituationen (Röm 14,21), ergibt sich aus dem diakonischen und missionarischen Auftrag Jesu. Halten wir zu Mt 11,18 und 19 fest: Der Täufer lehnte Wein ab, Jesus trank ihn ganz normal. Beide standen mit ihrem Verhalten in völliger Übereinstimmung mit Gott, der ihnen ja verschiedene Aufträge gegeben hatte. Vielleicht sollte man bei Jesus (V. 19) noch beachten, dass Weingenuss im Israelland auch bei den Armen üblich war – die Mischungen und Formen divergierten – und dass in den Ländern des Orients manchmal Wein leichter und billiger zu bekommen ist als das seltene Wasser. Aber nun verdrehen die Gegner alles in hässlicher Weise. Sie sagen: Siehe, ein Fresser und Weinsäufer. Gegen Worte und Verdrehungen ist man menschlich machtlos. Das lernen wir in unserer Medienlandschaft neu. ἰδοὺ ἄνθρωπος [idou anthrōpos]: Hier steht ἄνθρωπος [anthrōpos] für ein enklitisches τις [tis],151 muss also nicht übersetzt werden. φάγος [ phagos], Fresser, „Vielfraß“, hat einen verächtlichen Klang152 (vgl. Mi 3,5; Sir 37,33; Lk 21,34; Röm 13,13; Gal 5,21), ebenso Weintrinker, „Säufer“153 (οἰνοπότης [oinopotēs]), vgl. Prov 23,20 LXX: μὴ ἴσθι οἰνοπότης [mē isthi oinopotēs]. Hier erhebt sich die Frage, ob eine Bezugnahme auf Dtn 21,20 vorliegt. Dort klagen Vater und Mutter den ungehorsamen Sohn unter anderem mit den Worten an: „Er ist ein Schlemmer und Säufer“ (LXX: συμβολοκοπῶν οἰνοφλυγεῖ [symbolokopōn oinophlygei]). Vermutlich wird Jesus von seinen Anklägern in die Nähe des ungehorsamen Sohnes gerückt, der nach Dtn 21,21 gesteinigt werden muss. Beide, Johannes und Jesus, sehen sich also einer beachtlichen Bedrohung gegenüber. Sie stehen nicht nur unter dem moralischen Verdikt der Ankläger, sondern müssen je nach den Umständen auch mit Strafe rechnen.154 151 152 153 154

BDR § 301,5. Anders Luz II 188. Bauer-Aland, 1697. Bauer-Aland, 1139. Ob im Falle Jesu nicht sogar mit einer Mehrfachanklage zu rechnen ist: 1) als Mamzer, als unehelich Gezeugter (vgl. Joh 8,41), 2) als dämonisch Besessener (Joh 8,48), 3) als ungehorsamer Sohn, muss offenbleiben.

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Die Anklage gegen Jesus verschärft sich durch das Urteil: ein Freund von Zöllnern und Sündern! Die Mahlgemeinschaft Jesu mit Zöllnern und Sündern wurde schon in Mt 9,10f von Pharisäern angegriffen, s. die Erklärung dort. Deshalb kann man mit Recht vermuten, dass hinter der Beschuldigung, ein Freund von Zöllnern und Sündern zu sein, pharisäische Kreise stecken. Wir erinnern uns, dass Mahlgemeinschaft in Israel als „Zeichen naher Bekanntschaft und Gemeinschaft“ galt.155 Doch was wurde hier von den Gegnern verdreht? Jesus wollte Arzt und Heiland sein und auch die Zöllner und Sünder zu Gott zurückführen. Dies war sein Auftrag (Mt 1,21; 9,12f ). Die Gegner aber geben zu verstehen, dass er selbst zum Sünder geworden sei. Jesus wollte demütig und bescheiden als Mensch unter Menschen leben (Sach 9,9; Joh 1,14; 19,5). Deshalb aß und trank er, wie es Gottes Gebot erlaubte. Darüber hinaus sollte sein Essen und Trinken ein Zeichen dafür sein, dass jetzt die selige messianische Zeit angebrochen war (Mt 9,14ff; Joh 2,1ff; Gen 49,10ff ). Die Gegner aber wollen das Volk glauben machen, er lebe nur nach seinen eigenen Gelüsten (Fresser und Weinsäufer). Der eine also – Johannes – war ihnen zu weltfremd, der andere – Jesus – „zu weltförmig“.156 Beide sollten ihren Willen tun, beiden haben sie aufgespielt (V. 17), beide sollten nach ihrer „Laune“157 tanzen, und als sie es nicht taten, fielen sie mit Verleumdungen über sie her. In Jesu Schilderung liegt eine dringliche Frage: Wollt ihr Zuhörer auch zu dieser verkehrten Generation (vgl. Apg 2,40) gehören oder geht ihr einen besseren Weg? Es ist die göttliche Weisheit, die diesen besseren Weg zeigt: Und doch wurde die Weisheit gerechtfertigt durch ihre Werke (V. 19). Dieser Schlusssatz von V. 19 wird wieder intensiv diskutiert. Auszugehen ist von Folgendem: 1) Die Verbindung von Weisheit (σοφία [sophia]) und Gerechtigkeit (gerechtfertigt, ἐδικαιώθη [edikaiōthē]) fordert eine Deutung auf die göttliche Weisheit. 2) Der Sprachgebrauch der frühjüdischen Literatur (Ps Sal 2,16; 3,3.5; 4,9; 8,7.27; 4Esr 10,16) und der Rabbinen (z.B. bBer 19a), den Gottlob Schrenk bezüglich δικαιόω [dikaioō] geprüft hat,158 weist in dieselbe Richtung. 3) Die Werke (ἔργα [erga]) der Weisheit nehmen offensichtlich die Wendung „Werke des Messias“ (V. 2) wieder auf.159 Dass Werke Zeugnischarakter haben, sowohl für die Weisheit (V. 19) als auch für den Messias (11,2ff;

155 156 157 158 159

J. Behm, Art. ἐσθίω, ThWNT, II, 1935, 690. Behm a.a.O. Schlatter, 180. Im Art. δίκη usw., ThWNT, II, 1935, 216ff. Riesner, 333; Luz II 189; Fiedler, 241, Anm. 17.

3. Das Ringen um Johannes und seine Jünger, 11,1-19

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Joh 5,36; 10,25.37f; 14,11; 15,24; 20,30f ), ist ein dem NT vertrauter Gedanke.160 Werke steht dabei umfassend für das Verhalten des Betreffenden.161 Fazit: Die Werke des Johannes und Jesu zeigen, dass sie beide von der göttlichen Weisheit geleitet und von Gott bevollmächtigt waren (vgl. Lk 11,49). Wer „Ohren hat zu hören“ (vgl. V. 15) und „Augen zu sehen“, der kann am tatsächlichen Handeln beider ablesen, dass die Vorwürfe der Gegner nicht zutrafen. Wer wirklich hört und sieht, wie es V. 4 formuliert, der muss Gottes Lenkung und Vollmacht recht geben (ἐδικαιώθη [edikaiōthē]!162). Denn letztlich sind es die Werke der göttlichen „Weisheit“, die bei beiden zutage treten. Dabei bleibt es interessant, dass die Weisheit in V. 19 offensichtlich enge Berührungen mit dem Heiligen Geist aufweist.163 Interessant bleibt ferner, dass Jesus ausgerechnet auf die Weisheit rekurriert. Ist das nicht doch eine Bezugnahme auf den ‫[ רוַּח ָחְכָמה‬ruach chokmāh] (LXX: πνεῦμα σοφίας [ pneuma sophias]) von Jes 11,2, also erneut ein Hinweis auf seine Messianität? Jedenfalls unterstützt Mt 11,19 eine Gleichsetzung von Weisheit und Christus (vgl. 1Kor 1,24.30; Kol 2,3).164 Unter den Dogmatikern hat Karl Barth das messianische Geheimnis in Mt 11,19 besonders deutlich formuliert: Hier finden wir eine „Vollendung der Kondeszendenz Gottes, diese Unbegreiflichkeit, die größer ist als die Unbegreiflichkeit der göttlichen Majestät und die Unbegreiflichkeit der menschlichen Finsternis miteinander: dies ist die Offenbarung des Wortes Gottes.“165

IV Zusammenfassung

1. Die Zeit der Auseinandersetzungen und Angriffe hat begonnen.166 Der „galiläische Frühling“ ist vom Sommer der Kämpfe und des Ringens um Israel abgelöst worden. Im Mittelpunkt steht dabei die Person Jesu. Es sind nicht einzelne Taten oder Verhaltensweisen, die im Zentrum der Debatten stehen – „Sabbatbruch“, „Traditionsbruch“, „Änderung der Verhältnisse“167–, sondern

Vgl. G. Bertram, Art. ἔργον usw., ThWNT, II, 1935, 639. Schrenk a.a.O. 218, Anm. 13: „das ganze Leben der Boten“. Das Passiv bedeutet: „wurde als gerecht erwiesen“ (Schrenk a.a.O., 218). Vgl. auch Sap Sal 7,27. Über die Fehlwege der gnostischen σοφία-Spekulation orientiert U. Wilckens im Art. σοφία usw., ThWNT, VII, 1964, 510ff. Vgl. noch Carson, 270f; Luz II 189; Schniewind, 146; Hengel-Schwemer, 393, Anm. 76. 165 KD I/2, 166. 166 Vgl. Hengel-Schwemer, 540. 167 Vgl. Glaubensbekenntnisse für unsere Zeit, hrsg. von Gerhard Ruhbach, Gütersloh, 1971, Nr. 61-64.

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der implizite und explizite Anspruch auf seine Messianität und seine Einzigartigkeit. 2. Jesus und Johannes gehören auch in Mt 11,16-19 eng zusammen. Man kann nicht den einen gegen den anderen ins Feld führen, man kann nur beide gemeinsam ablehnen oder bejahen.168 3. Auch hier muss man Allegorisierungen widerstehen. Das gilt beispielsweise gegenüber Schniewind, der Johannes und Jesus so charakterisiert: „Der eine kommt trauernd, der andere als Freudenbote.“ Bezogen wird das auf die Kinder, die Hochzeit oder Begräbnis spielen wollen (V. 16f ).169 Aber die Aufträge beider (doppeltes ἦλθεν [ēlthen]) sind geprägt durch eine gemeinsame Thematik: den Beginn des messianischen Reiches. 4. Der Zweifel, ob Mt 11,16-19 in der historischen Situation Jesu beheimatet sei,170 ist unbegründet. Neuerdings wird mit Recht wieder für eine „alte Tradition“, „vorösterlich“171 und „für jesuanische Herkunft“172 plädiert.

4. Jesus und die Städte seiner Heimat, 11,20-24 I Übersetzung 20 Damals begann er, die Städte zu schelten, in denen die meisten seiner Wunder geschehen waren,1 weil sie nicht umkehrten: 21 Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, die bei euch geschehen sind, dann wären sie längst in Sack und Asche umgekehrt. 22 Aber ich sage euch: Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen am Tage des Gerichts als euch. 23 Und du, Kapernaum, wirst du vielleicht bis zum Himmel erhöht werden? Bis zum Totenreich wirst du hinabfahren! Denn wenn in Sodom die Wunder geschehen wären, die bei dir geschehen sind, es würde heute noch stehen. 24 Aber ich sage euch: Dem Land der Sodomer wird es erträglicher gehen am Tage des Gerichts als dir.

168 169 170 171 172 1

Vgl. Cullmann, 32. Schniewind, 145. Z.B. Bultmann Gesch, 186. Theißen-Merz, 349, Anm. 104. Hengel-Schwemer, 392f; Riesner, 392f. So übersetzen Schlatter, 181; Schniewind, 147; Zahn, 435; Luz II 191; Carson, 272. Anders Maier I, 387: „geschahen“. Sachlich hat der Unterschied wenig Bedeutung.

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II Struktur Der Ausdrucksstil ist einprägsam, fast monoton. Deutlich heben sich zwei Gruppen von Aussagen voneinander ab: a) die Worte gegen Chorazin und Betsaida, b) die Worte gegen Kapernaum (V. 23-24). Beachtet man das Achtergewicht, das V. 23-24 zukommt,2 dann trifft die schärfste Anklage Kapernaum: den Wohnsitz Jesu. Beide Aussagegruppen sind gekennzeichnet durch die Ansage πλὴν λέγω ὑμῖν [ plēn legō hymin], durch das ἐν ἡμέρᾳ κρίσεως [en hēmera kriseōs], das ἀνεκτότερον ἔσται [anektoteron estai], den Verweis auf die δυνάμεις [dynameis], durch die Konfrontation mit den Städten der Sünde, Tyrus, Sidon und Sodom, und durch die Thematik der Umkehr. Vers 20 dient als geschichtliche Einleitung und gleichzeitig als eine Art Überschrift. Üblicherweise benutzt man Überschriften wie „Weherufe über die Städte Galiläas“, „Vae civitatibus Galilaeae“ oder Ähnliches.3 Solche Überschriften verführen jedoch dazu, Mt 11,20-24 als eine Art Schlussurteil anzusehen. In Wirklichkeit ringt Jesus aber weiterhin um das Gehör und die Nachfolge aller dieser Städte. In diesem Ringen um die engere Heimat spiegelt sich das Ringen um ganz Israel: Thema von Mt 10,1–16,20.

III Einzelexegese Τότε [Tote], ein bei Matthäus beliebtes Gliederungswort (vgl. 2,7.16.17; 3,5.13; 4,1.5.11.17; 9,14.29), kann heißen „damals“ als unbestimmte Zeitangabe oder „darauf “ im Sinne einer Fortsetzung der bisher erzählten Geschichte. Wie Zahn und Luz4 ziehen wir damals als unbestimmte Zeitangabe vor.5 Die allgemeine Atmosphäre war schon durch Auseinandersetzungen, Angriffe und Abwehrreaktionen geprägt (vgl. Mt 11,16-19). Er begann (ἤρξατο [ērxato]) bedeutet, dass man damals bei Jesus erstmals eine solche Scheltrede beobachten konnte. Bisher war das Klima ja durch viel Anerkennung und Offenheit für Jesus bestimmt (Mt 4,23ff; 8,5ff.14f.16f.18ff; 9,8.18ff.27ff.35ff ). Doch zunehmend hörte man negative Urteile (8,34; 9,11ff.14.34; 11,16ff ). Mt 11,20-24 lässt in dieser Negativgeschichte eine Steigerung vermuten: Jesus wird verstärkt abgelehnt. Übrigens schließen sich später weitere Scheltreden an (Mt 13,57f; 23,1ff; Mk 16,14).6

2 3 4 5 6

Hengel-Schwemer, 390, Anm. 66. Aland Syn, 153; Gaechter, 480; Bultmann Gesch, 117f. Zahn, 435; Luz II 191. So in der Sache auch Maier I, 387, trotz der Übersetzung „Dann“. Muss nicht auf die drei Städte bezogen werden (Zahn, 435f ?)!

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Das griech. ὀνειδίζειν [oneidizein] hat ein breites Spektrum von Bedeutungen.7 In Mt 11,20 passen „Anklage erheben“ oder eben schelten am besten. Betroffen sind die Städte, in denen die meisten seiner Wunder geschehen waren. Mt 11,20ff und Lk 10,12ff erwähnen nur drei dieser Städte. Stehen diese drei als Pars pro Toto für mehrere Städte? Oder ist die Städte in Mt 11,20 als verallgemeinernder Plural zu verstehen, waren also niemals mehr als diese drei Städte gemeint? Da die Dreizahl in der Bibel oft für eine Gesamtheit steht, ist eher Ersteres anzunehmen.8 δυνάμεις [dynameis] bedeutet „Krafttaten“, Wunder.9 Der Grund der Anklage wird in wenige Worte gefasst: ὅτι οὐ μετενόησαν [hoti ou metenoēsan], weil sie nicht umkehrten. Mit diesen wenigen Worten wird die ganze Prophetengeschichte Israels wach. Von den frühesten Zeiten an (Dtn 4,30; 30,2) ertönte der Ruf zur Umkehr von falschen Wegen und hin zu Gott. Noch der letzte Vers der alttestamentlichen Bibel, Mal 3,24, hat es mit ‫[ שׁוּב‬schūb], mit Umkehr und Bekehrung, zu tun. Auch für den Täufer (Mt 3,2) und Jesus (Mt 4,17) war der Ruf zur Umkehr10 zentral. Dass nach dem geistgeleiteten (Mt 3,16) Urteil Jesu die genannten Städte nicht umkehrten (οὐ μετενόησαν [ou metenoēsan], früher übersetzt: „nicht Buße getan hatten“), bedeutet, dass das Entscheidende bei ihnen nicht geschehen war. Es bedeutete zugleich, dass sie die Einladung ins Reich Gottes (Mt 4,17; 5,1ff ) ausgeschlagen hatten. Warum? Weil sie Jesus, dem Bringer des Reiches Gottes und des ewigen Heils, die Nachfolge verweigerten. Wenn wir heute solche Worte lesen, kommen wir nicht an der Frage vorbei, was wohl das göttliche Urteil über Europa, über den „christlichen Westen“ sein wird?11 Drei Punkte sind noch anzusprechen: 1) Wenn die Städte im Ganzen gescholten werden, ist dies ein Urteil über die Mehrheit der Bevölkerung. Daneben bleibt Raum für viele einzelne Bewohner dieser Städte, die eben doch umkehrten und Jesu Nachfolger wurden.12 2) Wenn Jesus begann, die Städte zu schelten, dann darf dies nicht mit einem Endgerichts-Urteil verwechselt werden.13 Gerade die Scheltrede soll zu einem neuen Motiv werden, doch noch umzukehren. Die Tür bleibt offen (Joh 6,37). 3) Der Hinweis, dass dort die meisten seiner Wunder geschehen waren, macht nachdenklich. Wir sa7 Vgl. Joh. Schneider, Art. ὄνειδος usw., ThWNT, V, 1954, 239. 8 Vgl. Riesner, 395. 9 Bauer-Aland, 418; W. Grundmann, Art. δύναμαι usw., ThWNT, II, 1935, 302. 10 „Buße“ ist zu wenig und wird heute zu oberflächlich und zu emotional verstanden. 11 Vgl. Carson, 273; Luz II 195. 12 Vgl. France, 197. 13 Richtig Fiedler, 242.

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hen schon, dass die Wunder seine Gottesherrschaft und Messianität bezeugten (Mt 11,2ff; Joh 12,37).14 Sie konnten jedoch nicht ohne Weiteres Glauben wirken. Denn bei jedem Wunder kann man verschiedene Ursachen namhaft machen. An der Spitze steht die Anklage gegen Chorazin und Betsaida (V. 21): Weh dir, Chorazin (οὐαί σοι, Χοραζίν [ouai soi, Chorazin])! Weh dir, Betsaida! Nimmt man die Entfernung vom Wohnsitz Jesu – Kapernaum – zum Maßstab, dann ist Chorazin am weitesten weg. Von da aus rücken die Weherufe immer „näher“, um schließlich Kapernaum zu erreichen. Chorazin, im Talmud vermutlich Kerazim, war bei den frühen Rabbinen15 berühmt für seinen Weizen.16 Noch heute beeindruckt die große Ruinenstätte mit der ansehnlichen Synagoge und den schön behauenen Basaltsteinen. Chorazin hat eine entzückende Lage an einer Art Pass, der ins obere Galiläa führt. Die Entfernung von Kapernaum ist mit 3 km nicht sehr groß, aber nur „in einem mühsamen Aufstieg“ zu bewältigen.17 Auffallenderweise wird im NT kein einziges Wunder direkt von Chorazin berichtet. Mt 11,21 und Lk 10,13 machen es jedoch historisch fest, dass auch Chorazin ein Schauplatz der Wunder Jesu war, die in Mt 4,23-25; 9,35; 11,1 summarisch erwähnt werden, vielleicht auch von Wundern, die durch die Apostel nach Lk 9,6; 10,17 geschahen. Betsaida, griech. Βηθσαϊδά [Bēthsaïda], hebr./aram. wohl ‫[ ֵבּית ַציְָדא‬bēt zajdāʾ], Fischhausen, wird in den Evangelien mehrfach erwähnt. Von dort stammten Petrus, Andreas und Philippus (Joh 1,44; 12,21). In Betsaida geschah die Blindenheilung von Mk 8,22ff, in seiner Nähe fand die Speisung der Fünftausend statt (Lk 9,10), es war öfter das Ziel der Wege Jesu (Mk 6,45; Lk 9,10; Mt 11,21; Lk 10,13). Geografisch und umgangssprachlich galt es noch als ein Teil Galiläas.18 Wir müssen annehmen, dass die Summarien in Mt 4,23ff; 9,35; 11,1, evtl. auch Lk 9,6; 10,17 weitere Geschehnisse einschließen, die in Betsaida stattfanden. Wehe, οὐαί [ouai], geht auf das ‫’[ אוֹי‬ōj] der Prophetenrede zurück (Jes 3,9.11; Jer 13,27; 48,46; Hos 7,13; 9,12 u.ö.) und muss von daher interpretiert werden. Das prophetische Wehe des AT soll ein Motiv zur raschen Umkehr werden. So hat es auch Jesus im Blick auf die Städte Galiläas gemeint. Es 14 15 16 17 18

France a.a.O.; Hengel-Schwemer, 464f; Schniewind, 147f; Schlatter, 182. Strack-Billerbeck I 605; bMen 85a. Zum Weizen Galiläas vgl. Bösen, 49f. Kopp, 344. Vgl. Josephus Ant XVII, 18; Kopp, 235; R. Riesner, Art. Betsaida, GBL, 1, 197f. Archäologisch bleibt Betsaida ein gewisses Rätsel, obwohl man jetzt in et-Tell mit einiger Zuversicht das Julias des Philippus erkennen kann. Vgl. Kopp, 230ff.

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kann also keine Rede „von einer endgültigen Verwerfung“,19 einem schon eschatologischen Gericht20 oder gar einem völligen „Scheitern des Wirkens Jesu in Kapernaum“21 sein. Nein, noch steht die Umkehr offen, noch kann wie in Ninive (Jona 3–4) vermieden werden, was Jesus für den Tag des Gerichts (V. 22.24) in Aussicht stellt.22 Das treibende Motiv bei Jesus hat Schlatter sehr schön erfasst: „So viel hat Jesus gelitten! Diese Worte zeigen uns die Größe seines Schmerzes. Von seiner Liebe ließ sich niemand helfen …“23 Es sind also nicht die „Misserfolge“ in Galiläa,24 die Jesu Worte geprägt haben. Uns treten nun Tyrus und Sidon gegenüber. Deren Bewohner wären längst in Sack und Asche umgekehrt, wenn (dort) die Wunder geschehen wären, die bei euch geschehen sind. Erstaunlich, dass der Judenchrist Matthäus solche Worte über heidnische Städte überliefert! Ob Tyrus25 und Sidon26 damals „verrufene Hafenstädte“ waren,27 sei dahingestellt. Jedenfalls aber galten sie seit den Zeiten Isebels (1Kön 16,29 – 2Kön 9,37; Jes 23) und der babylonischen Gefangenschaft (Ez 26–28) als Zentren des Götzendienstes, zu dem auch Israel verführt wurde.28 Israels Propheten, Elia, Jesaja, Hesekiel, Joel (4,4ff ), litten unter ihnen. Wie konnten sie da für den Messias Vorbild sein? Und doch erinnern Jesu Worte an Hesekiel, der einst von Jerusalem sagte, sie habe „es noch ärger getrieben“ als Sodom (Ez 16,47).29 Die Redewendung in Sack und Asche umkehren (Buße tun) erinnert darüber hinaus an die Buße Ninives im Jonabuch (3,5ff ), das Jesus sehr liebte (Mt 12,39ff; 16,4). Der Sack, hebr. ‫[ ַשׂק‬śaq], ein Bußgewand, zeigt die Trauer an, das Sitzen in der Asche oder im Staub (‫’[ ֵאֶפר‬ephär]?) die Demütigung vor Gott und die Schuldanerkenntnis.30 Jesus rechnete also ernsthaft damit, dass

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So scheint es bei Riesner, 476. So Luz II 194; Theißen-Merz, 245. So Bösen, 95. Hier hat Fiedler, 242, recht. Schlatter, 183. Vgl. Fiedler a.a.O.: Jesus klagt; Tasker, 120. Vgl. dazu Bösen, 73ff; Wilckens I/1, 172. Zu Tyrus vgl. meinen Kommentar „Der Prophet Hesekiel“, 2000, in der WStB, 29ff; D.J. Wiseman, Art. Tyrus, GBL, 3, 1606ff; Jer Bibellexikon, 904f. Zu Sidon vgl. den oben genannten Kommentar 73; K. Günther, Art. Sidon, GBL, 3, 1437f; Jer Bibellexikon, 813f. So Bösen, 94. Vgl. Riesner, 225. Vgl. meinen Kommentar „Der Prophet Hesekiel“, I, 1998, 225f, in der WStB. Vgl. meinen Kommentar „Der Prophet Jona“ in der WStB, 6. Aufl., 1997, 69f, sowie Gen 37,34; Ps 30,12; Am 8,10; Jes 58,5; 61,3; Dan 9,3; Est 4,3; 1Makk 3,47.

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seine Wunder die Bewohner von Tyrus und Sidon zu einer echten Umkehr bewegt hätten. Der Zustrom, den er aus dem Gebiet dieser Städte erhielt, bot dafür immerhin einen Anhaltspunkt (Mk 3,8; 7,24.31ff; Lk 6,17). Zu Mk 11,21 vgl. noch Mt 12,41ff; 15,21ff sowie 1Kön 17,8ff. Aber ich sage euch: Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen am Tage des Gerichts als euch (V. 22): Wenn ihr, Chorazin und Betsaida, nicht umkehrt! Eine „Verfluchung“ ist das sicher nicht.31 Wie bei Ninive (Jona 3–4) bleibt auch für Chorazin und Betsaida die Chance zur Umkehr bestehen. Aber Jesus sieht im Heiligen Geist voraus, dass sie diese Chance nicht ergreifen werden. Am Tage des Gerichts meint das Endgericht (vgl. Mt 10,15). Allerdings kommt in V. 22 gegenüber V. 21 ein neuer Ton hinzu. Das futurische es wird erträglicher gehen zeigt nämlich, dass Jesus prophetisch erkennt, dass Tyrus und Sidon tatsächlich im Endgericht weniger Strafe leiden werden als Chorazin und Betsaida. Die Reaktion auf diese Jesusworte in manchen Kommentaren ist erstaunlich: Man tadelt ihn, statt die Schuldigen zu tadeln. So lesen wir bei Luz:32 „Wenn es sich um Worte Jesu handeln sollte, so müßte man auch ihm gegenüber um des Gottesreichs willen auf dem Unterschied beharren zwischen einer Gerichtsdrohung, die den Menschen beflügeln kann (vgl. Lk 16,1-8), und einer Gerichtsvorhersage, die ihm die Türen verschließt.“ Kann man aufatmen, weil es Exegeten gibt, die das Gottesreich besser verstehen als Christus? Ähnlich argumentiert Fiedler: „befremden sollte allerdings die Härte der Strafandrohung“. Es müsse „doch gefragt werden, warum für Betsaida und Kafarnaum … die selbe göttliche Amnestie nicht in Betracht gezogen wird, die Gott auf Grund der Fürbitte Abrahams Sodom (und Gomorra) zu gewähren bereit ist.“33 Milde daneben Beare: Er kann sich nicht vorstellen, dass Chorazin und Betsaida „en masse“ verurteilt werden.34 Damit sind Grundfragen wie Schuld, Sünde und Gericht angesprochen, ebenso Grundfragen der Christologie. Keine Frage ist, dass ein galiläischer Wanderprediger, ein „Wundercharismatiker“ der damaligen Zeit und „Wanderradikaler“35 unserer Kritik unterliegt. Aber auch das Umgekehrte gilt: Hat Jesus als Christus und Gottessohn eine einzigartige Autorität, dann unterliegen unsere Vorstellungen seiner

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Gegen Wilckens I/4,7. Richtig Tasker, 120. Luz II 196. Fiedler, 242. Beare, 264. Zu den Begriffen vgl. Theißen-Merz, 277ff.337ff.

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Kritik.36 Was er in Mt 11,22 sagte, ist in seiner prophetischen Perspektive wahr. Was er sagte, ist zugleich eine Warnung für die damaligen wie für die heutigen Hörer. Im Übrigen setzt Mt 11,22 ebenso wie Mt 10,15.42; 12,41f; Lk 12,47f; 19,15ff voraus, dass Lohn und Strafe im Endgericht nicht schematisch gleich, sondern nach der barmherzigen Gerechtigkeit Gottes verschieden sein werden.37 Ein Gericht „en masse“ gibt es in der ganzen Bibel nicht.38 Die Einzelnen, die in Chorazin, Betsaida und Kapernaum zum Glauben an Jesus kamen, sind und bleiben gerettet – genauso gut wie die Gläubigen in Thyatira nach Offb 2,24ff. In den Versen 23 und 24 wendet sich Jesus Kapernaum zu: Und du, Kapernaum, wirst du vielleicht bis zum Himmel erhöht werden? Bis zum Totenreich (ἕως ᾅδου [heōs hadou]) wirst du hinabfahren! Denn wenn in Sodom die Wunder geschehen wären, die bei dir geschehen sind, es würde heute noch stehen. Das betonte σύ [sy], die relative Ausführlichkeit, die – um mit Zahn (436) zu sprechen – „dramatische Gewalt“, die Sättigung mit biblischer Sprache und das Gesetz des Achtergewichts zeigen, dass wir uns jetzt auf dem Höhepunkt des Abschnitts Mt 11,20-24 befinden.39 Jesu Verhältnis zu Kapernaum war inniger als das zu Chorazin oder Betsaida. Es war sein Wohnort während seiner öffentlichen Wirksamkeit (Mt 4,13), „seine Stadt“ (Mt 9,1), Schauplatz vieler Wunder (Mt 4,23ff; 8,5ff.14-17; 9,1ff.18ff.35; 11,1; Lk 4,23), der Ort entscheidender Auseinandersetzungen (Mt 17,24ff; Joh 6,17ff.59ff ). Hier wurde seine Messianität buchstäblich greifbar (Joh 6,51ff ). Die Frage, die Jesus stellt: wirst du bis zum Himmel erhöht werden? versteht man am besten mit Zahn: „ob sie etwa“ glaube, am Tage des Gerichts „eine höchste Ehrenstellung zu gewinnen“? Und er gibt ihr selbst die Antwort: Bis zum Totenreich (ἕως ᾅδου [heōs hadou]) wirst du hinabfahren!40 Zuerst verspürt man hier wieder Jesu Schmerz und Liebe.41 Viele coolakademische Erörterungen verraten eine deprimierende Lebensdistanz. Wie anschaulich kann Adolf Schlatter die Situation beschreiben: „Der ganze Ort lief zusammen, belagerte Jesu Haus und besprach eifrig, was geschehen war. 36 Es bleibt doch eigenartig, dass Fiedler a.a.O. die Abraham-Sodom-Geschichte auf dieselbe Stufe stellt wie Mt 11,22. Sieht er den Unterschied zwischen innergeschichtlichem und Endgericht nicht? Auch den zwischen Jesu Wirken in Galiläa und Lots Präsenz in Sodom nicht? Auch nicht das Handeln Jesu am Kreuz nach Lk 23,33ff; Apg 3,17? 37 Vgl. Carson, 273; Schniewind, 148. 38 Gegen Beare a.a.O. 39 Vgl. Luz II 193. 40 Nach BDR § 495 eine Hyperbel – aber fraglich. Zahn, 436. 41 Schlatter, 183. Fiedler, 243, erklärt Mt 11,23 aus der „Verbitterung“ Jesu heraus.

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Solche Verwunderung läßt Jesus aber nicht als die rechte Frucht seiner Arbeit gelten, weil im Leben der Menschen doch alles blieb, wie es vorher war.“42 Nun gilt es aber zu sehen, dass Jesus hier einige Partien des AT zitiert.43 Das trifft mindestens für Jes 14,13-15 LXX zu: „σὺ δὲ εἶπας … Εἰς τὸν οὐρανὸν ἀναβήσομαι … νῦν δὲ εἰς ᾅδου καταβήσῃ“ [sy de eipas … Eis ton ouranon anabēsomai … nyn de eis hadou katabēsē], und auch für Ez 26,20 LXX: „καὶ καταβιβάσω σε … εἰς βόθρον“ [kai katabibasō se … eis bothron]. Vergleiche weiter Ez 28,16ff; 31,14f.44 Kapernaum wird also das Schicksal des Weltherrschers (Jes 14), des Pharao (Ez 31) und von Tyrus teilen (Ez 26–28). Eine fast unglaubliche Parallele für die Hörer von damals! Aber gerade die Parallele sollte Kapernaum aufschrecken. Jesus geht sofort zu einer weiteren Parallele über, nämlich Sodom: Denn wenn in Sodom die Wunder geschehen wären, … es würde heute noch stehen. Ausgerechnet Sodom, das schlimmste Sünden-Babel! Durch die ganze Bibel hindurch dient Sodom als Chiffre für schlimmste Sünde (Gen 13,13; 18–19; Dtn 29,22; Jes 1,9f; 3,9; Jer 23,14; Ez 16,46ff; Lk 17,29; Röm 9,29; 2Petr 2,6; Jud 7; Offb 11,8). Und jetzt sagt Jesus: es würde heute noch stehen, wenn in Sodom die Wunder geschehen wären, die bei dir [= Kapernaum] geschehen sind. Stärker kann man nicht um Kapernaum, um die Menschen, ringen. Der Kommentar von Francis Wright Beare stellt uns erneut vor die Frage, ob die Worte Jesu seiner Enttäuschung („disappointment“) über das mangelnde Echo auf seine Tätigkeit entspringen.45 Aber Jesus hatte noch viele „Erfolge“ in Galiläa vor sich (Mt 12,22ff; 13,2; 14,13ff.34ff; 15,29ff.32ff; 17,14ff; 19,2.13ff ). Deshalb scheint es besser, Mt 11,23 nicht auf psychologische Faktoren wie „Enttäuschung“ oder „Verbitterung“ zurückzuführen, sondern auf eine pneumatische Klarheit in einer relativ frühen Phase seines Wirkens. Bedenklich ist ferner die vorschnelle Umwandlung der Urteile Jesu in Ewigkeitsurteile. So bei Schniewind: „der ewige Tod ist ihr Teil“,46 oder Schlatter: „hinab in Gottes richtenden Zorn“.47 Bedenklich sind solche Aussagen deshalb, weil das Ringen Jesu um Galiläa und Israel keinen Platz mehr darin findet und die Chance übersehen wird, die Jesus durch Mt 11,20-24 den

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Schlatter, 182. Carson, 273. Vgl. meinen Hesekielkommentar 69ff, sowie Beare, 264. Beare, 264. Vgl. Fiedler, 243: „Verbitterung“. Schniewind, 148. Schlatter, 183.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

Städten seiner Heimat gibt. Dass sich Gott etwas „reuen“ lassen kann (Jona 3,9f ), ist in solcher dogmatischen Einlinigkeit nicht mehr vorstellbar. Unser Abschnitt schließt mit weiteren Worten über Kapernaum: Aber ich sage euch: Dem Land der Sodomer wird es erträglicher gehen am Tage des Gerichts als dir (V. 24). Der Satz ist parallel gebaut zu V. 22. Vergleiche die Erklärung dort. Land der Sodomer ist Sodom mit der zugehörigen Umgebung (Gen 19,28). Die Anrede an euch erinnert uns daran, dass Jesus vor den Jüngern und vermutlich einem Kreis von Zuhörern spricht.48 Noch einmal drängt sich die Nähe zu Mt 10,15 auf.

IV Zusammenfassung 1. Jesus spricht die Städte seiner Heimat in der auffallenden Form einer Scheltrede an. Sie soll diese Städte, die bisher mehrheitlich keine Umkehr vollzogen haben, zur Umkehr bewegen. 2. Zugleich sieht er prophetisch voraus, dass die Mehrheit in diesen Städten seinen Ruf überhört. Ihre Strafe im Endgericht wird infolgedessen schlimmer sein als bei Tyrus, Sidon und Sodom. Denn sie haben den Messias und Gottessohn mit seinen einzigartigen Wundern bei sich gehabt. 3. Die Folgerung für die heute christlichen Länder liegt auf der Hand: Auch sie werden, wenn sie nicht immer wieder umkehren, im Endgericht schlimmer dastehen als Tyrus, Sidon und Sodom, weil sie das Evangelium und die Segnungen Christi so lange bei sich hatten. Dass dogmatisch in der historischkritischen Exegese des Westens immer wieder die Härte und das Definitive dieser Gerichtsverkündigung Jesu angegriffen wird, ist kein gutes Zeichen. 4. Was die Historizität von Mt 11,20-24 anbelangt, so sah Willibald Bösen die Zahl der Befürworter und die Zahl der Bestreiter in etwa gleich.49 Er selbst entschied sich wie Bultmann,50 Beare,51 Luz (teilweise)52 und Fiedler53 dafür, Mt 11,20-24 als „Gemeindebildung“ zu betrachten. Teilweise hat die Fantasie viel Raum. So rechnet Luz damit, dass Mt 11,23f „von urchristlichen Propheten bei ihrer erfolglosen Israelmission formuliert“ wurde:54 Aber wann? Wo? Wie? Mit welchem Eingang in die Evangelientradition? Ähnlich Fiedler: Man sei verbittert gewesen, „dass die Christus-Verkündigung auch Jahrzehnte nach 48 49 50 51 52 53 54

Carson, 273. Bösen, 93f. Bultmann Gesch, 117f. Beare, 264. Luz II 192f. Fiedler, 242f. Luz II 192.

5. Jesus und der Vater, 11,25-30

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Jesu Tod im Hauptgebiet seines Wirkens noch nicht, jedenfalls nicht im erhofften Maß Fuß gefasst hatte“.55 Da scheint es doch näherliegend, den Berichten des Matthäus und Lukas zu vertrauen. In unserer Kommentararbeit ist wenigstens nichts erkennbar geworden, was ernsthafte Zweifel an der Historizität hervorrufen müsste. Im Ergebnis stimmen wir mit Hengel-Schwemers Aussage überein, dass wir hier „auf historisch sicherem Grund stehen“.56

5. Jesus und der Vater, 11,25-30 I Übersetzung 25 In jener Zeit ergriff Jesus von Neuem das Wort und sagte: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen und es Kindern offenbart hast. 26 Ja, Vater, denn so hat es dir wohlgefallen. 27 Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand erkennt den Sohn außer dem Vater, und niemand erkennt den Vater außer dem Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. 28 Kommt her zu mir alle, die ihr euch abmüht und belastet seid! Ich werde euch Ruhe verschaffen. 29 Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir. Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. Dann werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. 30 Denn mein Joch ist mild und meine Last ist leicht.

II Struktur Mt 11,25-30 bleibt eine Überraschung innerhalb des Matthäusevangeliums. Das gilt sogar in doppelter Hinsicht: 1) Warum stellt Matthäus dieses Stück ausgerechnet an diesen Platz? Und 2) Woher hat er das? Mt 11,25-30 besteht aus zwei Gruppen von Aussagen, zuerst einem Lobpreis-Gebet Jesu (V. 25-27) und dann einer Einladung, einem „Heilandsruf “ (V. 28-30). Die Aland’sche Synopse trennt beide Stücke, ebenso die BasisBibel mit den Überschriften „Jesus und der Vater“ und „Von Jesus lernen“. Die Literatur verfährt verschieden, wobei vor allem im angelsächsischen Raum eine Neigung zu einer Dreier-Gliederung besteht: a) Thanksgiving (V. 2526), b) Proclamation (V. 27), c) Invitation.1 Ebenso wie France, Fiedler, Hend-

55 Fiedler, 243. 56 Hengel-Schwemer, 464. Vgl. Riesner, 476: Es könne „die Echtheit dieser Worte nicht erschüttert werden“. 1 So Beare, 265ff; ähnlich Carson, 274ff; Davies-Allison II 271f.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

riksen, Luz, Schniewind, Tasker u.a.2 ziehen wir es vor, Mt 11,25-30 als geschlossenen Abschnitt zu behandeln. Denn V. 28 hat vom Evangelisten keine eigene Einleitung erhalten, und mit Mt 12,1 erfolgt jedenfalls ein Neueinsatz. Die Sprache in Mt 11,25ff mutet johanneisch an (vgl. Joh 3,35; 5,25ff; 7,29; 10,14f; 13,3; 17,1ff ). Mögen die Einzelbeurteilungen schwanken, so ist doch klar, dass die Sprache des historischen Jesus sowohl „synoptisch“ als auch „johanneisch“ war. Bei den ältesten Jüngern Jesu muss eine reiche Tradition an Gebeten Jesu vorhanden gewesen sein. Das Vaterunser, Mt 11,25f, Joh 17, das Gethsemanegebet und die Worte am Kreuz legen dafür Zeugnis ab, und allgemeine Bemerkungen wie Mk 1,35; Lk 11,1; Joh 6,15 weisen darauf hin. Für Matthäus war deshalb Mt 11,25ff kein „Fremdkörper“. Er muss genauso wie Lukas (10,21f; 11,1) noch Zugang zu dieser Gebetstradition besessen haben. Unsere Vermutung ist, dass auch Mt 11,25ff daraus stammt. Bei der Frage, weshalb Matthäus die Worte von Mt 11,25-30 ausgerechnet an diesen Platz seines Evangeliums gestellt hat, kommen wir über Vermutungen nicht hinaus. Schlatter meinte etwa, Matthäus habe zeigen wollen, „daß Jesus nicht nur litt, sondern zugleich im Vater selig war“3 – was durchaus sein kann. Nach Carson4 beschreiben Mt 11,20-24 „the condemned“, 11,25-30 „the accepted“. Etwas festeren Boden gibt nur das wiederholte ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ [en ekeinō tō kairō] (11,25; 12,1; 14,1). Demnach scheint es, als habe Matthäus in diesem Mittelteil seines Evangeliums alles bringen wollen, was sich nach dem Ende des „galiläischen Frühlings“ ereignete. Mt 11,25-30 hat also seinen Platz vermutlich aus chronologischen Gründen bekommen.5

III Einzelexegese Zur Einleitung Zu jener Zeit (V. 25; 12,1; 14,1) vgl. das unter II. Bemerkte. Dass Matthäus jetzt wieder den Namen ὁ Ἰησοῦς [ho Iēsous] nennt und nicht nur von „er“ spricht, deutet die Eigenständigkeit des Folgenden an. Die Redewendung ἀποκριθεὶς εἶπεν [apokritheis eipen] geht auf das Hebräische zurück: „er hob an“.6 Wir übersetzten er ergriff von Neuem das Wort und sagte. Ich preise dich (ἐξομολογοῦμαι [exomologoumai]) spiegelt die Sprache des Gottesdienstes und entspricht den Psalmen (Ps 75,2; 111,1.3;

2 3 4 5 6

France, 198; Fiedler, 243; Hendriksen, 480; Luz II 196; Schniewind, 148; Tasker, 121. Schlatter, 183. Carson, 274. Vgl. Tasker, 123. F. Büchsel im Art. κρίνω usw., ThWNT, III, 1938, 946f.

5. Jesus und der Vater, 11,25-30

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138,1.2.4; Sir 51,1).7 Die lukanische Parallele ἠγαλλιάσατο ἐν τῷ πνεύματι τῷ ἁγίῳ [ēgalliasato en tō pneumati tō hagiō] zeigt den Jubelruf im Heiligen Geist an (Lk 10,21). Wir nehmen hier teil an der Gebetspraxis Jesu, die von den Aposteln erinnert wurde.8 Gerade deshalb ist die Anrede bedeutungsvoll: Vater, Herr des Himmels und der Erde. Auch hier beginnt Jesus mit dem für ihn so typischen Vater (vgl. Mt 6,9; 26,39; Joh 17,1). Aber wie beim Vaterunser (Mt 6,9) ergänzt er sofort durch den Blick auf den unendlich großen Schöpfer und Lenker des Himmels und der Erde. So redete einst Jona von Gott (Jona 1,9; vgl. Jes 42,5; Esr 5,11), so wird Gott in der Apokalypse gepriesen (Offb 1,8; 4,8 usw.). Es ist nicht zu übersehen, dass Jesus schon in der Gebetsanrede ein enges und unverwechselbares Verhältnis zu diesem Vater erkennen lässt. Übrigens sind die Worte von ἐξομολογοῦμαι [exomologoumai] bis γῆς [gēs] bei Mt und Lk (10,21) genau gleich. Wofür wird der Vater gepriesen? … dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen und es Kindern offenbart hast,9 genauer übersetzt: „Kindern“, „Unmündigen“, jedenfalls „Kindern zarten Alters“10 – νηπίοις [nēpiois] in Mt und Lk ohne Artikel. Dass Weise (σοφοί [sophoi]) und Kluge (συνετοί [synetoi]) scheitern können mit ihrer Weisheit, dass nur die Gottesfurcht und das Gotteswort den Zugang zu Gott schenken können, ist ein Allgemeingut des AT und des frühen Judentums (vgl. Prov 1,7; 3,5f; Jes 29,14; Sir 24). Ohne Leben mit Gott bleibt ihnen alles Entscheidende verborgen. Jesus sagt sogar aktivisch: du hast verborgen, ἔκρυψας [ekrypsas]. Dafür öffnet sich für die, die sich nicht weise dünken und sich klein fühlen wie Kinder, das Geheimnis Gottes und seines Heils: du hast es Kindern offenbart, ἀπεκάλυψας [apekalypsas] (auch Lk 10,21). Kinder, νήπιοι [nēpioi], ist hier wie in Mt 18,1ff ein Bildwort für bescheidene, sich nicht überhebende Menschen.11 Das sollen auch die Jünger sein (vgl. Mt 10,42). Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang das Demonstrativum dies, ταῦτα [tauta]? Der Zusammenhang lässt nur eine überzeugende Möglichkeit unter mehreren Verständnissen übrig: dies ist das Geheimnis der Person Jesu als Gottessohn und Messias, das nur der Vater in vollem Umfang kennt und deshalb den Menschen offenbaren kann 7 O. Michel, Art. ὁμολογέω usw., ThWNT, V, 1954, 215. 8 Vgl. Luz II 204. 9 Ganz gegen den Text Luz II 205: „Natürlich dankt Jesus Gott nicht dafür, daß er die Weisen nicht erwählt hat.“ Das Richtige bei A. Oepke, Art. κρύπτω usw., ThWNT; III, 1938, 974; G. Schrenk, Art. εὐδοκέω usw., ThWNT, II, 1935, 745; France, 199. 10 Bauer-Aland, 1088. 11 BasisBibel: „einfache Leute“. Vgl. G. Bertram, Art. νήπιος usw., ThWNT, IV, 1942, 922ff. Flusser, 265: „Einfältige“; Luz II 197.

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(V. 27, vgl. Mt 16,17).12 Derselbe Jesus, der in Chorazin, Betsaida und Kapernaum ver-kannt wird (V. 20ff ), der wird vom Vater allen Aufnahmebereiten (Mt 10,11ff.16ff; Joh 1,12) be-kannt gemacht. Nicht „the accepted“ sind – bei aller Würdigung Carsons13 – hier das Thema, sondern „the accepting“. Das aktivische du hast verborgen drückt aus, dass Gott Herz (vgl. Apg 16,14) und Verstand verschlossen hat.14 Dieses Handeln Gottes ist die Antwort auf menschlichen Hochmut (1Kor 1,18ff ). Nach Oepke15 gilt dieses Wort „den rabbinisch-pharisäischen Gelehrten und Musterfrommen“. Eine solche Auslegung ist jedoch zu pauschal und erweckt nur Vorurteile. Denn ein Teil der Schriftgelehrten und Pharisäer unterstützte Jesus nach wie vor oder blieb wenigstens offen für ihn (Mt 9,18ff; 19,16ff; Lk 14,1ff; Joh 7,12ff; Apg 5,14ff; 15,5).16 Der nächste Vers (V. 26) ist nicht nur einer der kürzesten des Evangeliums,17 sondern auch der innigste des Gebets V. 25-27, jedenfalls was die Beziehung Vater/Sohn anbelangt:18 Ja, Vater (ναὶ ὁ πατήρ [nai ho patēr]), denn so hat es dir wohlgefallen. Das Ja ist umfassend:19 Es bedeutet das völlige Einverständnis Jesu mit dem gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Handeln des Vaters, mit seinem konkreten Offenbarmachen, aber auch Verschließen seines Tuns und seines Nicht-Tuns. Es umfasst Schöpfung und Geschichte, das große Ganze der Welt und den gesamten Mikrokosmos des Einzelnen, bekannte und unbekannte Welten. Nichts an Gott wird mit einem Nein beantwortet. Wenn Friedrich Wilhelm Graf heute moniert, das gegenwärtige Christentum verfalle einer „banalen Allerweltsbotschaft von einem Wohlfühlgott, der immer nur Liebe ist, und verdrängt die problematischen, gefährlichen Elemente …, in denen … auch viel von harter göttlicher Gewalt … die Rede ist“,20 dann hat er eine Seite dessen zum Ausdruck gebracht, was in Mt 11,26 steckt. Welche Engführungen hier drohen, zeigt erstaunlicherweise auch das Lexikon der katholischen Dogmatik. Im Artikel „Trinität“ definiert Wilhelm Breuning als Grundgeschehen unseres christlichen Trini12 Anders allerdings Zahn, 438: „dies“ seien die Verhältnisse, mit denen es Jesus zu tun hatte. Wie wir Tasker, 123. 13 Carson, 274. 14 Vgl. A. Oepke, Art. κρύπτω usw., ThWNT, III, 1938, 974. 15 A.a.O. Auch Fiedler, 244; Schlatter, 184; Beare, 265. 16 Vgl. auch Luz II 206. 17 Kürzer sind beispielsweise die Vaterunser-Verse und die Aufmerksamkeitsrufe 11,5; 13,9. 18 Anders die Einschätzung bei Zahn, 440 („ohne einen wesentlich neuen Gedanken zu bringen“). Vgl. aber Flusser, 265: „seine intime Verbindung mit dem himmlischen Vater“. 19 BDR § 441,2: „ja, in der Tat“, „Bekräftigend“. 20 In seinem Buch „Kirchendämmerung“, 2. Aufl., 2011, 63.

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tätsverständnisses: „Gott verstehen als Ereignis von Liebe“.21 Wie fern ist das von Mt 11,26! Jesus ist auf dem Weg zur Passion (Mt 3,17; 10,32ff ). Aber im Ja von Mt 11,26 ist das Ja von Mt 26,39 schon vorformuliert. Um es für den einzelnen Christen vorzuformulieren: Es bedeutet ein völliges Einverständnis mit den Wegen, die Gott mich führt. Auch insofern ist Hendriksens Überschrift zu Mt 11,25-30 gerechtfertigt:22 „The Savior’s Tender Invitation“. Mein Vater stimmt mit dem AT überein (2Sam 7,14; Ps 2,7). Hier handelt es sich nicht um die allgemeine Bezeichnung Gottes als Israels Vater (Jes 63,16), sondern um die spezielle Bezeichnung Vater, die Jesus als der Sohn Gottes ausspricht (vgl. Mt 3,17). Auf dieser Sprachebene bewegt sich weitgehend das Johannesevangelium (vgl. Joh 3,35; 5,20; 10,17; 15,9; 17,23ff ). Zwei Dimensionen sind hier wichtig: a) Der uneingeschränkte Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater, das heißt auch die völlige Sündlosigkeit des Sohnes, der anders als Mohammed im Koran23 niemals korrigiert werden muss. b) Die Gabe des Vaters an den Sohn: Der Vater „hat ihm alles in seine Hand gegeben“ (Joh 3,37). – Dieses Personverhältnis Jesu zum Vater entzieht sich völlig unserem „Fühlen“ und „Erfahren“. Es ist für uns nur zugänglich durch die göttliche Offenbarung.24 So hat es dir wohlgefallen (οὕτως εὐδοκία ἐγένετο ἔμπροσθέν σου [houtōs eudokia egeneto emprosthen sou]): In seiner immer noch grundlegenden Untersuchung des Begriffes εὐδοκία [eudokia], „Wohlgefallen“, hebr. ‫[ ָרצוֹן‬rāzōn], nennt Gottlob Schrenk „göttliche Bestimmung“, „Gottes Ratschluß“, „göttliches Belieben“, „göttliche Willensbestimmung“ und „göttlicher Wille“ als Übersetzungsmöglichkeiten.25 Alle Übersetzungsmöglichkeiten haben eines gemeinsam: Es ist Gottes eigene Entscheidung, was geschehen soll.26 Bei Mt 11,20 spricht Schrenk von dem „souveränen göttlichen Ratschluß“.27 Wie schwach sind demgegenüber die Sprachversuche in Glaubensbekenntnisse für unsere Zeit,28 wonach „Gott in unserer Welt am Werke ist“! Nein, Jesus zufolge ist Gott Herr alles Seins und Geschehens. Er ist darin tadellos, deshalb preist ihn Jesus und sagt sein Ja.29 „Das Ja zum Vater durchzieht Jesu Leben

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Lex kath Dogm, 519. Ähnlich die Exegese von Luz II 205. Hendriksen, 480. Vgl. Sure 66,1ff. Vgl. Barth KD I/1, 153. Im Art. εὐδοκέω usw., ThWNT, II, 1935, 742. Nicht ganz abwegig die BasisBibel: „so hast du es gewollt“. Schrenk a.a.O., 745. Hrsg. von Gerhard Ruhbach, Gütersloh, 1971, Nr. 51. Vgl. Eph 1,5.9; Phil 1,15; 2,13; 2Thess 1,11.

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wie eine Königslinie.“30 Paulus hat in 1Kor 1,19ff.26 die Worte Jesu aufgenommen.31 Bezüglich V. 27 spricht Ulrich Wilckens von „größter Gewichtigkeit“ dieses Verses:32 Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand erkennt den Sohn außer dem Vater, und niemand erkennt den Vater außer dem Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Offenbar beinhaltet dieser Vers die Konkretion des ταῦτα [tauta] (dies) in V. 25.33 Es geht also wirklich um das Geheimnis der Person Jesu als Gottes-Sohn und Messias. Die Worte Alles ist mir übergeben von meinem Vater finden sich ganz ähnlich in Mt 28,18 und nahezu wörtlich in Joh 3,35; 5,36; 6,37; 10,29; 13,3; 17,2. Niemand anders kann auf diese Weise Gott mein Vater (ὁ πατήρ μου [ho patēr mou]) nennen. Aber es ist auch Gott der Vater allein, der alles übergeben kann, weil er über alles Macht hat. Was haben wir uns unter alles (πάντα [ panta]) vorzustellen? In Analogie zu Prov 8,22ff 34 ist es die gesamte Schöpfung, in Analogie zu Dan 7,14; Mt 28,18 die gesamte Gestaltung (ἐξουσία [exousia]) der Geschichte.35 Die genannten johanneischen Stellen konkretisieren jenes alles in vielfältigen Beziehungen: als Zugang zum ewigen Leben (Joh 3,35), als Gericht (Joh 5,19ff ), als Annahme zum Heil (Joh 6,37), als Obhut über die Gemeinde des Neuen Bundes (Joh 10,29), als Vollendung des Heilsplanes Gottes (Joh 13,3), als Bringer des Heils für alle Menschen (Joh 17,2). Nicht nur die Analogie zu Prov 8,22f, sondern auch die Herkunft Jesu aus dem Heiligen Geist (Mt 1,18ff ) drängen dazu, jenes übergeben in der Präexistenz Jesu anzusetzen. Mt 11,27 beinhaltet also auch die Präexistenz Jesu.36 Neben der Gabe des Vaters an den Sohn hat V. 27 einen zweiten Hauptinhalt: Das ist die Gemeinschaft des Vaters mit dem Sohn,37 ausgedrückt mithilfe des Wortes erkennen. Sowohl das hebr. ‫ [ ידע‬jdʿ] als auch das griech. γινώσκειν [ginōskein] haben ein überdurchschnittlich breites Bedeutungsspektrum. Für das alttestamentliche ‫ [ ידע‬jdʿ] nennt G. Johannes Botterweck unter anderem folgende Bedeutungsvarianten: „Wahrnehmung“ mit Augen und Ohren, „merken“, „verstehen“, persönliches „Kennen“ einer Person, „An30 31 32 33 34 35

Maier I, 395. Schniewind, 150; Zahn, 441, Fn. 46. Wilckens I/4, 15. Vgl. Carson, 277. Vgl. Davies-Allison II 279. Vgl. den weisheitlichen Charakter von V. 25. Vgl. Mk 2,10; Wilckens a.a.O., 15f; Schlatter, 184f; Schniewind, 151. Gegen eine Deutung von Dan 7,14; Mt 28,18 her sind Davies-Allison II 279. 36 Vgl. Cullmann, 292ff, der sich u.a. auf Albert Schweitzer stützt; France, 199f; Luz II 201. 37 Vgl. Schlatter, 185; France, 200.

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teil nehmen“, „Sichkümmern“, „lieben“, „eine sexuelle Beziehung haben“, „weisheitliches Erkennen“, „erwählen“, „offenbaren/offenbart werden“.38 Diese Bedeutungsfülle ist so breit, dass wir in Mt 11,27 von der Grundbedeutung „Gemeinschaft haben“ ausgehen müssen. Ähnlich ist es bei γινώσκειν [ginōskein] in neutestamentlicher Zeit.39 Hier aber ist die Situation dadurch verändert, dass die sogenannten „Gnostiker“, die „Wissenden“, sich gerade vom Vorgang eines heilbringenden „Erkennens“ her definieren und nach ihrem Grundmodell über ein gottgeschenktes „Wissen“ (Gnosis) in die Himmelswelt eingehen wollen.40 Es ist klar, dass solche Berührungen und teilweise sogar Überschneidungen mit dem alttestamentlichen Erkennen die Frage wachrufen, ob nicht auch Mt 11,27 gnostisch beeinflusst sei. Rudolf Bultmann, der Mt 11,27 als „Sehr umstritten“41 beurteilt, hat dies radikal bejaht: „Es liegt … wie bei Johannes der gnostische Sprachgebrauch vor“, zudem „ist der Satz, daß niemand den Sohn erkennt als der Vater, späterer Zusatz“ und schließlich Mt 11,27 überhaupt kein „echtes Jesuswort“.42 Man kann dann nur noch darüber rätseln, was Matthäus dazu bewogen hat, einen solchen gnostischen Satz in sein Evangelium zu übernehmen, und weshalb er sich nicht davor scheute, eine „johanneische“ Aussage in sein Evangelium aufzunehmen. Schon Karl von Hase empfand Mt 11,27 als „Aerolith aus dem johanneischen Himmel gefallen“.43 Mt 11,27 ist eine der Stellen, die zeigen, dass man den synoptischen und den johanneischen Christus nicht auseinanderreißen darf.44 Als echtes Jesuswort bezeugt sie das Sohnesbewusstsein Jesu. Es entfaltet sich in zwei Gliedern: a) niemand erkennt den Sohn außer dem Vater. Die Ausscheidung dieser Aussage durch A. Harnack, R. Bultmann und T.W. Manson ist rein spekulativ und ohne Anhalt am Text. Auch die Umstellung durch Marcion, Justinus Martyr, Tatian u.a., wonach die Vater-Erkenntnis vor die Sohn-Erkenntnis gestellt wurde, hatte „dogmatische Gründe“.45 Wir müssen es trotz aller Anstößigkeit dabei lassen, dass Jesus zuerst von der Sohn-Erkenntnis Im Art. ‫ידע‬, ThWAT, III, 1982, 491ff. Vgl. R. Bultmann, Art. γινώσκω usw., ThWNT, I, 1933, 688ff. Vgl. Bultmann a.a.O., 692ff. A.a.O., 713, Bultmann a.a.O., 713f. Ebenso Beare, 266. Hase, 527, zitiert (in anderem Wortlaut) bei Cullmann, 293; Beare, 266. Mit Recht hat Kurt Aland eine „Vier-Evangelien-Synopse“ vorgelegt. Viel zu wenig gewürdigt ist das Lebenswerk von Oscar Cullmann, der z.B. in seiner Christologie des Neuen Testaments Synoptiker und Johannes zusammenführt. Vgl. aber auch G. Schrenk im Art. πατήρ usw. ThWNT, V, 1954, 993f. 45 Schrenk a.a.O., 993, Anm. 291; Zahn, 442, Anm. 49.

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spricht.46 Nach Mt 11,7ff.20ff liegt eine solche Aussage auch nahe. Wer also hat die richtige Sohn-Erkenntnis? Niemand außer dem Vater. Der Vater also gewährt dem Sohn volle Gemeinschaft. Die Intensivform ἐπιγινώσκειν [epiginōskein] kann das nur unterstreichen.47 Der Sohn lebt in einer Freude, die ihm niemand nehmen kann. Er besitzt deshalb die unendliche Freiheit, Misserfolge zu tragen und dennoch zuversichtlich auf den Erfolg des Evangeliums zu hoffen (Mt 13,1ff; 24,14; 28,18ff ). Und nicht zuletzt: Nur er kann letztgültig den Vater offenbaren. Mt 11,27 steht nahe an Joh 1,18; 14,6. Wir sind damit schon bei b) niemand erkennt den Vater außer dem Sohn. Eine solche Gemeinschaft mit Gott (vgl. Joh 10,30) hat kein „Religionsstifter“, weder Mohammed noch Zarathustra, weder Gautama Buddha noch der Begründer der Bahai. Wer Gott ganz kennenlernen will, der muss sich an Jesus halten. Da dieses Wort in Israel gesprochen ist, hat es eine unüberhörbare Schärfe: Hat Israel den Vater nicht erkannt? Die Psalmen rufen doch: „Erkennt, dass ich Gott bin“ (Ps 46,11); „Erkennt, dass der HERR Gott ist“ (Ps 100,3). Aber die Weisheit sagt: „Gott tut große Dinge und wird doch nicht erkannt“ (Hiob 37,5). Und später sprechen die apostolischen Briefe von einer „Zeit, da ihr Gott nicht erkanntet“ (zu früheren Heiden gesagt, Gal 4,8), und der Notwendigkeit „zu erkennen das Geheimnis Gottes“ (für Juden und Angehörige der Völker, Kol 2,2). Wenn der Koran sagt, dass die Christen Gottes „Erkenntnis nicht fassen konnten“,48 dann stehen sich Christus und der Koran diametral gegenüber. Nirgendwo wird die Einzigartigkeit Jesu Christi so deutlich sichtbar wie in Mt 11,27. Um noch einmal Wilckens aufzugreifen: Die Bedeutung von Mt 11,27 „im Rahmen der Christologie … kann gar nicht überschätzt werden“.49 Am Ende von V. 27 steht der Satz und wem es der Sohn offenbaren will. Damit sind die Jünger Jesu einbezogen (Mt 13,11; Joh 17,6ff ). Will (βούληται [boulētai]) bedeutet keine Willkür-Auswahl, sondern die Bevollmächtigung Jesu.50 Hier wird die Dreierkette Vater-Sohn-Jünger sichtbar, die Matthäus und Johannes erneut verbindet (vgl. Joh 14,20ff; 17,6ff ). Dass wir ohne Jesus auf eine ausreichende Gotteserkenntnis stoßen, wird damit ausgeschlossen.

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Schrenk a.a.O., Cullmann, 294. Davies-Allison, 281; „personal, concentrated experiential knowledge“. Sure 10,40. Wilckens I/4,15. Gerade so „The text places enormous emphasis on Jesus’ person and authority“ (Carson, 277). Vgl. Zahn, 442.

5. Jesus und der Vater, 11,25-30

647

Ob man in Mt 11,27 eine „esoterische Unterweisung“ sehen kann,51 muss offenbleiben. Die Fortsetzung in V. 28 scheint eher Zahn recht zu geben, der mit einer größeren Gruppe von Anwesenden rechnet.52 Mt 11,27 hält darüber hinaus zwei Fragen wach. Die eine, eher geschichtliche, lautet: Hat Israel wirklich keine ausreichende Gotteserkenntnis gehabt? Antwort: Doch, es hatte die für die Zeit des Alten Bundes ausreichende Erkenntnis. Denn es besaß die Tora, die Propheten und die göttliche Weisheit (Mi 6,8; Prov 8,1ff; Sir 24; Röm 9,4f ). Aber es sehnte sich zugleich nach der größeren Erkenntnis, die im Neuen Bund zusammen mit der Geistausgießung verheißen war (Jer 31,33f; Joel 3,1ff ). Sie wurde jetzt durch den Gottessohn und Messias gebracht (Jes 42,1ff; 49,1ff ). Die andere, eher dogmatische Frage ist die nach der Trinität.53 Jede Auslegung von Mt 11,27 muss sich dieser Frage stellen. Denn die Worte Jesu „von der Einheit des Sohnes mit dem Vater“ machen den Schluss unausweichlich, dass hier „von der Gottheit Christi“ geredet wird.54 Deshalb war die Auslegung der Kirche von Anfang an eine trinitarische. In aller Klarheit kommt dies schon bei Irenäus ca. 180 n.Chr. zum Ausdruck, der sich seinerseits auf Justinus Martyr (ca. 150 n.Chr.) beruft.55 Irenäus, der der Exegese von Mt 11,27 ein ganzes Kapitel widmet,56 sieht darin Christus als „Gott“ verkündigt57 und schließt sein Kapitel mit den Worten: Es sei „ein Gott Vater, ein Wort der Sohn, und ein Geist und ein Heil für alle, die an ihn glauben“58 – also einer trinitarischen Aussage. Ob man sich dieser trinitarischen Auslegung anschließen will, wird immer von der Gesamtsicht abhängen, die man vom NT gewonnen hat. Aus dem Verlauf der bisherigen Matthäuslektüre heraus halten wir es für richtig und unumgänglich, in Mt 11,27 eine Aussage Jesu über seine Gottheit und damit ein Bekenntnis zur Trinität zu sehen. Wir schließen uns deshalb der altkirchlichen trinitarischen Exegese und der klassischen Glaubenslehre an.59 In V. 28 beginnt der „Heilandsruf “, der bis V. 30 reicht: Kommt her zu mir alle, die ihr euch abmüht und belastet seid! Ich werde euch Ruhe verschaffen. Die naheliegende Annahme bleibt doch wohl die, dass Jesus die

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So Riesner, 476. Zahn, 443. Vgl. Luz I 200ff. K. Barth KD I/1, 422. Adv. haer. IV, 6,2. Adv. haer. IV, 6. A.a.O. IV, 6,6. A.a.O. IV, 6,7. Vgl. auch die Taufkatechese von Cyrill von Jerusalem in Texte KV I, 18. Anders Fiedler, 245. Modifiziert bei Luz II 214ff.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

Worte V. 25-30 vor einem größeren Hörerkreis sprach.60 Der Umstand, dass Matthäus V. 28 ohne verbindende Partikel an V. 27 anschloss, weist außerdem darauf hin, dass Mt 11,25-30 bei ein und derselben Gelegenheit gesprochen wurde. Δεῦτε [Deute], kommt her, ist ein Ruf der Ermunterung und Herausforderung. Zu mir: Jesus ruft zur persönlichen Gemeinschaft mit ihm, nicht nur „zu meinem Wort“, „meiner Lehre“, „meiner Nachfolge“ o.ä. Er in Person ist der Vermittler des Heils, wie es V. 25-27 sagten (vgl. Joh 14,6). Vers 28 erinnert an die Sprache der Weisheit in Prov 8,1ff; 9,1ff; Sir 24,25; 51,23ff LXX (51,31ff ). Bis in die Terminologie hinein reicht die Verwandtschaft zwischen Sir 51,23ff LXX und Mt 11,28ff: πρός με [ pros me] – ψυχαί [ psychai] – ζυγός [zygos] – εὑρεῖν [heurein] – ἀνάπαυσις [anapausis] – κοπιάω [kopiaō].61 Jesus ist also nicht nur nach Mt 11,19, sondern auch nach Mt 11,28ff die göttliche Weisheit in Person.62 Außerdem zeigt schon der semitische Sprachcharakter von Mt 11,28ff, dass wir uns hier in großer Nähe zur jüdischen Weisheitslehre bewegen.63 Deshalb ist Bultmanns Versuch, Mt 11,28ff als „hellenistische Bildung“ zu erklären,64 verfehlt. Jesu Einladung richtet sich an alle, die ihr euch abmüht und belastet seid!,65 einprägsamer im alten Luthertext: „alle, die ihr mühselig und beladen seid“. Sich abmühen/abplagen (κοπιάω [kopiaō]) betrifft jede körperliche und geistige Anstrengung oder Mühsal, es kann „von der ganzen mühevollen, schweren Lebensarbeit“ ausgesagt werden66 (vgl. Mt 6,28; Joh 4,6; Eph 4,28; Offb 2,3). In Mt 11,28 bezieht es Friedrich Hauck auf diejenigen, „die sich bisher abmühten unter der Last der jüdischen Gesetzesforderungen“.67 Das ist jedoch zu eng. Nach dem Zusammenhang geht es um alle, die bisher vergeblich die Gemeinschaft mit Gott suchten, die Gottes Reich und die Annahme bei Gott – „Gerechtigkeit“ – ersehnten und bisher nicht fanden, ja um alle, die sich die falschen Ziele steckten im Leben. Mehr noch: Es geht auch um die, die sich „rechtschaffen“ plagen, die eine Lebenslast um die andere tragen und die mit Ps 90,10 von ihrem Leben sagen müssen: „Das Beste daran ist nur Mühe und Beschwer.“ Zweifellos führt von Mt 11,28 eine Verbindungslinie 60 61 62 63 64 65 66 67

Zahn, 443. Vgl. Riesner, 340; France, 200; Beare, 267. Ebenso Davies-Allison, 296. Riesner, 330.339.341ff. Bultmann Gesch, 179.354. Dieselbe Übersetzung schon mein Kommentar (I, 397) von 1979, jetzt BasisBibel, 57. F. Hauck, Art. κόπος usw., ThWNT, III, 1938, 827. Hauck a.a.O., 828. Ebenso Schniewind, 153f; Zahn, 443f; Luz II 219; Beare, 268; Riesner, 341.

5. Jesus und der Vater, 11,25-30

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zu Mt 9,36, wo Jesus an den (jüdischen) Menschen seiner Zeit erlebt, dass „sie gequält waren und darniederlagen wie Schafe, die keinen Hirten haben“. Insofern sind alle diese Menschen belastet (πεφορτισμένοι [ pephortismenoi]). Auch hier empfiehlt das NT eine weitere Auslegung: Sogar bei den Christen trägt „jeder seine eigene Last“ (Gal 6,5). Wir sollten also Mt 11,28 nicht einschränken auf Fälle der Sünde oder gesetzlicher Lasten, sondern die Einladung in der Weite stehen lassen, in der sie Jesus gesprochen hat.68 Ich werde euch Ruhe verschaffen (κἀγὼ ἀναπαύσω ὑμᾶς [kagō anapausō hymas]) ist seine königliche Verheißung in prägnanter Kürze: Ruhe vor den Feinden und Verfolgern (Jos 21,44; Jes 14,3), Ruhe in der Obhut Gottes (Ps 95,11), Ruhe in Frieden und Gemeinschaft mit Gott (Jes 32,18; Jer 6,16). Dabei ist Ruhe verschaffen (ἀναπαύειν [anapauein]) erst noch das zeitweilige Ausruhenlassen oder Erquicken.69 Doch am Horizont leuchtet schon das ewige Ruhefinden von Offb 14,13 auf.70 Dabei ist dreierlei festzuhalten: 1) Jesus sagt nicht: „Der Herr wird euch Ruhe verschaffen/erquicken“, sondern: „Ich (ἐγώ [ego]!) werde es tun.“ Er besitzt deshalb dieselbe göttliche Macht, die Gott in Jer 31,25 von sich aussagt: „ich will die Müden erquicken und die Verschmachtenden sättigen.“ 2) Das Ruhe verschaffen ist auch ein Ziel der Weisheit (vgl. Sir 6,29; 51,35). Erneut zeigt sich, dass Jesus in Person die göttliche Weisheit ist.71 3) Mt 11,28 bedeutet nicht, dass Feinde, Verfolger, Unrast und Last generell aufhören würden. Sie sind auch für Christen vorhanden, so lange, bis Jesus wiederkommt (Offb 12,12ff ). Aber inmitten der Leiden dieser Welt stärkt uns Jesus und gibt uns eine innere Ruhe, die auf Gott vertraut (Ps 23,3ff ). In V. 29 weitet sich die Einladung aus: Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir. Denn72 ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. Dann werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. „Das Joch auf sich nehmen“ ist häufige jüdische Redeweise. Sie hat ihren Ursprung beim Joch der Nutztiere. Joch bedeutet Dienst für einen Höheren.73 Wessen Joch man auf sich nimmt, dem dient man. So spricht man schon alttestamentlich vom „Joch Gottes“ (Jer

68 Ebenso Fiedler, 245. 69 O. Bauernfeind, Art. ἀναπαύω usw., ThWNT, I, 1933, 352. Vgl. Lutherbibel: „ich will euch erquicken“. Carson, 278, setzt den primären Akzent auf das Eschatologische. Aber France, 200f, wie wir. K. Weiß, Art. φέρω usw., ThWNT, IX, 1973, 88. 70 Vgl. Bauernfeind a.a.O., 352f; Bauer-Aland, 116. 71 Ablehnend Carson, 277f. Aber vgl. Luz II 218; Beare, 267. 72 ὅτι [hoti] ist kausativ. 73 Rigider die Definition von K.H. Rengstorf im Art. ζυγός usw., ThWNT, II, 1935, 901: „ein Verhältnis schlechthiniger [sic!] Abhängigkeit“.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

2,20; 5,5) oder vom „Joch der Fremdherrschaft“.74 Im frühjüdischen und rabbinischen Sprachgebrauch begegnen z.B. „Joch des Gesetzes“, „der Gebote“, „des Heiligen“, „des Himmels“, „des Himmelreichs“ = der Gottesherrschaft.75 Typisch ist hier Pirqe Abot III, 6: „Wer das Joch der Tora auf sich nimmt, dem wird das Joch der Staatslasten und das Joch der weltlichen Beschäftigung abgenommen.“ Aber auch die Weisheit spricht: „Beugt euren Nacken unter das Joch“ (= der Weisheit, Sir LXX 51,26). Karl Heinrich Rengstorf hat recht: In Mt 11,29 betont Jesus, dass es um sein Joch (mein Joch) geht.76 Man kann dies nur so verstehen, dass er sein Joch parallel zum Joch Gottes sieht. Indirekt ist das eine Aussage über seine Gottessohnschaft. Nehmt auf euch mein Joch heißt dann: Tretet in meine Nachfolge. Dort lernt man, wie man bei Gott und an seinem Gesetz lernt (Ps 1,2; 119,71; Jes 1,17; Hos 4,6): Lernt von mir. Ähnlich spricht wieder die Weisheit (Sir LXX 24,16ff; 51,23). Erneut liegt ein Akzent auf dem von mir (ἀπ᾿ ἐμοῦ [ap’ emou]). An der Person Jesu kann man alles lernen, was zum Heil dient. Auch diese Aussage reicht über den reinen Gesetzeslehrer oder Schriftgelehrten hinaus.77 Zweierlei betont Jesus, was man bei ihm lernen kann: 1) ich bin sanftmütig (πραΰς εἰμι [ praüs eimi]).78 Sofort werden wir an die dritte Seligpreisung der Bergpredigt – Mt 5,5: „Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen“ – erinnert. Zur Worterklärung vgl. dort.79 Aber wir werden auch an Mose erinnert: καὶ ὁ ἄνθρωπος Μωυσῆς πραϋς σφόδρα παρὰ πάντας τοὺς ἀνθρώπους τοὺς ὄντας ἐπὶ τῆς γῆς [kai ho anthrōpos Mōysēs praüs sphodra para pantas tous anthrōpous tous ontas epi tēs gēs], Num 12,3 LXX. Offensichtlich sieht sich Jesus hier als zweiten Mose (vgl. Dtn 18,15).80 Er ist einer, der seine ganze Hoffnung auf den Vater setzt.81 So entspricht er auch dem Messias-König von Sach 9,9 (Mt 21,5). 2) Ich bin von Herzen demütig (ταπεινὸς τῇ καρδίᾳ [tapeinos tē kardia]). Hier erinnern wir uns, dass die beiden Begriffe πραϋς [ praüs] und ταπεινός [tapeinos] in Zeph 3,12 LXX in einem eschatologischen Zusammenhang stehen. Ein solcher eschatologischer Zusammenhang ist ja auch in Mt 5,5 gegeben. Wer 74 75 76 77 78 79 80 81

G. Bertram im Art. ζυγός a.a.O., 900. Nachweise bei Rengstorf a.a.O., 902f. A.a.O., 902. Anders Fiedler, 246: man unterwerfe sich der „Tora-Auslegung“ Jesu. Dagegen Luz II 220. Hier ist die Übersetzung der BasisBibel gräulich: „Ich meine es gut mit euch“. Vgl. F. Hauck / S. Schulz, Art. πραύς usw., ThWNT, VI, 1959, 645ff. πραύς [ praüs] ist häufig Übersetzung aus dem Bereich des hebr. ‫‘[ ענה‬nh] (a.a.O., 647). Vgl. Davies-Allison II 272f: „Jesus in Mosaic colours“. Hauck/Schulz a.a.O., 649. Ganz anders Luz II 221: jemand, der „sich selber in der Liebe zugunsten des anderen zurückstellt“.

5. Jesus und der Vater, 11,25-30

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ταπεινός [tapeinos], eigentlich „niedrig“, ist (hebr. Wortgruppe ‫‘[ ענה‬nh]82), den erhöht Gott (1Sam 2,7; 2Sam 22,28; Ez 21,31; Zeph 2,3). Für die Rabbinen „ist Demut von bes Bdtg.“.83 Grundmann fasst ταπεινός [tapeinos] in Mt 11,29 als (Gott) „ergeben“ auf.84 Aber das ist zu eng. Gemeint ist in Mt 11,29 ein Leben, das sich ganz von Gott abhängig weiß und keine irdische Größe anstrebt. Insofern ist auch die Übersetzung „demütig“ gerechtfertigt.85 Fazit: Jesus fordert seine Jünger dazu auf, seine Sanftmut und seine Demut für ihr eigenes Leben zu übernehmen.86 Dann87 werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen88: Im Grunde ist dies dieselbe Verheißung wie am Ende von V. 28. Man vgl. die Erklärung dort. Dabei sei noch einmal betont, dass von Ruhe in doppeltem Sinn gesprochen wird: 1) einer zeitweiligen Ruhe jetzt schon im irdischen Leben, 2) einer eschatologischen Ruhe im vollendeten, ewigen Gottesreich. Der Satz Dann werdet ihr Ruhe finden … ist ein Zitat aus Jer 6,16, allerdings näher am MT als an der LXX. Dort spricht Gott diese Verheißung aus, adressiert an diejenigen, die „den guten Weg (= Gottes Weg) wandeln“. Vergleiche Jes 28,12; Dtn 12,9. Wieder also spricht Jesus an Gottes Stelle. Zur Weisheit vgl. Sir 6,28; 51,27. Der „gute Weg“ von Jer 6,16 ist die Nachfolge Jesu.89 Vers 30 ist kurz und provoziert dennoch viele Fragen: Denn (γάρ [gar]) mein Joch ist mild und meine Last ist leicht. Erneut ist klar: Es geht um das unverwechselbare Joch Jesu (mein Joch), nicht um das Joch eines gewaltanwendenden Religionsstifters wie Mohammed, nicht um das Joch zahlloser erdrückender Vorschriften, noch nicht einmal um das Joch der Weisheit (trotz vieler Parallelen zur Weisheit!90). Aber wie kann er sagen: mein Joch ist mild (χρηστός [chrēstos])? Und was heißt χρηστός [chrēstos] überhaupt? „Gütig“? Doch das sagt man eher von Personen.91 „Sittlich gut“, „ehrbar“?92 Besser passt in Mt 11,30 eine Bezeichnung für „die ganze Fülle der … Güte und

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W. Grundmann, Art. ταπεινός usw., ThWNT, VIII, 1969, 6. Grundmann a.a.O., 13. A.a.O., 20. Bauer-Aland, 1604. Vgl. Flusser, 103. Konsekutives καί [kai]. Gegen Davies-Allison II 291 sollte man hier „Seele“ nicht nur als einen Ausdruck für „selbst“ verstehen, sondern mit Bauer-Aland, 1782, als Sitz und Trägerin des Lebens. Vgl. Luz II 221. Vgl. Rengstorf a.a.O., 902. Doch vgl. meinen Kommentar, 399f. Vgl. Bauer-Aland, 1767.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

Freundlichkeit Gottes“.93 Bezogen auf ein „Joch“ bedeutet das mild.94 Noch stärker zugespitzt: „süß“.95 Am treffendsten wohl doch Zahn: „eine Wohltat“.96 Eine Wohltat ist Jesu Joch, also die Jesus-Nachfolge, weil sie unser gegenwärtiges Leben in den Frieden mit Gott führt (Röm 5,1) und uns das ewige Leben mit Gott schenkt. Es ist das Joch der Erlösung. Dem entspricht im Parallelismus membrorum und meine Last ist leicht. Sicher handelt es sich um ein Paradox.97 Denn eine Last bleibt eine Last. Und Jesus sagt auch nicht: „Ich befreie euch von jeder Last.“ Nein, der Dienst für Jesus, ja der ganze Weg der Nachfolge, bleibt eine Last und wird nicht zum Spaziergang, zum Event oder Spaßunternehmen. Aber seine Last ist leicht. Das heißt, man übernimmt sie 1) freiwillig, 2) bereitwillig, 3) in dem Wissen, dass uns Jesus niemals über unsere Kraft hinaus belastet. Und man weiß, dass sie den Weg zum ewigen Leben markiert. Sie „ist also praktisch Nachfolge Jesu“.98 Seine Last bleibt deshalb immer etwas anderes als sonstige sittliche oder religiöse Lasten, die eben nicht den Weg zum ewigen Leben bezeichnen.99 Vergleiche Luthers Quintessenz: „Ein Christenleben ist ein seliges und freudenreiches Leben, und das Joch Christi ist sanft und süß.“100 Die alten Kirchenlehrer zogen daraus die Konsequenz: Wir sollen auch nicht „einem andern eine unerträgliche Bürde“ auferlegen.101

IV Zusammenfassung 1. Mt 11,25-30 hat im Evangelium eine einzigartige Stellung, und zwar dadurch, dass Jesus hier sein Verhältnis zum himmlischen Vater offenlegt. Mit Recht nennen es Davies-Allison „a capsule summary of the message of the entire gospel“.102 Ein zweiter Schwerpunkt ist der Heilandsruf (V. 28-30), in dem Jesus alle Beladenen zu sich einlädt. 2. Es gibt keinen Grund, Mt 11,25-30 für unjesuanisch zu erklären und diese Worte als Bildung der frühen Christengemeinden zu betrachten.103 Ganz 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103

K. Weiß, Art. χρηστός usw., ThWNT, IX, 1973, 476. Vgl. Bauer-Aland, 1767 und das englische „comfortable“. So Schniewind, 154. Zahn, 445. Rengstorf a.a.O.; K. Weiß, Art. φέρω usw., ThWNT, IX, 1973, 88; Davies-Allison II 291. Weiß a.a.O., 88. Vgl. dazu Barth KD/I, 2, 301, und neutestamentlich 1Joh 5,3. Nach Lutherlexikon, 61. Leo der Große nach Texte KV IV, 148. Davies-Allison II 296. Gegen Bultmann Gesch, 179.354; Luz II 207; Theißen-Merz, 104.481; Beare, 266; Sand, 253; Davies-Allison II 293.

5. Jesus und der Vater, 11,25-30

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abgesehen von der allgemeinen Notwendigkeit, dass Jesus als der Messias sein Verhältnis zu Gott klären musste, ist es doch offensichtlich, dass sowohl Matthäus als auch Johannes ihre diesbezüglichen Berichte für geschichtlich wahr hielten. Auch die frühesten Ausleger wie Justinus Martyr oder Irenäus gingen von der geschichtlichen Wahrheit der Jesusworte in Mt 11,25-30 aus und bekämpften von da aus die Gnostiker.104 Wir halten deshalb an der Historizität von Mt 11,25-30 fest.105 3. In Mt 11,25-30 begegnet uns ein Sondergut des Matthäus. Es berührt sich eng mit dem Johannesevangelium. Sprache und Inhalt werden als „johanneisch“ empfunden.106 Woher kommt das? Soll man eine gemeinsame Quelle annehmen? Soll man annehmen, dass einzelne Traditionsstücke zwischen einer „synoptischen“ bzw. „matthäischen Schule“ und der „johanneischen Schule“ hin und her gewandert sind? Oder – und dies bleibt doch auch geschichtlich die einfachste Lösung – haben nicht beide, Matthäus und Johannes, als Augenzeugen solche Worte von Jesus vernommen? 4. Die Beschäftigung mit Mt 11,25-30 in der Kirchengeschichte war intensiv und hatte vielerlei Facetten. Vermutlich beruht schon die apostolische Paränese in 2Kor 10,1; Eph 4,2; Jak 3,13 auf diesem Stück der Jesusüberlieferung. Für die frühe Kirchengeschichte bringen allein die Texte der Kirchenväter exegetische Beiträge von Ambrosius, Augustinus, Cyrill von Jerusalem, Ephräm, Johannes Chrysostomus, Leo dem Großen und Salvian von Marseille.107 Wie Luz feststellt, wurde Mt 11,25-30 „bis zur katholischen Exegese anfangs unseres Jahrhunderts trinitarisch gedeutet“.108 Zu den beeindruckenden Beispielen einer trinitarischen Deutung auf protestantischer Seite zählt Karl Barth.109 Aber die historische Kritik an der Echtheit von Mt 11,2530 hat dazu geführt, dass dieser Matthäusabschnitt in manchen modernen protestantischen Dogmatiken nicht mehr herangezogen wird.110 Das ist zu bedauern. Denn Mt 11,25-30 bildet einen historisch glaubwürdigen und kirchengeschichtlich hochinteressanten Kernabschnitt des Evangeliums.

104 Vgl. Irenäus Adv. haer. IV, 6; I, 20. 105 Ebenso Flusser, 265ff; Riesner, 220.339ff; Cullmann, 294; France, 199; Wilckens I/1, 117f; Hengel-Schwemer, 392. 106 Vgl. Hase, 527; Cullmann, 293; Beare, 266. 107 Texte KV I, 18.620; II, 117.311.346; III, 97.445; IV, 39.54.148. Vgl. 2Clem 6,7. 108 Luz II 201. 109 Vgl. Barth KD I/1, 122.153.192.411.422. 110 Z.B. fehlt er bei Trillhaas.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

6. Ährenraufen und Sabbatfrage, 12,1-8 I Übersetzung 1 In jener Zeit ging Jesus am Sabbat1 durch die Saatfelder. Seine Jünger aber hatten Hunger und begannen, Ähren abzurupfen und zu essen. 2 Als aber die Pharisäer das sahen, sagten sie zu ihm: Siehe, deine Jünger tun, was am Sabbat zu tun nicht erlaubt ist. 3 Er aber sagte zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als er und seine Begleiter Hunger hatten? 4 Wie er in das Haus Gottes ging und sie die Schaubrote aßen, was nicht erlaubt war zu essen, weder für ihn noch für seine Begleiter, sondern ausschließlich für die Priester? 5 Oder habt ihr nicht gelesen im Gesetz, dass die Priester im Tempel am Sabbat den Sabbat entweihen und dennoch unschuldig sind? 6 Ich sage euch aber: Hier ist Größeres als der Tempel. 7 Wenn ihr aber erkannt hättet,2 was das heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer, dann hättet ihr die Unschuldigen nicht verurteilt. 7 Denn der Menschensohn ist Herr über den Sabbat.

II Struktur Den Abschnitt gliedern wir wie Davies-Allison: 1) Situationsangabe (V. 1), 2) pharisäische Kritik (V. 2), 3) Jesu Antwort (V. 3-8).3 Schwieriger ist die Frage nach der Makrostruktur zu beurteilen. Noch immer bleibt es eine gute Möglichkeit, das 12. Kapitel unter der Überschrift „Das Ringen mit den Pharisäern“ zusammenzufassen.4 Man kann Mt 12,1-21 auch unter der Überschrift „Sabbat-Kontroversen (und der Gottesknecht)“ behandeln.5 Wenn aber Luz den Großabschnitt 12,1–16,28 unter die Überschrift rückt: „Jesus zieht sich aus Israel zurück“,6 dann verfehlt er unseres Erachtens die Zielsetzung des Evangelisten. Denn in den Kapiteln 12–16 stellt der Evangelist dar, wie Jesus zunehmenden Widerspruch gerade nicht mit Rückzug, sondern mit immer neuem Werben beantwortet. Mt 12,1-8 verlässt den Redestil, der in Mt 11,7-30 vorherrschte, und geht wieder zum Geschehnisbericht über. Allerdings passiert das in einer Form, die

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Plural für Singular BDR § 141,7. Zur Verbform vgl. BDR § 86,1. Davies-Allison II 304. Maier I, 402; ähnlich Schniewind, 155; Luz II 226. So Davies-Allison II 303; ähnlich Fiedler, 246ff. Luz II 225.

6. Ährenraufen und Sabbatfrage, 12,1-8

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wir schon in Mt 9,3ff.11ff und 9,14ff ansatzweise kennenlernten, die jetzt aber noch profilierter erkennbar ist, nämlich in Form einer Gesetzesdebatte. Inhaltlich ragen die Stichworte Sabbat, erlaubt und Schuld/Unschuld hervor. Wir bewegen uns also im Themenhorizont „Der Messias und seine Stellung zum Gesetz (zur Tora)“.

III Einzelexegese Ein Gang durch die Saatfelder (V. 1) führt am Ende zu ganz grundsätzlichen Fragen. War es ein Gang durch die Weizenfelder bei Chorazin?7 Der Gedanke ist attraktiv, denn dort findet sich alles Nötige: Saatfelder, eine vielleicht schon damals ansehnliche Synagoge, folglich eine Gruppe von Pharisäern. Es ist Sabbat, man kann also einen „Sabbatweg“ (Apg 1,12) nach dem Synagogen-Gottesdienst machen usw. Aber natürlich bleibt ein solcher Gedanke spekulativ. In jener Zeit (vgl. 11,25; 14,1; 18,1) ordnet die Geschehnisse in die damalige Zeitepoche ein: Im Großen und Ganzen ist es auch die Epoche von Mt 11,25 und 14,1. Es stimmt also nicht, wenn Davies-Allison schreiben, In jener Zeit enthalte keine „chronological information“.8 Allerdings bleibt es eine offene Zeitangabe. Man kann dies auf jene Zeit beziehen, die man unglücklicherweise „galiläische Krise“ nennt.9 Der Wahrheitskern dieser Bezeichnung liegt darin, dass nach dem Ende des „galiläischen Frühlings“ (vgl. Mt 4,17– 9,38) die Widerstände zunehmen. Aber weder sind die Galiläer schuld daran, noch handelt es sich um eine Art zwischenzeitlicher Krise. Vielmehr geht Jesus einen sehr konsequenten Weg, der sich jetzt mehr und mehr dem menschlichen Widerspruch ausgesetzt sieht. Es ist Sabbat. Ein Ort wird nicht genannt. Matthäus bleibt sparsam. Auch in Mk 2,23; Lk 6,1 fehlt eine Ortsangabe. Dass seine Jünger – er selbst nicht! – Ähren abrupfen, weil sie Hunger hatten, ist nach Dtn 23,25f erlaubt. Es gibt diesbezüglich auch keinen Vorwurf. Die Saaten deuten auf den Zeitraum April/Mai.10 Eine ganz andere Frage ist es, ob so etwas am Sabbat erlaubt ist. Darum geht es im Folgenden: Als aber die Pharisäer das sahen, sagten sie zu ihm: Siehe, deine Jünger tun, was am Sabbat zu tun nicht erlaubt ist (V. 2). Über die Pharisäer vgl. oben bei Mt 3,7. Lukas sagt genauer: „einige von den Pharisäern“ (Lk 6,2). Man braucht sich nicht zu wundern, dass die erwähnten Pharisäer das [= das Ährenraufen] sahen (ἰδόντες 7 8 9 10

Vgl. b Men 85a; Bösen, 49f. Davies-Allison, 305. Siehe Zahn, 445. Vgl. Riesner, 476. Zahn, a.a.O.

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[idontes]). Wer beansprucht, der Messias zu sein, steht unter ständiger Beobachtung: Im galiläischen Dreieck Chorazin-Betsaida-Kapernaum war dies sowieso kein Problem (vgl. 11,20ff ). Noch weniger problematisch war dies an einem Sabbat. Denn Jesus besuchte jeden Sabbat die Synagoge (Lk 4,16), traf dort die Mitglieder pharisäischer Genossenschaften und setzte Gespräche auch im Anschluss daran fort (vgl. Lk 14,1ff ). Vermutlich hatten sich die in Mt 12,2 erwähnten Pharisäer dem Gang durch die Felder angeschlossen. Mit Recht betont Flusser, dass Jesus selbst nichts aß.11 Aber tun seine Jünger, was am Sabbat zu tun nicht erlaubt ist? Damit steht das Verhältnis des Messias zum Sabbat auf dem Spiel. Es ist unmöglich, das Thema Sabbat in einem Evangelienkommentar ausführlich zu behandeln.12 Wenige Stichworte und Hinweise müssen genügen. Das Sabbatgebot ist im Dekalog fest verankert (Ex 20,8ff; Dtn 5,12ff ). Nach dem Exil wird der Sabbat neben der Beschneidung zum Hauptmerkmal des Judentums, er wird nach der Formulierung Eduard Lohses „zum wichtigsten Stück des göttlichen Gesetzes“.13 In der Zeit Jesu ist der Sabbat zentrales Lehrstück und prägende Lebenspraxis der Rabbinen. Der Sabbat dokumentiert für sie zweierlei: a) die Erwählung Israels und b) die ewige Herrlichkeit, die einmal „ein Sabbat ohne Ende sein wird“.14 Rabbi Simon b. Jochai (ca. 150 n.Chr.) sagte: „Würden die Israeliten zwei Sabbate nach Vorschrift halten, so würden sie sofort erlöst werden.“15 Interessant sind in unserem Zusammenhang die „vierzig Hauptarbeiten weniger eins“, die nach der Mischna Sabbat VII, 2 verboten sind und wohl schon zur Zeit Jesu verboten waren.16 Unter den verbotenen Hauptarbeiten werden aufgeführt „Mähen“, „Garben“, „Dreschen“, „Worfeln“, „Klauben“,17 wofür Lohse übersetzt „wer erntet und Garben bindet; wer drischt und worfelt und ausliest“.18 Demnach ist jedenfalls das Ernten verboten, worunter auch das Ährenraufen verstanden werden kann.19 Nun gibt es gerade für die Pharisäer unter den Rabbinen Ausnahmen von diesen strengen Sabbat-Regeln. Eine dieser Ausnahmen ist der Tempeldienst. In b Schab 132b formuliert das so: „Die Festhütte und all ihre Erfordernisse verdrängen den Schabbat.“ Ein weiterer Ausnahmefall ist die Lebensgefahr. 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Flusser, 231, Anm. 66. Vgl. dazu Strack-Billerbeck I 610ff. E. Lohse, Art. σάββατον usw., ThWNT, VII, 1964, 5. Lohse a.a.O., 8. b Schab 118b. Vgl. b Schab 73a ff; Strack-Billerbeck I 615ff. Nach Talmud/Goldschmidt z. St. Lohse a.a.O., 12. Lohse a.a.O., 21,166; France, 202; Strack-Billerbeck I 617.

6. Ährenraufen und Sabbatfrage, 12,1-8

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Mischna Joma VIII, 6 formuliert: „Lebensgefahr verdrängt den Schabbat“ (schon in 1Makk 2,39ff im Grundsatz enthalten). Die Regel von M. Joma VIII, 6, wurde vor allem auf Kranke, Unfallopfer, Schwangere und zugunsten der Beschneidung angewendet, aber auch zum Beispiel auf Heißhungrige. Der Überblick wäre unvollständig, wenn neben die Regeln zur Ruhe und zum Arbeitsverbot nicht auch die Vorschriften zur Festfreude am Sabbat gestellt würden. „Dass die Festfreude ein Gebot sei“, überliefert uns b Pes 68b. Dort steht auch die Anweisung von R. Jehoschua (ca. 90 n.Chr.), dass man den Sabbat teilen solle: „die Hälfte für das Essen und Trinken und die Hälfte für das Lehrhaus“. Das Essen sollte reichlich sein, und man lud „gern Gäste ins Haus, um sie reichlich zu bewirten“.20 Mt 12,1-8 führt uns also in einen Kernbereich des jüdischen Lebens, lässt uns aber zugleich an der Kargheit der Angaben des Evangelisten leiden. Ist es erlaubt (ἔξεστιν [exestin]), was die Jünger tun? Das ist eine Auslegungsfrage. Dass Jesus und seine Jünger grundsätzlich den Sabbat halten, wird ja gar nicht bestritten. Sie gehören nicht zu denen, die alle Tage für gleich halten (Röm 14,5). Wo zieht der Messias Jesus die Grenze? Am Ende wurde Jesus jedenfalls nicht wegen Sabbatbruchs verurteilt, sondern wegen seines Anspruchs, Messias und Gottes Sohn zu sein (Mk 14,61f parr).21 Jesu Antwort bewegt sich zunächst ganz auf der Ebene der Gesetzesdebatten: Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als er und seine Begleiter Hunger hatten? Wie er in das Haus Gottes ging und sie die Schaubrote22 aßen, was nicht erlaubt war zu essen, weder für ihn noch für seine Begleiter, sondern ausschließlich (μόνοις [monois]) für die Priester? (V. 3-4). Gerade weil wir uns in einer Gesetzesdebatte befinden, fallen drei Punkte auf: 1) Jesus beginnt wie in V. 5; Mt 19,4; 21,16.42; 22,31 mit einem Verweis auf die Schrift: Habt ihr nicht gelesen? Anders beginnen in der Regel die TalmudDebatten: „Es wird gelehrt“ – „Rabbi X sagte im Namen von Rabbi Y“ – „Die Rabbanan lehrten“ oder ähnlich. Aber Jesus geht nicht von den „Satzungen der Ältesten“ aus (Mt 15,1ff ), sondern von den heiligen Schriften Israels. 2) Er bezieht sich auf den Hunger der Jünger. Wie die Kommentare bemerken, fehlt in der Markus- und Lukas-Parallele zu Mt 12,1 (Mk 2,23; Lk 6,1) das ἐπείνασαν [epeinasan] (sie hatten Hunger). Aber jetzt, wo es in der Gesetzesauslegung eine Rolle spielt, ist das ἐπείνασεν [epeinasen] in allen drei Evangelienüberlieferungen da (Mt 12,3; Mk 2,25; Lk 6,3). Wie wir sahen, kann nach 20 Lohse a.a.O., 16. Dort mehr an Einzelheiten. 21 Die Formulierungen in Joh 5,10 sind ganz ähnlich. Joh 5,10 ist also ein „synoptischer“ Vers! 22 Zu den Schaubroten vgl. Ex 25,30; 40,23; Lev 24,5ff; 2Makk 10,3.

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M. Joma VIII, 6; b Jom 83a/b im Falle des Hungers das Arbeitsverbot durchbrochen werden. 3) Jesus bezieht sich auf David. Dieses Beispiel ist aus doppeltem Grund wichtig: a) David galt als Vorläufer und Prototyp des Messias. Was David erlaubt wurde, muss auch Jesus erlaubt sein.23 b) Der Talmud bezeugt in b Men 95b, dass über die Ausnahme für David und die maßgebliche Schriftstelle 1Sam 21,7 bei den jüdischen Gesetzeslehrern diskutiert wurde.24 Jesus konnte also bei seinem Davidsbeispiel in Mt 12,3-4 mit Verständnis rechnen. – Fazit: Was in Mt 12,1 seine Jünger tun, ist von der Schrift (Dtn 23,25f; 1Sam 21,7 – Tora und Propheten!) wie von der jüdischen Gesetzesauslegung her erlaubt.25 Über manche historische Details, die uns hier interessieren würden, wissen wir leider nicht Bescheid. Carson weist die These von Samuele Bacchiocchi,26 die Pharisäer hätten es versäumt, Jesus nach dem Synagogengottesdienst mit seinen Jüngern einzuladen, kategorisch zurück.27 Aber die These enthält doch ein Stück Wahrheit. Am Sabbat sollte niemand hungern. Gäste-Einladungen waren üblich. Am Sabbat sollte „selbst für den Wanderer eine Mahlzeit bereit stehen.“28 Weshalb mussten Jesu Jünger hungern? Und lässt sich nicht Davids Beispiel so deuten, dass es in Mt 12,1ff gerade um den verfolgten David geht? Sah sich Jesus evtl. schon von bestimmten Gruppen abgelehnt und ausgeschlossen (vgl. Lk 7,44ff )? Man darf diese Fragen stellen,29 muss sie aber offenlassen. In V. 5 stellt Jesus in der typischen Manier der rabbinischen Lehr-Diskussionen30 erneut eine Gegenfrage: Oder habt ihr nicht gelesen im Gesetz, dass die Priester im Tempel31 am Sabbat den Sabbat entweihen und dennoch unschuldig sind? In der Tat schreibt das Gesetz in Lev 24,8f; Num 28,9f vor, dass sowohl das Auflegen der Schaubrote als auch die Darbringung der Sabbatopfer samt dem täglichen Brandopfer und Trankopfer jeweils am Sabbat zu geschehen haben. Nach den allgemeinen Sabbatvorschriften würden „die Priester im Tempel“ durch solche Tätigkeiten den Sabbat entwei23 Vgl. Hengel-Schwemer, 419.535. 24 Vgl. auch Strack-Billerbeck I 618f. 25 Auch wenn die Mischna und die Traktate des Talmud zeitlich später sind als Jesus, wird man bei der Kontinuität der jüdischen Gesetzesauslegung damit rechnen dürfen, dass solche oder ähnliche Lehrentscheidungen schon zur Zeit Jesu galten. Vgl. Lohse a.a.O., 21f; L. Goppelt, Art. πεινάω, ThWNT, VI, 19; Fiedler, 247. 26 From Sabbath to Sunday, Rome, 1977, 50. 27 Carson, 279f („fanciful“). 28 So Goppelt a.a.O., 19, 54. 29 Vgl. Strack-Billerbeck I 611. 30 Vgl. Gaechter, 390. 31 Gemeint ist der ganze Tempel, G. Schrenk, Art. ἱερός usw., ThWNT, III, 1938, 234.

6. Ährenraufen und Sabbatfrage, 12,1-8

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hen. Aber weil es Gottes Gesetz selbst befiehlt, sind sie unschuldig: Ihr Tun ist erlaubt und niemand darf ihnen daraus einen Vorwurf machen.32 Mt 12,5 enthält noch einen interessanten Nebenaspekt. Weil der Vers Präsensformen gebraucht (βεβηλοῦσιν – ἀναίτιοί εἰσιν [bebēlousin – anaitioi eisin]), legt er es nahe, dass der Tempel zur Zeit der Abfassung des Evangeliums noch steht. Demnach wäre das Matthäusevangelium vor 70 n.Chr. geschrieben. Aber, so fragen die Kommentare, was bringt dieses zweite Argument Jesu in Mt 12,5 für die Rechtfertigung des Ährenraufens? Beare33 sagt: „the argument has not much force“.34 Das stimmt – solange man V. 6 beiseitelässt. In V. 6 steckt jedoch die Anwendung, die Jesus vom Priesterdienst am Sabbat macht: Ich sage euch aber: Hier ist Größeres35 als der Tempel. Formal handelt es sich um einen Schluss Qal-Wachomer, den Schluss vom Leichteren aufs Schwerere.36 Hier gilt es genau zu beachten, was mit wem verglichen wird. Auf der einen Seite steht Jesus als das Größere,37 auf der anderen Seite der Tempel.38 Dass es um Jesus selbst geht, bestätigen uns V. 41 und 42. Demnach scheidet eine Reihe von Erklärungsversuchen aus: dass der Dienst für Gott, in dem Jesus tätig war, größer sei als der Dienst der Priester (doch ist das Ährenraufen ein wichtigerer Dienst als das Tempelopfer?39); dass die Barmherzigkeit größer sei als das Opfer (dies wird aber erst in V. 7 Gegenstand der Diskussion40). Auf die richtige Spur führt Schlatter, wenn er bemerkt, Jesus stelle sich „als den rechten Tempel vor die Pharisäer hin“.41 Was der Jerusalemer Tempel nur vorläufig vermitteln konnte, nämlich die ständig wiederholte Bedeckung der Sünde durch Sünd- und Schuldopfer (Lev 4–5), das hat Jesus als ewige Erlösung vollbracht (Mt 20,28 par; Jes 53,10; Dan 9,24; Joh 1,29.36; Hebr 8–10). Mit Recht wird er deshalb auch der ewige, wahre Hohepriester genannt (Hebr 4,14–7,28). Seit Mt 3,17 steht ihm der Sühnetod als Ziel und Auftrag vor Augen. Kann man aber im Dienst des Tempels den Sabbat entweihen – so die Linie des zweiten Arguments in V. 5 und 6 –, dann kann man dasselbe erst recht im Dienst Jesu als „sein 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Strack-Billerbeck I 620ff. Beare, 271. Ähnlich Gaechter, 390. μεῖζον [meizon] ist besser bezeugt als μείζων [meizōn] und wird durch πλεῖον [ pleion] V. 41f gestützt. Zahn, 447. Luz II 231; Carson, 281. Deshalb ändern ja viele HSS und alte Ausleger in μείζων [meizōn]. Ebenso Schrenk a.a.O., 244 (ein „christologisches Wort“); W. Grundmann, Art. μέγας usw., ThWNT, IV, 1942, 541. Vgl. Carson a.a.O.; Gaechter, 391; Beare, 271. Carson, 281f, gegen Luz II 231, Fiedler, 248, und andere. Schlatter, 189. In ähnlicher Richtung argumentierte schon Zahn, 447.

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Jünger“. Jesus als Gottessohn und Erlöser steht weit über dem Tempel, „der mit Händen gemacht ist“ (Apg 7,48; vgl. Joh 2,19ff ). Am schwierigsten zu verstehen ist das dritte Argument, das in V. 7 enthalten ist: Wenn ihr aber erkannt hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer, dann hättet ihr die Unschuldigen nicht verurteilt. Nach Mt 9,13 erscheint also erneut ein Zitat aus Hos 6,6 (vgl. noch Mt 23,23). Warum zitiert Jesus gerade diese Stelle aus den Propheten? Gaechter antwortet, er stelle hier „das sittliche Prinzip über das juristische“, „die innere Gesinnung über jedes äußere Tun“.42 Aber dann hätte es genügt, nur Hos 6,6 zu zitieren, während die Argumente der Verse 3-6 ihren Sinn verloren hätten. Außerdem lässt sich die Alternative „innere Gesinnung – äußeres Tun“ schwer mit Mt 5,17ff vereinbaren. Näher bei Mt 12,7 steht Gundry, wenn er die Barmherzigkeit (ἔλεος [eleos]) und das pharisäische Beharren „on ritualistic grounds“ einander gegenübertreten lässt.43 Tatsächlich aber erinnert Jesus die Pharisäer an eine wichtige Linie ihrer eigenen Theologie, die sie fälschlich außer Acht lassen und insofern auch in ihrer Bedeutung nicht erkannt haben. Das ist die Hochachtung für die Liebeswerke = Barmherzigkeit.44 Hat nicht schon Simon der Gerechte um 300 v.Chr. gesagt: „Auf dreierlei steht die Welt: auf der Tora, dem Gottesdienst und den Liebeswerken“?45 Und sagte nicht R. Jochanan b. Zakkai, ein Zeitgenosse der Apostel, dass die Liebeswerke nach dem Fall des Tempels an die Stelle der Opfer träten?46 Dann aber muss die Barmherzigkeit eine Auslegungsregel auch für die Sabbatvorschriften sein. Damit wird das Fazit der Verse 3-6 bestätigt. Die Jünger, die Hunger hatten (V. 1.3), sind Unschuldige, die von den kritischen Pharisäern nicht verurteilt47 werden dürfen. Nach dem Gesetz des Achtergewichts trägt das dritte Argument in Mt 12,7 die Hauptlast der Beweisführung. Insofern hat Gaechter recht, wenn er Mt 12,7 „den organischen Höhepunkt der Argumentation“ nennt.48 Erneut kann man fragen, ob nicht das Ausbleiben einer Sabbateinladung seitens der Pharisäer den Hunger der Jünger mitveranlasste, sodass die ganz praktische Barmherzigkeit vermisst wurde.49 Während die Verse 5-7 über den Textbestand von Markus und Lukas hinausgehen, trifft sich Matthäus bei V. 8 wieder mit den anderen Synoptikern. 42 43 44 45 46 47 48 49

Gaechter, 391. Gundry, 224. Ähnlich Carson, 282; Zahn, 448. Vgl. dazu Strack-Billerbeck I 622.500. P. Abot I, 2. Näheres bei Strack-Billerbeck I 500, die noch auf b Sukka 49b; b Ber 55a verweisen. Vgl. Bauer-Aland, 833. Gaechter, 391. Vgl. Strack-Billerbeck I 611ff.

6. Ährenraufen und Sabbatfrage, 12,1-8

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Allerdings lassen sowohl Matthäus als auch Lukas Mk 2,27 weg. Für alle diese Vorgänge hat die Q-Theorie keine Erklärung, sondern spekuliert nur.50 Der Wortlaut von Mt 12,8 ist auch in Mk 2,28 und Lk 6,5 mnemotechnisch fest geprägt: der Menschensohn ist Herr über den Sabbat. Matthäus stellt diesen Worten ein Denn voran. Dieses Denn gibt die Begründung für alle drei vorausgehenden Argumente, ist sozusagen der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Es leitet also kein viertes Argument ein.51 Für die Bezeichnung der Menschensohn (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου [ho hyios tou anthrōpou]) gibt es zwei Verstehensmöglichkeiten: 1) Es ist der Mensch im allgemeinen Sinne gemeint,52 2) es ist der Menschensohn par excellence gemeint, nämlich die einmalige biblische Erlösergestalt aus Dan 7,13; ä Hen 37ff. Die Deutung 1) passt nicht zur hervorragenden Stellung Davids oder des Priesters im Tempel und schon gar nicht zu dem, der größer ist als der Tempel. Dass der Mensch Herr (κύριος [kyrios]) über den Sabbat sei, ist außerdem dort ein unmöglicher Satz, wo man wie Jesus von der göttlichen Urheberschaft der Heiligen Schrift ausgeht. Es bleibt also nur die Deutung 2) übrig: Der Menschensohn als Bringer des göttlichen Heils ist Herr über den Sabbat.53 Was heißt das? Der „christologische Titel“54 drückt eine „christologische Autorität“ aus.55 In dieser christologischen Autorität sagt Jesus letztgültig, wie man sich am Sabbat zu verhalten hat: Er besitzt die Deutungsvollmacht.56 Dahinter deutet sich allerdings auch das trinitarische Geheimnis an, dass er zusammen mit dem Vater der Geber der Tora, und damit des Sabbats, ist. Doch dann muss man mit Davies-Allison die Frage stellen: Warum hat sich Jesus bei seiner Antwort an die Pharisäer nicht mit V. 8 begnügt? Was sollen dann noch die in V. 3-7 vorausgehenden Argumente? Davies-Allison meinen, Mt 12,8 komplettiere („complete“) die Aussage von V. 6, dass Jesus größer sei als der Tempel.57 In dieser Richtung ist die Antwort zu suchen.58 Als Menschen- und Gottessohn ist er „das Größere“. Doch bleibt es typisch für Jesus, dass er nicht nur einen 50 Ein Beispiel solcher Spekulation ausgerechnet bei den sehr besonnenen Davies-Allison, die zu Mk 2,27 und dessen Verhältnis zu Mt drei mögliche Antworten erwägen, eingeführt erst durch „probably“, dann „perhaps“ und endlich „maybe“ (315). Vgl. Luz II 229. 51 Anders France, 204. Für Carson, 282, ist es „unclear“. 52 So Zahn, 448. 53 Insofern sind wir einig mit C. Colpe, Art. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, ThWNT, VIII, 1969, 455, und Davies-Allison, 315. 54 So Davies-Allison, 316. 55 Davies-Allison, 314, nach Gundry, 223; Schniewind, 156; France, 204; Schlatter, 190; Beare, 272; Tasker, 124; Hengel-Schwemer, 535. 56 Gaechter, 392. Vgl. Gundry, 224; France a.a.O. 57 Davies-Allison, 315. 58 Vgl. auch Cullmann, 86.

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Anspruch formuliert, sondern auch auf der Ebene der pharisäischen Gesprächspartner argumentiert. Deshalb also legt er Wert auf die Argumente in V. 3-7, die eben diese Gesprächspartner auch innerhalb der gewohnten ToraDebatten von seiner Gesetzestreue überzeugen können.

IV Zusammenfassung 1. In Mt 12,1-8 kommt es erstmals zu einem direkten Zusammenprall zwischen Jesus und einigen Pharisäern (Lk 6,2). Bisher hatten sich die Pharisäer an die Jünger gewandt (Mt 9,11) oder allgemein von ihm gesprochen (Mt 9,34). Jetzt beklagen sie sich direkt bei ihm (V. 2). Insofern urteilt Gaechter richtig: „Mt 12,1-7(8) ist … nicht ein Sabbatkonflikt harmloser Art gewesen“, sondern eine „Auseinandersetzung über die letzten Prinzipien“.59 2. Die Gefahr vor allem der protestantischen Exegese liegt darin, die Pharisäer zu einer festgefügten Front zu machen und sie pauschal als Vertreter jener Unbarmherzigkeit zu sehen, die in Hos 6,6 verurteilt wird.60 Beides stimmt nicht, wie wir im Kommentar gesehen haben. Insofern muss man Peter Fiedler zustimmen. Nur verdreht Fiedler plötzlich auf der anderen Seite die Verhältnisse und nennt Mt 12,1-8 „reine Polemik“.61 In Wirklichkeit argumentiert Jesus auf eine Weise, die bei den jüdischen Schriftauslegern durchaus auf Verständnis rechnen konnte.62 Das gilt sogar für die Menschensohn-Aussage in Mt 12,8. Denn wenn er der Messias ist, dann sagt Er, und nicht irgendein Lehrhaus oder ein anderer Rabbi, wie Gottes Gebote zu verstehen sind. Und das ist die eigentliche Frage, die sich hinter Mt 12,1-8 erhebt: Ist er tatsächlich der Messias? Das ist nun allerdings die Kernfrage aller Evangelien (Mk 1,1; Joh 20,31; Apg 1,1; Mt 1,1). 3. Um den Streit über das Sabbatgebot richtig einzuordnen, muss man sich mit Davies-Allison63 klarmachen, dass die Sabbatfrage im Prozess Jesu keine Rolle spielte. Der Streit über den Sabbat ist also hier wie in der nächsten Geschichte (Mt 12,9-14) ein instruktives Beispiel für den wachsenden Widerstand, den Jesus fand, aber nicht der Kern des Konflikts. 4. Die Historizität wird hier besonders engagiert diskutiert. Das gilt vor allem für Mt 12,8, das sich gerade dadurch als Zielpunkt des Berichts erweist. Die moderne historisch-kritische Auslegung neigt dazu, mindestens V. 8 Jesus 59 Gaechter, 392. 60 Dieser Gefahr sind selbst Schlatter und Schniewind nicht entgangen. Vgl. Schlatter, 189f; Schniewind, 155f. 61 Fiedler, 248. 62 Vgl. Flusser, 231, Anm. 66. 63 Davies-Allison, 319.

6. Ährenraufen und Sabbatfrage, 12,1-8

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abzusprechen und als Bildung des Evangelisten oder einer frühen Gemeinde zu erklären.64 Mit Hengel-Schwemer und anderen65 halten wir eine solche Annahme für unbegründet und angesichts der Entwicklung im Urchristentum für unangemessen. Denn die frühen Gemeinden leiteten ihre Praxis von der Wegweisung Jesu ab, und nicht umgekehrt die Aussagen Jesu aus ihrer urchristlichen Praxis. Außerdem waren Jesusworte nicht beliebig veränderbar (Joh 21,23) oder vermehrbar (1Kor 7,10.12.25). Für die Gemeinde des Matthäus ergibt sich allerdings aus Mt 12,1-8, dass sie den Sabbat hielt66 (vgl. Röm 14,5f ). Wenn aus Mt 12,1ff der Schluss gezogen wird, „Daß Jesus mindestens lesen konnte“ 67 und darüber hinaus über eine beachtliche Bildung verfügte,68 so ist dies natürlich richtig. 5. Gelegentlich wird Mt 12,6 als „Kultkritik“ aufgefasst.69 Man muss hier jedoch differenzieren: Gerade Mt 12,6 setzt „die Güte des überbotenen Tempels logisch voraus“70 (vgl. Mt 21,12ff ). Andererseits löst Jesus als „Tempel“ und „ewiger Hohepriester“ des Neuen Bundes den alten Tempel ab71 (vgl. Offb 21,22). Die kultkritische Auffassung argumentiert gerne damit, dass Jesus „die Liebe zu Gott und zum Nächsten zum schlechthin einzigen Grundsatz des sittlichen Denkens und Handelns“ erhoben habe.72 Dadurch verfehlt sie aber die Intention Jesu. Denn es geht ihm nicht um die „Überordnung des Sittlichen über das Kultische“,73 schon gar nicht im Sinne des philosophischen deutschen Idealismus, sondern um die Erkenntnis des Gotteswillens und das entsprechende Tun. Mt 12,1-8 muss in einer Linie mit Mt 5,17ff und 7,21ff gesehen werden. Sonst könnten wir am Ende jedes Gebot aus den Angeln heben.

64 So Luz II 228ff; Davies-Allison II 316; Schrenk a.a.O., 244; Bultmann Gesch, 14; Beare, 269ff; Colpe a.a.O., 455; Theißen-Merz, 320. 65 Hengel-Schwemer, 394.419. 66 Luz II 233. 67 Theißen-Merz, 318. 68 Theißen-Merz, 318f. Vgl. Riesner, 206ff. 69 Vgl. zur Diskussion Theißen-Merz, 518ff; Tasker, 125; Gaechter, 391. 70 Theißen-Merz, 520. 71 Vgl. Cullmann, 86. 72 So Gaechter, 391. Vgl. wieder Theißen-Merz a.a.O. 73 Vgl. wieder Theißen-Merz a.a.O.

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Die Auseinandersetzungen beginnen, 10,1–12,50

7. Eine Sabbatheilung und ihre Folgen, 12,9-14 I Übersetzung 9 Und er ging von dort weg und kam in ihre Synagoge. 10 Und siehe, ein Mensch hatte eine verdorrte Hand. Und sie fragten ihn: Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen? – damit sie gegen ihn Anklage erheben konnten. 11 Er aber sagte zu ihnen: Wer von euch, der ein Schaf hat, wird es nicht anpacken und heraufziehen, wenn es am Sabbat in eine Grube fällt? 12 Um wie viel wertvoller ist nicht ein Mensch gegenüber einem Schaf? Folglich ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun. 13 Darauf sagt er zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Und er streckte sie aus, und sie wurde wieder gesund wie die andere. 14 Die Pharisäer aber gingen hinaus und fassten gegen ihn einen Beschluss, dass sie ihn umbringen wollten.

II Struktur Die kleine Erzählung besitzt einen klaren Aufbau: 1) Einleitung (V. 9), 2) Dialog über die Zulässigkeit von Sabbatheilungen (V. 10-12), 3) Heilung (V. 13), 4) Konsequenzen der Heilung (V. 14). Die Parallelberichte Mk 3,1-6 und Lukas 6, 6-11 stimmen im Wesentlichen mit Mt 12,9-14 überein. Markus und Lukas sind hier jedoch enger miteinander verwandt als mit Matthäus. Bei Matthäus stellt das Anschauungsbeispiel vom Schaf eine Besonderheit dar, bei Markus und Lukas der Gesprächsgang über Gutes oder Böses tun am Sabbat (Mk 3,4f; Lk 6,9f ). Solche Besonderheiten erklären sich aus den jeweils vorliegenden Traditionen. Bemerkenswert ist, dass alle drei (Mt, Mk, Lk) die Perikope von der verdorrten Hand unmittelbar im Anschluss an das Ährenraufen bringen. Beides wurde also von Anfang an miteinander erzählt und überliefert. Beides dürfte auch in der Jesusgeschichte im selben Zeitraum passiert sein. Für Matthäus ergibt sich die Nähe von 12,9ff zu 12,1ff schon daraus, dass im Unterschied zu 12,1 bei der Heilung der verdorrten Hand der Name Jesus niemals genannt wird und auch von den Pharisäern bis hin zu V. 13 nur in der unbestimmten 3. Person Plural (sie) die Rede ist. Man weiß ja von 12,1-8 her, wer hier in 12,9-14 auftritt.1 Bei allen drei Evangelisten mündet der Vorgang in einen Tötungsbeschluss der anwesenden Pharisäer (Lk 6,11 freilich zurückhaltend). Es muss damals zu einer großen Erbitterung gekommen sein. 1 Vgl. Luz II 237.

7. Eine Sabbatheilung und ihre Folgen, 12,9-14

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Das ἔξεστιν [exestin] (bei Mt doppelt, V. 10.12) zeigt, dass wir uns nach wie vor im Rahmen der Gesetzesdebatten bewegen. Erneut geht es um das Gesetzesverständnis des Messias Jesus.

III Einzelexegese Nach V. 9 hat Jesus den Schauplatz der Ereignisse von Mt 12,1-8 verlassen (er ging von dort weg). Er wird sich aber nicht allzu weit entfernt haben. Er kam in ihre Synagoge: Also ist es wieder Sabbat. Wie eh und je (vgl. Mt 4,23; 9,35) besucht Jesus die Synagoge. Er habe dort gelehrt, sagt Lk 6,6 ausdrücklich. Die Wendung ihre Synagoge muss ebenso wenig wie in Mt 4,23 und 9,35 eine abwertende2 oder gar polemische Bedeutung haben.3 Sie drückt zunächst nur aus, dass Jesus die am Ort befindliche Synagoge aufsuchte. Mit V. 10 beginnt der Dialog, der für Matthäus der erste Gipfel der Geschichte ist. Den zweiten Gipfel bildet dann der Tötungsbeschluss in V. 14. Ob der Mensch mit der verdorrten Hand extra von den Pharisäern eingeladen war, muss offenbleiben. Das παρετήρουν/παρετηροῦντο [ paretēroun/ paretērounto] von Mk 3,2/Lk 6,7 macht jedenfalls klar, dass sich die anwesenden Pharisäer auf den Sabbatkonflikt vorbereitet hatten und den Gottesdienst von Anfang an für ihre Zwecke nutzen wollten. Mit χεὶρ ξηρά [cheir xēra] wird eine kranke Hand in einem sehr allgemeinen Sinne bezeichnet.4 Sie kann „gelähmt“,5 „steif “,6 „dürr“,7 „vertrocknet“8 oder „verdorrt“9 usw. sein. Vielleicht trifft die Beschreibung von Zahn (449) am genauesten zu: eine „wohl durch Paralyse und Atrophie unbrauchbar gewordene“ Hand.10 Matthäus kommt schnell auf das Wesentliche zu sprechen. Und sie fragten ihn: Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen? Eine zentrale Beobachtung im Blick auf unsere Geschichte ist die, dass die Grenzen des am Sabbat Erlaubten in der alten rabbinischen Tradition durchaus umstritten waren. Die Mischna im Traktat Schabbat oder bei Edijot II, 5; Joma VIII, 5f bietet dafür genug Beispiele.11 Davies-Allison machen auf zwei weitere Punkte aufmerksam: 1) das Hand2 France, 204, spricht von einem „gulf “, der Jesus und die Juden zu trennen beginnt. Ähnlich Luz II 238. 3 Vgl. die Diskussion bei Zahn 449, Anm. 59. 4 Bauer-Aland, 1111; Davies-Allison II 317. 5 So Hengel-Schwemer, 462; Davies-Allison a.a.O.; Fiedler, 249; France, 204. 6 So Luz II 36. 7 Schlatter, 191; Schniewind, 157. 8 Bauer-Aland, 1112. 9 Aland Syn, 157. Vgl. 1Kön 13,4ff. 10 Vgl. Sand, 257. 11 Vgl. Carson, 283f; Davies-Allison II 317f.

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ausstrecken war jedenfalls nicht verboten, 2) die Schrift selbst verbietet es nicht, am Sabbat zu heilen.12 Die Frage der Pharisäer war also eine offene Frage. Im Hintergrund steht jedoch ein feindseliges Motiv: Sie wollten gegen ihn Anklage erheben (ἵνα κατηγορήσωσιν αὐτοῦ [hina katēgorēsōsin autou]). In jener Gegend Galiläas – darüber hinaus sollten wir zunächst nicht gehen – zog offensichtlich Erbitterung in den Widerspruch gegen Jesus ein. Büchsel deutet κατηγορεῖν [katēgorein] als „anklagen im gerichtlichen Sinne“.13 In den Kommentaren verweist man auf Ex 31,14,14 wonach auf den Bruch des Sabbats die Todesstrafe steht. Mt 12,14 stimmt damit überein. Man sollte jedoch Engführungen auch hier vermeiden. Denn ein Messias, der den Sabbat nicht heiligte, war nicht akzeptabel. So konnte Jesus nicht allein wegen Sabbatbruchs, sondern als falscher Messias oder Verführer angeklagt werden. So ist es in der Tat geschehen (Mt 26,63f; 27,63). Jesus wurde jetzt also noch direkter angegriffen als beim Ährenraufen. Nicht mehr das Tun seiner Jünger, sondern sein eigenes Tun steht zur Diskussion. Zahn schreibt mit Recht, dass die Pharisäer „von Jesus eine bejahende Antwort erwarten“, während für sie selbst „die Verneinung der Frage … außer Zweifel steht“.15 Es ist typisch für solche rabbinische Gesetzesdebatten, dass Jesus in V. 11 mit einer Gegenfrage antwortet: Wer von euch, der ein Schaf hat, wird es nicht anpacken und heraufziehen, wenn es am Sabbat in eine Grube fällt? In Lk 13,15; 14,5 benutzte Jesus ähnliche Beispiele. Nebenbei zeigt es sich hier, dass es eine sehr verkrampfte Annahme wäre, wenn man alle diese Stellen auf ein und dasselbe Jesuswort zurückführen wollte.16 Vielmehr hat Jesus ähnliches pädagogisches Material mehrfach und variierend verwendet. Jesu Gegenfrage formuliert keine Gesetzesthese, keine Halacha, im engeren Sinne, sondern geht einfach von der geläufigen Praxis der Galiläer aus.17 Wer von euch: Die Antwort lautet selbstverständlich: niemand. Anpacken (κρατεῖν [kratein]) und heraufziehen (ἐγείρειν [egeirein], oder: aufrichten18) sind normalerweise am Sabbat untersagt. Anders ist es, wenn ein Vieh am Sabbat in eine Grube fällt. Diesen Fall diskutiert auch der Talmud,19 mit dem Ergebnis, 12 Davies-Allison II 318. 13 F. Büchsel, Art. κατήγορος usw., ThWNT, III, 1938, 638. Vgl. Davies-Allison II 318: „a technical legal term“. 14 So Davies-Allison a.a.O. 15 Zahn, 449. Ähnlich France, 204. 16 So aber Bultmann Gesch, 9f.48; Davies-Allison II 319. 17 So auch Davies-Allison a.a.O.; France, 205. 18 Bauer-Aland, 432. 19 In einer späteren Zeit, b Schab 128b.

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dass jedenfalls Fütterung und Hilfeleistung erlaubt sind, um das Tier am Leben zu erhalten. Die Rabbinen vertreten auch die Ansicht, dass jede „Tierquälerei … biblisch“ untersagt ist.20 Zu denken ist hier vor allem an Prov 12,10; Ex 23,5; Dtn 22,4. Schließlich hält der Talmud fest, dass die Heilige Schrift vor jeder rabbinischen Lehrmeinung Vorrang hat: „das biblische Verbot verdrängt das rabbanitische“.21 Das alles bestätigt, dass sich Jesus mit seinen Argumenten immer noch grundsätzlich innerhalb der Lehrtraditionen Israels bewegt. Dasselbe gilt im Blick auf die zweite Gegenfrage in V. 12: Um wie viel wertvoller ist nicht ein Mensch gegenüber einem Schaf?22 Niemand konnte da widersprechen (vgl. Gen 1,26ff; Ps 8,5ff ). Jesus hat mehrfach von diesem Vorrang des Menschen vor allen übrigen Geschöpfen gesprochen (Mt 6,26.30; 10,31). Wenn heute im nordatlantischen Raum die These vertreten wird, der Mensch sei „nur Mit-Geschöpf “ und alle Geschöpfe seien gleich wertvoll, dann ist das eine ganz andere Denklinie als diejenige Jesu. Jesu Fazit: Folglich (ὥστε [hōste]23) ist es erlaubt (ἔξεστιν [exestin]), am Sabbat Gutes zu tun (V. 12). Die Formulierung trifft sich hier mit Mk 3,4 und Lk 6,9. Durch diese Parallele mit Markus und Lukas wird zugleich sichergestellt, dass es nach wie vor um das „Heilen am Sabbat“ (V. 10) geht. Es geht also nicht – wie Luz meint24 – um ein allgemeines Gutes tun, das jeder individuell nach dem Prinzip der Liebe bestimmen kann. Denn damit wäre das Sabbatgebot – ein Gebot des Dekalogs (Ex 20,8-11)! – praktisch erledigt.25 Nein, es geht um die Auslegung, die der Messias als „Herr über den Sabbat“ (V. 8) dem Sabbatgebot gibt. Und sie schließt das Heilen als erlaubte Handlung am Sabbat ein. In der Konsequenz sind damit alle gesundheitsfördernden Maßnahmen, die auch am Sabbat nötig sind, erlaubt.26 Die Ausleger beschäftigt das πρόβατον ἕν [ probaton hen], von uns übersetzt mit ein Schaf. Hier sind zwei Deutungen möglich. Entweder wird ἕν [hen] indefinit gebraucht, es heißt also ganz allgemein und unbestimmt ein

20 21 22 23 24 25

A.a.O. A.a.O. Ein Qal-Wachomer-Schluss (a fortiori), Davies-Allison II 319; Carson, 284. Vgl. BDR § 391. Luz II 239f. Vgl. France, 205. Unklar bei Schlatter, 192; Zahn, 450. Unverständlich Schniewind, 157: In Mt 12,12 „setzt Jesus das ganze Sabbatgebot außer Kraft“. Sand, 257: „Jede heilende und helfende Tätigkeit“ sei erlaubt. 26 Erneut sei darauf hingewiesen, dass sich eine solche Lehrentscheidung in der jüdischen Lehrtradition grundsätzlich vertreten lässt. Vgl. Fiedler, 249f.

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Schaf.27 Oder es wird als Zahlwort gebraucht. Dann heißt es betont „ein einziges Schaf “. Angespielt wäre auf das einzige Schaf im Gleichnis 2Sam 12,3ff oder auf arme galiläische Bauern, die nur ein einziges Schaf besitzen.28 Wir müssen beide Deutungen offenlassen. Da jedoch der Gegensatz ein einziges Schaf – viele Schafe (2Sam 12,1ff ) keine Rolle spielt, vielmehr Mensch und Vieh in Mt 12,11f einander gegenübergestellt werden, neigen wir zu der erstgenannten Möglichkeit.29 In diesem Falle könnte auch der Gedanke des verlorenen Schafes – verglichen mit dem kranken Mann in der Synagoge – analog Jes 53,6; Ez 34,1ff; Mt 18,10ff; Lk 15,1ff eine Rolle spielen.30 Darauf sagt er zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Und er streckte sie aus, und sie wurde wieder gesund wie die andere (V. 13): Abrupt kurz wird das Wunder der Heilung berichtet. Die Aufforderung Streck deine Hand aus! nimmt den Mann mit in das Geschehen hinein und macht klar, dass Jesus niemandem etwas aufnötigt. Die Kommentare eilen rasch weiter zu Fragen: Warum handelte Jesus so? usw. Aber wir sollten doch auch dem Staunen Raum geben, dass Jesus so etwas tun konnte. Alle drei Evangelisten berichten hier gleich (Mt 12,13; Mk 3,5b; Lk 6,10b): Nicht einmal ein Heilungsbefehl Jesu wird berichtet. Wie der Mann reagierte, bleibt ebenfalls unerwähnt. Nur die Reaktion der anwesenden Pharisäer wird im folgenden Vers geschildert. Allerdings kann man mit Recht überlegen: Warum hat Jesus nicht bis zum nächsten Tag gewartet?31 Wäre da nicht die Heilung hochwillkommen gewesen? Vergleiche Lk 13,14. Jesus hätte auf diese Weise auch diejenigen gewinnen können, die eine Heilung am Sabbat nur bei akuter Lebensgefahr guthießen. Davies-Allison glauben, bei Jesus habe eine „intentional provocation“ vorgelegen, weil er die mündliche Halacha dort widerlegen wollte, wo sie gegen „the demands of love“ verstieß.32 In diesem Urteil mischen sich wohl Wahres und Falsches. Wahr scheint zu sein, dass Jesus die Situation als bewusste Herausforderung wahrnahm, der er sich ohne Wenn und Aber stellte (vgl. Mk 3,2ff; Lk 6,7ff ). Falsch ist es jedoch, dass sich Jesus an den „Erfordernissen der Liebe“ orientiert haben soll – schon gar nicht am „Liebes-Ideal“ einer Philosophie oder der europäischen Aufklärung. Sein Maßstab war vielmehr Gottes Wille in der Heiligen Schrift.33 Von der Schrift aus korrigierte er 27 28 29 30 31 32 33

Vgl. BDR § 247.301ff. So Luz II 239; Sand, 257; Wilckens I/1, 293. Ebenso Tasker, 127; Carson, 284; Jeremias Gleichnisse, 198. Vgl. meinen früheren Kommentar Teil I, 412. Davies-Allison II 318. A.a.O. Davies-Allison schreiben a.a.O. selbst: „of what God really wills“.

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die Halacha der Rabbinen („Aufsätze der Ältesten“). Lk 13,14ff ergänzt insofern Mt 12,9ff. Beides erlaubt uns, Jesu Standpunkt und Handeln wie folgt zusammenzufassen: 1) Wenn man schon einem Vieh am Sabbat helfen darf, dann umso mehr einem Menschen, 2) am Sabbat sind gute Taten für Kranke nach Gottes Willen erlaubt und erwünscht, 3) eine chronische Krankheit ist eine Bindung, die so schnell wie möglich beendet werden muss, 4) solche Taten der Heilung und Befreiung sind zugleich eschatologische Zeichen des Sieges Gottes über den Satan (vgl. Lk 13,16). Der Sabbat dient ja auch der Erinnerung an den ewigen Sabbat, der in Gottes Reich kommen soll (Hebr 4,3ff ).34 Die Pharisäer aber gingen hinaus und fassten gegen ihn einen Beschluss, dass sie ihn umbringen wollten (ἀπολέσωσιν [apolesōsin]), V. 14: Im Markusevangelium ist dieser Beschluss noch mehr nach vorne gerückt (3,6), was oft verwundert. Bei Lukas ist die Formulierung vorsichtiger („was sie gegen Jesus unternehmen könnten“, 6,11). Bei Matthäus muss man zunächst sehr nüchtern konstatieren, dass es eben die damals in der Synagoge anwesenden galiläischen Pharisäer sind, aber nicht der Hohe Rat in Jerusalem oder irgendein repräsentatives pharisäisches Organ. Folgen hat dieser Beschluss zunächst nicht.35 Unklar ist auch der Begriff συμβούλιον [symboulion]. Das griech. Wort bedeutet „Beratung“, „Ratssitzung“, „Ratsversammlung“, aber auch Beschluss.36 Entsprechend übersetzen die Kommentare.37 Unsere Übersetzung Beschluss38 darf nicht dazu verleiten, an irgendeine offizielle Entschließung zu denken. Es bleibt aber die Härte der jüdischen Entschlossenheit, hier in einem Winkel Galiläas, Jesus ums Leben zu bringen: dass sie ihn umbringen wollten. Zugrunde liegt wohl der Schriftbezug auf Ex 31,14 und Dtn 13,2ff. Mt 12,14 stellt klar, dass die damals anwesenden Pharisäer sich der Schriftauslegung Jesu nicht anschlossen, was eventuell andere getan hätten (vgl. Mt 19,16; 22,16; Joh 3,2). Das heißt aber noch lange nicht, dass „Jesus mit seinen Sabbatkonflikten aus dem Rahmen des damaligen Judentums heraus“gefallen wäre.39 Fiedler sagt sogar, Jesus habe „eine bestimmte pharisäische Position“ geteilt.40 Aber es kündigt sich hier in der

34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Wilckens I/1, 294. Vgl. Zahn, 450f. Bauer-Aland, 1552. Fiedler, 249: sie „beratschlagten“. Auch Maier I, 412. Vgl. Theißen-Merz, 329. Fiedler, 250.

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Zeit von Mt 12,9-14 jedenfalls schon die Passion an. Johannes bestätigt diesen frühen Ansatz der Synoptiker (Joh 5,16ff ).

IV Zusammenfassung 1. Matthäus ist es in 12,9-14 wichtig, dass Jesus ein toratreuer Messias ist. 2. Das ist ihm so wichtig, dass sogar das Wunder der Heilung der verdorrten Hand in den Hintergrund tritt.41 Als christliche Ausleger sollten wir es aber nicht unter den Tisch fallen lassen.42 3. Die Historizität kann mit ernsthaften Gründen nicht bestritten werden.43 4. Jesu Argumente in Mt 12,9-14 bleiben im Rahmen der jüdischen Auslegungsdiskussionen.44 5. Heute muss man Matthäus gegen negative Bewertungen in den Kommentaren in Schutz nehmen. Man kann dort lesen, er betreibe „reine Polemik“, er „unterstelle“, „verschleiere“, „verunglimpfe“.45 Haben wir also eine unwahre Evangelienüberlieferung vor uns? Mitnichten. Die Evangelisten wollen berichten, was tatsächlich gewesen ist (Mt 1,18; Lk 1,1-4; Joh 20,30f; 21,24f ). Mit unwahren Behauptungen würden sie ihr eigenes Zeugnis untergraben. 6. Es ist ein modernistisches Fehlurteil, wenn man Jesus in Mt 12,9-14 „im Namen der Liebe“ auftreten lässt.46 Vielmehr tritt er im eigenen Namen als Gottessohn und Messias auf. Dies ist der Name, der uns allen Heil bringt (Mt 12,8.17ff; Apg 4,12).

8. Die Prophetie erfüllt sich, 12,15-21 I Übersetzung 15 Als Jesus es erkannte, zog er sich von dort zurück. Und es folgten ihm viele,1 und er heilte sie alle. 16 Und er gebot ihnen aufs Schärfste, ihn nicht bekannt zu machen, 17 damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesprochen wurde, wenn dieser sagt: 18 Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem meine Seele Wohlgefallen 41 Fiedler, 230; Luz II 240. 42 Ein Zeugnis der uneigennützigen Liebe Jesu. Der Geheilte bleibt seltsam unbestimmt. 43 Theißen-Merz, 327ff; Hengel-Schwemer, 419; Davies-Allison II 316. Anders Bultmann Gesch, 9. 44 Fiedler, 249f; Theißen-Merz, 329. 45 So Fiedler, 248ff. 46 So Luz II 241. 1 ὄχλοι [ochloi] ist zu schwach bezeugt; Zahn 451,67; Luz II 242,1.

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hatte. Ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Völkern das Recht verkündigen. 19 Er wird nicht streiten und nicht schreien, und man wird auf den Gassen seine Stimme nicht hören. 20 Ein geknicktes Rohr wird er nicht zerbrechen und einen glimmenden Docht wird er nicht auslöschen, bis er das Recht zum Sieg hinausführt. 21 Und auf seinen Namen werden die Völker hoffen.

II Struktur Mt 12,15-21 hat eine eigenartige Struktur. Fünf von sieben Versen beschäftigen sich mit Jes 42,1-4. Wenn Matthäus in der Mitte seines Evangeliums ein so ausführliches Zitat bringt, das längste im Matthäusevangelium,2 dann muss es für ihn eine hohe Bedeutung gehabt haben. Erstmals seit 8,17 taucht wieder die Formel ἵνα (ὅπως) πληρωθῇ τὸ ῥηθέν [hina (hopōs) plērōthē to rhēthen] auf. In Mt 13,14f wird Mt 12,17ff durch ein neues Jesajazitat (Jes 6,9f ) zu einer Art Diptychon ergänzt. Erneut erweist sich Matthäus als profunder Schrifttheologe. In V. 15 und 22 markieren die Worte Ὁ δὲ Ἰησοῦς γνοὺς ἀνεχώρησεν [Ho de Iēsous gnous anechōrēsen] und Τότε προσηνέχθη [Tote prosēnechthē] jeweils den Beginn eines neuen Abschnitts. Die Einheit von Mt 12,15-21 ergibt sich also deutlich aus dem Text. Genauer besehen enthält es zwei Unterabschnitte: 1) in V. 15-16 eine Art Summarium, 2) in V. 17-21 ein Erfüllungszitat (Reflexionszitat). Trotz der Anordnung der Aland’schen Synopse3 sind Mk 3,7-12 und Lk 6,17-19 keine Parallelberichte. Wir müssen vielmehr Mt 12,15-21 als Sondergut des Matthäus für sich auslegen.

III Einzelexegese Als Jesus es erkannte, zog er sich von dort zurück (V. 15): Auf welche Weise er es erkannte (γνούς [gnous]), bleibt offen: ob im Geist oder durch menschliche Mitteilung. Das, was er erkannte, war der Tötungsbeschluss von V. 14. ἀναχωρεῖν [anachōrein] (sich zurückziehen) ist ein häufiges Motiv Jesu in den Evangelien (vgl. Mt 4,12; 12,15; 14,13; 15,21; Mk 3,7; Joh 6,15). Er wollte sich nicht mutwillig der Gefahr aussetzen, bevor „seine Stunde gekommen war“ (Joh 7,30; 13,1; 17,1). Die Wendung ἀνεχώρησεν [anechōrēsen] deutet eine größere Entfernung an als die Wendung μεταβὰς ἐκεῖθεν

2 France, 205. 3 Alands Überschrift „Heilungen am See“ (159) stimmt weder für Matthäus noch für Lukas.

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[metabas ekeithen] in V. 9. Schon deshalb ist kaum anzunehmen, dass die Heilungen ausgerechnet am See stattgefunden haben sollen.4 Und es folgten ihm viele, und er heilte sie alle: Diese kurze Notiz erinnert an die Summarien in 4,23; 9,35, aber auch an die anschließenden Berichte in 15,30; 19,2. Halten wir das Wichtigste fest: 1) Trotz der Tötungsabsicht der Pharisäer in V. 14 folgten Jesus immer noch viele, 2) die Ablehnung beschränkte sich damals immer noch auf einzelne Gruppen, 3) von einer „galiläischen Krise“ im allgemeinen Sinne sollte man in jener Zeit nicht reden,5 4) es muss damals unzählige Wunder Jesu gegeben haben, sodass Joh 21,25 zwar eine bewusste Hyperbel,6 aber nichts Falsches darstellt, 5) seine Wunderkraft bleibt unvergleichlich. – Im Übrigen ist Mt 12,15 ein Zeichen der tiefen Barmherzigkeit, die Jesus nicht nur von anderen forderte, sondern selbst lebte (vgl. Hos 6,6). Und er gebot ihnen aufs Schärfste, ihn nicht bekannt zu machen (V. 16): Ähnliche Gebote sind uns schon in Mt 8,4 und 9,30 begegnet. Man vgl. die Erklärungen dort. Vergleiche auch Mk 5,43; 7,36; 8,30. In Mt 12,16 gilt es, genau zu unterscheiden: Jesus gebietet nicht, die Heilung zu verschweigen (was unmöglich wäre), sondern ihn in der Öffentlichkeit propagandistisch bekannt zu machen. Er vermeidet seinerseits alles, was messianische Unruhen auslösen könnte. Darin unterscheidet er sich eben von Theudas (Apg 5,36), Judas dem Galiläer (Apg 5,37), dem Ägypter (Apg 21,38) und anderen Messiasprätendenten.7 Vers 17 leitet das wichtige Schriftzitat ein: damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja gesprochen wurde, wenn dieser sagt … Hier gebraucht Matthäus genau dieselben Worte wie in 4,14.8 Immer wieder betont er, dass durch Jesus die Schrift erfüllt wurde (vgl. 2Kor 1,20). Immer wieder kommt er dabei auf den Propheten Jesaja zu sprechen. In Mt 12,18ff wird Jesaja zum zwölften Mal zitiert (nach 1,22f; 3,3.17; 4,14ff; 5,4; 8,11.17; 11,5 (2x); 11,23.28). Ausdrücklich wird der Name Jesaja jetzt zum vierten Mal erwähnt. In Mt 12,17 ist τὸ ῥηθέν [to rhēthen] erneut ein Passivum divinum („was Gott durch den Propheten gesprochen hat“). Im Vergleich zur modernen AT-Forschung fällt auf, dass Jes 42,1-4 (V. 18ff ) eindeutig dem Propheten Jesaja zugerechnet wird. Einen Deutero- oder Tritojesaja hat Matthäus nicht gekannt – so wenig wie Jesus, Qumran, die damaligen Rabbinen, die Apostel 4 5 6 7 8

Gegen Aland Syn, 159. Anders Riesner, 476. Vgl. BDR § 495,5. Vgl. insgesamt Mayer, 50ff. Fiedler, 251.

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oder das NT. Der „Zweite Jesaja“ ist eine Fiktion der Theologie der Aufklärung. Aber wodurch hat Jesus die Jesaja-Prophetie erfüllt? Durch all das, was Matthäus bisher in Kap. 12 geschildert hat: durch seine Torakenntnis, durch seine vollmächtige Schrift-Auslegung, durch seine einzigartige Barmherzigkeit, gerade in den Heilungen, durch seinen Rückzug, „um den Streit nicht zu schüren“,9 durch seine Demut, die keine Schau und keine Propaganda will (vgl. Mt 4,5-7). Die Verse Mt 12,18-21 beginnen wie Jesaja 42,1ff nach dem hebräischen Text: Siehe, mein Knecht (‫[ ֵהן ַעְב ִדּי‬hen ‘abdī ]). Es geht also um die Wahrnehmung des Gottesknechtes, das ist Jesus. Für ‫‘[ ֶעֶבד‬äbäd], Knecht, gebraucht Matthäus wie die LXX παῖς [ pais]. Das griech. παῖς [ pais] hat mehrere Bedeutungen: „Knabe“, „Sohn“, „Diener“ (auch in höchsten Stellungen), „Knecht“.10 In der Wortkombination „Knecht Gottes“, ‫‘[ ֶעֶבד יְֹהוָה‬äbäd jhwh], παῖς θεοῦ [ pais theou], steht Knecht für einen Verehrer Jahwes (Gottes), besonders aber „als ehrender Beiname hervorragend frommer Männer“,11 z.B. für Abraham (Num 12,7f ), Josua (Jos 24,29), Hiob (Hiob 1,8; 2,3; 42,8), David (Ps 89,4.21), ferner für die Propheten (2Kön 9,7 usw.), für Gottes Engel (Hiob 4,18), für Jesaja (Jes 20,3), Serubbabel (Hag 2,23) und nicht zuletzt für den Messias (Sach 3,8).12 Auch in Jes 42,1 handelt es sich demnach um einen Ehrentitel, und zwar, wie Jes 49,1ff beweist, um die Bezeichnung einer individuellen Gestalt, nämlich des kommenden Erlösers.13 Mt 12,18 = Jes 42,1 beschreibt zunächst dessen Verhältnis zu Gott: den ich erwählt habe (ὃν ᾑρέτισα [hon hēretisa]).14 MT und LXX haben „den ich stütze/halte“. Das erwählt hat Matthäus vielleicht aus Jes 41,9 oder Jes 49,1ff nach Jes 42,1 herübergetragen. Mein Geliebter (ὁ ἀγαπητός μου [ho agapētos mou]) geht auf das hebr. ‫[ ָבִּחיר‬bāchīr] in Jes 42,1 zurück, das in der LXX mit ὁ ἐκλεκτός [ho eklektos] wiedergegeben wird. Beides sind „Übersetzungsvarianten“.15 Es ist deshalb auch gut möglich, dass Matthäus die Aussage den ich erwählt habe aus dem ‫[ ָבִּחיר‬bāchīr] erschlossen hat. Jedenfalls folgt Mt 12,18ff in der Regel dem hebr. Text.16 Überdies erinnert uns der Begriff Geliebter an die Taufstimme in Mt 3,17 und über die Taufstimme zurück 9 10 11 12 13 14 15 16

Zahn, 451. Bauer-Aland, 1223f; A. Oepke, Art. παῖς usw., ThWNT, V, 1954, 637. Gesenius, 556. Vgl. W. Zimmerli, Art. παῖς θεοῦ, ThWNT, V, 1954, 657ff. Zimmerli a.a.O., 665ff. Luz II 246 übersetzt: „Kind“, „Sohn“. Vgl. Bauer-Aland, 45. αἱρετίζειν [hairetizein] ist im NT Hapaxlegomenon. J. Jeremias im Art. παῖς θεοῦ, a.a.O., 699. Jeremias a.a.O., 698.

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an Isaak in Gen 22,2, der geopfert werden soll. Sowohl in Gen 22,2 als auch in Jes 42,1 kommt durch die Wortwahl weit mehr zum Ausdruck, als die Erteilung eines Auftrages an den Knecht. Vielmehr besteht ein einzigartiges inneres Verhältnis, das eine Einheit des Wirkens ausdrückt. An dem meine Seele Wohlgefallen hatte: Im Hebräischen steht meine Seele öfter für das Personalpronomen „Ich (selbst)“. Aber Gesenius-Buhl warnen mit Recht davor, dass man die Seele gewissermaßen in ein tonloses „Ich“ überführt.17 Sowohl MT (‫שׁי‬ ִ ‫[ נְַפ‬naphschī ]) als auch LXX (ἡ ψυχή μου [hē psychē mou]) deuten auf die ganze, von Herz, Liebe, Gefallen geprägte Anteilnahme Gottes an seinem auserwählten Knecht.18 Mit dem folgenden θήσω τὸ πνεῦμά μου ἐπ᾿ αὐτόν [thēsō to pneuma mou ep’ auton] (Ich werde meinen Geist auf ihn legen) weicht Matthäus im Wortlaut vom hebr. und griech. Text („Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt“) ab. Sinngemäß trifft aber seine Wiedergabe zu, denn Gott wird seinem Knecht nach Jes 42,1 ja erst künftig seinen Geist geben. Mit der GeistVerleihung berühren wir eine der großen messianischen Verheißungen. Denn dass der Messias in einzigartiger Weise Geistträger ist, wird im AT oft gesagt (Jes 11,2; 42,1; 44,2f; 61,1; Sach 4,6). Die Erfahrung der ersten Christen war, dass Jesus tatsächlich den Geist „ohne Maß“ besaß (Joh 3,34f; Mt 3,16 parr; Lk 4,18ff; Joh 20,22; Apg 10,38). Und er wird den Völkern das Recht verkündigen (καὶ κρίσιν τοῖς ἔθνεσιν ἀπαγγελεῖ [kai krisin tois ethnesin apangelei]): MT und LXX haben statt ἀπαγγελεῖ [apangelei] „er wird hinausbringen“ (‫ [ יוִֹצא‬jōzi’], ἐξοίσει [exoisei]). In der Sache besteht darin wenig Unterschied.19 Wichtiger sind zwei andere Punkte. Zuerst wird klargestellt, dass der Auftrag des Gottesknechtes nicht nur Israel gilt, sondern allen Völkern. Was der Missionsbefehl in Mt 28,19 sagt, steckt schon in Mt 12,18 und in Jes 42,1 (nicht erst in Jes 49,6). Zum Zweiten geht es um den Begriff „Recht“,20 κρίσις [krisis],21 hebr. ‫שׁ ָפּט‬ ְ ‫[ ִמ‬mischpāth]. Das hebräische Bedeutungsspektrum ist sehr breit.22 Es reicht von „Gericht“ und „Richterspruch“ bis hin zu „Sitte“, „Gebrauch“, „Charakteristikum“. Im Zentrum stehen jedoch „Gesetz“, „Gebot“, „Entscheidung“ und formulierter „Wille“.23 Der Sache nach trifft in Jes 42,1 für ‫שׁ ָפּט‬ ְ ‫[ ִמ‬mischpāth] die Bedeutung „offenbarter Wille (Gottes)“ am 17 18 19 20

Gesenius, 515. Vgl. Gesenius, 771, zu ‫[ ָרָצה‬rāzāh]. Vgl. Zahn 451, Fn. 68. So Lutherbibel; Einheitsübersetzung; Revidierte Elberfelder Bibel; NGÜ; BigS; Neue Jerusalemer Bibel. 21 Auch in LXX: Luz II 247: „eine alte crux interpretum“. 22 Vgl. B. Johnson, Art. ‫שׁ ָפּט‬ ְ ‫ִמ‬, ThWAT, V, 1986, 93ff. 23 Johnson a.a.O., 95.103.

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ehesten zu.24 In diesem Sinne bringt also sein Knecht das Recht Gottes in die ganze Welt hinaus.25 Der Überschrift Theodor Zahns zu Mt 12,15-21 „Der still fortarbeitende Knecht Gottes“26 entspricht am ehesten Mt 12,19 = Jes 42,2: Er wird nicht streiten und nicht schreien, und man wird auf den Gassen seine Stimme nicht hören. Wir verlassen damit die Beschreibung des Innenverhältnisses und kommen zur Außenwirkung des Gottesknechtes (V. 19-20). Statt der LXX, κεκράξεται [kekraxetai] und ἀνήσει [anēsei], finden wir bei Matthäus erneut andere Begriffe: ἐρίσει [erisei] (von ἐρίζω [erizō]) und κραυγάσει [kraugasei], streiten und schreien/„brüllen“. Letzteres entspricht dem hebr. ‫[ צעק‬z‘q] in Jes 42,2. Ersteres ist entweder aus Jes 53,7 herübergenommen oder sinngemäß aus dem Rückzug Jesu (V. 15) erschlossen. Dass man auf den Gassen (näher am MT als das ἔξω [exō] der LXX ) seine Stimme nicht hören wird, bedeutet, dass Jesus kein Marktschreier ist. Seine Stimme ist ruhig und leise inmitten der Schrei-Parolen der politischen und religiösen Meinungsmacher der Welt und ihrer Demonstranten. Wie der hebr. Text redet Matthäus bei seinem Zitat im Futur. Mit Recht ziehen die Kommentare von Mt 12,19 die Verbindungslinie zu Mt 12,16f, wonach Jesus die propagandistische Verbreitung seiner Heilungen untersagte.27 Man muss allerdings mit Luz davon ausgehen, dass Mt 12,18-21 den Einzelfall „überschießt“ und uns ein Gesamtbild Jesu gibt. Demnach ist er niemals als Machtmensch, als irdischer Machthaber oder als Durchsetzungsgenie aufgetreten, sondern als bescheidener und demütiger Zeuge Gottes (Mt 11,29; 21,5). Zeile um Zeile zeigt uns Matthäus die Erfüllung des AT durch Jesus. Charakteristisch für sein Wirken ist das nicht auslöschen der Schwachen (V. 20). Diese werden in zwei Bildern dargestellt. Ein geknicktes Rohr ist ein Schilfrohr, das „zerbrochen“ oder geknickt28 und damit nur noch Abfall ist. Man vgl. die Wendung vom „zerbrochenen Herzen“ in Ps 34,19; 51,19. Ein glimmender Docht oder „qualmender Docht“ zeigt an, dass das Licht der Öllampe bald erlöschen wird. Vgl. unsere Redensart „das Lebenslicht ausblasen“. Für den Gottessohn Jesus ist das jeweils keine quantité négligeable, sondern es sind Verwundete, die er innerlich und äußerlich heilen soll (Ez

24 Luz II 247: „Urteilsspruch“. 25 Die Übersetzung „Rechtsordnung“ in der sonst nicht gerade trockenen BasisBibel ist daher ein wenig unglücklich. 26 Zahn, 451. 27 Wilckens I/4, 62; Cullmann, 68; Luz II 246.243; Zahn, 452f. 28 Vgl. Bauer-Aland, 1582.809.

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34,16), Verlorene,29 die er suchen, und Verirrte, die er zurückbringen soll (ebd.). Zahn nennt als Beispiele „die Leutseligkeit gegen die Zöllner und Sünder 9,11, das Erbarmen mit dem verwahrlosten Volk 9,36, die individuelle Behandlung der Leiden aller Art, die rücksichtsvolle Antwort an den zweifelnden Johannes und nicht zum wenigsten das Ev, welches er den Armen predigt“.30 Nicht zerbrechen und nicht auslöschen sind zwar negative Formulierungen, sagen aber das positive Bemühen, das Suchen und Heilen der Verlorenen, aus. Matthäus ist hier nahe an der LXX31 (κάλαμον τεθλασμένον οὐ συντρίψει καὶ λίνον καπνιζόμενον οὐ σβέσει [kalamon tethlasmenon ou syntripsei kai linon kapnizomenon ou sbesei]) und am MT. Mit den letzten Worten von V. 20: bis er das Recht hinausführt zum Sieg (ἕως ἂν ἐκβάλῃ εἰς νῖκος τὴν κρίσιν [heōs an ekbalē eis nikos tēn krisin]) repräsentiert Matthäus abermals eine eigene Textform gegenüber MT und LXX, die untereinander zusammenstimmen. Woher Matthäus seine eigenen Textformen in V. 20 und überhaupt in der Passage V. 18-21 hat, ist bis heute nicht aufgeklärt. Ist es eine Art Übersetzung aus dem hebräischen Text, die ähnlich wie die späteren Targume bestimmte Aspekte verdeutlichen will? „Er trägt das Recht hinaus“ oder Er bringt / führt das Recht hinaus decken sich jedenfalls und besagen, dass der Gottesknecht den offenbarten Willen Gottes32 zu den Menschen bringt (vgl. V. 18). Jedoch schreibt Matthäus εἰς νῖκος [eis nikos] (zum Sieg)33 statt des ‫[ ֶלֱאֶמת‬lä’ᵆmät] des MT und des εἰς ἀλήθειαν [eis alētheian] der LXX. Das Wort Gottes, verdichtet im Evangelium, setzt sich also durch. Es wird so sein, wie es Jesus später in Mt 24,14 beschreibt: „Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker.“ In den Verheißungen für den Gottesknecht findet sich in der Tat eine sieghafte Erwartung dieser weltumspannenden Heilspredigt: „Die fernen Länder warten auf seine Weisung“ (Jes 42,3) – „du bist mein Heil bis an die Enden der Erde“ (Jes 49,6).34 Der 21. Vers besteht aus einem einzigen kurzen Schlusssatz: Und auf seinen Namen werden die Völker hoffen. Dasselbe steht wörtlich in Jes 42,4 29 30 31 32

Schniewind, 157. Zahn, 453. Carson, 286. Viel zu eng BasisBibel: „Rechtsordnung“; BigS: „Gerechtigkeit“; Luz II 242: „Urteilsspruch“. Besser Zahn a.a.O.: „ein Stand der Dinge, in welchem das Recht zur Herrschaft gelangt ist“. Noch besser Schniewind, 158: „Gottes Gebot und Gottes sieghaftes Heil“; Carson, 287: „eschatological salvation“. 33 Ohne Variante in Nestle-Aland 28! 34 Vgl. die Übersetzung der Einheitsübersetzung Jes 42,3: „ja, er bringt wirklich das Recht“; ebenso Neue Jerusalemer Bibel.

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LXX. Anders der MT. Während das hebr. ‫ [ יחל‬jchl] auch mit hoffen wiedergegeben werden kann, ist dort die „Tora“, die Weisung, das Erhoffte, jedoch in LXX und Matthäus sein Name, also Gott bzw. der Gottesknecht selbst. Theologisch ist das leicht verständlich, denn wer auf Gottes Weisung hofft, hofft dadurch auf Gott selbst. Aber welchen Sinn hat das hoffen? Es kann nur die Hoffnung auf die eschatologische Gottesgemeinschaft sein, also die Hoffnung auf Erlösung durch den Gottesknecht. Er in Person bringt diese Erlösung zustande, nicht die guten Taten und die guten Absichten. Vergleiche Apg 4,12; Jes 11,10 LXX.

IV Zusammenfassung 1. Matthäus vereinigt in dem kleinen Abschnitt 12,15-21 zwei Ziele. Er will in einem Summarium Jesu weiteres Wirken in Galiläa schildern, und er will ein Gesamtbild Jesu zeichnen, wozu er Jes 42,1-4 als Schriftzitat heranzieht. 2. Dieses ausführliche Zitat transportiert eine Fülle christologischer Aussagen, die dem Evangelisten wichtig sind: Jesus ist Gottes Knecht und Gottes Sohn, der seit Jahrhunderten von Jesaja angekündigte Messias und Erlöser, der Träger des vollen Gottesgeistes, der Heilsmittler für alle Völker und alle Menschen, die auf dieser Erde leben. Die Gottesoffenbarung kann die Menschheit nur durch ihn erfahren. 3. Er allein wird auch die Hoffnung aller sein, die das Heil Gottes am Ende unserer Geschichte schauen wollen. Sein Wirken ist das Gegenteil der Marktschreier und Propagandisten, die sich im erbitterten Streit engagieren. Mit Sündern, Verachteten, Leidenden und allen Menschen, die durch ihre eigene Kraft nicht mehr weiterkommen, verfährt er helfend, barmherzig und als einer, der alles heilen kann.

9. Gottes Geist und böser Geist, 12,22-37 I Übersetzung 22 Darauf wurde ein dämonisch Besessener zu ihm gebracht, der war blind und stumm. Und er heilte ihn, sodass der Stumme redete und sah. 23 Und die ganze Menge war fassungslos und sagte: Ist das nicht der Davidssohn? 24 Die Pharisäer aber sagten, als sie davon hörten: Der treibt die Dämonen durch den Beelzebul aus, den Herrscher der Dämonen. 25 Er aber erkannte, was sie dachten, und sagte zu ihnen: Jedes Reich, das in sich selbst gespalten ist, wird verwüstet. Und jede Stadt oder

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jedes Haus, das in sich selbst gespalten ist, hat keinen Bestand. 26 Und wenn der Satan den Satan austreibt, ist er in sich selbst gespalten. Wie soll dann sein Reich Bestand haben? 27 Und wenn ich die Dämonen durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben sie dann eure Söhne aus? Deshalb werden sie eure Richter sein. 28 Wenn ich aber die Dämonen durch Gottes Geist austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen! 29 Oder wie kann jemand in das Haus des Starken hineingehen und ihm seine Habe rauben, wenn er nicht zuerst den Starken fesselt? Dann allerdings wird er ihm sein Haus ausrauben. 30 Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. 31 Darum sage ich euch: Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, aber die Lästerung des Geistes wird nicht vergeben werden. 32 Und dem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben werden. Dem aber, der etwas gegen den Heiligen Geist sagt, wird nicht vergeben werden, weder in dieser Welt noch in der kommenden. 33 Macht1 den Baum gut, dann ist auch seine Frucht gut. Oder macht den Baum schlecht, dann ist auch seine Frucht schlecht. Denn an der Frucht erkennt man den Baum. 34 Ihr Schlangenbrut! Wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr böse sei? Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. 35 Der gute Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz, und der böse Mensch bringt Böses hervor aus dem bösen Schatz. 36 Ich sage euch aber: Über jedes nichtsnutzige Wort, das die Menschen reden, werden sie Rechenschaft geben am Tage des Gerichts. 37 Denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.

II Struktur Mt 12,22-37 stellt uns vor die Entscheidung, ob wir den Abschnitt in diesem Umfang zusammenlassen oder ob wir mehrere Abschnitte bilden, evtl. auch mit anderen Verseinteilungen.2 Für beides gibt es gute Gründe. Wir entscheiden uns für die Lösung, Mt 12,22-37 als zusammengehörenden Abschnitt zu behandeln,3 weil erstens das Stichwort „Reden“ diesen ganzen Abschnitt charakterisiert, zweitens mit der anschließenden Zeichenforderung in Mt 12,38 ein neues „Großthema“ beginnt, drittens Matthäus selbst mit dem jeweiligen τότε [tote] in V. 22 und V. 38 eine solche Einteilung zu empfehlen scheint. 1 Oder: „Macht entweder …“, BDR § 446,3. 2 Vgl. Luz II 226ff; Fiedler, 237ff; Aland Syn, 165ff. 3 Ebenso Zahn, 454; Schniewind, 258; France, 207; Carson, 287.

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In Mt 12,22-37 setzen sich die Auseinandersetzungen mit den Pharisäern fort. Sie nehmen an Schärfe noch zu. Zugleich bleibt deutlich, dass es in Galiläa immer noch zwei Richtungen gibt: eine Anhängerschaft Jesu, die ihn zumindest für den Davidssohn = Messias hält, und eine pharisäische Gruppe, die ihn ablehnt. Jesus bleibt dabei zu argumentieren. Er versucht nach wie vor, auch seine Gegner zu gewinnen. Alle Schärfe der Diskussion darf diesen Grundtatbestand nicht verdecken. Vier Aussagegruppen heben sich ab: 1) eine Wunderheilung und die Reaktion darauf (V. 22-23), 2) der Vorwurf, dass Jesus in dämonischer Kraft wirkt (V. 24-30), 3) die Sünde gegen den Heiligen Geist (V. 31-32), 4) das Wort von den Früchten (V. 33-37).

III Einzelexegese Vers 22 beginnt damit, dass ein dämonisch Besessener (δαιμονιζόμενος [daimonizomenos]) zu Jesus gebracht wird (προσηνέχθη [ prosēnechthē]). Der Name Jesus wird im Grundtext weder hier noch sonst im ganzen Abschnitt genannt. Aber durch diese Art der Schilderung, die nur per „er“ von ihm spricht, verbindet Matthäus V. 22ff eng mit V. 15ff. Das τότε [tote] (darauf ) darf also nur im Rahmen zeitlicher Nähe verstanden werden.4 Öfter geschah es, dass man Kranke zu Jesus brachte (προσφέρειν [ prospherein] Mt 4,24; 8,16; 9,2; 12,22). Vor allem Mt 8,16 ist ganz ähnlich formuliert. Jesus besuchte also verschiedene Orte, wobei man die Kranken herbeibrachte. Um dämonisch Besessene ging es schon in 4,24; 8,16. Vergleiche die Erklärung dort. In unserem Falle wirkte sich die Besessenheit so aus, dass der Betroffene blind und stumm war. Blinde, die es infolge der orientalischen Augenkrankheiten häufig gab, sind in Mt 11,5 sowie 9,27ff; 15,31 erwähnt (vgl. noch Mk 8,22ff ), ein stummer5 Besessener in Mt 9,32f (vgl. 15,30f; Mk 7,32). Ihre Heilung ist nach Jes 35,5f; Ez 34,16 ein messianisches Werk. Jesus vollbringt es: Und er heilte ihn, sodass der Stumme redete und sah. Beide Gebrechen werden durch Jesu Wunderkraft überwunden. Neben dem Wunder der Heilung steht das Wunder der Barmherzigkeit Jesu. Noch immer taucht in der Literatur die seit Zahns Zeiten diskutierte Meinung auf, Mt 12,22f sei eine Dublette von Mt 9,32f.6 Schon Zahn hat dies als „unhaltbar“ erwiesen.7 4 5 6 7

Anders Carson, 287: „a good deal later“. Luz II 251ff: „taub“. So Luz II 254; Beare, 277. Zahn, 454.

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Matthäus berichtet anschließend (V. 23) nur eine einzige Reaktion, nämlich die der anwesenden Menge (ὄχλοι [ochloi], ebenso Lk 11,14). Sie war fassungslos, weil Jesu Wunder so einzigartig waren. Die Menge stellt direkt die Messiasfrage: Ist das nicht der Davidssohn? Als Davids Sohn = Messias wurde Jesus mehrfach angesprochen (Mt 9,27; 15,22; 20,30; 21,9.15). Er hat diese Bezeichnung nicht abgelehnt, aber selbst nicht favorisiert. Nach der griechischen Grammatik ist die Frage mit μήτι [mēti] so formuliert, dass die Antwort „Nein“ erwartet wird.8 Im Deutschen könnte man formulieren: „Das ist doch nicht etwa der Davidssohn?“9 Immerhin bleibt es höchst bemerkenswert, dass gerade die Menge, der in pharisäischen Augen unwissende Am-haarez, Jesus zutraut, der wahre Messias zu sein (vgl. Joh 7,31.40ff ).10 Der folgende Vers (V. 24) erzeugt bis heute wütende Reaktionen: Die Pharisäer aber sagten, als sie davon hörten: Der treibt die Dämonen durch den Beelzebul aus, den Herrscher der Dämonen. Weil die Pharisäer erwähnt werden, wird Matthäus „ein antipharisäisches Konstrukt“ vorgeworfen,11 ja, eine antijüdische und antipharisäische Haltung.12 Andererseits weisen Hengel-Schwemer auf „die spätere jüdische Polemik“ hin, der auch ein Celsus gefolgt sei.13 Christliche Ausleger fühlten sich durch den Vorwurf in Mt 12,24 tief verwundet. Das ist bei Justinus Martyr um 150 n.Chr., bei Pionius und Origenes im 3. Jh. n.Chr. zu beobachten,14 aber auch an der Schärfe des Urteils jüngerer Kommentare abzulesen, die von einem „giftigen Pfeil“ und „wilde(r) Leidenschaft“ der Pharisäer sprechen.15 Die Pharisäer meint im Zusammenhang des Matthäusevangeliums zunächst die Pharisäer Galiläas (vgl. Mt 9,35ff; 11,20ff ). Markus bemerkt aber, dass damals Schriftgelehrte von Jerusalem herabgekommen seien, nämlich nach Galiläa, und diese Vorwürfe erhoben (Mk 3,22). Das Lukasevangelium sagt wie in 6,2 wieder genauer, „einige“ hätten die Vorwürfe erhoben (11,15). Daraus ergibt sich folgendes Bild:16 Ein Teil der Pharisäer Galiläas, unterstützt von pharisäischen Schriftgelehrten aus Jerusalem, die immer gegen galiläische messianische Bewegungen misstrauisch waren (vgl. Apg 5,34ff ), griff Jesus an. Dass es nicht alle Pharisäer waren, geht aus dem Matthäusevan8 9 10 11 12 13 14 15 16

BDR § 427 und 440. Vgl. France, 208; Tasker, 129. Vgl. BasisBibel; BigS; Revidierte Elberfelder Bibel. BDR sehen als Sinn der Frage in Mt 12,23: „das muß am Ende doch der Messias sein“. Fiedler, 253. Fiedler a.a.O. (vgl. Anm. 65). Hengel-Schwemer, 487. Zitiert bei Strack-Billerbeck I, 631. So Schlatter, 195.194. Vgl. Flusser, 112,48.

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gelium klar hervor, das ja in der Gestalt des Jaïrus einen jesusgläubigen Pharisäer dargestellt hat (Mt 9,18ff ). Es scheint, dass diese Pharisäer nur vom Hörensagen die Aussprüche über Jesus als eventuellen Davidssohn (V. 23) erfuhren (als sie davon hörten).17 Mit Recht betonen Zahn, Davies-Allison u. a., dass die Pharisäer, die sich in V. 24 äußern, mehr gegen die Vermutung der Messianität Jesu Stellung beziehen als gegen die Dämonenaustreibungen.18 Das heißt, es geht auch hier um die Kernfrage: Ist Jesus der Messias? Der treibt die Dämonen aus durch den Beelzebul: Der (betontes οὗτος [houtos]) ist verächtlich.19 Zunächst notieren wir die Überraschung: Keiner bestreitet das Wunder, keiner stellt Jesu Wundermacht infrage. Es blieb der Aufklärung und der kritischen protestantischen Theologie des 18.–20. Jahrhunderts überlassen, die Wunder Jesu grundsätzlich zu bestreiten: „wir müssen … annehmen, daß das, was wirklich geschehen ist, auf natürlichem Wege geschah“ (Spinoza)20 – „Die Wunder des Neuen Testaments sind … als Wunder erledigt“ (Bultmann).21 Die Haltung der Pharisäer war eine andere. Ihre Fragestellung betraf die Vollmacht Jesu. Würden sie seine göttliche Vollmacht, die im Wunder beglaubigt wurde, anerkennen, dann hätten sie auch seine Messianität anerkennen müssen. Aber dies wollten sie nicht, wobei die Gründe sicher verschieden lagen. Dann blieb jedoch nur übrig, seine Vollmacht für dämonisch zu erklären. Beelzebul, die am besten bezeugte Textform,22 wird verschieden erklärt: 1) als Ableitung von „Baal Sebub“, dem Gott von Ekron (2Kön 1,2, aram. Umformung [?] als „Feind“)23, 2) als „Herr der Wohnung“,24 ‫[ ְבֵּעל זְבוּל‬bᵉʿel sᵉbūl], 3) als ‫[ ְבֵּעל זִיבּוּל‬bᵉʿel sībbūl] = „Mistgott“. „In der jüdischen Literatur begegnet dieser Satansname nirgends.“25 Eine verlässliche Ableitung des Beelzebul ist bisher nicht möglich.26 Der Herrscher der Dämonen kommt aber durchaus in der frühen jüdischen Literatur vor, und zwar unter verschiedenen Namen: „Fürst der Geister“, „Be-

17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Zahn, 455. Zahn a.a.O.; Davies-Allison II 335. Was manche schon für das οὗτος [houtos] in V. 23 vermuten. Baruch de Spinoza, Theologisch-Politisches Traktat (1670), hrsg. von Günter Gawlick, Hamburg, 1984 (Philosophische Bibliothek Band 93), 104. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos, hrsg. von Hans Werner Bartsch, 2. Aufl., Hamburg-Volksdorf, 1951, 18. Anders W. Foerster, Art. Βεεζεβούλ, ThWNT, I, 1933, 605f, der Βεεζεβούλ [Beezeboul] bevorzugt. So z.B. Schlatter, 194. So z.B. Schniewind, 159. Strack-Billerbeck I 632. Strack-Billerbeck a.a.O., die „Mistgott“ bevorzugen.

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liar“,27 „Aschmodai“, „Sammael“.28 Letztlich handelt es sich um den Teufel, den Satan.29 Jesus sei also vom Satan inspiriert und bevollmächtigt, deshalb kann er nicht der Davidssohn, der Messias sein. Mt 12,24 ist nicht die einzige Stelle, die von einem solchen Vorwurf gegen Jesus berichtet. Vielmehr gibt es eine ganze Anzahl solcher Stellen im NT (vgl. Mt 9,34; 10,25; Mk 3,21.30; Lk 11,15; Joh 7,20; 8,48.52; 10,20). An ihre Seite treten mehrere Aussagen im Talmud. Dazu gehört die Schilderung der Hinrichtung Jesu in b Sanh 43a: „Er wird zur Steinigung hinausgeführt, weil er Zauberei getrieben und Israel verführt und abtrünnig gemacht hat“, sowie der berühmte Ausspruch R. Jochanan ben Zakkajs in b Sanh 106a: „Anfangs war er ein Prophet, nachher wurde er Zauberer.“30 Seit jenen Tagen in Galiläa begleiten Jesus und seine Gemeinde solche Vorwürfe, ja in Gestalt des Talmud bis in die heutige Zeit.31 Um die Pharisäer zu verstehen, sei noch einmal ein Doppeltes unterstrichen: 1) Sie bestätigen, dass Jesus einmalige Wunder tat. „Es ist eigenartig, daß die Fähigkeit Jesu, ‚Wunder‘ zu tun, in der alten Welt sogar von den Gegnern kaum bestritten wurde.“32 2) Ihre Vorsicht ist ein gutes Stück weit begreiflich, weil ja auch der Teufel, die Dämonen und Zauberer Wunder vollbringen (vgl. Ex 7,11.22; 8,3; Dtn 13,2ff; Mt 24,24; 2Thess 2,9f; 2Tim 3,8; Offb 13,11ff ).33 In V. 25f argumentiert Jesus trotz der möglicherweise aufgeheizten Situation sehr rational: Jedes Reich, das in sich selbst gespalten ist, wird verwüstet. Und jede Stadt oder jedes Haus, die in sich selbst gespalten sind, hat keinen Bestand (V. 25). Dagegen ist logisch nichts zu sagen. Die Diadochen-Kämpfe nach Alexander und die Machtkämpfe im Haus des Herodes sind anschauliche Beispiele vor aller Augen.34 Auf welche Weise Jesus erkannte, was sie dachten (εἰδὼς δὲ τὰς ἐνθυμήσεις αὐτῶν [eidōs de tas enthymēseis autōn]), wird wie in Lk 11,17 nicht gesagt. Es kann durch den Heiligen Geist geschehen sein (Joh 2,24f ) oder einfach durch menschliche Mitteilungen. Die relative Häufigkeit solcher Formulierungen (vgl. Mt 9,4; 27 So in den Qumran-Schriften. 28 Vgl. Strack-Billerbeck I 634f. 29 Anders Foerster a.a.O., 606, der darin nur einen von mehreren Dämonenfürsten sieht. Ebenso Zahn, 455. Aber wie wir Beare, 278; Tasker, 130. 30 Vgl. b Sanh 107b; b Schab 104b; Strack-Billerbeck I 631ff nennen weitere Stellen. Vgl. Schäfer, 27ff.105ff. 31 Vgl. Hengel-Schwemer, 331; Riesner, 258. 32 Hengel-Schwemer, 487. 33 Vgl. Hengel-Schwemer a.a.O. 34 Rabbinische Parallelen bei Strack-Billerbeck I 635.

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12,25; Lk 6,8; 9,47; 11,17) gibt der erstgenannten Möglichkeit ein leichtes Plus. Jedenfalls lässt Jesus seine Antwort nicht durch andere ausrichten, sondern spricht die erwähnten Pharisäer selbst frei und offen an (sagte zu ihnen). Vers 26 bringt die Anwendung des Gleichnisses auf seinen Fall: Und wenn der Satan den Satan austreibt, ist er in sich selbst gespalten. Wie soll dann sein Reich Bestand haben? Statt vom Beelzebul spricht Jesus vom Satan – gut hebräisch – und macht damit deutlich, dass es nicht auf eine Erscheinung des Satans ankommt, sondern dass der Herrscher der Dämonen (V. 24) wirklich der Satan selbst ist.35 Zweitens macht er deutlich, dass jede Dämonenaustreibung bedeutet, den Satan aus dem betreffenden Menschen auszutreiben. Und dazu soll der Satan selbst anleiten? Kann „der so dumm sein“?36 Drittens aber hat der Satan sein Reich (ἡ βασιλεία αὐτοῦ [hē basileia autou]). Wenn viele Dämonen sich eine „Legion“ nennen, wird es bestätigt (Mk 5,9). Erst recht zeigen uns der 2. Thessalonicherbrief (2Thess 2,3ff ) und die Apokalypse (Offb 13–18) das satanische Reich der Endzeit. Hier geht es nicht nur um Bilder und Gleichnisse, sondern um die Realität des Bösen. Auch der Teufel sorgt für sein Reich, dass es Bestand hat.37 Neben das logische Argument stellt Jesus in V. 27 ein historisches Argument: Und wenn ich die Dämonen durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben sie dann eure Söhne aus? Deshalb werden sie eure Richter sein. Ich (betontes ἐγώ [egō]) und „ihr“ sind die beiden Vergleichsgrößen. Was für die einen gilt, muss auch für den anderen gelten. Schon im AT kann der Begriff Sohn (hebr. ben, aram. bar) „den jüngeren Gefährten, Schüler oder Hörer“ bezeichnen38 oder auch „die Zugehörigkeit zu einer Menschen- oder Berufsgruppe“.39 Dasselbe gilt für die Zeit Jesu. So bezeichnet sich Paulus in Apg 23,6 als „Sohn von Pharisäern“ (υἱὸς Φαρισαίων [hyios Pharisaiōn]). Die Söhne der Pharisäer in Mt 12,27 sind deshalb „Pharisäerschüler“ in einem weiten Sinne,40 das heißt einfach chaberim, Mitgenossen der in V. 24 erwähnten Pharisäer, ob sie nun jünger oder schon in hohem Alter sind.41 Dass Dämonenaustreibungen durch damalige Pharisäer vorkamen, bezeugt die jü-

35 Tasker, 130. 36 Fiedler, 253. 37 Aufgenommen von Augustinus in seinem „Gottesstaat“ als civitas diaboli. Vgl. auch France, 208. 38 G. Fohrer im Art. υἱός usw., ThWNT, VIII, 1969, 345. 39 Fohrer a.a.O., 346. 40 E. Schweizer a.a.O., 366. 41 France, 208: „your own people“. Vgl. Tasker, 130; Luz II 259; Zahn, 457.

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dische Überlieferung.42 Jesu Frage lautet also: Treiben eure Söhne (= Mitgenossen) die Dämonen etwa durch Beelzebul aus? Mitnichten, muss die Antwort sein. Jesu Schlussfolgerung: Dann ist das bei mir auch nicht der Fall. Im Jüngsten Gericht werden eure Söhne wie die Niniviten und die Königin von Saba (Mt 12,41f ) gegen euch als Zeugen auftreten, weil ihr mich fälschlich beschuldigt habt, und insofern eure Richter sein. Moderne Kommentare üben daran Kritik, dass Mt 12,27 den Erfolg pharisäischer Exorzisten voraussetze und damit die Einzigartigkeit Jesu einebne. Warum könne er dann sagen, „das Reich Gottes ist schon zu euch gekommen“ (V. 28)? Luz nennt Jesu Argumente „Strohhalme“.43 Nach Beare sind sie „bar jeder Logik (wholly lacking in logic)“.44 Diese Kritik geht aber an der damaligen geschichtlichen Situation vorbei: Erstens gab es tatsächlich jüdische Exorzismen und es gehört zu Jesu Ehrlichkeit und Demut, dass er dies anerkennt, zweitens geht hier die Diskussion überhaupt nicht darum, wer der „Größere“ sei, sondern darum, ob die pharisäischen Gegner Jesus zu Recht mit dem Beelzebul-Vorwurf belegen. Dazu fehlt ihnen aber die theologische und moralische Vollmacht. Vers 28 beinhaltet ein drittes Argument Jesu: Wenn ich aber die Dämonen durch Gottes Geist austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen! Die Kommentare beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit der Frage, ob Gottes Geist (πνεῦμα θεοῦ [ pneuma theou]) in Mt 12,28 oder Gottes Finger (δάκτυλος θεοῦ [daktylos theou]) in Lk 11,20 die ältere bzw. ursprüngliche Formulierung sei. Da wir nicht wissen, wie oft Jesus solche oder ähnliche Aussagen gemacht hat, und da in einer Diskussionslage wie der von Mt 12,22ff / Lk 11,14ff eventuell viele Worte gewechselt wurden, kann beides ursprünglich und jesuanisch sein. Wir müssen also beide Überlieferungsstränge nebeneinander stehen lassen. Deutlich ist Folgendes: Jesus bezeugt, dass seine Austreibungen in Gottes Auftrag und Macht – durch seinen Geist – geschehen. Nicht der Satan inspiriert ihn, sondern der Vater im Himmel. Er sagt dies in dem Bewusstsein, der Träger des Geistes nach Jes 11,2 und Mt 3,16 zu sein. Deutlich ist ferner, dass er in seinem Wirken die Ankunft des Reiches Gottes sieht. Es ist wirklich schon zu euch gekommen/ hingelangt,45 und nicht nur „nahe“. Denn ἔφθασεν [ephthasen] ist mehr als

42 Vgl. Strack-Billerbeck I 635. Jüdische Beispiele sind ferner Mk 9,38; Apg 13,6ff; 19,13ff; Josephus Ant VIII, 45ff. Zu den Essenern vgl. Hengel-Schwemer, 479. 43 Luz II 260. 44 Beare, 279. 45 BDR § 101, 82; G. Fitzer, Art. φθάνω usw., ThWNT, IX, 1973, 92ff.

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ἤγγικεν [ēngiken] (Mt 4,17).46 Mit dem „nahe herbeigekommen“ von Mt 4,17 stand Jesus noch am Anfang seines Wirkens. Aber jetzt, in Mt 12,22ff / Lk 11,4ff, hat er schon bald die Mitte erreicht. Jetzt kann er sagen: „hingelangt“, „gekommen“. Dabei würde unsere Deutung völlig fehlgehen, wenn wir nur die Gleichung Dämonenaustreibungen = Ankunft des Reiches Gottes aufstellen würden. Denn es geht jeweils im Kern um ihn, Jesus selbst, und nicht um einzelne Wundertaten. Darauf weist das starke ἐγώ [egō] in V. 28 hin und mehr noch die beherrschende Fragestellung des ganzen Abschnitts: Ist er der Davidssohn = Messias (V. 23) oder nicht? Wenn er aber als Messias die Dämonen im messianischen „Geist der Stärke/Kraft (‫[ ְגבוָּרה‬gᵉbūrāh])“ von Jes 11,2 austreibt, dann47 ist in ihm das Reich Gottes schon gekommen. Ohne die feste Verbindung mit der Person Jesu wäre der Satz sinnlos, weil dann jede jüdische Dämonenaustreibung schon die Ankunft des Reiches Gottes zeigen würde.48 Im Grunde sagt Mt 12,28 / Lk 11,20 also dasselbe wie Lk 17,20:49 „das Reich Gottes ist mitten unter euch“, nämlich in der Gestalt Jesu. Das also ist das dritte Argument: Jesu messianisches Wirken zeigt die Ankunft des Reiches Gottes an, und eben nicht die Macht des Satans. Dass Jesus aber nicht meinen konnte, dass das Reich Gottes schon im Vollsinn gekommen sei, ergibt sich schon daraus, dass er bewusst den Passionsweg geht (Mt 3,17; 10,25.38f ). Das Gekommen von Mt 12,28 bedeutet also praktisch den Beginn, den Anbruch in seiner Person. Die futurische Eschatologie wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt, sondern erst recht nötig.50 Ein viertes Argument Jesu enthält V. 29: Oder wie kann jemand in das Haus des Starken hineingehen und ihm seine Habe rauben, wenn er nicht zuerst den Starken fesselt? Dann allerdings wird er ihm sein Haus ausrauben. Das Bild vom Starken, dem man seine Habe wegnimmt, stammt aus Jes 49,24f.51 Dort und Jes 53,12; Offb 19,18 sind Starke (ἰσχυροί [ischyroi]) die Feinde des Gottesvolkes. Der Starke in Mt 12,29 ist der Feind schlechthin, der Satan. Wenn Jesus durch seine Dämonenaustreibungen in sein Reich oder Haus eindringt und ihm seine Habe raubt, dann ist er der noch Stärkere (vgl. Mt 3,11 parr; 1Kor 10,22; 1Joh 4,4). Er fesselt zuerst den Starken und kann ihn dann restlos ausrauben (διαρπάσει [diarpasei]), das heißt die von 46 47 48 49 50

Vgl. Fitzer a.a.O. passim, besonders 93,27; Bauer-Aland, 1708; Luz II 260. ἄρα [ara] = „also“, „folglich“, jedenfalls konsekutiv, BDR § 451,2. Vgl. Carson, 289; Fiedler, 254. Ebenso Fitzer a.a.O.; 93,27 im Anschluss an Dalman und Schmoller; Schniewind, 159. Ebenso Tasker, 130; France, 209; Schniewind a.a.O., der auf die „Autobasileia“ des Origenes hinweist; vgl. Hengel-Schwemer, 406ff.429. 51 Vgl. France, 209; Luz II 261.

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Dämonen besessenen Menschen befreien. Der Sieg des Gottessohnes und Messias über den Satan ist die Voraussetzung für diese Wunderheilungen Jesu und widerlegt noch einmal die Behauptung, er „treibe die Dämonen durch Beelzebul aus“ (V. 24).52 Es macht nachdenklich, dass Jesus dem Satan den Titel eines Starken zugesteht. Die Lehre der Apostel hat dies weiter tradiert (1Petr 5,8; 1Joh 3,8). Die Spuren finden sich auch im christlichen Liedgut: „Fühlst du den Stärkeren, Satan, du Böser?“53 Von daher genügt es nicht, den Teufel nur mit Spott oder Verachtung zu bestrafen. Die Leugnung seiner Existenz wäre Leichtsinn. Wir brauchen stattdessen die Geborgenheit in der Macht Jesu, die den Satan grundsätzlich besiegt hat und ihn täglich neu überwindet (vgl. Kol 2,15; Jak 4,7f; Offb 12,9ff ). Hätte Jesus nicht in der Versuchungsgeschichte (Mt 4,1ff ) gesiegt, wären weder seine Dämonenaustreibungen gelungen, noch hätte er die Worte von Mt 12,25ff sprechen können.54 Dass der Satan aber erst am Ende der Geschichte ganz ausgeschaltet wird (Offb 19–20), bezeugt das Vaterunser und mit ihm die ganze Lehre Jesu (Mt 13,24ff; 24,12ff; 26,64).55 Doch was besagt V. 30: Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut? Der Vers gehört zu den typischen biblischen Entscheidungsrufen:56 „das Leben und das Gute, den Tod und das Böse“ (Dtn 30,15) – Gott oder Baal (1Kön 18,21) – „Her zu mir, wer dem HERRN angehört!“ (Ex 32,26) u.Ä. Bei Jesus sind sie relativ häufig (Mt 12,30 = Lk 11,23; Mk 9,40; Lk 9,50). Manchmal wird Mt 12,30 als Gegensatz zu Mk 9,40; Lk 9,50 empfunden.57 Aber es gehört zur Natur solcher Meschalim, dass man je nach Situation einen verschiedenen Gebrauch von ihnen machen kann. Hier, in der Konfrontation und unter dem schwerwiegenden Vorwurf des Teufelsbündnisses, gilt jedenfalls: Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich. Auch da kommt alles auf die Person Jesu an. Ist er der Messias und der Sohn Gottes, dann will Gott, dass wir „mit ihm“ sind, in seiner Spur gehen. Dieses mit mir bildet gewissermaßen das Pendant zu Jesu „ich bin bei euch“ in Mt 28,20 (μετ᾿ ἐμοῦ – ἐγὼ μεθ᾿ ὑμῶν [met’ emou – egō meth’ hymōn]).58 Klar ist, dass Jesus in Mt 12,30 keinen Mittelweg, kein Schwanken zwischen „sowohl“

52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Hengel-Schwemer, 429. EG 66,3 (Joh. Ludw. Konrad Allendorf, 1736). Vgl. Schlatter, 196f; Zahn, 460. Von Fiedler, 254, übersehen. Luz II 262; Fiedler, 255; Schlatter, 197; Schniewind, 161. Schniewind, 160; Luz II 263; Carson, 290. Vgl. Luz II 262.

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und „als auch“ sieht.59 Die ganze Lebenshingabe Jesu für uns fordert unsere ganze Hingabe für ihn. Vergleiche die besondere Nähe zu Ex 32,26. Das heißt: Auch die attackierenden Pharisäer müssen sich entscheiden, noch ist der Weg zu Jesus frei! Hier hat Fiedler recht: „dass bis dahin die Chance zur Umkehr nicht ausgeschlossen wird“.60 Die düsteren Prognosen von Luz: „Jetzt lassen sich keine Brücken mehr bauen“,61 und France: „the breach is now irreparable“62 gehen am Text vorbei. In der zweiten Hälfte von V. 30: wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut, liegt erneut beides ineinander, Warnung und Werbung. Die Sprache Jesu ist geradezu rabbinisch.63 Dahinter aber kommt die große biblische Tradition in Sicht, dass Gott am Ende der Tage sein Volk sammeln will (Jes 40,11; 54,7; Jer 23,3; 31,10; Ez 34,16; 37,21). Auch die messianische Aufgabe Jesu enthält den Auftrag zur eschatologischen Sammlung des gläubigen Israel (vgl. Mt 3,12; 9,36; 12,30; 13,30ff; 23,37; 24,31; Joh 4,36).64 Jetzt schon geschieht dieses Sammeln dadurch, dass er Sünder ruft, Sünden vergibt, Kranke heilt und allen Menschen den Weg zum ewigen Leben zeigt (Mt 22,16). Wer jetzt nicht mit ihm sammelt, der bewirkt das Gegenteil: die Zerstreuung (der zerstreut). Davor warnt Jesus die Pharisäer, die sich selbst und andere Menschen vom Sammeln abhalten wollen. Sie stehen in Gefahr, „als solche dazustehen, die gegen Gott streiten wollen“ (Apg 5,39). Zugleich aber spricht Jesus eine dringliche Einladung aus: Sammelt doch mit mir!65 Die folgenden Verse (31-37) sind untereinander durch die Thematik des „Redens“ verbunden,66 die zugleich einen Zusammenhang mit V. 24-30 herstellt. Innerhalb der Reden-Thematik heben sich drei Bereiche ab, zu denen Jesus Stellung nimmt: a) Reden angesichts des Wirkens des Geistes Gottes (V. 31-32), b) Reden als Ausdruck unseres Wesens (V. 33-35), c) Rechenschaft für unser Reden im Endgericht (V. 36-37). Da die Parallelen bei Markus und Lukas dünn sind und bei Lukas überdies an anderen Stellen eingeordnet werden, kann die Reihenfolge von Mt 12,2237 durchaus erst vom Evangelisten geschaffen worden sein.67 Die Evangelis59 Schlatter, 197: „Gleichgültigkeit gibt es hier nicht; sie ist selbst schon Abneigung“; Riesner, 428; Carson, 290. 60 Fiedler, 254. Gegen Luz II 262. 61 Luz II 258. 62 France, 205. 63 Parallelen bei Hillel und anderen Rabbinen in Strack-Billerbeck I 635. 64 Messianische Aufgabe auch in Ps Sal 17,26. 65 Vgl. noch Zahn, 460f. 66 Gaechter, 407. 67 Dies ist die Annahme z.B. bei Gaechter, 406f; Klostermann, 110.

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ten hatten ja die Freiheit zu solchen Anordnungen. Bezieht man Mt 7,16-20 in eine Gesamtschau ein, dann liegt außerdem der Schluss nahe, dass Jesus das Bildmaterial von Mt 12,30-37 mehrfach verwendet und auch die hier gegebene Thematik mehrfach behandelt hat. Darum sage ich euch (Διὰ τοῦτο λέγω ὑμῖν [Dia touto legō hymin]) verknüpft V. 31 mit den vorausgehenden Versen. Die Formulierung erinnert außerdem an das häufige „Ich aber sage euch“ der Bergpredigt (Mt 5,22ff ). Jesus gibt dadurch seinem Wort ein besonderes Gewicht (vgl. auch Mt 5,18). Jede Sünde und Lästerung wird dem Menschen vergeben werden, aber die Lästerung des Geistes wird nicht vergeben werden: Die Passiva sind Passiva divina, also „Gott wird vergeben / wird nicht vergeben“.68 Zunächst wirkt die Erwähnung des Geistes, der „der Heilige Geist“ ist (Mk 3,29; Lk 12,10), überraschend. Der Heilige Geist wird ja bei Matthäus relativ selten thematisiert (doch vgl. Mt 1,20; 3,11.16; 4,1; 10,20; 12,18.28). Jetzt aber begegnen uns zwei Geist-Verse. Der Zusammenhang mit V. 24ff ist offenbar so: Wer den „Geist Gottes“ (V. 28), durch den Jesus die Dämonen austreibt, für den Geist des Teufels ausgibt, steht in der Gefahr der Lästerung des Geistes (βλασφημία τοῦ πνεύματος [blasphēmia tou pneumatos]). Jesu Warnung ist hier äußerst ernst: Die Lästerung des Geistes wird Gott nicht vergeben. Wir stoßen hier auf das Thema der „unvergebbaren Sünde“. Es hat exegetisch und dogmatisch, nicht zuletzt aber auch praktisch-theologisch Bedeutung. Zunächst bleibt festzustellen, dass nach Jesu Worten jede Sünde und Lästerung den Menschen vergeben wird.69 In unserem Zusammenhang sind Sünde und Lästerung vermutlich als Hendiadyoin aufzufassen, also: „Sünde in Gestalt der Lästerung“. Denn Jesus spricht speziell über Wortsünden, konzentriert in der Lästerung, und nicht allgemein über Sünden. Gaechter will das erste βλασφημία [blasphēmia] in V. 31 nur als „Schmähworte gegen Menschen“ auffassen.70 Aber der Text gibt uns zu einer solchen Einschränkung kein Recht. Die Wendung jede Lästerung schließt also auch die Lästerung des himmlischen Vaters und des Gottessohnes mit ein. Aber wie stimmt das mit der Todesstrafe bei Gotteslästerung in Lev 24,10ff überein? Die Antwort liegt wohl darin, dass eine solche Gotteslästerung zwar in dieser Welt (V. 32) zeitlich bestraft wird, jedoch in der kommenden Welt beim Endgericht Vergebung finden kann. Nun aber liegt der ganze Akzent auf der Ausnahme: Aber die Lästerung des Geistes (ἡ δὲ τοῦ πνεύματος βλασφημία [hē de tou 68 Anders Gaechter, 408f (auf Jesus bezogen). Wie wir Luz II 266; BDR § 130,3. 69 Vgl. Ps 103,3; Jona 4,2; Mi 7,18; Zeph 3,17. 70 Gaechter, 407.

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pneumatos blasphēmia]) wird nicht vergeben werden. Die frühen jüdischen Lehrer diskutierten, welche Sünden unter welchen Umständen vergeben werden könnten. Sie besaßen also ein deutliches Bewusstsein davon, dass es auch unvergebbare Sünden gibt, eben Sünden, die weder in dieser Welt noch in der kommenden vergeben werden.71 Was Jesus erörtert, ist ihnen in der Sache nicht fremd. Wichtig ist aber nun die Beobachtung, dass die Wendung „den Geist lästern“ nur bei Jesus auftaucht.72 Von da aus führt Mt 12,31 zu zwei Fragen: 1) Weshalb hat der Geist für Jesus einen solchen Rang? Man kann darauf verweisen, dass im damaligen eschatologischen Schrifttum der Heilige Geist zunehmend wichtig wurde. Das hängt mit den endzeitlichen Geistverheißungen des AT zusammen (vgl. Jes 32,15; 42,1; 44,3; 61,1; Joel 3,1ff; Ez 36,26f ). Ein Beispiel bildet die Qumran-Literatur, in der wir die Anklage finden: „Ihren heiligen Geist haben sie verunreinigt und mit Lästerzunge den Mund geöffnet.“73 Umso mehr musste Jesus auf den Heiligen Geist abheben, der ihm, dem Gottesknecht und Messias, verheißen war und der ihn leitete (vgl. Jes 42,1; 61,1; Mt 3,16; 4,1ff; 12,18). 2) Weshalb „darf man den Menschensohn eher lästern als den Geist“?74 Diese Frage leitet zu V. 32 über: Und dem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben werden. Dem aber, der etwas gegen den Heiligen Geist sagt, wird nicht vergeben werden, weder in dieser Welt noch in der kommenden. Gaechter übersetzt „gegen ihn, diesen Menschen“, muss aber doch anerkennen, dass es sich um eine „Selbstbezeichnung Jesu“ handelt.75 Warum dann nicht bei dem prägnanten „Menschensohn“ nach Dan 7,13 bleiben? Wer also etwas gegen Jesus sagt, dem wird vergeben werden – warum? Dem aber, der etwas gegen den Heiligen Geist sagt, wird nicht vergeben werden – warum? Zu den apokalyptischen Begriffen ὁ αἰὼν οὗτος [ho aiōn houtos] und ὁ αἰὼν μέλλων [ho aiōn mellōn] (diese Welt – die kommende Welt) vgl. oben bei V. 31.76 Die Frage nach dem Warum verstört die Exegeten. Ehrlicherweise schreibt Ulrich Luz: „Ich muß gestehen: Sämtliche Erklärungen, die ich in der Literatur gefunden habe, befriedigen mich nicht.“77 Aber die Konsequenz kann unmöglich diejenige sein, die Luz zu V. 31f zieht: „Ich persönlich würde es nicht als Predigttext wählen.“78 Allerdings wird die Problematik von V. 31f zusätzlich 71 72 73 74 75 76 77 78

Strack-Billerbeck I 636ff; vgl. P. Abot III, 15; b Joma 85bff; M. Sanh XI, 1. Gaechter, 407. CD V, 11f. Vgl. auch Ps Sal 17,37; ä Hen 67,10. Klostermann, 110. Gaechter, 408. Vgl. noch Klostermann a.a.O. Luz II 266f. Klostermann z.B. gibt keine Antwort. Luz II 267.

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durch das „unvergebbar“ aufgeladen. Der Menschensohn hat menschliche Schwäche (Joh 19,5), tritt auf wie ein Mensch (Phil 2,7) und wird dadurch auch menschlich verwechselbar, ja missverstanden und verkannt (vgl. Apg 3,17f; 13,27f; 1Tim 1,13). Das macht wohl auch die Lästerung gegen ihn leichter.79 Der Heilige Geist dagegen kann nur von solchen gelästert werden, denen er sich zuvor offenbart hat, das heißt von denen, die ihn kennen. „Wer als Erleuchteter wissentlich und mit wirklicher Absicht den heiligen Geist lästert, erfährt keine Vergebung“80 (vgl. Hebr 6,4ff; 10,28f ). Die Pharisäer von Mt 12,24 kannten die Heilige Schrift, wussten, dass sie vom Heiligen Geist inspiriert war,81 hatten gute Kriterien zur Beurteilung Jesu und waren gerade deshalb in Gefahr, die Lästerung des Geistes zu begehen. Erneut halten wir fest, dass Jesus nicht sagt, sie hätten diese Sünde schon begangen. Er warnt nur und wirbt um ihr Verständnis.82 Wir haben schon angedeutet, dass mit der Unvergebbarkeit der Sünde noch einmal eine andere Dimension angerissen ist. Wir können sie in diesem Kommentar nicht in extenso besprechen. Nur so viel sei festgehalten: 1) Schon das AT kennt diese Dimension (Num 15,30f ), 2) sie ist dem Judentum bekannt,83 3) sie wird im NT als letzte, schwere Warnung angesprochen (Mt 12,31f; Hebr 6,4ff; 10,28f; 1Joh 5,16). Es gibt wie im irdischen Leben auch in der Heilsgeschichte ein „Zu spät“. Wenn Luz von der „grenzenlosen Liebe Gottes“ ausgehend dagegen argumentiert,84 dann geht er an der Realität des Lebens und am offenbarten Handeln Gottes vorbei. Er läuft Gefahr, um eines selbst gemachten Bildes willen die Offenbarungsaussagen zu negieren. In den Versen 33-35 betrachtet Jesus unser Reden als Ausdruck unseres Wesens. Er gebraucht das Bild vom Baum und seiner Frucht, das er schon in Mt 7,16ff; Lk 6,43ff benutzt hat. Man vgl. die Erklärung dort. Jetzt, in Mt 12,33, fällt die Formulierung macht85 (zweimaliges ποιήσατε [ poiēsate]) auf. Sie deutet an, dass der Mensch eine Willensentscheidung treffen kann, ob er gut oder schlecht sein will.86 Eine solche Entscheidung steht ganz in Über79 80 81 82 83 84 85

Gaechter a.a.O.; Zahn, 463; France, 210. Maier I, 430. Vgl. Josephus Contra Ap I, 37ff. Gaechter a.a.O.; Maier I, 428f; Zahn, 462. Strack-Billerbeck I 636ff; P. Abot III, 15; b Joma 85bff. Luz II 263ff. Schniewind, 158: „Setzt“; Sand, 263: „ihr schafft (euch)“; Beare, 276: „You must grow a good tree“. 86 Nur idiomatisch im Sinne von „suppose“ verstanden bei France, 211; ebenso bei BauerAland, 1368: „nehmt an: der Baum ist gut“; Zahn, 465, deutet auf ein „erklären“; Luz II 252: „nehmt an“. Aber wie wir Carson, 293.

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einstimmung mit Dtn 30,15ff, mit den pharisäischen „Sprüchen der Väter“ (P. Abot III, 19) und dem soeben geäußerten Entscheidungsruf Jesu in Mt 12,30. Vergleiche die Erklärung dort. Insofern widerspricht Mt 12,33 einer Prädestinationslehre.87 Jedenfalls entsprechen sich Baum und Frucht so völlig, dass Jesus wie in Mt 7,20 sagen kann: An der Frucht erkennt man den Baum. Adolf Schlatter z. St.: dass in der Frucht „die Art des Baumes zur Offenbarung kommt“.88 Erneut eine Warnung und Werbung den Pharisäern gegenüber!89 Übrigens ist der Vergleich von Menschen mit Bäumen oder Pflanzen in der biblischen Tradition alt (vgl. Ri 9,7ff; Ps 1,1ff; Hld passim; Jes 5,1ff; Jer 2,21). Der Aufruf Jesu an die Pharisäer gewinnt in V. 34 an Dringlichkeit: Ihr Schlangenbrut! Wie könnt ihr Gutes reden (ἀγαθὰ λαλεῖν [agatha lalein]), wenn ihr böse seid? Denn wes das Herz voll ist,90 des geht der Mund über. Wie in V. 33 konnte sich Jesus an Sirach anlehnen: „Der Art des Baums entspricht seine Frucht; so wird ein jeder nach seiner Gesinnung beurteilt“91 (οὕτως λόγος ἐνθυμήματος καρδίας ἀνθρώπου [houtōs logos enthymēmatos kardias anthrōpou]), Sir 27,6. Wie in Sir 27,6 sind in Mt 12,33f die Bilder vom Baum und Herz verbunden, bilden also ein „Doppelgleichnis“ im Sinne von Joachim Jeremias.92 Die Titulatur Schlangenbrut (γεννήματα ἐχιδνῶν [gennēmata echidnōn]) sollte uns nicht mehr befremden, seitdem sie im Munde des Täufers aufgetaucht ist (Mt 3,7). Vergleiche die Erklärung dort. Die häufige Kennzeichnung der jüdischen Gegner der Qumran-Gemeinschaft als „Söhne Belials“ ist eine weitere Bestätigung dafür, dass solche Benennungen „frühjüdisch-prophetischer Manier“ entsprechen93 und weder mit „Antijudaismus“ noch mit gefühlloser Polemik zu tun haben. Vielmehr bringt Schlangenbrut das Urteil zum Ausdruck, dass die Betreffenden auf die Schlange = den Teufel hören und seinem Einfluss gehorchen: Davon sollen sie sich so schnell wie möglich lösen!94 Denn Jesus vertritt nicht wie die Qumran-Literatur eine Prädestinationslehre, sondern wie die Propheten und die maßgebenden jüdischen Lehrer eine Entscheidungslehre, wonach auch der Gottlose sich bekehren kann (vgl. Ez 18,1ff; 33,10ff; Sir 15,11ff; P. Abot III, 19; Mt 3,7f; 12,30ff; 23,37). Freilich: Wer der Schlange folgt, für den gilt: Wie könnt ihr Gutes reden, wenn ihr böse seid? Nachwuchs der Schlange zu sein, 87 88 89 90 91 92 93 94

Ganz prädestinatianisch Zahn a.a.O. Schlatter, 200. Unpassend Beare, 280: „attack on the Pharisees“. Wörtlich: „das Herz überfließt“. Übersetzung nach Neue Jerusalemer Bibel. Jeremias Gleichnisse, 89ff. Stuhlmacher II, 210. Vgl. France, 211.

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macht uns böse. Ist aber unser Wesen böse, wird uns Gutes reden unmöglich, auch wenn einzelne Worte durchaus gut sein können. Mit andern Worten: Jesus ruft wie der Täufer die Pharisäer zur Bekehrung auf. Er unterstreicht seinen Weckruf mit einem Maschal, der an Sir 27,6 erinnert und wohl schon damals ein Sprichwort darstellte:95 Wes das Herz voll ist (= voll Bösem?), des geht der Mund über. In Mt 15,11.18 sagt er Ähnliches, Jakobus hat in Jak 3,2ff das Thema im Sinne Jesu noch breiter ausgeführt.96 Vers 35 nimmt V. 34 auf. Das Herz erscheint jetzt unter dem Bildwort vom Schatz: Der gute Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz, und der böse Mensch bringt Böses hervor aus dem bösen Schatz. Jesus hat es geliebt, vom Schatz im geistlichen Sinne zu sprechen (vgl. Mt 6,19.20.21; 13,52; 19,21). So gibt es also im Herzen einen guten Schatz, aus dem man Gutes hervorbringen = reden kann, oder umgekehrt Böses aus dem bösen Schatz des Herzens. Es fällt auf, mit welcher Unbefangenheit Jesus hier vom guten und vom bösen Menschen spricht. Aber der Kontext macht klar, worum es sich handelt: der gute Mensch ist einer, der vom Heiligen Geist geleitet wird und zu Gott gehört, der böse Mensch ist einer, der sich auf die Seite der Feinde Gottes schlägt und sich vom Teufel inspirieren lässt. Der Stil in V. 35 ist weisheitlich.97 Die letzten beiden Verse (V. 36 und 37) verlassen die Bildwelt, die die Verse 33-35 charakterisierte. Das solenne Ich sage euch aber in V. 36 erinnert an V. 31. Im Stil der eschatologischen Ankündigung sagt Jesus: Über jedes nichtsnutzige Wort, das die Menschen reden, werden sie Rechenschaft geben am Tage des Gerichts. Nichtsnutzig, „unnütz“ (ἀργός [argos]) ist ein Stichwort, das bei Petrus und Jakobus wieder auftaucht (2Petr 1,8; Jak 2,20). Erneut zeigt sich im Jakobusbrief eine große Nähe zu Mt 12,33ff und 12,36f.98 Delling meint, in Mt 12,36 sei ἀργός [argos] „identisch“ mit πονηρός [ ponēros] (böse).99 Aber die Nuancierung von ἀργός [argos] ist doch eine andere. Es beinhaltet Wert- und Fruchtlosigkeit, eine Ineffektivität zum Guten.100 Das Reden, das ein wahrer „Gottesdienst“ sein könnte, wird zum Hindernis der Gotteserkenntnis. Am Tage des (End-)Gerichts muss sich jedermann (οἱ ἄνθρωποι [hoi anthrōpoi]) für all sein Reden verantworten,101 und nicht nur 95 96 97 98 99 100 101

Vgl. Bultmann Gesch, 84. Vgl. Maier Jak, 8.157ff. Rabbinische Parallelen bei Strack-Billerbeck I 639. BDR § 492. Vgl. G. Delling, Art. ἀργός usw., ThWNT, I, 1933, 452; Maier Jak, 8.145ff. A.a.O. Vgl. Bauer-Aland, 210; France, 211f. Zahn, 466, Fiedler, 256, denken vor allem an hingeworfene, unbedachte Worte.

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für sein Handeln (Jak 3,1f.6; Jud 15).102 Vergleiche noch Prov 12,6; 18,21; Mt 15,18; Lk 19,22; Eph 5,4; Kol 4,6. Die abschließende Sentenz unterstreicht noch einmal das Gewicht der Worte: Denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden (V. 37). Der parallele Satzbau erleichtert das Nachsinnen (Ps 1,2) und das Memorieren. Das griech. ἐκ [ek] (aus) gibt sowohl den Grund als auch den Maßstab an. Man könnte also übersetzen: „aufgrund deiner Worte, mit denen du selbst den Maßstab setzt, wirst du gerechtfertigt werden“ usw.103 Gerechtfertigt (δικαιωθήσῃ [dikaiōthēsē]) hat denselben Sinn wie bei Paulus, also: „du wirst im Endgericht von Gott freigesprochen werden“. καταδικάζειν [katadikazein] begegnet nur im Munde Jesu und des Jakobus (Jak 5,6). Wie in V. 31f sind die Passivformen Passiva divina. Lk 19,22 ist keine Parallele zu Mt 12,37 – Mt 12,36 und 37 sind Sondergut des Matthäus –, sondern eine neue Anwendung des Grundgedankens. In einer Zeit, die grenzenlos mit „Dementis“, „Missverständnissen“ und „vorgeschobenen Gründen“ arbeitet, überrascht es, welchen Wert Jesus auf unsere Worte legt. Dabei besteht eine vollkommene Übereinstimmung zwischen Mt 12,31ff und Mt 5,33ff; 7,15ff; 8,1f; 11,16ff. Seine Jünger werden in eine ernste Verantwortung für jedes Wort hineingestellt. Erst das Endgericht wird das volle Gewicht unserer Worte offenbar machen. Man übersehe nicht das du in V. 37: Hier sind nicht mehr die Pharisäer oder ganz allgemein die Menschen die Erstadressaten, sondern die Jünger.104

IV Zusammenfassung 1. Der Abschnitt Mt 12,22-37 kreist im Kern um die Frage, ob Jesus in der Kraft des Heiligen Geistes oder in der Kraft des Bösen handelt. Unbestritten sind bei Anhängern und bei Gegnern die einzigartigen Wunder, die er tut. 2. Trotz der zugespitzten Situation bleibt Jesus dabei zu argumentieren, zu werben, zu gewinnen – allerdings auch ernsthaft zu warnen. Noch ist kein letztes Wort gesprochen, noch werden die pharisäischen Gegner nicht beschuldigt, die Sünde gegen den Heiligen Geist begangen zu haben. Vielmehr ruft sie Jesus zur Umkehr, die jederzeit noch möglich ist. Ein Urteil wie das von Luz: „Jetzt lassen sich keine Brücken mehr bauen“105, ist völlig verfehlt.

102 Rabbinische Parallelen bei Strack-Billerbeck I 639f. 103 Bauer-Aland, 474. 104 Möglich ist auch die Auslegung von Zahn, 466, dass Jesus mit dem „du“ „dem einzelnen Hörer ins Gewissen (zu) reden“ wollte, gleichgültig, ob Jünger oder Pharisäer. 105 Luz II 258; ebenso France, 205. Vgl. Hengel-Schwemer, 205.

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3. Die Wirkungsgeschichte lässt erneut erkennen, wie grundlegend die Jesuslogien das christliche Denken und Verhalten geprägt haben. Das gilt schon für die apostolischen Briefe (Jak 3,1ff; 5,6; 2Petr 1,8), das gilt für die Lehrer des 2. Jh. n.Chr. (Did 11,7; Ignatius ad Eph 14,2; 2Clem ad Cor 13,2; Irenäus Adv. haer. II, 19,2; III, 8,2) und das gilt für Cyprian, Augustinus, Chrysostomus, Origenes, Ambrosius und viele andere.106 Luz hat auch hier wichtige Stationen der Wirkungsgeschichte dargestellt.107 4. Die Versuchung für die Kommentare ist groß, sich über Gebühr mit dem Verhältnis der Evangelien zu hypothetischen Quellen, vor allem Q, zu beschäftigen. Ein ansonsten nützlicher Kommentar wie der von Klostermann erschöpft sich bei Mt 12,31 und 12,32 fast ganz in solchen hypothetischen Annahmen,108 die letztlich nichts erbringen. 5. Mt 12,22-37 reizt moderne Kommentare zu erheblicher Kritik. Zwar wird die Historizität immer wieder mit Nachdruck verteidigt,109 aber der Sachgehalt wirkt anstößig. Zwei Beispiele: Ulrich Luz bezeichnet Mt 12,31f als „Keulenschlag“ gegen die Pharisäer, „die ja geschichtlich gar nicht so böse waren“.110 Er möchte „von seiner Wirkungsgeschichte her diese Wort kritisieren: Aus ihm sind kaum Früchte der Liebe entstanden.“111 Ulrich Luz setzt damit voraus, dass die Wirkungsgeschichte sagen kann, was das Wort selbst beinhaltet, und dass wir besser als Jesus und die Evangelisten wissen, was Liebe im Sinne Gottes ist. Peter Fiedler lehnt Mt 12,22ff ebenfalls aus dogmatischen Gründen ab. Er meint, nach Auffassung des Matthäus sei hier „das endzeitliche Heilsgeschehen in Gang gesetzt“,112 was wir ja doch nicht übernehmen könnten: „Diese urchristliche Glaubensüberzeugung lässt sich an der heutigen Erfahrung nicht (mehr) verifizieren.“ Außerdem sei „die Macht des Bösen bis heute ungebrochen.“113 Ganz abgesehen davon, dass hier nach Auskunft des Evangelisten weder Matthäus noch die urchristliche Gemeinde – entgegen R. Bultmann114 auch nicht ein urchristlicher Prophet –, sondern Jesus redet, ist eine Lehre von der Abnahme des Bösen weder bei Jesus noch bei der Urgemeinde zu finden. Im Gegenteil: Jesus prophezeit ein Wachsen der Macht des Bösen bis zu seiner Wiederkunft (Mt 13,24ff; 24,4ff, vgl. Offb 12– 106 107 108 109 110 111 112 113 114

Vgl. Texte KV II, 437; III, 271.279; IV, 29.53.193.297. Luz II 262ff. Klostermann, 109. Beispiele: Theißen-Merz, 266; Schniewind, 159. Luz II 267. Luz II 268. Fiedler, 254. A.a.O. Bultmann Gesch, 176.

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20). Nur dort, wo Jesus die Glaubenden schützt, muss der Teufel weichen und erscheint zeichenhaft schon das Reich Gottes (Mt 12,22ff; Mk 9,24ff; Jak 4,7f ). Und gerade diese Erfahrung der Überlegenheit Jesu und des beginnenden Reiches Gottes machen Christen aller Zeiten und Kulturen bis zum heutigen Tag – in der Sprache Fiedlers: Sie können es verifizieren. 6. Im Laufe der Auslegungsgeschichte schwankt das Charakterbild, das von den Pharisäern gezeichnet wird. Der eine Pol wird von Forschern wie Luz oder Fiedler gebildet, denen zufolge die Pharisäer „geschichtlich gar nicht so böse waren“,115 wie sie Matthäus schildert. Überhaupt wird hier Matthäus die Schuld für alle Fehlentwicklungen zugeschoben: Er sei zu grob, denn „eine Nuancierung wäre“ seinem Anliegen „abträglich“;116 es gehe ihm in Mt 12,22ff im Grunde darum, dass man „die Botinnen und Boten des Erhöhten“ nicht abweist, die in seiner Gegenwart zu Israel gesandt werden;117 Mt 12,22ff sei „ein antipharisäisches Konstrukt des Mt“.118 Den anderen Pol bilden solche, für die eine „gottwidrige“ oder „bösartige Gesinnung“ „bereits zur anderen Natur“ der Pharisäer geworden ist,119 die eine „lügnerische Ungerechtigkeit“ bei ihnen beobachten.120 Zwischen diesen beiden Polen hindurch muss der Ausleger im Sinne der hermeneutischen Regeln J.A. Bengels einen Mittelweg gehen. Die hier handelnden Pharisäer haben sich verfehlt und Jesu Warnung bleibt ernst. Andererseits bleibt für sie die Umkehr offen, weil Jesus „noch nicht das Gericht verhängte, sondern zur Entscheidung rief “.121 7. Mt 12 wird durch die Verse 22-37 zu einer Art „Geistkapitel“ des Matthäusevangeliums. Die Verse 43-45 werden diesen Charakter noch verstärken. Das Matthäusevangelium ist lehrhaft, nüchtern, allem Überschwang fern. Aber es stellt in fundamentaler Weise die Prägung des Neuen Bundes durch den Heiligen Geist dar: durch den Geist als Person der Trinität (Mt 28,18; 1,18ff ), durch den Geist in Jesus als Gottessohn und Messias (Mt 3,16; 12,15ff ) und durch den Geist, der die Glaubenden leitet (Mt 10,20).

115 116 117 118 119 120 121

Luz II 267. Fiedler, 256. Fiedler, a.a.O. A.a.O. Zahn, 465f. Schlatter, 195. Schniewind, 160.

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10. Die Zeichenforderung an Jesus, 12,38-42 I Übersetzung 38 Darauf begannen einige von den Schriftgelehrten und Pharisäern mit ihm zu sprechen und sagten: Lehrer, wir wollen von dir ein Zeichen sehen. 39 Er aber gab ihnen zur Antwort: Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen. Aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Propheten Jona. 40 Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Inneren des Seeungeheuers war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein. 41 Die Leute von Ninive werden im Gericht zusammen mit diesem Geschlecht auferstehen und werden es schuldig sprechen. Denn sie kehrten um auf Jonas Predigt hin.1 Und siehe, hier ist mehr als Jona. 42 Die Königin vom Süden wird im Gericht zusammen mit diesem Geschlecht auferweckt werden und wird es schuldig sprechen. Denn sie kam von den Enden der Erde, um die Weisheit Salomos zu hören. Und siehe, hier ist mehr als Salomo.

II Struktur Unser kleiner Abschnitt ist strukturell nicht so ganz klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Zuerst erhebt sich die Frage nach der Abgrenzung. Eine Reihe von Kommentaren fasst Mt 12,38-45 zusammen, zieht also V. 43-45 zu V. 38-42.2 Andere sehen Mt 12,38-42 als selbstständigen Abschnitt.3 Da τότε [tote] bei Matthäus oft einen Abschnittsbeginn kennzeichnet, andererseits das doppelte πλεῖον ὧδε [ pleion hōde] (V. 41.42) eine rhetorische Zäsur markiert, möchten wir den Abschnitt auf 12,38-42 beschränken.4 Das ὅταν δέ [hotan de] in V. 43 leitet doch offenbar zu einem anderen Lehrstil über. Was nun die Verse 38-42 anbetrifft, so scheint in den jüngeren Kommentaren die Tendenz vorzuherrschen, Mt 12,38-40 und 12,41-42 jeweils als „ursprünglich selbstständiges(n) Wort“ aufzufassen.5 Wir sind in unserm Kommentar solchen Thesen gegenüber zunehmend skeptischer geworden. Die frühchristliche Art zu zitieren, etwa in der Didache, bei Ignatius oder bei Jus1 2 3 4 5

Vgl. BDR § 207,3. So Luz II 271ff; Fiedler, 254ff; France, 212; Tasker, 130. So Aland Syn, 170f; Beare, 281; Carson, 294; Schniewind, 161; auch BasisBibel, 62f. In Maier I, 434, noch 12,38-45. Bultmann Gesch, 118; Schniewind, 160; Luz II 272f.

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tinus, und Logien gerne nebeneinanderzustellen, macht es immer fragwürdiger, was die Definition „ursprünglich selbstständiges Logion“ überhaupt besagen soll. Und was soll eine solche Definition angesichts der sehr früh vorhandenen Notizen und Logiensammlungen im frühesten Christentum (vgl. 1Kor 7,10ff; 1Thess 4,15ff; 2Tim 4,13; Lk 1,1ff; Joh 21,23)? Da auch Lk 11,29ff einen ganz ähnlichen Zusammenhang präsentiert, halten wir es durchaus für möglich, dass Mt 12,38-42 derselben historischen Situation angehören. Ein Problem eigener Art ist die Einordnung von Mt 12,38-42 in das Gesamte des zwölften Matthäuskapitels. Denn in V. 43ff scheint sich die Geistthematik von V. 22-37 fortzusetzen. Ist also Mt 12,38-42 nur eine Art „Intervall“ innerhalb des Geistkapitels 12,22-45? Das griechische τότε [tote] (V. 38) würde es erlauben, eine solche Konzeption zu vertreten. Hier ist jedoch keine eindeutige Klärung möglich. Mt 12,38-42 kann durchaus in eine kontinuierliche Diskussion gehören, deren Bogen sich von 12,22 bis 12,45, ja bis zu 12,50 spannt. Es können aber auch dicht aufeinanderfolgende historische Ereignisse gewesen sein, die Matthäus in 12,22-50 zusammengestellt hat. Auch dieser Sachverhalt führt eher zu der Konsequenz, Mt 12,38-42 selbstständig für sich zu behandeln.

III Einzelexegese Für τότε [tote] (darauf ) in V. 38 müssen zwei Deutungsmöglichkeiten offenbleiben. Entweder heißt es wirklich darauf und drückt damit einen größeren oder auch sehr kleinen Abstand zu den vorausgehenden Ereignissen aus.6 Oder es heißt „da“7 und drückt dann den unmittelbaren Anschluss an V. 37 aus. Das griech. ἀπεκρίθησαν [apekrithēsan] bedeutet hier vermutlich nicht „antworteten“,8 sondern sie begannen zu sprechen, das heißt, sie ergriffen die Initiative zum Gespräch.9 Matthäus schreibt hier sehr genau von einigen. Es gab also andere, die sich aus diversen Gründen nicht an der Zeichenforderung beteiligten. Die Fordernden sind Schriftgelehrte und Pharisäer. Man kann dies wieder doppelt deuten. Entweder sind „Schriftgelehrte aus den Reihen der Pharisäer“ gemeint10 oder „Schriftgelehrte und dazu Vertreter der

6 7 8 9 10

So z.B. BasisBibel. So z.B. Luz II 272; Lutherbibel; Schniewind, 161; Zahn, 467. So BasisBibel. Carson, 294; Tasker, 132. So Zahn a.a.O.; Fiedler, 256; vgl. Mk 8,11.

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Pharisäer“.11 Schon in Mt 9,3 treffen wir Schriftgelehrte bei Jesus. Sind jetzt neben den Pharisäern auch sadduzäische Schriftgelehrte beteiligt? Vermutlich noch nicht (vgl. dagegen 16,5ff ), sodass die Deutung „Schriftgelehrte aus den Reihen der Pharisäer“ vorzuziehen ist. Ihre Anrede ist respektvoll:12 διδάσκαλε [didaskale] (Lehrer). In Jesu Heimatsprache lautete die Anrede wohl „Rabbi“ (vgl. Joh 1,38).13 Dass ausgewiesene, studierte und ordinierte Schriftgelehrte ihn mit einer Anrede ehren, die sie selbst in Anspruch nehmen, hat hohes Gewicht. Mit Recht notiert Rengstorf: „Selbst aus schriftgelehrten Kreisen hat man ihm die Anerkennung nicht versagen können.“14 Jesus war und blieb eine Ausnahmeerscheinung. Man spürt hinter Mt 12,38ff immer noch die grundsätzliche Möglichkeit, über seine Messianität wenigstens zu diskutieren. Hendriksen urteilt wohl etwas krass, wenn er schreibt: „the request was insulting and impudent“.15 Was wollten sie? Lehrer, wir wollen von dir ein Zeichen sehen (θέλομεν ἀπὸ σοῦ σημεῖον ἰδεῖν [thelomen apo sou sēmeion idein]). Die wenigen Worte rufen bis heute lebhafte Diskussionen hervor.16 Muss es etwas sein, was sich von allen bisherigen Wundern unterscheidet?17 Handelt es sich um „einen besondern Akt der Bestätigung“18 durch Gott? Will man eine „unzweideutige Kundgebung Gottes welche ihn … legitimire“?19 Die Nähe zur Versuchungsgeschichte (Mt 4,1ff ) ist erstaunlich. Außerdem muss man im Blick behalten, dass sich die Zeichenforderung wiederholt (Mt 16,1ff; Lk 23,8; Joh 2,18; 6,30). Alle diese Vorgänge haben einen gemeinsamen Bezugspunkt: Es geht um die Frage, ob Jesus wirklich der Messias und Gottessohn ist. Man beachte, dass die pharisäischen Fragesteller nicht sagen: „Wir wollen ein größeres Zeichen sehen.“ Nach Heilungen, Naturwundern und Totenerweckungen wäre das auch schwer vorstellbar. Nein, das verlangte Zeichen ist ein Legitimationszeichen.20 Rengstorf fasst es in die Worte: Jesus „soll dafür sorgen, daß Gott … ihn eindeutig als von ihm autorisiert ausweise“.21 Das, was sie ver-

11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

So Luz II 275: nur „weitgehend … identisch“. Hendriksen, 532. K.H. Rengstorf, Art. διδάσκω usw., ThWNT, II, 1935, 155ff. A.a.O., 158. Hendriksen a.a.O. Hendriksen, 533. Vgl. zu Zeichen und Zeichenforderungen später bei den Rabbinen Strack-Billerbeck I 640f. Fiedler, 257. Zahn, 468. Hier richtig Zahn, 468. K.H. Rengstorf, Art. σημεῖον usw., ThWNT, VII, 1964, 233.

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langen, ist ein Wunder „auf Bestellung“.22 Ein solches Wunder aber ist unmöglich, es hieße wie in der Versuchungsgeschichte Gott versuchen (Mt 4,7). Wir wollen (θέλομεν [thelomen]): In dieser Haltung kann niemand vor Gott treten. Vergessen wir allerdings nicht, dass in diesem ganzen Ringen auch etwas Positives steckt, nämlich der Ansatzpunkt bei der Realität und nicht bei der Blässe des theologischen Gedankens, im Sinne von 1Kor 1,22: „Die Juden fordern Zeichen, aber die Griechen suchen Weisheit.“ Vergessen wir ferner nicht, dass Gott sein Volk mit Zeichen und Wundern aus der Knechtschaft führte (Ex 3,20; 15,6; Dtn 6,22; 7,19). Man darf in persönlicher Not auch ein Zeichen von Gott erbitten (Ri 6,17ff; 2Kön 20,8). Aber noch einmal: Eine Forderung nach Zeichen, wie sie hier von einer religiös-politischen Gruppe erhoben wird, können wir an Gott nicht stellen. Jesu Antwort in V. 39 ist bemerkenswert scharf: Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht (γενεά [genea]) verlangt ein Zeichen. Aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Propheten Jona. Zum Sprachlichen: γενεά [genea] kann heißen Geschlecht als „die durch gemeinsame Abkunft Verbundenen“,23 oder „Generation“, „Zeitgenossen“, „Zeitalter“, „Zeitabschnitt“, „Geburt“, „Nachkommenschaft“, „Art“.24 In Mt 12,39 passen am ehesten Geschlecht, „Art“, „Generation“, wobei wir Geschlecht als die am weitesten reichende Bezeichnung wählen. Es geht also nicht um die Gesamtheit des jüdischen Volkes,25 sondern um die damals lebenden Zeitgenossen Jesu, und auch diese nicht ausnahmslos, sondern in ihrer repräsentativen Schicht. Bei ἐπιζητεῖν [epizētein] ist mehr gemeint als „suchen“, nämlich ein „fordern“ und verlangen. Jesus kennzeichnet das gegenwärtige Geschlecht als böse, das heißt Gott zuwider, und als ehebrecherisch (μοιχαλίς [moichalis]), das heißt dem Bund Gottes mit Israel untreu (vgl. Jes 1,21; 57,3; Jer 3,6ff; 9,1; Ez 16,23; Hos 1–2). Zwar ließe sich die Bezeichnung ehebrecherisch auch ganz wörtlich verstehen.26 Jesus würde dann dasselbe zum Ausdruck bringen wie die Mischna, die laut Sota IX, 15, Reinheit und Enthaltsamkeit in der Zeit um 100 n.Chr. als erloschen betrachtet.27 Aber in Mt 12,38ff ist die Thematik viel weiter. Folglich schließt sich Jesus bei der Bewertung ehebrecherisch an die Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und 22 23 24 25 26 27

Carson, 294: „performed on command“. F. Büchsel, Art. γενεά usw., ThWNT, I, 1933, 660. Büchsel a.a.O., 660f; Bauer-Aland, 308. Anders Schniewind, 163: ganz Israel. So Schlatter, 202f, Schniewind, 162; vgl. Strack-Billerbeck I 641f. Vgl. M Sota IX, 9.

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Hosea an und spricht in echt prophetischer Art vom Abfall des zeitgenössischen Israel von Gott.28 Noch ist Zeit zur Umkehr. Aber wie in V. 31ff droht daraus eine verwirklichte Sünde zu werden. Dass noch Raum zur Buße ist, zeigt die Fortsetzung: Es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Propheten Jona. Also ein Zeichen gibt es doch!29 Was ist das Zeichen des Propheten Jona? Dass Jona nach drei Tagen und drei Nächten wieder lebendig wurde, also auferstand!30 Vergleiche Jona 2,1.11. Das heißt nichts anderes, als dass Jesu Tod und Auferstehung das verlangte Zeichen sein wird.31 Durch die Auferstehung – und nichts Geringeres! – legitimiert Gott seinen Sohn für ganz Israel (vgl. Apg 3,17ff; 13,30ff; Röm 1,3f ). In der Tat hatte Israel nach der Kreuzigung Jesu im Jahre 30 n.Chr. vierzig Jahre Bußfrist, um dieses Zeichen anzunehmen. Notieren wir noch, dass Mt 12,39 nur Sinn ergibt, wenn Jesus das Geschehen von Jona 2 als reales historisches Ereignis betrachtet.32 Notieren wir außerdem, dass hier „Jona selbst“ in seiner ganzen „geschichtlichen Erscheinung“ das Zeichen ist,33 also nicht nur seine Predigt34 oder sein Aufenthalt im Meeresungeheuer35 oder das Kommen aus dem fernen Lande.36 Denn erstens spricht Matthäus generell vom Propheten Jona, zweitens macht Lukas in 11,30 eben Jona selbst zum Zeichen,37 drittens versteht sich so das „hier ist mehr als Jona“ am besten.38 Notieren wir noch abschließend, dass den jüdischen Zeitgenossen gerade die Errettung aus dem Tode als das schlechthinnige Jona-Wunder galt.39 In V. 40 gibt Jesus40 eine Erläuterung zu dem in V. 39 Gemeinten: Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Inneren des Seeungeheuers war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde 28 Ebenso Zahn, 468; Luz II 277; Strack-Billerbeck I 641. 29 Luz II 277,35: „eine emphatische Zusage“. 30 Ebenso J. Jeremias, Art. Ἰωνᾶς, ThWNT, III, 1938, 411ff; Zahn, 468f; Schlatter, 203; Fiedler, 257; Theißen-Merz, 429; France, 213. 31 Andere sehen das Kommen Jesu zum Weltgericht als das Zeichen an. Aber das gilt allen Menschen (Mt 24,30). Was sollte Israel auch davon für seine Umkehr gewinnen? Gegen Schniewind, 162; Bultmann Gesch, 124. 32 Hendriksen, 533; Carson, 297. 33 Rengstorf a.a.O., 231; Zahn, 469f; Carson, 296. 34 Bauer-Aland, 781; Luz II 278ff. 35 Wieder Bauer-Aland a.a.O. 36 Bultmann Gesch, 124. 37 Vgl. Rengstorf a.a.O.; Zahn, 469. 38 Rengstorf a.a.O., 232. 39 Jeremias a.a.O., 412, mit Nachweisen; Strack-Billerbeck I 642ff, France, 213. 40 Die Versuche, V. 40 als sekundär auszuscheiden (Bultmann Gesch, 124.133.162.352), sind misslungen. Vgl. Cullmann, 61f.

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sein. Die Aussage Jona war drei Tage und drei Nächte im Inneren des Seeungeheuers findet sich wörtlich Jona 2,1 LXX. Jesus zitiert also bewusst aus Jona 2,1. Von daher müssen drei Tage und Nächte im hebr. Sinne verstanden werden, nämlich als drei Zeiteinheiten, die entweder einen Kalendertag ausfüllen oder ihn teilweise in Anspruch nehmen.41 Die jüdische Regel heißt: „Ein Tag und eine Nacht bilden einen Volltag, und der Teil eines Volltages gilt als ganzer Volltag.“42 Starb Jesus am Freitag um 15 Uhr, so gilt dies als ganzer Tag, erstand er am Sonntag ca. 4-6 Uhr aus dem Grabe, so gelten Samstag (Sabbat) und Sonntag wieder als zwei ganze Tage, sodass die gesamte Zeit, die er im Tode verbrachte, mit Recht als drei Tage und drei Nächte bezeichnet wird.43 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Zahl drei (τρεῖς [treis]) im biblischen Kontext oft den Charakter der Vollständigkeit und der Endgültigkeit trägt.44 Wer drei Tage und drei Nächte im Grabe ist, der ist ganz und gar tot. Das griech. κοιλία [koilia] entspricht dem hebr. ‫[ ֵמֶעה‬meʿäh] und bedeutet das Innere,45 wo sich das Herz befindet. Deshalb ist der Übergang vom Inneren zum Herzen in V. 40 leicht. Während im MT bei Jona 2,1 von ‫[ ָדּג‬dāg] „Fisch“ die Rede ist, spricht schon die LXX stattdessen von κῆτος [kētos] = Seeungeheuer. Sie verdolmetscht auf diese Weise mit sachlichem Recht den „Fisch“ von Jona 2,1 MT, denn im Schöpfungsbericht von Gen 1,21 werden von allen Wassertieren nur die „Tanninim“, griech. κήτη [kētē] (LXX) = „Seeungeheuer“ erwähnt, die demnach mit den Fischen zusammen gesehen werden. Und in der Tat geht es in Jona 2,1 ja nicht um einen gewöhnlichen Fisch, sondern um ein Meereslebewesen, das groß genug ist, Jona ganz zu verschlingen.46 Der Menschensohn ist hier ganz klar Jesus selbst. Im Herzen der Erde ist so viel wie „im Inneren der Erde“.47 Fazit: Wie Jona drei Tage und drei Nächte im Inneren des Seeungeheuers war, so (οὕτως [houtōs]) wird Jesus drei Tage und drei Nächte im Grabe sein. Das ist das Zeichen, das Israel gegeben wird (V. 39). Diese Aussage hat eine enorme Reichweite. Sie umfasst: 1) dass Jesus der verheißene Menschensohn aus Dan 7,13 ist, 2) dass 41 Vgl. hier im Folgenden G. Delling im ThWNT, II, 1935, 950ff. 42 Nach j Schab 12a.15.17. Vgl. G. Delling im Art. τρεῖς, ThWNT, II, 1935, 944f, StrackBillerbeck I 649, sowie b Nazir 5b; b Pes 4a. 43 Vgl. noch G. Delling, Art. τρεῖς usw., ThWNT, VIII, 219. Für Luz II 278, 42, sind die drei Nächte „natürlich falsch“; ebenso Beare, 282. 44 Delling a.a.O., 221f. 45 Vgl. Gesenius, 442f; Bauer-Aland, 889. 46 Vgl. meinen Kommentar „Der Prophet Jona“, WStB, 6. Aufl., 1997, 49ff, sowie die frühe jüdische Überlieferung in Strack-Billerbeck I 642ff. 47 Bauer-Aland, 821; J. Behm, Art. κοιλία, ThWNT, III, 1938, 786f.

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er die Passion erleidet, 3) dass er wirklich ins Grab kommt, 4) dass er wie Jona aufersteht. Mt 12,39f ist eine Leidensweissagung vor den Leidensweissagungen Mt 16,21ff, ebenso wie Mt 10,38f. Es ist zugleich eine Auferstehungsweissagung. Jesus muss das Jonabuch sehr geliebt haben (vgl. Mt 16,4). Denn es verschaffte ihm die Perspektive von Tod und Auferstehung. Wir verstehen jetzt auch 1Kor 15,4: „dass er begraben worden ist nach der Schrift“, denn es beruht auf Mt 12,39f; 16,4. Eine weitere Dimension wird uns durch Stellen wie Eph 4,9 oder Röm 10,7; 1Petr 3,19; 4,6 erschlossen.48 Von Anfang an müssen die Christen über Jesu Gang in die Totenwelt gepredigt haben, auch wenn der descensus ad inferos im altrömischen und in den orientalischen Symbolen fehlt. Doch vgl. Ignatius Ad Magn 9,2; Justinus Did 72,4; Irenäus Adv. haer. III, 20,4.49 Die Verse 41 und 42 bringen zwei Exemplare „als historisches Beispiel“.50 Ihr Grundgedanke ist, die Diskussionsgegner dahin zu bringen, dass sie Jesus als Messias anerkennen. Insofern stehen V. 41f in engstem Zusammenhang mit der Zeichenforderung von V. 38, die ja auch darauf hinauslief, Jesu Messianität „wasserdicht“ zu machen. Die beiden historischen Beispiele51 sind die Niniviten (Jona 1–4) und die Königin von Saba (1Kön 10,1ff ). Wie so häufig gebraucht Jesus biblische Beispiele (vgl. Lk 4,25ff; Mt 22,23ff.41ff; 24,37ff; Lk 17,28ff ): Die Leute von Ninive (Ἄνδρες Νινευῖται [andres Nineuitai]) werden im Gericht zusammen mit diesem Geschlecht auferstehen und werden es schuldig sprechen. Denn sie kehrten um auf Jonas Predigt hin. Und siehe, hier ist mehr als Jona (V. 41).52 Im (End-)Gericht werden alle auferstehen: Diese Überzeugung eint Jesus, die Pharisäer und die Christen (vgl. Apg 23,6ff ). Selbst wenn die Diskussionsgegner Jesus „hassten“,53 mussten sie bei der Auferstehung der Niniviten Jesus zustimmen.54 Jonas Flucht wurde von den Rabbinen so erklärt, dass er Ninives Buße habe vermeiden wollen, die dann zur Anklage gegen Israel führen würde.55 In Mt 7,2 hat Jesus selbst darauf Bezug genommen, dass wir Menschen mit unserem Verhalten die Maßstäbe für Gottes Ge-

48 Schlatter, 203; Schniewind, 162; Tasker, 133; France, 213. Anders Carson, 296. 49 Vgl. weiter BELK, 23. In der Dogmatik heftig diskutiert. Trillhaas, 455, erklärt die Lehre vom descensus Christi ad inferos zur Häresie. Vgl. noch Weber II, 121; Luz II 277f. 50 Theißen-Merz, 303. 51 Jesus gebraucht öfter die règle des deux: Mt 13,3ff.24ff.44ff; 24,40.41. 52 Wörtlich gleich Lk 11,32. 53 Hendriksen, 532: „These men hated Jesus.“ 54 Vgl. b Sanh 90a ff; Strack-Billerbeck I 649f. 55 Strack-Billerbeck I 643f.650.

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richt setzen.56 Wenn die Niniviten auf Jonas Predigt hin Buße taten (Jona 3,1ff ), dann werden sie durch ihr Verhalten dereinst Israel schuldig sprechen,57 wenn es nicht ebenfalls „auf Jesu Predigt hin“ (εἰς τὸ κήρυγμα [eis to kērygma]) Buße tut. Alles ist noch offen – aber die Konsequenzen sind klargelegt. Einen besonderen Akzent (siehe!) hat der Schluss von V. 41: hier ist mehr als Jona. Jesus hat Jona besonders gewürdigt (V. 40). Jetzt aber sagt er mit aller Deutlichkeit, dass er mehr ist (πλεῖον ὧδε [ pleion ōde]). In V. 6 nennt er sich schon „Größeres als der Tempel“. In V. 42 wird er sagen „mehr als Salomo“. Mehr und Größeres als die Könige, die Propheten und die Priester Israels: Das kann nur der Messias sein. Von einem „Messiasgeheimnis“ (William Wrede58) ist in den Evangelien keine Spur. Es geht hier von allem Anfang an um die Frage, ob Jesus der Messias sei, und Jesus ringt darum, dass ihm die Menschen Glauben schenken. Das zweite historische Beispiel (V. 42) bekräftigt das erste: Die Königin vom Süden wird im Gericht zusammen mit diesem Geschlecht auferweckt werden (ἐγερθήσεται [egerthēsetai]) und wird es schuldig sprechen. Es handelt sich um die Königin von Saba, heute Jemen (1Kön 10,1ff; 2Chron 9,1ff ). Ihr Name bleibt ungenannt. Das Passiv ἐγερθήσεται [egerthēsetai] ist ein Passivum divinum („Gott wird sie auferwecken“). Nach den Niniviten nimmt Jesus auch das zweite Beispiel aus der Welt der Heiden. Wir erkennen jetzt eine ganze Linie, die durchs Evangelium führt (Mt 8,10ff; 10,15; 11,22; 12,41f ): Immer wieder stellt Jesus seinen jüdischen Zeitgenossen Beispiele aus der Welt der Heiden vor Augen, um sie zur Nachahmung zu reizen.59 Später tut Paulus dasselbe (Röm 10,19; 11,11ff ). Warum wird Israel durch die Königin von Saba beschämt, ja im Falle seiner Umkehrverweigerung schuldig gesprochen? Weil sie von den Enden der Erde kam, um die Weisheit Salomos zu hören.60 Hören heißt hier zugleich: anerkennen. Jemen grenzt an den Indischen Ozean, deshalb liegt es in der Perspektive Jerusalems an den Enden der Erde. Salomos Weisheit war im Judentum legendär.61 Sie ist aber schon biblisch hervorgehoben (1Kön 3,5ff; 5,9f; 10,1ff; 2Chron 1,7ff; 9,1ff ). Auf Salomo werden Psalmen zurückgeführt (Ps 72; 127; später die Psalmen Salomonis), ferner das Buch der Sprüche (1,1; 25,1), der „Prediger Salomo“ (Kohelet, 1,1) und das Hohelied (1,1). Auch die apokryphe „Weisheit“, das Buch Sa56 57 58 59 60 61

Vgl. Strack-Billerbeck I 650. „Anklagen“ – so Riesner, 331 – ist zu wenig. Vgl. Zahn, 471. Kümmel NT, 362ff. Vgl. Theißen-Merz, 320. Wörtlich gleich hier Lk 11,31. Strack-Billerbeck I 651f; E. Lohse, Art. Σολομών, ThWNT, VII, 1964, 459ff.

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pientia Salomonis, ist nach Salomo benannt. Angesichts dessen ist Jesu Ausspruch umso auffallender: Er ist mehr als Salomo (πλεῖον Σολομῶνος [ pleion Solomōnos]). Wie in 12,6 und 12,41 benutzt er das Neutrum: μεῖζον [meizon] bzw. πλεῖον [ pleion]. Er sagt also nicht: „Hier ist ein größerer (μείζων [meizōn]) als Salomo.“62 Das ist ein Ausdruck der Bescheidenheit: „Größeres“ oder mehr (neutrisch) kann nur Gott im Himmel schenken. Aber wenn Salomo ein solch überwältigendes Echo fand, warum findet dann er, der Messias, es nicht?

IV Zusammenfassung 1. Die Zeichenforderung einer Reihe von Pharisäern zielt auf die Legitimation Jesu als Messias. Jesus soll ihnen ein solches Zeichen verschaffen. 2. Wie bereits in der Versuchungsgeschichte lehnt es Jesus ab, Gott zu einem solchen Zeichen zu zwingen. Aber er stellt ein Zeichen in Aussicht, bei dem er gewiss ist, dass Gott es tun wird, nämlich sein Todesleiden und seine Auferstehung. Beides sieht er bei Jona angekündigt. 3. In diesem Zusammenhang deutet er an, dass er in die Totenwelt gehen wird, und gibt dadurch eine Grundlage für die Verkündigung des „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ (descensus ad inferos) und die apostolischen Aussagen in Röm 10,7; Eph 4,9; 1Petr 3,19; 4,6. 4. Wie auch an anderen Stellen warnt er seine jüdischen Zeitgenossen, ihn als Messias abzulehnen, indem er positive heidnische Beispiele nennt (hier die Niniviten und die Königin von Saba). 5. Mt 12,38-42 beinhaltet aber kein „Drohwort“63 oder „Gerichtswort“64 und erst recht keine „Polemik“,65 sondern einen prophetischen Bußruf und ein ernstes, dringliches Werben um seine Zeitgenossen. 6. Häufig wird die Historizität von Mt 12,38-42 bestritten, oder es werden wenigstens Teile davon für „Gemeindebildung“ oder das Werk des Matthäus erklärt.66 Aber nirgendwo lassen sich diese historischen Zweifel bei der Beschäftigung mit Mt 12,38-42 durchschlagend begründen.

62 63 64 65 66

Verwischt von der BasisBibel. So Bultmann Gesch, 118.124; Sand, 267; Luz II 275. So Lohse a.a.O., 465; Hengel-Schwemer, 389; Luz II 272. So Bultmann Gesch, 118. So Bultmann Gesch, 118.124; Beare, 282; Lohse a.a.O.; Luz II 272ff.

11. Die Rückkehr des bösen Geistes, 12,43-45

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11. Die Rückkehr des bösen Geistes, 12,43-45 I Übersetzung 43 Wenn aber der unreine Geist vom Menschen ausfährt, durchwandert er wasserlose Gegenden auf der Suche nach Ruhe und findet sie nicht. 44 Dann sagt er: Ich will in mein Haus zurück, aus dem ich ausgefahren bin. Und wenn er kommt, findet er es leer, sauber gefegt und geschmückt. 45 Dann geht er und holt zu sich sieben andere Geister, die noch schlimmer sind als er, und die gehen hinein und hausen dort. Und auf das Letzte wird es mit jenem Menschen schlimmer als am Anfang. So wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen.

II Struktur Eigenartigerweise hat dieses Stück weder einen richtigen Anfang noch einen eindeutigen Abschluss. Geht es unmittelbar in den Abschnitt V. 46ff über? Müsste man dann nicht die Verse 43-50 zusammennehmen? Oder hat es Jesus zum Abschluss von V. 38-42 gesprochen?1 Dann gehört es zum Abschnitt Mt 12,38-45, wie viele Autoren annehmen.2 Oder ist es ein Stück der Jesuslehre aus jener Zeit, unabhängig von V. 38ff und von V. 46ff, das Matthäus hier als selbstständige Einheit einfügte? Eine Antwort ist schwierig. Vorsichtigerweise haben wir Mt 12,43-45 als unabhängigen Abschnitt für sich behandelt.3 Jedoch besteht durch das Thema πνεῦμα [ pneuma] (Geist) und durch den Hinweis auf dieses böse Geschlecht ein thematischer Zusammenhang mit Mt 12,22-42. Verstärkt wird diese Beobachtung durch die Anordnung bei Lukas, der ebenfalls Zeichenforderung und Rückkehr des bösen Geistes nahe zusammenrückt (Lk 11,24-26; 11,29-32). Mt 12,43-45 ist bis auf die pädagogisch-kerygmatische Nutzanwendung am Ende von V. 45 ein Maschal,4 allerdings zu diesem Thema erstaunlich ausführlich.

III Einzelexegese Lehraussagen Jesu werden wie in V. 43 öfter durch ὅταν δέ [hotan de] oder ähnlich eingeführt. Wenn aber der unreine Geist vom Menschen ausfährt: 1 2 3 4

So Bultmann Gesch, 11.359; Schniewind, 163; Luz II 281. Auch ich in Maier I, 434, trotz erheblicher Bedenken. Auch Carson, 297. Bultmann Gesch, 176f; Luz II 282; Zahn, 472; Schlatter, 205; Carson, 297; Flusser, 56; France, 214.

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Das blickt entweder auf Exorzismen Jesu zurück oder auf solche seiner Jünger (vgl. Mt 10,1).5 Das folgende Bild nimmt Jesus aus dem AT: er durchwandert wasserlose Gegenden (vgl. Jes 34,14; 43,19f; 44,3ff ). Aber nun verlässt Jesus die Bildwelt, um zu einer Sachaussage zu kommen: auf der Suche nach Ruhe (ζητοῦν ἀνάπαυσιν [zētoun anapausin]) und findet sie nicht. Unsere sprichwörtliche Wendung vom „ruhelosen Geist“ leitet sich davon ab. Aber was steckt dahinter? Zunächst geht aus den AT-Stellen hervor, dass Gott seinem Volk Wasser und Leben und damit auch Ruhe verschaffen wird – aber eben nicht den Dämonen (Jes 34,14 gilt nur zeitweise). Sodann braucht der unreine Geist ein Haus (V. 44), im Klartext: einen Leib (vgl. Mt 8,31f ). Die ganze Schöpfung drängt auf Verleiblichung. Auch der Satan, Herr über alle Dämonen, will sein Haus im Himmel behalten (Offb 12,7ff ). Mit wenigen Strichen hat Jesus die stete Unruhe in der Welt des Bösen gezeichnet und die unerfüllte Sehnsucht nach Ruhe, die dort herrscht. Die Erzählung des Maschal („Gleichnisspruches“6) setzt sich fort in V. 44: Dann – das zweimalige τότε [tote] V. 44 und 45 treibt die Geschichte vorwärts – sagt er: Ich will in mein Haus zurück, aus dem ich ausgefahren bin. Das ist nach dem in V. 43 Erzählten keine Überraschung. Begriffe wie Haus oder „Tempel“ oder „Bau“ bezeichnet oft den menschlichen Leib oder die Gemeinde (Joh 2,21; Röm 8,9; 1Kor 3,16; 6,19; 2Kor 6,16; Eph 2,21f ). So will auch hier der unreine Geist in den Menschen zurück, aus dem er ausgetrieben wurde. Doch was ist mit der Fortsetzung? Und wenn er kommt, findet er es leer, sauber gefegt und geschmückt. Es ist so wunderschön, als würde man Gäste erwarten. Aber hier steckt der Knoten des ganzen Abschnitts. Joachim Jeremias hat unter Berufung auf H.S. Nyberg darauf hingewiesen, dass hier nach semitisierender Redeweise ein Konditionalsatz vorliegt, der wie folgt verstanden werden muss: „Wenn er bei seiner Rückkehr [seinem Kommen] das Haus leer, sauber gefegt und geschmückt findet …“7 Es geht also in Mt 12,44 nicht um einen Normalfall, sondern um einen erschreckenden Ausnahmefall. Dieser Ausnahmefall wird dann in V. 45 weiter geschildert. Zum Sprachlichen: σχολάζειν [scholazein] heißt „unbesetzt sein“, „leer stehen“,8 σεσαρωμένος [sesarōmenos] ist gefegt, „sauber gekehrt“ (vgl. Lk 15,8), κεκοσμημένος [kekosmēmenos] ist geschmückt im allgemeinen Sinne oder auch „geputzt“. 5 ἐξέλθῃ [exelthē] ist nach Jeremias Gleichnisse, 196, ein Aramaismus: vom Menschen „ausgetrieben wird“. 6 Flusser, 56. 7 Jeremias Gleichnisse, 196. Ebenso France, 214; Luz II 282; Carson, 298. 8 Bauer-Aland, 1591.

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Die Gäste kommen. Aber offensichtlich unerwartet: Dann (τότε [tote]) geht er und holt zu sich sieben andere Geister, die noch schlimmer sind als er, und die gehen hinein und hausen dort (V. 45). Der Gleichnisspruch zielt offensichtlich auf die Steigerung des Unheils. Sieben als Gleichniszahl symbolisiert Fülle und Totalität des Bösen.9 Noch schlimmer (böser) als er lässt erkennen, dass auch das Reich der Dämonen vielfältig gegliedert ist (ebenso V. 25ff ). Nicht jeder ist gleich schlimm. Sie hausen dort, zusammen mit dem früheren dämonischen Bewohner (μεθ᾿ ἑαυτοῦ [meth’ heautou]), und machen den armen Menschen mehrfach besessen. Vergleiche Mk 5,9: „Legion heiße ich, denn wir sind viele“, so wie die Maria Magdalena von Mk 16,9; Lk 8,2, aus der Jesus sieben böse Geister ausgetrieben hatte. Vielleicht benutzt Jesus am Schluss von V. 45 ein Sprichwort: Das Letzte wird schlimmer als das Erste (γίνεται τὰ ἔσχατα χείρονα τῶν πρώτων10 [ginetai ta eschata cheirona tōn prōtōn]). Jedenfalls sind die Worte Und auf das Letzte wird es mit jenem Menschen schlimmer als am Anfang die pädagogische Überleitung zur Schlussanwendung: So wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen. Das ist wohl doch ein Rückbezug auf V. 39. Wozu hat Jesus diese Worte gesprochen? Sind sie eine exorzistische Anweisung?11 Nach Ansicht des Evangelisten wohl kaum, sonst hätte er V. 43-45 zu den Instruktionen des 10. Kapitels gestellt. Sind sie Niederschlag einer „dämonologischen“ Erfahrung?12 Aber Jesus kam nicht, um von seinen Erfahrungen zu berichten, sondern die Verse haben einen pädagogischen Skopus im Dienst einer prophetischen Mahnung. Worin liegt diese? Gemahnt werden die jüdischen Zeitgenossen (dieses böse Geschlecht), insofern sie Jesus ablehnen. Ihr Fehler ist, dass sie ihr Haus leer stehen lassen. Dadurch laden sie den Bösen mit all seinen Einflüssen ein, in ihnen Platz zu nehmen. Noch ist es nicht so weit! Noch steht das Haus leer! Umso dringlicher mahnt Jesus, dass es nicht dazu kommt. Die Gefahr ist riesengroß. Das Einziehen der bösen Geister wäre „Schuld“13 und nicht Katastrophe. Womit sollte das Haus gefüllt werden? Mit dem, was der Heilige Geist wirkt und zeigt, ganz konkret: mit der Erkenntnis Jesu.14 Darauf lief das ganze Gespräch in den Versen 22-42 hinaus. Insofern hat Matthäus auch die Verse 43-45 mit Recht an ihren jetzigen Platz gestellt. 9 10 11 12 13 14

Jeremias a.a.O. Bultmann Gesch, 177. Vgl. Mt 27,64; Joh 5,14; 2Petr 2,20. In diese Richtung geht Beare, 284. Dies erwägt Luz II 281f. So mit Recht Jeremias Gleichnisse, 197. Grundsätzlich ebenso Jeremias a.a.O.

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Deutet man so, dann ist sowohl eine Neutralität oder Halbheit Jesus gegenüber, die es im Grunde nicht geben kann, als auch die bisherige Ablehnung Jesu als falsch aufgedeckt.15 Im Unterschied zu V. 22ff richten sich aber die Verse 43-45 nicht nur an die Pharisäer, sondern eben an alle seine Zeitgenossen, einschließlich derer, die von ihm geheilt wurden oder sonst irgendwie profitierten. Es nützt nichts, „eine kleine Weile fröhlich zu sein“ im Lichte des Täufers oder im Lichte Jesu (Joh 5,35). Man sollte sich ganz von der Liebe zu Gott und Gottes Sohn erfüllen lassen.

IV Zusammenfassung 1. Mt 12,43-45 ist eine zugespitzte prophetische Mahnung, sich nicht der Neutralität, Halbheit oder gar Ablehnung Jesu anzuschließen, sondern sich vom Geist Gottes zur Erkenntnis Jesu und zur Nachfolge führen zu lassen. 2. Dabei wird Mt 12,43-45 von den Auslegern sehr verschieden interpretiert: als „Warnung vor den jüdischen Dämonenaustreibungen“,16 als „Forderung der Stunde“ zur ganzen Nachfolge,17 als Echo auf „Mißerfolge“ oder „Rückschläge“ Jesu,18 als „dämonologische“ Erfahrung mit Rückfällen,19 als exorzistische Anleitung,20 als Warnung und Bußruf an „vom Christus-Glauben Abgefallene“21 usw. Alle diese Deutungen enthalten ein Stück Wahrheit. Doch ist für uns ähnlich wie für J. Jeremias das unter 1. Formulierte das Primäre. 3. Mt 12,43-45 schneidet einen erheblichen Problemhorizont an. Ist es schon das ganze Israel, das Jesus in der Gefahr des falschen Geistes sieht?22 Deutet er schon die Katastrophe von 70 n.Chr. an? Besser ist es, hier noch zurückhaltend zu bleiben und aus dem Kontext des 12. Kapitels zu argumentieren: also dieses Geschlecht auf seine Zeitgenossen zu begrenzen und dabei zu beachten, dass er die repräsentative Schicht und keineswegs sämtliche Zeitgenossen meint. Man wird ihm aber ein prophetisches Bewusstsein von der kommenden Katastrophe nicht absprechen dürfen. 4. Unter der Voraussetzung, dass hier Matthäus oder christliche Überlieferung spricht, erheben moderne Kommentare eine Reihe von Vorwürfen. Viel-

15 16 17 18 19 20 21 22

France, 214: „there is no room for neutrality“ oder „half-hearted repentance“. Sand, 268. Jeremias Gleichnisse, 179.196f. Hengel-Schwemer, 470. Luz II 283f. Beare, 284. Fiedler, 258. So Zahn, 472.

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fach wird dem Matthäus „Polemik“ vorgeworfen.23 Weiter geht der Vorwurf, dass Matthäus die „antijüdischen und antihäretischen Auswirkungen“ von Mt 12,43-45 „mitverschuldet hat“.24 Noch weiter geht die Feststellung, dass die matthäische „Umkehr-Predigt heute nur abstoßend wirken kann“.25 Fiedler versteigt sich zu dem Satz: „Auf seinem Weg durch die Zeit braucht Israel Jesus Christus nicht“26 – womit er Mt 12,43-45 endgültig auf den Kopf gestellt hat. Für uns ergibt sich daraus: 1) Man muss sich der in Mt 12,43-45 angeschnittenen Problemhorizonte bewusst bleiben, 2) man darf weder dem folgen, was antijüdische und antipharisäische Auslegungen in unseren Abschnitt hineinlesen wollen, noch dem, was anti-antijüdische Kommentare an dieser Stelle anbieten, sondern muss den ganzen Text als solchen sprechen lassen, 3) man muss vor allem Jesus hoch achten, der hier mit Argumenten werbend in Ernst und Liebe um sein Volk ringt.

12. Jesu wahre Verwandte, 12,46-50 I Übersetzung 46 Während er noch zur Menge sprach, siehe, da standen seine Mutter und seine Brüder draußen und versuchten, mit ihm zu sprechen. 47 Einer aber sagte zu ihm: Sieh doch, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und versuchen, mit dir zu sprechen. 48 Er aber antwortete und sagte zu dem, der es ihm mitteilte: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? 49 Und er streckte seine Hand über seine Jünger aus und sagte: Sieh hier meine Mutter und meine Brüder! 50 Denn wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

II Struktur Jesu Familie hat in den letzten Kapiteln keine besondere Rolle gespielt. Jetzt berichtet Matthäus von ihrer Intervention. Das überrascht. Aber Markus und Lukas unterstützen Matthäus, auch wenn sie die betreffenden Berichte anders einordnen. Insgesamt befinden wir uns immer noch im Mittelteil des Wirkens 23 Sand, 268; Fiedler, 258; Hengel-Schwemer, 471. 24 Luz II 284. Luz hat das Verdienst, die Hypotheken der Auslegungsgeschichte klar benannt zu haben. 25 Fiedler, a.a.O. 26 A.a.O.

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Jesu, geprägt von Diskussionen und Auseinandersetzungen. In diesen Gesamtrahmen fügt sich auch Mt 12,46-50 ein. Der Aufbau des Stückes ist durchsichtig: Mutter und Brüder suchen ihn auf – jemand teilt dies Jesus mit – Jesus erklärt, wer geistlich gesehen seine Verwandten sind. Auf den ersten Blick scheint die Anbindung an das Vorausgehende eng. Das Ἔτι αὐτοῦ λαλοῦντος [Eti autou lalountos] könnte direkt als Fortsetzung von V. 43ff erscheinen. Aber wie andere Übergangsbemerkungen des Matthäus lässt auch diese einen Spielraum, sodass wir besser mit einem selbstständigen Abschnitt rechnen. Jedenfalls markiert Mt 13,1 einen Neuansatz, sodass Mt 12,46-50 nach beiden Seiten gut abgrenzbar bleibt. Matthäus wahrt eine gewisse Zurückhaltung bei der Bewertung dieser Vorgänge. Das ist auch für uns eine Anleitung zu einer vorsichtigen Auslegung.

III Einzelexegese Während er noch zur Menge sprach (Ἔτι αὐτοῦ λαλοῦντος τοῖς ὄχλοις [Eti autou lalountos tois ochlois], V. 46): Vergleiche dazu unter II. Wir rechnen also mit einem gewissen Zeitabstand zu V. 38-45. Außerdem ist ein Ortswechsel zu vermuten: draußen (V. 46.47) meint außerhalb des Hauses. Folglich sitzt Jesus lehrend in einem Haus1 (vgl. Mk 2,1ff; 3,22). Da standen seine Mutter und seine Brüder draußen: Offenbar konnten sie wegen der dicht gedrängten Menge nicht gleich ins Haus. Mutter und Brüder: Weil Josef höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben ist2 und Jesus wie ein Gottgeweihter (Nasiräer) außerhalb der Familie lebt (vgl. Mt 19,12), sind jetzt Mutter und Brüder die Leitpersonen der Familie. Werfen wir kurz einen Blick auf beide: 1) Die Mutter Jesu, Maria (Mt 1,16.18ff ), hat unvergleichliche Erfahrungen mit dem Kind Jesus gemacht: die Geburt in Bethlehem (Mt 2,1), die anbetenden Magier aus dem Osten (Mt 2,1ff ), die Flucht nach Ägypten (Mt 2,13ff ), der Kindermord des Herodes (Mt 2,16ff ), die Rückkehr aus Ägypten und die Neuansiedlung in Nazareth (Mt 2,19ff ). Sie erlebte den Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, den Umzug nach Kapernaum (Mt 4,13ff; Joh 2,12), die ersten Wunder (Mt 13,53ff; Joh 2,1ff ). Wunderbare Verheißungen begleiten sie (Lk 1,26ff.41ff.67ff; 2,25ff ). Aber sie muss auch durch Enttäuschungen (Joh 2,4) und Angst (Mk 3,21). Wie kann sie es verkraften, dass Jesus unter wütenden Angriffen zu einem Kind des Teufels gemacht wird (Mt 12,24)? 2) Die Brüder – ihre Namen besprechen wir bei Mt 13,55 – sind später geboren. Eigentlich müssten sie als männliche Mitglieder 1 Vgl. Maier I, 444. 2 Vgl. Tasker, 134.

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die Familie repräsentieren. Aber da sie jünger sind als Jesus, nehmen sie die Autorität der Mutter zu Hilfe. Jesu Brüder waren vor der Kreuzigung nicht bei den Jüngern zu finden. Im Gegenteil: Sie betrachteten seinen Weg kritisch, wenn auch nicht ohne Liebe (Mk 3,20f; Joh 7,3ff ). Das alles ändert sich mit der Auferstehung. Jetzt, nach Ostern, gehören sie zur Gemeinde Jesu (Apg 1,14). In der frühesten Christenheit ziehen sie mit ihren Ehefrauen als missionarische Wanderlehrer durch verschiedene Gebiete (1Kor 9,5). Zwei von ihnen werden berühmt in der alten Welt und gehören bis heute zu den Verfassern des Neuen Testaments: Jakobus (Jak 1,1; Apg 12,17; 15,13ff; 21,18; Gal 2,9) und Judas (Jud 1). Damals, in einer zum Teil krisenhaften Situation, versuchten sie, mit Jesus zu sprechen. Die Satzkonstruktion entspricht einem durativen Imperfekt,3 sodass der Sinn ist: „Sie standen längere Zeit draußen und versuchten, mit ihm Kontakt aufzunehmen.“ Mk 3,31 hat: „Sie schickten zu ihm und ließen ihn rufen“, Lk 8,19: „Sie konnten wegen der Menge nicht zu ihm gelangen.“ Was wollten sie? Weder Mk 3,31-35 noch Lk 8,19-21 sagen es. Matthäus auch nicht. Mk 3,20f enthält jedoch eine sehr negative Stellungnahme der Familie, die offensichtlich Jesu weitere Tätigkeit unterbinden will. So wird man auch in Mt 12,46ff eher den Versuch erblicken, Jesus zum Aufhören zu bewegen, als ihn zum Weitermachen zu ermutigen. Ob V. 47 ursprünglich ist, lässt sich nicht sicher entscheiden. Dagegen spricht das Fehlen des Verses in Vaticanus, Sinaiticus (‫)א‬, in alten lateinischen und syrischen Übersetzungen. Es könnte also sein, dass V. 47 gebildet wurde „to smooth out the otherwise awkward transition form verse 46 to verse 48“.4 Andererseits könnte ein Homoioteleuton auch seine Auslassung verursacht haben.5 Irgendjemand also machte Mitteilung vom Kommen der Familie Jesu. Übrigens müsste derjenige, der V. 47 eingefügt hätte, auch den Anfang von V. 48 geformt haben (Er aber antwortete und sagte zu dem …). Deshalb vermuten wir, dass V. 47 ursprünglich ist. Die kleine Szene stellt Jesus vor eine grundsätzliche Entscheidung:6 Soll er unter der Geltung des vierten (dritten) Gebotes in Ex 20,12 dem Ruf der Mutter folgen? Oder soll er erklären, dass das vierte Gebot für ihn nicht gilt? Eventuell war für Jesus die Anfechtung in V. 46ff schwerer als diejenige von 12,24ff. 3 Vgl. BDR § 347,3. 4 Tasker a.a.O. Gegen die Ursprünglichkeit zum Beispiel Beare, 284; Fiedler, 259; France, 215; Schniewind, 164; Zahn, 473. 5 So Carson, 299; Luz II 286; Sand, 269; offen Tasker a.a.O. 6 Sand, 270: „Die Frage … hat … grundsätzlichen Charakter“.

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Geleitet vom Heiligen Geist findet Jesus die Antwort von V. 48f: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Das heißt zunächst höchst positiv: Das vierte (dritte) Gebot gilt.7 Das stellt zweitens im Falle des Messias vor eine sehr ernsthafte Frage: Wer sind nun seine Mutter und seine Brüder? Für alle Priester war es klar: „der von seinem Vater und seiner Mutter spricht: Ich sehe ihn nicht, und von seinem Bruder: Ich kenne ihn nicht“ (Dtn 33,9). Qumran erwartete einen Priestermessias. Für ihn galt selbstverständlich Dtn 33,9. Jesus ist Fürst- und Priester-Messias in einem. Dann gilt auch für ihn Dtn 33,9. Das heißt, nicht mehr die leibliche Verwandtschaft ist die wahre, sondern die geistliche. Vorbereitet ist dies alles im AT (vgl. neben Dtn 33,9 noch Lev 21). Aufgeleuchtet hat es beim zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,49). Vers 49 bringt nun die Antwort: Und er streckte seine Hand über seine Jünger aus und sagte: Sieh hier meine Mutter und meine Brüder! Das Ausstrecken der Hand ist wohl mehr als ein „hindeuten“8, es kennzeichnet ein gebieterisches, herrscherliches Handeln (vgl. Joh 10,28ff; 17,2ff; Lk 22,53, Apg 4,30). Jesus trifft eine messianische, autoritative Lehrentscheidung: Sieh hier9 meine Mutter und meine Brüder! Die Jünger also sind seine wahren Verwandten! Diese Aussage steht in einem engen biblischen Kontext. Auf die Gemeinschaft der Priester und Leviten (Dtn 33,8ff ) haben wir schon hingewiesen. Ähnlich bestimmt Paulus die wahren Juden (Röm 3,28f; vgl. Jer 4,4) und Jakobus die wahren Christen (Jak 2,14ff ). Um hier nicht in die falsche Spur zu geraten, muss zugleich Mt 15,3ff; 19,19; Joh 19,25ff berücksichtigt werden. Jesus hebt also nicht die Blutsverwandtschaft, ihre Ehre und ihre Verpflichtungen auf, sondern schafft eine Priorität gemäß dem Sinn der ganzen Heiligen Schrift (Lev 21,1ff; Dtn 33,8ff; Jer 4,4; Jes 63,16): Die Bindung an den Vater im Himmel geht allen irdischen Bindungen vor (vgl. Lk 2,49). Dadurch verhindert er eine Familiendynastie. Dadurch verschafft er aber auch allen gläubigen Familienmitgliedern die Freiheit zur Mitarbeit in seiner Gemeinde (vgl. Joh 2,5; Apg 1,14; 1Kor 9,5; 15,7; Gal 2,9; Apg 12,17; 15,13ff; Jak 1,1; Jud 1). Der Glaube entscheidet! Vergleiche noch Mt 10,37ff; Hebr 2,11ff. Was das alles bedeutet, wird noch einmal klarer, wenn man Mt 12,46-50 mit den Verhältnissen im Islam vergleicht. Dort entsteht durch Mohammeds Verwandte das System des Kalifats, dort entstehen Machtkämpfe, Dynastien 7 Carson, 299: Jesu Frage und Antwort „in no way diminish his mother and brothers“. 8 Bauer-Aland, 495; Zahn, 473. 9 Das „hier“ ist aus sprachlichen Gründen eingefügt. Vgl. BasisBibel; BigS, Gute Nachricht; LSB.

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und bis zum heutigen Tage schwere Gegnerschaften durch Berufung auf Familienmitglieder Mohammeds, zum Beispiel unter Sunniten und Schiiten. Andererseits haben christliche Irrlehrer die Worte Jesu missverstanden, ja auf den Kopf gestellt. Beispielsweise liefen extreme Täufer ihren Ehegatten davon, um mit „geistlichen Brüdern und Schwestern“ im Ehebruch zusammenzuleben. Unter ihnen dichtete Anthoni Erdtfordter in der Reformationszeit: „Weib, Kind, haußgesind, weltlicher wust, dein tail hab mit den dieben.“10 Ähnliches gab es im Montanismus. Alle diese Erscheinungen mahnen uns, Mt 12,46-50 von seinem biblischen Kontext her zu begreifen und nicht isoliert auszulegen. Jedenfalls liegt ein bedauerliches Missverständnis vor, wenn Hengel-Schwemer Mk 3,31ff / Mt 12,46ff als „Bruch mit den Angehörigen“ und Erfüllung von Mt 10,34ff interpretieren.11 Der kleine Abschnitt endet mit einer allgemeinen Lehraussage: Denn wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter (V. 50). Weil es um eine allgemeine Aussage und nicht nur um die damalige Situation geht, fügt Jesus in Mt 12,50 und Mk 3,35 neben Bruder und Mutter noch die Schwester ein. Er stellt jetzt die Mutter, die in V. 46-49 vor den Brüdern stand, ans Ende der Reihe und erhöht dadurch ihr Gewicht („Gesetz des Achtergewichts“). Sinngemäß heißt es also: „sogar meine Mutter“. Schließlich wird der Vater im Himmel betont den irdischen Verwandten gegenübergestellt: Ihm kommt die primäre Rolle zu. Mt 12,50 bestimmt Jesu Familie in einem geistlichen Sinne. Jeder, der den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. Das stimmt überein mit der Bergpredigt (Mt 5,16.19; 7,12.21.24ff ), aber auch mit der Mose-Tora (Lev 26,1ff; Dtn 30,11ff ). Später werden es Paulus (Gal 5,6), Jakobus (1,22ff; 2,14ff ) und die Johannesoffenbarung (14,13; 20,12ff; 22,11) unterstreichen. Der Wille des Vaters ergibt sich aus der Heiligen Schrift. Entscheidend ist, dass wir ihn tun – und nicht nur wertschätzen oder diskutieren.12 Dahinter erhebt sich freilich die Frage: Wer kann das vollbringen (vgl. Ps 14,1ff; 53,2ff; Röm 3,9ff )? Ohne einen Weg der Erlösung würde diese Frage in die Ausweglosigkeit führen. Auch Mt 12,46-50 wird auf diese Weise ein Ruf zum Kreuz. Nicht übersehen sollte man die gleichzeitige Ermutigung, die in Mt 12,50 liegt. Hier zeigt Jesus ja doch auf, dass jeder Gläubige sein Bruder wird, jede 10 Maier JO, 250. 11 Hengel-Schwemer, 290f.360ff. 12 Vgl. Lk 11,28; Joh 8,31.51; 14,23; 15,14.

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gläubige Frau seine Schwester, und wir alle in seiner Gemeinde sogar die Position der Mutter einnehmen. Diese geistliche Verwandtschaft ist schon in Ps 22,23 angekündigt und tritt nach der Auferstehung in Kraft (Mt 28,10; 25,40ff; Joh 20,17; Röm 8,29; Hebr 2,11ff ).

IV Zusammenfassung 1. Mt 12,46-50 gibt uns Anteil an einer Situation, in der zwischen Jesus und seiner Familie eine Spannung entstand. Einzelheiten teilt Matthäus nicht mit. Der Vergleich mit Mk 3,20f.31-35 lässt jedoch erkennen, dass seine Verwandten in Nazareth ein Ende seines öffentlichen Wirkens wünschten. 2. Jesus hat diesem Wunsch nicht entsprochen. Er bleibt dem Willen des himmlischen Vaters treu, der ihn bis zur Vollendung seines Dienstes am Kreuz führt. In messianischer Vollmacht erklärt er, dass ihn der Vater in eine größere geistliche Familie hineingestellt hat, der alle angehören, die den Willen des Vaters im Himmel tun. Als Messias eröffnet er damit seinen Jüngern eine ungeahnte Würde. 3. Wohl hat diese geistliche Familie Priorität, weil sie zur Messiasnachfolge gehört (vgl. Mt 10,34ff ). Aber deshalb denkt Jesus nicht daran, das vierte Gebot oder die Gebote der Nächsten- und Familienliebe außer Kraft zu setzen. Sonst würden aus Christen Schwärmer. 4. Man kann sich die Frage ersparen, ob wir Menschen wirklich den Willen Gottes tun. Die biblische Antwort ist klar: Nein, keiner tut ihn. Deshalb sind wir auf die Erlösung am Kreuz angewiesen.

1. Einleitung zu den Gleichnissen, 13,1-3a

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52 Unter dieser Überschrift besprechen wir die Gleichnisreden in Kapitel 13, die neben der Bergpredigt (Kap. 5–7), der Aussendungsrede (Kap. 10), den Gemeinderegeln (Kap. 18) und der Endzeitrede (Kap. 24–25) zu den fünf großen Redekomplexen des Matthäusevangeliums gehören. Mt 13,1-52 zerfällt in folgende Abschnitte, die jeweils für sich behandelt werden: 1) Einleitung zu den Gleichnissen (13,1-3a), 2) Das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld (13,3b-9), 3) Der Grund der Gleichnisse (13,1017), 4) Die Deutung des Gleichnisses vom vierfachen Ackerfeld (13,18-23), 5) Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (13,24-30), 6) Das Gleichnis vom Senfkorn (13,31-32), 7) Das Gleichnis vom Sauerteig (13,33), 8) Der Sinn der Gleichnisse (13,34-35), 9) Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen (13,36-43), 10) Das Doppelgleichnis vom Schatz im Acker und von der Perle (13,44-46), 11) Das Gleichnis vom Fischnetz (13,4750), 12) Das Gleichnis vom Hausvater (13,51-52). Sieben Gleichnisse also, wenn man das Doppelgleichnis 13,44-46 als zwei Gleichnisse rechnet. Dazu zwei Deutungen und zwei Erklärungen zu Grund und Sinn der Gleichnisse nebst der Einleitung zu dem allen, also insgesamt zwölf Teile: Diese Zahlen können kein Zufall sein. Das heißt: Matthäus hat die Einzelteile zu einer Gesamtkonzeption vereinigt. Und er konnte diese Gesamtkonzeption schaffen, weil diese Gleichnisse chronologisch in den Mittelteil des Wirkens Jesu gehören. Sie gehören also einer Zeit an, die einerseits von Auseinandersetzungen und Diskussionen, andererseits durch das Ringen Jesu um sein Volk geprägt war. Hier in Kap. 13 geht es hauptsächlich um den Amha-arez, das „Volk des Landes“. Daher unsere Überschrift.

1. Einleitung zu den Gleichnissen, 13,1-3a I Übersetzung 1 An jenem Tag verließ Jesus das Haus und setzte sich an das Meer. 2 Und es versammelten sich bei ihm große Massen, sodass er in ein Boot stieg und sich dort niedersetzte. Und die ganze Menge stand am Ufer. 3 Und er redete vieles zu ihnen in Gleichnissen und sagte:

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

II Struktur Die Art der Anknüpfung an das Vorausgehende kann verschieden beurteilt werden. Die Worte Ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ [En tē hēmera ekeinē] lassen sich übersetzen „Am gleichen Tag / An demselben Tag“. Dann wären die Geschehnisse von Mt 12,46-50 und 13,1ff auf denselben Tag datiert. Man könnte diese Worte aber auch unbestimmter fassen: „In jenem Zeitraum“,1 nämlich zur Zeit der Gleichnisreden. Vergleiche die Einzelexegese. Die Szenerie wird bewusst am Meer = See Genezareth aufgebaut. Doch geht Jesus später zurück „ins Haus“ (V. 36). Gemeint ist offenbar sein Haus in Kapernaum (Mt 9,1ff ), in dem er wohnte, also das Haus des Petrus (vgl. V. 1). Die Parallelerzählungen in Mk 4,1ff und Lk 8,4ff ergänzen Mt 13,1ff.

III Einzelexegese Dass die ersten Worte in V. 1: Ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ [En tē hēmera ekeinē] verschieden aufgefasst werden, wurde schon erwähnt (unter II.). Vor allem die Einstiegsbemerkungen bei Markus (4,1) und Lukas (8,4) sprechen für eine offenere Interpretation in Mt 13,1. An jenem Tag bedeutet demnach „an dem Tag, an dem Jesus in Gleichnissen sprach“.2 Bei ἐξελθὼν τῆς οἰκίας [exelthōn tēs oikias] ist an das Verlassen des Petrus-Hauses zu denken (V. 36; Mt 9,1ff; Mk 2,1).3 Er setzte sich: Das ist die Haltung des Lehrers (Mt 5,1). An das Meer: wohl in der Nähe von Kapernaum. Jesus hat häufig im Freien gelehrt (Mt 5,1; 8,18ff; 9,27ff; 15,29; 24,3; Lk 6,17ff ). Das Sprechen und Unterrichten im Freien ist sowohl für ihn wie für den Täufer typisch. Der Zustrom, den Jesus findet, ist enorm: Und es versammelten sich bei ihm große Massen (V. 2). Es war offensichtlich nicht so, dass Attacken oder Diskussionen wie diejenigen von 12,22ff die Menschen davon abgehalten hätten, Jesus aufzusuchen. Nein, sie kamen nach wie vor in Massen. Wir erfahren auch nichts davon, dass die Jünger Propaganda für solche Veranstaltungen gemacht hätten. Es genügte, dass Jesus sich an einem bestimmten Platz niederließ, um die Menschen dorthin in Bewegung zu setzen. „Alle Welt läuft ihm nach“, dieser Satz aus Joh 12,19 gilt ganz sicher auch für die in Mt 10–13 beschriebene Zeit. Sodass er in ein Boot stieg und sich dort niedersetzte: 1 Bauer-Aland, 483. 2 So Maier I, 449; Fiedler, 260; Beare, 290. Anders Carson, 300; Zahn, 474. Die traditionellen Bibelübersetzungen bleiben vorsichtig: „An jenem Tag“, so Revidierte Elberfelder Bibel; Neue Jerusalemer Bibel; Einheitsübersetzung. Die neuen tendieren ebenso wie die Lutherbibel zu „An demselben Tag“, so BigS; Gute Nachricht; BasisBibel; LBS. Unmotiviert NGÜ: „später an jenem Tag“. 3 Riesner, 437ff.

1. Einleitung zu den Gleichnissen, 13,1-3a

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Auch das geschah nicht zum ersten Mal (vgl. Mk 3,9; Lk 5,1ff ). Das Wasser des Sees trug und verstärkte den Schall. Noch heute kann man sich an den kleinen Buchten zwischen Kapernaum und der Jordanmündung ein anschauliches Bild von diesen Verhältnissen machen. Das Ufer dort ähnelt öfter einem Amphitheater. Der Anfang von V. 3 stellt die Überschrift für den Abschnitt 13,3b-52 dar. Evtl. steckt in der Formulierung vieles (πολλά [ polla]) eine Andeutung, dass Matthäus noch mehr Gleichnisse kannte, die er nicht in Kap. 13 inkorporierte.4 Klar ist jedoch, dass es im Folgenden eben um Gleichnisse (Meschalim) geht, das Kapitel also thematisch zusammengestellt ist. Weiter sollten wir das αὐτοῖς [autois] (zu ihnen) nicht übersehen. Gemeint sind ja die ὄχλοι [ochloi]. Es handelt sich also um eine gezielte Verkündigung an das Volk des Landes, den Am-ha-arez, und nicht an die Jünger oder die Schriftgelehrten oder die Pharisäer, Sadduzäer usw. Das Reden in Gleichnissen oder „Sprüchen“ hat in Israel eine uralte Tradition (1Kön 5,12; Prov 1,1; Koh 12,9; Sir 47,17). Politiker, Schriftsteller und die Weisen Israels haben sich ihrer bedient, aber auch die Propheten (Num 23,7; Jes 5,1ff; Ez 17,2; 21,5; 24,3). In diese Linie der Weisen und Propheten stellt sich Jesus also bewusst hinein. Heute sagen selbst jüdische Forscher: „Jesus war ein meisterhafter Gleichniserzähler.“5

IV Zusammenfassung 1. Der ganze Vorgang ist ein Beispiel dafür, dass Jesus zu den Menschen kommt (vgl. Mt 9,13; Lk 19,10), ja, dass er sie „sucht“. Will die Kirche ihm entsprechen, dann muss sie die Menschen aufsuchen und darf nicht darauf warten, dass man zu ihr kommt oder sie braucht. Hier ist die Scheidelinie zwischen wahrer und falscher Kirche. 2. Für Jesus haben die „Geringen“, hat das „Volk des Landes“ nicht weniger Bedeutung als die Pharisäer, Chassidim oder Schriftgelehrten. Gerade das „Volk des Landes“ will er gewinnen – nicht populistisch, sondern evangelistisch.

4 Ebenso Carson, 303. 5 Flusser, 220.284.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

2. Das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld, 13,3b-9 I Übersetzung 3 Siehe, der Sämann ging hinaus, um zu säen. 4 Und während1 er säte, fiel einiges auf den Weg,2 und die Vögel kamen und fraßen es auf. 5 Anderes aber fiel auf das Felsige, wo es nicht viel Erde hatte, und ging sofort auf, weil es keinen tiefen Boden hatte. 6 Als aber die Sonne hochstieg, wurde es verbrannt, und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es. 7 Anderes aber fiel auf die Dornen, und die Dornen kamen auf und erstickten es. 8 Anderes aber fiel auf den guten Boden und trug Frucht, einiges hundertfach, einiges sechzigfach, einiges dreißigfach. 9 Wer Ohren hat, der höre!

II Struktur Obwohl dieses Gleichnis zu den bekanntesten, ja zu den weltberühmten zählt, hat es überraschenderweise keinen bestimmten Namen. Nennt der eine es das „Gleichnis vom viererlei Acker“,3 so sagt der andere, dieser Name sei „irreführend“ und nennt es „das Gleichnis vom unverzagten Sämann“.4 Auch die modernen Übersetzungen sind durchaus verschiedener Ansicht. Die Gute Nachricht überschreibt es „Das Gleichnis von der Aussaat“, die BasisBibel „Das Gleichnis vom Säen auf verschiedenen Böden“. Carson hat einfach „The Parable of the soils“,5 France und Tasker haben „The Parable of the sower“,6 so auch Schniewind7 und Hengel-Schwemer8. Fiedler kombiniert „Die Parabel vom Sämann und seiner Saat“ usw. Das Schwanken in der Bezeichnung deutet auf ein tiefer liegendes Problem: Was ist die Hauptsache in diesem Gleichnis? Der Sämann? Die verschiedenen Böden? Die verschiedenen Resultate? Will man eine Entscheidung treffen, dann muss man die Deutung des Gleichnisses in V. 18-23 berücksichtigen. Zwar lässt sich die Entscheidung erst bei der Einzelexegese begründen. Doch sei hier vorweggenommen, dass wir die Deutung als jesuanisch betrachten und deshalb die verschiedenen Böden und Verhältnisse für das Wesentliche halten. Deshalb unsere Überschrift 1 2 3 4 5 6 7 8

BDR § 404,2. Strack-Billerbeck I 655: „Den Weg entlang“. Flusser, 63. Ähnlich Aland Syn, 174; Luz II 298. Jeremias Gleichnisse, 149. Carson, 304. France, 216; Tasker, 137. Schniewind, 165. Hengel-Schwemer, 415.

2. Das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld, 13,3b-9

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„Das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld“. Von „Böden“ allein sollte man übrigens nicht sprechen. Denn auch die Verhältnisse bilden wichtige Elemente des Gleichnisses (Vögel, Sonne, Art des Säens). Der vierfache Vorgang legt es nahe, hier die „Vier“ als Symbolzahl aufzufassen, die zugleich eine „mnemotechnische Funktion“ erfüllt.9 Das Gleichnis besitzt eine durchsichtige Gliederung: 1) Einleitung (V. 3b), 2) Vierfacher Saatvorgang (V. 4-8), 3) Aufmerksamkeitsruf (V. 9).

III Einzelexegese Die Schlichtheit der Einleitung (V. 3b) lässt sich nicht übertreffen: Siehe, der Sämann10 ging hinaus, um zu säen. Der Sämann (ὁ σπείρων [ho speirōn]) ist derjenige, von dem Jesus jetzt erzählen will. Mit „Bauer“11 sollte man ὁ σπείρων [ho speirōn] besser nicht übersetzen. Denn hier geht es nicht um eine Berufsbezeichnung, sondern um „jemand“,12 der eben etwas Bestimmtes tut. Er ging hinaus aufs Feld. Nur der Zweck seines Handelns ist wichtig: um zu säen.13 In der Bibel sät der Mensch (Gal 6,7), aber auch Gott14 (Ps 104,13ff; Jes 55,10f ). Von vornherein ist also das Gleichnis offen für ein Handeln Gottes, genauer noch: des Messias. Auch in der frühjüdischen Literatur spielt das Bild vom Sämann eine Rolle (4Esr 8,40ff; 9,31ff ). Zur technischen Seite des Säens gibt es verschiedene Darstellungen.15 Vorausgesetzt wird im Folgenden, dass das Säen jedenfalls vor dem Einpflügen der Saat in den Boden erfolgt.16 So bringt es auch b Schab 73b zum Ausdruck: Im Israelland ist es so, dass „man nach dem Säen umpflügt“. Viererlei ereignet sich infolge des Säens. Den ersten Vorgang schildert Jesus in V. 4: Und während er säte, fiel einiges auf den Weg, und die Vögel kamen und fraßen es auf. Ulrich Luz hat recht: „vieles ist nicht erwähnt“.17 Waren die Wege im Feld als Trampelpfade nicht zu sehen?18 Oder ist es so: „absichtlich besät er den Weg, … weil er mit eingepflügt werden soll“?19 Für 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Riesner, 394f. Andere Übersetzungsmöglichkeit: „ein Sämann“. So BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ. BigS. Finaler Sinn nach BDR § 400,5. Vgl. G. Quell im Art. σπέρμα usw., ThWNT, VII, 1964, 541ff. Vgl. Luz II 306. Jeremias Gleichnisse, 7f. Luz II 306. Beare, 292. Jeremias Gleichnisse, 8.

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Jesus sind solche Überlegungen unwichtig. Er hält zunächst nur eine Tatsache fest: einiges fiel auf 20 den Weg (ἃ μὲν ἔπεσεν παρὰ τὴν ὁδόν [ha men epesen para tēn hodon]). Die Saatkörner blieben auf der harten Oberfläche liegen und konnten nicht in den Boden eindringen. So wurden sie eine Beute der Vögel: Diese kamen und fraßen sie auf.21 Von W.G. Essame übernahm J. Jeremias22 den Hinweis auf Jubiläen 11,11: „der (böse) Herrscher Mastema schickte Raben und Vögel, damit sie den Samen fräßen, der auf die Erde gesät war … Bevor sie den Samen pflügten, hatten die Raben (ihn) gesammelt von der Oberfläche der Erde.“ Noch mehr sollte man sich an die unheilvolle Bedeutung der Vögel in Gen 40,17 erinnern, die im Traum des Bäckers aus seinem Korbe fraßen. Vergleiche weiter 1Sam 17,44ff; 2Sam 21,10; Ez 39,17; Offb 19,17ff.23 Die Verse 5 und 6 beinhalten den zweiten Vorgang: Anderes aber (ἄλλα δέ [alla de]) fiel auf das Felsige. So etwas kann man sich bei Chorazin, aber auch auf den Anhöhen über Kapernaum und in der Nähe von Nazareth vorstellen. Wahrscheinlich geht Jesus davon aus, dass es sich um ein einziges Grundstück von ziemlicher Größe handelt, auf dem alle diese verschiedenen Böden vertreten sind. Wo es nicht viel Erde hatte: Die aufliegende Ackerkrume war dünn. Und ging sofort auf, weil24 es keinen tiefen Boden hatte: Diese Beobachtung, die wir selbst auf unseren Böden machen, bedarf keiner weiteren Erklärung. Auffallenderweise aber verweilt Jesus länger bei diesem zweiten Vorgang, um relativ ausführlich das Geschick der Saat zu schildern: Als aber die Sonne hochstieg (ἀνατείλαντος [anateilantos]), wurde es verbrannt, und weil25 es keine Wurzel hatte, verdorrte es (V. 6). Ganz anschaulich erleben wir die sengende Sonnenhitze und das rasche Verdorren mit. Der Wasservorrat durch Regen und Tau26 ist rasch aufgezehrt. Wieder ist die Sprache des Jakobus ganz nahe am Matthäusevangelium: ἀνέτειλεν γὰρ ὁ ἥλιος σὺν τῷ καύσωνι καὶ ἐξήρανεν τὸν χόρτον [aneteilen gar ho hēlios syn tō kausōni kai exēranen ton chorton] (Jak 1,11). Die Weisheit Israels hat der Bildwelt Jesu und des Jakobus wieder vorgearbeitet (Sir 40,15), die ihrerseits in 1Petr 1,24f

20 So Jeremias a.a.O. 21 κατέφαγεν [katephagen] hat perfektische Bedeutung (BDR 3 318,5): Sie fraßen auf dem Wege alles weg. 22 In Gleichnisse, 7,3. 23 Luz II 306 minimiert die Geschichte: Nur „an den Wegrand“ fallen Körner. Aber wie stimmt dies mit V. 19 überein? 24 Vgl BDR § 402,1. 25 A.a.O. 26 Vgl. Schniewind, 165.

2. Das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld, 13,3b-9

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ihre Spuren hinterlassen hat. Hinzu tritt die Erfahrung im Jonabuch (4,7ff ), das Jesus ja sehr geliebt hat (Mt 12,39ff, 16,4). Sofort stellt sich hier die Frage: Warum behandelt Jesus gerade diesen zweiten Fall so ausführlich? Auch bei der Deutung in Mt 13,18f verweilt er relativ lange bei ihm. Die Antwort kann nur lauten: Jesus will hier besonders warnen, er sieht „Bedrängnis“ und „Verfolgung“ (θλῖψις [thlipsis], διωγμός [diōgmos], V. 21) in der damaligen Situation als die Hauptgefahren an. Das passt ausgezeichnet in jenen Rahmen von Diskussionen und Auseinandersetzungen, den wir ab Kap. 10 vorgefunden haben. Es ist also eine bestimmte historische Situation, in der Jesus um das „Volk des Landes“ ringt. Beim dritten Vorgang gerät Anderes vom Saatgut auf die Dornen (V. 7: ἐπὶ τὰς ἀκάνθας [epi tas akanthas]). Dornen, „Dornengewächs“, gelten als Unkraut. Öfter werden sie neben den Disteln genannt (Gen 3,18; Jes 5,6; Hebr 6,8). Dornen und Disteln auf dem Acker sind eine Plage, ja mitunter ein Gericht Gottes (Gen 3,18; Hiob 31,40; Jes 5,6; 32,13; Hos 10,8). In Jer 4,3 warnt Gott: „Sät nicht unter die Dornen!“ Wie und wann in Mt 13,7 auf die Dornen gesät wird, bleibt uninteressant. Jesus hält allein die Tatsache fest. Nur so viel ist klar: Beides, die gesäte Frucht und die Dornen, gehen miteinander auf (Lk 8,7). Aber die Dornen als Unkraut entfalten die größere Wachstumskraft, nehmen der Frucht Licht und Bodennahrung und ersticken sie (ἔπνιξαν [epnixan]). Vers 8 ist das Ziel des Gleichnisses. Wieder liegt in der Einfachheit der Sprache eine große Kraft: Anderes aber fiel auf den guten Boden und trug Frucht, einiges hundertfach, einiges sechzigfach, einiges dreißigfach. Was guter Boden ist oder warum, erklärt Jesus nicht. Die Anschauung und die Erfahrung der Hörer genügt. Endlich gibt es die vom Sämann gewünschte Frucht! Nicht das Schnellwachstum von Fall zwei (vgl. Mk 4,8), nicht das Verschwinden von Fall zwei und drei, sondern bleibende, nachhaltige Frucht! Das Griechische drückt dies mit dem durativen Imperfekt ἐδίδου [edidou] aus. Die Angaben hundertfach, sechzigfach, dreißigfach können verschieden gedeutet werden. Entweder besagen sie, wie viele Körner aus einem einzigen Saatkorn hervorgehen und sind dann „im Bereich des Realistischen und Möglichen“.27 Oder sie beziehen sich auf den Gesamtertrag, den das Saatgut hervorbringt, und sind dann „orientalische Redeweise“ mit typischer, nicht wörtlich zu nehmender Steigerung (Hyperbel).28 „Normal“ wäre ein sieben- bis

27 Bösen, 50,36 (so Gnilka); Luz II 307. 28 So Jeremias Gleichnisse, 149f.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

zehnfacher Ertrag.29 Jedenfalls ist die Dreierreihe 100 – 60 – 30 ein exemplarischer, leicht zu merkender Lehrstil.30 Übrigens teilt Jesus hier nicht in „Leistungsklassen“ ein. Das dreißigfach ist ihm so lieb wie das hundertfach (vgl. Lk 8,15). Wer Ohren hat, der höre (V. 9): In der biblischen Sprache enthält das richtige Hören auch ein „Nachdenken“. Was ist im Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld zu hören? 1) Sämann und Saat sind in allen Fällen gleich gut und in allen Fällen dieselben. An ihnen liegt die Unterschiedlichkeit der Resultate nicht. 2) Die Unterschiedlichkeit liegt an der Verschiedenheit der Böden. Was dies auf menschlicher Ebene bedeutet, wird in V. 18-23 entfaltet. 3) Das, was Jesus will, ist ein guter Boden mit viel Frucht, die bleibt. Darin liegt der Ruf an die Hörer, ein solch guter Boden zu werden. Zum Aufmerksamkeitsruf Wer Ohren hat … vgl. Mt 11,15; 13,43; Mk 4,9.23; Lk 14,35; Offb 2,7.11.17.29; 3,6.13.22. Er ist typisch jesuanisch.31

IV Zusammenfassung 1. Meisterhaft im Duktus, kraftvoll in seiner Einfachheit erzählt Jesus dieses Gleichnis. 2. Es zielt darauf, dass die Hörer ein guter Boden sind, der Frucht bringt. Die Überschrift „vom vierfachen Ackerfeld“ ist deshalb gerechtfertigt. Dagegen lässt sich die These von J. Jeremias, in V. 8 sei „ein anderer Zeitpunkt“ ins Auge gefasst als in V. 4-7,32 nicht halten. Das Gleichnis deutet keine solche Zeitverschiedenheit an, sondern konzentriert sich auf das, was aus der Saat wird. 3. Infolgedessen ist es auch konsequent, dass vom Sämann nach V. 3b nicht mehr die Rede ist. Zwar bleibt er im ganzen Gleichnis die handelnde Person und eine unersetzliche Figur. Aber im Fokus steht das, was mit seiner Saat geschieht. 4. Weder beim Sämann noch bei seiner Saat gibt es Mängel. Alle Defizite werden durch die Beschaffenheit der Böden verursacht bzw. durch die Verhältnisse, die auf die Saat einwirken. 5. Unübersehbar liegt eine besondere Gefahr dort, wo der tiefe Boden fehlt (V. 5-6). Die Deutung wird hier von Bedrängnis und Verfolgung sprechen (V. 21). Die Hervorhebung der Verfolgung stimmt mit den Seligpreisungen (Mt 5,10ff ) und mit der Aussendungsrede (Mt 10,17ff.28ff.34ff ) überein. 29 30 31 32

Bösen, 50; Jeremias a.a.O. Riesner, 394f. Riesner, 371ff. Jeremias Gleichnisse, 149.

3. Der Grund der Gleichnisse, 13,10-17

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3. Der Grund der Gleichnisse, 13,10-17 I Übersetzung 10 Und die Jünger kamen und sagten zu ihm: Warum redest du in Gleichnissen zu ihnen? 11 Er aber gab ihnen zur Antwort: weil es euch gegeben ist, die Gleichnisse des Reiches Gottes zu erkennen, es jenen aber nicht gegeben ist. 12 Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, sodass er Überfluss hat. Dem aber, der nicht hat, wird auch das, was er hat, genommen werden. 13 Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen, und hören und doch nicht hören und auch nicht verstehen. 14 Und an ihnen erfüllt sich die Prophezeiung Jesajas, die besagt: Mit den Ohren werdet ihr hören und doch nicht verstehen, und sehenden Auges werdet ihr sehen und doch nicht erkennen. 15 Denn das Herz dieses Volkes ist verfettet, und mit den Ohren sind sie schwerhörig und ihre Augen haben sie geschlossen, damit sie ja nicht mit den Augen erkennen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, und ich sie heilen würde. 16 Aber glücklich zu preisen sind eure Augen, weil sie sehen, und eure Ohren, weil sie hören! 17 Denn amen, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte wollten sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört.

II Struktur Die formale Gliederung ist wieder sehr durchsichtig: 1) Einleitung (V. 10), 2) Erklärung Jesu (V. 11-15), 3) Seligpreisung mit Begründung (V. 16-17). Es liegt auch zutage, dass Jesu Erklärung von Jesaja ausgeht (Jes 6,9f ). In zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Kapiteln begegnen wir also an zentraler Stelle dem Propheten Jesaja, einmal vom Evangelisten zitiert (Mt 12,17ff ), einmal von Jesus selbst (Mt 13,14f ). Erneut wird uns deutlich, welch wichtige Rolle gerade Jesaja für Matthäus und das Urchristentum spielt (vgl. Mt 1,22f; 2,23; 4,14ff; 11,5). Betont ist in Mt 13,10-17 der Charakter des Jüngergesprächs. Es wird der Volksevangelisation in V. 1-9 profiliert gegenübergestellt. Inhaltlich jedoch wird sich Mt 13,10-17 als eine sehr schwierige Passage des Evangeliums erweisen. Immerhin helfen uns Markus und Lukas als Seitenreferenten ein Stück weiter: Auch sie berichten von diesem Jüngergespräch und auch sie bringen es unmittelbar anschließend an das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld (Mk 4,10-12; Lk 8,9-10).

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

III Einzelexegese Die Jünger, die nach V. 10 zu Jesus kamen, können die zwölf Apostel, aber auch eine größere Gruppe gewesen sein. Mk 4,10 spricht für Letzteres. Wo geschah das? Matthäus macht dazu in V. 13-17 keine Angaben. Aber aus V. 1 und 36 kann man schließen, dass es im „Hause“ war, also im Petrus-Haus in Kapernaum. Demnach müssen wir uns die ganzen Geschehnisse von Mt 13,1‑52 in Kapernaum und seiner Umgebung denken. Die Jünger sagten: Warum redest du in Gleichnissen (ἐν παραβολαῖς [en parabolais]) zu ihnen? In Mk 4,10 und Lk 8,9 ist der Fragehorizont viel breiter. Dort geht es ganz allgemein um Sinn und Bedeutung der Gleichnisse. Offenbar hat Matthäus aus diesem Fragehorizont nur eine wichtige Frage herausgegriffen, nämlich die nach dem Grund,1 weshalb Jesus ausgerechnet in Gleichnissen zu ihnen = zum Volk spricht. Nach Joh 10,6; 16,25.29 kann – aber nicht muss! – ein Gleichnis auch etwas Verhüllendes an sich haben.2 3 Haben wir es aber mit dem hebr. ‫שׁל‬ ָ ‫[ ָמ‬māschāl] zu tun, dann muss das Gleichnis keineswegs etwas mysteriös Verhülltes bedeuten. Allerdings fordert es mehr Nachdenken als eine direkte Rede. Die alten Rabbinen betrachteten Gleichnisse als eine gute Hilfe, um die Tora besser zu verstehen. So heißt es im Blick auf Salomos Meschalim: „Anfangs war die Tora wie ein Korb ohne Henkel, bis Salomo kam und ihr Henkel machte.“4 Die Frage Warum in Gleichnissen? ist also nicht gleichbedeutend mit der Frage: „Warum verbirgst du die Wahrheit deiner Worte?“ Sie zielt vielmehr auf die Absicht, die Jesus im Umgang mit dem Volk in dieser geschichtlichen Situation verfolgt. Ferner sollte man zurückhaltend bleiben mit der Annahme, Jesus habe vorher nicht in Gleichnissen geredet. Denn in der Bergpredigt und in der Aussendungsrede gibt es schon eine ganze Reihe von Gleichnissen (Mt 6,22f.26.28ff; 7,15ff.24ff; 10,16.24). Jetzt, in Mt 13, findet sich jedoch 1) eine Konzentration auf Gleichnisse und 2) eine Konzentration auf das „Volk des Landes“ (vgl. Mt 13,34). Jesu Antwort in V. 11f stellt die Adressaten seines Gleichnisses, die ὄχλοι [ochloi] (V. 2), den αὐτοί [autoi], seinen Jüngern profiliert gegenüber: weil (ὅτι [hoti]) es euch (ὑμῖν [hymin]) gegeben ist, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu erkennen, es jenen (ἐκείνοις [ekeinois]) aber nicht gegeben ist. Die Rolle der Massen und den Grund, weshalb Jesus sie mit Gleichnissen anredet, kann man also nur im Gegenüber zu den Jüngern erkennen. Aber 1 2 3 4

BDR § 299,3. F. Hauck, Art. παροιμία, ThWNT, V, 1954, 854. Hauck a.a.O., 853; F. Hauck, Art. παραβολή, a.a.O., 744. b Er 21b. Vgl. Flusser, 163; Hauck Art. παραβολή a.a.O., 746f.

3. Der Grund der Gleichnisse, 13,10-17

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nun divergieren die Ausleger völlig. Rudolf Bultmann spricht bei Mk 4,10-12 und Mt 13,11ff als von „ganz sekundären Verse(n)“.5 Inhaltlich erblicken viele Ausleger in diesen Versen eine Prädestinationsaussage zusammen mit einer Verstockungstheorie. Zahn hat schon klassisch formuliert: „weil es den Jüngern, aber nicht dem Volk … von Gott … verliehen ist, die Geheimnisse des Himmelreichs zu erkennen“, dienen die Parabeln der Verhüllung. Hier „vollzieht sich“ eine „Strafvergeltung“ am Volk.6 Schniewind erklärt sogar, es sei Jesu „eigene Absicht“, dass sein „Wort abgewiesen wird“ – deshalb die Gleichnisse.7 Wenn aber der Lauf des Evangeliums eines gezeigt hat, so ist es dies: Jesus ruft ganz Israel in seine Nachfolge. Gerade für das „Volk des Landes“ hat er ein Herz wie kein anderer (vgl. Mt 4,23ff; 8,16ff; 9,35ff; 10,6; 11,5.28ff ). Es ist sein dezidierter Wille, dass nichts von seiner Verkündigung „verborgen“ (κεκαλυμμένον [kekalymmenon]) oder „geheim“ (κρυπτόν [krypton]) bleiben soll (Mt 10,62f ). Ihm zu unterstellen, es sei seine eigene Absicht, dass er zurückgewiesen wird, heißt das ganze Evangelium auf den Kopf zu stellen. Speziell die Funktion der „Gleichnisse“ ist es, „dem Menschen das Verständnis der Lehre (zu) erleichtern“.8 Sie sind „so schlicht und klar, daß ein Kind es verstehen kann“.9 Was soll am Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld Kryptisches sein? Sehen wir also noch einmal hin: ὅτι [hoti] in V. 11 verstehen wir nicht als Recitativum, sondern mit Zahn, Carson und Luz als kausales weil.10 Denn erstens sind εἶπειν [eipen] und ὅτι [hoti] durch αὐτοῖς [autois] voneinander getrennt, und zweitens entspricht ὅτι [hoti] direkt dem διὰ τί [dia ti] in V. 10. Euch hat es Gott gegeben (Passivum divinum):11 ein Akt göttlicher Gnade und Souveränität (vgl. Mt 11,25; 1Kor 2,10). Euch: Das sind die Jünger, die nicht von Jesus weggegangen sind (vgl. Joh 6,60ff ), trotz des Beelzebul-Vorwurfs (Mt 12,24), die bei ihm ausgeharrt haben in seinen Anfechtungen (Lk 22,28). Jetzt verstehen wir auch V. 12: Denn wer da hat, dem wird Gott geben (Passivum divinum), sodass er Überfluss hat. Wer da hat (ὅστις ἔχει [hostis echei]), das sind eben die Jünger, die Jesu Ruf annahmen

5 Bultmann Gesch, 215.351,1. Vgl. Riesner, 435. 6 Zahn, 475f. 7 Schniewind, 166. In derselben Linie noch Beare, 293 (Jesu Lehre „only for the initiated“); Schlatter, 209; Wilckens I/4, 70; Carson, 307; Hauck a.a.O.,753.854 („absichtsvoll in unverständlicher Gleichnisrede“). 8 Flusser, 163. 9 Jeremias Gleichnisse, 9. 10 Zahn, 475; Luz II 299. Ebenso BDR § 456,2; Carson, 307. 11 BDR § 130,2.3.

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und seine Nachfolge praktizieren.12 Dem aber, der nicht hat, wird Gott auch das, was er hat, nehmen: Das sind die wieder von Jesus Abgefallenen (Joh 6,60ff ), das sind diejenigen, die nur „eine kleine Zeit (πρὸς ὥραν [ pros hōran], vgl. πρόσκαιρος [ proskairos] Mt 13,21) fröhlich sein wollten in seinem Licht“ (Joh 5,35).13 Es gab eine Zeit, in der sie etwas hatten (ἔχει [echei]). Aber es führte nicht zum Ziel. Beachten wir allerdings: Es sind nur Futursätze! Jesus mahnt. Aber die Dinge sind insofern noch offen, als jeder, der nicht hat, immer noch zu einem Habenden werden kann und soll! Zurück zu den Jüngern, die in der Nachfolge stehen: Es ist ein Ineinander von menschlicher Entscheidung und göttlichem Willen, das die Theologie niemals ganz ausloten kann (vgl. Phil 2,12f ). Beides hat sein volles Recht. Darum gilt: Gerade euch, den praktizierenden Jüngern, hat Gott es gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu erkennen. Deshalb brauchen sie keine Gleichnisse! Sie erhalten direkte Anleitung (Joh 16,25ff ). Jenen aber, den Draußenstehenden, hat es Gott nicht gegeben. Deshalb brauchen sie die Gleichnisse als Hilfe zum Verstehen. Dabei sind die Geheimnisse14 (τὰ μυστήρια [ta mysteria]) des Reiches Gottes in einem umfassenden Sinne zu verstehen: Sie umfassen seinen Anbruch gerade jetzt (Lk 4,21), die Einladung und die Gebote zur Nachfolge (Mt 5–7) und das Verständnis Jesu als des Messias und Gottessohnes (Lk 17,21; Mt 12,15f ).15 Fazit aus V. 11 und 12: Die Draußenstehenden haben noch kein Verständnis des Reiches Gottes, weil ein solches Verständnis nur denen geschenkt wird, die sich zur Nachfolge Jesu entschlossen haben. Deshalb will ihnen Jesus zu einem solchen Verständnis durch seine Gleichnisse helfen. Es ist also gerade das Gegenteil dessen der Fall, was Günter Bornkamm formuliert hat: Sie sollten „nicht … zur Einsicht führen, sondern … ihnen die Erkenntnis vor(zu)enthalten und ihre Verstockung vollständig (zu) machen“.16 Dafür hat Petrus die Verkündigung Jesu vollkommen richtig erfasst, wenn er sagt: Gott „hat das

12 Vgl. Prov 9,9; 11,24f; Mt 25,28f; Mk 4,25; Lk 8,18; 19,26. Es handelt sich um sprichwörtliche Redewendungen, vgl. Bultmann Gesch, 84.106ff.112; Strack-Billerbeck I 660. 13 Eine Deutung auf die „Juden“ generell, wie sie Zahn, 476, vornimmt, trifft die Aussage Jesu nicht. Wie wir Carson, 307. Im Rabbinischen registrieren Strack-Billerbeck I 661f nur entfernte Parallelen. 14 Vgl. zu τὰ μυστήρια [ta mystēria] Dan 2,25ff.47; Sap Sal 2,22. 15 Vgl. G. Bornkamm, Art. μυστήριον usw., ThWNT, IV, 1942, 823ff. Inhaltlich also der Heilsplan Gottes. „Geheimnis“ hat hier nichts mit „Geheimlehre“ zu tun. Vgl. Luz II 312; Strack-Billerbeck I 659f. 16 Bornkamm a.a.O., 823.

3. Der Grund der Gleichnisse, 13,10-17

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Wort dem Volk Israel gesandt und Frieden verkündigt“ (Apg 10,36). Andernfalls wäre ein Wort wie Mt 23,37 unmöglich gewesen.17 In V. 13 verdeutlicht Jesus noch einmal die in V. 11f gegebene Antwort: Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen, und hören und doch nicht hören und auch nicht verstehen. Deshalb (διὰ τοῦτο [dia touto]) ist direkt bezogen auf warum (διὰ τι [dia ti]) in V. 10. Grund der Gleichnisse ist das mangelnde Verstehen des Volkes. Die Gleichnisse (παραβολαί [ parabolai]) sollen ihm helfen, doch noch zu diesem Verstehen vorzudringen. Wieder zeichnet Jesus exakt die Situation des ihm zuhörenden Volkes. Einerseits sehen sie und hören sie. Dass sie sich am Seeufer versammeln (V. 2), geduldig zuhören und ihn in Massen begleiten (Mt 4,23ff; 5,1; 8,1; 9,35ff; 11,7ff; 12,23; 14,13ff usw.), ist viel wert. Diese Sehenden und Hörenden sind keine Gleichgültigen, geschweige denn Atheisten! Andererseits sehen sie doch nicht und hören sie doch nicht und fassen auch nicht das notwendige Verständnis samt dessen praktischen Konsequenzen. Diesen Sachverhalt hat Schlatter gut beschrieben. Ihm zufolge ist es „der tiefe, unausdenkbare Schmerz“ im Leben Jesu, „aus dem … die Gleichnisse geboren sind“.18 Es ist der Schmerz über das von Gott geliebte Volk des Landes, das trotz der Worte und Wunder Jesu in seiner Mehrheit noch nicht in die entschlossene Nachfolge eintreten und seinen Messias voll Hingabe empfangen will. Deshalb sind sie „Habende“ (V. 12), die in Gefahr stehen, dass ihnen Gott auch das, was sie haben, in seinem Gericht nehmen wird. Jesu Klage in V. 13 ist durch und durch prophetisch, vgl. Mose in Dtn 29,3; Jesaja in Jes 6,9ff; Jeremia in Jer 5,2119 und Hesekiel in Ez 12,2. In V. 14 und 15 nimmt Jesus explizit auf Jesaja Bezug: Und an ihnen erfüllt sich die Prophezeiung Jesajas, die besagt: Mit den Ohren werdet ihr hören und doch nicht verstehen, und sehenden Auges werdet ihr sehen und doch nicht erkennen. Bemerkenswert an V. 14 ist: 1) Jesus nennt Jesaja mit Namen, 2) er nennt Jes 6,9f eine Prophezeiung (προφητεία [ prophēteia]), nicht etwa einen Verstockungsauftrag, 3) diese Prophezeiung gilt auch seiner eigenen Zeit, also der Zeit Jesu, 4) er sieht sie gerade in seinen Tagen erfüllt (ἀναπληροῦται [anaplēroutai]). Vielleicht hat Zahn doch darin recht, dass ἀναπληροῦσθαι [anaplērousthai] mehr ist als πληροῦσθαι [ plērousthai], das 17 Gegen Zahn; Schniewind; Schlatter; Beare; Wilckens; Carson; Hauck; Bornkamm; Hengel-Schwemer, 471. Siehe vorige Anmerkungen. Ähnlich wie wir Flusser, 242.246.273.281,35. 18 Schlatter, 211. 19 Bemerkenswert ist, dass Strack-Billerbeck I 662 zu Mt 13,13 nur entfernte Parallelen bei den Rabbinen entdecken können.

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heißt die vollständige Erfüllung anzeigt.20 Demnach rechnet Jesus mit einer Mehrfach-Erfüllung von Prophetie, einmal zur Zeit Jesajas, sodann in der Zeit des Messias. Und 5) kommt hinzu, dass – was Zahn völlig irritierte21 – V. 14 wörtlich mit Jes 6,9 LXX übereinstimmt. Zahn meint, dass dieser „Text vom Vf des griech. Mtev herrührt“.22 Man wird hier nicht spekulieren, sondern auf die nächstliegende Erklärung zugehen: Matthäus hat es so gehört, dass er das Jesuswort in dieser Form zitieren kann. Sein Sinn erschließt sich erst in V. 15: Denn das Herz dieses Volkes ist verfettet, und mit den Ohren sind sie schwerhörig und ihre Augen haben sie geschlossen, damit sie ja nicht mit den Augen erkennen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, und ich sie heilen würde. Bis auf das αὐτῶν [autōn] hinter ὠσίν [ōsin] stimmt Mt 13,15 wieder wörtlich mit der LXX (Jes 6,10) überein. Es ergibt keinen Sinn, den hebräischen Text für die Auslegung von Mt 13,15 heranzuziehen. Denn Matthäus will gezielt den griechischen Text von Jes 6,10 in Erinnerung rufen und ist sich sicher, dass auch Jesus bei seiner Erklärung im Jüngerkreis gerade auf einen Text in dieser Form zurückgriff. Jes 6,10 LXX transportiert also exakt das, was hier gesagt sein soll. Was ist es? Zuerst eine Zustandsbeschreibung23 der Hörerschaft. ἐπαχύνθη [epachynthē] heißt „ist dick/fett geworden“ oder „ist unempfindlich geworden“.24 Das Herz als Sitz des Verstehens macht ein Verstehen nicht mehr möglich. Vielleicht spielt τοῦ λαοῦ τούτου [tou laou toutou] direkt auf die „Massen“ von V. 2 an. Die Hörer haben Ohren, sind aber schwerhörig, sodass nur wenig eindringt. ἐκάμμυσαν [ekammysan] (Jes 6,10 LXX; Mt 13,15; Apg 28,27) sagt unzweifelhaft ein Handeln der Hörer aus, die ihre Augen geschlossen haben und sich dem Wirken Jesu verschließen. Sodann drückt Mt 13,15 die Folgen dieses Zustands und dieses Handelns aus: sie erkennen nicht mit den Augen und hören nicht mit den Ohren und verstehen nicht mit dem Herzen. Alle diese Folgen sind von den Hörern so gewollt: Das μήποτε [mēpote] ist final, sie verhalten sich also so, dass sie weder sehen noch hören noch verstehen. Deshalb verhindern sie am Ende auch, dass sie sich bekehren, und25 ich [gemeint ist nach der LXX Gott der Vater] sie heilen würde. Die so beschriebene Zuhörerschaft steht einerseits Jesus mit viel Sympathie gegenüber. 20 21 22 23

Zahn, 478. Zahn, 476. Zahn, 477. Vgl. dazu France, 222; Flusser, 275f. K.L. und M.A. Schmidt, Art. παχύνω usw., ThWNT, V, 1954, 1027: „als Ereignis mitgeteilt“. 24 Bauer-Aland, 1287. 25 Konsekutives καί [kai], BDR § 442,8.

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Andererseits ist sie (immer noch) nicht bereit, seinen Ruf zum Glauben und zur Nachfolge anzunehmen. Deshalb fehlt ihr das wahre, umfassende Verständnis. Und die Gleichnisse sollen jetzt einem solchen Verständnis Bahn brechen. Aber Jesus deutet gleichzeitig durch den Gebrauch der Jesajastelle an, dass er am Schluss (Prophezeiung!) mit seiner Ablehnung rechnet. Das Ringen der Exegeten betrifft erneut die Alternative Schuld oder Verstockung. Wer von der Verstockung ausgeht, muss zugleich von der Prädestination ausgehen und kann am Ende die These nicht vermeiden, dass Gott das Volk Israel durch die Sendung Jesu verstockt habe. Dabei beruft man sich dann auf den hebräischen Text von Jes 6,9f.26 Auch die Gleichnisse müssen dann in den Dienst der Verstockungstheorie treten. Wer von der Schuld der Hörer ausgeht, der muss auch von der vorhandenen Möglichkeit der Bekehrung und der „Heilung“ des bisherigen Zustandes ausgehen. Die Gleichnisse sind in diesem Falle ein „anschaulicher Leitfaden“, missionarisch angewandt, um das Verständnis „leichter zu machen“.27 Wir können angesichts 1) der bewusst gewählten Textform von Jes 6,9f, 2) des im ganzen Evangelium dokumentierten Werbens Jesu um das Volk des Landes (Mt 5,1ff; 7,24ff; 9,13.35ff; 10,5ff; 11,6.28ff; 13,34f; 23,37) nur von dieser zweiten Möglichkeit ausgehen.28 Dass wir damit in die Nähe des Targum geraten, ist nichts Negatives. Jes 6,10 wird vom Targum so formuliert: „… ob sie nicht vielleicht … mit ihren Augen sehen und mit ihren Ohren hören und mit ihrem Herzen aufmerken und umkehren möchten, dass ihnen vergeben werden könnte.“29 Die Seligpreisung der Verse 16 und 17 wird auch als „Jubelruf “ bezeichnet, dem beispielsweise David Flusser eine gründliche Untersuchung gewidmet hat:30 Aber glücklich zu preisen (μακάριοι [makarioi]) sind eure Augen, weil sie sehen, und eure Ohren, weil sie hören! (V. 16). Lukas schließt diese Seligpreisung unmittelbar an den Lobpreis von 10,21f an. Aber auch bei Matthäus sind Seligpreisung (13,16f ) und Lobpreis (11,25ff ) nicht allzu weit voneinander entfernt. Wir können also davon ausgehen, dass Matthäus und Lukas im Zeitraum der Seligpreisung übereinstimmen, auch wenn wir den exakten Zeitpunkt nicht mehr angeben können. David Flusser ist allerdings davon überzeugt, dass Lobpreis, die Aussage über die Geheimnisse des Gottesreiches und Seligpreisung zusammengehören und auf den geschichtlichen Jesus 26 27 28 29 30

Ob mit Recht, ist fraglich. Flusser, 278f. Wie Flusser, 235ff.275ff; Luz II 314. Nach Strack-Billerbeck I 663. Flusser, 265ff.

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zurückzuführen sind.31 Er hält also eine Kombination aus Matthäus und Lukas für richtig. Zur Seligpreisung (glücklich zu preisen) vgl. die Erklärung bei Mt 5,3ff. Strack-Billerbeck haben dazu eine Reihe formaler Parallelen aus frühjüdischer und rabbinischer Überlieferung zusammengetragen, u.a. Ps Sal 4,23; 5,16; 6,1; 17,44; b Chag 14b; b Joma 8,9; 87a; b Er 53b.32 Eure Augen und eure Ohren (zweimal betontes ὑμῶν [hymōn]!) bilden den Gegensatz zu den Augen und Ohren von V. 13-15, die eben das nicht sehen und nicht hören, was sie sehen und hören sollten. Eure bezieht sich auf die Jünger, die den Ruf in die Nachfolge annahmen und die durch Gottes Offenbarung immer fester gegründet und immer reicher an Erkenntnis werden (vgl. Mt 16,17). Vers 17 begründet die Seligpreisung: Denn amen, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte wollten sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört. Gerechte (δίκαιοι [dikaioi])33 sind wohl allgemein die Frommen des Alten Bundes (vgl. Mt 1,19; 23,29).34 Sie wollten ist eine fast zu schwere Übersetzung für ἐπεθύμησαν [epethymēsan] = „sie hatten das starke Verlangen“. Was wollten sie sehen und hören? Die endzeitliche Erlösung, den Messias und Heilsbringer. Eine ganze Reihe von Stellen drückt dieses Verlangen aus, man denke etwa an Joh 8,56: „Abraham … frohlockte, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich“ (vgl. Jes 52,15; Hebr 11,13; 1Petr 1,10ff; 1Kor 2,9 sowie Ps Sal 17,44; 18,6). Flusser hat recht, wenn er dazu bemerkt: „Die Annahme ist also nicht so abwegig, dass auch Jesus von Propheten und von Engeln gesprochen hat, denen es verwehrt war, das zu sehen und zu hören, was sie so begehrt haben, nämlich das gegenwärtige Heil.“35 Die Jünger aber werden Augen- und Ohren-Zeugen des Höhepunkts der Heilsgeschichte!36 Diese Augen- und Ohrenzeugenschaft bildet dann in der Folgezeit eine zuverlässige Grundlage der frühen christlichen Geschichtsüberlieferung.37

31 Flusser, 276ff. 32 Strack-Billerbeck I 663f. Vgl. noch Prov 20,12. 33 Lk 10,24 hat „Könige“. Man sollte aber nicht fragen, welche Version älter ist, da im Urchristentum beide Versionen nebeneinander tradiert werden konnten. 34 Luz II 315; Schniewind, 167. 35 Flusser, 270. Dort weitere Hinweise auf biblische und rabbinische Literatur. Vgl. auch Strack-Billerbeck I 664. Von da aus fällt auch Licht auf Stellen wie Eph 1,9f; 3,5ff; Kol 1,26f. Vgl. noch Theißen-Merz, 65f; Beare, 296. 36 Vgl. das bekräftigende „amen“. 37 Vgl. Theißen-Merz, 65f.235.

4. Die Deutung des Gleichnisses vom vierfachen Ackerfeld, 13,18-23

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IV Zusammenfassung 1. Mt 13,10-17 belegt, dass Jesus im Gespräch mit dem Jüngerkreis anders sprach und sein Wirken noch deutlicher und eindringlicher erklärte, als „draußen“ vor dem „Volk“. 2. Die Historizität von Mt 13,10-17 wird weitgehend bejaht,38 wenn auch aus verschiedenen Gründen. 3. Hier tritt sein Anspruch, der Messias und Erlöser zu sein, besonders deutlich zutage.39 4. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung beinhaltet Mt 13,10-17 keine Verstockungs- oder Prädestinationslehre, sondern die Hoffnung und die Absicht Jesu, mithilfe der Gleichnisse dem bisher unverständigen Volk das richtige Verständnis seiner Person und seines messianischen Wirkens zu vermitteln. 5. Jesus selbst hält fest, dass seinen Jüngern die Würde zukommt, Augenund Ohrenzeugen der längst ersehnten Heilszeit zu sein. Von da aus führt eine direkte Linie zu Lk 1,1-4 und Gal 2,2.

4. Die Deutung des Gleichnisses vom vierfachen Ackerfeld, 13,18-23 I Übersetzung 18 Ihr nun sollt das Gleichnis vom Sämann hören! 19 Bei jedem, der das Wort vom Reich hört und nicht versteht, kommt der Böse und raubt, was in seinem Herzen gesät ist: Das ist der, bei dem auf den Weg gesät ist. 20 Der aber, bei dem auf das Felsige gesät ist, das ist der, der das Wort hört und es sofort mit Freude aufnimmt. 21 Er hat aber keine Wurzel in sich, sondern ist nur auf Zeit dabei. Wenn aber Drangsal oder Verfolgung um des Wortes willen eintreten, dann fällt er sofort ab. 22 Der aber, bei dem auf die Dornen gesät ist, das ist der, der das Wort hört, und die Sorge der Welt und der Betrug des Reichtums erstickt das Wort, und er bringt keine Frucht. 23 Der aber, bei dem auf den guten Boden gesät ist, das ist der, der das Wort hört und versteht, der dann Frucht trägt und bringt, einmal hundertfach, einmal sechzigfach, einmal dreißigfach.

38 So bei Bultmann Gesch, 135; Theißen-Merz, 235; Riesner, 300.431f; Flusser, 270ff. 39 Schniewind, 167.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

II Struktur Mt 13,18-23 entspricht grundsätzlich der Struktur von V. 3b-9. Der Aufmerksamkeitsruf entfällt jetzt im Jüngerkreis.

III Einzelexegese Ohne Überleitung von V. 17 zu V. 18 lesen wir an der Spitze von V. 18 das betonte Ὑμεῖς οὖν ἀκούσατε [Hymeis oun akousate].1 Die Jünger hatten ja im Matthäusbericht gar nicht nach der Deutung des Ackerfeld-Gleichnisses gefragt. Ähnlich ist es in Lk 8,11. In Mk 4,13 kann allerdings eine Jüngerfrage angedeutet sein. Ihr nun markiert einen doppelten Gegensatz: erstens den der Jünger zu den Draußenstehenden, zweitens den der jetzt erfolgenden Deutung zum Fehlen einer Deutung außerhalb des Jüngerkreises. Ihr sollt hören! ist ein Privileg. Zwar heißt es das Gleichnis (τὴν παραβολήν [tēn parabolēn]) vom Sämann. Doch ist von Anfang an klar, dass es um seine Deutung geht. Jesus nennt es zwar das Gleichnis vom Sämann (ἡ παραβολὴ τοῦ σπείραντος [hē parabolē tou speirantos]), aber seine Erklärung gilt dem vierfachen Ackerfeld, sodass unsere Überschrift zu Recht besteht.2 Nun erklärt Jesus den ersten Vorgang (V. 19): Bei jedem, der das Wort vom Reich hört und nicht versteht, kommt der Böse und raubt, was in seinem Herzen gesät ist: Das ist der, bei dem auf den Weg gesät ist. Vorweg überraschen zwei Beobachtungen. Die Erste: Der Sämann wird überhaupt nicht erklärt. So selbstverständlich ist es, dass nur Jesus damit gemeint sein kann. Jesus, der Sämann, der „Weingärtner“ (Lk 13,7), der „Weinstock“ (Joh 15,1): Die Heimat Galiläa liefert ihm zahlreiche Bilder, die sein Wesen und seine Aufgabe darstellen. Die zweite Beobachtung ist: Selbstverständlich meint der Same das Wort, das Jesus ausstreut. Auch das wird nicht näher erklärt. Folgen wir nun V. 19: Bei jedem, der hört (παντὸς ἀκούοντος [ pantos akouontos]) bezeichnet denjenigen, der nur hört im Sinne von Jak 1,22ff. Der nicht versteht (μὴ συνιέντος [mē synientos]) muss auf dem Hintergrund von V. 11.13.14.15 gesehen werden. Es handelt sich also um Menschen, die nicht „mit dem Herzen verstehen“ (V. 15), sondern nur äußerlich hören, ohne das Wort an sich heranzulassen. Das Wort vom Reich (ὁ λόγος τῆς βασιλείας [hē logos tēs basileias]) umfasst die gesamte Verkündigung Jesu (Mt 4,17.23; 9,35). Bei dem, der sich innerlich versperrt und deshalb nicht versteht, 1 Bei Tasker, 138, als Frage verstanden. 2 France, 218; Carson, 312.

4. Die Deutung des Gleichnisses vom vierfachen Ackerfeld, 13,18-23

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kommt der Böse und raubt, was in seinem Herzen gesät ist: der Böse (ὁ πονηρός [ho ponēros]) ist der Teufel (vgl. Mt 6,13; 13,38).3 Der Teufel also ist es, der in V. 4 unter dem Bild der Vögel erwähnt wurde. Fazit: Hören allein genügt nicht! Sind wir nur eine Kirche des Hörens, so sind wir noch keine Kirche im Sinne Christi. Jakobus hat das in Jak 1,22ff genial erfasst. Grammatisch schwierig sind die Schlussworte von V. 19: οὗτός ἐστιν ὁ παρὰ τὴν ὁδὸν σπαρείς [houtos estin ho para tēn hodon spareis], wörtlich: „das ist der auf den Weg Gesäte“.4 Zu ergänzen ist wohl ὁ σπόρος [ho sporos] = „der Same“ (vgl. Lk 8,11). Aber für unser Verständnis bleibt eine doppelte Schwierigkeit:5 Erstens bedeutet οὗτος [houtos] nach Mt 13,19 zunächst einmal „jeder Hörende“ (παντὸς ἀκούοντος [ pantos akouontos]), zweitens wird ja nicht ein Mensch gesät, sondern das Wort. Wir müssen also im Deutschen eine andere Wiedergabe wählen, um den Sachverhalt auszudrücken. Moderne Übersetzungen verfahren relativ frei: „ist es wie mit der Saat, die auf den Weg fällt“ (NGÜ), „Für sie steht das, was beim Säen auf den Weg fällt“ (BasisBibel), „Bei ihnen ist es wie bei dem Samen, der auf den Weg fällt“ (Gute Nachricht). Andere ziehen eine neutrische Fassung vor. „Das ist es, was auf den Weg gesät wurde.“6 Unsere Übersetzung ist der Lutherbibel nahe.7 Bei allen Übersetzungsvarianten steht aber eines fest: Jesus spricht hier von dem Menschen, der allein äußerlich zuhört, aber das Wort nicht innerlich aufnimmt. Nun kommt die Erklärung des zweiten Vorgangs: Der aber, bei dem auf das Felsige gesät ist, das ist der, der das Wort hört und es sofort mit Freude aufnimmt (V. 20). Auf den ersten Blick liegt hier der größte Erfolg vor. Denn dem hören folgt hier ein inneres aufnehmen (λαμβάνων [lambanōn]). Mehr noch: Dieses aufnehmen geschieht mit Freude. μετὰ χαρᾶς [meta charas] enthält Zustimmung, den Beginn echter Jüngerpraxis, ja sogar die eschatologische Dimension der Erlösungsfreude. Und dies alles sofort, das heißt „mit zupackender Entschlossenheit“. Er hat aber keine Wurzel in sich, sondern ist nur auf Zeit dabei. Wenn aber Drangsal oder Verfolgung um des Wortes willen eintreten, dann fällt er sofort ab (V. 21): Wir bemerkten schon, dass Jesus bei diesem zweiten Vorgang besonders lange verweilt. Das Bild von der Wurzel kann er direkt aus der eigenen Erfahrung genommen haben. Möglicherweise war er aber auch durch das AT inspiriert, etwa Prov 12,12: „Die Wurzel der Gerechten bleibt beständig“ (vgl. Prov 12,3; Ps 1,3; 3 4 5 6 7

Jeremias Gleichnisse, 80. Übersetzung bei Fiedler, 263; Luz II 300; Schniewind, 168; Sand, 281; BigS. Vgl. Zahn, 489f; France, 218f; Carson, 312f. Beare, 296. Ebenso Revidierte Elberfelder Bibel; Schlatter, 213.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

Jer 17,8; Jes 40,24), oder durch die Weisheitslehrer (Sir 40,15; Sap Sal 4,3ff ).8 Das griech. πρόσκαιρος [ proskairos] bedeutet „vorübergehend“, „eine Zeitlang existierend“,9 noch wortgetreuer nur auf Zeit (vgl. 2Kor 4,18; Hebr 11,25). Was Jesus hier sagt, hat sich ungezählte Male in der Kirchengeschichte wiederholt. Schlatter bemerkt mit Recht: „Jesus bereitet die Jünger darauf vor, daß sie bei ihrer Arbeit nicht nur an denen, die es verwerfen, sondern auch in der Gemeinde selbst manche Enttäuschung erleben werden.“10 Für solche Enttäuschungen darf man nicht eine mangelnde Qualität des Wortes verantwortlich machen.11 Drangsal (θλῖψις [thlipsis]) und Verfolgung sind normal für Jesu Gemeinde (Joh 15,18ff; Apg 14,22; Mt 5,10ff; 10,23ff; 24,9.21). Ihre Botschaft ruft Widerstand hervor (um des Wortes willen). Aber wer dann nicht in Jesus und seinem Wort verwurzelt ist, fällt ab (σκανδαλίζεται [skandalizetai])12 und hört mit dem Glauben und der Nachfolge auf. Das beigesetzte Wort sofort markiert die Leichtigkeit, mit der hier der Wechsel vom Unglauben zum Glauben und umgekehrt – vom Glauben zum Unglauben – vollzogen wird. Was für eine Wohltat ist dagegen ein „festes Herz“ (Hebr 13,9)! Die relative Ausführlichkeit der Verse 20 und 21 deutet darauf hin, dass Jesus mit solch schneller Begeisterung und solch schnellem Abfall gerade bei seinen Zeitgenossen gerechnet hat und davor warnen wollte (vgl. Mt 8,19f ). Mit dem dritten Vorgang hat es V. 22 zu tun: Der aber, bei dem auf die Dornen gesät ist, das ist der, der das Wort hört, und die Sorge der Welt und der Betrug des Reichtums erstickt das Wort, und er bringt keine Frucht. Hier geschieht etwas Tragisches. Der Betreffende hört, und zwar richtig: Er hört ja das Wort. Dieses Wort, dargestellt unter dem Bild des Samens (V. 7), hat dieselbe Qualität und dieselbe Kraft wie in allen anderen Fällen. Man sieht das daran, dass das Wort zunächst „wächst“ (vgl. Mt 13,26ff; Mk 4,19.27; Apg 12,24; 19,20). Aber nun kommt der Umschlag: Auch die Dornen wachsen und ersticken13 am Ende die Saat (V. 7). Jesus deutet die Dornen auf die Sorge der Welt (μέριμνα τοῦ αἰῶνος [merimna tou aiōnos]) und den Betrug des Reichtums (ἀπάτη τοῦ πλούτου [apatē tou ploutou]). Ersteres, die Sorge,14 plagt vor allem die Armen, das Zweite bezieht sich auf die Reichen. Arme und Reiche sind also gleich gefährdet! Inte8 9 10 11 12 13 14

Luz II 316. Vgl. Strack-Billerbeck I 666. Bauer-Aland, 1432. Schlatter, 214. Schlatter a.a.O. Bauer-Aland, 1504. Vgl. H. Bietenhard, Art. πνίγω usw., ThWNT, VI, 1959, 454. „Sorge der Welt“ = „dieser Welt“, die es nur mit den Bedürfnissen der jetzigen, vergehenden Welt zu tun hat. Vgl. Mt 6,25ff.

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ressanterweise haben sowohl Matthäus als auch Markus nicht nur das Stichwort Reichtum gemeinsam, sondern auch die Formulierung Betrug des Reichtums. Dadurch wird klargestellt, dass nicht der Reichtum an sich das Problem ist, sondern dass er dort zu einem Problem wird, wo man ihn vergötzt („Mammon“) und wo er den betreffenden Menschen um die rettende Gottesgemeinschaft betrügt.15 Wer zulässt, dass das heilsame Wort Gottes (vgl. 2Tim 1,13; Tit 2,8.11) von Sorge und Reichtum überwuchert wird, bringt am Ende keine Frucht. Hier wird erschreckend klar, dass es sich weder um Schicksalsschläge noch um Vorherbestimmung (Prädestination) handelt, sondern um die Verantwortung des Menschen, der seine Entscheidungen treffen muss. Nur so lassen sich die Gleichnisse als eindringlicher Aufruf (V. 9!) verstehen. Der vierte Vorgang stellt das einzige positive Beispiel dar: Der aber, bei dem auf den guten Boden gesät ist, das ist der, der das Wort hört und versteht, der dann Frucht trägt und bringt, einmal hundertfach, einmal sechzigfach, einmal dreißigfach (V. 23). Bei aller Unterschiedlichkeit hat sich eines in sämtlichen Beispielen durchgehalten, nämlich die Redewendung der das Wort hört (ὁ τὸν λόγον ἀκούων [ho ton logon akouōn], V. 19.20.22.23). Jedes Mal also geht es um die Hörer des Wortes (vgl. Jak 1,22)! Im vierten Beispiel gleichen sie dem guten Boden (καλὴ γῆ [kalē gē]).16 Woran erkennt man den guten Boden? Am Ergebnis! Weder das rasche Wachstum noch einzelne Züge der Qualität sind hier entscheidend, sondern allein die Tatsache, dass er Frucht trägt (καρποφορεῖ [karpophorei]) und sie in verschiedenem Maße bringt (ποιεῖ [ poiei]). Jesus unterscheidet nicht einmal die Ergebnisse hundertfach, sechzigfach, dreißigfach anhand verschiedener Bodenqualitäten: Alles ist guter Boden! Mit Erstaunen registriert Luz, dass „der Evangelist nicht an Zwischentönen interessiert“ ist.17 In der Tat: Jesus freut sich an jeder Frucht = jedem Werk (vgl. Mt 5,16.19f; 7,21ff; 12,33ff.50). Aber das fruchtlose Hören, ein ewiges „Ich bin ein GottSucher“ ohne ein Finden, wird von ihm verurteilt. Beachten wir noch einige Einzelheiten: Das δή [dē] vor καρποφορεῖ [karpophorei] haben wir mit dann wiedergegeben (Bauer-Aland, 356: „der denn auch Frucht trägt“). Blass-Debrunner-Rehkopf übersetzen „welcher eben“ (§ 451,10). Es geht um die sozusagen „selbstverständliche“ Folge des Hörens und Verstehens. Wie in V. 13ff steht in V. 23 das Hendiadyoin hören und verstehen für ein äußeres und inneres Aufnehmen des Wortes, das zu einer 15 Vgl. Mt 6,24; 19,23; Lk 12,16ff.22ff; 21,34; 1Tim 6,9; Jak 5,1ff. 16 Vgl. Bauer-Aland, 315. 17 Luz II 317.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

Praxis diesem Wort gemäß führt. In Mt 5,17ff hieß das Hendiadyoin „lehren und tun“, was sachlich eine nahe Parallele zu hören und verstehen bildet. Über die Fruchtfolge hundertfach, sechzigfach, dreißigfach vgl. die Erklärung bei V. 8. Es bleibt jedoch eine schwere Frage: War Jesus ein Skeptiker, weil er neben drei negative Beispiele nur ein einziges positives stellt? Will er sagen, dass nur ein Viertel der Hörer das Evangelium aufnimmt? Klar ist, dass er seine Jünger auf häufige Abweisung vorbereitet.18 Aber das hat er auch schon in Mt 10,17ff getan. Wichtiger ist noch, dass er selbst damit rechnet, von einer Mehrheit seines Volkes abgewiesen zu werden. Hier hat er prophetisch recht gehabt. Aber es wäre ein grobes Missverständnis, wenn man aus Mt 13,18ff eine Art Mathematik machen wollte, der zufolge drei Viertel der Hörer verloren gehen. Nein, Jesus warnt hier jeden Einzelnen19 vor einem falschen Hören. Zugleich äußert er einen erstaunlichen Optimismus, dass es viele – vielleicht momentan unerkannte – Hörer gibt, die einmal Frucht bringen werden. Wie weit entfernt ist er von dem christlichen Klagegeschrei, dass niemand unsere Botschaft hören will!

IV Zusammenfassung 1. Jesus deutet hier das in Mt 13,3-9 erzählte Gleichnis. Wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er seine Gleichnisse auch gedeutet hat. Das wäre selbst dann der Fall, wenn es keine rabbinischen Parallelen gäbe. Aber nun gibt es solche Parallelen tatsächlich, wenn auch selten.20 Die Bedenken, die Jeremias dagegen vorträgt,21 betreffen nur die Formulierung, aber nicht das Grundsätzliche, und Bultmanns apodiktischer Satz: „Diese Deutungen sind zweifellos sekundär“,22 schießt weit über das Ziel hinaus.23 2. Das Gleichnis zielt auf die Annahme der Botschaft Jesu durch seine Hörer. Es ruft sie dazu auf, guter Boden zu werden, das heißt, Nachfolger Jesu zu werden und dadurch Frucht zu bringen. Jeder prüfe sich:24 Welchem Ackerfeld gleiche ich? Bin ich guter Boden? Dabei geht Jesus von der Verantwortung der Hörer aus (Wer Ohren hat, der höre!, V. 9). Niemand kann sich

18 Vgl. wieder Schlatter a.a.O. 19 Luz II 316 hat recht: Der Singular οὗτος [houtos] deutet darauf hin, dass es um den einzelnen Menschen geht. 20 Strack-Billerbeck I 664f; Bultmann Gesch, 202; P. Abot V. 15. 21 Jeremias Gleichnisse, 75ff. 22 Bultmann a.a.O. Ihm folgt z.B. Beare, 299ff; Fiedler, 293. 23 Wie wir Carson, 314f. 24 France, 220.

5. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, 13,24-30

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auf Schicksal, Veranlagung oder Prädestination berufen (ebenso Mt 3,8; Sir 15,11ff ). Nicht zu vergessen ist, dass Jesus hier um das ganze Volk wirbt. 3. Der Unterschied liegt also nicht am Sämann, an der Art des Säens oder an der ungleichen Qualität des Samens. Er liegt allein in den Hörern. 4. Die Verteilung auf drei negative und ein positives Beispiel darf nicht dazu führen, den Misserfolg für „das Normale“ zu erklären25 oder von vornherein mit 75 Prozent Misserfolg für die christliche Predigt zu rechnen. Nein, Jesus richtet hier eine Warnung an alle, weil er will, dass alle „guter Boden“ werden. 5. Jesus selbst hat unglaubliche Hoffnung und Zuversicht in seine Botschaft gesetzt (vgl. Mt 13,31-35), wie übrigens auch Jesaja, ja Gott selbst (Jes 55,10ff ). Jesus war kein Skeptiker. Aber zugleich rechnete er sehr nüchtern damit, dass die gegenwärtige Generation ihn in ihrer Mehrheit ablehnen würde und er deshalb ans Kreuz käme. Von daher beantwortet sich auch die öfter gestellte Frage,26 wie er mit seinen „Misserfolgen“ fertigwurde: Er vertraute der Führung des Vaters, wie sie sich aus der Heiligen Schrift und der Leitung des Heiligen Geistes ergab. Der Liedvers bzw. das Gebet von Benjamin Schmolck (1734) trifft das im Gleichnis Gemeinte recht gut: „Mache mich zum guten Lande, wenn dein Samkorn auf mich fällt. Gib mir Licht in dem Verstande und, was mir wird vorgestellt, präge du im Herzen ein, laß es mir zur Frucht gedeihn.“27

5. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, 13,24-30 I Übersetzung 24 Er legte ihnen noch ein anderes Gleichnis vor, das lautete: Mit dem Reich Gottes verhält es sich wie mit einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. 25 Während die Leute aber schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut dazu mitten unter den Weizen und machte sich davon. 26 Als aber die Saat aufspross und Frucht ansetzte, da erschien auch das Unkraut. 27 Aber die Knechte des Hausherrn kamen zu ihm und sagten: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er nun das Unkraut? 28 Er aber sagte zu ihnen: Ein Feind 25 Gegen Schniewind, 166. 26 Vgl. Beare, 301f; Hengel-Schwemer, 470. 27 EG 166,4.

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hat das getan. Die Knechte aber sagen zu ihm: Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten? 29 Er aber sagt: Nein, damit ihr nicht beim Ausjäten des Unkrauts zugleich mit ihm den Weizen ausreißt. 30 Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte! Und in der Erntezeit werde ich dann den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit es verbrannt wird. Den Weizen aber sammelt in meine Scheune!

II Struktur Nach einer Einleitung durch den Evangelisten (V. 24a) nennt Jesus zuerst den Hauptakteur des Gleichnisses: Wieder ist es ein Sämann (ein Mensch, der Samen säte, V. 24b). Man sieht, wie multifunktional solche Bilder eingesetzt werden konnten. Aber nicht mehr der unterschiedliche Erfolg der Aussaat (Mt 13,9ff.18ff ) steht im Mittelpunkt, sondern der Antagonismus zwischen dem Menschen und seinem Feind. Der Zielpunkt liegt also ganz woanders als in V. 9ff und V. 18ff. Doch neben dem genannten Antagonismus besitzt das Gleichnis einen zweiten Gipfel, nämlich das Gespräch zwischen dem Herrn und seinen Knechten. Dieses Gespräch nimmt sogar die größere Hälfte ein (V. 27-30). Es wird fokussiert auf die Entscheidung des Herrn über die Dauer des Bösen (V. 29f ). Mt 13,24-30 gehört zum Sondergut des Matthäus, von Hengel-Schwemer als „wertvoll“ klassifiziert.1

III Einzelexegese Die Formulierung ein anderes Gleichnis (V. 24) lässt es offen, wie viele Gleichnisse Jesus schon zuvor erzählt hat. Sie bedeutet also nicht „ein zweites Gleichnis“. Das griech. παρέθηκεν [ parethēken] heißt er legte vor (wie z.B. eine Speise) oder „er trug lehrend vor“. Man sollte es nicht mit einem einfachen „erzählen“ übersetzen.2 Denn παρέθηκεν [ parethēken] enthält die beiden Elemente des Angebots und der Lehraussage.3 Ihnen meint nicht nur die Jünger, sondern die ganze Volksmenge der Verse 2 und 3b.4

1 Hengel-Schwemer, 235. 2 Gegen Gute Nachricht; BasisBibel; NGÜ. 3 Vgl. Ex 19,7; 21,1; Dtn 4,8.44. Riesner, 369, rechnet mit einem „bewußten Übergabeakt“ in der Lehrpraxis Jesu. 4 Klostermann, 120.

5. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, 13,24-30

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In V. 24 gibt Jesus ein ganz bestimmtes Thema an: Es geht um das Reich Gottes, wörtlich „Reich der Himmel“. Es handelt sich um jenes Reich Gottes, das nach Mt 4,17 nahe herbeigekommen ist und das er zusammen mit den Aposteln verkündigt (Mt 4,23; 9,35; 10,7). Um es den Hörern noch besser zu erklären, benutzt er den folgenden Vergleich: Mit dem Reich Gottes verhält es sich (ὡμοιώθη [hōmoiōthē])5 wie mit … Vergleichspunkt ist ein Mensch, der guten Samen auf seinen Acker säte (V. 24). Halten wir fest, dass sich Gott und Mensch (ἄνθρωπος [anthrōpos]) aufgrund der Ebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26f ) vergleichen lassen. Halten wir ferner fest: Der Same ist gut, weil es um das gute Wort Gottes geht, und fällt auf den Acker, der dem Sämann gehört: auf seinen Acker. Dass Begriffe wie Saat, Acker, Landmann schon im AT und Rabbinat ganz ähnlich verwendet werden, ist oben schon dargelegt. Während die Leute aber schliefen (V. 23): Der Schlaf ist hier nichts Negatives, sondern verdient und der Landwirtschaft angemessen (vgl. Mk 4,27; Jak 5,7).6 Jesus drückt damit aus, dass es Nacht- und Schlafenszeit war, in der der Feind ungesehen blieb.7 Woher kam sein Feind?8 Darüber wird ebenso wenig etwas gesagt wie über den Grund der Feindschaft. Das Gleichnis hat eine archaische Kürze. Nur auf das Geschehen, mit dem Jesus das Reich Gottes vergleicht, fällt helles Licht: Dieser Feind säte Unkraut mitten unter den Weizen und machte sich (ungesehen) davon. Was sonst in der Natur der Dinge liegt, das Unkraut unter dem Weizen, wird hier bewusst herbeigeführt, um die Ernte zu verderben. Beim Unkraut, griech. ζιζάνια [zizania], handelt es sich nach allgemeiner Ansicht um den „Taumellolch“ (Lolium temulentum). „Er gehört zur Familie der Gräser und ähnelt einem weizenähnlichen Gras, in dessen Körnern ein giftiger Pilz lebt, und wächst ausschließlich in Getreidefeldern des ganzen Mittleren Ostens. Körner davon wurden in einem 4000 Jahre alten Grab in Ägypten gefunden.“9 Er wird ca. 70 cm hoch. Da ähnliche Vorkommnisse wie das in Mt 13,25 geschilderte auch aus dem neuzeitlichen Palästina berichtet werden, könnte Jesus nach J. Jeremias sogar „an ein konkretes Ereignis anknüpfen“.10 BDR § 333,6 = ὅμοιός ἐστιν [homoios estin]; Bauer-Aland, 1150. Zahn, 492. Klostermann, 121. ὁ ἐχθρός [ho echthros] als determinierte Erzählfigur oder als Semitismus = „ein Feind“ (so Jeremias Gleichnisse, 222). Vgl. Klostermann a.a.O. 9 Zohary, 161. Dort auch eine Abbildung. 10 Jeremias Gleichnisse, 222; ebenso France, 225. Anders Schniewind, 169. Die Einlassung von Luz II 324 ist nur am Schreibtisch verständlich. 5 6 7 8

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Als aber die Saat aufspross und Frucht ansetzte, da erschien auch das Unkraut (V. 26): Im Stadium der Ährenbildung kann man Weizen und Lolch besser voneinander unterscheiden. Die Knechte des Hausherrn entdecken den Schaden jetzt (V. 27) und kamen zu ihm und sagten: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er nun das Unkraut? Der Hausherr, οἰκοδεσπότης [oikodespotēs], ist der Grundherr, der Grundeigentümer und Chef des Betriebes.11 Der Akzent liegt 12 auf der zweiten Frage. Da Unkraut überall auftauchen kann, müssen die Knechte von der Menge und der Planmäßigkeit seines Auftauchens überrascht sein.13 Guter Same (καλὸν σπέρμα [kalon sperma]) und Unkraut werden hier als absolute Gegensätze wahrgenommen. Der Hausherr aber sagte zu ihnen: Ein Feind hat das getan (V. 28). ἐχθρὸς ἄνθρωπος [echthros anthrōpos] entspricht wohl einem inimicus quidam.14 Klostermann staunte einst über „die apodiktische Antwort des Herrn“ und fragte: „woher weiß er es?“15 Noch erstaunlicher ist, dass im Gleichnis keinerlei Erklärung dieses Feindes zu finden ist. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass Jesus hier nicht erklären wollte, wer oder was der Feind ist, sondern die Geduld des Hausherrn ins Zentrum rückte. Zum Herrn aber gehört es ganz selbstverständlich, dass er weiß, woher das Unkraut kommt. Die Knechte aber sagen zu ihm: Willst du also (οὖν [oun]), dass wir hingehen und es ausjäten? (V. 28). Das zweimalige οὖν [oun] in V. 27 und 28 („nun“, „also“, „folglich“) zeigt, dass für die Knechte das logische Denken maßgeblich ist. Wo nur guter Same gesät ist, kann folglich keine solche Menge Unkraut vorhanden sein; wenn es aber da ist, muss man es ausjäten. Das griech. συλλέγειν [syllegein] heißt eigentlich „zusammenlesen“,16 also ausreißen und auf einen Haufen sammeln. Auch im neuzeitlichen Palästina ist es „das Übliche, daß man den Lolch jätet“.17 Allerdings birgt ein solches ausjäten das Risiko in sich, dass man zugleich den Weizen mit ausreißt, weil sich die Wurzeln von Lolch und Weizen ineinander verschlingen.18 Schien den Knechten die Gefahr, dass auch etwas vom Weizen verloren ging, geringer als die andere Gefahr, dass der gesamte Acker verderbt wurde, wenn man den Lolch stehen ließ? Kein leichtes Abwägen! Der Herr muss entscheiden. 11 12 13 14 15 16 17 18

Vgl. Strack-Billerbeck I 667: ‫[ ַבַּעל ַה ַבּי ִת‬baʿal habbajit]; Bösen, 192. So richtig Klostermann, 121. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 222. Klostermann a.a.O.; BDR § 301,5. Klostermann, 120. Ebenso Luz II 324. Bauer-Aland, 1550. Jeremias a.a.O. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 223.

5. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, 13,24-30

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Der Hausherr sagt ein klares Nein (οὔ [ou])!, V. 29. Für ihn entscheidend bleibt der Gesichtspunkt, wie man möglichst viel vom Weizen retten kann. Um es ganz zugespitzt zu sagen: Die Knechte opfern lieber den Weizen, der Hausherr lieber die Unkrautfreiheit des Ackers. Der Hausherr fasst seine Entscheidung in V. 30 zusammen: Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte! Und in der Erntezeit werde ich dann den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit es verbrannt wird. Den Weizen aber sammelt in meine Scheune! Beides also soll und wird wachsen, der gute Weizen und das böse Unkraut. Von hier an wird das Gleichnis immer durchsichtiger. Ernte ist ein eschatologischer Begriff und bezeichnet das Gericht (vgl. Mk 4,29; Offb 14,15). Vor der Ernte dürfen die Knechte nicht eingreifen (ἄφετε [aphete]). Ob die Schnitter zu den Knechten gehören oder aus zusätzlichen Lohnarbeitern bestehen,19 muss zunächst offenbleiben. Das binden des Unkrauts in Bündel soll im „waldarmen Palästina … Feuerungsmaterial“20 liefern. Der letzte Gedanke des Hausherrn – und das ist typisch für ihn – gilt dem Weizen. Er sieht voraus, dass er trotz aller Anschläge des Feindes so viel Weizen bekommt, dass er eine Scheune braucht (vgl. Mt 3,12; Lk 12,18). So endet das Gleichnis nicht mit einer Klage des Hausherrn, sondern mit seinem zuversichtlichen Ausblick.

IV Zusammenfassung 1. Den genaueren Sinn des Gleichnisses Mt 13,24-30 können wir erst bei Mt 13,36-43 erörtern. 2. Schon jetzt lässt sich aber feststellen, dass es „durchgehend der zeitgenössischen Wirklichkeit“ entspricht.21 Auch dies ist einer der Gründe, weshalb man unser Gleichnis zuversichtlich auf Jesus selbst zurückführen kann.22 3. Ferner sei jetzt schon darauf hingewiesen, dass die altchristlichen Ausleger in Mt 13,24-30 eine Mahnung zur Einigkeit der Kirche erblickten.23

19 20 21 22 23

So Klostermann a.a.O; Jeremias Gleichnisse, 223; Bösen, 192. Jeremias a.a.O. Bösen, 191. Luz II 325 entdeckt freilich „unwahrscheinliche Züge“. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 19; Flusser, 41.56; Schniewind, 169. So Augustinus (Texte KV IV, 30ff ); Chrysostomus (Texte KV III, 367).

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

6. Das Gleichnis vom Senfkorn, 13,31-32 I Übersetzung 31 Er legte ihnen noch ein anderes Gleichnis vor, das lautete: Mit dem Reich Gottes verhält es sich wie mit einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte. 32 Es ist zwar kleiner als alle Samenkörner, wenn es aber wächst, ist es größer als die anderen Gartengewächse und wird sogar zum Baum, sodass die Vögel unter dem Himmel kommen und in seinen Zweigen nisten.

II Struktur Das Gleichnis ist klein. Aber die Versanfänge in V. 31 und 33 (Ἄλλην παραβολήν [Allēn parabolēn]) sichern, dass es als Einheit für sich genommen sein will. Mit den Gleichnissen vom vierfachen Ackerfeld und vom Unkraut unter dem Weizen teilt unser Gleichnis die Bildwelt aus der Landwirtschaft. Man sieht erneut, wie stark Jesus durch das Leben und die Arbeit in seiner Heimat geprägt war.1 Zur Erklärung des Gleichnisses genügt aber diese Erkenntnis noch nicht. Vielmehr tritt die Bildwelt des AT hinzu: so im Bild einer Pflanzung für das Gottesvolk oder von den Vögeln, die in einem Baum nisten (Jes 5,1ff; Ez 17,22ff; 31,1ff; Dan 4,7ff ). Mt 13,31f stellt nicht wie das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen ein Sondergut dar, sondern besitzt in Mk 4,30ff; Lk 13,18f synoptische Parallelen. Der Zusammenhang Lk 13,18-21 legt die Vermutung nahe, dass die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig schon früh gemeinsam erzählt wurden, ja schon in der historischen Situation Jesu eng zusammengehörten.2

III Einzelexegese Noch immer spricht Jesus zur Menge (V. 31 ihnen). Die ersten fünf Worte von V. 31 stimmen mit dem Anfang von V. 24 überein, vgl. die Erklärung dort. Jetzt wird das Reich Gottes (ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [hē basileia tōn ouranōn]) mit der Pflanzung und dem Aufwachsen eines Senfkorns verglichen.

1 Vgl. Jeremias Gleichnisse, 146. 2 Anders Jeremias Gleichnisse, 145. Wie wir Riesner, 401; Carson, 318.

6. Das Gleichnis vom Senfkorn, 13,31-32

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Das Senfkorn, griech. κόκκος σινάπεως3 [kokkos sinapeōs], gilt „nach volkstüml. Anschauung als das kleinste Samenkorn“.4 Nach Zohary haben wir es mit der Brassica nigra zu tun, aus der der schwarze Senf gewonnen wurde.5 Manchen Angaben zufolge kann die Pflanze „eine Höhe bis zu 5m erreichen“.6 Der Same dagegen misst nur 1 mm.7 Der Hauptstängel „ist im oberen Teil reich verzweigt“.8 In der Schilderung Jesu nimmt ein Mensch (ἄνθρωπος [anthrōpos]) ein solches Senfkorn und sät es auf seinen Acker. Weitere Tätigkeiten oder Details aus seinem Handeln werden im Unterschied zu V. 3ff und V. 24ff nicht berichtet. Schon dadurch kommt zum Ausdruck, dass der Skopus von Mt 13,31f woanders liegt. Vers 32 konzentriert sich ganz auf die Geschichte des Senfkorns: „Es ist zwar kleiner als alle Samenkörner, wenn es aber wächst, ist es größer als die anderen Gartengewächse.“ λάχανον [lachanon] ist das essbare Gartengewächs, das Gemüse9 (vgl. Lk 11,42; Röm 14,2). Zur Größe vgl. die Beobachtung von Zohary: „Da sie (= die Senfpflanze) in der Vegetation um den See Gennesaret und weiter nördlich auffallend ist, paßt sie in den Zusammenhang des Gleichnisses.“10 Andere steht zwar nicht im griech. Text, ist aber sinngemäß zu ergänzen.11 Es wird sogar zum Baum: So wirkt es in seiner Größe.12 Sodass die Vögel unter dem Himmel (τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ [ta peteina tou ouranou]) kommen und in seinen Zweigen nisten: Mit Recht notieren Nestle-Aland28 und Aland Syn bei den Worten τὰ πετεινά [ta peteina] bis αὐτοῦ [autou] ein Kombinationszitat aus Ez 17,23; 31,6; Dan 4,9ff und Ps 103,12 LXX. Denn Jesus überschreitet hier die reine botanische Anschaulichkeit und will offensichtlich, dass seine Hörer sich an die betreffenden Bilder aus dem AT erinnern. Damit sind wir schon bei der Deutung, die hier zu leisten ist, weil in Mt 13 keine gesonderte Deutung erfolgt. Dabei müssen wir uns dessen bewusst sein, dass Jesus vom Senfkorn auch in anderen Zusammenhängen sprechen konnte (Mt 17,20; Lk 17,6). 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Von σίναπι [sinapi] ist das deutsche „Senf “ abgeleitet. Bauer-Aland, 1502. Zohary, 93. Vgl. F.N. Hepper u.a., Artikel Pflanzen, GBL, 3, 1180. Hepper a.a.O. Zohary a.a.O.: „oft 2 m und höher“. Zohary a.a.O. A.a.O. Bauer-Aland, 950. Zohary a.a.O. BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ; Lutherbibel: „alle“. Skeptisch Jeremias Gleichnisse, 146: „Die Senfstaude ist kein Baum.“

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

Die Deutung muss eine Grundsatzentscheidung treffen: Ist „die allegorische Deutung“ der Gleichnisse sekundär von der Urkirche in die Jesusüberlieferung eingetragen worden, wie vor allem Joachim Jeremias erklärte?13 Oder bringen die Gleichnisse von Anfang an „einen bestimmten, wesentlichen Aspekt der Gottesherrschaft metaphorisch zur Sprache“, wie es HengelSchwemer formulierten?14 Und behält dann David Flusser recht, wenn er sagt, man werde „kaum behaupten können“, dass „die Gleichnisse Jesu“ erst „nachträglich in den Evangelien allegorisiert“ worden seien?15 Dass jeder Maschal eine Deutung verlangte, lässt sich allerdings nicht bestreiten. Eine Gleichnisverkündigung Jesu ohne geistliche Deutung, und damit eben auch allegorische Deutung, wäre abstrus. So müssen wir in Entsprechung zu den biblischen Kontexten und ohne uns einer Selbstzensur zu unterwerfen, das von Jesus Gemeinte zu erfassen versuchen. Der Mensch, der den Samen in Gestalt des Senfkorns säte, ist wie in V. 3.18.24 Jesus (V. 37). Der Same = das Senfkorn ist das „Wort“ (V. 19.23) seiner Verkündigung. Weil das possessive sein Acker mehrfach betont ist (V. 24.31), ist offenbar in Entsprechung zu Joh 1,11 sein Eigentum gemeint, was sowohl für Israel (vgl. Mt 10,6) als auch für die Welt zutrifft (vgl. Mt 13,38). Thema Jesu ist hier wie in V. 24 und 33 das Reich Gottes. Es geht also in erster Linie nicht um eine individuelle Deutung16 – obwohl eine solche nicht ausgeschlossen zu werden braucht –, sondern um eine eschatologische und eine Reichsdeutung. In V. 32 wird der Anfang des Reiches mit seiner Vollendung verglichen: winzig klein der Anfang, mächtig und herrlich die Vollendung. Der Baum symbolisiert Macht, Schutz und Herrlichkeit, mit einem Wort: die endzeitliche Erlösung. Die Vögel sind ein Abbild für die Menschen. Es hat wohl doch eine besondere Bedeutung, wenn hier in Anlehnung an das AT von den Vögeln unter dem Himmel die Rede ist. Denn anders als in V. 4.19 symbolisieren sie nicht den Teufel, auch keine Verderbensmacht. Im Gegenteil: Auf ihr Heil zielt die Verkündigung Jesu. Das nisten in seinen Zweigen (κατασκηνοῦν [kataskēnoun]) bedeutet Heimat und ewigen Frieden. Öfter deutet man die Vögel auf die Heiden.17 Vom Kontext her wäre das eher eine einengende Auslegung. Besser entspricht dem Gleichnis eine umfassende

13 14 15 16 17

Jeremias Gleichnisse, 64ff. Hengel-Schwemer, 415. Flusser, 122, vgl. 133.137. Vgl. dazu Luz II 329. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 146.

6. Das Gleichnis vom Senfkorn, 13,31-32

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Auslegung, die Juden und Heiden im Heilsvolk der Endzeit zusammenschließt: „Gentiles as well as Jews will be included.“18 Von da aus öffnet sich eine Reihe von Perspektiven: 1) Jesus ist der Überzeugung, die entscheidende endzeitliche Gestalt, nämlich der Messias, zu sein. 2) Er warnt davor, die geringen Anfänge des Reiches Gottes in seiner Gegenwart zu verachten. Er weiß, dass sein Dienst jetzt demütig und niedrig ist:19 „Er stand als kleiner Mann in Israel mit wenig Jüngern.“20 Er weiß, dass seine Jünger eine armselige Schar bilden, „zu der so viele übel beleumundete Gestalten gehörten“.21 Und doch hat das neue Gottesvolk und der Neue Bund mit ihm angefangen (Mt 9,15ff; Lk 4,21; 17,21)! 3) Jesus wirbt also weiter um das ganze Volk und fordert es auf, in seine Nachfolge zu treten. 4) Er hat einen unglaublich hoffnungsvollen Blick: Die Senfstaude wird größer werden, alles überragen, ein Baum werden und Menschen aller Völker werden sich im Reiche Gottes sammeln.22 Eine „Entwicklung“ wird hier nicht geschildert – darin hat Joachim Jeremias recht.23 Allerdings verhindern die Worte ὅταν δὲ αὐξηθῇ [hotan de auxēthē] auch ein allzu rigoroses Ausschließen jeden Entwicklungsgedankens. Es ist ganz einfach so, dass Jesus hier nicht an einem Entwicklungsprozess interessiert war, sondern Anfang und Vollendung einander gegenüberstellen wollte: Sei es, dass ihm aus der Menge Vorbehalte entgegenschlugen, sei es, dass es im eigenen Jüngerkreis Unsicherheiten gab, sei es, dass ihn Schriftgelehrte angriffen.

IV Zusammenfassung 1. Im Gleichnis vom Senfkorn Mt 13,31-32 zeigt Jesus, dass aus kleinen, oft verachteten Anfängen etwas ganz Großes entsteht, nämlich das Reich Gottes in seiner Vollendung. 2. Diese Kraft liegt im Senfkorn, das ist in seinem messianischen Wort. 3. Die Kirche als Gemeinschaft seiner Nachfolger ist in diesem Reich inbegriffen. Sie wird einmal alle Völker umspannen. Es wäre aber falsch, sich eine Entwicklung vorzustellen, in deren Verlauf die Christen immer mehr zunehmen und die Welt zunehmend christianisiert wird. So dankbar wir auch für die 18 19 20 21 22

Tasker, 139. Schlatter, 220. Schlatter, 219. Jeremias Gleichnisse, 148. Wie man von Mt 13,31f aus die Meinung vertreten kann, Jesus wolle dem Volk das Verstehen unmöglich machen (vgl. 13,10ff ), bleibt ein Rätsel. 23 Jeremias Gleichnisse, 147f.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

Durchdringung vieler Völker mit christlichen Werten sind, so sehr lässt es andererseits unser Gleichnis offen, ob das Evangelium zum Beispiel wie „ein fahrender Platzregen“ (Luther) die Völkerwelt durchwandert, wie oft die Kirche auf Senfkorngröße zurückgeht, wie viele Zäsuren und irdische Zeitalter durchschritten werden. Nur das Ende aller Dinge steht fest: Gottes herrliches Reich.

7. Das Gleichnis vom Sauerteig, 13,33 I Übersetzung 33 Er sagte ihnen noch ein anderes Gleichnis: Mit dem Reich Gottes verhält es sich wie mit einem Sauerteig, den eine Frau nahm und in drei Sea Mehl hineintat, bis es ganz durchsäuert wurde.

II Struktur Die Eingangsworte Ἄλλην παραβολὴν … αὐτοῖς [Allēn parabolēn … autois] teilt Mt 13,33 mit Mt 13,24 und 13,31. Diese Gleichnisse bilden also eine Dreiergruppe. Hier legt sich Riesners Hypothese nahe, dass Matthäus mit dieser Einleitungsformel „auf einen bewußten ‚Übergabeakt‘ von Meschalim“ anspielt.1 Es fällt auf, dass das Bildmaterial aus der Welt der Frau stammt (vgl. Mt 6,28; 24,41). Darin spiegelt sich die hohe Wertschätzung, die Jesus der Frau zukommen ließ. Eine Erklärung wird (ebenso Lk 13,20f ) nicht einmal ansatzweise gegeben. Jesus rechnet also mit einer allgemeinen Verständlichkeit des Gleichnisses.

III Einzelexegese Der entscheidende Bezugspunkt ist hier der Sauerteig, ζύμη [zymē]. Ein erster Überblick lehrt, dass der Sauerteig häufig als Bildwort für eine durchdringende Kraft verwendet wurde (vgl. Mt 16,6ff; Mk 8,15; Lk 12,1; 1Kor 5,6ff; Gal 5,9). Zweitens kann nicht übersehen werden, dass der Sauerteig im jüdischen Festkalender eine erhebliche Rolle spielt, nämlich bei den Mazzot des Passahfestes.2 Ab dem 14. Nisan darf Israel nur noch ungesäuertes Brot (ἄζυμα [azyma]) essen, sieben Tage lang (Ex 12,15f; 13,6ff; Num 28,16ff; Dtn 16,3ff ). Erlaubt sind also nur die sog. Mazzot, „so dass man sieben Tage lang keinen 1 Riesner, 369. 2 Vgl. H. Windisch, Art. ζύμη usw., ThWNT, II, 1935, 904ff.

7. Das Gleichnis vom Sauerteig, 13,33

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Sauerteig finde in euren Häusern“ (Ex 12,19). Die negative Wertung des Sauerteiges haben dann Jesus (Mt 16,6ff parr; Lk 12,1) und Paulus (1Kor 5,6ff; Gal 5,9) aufgenommen. Dieselbe negative Wertung findet sich auch bei den Rabbinen.3 Man vgl. etwa b Ber 17a: Dem Willen Gottes stehen „das Saure im Teig und die Knechtschaft der Regierungen“ entgegen. Der Sauerteig ist hier der böse Trieb im Menschen. Demgegenüber überrascht Jesus seine Hörer dadurch, dass er positiv vom Sauerteig spricht,4 ja sogar das Reich Gottes mit dem Wirken des Sauerteigs vergleicht. Er konfrontiert seine Hörer mit dem Beispiel einer Frau (γυνή [gynē]), die den Sauerteig nahm und in drei Sea Mehl hineintat (ἐνέκρυψεν [enekrypsen]). Das Sea, τὸ σάτον [to saton], hebr. ‫[ ְסָאה‬s̀ ᵉ’āh], der dritte Teil eines Epha, ist ein Hohlmaß und wird teilweise auf 7,3 Liter,5 teilweise ca. 12 Liter6 berechnet.7 Jesus nimmt also mit drei Sea sehr bewusst eine hohe Menge Mehl an.8 Viel kleiner ist der Sauerteig. Wie gering seine Menge ist, tritt im Griechischen noch mehr hervor, weil ἐνέκρυψεν [enekrypsen] wörtlich „sie versteckte“ bedeutet.9 Dennoch schafft es die kleine Menge Sauerteig, dass das Mehl10 am Ende ganz durchsäuert wurde. Was besagt das Gleichnis? Hans Windisch zufolge ist es „eine Illustration zu dem Erfahrungssatz: kleine Ursachen, große Wirkungen“.11 Unleugbar ist ein solcher Gedanke in Mt 13,33 enthalten. Er verbindet ja auch die beiden Gleichnisse vom Senfkorn und Sauerteig. Und dennoch erfasst die Definition von Windisch eine wesentliche Seite der Sache nicht: nämlich die durchdringende Kraft, die durch den Sauerteig symbolisiert wird. Voll Zuversicht spricht Jesus von seinem Wort und seinem Wirken, das am Ende das herrliche Gottesreich in seiner gesamten Fülle herbeiführen wird (ganz durchsäuert!). Seine Kraft – weil es die göttliche Kraft des Messias ist – setzt sich durch. Keine Gegenmacht kann dies verhindern. Es ist also gerade Jesu durchdringende Kraft, die dem Gleichnis vom Sauerteig sein eigenes Profil gibt – auch im Verhältnis zum Gleichnis vom Senfkorn.12 Die Bezeichnung „Doppel3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Windisch a.a.O., 908; Flusser, 206. Windisch a.a.O., 907. So D.J. Wiseman / D.H. Wheaton, Art. Maße und Gewichte, GBL, 2, 936.938. So nach Jerusalemer Bibellexikon, 569; Jeremias Gleichnisse, 146. Wie unsicher die Berechnungen sind, zeigt Carson, 319f. Ob er bewusst auf Gen 18,6 anspielen wollte, ist fraglich. Denn dort ist die Situation anders: Es soll ein Festmahl für drei hochgestellte Gäste stattfinden. Oder denkt Jesus an das messianische Mahl der Heilszeit (Mt 8,11)? Vgl. Jeremias a.a.O. Bauer-Aland, 437. ὅλον [holon] bezieht sich wohl auf τὸ ἄλευρον [to aleuron]. Windisch a.a.O., 907. Ähnlich Jeremias Gleichnisse, 147. Ebenso Zahn, 497f.

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gleichnis“ für diese beiden Gleichnisse13 läuft Gefahr, die je eigenen Profile zu verwischen.

IV Zusammenfassung 1. Auch das Gleichnis vom Sauerteig gehört zu den Zuversichts- und Vertrauensgleichnissen14 Jesu, in denen sich die Gewissheit ausdrückt, dass er als Sohn des Vaters die Vollendung des Reiches Gottes bewirken wird, das soeben mit seinem Kommen begonnen hat. 2. Hier in Mt 13,33 stellt er vor allem die durchdringende Kraft vor Augen, die in seinem Wirken, besonders im Wort, liegt. 3. Dass er als Messias angefochten ist, dass die Anfänge so unscheinbar und leicht zu verachten sind, ist die dunkle Seite jener Tage. Aber Jesus begegnet ihr mit einem Realitätsbewusstsein und einer Genauigkeit der Wahrnehmung, die uns heute noch in Staunen versetzt. Hätten wir als Kirche doch mehr davon!

8. Der Sinn der Gleichnisse, 13,34-35 I Übersetzung 34 Das alles redete Jesus in Gleichnissen zur Menge, und ohne Gleichnis redete er nichts zu ihnen. 35 Auf diese Weise wurde erfüllt, was durch den Propheten gesprochen wurde, wenn dieser sagt: Ich will meinen Mund auftun in Gleichnissen, ich will verkündigen, was von Anfang verborgen war.

II Struktur In der Makrostruktur von Mt 13 zeichnet sich eine bestimmte Reihenfolge ab: Gleichniserzählung – Erklärung zum Sinn der Gleichnisse – Gleichnisdeutung (vgl. 13,3-9; 13,10-17; 13,18-23 einerseits und 13,24-33; 13,34-35; 13,36-43 andererseits). Diese Reihenfolge betont den Rang, den die Gleichnispredigt Jesu für Matthäus hatte. Es empfiehlt sich aber nicht, daraus in einem engen strukturalistischen Sinne ein allzu festes Schema zu machen.

13 Bei Jeremias Gleichnisse, 89.147. 14 Vgl. die Überschrift bei Jeremias Gleichnisse, 145: „Die große Zuversicht“.

8. Der Sinn der Gleichnisse, 13,34-35

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Nach den drei Gleichnissen von Mt 13,24-33 schiebt der Evangelist jetzt in Mt 13,34-35 ähnlich wie in 13,10-17 eine Erklärung zum Sinn der Gleichnisse ein. Wieder spielt ein Schriftzitat eine wichtige Rolle (vgl. V. 35 mit V. 14f ). Wieder geht es um die Erfüllung der Schrift in den Tagen Jesu. Es will aber beachtet sein, dass das Schriftzitat in V. 35 einen anderen Fokus hat als dasjenige in V. 14f. Außerdem gehört Mt 13,34-35 nicht in eine exklusiv interne Jüngerbelehrung. Schließlich ist V. 34f im Unterschied zu V. 10ff eindeutig eine Reflexion des Evangelisten und nicht der Jünger oder Jesu.

III Einzelexegese Das alles (V. 34) bezieht sich wohl auf die bisherige Gleichnisverkündigung, die Matthäus mit 13,3 einsetzen sieht. Bilden ἐλάλησεν αὐτοῖς … ἐν παραβολαῖς [elalēsen autois … en parabolais] in V. 3 und ταῦτα πάντα ἐλάλησεν … ἐν παραβολαῖς τοῖς ὄχλοις [tauta panta elalēsen … en parabolais tois ochlois] in V. 34 eine inclusio? Jedenfalls geschieht die Verkündigung Jesu an die Menge oder die „Massen“ (ὄχλοι [ochloi]). Die Bemerkung ohne Gleichnis redete er nichts zu ihnen hat hyperbolischen Charakter1 und darf nicht dahin missverstanden werden, als ob Jesus außer den Gleichnissen keinen einzigen Satz mehr zur Menge geredet hätte. Er drückt nur die Konzentration auf die Gleichnisse aus.2 Vers 35 haben wir mit den modernen Übersetzern3 als selbstständigen Satz übersetzt. Im Griechischen handelt es sich aber um einen abhängigen Satz: „damit erfüllt würde, was durch den Propheten geredet ist …“4 (ὅπως πληρωθῇ [hopōs plērōthē]). Wie in Mt 1,22; 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14 liegt also ein Erfüllungszitat vor. Zitiert wird ein Prophet. Manche Handschriften setzten nachträglich einen Namen dazu: Jesaja oder Asaf. Im ursprünglichen Text steht aber kein Name. Doch was zitiert wird, ist Ps 77 (78),2 LXX: ἀνοίξω ἐν παραβολαῖς [anoixō en parabolais]. Insofern stimmen V. 35a und Ps 77,2 LXX wörtlich überein. Nach MT und LXX ist der Verfasser dieses Psalms Asaf. Wenn er von Matthäus Prophet genannt wird, dann teilt Matthäus offensichtlich die Auffassung Jesu, dass die Verfasser der Psalmen im Heiligen Geist geredet haben (vgl. Mt 22,43; 2Petr 1,19ff ). So schon 2Chron 29,30.5 1 2 3 4 5

Vgl. BDR § 495,5. Carson, 320. So BasisBibel; Gute Nachricht; NGÜ. So Revidierte Elberfelder Bibel. LXX: Ασαφ ὁ προφήτης [Asaph ho prophētēs]; MT: „der Seher Asaf “.

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Der zweite Teil von V. 35 bedeutet eine sprachliche Herausforderung. In der LXX lautet Ps 77 (78),2b: φθέγξομαι προβλήματα ἀπ᾿ ἀρχῆς [ phthenxomai problēmata ap’ archēs]. Offenbar ist dies ein Versuch, das hebräische ‫[ אַ ִבּיָעה ִחידוֹת ִמנִּי־ֶקֶדם‬ʾabbīʿāh chīdōt minnī-qädäm] zu übersetzen. Das erste dieser hebräischen Worte heißt wohl „ich will verkündigen“6 = φθέγξομαι [ phthenxomai]. Die ‫[ ִחידוֹת‬chīdōt], parallel zu ‫שׁל‬ ָ ‫[ ָמ‬māschāl] (V. 2a), können „Rätsel“, „Gleichnisse“, „verhüllte Offenbarungen“ (vgl. Num 12,8) sein. Die LXX-Übersetzung προβλήματα [ problēmata] empfiehlt eine Deutung etwa in Richtung „verhüllte Sachverhalte“. Insgesamt kommt also Mt 13,35b dem hebräischen Text ganz nahe, bleibt aber gegenüber der LXX selbstständig.7 In seiner Textversion betont Matthäus ein Dreifaches: 1) das Reden des Propheten in Gleichnissen, 2) sein verkündigen, 3) das bisherige verborgenSein des Verkündigten. Und was ist der Inhalt des jetzt Verkündigten? Die Treue Gottes (Ps 78,72) und die Erwählung „seines Knechtes David“ (Ps 78,70)! All dies hat in Jesus seine eschatologische Erfüllung gefunden (ὅπως πληρωθῇ [hopōs plērōthē]). Das heißt: 1) Jesus ist der Prophet schlechthin, 2) er verkündigt Gottes eschatologisches Handeln, 3) er macht offenbar, was Gottes Wille und Wirken ist. Denn erst der tatsächliche Anbruch des Gottesreiches mit dem Kommen Jesu beendet das bisherige Verborgen-Sein der Heilspläne Gottes. Matthäus steht mit dieser Ansicht nicht allein: Er teilt sie mit Lukas (4,21; 17,21) und Paulus (1Kor 2,7; Eph 3,5ff; Kol 1,26), ja mit Jesus selbst (Mt 11,25; Lk 10,21). Die abschließenden Worte ἀπὸ καταβολῆς8 [apo katabolēs] wird man wohl wie ‫[ ִמנִּי־ֶקֶדם‬minnī-qädäm] und ἀπ᾿ ἀρχῆς [ap’ archēs] (MT, LXX) als von Anfang deuten müssen.9 In Mt 13,34f ist erst recht kein Anlass (vgl. das zu 13,10ff Ausgeführte), die Gleichnisse Jesu als Mittel der Verstockung zu interpretieren. Wie Luz angesichts eines solchen Textes sagen kann: „Verstanden … wird das, was Jesus geäußert hat, vom Volk nicht“,10 bleibt unverständlich. Hier urteilt Flusser mit mehr Einsicht: Den Evangelisten zufolge habe Jesus vom Volk so geredet, „wie sie es verstehen konnten“ und „weil diese Vortragsweise dem Verständnis der Menge“ entsprach.11

6 7 8 9 10 11

Gesenius, 481; vgl. Neue Jerusalemer Bibel. Davies-Allison II 425f; Carson, 320. Das κόσμου [kosmou] ist sehr unsicher. So auch Bauer-Aland, 83. Luz II 337. Vgl. dagegen Carson, 321f. Flusser, 253. Mk 4,33 bestätigt diese Sicht vollauf: „so, wie sie es zu hören vermochten“.

9. Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, 13,36-43

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IV Zusammenfassung 1. In Mt 13,34-35 kommentiert der von Gott inspirierte Evangelist die Gleichnis-Verkündigung Jesu. 2. Er tut dies als christlicher Schriftgelehrter wieder unter Zuhilfenahme der Heiligen Schrift, diesmal Ps 78. 3. Das Handeln Jesu betrachtet er als schriftgemäß: So ist Jesus, der wahre Prophet, schon im Alten Testament angekündigt. 4. Der Sinn der Gleichnisse liegt darin, dem ganzen Volk den Willen und das Wirken Gottes verständlich zu machen. Sie dienen also gerade nicht der Verstockung. Mt 13,10ff muss von Mt 13,34f her interpretiert werden.

9. Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, 13,36-43 I Übersetzung 36 Dann entließ er die Menge und kam ins Haus. Und seine Jünger kamen zu ihm und sagten: Erkläre uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker. 37 Er aber gab zur Antwort: Der, der den guten Samen sät, ist der Menschensohn. 38 Der Acker ist die Welt. Der gute Same, das sind die Kinder des Reichs. Das Unkraut sind die Kinder des Bösen. 39 Der Feind, der es säte, ist der Teufel. Die Ernte ist die Vollendung des Äons. Die Schnitter sind Engel. 40 Wie nun das Unkraut ausgejätet und im Feuer verbrannt wird, so wird es in der Vollendung des Äons sein. 41 Der Menschensohn wird seine Engel senden, und sie werden aus seinem Reich alle Anstöße und die Täter der Gesetzlosigkeit ausjäten, 42 und werden sie in den Feuerofen werfen. Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein. 43 Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne im Reich ihres Vaters. Wer Ohren hat, der höre!

II Struktur Dieser Abschnitt hat eine sehr durchsichtige Struktur: Nach einer Einleitung (V. 36-37a) folgen zwei Hauptteile. Der erste Hauptteil besteht aus Entschlüsselungen im Stil der Pescher-Methode: „Das ist“, „das sind“ (V. 37a-39). Der zweite Hauptteil (V. 40-43) ist thematisch konzentriert und legt dar, was am Ende aus dem Unkraut und dem Weizen wird. Er nimmt damit die hauptsächlichen Überlegungen aus dem Gleichnis V. 24-30 auf.

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Man darf hier aber nicht simplifizieren und erwarten, dass Matthäus eine Vollständigkeit der Deutung anstrebt. Bestimmte Punkte, die uns interessieren könnten, bringt er nicht, etwa Spezifisches zu den Knechten, das Endschicksal des „Feindes“ oder die Strategie des Feindes auf Erden.1 Wir müssen uns hier ganz auf das konzentrieren, was Matthäus wichtig war. Das gilt umso mehr, als diese Deutung ein Sondergut des Matthäus darstellt.

III Einzelexegese Die Worte dann entließ er die Menge (V. 36) haben etwas Schwebendes. Heißt τότε [tote] „danach“, also nach den Gleichnissen von Unkraut, Senfkorn und Sauerteig (V. 24-33)? Heißt es dann im Sinne von „damals eben“, als unbestimmte Angabe? Wir müssen es offenlassen. Sicher ist nur, dass Jesus immer wieder Schlusspunkte und Pausen in seiner Verkündigung setzte (vgl. Mt 7,28; 11,1; 15,39; 16,4). Er war keiner, der endlos Gespräche führte oder debattierte. Er kam ins Haus (ἦλθεν εἰς τὴν οἰκίαν [ēlthen eis tēn oikian]): Ist es sein Haus in Kapernaum (Mt 8,14; 9,1; Mk 2,1), genau genommen also das Haus des Petrus (Mt 8,14)? Mt 13,1 und 13,2 legen eine solche Annahme nahe. Im Haus sprechen ihn seine Jünger an mit der Bitte: Erkläre uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker. Schon jetzt ist klar, dass das Unkraut (τὰ ζιζάνια [ta zizania]) die Hauptrolle in der Deutung spielen wird. διασαφέω [diasapheō] ist erklären, „auslegen“, „genau darstellen“. Nebenbei zeigen V. 10 und 36, dass es unzählige Gespräche zwischen Jesus und seinen Jüngern gegeben haben muss. Sie wurden zur Quelle einer mündlichen christlichen Tradition, die wir bis zu den Presbytern des Irenäus und bis zu Eusebius verfolgen können. Sie wurden aber auch als Quelle für eine häretische Tradition in Anspruch genommen, die wiederum bei Irenäus und Eusebius in Erscheinung tritt, ja bis in den Koran hineinreicht. Brauchte das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen überhaupt eine Erklärung? Allerdings. Und zwar für jenen Teil des Gleichnisses, in dem der Hausherr das Ausjäten verbietet. Wie wir gesehen haben, bildet aber gerade dieser Teil das Zentrum der Aussage Jesu. Aus seiner Antwort (V. 37) zitiert Matthäus zunächst nur wenige Kernsätze. Vielleicht ist es doch bemerkenswert, dass in dieser Antwort weder Verwunderung noch Kritik enthalten sind. Die Nachfolge der Jünger war einfach die Normalität.

1 Auch Carson, 326.

9. Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, 13,36-43

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Der, der den guten Samen sät, ist der Menschensohn: Seit Mt 8,20; 9,6; 10,23; 11,19; 12,8.32.40 ist klar, dass Jesus mit der Bezeichnung Menschensohn sich selbst meint.2 Und schon in Mt 13,3 mussten wir den Sämann auf ihn beziehen. Im Kontext des Gleichnisses ist also Folgendes ausgesagt: 1) Im jetzt beginnenden Reich Gottes ist Jesus die Zentralgestalt des göttlichen Heilsplans, 2) sein Mittel ist das Wort, 3) dieses Wort ist gut = dem Willen Gottes entsprechend, 4) er bringt dieses Wort zu den Menschen (sät).3 Der Acker ist die Welt (ὁ κόσμος [ho kosmos]): Joachim Jeremias hält es für schwerlich vorstellbar, dass Jesus den Begriff κόσμος [kosmos] bzw. dessen hebr. oder aram. Äquivalent gebraucht haben könnte.4 Aber Worte wie Mt 5,14; 12,32; 13,22; 16,26; 18,7; 24,3.14; 25,34; 26,13 zeigen, dass das sehr wohl der Fall war. Mit Recht weist Rainer Riesner darauf hin, dass neuerdings „Wortstatistik und Stilkritik … zu einem anderen Ergebnis“ als bei Jeremias führen.5 Der κόσμος [kosmos] in Mt 13,38 wird am besten mit Hermann Sasse als „Menschenwelt“ verstanden.6 Denn sofort anschließend ist von Menschen verschiedener Art die Rede. Fazit: Der Acker des Gleichnisses (V. 24) meint die Menschenwelt. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen: 1) Jesus war der Überzeugung, dass er das rettende Wort sowohl für Israel als auch für die ganze Welt habe, 2) diese Welt ist sein, das heißt, sie gehört Gott. Der gute Same, das sind die Kinder des Reichs: Auf den ersten Blick überrascht diese Aussage. Man würde erwarten: „das ist das Wort“, oder auch: „das ist das Reich“. Aber nun sind wir ja im Bereich der Menschenwelt, und schon in Mt 13,18ff waren der Same und seine Frucht bei den betreffenden Menschen aufs Engste miteinander verflochten. So auch hier: Jesus nennt, was aus den guten Samen in seinem Gleichnis hervorgeht: die Kinder des Reichs. Das sind die Menschen, die durch ihn ins Reich Gottes hineinkommen. Die Ausdrucksweise „Kinder von“ = „Angehörige von“ ist dabei ganz semitisch.7 Das Unkraut sind die Kinder des Bösen (οἱ υἱοὶ τοῦ πονηροῦ [hoi hyioi tou ponērou]): Der Böse ist wohl der Teufel (vgl. Mt 6,13; 13,19).8 Günther Harder und andere argumentieren allerdings „für die neutrische Bedeutung“, 2 Falsch also Theißen-Merz, 515: Der Sämann ein „Bild für Gott“. Flusser, 88, hält den Menschensohn für eine Interpolation. 3 Vgl. Jes 55,10f; Jer 4,3. 4 Jeremias Gleichnisse, 79. 5 Riesner, 34. 6 H. Sasse, Art. κοσμέω usw., ThWNT, II, 1938, 890. 7 E. Schweizer im Art. υἱός usw., ThWNT, VIII, 1969, 366. 8 Jeremias Gleichnisse, 80; Carson, 326; Schniewind, 171.

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also „das Böse“.9 Sachlich macht diese Unterscheidung wenig aus. Gemeint sind jedenfalls Menschen, die sich vor Gott und seinem Reich verschließen. Ganz ähnlich wie in V. 3ff.18ff stellt Jesus also verschiedene Menschengruppen einander gegenüber: Menschen, die sich für das Reich Gottes entscheiden, und Menschen, die es ablehnen. Die Aufforderung Wer Ohren hat, der höre! am Ende des Abschnitts (V. 43) schließt dabei eine prädestinatianische Deutung aus. Bei V. 39 kann man das Urteil von Joachim Jeremias, dass hier „eine kleine Apokalypse entsteht“,10 am ehesten verstehen. Matthäus überliefert die Deutung Jesu in äußerster Knappheit: Der Feind, der es säte, ist der Teufel (ὁ διάβολος [ho diabolos]). Als Feind (ἐχθρός [echthros]) kann der Teufel auch bei den Rabbinen bezeichnet werden.11 Die Diktion in Mt 13,39 ist mit Joh 8,41.44; 1Joh 3,8.10, aber auch Apg 13,10 aufs Engste verwandt. Hier liegt einer der häufigen Fälle vor, in denen Jesus sowohl synoptischerseits als auch johanneisch dieselbe Sprache benutzte. In der Bezeichnung Feind spiegelt sich zugleich das Ur-Erlebnis der Versuchungsgeschichte wie auch der Sachgehalt der hebräischen Bezeichnung ‫שָׂטן‬ ָ 12 [śāthān]. Beide also säen: Gott bzw. Gottessohn und der Teufel. Beide benutzen wie in Gen 3 das Wort, um mit dem Menschen zu kommunizieren. Beide haben auf je ihre Weise Erfolg: im Weizen und im Unkraut, im Gottesreich und im Reich (vgl. Mt 12,25ff ) des Bösen. Aber die Zeit ihres Nebeneinanders ist befristet. Und damit kommt Jesus in V. 39 zum anstoßerregenden Hauptpunkt seines Gleichnisses, den es jetzt zu klären gilt. Dass die Deutung „mit keinem Wort den springenden Punkt des Gleichnisses“ berühre, ist ein bedauernswertes Fehlurteil von Jeremias.13 Denn das Rätsel des Gleichnisses liegt doch darin, weshalb der Hausherr das Ausjäten im jetzigen Stadium untersagt! Und gerade darauf geht die Deutung in V. 39-43 ein. Die Ernte ist die Vollendung des Äons (συντέλεια αἰῶνος [synteleia aiōnos]): Auf die Ernte als alttestamentliches und jüdisches Gerichtsbild haben wir schon bei V. 30 hingewiesen (vgl. die Erklärung dort). Gottes Endgericht gehört heilsgeschichtlich in den Schlussteil des jetzigen Weltzeitalters, hebr. des ‫[ עוָֹלם ַהזֶּה‬ʿōlām hassäh], griech. des αἰὼν οὗτος [aiōn houtos], matthäisch und mit dem Hebräerbrief gesprochen: Es gehört in die συντέλεια (τοῦ) αἰῶ9 G. Harder, Art. πονηρός usw., ThWNT, VI, 1959, 560, unter Berufung auf Zahn und Klostermann. Luz II 340 lässt es offen. 10 Jeremias Gleichnisse, 79. Aufgenommen von Luz II 338. 11 Strack-Billerbeck I 667. 12 Gesenius, 782. 13 Jeremias a.a.O.

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νος [synteleia (tou) aiōnos] (Mt 13,39.40.49; 24,3; 28,20; Hebr 9,26; vgl. Dan 12,13). Die exakte Formulierung συντέλεια τοῦ αἰῶνος [synteleia tou aiōnos] findet sich allerdings nur bei Matthäus.14 Jesus fügt die Deutung der Schnitter an: Es sind Engel ohne Artikel. Auch an dieser Stelle erfolgt eine Klärung, und zwar insofern, als die Schnitter ganz andere sind als die „Knechte“ des Gleichnisses. Nur Engel können mit dieser Gerichtsaufgabe richtig umgehen (vgl. Joel 4,13; Offb 14,14ff ). Gerade das Ausjäten wird nun zum Thema der Verse 40-42. Unbestritten ist in der Deutung Jesu, dass das Unkraut ausgejätet und im Feuer verbrannt wird (V. 40). Vgl. dazu unsere Erklärung bei V. 30 und nochmals Mt 3,10ff; 7,19; Joh 15,6. Aber nicht jetzt! Sondern erst in der Vollendung des Äons, also im Endgericht. An dieser Stelle erkennt man einen der schärfsten Gegensätze von Bibel und Koran. Während der Koran das Ausjäten der Ungläubigen schon in der Gegenwart allen Muslimen zur Pflicht macht: „sie sollen getötet werden“,15 lässt Jesus eine solche Gewaltanwendung für unsere geschichtliche Gegenwart nicht zu. Er schließt sie sogar durch eine doppelte Sperre aus: 1) Ein solches Vorgehen ist Sache der Engel und nicht der gläubigen Menschen. 2) Es wird am Ende der Zeiten stattfinden und nicht jetzt. Auch das Fehlen des Artikels bei den Engeln hat einen tiefen Sinn, denn viele Engel wurden vom Satan verführt und warten auf ihr Gericht. Deshalb ist klar, dass nicht „die Engel“ schlechthin Gottes Gerichtshelfer sind, sondern nur die treu gebliebenen Engel Gottes (vgl. Gen 6,1ff; 1Kor 6,3; 2Kor 11,14; 2Petr 2,4; Jud 6; Offb 12,7ff ). Wie geht dies alles zu? Der Menschensohn wird seine Engel senden, und sie werden aus seinem Reich alle Anstöße und alle Täter der Gesetzlosigkeit ausjäten und werden sie in den Feuerofen werfen (V. 41-42a). Alles Gerichtsgeschehen steht unter der Herrschaft des Menschensohnes, also Jesu. An diesem Punkt tritt eine große Einheitlichkeit des NT in Erscheinung. Mt 13,41 wird bestätigt durch den Täufer (Mt 3,11f ), durch Johannes (5,21ff ), durch Paulus (1Kor 15,23ff ), durch die Apokalypse (Offb 19,11ff; 20,11ff ) und durch weitere Jesusworte (Mt 16,27; 24,31; 25,31ff; 26,64). Wie Joachim Jeremias angesichts dieses biblischen Befundes sagen kann, die Vorstellung vom Christusreich sei „der ältesten Überlieferungsschicht fremd“ und „Die älteste synoptische Überlieferung kennt den Chiliasmus nicht“,16 bleibt unerklärlich. Das Gegenteil ist der Fall. Wer „die Spreu verbrennt mit unauslösch14 G. Delling, Art. τέλος usw., ThWNT, VIII, 1969, 67. 15 Sure 33,62. 16 Jeremias Gleichnisse, 80; 80,6.

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lichem Feuer“ (Mt 3,12), tut dies mithilfe der Gerichtsengel. Wer als Menschensohn in Macht erscheint, hat sein eigenes Reich (Dan 7,14; Mt 16,27), ist begleitet von seinen Engeln (Mt 13,41; 16,27; 24,31; 26,53; 1Thess 4,16; Offb 19,14).17 Einen anderen Menschensohn kennt die Bibel nicht. Seine βασιλεία [basileia] (sein Reich) wurde schon in Dan 7,14 angekündigt und wird neutestamentlich in Mt 16,27; 24,29ff; 25,1ff.14ff.31ff; 26,64; Lk 18,8; 1Kor 15,21ff; 1Thess 4,15ff; 2Thess 2,1ff; Offb 19–20 näher beschrieben.18 In jener Epoche der Gottesgeschichte, die sein Reich genannt wird, findet, wie schon erwähnt, ein umfassendes Gerichtsgeschehen statt: Er wird seine Engel senden und sie werden ausjäten. Das heißt, der Herr des Gleichnisses bleibt weder gleichgültig noch tatenlos. Er sorgt dafür, dass alle Anstöße (σκάνδαλα [skandala]) und die Täter der Gesetzlosigkeit (οἱ ποιοῦντες τὴν ἀνομίαν [hoi poiountes tēn anomian]) der Strafe zugeführt werden. Beides, die Anstöße und die Täter der Gesetzlosigkeit, bilden τὰ ζιζάνια [ta zizania], das Unkraut = die Kinder des Bösen (V. 38). Im Anschluss an Gustav Stählin19 verstehen wir den Plural des Neutrums σκάνδαλον [skandalon] in Mt 13,41 „von Personen“20 (vgl. dabei Mt 16,23). Gemeint sind „Verführer zu Sünde und Abfall“.21 In die Praxis umgesetzt wird der verführerische Anstoß durch die Täter der Gesetzlosigkeit. Die Diktion Jesu erinnert hier an die ebenfalls eschatologische Aussage in Mt 24,12, aber auch an Mt 7,23. Der Begriff Täter der Gesetzlosigkeit steht in enger Beziehung zu Jesu Betonung des Tuns in Mt 5,17ff; 7,21ff; 13,50; 21,28ff sowie zu den εἰρηνοποιοί [eirēnopoioi], den „Tätern des Friedens“, in Mt 5,9. Gesetzlosigkeit (ἀνομία [anomia]) ist demnach ein Handeln, das dem offenbarten Willen Gottes widerspricht. Es kann im Endgericht nicht bestehen. Die so handelnden Menschen werden in den Feuerofen geworfen, das heißt in die ewige Verdammnis. Der Ausdruck Feuerofen bezieht sich terminologisch auf Dan 3,6, sachlich auf die Geenna (vgl. Mt 3,12; 5,22; Offb 20,10.14). Die gesamte Sprache und Anschauungswelt von Mt 13,41f stammt aus dem AT (vgl. Gen 19,24ff; Ps 141,9; Jes 66,24; Dan 12,2; Am 7,4; Zeph 1,2ff ).22 Das gilt auch für die Ankündigung in V. 42b: Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein. Mehrfach von Jesus 17 Die Engel des Menschensohnes finden sich also häufiger als bei Jeremias a.a.O. angegeben. 18 Nach Jeremias Gleichnisse, 80, soll es eine „Bezeichnung der Kirche“ sein. Aber was soll die Kirche nach der Parusie? Auch Luz II 341 verfehlt Mt 13,24ff.36, wenn er schreibt, sein Reich sei „bereits in der Welt“. Richtig Schniewind, 171. 19 In dessen Artikel σκάνδαλον usw., ThWNT, VII, 1964, 345f. 20 Stählin a.a.O., 346. 21 Stählin a.a.O.; Schniewind, 171; France, 226. 22 Vgl. Stählin a.a.O., 345.

9. Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, 13,36-43

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gebraucht (Mt 8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30; Lk 13,28), geht diese Aussage auf Stellen wie Ps 112,10; Jer 3,21 zurück. Wie Karl Heinrich Rengstorf mit Recht bemerkt, darf man Weinen und Zähneknirschen (beides mit Artikel) nicht im Emotionalen aufgehen lassen.23 Vielmehr bezeichnet das Weinen auch das Erschrecken, die Güte Gottes leichtfertig ausgeschlagen zu haben, und das Zähneknirschen die verzweiflungsvolle Reue, die den ganzen Körper erschüttert“.24 Die gegenwärtige Gesellschaft wehrt sich intuitiv gegen den Gedanken einer Qual im Jenseits, ja gegen den Gerichtsgedanken überhaupt. Daran ist richtig, dass man von allen Ausmalungen, wie sie z.B. der Koran liebt,25 Abstand halten muss. Angesichts der völlig veränderten Leiblichkeit nach dem Tode darf man sich auch nicht in primitiv-diesseitigen Vorstellungen ergehen. Aber die Qual der Gottesferne für diejenigen, die sich bewusst Gott verweigert haben, lässt sich nicht wegleugnen (vgl. Lk 16,19ff; Joh 5,21ff; Jak 2,13; Offb 20,10). Es ist typisch für Jesus, dass er neben das dunkle Bild das helle stellt: Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne im Reich ihres Vater (V. 43). Hier kann er auf Dan 12,3 zurückgreifen, auch wenn die LXX einen anderen Wortlaut hat. Gerechte sind nach einem häufigen Sprachgebrauch Jesu (vgl. Mt 5,45; 10,41; 13,49; 23,28.35; 25,37.46) diejenigen Menschen, die nach Gottes Willen leben und deshalb ins ewige Leben aufgenommen werden. Sie sind identisch mit den Kindern des Reichs in V. 38. Im ewigen Gottesreich leuchten oder erstrahlen26 sie wie die Sonne (Dan 12,3 LXX: ὡς φωστῆρες τοῦ οὐρανοῦ [hōs phōstēres tou ouranou]). Der Vergleich mit Licht und Sonne gilt zuerst für Gott selbst (Ps 84,12; 104,2), dann für den Sohn Gottes (Mt 17,2; Joh 8,12; Offb 1,16) und schließlich für die gläubigen und erlösten Menschen (Dan 12,2; Mt 13,43; Offb 12,1). Im Reich ihres Vaters: Das entspricht sachlich dem Reich Gottes in seiner Vollendung. Vergleiche noch den biblischen Sprachgebrauch in Ri 5,31; 2Sam 23,3f; Sir 50,7. Was Jesus hier über die Gerechten sagt, entspricht dem Sammeln des Weizens in V. 30. Der wieder für Jesus typische „Appell zur Aufmerksamkeit“27 Wer Ohren hat, der höre! am Schluss der Gleichnisdeutung (V. 43) schärft den Jüngern ein, das hier Gelehrte und Gesagte zu behalten (vgl. V. 8.23) und zu befolgen.

23 24 25 26 27

Im Art. κλαίω usw., ThWNT; III, 1938, 725. Rengstorf a.a.O. Sure 4,56ff; 11,107ff; 13,21ff; 14,49ff; 25,11ff usw. Bauer-Aland, 487. Riesner, 375.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

Carson hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Knechte des Gleichnisses V. 24-30 in der Deutung praktisch keine Rolle spielen.28 Wenn aber der Hausherr in V. 24ff identisch ist mit dem Menschensohn = Jesus (V. 37), dann müssen die Knechte ein Bild für die Jünger sein. So ergibt sich noch einmal die Frage: Was sollen die Jünger mit dem Gleichnis anfangen? Bultmann und Jeremias antworten, das Gleichnis sei eine „Mahnung zur Geduld“.29 Darin liegt etwas Wahres. Aber ist das alles? Man kann in Mt 13,24ff.36ff eine implizite Antwort auf den Zelotismus sehen: Wer jetzt schon mit Gewalt (ausjäten) das Reich Gottes herbeiführen will (vgl. Mt 11,12), geht einen Irrweg. Ist nicht die Geduld des Hausherrn noch wichtiger als die Geduld der Knechte = Jünger? Man kann unser Gleichnis und seine Deutung auch als eine Antwort auf eine Anfrage an Jesus sehen, der anders als der in Ps Sal 17–18 gepriesene Messias nicht gegen die Täter der Gesetzlosigkeit vorging: Warum tat er in dieser Richtung nichts? Und schließlich geht es in Mt 13,24ff.36ff auch um ein Theodizee-Problem: Warum hat Gott mit dem Bösen so viel Geduld? Damit stehen wir einer Grundfrage der Eschatologie gegenüber. Unseres Erachtens ergeben sich aus diesen Überlegungen zwei Folgerungen: Erstens darf man das Gleichnis mit seiner Deutung nicht vorschnell auf eine einlinige zeitgeschichtliche Betrachtungsweise einschränken, zweitens muss man sich dafür offenhalten, dass sich hier eventuell verschiedene Fragehorizonte überlagern.

IV Zusammenfassung 1. Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,36-43) ist ein Feld intensiver exegetischer Bemühungen und Auseinandersetzungen. 2. Die Historizität dieser Deutung wird so stark bestritten, dass Luz seine Kommentierung mit den Worten „Klar und weitgehend unbestritten ist, daß diese Deutung gegenüber V 24-30 sekundär ist“30 eröffnet. Darin treffen sich liberale (Bultmann,31 Luz) und konservative (J. Jeremias) Forscher. Eine mittlere Position32 führt wenigstens größere Teile auf den Evangelisten zurück. Schließlich haben wir es mit Interpolationsthesen zu tun. So nimmt Flusser an, dass der „Menschensohn“ in Mt 13,36ff interpoliert ist.33 Ansonsten aber 28 29 30 31 32 33

Carson, 326. Vgl. Maier I, 478. Bultmann Gesch, 203; Jeremias Gleichnisse, 79. Luz II 338. Bultmann Gesch, 202f.352f. So Hengel-Schwemer, 444. Flusser, 88.

9. Die Deutung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, 13,36-43

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gehört Flusser zu denen, die die Ursprünglichkeit und Historizität unserer Deutung mit Nachdruck verteidigen.34 Manche Formulierungen mögen auf das Konto des Evangelisten gehen. Aber nirgendwo lässt sich nachweisen, dass damit eine Abweichung von Sinn und Ziel der Aussagen Jesu verbunden gewesen wäre. Erst recht lassen sich die Vorwürfe, Matthäus habe nachträglich allegorisiert oder überhaupt erst die Deutung unter dem Namen Jesu beigefügt, nicht halten. Jedes von den Meschalim Jesu forderte eine Deutung, und oft hat sie Jesus ausdrücklich gegeben. Deshalb bejahen wir zusammen mit einer Reihe anderer Forscher die Historizität dieser Deutung.35 3. Von einem „‚Lexikon‘ allegorischer Deutungen“ zu sprechen,36 empfiehlt sich nicht. Eine solche Diktion passt eher auf die Urkirche, während es Matthäus um die Erinnerung an Kernsätze Jesu ging. 4. Jedenfalls geht es in Mt 13,36ff nicht um die Kirche,37 sondern zunächst um Israel und sodann die ganze Völkerwelt, entsprechend Mt 10,5ff und 28,18ff. Luz hat die verschiedenen Auslegungen a) auf den einzelnen Menschen, b) auf die Kirche, c) auf die Welt eindrucksvoll zusammengestellt.38 So viel zeigt sein Überblick auch unter dem Gesichtspunkt variierender Einschätzungen: Der Satz „Der Acker ist die Welt“ lässt sich nicht verwandeln in den Satz „Der Acker ist die Kirche“. 5. Die Folgerung liegt auf der Hand: Im Verlaufe unserer Geschichte sind Gottes Reich und des Teufels Reich, nach Augustinus civitas Dei und civitas diaboli, gleichzeitig präsent bis zum Abschluss der Geschichte, bis zum Endgericht. Erst die Wiederkunft Jesu, das Kommen des Menschensohnes in Macht und Herrlichkeit (Mt 16,27; 24,30), wird diesem Nebeneinander ein Ende machen. Bis dahin dürfen Menschen (auch nicht im Namen Gottes!) die Bösen nicht ausrotten. Der Herr selbst wird es tun. Das Gleichnis spricht davon, dass dadurch die Gläubigen und Gerechten geschützt werden sollen (V. 29). 6. Von den Jüngern wird das verlangt, was in Offb 13,10 steht: „Geduld und Glaube der Heiligen.“ Das bedeutet aber nicht, dass die Kirche Irrlehre dulden soll. Im Gegenteil: Sie soll der Irrlehre wehren. Auch wenn es die „reine Kirche“ nie geben wird! 7. Folgt man dem Gleichnis und seiner Deutung, dann sind hier drei Epochen angesprochen: 1) die jetzige Weltzeit mit dem Nebeneinander von Un34 35 36 37 38

Flusser, 41.121ff.133f. So grundsätzlich auch Flusser a.a.O.; Carson, 324ff; Rengstorf a.a.O.; Schniewind, 172. So Jeremias Gleichnisse, 79. Gegen Jeremias Gleichnisse, 80. Luz II 343ff.

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kraut und Weizen, 2) das Reich des Menschensohnes nach der Wiederkunft Jesu in Macht und Herrlichkeit, in dem das Gericht über die Bösen stattfindet, 3) das Reich des Vaters (und zugleich des Sohnes) in seiner Vollendung, in dem die Gerechten das ewige Leben haben. Man darf diese drei Epochen nicht miteinander vermengen.39 Sie folgen sich in einer heilsgeschichtlichen Chronologie so, wie es Mt 13,24ff.36ff schildert.

10. Das Doppelgleichnis vom Schatz im Acker und von der Perle, 13,44-46 I Übersetzung 44 Es verhält sich mit dem Reich Gottes wie mit einem Schatz, der im Acker verborgen war. Den fand ein Mensch und verbarg ihn wieder, und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker. 45 Wiederum verhält es sich mit dem Reich Gottes wie mit einem Kaufmann, der auf schöne Perlen aus war. 46 Als er aber eine besonders wertvolle Perle fand, ging er hin, verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.

II Struktur Trotz Bedenken nehmen wir hier die beiden Gleichnisse zusammen, obwohl sie durch die Eingangsworte Ὁμοία ἐστὶν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [Homoia estin hē basileia tōn ouranōn] jeweils deutlich als eigenständige Gleichnisse gekennzeichnet sind.1 In der Aussage stehen sie sich jedoch so nahe, dass man sie als „Doppelgleichnis“ bezeichnen kann.2 In jedem Falle geht es darum, dass ein Mensch um eines höchsten Gutes willen alles andere drangibt, um dieses höchste Gut zu erwerben. Dabei stammt das erste Gleichnis wieder aus der Welt der Bauern und Pächter, das zweite hingegen aus der Welt der Kaufleute und des Großhandels. Mit beiden stand Jesus in Berührung. Thema bleibt auch hier das „Reich Gottes“, matthäisch: die βασιλεία τῶν οὐρανῶν [basileia tōn ouranōn] („Reich der Himmel“).

39 Angelsächsische Kommentare neigen zu einer Identifizierung von Reich des Vaters und Reich des Menschensohnes: Carson, 327; France, 226. Dagegen vgl. Luz II 342. 1 Vgl. Carson, 328; Schniewind, 173. 2 Jeremias Gleichnisse, 89; Flusser, 65.

10. Das Doppelgleichnis vom Schatz im Acker und von der Perle, 13,44-46

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Das Doppelgleichnis gehört ebenso wie die Gleichnisse vom Fischnetz und vom Hausvater zum Sondergut des Matthäus.

III Einzelexegese Den Gleichnisanfang in V. 44 Ὁμοία ἐστὶν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [Homoia estin hē basileia tōn ouranōn] treffen wir in V. 45 und 47 wieder. Vermutlich hat man die drei Gleichnisse vom Schatz, von der Perle und vom Fischnetz im Jüngerkreis gemeinsam überliefert. Das könnte dafürsprechen, dass sie auch im Leben Jesu zusammengehörten. Die Bildwelt beim Schatz im Acker ist leicht zugänglich. Dass Gott und seine Gebote ein Schatz sind, sagen Weisheit und Psalmen (Hiob 22,25; Ps 19,11; 119,72.98.127; Prov 2,4; 8,19; 16,1). Schon in alten Zeiten diente der Acker3 „z. Vergraben gefährdeter Schätze“.4 Man denke an die archäologischen Funde aus Römerzeit, Völkerwanderung und Mittelalter. Dass der Schatz im Acker verborgen war (κεκρυμμένῳ [kekrymmenō]), deutet wohl auf solch absichtliches Vergraben. Irgendjemand (ἄνθρωπος [anthrōpos]) fand ihn: ein Bauer, ein Pächter, ein Tagelöhner usw. Anschaulich geschildert bei Jeremias:5 „die Kuh sinkt … beim Pflügen ein.“ Er verbarg ihn wieder: Im Griechischen nur ἔκρυψεν [ekrypsen], aber mit dem Sinn einer Wiederholung.6 Von jetzt ab schildert Jesus ein entschlossenes Handeln, auf das im Gleichnis alles ankommt. Obwohl der Finder nicht der Besitzer des Ackers ist, setzt er alles daran, diesen Schatz zu bekommen. „Formalrechtlich“ handelt er „korrekt“:7 Entschlossen geht er hin8 (das Präsens verstärkt die Dramatik), verkauft seinen ganzen bisherigen Besitz (alles, was er hat) und kauft jenen Acker, in dem der Schatz liegt. Den Schatz musst du bekommen, und zwar mit ganzer Entschlossenheit! Das ist der Zielpunkt des Gleichnisses.9 Eins sollte man dabei nicht vergessen: Die Entdeckung des Schatzes löst unbeschreibliche Freude aus. Sie ist das treibende Motiv10 – und nicht etwa pure Geldgier, Sorge, Sich-durchsetzen-Wollen oder Ähnliches. Macht dir die Botschaft vom Reich Gottes Freude? Opferst du alles Übrige, um daran teilzunehmen? Das sind die Fragen, die Jesus auslösen will. 3 Der Artikel in Mt 13,44 ist Semitismus (BDR § 4,8), gemeint ist irgendein Acker. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 7,2. 4 Bauer-Aland, 24. Vgl. Jeremias Gleichnisse, 197. 5 Gleichnisse, 197. 6 Jeremias a.a.O. 7 Jeremias a.a.O. 8 ὑπάγειν [hypagein] ist „Vulgärwort“ für „gehen“ (BDR § 308,1). 9 Luz II 352; France, 229. 10 ἀπό [apo] = „wegen“, „vor“ (BDR § 210,1). Vgl. Hengel-Schwemer, 412.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

Andere Fragen werden hier nicht diskutiert.11 Vergleiche Phil 3,7. Eine Empfehlung, man solle um des Himmelreiches willen „wörtlich ‚alles verkaufen‘“,12 liegt aber nicht in diesem Gleichnis. Das griech. πάλιν [ palin] (wiederum) schließt das Gleichnis von der Perle (V. 45f ) eng an V. 44 an. Nun wird das Reich Gottes erläutert durch die Geschichte von einem13 Kaufmann, der auf schöne Perlen aus war (wörtlich: „suchte“). Der Kaufmann ist ein ἔμπορος [emporos], ein Großkaufmann. Solche vermögenden Händler tauchen auch in Mt 22,5, im Jakobusbrief (Jak 4,13) und in der Apokalypse auf (Offb 18,3ff ). Israel hat Händler dieser Art vor allem in Gestalt der Kaufleute von Tyrus kennengelernt, vgl. Ez 27,12ff. Dass Jesus jetzt einen Großkaufmann in eine positive Beziehung zum Reich Gottes setzt, war für seine Hörer wohl keine kleine Überraschung. Anders bei den schönen Perlen. Perlen gehörten im Altertum zusammen mit Gold und Edelsteinen zu den größten Kostbarkeiten. Im 1. Jh. n.Chr. diskutierten R. Jochanan und seine Schüler, welche Größe die Perlen haben sollten, aus denen die Tore des endzeitlichen Jerusalem bestünden.14 Vergleiche Offb 21,21; Mt 7,6 sowie 1Tim 2,9; Offb 17,4ff; 18,12ff. In der Antike lieferten vor allem das Rote Meer, der Persische Golf und der Indische Ozean die begehrten Perlen.15 Israel war also auf Großkaufleute angewiesen, um solche Perlen ins Land zu bekommen. Rom und Ägypten entwickelten einen regelrechten „Perlenluxus“,16 meist in Gestalt von Perlenschmuck. Ein Kaufmann, der auf schöne Perlen aus war, konnte also mit hohem Gewinn rechnen. Zum eigenen Profil des Gleichnisses gehört der Umstand, dass hier der Handelnde nicht „per Zufall“ auf einen Schatz stößt, sondern danach sucht. Als er aber eine besonders wertvolle Perle fand (V. 46): Wieder schwingen verschiedene Dimensionen mit. Vermutlich ist das εὑρών [heurōn] aus V. 44 absichtsvoll wiederholt. Nicht eigenes Genie, nicht eigene Kraft führen zum Schatz und zur Perle, sondern beides ist Geschenk. Deutet sich hier nicht doch an, dass das Reich Gottes dem Menschen als Geschenk begegnet? Daneben will Jeremias festhalten, dass „der Fund in beiden Gleichnissen überraschend“ ist17 – mit Recht. Seine Kritik an Matthäus, er habe den Kaufmann „sekundär“ zu einem Perlenhändler gemacht und „dadurch das Überraschungsmoment 11 Ob der Finder zum Beispiel den bisherigen Besitzer hätte informieren sollen, von wem der Schatz stammte usw. Vgl. Luz II 352; France, 229. 12 So Flusser, 65. 13 ἄνθρωπος [anthrōpos] ist hier = τις [tis] (BDR § 301,5). 14 b Baba bathra 751. 15 F. Hauck, Art. μαργαρίτης, ThWNT, IV, 1942, 475f. 16 Hauck a.a.O., 476; Jeremias Gleichnisse, 198. 17 Jeremias Gleichnisse, 199.

10. Das Doppelgleichnis vom Schatz im Acker und von der Perle, 13,44-46

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vorweggenommen“,18 trifft jedoch nicht zu. Denn die besonders wertvolle Perle (ἕνα πολύτιμον μαργαρίτην [hena polytimon margaritēn]) bleibt selbst für einen erfahrenen Händler eine Überraschung. Und warum sollte das Thomasevangelium, auf das sich Jeremias beruft, die bessere Überlieferung bieten?19 Jedenfalls bricht die besonders wertvolle Perle alle Rekorde. Der Großkaufmann handelt danach mit derselben planmäßigen Entschlossenheit20 wie der Mann auf dem Acker: er ging hin, verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie. Alles andere ist jetzt weniger wert. Er wäre töricht, wenn er sie nicht erwerben würde. Wieder ist deutlich: Das Reich Gottes ist viel mehr wert als alles andere und nur ein Törichter verzichtet darauf. An dieser Stelle hilft erneut das AT zum Verständnis. Denn es vergleicht mehrfach die gottgewollte Weisheit mit Perlen (Hiob 28,18; Prov 3,15; 8,11) und schärft ein: „Weisheit ist besser als Perlen.“ In ähnlicher Weise kann Jesus das Reich Gottes mit Perlen vergleichen, wobei er allerdings Gottes Reich zur höchsten, unübertrefflichen Perle macht.

IV Zusammenfassung 1. Die beiden Gleichnisse vom Schatz und von der Perle (Mt 13,44-46) könnten von Jesus selbst schon „als Doppelgleichnisse komponiert und … dann als Einheit vorgetragen“ worden sein.21 2. Wer waren die ersten Hörer? Zahn bestand darauf, dass „die Menge vorher entlassen“ wurde22 und deshalb diese beiden Gleichnisse nur im Jüngerkreis vorgetragen wurden. Aber die Wendung ὁμοία ἐστὶν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [homoia estin hē basileia tōn ouranōn] schafft eine enge Verbindung mit der Hörerschaft in V. 24.31.33. Auch der Inhalt der Gleichnisse legt es nahe, an das Volk des Landes als Hörerschaft zu denken. Wir müssen die Frage offenlassen. 3. Wir haben uns angewöhnt, auf „den springenden Punkt“ eines Gleichnisses zu achten und die Nebenzüge zurückzustellen. Das war gegenüber der Tendenz, jede Einzelheit allegorisch zu deuten, ein Fortschritt. Gerade unsere beiden Gleichnisse lehren jedoch, dass auch die Einlinigkeit der Auslegung eine Gefahr darstellt. So wollte Joachim Jeremias, dessen große Verdienste in der Gleichnisforschung außer Zweifel stehen, die Gleichnisse vom Schatz und von der Perle ganz von der überwältigenden Freude an der Frohbotschaft her 18 19 20 21 22

Jeremias Gleichnisse, 198. Vgl. Flusser, 128. Vgl. Hengel-Schwemer, 447. Flusser, 204. Ablehnend Jeremias Gleichnisse, 197. Zahn, 499. Auch Schlatter, 220ff.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

verstehen.23 Er musste dazu die Worte ἀπὸ τῆς χαρᾶς [apo tēs charas] auch in V. 45f voraussetzen, obwohl sie dort gar nicht stehen.24 Stattdessen sollten wir bereit sein, die Mehrdimensionalität der Aussagen in den Gleichnissen anzuerkennen. Weithin geschieht das schon. Flusser betonte, dass ein und dasselbe Sujet „zu ganz verschiedenen Zwecken benutzt werden kann“.25 Schniewind fand in unsern beiden Gleichnissen „folgende Aussagen: der Wert über alle Werte, das ‚Finden‘ und das Opfer, alles preiszugeben“.26 Für uns selbst ergaben sich im Lauf der Auslegung folgende Zielpunkte: Zuerst will Jesus die Entschlossenheit seiner Hörer erreichen, unter allen Umständen ins Reich Gottes zu gelangen. Er fordert dazu ihre Bereitschaft, alles andere dafür hinzugeben.27 Er betont den unvergleichlichen Wert, den das Reich Gottes besitzt, und weist darauf hin, wie töricht derjenige handelt, der es ausschlägt. Er unterstreicht die Freude, die es mit sich bringt, und lässt auch deutlich werden, dass wir es mit einem unverdienten Geschenk zu tun haben. All dies ist demjenigen möglich, der in Jesu Nachfolge tritt. Insofern sind die Gleichnisse zutiefst christologisch.28 4. Abzulehnen ist die Auffassung, Jesus fordere hier zu realem Besitzverzicht auf.29 Einen solchen hat Jesus von der Gesamtheit seiner Jünger nie gefordert. Anders war es in der Einzelseelsorge (Mt 19,21). Anders war es auch bei der Nachfolge Einzelner im Laufe der Kirchengeschichte. Dass seine Jünger von sich aus auf Zeit oder teilweise auf ihren Besitz verzichteten, steht auf einem anderen Blatt (vgl. Mt 19,27ff; Lk 19,8; Apg 4,32ff; 5,1ff ).

11. Das Gleichnis vom Fischnetz, 13,47-50 I Übersetzung 47 Wiederum verhält es sich mit dem Reich Gottes wie mit einem Schleppnetz, das im Meer ausgelegt wurde und von den verschiedenen Arten etwas zusammenbrachte. 48 Als es gefüllt war, zogen sie es auf 23 24 25 26 27

Jeremias Gleichnisse, 199. Jeremias a.a.O. Flusser, 165. Schniewind, 173. Vgl. auch meinen Kommentar Maier I, 482. Von „Opfer“ im eigentlichen Sinne kann man nicht sprechen, da ja der Wert des Reiches Gottes und die Freude daran alles andere übertreffen. 28 Wer wie Flusser (s.o.) den Menschensohn als Interpolation in den Gleichnissen betrachtet, beseitigt natürlich diese christologische Spitze. 29 Gegen Luz II 353ff; Flusser, 65.129.

11. Das Gleichnis vom Fischnetz, 13,47-50

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den Strand und setzten sich nieder und sammelten das Gute in Gefäße, das Unbrauchbare aber warfen sie hinaus. 49 So wird es sein in der Vollendung des Äons. Die Engel werden ausziehen und die Bösen aus der Mitte der Gerechten aussondern 50 und werden sie in den Feuerofen werfen. Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein.

II Struktur Das Gleichnis vom Fischnetz zeigt, wie zahlreich die Motive und Materialien waren, die Jesus in seine Gleichnisse aufnahm. Flusser hat das an der Vielzahl und Vieldeutigkeit der Sujets demonstriert.1 Hier sind wir in der Welt der Fischer – um nicht zu sagen: in der Welt des Petrus. Wer keine Ahnung von den Netzen und vom Fang hat, tut sich damit schwer. Aber Jesus spricht ja zu Galiläern. Der stereotype Anfang Πάλιν ὁμοία ἐστὶν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν [Palin homoia estin hē basileia tōn ouranōn] reiht das Gleichnis unter die anderen von Mt 13 ein, verbindet es aber speziell mit den Gleichnissen V. 44 und 45f. War also die Hörerschaft dieselbe? Da jedes Gleichnis sein besonderes Profil hat, werden wir auch hier auf die Besonderheiten achten müssen. Wie die Gleichnisse vom Schatz und von der Perle ist auch das Gleichnis vom Fischnetz Sondergut des Matthäus. In diesen Gleichnissen des Sonderguts besteht einer der wertvollsten Beiträge des Matthäus zur Evangelientradition.2 Wir stellen hier eine Bemerkung von Hengel-Schwemer3 voran: „Die Treffsicherheit bei der Wahl der Metaphern, die überzeugend-gewinnende Evidenz der Erzählung und die Übereinstimmung mit der Spruchdichtung Jesu und seinem Verhalten sind ein wichtiges Argument für die Authentie von Gleichnissen.“

III Einzelexegese Zum Versanfang es verhält sich mit dem Reich Gottes usw. (V. 47), vgl. V. 24.31.33. Πάλιν [Palin] (wiederum) schließt das Fischnetz-Gleichnis mit V. 44 und 45f zu einer Gleichnis-Dreiergruppe zusammen. σαγήνη [sagēnē] ist das Schleppnetz.4 Das Bildmaterial ist sehr durchsichtig. Das Schleppnetz oder „Zugnetz“ funktioniert noch heute so, wie es Jesus beschreibt. Nach Mendel Nun „passt“ 1 2 3 4

Flusser, 161ff. Hengel-Schwemer, 233ff; 422ff. A.a.O., 405. Vgl. J.A. Thompson, Art. Fisch und Fischfang, GBL, 1, 383f.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

Mt 13,47ff „genau auf die Funktion des Zugnetzes“.5 Es wird in Ufernähe halbkreisförmig ausgelegt, möglichst zum Seegrund hinabgelassen und dann mit den darin befindlichen Fischen auf den Strand gezogen.6 Die Wörter σαγήνῃ βληθείσῃ [sagēnē blētheisē] geben die Fachsprache wieder.7 Wenn man das Netz zum Ufer zieht, findet sich als Beute etwas von den verschiedensten Arten (V. 47). Mendel Nun erwähnt als Beispiel „den schuppenlosen Wels, dessen Verzehr vom jüdischen Gesetz verboten ist“.8 Nach J.A. Thompson „gibt es heutzutage“ im See Genezareth „mindestens 24 Arten von Fischen, die teilweise in großen Schwärmen auftreten“.9 Wenn Jesus vom Fischen spricht, kann er nicht nur auf die praktische Erfahrung seiner Hörer zählen, sondern auch die Erinnerung an die Fischsymbolik im AT wecken (Jer 16,16; Ez 29,1ff; 32,1ff; 47,10; Hab 1,14ff ). Vers 48 überrascht uns insofern, als hier keine dramatische Geschichte wie etwa in Mt 17,27 folgt, sondern eine einfache „natürliche“ Schilderung. Schon dadurch ist das Fischnetz-Gleichnis mit dem Unkraut-Gleichnis (V. 24ff ) verwandt. Die Bezeichnung „Doppelgleichnis“ für die beiden Gleichnisse10 hat allerdings Jeremias später wieder zurückgenommen.11 Sie ging auch einen Schritt zu weit. Jesus erzählt: Als es gefüllt war (ὅτε ἐπληρώθη [hote eplērōthē]), zogen sie es auf den Strand und setzten sich nieder und sammelten das Gute in Gefäße, das Unbrauchbare aber warfen sie hinaus. In der Bemerkung Als es gefüllt war, sieht Nun eine „kleine Ungenauigkeit“, weil sie die Vorstellung hervorrufe, „als ob es eine Wartezeit gäbe, bis das Netz sich füllt“. Eine grundlegende Eigenart des Fischens mit dem Zugnetz ist jedoch die, dass das Netz „sofort … wieder an Land gezogen wird“.12 Die Wendung ἐπληρώθη [eplērōthē] hebt nicht auf die Menge ab – „bis obenan gefüllt“ –, sondern darauf, dass man überhaupt etwas im Netz hat. Erst recht schießt die allegorisierende Deutung von Luz, πληρόω [ plēroō] lasse „das Vollwerden der von Gott bestimmten Zeit oder des von Gott bestimmten Maßes“ anklingen,13 über das Ziel hinaus. Danach aber verläuft die Erzählung so, wie es Mendel Nun bei den jetzigen Fischern des Kibbuz En Gev erlebt hat.14 An 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Nun, 22. Vgl. Nun, 16ff. Bauer-Aland, 1480. Nun, 22. Thompson a.a.O.; 383; Jeremias Gleichnisse, 223. Jeremias Gleichnisse, 89; auch Flusser, 63. Jeremias Gleichnisse, 222. Nun, 22. Luz II 359; auch bei Jeremias Gleichnisse, 224. Nun, 16ff.

11. Das Gleichnis vom Fischnetz, 13,47-50

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Seilen zogen sie [= die Fischer] es auf den Strand. Die Fischer setzten sich nieder, um den Fang zu sortieren. Das Gute = Essbare kam in Gefäße, wohl Körbe oder Holzkästen. „Ein guter Fang kann Hunderte von Kilo einbringen“, schreibt Nun.15 Das Unbrauchbare aber warfen sie hinaus: τὰ σαπρά [ta sapra], ein derber Ausdruck,16 fasst zweierlei zusammen: 1) das vom Gesetz (Lev 11) Verbotene, wie den schuppenlosen Wels, 2) das für Menschen Ungenießbare oder zu kleine Fische. Hier erinnern die Worte ἔξω ἔβαλον [exō ebalon] allerdings unübersehbar an Mt 3,10; 8,12, offenbaren also einen eschatologischen Gehalt. So wird es sein (οὕτως ἔσται [houtōs estai]) in der Vollendung des Äons (V. 49): Wortwörtlich wird hier Mt 13,40 aufgenommen. Ab jetzt laufen das Gleichnis vom Unkraut bzw. dessen Deutung und die Deutung des FischnetzGleichnisses offensichtlich parallel. Jesus zielt also auch mit dem FischnetzGleichnis auf das eschatologische Geschehen. Die Engel werden ausziehen und die Bösen aus der Mitte der Gerechten17 aussondern: Das sind ähnliche Vorgänge wie in Mt 13,41. Und werden sie in den Feuerofen werfen. Dort wird Weinen und Zähneknirschen sein (V. 50): Das ist die wörtliche Wiederholung von Mt 13,42. Zur näheren Erklärung von V. 49 und 50 siehe bei Mt 13,40-42. Was ergibt sich aus diesen Beobachtungen? Formal steht an erster Stelle, dass Jesus sich bewusst solcher Wiederholungen bedient hat. Die Hörer müssen mit bestimmten Zukunftsereignissen rechnen, und die Wiederholung soll ihnen die betreffenden Bilder und Aussagen unvergesslich einschärfen.18 Inhaltlich rechnet Jesus mit einer Scheidung von Gerechten und Ungerechten, von Erlösten und Verlorenen endgültig erst im Jüngsten Gericht. Das schließt für ihn selbst eine existentielle Entscheidung ein: Nicht jetzt und nicht durch ihn als den auf Erden lebenden Messias kommt es zur Trennung von Gerechten und Ungerechten. Damit aber gerät er in Widerstreit mit den Pharisäern und mit den Zeloten, die die Trennung eben im jetzigen Äon durch den präsenten Messias erwarten. Dieser Konflikt war schwer. Aber Jesu Auslegung der Heiligen Schriften – vgl. nicht zuletzt Joh 3,17ff – zeigt ihm, dass es jetzt nach Ez 34 um die Rettung der Verlorenen geht. Das ist sein Lebensauftrag seit Mt 1,21. Das gibt ihm auch eine fantastische Freiheit, um das Volk des Landes zu werben. Und dahin zielt nun das Gleichnis vom Fischnetz: nämlich auf die Einladung, zu den guten Fischen zu gehören und am Reich Gottes 15 16 17 18

Nun, 18. O. Bauernfeind, Art. σαπρός usw., ThWNT, VII, 1964, 96. Vgl. Ps 1,5. Vgl. Riesner, 447f.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

teilzunehmen. Mt 13,47-50 ist hier viel direkter als Mt 13,24ff, direkter auch als Mt 13,44-46. Die Frage muss jedem Hörer auf dem Herzen liegen: Komme ich in den Korb der Guten oder muss mich Gott verwerfen? Damit sind keineswegs alle Dimensionen des Gleichnisses ausgeschöpft. Es zeigt ja auch, dass im Netz Gute und Böse gleichzeitig beieinander sind. Ist das nicht auch in Israel und in der Jüngerschaft der Fall? Es zeigt, dass Gott durch Jesus wie ein Fischer tätig ist. Wurde dies nicht für die messianische Zeit durch Jer 16,16; Ez 47,10 angekündigt? Es zeigt schließlich, dass das Gericht unbestechlich sein wird.

IV Zusammenfassung 1. Das Gleichnis vom Fischnetz (Mt 13,47-50) hat sein ganz eigenes Profil, weshalb man es besser nicht als Doppelgleichnis im Verbund mit dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24-30) versteht.19 Es berührt sich einerseits zwar eng mit dem Gleichnis vom Unkraut, was die eschatologische Zuspitzung anbelangt. Andererseits aber berührt es sich auch mit dem Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld (Mt 13,3-9), und zwar insofern, als sich dort die Hörer fragen müssen, ob sie gutes Land sind, und hier ganz ähnlich, ob sie gute Fische sind. Trotz der formal gleichen Einleitung in V. 44, V. 45 und 47 ist aber der Abstand zum Schatz- und zum Perlen-Gleichnis ziemlich groß. Denn die Entschlossenheit, die in diesen beiden Gleichnissen eine wichtige Rolle spielt, ist nicht das Thema des Fischnetz-Gleichnisses. 2. Eine ziemlich einheitliche Problematik in den meisten Gleichnissen von Mt 13 (Vierfaches Ackerfeld – Unkraut unter dem Weizen – Senfkorn – Sauerteig – Fischnetz) wird durch den Zeitfaktor hervorgerufen.20 Für die Christologie spielt der Zeitfaktor eine wichtige Rolle. Jesus trennt zwischen der messianischen Gegenwart und der messianischen Zukunft. Die Gegenwart, in der er als Messias wirkt, ist bestimmt durch die Erlösung von Sünde (Mt 1,21), die Sammlung der Gemeinde des Neuen Bundes (Mt 9,36f; 28,18ff ) und das Kreuz (Mt 10,17ff; 12,38ff; 16,21ff ). Die Zukunft, in der er als Messias wiederkommt, ist bestimmt durch seine Macht und Herrlichkeit, das Gericht über die Bösen, die Scheidung von Gut und Böse und die Vollendung des Gottesreiches (Mt 11,20ff; 13,27ff.40ff.48ff; 16,27; 19,28; 24,29ff.37ff.48ff; 25,1ff.14ff.31ff; 26,29.64). Hier bricht der Konflikt immer wieder auf. Denn Pharisäer, Zeloten und Essener rechnen mit einem Messias, der schon in der

19 Vgl. Luz II 357. 20 Vgl. Luz II 357.

12. Das Gleichnis vom Hausvater, 13,51-52

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Gegenwart, sobald er erscheint, mit den Feinden Israels und mit den Sündern aufräumt und ein gereinigtes Israel regiert.21 3. Die Historizität des Gleichnisses vom Fischnetz kann als gesichert gelten.22 Bezüglich des Verhältnisses zu den Rabbinica bemerkt jedoch Flusser: „Ich kenne kein rabbinisches Gleichnis mit dem Hauptthema des Fischnetzes.“23 4. Eine lebhafte Diskussion gilt der Frage, ob es zwischen dem Gleichnis vom Fischnetz und den „Menschenfischern“ von Mt 4,19 einen Zusammenhang gibt. Luz hat einen solchen Zusammenhang energisch verneint.24 Aber es wäre doch sehr künstlich, wenn man das Fischnetz-Gleichnis von Mt 13,4750 nicht in Verbindung mit den ἁλιεῖς [halieis] von Mt 4,18f bringen dürfte. Auch in Mt 13,47ff geht es ja um Menschen! Die Alte Kirche hat hier das richtige Gespür gehabt, wie Augustins Auslegung von Mt 13,47ff im Gottesstaat25 zeigt. Zwar bleibt die eindringliche Mahnung an die Hörer, doch als „gute Fische“ ins Reich Gottes einzugehen, das Hauptziel. Daneben aber wird den Hörern vermittelt, dass jetzt die eschatologische Sendung der Fischer von Jer 16,16; Ez 47,10 stattfindet. Das bedeutet zugleich, dass im Netz des Messias und seiner Jünger Gute und Böse sind, und dass dies bis zum Endgericht so bleiben wird. Im Unterschied zu Mt 13,24ff ist dieses Corpus permixtum aber nicht die Welt, sondern die Kirche. Missionarisch werden Menschen der „verschiedensten Arten“ gewonnen. Aber erst am Ende, in Gottes Gericht, wird man sie völlig gerecht voneinander trennen.26

12. Das Gleichnis vom Hausvater, 13,51-52 I Übersetzung 51 Habt ihr das alles verstanden? Sie sagen zu ihm: Ja. 52 Er aber sagte zu ihnen: Deshalb gleicht jeder Schriftgelehrte, der zum Jünger des Reiches Gottes geworden ist, einem1 Hausherrn, der aus seiner Vorratskammer Neues und Altes hervorholt. 21 22 23 24 25 26 1

Ps Sal 17–18. Vgl. die Frage der Jünger, Apg 1,6. Vgl. Luz II 358. Flusser, 37. Luz II 358. DCD XVIII, 49. Ebenso Schniewind, 174; Jeremias Gleichnisse, 224; Schlatter, 223; Zahn, 501. ἄνθρωπος [anthrōpos] = τις [tis] (BDR § 301,5).

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

II Struktur Ohne jede Einleitung erscheint die Frage: Habt ihr verstanden?2 Man könnte V. 51f leicht als Fortsetzung von V. 47-50 betrachten. Aber dann folgt in V. 52 ein Gleichnis, das inhaltlich mit V. 51 zusammengehört. So lässt man besser V. 51-52 als Einheit für sich bestehen.3 Die Verbformen und Pronomina (αὐτοῖς [autois]) legen es nahe, an ein Gleichnis im Jüngerkreis zu denken. Siehe dazu später. Auch Mt 13,51f ist Matthäus-Sondergut. Die knappe Erzählung rückt nur Weniges ans Licht.

III Einzelexegese Die einleitende Frage: Habt ihr das alles verstanden? (V. 51), bezieht sich vermutlich auf einen größeren Zusammenhang (das alles).4 Es geht wohl um ein Gesamtverständnis aller Gleichnisse, gleichgültig, ob sie im Jüngerkreis oder in der Öffentlichkeit gelehrt wurden. Das Stichwort verstehen (συνήκατε [synēkate]) greift auf Mt 13,11.13.14.15.19.23 zurück. Speziell in der Situation von Mt 13,51 muss auch an die christologische „Zeitverzögerung“ gedacht werden, wonach die Scheidung von Gerechten und Ungerechten sowie das Gericht über die Bösen erst im Endgericht erfolgt. Das Ja ohne jede Einschränkung5 markiert den Abschluss einer bestimmten Phase in der Geschichte der Jünger. Der Bericht des Matthäus soll hier zeigen: Am Ende haben die Jünger die Gleichnisse verstanden. Sie konnten sie deshalb auch richtig überliefern.6 Dass aber später Jesu Ringen um das Verständnis der Jünger weiterging, zeigen Mt 15,15f; 16,6ff.22f; 17,13. Die Passion des Christus bestand nicht zuletzt darin, dass er auch unter dem Unverständnis der Seinen zu leiden hatte. In V. 52 schließt Jesus das Gleichnis vom Hausvater an. Warum? Er muss doch offensichtlich seine Jünger als solche Schriftgelehrte betrachtet haben,7 wie er sie nun beschreibt: Deshalb gleicht jeder Schriftgelehrte (πᾶς γραμματεύς [ pas grammateus]), der zum Jünger des Reiches Gottes geworden ist (μαθητευθείς [mathēteutheis]), einem Hausherrn, der aus seiner Vorratskammer Neues und Altes hervorholt. Für Schriftgelehrter benutzt Jesus das übliche Wort, das jüdische Gesetzeskundige bezeichnet, γραμματεύς 2 3 4 5 6 7

Viele HSS haben deshalb nachträglich eine Einleitung geformt. Bultmann Gesch, 359. Sicher ist das nicht, vgl. Maier I, 486. Vgl. aber Zahn, 499. Vgl. BDR § 441,2. Von Jesus wird dieses „Ja“ in keiner Weise kritisiert! Ebenso Schlatter, 224.

12. Das Gleichnis vom Hausvater, 13,51-52

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[grammateus] = ‫[ ֹסֵפר‬s̀ opher]. Im Matthäusevangelium begegnet es seit 2,4 (vgl. die Erklärung dort). Aus Mt 13,52 und 23,8-10 sowie 23,34 ergibt sich, dass Jesus mit christlichen Schriftgelehrten rechnete, die es dann später nach Jak 3,1; 2,2 tatsächlich in den christlichen Synagogen gab. Aus Mt 13,52 zieht man sogar den Schluss, dass sich Matthäus selbst als einen solchen christlichen Schriftgelehrten betrachtete – mit Recht.8 Die Übersetzung von μαθητευθείς [mathēteutheis] wird verschieden vorgenommen. Rengstorf und Luz übersetzen beispielsweise „zum Jünger gemacht“,9 andere zum Jünger geworden.10 Beides kann zutreffen. Der Zusammenhang scheint eher für die zweite Möglichkeit zu sprechen. Jünger des Reiches Gottes ist ein Jünger Jesu.11 Deshalb (διὰ τοῦτο [dia touto]) zeigt an, dass es ein im Sinne von V. 51 verständig gewordener Jünger ist. Nur ein solcher kann aus seiner Vorratskammer (griech. θησαυρός [thēsauros], eigentlich Schatz, Schatzkammer) Brauchbares hervorholen (ἐκβάλλει [ekballei]). Die auffallende Redewendung Schriftgelehrter, der zum Jünger geworden ist scheint absichtlich die Möglichkeit anzusprechen, dass jüdische Schriftgelehrte Jünger Jesu werden.12 In der Tat ist das öfter geschehen (vgl. Mt 9,18; Joh 3,1ff; Apg 15,5; Phil 3,5). Zur Redewendung aus seiner Vorratskammer hervorholen vgl. man die ähnliche Redewendung in Mt 12,35. In Mt 13,52 muss man außerdem in Analogie zu Mt 5,17ff beachten, dass in hervorholen beides steckt: das Lehren und das Tun. Hausherr oder Hausvater, οἰκοδεσπότης [oikodespotēs] hat Jesus gerne in Gleichnissen benutzt (s. Mt 10,25; 13,27; 20,1; 21,33; 24,43).13 Aber was heißt nun Neues und Altes (καινὰ καὶ παλαιά [kaina kai palaia])? Wer die Zeitfolge im Auge hat, wird eher „Altes und Neues“ formulieren. Wer aber vom Inhalt und Wesen ausgeht und das Neue betonen will, kann durchaus das Neue voranstellen. So wird es auch hier sein: Jesus geht aus vom Neuen, das mit ihm angebrochen ist, und stellt es betont voran. Neu als ein „Leitwort der apokalyptischen Verheißung“14 bedeutet hier im Munde Jesu: Der Messias ist da, das messianische „Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren“ (Lk 4,21), seine Lehre mit neuer Vollmacht gegeben (Mt 7,28f ), die von ihm gesandten Schriftgelehrten sind als Zeugen Jesu die Diener des Neuen 8 Fiedler, 269; Hengel-Schwemer, 235f. Anders France, 230. 9 K.H. Rengstorf, Art. μανθάνω usw., ThWNT, IV, 1942, 465; Luz II 361; auch Maier I, 486. 10 So Bauer-Aland, 985; Fiedler, 269; Schniewind, 174; BDR § 148,5. 11 Rengstorf a.a.O. 12 Riesner, 229. 13 Zum Soziologischen vgl. Bösen, 192. 14 J. Behm, Art. καινός usw., ThWNT, III, 1938, 451.

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Das Ringen um das Volk des Landes, 13,1-52

Bundes (Mt 26,28). Deshalb sind sie in der Lage, Neues hervorzuholen aus der Schatzkammer ihres Herzens und ihres Verständnisses. Und was ist mit dem Alten? Hier scheiden sich in der Exegese die Geister.15 Zum Teil erklärt man es als letztlich bedeutungsloses „Anhängsel“,16 zum Teil als „das totaliter aliter“ zur Botschaft Jesu.17 Sollen also die Jünger Jesu ganz Gegensätzliches lehren? Besser ist die nach Seesemann „einfachste Deutung“.18 Ihr zufolge stehen Neues und Altes wirklich nebeneinander, wenn auch unter Betonung des Neuen. Jesu Schriftgelehrte haben also beides zu lehren. Sagen wir es kurz: Verheißung und Erfüllung, Gottes Wille im Alten und im Neuen Bund gehören zusammen.19 Mehr noch: Jesus sieht in Neu und Alt (καινὰ καὶ παλαιά [kaina kai palaia]) keine Gegensätze, sondern eine notwendige Abfolge der Offenbarung Gottes. Diese Deutung hat den Vorteil, dass sie mit Mt 5,17ff zusammenstimmt.20 Sie hat überdies den Vorteil, mit dem apostolischen Schriftgebrauch übereinzustimmen.

IV Zusammenfassung 1. Mt 13,51-52 hebt als Abschluss der Gleichnisrede zweierlei hervor: a) Die Dringlichkeit, Jesus nachzufolgen, b) die Kontinuität von Altem und Neuem Bund. 2. Die Dringlichkeit der Nachfolge ergibt sich daraus, dass nur derjenige, der zum Jünger des Reiches Gottes geworden ist, verstanden haben kann, welche Bedeutung die Person und die Lehre Jesu haben (διὰ τοῦτο [dia touto] V. 52!). Nur der Messias kann das Reich Gottes für das Verstehen, das immer Lehre und Praxis zugleich ist, aufschließen. 3. Die Kontinuität von Altem und Neuem Bund wird gerade jetzt, beim Werben um das Volk des Landes, betont, weil Jesus von zwei Seiten her bedroht wird. Auf der einen Seite wird ihm vorgeworfen, er lehre so viel Neues, dass er Israel verführe und gar nicht mehr zu Israel gehöre. Auf der anderen Seite wird ihm vorgeworfen, er sei doch auch nur ein Mensch und Rabbi wie die anderen, keiner, der wirklich Neues und Erlösendes bringe, und mache nur sich selbst zu Gott (vgl. Mt 13,53ff; Joh 10,33). Demgegenüber hält Jesus fest, dass für seine Gemeinschaft Neues und Altes gilt. Die Marcioniten und Antinomer aller Zeiten haben dieser Aussage Jesu den Rücken gekehrt. 15 16 17 18 19 20

Carson, 331: „Interpretations of this difficult verse are legion.“ So H. Seesemann, Art. πάλαι usw., ThWNT, V, 1954, 715. So Behm a.a.O., 452. Seesemann a.a.O. Grundsätzlich ebenso Jeremias Gleichnisse, 214; Fiedler, 269; Schniewind, 174. Auch mit 1Joh 2,7f; 2Joh 5, worauf Behm a.a.O., 452, hinweist.

12. Das Gleichnis vom Hausvater, 13,51-52

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4. Die Ursprünglichkeit und Historizität von Mt 13,51-52 wurde gelegentlich infrage gestellt.21 Die Gründe, auf die man sich bei diesen Zweifeln berief, reichen aber nicht aus.22

21 Bultmann Gesch, 108; Flusser, 56. 22 Vgl. auch Riesner, 498.

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Weitere Entwicklung, 13,53–14,36

Weitere Entwicklung, 13,53–14,36

1. Jesus wird in Nazareth abgelehnt, 13,53-58 I Übersetzung 53 Und es geschah, als Jesus mit diesen Gleichnissen zu Ende gekommen war, dass er von dort weiterwanderte. 54 Und er kam in seinen Heimatort und lehrte sie in ihrer Synagoge, sodass sie fassungslos waren und sagten: Woher hat der diese Weisheit und die Wunderkräfte? 55 Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria und seine Brüder Jakobus und Josef und Simon und Judas? 56 Und sind nicht alle seine Schwestern bei uns? Woher hat denn der das alles? 57 Und sie nahmen Anstoß an ihm. Jesus aber sagte zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und in seinem Hause. 58 Und er tat dort nicht viele Wunder um ihres Unglaubens willen.

II Struktur Bei Mt 13,53-58 erhebt sich zunächst die Frage nach der Stellung im Makrokosmos des Evangeliums. Haben wir Mt 13,51f richtig ausgelegt, dann war dort noch einmal die Dringlichkeit der Nachfolge und das Werben um das Volk des Landes unterstrichen, auch die Zugehörigkeit Jesu zu Israel. Jetzt wird dies alles in seiner Heimatstadt noch einmal auf die Probe gestellt. Ist er der Besondere, der Erlöser, der Messias? Soll man sich ihm öffnen? Ihn gar ehren? Gehört er zu uns? Es wirkt wie ein Fanal für das Kommende, dass Jesus in Nazareth mehrheitlich abgelehnt wird. Der Bericht des Matthäus ist schlicht und sparsam aufgebaut: 1) Jesus kommt in seinen Heimatort (V. 53-54a), 2) er lehrt dort (V. 54b), 3) es kommt zur Distanz (V. 54c-57a), 4) er nimmt dazu Stellung (V. 57b), 5) der Evangelist schließt seinen Bericht (V. 58). Ein Problem eigener Art bildet das Verhältnis zu den Parallelberichten. Was Aland in seiner Synopse an johanneischen Parallelen darbietet, gehört in andere Zusammenhänge und kann hier außer Betracht bleiben. Am nächsten kommt Mk 6,1-6. Aber Markus ordnet diesen Nazarethbesuch an anderer Stelle in den Ablauf seines Evangeliums ein. Schwieriger ist das Verhältnis zu Lk 4,16-30. Nicht nur, dass Lukas seinen Bericht quasi an die Spitze seines Evangeliums stellt. Sondern er hat auch mehr und ganz andere Stoffe als Mat-

1. Jesus wird in Nazareth abgelehnt, 13,53-58

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thäus und Markus. Ist Lk 4,16ff wirklich eine Parallele zu Mt 13,53ff; Mk 6,1ff? Wir vermuten, dass dem Lukasbericht doch ein anderes Ereignis zugrunde liegt.1 Man sollte nicht krampfhaft an der Paralleltheorie festhalten. Es wäre vielmehr seltsam, wenn Jesus während seines gesamten öffentlichen Wirkens nur ein einziges Mal nach Nazareth gekommen wäre.

III Einzelexegese Und es geschah, als Jesus mit diesen Gleichnissen zu Ende gekommen war (V. 53): Die Wendung Καὶ ἐγένετο ὅτε ἐτέλεσεν ὁ Ἰησοῦς [Kai egeneto hote etelesen ho Iēsous] mit anschließendem Akkusativobjekt und Demonstrativpronomen findet sich auch in Mt 7,28; 19,1; 26,1; ähnlich 11,1. Matthäus hat sie gerne verwendet, um einen Erzählkomplex abzuschließen und einen neuen Abschnitt zu eröffnen. Man darf dies aber nicht nur als literarisches Stilmittel betrachten.2 Vielmehr werden hier auch Inhalte transportiert. Dazu gehört, dass Jesus sich in der Folgezeit weniger stark auf Gleichnisse konzentriert. Er wird aber zu einem verstärkten Gleichnisgebrauch zurückkehren (vgl. Mt 22,1; 24,32ff; 25,1ff ). Immer wieder beobachten wir, dass Jesus sich mit seiner Verkündigung zurücknimmt, gewissermaßen Pausen einlegt (ἐτέλεσεν [etelesen] eigentlich aktiv: ein Ende gemacht hatte3), um den Menschen Zeit zur Besinnung zu geben. Dass er von dort weiterwanderte: μετῆρεν [metēren] wird hier intransitiv gebraucht, als „sich wegbegeben“.4 Von dort bedeutet: vom Seeufer und damit auch von Kapernaum weg. Einzelheiten bleiben unerwähnt. Vers 53 hat, wie richtig bemerkt wird,5 einen Übergangscharakter. Einerseits schließt er die Gleichnisverkündigung ab. Andererseits leitet er die folgenden Berichte ein. Und er kam in seinen Heimatort (εἰς τὴν πατρίδα αὐτοῦ [eis tēn patrida autou]), V. 54: Ob er direkt dorthin wanderte oder ob er sich einige Zeit in der Gegend aufhielt, wissen wir nicht. Man wundert sich, dass Matthäus und Markus im Unterschied zu Lk 4,16 den Namen „Nazareth“ nicht nennen. Offenbar sahen sie dazu keine Notwendigkeit. Hat Matthäus nach Mt 2,23 und aufgrund des Kreuzestitels (Joh 19,19) vorausgesetzt, dass er allgemein bekannt war? Ist dem so, dann liegt hier ein interessantes Zeugnis dafür vor, 1 Maier I, 495. Dahin tendiert auch Carson, 335. Anders Hengel-Schwemer, 282; Riesner, 358; Sand, 300. 2 Luz II 384: „übliche Abschlußwendung“. 3 Bauer-Aland, 1616. 4 BDR § 308,4; Bauer-Aland, 1034. 5 France, 231; Carson, 334.

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dass der Heimatort Jesu „des Nazareners“ damals allen Juden geläufig war (vgl. Apg 2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 24,5; 26,9). πατρίς [ patris] ist „Vaterland“, „Vaterstadt“, „Heimat“, „heimatliches Dorf “6 und umschließt alles, was wir mit dem Begriff „Heimat“ verbinden. Jesus hat in seinem Heimatort runde dreißig Jahre verbracht. Was wird dort geschehen? Und er lehrte sie in ihrer Synagoge (V. 54b): Zuerst halten wir fest, dass der Ausdruck in ihrer Synagoge keine Distanzierung bedeuten muss,7 ebenso wenig wie in Mt 4,23 und anderen Stellen. Denn es ist ja Jesu eigene Synagoge, in der er aufgewachsen war und gelernt hatte (vgl. Lk 2,52; 4,16). Ihre Synagoge heißt nur: die nazarenische Synagoge.8 Zweitens beachten wir, dass Jesus offenbar freien Zutritt zur Synagoge hatte und sich dort am Gottesdienst beteiligen konnte. Es muss immer noch eine erhebliche Anzahl von Menschen gegeben haben, darunter auch Pharisäer, die ihm positiv gegenüberstanden. Drittens lag die Initiative zum Besuch in Nazareth und seiner Synagoge offenbar bei Jesus selbst (ἐδίδασκεν αὐτοὺς [edidasken autous]). Wenn Luz Mt 13,52-58 unter das Thema „Der Rückzug Jesu aus Israel“ einordnet,9 dann stellt er die Intention Jesu und des Evangelisten auf den Kopf. Jesus ringt weiterhin um das Volk des Landes, um die Synagogengemeinde wie um die „Außenstehenden“, ja um ganz Israel. Er wird dies bis zum Kreuz tun. Einen solchen „Rückzug“ gibt es nicht. Aber der Protestantismus hat eine merkwürdige Affinität zu „Rückzügen“ aller Art. Ist er deshalb oft so skeptisch gegenüber allem, was „Mission“ heißt? Das Imperfekt ἐδίδασκεν [edidasken] hat vermutlich iterativen oder durativen Charakter.10 Das legt es nahe, nicht nur einen einmaligen Synagogenbesuch Jesu in Nazareth anzunehmen, sondern einen längeren Zeitraum, in dem Jesus die Synagoge mehrfach aufsuchte. Dennoch bleibt es auffällig, „daß Nazareth und seine weitere Umgebung als Ort der Wirksamkeit Jesu kein“ besonderes Gewicht hat.11 Statt Einzelheiten der Predigt zu nennen, kommt Matthäus sofort auf deren Ergebnis zu sprechen: sie waren fassungslos (ἐκπλήσσεσθαι [ekplēssesthai]) und sagten: Woher hat der diese Weisheit und die Wunderkräfte? (V. 54). An der Einzigartigkeit Jesu besteht hier so wenig Zweifel wie bei der Berg6 Bauer-Aland, 1284. 7 Gegen Beare, 319; Sand, 300; Luz II 384. 8 Theißen-Merz, 159, schreiben „Archäologische Spuren“ der Synagoge gebe „es bisher nicht“. Anders Kopp, 119f. Er betrachtet den Platz der „Kirche der Vierzig Märtyrer“ als den Ort der alten Synagoge. Vgl. Riesner, 222. 9 Luz II 380ff. 10 Vgl. Carson, 335. 11 Hengel-Schwemer, 282.

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predigt (Mt 7,28; vgl. 19,25; 22,33; Mk 1,22; 7,37; 10,26; 11,18; Joh 7,46). Halten wir fest, dass diese Einzigartigkeit an zwei Punkten festgemacht wird: a) an seiner Weisheit (σοφία [sophia]) und b) an seinen Wunderkräften (δυνάμεις [dynameis]). Demnach hat Jesus auch in Nazareth einige Wunder vollbracht (Krankenheilungen?),12 und Matthäus hat durchaus recht mit seiner Schlussbemerkung: er tat dort nicht viele Wunder, aber doch einige (V. 58). Wenn Markus schreibt: „Er konnte dort kein einziges Wunder tun, außer dass er wenigen Schwachen die Hände auflegte und sie heilte“ (Mk 6,5), dann sagt er genau dasselbe. Wie Exegeten zu dem Urteil kommen, Matthäus habe den Markus „gemildert“,13 bleibt einigermaßen unverständlich.14 Die Frage Woher? (πόθεν [ pothen]) ist alles andere als harmlos. Hat man Jesus in Galiläa nicht schon vorgeworfen, in der Macht des Beelzebul zu handeln (Mt 12,24)? Gilt er nicht einigen als dämonisiert, als Samariter (Joh 8,48)? Sagten nicht schon vor Mk 6 seine eigenen Angehörigen ἐξέστη [exestē] (Mk 3,21)? Weisheit, σοφία [sophia], kann göttlich sein (Sir 24; Lk 2,52). Sie kann aber auch „von unten“ stammen (Joh 8,23). Offenbar macht es die natürliche Nähe zu Jesus, die in seinem Heimatort gegeben war, eher noch schwieriger, das richtige Verhältnis zu ihm zu finden (V. 57). Im Grunde wird durch V. 54-56 die christologische Frage gestellt.15 Tertullian hat dies mit seiner ungewöhnlichen Intuition begriffen, wenn er Mt 13,54 mit den Worten kommentiert: „Auch die, welche seine Gestalt verachteten, sprachen so.“16 Allerdings: der (τούτῳ [toutō]) ist eine verächtliche Redeweise.17 Die Fragen in V. 55 und 56 informieren uns bis heute über Jesu menschliche Seite: Ist das (οὕτος [houtos]) nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria und seine Brüder Jakobus und Josef und Simon und Judas? Und sind nicht alle seine Schwestern bei uns? Woher hat denn der (πόθεν οὖν [ pothen oun]) das alles? Man kann nicht behaupten, dass diese Fragen von vornherein negativ seien. Die Nazarener sagen zunächst nur, was sie von Jesus wissen. Dabei ist auch interessant, was sie in diesem Zusammenhang nicht sagen: a) Sie benennen keinen Rabbi, dessen Schüler Jesus gewesen wäre, b) sie benennen kein Vergehen, dessen sich Jesus schuldig gemacht hätte, c) sie lassen nichts erkennen, was auf eine frühere Ehe Josefs oder verschiedene Eltern bei Jesus und seinen Geschwis12 13 14 15 16 17

Gegen Beare, 319. So Schniewind, 175; Fiedler, 271; Luz II 386. Ebenso Carson, 336. Cullmann, 328. In Texte KV II, 111. Tasker, 142.

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tern hindeuten würde. Letzteres ist schon deshalb interessant, weil Origenes eine Überlieferung erwähnt, wonach die Brüder Jesu aus einer früheren Ehe Josefs stammen würden.18 Davon ist im NT nichts zu merken. Allerdings weisen die Fragen in V. 55f ein bestimmtes Gefälle auf. Sie bekräftigen alle, dass Jesus nur ist „wie unsereiner“. Was soll da ein messianischer oder gar göttlicher Anspruch? Joh 6,42 steht Mt 13,55 ganz nahe. Auch Joh 7,15 wird durch Mt 13,55f bestätigt. Der Sohn des Zimmermanns: τέκτων [tektōn] heißt „Bauhandwerker“, „Zimmermann“, „Schreiner“.19 Dabei handelt es sich um ein selbstständiges Handwerk. Der Betreffende übernahm als Bauhandwerker zugleich die Aufgabe des Architekten. Josef gehörte also dem Mittelstand an. „In der Regel geht das Handwerk vom Vater auf den Sohn über.“20 Demnach ist auch Jesus als der Älteste der Brüder Bauhandwerker gewesen. Mk 6,3 sagt das sogar ausdrücklich: „Ist er nicht der Zimmermann?“21 Auch Jesus war also Mittelständler. Sein Beruf galt als ehrenvoll. Er teilte ihn mit dem großen Gelehrten Schammai, einem pharisäischen Schulhaupt (ca. 50 v.Chr.–30 n.Chr.), der ebenfalls Zimmermann war.22 Heißt nicht seine Mutter Maria? Maria, Μαριάμ23 [Mariam], ist das hebr. Mirjam (Num 12,1ff ). Vergleiche die Erklärung bei Mt 1,18 und 12,46ff. Da in Mt 13,55 und Mk 6,3 nur von Maria die Rede ist, lebte Josef damals nicht mehr. Von den in Mt 13,55 aufgeführten vier Brüdern Jesu sind uns der erste und der letzte, Jakobus und Judas, aus dem NT vertraut. Jakobus wurde Nachfolger des Petrus in der Leitung der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 12,17; 15,13ff; 21,18ff; Gal 1,19; 2,9.12). Von ihm stammt der Jakobusbrief. Judas, der Verfasser des Judasbriefes, stellt sich dort als „Bruder des Jakobus“ vor (Jud 1). Jakobus, ein auch unter den Juden geachteter „Gerechter“ und Beter, erlitt im Jahre 62 n.Chr. in Jerusalem den Märtyrertod.24 Zur Zeit von Mt 13,53ff glaubten aber Jesu Brüder noch nicht an seine Messianität. Das geht aus Mt 12,46ff; Mk 3,20f; Joh 7,3ff hervor. Ihr Weg zum Glauben war alles andere als leicht. Erst durch die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus kamen sie zum vollen Glauben an seine Messianität und Gottessohnschaft (1Kor 15,7; Apg 1,14; Jak 2,1; Jud 1.25). Josef und Simon sind uns 18 19 20 21 22 23 24

Comm in Matth X, 17. Bauer-Aland, 1613. Bösen, 178; Riesner, 218. Vgl. Justinus Dial c Tryph 88,8. Bösen a.a.O. Vgl. Riesner, 217ff; Hengel-Schwemer, 294ff; Fiedler, 271. Vgl. BDR § 53,12. Eusebius H.E. II, 23,4ff; Josephus Ant XX, 200; Riesner, 216f.

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nicht näher bekannt. Über den Namen des Josef (oder hieß er „Joses“?) bieten die alten Handschriften weder bei Mt 13,55 noch bei Mk 6,3 eine völlige Klarheit. Theodor Zahn hält jedoch Josef für den ursprünglichen Namen.25 Nach wie vor bleibt es möglich, mit Theodor Zahn zu erwägen, ob unter den „Brüdern des Herrn“ in 1Kor 9,5 nicht Josef und Simon mit inbegriffen sind.26 Eins aber ist klar: Im Unterschied zu Mohammed hat Jesus keine Familiendynastie gegründet. Er hat weder die Leitung der Urgemeinde noch die Fürsorge für seine Mutter einem seiner Brüder anvertraut (Joh 19,25ff; 21,15ff ). Nach V. 56 wohnten alle seine Schwestern damals in Nazareth. Jesus hatte also mindestens zwei Schwestern. Der Ausdruck seine Schwestern alle (πᾶσαι [ pasai]) deutet eher auf eine noch größere Zahl. Zahn meint sogar, dass ihre „Zahl nicht klein gewesen zu sein scheint“27 – doch das bleibt Vermutung. Verheiratet waren sie sicherlich.28 Denn nach Joh 2,12 zogen sie nicht mit nach Kapernaum, und in Mt 13,56 sind sie als eigene Gruppe erwähnt.29 Erneut (vgl. V. 54) wird die Frage gestellt: Woher hat denn der das alles? Das Ergebnis des Nazarethbesuches fasst Matthäus in drei Sätzen (V. 5758) zusammen: 1. Sie nahmen Anstoß an ihm (ἐσκανδαλίζοντο ἐν αὐτῷ [eskandalizonto en autō]): Das Imperfekt ἐσκανδαλίζοντο [eskandalizonto] zeigt, dass sich hier nicht nur eine momentane Situation spiegelt, sondern eine dauerhafte Entfremdung und Distanz (duratives Imperfekt). Wer nahm Anstoß? Die Familie? Die „Synagogenbesucher“?30 Von V. 54 her kann die Antwort nur lauten: sie sind ganz allgemein die Nazarener.31 Das bedeutet zugleich: Es ist die Mehrheit: Eine Minderheit (vgl. V. 58) kann sich ganz anders verhalten haben. Was heißt sie nahmen Anstoß an ihm = Jesus? Gustav Stählin trifft den Sinn dieser Aussage, wenn er kommentiert: „sie verweigerten ihm … den Glauben.“32 Sie lehnten es also ab, ihn als Messias gelten zu lassen (vgl. Mt 11,6), und sie verweigerten die Nachfolge. Was war der Grund? Häufig nennen die Kommentare die Nähe der Nazarener zu dem „gewöhnlichen“ Menschen Jesus, die es ihnen verwehrte, in ihm etwas Besonderes zu erkennen.33 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Zahn Forsch VI, 362. Zahn Forsch VI, 355. Zahn, 503. Zahn, 504. Zahn, 504. Epiphanius nennt die beiden Namen „Salome“ und „Maria“ (Panar 78,9,6). Sand, 301. G. Stählin, Art. σκάνδαλον usw., ThWNT, VII, 1964, 350. Stählin a.a.O. Sand, 301; Carson, 336; France, 232, Luz II 385; Zahn, 503.

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Hätte er also mehr Wunder tun sollen, um sie stärker zu beeindrucken? In Lk 4,23 wird so etwas suggeriert. Aber dann wären die Wunder zu Schauwundern im Sinne von Mt 4,5ff geworden, und der Gehorsam gegenüber dem Vater im Himmel hätte aufgehört. Aus Mt 13,54-57 muss man tatsächlich den Schluss ziehen, dass die Wunder, die Jesus nach dem Koran34 und apokryphen Schriften schon in Kindheitstagen getan haben soll, reine Legenden sind. Neben der Fixierung auf den „gewöhnlichen“ Menschen Jesus kann freilich auch noch etwas anderes bei der Ablehnung eine Rolle gespielt haben: nämlich ein verletzter Stolz, der für Nazareth eine größere Ehre erwartete als für andere Städte. Lk 4,23ff klingt ganz danach. Aber so wie Jesus seine eigene Familie nicht zu besonderen Ehren erhob, so tat er es auch nicht mit seiner Vaterstadt. Fazit: Jesus konnte die Mehrheit der Nazarener nicht für seine Nachfolge gewinnen. 2. Jesus aber sagte zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und in seinem Hause: Vielleicht benutzt Jesus hier ein Sprichwort (vgl. Joh 4,44).35 Diese Aussage enthält eine dreifache Botschaft: a) Jesus sieht sich in der Kette und Gemeinschaft der Propheten Israels, er ist selbst Prophet. Offenbar ist er seinem eigenen Verständnis zufolge der zweite Mose aus Dtn 18,15ff. b) Wie die Propheten Israels wird er in seinem eigenen Lande abgewiesen (vgl. die Schicksale Jeremias, des Amos, des Secharja). Vergleiche Mt 23,35; 2Chron 24,20ff. Er teilt also die Leidensgeschichte der alttestamentlichen Propheten. Vergleiche Mt 23,29ff; Lk 13,33. Der Zusatz und in seinem Hause (= und in seiner Familie36) fällt auf. Spielt Jesus damit nicht auf Num 12 an? Ist er also wirklich der zweite Mose? Dabei muss der historische Bezug auf seine Familie keineswegs unter den Tisch fallen. Theißen-Merz nannten es eine „Peinlichkeit“,37 dass Jesu eigene Familie auf Distanz ging (vgl. Mk 3,21; Joh 7,5). Aber anders als einen Ausdruck der Distanz kann man es nicht verstehen, wenn Jesus feststellt, dass er selbst in seinem Hause wenig gilt. Der Grundtext sagt es noch schärfer: Er ist ἄτιμος [atimos], die Familie verweigert ihm die Ehre, ein Prophet zu sein. Zahn suchte hier die Schuldigen vor allem unter den Schwestern und deren Ehemännern.38 Jesus aber wählte bewusst eine offene Form, eben sein Haus = seine Familie. c) Jesus verbindet mit seiner Stellungnahme keinerlei Drohung, keinerlei Sanktion. Er trägt seine Leidensgeschichte in einzigartiger Demut.39 Seine Liebe zu 34 35 36 37 38 39

Sure 3, 47.50; 5,111. Zahn, 503. Vgl. O. Michel, Art. οἶκος usw., ThWNT, V, 1954, 134. Theißen-Merz, 504. Zahn, 504. Vgl. Num 12,3.

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den Seinen, seine Liebe auch zu Nazareth hat dadurch nicht aufgehört – ein bewundernswertes Vorbild. 3. Und er tat dort nicht viele Wunder um ihres Unglaubens willen (διὰ τὴν ἀπιστίαν αὐτῶν [dia tēn apistian autōn]), V. 58: Einige Wunder (δυνάμεις [dynameis]) sind also doch geschehen. Mk 6,5 spezifiziert sie so, „dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte“. Ursache der Zurückhaltung Jesu war der Unglaube (ἀπιστία [apistia])40 der Nazarener. Manche interpretieren dies in fast magischer Manier so, als wäre eine Heilung nur dort möglich, wo psychologisch durch den Glauben die Voraussetzung geschaffen würde. Aber so primitiv liegen die Dinge nicht. Jesus hat durchaus auch Ungläubige geheilt (Mt 8,28ff; 12,9ff; Lk 22,51). Er drängt jedoch niemandem seine Hilfe auf. Wenn Nazareth sich dem Glauben verweigert, versucht Jesus eben nicht den Durchbruch durch „Power-evangelism“, sondern respektiert auch die Ablehnung (vgl. Mt 10,14).41

IV Zusammenfassung 1. Mt 13,53-58 berichtet eine historische Begebenheit.42 2. In der Überleitung von Kapitel 13 zu den Kapiteln 14–20 wirkt die Erfahrung Jesu in seiner Heimat Nazareth wie ein Fanal, das auf die kommenden Schwierigkeiten und die schließliche Ablehnung durch Israels Mehrheit hindeutet. 3. Die Ablehnung durch eine Mehrheit der Nazarener musste ihn schwer treffen. Sie war aber zugleich für ihn eine Bestätigung, dass er wirklich zu den Propheten Israels gehörte, ja dass er der zweite Mose war. 4. Mt 13,53-58 besitzt auch insofern besonderes Gewicht, als es die Rolle der Familie Jesu beleuchtet. Wir befinden uns hier in einer Phase der Distanz der Familie. Die Urteile über die ἀπιστία [apistia] (Unglaube) in Nazareth, die Verweigerung der prophetischen und messianischen Ehre (ἄτιμος [atimos]), werden ausdrücklich auf die Familie erstreckt. Das stellt uns vor die Herausforderung, Mt 13,53ff in seinem Verhältnis zu den Geburtsgeschichten (Mt 1; Lk 1–2) einerseits und zur späteren Rolle der Familie in der frühen Christenheit andererseits zu reflektieren. Alle Nachrichten, die den Zeitraum von Mt 13,53ff betreffen, konvergieren darin, dass die Familie damals aufs Ganze gesehen die Nachfolge verweigerte (Mk 3,20f.31ff; 6,1ff; Mt 12,46ff; 13,53ff; Joh 7,3ff ). Am Anfang stand die Freude über die Geburt, in der Mitte das 40 Bauer-Aland, 170. 41 Schlatter, 227f. 42 Hengel-Schwemer, 287; Theißen-Merz, 504; Luz II 384.

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Befremden,43 am Ende nach der Auferstehung der Glaube. Auch Maria ging diesen Weg. Allgemeinurteile über eine „familienkritische“ Haltung Jesu verbieten sich jedoch. 5. Dass Jesus keine rabbinische Ausbildung genoss, ist durch Mt 13,53-58 so gut wie gesichert.44 Matthäus und Johannes (7,15) bestätigen sich hier gegenseitig. 6. Wie das gesamte Evangelium, so kreist auch Mt 13,53-58 im Grunde um die christologische Frage: Wer ist Jesus?

2. Jesus und Herodes, 14,1-12 I Übersetzung 1 In jener Zeit hörte der Tetrarch Herodes, was man von Jesus erzählte, 2 und er sagte zu seinen Höflingen: Das ist Johannes der Täufer! Er ist von den Toten auferweckt worden, und deshalb wirken die Wunderkräfte in ihm. 3 Denn Herodes hatte Johannes in seine Gewalt gebracht, in Fesseln gelegt und gefangen gesetzt wegen Herodias, der Frau seines Bruders Philippus. 4 Denn Johannes sagte zu ihm: Es ist dir nicht erlaubt, sie zu haben. 5 Und obwohl er ihn töten wollte, fürchtete er sich doch vor dem Volk. Denn sie hielten ihn für einen Propheten. 6 Als aber der Geburtstag des Herodes kam, tanzte die Tochter der Herodias in ihrer Mitte und das gefiel dem Herodes, 7 sodass er ihr mit einem Eid versprach,1 ihr zu geben, was sie wolle. 8 Sie aber, angestiftet von ihrer Mutter, sagt: Gib mir hier auf einer Schüssel den Kopf Johannes des Täufers! 9 Und obwohl es dem König leidtat, befahl er wegen der Eide und der Festteilnehmer, ihn zu geben. 10 Und er schickte hin und ließ Johannes im Gefängnis enthaupten. 11 Und sein Kopf wurde auf einer Schüssel herbeigebracht und dem Mädchen gegeben, und sie brachte ihn ihrer Mutter. 12 Und seine Jünger kamen und nahmen den Leichnam und begruben ihn. Und sie kamen und berichteten es Jesus.

43 Hengel-Schwemer, 288, sprechen von einer „Störung“. 44 Riesner, 241. 1 Vgl. BDR § 187,3.

2. Jesus und Herodes, 14,1-12

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II Struktur Mt 14,1-12 hat zwei Teile: eine Beurteilung Jesu durch Herodes Antipas (V. 12) und einen Bericht von der Hinrichtung des Täufers (V. 3-12). Man sollte aber die beiden Teile nicht voneinander trennen. Sie sind durch das γάρ [gar] in V. 3 fest miteinander verbunden und außerdem durch das Thema „Johannes der Täufer“ inhaltlich verknüpft. Der geschichtliche Bericht, den Matthäus in Form der Verse 3-12 gibt, erinnert einerseits an die Art des Josephus2, andererseits an die Erzählungen der alttestamentlichen Geschichtsbücher. Dass die Evangelisten ein Stück weit auch Historiker waren, wird gerade an Mt 14,3ff parr deutlich.3 Matthäus macht weder zum Tod des Täufers noch zum Zeitpunkt des Geschehnisses von Mt 14,1f eine genauere chronologische Angabe. Wir können nur sagen, dass die Hinrichtung des Täufers irgendwann zwischen Kapitel 11 und 14 stattgefunden haben muss. Was interessiert den Matthäus an Herodes? Offensichtlich soll dort, wo es im Evangelium um Annahme oder Ablehnung Jesu geht, auch die Stellung des Landesfürsten Herodes Antipas zum Ausdruck kommen (vgl. Mt 22,16). Wenn Matthäus das Verhältnis Jesu zu ganz Israel darstellen will, darf der Landesfürst so wenig fehlen wie die Familie.

III Einzelexegese In jener Zeit (Ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ [En ekeinō tō kairō]) hörte der Tetrarch Herodes, was man von Jesus erzählte (τὴν ἀκοὴν Ἰησοῦ [tēn akoēn Iēsou]), V. 1: Jener Zeit ist unbestimmt.4 Es kann irgendwann im Zeitraum der Kap. 11–14 gewesen sein. Ob die ἀκοή [akoē] von Jesus positiv oder negativ war, wird nicht gesagt. Jedenfalls machte sie Herodes betroffen (vgl. Lk 9,7). Hier ist im Matthäusevangelium die erste Stelle, an der vom Tetrarchen Herodes die Rede ist. Der Titel Tetrarch (τετραάρχης [tetraarchēs]) ist juristisch korrekt (dt. „Vierfürst“). Er bezeichnet einen „kleinen abhängigen Fürsten, dessen Rang u. Machtstellung geringer als die eines Königs sind“.5 Hier handelt es sich um Herodes Antipas, Sohn von Herodes dem Großen und dessen vierter Frau Malthake, einer Samaritanerin. Die Herodes-Familie stammte aus Idumäa, dem alten Edom. Der jüdische König Johannes Hyrkanus besiegte die Idumäer um 128 v.Chr. und beschnitt sie zwangsweise. Seit2 Ant XVIII, 240ff. 3 Vgl. Hengel-Schwemer, 309ff; Luz II 389f. 4 Die „moderne“ Übersetzung „zu dieser Zeit“ (Gute Nachricht; BasisBibel; BigS) gaukelt eine genauere Festlegung vor, die wir nicht treffen können. 5 Bauer-Aland, 1621.

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dem galten sie als Juden. Nach dem Tod seines Vaters Herodes im Jahr 4 v.Chr. erhielt Herodes Antipas die beiden Gebiete Galiläa und Peräa, die er bis 39 n.Chr., also 43 Jahre lang, regierte. Nach dem Urteil von F.F. Bruce „dürfte“ Herodes Antipas „der fähigste unter den Söhnen des H. – gewesen sein“.6 Charakterlich aber war er schwierig. Er verstieß seine erste Frau, eine Tochter des Nabatäerkönigs Aretas IV., um Herodias heiraten zu können. Damit kommen wir an die Zeitereignisse von Mt 14 heran. Wer war Herodias (V. 3)? Eine Enkelin von Herodes dem Großen, die zunächst ihren Onkel Herodes Philippus (V. 3) heiratete.7 Man darf diesen Philippus aber nicht verwechseln mit seinem Namensvetter, dem Tetrarchen Philippus, der Cäsarea Philippi und Julias erbaute und 4 v.Chr. eine Tetrarchie im Golan und dessen Nachbargebieten regierte (Lk 3,1; Mt 16,13). Aus der Ehe der Herodias mit Herodes Philippus ging eine Tochter namens Salome hervor. Diese heiratete wiederum ihren Onkel, den Tetrarchen Philippus. Jedoch blieb diese Ehe kinderlos. Die Familienverhältnisse der Herodianer sind also kompliziert. Die Beurteilung Jesu durch Herodes in V. 2 enthält einige interessante Züge. Nach Mt 14,2 äußerte er sie gegenüber seinen Höflingen (τοῖς παισὶν αὐτοῦ [tois paisin autou]).8 Nach Mk 6,14; Lk 9,7 sagten andere dasselbe. Das eine schließt das andere nicht aus. Das ist Johannes der Täufer: Wie kommt eine solche Aussage zustande? Sie setzt voraus, dass Jesus und der Täufer viele Gemeinsamkeiten aufwiesen. Sie setzt ferner den Glauben an die Auferstehung voraus, den offenbar auch die Herodianer teilten. Er ist von den Toten auferweckt worden findet sich auch in Mk 6,14 und Lk 9,7, darüber hinaus muss dieselbe Überzeugung in Mt 16,14; Mk 8,28; Lk 9,19 vorliegen. Eine so weitverbreitete Vorstellung kann nur durch die Prophetie in Mal 3,23 erklärt werden. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass sofort nach dem Täufer in Mk 6,15; Lk 9,8; Mt 16,14; Mk 8,28; Lk 9,19 Elia genannt wird. Der Schluss liegt nahe: Herodes identifiziert hier den Täufer mit dem Elia von Mal 3,23. Erst jetzt wird auch der Schluss von V. 2 verständlicher: und deshalb wirken die Wunderkräfte (αἱ δυνάμεις [hai dynameis]) in ihm. Bekanntlich tat Johannes der Täufer keine9 Wunder (Joh 10,41). Herodes aber schreibt dem auferstandenen Täufer Wunderkräfte zu. Das ist nur möglich aufgrund der Identifizierung mit dem wiederkehrenden Elia von Mal 3,23. Denn Elia war einer der großen Wundertäter Israels. Jedenfalls bleibt die Aus6 Im Art. Herodes, GBL, 2, 564. 7 Vgl. France, 234; Carson, 338; Josephus Ant XVIII, 109; Davies-Allison II 470; Filson, 169; Neue Jerusalemer Bibel, 1402; Jerusalemer Bibellexikon, 335.695. 8 Bauer-Aland, 1224; Davies-Allison II 467. 9 Davies-Allison II 467f; Filson, 168.

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sage über Jesu Wirken in jenen Tagen ohne Einschränkung stehen: es wirken Wunderkräfte in ihm. Dieses herodianische Zeugnis über den Wunder tuenden Jesus ist eine wertvolle historische Information. Lukas schreibt, Herodes habe Jesus sehen wollen (Lk 9,9). Aber vor der Passion (Lk 23,6ff ) scheint er ihn nicht getroffen zu haben. Warum nicht? Als Landesherr hätte Herodes manche Möglichkeit dazu gehabt. Hielt ihn die Furcht ab, als Sünder bezeichnet zu werden? Fehlte ihm die Entschlusskraft? Über dem Verhältnis des Herodes zu Jesus schwebt ein unauflösliches Rätsel.10 Ab V. 3 geht es um die Hinrichtung des Täufers durch Herodes. Das Denn (γάρ [gar]) am Anfang begründet einerseits, weshalb Johannes damals schon tot war, und andererseits, weshalb der Gedanke an Johannes Herodes so stark beschäftigte. Herodes hatte Johannes in seine Gewalt gebracht / sich seiner bemächtigt (κρατήσας [kratēsas]) klingt so, als habe Herodes einen Augenblick abwarten müssen, in dem sich Johannes auf sein Staatsgebiet begab oder besonders schutzlos war. Gefangengesetzt wurde der Täufer auf der Festung Machärus östlich des Toten Meeres, an der Südgrenze von Peräa, das sie schützte.11 Dem römischen Schriftsteller Plinius zufolge12 war Machärus die zweitstärkste jüdische Befestigung nach Jerusalem. Herodes der Große hatte sie ausgebaut.13 Grund der Verhaftung war Herodias, die Frau seines Bruders Philippus. Über Herodias s. oben. Wie schon bemerkt, darf dieser Bruder Philippus, eigentlich Herodes Philippus, ein Sohn des großen Herodes und dessen dritter Frau Mariamne II.,14 nicht verwechselt werden mit dem Tetrarchen Philippus, der aus der Ehe Herodes’ des Großen mit dessen fünfter Frau Kleopatra stammte.15 Beide waren also Halbbrüder des Herodes Antipas. Vergleiche Mt 4,12; 11,2. Ursache der Verhaftung (Denn) war das geistliche Urteil über Herodes: Denn Johannes sagte zu ihm: Es ist dir nicht erlaubt, sie zu haben (V.4). Was erlaubt ist (ἔξεστιν [exestin]), bestimmt die Schrift, also Gott selbst. Sie legt in Lev 18,16; 20,21 fest: „Du sollst mit der Frau deines Bruders nicht Umgang haben.“ Die Heirat des Herodes mit Herodias, der Frau seines Bru10 Manche deuten psychologisch: „Den Tetrarchen konnte sein böses Gewissen für diesen Aberglauben besonders empfänglich machen“ (Zahn, 505). Ähnlich Luz II 390. 11 Vgl. R. Riesner, Art. Machärus GBL, 2, 905f, und Josephus Ant XVIII, 119.136f; B. J. VII, 164ff. 12 Nat V, 17,72. 13 Josephus B. J. VII, 171ff. 14 Vgl. die Stammtafel GBL, 2, 565. 15 Vgl. F.F. Bruce, Art. Herodias, GBL, 2, 567; D.H. Wheaton, Art. Philippus, GBL, 3, 1199f; Josephus Ant XVII, 53; XVIII, 137.

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ders Herodes Philippus, übertrat dieses Gebot. Denn die Ausnahme der Schwagerehe (Leviratsehe) nach Dtn 25,5 kam hier nicht in Betracht, weil ja aus der Ehe Philippus/Herodias ein Kind (Salome) hervorgegangen war. Folglich griffen die Bestimmungen von Lev 18,16; 20,21 in vollem Umfang. Man muss sich dabei klarmachen, dass das AT den Intimbereich der Familie optimal schützte. Hier sollte sich jedes auf seine Verwandten verlassen können. Die modern-atlantische Kultur mit ihrer Befürwortung von Pädophilie, Inzest und sexueller Abartigkeit tut sich allerdings mit dem Verständnis dieser Stellen schwer. Zu den Einzelheiten: Johannes bewies hier Mut. Denn er redete nicht dem Zeitgeist das Wort – der schon damals alles erlauben wollte (Röm 1,18ff; 12,2) –, sondern trat als ein Priester auf, dessen „Lippen die Tora bewahrten“ (Mal 2,7). Mt 14,3ff macht deutlich, dass Johannes auch ein Gesetzeslehrer von hohem Format war. Den Gegensatz, den die liberale Exegese zwischen Propheten und gesetzestreuem Judentum konstruierte, hat es nicht gegeben. Bei sagte (ἔλεγεν [elegen]) fällt das Imperfekt auf.16 Sagte Johannes dies dem Herodes öfter (iteratives Imperfekt) oder sagte er es über einen längeren Zeitraum hinweg (duratives Imperfekt)? Sie zu haben (ἔχειν αὐτήν [echein autēn]) bezieht sich in erster Linie auf die Heirat. Möglicherweise schwingt aber auch ein Hinweis auf den Ehebruch mit, der ebenfalls vorlag. Wichtig für den Leser des Matthäusevangeliums bleibt, dass Johannes nicht wegen eines politischen Aufruhrs, sondern wegen seines geistlichen, schriftbegründeten Urteils verhaftet wurde. Dass Herodes politische Konsequenzen fürchtete, wie Josephus schreibt,17 kann durchaus der Fall sein. Aber Johannes „stirbt den Tod des Propheten, nicht den des Aufrührers“.18 Und obwohl er ihn töten wollte, fürchtete er sich doch vor dem Volk. Denn sie hielten ihn für einen Propheten (V. 5): Dass man Johannes damals in Israel für einen Propheten hielt, ergibt sich aus mehreren Stellen (Mt 3,1ff; 11,9ff; 14,5; 21,26.46; Joh 1,21; Josephus Ant XVIII, 118). Das Volk (ὄχλος [ochlos]) sieht hier klar! Ebenso klar aber ist es, dass die Politiker damals wie heute Rücksicht auf die herrschende Stimmung im Volk nehmen mussten. Darum fürchtete sich Herodes vor dem Volk. Selbst die Hohepriester (Mt 21,23ff; 26,5), selbst Pilatus (Mt 27,15ff; Joh 19,1ff ), selbst die römischen Statthalter (Apg 25–26) haben solche Rücksicht genommen. Eine Reihe von Exegeten sieht die Aussage obwohl er ihn töten wollte19 als einen Wider-

16 17 18 19

Auch Mk 6,18; vgl. Carson, 338; Tasker, 142; France, 234. Ant XVIII, 118f. Maier I, 500; Davies-Allison II 470. Auch nach Josephus Ant XVIII, 117f.

2. Jesus und Herodes, 14,1-12

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spruch zu Mk 6,19-20 an.20 Carson macht jedoch darauf aufmerksam, dass psychologisch beides zutreffen kann: „The total situation is psychologically convincing.“21 Und von der historischen Seite her betonen Hengel und Schwemer, Herodes sei „eher ein schwankender, schwacher Charakter“.22 Die Hinrichtung des Täufers hängt mit dem Geburtstag (der Geburtstagsfeier)23 des Herodes zusammen (V. 6). Dabei ist die griech. Wendung Γενεσίοις δὲ γενομένοις [Genesiois de genomenois] auffällig. Blass-DebrunnerRehkopf halten sie für eine „Vermischung“ zwischen Participium absolutum und Dativus temporis.24 Geburtstagsfeiern und Festmähler gab es seit alten Zeiten (Gen 40,20; vgl. Est 1,2ff ). Den Ort der Feier nennt weder Matthäus noch Markus. Doch müssen wir annehmen, dass es das luxuriös ausgebaute Machärus war, in dem Johannes gefangen lag.25 Auch bei der Tochter der Herodias gibt Matthäus (und Markus) keinen Namen an. Es handelt sich um Salome, die aus der früheren Ehe der Herodias mit Herodes Philippus stammt. Drei Ereignisse jener Geburtstagsfeier nennt Matthäus in V. 6: 1) Salome tanzte in ihrer Mitte, d.h. auch inmitten der Männer. Wie unanständig das war,26 kann man am Esterbuch (1,9ff ) sehen. Im Orient feierten und tanzten Männer und Frauen jeweils für sich. Mit Recht führt Hans Schmoldt das Geschehen von Mt 14,6 „auf hellenist. Einfluß zurück“.27 2) Das gefiel dem Herodes: Wie niederschwellig dessen ethische Maßstäbe waren, zeigt der Ehebruch und das Verhältnis mit Herodias. Vielleicht liegt in diesen Worten auch eine Andeutung der Trunkenheit28 (vgl. Est 1,10). Nach Mk 6,22 teilten seine Tischgenossen seine Stimmung. Salome war damals ein Mädchen (κοράσιον [korasion], Mk 6,22). 3) Zur sittlichen Liberalität kam noch die Großmannssucht des Herodes, sodass er ihr mit einem Eid versprach, ihr zu geben, was sie wolle (V. 7). Er ahmte damit das Verhalten der orientalischen Großkönige nach (Est 5,3; 7,2).29 Der Eid ließ keine Rückzugsmöglichkeit. Nicht umsonst warnt das AT vor schnellen und unüberlegten Gelöbnissen (Num 30,2ff; Dtn 20 21 22 23 24 25 26 27

Luz II 390. Carson, 338; vgl. France, 234. Hengel-Schwemer, 312. Vgl. Davies-Allison II 471. Vgl. Davies-Allison II 472; Zahn, 506. BDR § 200,10. Vgl. Josephus Ant XVIII, 119; Davies-Allison II 469. Davies-Allison II 472: „shameless“; Filson, 169: „immodest and provocative“. In Reclams Bibellexikon, Stuttgart, 1978, 486. Vgl. P. Zimmerling, Art. Tanz, GBL, 3, 1524; H. Eising, Art. ‫חוּל‬, ThWAT, II, 1977, 799ff; Davies-Allison II 472 (Hinweis auf b Aboda zara I, 3). 28 Davies-Allison II 472: „the drunken king“ (Hinweis auf Josephus Ant XVIII, 289ff ). Ebenso Filson, 169; Carson a.a.O. 29 Davies-Allison a.a.O.; Carson, 338.

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23,23; Koh 5,4). Nach Mk 6,23 wollte Herodes „bis zur Hälfte meines Reiches“ alle Wünsche des Mädchens erfüllen. Der Tempuswechsel in V. 8 (φησίν [ phēsin]) zeigt die Dramatik des Geschehens: Sie aber (ἡ δέ [hē de]), angestiftet von ihrer Mutter, sagt: Gib mir hier auf einer Schüssel den Kopf Johannes des Täufers! Für das neutestamentliche Hapaxlegomenon προβιβασθεῖσα [ probibastheisa] gibt es verschiedene Übersetzungsvorschläge: angestiftet, „in den Vordergrund geschoben“, „belehrt“, „angewiesen“.30 Jedenfalls verwirklicht sich in ihrer Aufforderung der Wunsch ihrer Mutter. Der Wunsch war grausam und rachsüchtig. Weil der Täufer ihre Ehe für Unrecht erklärt hatte, musste er sterben. In diesem Vorgang haben wir ein Modell ungezählter Martyrien vor uns – Martyrien, die sich auch in Zukunft fortsetzen werden. Auf einer Schüssel (oder: Platte, Teller) enthält eine doppelt makabre Anspielung: 1) Schüsseln gehörten zum heiligen Gerät des Tempels,31 es geht also um eine Verhöhnung des Heiligen, 2) aus Schüsseln essen die Anwesenden. Der Kopf32 des Toten ist also eine Trophäe auf dieser Tafel. Hier (ὧδε [hōde]) sagt Salome: die Geburtstagsfeier fand also gerade auf Machärus statt, wo Johannes gefangen lag.33 Wie man Kinder grausam machen kann, zeigen die „Kindersoldaten“ der Gegenwart. Die Parallele zwischen Herodias und Isebel (1Kön 19,1; 21,4ff, vgl. Offb 17,6) liegt nahe. Herodes entspricht dem Wunsch (V. 9), allerdings innerlich gespalten.34 Einerseits tat es ihm leid (λυπηθείς [lypētheis]). Eine Scheu vor dem Heiligen mag hier mitgespielt haben (vgl. Mk 6,20), auch die Erinnerung, dass die Prophetenmorde in Israel keinen Segen bedeuteten (vgl. 2Chron 24,20f; Mt 23,35). Andererseits sah er sich wegen der Eide gebunden und fürchtete den Gesichtsverlust bei den Festteilnehmern.35 „Der Welt Freundschaft“ wiegt letzten Endes wie bei Pilatus (Joh 19,12f ) schwerer als der Gehorsam gegen Gott (Jak 4,4).36 Das ἐκέλευσεν [ekeleusen] ist wahrscheinlich der vor allen Anwesenden lauthals erteilte Befehl. Hier wird die Erinnerung an Alexander Jannäus (103–76 v.Chr.) wach, der während eines Festes mit seinen Konkubinen befahl, achthundert Juden zu kreuzigen.37 Der Begriff König in Mt 14,9 30 31 32 33 34 35

Bauer-Aland, 1409. Josephus B. J. V, 562. Der Kopf als Trophäe auch Josephus Ant XVIII, 115 (Davies-Allison II 473). Davies-Allison II 469. Deshalb liegt kein Widerspruch zu V. 5 vor (Tasker, 142). Davies-Allison II 473. In Mt 14,9 ein Hendiadyoin anzunehmen, empfiehlt sich gegen BDR § 442,29 nicht. 36 Zur Parallele mit Pilatus vgl. Davies-Allison a.a.O. 37 Josephus Ant XIII, 379ff. Carson, 339, erinnert an Fulvias Spott mit dem Kopf Ciceros.

2. Jesus und Herodes, 14,1-12

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ist nicht rechtstechnisch, sondern volkstümlich,38 und deshalb nicht zu beanstanden. Matthäus wusste sehr wohl, dass Herodes nur ein Tetrarch war (V. 1). Und er schickte hin und ließ Johannes im Gefängnis enthaupten (V. 10): Schickte hin, nämlich ein Kommando der Truppe, die sich auf Machärus befand. Die Herodianer hatten Söldner, bevölkerungsmäßig gemischt. Öfter liest man, das enthaupten sei eine unjüdische Strafe gewesen.39 Aber nach den geschichtlichen Vorgängen wie z.B. 1Sam 15,33 und auch nach den Bestimmungen des Traktats Sanhedrin40 kann man das nicht behaupten. Immerhin dürften Davies-Allison recht haben, wenn sie den Tod des Täufers „a shameful death“ nennen (474) und mit der Hinrichtung eines Kriminellen vergleichen. Die Enthauptung selbst vollzog nach Mk 6,27 ein σπεκουλάτωρ [spekoulatōr] = Scharfrichter. Sein Kopf wurde auf einer Schüssel herbeigebracht (V. 11), wie Herodias und Salome es gewünscht hatten. Da Herodes sich Salome gegenüber eidlich verpflichtet hatte, wurde die Schüssel dem Mädchen (τῷ κορασίῳ [tō korasiō]) gegeben. Salome dürfte damals 12-14 Jahre gezählt haben.41 Vermutlich wurde der Kopf des Täufers vor der gesamten Festgesellschaft an Salome übergeben. Von einem Protest oder Bedauern unter den Anwesenden berichtet weder Matthäus noch Markus. Die Verrohung der Sitten am herodianischen Hof kann nicht besser dokumentiert werden. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass Herodianer später der Jesusgemeinde beitraten und sogar ein „Jugendgenosse“ (oder: Vertrauter) des Tetrarchen Herodes die führende Position eines Propheten und Lehrers in Antiochien einnahm (Apg 13,1; vgl. Röm 16,11). Das Mädchen brachte den Kopf ihrer Mutter. Damit wurde vor der gesamten Festgesellschaft deutlich gemacht, wer der spiritus rector dieser Hinrichtung war. Vers 12 blendet über zu einem anderen Personenkreis, nämlich den Johannesjüngern, und bereitet damit den Übergang zu V. 13ff vor: Und seine Jünger kamen und nahmen den Leichnam und begruben ihn. Ganz unbefangen spricht Matthäus mehrfach von Jüngern des Johannes (9,14; 11,2; 14,12). Das Handeln der Jüngerschaft des Johannes setzt eine einheitliche Organisation und eine gemeinsame religiöse Praxis und Lehre voraus. Dasselbe ergibt sich aus Apg 19,1ff. Wie seine Jünger in den Besitz des Leichnams (πτῶμα [ ptōma]) kamen, wird nicht erzählt. Sachlich liegt 38 Hengel-Schwemer, 310. Im umgangssprachlichen Aramäisch wohl ‫ַמְל ָכּא‬/‫[ ַמְל ָכּה‬malkāʾ/ malkāh]. 39 France, 234: „against Jewish law“; Carson, 339. 40 b Sanh 50a, 53a. 41 Davies-Allison II 474.

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wieder eine Parallele zu Jesus vor (vgl. Mt 27,57ff; Joh 19,38ff ). Das begraben der Toten war eine hohe religiöse Pflicht (vgl. Tob 1,20; 2,2ff; 2Sam 31,11ff ). Der letzte Satz ist merkwürdig offen formuliert: Und sie [= die Johannesjünger] kamen und berichteten es Jesus. Er hat weder bei Markus noch bei Lukas eine Parallele. Heißt das, dass diese Johannesjünger Jesus als „the true successor of John“ betrachteten und sich ihm deshalb anschlossen?42 ἀπαγγέλειν [apangelein] ist mehr als eine formale Mitteilung machen, es will den Angesprochenen innerlich in das Geschehen miteinbeziehen. Von daher liegt die Annahme nahe, dass Jesus für diese Johannesjünger eine Vertrauensperson war und dass sie sich ihm in der Folgezeit anschlossen. Andere Johannesjünger aber scheinen einen anderen Weg eingeschlagen und sich zu selbstständigen Täufergemeinschaften entwickelt zu haben.

IV Zusammenfassung 1. Mt 14,1-12 wurde historisch stark angefochten. Von Bultmanns Urteil: „Eine Legende, die keinen christlichen Charakter zeigt“43 zu Beare’s „popular legend“44 bis hin zu Luz’ Registrierung „offensichtliche(r) Unrichtigkeiten“45 zieht sich eine Kette von Beanstandungen. Einen Gipfel von Missverstehensmöglichkeiten bietet Sand, der von „Famabildung in Täuferkreisen“ ausgeht und unsere Geschichte kurzerhand für „unglaubhaft“ erklärt. Sie sei eine rein „erbauliche Erzählung“ und verdanke sich „Dichterische(r) Ausgestaltung“.46 Solche Urteile wirken erstaunlich, weil man andererseits viele Gemeinsamkeiten mit dem entsprechenden Josephusbericht konstatiert.47 Beanstandet wird, dass Herodias die frühere Frau des Philippus genannt wird. Damit werde fälschlicherweise der Tetrarch Philippus zum Mann der Herodias statt der Salome gemacht.48 Aber von einem „Tetrarchen Philippus“ ist weder bei Matthäus noch bei Markus die Rede. Vielmehr handelt es sich um Herodes Philippus, Sohn der Mariamne II., Privatmann in Rom, mit dem Herodias in erster Ehe verheiratet war.49 Beanstandet wird ferner der „Widerspruch“, dass Johannes nach Josephus als möglicher Anstifter zum Aufruhr, nach Matthäus dagegen wegen seiner Verurteilung der gesetzwidrigen Ehe hingerichtet wer-

42 43 44 45 46 47 48 49

So Robinson, 127; Filson, 170. Bultmann Gesch, 328. Beare, 325. Luz II 389. Sand, 303. Vgl. Hengel-Schwemer, 309ff. Luz II 389; Hengel-Schwemer, 311. Also kein „error“! Davies-Allison II 470.

2. Jesus und Herodes, 14,1-12

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de. Beides ist aber keineswegs widersprüchlich, sondern „complementary“.50 Auch Hengel-Schwemer kommen zu dem Urteil, unser Text stamme „aus der volkstümlichen Täuferüberlieferung. Man darf ihn nicht als reine Fiktion betrachten.“51 Der Bericht des Matthäus ist also durchaus glaubhaft.52 2. Einig ist man sich darin, dass Matthäus auf die Parallele Jesus/Täufer Wert legt.53 Das Schicksal des Täufers ist ein „Vorzeichen des Schicksals Jesu“.54 Davies-Allison sprechen sogar von einer „christological parable“.55 3. Matthäus als Schriftgelehrter weist inklusive auf andere Parallelen hin, so Herodes/Ahasveros (Est 1,9ff; 5,3; 7,2), Herodes/Pilatus (Mt 14,9; 27,18ff ), Herodias/Isebel (1Kön 19,1ff; 21,3ff; Mt 14,8), und Johannes/Elia (1Kön 17–18; 21,17ff; 2Kön 1,3ff; Mt 14,2ff ). Trotz seiner historischen Zuverlässigkeit bleibt Matthäus in erster Linie geistlich-theologisch interessiert: „Our evangelist is not interested in telling a good story but in getting to the theological points.“56 4. Der Tod Johannes’ des Täufers hat auf die ganze Christenheit einen tiefen Eindruck gemacht. Das zeigen nicht nur die Evangelisten (Mt 14,1ff; Mk 6,14ff; Lk 3,19f; 9,7ff; Joh 3,24), sondern auch die anschließenden Auslegungen. Um 150 n.Chr. erzählt Justinus Martyr diese Geschichte.57 Seit dem 4. Jh. gedenkt die Kirche alljährlich am 29. August seiner Enthauptung, seit dem 5. Jh. am 24. Juni seiner Geburt. In der christlichen Kunst wurde auch das Haupt auf der Schüssel immer wieder dargestellt. „Einzel- oder auch zyklische Darstellungen des Täufers sind zu zahlreich, als daß sie … auch nur angedeutet werden könnten. An allen Orten sind ihm Kirchen und Altäre, Baptisterien und Taufbrunnen geweiht.“58 Das römisch-katholische Messbuch sagt über ihn: „… groß in seinem Martertod.“59 Im Evangelischen Gesangbuch vgl. man das Lied Nr. 141 von Nikolaus Herman (1560) mit dem typisch reformatorischen Schluss über „Sankt Johann“: „hilf, dass wir folgen seiner Lehr.“ Spezielle Legenden ranken sich um das Haupt des Täufers. Es soll nach Sizilien, Konstantinopel, Syrien und schließlich nach Amiens (Frankreich)

50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Davies-Allison II 470; ähnlich Hengel-Schwemer a.a.O. Hengel-Schwemer, 312. Gegen Sand, 303. Luz II 389ff; Hengel-Schwemer, 310ff; Davies-Allison II 474. Schweizer NTD, 206f. Davies-Allison II 476. Davies-Allison II 472. Dial c Tryph 49,4f. Das Große Buch der Heiligen, bearb. von Carlo Melchers, München, 1996, 384. A.a.O., 385.

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gekommen sein.60 Spuren unserer Geschichte führen bis zu Oscar Wilde’s „Salome“, für die Richard Strauß die Musik geschrieben hat. Noch in unseren Tagen wird in Porto (Portugal) am 24. Juni das São João-Fest mit Hammerschlägen auf den Kopf folkloristisch gefeiert.61 Was die Christenheit aus Mt 14,1-12 mitnahm, war die Ermutigung zur Standhaftigkeit und zum Martyrium.

3. Die Speisung der Fünftausend, 14,13-21 I Übersetzung 13 Als Jesus das hörte, entfernte er sich von dort in einem Boot und suchte eine einsame Stelle auf, wo er allein sein konnte. Und als die Menge das hörte, folgte sie ihm zu Fuß von den Städten her. 14 Und als er ausstieg, sah er eine große Menge, und das Erbarmen mit ihnen packte ihn und er heilte die Kranken unter ihnen. 15 Als aber der Abend herbeikam, traten die Jünger an ihn heran und sagen: Der Platz ist einsam und es ist schon spät. Schick doch die Leute weg, dass sie in die Dörfer gehen und sich Lebensmittel kaufen. 16 Jesus aber sagte zu ihnen: Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihr ihnen doch zu essen! 17 Sie aber sagen zu ihm: Wir haben hier nichts außer fünf Broten und zwei Fischen. 18 Er aber sagte: Bringt sie mir hierher! 19 Und er befahl der Menge, sich auf dem Gras zu lagern. Dann nahm er die fünf Brote und die zwei Fische, blickte auf zum Himmel, sprach den Lobpreis und brach die Brote und gab sie den Jüngern. Die Jünger aber gaben sie der Menge. 20 Und alle aßen und wurden satt. Und sie hoben auf, was von den gebrochenen Broten übrig war: zwölf Körbe voll. 21 Die aber gegessen hatten, waren etwa fünftausend Männer, ohne Frauen und Kinder.

II Struktur Die Speisung der Fünftausend gehört zu den bekanntesten Wundern der Bibel. Umso mehr fällt auf, wie schlicht der Vorgang bei Matthäus erzählt wird. Der Aufbau ist verhältnismäßig durchsichtig: 1) Jesus begegnet wider Erwarten einer großen Menge (V. 13-14), 2) am Abend kommt es zu einem Ge-

60 A.a.O., 553f. 61 FAZ vom 4. Juli 2013, Seite R 5.

3. Die Speisung der Fünftausend, 14,13-21

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spräch mit den Jüngern über die Versorgung, (V. 15-18), 3) die Speisung geschieht (V. 19), 4) ihr Ergebnis wird festgestellt (V. 20-21). Man kann versuchen, diesen Bericht auf verschiedene Weise zu klassifizieren. Filson fasst beispielsweise Mt 14,13-36 unter der Überschrift „Jesus’ Power Over Nature“ zusammen.1 Davies-Allison schließen sich an Theißens „Geschenkwundergeschichte“2 an und sprechen von einem „gift miracle“.3 Bultmann hatte noch von einem „Naturwunder“ gesprochen.4 Solche Klassifizierungen können für den Einstieg hilfreich sein, verlieren angesichts der Individualität der Berichte aber rasch an Überzeugungskraft. Die Speisung der Fünftausend ist in allen vier biblischen Evangelien überliefert (Mt 14,13-21; Mk 6,32-44; Lk 9,10-17; Joh 6,1-15). In der Auslegungsgeschichte wurden für die Sinndeutung viele Bezüge hergestellt, unter anderm zum Abendmahl, zum eschatologischen Mahl, zur Mosezeit, zu den Elia- und Elisa-Geschichten, zum Exodus. Wir werden auf solche Bezüge besonders zu achten haben.

III Einzelexegese Der Anfang des Berichts in V. 13 enthält offenbar einen bewussten Anklang an Mt 4,12; 12,15: Als Jesus das hörte, entfernte er sich von dort (Ἀκούσας δὲ ὁ Ἰησοῦς ἀνεχώρησεν ἐκεῖθεν [Akousas de ho Iēsous anechōrēsen ekeithen], in 4,12: Ἀκούσας δὲ ὅτι Ἰωάννης παρεδόθη ἀνεχώρησεν [Akousas de hoti Iōannēs paredothē anechōrēsen]). Auch aus dem Vergleich mit Joh 3,23f hat man den Eindruck, dass Jesus seine Tätigkeit in einer Korrelation mit dem Täufer sah. Nur lässt sich Mt 14,13ff ebenso wie Mt 14,1ff zeitlich schwer einordnen. Immerhin bringen alle drei Synoptiker den Speisungsbericht direkt im Anschluss an den Täuferbericht, sodass wir eine relative zeitliche Nähe beider Geschehnisse annehmen dürfen. Inhaltlich ist außerdem klar, dass Jesus mit seiner eigenen Verhaftung und Hinrichtung durch Herodes rechnete und deshalb sich von dort entfernte. Die Worte Als Jesus das hörte lassen sich bei Abwägung aller Umstände jedoch leichter auf Mt 14,1f als auf Mt 14,3ff beziehen.5 Was heißt von dort? Doch wohl so viel wie: „Aus dem Herrschaftsgebiet des Herodes.“ So erzählen es auch Lukas (9,10) und Johannes (6,1). Bei Matthäus ist von einem Boot die Rede, was das Verlassen des

1 2 3 4 5

Filson, 170. Theißen-Merz, 267. Davies-Allison, 480. „Geschenkwunder“ auch bei Hengel-Schwemer, 463; Luz II 397. Bultmann Gesch, 230ff. Ebenso Carson, 340f; Maier I, 508.

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Westufers des Sees Genezareth bedeutet.6 Boot heißt gleichzeitig: Er war in Begleitung der Jünger. Er suchte eine einsame Stelle (ἔρημον τόπον [erēmon topon]), wo er allein sein konnte. Gemeint ist „eine öde, von Menschen verlassene Gegend“.7 Allein, κατ᾿ ἰδίαν [kat’ idian], bedeutet abseits von der Menge, schließt hier aber die Jünger (wohl: die Zwölf ) nicht aus. Jesus suchte immer wieder solch „einsame Orte“ auf, um zu beten und um Gewissheit über seinen Weiterweg zu erhalten (vgl. Mk 1,35.45; Lk 4,42; Joh 6,15). Die Hinrichtung des Täufers machte eine solche innere Einkehr nötig. Doch es kam ganz anders: als die Menge das hörte, folgte sie ihm zu Fuß von den Städten her. Alle Evangelisten notieren mit Staunen, dass damals die Menge, die Massen (Mt: οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]; Mk: πολλοί [ polloi]; Lk: οἱ ὄχλοι [hoi ochloi]; Joh: ὄχλος πολύς [ochlos polys]) ihm nachliefen. Das ist für unser Verständnis ein wichtiger Punkt. Hier zeigt sich nämlich, dass das Werben Jesu um Israel nicht umsonst war. Es brachte sogar viele Früchte. Matthäus und Markus vermerken noch zweierlei: 1) Die Menge sei zu Fuß gegangen (πεζῇ [ pezē]), was vermuten lässt, dass sie das nördliche Ende des Sees anpeilte. In diesem Zusammenhang spricht Lukas von Betsaida (9,10), was gut verständlich ist. Durfte man Jesus in Betsaida oder in dessen Nähe vermuten, dann traf man je nach den Wetterverhältnissen nicht viel später als das Boot dort ein. 2) Die Menge sei von den Städten her (Mt) bzw. „von allen Städten her“ (Mk) gekommen. Welche Städte sind das? Kapernaum (9,1; 11,20), Chorazin (11,20), Betsaida (11,20) kommen infrage, Magdala und Tiberias sind schon weiter weg. Und als er ausstieg, nämlich aus dem Boot, sah er eine große Menge (V. 14). Wie weit entfernt diese Menge noch war, wird nicht gesagt. Aber die Menschen waren zu Fuß ebenso schnell wie das Boot (Mk 6,33: noch schneller?). Das kann mit den Wetterverhältnissen zusammenhängen oder auch damit, dass Jesus auf der Suche nach einer einsamen Stelle (V. 13) eine Zwischenstation gemacht hatte. Jedenfalls: Die ursprüngliche Absicht, in die Einsamkeit zu kommen, war durchkreuzt. Jesu Reaktion war weder Ärger noch Abweisung, sondern ganz und gar positiv: das Erbarmen mit ihnen packte ihn (ἐσπλαγχνίσθη ἐπ᾿ αὐτοῖς [esplanchnisthē ep’ autois]). Das große Motiv des Erbarmens, das uns schon in 9,13.36 begegnete, tritt auch hier als eines der Leitmotive Jesu hervor. Es ist in Mt 14,14 zunächst bezogen auf äußere Nöte: und er heilte die Kranken unter ihnen (vgl. Lk 9,11). Dass er dort aber nicht nur heilte, sagt Lk 9,11 ausdrücklich. 6 Vgl. Davies-Allison II 475. 7 H. Köster, Art. τόπος, ThWNT, VIII, 1969, 204.

3. Die Speisung der Fünftausend, 14,13-21

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Es wird Abend (V. 15). Das heißt, es ist die Zeit zwischen 15 und 18 Uhr. Da ergreifen die Jünger die Initiative: Der Platz (ὁ τόπος [ho topos]) ist einsam und es ist schon spät. Schick doch die Leute weg, dass sie in die Dörfer gehen und sich Lebensmittel kaufen. Über den einsamen Platz bzw. die „einsame Stelle“ vgl. V. 13. Es ist nicht so, wie Flusser meint,8 dass das Gras von V. 19 und der einsame Platz eine „Widersprüchlichkeit“ darstellen. Denn einsam heißt „unbewohnt“, „menschenleer“.9 Die Wendung ἡ ὥρα ἤδη παρῆλθεν [hē hōra ēdē parēlthen] lässt sich verschieden übersetzen: 1) „die Zeit ist schon verstrichen“,10 das heißt, die normale Einkaufszeit oder die Zeit zur Heimkehr ist schon vorüber, 2) „die Tageszeit ist schon vorbei“ = „es ist schon spät“.11 In Mt 14,15 kommt beides infrage. Jedenfalls möchten die Jünger, dass Jesus die Leute oder „die Menge“ (τοὺς ὄχλους [tous ochlous]) wegschickt, um sich in den umliegenden Dörfern die Abendmahlzeit zu kaufen. Das setzt die Beobachtung voraus, dass mindestens die Mehrheit der Anwesenden nicht genug Lebensmittel (βρώματα [brōmata])12 dabei hat. Am Abend wurde ja die Hauptmahlzeit eingenommen13 (Ruth 3,7). Dörfer sind die kleinen Siedlungen. Markus und Lukas erwähnen daneben die ἀγροί [agroi], die „Höfe“ (Mk 6,36; Lk 9,12). Man kann an Kursi oder die Ansiedlungen bei Hippos (vgl. Mk 5,14) denken. Auf den ersten Blick scheint Joh 6,5ff, wo Jesus sich an Philippus wendet, ein Widerspruch zu Mt 14,15; Mk 6,35 und Lk 9,12 zu sein, wo die Jünger die Initiative ergreifen. Aber ein Widerspruch muss hier nicht vorliegen. Denn Jesus kann sehr wohl auf die in Joh 6,5ff beschriebene Weise das Gespräch fortgesetzt haben, nachdem es ursprünglich von den Jüngern begonnen wurde. Ab V. 16 liegt die Initiative allein bei Jesus. Überraschenderweise lehnt er es in allen vier Evangelien ab, die Leute wegzuschicken. Das bedeutet, dass er mit einem Wunder rechnete.14 Er sagte zu ihnen: Sie brauchen nicht wegzugehen (V. 16), noch genauer: „Sie haben es nicht nötig, wegzugehen.“ Es ist also schon für sie gesorgt!15 Gebt ihr (betontes ihr!) ihnen doch zu essen! hat eine doppelte Bedeutung: 1) Es nimmt die Jünger in die Mitverantwortung, 2) es ist der prophetische Befehl zu etwas, was sie später wirklich tun werden. 8 Flusser, 226 (6). 9 Vgl. Köster a.a.O. 10 Bauer-Aland, 1264; Sand, 304f; Schniewind, 177; Luz II 395; Tasker, 146; France, 236; Schlatter, 231. 11 Vgl. Bauer-Aland, 1787; Fiedler, 273; Zahn, 511,9; Carson, 340. 12 Bauer-Aland, 295. 13 Dalman, 154. 14 Zahn, 512. 15 Die Gute Nachricht, 22, übersetzt etwas ganz anderes: „Warum sollen sie weggehen?“

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Es ist richtig, dass hier eine Reminiszenz an 2Kön 4,42 vorliegt.16 Sollen die Jünger durch die Erinnerung an dieses bekannte Elisa-Wunder innerlich auf das kommende Wunder der Speisung der Fünftausend vorbereitet werden? Man übersteigert die Worte Gebt ihr ihnen zu essen! jedoch, wenn man darin eine Aufforderung an die Jünger sieht, selbst ein Wunder zu vollbringen.17 Sie aber sagen zu ihm: Wir haben hier nichts außer fünf Broten und zwei Fischen (V. 17): Brot und Fisch sind Grundnahrungsmittel. Brote sind runde, flache Brote, wie man sie heute noch im Orient trifft. Fische gehörten zur täglichen Nahrung der Bevölkerung am See.18 Fünf und zwei können gelegentlich symbolisch sein, sind aber zunächst Realzahlen. In V. 15-17 wird die Nüchternheit der Jünger betont. Es sind keine religiösen Phantasten, die dann später die Wunder Jesu erzählen, sondern Männer „mit Bodenhaftung“ und praktischem Verstand. Ein „Wunder erwarten“ Jesu Jünger damals „nicht“.19 Er aber sagte: Bringt sie mir hierher! (V. 18): Jesus lässt die Brote und die Fische weder bei den bisherigen Eigentümern noch bei den Jüngern. Er will sie selbst in der Hand haben. Das zeigt, dass es ganz und gar sein Wunder ist und nicht eine Art „Stellvertreter-Wunder“ durch die Jünger.20 Eine zweite Bedeutung des Verses liegt darin, dass auch dieser winzige Vorrat von Jesus hoch geschätzt wird. Eine Frage wie: „Was ist das für so viele?“ (Joh 6,9) ist niemals die seine gewesen. Nein, er achtet alles hoch, was ihm sein Vater gibt, und weiß, dass er noch mit dem Geringsten im Segen arbeiten kann. Vers 19 enthält den Kern des Geschehens. Zuerst befahl Jesus der Menge, sich auf dem Gras zu lagern. Lukas (9,14f ) und Johannes (6,10) gehen hier mehr in die Einzelheiten und sagen, dass die Jünger für dieses lagern (ἀνακλιθῆναι [anaklithēnai]) sorgen mussten. Das Wort ἀνακλιθῆναι [anaklithēnai] bedeutet genauer: „sich zum Mahl niederlegen“.21 Markus beschreibt es detaillierter: Sie mussten sich zu „verschiedenen Tischgemeinschaften“ (συμπόσια συμπόσια [symposia symposia]) zusammenfinden (6,39). Lukas spricht von „Tischgesellschaften“ (κλισίαι [klisiai]) zu je fünfzig (9,14). Offenbar spielt der Gedanke einer „Lager“-Ordnung eine wichtige Rolle. Wir werden hier an die Lagerordnung Israels beim Exodus erinnert (Num 2–3; 10,13ff ). Will Jesus mit seiner eschatologischen Lagerordnung darauf hinweisen, dass 16 17 18 19 20 21

France, 236; Fiedler; Davies-Allison II 480. Vgl. Carson, 341f. Hier handelt es sich wohl um eingelegte Fische (Strack-Billerbeck I 684). Fiedler, 274. Vgl. Carson, 342. Bauer-Aland, 110.

3. Die Speisung der Fünftausend, 14,13-21

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jetzt die Seinen in das Verheißene Land der Endzeit, das Reich Gottes, ziehen? Man vgl. die Verbindung der Wegekonzeption mit dem Heil und dem Gottesreich in Mt 7,13f einerseits und Joh 14,6; Hebr 12,1; 13,13f andererseits. Matthäus erwähnt das Gras, auf dem man lagerte, Mk 6,39 das „grüne Gras“. Grünes Gras gibt es am Ostufer nur im Frühjahr.22 Damit stimmt bestens überein, dass Joh 6,4 die Speisung der Fünftausend in die Zeit kurz vor dem Passahfest datiert. Da aber das Passah von Joh 6,4 unmöglich das Todespassah gewesen sein kann, muss auch den Berichten der Synoptiker zufolge Jesus ca. 2 Jahre lang gewirkt haben. Die folgenden Verben nahm – sprach den Lobpreis – brach – gab (λαβών [labōn] – εὐλογήσας [eulogēsas] – κλάσας [klasas] – ἔδωκεν [edōken]) entsprechen weitgehend dem Abendmahlsbericht in Mt 26,26 (λαβών [labōn] – εὐλογήσας [eulogēsas] – ἔκλασεν [eklasen] – δούς [dous]). Bevor man aber vorschnell eine Parallele zieht, muss man sehen, dass auch ein Hausvater beim Mahl ganz ähnlich handelte. Ganz gleich, ob es um die tägliche Mahlzeit der Familie, um ein Gastmahl oder um ein Festmahl ging, sprach der Hausherr in jedem Fall ein Dankgebet.23 Dieses Tischgebet war „strenge Vorschrift“.24 Um 130 n.Chr. lehrte Rabbi Akiba, „dass es verboten ist, etwas zu genießen, bevor er den Segensspruch gesprochen hat“.25 Das griech. εὐλογέω [eulogeō] entspricht dem hebr. ‫[ ֵבֵּרְך‬berek], Substantiv ‫[ ְבָּרָכה‬bᵉrākāh]. So begegnet uns Jesus in Mt 14,13ff „der Sitte getreu als der Hausvater und Gastgeber bei der Tischgemeinschaft“.26 Man muss sich den Vorgang wohl so denken: Er nahm die fünf Brote und die zwei Fische „in seine Hände,27 spricht den Lobspruch, bricht das Brot und verteilt es“.28 Vor dem Sprechen des Lobpreises erwähnt Matthäus allerdings noch einen anderen Vorgang: er blickte auf zum Himmel (ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανόν [anablepsas eis ton ouranon]). Beyer meint im Anschluss an Strack-Billerbeck, dies sei ungewöhnlich, „vorgeschrieben“ wäre es gewesen, den Blick zu senken.29 Im Blick auf die Zeit Jesu ist es aber sehr unsicher, ob eine solche „Vorschrift“ existierte.30 Jeden22 Vgl. Dalman, 154: „Das Gras … war … der üppige, wilde Wuchs der Kräuter des Frühlings.“ 23 J. Behm, Art. κλάω usw., ThWNT, III, 1938, 727f. 24 H.W. Beyer, Art. εὐλογέω usw., ThWNT, II, 1935, 758. 25 b Ber 35a. 26 Behm a.a.O., 728. 27 Ebenso Zahn, 512. 28 So Beyer a.a.O., 760. 29 Beyer, a.a.O. Aber Strack-Billerbeck I 685 sagen nur, es sei „nicht allgemein üblich“ gewesen. 30 Zum Alter dieses Gestus vgl. Ps 123,1. Besser Luz II 401,55: „Ein möglicher … Gebetsgestus“.

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falls ist ein Gestus dieser Art bei Jesus öfter zu finden (vgl. Mk 7,34; Joh 11,41; 17,1). Er drückt hier ganz sinnfällig aus, dass er vom Himmel, vom Vater, alles erwartet und unter der Leitung des Vaters steht. Wie der Hausherr das flache, runde Brot bricht und die Stücke den Tischgenossen reicht,31 so auch Jesus: er brach die Brote und gab sie den Jüngern. Aber nun geht das Geschehen weiter: Die Jünger aber gaben sie der Menge. Das ist der Ort, an dem die Jünger aktiv ins Spiel kommen. Ihre Aufgabe heißt: Weitergeben. Das schließt eine gleichzeitige, unersetzbare Orientierung ein: 1) die Orientierung am Herrn und seinem Wort, von dem sie alles empfangen, 2) die Orientierung an den jetzt anvertrauten Menschen, denen sie die Gabe des Herrn überbringen. Jedes Stück dieser Kette ist gefährdet. Ein Jesus, der nicht mehr im Aufblick zum Himmel lebte, würde sich vom Vater emanzipieren und damit nach Gen 3 den zweiten Sündenfall begehen (Gen 3,1ff; Mt 4,1ff ). Jünger, die sich nicht mehr am Herrn und seinem Wort orientieren, würden sich selbst ihre Aufträge schaffen und sich als scheinbar „erneuerte Kirche“ von Jesus und der Bibel emanzipieren. Jünger, die sich nicht mehr an den anvertrauten Menschen orientieren, würden auf Mission verzichten und nur noch sich selbst bedienen. Es ist ein Wunder, dass alle bei der Speisung der Fünftausend ihren von Gott angewiesenen Platz einnahmen. – Übrigens wird der Vorgang von allen Evangelisten weitgehend übereinstimmend berichtet. Und alle aßen und wurden satt (V. 20): Zwischen V. 19 und 20 ereignet sich das Wunder der Brotvermehrung.32 Es wird nicht beschrieben und kann nicht beschrieben werden.33 Über rationalistische Erklärungsversuche s. unter IV. Nur das Ergebnis wird mitgeteilt: alle aßen. Alle ist betont. Nicht nur die besonders Hungrigen oder Geschwächten aßen. Und wurden satt: Es reichte für alle. „Damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen“ (Joh 10,10): Diese Absicht Jesu erfüllte sich auch hier. Ja, Mt 14,20 parr übersteigt die Bedürfnisse und spricht von einem Überfluss: Und sie hoben auf,34 was von den gebrochenen Broten übrig war: zwölf Körbe voll. τὸ περισσεῦον [to perisseuon] (das Übrige) verbindet Mt 14,21 mit Joh 10,10 περισσόν [ perisson]. Das Motiv der überschießenden Güte Gottes durchzieht die ganze Bibel (vgl. Ps 36,6ff; 57,11; 103,8; Röm 2,4; Eph 3,20). An diese überschießende Güte wollte Jesus offenbar erinnern. κλάσματα [klasmata] sind die gebrochenen Brotstücke. Die κόφινοι [kophinoi] sind große, feste Tragkörbe.35 Woher sie kom31 32 33 34 35

Behm a.a.O. Zahn, 512: ab dem Gebet Jesu. Schlatter, 233. „Was nun geschah, erzählt uns kein Evangelist.“ Dieses Aufsammeln war jüdische Pflicht (Strack-Billerbeck I 687). Bauer-Aland, 909.

3. Die Speisung der Fünftausend, 14,13-21

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men, wird nicht gesagt.36 Zwölf hat sicher neben der realen auch eine symbolische Bedeutung.37 Es sind ja zwölf Apostel, die das Übrige38aufhoben (Joh 6,12). Und es sind zwölf Stämme, die sie repräsentieren.39 Die Botschaft lautet also: Ganz Israel, mit allen seinen zwölf Stämmen, hat bei seinem Messias Jesus volle Genüge: in leiblichen Nöten wie in geistlichen. – Wieder berichten alle vier Evangelien weitgehend übereinstimmend. Man beachte ferner die Elisa-Parallele in 2Kön 4,44. Vers 21 orientiert kurz über die Zahl der Teilnehmer: Die Essenden waren etwa fünftausend Männer. Diese Zahl sitzt fest. Lk 9,14 und Joh 6,10 sagen genau dasselbe, Mk 6,44 hat nur fünftausend Männer. Als Einziger fügt Matthäus erläuternd hinzu ohne Frauen und Kinder. Sinngemäß bringt er damit nichts Neues. Denn auch die andern drei Evangelisten sprechen auffallenderweise nur von Männern (ἄνδρες [andres]), nicht „Menschen“ (ἄνθρωποι [anthrōpoi]), lassen also Frauen und Kinder außer Betracht. Deren Zahl wird in Wirklichkeit unbeträchtlich gewesen sein, denn an dem schnellen40 und langen Marsch werden sich nur wenige Frauen und Kinder beteiligt haben.41 Während des Essens schwieg man.42 Umso mehr konnte das Geschehen auf Denken und Empfinden der Teilnehmer einwirken.

IV Zusammenfassung 1. Ob die Speisung der Fünftausend sich so ereignet hat, wie es Matthäus berichtet, ist umstritten. Die „pragmatisch-historische“ Methode eines Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (geb. 1762 Leonberg, gest. 1851 Heidelberg) hat es verneint, wie auch der gesamte Rationalismus.43 Nach Paulus handelt es sich bei der Speisung der Fünftausend um „ein Mahl der Liebe, da alle miteinander teilen, was sie haben“ – ein „Verständnis“, das nach Emanuel Hirsch „einem Großteil der historisch-kritischen Forschung dauernd als das richtige gegolten hat“.44 Klar war auch, dass „Naturwunder“ im Wirkungsbereich der 36 Hat man in ihnen Wasser mitgebracht? Vom Trinken ist in Mt 14,13ff nicht die Rede, weil es offenbar kein Problem war. 37 Skeptisch France, 237. 38 Vgl. Bauer-Aland, 1311. 39 Skeptisch bez. Israel-Bezug Luz II 402. 40 Carson, 341: „the crowds ran“. 41 Viel zu viel setzt Carson, 342, an: 15000 oder 20000. Andererseits liegt gegen HengelSchwemer, 490, sachlich keine „Erweiterung“ vor. Dass also doch Frauen und Kinder dabei waren, deutet France, 237, so: „No group is excluded.“ 42 Dalman, 155. 43 Vgl. Kümmel NT, 106ff; Hirsch I, 27ff. 44 Hirsch V, 30.

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Gedanken Spinozas nicht wahrhaftig geschehen sein konnten. In der jüngeren Forschung setzte es sich jedoch mehr und mehr durch, dass man zunächst die Auffassung des Evangelisten ernst nehmen müsse. Und da kann das Urteil nur lauten: Matthäus geht aus von der „facticity“ des im 14,13-21 Berichteten.45 Es „zeigt sich, daß er das faktisch geschehene Wunder ernst nimmt“.46 Rationalistische Deutungen werden als Ausweichen empfunden.47 Von da aus teilen sich dann die Wege. Ein Zweig der Forschung rechnet mindestens mit einem historischen Kern von Mt 14,13ff. So Davies-Allison: Mt 14,13ff „rests upon an important episode of the pre-Easter period“.48 Andere rechnen sogar mit der Geschichtlichkeit des ganzen, von Matthäus doch sehr knapp gehaltenen Berichts.49 Entgegengesetzt argumentiert man in einem anderen Zweig der Forschung: Dem Bericht läge kein Geschichtsereignis zugrunde, er sei „difficult for a modern reader to understand“.50 Letztlich beruhen alle Stellungnahmen nicht auf exegetischen, sondern auf christologischen Gründen. Anerkennt man Jesu göttliche Macht und Vollmacht, dann fasst man wie die Evangelisten selbst dieses Geschehen als geschichtlichen, tatsächlichen Vorgang auf. Das ist auch die Position dieses Kommentars. 2. Wo war der Ort der Speisung? Gustaf Dalman hielt „die einsame Gegend zwischen wadi es-samak und wadi en-nkeb“ am Ostufer des Sees für die Stätte der Speisung.51 Clemens Kopp folgte ihm darin.52 Einen besseren Vorschlag gibt es bisher nicht. 3. Jesus speist die Menge wie ein Hausherr, und zwar in unglaublicher Fülle. Das ist der zentrale Vorgang.53 Sein Erbarmen (V. 14), seine Fürsorge (V. 16ff ), seine Fülle (V. 20f ), dies alles weist ihn aus als den messianischen guten Hirten. Insofern ist Mt 14,13ff auch eine Erinnerung an das „messianische Bankett“ der Zukunft.54 4. Seine Jünger sind in einem tiefen Sinn seine „Tradenten“. Sie geben weiter, was er ihnen gab (ἔδωκεν [edōken] V. 19 in doppeltem Sinne). Man darf ihren Part weder überhöhen noch unterschätzen. Sie sind nicht „Mitwirkende“ am Wunder, kommen aber als Erste in dessen Genuss. Natürlich sind 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

So Davies-Allison II 480. Luz II 402. Auch Beare, 327. Davies-Allison II 484. Zahn, 511f; Schniewind, 178. Beare, 326f. Vgl. Bultmann NuM, 18. Dalman, 152f. Kopp, 270. France, 235ff; Schlatter, 232. Carson, 342; France, 235ff; Davies-Allison II 481; Fiedler, 274; Sand, 306.

3. Die Speisung der Fünftausend, 14,13-21

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sie keine bloßen Statisten. Von Jesus gewollt und eingeplant sind sie als Glied in der Kette „empfangen – weitergeben“, insofern auch Mitarbeiter. Darin „lernen“ sie auch, wie einst Zahn schrieb.55 Insgesamt kann man das Wirken der Jünger als missionarisch bezeichnen. Von der Menge dagegen wird nur das Empfangen berichtet. Matthäus, Markus, Lukas nennen keine Reaktion (anders Joh 6,1ff ). 5. Mt 14,13ff bildet eine Art Kommentar zu Hebr 11,3, wonach Gott allein durch sein Wort die Schöpfung vollbringt, „sodass alles … aus nichts geworden ist“. Allerdings ist hier keine creatio ex nihilo, da ja ein paar Brote und Fische vorhanden sind. Immerhin kann man von einem Hinweis auf Jesu Schöpfermacht sprechen.56 6. Seine Gottheit wird auch durch die überströmende Fülle unterstrichen. Man denke an das Gottheitsmotiv der Fülle in Kana (Joh 2,1ff ), in Joh 10,10; Eph 3,20 und im AT Ps 16,11; Jer 31,14; Mal 3,10.57 7. Die Speisungsgeschichte enthält viele Bezüge. Ein Bezug zum Abendmahl (Mt 26,17ff ) ist heftig umstritten.58 Leugnen lässt er sich nicht, er ist jedoch nicht der wichtigste und macht jedenfalls Mt 14,13ff nicht zu einem „eucharistischen Mahl“. Stark ist der Bezug zum Exodus (Lagerung, Speisung in der Einsamkeit) und zu Mose. Wie Mose in der Wüste nach volkstümlichem Glauben das Manna gab (Joh 6,30f ), so gibt Jesus Brot und Zukost. Er ist wahrhaftig der zweite Mose (vgl. Dtn 8,3; 18,15ff ).59 Stark ist außerdem der Bezug zu Elia und Elisa. So wie Israels große Propheten wunderbar Speise vermehrten (1Kön 17,8ff; 2Kön 4,1ff; 4,42ff ), so vermehrt Jesus Brot und Fische. Ja, er übertrifft Israels bisherige Propheten durch die Menge der Gespeisten und der Speise.60 Mt 14,13ff ist ganz auf die Christologie fokussiert:61 Jesus ist der Messias voll göttlicher Macht und göttlichen Erbarmens, der zweite Mose, der Erlöser in der Linie der Propheten, der uns in einem neuen Exodus in das Reich Gottes, das endgültige Verheißene Land führt. In Kürze: Er repräsentiert die Geschichte des bisherigen und des neuen Israel.

55 56 57 58

Zahn, 512; France, 236. Schlatter, 232. Vgl. Schlatter, 233. Bejahend Davies-Allison II 481; Fiedler, 274; France, 237; Luz II 401f; Beare, 326f. Verneinend Sand, 305; Carson, 342. 59 Dalman, 155; Davies-Allison II 482; Fiedler, 274. 60 Vgl. Davies-Allison II 480ff (Hinweis auf Tertullian und b Taan 24b-25a). 61 Sand, 306.

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4. Jesu Seewandel, 14,22-33 I Übersetzung 22 Und gleich danach zwang er die Jünger, das Boot zu besteigen und vor ihm ans jenseitige Ufer zu fahren, bis er die Menge weggeschickt hätte. 23 Und nachdem er die Menge weggeschickt hatte, stieg er allein hinauf auf den Berg, um zu beten. Als es aber Abend geworden war, war er allein dort. 24 Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt, in Gefahr von den Wellen, denn der Wind stand ihnen entgegen. 25 In der vierten Nachtwache aber kam er zu ihnen. Dabei ging er über das Meer. 26 Die Jünger aber wurden von Schrecken gepackt, als sie ihn auf dem Meer gehen sahen, und sagten: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 27 Jesus aber sprach sie sofort an und sagte: Seid getrost! Ich binʼs. Fürchtet euch nicht! 28 Da gab ihm Petrus zur Antwort: Herr, wenn du es bist, dann befiehl mir, über das Wasser zu dir zu kommen. 29 Er sagte: Komm! Und Petrus stieg über die Bootswand hinab und ging über das Wasser und kam auf Jesus zu.1 30 Als er aber den Wind sah, packte ihn die Furcht, und während er zu sinken begann, schrie er: Herr, rette mich! 31 Sogleich aber streckte Jesus die Hand aus, ergriff ihn und sagt zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und als sie in das Boot stiegen, legte sich der Wind. 33 Aber die Männer im Boot fielen vor ihm nieder und sagten: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn.

II Struktur Schon die verschiedenen Überschriften wie z.B. „Jesus und Petrus auf dem See. Das erste Gottessohnbekenntnis“2 zeigen, dass in Mt 14,22-33 verschiedene Erzählstränge zusammenkommen. Diese Beobachtung wird durch die Seitenreferenten bekräftigt. Markus, Lukas und Johannes berichten nichts vom Vorfall mit Petrus. Die Verse 28-31 sind also Sondergut des Matthäus. Überdies findet sich der Seewandel Jesu nur bei Matthäus, Markus und Johannes. Lukas schweigt davon. Sind die Überlieferungen von Jesus und Petrus erst nachträglich zusammengewachsen? In der Auslegungsgeschichte rechnet man mit verschiedenen Möglichkeiten. Bultmann sah in Mt 14,28-31 einen „legendarischen Stoff “,

1 Bauer-Aland, 1421. 2 Luz II 404.

4. Jesu Seewandel, 14,22-33

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den Matthäus dem Seewandel Jesu hinzufügte.3 Luz variiert diese These: Matthäus hat „als Meister redaktioneller Gestaltung“ Mt 14,28-31 mit dem Ganzen verschmolzen.4 Dabei hat er Elemente einer älteren Tradition aufgenommen.5 Luz macht jedoch darauf aufmerksam, dass heute der Seewandel Jesu und der Seewandel Petri „eng miteinander verbunden“ sind, „so daß ein Text von großer Geschlossenheit entsteht“.6 Aber warum sollen sie dann nicht schon in der Geschichte „eng miteinander verbunden“ gewesen sein? Das Schweigen bei Lukas und Johannes besagt nichts, da beide anders fokussiert sind. Petrus als der Erzähler hinter Markus mag verschiedene Gründe gehabt haben, weshalb er seinen eigenen Seewandel nicht erwähnt. Jedenfalls kann man von der Verschlungenheit beider Episoden in der Geschichte ausgehen, die dann zu einem geschlossenen Text geführt hat.7 Der Aufbau von Mt 14,22-33 ist: 1) Situationsschilderung (V. 22-24), 2) Jesu Kommen auf dem Wasser (V. 25-27), 3) der Versuch des Petrus, auf dem Wasser zu gehen (V. 28-31), 4) die Stillung des Sturmes (V. 32), 5) das Bekenntnis zu Jesus als Gottes Sohn (V. 33). Das alles ist wieder sehr knapp erzählt. Der Name Jesus wird verhältnismäßig spät erwähnt (V. 27). Das zeigt, dass Matthäus diesen Abschnitt wie selbstverständlich in den Gang der Jesusgeschichte einordnet.

III Einzelexegese Mit εὐθέως/εὐθὺς ἠνάγκασεν [eutheōs/euthys ēnankasen] leiten sowohl Matthäus als auch Markus den Bericht vom Seewandel ein. Auch Joh 6,16 schließt sich eng an die Speisungsgeschichte an. Zweifellos sehen also alle drei Evangelisten den Seewandel unmittelbar auf die Speisung der Fünftausend folgen. Warum zwang8 Jesus die Jünger gleich danach, das Boot zu besteigen und vor ihm ans jenseitige Ufer zu fahren? Zwingen musste er sie offenbar, weil sie ihn gerne mitgenommen hätten und weil sie wohl auch das Wunder der Speisung noch länger feiern wollten. Joh 6 zieht den Vorhang an dieser Stelle noch etwas weiter zur Seite. Demnach wollte ihn das begeisterte Volk „zum König machen“ (6,15). Ließen sich die Jünger davon anstecken?9 Während er 3 4 5 6 7 8

Bultmann Gesch, 379. Luz II 405. Ähnlich France, 237: „Matthew’s inclusion“. Luz II 405f. Luz II 405. Sehr vorsichtig sind Hengel-Schwemer, 490: „Erweiterung“ anzunehmen. Die Übersetzung „veranlasste“ (Bauer-Aland, 101) verfehlt u.E. den charakteristischen Akzent. Besser BasisBibel; Gute Nachricht: „drängte“. In der Sache Beare, 331, völlig daneben: „no more than an artificial setting“. Wie wir Carson, 343. 9 Wie wir France, 238; vgl. Sand, 307; Carson, 343.

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sie zwang, ohne ihn ans jenseitige Ufer [= Westufer] zu fahren, wollte er beten, um sich in diesem Sturm der Ereignisse die innere Klarheit zu verschaffen (vgl. V. 23). Bis [= solange als10] er die Menge weggeschickt hätte: ἀπολύειν [apolyein] bedeutet „verabschieden“, „entlassen“.11 Diese Wendung enthält wohl den Versuch, die Menge davon abzubringen, ihn als den messianischen König zu proklamieren (vgl. Joh 6,14f ). Während sonst Nachfolge angestrebt war, war jetzt Trennung angesagt. In entscheidenden Lebenssituationen kann es unsere Pflicht sein, uns von Menschen zu trennen. Vers 23 informiert über die Situation Jesu. Und nachdem er die Menge weggeschickt hatte (ἀπολύσας [apolysas]): Kern der Aussage ist, dass sich Jesus von ihr trennte. Allerdings wissen wir weder aus dem Matthäusevangelium noch aus dem Johannesevangelium, dass die Menge weitere Versuche unternahm, ihn zum König zu proklamieren. Die Jünger auf dem See, die Menge auf dem Heimweg: Nun ist er allein (κατ᾿ ἰδίαν [kat’ idian]), „für sich“. Dieses „für sich“-Sein durchzieht die gesamte Jesusgeschichte (vgl. Mk 1,35; Lk 5,16; 6,12; Joh 6,15). Ein fortwährend aktiver Jesus entspricht nicht dem Jesusbild der Evangelien – so wenig wie ein fortwährend aktiver Christ dem biblischen Bild eines Christen entspricht. In der Fortsetzung hält Matthäus wiederum zwei typische Züge fest: 1) Er stieg hinauf auf den Berg (εἰς τὸ ὄρος [eis to oros]). Diese Liebe zum Berg scheint immer wieder durch (Mt 5,1; 15,29; 17,1; 24,3; Joh 6,3.15). Der Berg schafft Abstand zum alltäglichen Getümmel. Er ist aber auch ein bevorzugter Ort der göttlichen Offenbarung (vgl. Ex 19ff; 1Kön 18,19ff; 19,8ff ) und von daher ein Ort des Gebets. 2) Um zu beten: Jesus konnte an jeder Stelle beten. Aber für das gesammelte Gebet, im Suchen nach dem Willen des Vaters, bevorzugte er das einsame Gebet „auf dem Berg“ (Mt 14,23; Lk 6,12; 9,28; Joh 6,15). – Es wird Abend.12 Hier zeigt sich, dass wir die Speisung von Mt 14,15 richtig auf die Zeit zwischen 15 und 18 Uhr datiert haben.13 Jetzt bricht die Dämmerung herein. Matthäus hält noch einmal fest: er war allein dort. Für allein benutzt er jetzt nicht mehr κατ᾿ ἰδίαν [kat’ idian], sondern μόνος [monos]. μόνος [monos] heißt „einsam“.14 Fremde Hilfe konnte er hier nicht in Anspruch nehmen. Für den Übersetzer bleibt in V. 23 ein Problem, das nur teilweise zu lösen ist. Es steckt in den griech. Worten εἰς τὸ ὄρος [eis to oros], wörtlich auf den 10 BDR § 455,5; Zahn, 513. 11 Bauer-Aland, 193. 12 Beare, 331, übersetzt: „late in the night“; Zahn, 513: „Eintritt der nächtlichen Dunkelheit“. 13 Ebenso Beare a.a.O.; Zahn, 513. 14 Vgl. unser „mutterseelenallein“.

4. Jesu Seewandel, 14,22-33

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Berg. Es ist hier aber kein bestimmter Berg gemeint,15 vielmehr bedeutet es ganz allgemein die Höhenzüge, die sich am Ostufer des Sees vom Strand Richtung Osten und Nordosten, also zum Golan hin, erheben. Zu irgendeinem dieser Berge oder auch nur Kuppen ist Jesus also emporgestiegen, ohne dass wir sein Ziel genauer lokalisieren könnten. Insofern ist die Übersetzung „auf einen Berg“16 eleganter, aber grammatisch genau ist sie eben nicht.17 Die englische Übersetzung „on a mountain side“ ist zutreffender. Mit kurzen, prägnanten Strichen schildert V. 24 die Situation der Jünger, die derweil eingetreten ist: Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt.18 Man tut gut, auch hier die Zwischentöne zu hören. Schon viele Stadien: Ein Stadion wird auf 192 Meter berechnet.19 Viele: Das wären etwa 2 km. Aber ist die äußere Entfernung nicht gleichzeitig ein Anzeichen der inneren? Beides steht in Spannung: der betende Jesus „mutterseelenallein“ (μόνος [monos]) auf dem Berg, seine Jünger weit von ihm entfernt auf dem See. Sie Richtung Westen, er Richtung Osten. Noch niemals zuvor hatte Jesus seine Jünger gezwungen. Noch niemals zuvor war die Gefahr so nahe gewesen, dass sie mit dem Volk dachten und empfanden und nicht mehr mit Jesus. Es kommt jene gefährliche Zeit, in der sich auch die Jünger manchmal von Jesus entfremdeten,20 ihn zum Teil nicht mehr verstehen (Mt 16,6ff ) und ihn vom Kreuzesweg abhalten wollen (Mt 16,22f ). Johannes sagt es noch schärfer: „Damals wandten sich viele seiner Jünger von ihm ab“ (6,66). Die andere Seite ist die Not der Jünger: Das Boot war in Gefahr (βασανιζόμενον [basanizomenon]) von den Wellen, denn der Wind stand ihnen21 entgegen.22 Ähnliches lesen wir bei der Stillung des Seesturms in Mt 8,24. Dennoch ist der Unterschied gewaltig: Dort war Jesus mit im Boot, jetzt sind die Jünger ohne ihn. Wollten die Jünger ans West- oder auch ans Nordufer, dann kam der Wind von Westen, entgegen ihrer Fahrtrichtung. Über die Wellen wundert sich keiner, der schon an normalen Tagen von der Hotelterrasse oder vom Strand aus den regelmäßig um ca. 15 Uhr aufkommenden Wind und den gewellten See betrachtet. Gustaf Dalman schildert bei einer

15 16 17 18 19 20 21 22

Vgl. hebr. coll. ‫[ ַהר‬har]. BasisBibel; Gute Nachricht; Lutherbibel; Einheitsübersetzung; NGÜ; BigS. Tasker, 146f. Wichtige Textvariante: „in der Mitte des Sees“. Bauer-Aland, 1525f. Insofern steht Joh 6,60ff völlig logisch am Ende des Speisungskapitels Joh 6. So muss man übersetzen, auch wenn das αὐτοῖς [autois] sekundär ist. Moderne Übersetzungen nähern sich dem Bibel-Roman: „der Wind blies direkt von vorn“ (BasisBibel; ähnlich Gute Nachricht).

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Institutsfahrt am 6. April 1908 „ein ähnliches Erlebnis“,23 Mendel Nun bestätigt solche Situationen.24 Nur durch Jesu Kommen endet die Not: In der vierten Nachtwache aber kam er zu ihnen. Dabei ging er über das Meer (V. 25). Nach griechischrömischer Berechnung gibt es vier Nachtwachen: 18–21 Uhr; 21–24 Uhr; 0–3 Uhr; 3–6 Uhr. Die vierte Nachtwache ist also die Zeit zwischen 3 und 6 Uhr morgens.25 So lange hatte Jesus gebetet, „den Abend spät bis tief in die Nacht“.26 So lange hatten aber auch die Jünger, „in der Mitte des Sees angelangt, schwer mit den Wellen zu kämpfen“.27 Inzwischen waren sie nach Joh 6,19 etwa 5-6 km weit gekommen, was „für den Nordteil richtig die Mitte des Sees“ bezeichnet.28 Der See ist im Norden bis zu 12 km breit, seine Länge beträgt ca. 21 km. Dabei ging er über das29 Meer: Also nicht „auf dem Meer“, sondern über das Meer hin.30 Dieses gehen (περιπατῶν [ peritatōn] = ‫[ ֹהֵלְך‬holek] oder ‫[ ָבּא‬baʾ]) über das Meer ist ein göttliches Privileg, etwas, das nach Ps 77,20 nur Gott tun kann: „Im Meer ist dein Weg und dein Pfad in großen Wassern“ (Ps 77,20; LXX: ἐν τῇ θαλάσσῃ ἡ ὁδός σου, καὶ αἱ τρίβοι σου ἐν ὕδασι πολλοῖς [en tē thalassē hē hodos sou, kai hai triboi sou en hydasi pollois]). Vergleiche Hiob 9,8; Jes 43,16. Blitzartig wird hier klar, wer Jesus ist: der von Gott gesandte Messias, ja der Sohn Gottes. Eine Christologie unter Absehung von der Göttlichkeit Jesu ist im Rahmen des NT nicht möglich. Aber auch etwas anderes wird durch Mt 14,25 klar: Oft müssen wir warten bis zum letzten Teil der Nacht, ja bis zum letzten Augenblick, bis Gottes lang ersehnte Hilfe endlich eintrifft. Jesus hat seine Jünger bewusst zu diesem Warten erzogen. Das gilt auch im Blick auf die Eschatologie. Bis zur Wiederkunft dauert es viel länger, als wir wünschen. Auch da kommt Jesus erst in der letzten „Nachtwache“ (Mt 25,1-30; Mk 13,35; Lk 12,38). Also nicht eine „Naherwartung“ pflegen Jesus und das NT,31 sondern den langen Atem geduldigen Wartens, allerdings verbunden mit dem Stets-bereit-Sein.

23 Dalman, 155. 24 Nun, 52ff: ein „Wintersturm“ (März/April!); Aharoni, 33: bis heute ist der See Genezareth deshalb „gefürchtet“. 25 Tasker, 147. 26 Schniewind, 171. 27 Zahn, 513. 28 R. Riesner, Art. Genezareth, See, GBL, 1, 440; vgl. Mk 6,47. 29 ἐπί [epi] mit Akk., vgl. Bauer-Aland, 583. 30 Anders jedoch BDR § 233,2: „auf dem Meer“. 31 Gegen Fiedler, 276.

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Der sonst so karge Matthäus kann sich nicht genug tun, das Entsetzen der Jünger zu schildern (V. 26), als sie ihn auf dem Meer32 gehen sahen: ἐταράχθησαν [etarachthēsan] = sie wurden von Schrecken/Bestürzung gepackt, ἀπὸ τοῦ φόβου [apo tou phobou] = vor Furcht33 ἔκραξαν [ekraxan] = schrien sie auf. Man vgl. die wesentlich kürzeren Beschreibungen bei Mk 6,49 und Joh 6,19. Sie erkennen, dass eine Gestalt auf sie zukommt, rechnen aber nicht mit Jesus selbst, sondern sagten: Es ist ein Gespenst (φάντασμά ἐστιν [ phantasma estin])! Ähnliche Vorgänge gibt es bei der Auferstehung Jesu (Lk 24,37; vgl. Joh 20,15; auch Apg 12,15). Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass diese Jünger nicht aus religiösen, nervösen Ekstatikern bestanden, sondern aus abgehärteten, berufserfahrenen Männern. Nicht auf ein Kommen Jesu, sondern auf ein Durchkämpfen mit dem bald anbrechenden Tageslicht waren sie eingestellt. Das Kommen Jesu überrascht sie total. Über gespenstische Erscheinungen im Bereich des AT vgl. Hiob 4,15; 20,8; Sap Sal 17,4.14f.34 Man hat bei Mt 14,26 den Eindruck, dass hier persönliche Erinnerungen des Matthäus mitschwingen.35 Jesus holt sie sofort aus dem Bann des Schreckens heraus (V. 27): Er sprach sie an und brach diesen Bann schon mit seiner Stimme (vgl. Lk 24,30; Joh 20,16). Seid getrost! (θαρσεῖτε [tharseite]) ist in der Bibel der Zuspruch des Gottes, der unser höchster Tröster ist (Joh 16,33; Röm 15,5; 2Kor 1,3f ). Ich binʼs (ἐγώ εἰμι [egō eimi]): Dieses ἐγώ εἰμι [egō eimi] durchzieht alle Evangelien, nicht nur Johannes (vgl. Mk 6,50; 14,62). Schon im AT ist es Ausdruck der Gottesrede (Jes 43,10; 51,12). Es handelt sich um das königliche ἐγώ [egō] des Schöpfers und Herrn der Geschichte. Als Schöpfungsmittler und Gottessohn ist Jesus allen Elementen dieser Welt überlegen.36 Deshalb brauchen sich die Seinen vor Sturm und Wellen, Nacht und Naturgewalten nicht zu fürchten: Fürchtet euch nicht! In Mt 14,26 wird die Grundlage sichtbar, die uns das Recht gibt, Jesus in allen Problemen der Schöpfung und der Geschichte anzurufen. Mit V. 28 beginnt die Petrusgeschichte. Sie ist von Matthäus so eng mit dem Seewandel Jesu verknüpft, dass V. 28 als natürliche Fortsetzung von V. 27 erscheint. Unseres Erachtens entspricht das auch dem tatsächlichen Verlauf. Da gab ihm Petrus zur Antwort: Herr, wenn du es bist, dann befiehl 32 33 34 35

BDR § 233,2. BDR § 210,1. Zum Volksglauben vgl. Strack-Billerbeck I 691. Der Satz: „Furcht ist in der Antike überall“ (Luz II 408), wirkt in unserm angstgesteuerten 21. Jh. überheblich. France, 238, erklärt psychologisch. 36 France, 239, verbindet das Ego eimi mit Ex 3,14. Auch Fiedler, 276; Luz II 408.

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mir, über das Wasser zu dir zu kommen. Zweierlei drängt sich sofort auf. Erstens ist es ausgerechnet Petrus, der das sagt: Bisher sprach immer nur die „Jünger“-Gruppe als Ganzes (Mt 8,25ff; 13,10.36; 14,15ff ). Er redet Jesus an mit Herr (κύριος [kyrios]), einer Respektsbezeichnung, die von der Höflichkeitsanrede bis zur höchsten Respektsperson reicht. Zweitens ist es für Petrus unvorstellbar, über das Wasser37 zu kommen, ohne dass Jesus es ausdrücklich befiehlt. Die Orientierung am Wort des Herrn ist das absolut durchschlagende Moment.38 Sie schließt die Erfahrung und das Vertrauen ein, dass dieses Wort das richtige ist. Aber wie kann Petrus auf einen solchen Gedanken kommen? Dahinter steht sicherlich die Überzeugung, dass die messianische Zeit auch für die Gemeinde des Messias eine Zeit besonderer Wunder ist. Haben die Zwölf nicht soeben das Wunder der Brotvermehrung erlebt (Mt 14,13ff )? Sind sie nach Mt 10,25 sogar „wie der Lehrer und der Herr“? Repräsentieren sie nicht den Messias (Mt 10,40)? Verstehen sie nicht „die Geheimnisse des Gottesreiches“ (Mt 13,11)? Jesus auch in der Wundererfahrung folgen: Das war offensichtlich der Wunsch des Petrus. Eine Frage für sich ist es, weshalb Matthäus den Petrus so stark herausstellt.39 Vers 28-31 sind ja matthäisches Sondergut. Vergleiche Mt 15,15; 16,16; 17,4; 18,21; 19,27; 26,31ff.58. Hier kann man nur Vermutungen äußern. Eine Vermutung ist, dass sich beide durch den gemeinsamen Wohnsitz Kapernaum kannten (vgl. Mt 8,14 mit 9,9ff ). Eine weitere Vermutung ist, dass beide später das Judenchristentum vertraten (s. die Einleitung und Gal 2,7ff ) und sich von daher nahestanden. Eine dritte, damit zusammenhängende Vermutung ist, dass sie insbesondere theologisch eng zusammengehörten. Er [= Jesus] sagte: Komm! (V. 29): So unglaublich knapp kann Matthäus erzählen. Es wird ein lauter Ruf über Wind und Wellen hinweg gewesen sein: Komm!, hebr. ‫[ ֹבּא‬boʾ], aram. ‫[ ָתּא‬tāʾ]. Mit Recht sagt Schlatter, nicht das „über die Wellen gehen“ stehe hier im Mittelpunkt, sondern das „zu Jesus kommen“.40 Jesu Komm! verleiht Petrus die Kraft für sein Tun: er stieg über die Bootswand hinab (καταβὰς ἀπὸ τοῦ πλοίου [katabas apo tou ploiou]) und ging über das Wasser und kam auf Jesus zu.41 Damit beginnt eine Reihe von Wundern, die von den Jüngern und Aposteln in der Kraft Jesu vollbracht wurden, vgl. Mk 16,17f; Lk 9,49f; 10,17; Apg 3,1ff; 4,30; 5,12ff; 6,8; 37 Bei ὕδατα [hydata], „Wasser“, „Gewässer“, steht offensichtlich das hebr. ‫[ ַמי ִם‬majim] im Hintergrund. Vgl. BDR § 141,11. 38 Vgl. France, 239. 39 Vgl. Hengel Evglien, 150.170; Hengel-Schwemer, 233.371. 40 Schlatter, 235. 41 Gaechter, 484, übersetzt: „ging Jesus entgegen“.

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8,6f; 9,32ff.36ff; 14,8ff; 16,18; 19,11f; 28,7ff; Röm 15,19; 2Kor 12,12; Hebr 2,4. Ist Petrus hier ein Vorbild, dem wir nacheifern sollen?42 Nein. Das wäre eine Überinterpretation. Es handelt sich vielmehr um ein sehr persönliches Verhalten, das dann allerdings zu einem Lehrstück über den Glauben wird. Als Jesus sagte Komm!, da wusste er bereits, was geschehen würde. Vers 30 hat in der christlichen Theologie eine beinahe klassische Bedeutung als Lehrstück des Glaubens bekommen:43 Als er aber den Wind sah, packte ihn die Furcht, und während er zu sinken begann, schrie er: Herr, rette mich! Der Tadel, der Petrus danach trifft (V. 31), gilt nicht dem Sinken, er gilt der Furcht vor den Elementen. Was bestimmt uns mehr – das ist die Frage, die uns hier entgegenkommt –, der Eindruck der Elemente dieser Welt oder das Vertrauen auf Jesus und sein Wort? Den Wind sehen, heißt Augen, Konzentration und Denken auf Wind und Wellen richten. Richtig aber wäre: Jesus sehen. Für sehen wird hier das ganz normale Wort βλέπων [blepōn] benutzt, als sollte jeder Gedanke an ein „Über-den-Wolken-Schweben“ oder eine Vision ferngehalten werden. Der Fischer Petrus sieht ganz real den Wind, aber er sieht nicht mehr Jesus in seiner göttlichen Kraft „hier vor sich auf dem See stehen“.44 Sobald unser Blickkontakt zu Jesus verloren geht, werden wir ähnlich wie Petrus zu sinken beginnen. Das wird der Kirche immer dann passieren, wenn sie sich an der gesellschaftlichen Entwicklung, an der Übereinstimmung mit Politik und Staat oder anderen Religionen orientiert. Dann wird sie durch die Elemente dieser Welt bestimmt und nicht mehr durch das einfache, verachtete Wort ihres Herrn. Die Worte er begann zu sinken (ἀρξάμενος καταποντίζεσθαι [arxamenos katapontizesthai]) sind genau zu nehmen: Petrus ist damals keineswegs versunken, sondern konnte als ein Sinkender noch reden und handeln. Außerdem ist deutlich, dass Petrus fast den ganzen Weg zu Jesus schon zurückgelegt hatte.45 Herr, rette mich! ist ein einfacher, aber elementarer Ruf. Er ist transparent auf den Namen Jesu hin – „Jeschua“ = Rettung (vgl. Mt 1,21). Jüdische Gläubige haben es damals gelernt, so zu schreien. Aber wer lernt es bei uns heute noch? Vergleiche Ps 18,17; 69,2.15f; 144,7. Das Erlebnis des Petrus muss von zwei grundsätzlich anderen Erfahrungen unterschieden werden. Die eine drückt sich aus in Goethes Deutung, die in Mt 14,28-31 „eine der schönsten Legenden“ sieht, die uns zeige, „daß der Mensch 42 Vgl. France, 239. 43 Vgl. auch Barth KD I/2, 361; Wilckens I/4, 71; Schniewind, 180. 44 Schlatter, 235. Bauer-Aland, 287, missdeuten dieses βλέπων [blepōn]: „m[it] völlig abgeschwächter Bed[eutung]“. 45 Carson, 346.

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durch Glauben und frischen Mut in schwierigsten Unternehmen siegen werde, dagegen bei anwandelndem geringsten Zweifel unterliegen werde“.46 Bei Goethe ist nur der Mensch der Agierende, während in Mt 14,28ff die Hauptaktion von Jesus ausgeht und deshalb ein total anderes Welt- und Gottesverständnis vorliegt. Die zweite Erfahrung, von der Mt 14,28-31 unterschieden werden muss, ist die der buddhistischen Überlieferung.47 Dieser Überlieferung zufolge konnte einer, der freudig an Buddha gedachte, über einen Fluss gehen. Als seine Konzentration nachließ und er die Wellen sah, begann er zu sinken. Dann konzentrierte er sich wieder stärker und konnte seinen Gang über den Fluss fortsetzen. Auch in dieser buddhistischen Überlieferung ist es der Mensch selbst, der fähig ist, sich zu konzentrieren und den Sieg über die Naturelemente zu behalten. Eine wahre Transzendenz, in der uns der eine Gott begegnet und den Menschen rettet, gibt es in dieser buddhistischen Überlieferung nicht. Wenn Luz hier „eine tiefe Konvergenz von Erfahrungen“48 feststellen will, sagt er ungefähr das Gegenteil von dem, was hier zu sagen wäre. Vers 31 schildert in wenigen Worten die Rettung des Petrus: Sogleich aber streckte Jesus die Hand aus, ergriff ihn … Das doppelte εὐθύς/εὐθέως [euthys/eutheōs] ist charakteristisch für Jesus (V. 27.31). Er ist sofort bereit, zu helfen. Er hat aber auch sofort die Macht, alles zu wenden. Es scheint, dass Petrus schon ganz in seiner Nähe war,49 denn er konnte die Hand nach ihm „ausstrecken“. Er fasst ihn mit göttlicher Kraft. Das Verb ἐπελάβετο [epelabeto] (er ergriff ihn) genügt, um den ganzen Vorgang zu beschreiben. Ebenso wichtig wie die äußere Rettung aus Lebensgefahr ist in V. 31 die Frage nach dem Glauben: Du Kleingläubiger (ὀλιγόπιστε [oligopiste]), warum hast du gezweifelt50 (εἰς τί ἐδίστασας [eis ti edistasas])? Hier zeigt sich, dass Mt 14,28-31 in der Tat ein Lehrstück über den Glauben ist. Kleingläubig kommt bei Matthäus häufig vor (vgl. 6,30; 8,26; 14,31; 16,8; 17,20; aber auch Lk 12,28), so wie er auch vom „großen Glauben“ redet (8,10.13; 15,28; 21,21). Kleingläubig ist jeder, der Gott und seinem Wort weniger zutraut, als er sollte. Ein solcher Kleinglaube kann auch die Folge dessen sein, dass wir andere Erscheinungen und Mächte für wichtiger halten als den lebendigen Gott. So war es bei Petrus (V. 30). Das Vertrauen auf Gott wird dadurch erschüttert. 46 In den Gesprächen mit Eckermann, zitiert bei Zahn, 514,15; Schniewind, 179; Luz II 411. Sand, 308, ist Goethe nicht allzu fern: „Im letzten siegt bei Petrus die Gewißheit“. 47 Zitiert bei Schniewind, 180; Luz II 410. Im Hintergrund steht J. Aufhauser, Buddha und Jesus in ihren Paralleltexten, Kleine Texte 157, 1926, 12. 48 Luz a.a.O., seine gewundene Formel „immanente Transzendenz“, 411. 49 Gaechter, 485: „ganz nahe an Jesus herangekommen“. 50 Gaechter, 485, übersetzt präsentisch.

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Diese Erschütterung des Glaubens bezeichnet Jesus als Zweifel. Das griechische Wort für zweifeln, διστάζειν [distazein], ist dabei hochinteressant. Es bedeutet, einen Abstand machen, zweigeteilt sein, in unserm Fall: auf Distanz zum Glauben gehen, weil die Elemente eindrücklicher sind.51 Der „ehrliche Zweifler“ unserer Umgangssprache, eigentlich: der ehrliche Gottsucher, gehört in eine andere Kategorie. Den Zweifel von Mt 14,28-31 jedoch, das Abrücken vom Glauben, fassen sowohl Jesus als auch Matthäus und Jakobus (1,6ff ) negativ auf. Die im Protestantismus beliebte Formulierung, zu einem echten Glauben gehöre auch der Zweifel,52 muss von daher revidiert werden. Richtig ist vielmehr: Zu einem echten Glauben gehört auch die Anfechtung. Und als sie in das Boot stiegen, legte sich der Wind (V. 32): Ganz Ähnliches geschah bei der Sturmstillung in Mt 8,26; Mk 4,39. Kein „Zufall“ stillt den Wind, sondern Jesu göttliche Präsenz und Macht. Es erfüllt sich Ps 65,8; 89,10. Von Petrus wird keine Antwort berichtet. Aber kann man in einer solchen Situation überhaupt eine Antwort geben? Vers 33 gibt dem Bericht des Matthäus einen majestätischen Abschluss. Aber ist er überhaupt echt? Hat nicht Markus in 6,5f einen ganz anderen Abschluss? Gaechter wies jedoch darauf hin, dass der Markusschluss keinen Widerspruch zu Mt 14,33 darstellt.53 Denn auch das maßlose Erstaunen von Mk 6,51 muss sich irgendwelcher Worte bedient haben, und das Unverständnis von Mk 6,52 schlug sich ja im Kleinglauben aller Jünger nieder (Mt 14,26). Jetzt aber, nach dem Kommen Jesu über das Wasser hin und nach der wunderbaren Rettung des Petrus bricht bei den Jüngern eine Klarheit durch. Sie – das sind ja eben die im Boot – fielen vor ihm nieder und sagten: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn! Gaechter hat recht: Wenn hier steht wahrhaftig (ἀληθῶς [alēthōs]54), dann muss eine Debatte darüber längst schon in Israel stattgefunden haben (vgl. Mt 3,17f; 4,3ff; 8,29).55 Sie beruhte auf den Hinweisen des Täufers, der Dämonen, vor allem aber der Gottesstimme und des AT (Ps 2,7; 89,27f; 2Sam 7,14; Jes 7,14; 9,5). Dann muss aber auch im Jüngerkreis selbst darüber gesprochen worden sein. In der Tat heißt es Sohn Gottes (ohne Artikel)56 jüdischer Auffassung gemäß (s. obige Stellen). Man kann also nicht übersetzen „ein Sohn Gottes“.57 Die Bemerkung von Luz: „Jesus präsentiert 51 52 53 54 55 56 57

Aber gegen France, 239, gerade nicht „Verlust des Glaubens“! Vgl. Gaechter, 485. Vgl. Luz II 410: „Daß ‚Zweifel‘ zum Glauben gehört“, sei Matthäus „wichtig“. Gaechter, 486. Ebenso Carson, 345f. ἀληθῶς [alēthōs] nach Bauer-Aland, 72, hier = „wirklich“. Gaechter, 486f. Aber Carson, 345, so viel wie „der Sohn Gottes“. Richtig Gaechter, 486.

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sich hier im Gewand eines hellenistischen Heros“58 geht am Sachverhalt vorbei. Die Jünger vollziehen auf ihrem jüdisch-alttestamentlichen Hintergrund das anbetende Bekenntnis (Proskynese, προσεκύνησαν [ prosekynēsan], sie fielen nieder59) zu Jesus als dem messianischen Gottessohn.60 Dass dieses Bekenntnis im Laufe der Zeit gefestigt, unter den Jüngern selbst wieder angefochten und debattiert wird, bis diese Entwicklung in das noch feierlichere Bekenntnis von Caesarea Philippi mündet (Mt 16,16), das alles wird in Mt 14,33 gerade nicht aus-, sondern eingeschlossen.61 Vergleiche noch Mt 27,54 und vor allem Mt 26,63f.

IV Zusammenfassung 1. Mt 14,22-33 weist einen dreifachen Höhepunkt auf: 1) Jesu Macht über die Naturgewalten, 2) was der Glaube des Jüngers vermag, 3) das Bekenntnis der Jünger zur Gottessohnschaft Jesu. 2. Trotz des tiefen Gehalts wird Mt 14,22-33 von vielen Forschern als ungeschichtlich betrachtet. Luz meint, wir müssten „ernst“ nehmen, „daß unsere Geschichte unhistorisch ist“.62 Bultmann, Hengel, Schwemer nennen sie „legendarisch“63 und „sekundär“.64 Beare zufolge kann man sich kaum vorstellen, „that a fisherman should seriously propose to get out of his boat“, es sei „still less credible that Jesus should bid him to do so“.65 Aber war es für die Jünger weniger ungewöhnlich? Und sollte Matthäus das Jesusbekenntnis auf etwas gründen, das gar nicht passiert ist? Nur aus dogmatischen Gründen kann man die Geschichtlichkeit von Mt 14,22-33 bestreiten und muss dann eben die gesamte Wunderüberlieferung der Evangelien infrage stellen. 3. Entscheidet man sich wie in unserem Kommentar für die Geschichtlichkeit dieser Überlieferung, dann fallen auch rationalistische Erklärungsversuche dahin, wie etwa die Auskunft, Jesus sei nur am Ufer oder im flachen Wasser gegangen.66 4. Stattdessen besitzt Mt 14,22-33 einen christologischen Schwerpunkt.67 Der Messias ist nicht nur ein menschlicher Wohltäter, sondern ein Retter in 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Luz II 408. Vgl. Bauer-Aland, 1435; H. Greeven, Art. προσκυνέω usw., ThWNT, VI, 1959, 764f. Vgl. E. Schweizer im Art. υἱός usw., ThWNT, VIII, 1969, 382. Vgl. Zahn, 515; Schniewind, 179; Carson, 345; France, 240. Luz II 412. Bultmann Gesch, 379; Hengel Evglien, 150.475. Hengel-Schwemer, 233.371. Beare, 332. Mit Recht von Luz II 406 abgelehnt. Gegen Luz II 409,46.

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Situationen, in denen kein Mensch uns helfen kann, ein Retter mit göttlicher Kraft. 5. Diese Einzigartigkeit Jesu wird dort verdunkelt, wo man die Erzählung des Matthäus zu einer Frage des damals üblichen „Stils“ macht. Er berichte so, sagt etwa Sand, weil es der „Stil der Theophanieschilderung“ verlange.68 Fiedler nennt die Reaktion in V. 26 „stilgemäß“. Dadurch verschiebt sich das Bild des Evangelisten vom Repräsentanten der Erinnerung und Überlieferung hin zu einem Literaten, der einem bestimmten „Stil“ verpflichtet ist. Das dürfte aber weder die Sicht des Lukas (Lk 1,1-4) noch des Johannes (Joh 20,30f; 21,24f ) noch der anderen Evangelisten treffen. 6. Für Ulrich Luz ist Mt 14,22-33 „ein wichtiger Grundtext, um der Frage der sog. ‚Absolutheit‘ des christlichen Glaubens nachzugehen“.69 Das ist allerdings eine Frage, mit der sich moderne Ausleger mehr und mehr beschäftigen müssen. Welches ist die Antwort? Bei Luz „präsentiert sich“ Jesus nicht nur „im Gewand eines hellenistischen Heros“,70 sondern wir stoßen hier – so Luz – „auf eine tiefe Konvergenz von Erfahrungen“, die „die Besonderheit der christlichen Religion“ transzendieren.71 Luz stellt die rhetorische Frage: „Muß christlicher Glaube … apodiktisch auf Jesus Christus und seine Geschichte als den Ort hinweisen, wo Gott sich offenbart?“72 Nein, das muss er nicht. Stattdessen sollte er sehen: „Es gibt eine Konvergenz religiöser Erfahrungen, die es zu verstehen und dankbar anzunehmen gilt. Es gibt menschlich-religiöse Grunderfahrungen, die so tief im gemeinsamen Grundbesitz der menschlichen Psyche verwurzelt sind, dass sie immer wieder in ähnlichen Texten verbalisiert werden.“73 Luz macht das fest an einem buddhistischen Text, an hellenistischen Texten, an Goethe und an Drewermann.74 Damit ist Christus im Grunde aus Mt 14,22-33 hinausexegesiert. Endet für Matthäus alles Geschehen beim lobpreisenden Bekenntnis zum Gottessohn Jesus, so endet bei Luz alles bei der menschlichen Psyche, bei uns, beim Menschen. Das ist allerdings die grundsätzliche Alternative, vor der wir „modernen“ Leser des Evangeliums stehen.

68 69 70 71 72 73 74

Sand, 307. Luz II 412. Luz II 408. Luz II 410f. Luz II 411. Luz II 412. Luz II 407ff.

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5. Zustrom am Westufer, 14,34-36 I Übersetzung 34 Und sie fuhren hinüber und kamen ans Land nach Genezareth. 35 Und als ihn die Leute jenes Ortes erkannten, sandten sie aus in jene ganze Gegend dort, und man brachte alle Kranken zu ihm. 36 Und sie baten ihn, dass sie nur den Saum seines Gewandes berühren durften. Und wer ihn berührte, wurde gerettet.

II Struktur Mt 14,34-36 ist ein Sammelbericht wie Mt 4,23-25; 9,35-38; 11,1. Wie die vorigen Sammelberichte spielt er in Galiläa. Der Radius ist jedoch kleiner als in den oben genannten Abschnitten, nämlich begrenzt auf das „Umland“ (περίχωρος [ perichōros]) von Genezareth. Gegenüber 4,23ff; 9,35ff hat sich ein interessanter Akzent verlagert. Dort suchte Jesus die Menschen auf. Jetzt holt man sie herbei (ἀπέστειλαν [apesteilan] = ήνεγκαν [ēnenkan] V. 35). Diese Akzentverlagerung signalisiert zweierlei: 1) Jesus ist jetzt berühmter; 2) trotz aller Attacken hat man ein immenses Zutrauen zu ihm. Deshalb wählten wir die Überschrift „Zustrom am Westufer“. Mk 6,53ff und Joh 6,22ff bestätigen diesen Sachverhalt. Noch immer stehen Matthäus, Markus und Johannes zusammen, während Lukas eine Lücke aufweist. Es handelt sich um eine Art „transsynoptisches“ Agreement. Ein weiteres Charakteristikum von Mt 14,34-36 ist die Dominanz der Heilungen.1 Markus verstärkt diese Dominanz. Ein Lehren Jesu wird nicht erwähnt, höchstens angedeutet (vgl. Mk 6,56).

III Einzelexegese Nach der Stillung von Sturm und Wellen (V. 32) verlief die Weiterfahrt zum Westufer ganz normal (V. 34). So kamen die Jünger mit Jesus ans Land. Wo ist das gewesen? Bei Nestle-Aland28 wird an ἐπὶ τὴν γῆν [epi tēn gēn] als Apposition εἰς Γεννησαρέτ [eis Gennēsaret] angeschlossen. Aber die Vielzahl der Varianten bezeugt, dass man sich über den exakten Namen nicht sicher war. Genezareth hängt jedenfalls mit dem in Jos 19,35 erwähnten Ort Kinneret zusammen.2 Dieser lag auf dem Tell el-Oreme. Südlich vom Tell elOreme erstreckt sich eine äußerst fruchtbare Ebene. Josephus widmet ihr hin1 Vgl. Gaechter, 488. 2 Vgl. hier und im Folgenden R. Riesner, Art. Genezareth, Ort, GBL, 1, 439.

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gerissen einen ganzen Abschnitt seines Jüdischen Krieges, der mit den Worten beginnt: „Entlang dem See Gennesar erstreckt sich eine gleichnamige Landschaft von wunderbarer Natur und Schönheit.“3 Der Name Gennesar/Genezareth ging also schon in vorchristlicher Zeit auf diese Ebene über, die arab. elGuwer heißt. An ihrem Südende liegt Magdala. Doch blieb nach der jüdischen Überlieferung auch ein Ort namens Ginnesar erhalten, dessen Name im heutigen Kibbuz Nof Ginnosar weiterlebt. Vergleiche Dtn 3,17; Jos 11,2; 12,3; 13,27; 1Kön 15,20; 2Kön 15,29. Angesichts dieser komplizierten Überlieferungsgeschichte ist es bis heute „nicht ganz deutlich“,4 ob mit Genezareth in Mt 14,34; Mk 6,53 ein Ort dieses Namens oder der ganze fruchtbare Landstrich gemeint ist.5 Nur so viel ist klar: Jesus landet in einem der dichtest besiedelten Gebiete Israels, dem völligen Gegenteil jener „einsamen Stelle“, die er einmal (V. 13) aufsuchen wollte. Der Zustrom ist phänomenal: Und als ihn die Leute jenes Ortes (τοῦ τόπου ἐκείνου [tou topou ekeinou]) erkannten, sandten sie aus in jene ganze Gegend (περίχωρον [ perichōron]) dort … (V. 35). Ort, τόπος [topos], muss nicht unbedingt eine Ortschaft bezeichnen. Es kann sich auch um einen geografischen Raum im weiteren Sinne handeln.6 Jedenfalls erkannte man Jesus von früheren Besuchen her. In V. 35 scheint ein Moment der Überraschung mitzuschwingen, das sich daraus erklärt, dass man Jesus noch auf dem Ostufer wähnte (vgl. V. 13.22; Joh 6,22ff ). Sie sandten aus, das heißt, sie benachrichtigten jene ganze Gegend dort. Der Erfolg: man brachte alle Kranken zu ihm. Alle heißt: „alle möglichen“, mit den verschiedensten Krankheiten. Jesu Ruf als Wundertäter war ungebrochen. Offenbar hatte das Volk, wie so oft in der Geschichte, einen gesünderen Instinkt als seine Führer (vgl. Mt 12,24ff und 4,24). Dass Jesus die vielen Kranken heilte, war für Matthäus wie für die damals Hilfe Suchenden keine Frage. Matthäus erwähnt aber in V. 36 einen besonderen Fall: Man bat Jesus immer wieder einmal, dass sie nur (μόνον [monon]) den Saum seines Gewandes berühren durften. Das μόνον [monon] ist dasselbe wie in Mt 8,8. Vermutlich wollte man es Jesus leichter machen. Was bedeutet κράσπεδον [kraspedon]? Eine der Quasten (Zizith) am Gebetsmantel

3 BJ II, 516ff. 4 Riesner a.a.O. 5 Vgl. neben Riesner a.a.O. Dalman, 109ff; Kopp, 252ff; Bauer-Aland, 312. Auf die Ebene deuten Gaechter, 488, sowie Schlatter 236; France, 240; Carson, 346; Zahn, 515f. Aber Sand, 309, ein „Ort“. 6 Vgl. Bauer-Aland, 1639ff.

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(Num 15,37ff )? Eher nicht, denn – so Gaechter wohl mit Recht7 – Jesus wird den Gebetsmantel nur zu den Gebetszeiten getragen haben. Gemeint ist also der Saum, der Rand seiner normalen Kleidung, das heißt des Obergewandes. Man glaubte, dass die Kraft einer Person auch auf ihre Kleidung überginge. Jesus hat diese Bitte erfüllt. Denn wer den Saum berührte, wurde gerettet. Mk 6,56 sagt dasselbe. Gaechter sieht auch hier das Richtige: Wer Jesu Gewand berühren wollte, der äußerte auf diese Weise „das gläubige Vertrauen in seine Person“.8 Wie Mt 9,20 und 14,36 zeigen, sahen weder Jesus noch Matthäus in einer solchen Berührung etwas Tadelnswertes oder gar einen Aberglauben, sondern einen positiven Beweis des Vertrauens. Matthäus schildert in V. 36 die Vorgänge so, als wollte er sagen: Sogar im „Saum seines Gewandes“ beweist der Christus seine einzigartige Kraft.9

IV Zusammenfassung 1. Mitten hinein in die Zeit zunehmender Spannungen und Auseinandersetzungen stellt Matthäus erneut einen Bericht über Jesu unvergleichliches Wunderwirken und das Vertrauen, das er fand. 2. Es geht also auch in Mt 14,34-36 zentral um die Christologie. Das διεσώθησαν [diesōthēsan] als letztes Wort dieses Abschnitts ist noch einmal transparent für den göttlichen Auftrag Jesu, unser „Retter“ zu sein (vgl. Mt 1,21).

7 Gaechter, 488. Gegen Strack-Billerbeck I 691; Fiedler, 277 („Schaufäden“); Luz II 413. Wie Gaechter auch Carson, 347. 8 Gaechter a.a.O. Ähnlich Sand, 310. 9 Es zeugt von Unverständnis, wenn Beare, 333, Mt 14,36 „to the realm of magic“ rechnet.

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820

Ausgewählte Literatur

Hengel, Martin, Die johanneische Frage, WUNT, 67, 1993 [Hengel Joh Frage] Hengel, Martin, Der Sohn Gottes, 2. Aufl., Tübingen, 1977 [Hengel Sohn] Hengel, Martin, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart, 1979 [Hengel Gesch] Hengel, Martin / Merkel, Helmut, Die Magier aus dem Osten und die Flucht nach Ägypten (Mt 2) im Rahmen der antiken Religionsgeschichte und der Theologie des Matthäus, in: Orientierung an Jesus, Festschrift für Josef Schmid, hrsg. von Paul Hoffmann in Zusammenarbeit mit Norbert Brox und Wilhelm Pesch, Freiburg/Basel/Wien, 1973, 139-169 [Hengel-Merkel] Hengel, Martin / Schwemer, Maria, Jesus und das Judentum, Geschichte des frühen Christentums, 1, Tübingen, 2007 [Hengel-Schwemer] Hennecke, Edgar, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hrsg. von Wilhelm Schneemelcher, II, 3. Aufl., Tübingen, 1964 [HenneckeSchneemelcher] Herodot, Historien, 4. Aufl., Stuttgart, 1971 [Herodot Hist] Hirsch, Emanuel, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 5 Bände, 5. Aufl., Gütersloh, 1949–1951 [Hirsch I, II usw.] Holm-Nielsen, Svend, Die Psalmen Salomos, JSHRZ, IV, 2, 1977 [HolmNielsen] Hörster, Gerhard, Theologie des Neuen Testaments, Wuppertal, 2004 [Hörster] Jaroš, Karl, Das Neue Testament und seine Autoren, UTB, 3087, Köln/Weimar/Wien, 2008 [Jaroš] Jeremias, Joachim, Die Gleichnisse Jesu, 6. Aufl., Göttingen, 1962 [Jeremias Gleichnisse] Jerusalemer Bibellexikon, hrsg. von Kurt Hennig, Neuhausen-Stuttgart, 1990 [Jer Bibellexikon] Josephus, Flavius, De Bello Judaico, Der Jüdische Krieg, hrsg. von Otto Michel und Otto Bauernfeind, I, 1959; II/1, 1963; II/2, 1969, Darmstadt [Michel-Bauernfeind I bzw. II/1 und II/2] Keener, Craig S., Matthew, The JVP New Testament Commentary Series, 1, 1997 [Keener] Keil, Carl Friedrich, Leviticus, Numeri und Deuteronomium, BC, 3. Aufl., 1987 (Nachdruck der 2. Aufl., 1870 [Keil] Klostermann, Erich, Das Matthäusevangelium, HNT, 4, 4. Aufl., 1971 [Klostermann] Kopp, Clemens, Die heiligen Stätten der Evangelien, 2. Aufl., Regensburg, 1964 [Kopp]

Ausgewählte Literatur

821

Kümmel, Werner Georg, Das Neue Testament, Geschichte der Erforschung seiner Probleme, 2. Aufl., Freiburg/München, 1970 [Kümmel NT] Kümmel, Werner Georg, Einleitung in das Neue Testament, 21. Aufl., Heidelberg, 1983 [Kümmel Einl] Lexikon der katholischen Dogmatik, hrsg. von Wolfgang Beinert, Freiburg/ Basel/Wien, 1987 [Lkath Dogm] Lloyd-Jones, D. Martyn, Studies in the Sermon on the Mount, Grand Rapids, 1982 [Lloyd-Jones] Lohmeyer, Ernst, Das Evangelium des Matthäus, hrsg. von Werner Schmauch, 4. Aufl., KEKNT, Sonderband, 1967 [Lohmeyer] Lohse, Eduard, Hrsg., Die Texte aus Qumran, München, 1964 [Lohse Qumran] Luck, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus, ZBK. NT, 1, 1993 [Luck] Luthers Vorreden zur Bibel, hrsg. von Heinrich Bornkamm, Hamburg, 1967 [Luther Vorreden] Luz, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus, 4 Teilbände, EKK, 1985–2002 [Luz I/II/III/IV] Maier, Gerhard, Der Brief des Jakobus, Historisch-Theologische Auslegung, 2. Aufl., Witten-Gießen, 2009 [Maier Jak] Maier, Gerhard, Der Prophet Daniel, WStB, 1. Aufl., 1982 [Maier Daniel] Maier, Gerhard, Der Prophet Haggai und der Prophet Maleachi, WStB, 1985 [Maier Haggai/Maleachi] Maier, Gerhard, Die Johannesoffenbarung und die Kirche, WUNT, 25, 1981 [Maier JO] Maier, Gerhard, Matthäus-Evangelium, 2 Teile, Edition C-Bibel-Kommentar zum Neuen Testament, Neuhausen-Stuttgart, 1979 und 1980 [Maier I bzw. II] Maier, Gerhard, Mensch und freier Wille, Nach den jüdischen Religionsparteien zwischen Ben Sira und Paulus, WUNT, 12, 1971 [Maier Mensch und freier Wille] Maier, Johann, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, 3 Bände, UTB. W., 1862; 1863; 1916, 1995–1996 [Maier Texte I, II, III] Maier, Johann, Die Texte vom Toten Meer, 2 Bde, München/Basel, 1960 [J. Maier I bzw. II] Mauerhofer, Erich, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, 1, 3. Aufl., Nürnberg/Hamburg, 2004 [Mauerhofer] Mayer, Reinhold, War Jesus der Messias?, Tübingen, 1998 [Mayer] Mello, Alberto, Evangile selon Saint Matthieu, LeDiv, 179, Paris, 1999 [Mello]

822

Ausgewählte Literatur

Metzger, Bruce M., Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz, 1966 [Metzger Text] Metzger, Bruce M., Names for the Nameless in the New Testament, in: Kyriakon, Festschrift Johannes Quasten in Two Volumes, I, Münster/Westfalen, 1970, S. 79-99 [Metzger] Neudorfer, Heinz-Werner, und Schnabel, Eckhard J. (Hrsg.), Studium des Neuen Testaments, Einführung in die Methoden der Exegese, Wuppertal/ Gießen, 2006 [Neudorfer/Schnabel] Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg/Basel/Wien, 1985 [Neue Jerusalemer Bibel] Neues Testament, Neue Genfer Übersetzung, 1. Aufl., 2009 [NGÜ] Nolland, John, The Gospel of Matthew, Grand Rapids/Cambridge, 2005 [Nolland] Novum Testamentum Graece, begründet von Eberhard und Erwin Nestle, herausgegeben von Barbara und Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger, 28. revidierte Auflage, Stuttgart, 2012 [Nestle-Aland28] Novum Testamentum Graece, post Eberhard et Erwin Nestle communiter ediderunt Barbara et Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger, 27. Aufl., Stuttgart, 1993 [Nestle-Aland] Nun, Mendel, Der See Genesaret und seine Fischer im Neuen Testament, Kibbutz Ein Gev, 1990 [Nun] Ott, Heinrich, Die Antwort des Glaubens, Stuttgart/Berlin, 1972 [Ott] Pokorny, Petr / Heckel, Ulrich, Einleitung in das Neue Testament, UTB, 2798, Tübingen, 2007 [Pokorny-Heckel] Pricop, Cosmin Daniel, From Espoo to Paphos, Basilica Publishing House, Bucharest, 2013 [Pricop] Rad, Gerhard von, Theologie des Alten Testaments, 2 Bde, München, 1962/ 1965 [Rad I bzw. II] Revidierte Elberfelder Bibel, Die Heilige Schrift, Aus dem Grundtext übersetzt, Wuppertal, 1985 [Revidierte Elberfelder Bibel] Rieger, Carl Heinrich, Betrachtungen über das Neue Testament, Erster Teil, 2. unveränderte Ausgabe, Stuttgart, 1833 [Rieger] Rienecker, Fritz, Das Evangelium des Matthäus, Wuppertaler Studienbibel, Wuppertal, 1953 [Rienecker] Riesner, Rainer, Jesus als Lehrer, WUNT, II, 7, 1981 [Riesner] Rist, John M., On the independence of Matthew and Mark, Cambridge, 1978 [Rist] Robert, A. / Feuillet, A., Einleitung in die Heilige Schrift, II, Wien/Freiburg/ Basel, 1964 [Robert/Feuillet]

Ausgewählte Literatur

823

Robinson, John Arthur Thomas, Redating the New Testament, Philadelphia, 1976 [Robinson] Robinson, Theodore H., The Gospel of Matthew, MNTC, 8. Aufl., 1951 [Robinson MNTC] Sand, Alexander, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, 1986 [Sand] Sandmel, Samuel, Herodes, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968 [Sandmel] Sauer, Georg, Jesus Sirach, JSHRZ, III, 5, 1981 [Sauer] Schäfer, Peter, Jesus im Talmud, Tübingen, 2007 [Schäfer] Schlatter, Adolf, Das christliche Dogma, 2. Aufl., Stuttgart, 1923 [Schlatter Dogma] Schlatter, Adolf, Das Evangelium nach Matthäus, Erläuterungen zum Neuen Testament, 1. Teil, 7. Aufl., Stuttgart, 1936 [Schlatter] Schlatter, Adolf, Der Evangelist Matthäus, 3. Aufl., Stuttgart, 1948 [Schlatter Ev] Schmid, Josef, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, 1, 1948 [Schmid] Schmid, Josef, Art. Matthäus, Apostel, LThK, 7, 2. Aufl., 1962, 172 [Schmid Ap] Schmithals, Walter, Art.: Evangelien, Synoptische, TRE, 10, 1982 [Schmithals] Schnackenburg, Rudolf, Matthäusevangelium, 2 Bde, Die Neue Echter Bibel, 1985/1987 [Schnackenburg I bzw. II] Schneemelcher, Wilhelm, Neutestamentliche Apokryphen, I, Evangelien, 6. Aufl., Tübingen, 1990 [Schneemelcher I] Schnelle, Udo, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, 5. Aufl., 2005 [Schnelle] Schniewind, Julius, Das Evangelium nach Matthäus, NTD, 2, 4. Aufl., 1950 [Schniewind] Schröder, Heinz, Jesus und das Geld, 3. Aufl., Verlag der Gesellschaft für Kulturhistorische Dokumentation e.V., Karlsruhe, 1981 [Schröder] Schweizer, Eduard, Das Evangelium nach Matthäus, NTD, 2, 16. Aufl., 1986 [Schweizer NTD] Senior, Donald, Matthew, Abingdon New Testament Commentaries, Nashville, 1998 [Senior] Stendahl, Krister, The School of Matthew and Its Use of the Old Testament, 2. Aufl., Lund, o. J. [Stendahl] Strack, Hermann L. / Billerbeck, Paul, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, I, Das Evangelium nach Matthäus, 2. Aufl., München, 1956 [Strack-Billerbeck]

824

Ausgewählte Literatur

Strobel, August, Moderne Jesusforschung im Umbruch der Zeit, Fürth, 1994 [Strobel] Stuhlmacher, Peter, Biblische Theologie des Neuen Testaments, I, Göttingen, 1992; II, Göttingen, 1999 [Stuhlmacher I bzw. II] Tacitus, Cornelius, Sämtliche erhaltene Werke, Phaidon-Verlag, Essen, o. J. (dort Annalen 295ff [Tacitus Ann]; Historien 93ff [Tacitus Hist]) Tasker, R.V.G., The Gospel According to St. Matthew, TNTC, 8. Aufl., 1979 [Tasker] Texte der Kirchenväter, 5 Bände, München, 1963–1966, [Texte KV I usw.,] The Lutheran Study Bible, English Standard Version, Saint Louis, 2009 [LSB] Theißen, Gerd / Merz, Annette, Der historische Jesus, 4. Aufl., Göttingen, 2011 [Theißen-Merz] Tholuck, August, Philologisch-theologische Auslegung der Bergpredigt Christi nach Matthäus, Hamburg, 1833 [Tholuck] Trillhaas, Wolfgang, Dogmatik, Berlin, 1962 [Trillhaas] Turner, David L., Matthew, Baker Exegetical Commentary on the New Testament, 2008 [Turner] Uhlig, Siegbert, Das äthiopische Henochbuch, JSHRZ, V, 6, 1984 [Uhlig] Vogt, Hermann Josef, Origenes als Exeget, Paderborn/München/Wien/Zürich, 1999 [Vogt] Weber, Otto, Grundlagen der Dogmatik, II, Neukirchen-Moers, 1962; I, 2. Aufl., 1959 [Weber II bzw. I] Weber, Stuart K., Matthew, Holman New Testament Commentary, 2000 [Weber Holm] Weiss, Bernhard, Das Matthäus-Evangelium, KEK, 1. Abt., 1. Hälfte, 9. Aufl., 1898 [B. Weiss] Weiß, Johannes, Die drei älteren Evangelien, SNT, I, 2. Aufl., 1907, 31-525 [J. Weiß] Wettstein, Jacobus, Novum Testamentum Graece, I, Graz, 1962 (Unveränderter Abdruck der Ausgabe von 1752) [Wettstein] Wiefel, Wolfgang, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK, 1, 1998 [Wiefel] Wilckens, Ulrich, Theologie des Neuen Testaments, Band I/1 und I/4, Neukirchen-Vluyn, 2002 und 2005 [Wilckens I/1 und I/4] Zahn, Theodor, Das Evangelium des Matthäus, KNT, 1, 4. Aufl., Wuppertal, 1984 (Nachdruck der 4. Aufl. von 1922) [Zahn] Zahn, Theodor, Einleitung in das Neue Testament, 2. Band, Leipzig, 1899 [Zahn Einl] Zahn, Theodor, Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons, VI. Teil, Leipzig, 1900 [Zahn Forsch VI]

Ausgewählte Literatur

825

Zeilinger, Franz, Zwischen Himmel und Erde, Ein Kommentar zur „Bergpredigt“ Matthäus 5–7, Stuttgart, 2002 [Zeilinger]

826

Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis Mit den Werken folgender Autoren (siehe Literaturverzeichnis) hat sich der Autor durchgängig auseinandergesetzt, ohne dass sie hier einzeln nachgewiesen werden: Beare, Francis Wright Bultmann, Rudolf Carson, Donald A. Davies, W.D. (und Allison, Dale C.) Fiedler, Peter France, R.T. Luz, Ulrich Schlatter, Adolf Schniewind, Julius Zahn, Theodor

A Aharoni, Yohanan 229, 806 Albright, W.F. 297-299, 301, 340 Allen, Willoughby C. 121, 193, 246, 249-251, 253-255, 257, 269, 520 B Barclay, William 164 Barth, Karl 75, 77, 203, 236, 243, 359, 367, 410, 414, 434, 490, 510511, 599, 629, 643, 647, 652-653, 809 Bengel, Johann Albrecht 289, 498, 505, 517, 533, 535, 537 Berger, Klaus 167, 297 Blass, Friedrich 192, 286, 300, 325, 344, 352-353, 362, 501, 532, 735, 787 Blomberg, Craig L. 45, 50, 73, 260, 262-263

Bonnard, Pierre 44, 197-200, 476 Bornhäuser, Karl 235, 239, 243, 344-347, 349, 351, 356, 361-362, 369, 374, 377, 380-381, 385, 388, 391-392 Bornkamm, Günther 16, 18-20, 22, 24-26, 28, 30, 167, 236, 416, 473474, 555, 726-727 Bösen, Willibald 229, 240, 337, 407, 446, 502, 517, 542, 633-634, 638, 655, 721-722, 740-741, 771, 778 C Cullmann, Oscar 31-32, 83, 111, 168, 179-180, 190, 203, 213, 218220, 463, 467-468, 532, 536, 550551, 597, 600, 613, 618, 621-622, 630, 644-646, 653, 661, 663, 675, 700, 777

Autorenverzeichnis

D Debrunner, Albert 192, 286, 300, 325, 344, 353, 362, 501, 532, 735, 787 Deines, Roland 550 Delitzsch, Franz 85, 209-210 Dobschütz, Ernst von 28, 167 Drewermann, Eugen 18, 813 F Ferrari d’Occhieppo, Konradin 97, 104, 106-107, 112-114, 119 Feuillet, A. 16, 168 Filson, Floyd Vivian 784, 787, 790, 793 Flusser, David 26, 39, 271, 274, 276, 284, 294, 311, 428-431, 453, 508, 510, 514-516, 518, 543, 587, 615, 623-625, 641-642, 651, 653, 656, 662, 680, 705-706, 717-718, 724-725, 727-731, 741, 744, 747, 750, 753, 758-760, 762-766, 769, 773, 795 G Gaechter, Paul 140, 142, 145-146, 161-162, 164-165, 193, 195-196, 198, 202, 226-228, 232, 263, 265267, 318-320, 388, 390, 437, 453454, 456-457, 461, 542, 544, 584587, 604, 607-609, 631, 658-663, 687-690, 808, 810-811, 814-816 Gesenius, Wilhelm 50, 62, 85, 102, 120, 125, 180, 200, 210, 218, 223, 262, 301, 339, 393, 508, 560, 617, 673-674, 701, 750, 754 Gibbs, Jeffrey A. 163, 165

827

Gnilka, Joachim 65, 213-214, 216218, 241, 297-299, 355-359, 361362, 365, 369, 721 Goppelt, Leonhard 255, 658 Green, Michael 91-92, 114, 241, 263 Grundmann, Walter 51-52, 161, 163, 228, 290-291, 348, 395, 425, 485, 494-495, 508, 525, 601-602, 621, 632, 651, 659 Gundry, Robert H. 17, 45, 142, 144147, 157-163, 165, 193-194, 197, 225, 230, 248-250, 267, 344, 349, 351, 355-356, 358, 361, 365, 368, 372, 381-383, 406, 408-409, 446, 452, 454, 456-457, 462, 474-477, 479-480, 541, 543, 552, 660-661 Guthrie, Donald 16, 24 H Hagner, Donald A. 162 Hahn, Ferdinand 30 Hase, Karl von 189, 202, 645, 653 Held, Heinz Joachim 57, 60, 236 Hendriksen, William 45, 163-164, 168, 205-206, 209-212, 240-241, 474-476, 478, 607, 609, 640, 643, 698, 700, 702 Hengel, Martin 14-19, 21-22, 2425, 36, 39, 43-44, 95-96, 104, 106-107, 109, 111-112, 114-115, 178-179, 182, 409, 445, 447, 460, 462-463, 466, 470-471, 480-481, 492-493, 495, 504, 507, 514, 529, 535, 537-538, 544, 550-551, 555556, 559, 563, 572-573, 580, 583584, 596, 598, 600, 602, 604-605, 610, 612-616, 618-620, 622, 624,

828

Autorenverzeichnis

629-631, 633, 639, 653, 658, 661, 663, 665, 670, 680, 682, 684-686, 693, 704, 708-709, 713, 718, 727, 737-738, 744, 758, 761, 763, 765, 771, 775-776, 778, 781-783, 787, 789-791, 793, 799, 803, 808, 812 Hennecke, Edgar 196, 555, 557-559 Hirsch, Emanuel 74, 799 Holm-Nielsen, Svend 53, 178 Hörster, Gerhard 198, 203 J Jeremias, Joachim 53, 64, 71-72, 100, 125, 157, 185, 192-193, 201, 271, 273-276, 280, 301-304, 306310, 314-315, 338, 363, 376, 380383, 385, 387-388, 391, 400-402, 405-407, 410-412, 422-424, 426, 428-430, 433, 451, 453, 465, 468, 488, 494, 507, 514-516, 518, 542, 551, 558, 564, 587, 593, 604, 611, 621-625, 668, 673, 691, 700, 706708, 718-722, 725, 733, 736, 739745, 747-748, 753-756, 758-764, 766, 769, 772, 780 K Keener, Craig S. 18, 45, 261-262, 264 Keil, Carl Friedrich 191 Klostermann, Erich 65-66, 69, 74, 89, 168, 172, 175, 182, 225, 227, 240-243, 245-247, 249-250, 253, 255-256, 259, 305, 351, 353-354, 446-447, 449-451, 473, 475, 478, 480, 520-522, 526-527, 535-536, 542-544, 546-547, 562, 575-578, 607-608, 687, 689, 694, 738-741, 754

Kopp, Clemens 484, 488, 633, 776, 800, 815 Kümmel, Werner Georg 15, 17, 2426, 38-39, 74, 189, 202, 289-290, 424, 441, 533, 610, 614, 703, 799 L Lloyd-Jones, D. Martyn 371 Lohmeyer, Ernst 172, 176, 289, 297299, 301-302 Lohse, Eduard 53, 60, 178, 249, 315, 389-390, 530, 577, 656-658, 703-704 Luck, Ulrich 51, 65, 82, 95, 128129, 133, 137-138, 140, 142, 163, 185, 190, 206, 227, 242, 244-245, 251 M Maier, Gerhard 20, 23-25, 49-50, 95, 153-154, 178, 213, 244-245, 249, 260, 263, 292, 296, 322-323, 325-327, 334, 404, 406, 409, 413, 415, 424, 445, 449, 453, 455-456, 465, 475, 489, 522-523, 527-528, 531-533, 535, 538-539, 542, 547, 549, 562, 596, 607, 625, 630-631, 644, 654, 669, 690, 692, 696, 705, 710, 713, 716, 758, 764, 770-771, 775, 786, 793 Mauerhofer, Erich 16, 20, 37 Mayer, Reinhold 30, 52, 138, 240, 672 Mello, Alberto 99-100, 103, 106, 118, 125-126, 128, 131-132, 137139, 142, 145, 156, 161-162, 166, 168, 173, 175-176, 186, 190, 193, 198, 203, 226, 242, 283, 288, 297, 302

Autorenverzeichnis

Merkel, Helmut 95-96, 104, 106107, 109, 111-112, 114-115 Merz, Annette 26, 33, 42-43, 357, 392-393, 395, 420, 424, 453, 458, 463, 466, 468, 470-471, 479-480, 492, 510-511, 536, 539, 542, 544, 568-569, 572, 583, 595-597, 607, 610, 614, 618, 630, 634-635, 652, 663, 669-670, 694, 700, 702-703, 730-731, 753, 776, 780-781, 793 Metzger, Bruce M. 96, 111, 483 N Nolland, John 45, 157-159, 161163, 166, 168, 173-175, 193, 196, 203, 297-299, 344, 347-348, 351, 365, 369, 371-372, 458-459, 461, 601-604 Nun, Mendel 20, 53, 94, 108, 126, 146, 152, 201, 236, 249, 256, 265, 282, 299, 302, 335, 355, 373, 389, 408, 483, 516, 531, 603, 624, 627, 637, 656, 688, 762, 765-767, 804, 806 O Ott, Heinrich 315 P Pokorny, Petr 20, 22, 35-36, 39 Pricop, Cosmin Daniel 46 R Rad, Gerhard von 50, 143, 146, 191, 261, 274, 571 Rehkopf, Friedrich 192, 286, 325, 344, 353, 362, 501, 532, 735, 787 Riesner, Rainer 22, 92-93, 108, 136, 138-139, 200, 206-209, 229, 280,

829

283, 289-290, 294, 296, 299, 306, 315, 326, 346, 351, 355, 358-359, 390, 392, 412, 420-421, 423-424, 430, 446, 457-458, 460, 463, 468, 472, 483-484, 499, 502, 506, 514, 529, 537, 542, 544, 558, 563, 566, 568-569, 572, 580, 584, 587, 592, 597, 600, 602-605, 610, 612, 614615, 618, 628, 630, 632-634, 639, 647-648, 653, 655, 663, 672, 682, 687, 703, 716, 719, 722, 725, 731, 738, 742, 746, 753, 757, 767, 771, 773, 775-776, 778, 782, 785, 806, 814-815 Rist, John M. 20-21, 23-24 Robert, A. 16-17, 372 S Sand, Alexander 21, 65-66, 71, 100, 111-112, 116, 125, 128, 138, 140, 142, 161-162, 215, 226-227, 230, 242-245, 254, 256, 259, 272, 284, 288, 297, 305, 320, 334, 338, 352, 357-358, 362, 407, 409, 430-431, 443, 448-450, 457, 460, 476, 518, 529, 535, 537-538, 562, 572, 590, 594, 603, 607, 609, 618-619, 625, 652, 665, 667-668, 690, 704, 708709, 711, 733, 775-776, 779, 790791, 795, 800-801, 803, 810, 813, 815-816 Sandmel, Samuel 105 Sauer, Georg 365-366, 381, 409 Schäfer, Peter 67, 119, 461, 466, 682 Schmid, Josef 37 Schmithals, Walter 18, 20, 28 Schnackenburg, Rudolf 37, 234, 236-239, 241, 260-264

830

Autorenverzeichnis

Schneemelcher, Wilhelm 111, 196, 554-555, 557-560 Schnelle, Udo 18 Schröder, Heinz 309, 566, 590 Schweizer, Eduard 173-174, 177179, 181, 186, 248, 335, 384-385, 599, 683, 753, 791, 812 Senior, Donald 99, 101, 124-125, 128, 131-132, 137-139, 142, 162, 165, 185, 203, 205-206, 209, 225227, 234, 245, 255, 263, 267, 280, 287, 293, 297, 305, 320, 357, 361 Stendahl, Krister 28, 44 Strobel, August 384 Stuhlmacher, Peter 25, 30, 32-33, 35, 41, 53, 76, 112, 120, 138, 155, 168, 171, 178, 231, 280, 468, 691 T Tacitus, Cornelius 98, 119, 220 Tasker, R.V.G. 16, 50, 65-66, 86, 101, 112-113, 118, 120, 125-126, 129, 132, 137-138, 140, 142, 145, 171, 176, 182, 187, 190, 192, 194, 205, 209-211, 228, 232, 234, 236, 245, 250, 252, 262, 273, 284, 286, 305, 307, 309, 317, 320, 322-323, 325, 340, 344, 378-380, 405, 410411, 414, 420, 430, 432, 437, 446447, 470, 475, 477, 484, 486, 488, 492, 496, 502, 505, 507, 512, 518, 529, 537, 539, 550, 557-558, 568, 572, 582, 594-595, 599, 603, 606607, 609-610, 614, 617-618, 634635, 640, 642, 661, 663, 668, 680, 682-683, 685, 696-697, 702, 710711, 718, 732, 745, 777, 786, 788, 795, 805-806

Theißen, Gerd 26, 33, 42-43, 392393, 420, 424, 453, 458, 463, 466, 468, 470-471, 479-480, 492, 510511, 536, 539, 542, 544, 568-569, 572, 583, 595-597, 607, 610, 614615, 618, 630, 634-635, 652, 663, 669-670, 694, 700, 702-703, 730731, 753, 776, 780-781, 793 Tholuck, August 380, 382-383 Trillhaas, Wolfgang 75, 653, 702 Turner, David L. 45, 297-300, 302 U Uhlig, Siegbert 178 W Weiß, Johannes 74, 162, 164-166, 168, 292-293, 305, 349, 458, 466, 649, 652 Weiss, Bernhard 350-354, 387 Wettstein, Jacobus 38, 240-241, 285, 388 Wiefel, Wolfgang 20, 86-88, 91, 95, 99, 112-113, 115, 605, 607-608 Wilckens, Ulrich 24, 180, 192, 251, 277, 281, 287, 294, 305, 320-321, 347, 356, 401, 446, 450, 606, 615, 624, 629, 634-635, 644, 646, 653, 668-669, 675, 725, 727, 809 Z Zeilinger, Franz 243, 245, 248-249, 251

Stichwortverzeichnis

831

Stichwortverzeichnis A Abendmahl 363, 560, 793, 801 Abraham 27, 29, 34, 40, 53, 56-57, 65-66, 68, 95, 116, 132, 157-158, 451, 454, 472, 503, 622, 636, 673 Abstammung 52, 68-69 Achtergewicht 363, 631 Achtzehngebet 139, 355, 530 Ackerfeld 715, 718, 722-723, 725, 731-732, 736, 742, 768 Adam 54, 68, 185, 190-192, 201, 203 Adoption 178 Ägypten 13, 48, 58, 79, 114-121, 130-134, 139, 141, 163, 174, 210, 710, 739, 762 Ährenraufen 320, 654-656, 659, 664, 666 Albertus Magnus 37 Almosen 238, 343-344, 346, 348349, 568 Altar 304-305 Amen 309, 327, 346, 351, 450, 572 Anbetung 34, 90, 92, 97-98, 108110, 199-200, 357, 570 Andreas 213, 215-218, 221-223, 242, 551-554, 633 Anstoß 68-69, 128, 494, 612-613, 756, 779 Äon 256, 286, 767 Apostel 16-17, 21, 24, 29, 141, 220221, 223-224, 242, 269, 277, 301, 306, 318, 336, 338, 340, 354, 366, 370, 377, 379, 385, 392, 394, 400, 418, 425, 455, 503, 548-549, 552558, 560-561, 566-579, 581-583,

586, 588, 596, 600, 602, 605, 608, 633, 660, 672, 686, 724, 799 Apostelkonzil 35 Apostelliste 556 Aramäisch 23, 86, 218, 223, 550, 789 Archelaus 94, 130, 133-134, 150 Armut 129, 215, 250, 253, 567, 569 Arzt 33, 487, 507, 511, 628 Asche 634 Atheismus 76, 88 Auferstehung 219, 224, 284, 345, 443, 549, 551, 582, 589, 700, 702, 704, 711, 714, 782, 784, 807 Auge 263, 312-316, 327-328, 379381, 399-402, 418, 433, 482, 577, 587, 622, 722, 771 Augenzeuge 21-22, 224 Augsburger Konfession 77 Augustin 37, 258, 455 Auslegungsgeschichte 14, 114, 183, 236, 283, 695, 709, 793, 802 Aussatz 439, 441, 443, 447, 534 Aussätzige 439-440, 442, 565, 611 Aussendungsrede 561, 594, 607608, 715, 722, 724 Autorität 25, 32-33, 41, 238, 241, 311-313, 318, 323, 328, 332, 341, 356, 384, 389, 435, 449, 451, 466, 497, 549, 571, 608, 635, 661, 711 B Babylonien 63, 79, 95, 126, 353 Bar Kochba 52, 180 Barmherzigkeit 68, 78, 81, 129, 258-259, 305, 332, 346, 348, 356,

832

Stichwortverzeichnis

400, 405, 508-509, 525, 533, 538, 603, 611, 659-660, 672-673, 679 Barnabasbrief 36, 52, 321, 413 Bartholomäus 554-555 Baum 159-160, 418-420, 690-691, 742-745 Beelzebul 585, 680-681, 683-684, 686, 725, 777 Bekehrung 15, 155, 503, 505, 579, 632, 692, 729 Bekenntnis 30, 34, 92, 152, 205, 326, 345, 354, 530, 551, 592, 647, 803, 812-813 Berg 73, 197, 240-241, 260, 438, 488, 804-805 Bergpredigt 27, 32, 37, 102, 159, 204-205, 233-239, 242-247, 249, 256, 263, 268-269, 271, 273, 278, 293, 296-297, 300-301, 306, 310, 327, 331-332, 334-335, 341-342, 347, 362, 366, 372-373, 375, 377, 398, 403, 406-408, 410, 422, 424, 431-436, 438, 445, 448, 451, 562, 576, 578-579, 589, 596, 688, 713, 715, 724, 777 Besessene 228, 461, 484, 565, 586, 679 Besessenheit 534-535, 612, 679 Bethesda 136 Bethlehem 92-93, 101, 103-108, 110, 112, 116-118, 123-124, 126127, 133-134, 141, 710 Betsaida 216, 218, 220, 222-223, 458, 550-551, 553, 630-631, 633, 635-636, 642, 656, 794 Blinde 530, 611 Blut 32, 301, 303 Blutfluss 524, 534, 612

Boanerges 222, 553 Boot 213, 215-216, 466, 473-474, 478, 492, 716, 793-794, 803, 805, 811 Böse 105, 162, 252, 266, 314, 329, 335, 402, 485, 487, 732-733, 753, 768-769 Bote 79, 84, 171, 288, 444 Brandopfer 304, 658 Braut 71, 514 Bräutigam 373, 512, 514-515 Brot 149, 188-192, 201, 259, 288, 361-363, 367, 406-409, 422, 560, 746, 796-798, 801 Brüder 57, 62-63, 213, 215-217, 221-222, 300-302, 305-306, 332, 334, 337-338, 382, 400-402, 471, 549, 551-553, 578-580, 597, 710713, 777-779, 785 Buch 16, 21, 24, 42, 47-48, 51, 54, 65, 101, 120, 189, 284, 346, 441, 451, 463, 642, 703, 791 Bund 125, 158-159, 175, 200, 519, 548, 617, 620, 647, 699, 745, 772 Buße 145, 152-153, 159, 373, 502, 559, 619-620, 632, 634, 700, 702703 C Cäsarea 16, 205, 551, 615, 784 Chorazin 407, 630-631, 633, 635636, 642, 655-656, 720, 794 Christenverfolgung 219, 265, 553, 600 Christologie 30-31, 42, 120, 178180, 182, 185, 188, 285, 445, 519, 600, 605, 635, 645, 768, 801, 806, 816

Stichwortverzeichnis

Christusnachfolge 270, 369 Clemens Alexandrinus 18, 37, 112, 114, 221, 223, 262, 460, 557, 618 Clemensbrief 36, 220 D Dämon 536-537, 625-626 David 26-27, 29, 52-53, 57-60, 6568, 73-74, 87, 92, 249, 260, 271, 273, 276, 428, 453, 515, 543, 611, 622-623, 657-658, 673, 729, 744 Dekalog 200, 296, 299, 327, 332, 471, 656 Dekapolis 151, 206, 229, 483-484, 489, 540 Demut 249, 254, 651, 673, 684, 780 Deportation 62-63, 65-67, 548 Didache 36, 52, 322, 332, 356, 370, 413, 417, 419, 544, 568, 581, 605, 696 E Ehe 64, 78, 87, 89, 312-313, 318321, 777-778, 784-788, 790 Ehebruch 67, 72, 81, 312-313, 317320, 713, 786-787 Ehevertrag 64, 71, 88-89 Eid 322-323, 326-327, 787 Ekklesia 19, 28 Elia 143, 149-151, 164, 168, 188, 197, 225, 227, 229, 440, 443, 459, 470, 472, 523, 528, 565, 584, 621623, 634, 784, 791, 793, 801 Elisa 152, 214-215, 225, 275, 351, 440, 443, 459, 470, 523, 528, 584, 793, 796, 799, 801 Eltern 51, 126, 299, 580, 598, 777 Endgericht 127, 156-157, 163-164, 259, 347, 349-350, 352, 378, 412,

833

424, 525, 587, 592, 635-636, 638, 687-688, 693, 754-756, 759, 769770 Endzeit 51-52, 86, 263, 357, 373, 425, 485, 507, 580, 596, 605, 616617, 683, 745, 797 Endzeitrede 29, 358, 715 Engel 13, 79, 81-83, 86-88, 107, 111, 116-117, 132, 161, 185, 200201, 310, 360, 385, 449, 616, 673, 755-756, 767 Engel des Herrn 79, 81, 86-87, 111, 116, 131 Entstehungszeit 17, 20 Erbarmen 258, 367, 440, 530, 540541, 544, 676, 794, 800 Erfüllung 25, 27-28, 57, 83, 102, 114, 126, 133, 137, 171, 209, 211, 214, 243, 255-257, 259-260, 282, 284, 292-293, 300, 326, 336-337, 342, 345, 360, 362, 461, 463, 468, 471, 525, 580, 583, 594, 616-617, 675, 713, 728, 749-750, 772 Erfüllungszitat 120, 461, 671, 749 Erlöser 30, 35, 52, 54, 67, 69, 89, 119, 121, 165, 270, 450, 490, 494495, 532, 534, 660, 677, 731, 774, 801 Erlösung 26, 32, 34, 126, 148, 248, 268, 279, 293, 342, 435, 464, 489, 561, 652, 659, 677, 713-714, 730, 744, 768 Ernte 163, 541-543, 739, 741, 754 Erwählung 68, 180, 453, 656, 750 Eschatologie 29, 307, 422, 513, 575, 685, 758, 806 Essener 48, 100-101, 105, 154, 292, 323, 333, 506, 519, 611, 768 Ester 96, 264

834

Stichwortverzeichnis

Eusebius 14-16, 18, 23-24, 36-37, 62, 67, 114, 127, 193, 220-224, 314, 458, 460, 504, 525, 551-558, 752, 778 Evangelientitel 16 Evangelist 17, 83, 113, 118, 121, 148, 231, 238, 432, 501, 503, 511, 554, 654, 735, 749, 751, 774, 798 Exegese 24, 37-38, 40-41, 44-46, 74, 77, 126, 128, 161, 174, 179, 185, 190, 195, 282, 285, 299, 301, 341, 349, 379, 416, 496, 563, 570, 583-584, 592, 595, 612, 638, 643, 647, 653, 662, 772, 786 Exodus 58, 185, 542, 793, 796, 801 F Falschpropheten 415-416, 418-419 Familie 58, 66, 72, 92-94, 108, 117118, 129-130, 133-134, 223, 356, 361, 460, 471, 530, 580, 586, 595597, 615, 709-711, 713-714, 739, 779-781, 783, 786, 797 Fasten 187, 201, 238, 343-344, 346, 351, 373-375, 513-515, 518-519, 521 Feind 332-334, 383, 685, 739-740, 754 Feldrede 234-235, 245-246, 249, 406, 409, 444 Feuer 159-160, 162-165, 420, 755 Feuerofen 755-756, 767 Fieber 458-459, 534, 612 Finsternis 210, 227, 380-382, 452, 454, 522, 587, 629 Fisch 407-408, 422, 701, 765, 796 Fischer 213, 215-216, 407, 475, 767-769, 809

Forschung 98, 105, 138, 201, 488, 672, 799-800 Forschungsgeschichte 17, 138 Friede 93, 263, 570-571 Frieden 117, 262-264, 306, 309310, 429, 571, 594-595, 600, 649, 652, 727, 744 Frondienst 331 Frucht 127, 156, 159-160, 288, 419420, 637, 691, 721-722, 734-737, 740, 753 Früchte 15, 157, 359, 418-421, 694, 794 Führung 116, 130, 140, 154, 571, 737 Furcht 130, 134, 477, 489, 575, 586, 588, 785, 807, 809 Fürsprecher 186 G Galiläa 93, 130, 133-135, 140, 168, 204-206, 209-212, 225, 227, 229231, 271, 308, 407, 527, 534, 539, 608, 633-634, 636-637, 677, 679680, 682, 732, 777, 784, 814 Gebet 51, 186-187, 227, 238, 343344, 346, 350-351, 353-356, 358359, 361, 367, 369, 371-373, 395, 398, 402, 404-406, 408-409, 478, 513, 536, 540-544, 547, 566, 639, 737, 798, 804 Gebetsmantel 815-816 Gebot 289-291, 299, 301, 304, 310, 312, 321-322, 324, 332, 336, 410, 443, 529, 533, 628, 657, 663, 667, 676, 711-712, 714, 786 Geburt 30, 47, 60, 64, 68-71, 73, 7576, 83-84, 87-90, 92, 98-99, 108,

Stichwortverzeichnis

114, 120, 131, 173, 264, 710, 781, 791 Geburtsgeschichte 31, 113 Gefängnis 297, 308-310, 609, 789 Geheimnis 75, 111, 113, 127, 402, 416, 559, 604, 629, 641, 644, 646, 661 Gehorsam 29, 86, 115, 117-118, 129, 168, 171-173, 181, 187, 190, 200-201, 203, 260, 336, 366, 393, 452, 643, 780, 788 Geist 34, 72-73, 80-81, 87, 126, 150, 160, 162, 165, 169, 171-176, 182, 185-187, 247-250, 334, 366, 408, 450, 480, 487, 495, 497, 516, 519, 537, 570, 576, 579, 597, 622, 629, 635, 641, 644, 647, 671, 674, 677, 679, 682, 684-685, 688-690, 692-693, 695, 705-708, 712, 749 Gelähmte 228, 497 Gemeindeleben 323, 341 Gemeinderegel 155, 333 Genealogie 56-58, 67-68, 80 Generation 64, 224, 298, 334, 539, 597, 599, 607, 623-625, 628, 737 Gerasa 229, 483, 488 Gerechter 78, 254, 602-603 Gerechtigkeit 82, 87, 126, 170-172, 185, 202, 255-258, 260, 264-265, 267, 282, 291-293, 299, 304, 323, 326, 346, 393, 572, 628, 636 Gergesa 484, 488-489 Gericht 77, 155, 157-159, 162-164, 259, 290, 297, 299-302, 307, 309, 315, 330, 399-400, 420, 422-423, 426-427, 429, 452, 475-476, 486, 525, 542, 572, 592-593, 613, 635636, 644, 684, 695, 702-703, 721, 727, 741, 755, 760, 767-770

835

Geschwister 126, 569 Gesetz 58, 151, 233, 238-239, 266, 280-283, 285-286, 289, 293, 297, 311, 317, 323, 328, 338-339, 341, 392, 409-410, 487, 620-621, 626, 636, 650, 655, 658-660, 713, 766767 Gesetzestreue 290, 442, 662 Gesetzlosigkeit 427, 755-756, 758 Gesicht 329, 373-374 Gespenst 807 Gewalt 34, 313, 618-619, 758, 785 Gewalttäter 618, 620, 623 Glaube 20, 76, 219, 366, 427, 440, 446, 449-450, 455-456, 477, 493, 523, 525, 528, 531-532, 712, 759, 782, 812 Glaubensbekenntnis 77, 196, 383, 549, 596 Glaubensvorbild 58, 118, 121 Gleichnis 237, 306-307, 365, 389, 410, 422, 430, 516-517, 623, 625, 668, 715, 718-719, 722-725, 732, 736-742, 744-749, 751-753, 758762, 764-770 Gleichnisrede 772 Glück 127, 247, 431 Gnade 62, 68-69, 75, 129, 134, 169, 272, 293, 337, 364, 480, 530, 556, 599, 602, 604-605, 725 Gold 108-109, 111, 346, 566, 762 Götter 34, 98, 179, 386 Gottesdienst 110, 260, 299, 346, 351, 476, 511, 522, 588, 655, 660, 665, 776 Gottesherrschaft 143, 145-147, 212, 470, 485-486, 619, 633, 650, 744 Gottesknecht 31-32, 34, 172, 180181, 443, 451, 654, 676-677, 689

836

Stichwortverzeichnis

Gottesreich 129, 198, 239, 261, 304, 379, 393, 399, 451, 456, 569, 619, 635, 651, 747, 754, 757, 797 Gottessohnschaft 31, 34, 37, 75, 233, 341, 479, 485, 650, 778, 812 Gottlosigkeit 334 Grab 125-126, 220, 702, 739 Griechenland 35, 222, 551-552 Griechisch 86, 218, 223, 303, 488, 552 Grundmotiv 117, 332, 540, 544 Grundnahrungsmittel 407, 796 Grüßen 338, 570 H Habgier 566 Halacha 448, 666, 668-669 Hand 106, 163, 187, 235, 273, 315316, 327, 329, 338, 348-349, 363, 417, 432, 437, 440-441, 458, 505, 523, 527, 580, 617, 638, 643, 664665, 668, 670, 712, 759, 796, 810 Happizzez 136 Hass 72, 310, 331, 333, 581, 594595 Hauptmann 444-446, 448-451, 453, 455, 477, 525 Haus 72, 81, 88, 107-108, 207, 213, 276, 286, 428-431, 445, 447-448, 450, 457-460, 468, 497, 505-506, 510, 526, 531, 535, 564, 569-572, 583, 585, 603, 636, 657, 682, 685, 706-707, 710, 716, 724, 752, 780 Hausherr 585, 740-741, 752, 754, 758, 771, 797-798, 800 Hebräisch 86, 158, 176, 179, 218, 223, 226 Hebraismus 452

Heiden 34-35, 52, 82, 92, 103, 109, 111, 158, 229, 331, 337-338, 352353, 355, 392-393, 447, 451, 453454, 456, 459, 486, 499, 563, 572, 577-578, 581, 646, 703, 744-745 Heil 53, 66, 69, 149, 211, 252, 258, 269-270, 337, 403, 414, 454, 476, 525, 573, 621, 644, 647, 650, 670, 676-677, 730, 744, 797 Heilandsruf 652 Heilige Schrift 73, 91, 130, 143, 282-284, 287, 293, 410, 667, 690 Heiligkeitsgesetz 296 Heiligung 357-358 Heilsgeschichte 29, 77, 81, 87, 367, 451, 551, 690, 730 Heilung 33, 226-228, 244, 437-439, 441-443, 445, 448, 450, 455-459, 461, 481-482, 488, 491, 496-497, 499-500, 520-521, 525-529, 531536, 612, 664, 668-670, 672, 679, 781 Herodes 91-94, 99-101, 103-105, 107, 110-112, 114, 116-117, 119, 121-124, 127-134, 151, 205-206, 208, 218-219, 223, 229, 254, 264, 415, 446, 540, 551, 553, 578, 598, 609, 615, 682, 710, 782-791, 793 Herodias 784-791 Herr 34, 87, 127, 187, 287, 306, 349, 366, 378, 396, 423-424, 429, 439, 446-449, 452, 469, 474-479, 529, 532, 537, 540, 543, 575, 584585, 591, 617, 641, 643, 649, 661, 667, 681, 706, 740, 756, 759, 807809 Herrlichkeit 29, 31, 69, 182, 196198, 278, 369-370, 594, 611, 656, 744, 759-760, 768

Stichwortverzeichnis

Herz 260-261, 379, 391-392, 530, 568, 577, 642, 674, 691-692, 701, 725, 728 Hesekiel 20, 96, 158, 197, 470, 564, 634, 699, 727 Heuchler 346-348, 373-374, 401 Hieronymus 64, 121, 240-241, 245, 306, 362, 478, 587, 616 Himmel 73, 96, 98, 117, 146, 172173, 176-177, 255, 259, 261, 268, 276-278, 285-286, 288, 297, 324, 334-335, 345, 353, 355-356, 359361, 363, 365-366, 370, 378, 385386, 396, 404, 407-409, 467, 494, 505, 507, 509, 543, 545, 577, 589592, 602, 617, 636, 645, 684, 704, 706, 712-714, 743-744, 780, 797798 Hirte 33, 544 Historizität 89, 128, 166, 182, 202, 279, 281, 293-294, 499, 510, 538, 613, 623, 638-639, 653, 662, 670, 694, 704, 731, 758-759, 769, 773 Hochzeit 512, 515, 630 Hohepriester 26, 30, 51, 100, 659 Hölle 202, 303, 314, 316, 589 Hören 27, 79, 132, 242, 299, 424, 601, 703, 733, 735-736 Hunger 188-190, 256, 394, 655, 657, 660 I Ignatius 36, 52, 107, 114, 168, 176, 183, 228, 417, 508, 605, 694, 696, 702 Immanuel 84, 86, 453 Irenäus 13-14, 16, 18, 23-24, 35-36, 89, 99, 110, 114, 127, 149, 153, 155, 161-162, 176, 180, 183, 201,

837

203, 221, 224, 255, 262, 283, 286287, 290, 293, 299, 307, 326, 331332, 336, 341, 407, 417, 504, 549, 552-553, 556-557, 559-560, 565, 587, 590, 616, 647, 653, 694, 702, 752 Irrlehre 334, 416, 549, 559, 759 Israel 546 J Jahwe 51, 196, 223, 357, 423, 507, 571 Jakob 17, 38, 57, 63-64, 116, 451, 454, 472 Jakobus 19, 22, 49, 51, 107, 111, 121, 156, 193, 200, 213, 215-219, 222-223, 242, 255, 257, 259, 263, 296, 301, 322, 326, 337, 340, 383, 400, 406, 409-410, 424, 431, 493, 525, 549, 551-554, 557-558, 578579, 582, 584, 692-693, 711-713, 720, 733, 777-778, 811 Jeremia 20, 95, 116, 122, 124-126, 147, 208, 315, 564, 699, 727 Jerusalem 27, 34, 82, 93, 96-97, 99100, 104-105, 110, 112-113, 118, 123, 125-126, 133-135, 150, 192, 202, 211, 219, 229, 274, 302, 306, 315, 324, 353, 577, 582, 610, 615, 634, 647, 653, 669, 680, 762, 778, 785 Jesaja 20, 61, 84-87, 89, 122, 147149, 180, 208-210, 227, 248, 255, 270, 329, 462-463, 468, 634, 672673, 677, 699, 723, 727, 737, 749 Jeschiwah 225 Jesus 630, 639, 696, 782 Jesuslogien 467, 694

838

Stichwortverzeichnis

Jesusworte 29, 234-235, 246, 277, 320, 325, 372, 453, 578, 584, 602, 604, 611, 623, 635, 653, 663, 755 Joch 198, 649-652 Johannes der Täufer 27, 29, 142154, 156-162, 164-165, 167-171, 173, 175, 177, 181-182, 205, 212, 351, 373, 513-514, 551, 553, 584, 605, 609, 611-627, 629-630, 676, 755, 783-791, 802 Johannes, Jünger und Evangelist 18, 22, 48, 64, 117, 135, 148, 178, 192, 197, 206, 213, 215-217, 222-225, 242, 301, 340, 424, 493, 549, 551-554, 560-561, 578, 610, 645-646, 653, 670, 782 Johannesoffenbarung 29, 224, 277, 553, 713 Jona 102, 118, 131, 146, 188, 258, 336, 351, 360, 373-374, 472, 474, 509, 540, 551, 602, 634-635, 638, 641, 688, 699-704 Jordan 145, 150-153, 161, 164, 168, 172, 209-210, 212-214, 216, 221223, 240, 553-554 Josef 31, 56, 60, 63-64, 71-72, 7781, 86-90, 93, 108, 111, 115-118, 121, 130-136, 141, 205, 313, 558, 710, 777-779 Josephus 48, 60, 62, 67, 93-94, 98, 105, 112, 123-124, 127, 133-134, 136, 144-145, 151, 153-154, 193, 196, 207, 209, 229-230, 234, 264, 275, 282, 284, 292, 318, 323, 386, 390, 415, 446, 533, 588, 609, 615, 633, 684, 690, 778, 784-788, 790, 814 Josua 51, 127, 584, 673

Judas 101, 151, 230, 240, 415, 542, 557-561, 672, 711, 777 Judenchrist 35, 463, 555, 634 Judentum 19, 26, 28, 39-40, 48, 51, 54, 57, 60, 98, 144, 148, 151, 155, 159, 174, 179-181, 187, 223, 257, 284, 303, 310, 357, 364, 373-374, 384, 390, 417, 469, 513, 518-519, 522, 577, 613, 621, 690, 703, 786 Jungfrau 63-64, 84-85 Jungfrauengeburt 64, 74-76, 83, 85, 89, 178 K Kananäer 558-559 Kanon Muratori 14, 18, 552, 557 Kapernaum 204, 206-209, 211-213, 216, 218, 222-223, 232, 241, 438, 444-446, 455, 457-458, 461, 463, 468, 492, 497, 501, 506, 521-523, 525, 531, 551-552, 570, 631, 633, 636-638, 642, 656, 710, 716-717, 720, 724, 752, 775, 779, 794, 808 Kathedra Mosis 25-26 Kaufmann 762 Kelch 32 Kinder 40, 87, 90, 123, 127, 158, 259, 264, 334, 340, 372, 386, 404405, 408-409, 452, 458, 579-580, 624, 630, 753, 756, 788, 799 Kindermord 122, 124, 127-129, 710 Kindheitsgeschichte 115, 128 Kirchenrecht 341 Klagelied 624 Kleidung 149, 385, 388, 392-394, 524, 572, 615, 816 Kleinasien 24, 60, 220, 222, 224, 504, 551-553

Stichwortverzeichnis

Kleiner 455, 605 Kleinglaube 810 Kluge 641 Kommunikation 41, 189 König 33, 51, 56, 59, 93, 96-97, 99100, 106, 109-110, 112, 121-122, 133, 154, 174, 178, 223, 365, 478479, 578, 650, 783, 788, 803-804 Königin von Saba 390, 684, 702704 Kopf 80, 107, 136, 220, 232, 270, 518, 553, 590, 594, 625, 709, 713, 725, 776, 788-789, 792 Koran 14, 88-89, 179, 183, 278, 356, 387, 592, 646, 752, 755, 757 Kranke 226, 448, 458, 507, 528, 657, 669, 679, 687 Krankheit 226-228, 449, 459, 462, 524, 526, 547, 669 Kreuz 31-32, 34, 109, 118, 129, 137, 187, 198, 219-220, 224, 233, 236, 264, 268, 293, 311, 342, 394, 436, 446, 549, 553, 598, 636, 640, 713714, 737, 768, 776 Kreuzesnachfolge 575, 594, 596, 600 L Lahme 611 Lähmung 447, 534 Lästerung des Geistes 688, 690 Lehre 26-28, 32-33, 145, 168, 234, 236-238, 243-244, 263, 269, 271, 283, 306, 313, 315, 321, 325, 336, 351, 370, 379, 407-408, 419, 429, 433-435, 437, 448, 518, 544, 581, 587, 593, 686, 694, 702, 725, 771772, 789

839

Lehrer 21, 27-28, 31-32, 34, 149, 184, 214, 241, 246, 264, 279, 282, 284, 290-291, 296, 307, 379, 425, 434, 466, 506, 564, 584, 689, 691, 694, 698, 808 Leib 31, 119, 304, 314, 316, 330, 354, 363, 380-381, 385, 395, 462, 487, 566-567, 588-589, 706 Leid 119, 121, 126, 187, 251-252, 260, 304, 329 Leidensweissagung 515, 519, 593, 702 Leser 55, 70, 91, 178, 231, 303, 334, 432, 435, 479, 489, 493, 497, 513, 538, 623, 786, 813 Levi 15, 458, 471, 500, 502-503, 553, 556-557, 597 Leviratsehe 63, 67-68, 786 Licht 42, 68, 84, 102, 122, 171, 179, 210-211, 227, 256, 271, 273-274, 276-279, 283, 336, 359, 377, 379382, 430, 462, 533, 587, 601, 675, 721, 730, 737, 739, 757, 770 Liebe 110, 120, 156, 181-182, 193, 196, 200, 227, 313, 321, 329, 332334, 336-337, 340, 346, 350, 355, 381, 383, 386, 394, 396, 410, 441, 471, 508, 530, 581, 589, 596-598, 602, 627, 634, 636, 642, 650, 663, 667, 670, 674, 690, 694, 708-709, 711, 780-781, 799, 804 Lohn 268, 297, 336-337, 345-347, 374, 543, 602-605, 636 Luther 37, 252, 299, 326, 357, 364, 367-368, 370-371, 386, 424, 618, 626, 746 LXX 30, 32, 47, 54, 56, 58, 81, 8486, 95, 102-103, 107, 113, 120,

840

Stichwortverzeichnis

125, 132, 138, 148, 176-177, 180, 185, 191, 194-195, 200, 209-211, 214, 247-248, 251, 253-255, 260, 262-263, 267, 282, 299, 303, 311312, 317, 322, 340, 349, 370-371, 386, 388, 405, 409, 427-428, 447, 451, 462, 477, 495, 508, 541, 576, 610, 616, 627, 629, 637, 648, 650651, 673-677, 701, 728, 743, 749750, 757, 806 M Macht 29, 34, 73, 105, 111, 122, 129, 192-193, 197-199, 253-254, 286, 300, 324, 355-356, 359, 367368, 378, 384, 395, 433, 441, 449, 463, 473, 477, 485, 487, 489, 508, 525, 527, 536-537, 564, 594, 611, 644, 649, 685-686, 694, 744, 756, 759-761, 768, 777, 800-801, 810812 Mädchen 85, 526-527, 625, 787, 789 Magier 34, 90-91, 94-100, 103-114, 116, 123, 205, 489, 710 Makkabäer 209, 264, 451, 588 Mammon 377, 382-384 Maria 13, 31, 63-65, 67-69, 71-72, 75, 77-81, 87-90, 107-108, 113, 119, 135-136, 139, 481, 707, 710, 777-778, 782 Markus 802 Markuspriorität 20, 39 Märtyrer 37, 127, 394, 581, 583, 593, 598 Matthäus 432, 500 Matthäuspriorität 17, 38 Menschensohn 29, 31, 117, 467468, 496, 582-583, 626, 661-662,

689-690, 700-701, 753, 755-756, 758, 764 Messianität 28, 33-34, 70, 198, 233, 341, 427, 442, 485, 519, 552, 593, 610, 613, 616, 629-630, 633, 636, 681, 698, 702, 778 Midrasch 132 Mission 26, 34-35, 104, 140, 359, 453, 460, 505, 539, 543, 563, 566572, 575, 577, 582-583, 608, 798 Missionar 37, 551, 556 Missionsbefehl 27, 34, 243, 279, 674 Mittelalter 37, 326, 761 Mönchtum 250 Mondsucht 612 Mose 26, 29, 32-33, 117, 119-120, 128-129, 132, 140, 188, 190, 195, 197, 227, 233-234, 241, 298, 303, 313, 317-318, 412, 433-434, 438, 440-443, 451, 478, 541, 565, 579, 584, 611, 616-617, 622, 650, 713, 727, 780-781, 801 Mutter 58, 64, 71, 76, 84, 88, 116, 118, 126, 131, 217, 224, 386, 469471, 588, 591, 595, 597, 627, 710714, 777-779, 788 N Nasiräer 140, 149, 471, 626, 710 Naturwissenschaft 76 Nazarener 172, 218, 777, 779-781 Nazareth 129-130, 135-141, 143144, 168, 206, 208, 211, 274, 279, 468, 617, 710, 714, 720, 774-777, 779-781 Nero 220, 551 Ninive 188, 634-635, 702

Stichwortverzeichnis

O Offenbarung 23, 51, 390, 478, 517, 629, 643, 691, 730, 772, 804 Ohr 587-588, 622 Ohrfeige 329 Opfer 40, 125, 180, 182, 272, 305306, 375, 508-511, 585, 659-660, 764 Origenes 15-16, 24, 37, 215, 217, 220, 250, 314, 336, 361-362, 483484, 504, 557-558, 560, 598, 680, 685, 694, 778 Ostjordanland 133, 210 P Palästina 24, 37, 60, 136, 739-740 Papias 14-16, 18, 23-24, 36, 220222, 224, 504, 552, 554, 556-557, 560 Paradies 155, 185, 201, 413 Passion 14, 97, 99, 110-111, 121, 127, 181-182, 219, 233, 269, 453, 462, 527, 538, 551, 643, 670, 702, 770, 785 Paulus 15, 18-19, 22, 35, 54, 65, 73, 143, 156, 158, 160, 185, 192, 197, 199, 201, 203, 217, 219, 257, 266, 268, 277, 284, 290, 301, 306, 326, 331, 336, 338, 340, 394, 409-410, 424-425, 454, 460, 493, 504, 526, 549-551, 563, 565-566, 568, 578579, 584, 608, 626, 644, 683, 693, 703, 712-713, 747, 750, 755, 799 Pergament 22 Perle 403, 715, 760-763, 765 Petrus 15, 18-19, 29, 35-36, 143, 160, 207, 213, 217-223, 242, 267, 348, 429, 447, 456-460, 480, 502,

841

504, 531, 550-554, 558, 570, 584, 592, 633, 692, 716, 724, 726, 752, 765, 778, 802-803, 807-811 Pharisäer 26, 40, 101, 143, 153159, 163, 200, 264, 291-293, 348, 351, 373, 465, 506-508, 510-511, 514, 517-518, 534-537, 540, 585, 611, 626, 642, 655-656, 658-662, 664-666, 668-669, 672, 680-683, 687, 690-695, 702, 708, 717, 768, 776 Philippus 133-134, 206, 208, 218, 222-223, 540, 551, 553-555, 633, 784-787, 790, 795 Philo 48 Philosophie 74, 339, 376, 668 Pietismus 46, 237, 359 Plage 394-396, 721 Polemik 19, 25-27, 68-69, 140, 354, 511, 691 Polykarp 36, 52, 224, 364, 372 Prädestination 412, 572, 729, 735, 737 Präexistenz 178, 594, 644 Predigt 145-147, 150, 171, 229, 243, 265, 316, 359, 401, 403, 425, 540, 564, 566, 618-619, 702-703, 709, 737, 776 Priester 51, 94, 99, 154, 290, 318, 441-443, 469, 597, 657-659, 703, 712, 786 Prophet 27, 51, 84, 125, 146, 148149, 171, 208, 418-420, 425, 446, 462, 511, 602-603, 611, 613, 615617, 621, 634, 682, 701, 749-751, 780 Prophetie 20, 26, 82, 84, 86, 92, 99, 110, 118, 126, 134, 137, 140, 145, 148, 197, 209-210, 214, 285, 288,

842

Stichwortverzeichnis

Q Qaddisch 355-356, 358-359 Quaste 524-525, 528 Quelle Q 17, 39, 184, 434, 457 Qumran 48-50, 52-53, 98, 101, 145, 148, 155-156, 162, 178, 239, 249250, 257, 264, 274, 282, 284, 304, 313, 322, 333, 348, 351, 368, 372, 506, 530, 537, 672, 682, 689, 691, 712

426, 435, 443, 451, 454, 472, 541, 544, 563, 565, 569, 604, 617-621, 623, 632, 684-685, 695, 739, 742, 745, 747, 753-754, 757-758, 761765, 767, 769, 772, 797, 801 Reichtum 21, 197, 250, 351, 375377, 379-380, 390, 396, 735 Reinigung 82, 162, 314, 513 Reinigungswasser 144 Reise 107, 109, 118 Retter 52, 82, 86, 129, 256, 511, 611, 812-813 Rettung 83, 89, 126, 128, 182, 264, 368, 454, 476, 509, 767, 809-811 Richter 76, 146, 162, 256, 297, 306, 308, 310, 402, 419, 422, 426, 592593, 611, 683-684 Rom 13, 18-19, 93, 196, 220, 229, 274, 331, 382, 504, 551, 559, 762, 790 Römer 82, 93, 96, 220, 264, 311, 331 Ruhe 478, 545, 647, 649, 651, 657, 706

R Rabbi 25, 79, 119, 167, 242, 267, 301, 317, 338, 340, 350, 364, 389, 440, 465-466, 469, 495, 523, 536, 543, 570, 602, 656-657, 662, 772, 777, 797 Rabbinat 341, 739 Rahel 69, 125-126 Reflexionszitat 122, 167, 671 Regierung 60-61, 143, 331 Reich Gottes 146, 198, 214, 227, 247, 250, 269, 288, 290-292, 345, 374, 393-394, 411, 414, 422-423,

S Sabbat 25, 461, 654-659, 661-669, 701 Sack 566, 634 Sadduzäer 143, 153-159, 163, 292, 717 Sakrament 627 Salome 784, 786-790 Salomo 59-60, 389-390, 472, 530, 703-704, 724 Salz 271-273, 276, 278-279 Samaritaner 210, 563 Sandale 161

415, 418, 451-452, 512, 583-584, 595, 670, 673, 728, 784 Prophezeiung 81, 112, 336, 577578, 583, 727 Proselytentaufe 151 Protestantismus 26, 776, 811 Prozess 17, 26, 30-31, 223, 266, 300, 306, 323, 365, 468, 588, 662 Psalmen 53, 82, 178, 198, 247-248, 255, 260, 263-264, 268, 270, 284, 351, 412, 474-475, 640, 646, 703, 749, 761 Purimfest 264

Stichwortverzeichnis

Sanftmut 254, 260, 651 Sauerteig 288, 715, 742, 746-748, 752 Saum 524, 815-816 Schaf 304, 664, 666-668 Schafe 416, 422, 540, 564-565, 576, 649, 668 Schatz 32, 377, 379, 692, 715, 760763, 765, 768, 771 Schätze 97, 108-109, 377-380, 566 Scheidebrief 71, 78, 316, 318 Scheidung 78-79, 164, 317-321, 334, 767-768, 770 Schlange 155, 407-408, 422, 576, 691 Schlangenbrut 154-155, 691 Schleppnetz 765 Schma Jisrael 34, 260, 332, 596 Schnitter 741, 755 Schöpfung 34, 72, 75, 146, 191, 197, 201, 211, 254, 285-286, 358, 360, 386-387, 389, 477-479, 481, 642, 644, 706, 801, 807 Schrift (Heilige) 21, 28, 38-39, 41, 48, 73, 84, 101, 108, 120, 122, 127, 137, 140-141, 147, 167, 187, 190, 194, 200, 208, 225, 242-243, 247, 270, 282-285, 287-290, 292293, 300, 330, 342, 419-420, 424425, 454, 461, 463, 480-481, 495, 508, 517, 621, 657-658, 661, 666, 668, 672-673, 712-713, 737, 749, 751, 771, 785 Schriftgelehrte 27-28, 32, 100, 194, 292, 440, 465-466, 494, 496, 680, 697-698, 745, 770-772 Schriftzitat 120, 135, 194, 206, 208209, 231, 501, 672, 677, 749 Schuhe 160-161, 567-568

843

Schuld 31, 120, 140, 260-261, 293, 301, 304, 309, 312, 327, 364, 385, 399-400, 564, 571, 635, 655, 695, 729 Schulden 363 Schuldopfer 32, 181, 659 Schweigegebot 442-443 Schwein 403 Schwester 217, 401, 713 Schwiegermutter 218, 456-460, 595 Schwiegertochter 595 Schwur 322-325, 327 See 150-151, 207-209, 213, 215216, 221, 407, 438, 473-474, 483484, 488, 554, 672, 716, 743, 766, 796, 802, 804-806, 809, 815 See Genezareth 151, 207-208, 221, 407, 438, 473-474, 483, 554, 716, 766, 806 Seewandel 802-803, 807 Seligpreisung 245, 247-248, 250256, 258-268, 270, 306, 612, 650, 723, 729-730 Senfkorn 715, 742-745, 747, 752 Silber 566 Sklave 161, 331, 382-383 Sodom 272, 631, 634-638 Sohn Abrahams 47, 53 Sohn Davids 47, 52-53, 80, 88, 530 Sohn Gottes 119, 121, 129, 193, 201, 242, 263, 334, 441, 485, 602, 613, 643, 686, 757, 806, 811 Sondergut 20, 26-28, 43, 121, 145, 296, 468, 535, 538, 563, 583, 653, 671, 693, 738, 742, 752, 761, 765, 770, 802, 808 Sonne 107, 335, 719-720, 757 Sorge 376, 384-385, 392, 568, 579, 734-735, 761

844

Stichwortverzeichnis

Speisung 73, 633, 792-793, 796801, 803-804 Stab 57, 567-568 Stammbaum 47 Statthalter 63, 196, 578, 786 Stern 96-99, 104, 106-108, 112-114 Stil 81, 105, 130, 143, 206, 254, 296, 377, 422, 432, 473, 539, 546, 592, 692, 751, 813 Stummheit 536, 612 Sturm 474-480, 804, 807, 814 Stürmerspruch 618, 620, 623 Sturmstillung 478, 480-482, 612, 811 Substitutionstheorie 453-454, 456 Sühne 31 Sünde 33, 60, 82, 86, 117, 127, 145146, 152, 168, 172, 182, 251, 260, 290, 313-316, 346, 364, 367, 401, 494, 506, 508, 534, 538, 561, 572, 612, 631, 635, 637, 649, 659, 679, 688, 690, 693, 700, 756, 768 Sündenbekenntnis 152, 154 Sündenfall 199, 798 Sündlosigkeit 168-169, 172, 202, 364, 643 Synagoge 53, 117, 155, 207, 225, 270, 276, 292, 299, 319, 335, 350, 356, 439, 506, 508, 521-522, 633, 655-656, 665, 669, 776 Synoptiker 22, 38, 222, 441, 457, 521, 529, 645, 670, 793, 797 Syrien 24, 40, 43-44, 60, 227-228, 230, 309, 504, 555, 558, 791 T Talmud 14, 67, 78, 119, 121, 131, 139, 177, 242, 278, 292, 318, 331, 340, 351, 353, 410, 439, 461-462,

466, 484, 503, 537, 549, 565, 570, 633, 656-658, 666-667, 682 Targum 174, 729 Taube 173-176, 304, 576, 611-612 Taufe 31, 35, 120, 144-145, 152154, 158, 162, 164, 166, 169-173, 176, 178, 181-182, 185, 189, 201, 265, 513, 534, 579 Täufer 27, 29, 141, 143-145, 147151, 155-156, 158-161, 163-166, 169-174, 181, 205, 212, 222, 225, 230, 232, 234, 236-237, 268, 326, 348, 407, 415, 418, 463, 512-514, 518, 528, 553, 584, 607, 609-614, 616-618, 620, 622-623, 627, 632, 692, 713, 716, 755, 784-785, 788, 791, 793 Täuferbewegung 221, 553 Täuferfrage 33 Täuferpredigt 27, 146-147, 153, 160, 212, 214, 420 Tempel 94, 113, 144, 193, 202, 276, 299, 370, 402, 439, 472, 510, 588, 658-661, 663, 712 Tempeldienst 25-26, 469, 656 Tempelsteuer 25-26 Tempelzerstörung 26, 306, 443 Tertullian 16, 96, 175, 560, 777, 801 Tetragramm 148 Tetrarch 133, 783, 789-790 Teufel 155, 185-187, 189-201, 203, 307, 326, 328, 334, 366-368, 407, 416, 421, 537, 576, 586, 682-683, 686, 691-692, 695, 733, 744, 753754 Thaddäus 555, 557-558 Theodizee 126, 758 Thomas 402-403, 554-556, 763 Thron 62, 99

Stichwortverzeichnis

Titulus 137 Tochter 73, 128, 217, 520-523, 525527, 595, 597, 784, 787 Tod 17, 30-31, 34, 94, 114, 119, 124, 127, 130-131, 133-134, 210, 220, 224, 302-303, 488, 495, 513, 526, 529, 580, 589, 593, 613, 637, 639, 686, 700, 702, 783-784, 786, 789, 791 Tor 410-413, 422 Tora 57, 195, 238, 296, 319, 351, 376, 408, 410, 434, 439, 469, 472, 505-506, 647, 650, 655, 658, 660662, 713, 724, 786 Tote 103, 122, 151, 166, 184, 470, 523, 611, 671 Totenreich 636 Totenwelt 702, 704 Tötungsbeschluss 664-665, 671 Traum 79-81, 92, 110-111, 116, 131, 134, 140, 720 Trinität 34, 66, 182, 185, 647, 695 Trübsal 29, 251, 269, 413 Tuch 516 U Umkehr 146-147, 149, 152, 156157, 159-160, 164-165, 330, 401, 411-412, 564, 631-635, 638, 687, 693, 695, 700, 709 Unglaube 781 Unkraut 715, 721, 737, 739-742, 751-756, 758, 760, 766-768 Unwetter 473-474, 480 Unzucht 317, 319-320 Urchristentum 184, 208, 463, 515, 663, 723, 730 Urevangeliumshypothese 39

845

Urgemeinde 217-219, 223-224, 533, 549, 551, 553, 694, 778-779 V Vaterunser 235, 239, 246, 249, 335, 354-358, 361, 363, 365, 367-372, 394-395, 434, 493, 640-642, 686 Verachtung 140, 302, 404, 527, 686 Verbot 391-392, 529, 532, 667 Verdammnis 314-315, 411-414, 573, 589, 593, 756 Verfolgung 29, 127, 129, 264-266, 268-270, 276, 394, 396, 413, 499, 572, 578-580, 582, 584, 586-587, 593-595, 597, 599, 604, 722, 733734 Verführung 29, 314 Verheißung 27, 63, 80, 89, 195, 213214, 216, 219-221, 233, 250, 254, 257-258, 263, 265-266, 268-270, 282, 395, 417, 571, 583, 593, 602, 604, 616, 649, 651, 772 Verkündigung 23, 27, 35, 89, 91, 108, 145, 164, 196, 205, 212, 225, 231-232, 264, 271, 273, 277, 329, 332, 340, 342, 402, 414, 417, 442, 454, 518, 542, 569, 591, 616, 638, 704, 717, 725-726, 732, 744, 749, 751-752, 775 Versöhnung 262, 305-306, 309-310 Verstockung 582, 726, 729, 750-751 Verstockungstheorie 725, 729 Versuchung 181, 183-185, 187, 189203, 366-368, 394, 407, 442, 694 Versuchungsgeschichte 31, 188, 195, 200, 202-203, 208, 366, 387, 407, 533, 686, 698-699, 704, 754 Verzehntung 25

846

Stichwortverzeichnis

Vögel 117, 385-387, 467-468, 590, 719-720, 733, 743-744 Volk 715 Völker 53, 57, 66, 69, 88, 109, 150, 198, 210, 359, 446, 646, 676-677, 745-746 Vollendung 32, 34, 87, 262, 305, 629, 644, 714, 744-745, 748, 754755, 757, 760, 767-768 Vollmacht 34, 161, 193, 199, 214, 226-227, 332-333, 341, 433, 448, 461, 478, 489, 494, 496-499, 536, 543, 547, 562, 565, 610, 629, 681, 684, 714, 771, 800 W Wanderlehrer 711 Wasser 72, 78, 127, 144, 151-152, 160, 171-172, 186, 188, 191, 195, 233, 259, 407, 474, 478, 603, 627, 706, 717, 799, 803, 808, 811-812 Wehe 633 Wein 149, 512, 517-519, 626-627 Weisheit 32, 82, 174, 350, 377, 379, 384-386, 419, 599, 628-629, 641, 646-651, 699, 703, 720, 761, 763, 776-777 Weisung 110, 134, 155, 313, 323, 399, 588, 677 Wiederkunft 29, 254, 582, 594, 611, 622, 694, 759-760, 806 Wind 34, 163, 474, 479, 485, 805, 808-809, 811

Wirkungsgeschichte 41, 224, 321, 326, 356, 370, 568, 586, 694 Wölfe 416, 422, 576 Wunder 30, 33, 64, 68, 74-76, 81, 87, 121, 172-173, 176, 182, 187, 196, 203, 205, 219, 225-226, 231232, 386, 423-425, 429, 433, 437, 439, 445, 455-457, 461, 463-464, 472, 480-481, 490, 497-498, 527528, 531, 533, 537-538, 565, 612, 632-637, 668, 670, 672, 679-682, 693, 699-700, 710, 727, 777, 780781, 784-785, 795-796, 798, 800, 803, 808 Wüste 144-145, 147-148, 150, 164, 185-188, 195-196, 211, 240, 603, 614, 801 X Xerxes 264 Z Zauberer 94, 682 Zelotismus 264, 619-620, 623, 758 Zoll 337, 501, 503, 509, 556 Zöllner 16, 336-338, 470, 501-507, 511, 556, 559, 628, 676 Zorn 123, 155-156, 158, 300-302, 310, 312, 329, 427 Zwei-Quellen-Theorie 39, 186, 212213, 457 Zwölferkreis 17, 216, 218, 222-223, 558, 560-561