Das eigene Leben als ästhetische Fiktion: Autobiographie und Professionsgeschichte 9783839437636

Narratives about »real life« or instruments of personal and professional stylization? Based on prominent examples, profe

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German Pages 370 Year 2018

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Das eigene Leben als ästhetische Fiktion: Autobiographie und Professionsgeschichte
 9783839437636

Table of contents :
Inhalt
Autobiographik und Professionsgeschichte
Berufsautobiographien und Professionsgeschichte. Zur Einführung
Autobiographie und Architektur
Erfahrung als Argument in Berufsautobiographien. Der Kunsthistoriker Michael Baxandall und der Architekt Louis Sullivan
„Ihr ganzes Leben lang sind Menschen Plänemacher. Ich bin einer von Beruf.“ Beschreibungen von Kreativität und kreativem Handeln in Architektenautobiographien
Autobiographie als Dichtung
Der Spion in Malcesine. Goethes Italienische Reise
Autobiographische Oikonomien. Henry Thoreaus Walden (1854) und Henry Fords My Life and Work (1923)
Postmoderne Bildungsromane. Amélie Nothomb und Elena Ferrante zwischen literarischer Selbsterfindung und medialer Öffentlichkeit
Autobiographie als Trauerarbeit. roland BARTHES par roland barthes*
Autobiographie und Politik
Autobiographische Zeugnisse und historische Mythen im Prozess der europäischen Einigung. Charles de Gaulle und Walter Hallstein
Lebensgeschichtliche Zeitlosigkeit: Erzählmuster der politischen Funktionärsbiographik in der DDR. Die Aporie der kommunistischen Funktionärsbiographik
„Die Stasi war mein Eckermann.“1 Die verborgene Identitätskonstruktion der Chemiker in der DDR in den geheimen Autobiographien der DDR-Geheimpolizei der 1950er und 1960er Jahre
Autobiographie und Gesellschaft in Lebensbeschreibungen von Personen des öffentlichen Lebens
Wilhelm von Bodes Lebensbeschreibungen. Gegnerschaft als Professionsideal
„Menschen zu helfen, ist überall nötig und möglich, nicht erst in Lambaréné“. Zur autobiographischen Konstruktion eines humanitären Helfers
Autobiographie in den Künsten
In den Wucherungen der „schmucklosen Wahrhaftigkeit“. Richard Wagner und seine Autobiographien
Beziehungsprobleme. Über das Verhältnis von Leben und Werk am Beispiel der Künstlerautobiographie Ludwig Richters
Louise Bourgeois: Child Abuse (1982). Autobiographisches als Vehikel postmoderner Subjektkonstitution
Autobiographie in der Wissenschaft
Ein Leben für die Wissenschaft. Forschung und Selbsterforschung. Zu Werner Heisenbergs Der Teil und das Ganze (1969)
Wie ich von mir schweige. Die Wissenschaftliche Selbstbiographie Max Plancks
Sprachliche Strukturen autobiographischer Darstellungen
Autobiographisches Erzählen: Sprechen und Schreiben
Abbildungen
Abbildungsnachweise
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Dietrich Erben, Tobias Zervosen (Hg.) Das eigene Leben als ästhetische Fiktion

Edition Kulturwissenschaft | Band 129

Dietrich Erben, Tobias Zervosen (Hg.)

Das eigene Leben als ästhetische Fiktion Autobiographie und Professionsgeschichte

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

AUTOBIOGRAPHIK UND P ROFESSIONSGESCHICHTE Berufsautobiographien und Professionsgeschichte. Zur Einführung DIETRICH ERBEN UND TOBIAS ZERVOSEN | 11

AUTOBIOGRAPHIE UND ARCHITEKTUR Erfahrung als Argument in Berufsautobiographien. Der Kunsthistoriker Michael Baxandall und der Architekt Louis Sullivan DIETRICH ERBEN | 23 „Ihr ganzes Leben lang sind Menschen Plänemacher. Ich bin einer von Beruf.“ Beschreibungen von Kreativität und kreativem Handeln in Architektenautobiographien TOBIAS ZERVOSEN | 39

AUTOBIOGRAPHIE ALS DICHTUNG Der Spion in Malcesine. Goethes Italienische Reise THOMAS WEIDNER | 59 Autobiographische Oikonomien. Henry Thoreaus Walden (1854) und Henry Fords My Life and Work (1923) ZENO ACKERMANN | 77

Postmoderne Bildungsromane. Amélie Nothomb und Elena Ferrante zwischen literarischer Selbsterfindung und medialer Öffentlichkeit CHRISTINE OTT | 99 Autobiographie als Trauerarbeit. roland BARTHES par roland barthes CHRISTINE TAUBER | 117

AUTOBIOGRAPHIE UND P OLITIK Autobiographische Zeugnisse und historische Mythen im Prozess der europäischen Einigung. Charles de Gaulle und Walter Hallstein PHILIP BAJON | 155 Lebensgeschichtliche Zeitlosigkeit. Erzählmuster der politischen Funktionärsbiographik in der DDR. Die Aporie der kommunistischen Funktionärsbiographik MARTIN SABROW | 175 „Die Stasi war mein Eckermann.“ Die verborgene Identitätskonstruktion der Chemiker in der DDR in den geheimen Autobiographien der DDR-Geheimpolizei der 1950er und 1960er Jahre GEORG WAGNER-KYORA | 193

AUTOBIOGRAPHIE UND G ESELLSCHAFT IN L EBENSBESCHREIBUNGEN VON PERSONEN DES ÖFFENTLICHEN L EBENS Wilhelm von Bodes Lebensbeschreibungen. Gegnerschaft als Professionsideal THOMAS ESER | 221 „Menschen zu helfen, ist überall nötig und möglich, nicht erst in Lambaréné“. Zur autobiographischen Konstruktion eines humanitären Helfers JOHANNES PAULMANN | 239

AUTOBIOGRAPHIE IN DEN KÜNSTEN In den Wucherungen der „schmucklosen Wahrhaftigkeit“. Richard Wagner und seine Autobiographien LAURENZ LÜTTEKEN | 259 Beziehungsprobleme. Über das Verhältnis von Leben und Werk am Beispiel der Künstlerautobiographie Ludwig Richters SASKIA PÜTZ | 271 Louise Bourgeois: Child Abuse (1982). Autobiographisches als Vehikel postmoderner Subjektkonstitution ANNIKA WIENERT | 289

AUTOBIOGRAPHIE IN DER W ISSENSCHAFT Ein Leben für die Wissenschaft. Forschung und Selbsterforschung. Zu Werner Heisenbergs Der Teil und das Ganze (1969) MARTINA WAGNER-EGELHAAF | 301 Wie ich von mir schweige. Die Wissenschaftliche Selbstbiographie Max Plancks THOMAS ETZEMÜLLER | 321

S PRACHLICHE STRUKTUREN AUTOBIOGRAPHISCHER D ARSTELLUNGEN Autobiographisches Erzählen: Sprechen und Schreiben ROLF HAUBL | 333 Abbildungen | 347 Abbildungsnachweise | 365 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 367

Autobiographik und Professionsgeschichte

Berufsautobiographien und Professionsgeschichte. Zur Einführung D IETRICH E RBEN UND T OBIAS Z ERVOSEN

Ausgangspunkt bei der Planung der Tagung, deren Beiträge in diesem Buch vorgelegt werden1, war – naheliegend für uns als Kunsthistoriker an einer Architekturfakultät – zunächst die Beschäftigung mit Autobiographien von Architekten. Architektenautobiographien gibt es für das 20. Jahrhundert in beachtlicher Zahl (ca. 50 Bücher in den europäischen Literatursprachen), es handelt sich dabei um Bücher von einer eindrucksvollen Varianz innerhalb derselben Gattung. Inhaltlich reicht die Spanne von der unbedarften Reihung hervortuerischer Anekdoten über die legitimatorische Begründung einer ,Lebensleistungʻ bis hin zu theoretisch reflektierten und auch sprachlich bisweilen eindrucksvollen Lebensbeschreibungen. Die Bücher unterscheiden sich auch in ihrer Machart als Buchprodukt, also in den Formaten, in Gestaltung und Layout und selbstverständlich in den Illustrationen. Im Hinblick auf die Inhalte und Themen lassen sich zahlreiche Beobachtungen machen, die für die Berufsgruppe der Architekten speziell sein dürften. Das gilt etwa für einen ausgesprochen selbstbewussten, um nicht zu sagen autoritativen, ,ständischenʻ und genau darin professionstypischen Habitus, mit dem sich die Hauptprotagonisten in den Autobiographien einen Auftritt verschaffen. Das betrifft auch die medialen Eigentüm-

1

Die Einleitung nimmt gemeinsame Überlegungen der beiden Verfasser im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Architektenautobiographien auf; die vorliegende Publikation bietet die ausgearbeiteten Referate, die im Rahmen der Tagung „Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Berufsautobiographie und Professionsgeschichte“ (28.30.04.2016, Technische Universität München) vorgetragen wurden.

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lichkeiten der Bücher. Sie bestehen darin, dass lebensgeschichtliche Vorgänge mit dem beruflichen Schaffen, also mit dem Bericht über die Entwurfsproduktion von Bauwerken, die von den Autoren der Bücher geplant wurden, verschränkt werden. Und beides, die Schilderung von Lebensstationen und von Berufsaktivitäten, ist wiederum mit der ästhetischen Produktion des Buches selbst verbunden. Es hat sich im Lauf der Auseinandersetzung mit den Büchern von Architekten gezeigt, dass es lohnend sein dürfte, den Bogen weiter zu spannen und ähnliche Fragen auch an die Autobiographien anderer Berufsvertreter zu stellen. Die Beiträge widmen sich mit weiteren ,Berufsautobiographienʻ einer Gruppe von Texten, deren Verfasserinnen und Verfasser sich das Schreiben ebenfalls mehrheitlich nicht zu ihrer Hauptaufgabe gemacht haben. Gerade in der Gegenwart sind autobiographische Bücher – man denke nur an die Masse von Selbstverlautbarungen von Politikern, Sportlern, Fernsehleuten und ,Celebritiesʻ – kaum mehr überschaubar. Uns haben aber vor allem Vertreterinnen und Vertreter von sogenannten bürgerlichen und von künstlerischen Berufen interessiert. Es geht also in erster Linie um die selbstständigen Berufe, um Erwerbs- und nicht um Lohnarbeit. Dabei wollten wir vor allem auf die Frage zusteuern, mit welchen Mitteln der Textdarstellung personale Identitäten, Lebensentwürfe, Selbstbilder und professionelle Lebenszusammenhänge entworfen werden, die wahrscheinlich außerhalb der Texte gar nicht oder nur bruchstückhaft existieren. Roland Barthes hat bekanntermaßen den „Tod des Autors“ (1968) ausgerufen. Aber inzwischen ist er wiederbeatmet worden und als interessengeleiteter, eigenen Zielen verpflichteter Akteur beschrieben worden, der zu bestimmten Strategien des Erzählens, der Selbstdarstellung und -beschreibung greift. Das gilt vielleicht in besonderem Maße für die Autobiographie. In ihr übernimmt der Autor die Autorität über die ästhetische Fiktion seines Lebens, er ist sogar der ,Mehrerʻ seines Lebens – nichts anderes heißt ja das lateinische Wort ,auctorʻ ursprünglich. Dabei bezieht sich die auch im Haupttitel des vorliegenden Bandes angesprochene ,ästhetische Fiktionʻ nicht in erster Linie auf das Erfundene, Ausgedachte, Imaginäre. Es ist auch nicht auf die investigative Ermittlung gemünzt, also auf eine Spurensuche nach den sprichwörtlichen Leichen im Keller, nach dem Manipulierten, Schön-Geredeten und Unterschlagenen in der eigenen Biographie. Gemeint ist mit ,ästhetischer Fiktionʻ schlicht und einfach die Erzählung, die Gestaltung und Darstellung, die Demonstration des eigenen Lebens im Text-Bild-Medium der Autobiographie. Schon der Blick auf das Inhaltsverzeichnis des vorliegenden Bandes kann vielleicht verdeutlichen, dass wir auf den einigermaßen kühnen Gedanken verfallen sind, die Auseinandersetzung mit Autobiographien nicht vollständig den

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Profis von den Literaturwissenschaften zu überlassen. Gewagt ist das schon deswegen, weil sich die nicht-professionelle Zuständigkeit, um nicht zu sagen der Dilettantismus, damit potenziert – nicht nur die Texte wurden in der Mehrzahl von Nicht-Profis geschrieben, nun reden auch noch viele Nicht-Profis über diese Texte. Aber wir denken, das hat auch seine Vorteile. Wir vertrauten bei den Beiträgerinnen und Beiträgern auf deren ästhetisches Sensorium für die Qualität der Texte, auf die quellenkritische Kompetenz in Bezug auf die Inhalte und vor allem auf die Nähe zu den beruflichen Milieus, die in den Autobiographien geschildert werden. Folgende zentrale Arbeitshypothesen waren bei der Konzeption des vorliegenden Bandes wichtig, die auch als Leitfragen einen gemeinsamen Blick auf die recht unterschiedlichen Autobiographien, verstanden nun als ,gelebtes Lebenʻ und als Text, ermöglichen sollten. 1. Textgattung und Textformen. Die alte ,Textsortenlehreʻ wurde methodisch mittlerweile von einem Verständnis von Textgattungen als Institutionen (Wilhelm Voßkamp) oder als ,Verträgeʻ zwischen Produzent und Rezipient (u.a. Frederic Jameson) abgelöst. Damit kommen vielfältige Aspekte in den Blick, die für die entsprechenden Adressierungsabsichten und -möglichkeiten der Autoren und die darüber hinaus für die Erwartungshaltung des Publikums wichtig sind. Das umfasst die ästhetisch-formale Gestaltungsweise der Publikationen ebenso wie die Stilistik der Texte, die Erzählstrukturen und mögliche Referenzen auf andere literarische Texte. Versteht man das Buch darüber hinaus als Produkt seines Autors, so wird es – ökonomisch gesprochen – zum Bestandteil seines beruflichen Portfolios. Berufsautobiographien sind nicht Nebenprodukt, dekoratives Ornament oder möglicherweise finanziell einträglicher Zeitvertreib, sondern Teil der beruflichen Produktivität der VerfasserInnen. Das gilt in besonderem Maße für die Autobiographien von Literaten, Künstlern und Architekten, bei denen die Texte Teil des Werkzusammenhangs sind und neben den im Zentrum stehenden Produkten (dichterische Texte, Bilder, Bauten usf.) eine weitere künstlerische Äußerungs- und Ausdrucksform darstellen. Schließlich ist unter den Vorzeichen der Professionalisierungsgeschichte die Frage zu stellen, wie sich das Vertragsverhältnis der Gattung in Bezug auf die sicher zurecht immer wieder beschworenen ,zwei Kulturenʻ (Percy Snow) äußert – wie sich also Berufsautobiographien in den Geistes- und Sozialwissenschaften auf der einen und in den Naturwissenschaften auf der anderen Seite unterscheiden. 2. Professionalisierung. Berufsautobiographien vermitteln Einblicke in die Geschichte der jeweiligen Profession und damit in das Feld der von Max Weber erstmals systematisch erörterten Berufssoziologie. Berufsautobiographische Texte werden verstärkt ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Es

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kann also davon ausgegangen werden, dass sie aufs engste mit den durch Technisierung, Verwissenschaftlichung und Marktförmigkeit ausgelösten beruflichen Spezialisierungen und der damit einhergehenden Professionalisierung verknüpft sind. Dies alles zeigt sich ganz unmittelbar durch die an die neuen Realitäten angepassten, institutionellen Strukturen wie dem gesamten Bereich der schulischen und dann der akademischen Ausbildung. Als Stichwort mag die Neueinrichtung von Realgymnasien und Technischen Hochschulen genügen. Professionalisierung dokumentiert sich aber eben auch in der auf öffentliche Wirkung berechneten beruflichen Selbstbeschreibung. 3. Produktivität und Kreativität. In Berufsautobiographien wird über Rahmenbedingungen und Mechanismen beruflich-fachlicher Produktivität und Kreativität gesprochen. Es werden Räume und Orte der Herstellung und des Schaffens geschildert, sei es das Labor, das Büro, das Studio, das Atelier oder die Baustelle. Als prägend und bestimmend werden aber auch Orte und Landschaften beschrieben: das Haus, in dem man wohnt, der geographische Ort, an dem man tätig ist, oder der landschaftliche Eindruck, der in der Erinnerung aufgerufen wird. Solchen Ortstypologien treten die Sozialtopographien von persönlichen Netzwerken an die Seite – die Rede ist von den unvermeidlich ,verehrtenʻ Mentoren und Vaterfiguren, von Kollegen, Freundschaften und vom familiären Umfeld. Durch die Benennung von konkreten Orten und Personen werden immer wieder auch Anonymitäten getilgt; es werden Fremdbestimmungen, die durch Wettbewerbssituationen, Anpassungs-, Erfolgs- und Konformitätsdruck entstehen, gemildert. In unserer Gegenwart hat dieser durch die ,Kreativgesellschaftʻ (Andreas Reckwitz) erzeugte Druck sicher nochmals erheblich zugenommen. Denn die normative Erwartung von Originalität und Innovation betrifft heutzutage nicht nur die spezialisierten Berufsgruppen der ,Kreativindustrieʻ (Film-, Theater-, Design-, Zeitungs-, Werbeleute etc.), sondern hat mittlerweile nahezu alle Bereiche erreicht. Kreative Selbstdarstellung und demonstrative Individualität gehören zum beruflichen Rollenprogramm, seit das ,Projektʻ für jedweden Angestellten zum Zauberwort geworden ist und die Unvorhersehbarkeit der eigenen Leistung programmatisch gefordert wird. Im Umkehrschluss ist, auch das zeigen Berufsautobiographien, berufliche Routine geradezu inakzeptabel geworden. 4. Individualität und Erwerbsgesellschaft. Autobiographien dokumentieren die sich aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts herleitende, eminente Bedeutung, die dem Individuum und dessen Charakter zugeschrieben wird. Fest steht aber, dass sich dieses Individualitätsbeharren mit den normativen Erwartungen der Erwerbsgesellschaft nicht widerspruchsfrei vereinbaren lässt. Die Angestelltenliteratur vom Ende des 19. Jahrhunderts zeichnet hier das bedrückende Bild

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einer völligen Selbstauslöschung der Person im Beruf, so beispielhaft in der Erzählung Mark Rutherfordʼs Deliverance (1885). In Anbetracht dessen ist also zu vermuten, dass in Berufsautobiographien Individualitätsvorstellungen nicht nur widerspiegelt werden, sondern durch die Abfassung der autobiographischen Texte Individualitätskonzeptionen auch aktiv mit konstituiert werden. Sicher ist freilich auch, dass es die klassische Erwerbsgesellschaft der Moderne heute nicht mehr gibt, dass dementsprechend persönliche Identitätsbildungsprozesse nicht mehr ausschließlich an den Erwerbsberuf gebunden sind und dass auch dieser fundamentale Wandel bei der Lektüre von Berufsautobiographien zur Diskussion steht. Niklas Luhmann (Spontane Ordnungsbildung, 1965) beschreibt das Problem folgendermaßen: „Die Arbeit selbst ist rational organisiert. Aber ihre Konsequenz ist nicht die innere Konsequenz des persönlichen Lebens. Daher bleibt der Arbeitende mit dem, was er gerne möchte, oft ungehört; in dem, worin er sein Eigenstes darstellt, ungesehen. Die kühle Indifferenz der Aufnahme wird ihm als Mangel an Gelegenheit und an Erfüllung bewußt.“ 5. Erfahrung als Argument. Mit dem Begriff der Erfahrung ist eine, wie wir meinen, für unsere Tagung zentrale Kategorie aufgerufen. Erfahrung und Autobiographie stehen in einem sowohl historischen als auch inhaltlichen Bedingungsverhältnis: Die Autobiographie etablierte sich als Textgattung der Erfahrungsmitteilung, während zugleich auch ein normativer Begriff von Erfahrung begründet wurde. Dieser Zusammenhang kündigt sich im 19. Jahrhundert an und er wird offensichtlich im 20. Jahrhundert.

D IE B EITRÄGE Berufsautobiographien werden im Rahmen des Sammelbandes vor dem Hintergrund der spezifischen Interessen und Fragestellungen sowie der verschiedenen methodischen Zugriffe der beteiligten Disziplinen untersucht. Anspruch ist es dabei jedoch immer, Texte, die als paradigmatisch für einzelne Berufsfelder und Disziplinen gelten können, einer ,dichten Lektüreʻ zu unterziehen, sich mit dem umfangreichen Quellenkonvolut also mittels exemplarischer Tiefenbohrungen auseinanderzusetzen. Dabei wird deutlich, dass es im Wesentlichen zwei große Themenkomplexe sind, die sich in berufsautobiographischen Schriften unterschiedlichster disziplinärer Provenienz finden lassen und die Gattung damit grundlegend charakterisieren.

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1.

Die behauptete Parallelität von Lebenserfahrung und beruflicher Entwicklung

In Berufsautobiographien werden individuelle Lebenserfahrungen und persönliche Lebensumstände immer wieder mit der Entwicklung des beruflichen Selbstverständnisses enggeführt und verknüpft. Berufliche Positionen und Überzeugungen werden also genauso wie die Vorstellung vom Beruf als persönlicher ,Berufungʻ an die individuelle Lebensgeschichte gekoppelt. Diesen Aspekt arbeitet DIETRICH ERBEN in seinem Beitrag mit Blick auf die Autobiographien des englischen Kunsthistorikers Michael Baxandall und des amerikanischen Architekten Louis Henry Sullivan heraus. Dabei zeigt sich in beiden Fällen, dass die in den Blick genommenen Protagonisten die persönliche und berufliche Entwicklung nicht nur miteinander synchronisieren, sondern auch die methodologischen Ansätze der Theoriebildung ihrer Schriften. Dies gilt für den Erfahrungsbegriff bei Baxandall auf der einen Seite und für Sullivans berühmt gewordenen Leitsatz „form ever follows function“ auf der anderen Seite. Mit einer spezifisch amerikanischen Tradition autobiographischen Schreibens beschäftigt sich auch ZENO ACKERMANN. Ackermann weist nach, dass selbst so unterschiedliche Schriften wie Henry David Thoreaus Walden und Henry Fords Autobiographie My Life and Work auf genuin angloamerikanische Professionalitätsdiskurse verweisen. In persönlicher wie in beruflicher Hinsicht bezieht Ackermann die so unterschiedlichen Lebensschilderungen auf die alles verbindende Idee des ,Oikosʻ, verstanden als Haus und Ökonomie, und einer auf Komplexitätsreduktion abzielenden Einfachheit, die letztlich unmittelbar in der amerikanischen Geistesgeschichte verwurzelt ist. In einem weiteren Beitrag arbeitet LAURENZ LÜTTEKEN heraus, dass sich eine mit Nachdruck vertretene Ineinssetzung von Leben und künstlerischem Schaffen auch in Richard Wagners autobiographischen Schriften findet. Aus Sicht des Komponisten, so Lütteken, ist das Leben Bedingung für das Erscheinen des Kunstwerks, seine Autobiographie ist damit eng auf das musikalische Schaffen selbst zu beziehen. Ähnliches gilt, wie MARTINA WAGNER-EGELHAAF zeigt, für die autobiographische Schrift des Atomphysikers Werner Heisenberg. Auch er parallelisiert die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit mit seinem prozesshaften Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnis. Letztlich aber bestätigen, wie MARTIN SABROW zeigt, auch Ausnahmen die Regel. In geradezu diametralem Gegensatz zu den bislang in den Blick genommenen Texten erwächst Erich Honeckers individuelles Selbstbild aus der als gegeben vorausgesetzten Institution der Partei und ihres politischideologischen Programms. Sabrow zeichnet nach, in welch umfassenden Maße die eigene Erinnerung Honeckers mit dem kollektiven Gedächtnis der Partei ab-

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geglichen und in Einklang gebracht wird. Persönliches Erzählen ist also für Honecker nur möglich, indem er die Fiktion eines als unfehlbar und wahr apostrophierten Parteiprogramms auf die ebenso fiktive Erzählung des eigenen Lebens überträgt. Einer vergleichbaren Problematik autobiographischer Identitätskonstruktion in der DDR widmet sich GEORG WAGNER-KYORA. Am Beispiel der Berufsgruppe der Chemiker wertet er interne autobiographische Berichte aus und macht davon ausgehend die Mechanismen der Darstellung von Systemloyalität unter wechselnden politischen Konstellationen deutlich. 2.

Autobiographische Narrationen und ihre beruflichen Dimensionen

Zahlreiche Beiträge arbeiten heraus, wie autobiographische Äußerungen auf persönliche berufsprogrammatische Positionen der Autorinnen und Autoren verweisen. Dies ist zum einen mit Blick auf die narrativen Mittel der Fall. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das, wie THOMAS ETZEMÜLLER nachweisen kann, in Max Plancks Wissenschaftlicher Selbstbiographie. Indem Planck über sich schweigt und sich als von jedem Alltagsbezug bereinigtes Ich darstellt, legt er – wie Etzemüller zeigt – eine reine ,Leistungsbiographieʻ vor, die zugleich seinem Verständnis von Wissenschaft entspricht. Plancks autobiographischer Text schreibt damit nicht nur ein von der Autorität der Einzelperson befreites, auf Objektivierung ausgerichtetes Wissenschaftskonzept fort, sondern wird seinerseits zum Multiplikator eines entsprechenden Wissenschafts- und Wissenschaftlerverständnisses. Vergleichbares stellt PHILIP BAJON fest, wenn er die Memoiren Charles de Gaulles und Walter Hallsteins gegenüberstellt. De Gaulle bezieht sich in seinem Text auf das klassische Modell einer die Leistung des Individuums in den Mittelpunkt rückenden Biographik. Der Diplomat Hallstein entpersonalisierte seine Memoiren hingegen weitgehend und verschrieb sich so auch narrativ dem übergreifenden Projekt eines supranationalen Europa. Auf inhaltlicher Ebene spielen beruflich relevante programmatische Aussagen ohnehin immer wieder eine zentrale Rolle. Dies wird bereits deutlich, wenn sich THOMAS WEIDNER mit Johann Wolfgang von Goethes Italienischer Reise und hier vor allem mit jener Episode auseinandersetzt, in der Goethe in dem kleinen Örtchen Malcesine am Gardasee für einen Spion gehalten wird. Weidner zeichnet dabei nach, dass in der Italienischen Reise ein erzählerisch untermauerter Authentizitätsanspruch mit Darstellungen verknüpft wird, die zweifellos literarisiert und fiktionalisiert sind. Kann der gesamte Text auf das archetypische Narrativ der ,Wiedergeburtʻ bezogen werden, so lässt sich die Episode in Malcesine nach Weidner als Nukleus von Goethes beruflicher Selbsterkenntnis und

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seiner Hinwendung zur Kunst verstehen. CHRISTINE OTT stellt in ihrem Beitrag über Amélie Nothombs autobiographisches Dyptichon Metaphysik der Röhren und Biographie des Hungers sowie Elena Ferrantes Meine geniale Freundin eindrucksvoll dar, wie sich in jüngster Zeit die Darstellung von Lebensgeschichte auf der einen und ein postmodern distanziertes Verhältnis zum Topos der angeblichen ,Wahrhaftigkeitʻ autobiographischen Schreibens auf der anderen Seite narrativ widerspiegelt. Ein aktuelles Beispiel autobiographischen Schreibens, das der Untermauerung einer persönlichen Berufung dient, beleuchtet JOHANNES PAULMANN mit seinem Beitrag über die Schriften des Menschenrechtsaktivisten Rupert Neudeck. Neudecks Erinnerungen grenzen sich, wie Paulmann deutlich macht, gezielt von einer Form der Berufsautobiographik ab, die vor allem von Vorstellungen professioneller Zuständigkeit und Expertise lebt. Im Kontrast dazu entwirft Neudeck ein gewissermaßen antiprofessionelles, auf christliche Motive verweisendes Bild des Zuständigen ,als Nächstenʻ. Auch Paulmanns Beitrag zeigt also ein weiteres Mal, dass es ganz wesentlich die autobiographischen Schriften sind, über die sich Neudeck als Helfer aus Berufung charakterisiert und dabei zugleich auf rhetorische Distanz zu (faktisch durchaus vorhandenen) Bündnissen mit den Medien geht. Andere autobiographische Schriften wiederum machen dezidiert programmatische Aussagen. SASKIA PÜTZ stellt mit Ludwig Richters Lebenserinnerungen eines deutschen Malers einen in dieser Hinsicht paradigmatischen Text vor. Dabei zeigt sich, dass Richters Autobiographie über weite Strecken darauf angelegt ist, die sich im 19. Jahrhundert etablierende Vorstellung künstlerischer Autonomie zu festigen und argumentativ zu bestätigen. Zu einer vergleichbaren Einschätzung gelangt THOMAS ESER anhand der Autobiographie des Berliner Museumsdirektors Wilhelm von Bode. Wie Eser zeigt, unterstreicht Bode mit seiner Schrift nicht nur, dass er sich gleichermaßen als Beamter, Impresario und Wissenschaftler verstand. Bis in die Illustrationen des Buches hinein ist es vielmehr immer wieder die Zurschaustellung von künstlerischer Kennerschaft, die Bodes Darstellung prägt und die er in der Auseinandersetzung mit der modernen Kunst seiner Zeit auch argumentativ einsetzt. Eine nochmals anders gelagerte Dimension autobiographischen Schreibens arbeitet TOBIAS ZERVOSEN heraus, wenn er die autobiographischen Schriften von Architekten in den Blick nimmt und die Frage stellt, wie in ihnen kreatives Handeln und Rahmenbedingungen von Kreativität geschildert werden. Auch dabei wird deutlich, dass es erneut das berufliche Selbstbild und Selbstverständnis der Autoren ist, das die entsprechenden Darstellungen bestimmt – in vielen Fällen beispielsweise die Vorstellung künstlerischer Autonomie. Der Schaffensprozess und kreative Akt selbst bleibt dabei jedoch letztlich vielfach ein Arkanum. Mit

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einem für den Sammelband ungewöhnlichen Materialkonvolut setzt sich ANNIKA WIENERT auseinander. Mit Blick auf die künstlerischen Arbeiten und den 1982 im Artforum veröffentlichten Beitrag Child Abuse von Louise Bourgeois arbeitet sie heraus, wie das gleichsam ,offizielleʻ Verständnis von Bourgeoisʼ Werken durch die Selbstaussagen der Künstlerin bestimmt ist. CHRISTINE TAUBER schließlich unterzieht das autobiographische Werk von Roland Barthes einer analytischen Lektüre, in der sie die fundamentale Skepsis des Autors gegenüber der Textgattung und auch gegenüber dem klassischen Anspruch des Autobiographen, über das eigene Leben literarisch verfügen zu können, herausarbeitet. Barthes verweigert, so Christine Tauber, jegliche Darstellungskonvention der Autobiographie und greift stattdessen zur literarischen Typologie des Lexikons als objektivierter Form der Mitteilung eigener Reflexionen. In ihr arbeitet er – wobei er den Titel unseres Bandes beinahe wörtlich vorwegnimmt – die ästhetische Fiktionalisierung seines Lebens aus. Schließlich widmet sich ROLF HAUBL der Gattung Autobiographie aus soziologischer und psychoanalytischer Sicht und damit dezidiert aus einer von konkreten Texten losgelösten Metaperspektive. In den Mittelpunkt rückt Haubl den autosuggestiven Charakter autobiographischer Erzählungen, d.h. die bewusst wie unbewusst vorgenommene Konstruktion kohärenter Lebensgeschichten. Haubl stellt damit nochmals zentrale Kategorien autobiographischen Erinnerns und Schreibens vor, welche die innerhalb des Sammelbandes untersuchten Texte durchweg kennzeichnen und ihrerseits eminenten Einfluss auf Professionalisierungsprozesse und die Herausbildung von beruflichen Selbstbildern und professionellem Selbstverständnis haben. Wir möchten uns als Herausgeber bei allen bedanken, die zum Zustandekommen des vorliegenden Bandes beigetragen haben: bei den Autorinnen und Autoren, bei der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung für die großzügige finanzielle Förderung der Tagung und die Gewährung der Druckkostenbeihilfe, bei der Fakultät für Architektur der Technischen Universität München für technische und logistische Hilfestellung, bei Susanne Oxé für ihre versierte Layoutarbeit sowie bei Isabel Mühlhaus für ihre Unterstützung bei der Erstellung der Abbildungen.

Autobiographie und Architektur

Erfahrung als Argument in Berufsautobiographien. Der Kunsthistoriker Michael Baxandall und der Architekt Louis Sullivan D IETRICH E RBEN

I. Tut man sich auf dem publizistischen Feld der Berufsautobiographien um, so begegnet man wohl kaum einem anderen Autor, der so skeptisch und hartnäckig Auskunft über die Bedingungen nicht-professionellen autobiographischen Schreibens gibt, wie der englische Kunsthistoriker Michael Baxandall. Seine Autobiographie erschien 2010 unter dem Titel Episodes. A Memorybook zwei Jahre nach dem Tod des Verfassers, der, so wird man in der „Publisher’s note“ auf der letzten Buchseite informiert, das Manuskript für die Publikation autorisiert habe.1 Der Berichtszeitraum des Buches von Michael Baxandall (19332008) umfasst nur die etwa drei Jahrzehnte von Kindheit, Jugend, Studienerfahrungen und der ersten Museumsarbeit, als Baxandall im Jahr 1965 eine Anstellung als Lecturer in Renaissance Studies am Londoner Warburg Institute bekam. Bei der Autobiographie handelt es sich, so könnte man James Joyce paraphrasieren, um das „Portrait of an Art Historian as a Young Man“. Es zeichnet sich

1

Michael Baxandall, Episodes. A Memorybook. With an Introduction by Carlo Ginzburg, London 2010. Die Übersetzungen und Textparaphrasen stammen vom Verfasser. Zum Werk Baxandalls aus wissenschaftsgeschichtlich-methodologischer Sicht zuletzt Peter Mack/Robert Williams (Hgg.), Michael Baxandall. Vision and the Work of Words, London 2015 sowie der umfangreiche Rezensionsessay dazu von Robert W. Gaston, „What I wanted was concepts“: Michael Baxandall’s Intellectual Odyssey, in: Journal of Art Historiography 13, 2015, S. 1-25.

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durch ein außergewöhnliches Maß an Selbstreferenzialität aus – Baxandall denkt, einfacher gesagt, in seiner Autobiographie unablässig über das Zustandekommen des autobiographischen Textes selbst nach. Er stellt damit zahlreiche Fragen, die für das Schreiben von Berufsautobiographien von grundsätzlichem Interesse sind, wobei die Selbstreflexion immer wieder um die Frage nach der Konstitution und die Mitteilbarkeit von Erfahrung („experience“) kreist. Hinzu kommt, dass Baxandall den Erfahrungsbegriff nicht nur in seiner Autobiographie zum Thema macht, sondern dass er ihn auch in seinen kunstgeschichtlichen Studien als Kategorie des Verstehens fruchtbar gemacht hat. Im Erfahrungsbegriff schließen sich die Selbstauskunft des Autors in der Autobiographie und die Methodik von dessen wissenschaftlichem Œuvre zusammen. Baxandall umschreibt in seiner Autobiographie auf den einleitenden Seiten („Rules of Engagement“) das eigene Selbst („self“) mit der Metapher der Sanddüne. Die Düne ist das „Emblem“ einer im stetigen Wandel begriffenen Identität, eines inkohärenten Selbst, bei dem es schwer sei, es als „unterschieden, artikuliert und ganz“ zu sehen.2 Die Emblematik der Düne mache es möglich, die „aktive Präsenz der Vergangenheit“ anzuerkennen, Erinnerungen stammen nicht direkt vom Selbst, sondern sind dessen „Fußabdrücke“: „My experience is that memories are not often directly of oneself, but of what the self perceived or felt: footprints of the self. The identity is distributed through memory, not simply represented.“3 Das Vorhaben Baxandalls ist es nicht, Memoiren „als solche“ zu schreiben, sondern eine „Rhetorik der Erinnerung“, der erinnernden Wiederaneignung von vergangener Erfahrung, nachzuverfolgen: „What I am interested in persuing, introspectivly and subjectivly, are types of transformation that recollected past experience undergoes and the different formats into which deliberate recall arranges itself – the genres and schemes of recollection, a sort of rhetoric of recollection.“4

Baxandall legt sich kontinuierlich in dem Buch Rechenschaft über eine Erinnerung ab, die als eine in der Gegenwart aktualisierte Erfahrung meist nur „vermittelt“ („mediated“) existiert. Er versucht sich Klarheit darüber zu verschaffen, durch welche Zwischeninstanzen – wie etwa erst später gemachte Erfahrungen und Lektüreerlebnisse – Erinnerungen modelliert werden, und er findet dafür durch das Buch hindurch stetig variierte Formulierungen: „The memory of the

2

Baxandall (wie Anm. 1), S. 15.

3

Ebd., S. 21.

4

Ebd., S. 16.

E RFAHRUNG

ALS

A RGUMENT

IN

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blazer is mediated“5; „I remember rather few actual incidents and most of them are contamined by later re-telling.“6; „The dates are not directly remembered but externally assured.“7; „Little later recall, and remembered from later narration by others.“8; „The question is not just what we remember and what we forget but also how we change what we remember.“9; „There comes an image of a stonebuilt farm on a slope among firs, but there is something generic and factitious about this: in fact, it may be modeled on a farm I knew later in Derbyshire.“10; „Something like that […] is what I think I remember. That is the story I would narrate, in good faith. But how much of it is artifact?“11; „Reading over this description of Leavis I am struck by a lack of authenticity.“12; „I suspect much of it (the atmosphere in Sankt Gallen) was generated by my reading: this was a year when I was reading German novels.“13 All diese Selbstvergewisserungen werden vom Autor an den Leser als zusätzliche Informationen über das Zustandekommen des Textes weitergereicht. So wird vom Autor nicht die Erinnerung selbst authentifiziert, sondern es werden nur die Aussagen darüber vom Verfasser autorisiert. Bisweilen gibt Baxandall dem Leser auch warnende Regieanweisungen, so einmal als er eine fiktionale Passage zur Verdeutlichung des Erlebten einfügt: „The next two pages did not happen.“14 (kursiv im Original) An anderen Stellen bekennt er Auslassungen – „I shall skip to the next phase of my education“15 oder auch das schlichte Desinteresse an einem Lebensabschnitt: „I have no plan for writing this next section, which ought to handle a bleak and blank period that I almost never call to mind. I have little unforced address to it and I do not approach it with much curiosity.“16 Das Buch endet mit einer „Coda“, in der die poetologischen Maximen noch einmal zusammengeführt werden: „What I have to say about the rhetoric of

5

Ebd., S. 20.

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Ebd., S. 23.

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Ebd., S. 28.

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Ebd.

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Ebd., S. 29.

10 Ebd., S. 32. 11 Ebd., S. 43. 12 Ebd., S. 70. 13 Ebd., S. 91. 14 Ebd., S. 35. 15 Ebd., S. 62. 16 Ebd., S. 47.

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the remembered self I have, after a fashion, said – I find.“17 Baxandall bekräftigt hier sowohl die rhetorische Distanz gegenüber dem Autobiographischen, als auch eine im Wortsinne gegenüber dem Selbst kritische Perspektive. Erinnerung und Erfahrung stehen für Baxandall in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Im Rückblick auf die Gespräche, die Baxandall mit dem dänischen Schriftsteller Martin Berg führte, dem er in Pavia begegnete, kommt die Interaktion von Erinnerung und Erfahrung zur Sprache: „I was struck how often these were questions of our memory of common experience. (…) But it interested me that the realization of a novel should depend so much on writer’s and reader’s common unstrained access to organized observation of the everyday: that this should be, so to speak, a medium.“18 Erinnerte Erfahrung unterliegt dem Gestaltungsdruck, der maßgeblich vom Abfassen des Textes selbst erzeugt wird und zumindest im Falle einer gelungenen Verknüpfung von Erfahrung und Erinnerung in der Narration der Autobiographie auch die Fragmentierung der Erfahrung verhindert: „My hope is that I may come to some conclusion about what shaping pressures have been at work in producing the memory – like objects and events I have in mind – which I believe to be related to memory but not to be simply fragments of the actual past experiences incompletely or imperfectly preserved. This will call on experience of my own in its first quarter-century or so, the period that is most remote in time from now. In other words I must produce my own material. What else could I use? But it will not amount to a memoir because the episodes will be chosen to represent types and forms. Substantial sectors of experience (…) will not turn up, (…) to know some parts of my mind I need the formality of producing a text.“19

Im Falle von Baxandall rücken Autobiographie und wissenschaftliches Werk in einer bemerkenswert engen Konstellation zusammen, die durch den Erfahrungsbegriff vermittelt wird. Das gilt insbesondere für die Studie zur Malerei der italienischen Frührenaissance in Italien, erschienen 1972 unter dem Titel Painting and Experience in Fifteenth Century Italy.20 Sie machte Baxandall über die

17 Ebd., S. 141. 18 Ebd., S. 77. 19 Ebd., S. 16. 20 Michael Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style, London 1972; das Buch erschien nach der Erstausgabe in zahlreichen späteren Auflagen und in ebenfalls mehrfach aufgelegten Übersetzungen.

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Kunstgeschichte hinaus bekannt, und innerhalb der Disziplin wurde das Buch als bedeutender Beitrag einer modernisierten, kultur- und mentalitätsgeschichtlich orientierten Kunstgeschichte einflussreich. Einer seiner Ausgangspunkte ist die ästhetische Theorie des amerikanischen Pragmatismus, insbesondere das kunstphilosophische Hauptwerk von John Dewey (Art as Experience, 1934), in dem für eine Einbettung der Kunst in den Erfahrungsalltag plädiert wurde. Baxandall zielte mit seiner Studie methodisch darauf ab, die Ansätze der Stilgeschichte (als Untersuchung der epochenspezifischen Kulturformationen) und der kunsthistorischen Sozialgeschichte (als Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Kunstproduktion) zur Synthese zu führen. Im Rahmen dieser Synthese gewinnt der im Titel des Buches annoncierte Erfahrungsbegriff seine Relevanz. Geht es in dem Buch zunächst im ersten Kapitel um die Auftragsbedingungen von Kunst und im dritten Kapitel um ästhetische Kategorien, so wird das Erfahrungskonzept vor allem im zentralen mittleren Kapitel ausgearbeitet, das unter der Überschrift „The period eye“ steht. Hier rekonstruiert Baxandall ein Ensemble von „Erfahrungen“. Gemeint sind damit Wissensvoraussetzungen ebenso wie Lebenspraktiken und Handlungsroutinen damaliger Zeitgenossen: Zum Wissen zählen bestimmte Fertigkeiten im Lesen und Rechnen; zur Lebenspraxis bestimmte Körperbilder; zu den Handlungsroutinen bestimmte Fertigkeiten bei der Qualitätsbeurteilung von Stoffen und Farben, durch die sich besonders die Angehörigen des damaligen Händlermilieus auszeichneten, welche auch als Auftraggeber hervortraten. Baxandall beschreibt auf diese Weise eine ortsund zeitspezifische Mentalität im Sinne einer „general experience“21, bei der davon auszugehen ist, dass sie als ein sozialer, ökonomischer und kultureller Erfahrungshorizont sowohl von den Künstlern als auch den Auftraggebern und den Betrachtern geteilt wurde. Baxandalls Autobiographie besitzt im Zusammenhang der Berufsautobiographien eine mehrfache, beispielhafte Relevanz: In ihr werden nicht nur in expliziter Deutlichkeit und mit außergewöhnlicher Umsicht die Bedingungen des autobiographischen Schreibens bedacht, sondern auch mit dem wissenschaftlichen Schreiben als Teil des Berufs eines Wissenschaftlers verknüpft. Dabei ist der Weg in die Profession hinein das – im vorliegenden Beitrag nicht weiter erörterte – zentrale Thema der Autobiographie. Darüber hinaus ist Erfahrung diejenige Kategorie, welche sowohl in der Autobiographie als auch in der Methodik Baxandalls ausgearbeitet wird. Mit dieser doppelten methodischen Relevanz der Erfahrung konnte Baxandall auf eine nachdrückliche Aufwertung rekurrieren, die der Erfahrungsbegriff gerade seit den 1970er Jahren ,erfahrenʻ hat.

21 Ebd., S. 34.

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II. Für den Beginn des 20. Jahrhunderts war es Walter Benjamin, der in dem 1933 erstmals publizierten Aufsatz Erfahrung und Armut eine Krise der Erfahrung diagnostiziert hat: „Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht so merkwürdig wie das scheint. Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre danach in der Flut der Kriegsbücher ergossen hat, war alles andere als Erfahrung, die vom Mund zum Ohr strömt. Nein, merkwürdig war das nicht. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper. Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen.“

22

Benjamin benennt in der hier ausführlicher zitierten, zentralen Passage seines Essays mehrere Aspekte, die für die Folgegeschichte des Erfahrungsbegriffs relevant sind: Zum einen identifiziert er den Geschichtsbruch des Ersten Weltkriegs auch als einen Erfahrungsbruch, der insbesondere durch die Technologisierung der Moderne erzeugt wurde; zum zweiten benennt er den Erfahrungsbruch als eine Krise der Mitteilung von Erfahrung, mag es sich dabei um direkte oder publizistisch vermittelte Mitteilung handeln; zum dritten beharrt Benjamin jedoch über die historische Distanz zum Ersten Weltkrieg hinweg in seinem 1932 verfassten und im darauffolgenden Jahr publizierten Essay auf der grundsätzlichen Relevanz des Erfahrungsbegriffs, die in dessen Bedeutung als Gegenbegriff zu Phänomenen der Entfremdung in der Moderne beruht; zum vierten konstatiert er unter dem Stichwort der „Flut der Kriegsbücher“ die Verwertung von vermeintlich persönlicher „Erfahrung“ in der Kulturindustrie, also auch im autobiographischen Schreiben.

22 Walter Benjamin, „Erfahrung und Armut“ (1933), in: Ders., Gesammelte Schriften. Werkausgabe Bd. II,1 Essays, Vorträge, Frankfurt am Main 1980, S. 213-219, Zitat S. 214. Zum Erfahrungsbegriff bei Benjamin vgl. Thomas Weber, Erfahrung, in: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hgg.), Benjamins Begriffe, 2 Bde., Frankfurt am Main 2000, Bd. I, S. 230-259.

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In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist es von Seiten der Geschichtswissenschaft vor allem Reinhard Koselleck zu verdanken, dass der Erfahrungsbegriff methodisch restituiert wurde. Koselleck hat in mehreren Aufsätzen Fragestellungen ausgearbeitet, die es ermöglichen, historische Erfahrungsräume zu rekonstruieren und zugleich Erfahrung als politische Kategorie besser zu verstehen. Erfahrung ist demgemäß zuerst ein Paradigma wissenschaftlicher Erkenntnis. Geschichtswissenschaft „ist und bleibt“, so Koselleck „eine Erfahrungswissenschaft“; in der Geschichte verweisen Erfahrung und Erkenntnis aufeinander, „das eine ist ohne das andere nicht zu machen oder zu haben.“23 In seinem klassischen Aufsatz ,Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien von 1975 diagnostiziert Koselleck den Aufstieg von Erfahrung zu einem Grundbegriff der Geschichte und er begründet ihn mit der historischen Akzeleration seit der Französischen Revolution.24 Demgemäß wird Erfahrung als Konstante gesellschaftlicher Selbstvergewisserung kompensatorisch dort notwendig, wo sich im Rahmen der technisch-industriellen und der politisch-gesellschaftlichen Doppelrevolution die Veränderungen lebensweltlicher Gegebenheiten beschleunigen. Dies gilt bereits für die Revolutionsepoche des 19. Jahrhunderts, und diese Funktionalität von Erfahrung bestimmt dann das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Geschichtsbrüche. Als Zeitgenosse dieser Ära geht es bei Koselleck damit notgedrungen auch um den eigenen lebensweltlichen Erfahrungsraum. Das heißt konkret die Auseinandersetzung mit dem „kollektiven

23 Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historischanthropologische Skizze (1988), in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 27-77, hier S. 30. Zum Erfahrungsbegriff bei Koselleck StefanLudwig Hoffmann, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrung bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hgg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt am Main 2011, S. 171-204; Reinhart Koselleck/Carsten Dutt, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013 sowie die Beiträge der beiden Herausgeber in: Hubert Locher/Adriana Markantonatos (Hgg.), Reinhard Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin 2013 (Transformationen des Visuellen Bd. 1). 24 Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien (1975), in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 349-375.

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Trauma“ von Zweitem Weltkrieg und Holocaust. Sie prägen als „zentrale Primärerfahrungen“ die Auseinandersetzung mit Geschichte.25 Damit waren zwei bedeutsame Perspektiven auf den Erfahrungsbegriff eröffnet – auf der einen Seite die einer methodisch rationalisierten Erfahrung, auf der anderen Seite die des lebensweltlichen Zugangs zur Geschichtserfahrung. Ein Bekenntnis zur Erfahrungswissenschaft war in der Nachkriegszeit geradezu ubiquitär geworden. Theodor W. Adorno erhebt in den Minima Moralia (1951), den „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“, den Anspruch, „die Wahrheit übers unmittelbare Leben (zu) erfahren“.26 Für Hannah Arendt bedingen sich Denken und Erfahrung restlos: „Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nachdenken.“27 „Gegenstand unseres Denken“ sei, so Arendt, die „Erfahrung! Nichts anderes!“ 28 Der Essayist Michael Rutschky diagnostiziert etwa gleichzeitig in seinem autobiographischen Rückblick auf die 1970er Jahre unumwunden, dass es damals nicht um die Suche nach Sinn, sondern um Erfahrungshunger, so dann auch der Titel seines Essays von 1980, gegangen sei.29 Geschichtsphilosophie und Popkultur können, wie man sieht, durchaus eine eigensinnige amour fou eingehen. Diese wenigen Belege können als symptomatisch für die eminente Aufwertung des Erfahrungsbegriffs gelten. Erfahrung lässt sich als vergegenwärtigte Vergangenheit verstehen, wobei diese Vergegenwärtigung sowohl unmittelbares sinnliches Erleben als auch spätere reflektierende Synthese des Erlebten voraussetzt. Erfahrung liegt, anders gesagt, sowohl als empirisches Ereignis als auch

25 Reinhart Koselleck, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluss der beiden Weltkriege auf das soziale Bewusstsein, in: Ders., Zeitschichten (wie Anm. 23), S. 265-284, hier S. 275. 26 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt am Main 1981, S. 7. 27 Hannah Arendt, Gespräch mit Günter Gaus (Oktober 1964), in: Dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Mit einer vollständigen Bibliographie, hg. von Ursula Ludz (zuerst 1996), München/Zürich 62013, S. 46-72, hier S. 69. Vgl. auch Claudia Althaus, Erfahrung und Denken bei Hannah Arendt, Göttingen 2000. 28 Hannah Arendt, Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto (November 1972), in: Arendt (wie Anm. 27), S. 73-115, hier S. 81. 29 Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre, Frankfurt am Main 1980.

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als Erzählung, als fiktionaler Diskurs vor. 30 Dieser schillernde Status wirft von mehreren Seiten her ein paar systematische Nachfragen auf, die notgedrungen auch für Erfahrungsberichte in Autobiographien relevant sind. Die Probleme können thesenhaft folgendermaßen benannt werden31: •





Erfahrung ist ein problemorientiertes Argument. Erfahrungen werden als resümierender Rechenschaftsbericht von Erlebtem erst „gemacht“, wenn sie gebraucht werden. Dies ist auch beim Schreibanlass für eine Autobiographie der Fall: Gemäß den Vertragsreglements der Textgattung wird die Dokumentation von Erfahrung vom Autor verlangt und Erfahrungsnachweis wird auch vom Leser nachgefragt. Erfahrung ist ein normatives Argument. Durch sie lässt sich, wie es auch in Autobiographien geschieht, Handeln mehr oder minder erfolgreich begründen und rechtfertigen. Das setzt natürlich voraus, dass Handeln überhaupt gerechtfertigt werden muss, was wiederum heißt, dass auch Handlungsalternativen mit gedacht werden können. Erfahrung ist ein empirisches Argument. Gerade im Rahmen von sich immer schneller verändernden Gesellschaften mit immer weniger durchschaubaren Institutionen und schwerer verständlichen technischen Systemen verschwindet einerseits Erfahrung als sinnliches Erleben zusehends. Andererseits wird sie dadurch aber auch aufgewertet. Der Experte gewinnt als Hüter von Erfahrung einen maßgeblichen Rang. Die Nachfrage nach Autobiographien begründet sich daher aus der empirischen Knappheit von Erfahrung und aus dem Glauben an die Expertise gleichermaßen. Verlangt wird Insider-Wissen.

30 Hierzu auch allgemein aus erzähltheoretischer Sicht Fritz Breithaupt, Kultur der Ausrede, Berlin 2012, bes. S. 189f. 31 Zum folgenden grundlegend der Sammelband André Brodocz (Hg.), Erfahrung als Argument. Zur Renaissance eines ideengeschichtlichen Grundbegriffs, Baden-Baden 2007, dem der vorliegende Beitrag auch seinen Titel verdankt. Weiterhin neben der in den vorherigen Anmerkungen genannten Literatur, die allesamt das eminente Interesse am Erfahrungsbegriff belegen, auch Odo Marquard, Krise der Erwartung – Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes (1982), in: Ders., Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Stuttgart 1994, S. 72-92; Günther Böhme/Klaus Karl Potyka, Erfahrung in Wissenschaft und Alltag. Eine analytische Studie über Begriff, Gehalt und Bedeutung eines lebensbegleitenden Phänomens, Idstein 1995; Andreas Kraft u.a. (Hgg.), Erfahrung, Erzählung, Identität, Konstanz 2009.

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III. Diese systematischen Argumente sind alles in allem auch für Berufsautobiographien gültig. Doch bedarf es im Einzelfall immer einer genaueren Einjustierung der Perspektive, und das soll in einem dritten Schritt mit Überlegungen zur Autobiographie eines Architekten unternommen werden. Der unter dem Titel The Autobiography of an Idea erschienene Lebensbericht des amerikanischen Architekten Louis Henri Sullivan (1856-1924) gehört in vielerlei Hinsicht zu den bedeutendsten Architektenautobiographien.32 Das begründet sich zunächst aus dem Rang des Verfassers als einem der Wegbereiter der modernen Architektur. Erschienen zunächst als Vorabdruck in einer Architekturzeitschrift und dann als Buch 1924 postum im Todesjahr des Architekten, zählt Sullivans Autobiographie darüber hinaus zu den Modelltexten dieser speziellen Sparte der Berufsautobiographie im 20. Jahrhundert. Dies betrifft in erster Linie dessen bloße Existenz. Damit ist keineswegs gemeint, dass spätere Architekten das durchaus sperrige, sonderbar einzelgängerische Buch auch gelesen hätten. Bei Sullivans Autobiographie handelt es sich um das ausgesprochen theoretisch fundierte Werk eines Autors, der sich auch mit anderen Beiträgen in der Architekturtheorie zu Wort gemeldet hat. Ein intertextueller Zugang zum Buch, der zwischen Sullivans Autobiographie und seiner Architekturtheorie vermittelt, erscheint daher als unabdingbar. Das Buch schildert die Lebensgeschichte des 1856 geborenen Architekten von der Kindheit bis zum Beginn des Berufslebens. In dieser chronologischen Beschränkung gleicht es der Autobiographie Baxandalls. Die Erzählung setzt im Jahr 1861 ein, als Sullivan fünf Jahre alt ist und bei den Großeltern aufwächst, und sie endet mit dem Jahr 1880, als er in Chicago mit Dankmar Adler sein erstes, immens erfolgreiches Büro gründete. Von den zwei als Appendices ans Ende gerückten Kapiteln beinhaltet eines aphoristische Reflexionen und Lektüreerlebnisse, während das letzte Kapitel einen Ausblick auf die Jahre bis etwa 1910 gibt. Das Buch ist in der dritten Person geschrieben, wobei sich der Autor gelegentlich beim Namen nennt, meistens spricht er von sich wahlweise als „narrator“, „chronicler“, „child“ oder als „our poet“.

32 Louis Sullivan, The Autobiography of an Idea, in: Journal of the American Institute of Architects 10/11, 1922/23. Buchausgabe New York 1924, hg. von Ralph Marlowe. Ein seitenidentischer Nachdruck der Erstausgabe 1924 erschien in New York 1956, davon mehrere Nachdrucke; im Folgenden wird nach dem Nachdruck New York 2009 zitiert. Zu Sullivans Autobiographie liegt weder eine wissenschaftliche Ausgabe noch, soweit ich sehe, spezielle Literatur vor; auf die Autobiographie wird nur in der umfangreichen monographischen Literatur zu dem Architekten Bezug genommen.

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In der paradoxen Formulierung des Titels steckt auch das Programm des Buches, das sich damit als gleichermaßen paradox ausnimmt, denn annonciert wird die „Autobiography of an Idea“. Die Idee ist nichts anderes als Sullivans berühmte architekturtheoretische Maxime „form ever follows function“. Ein gedankliches Konstrukt, also eine Idee, wird schon durch den Buchtitel mit einer zweifachen personalen Zuschreibung bedacht. Behauptet wird nicht nur, dass eine Idee eine Lebensgeschichte besitzt, sondern dass sie auch zu einer Mitteilung in der Form einer autopoetischen Selbstdeklaration befähigt ist. Eine Auflösung dieser für sich genommen nicht unerheblichen Paradoxien liefert der Autor, indem er sich selbst in seiner Lebensgeschichte als Personifikation dieser Idee darstellt. Im Rahmen dieser poetischen Konstruktion gewinnt auch die Erfahrung ihren eigenen Status in dem Buch. Einzelne Erfahrungen werden gleichsam zu Attributen eines Autors, der sich als Personifikation einer Idee stilisiert. Sullivans Autobiographie ist eine Erfahrungsgeschichte, aber Erfahrung wird in dem Buch durchgängig in einer poetisch-gleichnishaften Szenerie geschildert, damit sie als architekturtheoretisches Argument zur Verfügung steht. Das Buch beginnt im Märchenton: „Once upon a time there was a village in New England called South Reading.“33 Der fünfjährige Louis Sullivan war zu den Großeltern in Obhut gegeben worden, die auf eine Farm in der Nähe von Boston lebten – „and so was the farm proper to its time and place.“34 Im kindlichen Ungestüm ist schon das professionelle Naturell des Architekten angelegt, und so liest man gleich auf der ersten Seite die entsprechende Maxime als Ankündigung von Durchsetzungswillen und Schöpfertum – nicht Zerstörung ist die Neigung, sondern deren Gegenteil, das Erschaffen: „The peculiar kink in this little man’s brain, however, was this: he had no desire to destroy – except always his momentary mortal enemies. His bent was the other way.“ 35 Die Mutter war Klavierlehrerin und der Vater war Tanzlehrer, von ihm stammt der Sinn für Schönheit – „the art of dancing was a fine art of symmetry, of grace, of rhythm“36 – und vom romantischen Geist („romantic quest“) des Vaters „a hunger for Nature’s beauty“.37 Das Kind erfährt sich als Medium einer äußeren und einer inneren Welt: „A continuous breaking in from the outside and breaking out from the inside was to shape his destiny.“38 Der Transportverkehr auf der Straße

33 Sullivan (wie Anm. 32), S. 1. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 14. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 17.

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und die Arbeitsabläufe auf einer Baustelle erscheinen ihm als „drama of things being done“39, als Sinnbilder eines „budding sense of orderly power. Indeed, the rhythm of it all!“40 An späterer Stelle beschreibt Sullivan die Arbeitsabläufe in einer Werft, wobei ihm aber die „power of concerted action“ noch verschlossen bleibt.41 Die Schule hat demgegenüber wenig zu bieten, sie lässt bloß seine Fähigkeiten verkümmern, bringt seine Wissbegierde zur Ermattung, verkennt seine Phantasie und seine angeborene Teilnahme („his native sympathy“ 42). Diese „native sympathy“ gilt in erster Linie der Natur. Sullivans Autobiography of an Idea widmet sich beinahe Seite für Seite der Beschreibung von einzelnen Phänomenen in der Natur. Sie gelten dem Mond mit den davor vorbeiziehenden Wolken, dem Schneefall, der Schilderung des Wechsels der Jahreszeiten, der Betrachtung der Sternbilder, von Sonnenauf- und -untergängen. .Immer wieder gibt es die Beschreibung von Bäumen, eine riesige Esche auf dem Schulweg wird als „his Great Friend“43 tituliert, eine Ulme als Bild der Anmut: „but such slender grace he had never seen. Her beauty was incomparable.“44 Es ist auffällig, dass die Wahrnehmung von Gebäuden in den ersten Kapiteln des Buches fast keine Rolle spielt. Bauten werden genannt, aber nicht beschrieben. Umso markanter treten zwei Episoden hervor, in denen die eigenhändige Errichtung von Bauwerken geschildert wird. Dabei handelt es sich um eine steinerne Feldmauer auf dem Farmgelände 45 und um einen aus Ästen und Sand konstruierten Damm, den der Junge während der Ferien anlegt.46 Beide Male ist Architektur eine Hervorbringung der Natur, die – zumindest fiktiv – zugleich der Kultivierung der Natur und der Erschließung des Landes dient. Bei den Erfahrungen, die von Sullivan für die Kindheit und die Zeit als Jugendlicher geschildert werden, handelt es sich, das deutet diese kurze Übersicht über die Erzählmotive des Buches an, um Naturerfahrungen. Soziale Erlebnisse im Sinn von Begegnungen und anderen kommunikativen Situationen treten demgegenüber völlig zurück. Familiale Erfahrung spielt nur als ,Anlageʻ oder ,Prägungʻ eine Rolle, etwa die Musikalität der Eltern, werden aber kaum aus

39 Ebd. 40 Ebd., S. 18. 41 Ebd., S. 87. 42 Ebd., S. 24. 43 Ebd., S. 29. 44 Ebd., S. 64. 45 Ebd., S. 32f. 46 Ebd., S. 55f.

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konkreten Erlebnissen begründet. Erst gegen Ende des Buches gibt es Schilderungen von beruflichen Kontakten. Es sei hier nur am Rande vermerkt, dass Sullivan unverkennbar entscheidende Inspirationen für seine Naturschilderungen in der Autobiographie den Werken der amerikanischen Transzendentalisten, insbesondere Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, verdankt. Dem zweiten Kapitel ist darüber hinaus ein Vers aus Walt Whitmans Gedichtsammlung Leaves of Grass vorangestellt.47 Weiterhin finden sich Glorifizierungen der „boyhood-integrity“ in den Erzählungen von Mark Twain (u.a. den Tom Sawyer-Abenteuern, zuerst 1876), in der weit verbreiteten Autobiographie von Henry Adams (The Education of Henry Adams, zuerst 1905) und sie wirken noch in der Figur des Tramp in den Filmen von Charlie Chaplin nach. Doch Sullivan führt diese Traditionen weiter, indem er die Naturerfahrung der Kindheit für architekturtheoretische Inhalte und professionelle Bedarfslagen ummünzt. Sullivan dient die Natur als Medium der Versöhnung zwischen den beiden Polen von Instinkt und Intellekt. Dieser Konflikt wird leitmotivisch mehrfach in dem Buch angesprochen. Bezogen auf die Kindheit bleibt er zunächst noch offen: Als Kind habe er noch „in a world of instinct“ gelebt, wohingegen der „intellect“ noch für die präzise Beobachtung der Umgebung nützlich gewesen sei: „As a matter of fact Louis was living almost wholly in the world of instinct. Whatever there was of intellect consisted in keen accuracy observation, and livliest interest in all constructive affairs. Without reflection he admired work. To see men at work, and himself at work, especially if he could participate, was his childish joy.“48 Doch an späterer Stelle, gegen Ende des Buches, formuliert Sullivan den Antagonismus mit definitorischem Anspruch: „The living relationship of Intellect and Instinct has far too long been overlooked. For Intellect is recent, and neuter, and unstable in itself, while Instinct is primordial and procreant: It is a power so vast, so fathomless, so omnipresent, that we ignore it; for it is the vast power of all time that sleeps and dreams; it is that power within whose dream we dream, – even as in our practical aspect, our hard headed, cold-bloodes, shrewd, calculating suspicious caution we are most obviously dreamers of turpid dreams, for we have pinned our faith to Intellect; we gaze in lethal adoration upon a reed shaken by the wind.“49

47 Walt Whitmans Leaves of Grass erschienen ab 1855 in mehrfach veränderten Ausgaben, 1891-92 in einer letzten Ausgabe zu Lebzeiten. Sullivan zitiert als Motto zum 2. Kapitel den Beginn von Nr. 103: „There was a child went forth every day.“ 48 Sullivan (wie Anm. 32), S. 62. 49 Ebd., S. 187f.

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Sullivan versteht nun unter „instinct“ das Prinzip von Imagination und Kreativität, während er den Intellekt der Sphäre der Theorie nachordnet, der „Intellekt“ sei nur wie ein Windstoß im Schilf. Es ist eine Polarität mit einer klaren Priorität. Sie verweist zurück auf den Titel von Sullivans Autobiographie, wo sie mit der paradoxen Formulierung der „Autobiography of an Idea“ bereits angesprochen ist. Die Lektüre des Buches macht verständlich, dass Autobiographie und Idee, Lebendiges und Gedachtes als Prinzipien des Schöpferischen zur Symbiose gebracht werden sollen. Es ist wenig überraschend, dass mit der „Idee“ konkret die von Sullivan wenn nicht erfundene, so doch begründete und später als Schlachtruf der Moderne berühmt gewordene Maxime „form ever follows function“ gemeint ist. Bemerkenswerterweise kommt Sullivan in der Autobiographie nur in einer kurzen und durchaus dunklen und schwer verständlichen Passage darauf zu sprechen. Er berichtet von einem Gespräch mit John Edelman 50, einem damaligen Mitarbeiter im Architekturbüro von William Le Baron Jenney in Chicago, das ihn auf die Spur des Funktionsprinzips geführt habe. Ausgangspunkt ist Edelmans Überlegung in Bezug auf „unterdrückte Funktionen“, wobei bis heute rätselhaft geblieben ist, was damit gemeint sein soll. Sullivan berichtet von dem Gespräch Folgendes: „One day John explained his theory of suppressed functions; and Louis, startled, saw in a flash that this meant the real clue to the mystery that lay behind the veil of appearances. Louis was peculiarly subject to shock from unexpected explosion of a single word; when the word ,function‘ was detonated by the word ,suppressed‘, a new, an immense idea came suddenly into being and lit up his inner and his outer world as one. Thus, with John’s aid, Louis saw the outer and the inner world more clearly, and the world of men began to assume the semblance of form, and of function.“51

Sullivan schildert die Unterhaltung als eine Art Erweckungserlebnis. Die Maxime „form ever follows function“ wird jedoch in der Autobiographie an keiner anderen Stelle mehr erwähnt und damit auch nicht weiter erläutert. Das hatte Sullivan bereits in einem Aufsatz von 1896 mit dem Titel The Tall Office Building Artistically Considered52 getan. Er beschreibt hier das Großstadtmilieu, das

50 Zur Person Charles E. Gregersen, Louis Sullivan and his Mentor, John Herman Edelmann, Architect, New York 2013. 51 Sullivan (wie Anm. 32), S. 207. 52 Louis Sullivan, „The Tall Office Building Artistically Considered“, in: Lippincott’s Magazine 57, march 1896, S. 403-409; mehrfach wiederabgedruckt u.a. in Ders., The

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den „true normal type“ des Bürohochhauses in der Großstadt hervorbringt. Der Typus wird vom geschäftlichen Bedarf, den örtlichen Baugesetzen, den neuen konstruktiven Verfahrensweisen des Skelettbaus, den speziellen Raumprogrammen und von den Notwendigkeiten des architektonischen Ausdrucks geschaffen. Der Bedarf an speziellen Räumen ist also nur eine einzelne Funktion, dem das Gebäude Rechnung zu tragen hat. Der Architekt bringt laut Sullivan dann in Kenntnis dieser „Funktionen“ die „Form“ in einem „instinktiven“ schöpferischen Akt hervor. So ist Sullivans notorische, im Text wie ein Refrain mehrmals wiederholte Leitformel seines Essay „form ever follows function“ zu verstehen. Dabei ist entscheidend, dass Sullivans Theorie nicht nur vom älteren Transzendentalismus, sondern auch von der aktuellen Evolutionstheorie Charles Darwins und der Milieutheorie Hippolyte Taines inspiriert wurde. Das Bauwerk ist, wie das Lebewesen, in seiner funktionalen wie formalen Ausstattung ein Produkt seiner Umwelt, also, wie gesagt, des Immobilienmarktes, der Baugesetze, der technischen Standards und der logischen Form. Architektur wird unter die Gesetze der Evolutionstheorie gestellt, und damit wird auch für die Moderne ein zentrales Argument geliefert: Der Begriff der Geschichte ist durch den Begriff der Evolution abgelöst. Die Architektur der Moderne legitimiert sich – das ist Sullivans architekturtheoretische Behauptung – nun nicht mehr aus kontingenten geschichtlichen Vorgängen und historischen Vorbildern, sondern aus evolutionär zwangsläufigen Prozessen und aus der Logik des naturalen und gesellschaftlichen Milieus. 53 Sullivans Lebensschilderung ist komplementär zu diesem Theorem konstruiert. Die ästhetische Fiktion seines Buches – das ist Sullivans autobiographische Behauptung – besteht darin, dass auch die Kreativität des Architekten kein Derivat der Erziehung und nichts Sekundäres ist, sondern etwas Primäres, das aus der Naturerfahrung hervorgegangen ist. Wird das Bauwerk in Sullivans Aufsatz The Tall Office Building als vitalistisch gedachtes, ,lebendigesʻ Produkt eines Milieus beschrieben, so schildert sich Sullivan analog dazu in seiner Autobiographie als de-

Public Papers, hg. von Robert Twombly, Chicago/London 1988, S. 103-113; vgl. auch Christian Scholl, Determination als Utopie. Louis Sullivan und das Problem der Formfindung für die Wolkenkratzerfassade, in: Anke Köth/Kai Krauskopf/Andreas Schwarting (Hgg.), Building America 3. Eine große Erzählung, Dresden 2008, S. 2546. 53 Vgl. hierzu auch Dietrich Erben, Der Renaissancehumanismus und die Idee einer „humanen Architektur“. Florenz als Gründungsort in der Architekturgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Maha El Hissy/Sascha Pöhlmann (Hgg.), Gründungsorte der Moderne, München 2014, S. 251-271, bes. 254f.

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terministische Hervorbringung seiner Umwelt. In Sullivans Autobiographie wird das eigene Leben gleichsam zu einem Präparat, das der Architekturtheorie des Autors Beweiskraft verleihen soll. Dabei erwacht die Person durch „instinct“ und „intellect“ zu eigenem Selbstbewusstsein. Mag man sich nochmals auf die oben angeführte Klassifizierung beziehen, so erscheint Erfahrung auch in Sullivans Autobiographie in vielfältigen argumentativen Funktionen. Sie erscheint als problemorientiertes Argument, indem sie auf die architekturtheoretischen Problemstellungen des Autors ausgerichtet wird und von dort einen Teil ihrer Begründung erhält. Die emphatische Aneignung der Natur durch den Protagonisten bezeugt nicht nur dessen Zugehörigkeit zur Natur, sondern weist dem Architekten auch die Bedeutung eines Exempels für seinen architekturtheoretischen Grundgedanken zu. Erfahrung erscheint als normatives Argument, indem lebensgeschichtliches Handeln aus ihr seine innere Kohärenz erhält. Und schließlich erscheint sie als empirisches Argument. In der Ära radikaler ingenieurmäßiger Technisierung der Architektur unternimmt Sullivan noch einmal die Anstrengung, an der Erfahrung als sinnlichem Erleben festzuhalten. Dabei nimmt aber Sullivan für sich gerade nicht die Rolle des technokratischen Experten in Anspruch, sondern beharrt auf den erfahrungsmäßigen Grundlagen seiner Profession. Der Architekt spricht nicht nur eine Theorie aus, sondern ist in seiner Erfahrung gleichsam durch sie hindurch gegangen. Sullivans Buch zeigt, dass professionalisierte Erfahrung, die ja der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war, einen ganz eigenen poetischen und inhaltlichen Status als Argument gewinnen kann.

„Ihr ganzes Leben lang sind Menschen Plänemacher. Ich bin einer von Beruf.“ Beschreibungen von Kreativität und kreativem Handeln in Architektenautobiographien T OBIAS Z ERVOSEN

E INLEITUNG „Ihr ganzes Leben lang sind Menschen Plänemacher. Ich bin einer von Beruf“.1 Mit diesen Worten beginnt der aus Österreich stammende und seit den 1920er Jahren in den Vereinigten Staaten tätige Architekt Richard Neutra seine 1962 erschienene Autobiographie Auftrag für morgen. Sicherlich unbeabsichtigt sind diese beiden kurzen Sätze von einer gewissen Doppelbödigkeit. Einmal nämlich scheinen sie ein durchaus naheliegender Auftakt zu einer Lebensbeschreibung zu sein, die Neutras Tätigkeit als Plänemacher, d.h. als Architekt, in den Mittelpunkt rückt. Zum anderen aber könnte man sie auch als Hinweis darauf verstehen, dass das dem Architekten gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangene Plänemachen vor der Autobiographie nicht Halt machen wird. Sie weisen damit auf ein Dilemma hin, mit dem sich jede wissenschaftliche Beschäftigung mit autobiographischen Texten konfrontiert sieht. Wie andere Autobio-

1

Richard Neutra, Auftrag für morgen, Hamburg 1962, S. 7. Bei diesem Buch handelt es sich um die durch Neutra mit erstellte und autorisierte deutsche Fassung seiner zunächst auf Englisch erschienenen Lebensbeschreibung (Ders., Life and Shape, New York 1962).

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graphinnen und Autobiographen2 betont auch Neutra nämlich ausgewählte Aspekte des eigenen Lebens und seiner Berufstätigkeit, blendet andere jedoch absichtlich aus; er gibt Erinnerungen aus einer subjektiven Perspektive wieder, verfälscht diese Erinnerungen bewusst oder unbewusst und ist auch dabei persönlichen Interessen und Zielen verpflichtet; und wie andere Autoren entwickelt er seine Erzählungen entlang etablierter Gattungskonventionen und damit verbundener Erwartungshaltungen, die ihrerseits auf die Art und Weise, wie Lebenswirklichkeit rückblickend geschildert wird, Einfluss nehmen. Versteht man literarische Gattungen nämlich grundsätzlich als durch konventionelle Darstellungsweisen bestimmte und letztlich fast schon institutionalisierte Formen schriftlicher Äußerungen, so sind damit auch bestimmte inhaltliche und erzählerische Modelle vorgegeben, an denen sich die Autoren bis auf Ausnahmen mehr oder weniger stark orientieren.3 Sogar Roland Barthes Autobiographie Roland BARTHES par roland barthes unterläuft zwar formal wie inhaltlich alle aus der klassischen Autobiographik vertrauten Formen des Erzählens, bezieht sich damit aber immer noch – wenn auch ex negativo – auf die Gattungstradition.4 Vieles spricht also dafür, dass Autoren den über die Gattungen vorgegebenen Mustern des Erzählens kaum entkommen können und wollen. Ohne jede Einschränkung gilt somit auch für die Autobiographie, was sich genauso für andere künstlerische Selbstzeugnisse, etwa für Selbstporträts, sagen lässt: Man muss sich als Leser und auch als Forscher in den „Irrgärten von Autor und Werk, von Künstlerperson und Publikum, von Sein und Schein, von Anschauung und Sprache“ 5 zurechtfinden. Oder aber mit anderen Worten: Wie andere Forschungsquellen müssen Autobiographien in gleichem Maße kontextualisiert sowie mit kritischer Distanz reflektiert und interpretiert – man könnte auch sagen: ,gegen den Strich gebürstetʻ werden. Wenn im Rahmen dieses Aufsatzes Überlegungen dazu angestellt werden, auf welche Weise Architektenautobiographien über Kreativität und kreatives

2

Im Folgenden wird aus Gründen der Einfachheit durchweg die männliche Form verwendet, Autobiographinnen und Autorinnen sind dabei jedoch stets gleichermaßen gemeint.

3

Hierzu auch Wilhelm Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, in: Walter Hinck (Hg.), Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 2744.

4

Roland Barthes, Roland Barthes par Roland Barthes, Paris 1975. S. hierzu auch den

5

Ulrich Pfisterer/Valeska von Rosen (Hgg.), Der Künstler als Kunstwerk. Selbstpor-

Beitrag von Christine Tauber in diesem Band. träts vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 2005, S. 11.

K REATIVITÄT

UND KREATIVES

H ANDELN IN A RCHITEKTENAUTOBIOGRAPHIEN

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Handeln sprechen, so kann dies ebenfalls nur vor dem Hintergrund dieses gerade geschilderten Dilemmas geschehen. Ausgegangen wird also von der Grundannahme, dass der autobiographische Text nicht so sehr Einblick in den tatsächlichen kreativen Prozess gibt, sondern kreatives Handeln aus bestimmten Gründen und mit bestimmten Zielen auf eine bestimmte Art und Weise beschreibt. Die Frage, was Architekten unter Kreativität verstehen und wie sie darüber in ihren Autobiographien berichten, ist dabei eng mit dem beruflichen Selbstverständnis der Autoren verknüpft. Ein Architekt wie Elias Holl, dessen berufliche Lebenswirklichkeit im Augsburg des 17. Jahrhunderts nach wie vor durch das Zunftsystem bestimmt ist, wird über seine Arbeit anders berichten 6 als seine vielen Kollegen, die seit dem späten 19. Jahrhundert als freie Architekten in Wettbewerb zueinander treten und für die Kreativität, wie weiter unten noch genauer dargestellt werden soll, überhaupt erst zu einer wesentlichen Kategorie beruflicher Profilierung wird. Beschreibungen kreativen Handelns illustrieren also immer auch berufspolitische Standpunkte der Autoren und stellen berufspolitische Argumente dar. Das Sprechen über Kreativität dient in Autobiographien somit nicht zuletzt dazu, sich selbst in eine spezifische Traditionslinie des Architektenberufs einzuschreiben, unterschiedliche Berufsprofile zu konturieren und weiter zu festigen. Der Blick auf Beschreibungen von Kreativität und kreativem Handeln in Architektenautobiographien bündelt damit nochmals wie in einem Brennglas die leitende Fragestellung des vorliegenden Tagungsbandes: wie nämlich autobiographisches Schreiben auf der einen und Professionsgeschichte sowie Professionalisierungsprozesse auf der anderen Seite miteinander verknüpft sind.

E NTWERFEN

ALS

B AUSTEIN KREATIVEN H ANDELNS

Die Frage, was genau unter Kreativität und kreativem Handeln zu verstehen ist, kann nach wie vor als weitgehend ungeklärt gelten. Sehr viel mehr wissen wir inzwischen hingegen über das Entwerfen und damit jene Kulturtechnik, über die sich Kreativität im Bereich von Architektur und Städtebau in erster Linie äußert. In diesem Feld ist gerade in den letzten Jahren intensiv und vielfältig geforscht worden. Dabei handelt es sich vor allem um Ergebnisse einer reflexiven Entwurfsforschung, die sich nicht mit einem bloßen Blick auf die mit dem Ent-

6

Vgl. die Neuedition in: Eva Haberstock, Der Augsburger Stadtwerkmeister Elias Holl (1573-1646). Werkverzeichnis (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Augsburg Bd. 7), Petersberg 2016, S. 39-86.

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wurfsprozess verknüpften Produkte (Skizzen, Zeichnungen, Modelle u.ä.) zufriedengibt, sondern die zuallererst nach den Voraussetzungen und Bedingungen ihres Entstehens fragt.7 Entwerfen wird dabei als eine „hochkomplexe Tätigkeit“8 begriffen, auf die eine Vielzahl von Faktoren Einfluss hat. Große Bedeutung wird dabei dem so genannten impliziten Wissen beigemessen, wozu u.a. körperliche Erfahrungen, persönliche Erinnerungen und fragmentarisch abgespeicherte Bilder gehören.9 Angenommen wird, dass im Entwurf immer wieder und vorrangig auf diese Wissensbestände zurückgegriffen wird, indem Intentionalität bewusst abgeschwächt und durch ein freies Assoziieren ersetzt wird.10 Auf diese Weise soll das Un(ter)bewusste, als Stimmung Erlebte und bruchstückhaft Erinnerte abgerufen und aktiviert werden. Rasch ablaufende Prozesse und Tätigkeiten, also etwa das freie Skizzieren oder das rasche zu Papier bringen von Gedanken und Ideen sind Mittel, die in diesem Zusammenhang zum Einsatz kommen. Darüber hinaus hat sich die Forschung intensiv mit jenen Objekten beschäftigt, auf die im Rahmen des Entwurfs zurückgegriffen oder mit denen ganz unmittelbar gearbeitet wird. Zu nennen sind hier auf der einen Seite Werkzeuge, technische Geräte und Computersoftware – von Stift und Papier über Hilfsmittel, die beim Modellbau zum Einsatz kommen bis hin zu Rendering- und CAD-Programmen. All diese physisch greifbaren oder auch nur virtuellen Werkzeuge sind aus Sicht der Entwurfsforschung als eigenständige Akteure innerhalb des Entwurfsvorgangs zu sehen. 11 Sie dienen demnach nicht nur dazu, Entwürfe zu konkretisieren und für andere anschaulich, mithin also das mental Verfertigte sichtbar zu machen; als mediale Erweiterungen des Körpers im Sinne der Embodiment- und Extended-Mind-Theorie haben sie vielmehr auch

7

Hierzu auch Sabine Ammon/Eva-Maria Froschauer, Zur Einleitung: Wissenschaft Entwerfen. Perspektiven einer reflexiven Entwurfsforschung, in: Dies. (Hgg.), Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, Basel 2011, S. 15-44.

8

Ebd., S. 18.

9

Hierzu Thomas H. Schmitz/Hannah Groninger, Über projektives Denken und Machen, in: Dies. (Hgg.), Werkzeug – Denkzeug. Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse, Bielefeld 2012, S. 19-30, hier S. 21f.

10 Vgl. hierzu Barbara Wittmann, Symptomatologie des Zeichnens und Schreibens. Verfahren der Selbstaufzeichnung, in Dies. (Hg.), Spuren erzeugen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung, Zürich/Berlin 2009, S. 7-19, hier S. 13. 11 Hierzu u.a. Schmitz/Groninger (wie Anm. 9) und Ammon/Froschauer (wie Anm. 7), dort u.a. auch der Beitrag von Susanne Hauser, Verfahren des Überschreitens. Entwerfen als Kulturtechnik, S. 363-381.

K REATIVITÄT

UND KREATIVES

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auf durchaus eigenständige und unmittelbare Weise Anteil am Entwurfsvorgang selbst, der eben nicht mehr nur als ein rein geistig ablaufender Prozess, sondern ebenso sehr als etwas durch den Körper Beeinflusstes verstanden wird. 12 Vergleichbares scheint darüber hinaus auch für die Tätigkeit des Sammelns und den Aufbau von Sammlungen zu gelten. Beides kann sich zum einen bereichernd auf Phantasie und mentale Bildwelten auswirken und damit den Bestand impliziten Wissens erweitern. Zum anderen aber können Sammlungsgegenstände auch ganz konkret Hilfsmittel sein, die Analogiebildungen anregen oder ein modellhaftes Ausprobieren zulassen.13 Auch wenn es nach wie vor daran fehlt, solche Einzelbausteine des Entwurfs zu einem übergreifenden Konzept und Modell kreativen Handelns von Architekten zu verbinden, das beispielsweise auch Erfolg oder Misserfolg im Umgang mit diesen Instrumenten zu erklären imstande wäre oder aber auch weitere Elemente kreativen Handelns wie kollegialen Austausch, Netzwerktheorien o.ä. berücksichtigen würde: All diese Überlegungen und Forschungsergebnisse haben zu einem enormen Erkenntnisgewinn geführt, wenn es um eine genauere Erklärung all dessen geht, was das Entwerfen und den Entwurfsprozess ausmacht. In Architektenautobiographien ist von alledem jedoch nur sehr eingeschränkt und allenfalls inselhaft die Rede. Grosso modo scheint stattdessen – wie eine umfangreichere Sichtung des Materials ergeben hat – die Regel zu sein, dass der Künstler wie auch der Architekt kaum Interesse daran hat, „die Genese seines Werkes detailliert offen zu legen und ihm damit die Aura des Geheimnisses zu nehmen.“14

12 Hierzu u.a. Rebekka Hufendiek, Draw a distinction. Die vielfältigen Funktionen des Zeichnens als Formen des Extended Mind, in: Ulrike Feist/Markus Rath (Hg.), Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp, Berlin 2012, S. 441-465. 13 Hierzu Eva-Maria Froschauer, Jäger, Sammler, Architekten. Oder, wie „kolligierende Prozeduren“ des architektonischen Entwerfens beschrieben und erforscht werden können, in: Ammon/Froschauer (wie Anm. 7), S. 49-68. 14 Adrian von Buttlar, Entwurfswege in der Architektur, in: Ralph Johannes (Hg.), Entwerfen. Architektenausbildung in Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Geschichte, Theorie, Praxis, Hamburg 2009, S. 103-119, hier S. 119.

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Z UM B EGRIFF UND K ONZEPT

VON

K REATIVITÄT

Dies hängt jedoch nicht zuletzt, wie im Rahmen des vorliegenden Beitrages anhand ausgewählter Architektenautobiographien gezeigt werden soll, mit der historischen Genese des Kreativitätsbegriffs und -konzepts selber, man könnte auch sagen: mit dessen Problematik zusammen. Schon an dieser Stelle zeigt sich nämlich, dass dieser Begriff keineswegs mit dem Entwerfen und dem Entwurfsvorgang gleichgesetzt werden kann, sondern ebenso auf weit darüber hinausreichende ideen- und gesellschaftsgeschichtliche Dimensionen verweist. Begriff und Konzept von Kreativität haben sich erst im Zuge der Neuzeit entwickelt.15 Mit René Descartes und im Gefolge der Aufklärung konnte sich der Rationalismus als beherrschendes Paradigma des Denkens und Handelns durchsetzen. Damit verbunden etablierte sich ein Gesellschaftsmodell, das auf dem bürgerlichen Konzept von Bildung und Erwerbsarbeit basierte. Kreativität spielte in diesem Bereich nur eine äußerst untergeordnete Rolle. Sie wurde zwar als Fähigkeit verstanden, dynamisch Neues hervorzubringen, blieb aber weitgehend auf die Sphäre künstlerisch-schöpferischer Arbeit beschränkt. Kreativität wurde damit also in einen Bereich ausgelagert, den Alexander Baumgarten und Edmund Burke als das Feld des Ästhetischen absteckten, um ihn vom bürgerlichen Selbstverständnis und seiner zweckrationalistischen Weltanschauung abzugrenzen. Die Folge war ein bipolares Modell: Rationalistisches Vernunftdenken und bürgerliche Erwerbsgesellschaft auf der einen Seite, Antirationalismus und ein auf soziale und kulturelle Nischen beschränkter Bereich des Ästhetischen und Kreativen auf der anderen Seite. Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Figur des Künstlers. In ihr bündelte sich gewissermaßen jene Vorstellung von einem schöpferisch Neuen, das mit Kreativität und kreativem Handeln gleichgesetzt wurde. Künstlerische Arbeit und Künstlertum wurden dabei zunächst sogar regelrecht auratisiert, indem der Künstler nicht nur als Schöpfer von ästhetisch Neuem beschrieben, sondern sogar als Originalgenie verklärt wurde. Gekoppelt war und ist daran teilweise bis heute zudem ein spezifisches Verständnis künstlerischer Arbeit und künstlerischen Handelns. Weist schon die Rede vom künstlerisch Neuen der ,inventioʻ eine wesentlich größere Rolle als der ,imitatioʻ zu, so gilt das umso mehr mit Blick auf die Vorstellung von einem das Künstlerische hervorbringenden Genie.16 Aus Nachahmungs- wurde nunmehr Genieästhetik, im

15 Zum Folgenden ausführlich Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 42014, hier insbesondere S. 9-33. 16 Vgl. ebd., S. 61.

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Mittelpunkt stand die ständige ästhetische Innovation und der dauerhafte Bruch mit dem Überkommenen und Etablierten. Erst die Postmoderne wird diese Vorstellung zumindest teilweise revidieren, wie auch das Beispiel von Charles Willard Moore im Rahmen dieses Aufsatzes zeigen wird. Deutlich wird vor diesem Hintergrund aber vor allem eines: Kreativität lässt sich immer auch als ein Diskursphänomen beschreiben, wobei man dem Begriff unter diesem Blickwinkel vielleicht sogar am nächsten kommt. Ausgehend von diesem Befund ergibt sich denn auch die methodische Versuchsanordnung des vorliegenden Aufsatzes. Im Folgenden soll nämlich nachgezeichnet werden, wie sich Beschreibungen von Kreativität und kreativem Handeln in Architektenautobiographien nicht nur auf solch übergreifende diskursive Muster beziehen, sondern diese auch mit etablieren und fortschreiben. Sie entwerfen damit zwar ein bestimmtes Bild von kreativem Handeln, Einblicke in den tatsächlichen kreativen Prozess werden aber gleichzeitig vermieden und mitunter fast schon verweigert.

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UND AUTONOMES

K ÜNSTLERTUM

Paul Bonatz Autobiographie Leben und Bauen steht für einen fast schon klassisch zu nennenden Zugriff auf das Thema, der sich in ähnlicher Form in einer Vielzahl weiterer Schriften finden lässt. Bonatz, 1877 geboren und 1956 verstorben, gehört zu den bekanntesten Vertretern der so genannten ,Stuttgarter Schuleʻ und damit einer Strömung in Architektur und Städtebau vor allem der 1920er und 30er Jahre, deren gestalterisches Programm am treffendsten mit den Worten eines ihrer mit Blick auf seine Rolle in der NS-Zeit problematischsten Vertreters charakterisiert werden kann: Paul Schmitthenner hatte bereits 1923 in einer Zeitschrift mit dem bezeichnenden Titel Die Volkswohnung die „Werkgesinnung“ der Stuttgarter Architekten hervorgehoben.17 Handwerkliche Herstellungsweisen und die Verwendung klassischer Materialien wurden damit den Industrialisierungsbestrebungen und technologischen Neuerungen einer radikaleren Moderne gegenübergestellt. Dass sich von hier aus inhaltliche wie personelle Kontinuitä-

17 Schmitthenner, zitiert nach Klaus Jan Philipp, Die Stuttgarter Schule. Eine Rezeptionsgeschichte, in: Ders./Kerstin Renz (Hgg.), Architekturschulen. Programm – Pragmatik – Propaganda, Tübingen/Berlin 2012, S. 39-51, hier S. 41.

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ten in die NS-Zeit hinein ergeben mussten, liegt auf der Hand. Das gilt nicht zuletzt auch für Paul Bonatz.18 Mit seiner Autobiographie legte Bonatz im Jahr 1950 ein Buch vor, dessen Erscheinungsbild in jeder Hinsicht als gediegen zu bezeichnen ist. Auch das Layout des Bandes selbst steht so mit der von der Stuttgarter Schule vertretenen Programmatik in engster Verbindung. Zu nennen sind hier der blaue Leineneinband mit dem in Gold eingeprägten Autogramm des Architekten, das romanartige Layout der Seiten mit Initialen zu Beginn jedes einzelnen Abschnitts, eine Vielzahl von Illustrationen, die Bonatz selbst gezeichnet hat und damit ihrerseits die oben angesprochene ,Werkgesinnungʻ zu illustrieren scheinen, sowie zwölf hochwertige Bildtafeln auf Kunstdruckpapier, die erste mit einem Photoporträt des Architekten in Sakko, weißem Hemd und Fliege. 19 Weit entfernt ist Bonatz damit nicht zuletzt von einer Erneuerung von Typographie und Layout, wie sie den medialen und publizistischen Auftritt der Stuttgarter Werkbundausstellung auf dem Weißenhof begleitete. Schon optisch ist Bonatzʼ Buch also auch als Nachhall auf jene gestalterischen Auseinandersetzungen zu sehen, die das Bauen im Stuttgart der Zwischenkriegszeit begleiteten und prägten. Auch die Schilderungen von Kreativität lassen sich in dieses klassische Bild künstlerischer Selbstdarstellung einreihen. So berichtet Bonatz im ersten Drittel seines Buches, wie er zur endgültigen gestalterischen Lösung für den zwischen 1914 und 1928 errichteten Stuttgarter Hauptbahnhof gefunden hat. Der Leser der Autobiographie wird dabei Zeuge einer schon sprichwörtlich zu nennenden Form kreativer Eingebung, die in der Psychologie auch als Aha-Erlebnis bezeichnet wird.20 Mit Hilfe einer beigefügten Zeichnung aus Bonatz Hand wird dieser Moment zudem augenfällig illustriert (Abb. 1) und steht damit exemplarisch für die in zahlreichen Architektenautobiographien zu findende enge Verbindung von Text und Bild:

18 Hierzu u.a. Wolfgang Voigt, Die Stuttgarter Schule und die Alltagsarchitektur des Dritten Reiches, in: Hartmut Frank (Hg.), Faschistische Architekturen. Planen und Bauen in Europa 1930 bis 1945 (Stadt Planung Geschichte Bd. 3), Hamburg 1985, S. 234-250; Werner Durth, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 19001970, Braunschweig/Wiesbaden 1986. 19 Vgl. hierzu auch Tobias Zervosen, „Life and Shape“. Zur Rolle des Bildes in Architektenautobiografien, in: Monika Melters/Christoph Wagner (Hg.), Die Quadratur des Raumes. Bildmedien der Architektur in Neuzeit und Moderne (ZOOM. Perspektiven der Moderne, Bd. 3), Berlin 2017, S. 256-273, vor allem S. 261. 20 Hierzu u.a. Sascha Topolinski/Rolf Reber, Gaining Insight Into the „Aha“ Experience, in: Current Directions in Psychological Science, 19, 2010, S. 402-405.

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„Abends war im Haus bei Scholers in der Ehrenhalde Einladung von Freunden. Ich saß allein unten im Büro, mißmutig bei der schlechten Programmstellung, und hörte von ferne fröhliches Lachen. Da kam Dora Scholer, deren helle Freundschaft mich ein Lebensalter lang begleitete, die Treppe herunter: ,Wie geht es?ʻ ‒ ,Komm, ich will dir zeigen, warum es nicht [Hervorhebung im Original, T.Z.] geht. Aus lang-lang so nebeneinander kann man keine Baumasse mit Rhythmus machen, das geht nicht und alle Mittelchen helfen dabei nicht, das bleibt eine Mißgeburt ‒ ‒ man müßte denn ‒ ‒ man müßte denn ‒ ‒ ja, man müßte die Eingangshalle der Tiefe nach stellen und mit einem Turm das Gleichgewicht suchen ‒ ‒ So kann es gehen ‒ ja ‒ so geht es, dann kommt’s ins Gleichgewicht. Morgen fangen wir an, kerzengrad aufs Ziel los, jetzt geh‘ ich mit dir hinauf zu den Freunden.“21

Diese Episode führt das eingangs angesprochene Dilemma nochmals besonders deutlich vor Augen. Zwar ist nicht unbedingt in Zweifel zu ziehen, dass spontanes Skizzieren zu gestalterischen Lösungen führen kann. So geht auch die aktuelle Entwurfsforschung davon aus, dass es gerade die wenig kontrollierten, vom Prozess her an die surrealistische écriture automatique erinnernden, rasch ablaufenden Tätigkeiten sind, die eine wesentliche Grundlage kreativen Arbeitens darstellen. Für die Skizze wird so etwa angenommen, dass der Umgang mit Stift und Papier zur Aktivierung gedanklicher Vorgänge beiträgt, durch deren Konkretisierung umgekehrt aber auch Rückkopplungsprozesse in Gang setzt. Dabei wird etwas gezeichnet und im gleichen Moment optisch wahrgenommen, das Wahrgenommene führt zu einer neuen Idee, auf Grund derer das soeben Gezeichnete erneut verändert und nach und nach zu einer immer genauer umrissenen Gestalt ausgearbeitet wird.22 Dennoch sind es auch vertraute Topoi und Klischees der narrativen Darstellung von Kreativität, die Bonatz aufgreift und im Rahmen seiner autobiographischen Erzählung fortschreibt. Hier wären vor allem drei zu nennen: Zum einen eine Atmosphäre weltentrückter Einsamkeit, die Bonatz zur wesentlichen Grundlage kreativer Arbeit erklärt. Während in den oberen Etagen die Feier weitergeht, brütet er einsam und fernab einer Bürosituation, wie sie den Arbeitsalltag sonst prägt, über den Plänen. Erst in einem Augenblick völliger Konzentration und Weltabgewandtheit dringt er zur endgültigen gestalterischen Lösung vor. Ein literarischer Archetyp hierfür ist der Heilige Hieronymus „im Gehäus‘“. Darüber hinaus ist es der plötzliche, von außerkünstlerischen Einflüssen freie Einfall, der von Bonatz geradezu klischeehaft beschrieben wird. Und schließlich ist es das unmittelbare zu Papier bringen der eigenen Gedanken in Form einer Skizze, die

21 Paul Bonatz, Leben und Bauen, Stuttgart 1950, S. 62. 22 Vgl. hierzu Rebekka Hufendiek (wie Anm. 12), hier vor allem S. 452.

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als etwas Spontanes, Informelles, der persönlichen Klärung eines Problems dienendes gilt, das Bonatz in seiner Erzählung aufgreift. Inspiration, die von außen kommt, scheint für ihn jedoch keine Rolle zu spielen. Kein Wort verliert Bonatz über die im Vorfeld bereits geleistete Arbeit an dem Projekt, über seine Beschäftigung mit der Wettbewerbsausschreibung und mit Planunterlagen, über Gespräche oder einen engeren Austausch mit seinen Mitarbeitern, wie er im Vorfeld sicher stattgefunden hat. Am Ende ist es nur Dora Scholer, der Bonatz zugesteht, seine kreative Einsamkeit kurzzeitig zu stören, mit deren Auftreten das Bild des Architektengenies allerdings gleichzeitig noch sehr viel detailreicher ausgearbeitet wird. Dora Scholer ist Bonatzʼ weibliche Muse, die zugleich jedoch für einen weiteren klischeebehafteten Aspekt seiner Darstellungen steht. Das Genie ist der Mann, die Frau arbeitet allenfalls und noch dazu alleine mittels ihrer bloßen Geschlechtlichkeit zu. Bis in alle Einzelheiten hinein ist es also die Vorstellung vom Architekten als autonomem Künstler, die Bonatz’ Darstellung zu Grunde liegt. Sein gesamtes Selbstbild und seine Berufsauffassung kreisen vollständig um dieses auch durch andere Kollegen immer wieder erfolgreich kolportierte, mit den tatsächlichen Arbeitsabläufen aber nur sehr bedingt zur Deckung zu bringende Berufsbild. Doch auch das scheinbare Gegenteil ist denkbar, wie ein nochmaliger Blick auf Richard Neutras Autobiographie Auftrag für morgen zeigt. Neutra behauptet hier, dass all seine Entwürfe letztlich auf drei grundlegenden Überlegungen beruhen.23 Einmal beschreibt er, dass es – ausgehend vom freudianisch geprägten Milieu seiner Wiener Kindheit und Jugendzeit – ein psychoanalytischer Blick auf die eigenen Raum- und Architekturerfahrungen ist, der bei ihm zu genau umrissenen gestalterischen Grundüberzeugungen geführt hat. Neutra möchte also mit jedem seiner Entwürfe eigenen negativen Raumerfahrungen und damit verbundenen Ängsten entgegentreten. So beschreibt er das Zimmer, in dem er seine ersten Lebensjahre verbracht hat, mit den folgenden Worten:

23 Zu den im Folgenden angestellten Überlegungen zu Neutras Autobiographie ausführlich auch Tobias Zervosen, Der Architekt als Literat. Dimensionen der Architektenautobiographie am Beispiel Richard Neutras, in: Barbara von Orelli-Messerli/Brigitte Kurmann-Schwarz (Hgg.), Ein Dialog der Künste. Das Verhältnis von außen und innen. Beschreibungen von Architektur und Raumgestaltung in der Literatur der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Petersberg 2016, S. 98-108; außerdem Sylvia Lavin, Form follow libido. Architecture and Richard Neutra in a Psychoanalytic Culture, Cambridge, Mass. 2004.

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„Was für ein Zimmer war es denn nun alles in allem? Drei Türen, zwei Fenster mit einem nutzlosen, ein Meter breiten gemauerten Pfeiler zwischen ihnen, unbrauchbar zum Bilderaufhängen oder zum Stellen von Möbeln, der Ofen in seinem Winkel ..., eine dunkle, unheimliche, unzugängliche und fürs Auge unkontrollierbare Dreiecknische im tiefen Schatten hinter ihm, von der ich noch zuweilen ängstlich träume.“ 24

Vor dem Hintergrund solcher bildhaft evozierter Negativerfahrungen mag dem architekturkundigen Leser Neutras eigene Architektur rasch als positiver Gegenentwurf erscheinen, der dem geschilderten Alten und seinen Unzulänglichkeiten in jeder Hinsicht entgegenzuarbeiten vorgibt. Um die Ecke geführte Fenster und Einbaumöbel vermeiden bedrohliche und nicht einsehbare Ecken, statt der funktional als defizitär wahrgenommenen alten Fenster verwendet Neutra großflächige Schiebeelemente. Zum anderen schildert Neutra, dass es die am Vorbild des Psychoanalytikers geschulte enge Auseinandersetzung mit seinen Auftraggebern, ihren Wünschen und Vorstellungen sowie die intensive Beschäftigung mit neuesten medizinischwissenschaftlichen Erkenntnissen ist, auf denen seine gestalterische Arbeit beruht.25 So schreibt er über das zwischen 1927 und 1928 in den kalifornischen Bergen errichtete Lovell Health House: „Ganz allgemein wurden das Essen, Trinken, Atmen, Schlafen, Denken und Hoffen meiner Auftraggeber ... das Ziel meiner eifrigen Beobachtungen ... Dies alles kristallisierte sich in meinen Plänen. Mit Mrs. Westerman, der würdevollen Köchin und Haushälterin der Lovells, studierte ich aufmerksam die Rohkostdiät auf der Grundlage von Gemüsen und Obst, die unter der Bezeichnung ,Naturopathieʻ in Südkalifornien bekannt war ... Die Mahlzeiten bedurften einer langen Vorbereitung ... Es war ein komplizierter Vorgang, die Dämpfe aus dem Innern abziehen zu lassen, das Wasser zu reinigen – ich baute einen ganz ungewöhnlichen Apparat ein –, Rohzucker und Pflanzensalze und alles übrige in Reichweite unterzubringen. Alle meine späteren biochemisch gefärbten Küchenplanungen ..., alle meine Gedanken, die sich in Badezimmern, Schlafloggien, Luftaustausch, netzhautschonender Beleuchtung, Sportplätzen und Schwimmbecken zur Übung der Muskeln und Lungen niederschlugen, gehen im Grunde auf die geduldige Arbeit an diesem Musterhaus zurück.“26

24 Neutra (wie Anm. 1), S. 30. 25 Hierzu auch Lavin (wie Anm. 23); Katrin Eberhard, Maschinen zuhause. Die Technisierung des Wohnens in der Moderne, Zürich 2011, S. 115-181. 26 Neutra (wie Anm. 1), S. 255.

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Es ist also erstens die Auseinandersetzung mit der eigenen Person und Psyche, zweitens die ausführliche Beschäftigung mit den Befindlichkeiten der Auftraggeber und drittens die Berücksichtigung naturwissenschaftlich-medizinischer Erkenntnisse, die Neutra zum Ausgangspunkt seiner gestalterischen Arbeit erklärt. Seine Vorstellung von Kreativität ist damit auf den ersten Blick eine andere als bei Bonatz. Neutra nämlich wendet sich dezidiert dem Alltagsrationalismus und damit einem der Moderne in ihrer Gesamtheit zu Grunde liegenden Konzept gesellschaftlichen und ökonomischen Handelns zu.27 Der entwerferische Vorgang wird bei ihm denn auch zu einem wesentlichen Teil zu einem auf funktionale Optimierung angelegten, verwissenschaftlichten Prozess erklärt. Damit ist Neutra letztlich gar nicht so weit entfernt von einem Konzept von Kreativität, wie es der DDR-Architekt und -Baufunktionär Gerhard Kosel in seiner 1989 unter dem bezeichnenden Titel „Unternehmen Wissenschaft“28 vorgelegten Autobiographie entfaltet. Kosel war, nachdem er von 1932 bis 1954 in der Sowjetunion gelebt und gearbeitet hatte, ab Mitte der 50er Jahre für die Durchsetzung des industriellen Bauens in der DDR zuständig. Seine Autobiographie ist zwar durchaus Schilderung der eigenen Lebensgeschichte, sie spricht aber genauso auch von einem als verwissenschaftlicht verstandenen Planen und Bauen. Kreative Arbeit stellt für Kosel dabei eine Facette allgemeiner geistiger Arbeit dar, wie sie die marxistische ökonomische Theorie beschreibt. Vor diesem Hintergrund wird Kreativität für ihn zu einem Konzept, das innerhalb eines übergreifenden, als wissenschaftlich verstandenen Beschreibungsmodells gesellschaftlich-ökonomischer Prozesse betrachtet werden muss. Kosel greift in seinem Text dabei zudem auf eine an Marx angelehnte formalisierende Darstellung zurück, wie sie sich ähnlich u.a. im Kapital findet (Abb. 2). Dabei argumentiert er für ein Verständnis von geistig-kreativer Arbeit, das aus dem Dreischritt „sinnliche Erkenntnis“29 eines Arbeits- oder eben auch Planungsgegenstandes, „Bearbeitung des Sinneseindrucks im Denkprozeß“30 und „Rückspiegelung des individuellen, ideellen Arbeitsproduktes in die äußere Wirklichkeit“31, im Bereich des Bauens etwa als Entwurfszeichnung, beruht. Es sind denn auch die gleichen Beschreibungskategorien, mit denen Kosel an späterer Stelle die Gene-

27 Hierzu Reckwitz (wie Anm. 15), vor allem S. 13f. 28 Gerhard Kosel, Unternehmen Wissenschaft. Die Wiederentdeckung einer Idee. Erinnerungen, Berlin 1989. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 216. 31 Ebd., S. 218.

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se seiner eigenen Entwürfe – etwa für das Ostberliner Marx-Engels-Forum – erläutert.32 So sehr sich beide inhaltlich und mit Blick auf das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie tätig sind, voneinander unterscheiden: wie Neutra versucht auch Kosel, kreative Arbeit als etwas in erster Linie rational Bestimmtes zu beschreiben. Beide aber halten trotzdem auch an ihrem Autonomieanspruch als Planer fest: So unterstreicht Kosel, dass sein Dreischritt auf „die individuelle Tätigkeit“ des einzelnen angewiesen ist, auf die „Bedeutung der schöpferischen Persönlichkeit“, auf „Phantasie“ und „Talent[]“, ja sogar auf das „Genie“33 – ein unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus zumindest auf den ersten Blick überraschender Katarakt von Begriffen, die allesamt auf individuell-autonomes Schöpfertum, nicht aber auf den von politischer Seite erwünschten, im Kollektiv arbeitenden und vor allem entindividualisierten Planer abzielen. 34 Ähnliches lässt sich auch für Neutra festhalten. Bei ihm sind die Auftraggeber zwar Quelle und Bezugspunkt der Entwurfsarbeit, haben aber selbst keinen Anteil an der konkreten Gestaltfindung. Diese will auch er nach wie vor als autonome Entscheidung des Architekten verstanden wissen. So schließt Neutra die ausführliche Passage, die er dem Lovell Health House widmet, ebenfalls mit der Behauptung, das Projekt sei „in der Einsamkeit des Jahres 1927 entworfen und ins Werk“35 gesetzt worden. Stets ist es also – ob bei Bonatz, Neutra oder Kosel – das einzelne, planende und gestaltende Individuum, dessen Kreativität im Dienst individueller Autonomie steht. Tatsächliche Einblicke in die Voraussetzungen und Abläufe kreativen Arbeitens werden letztlich jedoch konsequent verweigert.

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UND PARTIZIPATIVES

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Umfangreichere Schilderungen kreativer Prozesse, die über den Zweck, sich als autonomer Künstlerarchitekt zu stilisieren, hinausreichen, sind im Bereich autobiographischer Veröffentlichungen eher selten. Zu den wenigen Ausnahmen ge-

32 S. ebd., S. 246f. 33 Ebd., S. 212. 34 Zu dieser Thematik ausführlich Tobias Zervosen, Architekten in der DDR. Realität und Selbstverständnis einer Profession, Bielefeld 2016. 35 Neutra (wie Anm. 1), S. 255.

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hört die Schrift An Architectural Life36 des amerikanischen Architekten Charles Willard Moore (1925-1993). An dieser Stelle soll von ,Schriftʻ und nicht von ,Autobiographieʻ die Rede sein, weil es sich bei diesem Buch um eine 1996 postum erschienene Zusammenstellung autobiographischer Fragmente handelt, welche darüber hinaus von ihrem Herausgeber Kevin P. Keim um Textbausteine Dritter ergänzt wurde. Ich werde mich jedoch auf die autobiographischen Berichte Moores und damit auf den autobiographischen Kern des Buches beschränken. Auffällig ist schon auf sprachlicher Ebene, dass Moore über die Entwurfsarbeit von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen immer im Plural berichtet. Moore stellt dabei dar, wie er gemeinsam mit seinen Büropartnern und -mitarbeitern zu gestalterischen Lösungen gelangt ist, wobei er auch konkrete Namen nennt und beschreibt, auf welche Weise seine Mitarbeiter zum Gelingen der Projekte beigetragen haben – etwa mit einem Satz wie „It’s important to note that all of this was achieved through the combination of skills and interest, including Tina Beebe’s work on the colors and Richard Peter’s lighting design.“37 Hat schon dies im Bereich von Architektenautobiographien Seltenheitswert, so ist noch ungewöhnlicher, dass Moore den Entwurf darüber hinaus immer wieder als einen partizipativen Prozess beschreibt, an dem neben den Architekten selbst auch die Auftraggeber und zukünftigen Nutzer ganz unmittelbar beteiligt sind. Diese Unmittelbarkeit ist es auch, die Moores Kreativitätsbeschreibungen etwa von den von Richard Neutra geschilderten Auftraggeberbeziehungen unterscheidet. Neutra spricht mit den Auftraggebern, Moore aber lässt sie selber künstlerisch aktiv werden. Exemplarisch herausgreifen möchte ich im Folgenden die ausführlichen Erläuterungen, die Moore zum Projekt der St. Matthew’s Church in Pacific Palisades, Los Angeles, macht. Da es sich bei diesem Sakralbau um eine Bischofskirche handelte, prallten bei der Planung nach Moores Darstellung die Vorstellungen einer konservativen Amtskirche und einer liberal-linken Gemeinde aufeinander. Der mit dem Büro Moore abgeschlossene Vertrag sah deswegen vor, dass alle planerischen Entscheidungen von Auftraggeberseite mit Zweidrittelmehrheit beglaubigt werden mussten – ein von Moore vor dem Hintergrund dieser komplexen Gesamtsituation zunächst einmal als aussichtslos beschriebenes Unterfangen. Nach seiner Darstellung konnte Moore dieses Problem nur in den Griff bekommen, indem er an den Entwurf grundlegend anders heranging und den Anspruch künstlerischer Autonomie konsequent hintanstellte:

36 Kevin P. Keim (Hg.), An Architectural Life. Memoirs and Memories of Charles W. Moore, Boston/New York u.a. 1996 (im Original: written and edited by Kevin P. Keim). 37 Ebd., S. 164.

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„When we were selected to do the job, we thought that the only way to get such a majority for any scheme would be to have the scheme designed by the interested members of the parish [...] We have repeated this process now, in part and with changes, often enough so that I’m convinced that it works: that people in a creative mode, whatever their differences, are much more positive and cooperative and ready to do something than the same people in the kind of critical mode that a committee structure implies.“38

Moore berichtet im Folgenden über eine Reihe von Workshops, die sein Büro für interessierte Gemeindemitglieder veranstaltet hat. Die Palette reichte von gemeinsamen Begehungen des zukünftigen Bauplatzes, um die genaue Lage und Ausrichtung des Kirchenbaus einzugrenzen, über kollektiven Modellbau mit Papier, Klebeband, Schere, Zellophan und sogar Petersilie bis hin zu Diashows, bei denen Bilder von Bauten gezeigt wurden, die wiederum als geeignete oder ungeeignete Vorbilder für St. Matthew’s gekennzeichnet werden sollten. Auf der Grundlage dieser Workshops sei es – so Moore – schließlich zu konsensorientierten gestalterischen Entscheidungen und zu 87% Zustimmung für die letzte, vom Architekturbüro gefertigte Entwurfszeichnung gekommen. Moore schlussfolgerte: „Not very many people were going to vote against a scheme in which they had had so major a hand.“39 Erst jetzt – in der Postmoderne – scheint sich der kreative Prozess also von der beschriebenen Fixierung auf den autonomen Künstlerarchitekten einerseits oder den nach rationalen Prinzipien agierenden, sich dabei aber ebenfalls als individuell-autonom verstehenden Modernisten andererseits zu lösen. Indem der Entwurf als ein kollektiver, vor allem aber auch partizipativer, d.h. den Nutzer aktiv einbeziehender Vorgang beschrieben wird, kommt es in der Architektur damit verspätet zu einer Entgrenzung von Kreativität, wie sie in den bildenden Künsten im Falle von Avantgardeströmungen wie Dada und Fluxus und von Ausdrucksformen wie Performances und Happenings schon sehr viel früher zu beobachten war.40 Neben den professionell Zuständigen werden verstärkt weitere Teile der Gesellschaft zu kreativen Akteuren. Was Kreativität und kreatives Handeln genau ausmacht, bleibt jedoch weiterhin ein Arkanum: Es wird zwar über einzelne Handlungsbausteine berichtet, der kreative Akt als Ganzes aber kaum beleuchtet.

38 Ebd., S. 161. 39 Ebd., S. 164. 40 Hierzu Reckwitz (wie Anm. 15), S. 90-115.

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K REATIVITÄT UND DAS S PRECHEN ÜBER R ÄUME UND B ILDER Abschließend soll deswegen noch eine weitere Dimension autobiographischer Schriften in den Blick genommen werden, die ebenfalls auf kreative Prozesse verweisen kann und die nach dem aktuellen Stand der Forschung möglicherweise umfassenderen Einblick in kreative Prozesse zu geben vermag. Vor allem seit der Postmoderne sind autobiographische Texte von Architekten durchsetzt mit Erinnerungen an Räume und Bilder. Berichtet wird dabei vor allem über Architektur- und Raumerfahrungen, die die Protagonisten in ihrem persönlichen Alltag, auf Reisen und in der Auseinandersetzung mit älterer Architektur gemacht haben. Auch in einigen früher entstandenen Texten ist dies der Fall, wie Dietrich Erbens Beitrag zu Louis Henry Sullivans Autobiography of an Idea in diesem Sammelband deutlich macht. Mit der Postmoderne, die programmatisch wieder an der Architekturgeschichte, an einem Verständnis von Architektur als Bild und kommunikativem Zeichen sowie an tradierten Mitteln der Raumbildung interessiert ist, gewinnt dieses sprachlich-narrative Charakteristikum autobiographischen Schreibens jedoch zusätzlich an Bedeutung. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf Aldo Rossis A Scientific Autobiography41, die sich auch als Kaleidoskop collageartig zusammengefügter Erinnerungsbilder beschreiben lässt, deren Spuren sich beinahe zeichenhaft in Rossis Planungen und in seinen ausgeführten Bauten wiederfinden lassen.42 Zu nennen ist hier aber auch erneut ein Architekt wie Charles Moore, der sich nicht zuletzt mit Hilfe seiner autobiographischen Fragmente von einem vor allem durch die Moderne zelebrierten Glauben an voraussetzungslose Originalität distanziert: „Now it is a time when architects are trying to use in our work with pleasure and without guilt the shapes we like and respond to, without engaging in an absurd cult of originality which supposes that we have never seen anything in our lives and have each invented every shape unaided.“43

Moore nennt denn auch für zahlreiche seiner Entwürfe Erinnerungsbilder, die in die Planungen eingeflossen sind. Auf diese Weise kann sein Text als Indiz für

41 Aldo Rossi, A Scientific Autobiography, Cambridge, Mass. 1981 42 Hierzu ausführlicher Tobias Zervosen, Die Architektenautobiographie und Aldo Rossis „A Scientific Autobiography“, in: Dietrich Erben (Hg.), Das Buch als Entwurf. Eine Gattungsgeschichte der Architekturtheorie, Paderborn 2017 (in Vorbereitung). 43 Keim (wie Anm. 36), S. 231.

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jene zentrale Position der aktuellen Entwurfsforschung verstanden werden, die erinnerten Bildern und räumlichen Situationen eine zentrale Rolle im Rahmen gestalterischer und entwerferischer Prozesse zuschreibt. Die grundlegende Annahme ist dabei ganz im Sinne Moores, dass es ein voraussetzungsloses gestalterisches Arbeiten gar nicht erst geben kann und kreative Gestaltung und Formfindung immer zu einem gewissen Anteil auf schon Bekanntes und bereits Gesehenes zurückgreift, auch dann, wenn Eindrücke umfassend abgewandelt und zu etwas Neuartigem umgeformt werden. Dass autobiographische Schriften von Architekten zumindest teilweise Auskunft geben können über prägende Bilder und Eindrücke der Protagonisten, ist für die Frage nach Bedingungen und Mechanismen kreativen Handelns also von zentralem Interesse. Anknüpfen lässt sich dabei auch an entsprechende Forschungen von Harry Francis Mallgrave, der auf der Grundlage neurologischer Untersuchungen gezeigt hat, in welch umfassendem Maße sprachliche Akte, damit aber auch Texte, Auskunft über solch berufsspezifische Formen des Denkens und Vorstellens geben können. Mallgrave geht sogar so weit, von einem architektenspezifischen Denken zu sprechen, das auf planerische und gestalterische Tätigkeiten bezogen vor allem bildlichräumlich bestimmt und konturiert sei.44 Allerdings kommt an dieser Stelle erneut das eingangs angesprochene Dilemma ins Spiel. Letztlich muss nämlich auch mit Blick auf die in den Texten geschilderten bildlichen und räumlichen Eindrücke berücksichtigt werden, dass es sich bei den autobiographischen Texten selbst um gestaltete Produkte und damit zugleich um allenfalls künstlerisch vermittelte Einsichten in professionsspezifische Formen bildlich-räumlicher Imagination handelt.

Z USAMMENFASSUNG Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Architektenautobiographien nur sehr begrenzt Auskunft über Bedingungen und Mechanismen kreativen Handelns geben können – egal, ob wir es mit klassischen Kreativitätsbeschreibungen wie bei Bonatz oder aber mit einer postmodernen Sicht auf das Thema wie bei Moore zu tun haben. Zu nennen sind hier allenfalls konkretere Einblicke in ein bildlichräumliches Denken, die mit kreativer Arbeit in Verbindung gebracht werden können. Die Art und Weise, wie das eigene kreative Arbeiten rückblickend geschildert wird, ist in den meisten Fällen jedoch weiteren, zentralen Zielen auto-

44 Hierzu Harry Francis Mallgrave, The Architect’s Brain. Neuroscience, Creativity, and Architecture, Malden, Mass. 2010.

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biographischer Berichterstattung verpflichtet. Dazu gehört der Anspruch, ein kohärentes und überzeugendes Bild der eigenen Person zu entwerfen und dieses Selbstbild der Öffentlichkeit, vor allem aber auch der Nachwelt zu vermitteln. Auch mit Blick auf die Schilderungen von Kreativität und kreativem Handeln sind dabei eine Reihe von Metaerzählungen zu nennen, auf die sich die persönlichen Berichte über Leben und Arbeit beziehen. Zu nennen ist hier das jeweilige politische, gesellschaftliche und soziale Umfeld, an das man anzuknüpfen und in das man sich einzufügen versucht, bestimmte theoretische und fachliche Debatten, die für die eigene Arbeit fruchtbar gemacht werden oder von denen man sich auch dezidiert absetzen möchte, vor allem aber auch eine begrenzte Anzahl von Berufsprofilen und professionellen Selbstbildern, die dem einzelnen Fachmann als Blaupausen und Modelle seiner beruflichen Tätigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Im Wesentlichen stellen autobiographische Berichte deswegen eine unverzichtbare Quelle dar, um rückblickend Mechanismen professioneller Identitätskonstruktionen aufzudecken und sichtbar zu machen, inwiefern und auf welche Weise sie auch auf die Fremdwahrnehmung und Außenwirkung von Professionen Einfluss nehmen. Die Schilderung von kreativem Handeln, seinen Voraussetzungen und Bedingungen stellen hier zweifellos ganz wesentliche Instrumente dar: sie sind Mittel zum Zweck solcher Selbst- und Außendarstellungen, bieten damit aber alles andere als einen privilegierten und unverstellten Blick in die Werkstatt des Architekten und die tatsächlichen Arbeitszusammenhänge. Letztlich ist die Autobiographie damit nicht so sehr ein Ort der offenen und öffentlichen Reflexion über kreatives Handeln, sondern vielmehr selber ein kreatives Produkt. Entworfen wird hier nicht zuletzt der Gegenstand unseres Tagungsbandes: die Profession und das professionelle Handeln.

Autobiographie als Dichtung

Der Spion in Malcesine. Goethes Italienische Reise T HOMAS W EIDNER

Auf seinem Weg nach Rom bereiste Johann Wolfgang von Goethe im Spätsommer 1786 auch den Gardasee. Im Morgengrauen zum 12. September war er von seinem Nachtlager in Rovereto zu einem Ausritt aufgebrochen, der in rund zwanzig beschwerlichen Kilometern westlicher Richtung zunächst über die Etsch nach Mori, hinauf nach Loppio und schließlich über den Pass von Nago führte. Auf einem alten Karrenpfad abwärts erreichte Goethe gegen 8 Uhr Torbole an der Nordspitze des Sees und verbrachte dort zeichnend und schreibend den Tag. Noch vor Sonnenaufgang bestieg er bereits ein Segelschiff zur Weiterreise. Gleich schlug dem Boot ein so starker Wind entgegen, dass es schon in Malcesine zur Landung gezwungen wurde. Es war gerade erst 7 Uhr. Goethe blieb nichts anderes übrig, als einen weiteren Tag am Gardasee zu bleiben. Erst nach Mitternacht, als sich der Seegang beruhigt hatte, starteten die Bootsleute einen neuen Versuch. Sie brachten ihren Passagier am 14. September vormittags gegen 10 Uhr in Bardolino wieder an Land. Auf einem Maultier ritt er auf der ebenen Landstraße sofort weiter nach Verona. Alles in allem dauerte der Aufenthalt am Gardasee kaum mehr als 48 Stunden. Die kurze Fahrt ins Blaue gehört zu den Erinnerungen des vollständig in drei Teile gegliederten und heute zusammengebundenen Buchs, in dem Goethe nach und nach seine Italienreise der Jahre 1786 bis 1788 beschrieb. Den Auftakt setzte der seit 1814 vorbereitete und erstmals 1816 veröffentlichte Band mit dem Titel „Aus meinem Leben. Zweyter Abtheilung Erster Theil“, der augenscheinlich der höheren Systematik einer autobiographischen Gesamtdarstellung untergeordnet war. Für diesen Teilband rekonstruierte der Autor im Abstand von dreißig Jahren die Etappen, über die er in einer zweimonatigen Anfahrt vom 3. September bis zum 1. November 1786 direkt aus der Sommerkur in Karlsbad nach Rom gelangt

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war, darunter also auch den Zwischenstopp am Gardasee und die Fahrt durch den Veneto nach Venedig, um dann die Wintermonate in Rom als dem eigentlichen Zielort des Unternehmens zu schildern. Den Inhalt der 1817 erschienenen Fortsetzung „Aus meinem Leben. Zweyter Abtheilung Zweyter Theil“ bildet der von Februar bis Juni 1787 folgende Aufenthalt im Königreich Neapel mit der Rundreise durch Sizilien. Den Schlussteil, der die Monate von Juni 1787 bis zur nicht mehr beschriebenen Rückreise nach Weimar im April 1788 umfasst, veröffentlichte Goethe 1829 im Rahmen der „Ausgabe letzter Hand“ unter der lapidaren Überschrift „Zweyter Römischer Aufenthalt“ im weit vorgerückten Lebensalter von inzwischen achtzig Jahren. Erst jetzt fasste er das Werk unter dem seither eigenständigen und zum bildungsbürgerlichen Allgemeingut gewordenen Namen „Italienische Reise“ zusammen. 1 Die ursprüngliche Titelei „Aus meinem Leben“ samt Abteilungen und Unterteilen verdeutlicht, dass das Werk zunächst in einem editorischen Generalplan zur literarischen Selbstdarstellung aufgegangen war. Aber auch als Separatum gelesen, stellt die „Italienische Reise“ die Fortschreibung der 1811 begonnenen Autobiographie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ dar, die mit der Geburtsstunde zum Mittagsläuten am 28. August 1749 einsetzt und bis zu dem Punkt reicht, als mit der Einladung an den Hof von Weimar die damals schon vage geschmiedeten Pläne zu einer Italienreise zunächst durchkreuzt worden waren. Insgesamt ist für das autobiographische Werk Goethes zu konstatieren, dass es die erste Lebenshälfte in eine aus der Perspektive der zweiten regulierte Ordnung gebracht hat. Dies geschah in der längst befestigten und nicht einmal überheblichen Erkenntnis, eine die eigene Zeit überdauernde Ausnahmeerscheinung zu sein, das heißt, mit der Offenlegung der Lebensgeschichte etwas sagen zu können, das über den Werdegang eines Einzelnen weit hinaus weist. Tatsächlich bilden die autobiographischen Schriften Goethes einen epochal verstandenen Querschnitt durch das 18. Jahrhundert, einen Querschnitt freilich, der aus der eher nostalgischen, um nicht zu sagen resignierten Sicht eines längst angebrochenen 19. Jahrhunderts gezogen wurde. Diese historiographische Dimension ist

1

Zur „Italienischen Reise“ liegen zwei gleichermaßen gründliche und für die textkritische Lektüre auch unverzichtbare Ausgaben vor: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Band 15: Italienische Reise, hg. von Andreas Bayer/Norbert Miller, München 1992 sowie Johann Wolfgang von Goethe. Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, Band 15/1 und 15/2: Italienische Reise, hg. von Christoph Michel/Hans-Georg Dewitz, 2 Bde., Frankfurt am Main 1993. Mit einer Sonderausgabe ist die Münchner Edition allgemein leichter greifbar, deshalb wird hier danach zitiert.

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gerade aber in der „Italienischen Reise“ alles andere als offensichtlich. In der Unmittelbarkeit einer Tagebuchführung sind historische Distanzen aufgehoben und scheinbar ad hoc wird zu einer urteilssicheren Sprache gefunden, die diese Aufzeichnungen nicht nur zu einem paradigmatischen Werk der deutschen Literatur gemacht hat, schließlich und auch hat das Buch den vom Autor selbst geprägten Begriff der „Weltliteratur“ mitbegründet. Die „Italienische Reise“ ist das immer wieder beeindruckende Protokoll einer universalen Schulung quer durch naturwissenschaftliche, sozialkundliche, künstlerische und geistesgeschichtliche Fächer, abgefasst in der normativen Überzeugung, dass zu alledem die Antike die regelgebende Lehrmeisterin sei. Angesichts solcher Relationen mag sich ein aus Torbole überliefertes Intermezzo zu einem Augenblick von allenfalls anekdotischer Qualität verflüchtigen. Besonders im Hinblick auf das dichterische Œuvre ist dem Aufenthalt eine gleichwohl wegweisende Bedeutung beizumessen, waren es doch die mit der Architektur eines antiken Amphitheaters verglichenen Felsenküsten des Gardasees, an denen in einer Art von kreativem Schub die Initiation und wohl auch Inspiration zur metrischen Fassung des Schauspiels „Iphigenie auf Tauris“ stattgefunden hat, „als der gewaltige Mittagswind die Wellen ans Ufer trieb, wo ich wenigstens so allein war, als meine Heldin am Gestade von Tauris“, wie es in der Rückschau heißt.2 So ist aus dieser Landschaft – das zu vermuten liegt zumindest nahe – Goethes Idee von dem mit der Seele zu suchenden Land hervorgegangen und damit, wenn man so will, der Gründungsvers der deutschen Klassik: „Iphigenie in Torbole“ könnte man eigentlich sagen. 3 Ausscherend aus dem gängigen Postweg durch das Etschtal, die sogenannte und altfränkisch behauptete Berner Klause, hatte Goethe den Umweg überhaupt erst deshalb in Kauf genommen (lässt man die als ein „köstliches Schauspiel“ genossene Natur einmal beiseite), weil es ihm am Gardasee möglich werden sollte, mit einer aus dem Zusammenhang gerissenen Verszeile Vergils erstmals im Leben ein Antikenzitat

2

Goethe (wie Anm. 1), S. 184 (Rom, 6.1.1787).

3

Zu der hier nicht weiter berücksichtigten Entstehungsgeschichte der von Goethe dezidiert regelkonform verstandenen Dichtung, für die neben der Seeluft freilich sehr viel handfestere Faktoren anzuführen sind, sei es die als ein schöpferischer Beitrag zur Antikenrezeption betrachtete Architektur Palladios und vor allem dessen architekturtheoretisches Regelwerk, von dem Goethe in Padua eine Ausgabe für seine Bibliothek kaufte, sei es der poetologische, also genauso regelstiftende Aufsatz zur Prosodie von Karl Philipp Moritz, mit dem Goethe in Rom zusammentraf, s.: Dieter Borchmeyer, Iphigenie auf Tauris, in: Goethes Dramen. Interpretationen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1993, S. 117-157.

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sozusagen in situ aufzurufen, was in der „Italienischen Reise“ zur Inszenierung eines mit Datum und Breitengrad exakt markierten, historischen Ereignisses gerät und den philologisch interessierten Leser darüber hinaus beschäftigt, denn stillschweigend und dadurch um so kühner hat Goethe der antiken Textüberlieferung eine neue, das heißt auch metrisch eigenmächtig hinzugedichtete Formulierung mitgegeben, ganz so, als solle demonstriert werden, mit welch virtuoser Beherrschung er, der Dichter der „Iphigenie“, die Regeln des römischen Hexameters auszulegen imstande ist.4 Damit gibt schon der Abschnitt zum Gardasee ein starkes Beispiel für Goethes Erwartung an die Italienreise, nämlich seine Vorstellung einer lebendigen oder verlebendigten Antike verwirklicht zu sehen. Mit welchem Impetus der Autor persönlich an einer antikisch oder archaisch interpretierten Lebenswirklichkeit teilzunehmen bereit war, zeigt schließlich diejenige Episode, die sich wie kaum ein anderes Bild in das Andenken an den Aufenthalt am Gardasee eingeschrieben hat. Stets wird die Erinnerung an Goethe mit dem ihm in Malcesine angehängten Verdacht der Spionage verbunden beziehungsweise mit der Geschichte, die er für die „Italienische Reise“ daraus machte. Gleich vorneweg: Es handelt sich um die erste längere, in sich geschlossene Erzählung innerhalb des 1816 veröffentlichten Buches. Generisch entspricht sie der literarischen Gattung der Anekdote, wobei sie in ihren Rahmenbedingungen ebenso der Reiseanekdote wie auch der Künstleranekdote zugeordnet werden kann. Narrative Stilmittel wie insbesondere die direkte Rede tragen zur Verlebendigung des Geschehens bei. Und schließlich gibt es eine Pointe, die in einer abschließenden Reflexion auf die Ebene einer allgemeingültigen Erkenntnis gehoben wird. Herausgegriffen als Fallbeispiel für eine Form autobiographischen Schreibens, sind anhand dieser Geschichte und deren Überlieferungen die Stilisierungen zu verfolgen, die mit der späten Literarisierung eines Jahrzehnte zurückliegenden Ereignisses einhergingen. 5 Ausgangspunkt ist die Strichzeichnung der den Ort beherrschenden Felsenburg, die Goethe in den Morgenstunden des 14. September 1786 nach dem un-

4

Auf die hier ebenfalls nicht näher zu analysierende Abwandlung des Verses „Fluctibus et fremitu assurgens Benace marino“ bei Vergil beziehungsweise bei Volkmann zu „Fluctibus et fremitu resonans Benace marino“ bei Goethe hat Christoph Michel aufmerksam gemacht; s. Johann Wolfgang Goethe, Tagebuch der Italienischen Reise 1786. Notizen und Briefe aus Italien. Mit Skizzen und Zeichnungen des Autors, hg. und erl. von Christoph Michel, Frankfurt am Main 1976, S. 388-391.

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Die folgenden Zitate nach: Goethe (wie Anm. 1), S. 31-37 (14.9.1786); vgl. auch die Frankfurter Ausgabe (wie Anm. 1), S. 31-43.

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freiwilligen Landgang aufzunehmen begonnen hatte.6 (Abb. 3) Der heute auf zahllosen Bildpostkarten präsente Castello Scaligero, der in seinem Unterbau wohl auf die Zeit der Langobarden zurückreicht, über die Jahrhunderte hinweg vielfach überbaut und zuletzt 1983 restauriert wurde, bildete damals einen von drei Mauerringen umschlossenen Burgbezirk mit einem nördlich und westlich zum See orientierten Palas sowie einem markanten Aussichtsturm, der sich zu einer Höhe von siebzig Metern über dem Seespiegel erhebt.7 (Abb. 4) Zum Zeichnen dieses Motivs habe Goethe „ein sehr bequemes Plätzchen“ im frei zugänglichen Burghof gefunden, „ein verziertes steinernes Sitzchen“, das in den Stufenabsatz zu einem Tor gegenüber des Felsenturms eingegraben war. Die Morgensonne habe „Turm, Felsen und Mauern in das schönste Licht“ gesetzt. Schon hier wäre einzuwenden, dass die damals entstandene Skizze, die von vielen Ausgaben dann auch zur Illustration der Textpassage herangezogen wird, nicht ganz mit der aus der Erinnerung geschöpften Beschreibung übereinstimmt. Offensichtlich wurde das Blatt aus einem außerhalb der Burgmauern gelegenen Blickwinkel aufgenommen. Es zeigt in starker Untersicht den mit kräftigen Zinnen bekrönten Ravelin, der die Anlage im Süden befestigt. Das ändert freilich nichts an den eigentlichen Begebenheiten der Handlung, der zufolge die Zeichenstunde nun schnell einen Auflauf von Neugierigen hervorrief. Sie hatten für das Tun des Fremden keine andere Erklärung, als dass hier ein dreister Akt der Spionage im Gang zu sein schien. Als ein alter Grenzposten zum Kaiserreich schien ihnen der seit dem Mittelalter unter venezianischer Territorialherrschaft stehende Fortifikationsbau interessant genug zu sein, um im geheimen Auftrag ausgespäht zu werden. Die Erzählung verdeutlicht die Sicht der Einheimischen, die den sonderbaren Zeichner als einen Eindringling betrachten: Er führt offenbar etwas Bedrohliches im Schild. Mit seiner Skizze missachtet er ein Verbot gleich den Warntafeln, die vor heutigen Militäranlagen jegliches Fotografieren

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Das Corpuswerk der Goethezeichnungen kennt in seinem 1960 vorgelegten Band der italienischen Landschaften fünf Skizzen, die am Gardasee entstanden sind: Corpus der Goethezeichnungen, Band II, Nr. 1-416. Italienische Reise 1786 bis 1788. Die Landschaften. Bearbeiter der Ausgabe Gerhard Femmel, Weimar 1960, S. 13-15, Nr. 12, Nrn. 14-17, hier Nr. 17. Zusätzlich veröffentlichte Zeichnungen gehören aus meiner Sicht nicht in diesen topographischen oder sogar künstlerischen Kontext.

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Das Pulverlager, in dem heute das lokalgeschichtliche Museum mit einer „Sala Goethe“ untergebracht ist, wurde während der österreichischen Herrschaft des 19. Jahrhunderts eingefügt; zum Bauwerk s. Gilberto Barbesi/G. Arnaldo Caleffi, Il castello di Malcesine tra architettura e storia, in: Malcesine e Goethe, hg. vom Comitato del Museo Castello Scaligero di Malcesine, Verona 1983, S. 71-106.

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untersagen. Der Argwohn ist groß. Schließlich tritt ein Kerl aus der Menge, bemächtigt sich der Zeichnung und zerreißt das Blatt, um die militärisch vermeintlich relevante Ausbeute kurzerhand zu vernichten – kurioserweise trägt die oben angeführte Goethezeichnung tatsächlich Rissspuren, welche sie erst recht als das corpus delicti erscheinen lassen. In der angespannten Situation droht ein Handgemenge. Es werden die „kleinen Terzerole“ erwähnt, das sind die auch für Goethe reiseüblichen Taschenpistolen, die als ein standesgemäßes Requisit zur Schau getragen wurden, um in Gefährdungslagen vor Übergriffen abzuschrecken, ohne dass es tatsächlich wohl je zu einer Schießerei gekommen wäre. In der Eskalation des Geschehens wird nach dem „Podesta“ gerufen, das heißt nach dem Bürgermeister von Malcesine, der zusammen mit seinem „Aktuarius“, dem Schatzmeister, die Ordnung wiederherzustellen hat. Es kommt zum Verhör. Der Bürgermeister entspricht dem gravitätischen, pedantischen und wohl auch korrupten Typus des Amtsmanns, wie er im Dorfrichter Adam zur literarischen Figur geworden ist: „Die stumpfen Züge seines geistlosen Gesichts stimmten ganz zu der langsamen und trüben Weise, womit er seine Fragen hervorbrachte“, so Goethe, nicht Kleist. Gleichwohl repräsentiert er eine Art von standesgerichtlicher Autorität, die den auf frischer Tat ertappten und festgehaltenen Fremden mit der Anschuldigung konfrontiert, vom Kaiser geschickt worden zu sein, „um die Grenzen auszuspähen“. Die Erklärungen Goethes, er habe den alten Turm lediglich abgezeichnet, um sich „ein Andenken von Malsesine zu erhalten“, können den Verdacht ebenso wenig zerstreuen wie seine Beteuerung, er habe in dem Bauwerk keine „Festung“ gesehen, sondern „nichts als eine Ruine“. Mit dieser sicher zutreffenden, aber wenig diplomatischen Bemerkung verstrickt sich der Beschuldigte noch tiefer in den Anschein der Unglaubwürdigkeit. Nicht nur ist es wohl allerorts ungeschickt, einem Bauwerk, an dem der Stolz der Einheimischen klebt, die Verwahrlosung einer Ruine zu bescheinigen. Wenn es sich vor allem aber, so die Gegenrede des Anklägers, um keine Festung handle, sondern um eine Ruine – was daran könne dann „wohl merkwürdig“ sein? Es folgen Ausführungen zum Begriff der Ruine, die für eine zeitgenössische Definition des in der Malerei gängigen Bildmotivs ungemein aufschlussreich sind. Den ästhetischen Kategorien der Landschaftsmalerei wird die Logik des dörflichen Alltags entgegengehalten, die mit etwas Ruinösem keine praktischen Wertvorstellungen zu verbinden weiß. Dagegen holt Goethe in seiner Verteidigungsrede weit aus. Er verweist auf die vielen Fremden, die „nur um der Ruinen willen nach Italien“ zögen, „welche hundert und aber hundertmal gezeichnet worden“ seien. Rom, die „Welthauptstadt“, stünde schließlich voller Ruinen, seit sie von den „Barbaren“ verwüstet worden sei, und nicht alles aus dem „Altertum“ habe sich so gut erhalten wie das nahe gelegene Amphitheater von Verona,

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das er nun bald ebenfalls zu besichtigen gedenke. So unbedarft sind die Leute dann aber doch nicht. Der Hinweis auf die Arena als ein römisches und weltberühmtes Bauwerk sei nicht auf ihren Castello übertragbar, an dem nichts merkwürdig sei, außer dass er die Grenze bezeichne und deshalb nicht „ausspioniert“ werden dürfe. Der sture Einwand zwingt Goethe zu dem für seine Prinzipien erstaunlich undogmatischen Eingeständnis, „daß nicht allein griechische und römische Altertümer, sondern auch die der mittlern Zeit, Aufmerksamkeit verdienten“. Er hebt an, die Vorzüge des Castello als eines romantischen Sujets anzupreisen, es berge „malerische Schönheiten“, die der Versammlung nur deshalb nicht bewusst vor Augen stünden, weil ihr die Präsenz des Gebäudes seit jeher selbstverständlich sei. Kurzum: Goethe redet sich um Kopf und Kragen. Als ihm endlich klar wird, dass eine von ästhetischen Kriterien geleitete Diskussion im Kreis dieser „Gerichtspersonen“ zu nichts führt, ändert Goethe die Verteidigungsstrategie und setzt nun auf ein politisches Argument. Er selbst sei nämlich ebenfalls „Bürger einer Republik“, die in ihrer Bedeutung freilich nicht mit derjenigen von Venedig zu vergleichen sei, sich aber doch selbst regiere und an „Handelstätigkeit, Reichtum und Weisheit ihrer Vorgesetzten“ keiner anderen Stadt Deutschlands nachstehe: „Ich bin nämlich von Frankfurt am Mayn gebürtig“. Mit der Offenlegung der Herkunft und dem damit verbundenen Lob auf das bürgerliche Selbstverständnis einer Freien Reichsstadt gelingt eine Wende in der festgefahrenen Verhandlung. Die Leute in Malcesine haben zwar augenscheinlich nicht die geringste Ahnung, wen sie da vor sich haben, sehr wohl aber ist ihnen die Stadt Frankfurt ein Begriff, weil einer der Dorfbewohner dort schon einmal gearbeitet habe. Er heißt „Gregorio“ und wird eilends herbeigerufen. Nachdem er jahrelang in Diensten des angesehenen Frankfurter Kaufmanns Marcus Bolongaro gestanden habe, ist ihm der Ruf all der italienischstämmigen Familien, die traditionell die Geschäfte der Handelsstadt belebten, natürlich geläufig. Rasch werden gemeinsame Erinnerungen ausgetauscht. Von Johann Maria Allesina ist die Rede und von dessen Ehefrau Franziska Klara Brentano, die inzwischen ihre „goldene Hochzeit“ feierten, wie Goethe zu ergänzen weiß, ein Ereignis, zu dem er zuhause sogar eine Medaille besitze, und so weiter. Die Kenntnis der stichprobenartig genannten Personen und deren gesellschaftlicher Stellung genügt, um seine Glaubwürdigkeit zu bestätigen und die jetzt offenbar doch nur fälschlich angezweifelte Rechtschaffenheit des Fremden zu rehabilitieren. Es folgt die gütliche Auflösung der Verhandlung. Goethe wird von den Behörden freundlich entlassen, „damit er bei seinen Landsleuten gutes von uns rede, und sie aufmuntere Malsesine zu besuchen, dessen schöne Lage wohl wert ist, von Fremden bewundert zu sein“, ja, der örtliche Gastwirt habe schon freudig den vielen Fremden entgegengesehen, „welche auch ihm zuströmen würden,

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wenn die Vorzüge Malsesines erst recht ans Licht kämen“. Bekanntlich behielt dieser Wirt recht mit seiner Prognose, schließlich wurde die Geschichte Goethes zur immer noch zinsbringenden Gründungsurkunde für den deutschen Tourismus in Malcesine. (Abb. 5 und Abb. 6) Für den mit weltbürgerlicher Attitüde verfassten Text der „Italienischen Reise“ wird freilich ein anderes Fazit gezogen. Zuvorkommend umsorgt von seinem Entlastungszeugen, jenem „Gregorio“ aus Frankfurt, der ihm dann auch gleich sein bestes Obst als Proviant mitgibt, sonst jedoch „in der unendlichen Einsamkeit dieses Erdwinkels ganz allein“, habe Goethe über die menschliche Natur an sich sinniert und sich gewundert, wie der Mensch dasjenige, „was er mit Sicherheit und Bequemlichkeit in guter Gesellschaft genießen könnte, sich oft unbequem und gefährlich macht, bloß aus der Grille, die Welt und ihren Inhalt sich auf seine besondere Weise anzueignen.“ Mit dieser irgendwie allgemeinen Feststellung zieht der Verfasser einen höheren Erkenntnisgewinn aus einer Szene, die ihm im Grunde völlig „lächerlich“ vorgekommen war, nun aber trotzdem einen tieferen Sinn erhält. Sozusagen wird die Moral der Geschichte angehängt. Soweit die Version der „Italienischen Reise“. Es mag kaum überraschen, dass in den italienischen Briefen von 1786, also den bereits historisch gewordenen Selbstzeugnissen, die Goethe zur Abfassung der „Italienischen Reise“ dreißig Jahre später heranzog, noch kein Platz und vermutlich auch noch gar kein Plan zu solchen Ausführungen bestand. Mit dem vertraulich an Charlotte von Stein adressierten, unmittelbaren Text aus Italien lässt sich die Authentizität des Vorfalls zwar grundsätzlich bestätigen, zur Rekonstruktion des genauen Hergangs ist aber nur ein Gerüst aus Stichworten gegeben: „Die Lust dir das Schloß zu zeichnen, das ein ächter Pendant zum böhmischen ist, hätte mir übel bekommen können. Die Einwohner fanden es verdächtig, weil hier die Gränze ist und sich alles vorm Kayser fürchtet. Sie thaten einen Anfall auf mich, ich habe aber den Treufreund köstlich gespielt, sie haranguirt und sie bezaubert. Das Detail davon mündlich.“8 Das ist alles. Die Notiz enthält einige Interna, mit dem böhmischen Vergleichsbeispiel ist eine kaum fünf Wochen zuvor bei Nejdek im Erzgebirge aufgenommene Zeichnung gemeint, die ebenfalls einen bebauten Felsvorsprung zeigt und noch während des zeitweise gemeinsamen Kuraufenthalts in Karlsbad entstanden war. Goethe hatte diesen Turmfels mit seiner Freundin besichtigt und am 17. August 1786, während er bei

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Zit. n. Michel 1976 (wie Anm. 4), S. 46 (13.9.1786). Das für Charlotte von Stein verfasste „Tagebuch“ der Briefe ist vollständig auch in die Frankfurter Ausgabe von 1993 (wie Anm. 1) aufgenommen. Die um einen Tag verschobene Datierung ist ein Erratum Goethes.

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Regenwetter in einer gegenüberliegenden Scheune saß, für sie gezeichnet.9 Eigentlich wäre nicht „das Schloß“ selbst, sondern die Zeichnung davon als Pendant auszugeben. In der „Italienischen Reise“ ist der Vergleich, außer der Adressatin sowieso kaum jemandem verständlich, weggelassen. Als Hinweis in eigener Sache wurde indes der „Treufreund“ beibehalten, ein von Goethe bei einigen Aufführungen persönlich verkörperter Bühnencharakter aus dem Schauspiel „Die Vögel“ des Aristophanes beziehungsweise aus der eigenen Bearbeitung, aus der zur Feier seines 37. Geburtstags ebenfalls in Karlsbad rezitiert worden war. Konkret ist die Szene angesprochen, in der es gelingt, eine aufgebrachte Schar von Fremden zu beschwichtigen. Mit der antiken Figur des Perithetairos oder Treufreund, eines Auswanderers, der die Stadt Athen im Verdruss verlässt, um sich dem fabelhaften Reich der Vögel zuzuwenden, identifizierte sich Goethe in der „Italienischen Reise“ mehr als einmal. Der diesbezüglich vor allem bemerkenswerte Hintergrund des Exils tritt aus einem weiteren, in der Übertreibung gleichfalls scherzhaften Antikenvergleich hervor, aus dem aber nicht der Korrespondent von 1786, sondern der altersweise Verfasser der Memoiren spricht. Hier schließt der reichlich überarbeitete Abschnitt mit der Bemerkung, das Ufer von Malcesine, von dem er sich „mit günstigem Wind“ endlich hatte davonmachen können, habe ihm „lästrygonisch zu werden gedroht“. Auch dieses gelehrige, fast schon prahlerische Bild bedarf des Kommentars; in der Überlieferung Homers sind die Lästrygonen ein Volk riesenhafter Kannibalen, die allen Eindringlingen nachstellen, und der einzige, der ihnen je hat entkommen können, ist Odysseus – einmal mehr liefert das Epos ein Beispiel für die Unterlegenheit der Barbaren vor der listenreichen Tücke des griechischen Helden. Iphigenie, Perithetairos, Odysseus: Das sind aber auch gleich drei ihrer Heimat entzogene Gestalten, von denen sich Goethe in seiner Einsamkeit begleiten ließ, um die eigene Situation scherzhaft, deshalb aber nicht weniger intensional in eine antike Tradition zu stellen.10 Mit solchen Imaginationen und dem insgesamt novellistischen Ausbau der ursprünglich kargen Notizen zu einer Geschichte vom Umfang einiger Druckseiten wurde dem Kurzaufenthalt am Garda-

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Dazu der Brief in: Johann Wolfgang Goethe, Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Band 6 I: Anfang August 1785 – 3. September 1786, hg. von Volker Giel unter Mitarbeit von Susanne Fenske und Yvonne Pietsch, Berlin 2010, S. 550 (17.8.1786). Zur Zeichnung: Corpus (wie Anm. 6), Bd. I, Leipzig 1958, S. 100, Nr. 234.

10 Norbert Miller hat seine im Anschluss an die Edition der Münchner Ausgabe erschienene Monographie zur „Italienischen Reise“ unter die Überschrift einer auf Odysseus anspielenden Wanderschaft gestellt: Norbert Miller, Der Wanderer. Goethe in Italien, München 2002.

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see ein bleibendes Gewicht gegeben. War die Routine der bisherigen Tagesplanung vor allem vom zielgerichteten Fortkommen bestimmt gewesen, so hatte die Zwangspause in Malcesine ja tatsächlich für eine Unterbrechung im Ablauf gesorgt, die sich mit der eingeflochtenen Anekdote literarisch überbrücken ließ. Der Eindruck, im Leben Goethes hätte es auch einmal einen Tag gegeben, an dem rein gar nichts passierte oder voranging, kommt gar nicht erst auf. Gerade widrigen Situationen weiß der rastlos produktive Verfasser etwas Bleibendes abzugewinnen, sei es eine Zeichnung, sei es eine neue Erfahrung zur Menschenkenntnis. Dabei übernimmt die Darstellung mehrere Funktionen, die für die autobiographische Konzeption der „Italienischen Reise“ jeweils charakteristisch sind. Sie betreffen Aspekte der Literarisierung und der Authentizität sowie – zumindest in einem erweiterten Sinn dem Thema der ,Berufsautobiographieʻ folgend – auch der Profession. So dient die Anekdote zunächst einmal dazu, das Selbstverständnis zu bekräftigen, mit dem sich Goethe während der Italienreise nicht zuletzt in der – man will nicht sagen: professionalisierten, aber durch das beständig in der Natur geübte Zeichnen doch weidlich ausgefüllten – Rolle eines Künstlers gesehen hat.11 In einen kunsthistorischen Zusammenhang gestellt, bezeichnet das Erlebnis in Malcesine dann auch alles andere als einen Einzelfall in der zeitgenössischen Landschaftsmalerei. Immer wieder hatte die noch relativ junge Methode, den akademischen Studiensaal zu verlassen, um unter freiem Himmel authentische Skizzen für die Auswertung im Atelier zu sammeln, zu Missverständnissen geführt und die Künstler regelmäßig in Erklärungsnot versetzt. Wenn nicht für Spione, wurden sie zum Beispiel für Schatzgräber gehalten. 12 Goethe kannte solche Konfrontationen neben der eigenen leidlichen Erfahrung vom Hörensagen. Anlässlich der Unruhen in Neapel wurde ihm 1796 berichtet, „man dürfe keinen Hügel besteigen, so komme man schon in Verdacht einer Spionerie – da“, so Goethe, „mag es denn freylich dem Landschaftsmahler durchaus

11 Zu Goethe als Zeichner allgemein: Wolfgang Hecht, Goethe als Zeichner. Zweihundertzwei Goethezeichnungen, München 1982; Werner Busch, Die „große simple Linie“ und die „allgemeine Harmonie der Farben“. Zum Konflikt zwischen Goethes Kunstbegriff, seiner Naturerfahrung und seiner künstlerischen Praxis auf seiner italienischen Reise, in: Goethe-Jahrbuch 105, 1988, S. 144-164; Johann Wolfgang Goethe, Zeichnungen, hg. und komm. von Petra Maisak, Stuttgart 1996; Johann Wolfgang Goethe, Landschaftszeichnungen, hg. von Ernst-Gerhard Güse/Hermann Mildenberger, Ausst.kat. Weimar, Goethe-Nationalmuseum, Frankfurt am Main 2009. 12 Ausführlicher: Thomas Weidner, Jakob Philipp Hackert. Landschaftsmaler im 18. Jahrhundert, Band 1, Berlin 1998, S. 31.

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schlecht ergehen.“13 Mit einem konkreten Vorfall war er vor allem aus der englischen Beschreibung einer Sizilienreise des Jahres 1777 vertraut, die er 1810 übersetzte und in seinem künstlerbiographischen Buch über den Landschaftsmaler Hackert zur deutschen Erstveröffentlichung brachte. 14 Dort gibt es die Szene, in der Hackert in ein vergleichbares Verhör gerät, als er bei der Ortschaft Patti an der Nordküste Siziliens einen Wachturm zeichnet, den er für eine Töpferei gehalten hat. Goethe hatte den Künstler in Neapel persönlich kennengelernt und bei dessen zeichnerischen Exkursionen begleitet, wobei er das Fach bald selbst zu beherrschen gelernt habe, wie er im Fortlauf der „Italienischen Reise“ zeigt. Mit der vorgeschalteten Episode aus Malcesine ist bereits angedeutet, dass er sich bestens auskannte in diesem Metier. Unter literarischen Gesichtspunkten liefert das Naturstudium sodann den erzählerischen Stoff für „ein gefährliches Abenteuer“, das Goethe aufbereitet, um zu zeigen, wie er es „mit gutem Humor“ bestanden habe. Das Erlebnis wird zu einer unterhaltsamen Reiseanekdote ausformuliert, die einem für Räuberpistolen dankbaren Lesepublikum bestimmt gefiel. Allen voran er selbst fand sie „in der Erinnerung lustig“. Zweifellos beruht das komische Moment auf der Ungleichheit der Beteiligten: Als der mit berühmteste Deutsche seiner Zeit steht Goethe einer Ansammlung von Dorftrotteln gegenüber, die den Auftritt des Fremden nicht sinnvoll den eigenen Verhaltensmustern zuzuordnen wissen. Schon äußerlich sind die Unterschiede nicht zu übersehen. Sofort erkennbar und nicht anders als heute hebt sich der Ausländer durch ungewöhnliche oder verwunderliche „Kleidungsstücke“ aus der Menge der Einheimischen hervor. Übrigens hat Goethe seine Lehre daraus gezogen und sich in Verona komplett neu eingekleidet, so dass er künftig als ein italienischer Kaufmann durchgehen konnte. Ein weiteres Merkmal einer der Situationskomik oft zuträglichen Unterscheidung betrifft natürlich die Muttersprache. Nachdem soeben erst in Rovereto freudig zu bekunden war, nun endlich den deutschsprachigen Raum hinter sich gelassen zu haben – „Wie froh bin ich, daß nunmehr die geliebte Sprache lebendig, die Sprache des Gebrauchs wird“ –, folgt prompt schon in Malcesine eine Bewährungsprobe, die mit offenbaren Verständigungsproblemen zu kämpfen hat. Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der das Verhör einmal in der Landessprache geführt worden

13 Johann Wolfgang von Goethe an Heinrich Meyer; zit. n. Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer, hg. von Max Hecker. Erster Band: Juli 1788 bis Juni 1797, Weimar 1917, S. 332 (15.9.1796). 14 Joachim Rees, Das Tagebuch einer Reise nach Sizilien von Richard Payne Knight. Anmerkungen zum wiedergefundenen Originalmanuskript und zu Goethes Übersetzung, in: Goethe-Jahrbuch 119, 2002, S. 78-95.

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sein muss, betätigt sich der Erzähler jetzt als deutsch-italienischer Dolmetsch, der seinem Leser längst Vergangenes im ausgefeilten Konversationston und in der Synchronizität der Gegenwart vermittelt. Tatsächlich dürfte das Italienisch, das ihm in jüngsten Jahren von seinem Frankfurter Hauslehrer Domenico Giovinazzi – er ist in „Dichtung und Wahrheit“ gewürdigt – beigebracht worden war, aber kaum flüssig genug gewesen sein, die mit venezianischem Zungenschlag vorgebrachten Anschuldigungen so elastisch und eloquent erwidern zu können. Umso leichtfüßiger erweckt die autobiographische Darstellung vom Volksredner den Anschein, die Situation mit der ihm eigenen Gewandtheit und Improvisationsgabe gemeistert zu haben. So stehen die Dialoge nicht nur allgemein für das dramaturgische Für und Wider eines Witzes, sondern vor allem auch für einen sprachlichen Eignungstest, den der Erzähler offenbar souverän absolvierte. Schließlich bedient die autobiographisch eingesetzte Anekdote einen weiteren Aspekt der Selbstdarstellung, wobei die Schilderung der Vorgänge beispielhaft die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit berührt, beziehungsweise von Literarisierung und Historizität. In ihrem Kern bezieht sich die Anekdote auf einen Vorfall, der sich gewiss so am Gardasee ereignet hat. Die Amtsträger, mit denen es Goethe zu tun bekommen hatte, konnten sogar namentlich identifiziert werden.15 So war in diesen Jahren ein gewisser Bartolo Ambrosi di Bernardo für die übergeordnete und in Verona situierte Gerichtsbarkeit als sindaco von Malcesine tätig, seine tesorieri oder Schatzmeister hießen Domenico Turazza und Giacomo Chincarini. Die Identifikation des so hilfreichen „Gregorio“, der in der Darstellung Goethes in Frankfurt gearbeitet hatte und inzwischen in seine Heimat zurückgekehrt war, auf kuriose Weise also den für den bundesrepublikanischen Wirtschaftsboom der Jahre nach 1960 gängigen Typus des italienischen Gastarbeiters präfiguriert, scheint im Vergleich mit den institutionell verbürgten Rechtspersonen jedoch weitaus weniger verbindlich gelungen zu sein. Man hat in ihm einen gewissen und laut Taufregister 1738 geborenen Giovanni Battista Saglia gesehen, zu dem zwar nichts über einen Frankfurter Aufenthalt bekannt ist, der im Dorf angeblich aber „Gregorio“ genannt worden sei. Das klingt nicht gerade überzeugend. Mindestens ebenso wahrscheinlich könnte es hingegen sein, so zumindest unsere These, dass es einen solchen Gre-

15 Elisabeth Menzel, Auf Goethes Spuren in Malcesine, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt am Main 1908, S. 194-223; R[affaelo] Brenzoni, Goethe a Malcesine. Documentazione del suo soggiorno avventuroso, in: Atti e memorie dell'Academia d'agricoltura, scienza e lettere di Verona, Ser. V, Bd. XI, Verona 1934, S. 143-163; Giuseppe Franco Viviani, Malcesine all'epoca di Goethe, in: Malcesine e Goethe 1983 (wie Anm. 7), S. 29-44.

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gorio gar nicht erst gegeben hat und es sich um eine literarische Erfindung Goethes handelt. Darauf deutet eine weitere Version der Episode hin. Sie stammt aus der Zeit, die zwischen dem Italienbrief von 1786 und der Ausarbeitung des Erlebnisses für die „Italienische Reise“ von etwa 1815 lag. Der Gewährsmann dieser Version ist Johann Heinrich Voß d.J., der Sohn des deutschen Homerübersetzers. Als er im Februar 1804 zu Gast in Weimar war, zeichnete er unter anderem ein Tischgespräch auf, bei dem sich Goethe in bester Erzähllaune zeigte. Der junge Voß notierte: „Es ist eine Wonne, ihn von seinen Reisen erzählen zu hören. Da ist unsereins ganz Ohr und Auge. Einmal vor Verona wird Goethe, da er eine alte Ruine zeichnete, von Häschern aufgegriffen. ,Da ward mir schwul‘ , sagte er, ,aber ich erwog gleich das Beste. Ich raffte mich zusammen, nahm alle Würde an und begann eine Rede. Ich entwickelte ihnen die Schönheit der Ruine, den Wert durch das Alter; ich griff ihren Stumpfsinn an und schalt sie für Klötze und Stöcke, lenkte aber bald ein, sie entschuldigend: Ihr könnt solche Schönheiten nicht fühlen, da Ihr sie täglich vor Augen seht, und das Alltägliche keiner Aufmerksamkeit würdigt‘ usw. Die Häscher werden ganz erstaunt über die Unbefangenheit des Spions und sehen nun alle auf die Ruine, um auch die Schönheiten zu entdecken; und da sie doch nichts sehen können, werden sie ganz verdutzt. Endlich zieht Goethe seinen Geldbeutel aus und läßt Münzen klingen. Nun verändert sich ihre Sprache. Der eine sagt zu den übrigen: 'Hab ich's Euch nicht gleich anfangs gesagt, daß der Mann ein Ehrenmann sei? Da seht Ihr's!“16 Soweit Voß. Die von ihm kolportierte Darstellung bestätigt zunächst, dass Goethe den Vorfall durchaus in seinem Erfahrungsschatz abgespeichert hatte. Viele Details bis hin zu den wörtlichen Reden um den malerischen Wert einer Ruine kehren in der später ausgearbeiteten Anekdote der „Italienischen Reise“ wieder. So wie sie Goethe im Februar 1804 und wohl auch nicht zum ersten Mal seinen Hausgästen und Zuhörern gegenüber zum Besten gab, ergeben sich aber auch auffallende Abweichungen von der autobiographischen Verschriftung. Der Ort des Geschehens irgendwo „vor Verona“, zum Beispiel, blieb bei der Plauderei im Ungefähren, vielleicht war er dem Protokollanten auch nur entgangen oder unverständlich, jedenfalls trug er zur Sache selbst nichts bei. Der gravierende Unterschied betrifft jedoch die Lösung des Problems. Wenn der Beschuldigte, wie Voß notierte, „Münzen klingen“ ließ und der Überzeugungskraft seiner Aus-

16 Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann, erg. und hg. von Wolfgang Herwig, Bd. I: 1749 – 1805, [¹1965] München 1998, S. 919f.

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führungen mit einer Offerte nachgeholfen, sich also freigekauft hat, dann erhält die Geschichte einen anderen und sehr viel realistischeren Schluss. Offenbar hatte sich Goethe bereitwillig schröpfen lassen, um sich der Bedrängnis – „da ward mir schwul“ – zu entledigen. Mit der sonst verschwiegenen Variante des Lösegelds verliert die in der „Italienischen Reise“ dargelegte Argumentation der redlichen Herkunft aber grundsätzlich an Substanz und Logik. Der Exkurs zur Frankfurter Stadtgeschichte, die da angeblich auf dem Burghof von Malcesine ausgebreitet worden war, zu der die Tischrede jedoch nicht die geringste Andeutung macht, scheint unter den weniger rühmlichen, eher schnöden Bedingungen schlicht überflüssig zu sein. Es stellt sich die Frage, was den Autor, der sich im Grunde für nichts zu genieren hatte, weil seine Autorität über den Peinlichkeiten des Alltags stand, dazu bewogen haben mag, der verschrifteten Reiseanekdote eine vom Hergang offenbar abweichende und fiktionalisierte Richtung zu geben. Dabei fällt auf, dass die in der Autobiographie von 1816 vollzogene Offenlegung der Identität – „Ich bin nämlich von Frankfurt am Mayn gebürtig“ – in einem eklatanten Widerspruch zu der strikten Geheimhaltung steht, unter der Goethe im Jahr 1786 tatsächlich nach Rom aufgebrochen war. Es ist hinlänglich bekannt, dass Goethe gerade nicht als ein Frankfurter Bürger und schon gar nicht als Vertreter seines thüringischen Fürsten nach Italien reiste.17 Er war im Inkognito des Allerweltsnamens „Johann Philipp Möller“ unterwegs, der mal als ein Kaufmann, mal als ein Künstler auftrat und angeblich aus Leipzig stammte. In der Münchner Zeitung war, durchaus typisch für die statistischen Erhebungen der damaligen Tagespresse, zum Beispiel gestanden, dass sich ein „Herr Möller, Kaufmann aus Leipzig“ zur Logis im Gasthof Schwarzer Adler an der heutigen Kaufingerstraße eingetragen habe. Nicht nur in München blieb Goethe dann auch unerkannt. Die Geheimniskrämerei hatte wenig mit den Eitelkeiten eines Prominenten zu tun, der wie Goethe allem voran durch seinen „Werther“ längst zu einem Erfolgsautor geworden war. Der Deckname diente dazu, sich privatim dem höfischen Protokoll und damit den standesgemäßen Pflichten zu entziehen, denen Goethe als ministerialer Repräsentant seines Herzogtums eigentlich nachzugehen gehabt hätte. In diesem Sinn war das Reisen unter Pseudonym gerade im europäischen Hochadel üblich. Die Adaption höfischer Traditionen für eine neue Form des bürgerlichen Selbstverständnisses, das in der Italienreise Goethes zu einem exemplarischen Beleg gefunden hat, ging mit einer Strategie der Verleugnung einher. Einen Verabredungsnamen, in dessen Code die wenigsten eingeweiht waren, benötigte Goethe in praktischen Din-

17 Ausführlich und vergnüglich: Roberto Zapperi, Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom. Aus dem Italienischen von Ingeborg Walter, München 1999.

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gen dennoch, in erster Linie, um an Bargeld zu kommen. Zwischen den Bankhäusern wurden die ständigen Wechsel regelmäßig auf den Namen „Möller“ angewiesen, eine Tranche von 200 Talern zum Beispiel nach Venedig. 18 So ausgestattet, hatte Goethe über Monate hinweg an einer erfundenen Identität festhalten können. Sie bot ihm die Garantie, dem Zugriff des eigenen Hofapparats spurlos entzogen zu sein, um möglichst ungehindert nach Rom zu kommen. Neuen Bekanntschaften und insgesamt Situationen, die das Fortkommen hätten verzögern können, ging er lieber aus dem Weg. Gleich gar nicht wollte er in Gespräche verwickelt werden, bei denen er der Höflichkeit halber etwas von sich selbst hätte preisgeben müssen. Als in einer Regensburger Buchhandlung sein Inkognito aufzufliegen drohte, machte er sich eilends davon. „Mein decidirtes Incognito spart mir viel Zeit, ich gehe absolut zu niemanden ausser zu Künstlern“, schrieb er noch aus Rom.19 (Abb. 7) So war das gesamte Unternehmen eine gewissenhaft vorbereitete und diszipliniert durchgeführte Camouflage, wovon in der Altersdarstellung der „Italienischen Reise“ dann allerdings nicht mehr die Rede ist. Sie widerspräche dem Grundsatz einer Autobiographie, deren Aufgabe es ganz im Gegenteil ist, die Identität ihres Verfassers zu befestigen. In diesem Zusammenhang gewinnt die Anekdote vom Gardasee ihre eigentliche Bedeutung. Der Verlauf der Geschichte ist in der „Italienischen Reise“ so angelegt, dass sie zu einer Preisgabe der Identität führt. Dabei wendet sich die fiktionalisierte Rede von der Herkunft nur vordergründig an die verdutzten Einwohner eines von der Außenwelt abgeschnittenen Dorfs, sehr viel mehr aber an den Leser der Autobiographie und wohl auch an sich selbst. Durch die Konfrontation mit dem Fremden wird ein Moment der Selbstfindung angestrengt. Dass er ein Frankfurter sei, der Bürger einer Republik gar, hat den Charakter eines Bekenntnisses, das Goethe in Malcesine wohl nie ausgesprochen hat, für die biographische Einführung und Begründung seines Weltbürgertums tatsächlich aber essentiell gewesen sein dürfte. In jedem Fall schafft die literarisch motivierte Rückbesinnung auf den Geburtsort und die Jahre der Kindheit eine bereinigte Grundlage für das in den Lebenslauf einschneidende und fortan tragende Konstrukt jener „Wieder-

18 Zapperi 1999 (wie Anm. 17), S. 42 verweist in diesem Zusammenhang auf ein akkurat geführtes Ausgabenbuch Goethes. Es bleibt ein Versäumnis des vorliegenden Beitrags, diese bislang offenbar unveröffentlichte Quelle (Weimar, Goethe- und SchillerArchiv 25/XXVII, Nr. 1) immer noch nicht im Hinblick auf die in Malcesine getätigten Ausgaben eingesehen zu haben. 19 Johann Wolfgang von Goethe an Johann Gottfried und Caroline Herder; zit n. Tagebücher und Briefe Goethes aus Italien an Frau von Stein und Herder. Mit Beilagen, hg. von Erich Schmidt, Weimar 1896, S. 326 (2.12.1786).

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geburt“, mit der Goethe selbst und in der Folge auch seine Biographen die Italienreise gleichgesetzt haben.20 Schon in den ersten römischen Briefen an Charlotte von Stein sprach er von einer „Wiedergeburt“, die ihn „von innen heraus umarbeitet“, und parallel hieß es in den Mitteilungen an das ihm ebenso freundschaftlich vertraute Ehepaar Herder: „Ich zähle einen zweyten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage da ich Rom betrat.“ 21 Mit dem Schlüsselbegriff der Wiedergeburt hat Goethe seiner Reise eine geradezu eschatologische Bestimmung verliehen. Auch diesseits solcher pseudoreligiösen Verheißungen bleibt die unbedingte Bereitschaft zu einem Neuanfang, das heißt zu einer Revision des Weimarer Hofbeamtenjahrzehnts im Hinblick auf die weitere Lebensplanung evident. Erst aber in der Retrospektion von 1816 konnte die Absichtserklärung als ein stimmig entwickelter und ungemein erfolgreich umgesetzter Entwurf dargestellt werden. Dem Narrativ der Wiedergeburt, für die der Eintritt ins römische Leben sozusagen die Hebamme stellt, wird am Beginn der Reise ein Akt der Selbsterkenntnis vorgeschaltet. An der Landesgrenze kommt es zu einer Rückbesinnung auf die biographischen Grundlagen und damit zu einer Vergewisserung der Identität, die weder in Scheinexistenzen wie jener des Johann Philipp Möller – wie auch hätte Goethe ein solches Phantom den Dorfoberen von Malcesine begreiflich machen wollen? – zu verankern war, noch aber auch im Dasein eines Höflings aufgehen konnte, eines Hofmanns und Fürstendieners, der seine Energie in der Verwaltungsbürokratie eines kleinen Herzogtums verschleuderte und in seiner hauptberuflichen Position als Weimarer Regierungsrat, wenn er gegenüber seinen italienischen Anklägern ehrlich gewesen wäre, ja tatsächlich ein Repräsentant des Kaiserreichs war. Nein, all das wird in der autobiographischen Neuordnung über Bord geworfen und ein für allemal in den Tiefen des Gardasees versenkt, um statt dessen das alte Bild vom freien Bürger ins Recht zu setzen, wohlgemerkt nicht im Sinne eines republikanischen citoyens, wie er seit 1789 zu definieren war, sondern eines reichsstädtischen Patriziers, den es – und das scheint die eigentliche Pointe zu sein – im Jahr 1816, als die Autobiographie in bereits postnapoleonischer Zeit erschien, so ja auch nicht mehr gegeben hat. So ist die Frage, mit der Goethe scheinbar beiläufig am Gar-

20 Hier nur der Hinweis auf die differenzierte Auslegung von Nicholas Boyle, Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, Bd I: 1749-1790. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach, München ²1999, S. 506-510. 21 Diese Briefe sind lange bekannt: Johann Wolfgang von Goethe an Charlotte von Stein; zit. n. Tagebücher 1896 (wie Anm. 19), S. 241 (20.12.1786) und Johann Wolfgang von Goethe an Johann Gottfried und Caroline Herder; zit n. ebd., S. 326 (2.12.1786).

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dasee konfrontiert wird, oder sollte man besser sagen: die Frage, mit der sich Goethe auf der stets fiktionalisierten Ebene der Literatur hat konfrontieren lassen, nämlich wer er denn nun eigentlich sei, gar nicht so einfach zu parieren. Wie auch, handelt es sich doch um die zentrale Frage, zu der noch jede Autobiographie nach einer passenden Antwort gerungen hat.

Autobiographische Oikonomien. Henry Thoreaus Walden (1854) und Henry Fords My Life and Work (1923) Z ENO A CKERMANN

„Autobiography could easily be called the essential American genre, a form of writing closely allied to our national self-consciousness“ – so fasst die Einleitung zum Norton Book of American Autobiography einen klassischen amerikanischen und amerikanistischen Topos.1 Tatsächlich gibt es viele Anhaltspunkte für die herausragende Bedeutung biographischen und autobiographischen Schreibens in den USA. Für die Zeit vom Unabhängigkeitskrieg bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtet die Forschung eine regelrechte ‚biographical mania‘.2 In den unterschiedlichen Manifestationen des ‚life writing‘ – von patriotischen Texten zu eminenten Staatsmännern über religiöse Biographien oder Autobiographien bis zu den als ‚mug books‘ bekannten populären Biographien zur Siedlungsbevölkerung des (Mittleren) Westens – verschmolz die in der puritanischen Religiosität verankerte Aufmerksamkeit für Lebensmodelle mit der Frage nach der Identität der jungen Nation.

1

Jay Parini, Introduction, in: Ders. (Hg.), The Norton Book of American Autobiog-

2

Zur Bedeutung von biographischer Literatur in den USA des 19. Jahrhunderts siehe u.

raphy, New York 1999, S. 11. a. Scott E. Casper, Constructing American Lives. Biography and Culture in Nineteenth-Century America, Chapel Hill 1999. Zur ‚transatlantischen‘ Dimension der in den britischen Kolonien und den frühen USA rezipierten biographischen wie auch biographietheoretischen Literatur siehe zuletzt Tim Lanzendörfer/Oliver Scheiding (Hgg.), American Lives. An Anthology of Transatlantic Life Writing from the Colonies to 1850, Trier 2015.

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Der Zusammenhang von individueller Introspektion, öffentlicher Rechenschaft über die eigene Lebensführung und nationaler Projektion, wie ihn insbesondere die Form der Autobiographie erlaubte, war dann für die Bewegung hin zu einer selbstbewussten amerikanischen Literatur von größter Bedeutung.3 Zwar brachten die Mitte des 19. Jahrhunderts hervortretenden und später zu Protagonisten einer ‚American Renaissance‘4 stilisierten Autoren und Autorinnen nur relativ wenige vollgültige Autobiographien hervor. 5 Aber ihr Schreiben war entscheidend von autobiographischen Mustern und Haltungen geprägt, die sie mit den Mitteln des Essays, der Dichtung und der Fiktion entwickelten. Whitmans lyrisches Großprojekt Leaves of Grass (die erste Auflage erschien 1855) ist ein prägnantes Beispiel für die Strategie der wechselseitigen Neuerfindung von Subjekt und Kollektiv: „One’s-self I sing, a simple separate person, / Yet utter the word Democratic, the word En-Masse.“6 Solche Muster des Selbst-, Welt- und Gesellschaftsbezugs fanden Eingang in die vielfältigen Texte, mit denen Angehörige ganz unterschiedlich definierter (Einwanderer-)Gruppen seither ihr Leben und die Bedingungen ihrer Zugehörigkeit zur amerikanischen Gesellschaft reflektiert haben. Ob die schiere Zahl autobiographischer Schriften in den USA größer ist als andernorts, lässt sich schwer beurteilen. Bemerkenswert ist aber, wie konsequent und systematisch dieser Diskurs erschlossen und funktionalisiert worden ist. Autobiographische Texte unterschiedlichster Provenienz sind ein bevorzugter Stoff, auf den sich die

3

Vgl. Lawrence Buell, Autobiography in the American Renaissance, in: Paul John Eakin (Hg.), American Autobiography: Retrospect and Prospect, Madison 1991, S. 4769.

4

Den Begriff ‚American Renaissance‘ prägte F. O. Matthiessen 1941 mit seinem im direkten Sinn ‚epochemachenden‘ Buch „American Renaissance. Art and Expression in the Age of Emerson and Whitman“. Matthiessens Darstellung eines demokratischen literarischen Nationalismus wurde bald als eine Konstruktion kritisiert, die einer exklusiven Gruppe von Schriftstellern übermäßige Aufmerksamkeit geschenkt habe. Es ist für amerikanische und amerikanistische Diskurse aber kennzeichnend, dass in der weiteren Diskussion der Begriff ‚American Renaissance‘ sowohl eingeklammert wie gleichzeitig auch festgeschrieben und ausgeweitet worden ist.

5

Als zentrale, von Matthiessen aber vernachlässigte Autobiographie der Jahrhundertmitte ist vor allen anderen Texten die „Narrative of the Life of Frederick Douglass, an American Slave – Written by Himself“ (1845) zu nennen.

6

Walt Whitman, „One’s-Self I Sing“, Vers 1-2, hier zit. nach Leaves of Grass and Selected Prose, hg. von Ellman Crasnow, London 1993, S. 3. Whitman stellte das Gedicht den Leaves of Grass zuerst im Jahr 1867 voran.

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American Studies und die von ihnen informierten amerikanischen Bildungsinstitutionen bei der Affirmation, Reflexion und Transformation amerikanischer Gegenwart sowie bei der Konstruktion und Rekonstruktion amerikanischer Traditionen beziehen.7 Mit Bezug auf das doppelte Thema des vorliegenden Bandes – mit Blick zum einen auf die Frage nach Mustern der Ästhetisierung des eigenen Lebens im Text, zum anderen auf das Verhältnis von Autobiographie und Professionsgeschichte – greife ich aus diesem gewaltigen Diskurs zwei bedeutende Texte heraus. Der erste, Henry David Thoreaus Walden; or, Life in the Woods (1854), stammt direkt aus dem engen, von Matthiessen definierten kanonischen Zentrum der sogenannten ‚American Renaissance‘. Diesem Manifest politischen Eigensinns und ökonomischer Verweigerung, das sich aber durchaus als Kernstück eines affirmativen nationalen Selbstverständnisses appropriieren ließ, soll eine rund 70 Jahre später veröffentlichte Berufsautobiographie gegenübergestellt werden: die mit My Life and Work (1923) betitelte Darstellung von Leben und Denken Henry Fords, also eben jenes Großindustriellen, der am Beginn des 20. Jahrhunderts den doppelten Imperativ maximaler Produktivität und maximaler Disziplinierung des Selbst geradezu zu verkörpern strebte. Diese sehr gegensätzlichen – wie ich zeigen möchte, aber doch auch auf signifikante Weise verbundenen – Texte haben einen außerordentlichen Einfluss auf amerikanische Diskurse der Selbstkonstitution ausgeübt. Mit Blick auf Walden bemerkt Klaus Benesch: „It is perhaps safe to say that no other writer has provoked and inspired more Americans than Henry David Thoreau.“8 Und von Ford lässt sich, mit dem gleichen doppelten Zungenschlag von „provoked and inspired“, Ähnliches behaupten. Gemeinsam markieren Walden und My Life and Work zudem den einschneidenden Transformationsprozess, der von einer bereits stark aufgebrochenen traditionellen Lebenswelt um die Mitte des 19. Jahrhunderts bis in den noch ungezügelten amerikanischen Industriekapitalismus der 1920er-Jahre, von einer hergebrachten Ordnung der Professionen (‚professions‘) hin zu den teilweise konträren Prinzipien des Professionalismus führt. Vor allem aber bieten beide Bücher Belege für die Hypothese vom Leben als ästhetischer Fiktion. Und dabei fungieren sowohl bei Ford wie auch bei Thoreau Kategorien

7

Siehe z.B. Sidonie Smith/Julia Watson, Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives (2001), 2nd ed., Minneapolis 2010.

8

Klaus Benesch, Where I Lived, and What I Lived For? Thoreau’s Platial Iconicity, in: Berndt Engler/Günter Leypoldt (Hgg.), American Cultural Icons. The Production of Representative Lives, Würzburg 2010, S. 107-121, Zitat: S.111.

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des Ökonomischen als wesentlicher Gegenstand und Motor solcher Ästhetisierung oder Fiktionalisierung.

AUTOBIOGRAPHIE

ALS

E INHAUSUNG DES S ELBST

Freilich fügen sich sowohl My Life and Work wie auch Walden nur bedingt in die Gattungskategorie der ‚Autobiographie‘. So stellt sich im ersten Fall das Problem der Autorschaft. Denn Ford betraute einen Profi mit der Abfassung seines Lebensberichts. Auf der ursprünglichen Titelseite von My Life and Work heißt es: „By Henry Ford / In Collaboration with Samuel Crowther.“9 Crowther war ein Journalist, der sich auf die Zusammenarbeit mit erfolgreichen Unternehmern spezialisiert hatte. Wie die Literatur zu Ford nahelegt, griff der ‚ghostwriter‘ bei der Erarbeitung von My Life and Work allerdings auf relativ authentische Selbstzeugnisse zurück, nicht zuletzt auf vorliegende Zeitschriften-Interviews seines Auftraggebers. Und umgekehrt muss Ford, der seine öffentliche Erscheinung sorgfältig inszenierte und inszenieren ließ, den von Crowther produzierten Text aufmerksam kontrolliert haben.10 Auch eine zweite Eigenschaft von Fords Lebensbericht ist im Zusammenhang mit dem Thema Berufsautobiographien sowohl problematisch wie auch symptomatisch. Denn in keineswegs untypischer Weise handelt es sich bei My Life and Work um eine ins autobiographische Gehäuse gegossene Programmschrift. Die Tendenz zum Verschwinden des autobiographischen Subjekts in oder hinter dem vermeintlich autobiographischen Text gilt auch für Thoreau. Allerdings gibt Walden gar nicht erst vor, eine Lebensgeschichte zu erzählen. Vielmehr soll ein Bericht – ein, wie es gleich auf der ersten Seite heißt, „simple and

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Henry Ford (mit Samuel Crowther), My Life and Work, New York 1923, Zuschreibung auf der Titelseite. In gegenwärtigen Nachdrucken des Texts, die überwiegend auf den Markt der Ratgeberliteratur zielen, wird der Zusatz zu Crowther öfters unterschlagen. Vgl. z.B. My Life and Work. An Autobiography of Henry Ford, BN Publishing 2008.

10 Zu Fords Kontrolle über seinen potenten PR-Apparat siehe Vincent Curcio, Henry Ford, Oxford 2013, S. 190. Vgl. Allan Nevins, Ford. The Times, the Man, the Company, New York 1954, S. 595, Anm. 48, wo eine bestimmte Passage aus „My Life and Work“ wie folgt kommentiert wird: „While the writing was undoubtedly Crowther’s, the ideas in this instance [!] are undoubtedly Ford’s.“

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sincere account“11 – über einen zeitlich beschränkten Selbstversuch vorgelegt werden – so die ersten Sätze: „When I wrote the following pages, or rather the bulk of them, I lived alone, in the woods, a mile from any neighbor, in a house which I had built myself, on the shore of Walden Pond, in Concord, Massachusetts, and earned my living by the labor of my hands only. I lived there two years and two months. At present I am a sojourner in civilized life again.“12

Im März 1845 – also just in dem Jahr, als der Journalist Louis O’Sullivan der laufenden Expansion der USA das Konzept der ‚Manifest Destiny‘ unterlegte – hatte der 27-jährige Thoreau sein Experiment begonnen, indem er in einem Waldstück am Walden Pond unweit seiner Heimatstadt Concord den Bauplatz für eine kleine Hütte vorbereite. Trotz seiner geringen Größe von etwa 2.000 Einwohnern besaß Concord als literarisches Zentrum und historischer Ort besondere Signifikanz. 1775 hatten hier die ersten Gefechte des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs stattgefunden, und mit einem hymnischen Gedicht zur Erinnerung an die Ereignisse, der „Concord Hymn“ (1837), hatte Ralph Waldo Emerson seinen Wohnort zu einem prototypischen US-amerikanischen Ort erhoben. Tatsächlich gehörte der Grund am Walden Pond, auf dem sich Thoreau niederließ, Emerson, der als einer der Köpfe der transzendentalistischen Bewegung bereits Bekanntheit erlangt hatte und der gegenüber Thoreau die Rolle eines Mentors einnahm. Nach seinen eigenen Angaben zog Thoreau just am 4. Juli, dem Amerikanischen Unabhängigkeitstag, in die fertige Hütte ein. Hier lebte er 26 Monate lang, bis zum September 1847 – ein Zeitraum, den die an den Jahreszeiten orientierte darstellerische Ökonomie von Walden allerdings auf ein rundes Jahr komprimiert. Obwohl es also nur von einem kurzen Lebensabschnitt handelt, reklamiert Thoreau für sein Buch gleichwohl autobiographische Repräsentativität: „In most books, the I, or first person, is omitted; in this it will be retained [...]. We commonly do not remember that it is, after all, always the first person that is speaking. [...] Moreover, I, on my side, require of every writer, first or last, a simple and sincere account of his own life, and not merely what he has heard of other menʼs lives; some such account

11 Henry David Thoreau, Walden, hg. von Stephen Fender (Oxford World’s Classics), Oxford 1997, S. 5. 12 Ebd., S. 5.

82 | ZENO A CKERMANN as he would send to his kindred from a distant land; for if he has lived sincerely, it must have been in a distant land to me.“13

Diese Ausführungen zum autobiographischen Modus sind ambivalent. Zum einen kommt zum Ausdruck, dass im Grunde jeder Text eine Autobiographie ist oder sein sollte. Und zum anderen macht Thoreau sein Bekenntnis zur eigenen Erfahrung sofort zum Ausgangspunkt eines Aperçu, eines Exkurses, der weit vom schreibenden Ich und dem Walden Pond wegführt und in die Sphäre des Gesellschaftlichen und der verallgemeinernden moralischen Aussage vorstößt. In den Vordergrund rückt nicht die Aufgabe einer vollständigen Berichterstattung über den eigenen Lebenslauf, sondern das Postulat eigener Erfahrung als Autorisierung von eigenen Urteilen. Lawrence Buell hat diese Überhöhung der eigenen Erfahrung zum geradezu universellen Exemplum als „autobiographical consciousness“ bezeichnet und mit Bezug auf Walden festgestellt: „Thoreau elaborates autobiographical consciousness to the near eclipse of the autobiographical lifeline.“14 Das Buch wäre demnach so sehr mit Thoreaus Persönlichkeit gesättigt, dass sein eigentliches Leben dahinter unkenntlich wird. Anstelle der Faktizität dieses Lebens rücken der Akt der autobiographischen Einkehr und die Signatur des darüber erstatteten Berichts in den Vordergrund.15 Für die wenigen überlieferten Photographien Thoreaus gilt etwas, das auch auf die zahlreichen überlieferten Photographien Fords zutrifft: Weil die zeitüblichen Konventionen der Portraitaufnahme nicht die Inszenierung einer aussagekräftigen Pose, sondern vielmehr die Reduktion auf ein abstraktes Ideal der Persönlichkeit intendieren, bleibt das Subjekt merkwürdig ungreifbar. Obwohl der Portraitierte in die Kamera schaut, scheint sein Blick den Betrachter zu verfehlen (vgl. Abb. 8 und 9). Auch in der Lektüre von Walden bleibt diese Abstraktheit bestehen. Denn das Selbst tritt im Text nicht an sich, sondern als Autor

13 Ebd., S. 5f. 14 Buell (wie Anm. 3), S.54. 15 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 44, wo die beschriebene Verschiebung mit Blick auf ältere Beiträge von Roy Pascal, Ingrid Aichinger und Jean Starobinski als Akzentverlagerung in der literaturwissenschaftlichen Diskussion über autobiographisches Schreiben resümiert wird: „Die autobiographische Schrift mutiert also unversehens vom Vehikel der Repräsentation zum autobiographischen Faktum, in der Beschreibung gibt sich ein Beschriebenes zu erkennen. [...] Der autobiographische Impuls [...] geht über die Motive der Selbstbewusstseinsbildung und der Selbsterkenntnis hinaus, er umfasst auch ein Moment der Selbstschöpfung.“

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seiner Selbststilisierung hervor. Je intensiver und persönlicher der Kontakt mit dieser Autorfigur ist, desto mysteriöser wird das den Leser ansprechende Gegenüber. Dabei hat das Wechselspiel von Distanz und Nähe Methode. Hier wirken also nicht die Beschränkungen, sondern eben gerade die Funktionen dieses – und vielleicht jedes – autobiographischen Texts. Denn der Text, das Textgebäude, repräsentiert nicht nur das Selbst, sondern schützt es auch vor direktem Zugriff. Geboten werden schwer durchschaubare und letztlich unüberwindliche Umschreibungen, Korrelate und Objektivationen: Einhausungen des Selbst. Mit ähnlicher Stoßrichtung hat Klaus Benesch den ikonischen Status von Thoreau in amerikanischen Diskursen der Gegenwart beschrieben. Im Unterschied zu typischen Ikonen der Pop-Kultur sei das kulturelle Gewicht Thoreaus nicht an Bilder der Person gebunden. Vielmehr sei Thoreau kraft der „metaleptischen“ Assoziation seiner Persönlichkeit mit einem bestimmten Ort, dem Walden Pond und der umgebenden Landschaft, präsent. Für diese spezifische Form der an eine Örtlichkeit (‚place‘) gebundenen ikonischen Präsenz prägt Benesch den Begriff „platial iconicity“.16 Wie hinzuzufügen wäre, hängt diese Ikonizität Thoreaus allerdings nicht nur an der Landschaft bei Concord, sondern besonders an der Hütte, die er dort baute. Von ihrer Konstruktion und Beschaffenheit handelt ein beträchtlicher Teil von Walden. Als Stellvertretung des Verfassers, seines Lebens und seiner Lebensprinzipien schmückte eine stilisierte Abbildung der Hütte das Titelblatt der Erstausgabe (Abb. 10). Entsprechend haben sich Versuche, Thoreau zu erinnern, häufig auf die Rekonstruktion seiner Behausung und ihrer genauen Position konzentriert. Zwar war der Baukörper der verlassenen Hütte schon bald an einen neuen Ort gebracht worden, wo er als Getreidespeicher diente. Aber nach Thoreaus frühem Tod im Jahr 1862 begannen Bewunderer, Steine am vermeintlichen Originalstandort zu hinterlassen, so dass eine Markierung emporwuchs. Whitman, der den Ort im Jahr 1881 besuchte, vermerkte: „On the spot in the woods where Thoreau had his solitary house is now quite a cairn of stones, to mark the place; I too carried one and deposited on the heap.“17 1945, genau hundert Jahre nach Beginn von Thoreaus Experiment, grub dann ein Lokalhistoriker das Fundament des Kamins aus, den Thoreau seiner Wohnstatt angefügt hatte.18 Einige hundert Meter entfernt, im Bereich der aus-

16 Benesch (wie Anm. 8), S. 110. 17 Walt Whitman, Other Concord Notations, in: Specimen Days, zit. nach: Ders., Prose Works 1892, hg. von Floyd Stovall, New York 1963, Bd. 1, S. 280. 18 Zur weiteren Geschichte von Thoreaus Hütte und zum Walden Pond als einem literarischen Erinnerungsort siehe Shelley Fisher Fishkin, Living in Harmony with Nature,

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gedehnten Parkplatzanlage, können heutige Besucher zudem eine detailgetreue Rekonstruktion der Hütte besichtigen. Sie dient offenbar nicht nur als Erinnerung an Thoreau und sein Leben am Walden Pond, sondern auch als Korrelat seines darüber verfassten autobiographischen Berichts.

ANTIPROFESSIONALISMUS Als Zeugnis der kulturellen Prägekraft von Walden und der „platial iconicity“ Thoreaus darf wahrscheinlich auch Frank Lloyd Wrights letztes Bauwerk betrachtet werden, das 1958 entworfene Cottage for Mr. Seth C. Peterson. Es handelt sich um ein großzügiges Ferienhaus, das am Rand des kleinen Mirror Lake (Wisconsin) mitten in den Wald gesetzt ist. Bei allem gestalterischen Aufwand fügt sich das Gebäude doch unaufdringlich in die Umwelt. Die den privaten Raum zum Dialog mit der Natur öffnenden Glasfassaden scheinen das Ethos von Thoreaus autobiographischer Reflexions- und Programmschrift aufzunehmen. Entsprechend stellt ein aktueller Architektur-Blog eine Photographie des Cottage for Mr. Peterson unter die Überschrift „Frank Lloyd Wrightʼs Take on Walden“.19 Gleichzeitig postulieren verschiedene architekturgeschichtliche Beiträge einen bedeutenden Einfluss Thoreaus auf Wrights Denken und Bauen. 20 Wenn sich der Architekt in den 1930er-Jahren in eine abgelegene Hütte zurückzog, um seine Autobiographie zu verfassen, mag das solchem Einfluss geschuldet gewesen sein. Tatsächlich fand Thoreau Eingang in die zwischen Selbstironie und Vermessenheit schwankende Liste vermeintlicher Anreger, die Wright seiner Autobiographie als summarischen „Index“ nachstellte.21

in: Writing America. Literary Landmarks from Walden Pond to Wounded Knee, New Brunswick 2015, S. 46. 19 „Frank Lloyd Wright's Take on Walden“, Wheat and Barley (Blog); Eintrag vom 8. Mai 2013. Der zugehörige Kommentar lautet: „I wonder how ,Walden‘ would’ve turned out if Thoreau spent his time here.“ 20 Siehe v. a. Naomi Uechi, Evolving Transcendentalism. Thoreauvian Simplicity in Frank Lloyd Wright's Taliesin and Contemporary Ecological Architecture, in: The Concord Saunterer, New Series, 17, 2009, S. 73-98; vgl. die dort genannte weitere Literatur. 21 Frank Lloyd Wright, An Autobiography, New York 1943, S. 561: „For the writing of this work I have long ago consulted and occasionally remembered Pythagoras, Aristophanes, Socrates, Heraclitus, Laotze, Buddha, Jesus, Tolstoy, Kropotkin, Bacon, William Blake, Samuel Butler, Mazzini, Walt Whitman, Henry George, Grundvig,

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Dass gerade Thoreaus Walden als wichtiges Muster für Konstruktionen des tätigen, ja des geschäftigen Lebens gedient hat, kann überraschen. Denn es handelt sich zunächst um ein radikales Manifest der Mußepräferenz. Bekanntlich zeichnet Thoreau seinen Aufenthalt am Walden Pond als Ergebnis eines souveränen Entschlusses zur Beschränkung auf das absolut Notwendige: „I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived. I did not wish to live what was not life, living is so dear; nor did I wish to practise resignation, unless it was quite necessary. I wanted to live deep and suck out all the marrow of life.“22

In solchen Passagen, die unabhängig von Leistung und Wohlstand das mit offenen Sinnen gelebte Leben als eigentlichen Wert proklamieren, wird eine andere formative amerikanische Autobiographie gleichzeitig aufgegriffen und korrigiert: die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verfasste Autobiography of Benjamin Franklin. So bemerkt Dana D. Nelson: „Thoreauʼs alternative economy revises the industrious aim of Benjamin Franklinʼs equally timeless adage, ‚Early to bed, early to rise, makes a man healthy, wealthy and wise‘, placing the emphasis less on wealth and more on health and wisdom.“ Gerade diese alternative Konzeption des tätigen Lebens als voll gelebtem Leben habe die Leserinnen und Leser von Thoreaus Lebenszeit bis heute begeistert.23 Es muss unsere Einschätzung nicht unbedingt trüben, dass es durchaus auch praktische Motivationen für Thoreaus Hüttenleben gab. Ein Zweck bestand in der ungestörten Vollendung seines ersten Buches, des Berichts über eine Bootstour, die er einige Jahre zuvor mit einem inzwischen verstorbenen Bruder unternommen hatte. Die so am Ufer des Walden Pond vorbereitete entschiedene Wendung zum Beruf des Schriftstellers hätte einem Leben Form gegeben, das noch keine klare Richtung aufwies. Zwar hatte Thoreau, der einer nur mäßig wohlhabenden Familie entstammte, in Harvard studieren können. Aber auch acht Jahre nach seinem 1837 erlangten Universitätsabschluss war er noch nicht in

George Meredith, Henry Thoreau, Herman Melville, George Borrow, Goethe, Carlyle, Nietzsche, Voltaire, Cervantes, Giacosa, Shelley, Shakespeare, Milton, Thorstein Veblen, Nehru, Major Douglas, and Silvio Gesell.“ 22 Thoreau (wie Anm. 11), S. 83. 23 Dana D. Nelson, Thoreau, Manhood, and Race: Quiet Desperation versus Representative Isolation, in: William E. Cain (Hg.), A Historical Guide to Henry David Thoreau, Oxford 2000, S. 62.

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eine stabile ökonomische Existenz eingetreten. Stattdessen hatte der vielseitige Thoreau eine Reihe ganz unterschiedlicher Tätigkeiten ausgeübt. Er arbeitete in der kleinen Bleistiftmanufaktur seiner Eltern mit, deren Erfolg er mit einigen praktischen Erfindungen befördern konnte. Mit Unterbrechungen war er als Schullehrer tätig. Zwei Jahre lebte er als Faktotum in Emersons Haushalt. Mehrere Monate brachte er als Hauslehrer auf Staten Island zu. Und zwischenzeitlich verdiente Thoreau – ausgerechnet, so ließe sich angesichts seines Rufs als radikalem Umweltschützer vielleicht sagen – als freiberuflicher Landvermesser Geld.24 Mit seinem Experiment am Walden Pond stieg Thoreau also keineswegs aus einem bereits in feste Bahnen eingetretenen bürgerlichen Leben aus. Vielmehr scheint es, dass er in Ruhe die Möglichkeiten eines Neustarts bedenken wollte. Das Buch, das Thoreau in seiner Hütte am Walden Pond vollendete, erschien 1849 unter dem Titel A Week on the Concord and Merrimack Rivers. Es sollte erfolglos bleiben. Aus einer Auflage von 1.000 Exemplaren hatten sich bis 1853 weniger als 300 absetzen lassen. Der Verleger stellte dem Autor die unverkauften Ausgaben schließlich zu, worauf Thoreau in seinem Tagebuch vermerkte, er besitze nun eine Bibliothek von annähernd 900 Bänden, von denen er mehr als 700 selbst verfasst habe.25 Vor dem Hintergrund des sich schon länger abzeichnenden Misserfolgs seines ersten Buchs überarbeitete Thoreau seine Entwürfe zu Walden, das im Jahr nach dem zitierten Tagebucheintrag erschien, mehrfach.26 Und tatsächlich gelang ihm nun ein Achtungserfolg.27 Mit Hilfe systematischer Zuspitzungen – durch eine prägnante Rhetorik, vielfache humoristische Volten28 und provokante Positionierungen zu Zeitfragen – hatte Thoreau es nun vermocht, das Publikum zu interessieren. Dabei machte er auch das

24 Siehe zu dieser Facette Thoreaus Patrick Chura, Thoreau, the Land Surveyor, Gainesville 2010. 25 Thoreau; zit. in Cain (wie Anm. 23), S. 37. 26 Zur Genese des Texts siehe v.a. J. Lyndon Shanley, The Making of Walden, Chicago 1957. 27 Vgl. Walter Harding, Thoreau’s Reputation, in: The Cambridge Companion to Henry David Thoreau, hg. von Joel Myerson, Cambridge 1995, S. 3: „Although there has grown up a legend that Walden, like ,A Weekʻ, was ignored on its publication, it actually received nearly one hundred reviews and notices, most of them highly favorable.“ 28 Vgl. David S. Reynolds, Thoreau and ‚True Humor‘, in: Beneath the American Renaissance. The Subversive Imagination in the Age of Emerson and Melville, New York 1988, S. 497-506.

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Problem zum Thema, in einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft einen befriedigenden Beruf zu finden: „Finding that my fellow-citizens were not likely to offer me any room in the court house, or any curacy or living any where else, but I must shift for myself, I turned my face more exclusively than ever to the woods, where I was better known. I determined to go into business at once, and not wait to acquire the usual capital, using such slender means as I had already got.“29

Hier wird die Rhetorik der Berufs- und Geschäftstätigkeit in die Felder privater und natürlicher Existenz hineingetragen. Der Effekt ist wechselseitige Ironisierung: Einerseits erweisen sich die Formeln der Wirtschaftswelt vor dem Hintergrund der Eigentlichkeit des Lebens als leer; andererseits lassen sich die ungelösten Probleme der eigenen Existenz aus dieser Perspektive zur pikaresken Pose stilisieren. Der spezifische Effekt und die argumentative Kraft von Walden beruhen jedoch auf einem Wechselspiel von uneigentlichem und eigentlichem Reden, von Pose und Position, Ironie und Ernst. Zwar bietet sich der Erzähler als Objekt des milden Lächelns seiner im bürgerlichen Leben verankerten Zeitgenossen an. Doch macht er gerade seine schwache Position zur Basis einer Fundamentalkritik, deren Duktus gelegentlich an Adorno denken lässt: „The mass of men lead lives of quiet desperation. What is called resignation is confirmed desperation. [...] A stereotyped but unconscious despair is concealed even under what are called the games and amusements of mankind. There is no play in them, for this comes after work.“30

Thoreau attackiert nicht nur den sich eben durchsetzenden Industriekapitalismus, sondern das Grundideal der ‚industry‘ an sich. Ein wesentlicher Sinn von Wal-

29 Thoreau (wie Anm. 11), S. 19. Die Rechtfertigung eigener literarischer Tätigkeit, die Thoreau hier im Prinzip bietet, weißt frappante Ähnlichkeiten mit der langen autobiographischen oder autofiktionalen Vignette auf, die Hawthorne wenige Jahre später unter dem Titel „The Custom-House“ seinem historischen Roman The Scarlet Letter (1850) voranstellte. In beiden Fällen wird die Freiheit von bürgerlicher Berufstätigkeit, die das Subjekt für seine schriftstellerische Tätigkeit in Anspruch nimmt, mit erfahrenen Misserfolgen oder Missachtungen begründet. Wie bei Thoreau so kann auch bei Hawthorne der Eindruck entstehen, dass der ironische Gestus zum Teil dazu zu dient, Verletzungen zu kaschieren. 30 Thoreau (wie Anm. 11), S. 9.

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den besteht darin, das kraft der puritanischen Tradition in den USA besonders tief eingefleischte Ideal der arbeitsamen Bewährung zu überschreiben. Bereits traditionelle Formen des Wirtschaftens erscheinen der Erzähl- und Dozierstimme von Walden als ein ständiges Sich-Vergehen am Selbst: „I see young men, my townsmen, whose misfortune it is to have inherited farms, houses, barns, cattle, and farming tools; for these are more easily acquired than got rid of. Better if they had been born in the open pasture and suckled by a wolf, that they might have seen with clearer eyes what field they were called to labor in.“31

Im Kontext von Thoreaus Biographie lässt sich seine Übersiedlung an den Walden Pond durchaus als Rückzug eines Berufslosen aus der Sphäre des Berufslebens verstehen. In der Annäherung an die natürlichen Kontexte menschlicher Existenz gewinnt das Subjekt eine Position, von der aus die Gesetzmäßigkeiten professionellen Lebens und Arbeitens als Entfremdung attackiert werden können. Das Gegenüber dieser Kritik des Harvard-Absolventen Thoreau ist zunächst ein anhebender Prozess ökonomischer und sozialer Differenzierung, der ein traditionelles, noch auf Rudimente einer gleichsam ständischen Ordnung bezogenes Konzept der ‚professions‘ im Sinn moderner Vorstellungen von ‚professionalism‘ unterlief. Walden reagiert also auf einen Umbruch der Werte, in dessen Verlauf effiziente Produktivität an die Stelle wirkungsvoller Repräsentativität und funktionale Kompetenzen an die Stelle übergreifender Bildungsideale zu rücken begannen. Entsprechend der Logik des Schulterschlusses mit der Natur gerät Thoreaus Kritik der Professionalisierung allerdings zur fundamentalen Kritik der Berufstätigkeit an und für sich.

T HOREAU

ALS

‚T RANSCENDENTAL E CONOMIST ‘

Trotz seiner an den Grundfesten jedes Arbeits- oder Berufsethos rührender Provokationen, zeigt sich Thoreau in Walden gleichwohl auf das Thema des Arbeitens und Wirtschaftens fixiert. Mit auffallender Ausführlichkeit berichtet er von arbeitsförmigen Tätigkeiten. So wird bis ins kleinste Detail geschildert, wie der Einsiedler seine Hütte baut, wie er später einen Kamin anfügt und Putz aufträgt, wie er ein Bohnenfeld anlegt und pflegt. Dass sich Thoreau schließlich zu einer aufwändigen Vermessung des Walden Pond entschließt, könnte als Anzeichen zivilisatorischer Betriebsamkeit erscheinen. Überhaupt lässt sich Walden dur-

31 Ebd., S. 6f.

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chaus als Plädoyer für das Ideal der Praxis lesen: „To be a philosopher“, so ein Diktum des Texts, „is to solve some of the problems of life, not only theoretically, but practically.“32 Vernon Louis Parrington überschrieb das Thoreau-Kapitel seiner wichtigen literatur- und mentalitätsgeschichtlichen Gesamtdarstellung Main Currents in American Thought mit dem Titel: „Henry Thoreau: Transcendental Economist“.33 „Walden“, so formulierte Parrington, „is the handbook of an economy that endeavors to refute Adam Smith and transform the round of daily life into something nobler than a mean gospel of plus and minus.“34 Tatsächlich trägt das erste und mit Abstand längste Kapitel von Walden den in seiner Schlichtheit provokanten Titel „Economy“. Hier wird der Begriff des Ökonomischen ernst genommen – so ernst, dass der autobiographische Text in die Formen der Buchhaltung gleitet. Eine von mehreren tabellarischen Darstellungen listet beispielsweise die Kosten des Hüttenbaus auf (Abb. 11).35 Und an anderer Stelle geht Thoreau so weit, die Ausgaben für sein Experiment mit den während seines Aufenthalts am Walden Pond erzielten Einnahmen zu verrechnen. Er scheut sich nicht, eine negative Bilanz von etwas mehr als $ 25 einzugestehen, gegen die er aber die Hütte als bleibenden Kapitalbestand anführt.36 Gerät der Text also doch in das hinein, was Parrington als „mean gospel of plus and minus“ bezeichnete? Der Widerspruch lässt sich lösen, wenn Thoreaus Bilanzen im Wortsinn als ‚Abrechnungen‘ gelesen werden. Denn eine wesentliche Funktion der in Walden gebotenen autobiographischen Buchführung besteht in der Herstellung eines vollkommen einfachen und nachvollziehbaren Verhältnisses zur Wirtschaftswelt. Der so mit der Außenwelt gleichsam ins Reine gekommene Haushalt soll sich dann auf sich selbst als weitgehend autochthone Einheit konzentrieren können. Es geht also um die – freilich fiktive oder rhetorische – Herstellung einer Sphäre eigener (schriftstellerischer) Praxis, die gegen das moderne Wirtschaftsleben und seine Diskurse so gut wie nur eben möglich isoliert ist. Diesen Aspekt hat Leonard N. Neufeldt in seiner Untersuchung The Economist: Henry Thoreau and Enterprise (1989) herausgearbeitet. Neufeldts Analyse zeigt, wie Thoreau den Begriff des Ökonomischen zu seinen älteren Bedeutungen zurücktreibt, wie er seinen Oikos am Ufer des Sees aus mo-

32 Ebd., S. 15. 33 Vernon Louis Parrington, Henry Thoreau: Transcendental Economist, in: The Romantic Revolution in America 1800–1860 (1927), New York 1954, S. 392-406. 34 Ebd., S. 393. 35 Thoreau (wie Anm. 11), S. 45. 36 Ebd., S. 55.

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dernen Logiken des Arbeitens und Wirtschaftens gleichzeitig herauspräparieren und herausnehmen will.37 Vollzogen wird diese virtuelle Exemption kraft symbolischer Handlungen. Durch Inanspruchnahme eines bestimmten Modells der Literarizität scheint es dabei auch zu gelingen, die Verfahren der Buchführung ins Rhetorische zu verschieben. Beinahe jeder Satz von Walden arbeitet an dieser Verschiebung des Ökonomischen ins Oikonomische – womit Thoreau freilich auch an einem zeitgenössischen Diskurs der ‚domestic economy‘ partizipierte, der in den USA besonders lebendig und auf besondere Weise politisch signifikant war. 38 Als Beispiel sollen einige Sätze aus Thoreaus Darstellung seiner Arbeit in dem Bohnenfeld dienen, das er auf wenig fruchtbarem Boden unweit seiner Hütte anlegte: „Before yet any woodchuck or squirrel had run across the road, or the sun had got above the shrub-oaks, while all the dew was on, though the farmers warned me against it [...] I began to level the ranks of haughty weeds in my bean-field and throw dust upon their heads. Early in the morning I worked barefooted, dabbling like a plastic artist in the dewy and crumbling sand, but later in the day the sun blistered my feet. [...] Removing the weeds, putting fresh soil about the bean stems, and encouraging this weed which I had sown, making the yellow soil express its summer thought in bean leaves and blossoms rather than in wormwood and piper and millet grass, making the earth say beans instead of grass, – this was my daily work. As I had little aid from horses or cattle, or hired men or boys, or improved implements of husbandry, I was much slower, and became much more intimate with my beans than usual. But labor of the hands, even when pursued to the verge of drudgery, is perhaps never the worst form of idleness.“39

Stolz kehrt Thoreau heraus, dass er die Ratschläge erfahrener Bauern ignoriert, und setzt so die Arbeit im Bohnenfeld gegen produktive und professionelle Arbeit ab. Stattdessen wird Feldarbeit als rhetorische Arbeit neu konzipiert. Wie die Anspielung auf das Alte Testament (Hiob 2.12: „und sie sprengten Erde auf ihr Haupt gen Himmel“) zeigt, wird der Raum, in dem diese Arbeit zu leisten ist, weit gesteckt. Es ist der Raum ursprünglicher Überlieferung, der mythologische Raum grundlegender Begegnung des Menschen mit Schöpfung und Schöpfer. Indem sich Thoreau mit einem ‚plastic artist‘, einem Bildhauer, vergleicht, ruft

37 Leonard N. Neufeldt, The Economist. Henry Thoreau and Enterprise, New York 1989. 38 Vgl. den wichtigen Aufsatz von Cecelia Tichi, Domesticity on Walden Pond, in: Cain (wie Anm. 23), S. 95-121. 39 Thoreau (wie Anm. 11), S. 141f.

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er auch die Sphäre der Kunst auf – jene Sphäre also, in der die Gegebenheiten von Natur und Überlieferung durch menschliche Kreativität neu gestaltet werden. Im Fortlauf der Passage wird die im Bohnenfeld Reihe für Reihe (oder eben Zeile für Zeile) verrichtete künstlerische Arbeit als schriftstellerische Arbeit ausgewiesen: „making the yellow soil express its summer thought in bean leaves and blossoms rather than in wormwood and piper and millet grass, making the earth say beans instead of grass“. Eingegriffen wird weniger in die Materialität der Natur als in ihre Semantik. Auf für ihn typische Weise schließt Thoreau mit einer Sentenz, welche die vollzogenen Verschiebungen oder Umwertungen zum allgemeingültigen Paradox verdichtet: Körperliche Arbeit, so heißt es sardonisch, sei keinesfalls die übelste Form des Müßiggangs. Der transzendalistische Trick von Thoreaus ‚Oikonomik‘ besteht also darin, praktische und symbolische Handlungen miteinander zu verschränken oder gar zu vertauschen.40 Proklamiert wird eine umgekehrte Pragmatik, die nicht um die praktischen Effekte rhetorischer Handlungen, sondern um die rhetorischen Effekte praktischer Handlungen kreist. Die propagierte Lebensweise gehorcht dem Imperativ minimaler Effizienz. Es geht um ein stetiges praktisches Wirken in der Welt, das diese doch so wenig wie möglich materiell verändert. Wie schon das Zentralbild der Hütte deutlich macht, ist dies alles andere als eine Abkehr vom Ideal der Zivilisation. Vielmehr geht es um eine konsequente Rhetorisierung und Literarisierung zivilisatorischer Energie. Wie sich in den Verbindungen zu Frank Lloyd Wrights Lebensbericht bereits andeutete, hat aber gerade Thoreaus Entpragmatisierung des Arbeitsbegriffs Walden zu einem wichtigen Bezugspunkt für professionelle Akteure gemacht, die ihr Leben und Wirken von den rigiden Determinismen von Wirtschaft und Wirtschaftlichkeit emanzipieren wollen.

40 Dass Thoreau mit dieser Verschränkung in einer puritanischen Tradition stand, war ihm selbst durchaus bewusst. Vgl. Stanley Cavell, The Senses of Walden (1972), expanded edition 1981, Chicago 1992, S. 10: „[T]he literal events of the Puritan colonization were from the beginning overshadowed by their meaning: it was itself a transcendental act, an attempt to live the idea, you could call it a transcendental declaration of freedom. (In his ‚Plea for Captain John Brown‘, Thoreau praised this man once as a Puritan and once as a Transcendentalist.) [...] The more deeply he searches for independence from the Puritans, the more deeply, in every step and every word, he identifies with them – not only in their wild hopes, but in their wild denunciations of their betrayals of those hopes, in what has come to be called their jeremiads.“

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„A PRINCIPLE

AT WORK “:

H ENRY F ORD

Emerson (der Thoreau eine Zeitlang auch als Gärtner beschäftigt hatte) tat sich nicht leicht mit dem konsequenten Transzendentalismus seines Protegés. In einem vorher als Grabrede gehaltenen Nachruf wollte er Thoreaus Selbstinszenierung vom Kopf auf die Füße stellen: „I so much regret the loss of his rare powers of action, that I cannot help counting it a fault in him that he had no ambition. Wanting this instead of engineering for all America, he was the captain of a huckleberry party. Pounding beans is good to the end of pounding empires one of these days; but if, at the end of years, it is still only beans!“41

Wie steht es also um die mit fremder Hilfe auf den Weg gebrachte Autobiographie Fords, der die von Emerson hier in Stellung gebrachten Lebensideale auf herausragende Weise erfüllte – der also tatsächlich ein captain of industry war und nicht bloß „captain of a huckleberry party“ (also Anführer einer Waldexpedition zum Pflücken von Heidelbeeren). Dass sich My Life and Work in vielfacher Hinsicht als Gegenstück zu Walden darstellt, leuchtet sofort ein. Während Thoreau in seinem autobiographischen Essay das eigene Leben tatsächlich und systematisch als ästhetische Fiktion gestaltete, scheinen Ford und Crowther auf alles, was wir mit den Begriffen Ästhetik oder Ästhetisierung verbinden, ostentativ zu verzichten. Stanley Cavell hat darauf bestanden, dass Walden in erster Linie als Buch über das Verfassen eines Buchs bzw. als Akt der performativen Selbsterhöhung des Autors zum Schriftsteller zu lesen sei.42 Ford dagegen lässt sich in My Life and Work gewissermaßen als Gegenteil eines Büchermenschen repräsentieren: „It is not possible to learn from books how everything is made – and a real mechanic ought to know how nearly everything is made. Machines are to a mechanic what books are to a writer. He gets ideas from them, and if he has any brains he will apply those ideas.“43 Wenn Thoreau auf Minimalisierung der Stoffströme bei gleichzeitiger Maximalisierung des rhetorischen Aufwands hinarbeitete und hinschrieb, so verhält es sich bei Ford und dem ihm zugeschriebe-

41 Ralph Waldo Emerson, Atlantic Monthly, August 1862; zit. nach: Ralph Waldo Emerson’s Eulogy of May 9th, 1862, The Thoreau Reader . Thoreau hatte die Grabrede im Mai gehalten und für die hier zitierte Publikation im August des gleichen Jahrs deutlich überarbeitet. 42 Cavell (wie Anm. 40), S. 5 und passim. 43 Ford/Crowther (wie Anm. 9), S. 23f.

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nen Text gerade umgekehrt: Es geht um Maximalisierung der Stoffströme und Minimalisierung des rhetorischen Aufwands. In der Folge zeichnet sich My Life and Work durch fast beängstigende Leere aus. Ein rundes oder in die Tiefe reichendes Bild der Person Henry Ford wird nicht gezeichnet und soll wohl auch nicht gezeichnet werden. Entsprechend tritt in der Einleitung zunächst kein ‚I‘, sondern ein außerordentlich insistentes ‚we‘ hervor. So lauten etwa die ersten Sätze des Buchs: „We have only started on our development of our country – we have not as yet, with all our talk of wonderful progress, done more than scratch the surface. The progress has been wonderful enough – but when we compare what we have done with what there is to do, then our past accomplishments are as nothing.“44

Die erste Person Plural spricht für zwei Kollektive gleichzeitig: zum einen für das amerikanische Volk und zum anderen für die Firma Ford. Dass der Text die Grenzen zwischen beiden Kollektiven verschwimmen lässt, hat Methode. Denn eben in einem solchen Verschmelzen liegen die politische Vision und der ideologische Sinn von My Life and Work: Die Firma Ford soll als Gemeinwesen und die USA sollen als gewaltige Fabrik bzw. potentes Dienstleistungsunternehmen (neu) gedacht werden. Die Lebensgeschichte des Menschen Henry Ford wird in My Life and Work nur insoweit erzählt, als es im Zusammenhang mit der Geschichte der von ihm entwickelten Maschinen und Geschäftsmodelle erforderlich und möglich ist. Hier die Passage in der nach vielen mit Maximen gefüllten Seiten endlich so etwas wie ein Lebensbericht anzuheben scheint: „It was life on the farm that drove me into devising ways and means to better transportation. I was born on July 30, 1863, on a farm at Dearborn, Michigan, and my earliest recollection is that, considering the results, there was too much work on the place.“45 Eine spätere Stelle des Buchs handelt von der Unfähigkeit vieler Beobachter, das Phänomen Ford richtig einzuordnen: „The question was already being asked: ,How soon will Ford blow up?ʻ Nobody knows how many thousand times it has been asked since. It is asked only because of the failure to grasp that a principle rather than an individual is at work, and the principle is so simple that it seems mysterious.“46

44 Ebd., S. 1. 45 Ebd., S. 22. 46 Ebd., S. 73.

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„A principle rather than an individual is at work“: Die Passage kann freilich auch helfen, die Erzählhaltung von My Life and Work noch besser zu verstehen. Denn hier spricht dem Selbstverständnis des Textes nach kein Individuum und letztlich auch keine bestimmte Firma – hier spricht ein Prinzip, das sich mit der doppelten Bedeutung des Namens Ford verbunden hat. Und dieses Prinzip verlangt nach allumfassender Verwirklichung. Dies wird z.B. deutlich, wenn im Zusammenhang eines Berichts über die ununterbrochene Optimierung des Produktionsprozesses folgende Worte fallen: „Take at random a number of the changes. From them it is possible [...] to gain some idea of what will happen when this world is put on a production basis.“47 Während Thoreau gerade auch seine politische Radikalität aus dem Wunsch gewinnt, sich am liebsten in gar nichts einzumischen, will sich Ford mit der robusten Naivität des bestätigten Pragmatikers in einfach alles einmischen. Tatsächlich ist My Life and Work nicht nur als ökonomisch-technische, sondern darüber hinaus als politische Programmschrift zu verstehen und soll als solche auch die Bewunderung Hitlers gefunden haben.48 Diese Bewunderung war freilich der Kehrseite von Fords systematischer Verkennung der Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftens geschuldet. Denn ein wesentlicher Trick seiner Darstellung besteht darin, an Stelle des primären Prinzips der Profitmaximierung das sekundäre der Preisminimierung und des Diensts am Kunden („service“) zu setzen. Resultat war die Fortschreibung spätfeudalistischer Ideale und Ideologien einer angeblich jenseits des Marktes verankerten unvermittelten Verbundenheit von

47 Ebd., S. 79. 48 Vgl. z.B. folgende Kolportagen bei Curcio (wie Anm. 10), S. 144: „One of [Ford’s] biggest fans was Adolf Hitler. Ford was the only American mentioned by Hitler in ,Mein Kampfʻ and, according to his American editors, he even copied some sections of ,My Life and Workʻ [...] verbatim into the unexpurgated edition of his book. Hitler was also said to have a full-length portrait of Ford in the headquarters of the National Socialist Party.“ Noch 1923, also im Jahr des Erscheinens der Originalausgabe und zwei Jahre vor der Veröffentlichung des ersten Bands von „Mein Kampf“, war Fords Autobiographie vom List-Verlag als „Mein Leben und Werk“ in einer autorisierten deutschen Übersetzung vorgelegt worden. Rückschlüsse auf die lebhafte und offenbar vielfach positive Rezeption des Buchs als Manifest des ‚Fordismus‘ erlaubt eine überaus leidenschaftliche Broschüre des Betriebsanwalts Gustav Winters, Der falsche Messias Henry Ford. Ein Alarmsignal für das gesamte deutsche Volk, Leipzig 1924. Winter sieht sein Buch explizit als Replik auf Fords Autobiographie, die er als „eines der furchtbarsten und in seinen Wirkungen grauenvollsten Bücher der Weltliteratur“ (S. 7) bezeichnet.

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Produzent, Arbeiter und Konsument. Und wo die tatsächlichen Verhältnisse diesen überlebten Fiktionen allzu deutlich widersprachen, traten antisemitische Erklärungsmuster ein. Diese kommen in My Life and Work mit frappierender Selbstverständlichkeit an die Oberfläche – etwa, wenn bestimmte Phänomene in Kultur und Wirtschaft der USA als „nasty Orientalism“ beschrieben und begründet werden.49

AUTOBIOGRAPHIE

UND ‚ OIKONOMISCHE ‘

R EDUKTION

Eine logische Bruchlinie von My Life and Work verläuft durch den Begriff der Arbeit. Einerseits wird (etwa im Zusammenhang mit der verhassten Farmarbeit) der Gedanke der Arbeitsvermeidung zum Ausgangspunkt erhoben. Andererseits erklärt der Erzähler: „In my mind nothing is more abhorrent than a life of ease. None of us has any right to ease.“50 Arbeit soll als Wert an sich und Ausgangspunkt aller anderen Werte gelten: „The natural thing to do is to work – to recognize that prosperity and happiness can be obtained only through honest effort. Human ills flow largely from attempting to escape from this natural course. I have no suggestion which goes beyond accepting in its fullest this principle of nature. I take it for granted that we must work.“51

Nichts könnte in einem deutlicheren Gegensatz zu Thoreaus Gedanken stehen, als Fords Vision einer permanenten fundamentalen Umgestaltung der Welt durch niemals nachlassende und maschinell in ihrer Wirkungsmacht unendlich verstärkte Arbeit. Und doch gibt es bedeutsame Berührungspunkte zwischen den beiden diskutierten Texten. In diesem Sinn wollte 1988 ein „Henry Ford, Transcendentalist“ überschriebener Beitrag zum Thoreau Society Bulletin einen kleinen Knalleffekt erzielen. Der Verfasser leitete mit folgenden Sätzen ein:

49 Ford/Crowther (wie Anm. 9), S. 251; vgl. S. 250-252. Die Passage schließt ein mit „Things in General“ betiteltes Kapitel. Nach dem Erscheinen von „My Life and Work“ ließ Ford zwischen April 1924 und Mai 1925 im Dearborn Independent, dessen Eigentümer er war, eine Serie manifest antisemitischer Beiträge erscheinen. Dies drohte zu rechtlichen Konsequenzen zu führen, als zwei Rechtsanwälte den Industriellen wegen Verleumdung anklagten. Vgl. dazu Victoria Saker Woeste, Henry Ford’s War on Jews and the Legal Battle Against Hate Speech, Stanford, CA 2012. 50 Ford/Crowther (wie Anm. 9), S.13. 51 Ebd., S. 3.

96 | ZENO A CKERMANN „At first glance, it might seem odd to compare the two Henrys: Ford and Thoreau. What could a self-made billionaire have in common with a man who built a house for $28.12½? Well, at one time a new Model T runabout cost only $260 and was one of the most durable and inexpensive cars ever made. It was just as much a statement of Fordʼs philosophy as Walden was of Thoreauʼs. Both men were strongly individualistic and each firmly believed in simplicity and self[-]reliance.“52

So naiv diese Sätze erscheinen, weisen sie doch auf wirklich vorhandene Gemeinsamkeiten hin. Diese resultieren vor allem daraus, dass sowohl Walden wie auch My Life and Work auf (unterschiedliche) Phasen des sozioökonomischen Transformationsprozesses reagierten, der die noch weithin traditionell orientierten USA der Mitte des 19. Jahrhunderts zügig in ein Schwerkraftzentrum des modernen Industriekapitalismus verwandelte. Vor diesem Hintergrund wollen beide Bücher stolze Monumente des Eigensinns sein. Und in beiden Fällen kann dieses Insistieren auf Eigensinn gleichzeitig als Kennzeichen moderner Selbstentwürfe verstanden werden wie auch als Widerstand gegen die Kräfte der Modernisierung. Ähnliches gilt für das Prinzip der Einfachheit, das bei Thoreau und bei Ford als Kernprinzip vernünftigen Lebens und Wirtschaftens fungiert. Thoreaus Insistieren auf ‚simplicity‘ wird oftmals als Ausfluss einer rückwärtsgewandten Sehnsucht nach ursprünglicher Einfachheit verstanden. Es nimmt aber auch eine modernistische Konzeption schnörkelloser Formen und Lebensformen vorweg. Umgekehrt ist Fords Prinzip einer konsumenten- und bedienerfreundlichen ‚simplicity‘53 zunächst mit dem modernen Imperativ der Effizienzmaximierung gekoppelt – es erscheint aber gleichzeitig als Ausdruck jenes sturen und altmodischen Beharrens auf Überschaubarkeit, das Ford nach spektakulären Erfolgen zunehmend Probleme bereiten sollte. Tatsächlich wird die signifikante Verbindungslinie zwischen Ford und Thoreau an einer Stelle von My Life and Work hervorgekehrt. Die entsprechende Passage handelt von Fords historisch belegter Freundschaft mit dem Naturschriftsteller John Burroughs und spielt bei dessen Beschreibung recht deutlich auf Thoreau an: „Like another American naturalist“, heißt es hier über Bur-

52 Jim Dawson, Henry Ford, Transcendentalist, in: The Thoreau Society Bulletin 182, Winter 1988, S. 5. 53 Siehe z. B. Ford/Crowther (wie Anm. 9), S. 18: „My effort is in the direction of simplicity. People in general have so little and it costs so much to buy even the barest necessities [...] because nearly everything that we make is much more complex than it needs to be. Our clothing, our food, our household furnishings – all could be much simpler than they now are and at the same time be better looking.“

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roughs, „his occupation could have been described as inspector of birds’ nests and hillside paths. Of course, that does not pay in dollars and cents.“54 Ganz ähnlich hatte sich Thoreau in Walden als „self-appointed inspector of snowstorms and rain-storms“ sowie als „surveyor, if not of highways, then of forest paths and all across-lot routes“ bezeichnet.55 Burroughs soll Ford mit den Schriften Emersons bekannt gemacht haben. Und die Ford-Biographen halten bis heute an der Kolportage fest, dass Emersons Essay „On Compensation“ den Industriellen bei der großzügigen Neuordnung der Entlohnung seiner Arbeiter beeinflusst haben könnte.56 Die wirtschaftliche Vernunft der Einführung des ‚five-dollar, eight-hour day‘ im Jahr 1914 sollte sich schnell zeigen. Den Zeitgenossen erschien Fords Schritt freilich zunächst als selbstmörderisch. Er war möglich, weil der Großkapitalist Ford sein Unternehmen nicht im Sinn der Doktrinen des zeitgenössischen Kapitalismus denken wollte, sondern vielmehr – und zwar auf durchaus ideologische Weise – im Rahmen der alten rhetorischen und semantischen Muster des ‚Oikos‘. Dieser antimoderne Drang zur Reduktion verbindet My Life and Work mit Walden. In unterschiedlicher Weise lassen sich beide Bücher als Versuche einer mit Hilfe der autobiographischen Form vollzogenen radikalen Komplexitätsreduzierung verstehen. Eine solche Komplexitätsreduzierung erzielten Ford und Thoreau zum einen, indem sie ein Gerüst von Maximen zur Verfügung stellten, die es dem Individuum zu ermöglichen schienen, sich den Anforderungen modernen Lebens und Arbeitens wenigstens teilweise zu entziehen. Zum anderen boten sowohl Thoreau als auch Ford konkrete Versatzstücke, die den vertretenen Entwurf von Leben und Arbeiten sinnfällig verdichteten und an die dann lebendige Diskurse der Überlieferung und Erinnerung anschließen konnten. Diese objektiven Korrelate der in Walden und in My Life and Work entworfenen ästhetischen Fiktionen des eigenen Lebens sind in beiden Fällen Sinnbilder einer engen Behausung des Selbst, eines auf das Wesentliche reduzierten Oikos: Hütte und Automobil. Die digitale Wirtschaft der Gegenwart hat die von Ford fokussierten materiellen Produktionsprozesse inzwischen beinahe vollständig in geographisch separierte Wirtschaftsräume, insbesondere nach Asien, ausgelagert. Hier erreicht die Zurichtung menschlicher Arbeitsweisen auf die Erfordernisse maximaler Effizienz ein Ausmaß, das über den klassischen ‚Fordismus‘ noch hinausgeht. Da-

54 Ebd., S. 238. Später im gleichen Absatz wird Thoreau noch namentlich genannt. 55 Thoreau (wie Anm. 11), S. 18. Der Ausdruck „across-lot routes“ wäre in etwa mit ‚Trampelpfade‘ zu übersetzen. 56 Vgl. Curcio (wie Anm. 10), S. 74-76.

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mit ist es aber gleichzeitig möglich geworden, das Wirken von Erfinder- und Unternehmerpersönlichkeiten unabhängig von den materiellen Fundamenten ihres wirtschaftlichen Erfolgs zu repräsentieren. In diesem Kontext erscheinen bestimmte Versatzstücke aus Thoreaus Walden in besonderer Weise plausibel und wirksam. Davon zeugt nicht zuletzt das bekannte, den Topos von Thoreaus Hütte reaktivierende (Sinn-)Bild der Garage in Los Altos, in der Steve Jobs, Steve Wozniak und Ronald Wayne 1976 die Apple Computer Company gegründet haben sollen. In einem 1995 bei Dreharbeiten für die Dokumentation Triumph of the Nerds aufgezeichneten und 2012 als Steve Jobs: The Lost Interview im Ganzen veröffentlichten Interview bezog sich der Apple-Gründer explizit auf Thoreau. Auf die Frage, ob er sich als ‚Nerd‘ oder als ‚Hippie‘ sehe, antwortete Jobs: „There is something going on here in life beyond just a job and a family and two cars in the garage and a career. [...] There is another side of the coin, that we don’t talk about much. And we experience it when there is gaps. [...] When everything is not ordered and perfect, when there’s kind of a gap, you experience this inrush of something. And a lot of people have set off throughout history to find out what that was. Whether it’s Thoreau, or whether it’s some Indian mystic, or whoever it might be.“57

Jobs tritt hier nicht als intensiver Leser von Walden hervor, wohl aber als Rezipient und Repräsentant eines schon von Ford an die Ikone Thoreau geknüpften Paradigmas. Es handelt sich um ein Muster autobiographischer Selbstkonstitution, das die Unternehmerpersönlichkeit an einem virtuellen Walden Pond ansiedelt – in einem gleichsam zeitlosen Dazwischen („gap“), wo die Spannungen zwischen Natur und Zivilisation, zwischen individualistischer Muße und betriebsamer Kapitalwirtschaft, zwischen Professionalismus und Antiprofessionalismus gewaltige Innovationsschübe und gewagte Schein-Synthesen hervortreiben.

57 Steve Jobs im Interview mit Robert X. Cringely; Steve Jobs: The Lost Interview, R: Paul Sen, Furnace u.a., 2012, 01:09:08-01:09:45.

Postmoderne Bildungsromane. Amélie Nothomb und Elena Ferrante zwischen literarischer Selbsterfindung und medialer Öffentlichkeit C HRISTINE O TT

1. E INLEITUNG „Der postmoderne Roman stellt, als selbstkritische Gattung, die Kunstideologie in Frage, die der romantische und spätmoderne Roman noch feierte“, stellt Peter V. Zima in seinem Überblickswerk Der europäische Künstlerroman fest.1 Dies sei freilich auch dem Umstand geschuldet, dass Kunst in der Postmoderne ihren universalen Geltungsanspruch und ihren Bildungsauftrag eingebüßt habe.2 Kunst und Literatur seien nunmehr lediglich soziale Subsysteme und als solche partikular und unverbindlich.3 Die Gültigkeit von Zimas These soll an zwei höchst unterschiedlichen romanesken Werken erprobt werden, die gleichwohl beide mit den Versatzstücken des Künstler- bzw. Bildungsromans operieren: Amélie Nothombs autobiographischem Diptychon Metaphysik der Röhren (Métaphysique des tubes, 2000) und Biographie des Hungers (Biographie de la faim, 2004) sowie Elena Ferrantes Tetralogie Meine geniale Freundin (L’amica geniale, 2011-2014), die

1

Peter V. Zima, Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur

2

Ebd. S. 439.

3

Ebd. S. 449.

postmodernen Parodie, Tübingen/Basel 2008, S. 437.

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von der Presse als geheime Autobiographie der Autorin vermarktet wurde. 4 Beide Bücherserien, die nicht umsonst (bis auf Métaphysique des tubes) auf das Prädikat ,Romanʻ im Untertitel verzichten, legen eine mögliche Identität zwischen ihren Autorinnen und den autodiegetischen Erzählerinnen nahe. Zugleich inszenieren sie beide höchst unzuverlässige Erzählerinnen und unterlaufen somit das für die traditionelle Autobiographie konstitutive Authentizitätspostulat. Obwohl es sich in beiden Fällen nicht um Autofiktionen im Sinne Serge Doubrovskys handelt, eignet doch beiden Werken eine typisch postmoderne Skepsis gegenüber autobiographischer ,Wahrhaftigkeitʻ. Ausgehend von einer Feststellung, die ein Theoretiker der Autobiographie, Philippe Lejeune, 1973 machte, nämlich dass es bisher noch keinen ,Romanʻ gebe, in dem der Name des Protagonisten und der des Erzählers mit jenem des Autors identisch sei, hatte Serge Doubrovsky sich zum Ziel gesetzt, dieses leere Kästchen in Lejeunes Schema auszufüllen. 1977 veröffentlicht Doubrovsky das durch den Untertitel als ,Romanʻ ausgewiesene Buch Fils, dessen Erzähler und Protagonist sich explizit mit Serge Doubrovsky identifiziert; der Autor definiert die autofiction als „fiction, d’événements et de faits strictement réels“ 5.

4

Als weiterführende Literatur u.a.: Edgardo Dobry, Lʼenigma Ferrante, in: Elena Ferrante, Cronache del mal dʼamore, Rom 2012, S. 9-17; David Gascoigne, Amélie Nothomb and the Poetics of Excess, in: Susan Bainbrigge/Annette den Toonder (Hgg.), Amélie Nothomb. Authorship, Identity, and Narrative Practice, New York 2003; Christine Ott, Abjekte Fetische. Elena Ferrantes Schreiben im Zeichen des vréel, in: Italienisch 75, 2016, S. 32-59; Catherine Rodgers, Nothombʼs Anorexic Beautys, in: Susan Bainbrigge/Annette den Toonder (Hgg.), Amélie Nothomb. Authorship, Identity, and Narrative Practice, New York 2003, S. 50-63; Susanne Rossbach, Verbale Machtspiele zwischen Grausamkeit und Esprit. Das Werk der exzentrischen Graphomanin Amélie Nothomb, in: Roswitha Böhm (Hg.), Observatoire de lʼextrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2009, S. 295-305.

5

Serge Doubrovsky, Fils (1977), Paris 2001, S. 10. Vgl. auch Ders., Autobiographie/Vérité/Psychanalyse, in: L’Esprit Créateur 20/3, 1980, S. 87-97 sowie die grundlegenden Aufsätze von Claudia Gronemann, ‚Autofiction‘ und das Ich in der Signifikantenkette. Zur literarischen Konstitution des autobiographischen Subjekts bei Serge Doubrovsky, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, 31, Heft 12, 1999, S. 237-262, und Jutta Weiser, Psychoanalyse und Autofiktion, in: Rainer Zaiser (Hg.), Literaturtheorie und sciences humaines. Frankreichs Beitrag zur Methodik der Literaturwissenschaft, Berlin 2008, S. 43-67.

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Im Falle Doubrovskys stand jedoch die Absage an ein autobiographisches Transparenzpostulat, wie es Jean-Jacques Rousseau in seinen Confessions vertrat, im Zeichen einer anderen, psychoanalytisch orientierten Wahrheitssuche. Drückte Doubrovsky mit seinem an Lacan geschulten Konzept der Autofiktion die Erkenntnis aus, das Subjekt sei dem Schreiben nicht – wie es die klassische Autobiographie präsupponierte – vorgängig, sondern konstituiere sich vielmehr erst über das Schreiben, so geraten autofiktionale Strategien im gegenwärtigen Literaturbetrieb oft zu Strategien der Skandalhascherei und Selbstvermarktung. Hier geht es kaum mehr um Selbstanalyse und Selbstsuche, viel eher um Authentizitätseffekte. Entsprechend findet eine autofiktionale Selbstkonstitution und Selbstinszenierung mittlerweile längst nicht nur im Medium des Buchs statt – Fernsehinterviews haben daran ebenso teil. Besonders deutlich führt dies Christine Angots zweite autofiktionale Veröffentlichung Quitter la ville vor Augen. Das gesamte Buch dreht sich um die Rezeption des Erstlings L’inceste: Rezensionen, Leserbriefe und Begegnungen mit Lesern sowie die Reaktionen der Autorin werden minutiös analysiert. An einer solchen Selbstbezüglichkeit, für die das eigentliche Thema des Buchs letztlich das Buch selbst (beziehungsweise das vorangegangene Buch) ist, stören sich jene Kritiker, die Autofiktion als eine Form der literarischen Nabelschau betrachten. Aber kommen wir nun zu Amélie Nothomb.

2. AMÉLIE N OTHOMBS S ELBSTERFINDUNG

LITERARISCHE

Eine gewisse Selbstbezüglichkeit weist das Werk Amélie Nothombs, die in einem Zeitungsartikel von 2009 als Galionsfigur der Ultra-Narzissten bezeichnet wird, zweifellos auf. Als Tochter eines belgischen Diplomaten hat die Autorin, die mit bürgerlichem Namen Fabienne Claire Nothomb heisst, einen Großteil ihrer Kindheit in Asien zugebracht. Die Erfahrung der kulturellen Entwurzelung ist ein Grundthema ihrer Texte, die oft autobiographische Daten verarbeiten, dabei jedoch einer „Poetik des Exzesses“ (wie es David Gascoigne genannt hat) folgen. Eine zweite inhaltliche Konstante bilden Essstörungen, insbesondere die Magersucht; psychoanalytische Theorien zu deren Genese hat Nothomb zweifellos zur Kenntnis genommen.6

6

Zu den autobiographisch inspirierten Texten, in denen das Essen bzw. Essstörungen eine zentrale Rolle spielen, gehören insbesondere Métaphysique des tubes, Biographie

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Insbesondere in Biographie des Hungers stellt Nothomb einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen beiden Themen her, so dass der maßlose Hunger, als dessen Inkarnation sich die Erzählerin darstellt, zum Signum ihrer Wurzellosigkeit und kulturellen Identitätskrise wird. Tatsächlich ist Biographie des Hungers, zusammen mit Metaphysik der Röhren, der Text Nothombs, der sich am ehesten mit Doubrovskys Konzept der Autofiktion in Zusammenhang bringen lässt. In diesen beiden Büchern berichtet eine Erzählerin, die sich im zweiten Buch explizit als „Amélie Nothomb“ ausweist, jeweils von ihren ersten drei Lebensjahren, die sie in Japan verbrachte (Métaphysique des tubes) und den folgenden Jahren bis zum Erwachsenenalter und dem Beginn ihrer Schriftstellerkarriere (Biographie de la faim). Dies entspricht Doubrovskys Konzept der ,tranche de vieʻ: Seine autofiktionalen Werke beschreiben jeweils einen Abschnitt im Leben des Autors. Welche Informationen liefern nun die Paratexte? Während die Erstausgabe von Métaphysique des tubes den Untertitel „roman“ trägt, weist Biographie de la faim keinen Untertitel auf, beide Bücher sind stattdessen mit einem Foto der Autorin ausgestattet. In einem Interview zu Biographie de la faim beteuert Nothomb, dass alles Erzählte wahr sei, das Buch somit „un élément de pacte autobiographique“ aufweise. Dennoch handle es sich nicht um eine Autobiographie, sondern um ein „livre thématique“: Thema des Buches sei der Hunger.7 Wenn wir allerdings in dem Buch den hochtrabenden Satz lesen, „la faim, c’est moi“8, dann wissen wir, dass die Autorin sich hier zu einem Abstraktum objektiviert hat. Sie ist der inkarnierte Hunger und schreibt mit Biographie de la faim dessen Autobiographie. Ähnlich Gertrude Stein, die mit The Autobiography of Alice B. Toklas (1933) die Autobiographie ihrer eigenen Lebensgefährtin und dadurch eine SelbstBiographie schrieb, verfasst Nothomb so etwas wie eine Autobiographie auf Umwegen. Mögen die Ereignisse, von denen sie berichtet, im Kern auch wahr

de la faim und (weniger an nachvollziehbar autobiographischen Fakten orientiert) Robert des noms propres. 7

In einem Videointerview in der Reihe „Sang d’encre“ vom 3.10.2004 beteuert Nothomb: „Il n’y a vraiment aucune fiction dans ce livre. Ce n’est pas une autobiographie en ceci que je suis très loin d’y raconter tout.“; „ C’est un livre thématique, je parle de la faim. […] Mais il y a quand même un élément du pacte autobiographique dans ce livre en ceci que je ni raconte rien de fictif” (https://www.rts.ch/play/tv/sangd039encre/video/amelie-nothomb-biographie-de-la-faim?id=417688).

8

Amélie Nothomb, Biographie de la faim, Paris 2004, S. 22. Nothomb 2004 verweist im Folgenden auf die frz. Originalversion, Nothomb 2009 auf die deutsche Übersetzung (Biographie des Hungers, Zürich 2009).

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sein, mit jenem Anspruch auf Wahrheit und auf Selbstanalyse, der das Rousseausche Autobiographieprojekt, aber letztlich mutatis mutandis auch noch Doubrovskys Schreiben prägte, hat Nothombs autobiographisches Diptychon jedoch nichts mehr gemein. Ihr Schreiben steht vielmehr im Zeichen der extremen Übertreibung. Den ersten Selbstmordversuch begeht die Protagonistin von Metaphysik der Röhren mit drei Jahren, in zartem Kindesalter ist sie schon Alkoholikerin: Nothomb stellt sich durchweg als Ausnahmewesen, als ein von ihren durchschnittlichen Eltern unverstandenes Genie dar. Das wesentliche Element, in dem die Erzählerin der Biographie de la faim den Beweis ihres frühen, einzigartigen Talents sieht, ist ihr außerordentlicher, übermenschlicher Hunger. Obwohl sich dieser Hunger zuerst und bevorzugt als ein Hunger nach Süßigkeiten manifestiert, sei er in Wirklichkeit viel umfassender: ein Hunger, der zugleich die Ebene des Physischen, des Emotionalen und des Intellektuellen involviere. So beginnt das Buch mit zwei einleitenden Kapiteln, in denen eine Theorie des Zusammenhangs zwischen Hungererfahrung und kulturell-zivilisatorischem Fortschritt aufgestellt wird. Die Erzählerin gibt vor, von einem Unbekannten einen Kunstkatalog zur ozeanischen Kunst erhalten zu haben. Den Katalog durchblätternd fällt ihr auf, dass die langweiligsten aller Werke regelmäßig von der Inselgruppe der Vanuatu stammen. Diese Inselgruppe sei, wie sie durch Recherchen festgestellt habe, das einzige Land auf der Welt, dessen Bewohner niemals an einer Hungersnot gelitten hätten – und dadurch zugleich das unglücklichste Land der Welt. In diesem exotischen Schlaraffenland, in dem Muscheln, Fisch und köstliche Früchte nur darauf warten, aufgegessen zu werden, kümmern die Inselbewohner in einer ewigen Apathie vor sich hin. Denn einem Land, in dem es keinen Hunger gebe, fehle es an intellektueller und kultureller Herausforderung. Der Überfluss der Vanuatu habe nichts mit der Überfülle unserer westlichen Industrieländer zu tun, denn hier müsse man ja arbeiten, um sich sein Brot zu verdienen. Wo hingegen keinerlei Anstrengung nötig sei, um an das Essen zu kommen, da könnten auch keine künstlerischen Leistungen entstehen, keine Geschichten, auch keine kulinarische Kreativität. Das Gegenbild der Vanuatu sei China: „Champion im Magenknurren ist China. Seine Vergangenheit ist eine ununterbrochene Folge von Hungersnöten mit Massensterben. Die erste Frage eines Chinesen an einen anderen lautet: ‚Hast du schon gegessen?ʻ Die Chinesen mussten lernen, Ungenießbares zu essen, daher die unerreichte Raffinesse ihrer Küche. Gibt es eine brillantere, ideenreichere Kultur? Die Chinesen haben alles erfunden, alles erforscht, alles verstanden, alles gewagt. [...] Aber sie haben getrickst, sie waren gedopt – sie waren hungrig. Hier geht es nicht um

104 | CHRISTINE OTT eine Hierarchie unter den Völkern, im Gegenteil. Hier geht es darum zu zeigen, dass sie einander im Hunger am ähnlichsten sind. Und jene Länder, die uns ständig mit der angeblichen Einzigartigkeit ihres Volkes nerven, darauf hinzuwiesen, dass jede Nation eine Gleichung mit der Konstante Hunger ist.“9

Nothomb bestimmt den Hunger explizit als das Element, das die Identität eines Volkes prägt: dabei negiert sie zwar den essentialistischen Gedanken eines einzigartig-unverwechselbaren Volksgeistes, sie geht aber davon aus, dass ein natürlicher Zusammenhang zwischen den ökologischen Gegebenheiten eines Landes und seiner Beziehung zum Hunger bestehe. Nun dient diese ganze kulturelle Theorie der Erzählerin dazu, den übernatürlichen, „göttlichen“ Charakter ihres eigenen permanenten Hungers, den sie selbstironisch als „Überhunger“ (in Anlehnung an Nietzsches Übermenschen 10) bezeichnet, zu affirmieren. Es ist dieser Hunger, in dem sie letztlich die Antriebskraft ihres eigenen literarischen Schaffens erkennt: „La faim, cʼest moi“ („Denn ich bin der Hunger“11). Im Grunde, so die Erzählerin, sei jeder leibliche Hunger ein Zeichen für einen umfassenderen Appetit, denn: „Verweist nicht der hungrige Magen immer auch auf einen allgemeineren Hunger? Unter Hunger verstehe ich diesen entsetzlichen Mangelzustand des ganzen Wesens, diese quälende Leere, diese Sehnsucht weniger nach utopischer Fülle denn nach schlichter Wirklichkeit – ein Flehen, dass, wo nichts ist, etwas sei.“12

9

Nothomb 2009, S. 16f. Nothomb 2004 (wie Anm. 8), S. 20: „La championne du ventre vide, c'est la Chine. Son passé est une suite ininterrompue de catastrophes alimentaires avec des morts en pagaille. La premiére question qu'un Chinois pose à un autre Chinois est toujours: ,As-tu mangé?ʻ Les Chinois ont dû apprendre à manger l'immangeable, d'où un raffinement inégalé dans l'art culinaire. Existe-t-il civilisation plus brillante, plus ingénieuse? Les Chinois ont tout inventé, tout pensé, tout compris, tout osé. Étudier la Chine, c'est étudier l'intelligence. Oui, mais ils ont triché. Ils étaient dopés: ils avaient faim. Il ne s'agit pas ici d'établir une hierarchie entre les peuples. Au contraire. Il s'agit de montrer que la faim est leur plus haute identité. Aux pays qui nous bassinent avec le caractère prétendument unique de leur population, déclarer que toute nation est une équation qui s'articule autour de la faim.“

10 Nothomb 2004 (wie Anm. 8), S. 25: „Si Nietzsche parle de surhomme, je m’autorise à parler de surfaim. Surhomme, je ne le suis pas; suraffamée, je le suis plus que quiconque.“ 11 Nothomb 2009, S. 19; Nothomb 2004 (wie Anm. 8), S. 22. 12 Nothomb 2009, S. 19f.; Nothomb 2004 (wie Anm. 8), S. 23: „Existe-t-il une faim du ventre qui ne soit l'indice d'une faim généralisée? Par faim, j'entends ce manque ef-

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Bereits in Métaphysique des tubes hatte die Erzählerin die Entdeckung des Hungers als einen Moment des Erwachens der eigenen intellektuellen Persönlichkeit inszeniert. Als Säugling habe sie – so die Erzählerin, die hier von sich selbst in der dritten Person spricht und sich zugleich als „Gott“ bezeichnet – zunächst in völliger Antriebslosigkeit dahinvegetiert. So wie Gott genügte sie sich selbst – weshalb sie auch keinerlei Anstrengung unternahm, zu ihrer Umwelt in Kontakt zu treten. Ihre Passivität sei so weit gegangen, dass sie selbst für die Mutterbrust keinerlei Interesse gezeigt habe, so dass man zum Fläschchen greifen musste. Erst ein Stück belgischer Schokolade, das die Großmutter dem Kleinkind gereicht habe, habe das entscheidende Erweckungserlebnis ausgelöst, das die kleine Amélie dazu bewegte, sich für die Außenwelt zu interessieren. Von der totalen Teilnahmslosigkeit sei sie so zum permanenten Hunger übergegangen.13 Dass sich dieser Hunger zuallererst auf Süßigkeiten richtet, gilt der Erzählerin im Übrigen als ein weiterer Beweis der „Göttlichkeit“ ihres kindlichen Ichs: „Ich könnte zahlreiche wissenschaftliche Beweise für meine Behauptung erbringen, angefangen bei dem nur in der Schokolade anzutreffenden Theobromin und seiner ins Auge springenden Etymologie. Aber das käme mir schon wie eine Lästerung der Schokolade vor. Ihre Göttlichkeit scheint mir über jede Rechtfertigung erhaben. Man muss sich bloß den Mund mit guter Schokolade füllen, um nicht nur an Gott zu glauben, sondern auch seine Gegenwart zu spüren.“14

Da sich dieser Hunger, wie schon gesagt, zuallererst auf Süßigkeiten richtet, verwundert es nicht, dass auch ein weiteres bedeutsames Erlebnis der Sechsjährigen in Biographie des Hungers mit diesen zu tun hat. Im China der 70er Jahre sind Süßigkeiten äußerst rar, weshalb Amélies Mutter die aus Belgien importierten Köstlichkeiten in der Garage versteckt. Als Amélie bei einem ihrer

froyable de l'être entier, ce vide tenaillant, cette aspiration non tant à l'utopique plénitude qu'à la simple réalité: là où il n'y a rien, j'implore qu'il y ait quelque chose.“ 13 Amélie Nothomb, Metaphysik der Röhren, Zürich 2002, S. 30-32. 14 Nothomb 2002 (wie Anm. 13), S. 34f.; Nothomb 2004 (wie Anm. 8), S. 40: „Je pourrais multiplier les preuves scientifiques, à commencer par la théobromine qu'il est seul à contenir et dont l'étymologie est criante. Mais j'aurais un peu l'impression d'insulter le chocolat. Sa divinité me semble précéder les apologétiques. Ne suffit-il pas d'avoir en bouche du très bon chocolat non seulement pour croire en Dieu, mais aussi pour se sentir en sa présence? Dieu, ce n'est pas le chocolat, c'est la rencontre entre le chocolat et un palais capable de l'apprécier.“

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Raubzüge eine Schachtel Spekulatius entdeckt, ist sie von dieser zuvor unbekannten Leckerei hingerissen: „Ich kostete gleich von einem und tat einen Schrei: Dies Knuspern, diese Gewürze, das war zum Heulen, ein viel zu bedeutsames Ereignis, um es in einer Garage zu zelebrieren.“15

Daher beschließt sie, sich zum Essen in das Badezimmer zurückzuziehen: „Dann setzte ich mich vor den riesigen Spiegel, holte meine Beute unter dem Pullover hervor und begann zu essen, während ich gleichzeitig mein Spiegelbild betrachtete: ich wollte mich im Zustand der Lust sehen. Was sich auf meinem Gesicht abzeichnete, war der Geschmack der Spekulatius.“16

Amélie ist von ihrem Plaisir derart absorbiert, dass sie nicht einmal merkt, wie ihre Mutter das Bad betritt. Diese ist zwar zunächst über den Diebstahl verärgert, lässt die Tochter aber gewähren, als sie bemerkt, wie intensiv der Genuss dieser essenden Selbstbetrachtung ist: „Sie ließ mich mit meiner Lust allein.“17 Das Vokabular, mit dem Nothomb die Szene beschreibt, verweist eindeutig auf sexuellen Genuss. Anstatt aber erste sexuelle Entdeckungen mit dem eigenen Körper zu machen, verzehrt das kleine Mädchen lustvoll eine Packung Kekse. (Mindestens) eine Szene der sexuellen Initiation gehört in jede Autobiographie; möglichst skandalträchtige Sexszenen gehören (zumindest der aktuellen Publikumserwartung nach) in jede Autofiktion. Insbesondere in der französischen Gegenwartsliteratur sind solche Szenen heute freilich derart inflationär, dass sie kaum noch skandalös wirken. Nothomb erfüllt die voyeuristische Erwartung der Leserschaft, unterläuft sie jedoch zugleich, indem sie das Begehren der Protagonistin (ganz altersgerecht und somit kein bisschen außergewöhnlich) auf eine Packung Kekse richtet.

15 Nothomb 2009, S. 75f; Nothomb 2004 (wie Anm. 8), S. 89: „Je rugis: ce croquant, ces épices, c’était à hurler, un événement trop important pour le célébrer dans un garage.“ 16 Nothomb 2009, S 76; Nothomb 2004 (wie Anm. 8), S. 89: „Je m’installai devant le miroir géant, sortis le butin de dessous mon pull et me mis à manger en observant mon reflet dans la glace: je voulais me voir en état de plaisir. Ce qu’il y avait sur mon visage, c’était le goût du spéculoos.“ 17 Nothomb 2009, S. 77; Nothomb 2004 (wie Anm. 8), S. 91: „Elle me laissa seule avec ma jouissance“.

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Die Episode ist exemplarisch für die Poetik beider autobiographischen (bzw., wenn man den Begriff weit fasst, autofiktionalen) Romane: Relativ banale Begebenheiten werden überhöht, indem die Erzählerin sie entweder explizit als ‚Beweisʻ ihres ganz und gar außergewöhnlichen Wesens feiert oder aber sie im Ton des autobiographischen Bekenntnisses vorbringt. In der vorliegenden Episode ist es die Mutter, die die Außergewöhnlichkeit des kindlichen Verhaltens unterstreicht, indem sie einer Freundin davon berichtet. Exemplarisch ist ferner, dass die Erzählerin zentrale Lebenserfahrungen wie insbesondere die Magersucht und das ambivalente Verhältnis zu ihrer Mutter so erzählt, dass sie sich perfekt in gängige psychoanalytische Interpretationsraster einordnen lassen. Wie soll man Nothombs Texte also einordnen? Gerade ihre Tendenz, psychoanalytische Theorien überdeutlich als möglichen Interpretationshorizont ihrer Texte aufscheinen zu lassen, zeigt, wie weit Nothomb von einer Autofiktion im Sinne Doubrovskys entfernt ist. Dieser verstand seine Autofiktionen stets als Bewusstseinsprotokoll und als literarisches Komplement zur Analyseerfahrung. So geht es in Doubrovskys erstem autofiktionalem Text, Fils, um die Aufarbeitung der eigenen komplexen, von Schuldgefühlen durchsetzten Beziehung zur Mutter. Im Vergleich zu Doubrovskys Versuchen, analytische Prozesse gleichsam noch während ihres Vollzugs aufs Papier zu bannen, wirkt Nothombs Selbstanalyse derart holzschnittartig, dass sie schon eher wie eine Parodie psychoanalytischer Theorien anmutet. Ebenso wie Nothomb die klassischen Bestandteile von Autofiktionen (Kindheitstraumata, skandalöse sexuelle Erfahrungen) ironisch unterläuft, führt sie zugleich die Versatzstücke des klassischen Künstlerromans ad absurdum. Indem sie nämlich die ‚Symptomeʻ früher Begabung entweder aus im Kern völlig banalen Eigenschaften des Kindes (etwa seinem Heißhunger auf Süßes) ableitet oder aber Ereignisse des Kinderlebens so umdeutet, dass sie den Anschein des Außergewöhnlichen erhalten (so etwa, wenn das kleine Mädchen in den Karpfenteich fällt und die Erzählerin dies als ihren ersten Selbstmordversuch bezeichnet), zieht sie die erzählerischen Konventionen des Künstlerromans (der darauf abzielt, in frühen Kindheitserlebnissen die Basis künftigen Künstlertums zu sehen) ins Lächerliche. Indem Nothomb die Erzählkonventionen des Künstlerromans (der auf die Darstellung einer einzigartigen Entwicklung abzielt) mit impliziten Bezügen auf psychoanalytische Theorien verknüpft, erschafft sie ein hochironisches, postmodernes Erzählpastiche. Für Nothombs literarische Selbsterschaffung gilt in gewisser Weise doch, was Claudia Gronemann für die Autofiktion konstatiert hat: das Ich ist hier in erster Linie ein „Effekt des Textes“.18

18 Gronemann (wie Anm. 5).

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3. E LENA F ERRANTE : T OD DER AUTORIN Obwohl die Verfilmung ihres ersten Romans durch Mario Martone sicher nicht unwesentlich zu ihrer Bekanntheit beigetragen hat, ist der aktuelle Hype um die Person und die Bücher Elena Ferrantes ihrer Verweigerung jeglicher öffentlichen Präsenz zu verdanken. Von der Autorin gibt es kein Foto; als ihr 2016 der Premio Strega verliehen wurde, nahm sie den Preis zwar an, erschien aber nicht zur Preisverleihung; dasselbe war bereits anlässlich der Verleihung des Premio Procida für ihren Debütroman L’amore molesto (1992) geschehen. Nach der ‚Enttarnungʻ der Autorin durch den Journalisten Claudio Gatti im Oktober 2016, der die These aufstellte, es handle sich um Anita Raja, Übersetzerin bei Ferrantes römischem Verlag E/O, hüllt sich Ferrante in Schweigen, während der Medienrummel um ihr Werk fröhlich weitergeht. Ferrantes mehrfach ausgesprochener Wunsch, der Öffentlichkeit allein ihre Bücher vorzulegen, da Bücher „ihre Autoren nicht nötig hätten“19, bedeutet allerdings nicht, dass die Schriftstellerin ihrem neugierigen Publikum keinerlei „Bild“ von sich selbst vermittelt hätte. So brachte ihr Verlag E/O 2003 unter dem Titel La frantumaglia eine Sammlung von Briefen und schriftlich gegebenen Interviews heraus. Hier erklärt Ferrante, weshalb sie sich dazu entschieden hat, nicht in die Öffentlichkeit zu treten; sie gibt klare Hinweise für die Deutung ihrer Romane und erzählt Anekdoten aus ihrer Jugend. Demnach wäre die Autorin als Kind einer armen neapolitanischen Familie aufgewachsen, die durch den Beruf der Mutter (Schneiderin) und die obsessive Eifersucht des Vaters Ähnlichkeiten zur fiktiven Familie von Ferrantes Debütroman aufweist.20 Wie man diese „autobiographischen“ Informationen zu lesen hat, gibt Ferrante freilich zu verstehen, wenn sie einem allzu neugierigen Journalisten, der sie um eine Beschreibung ihres Äußeren bittet, Folgendes antwortet: „Nein. Und erlauben Sie mir, mich für diese brüske Antwort auf Italo Calvino zu beziehen, der, in der Überzeugung, dass nur die Werke eines Autors zählen, im Jahr 1964 einer Expertin seiner Bücher schrieb: ,... ich gebe grundsätzlich keine biographischen Daten preis, oder ich fälsche sie, oder ich versuche, sie jedesmal ein wenig abzuändern. Fragen Sie mich nur, was Sie wissen möchten, und ich sage es Ihnen, aber ich werde Ihnen nie die Wahrheit sagen, dessen können Sie sich sicher seinʻ.“21

19 Elena Ferrante, La frantumaglia. In appendice: Tessere 2003-2007, Rom 2007, S. 10. 20 Vgl. Elena Ferrante, „Le città“ und „Abiti femminili“, in: Dies. 2007 (wie Anm. 19). 21 Ferrante 2007 (wie Anm. 19), S. 106f., Übers. Chr. Ott.

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Dies ist ein recht deutlicher Hinweis darauf, dass alle vermeintlichen Parallelen, die Ferrantes fiktionale Figuren zur Person der Autorin aufweisen, ebenso gut erdacht wie wahr sein können. Entsprechend prekär sind die Versuche, Ferrantes Identität aus jener Figur abzuleiten, deren Werdegang dem der Autorin Ferrante am ähnlichsten schien: der Schriftstellerin Elena aus der vierbändigen NeapelSaga Meine geniale Freundin.22 Die Tetralogie lässt sich als eine Geschichte Italiens von der Nachkriegszeit bis heute lesen, als Geschichte einer Rivalität zwischen zwei Frauen und schließlich auch als Künstler- oder Bildungsroman. Die Erzählerin der Tetralogie ist die sechsundsechzigjährige Elena Greco, einst erfolgreiche Romanautorin, die sich nun aber am Ende ihrer Karriere sieht. Als ihre Jugendfreundin Lila spurlos verschwindet, beschließt Elena, die Geschichte ihrer Hassliebe zu Lila schreibend noch einmal Revue passieren zu lassen. Die Mädchen sind 1944 in einem ärmlichen Vorort von Neapel geboren. Sie kennen sich seit der Grundschule, wo sich Lila durch ihre scheinbare Bosheit hervortut.23 In Wirklichkeit ist sie hochbegabt und stellt somit eine permanente Bedrohung für die weniger intelligente Elena dar, der es nur durch extremen Fleiß und Anpassungsfähigkeit gelingt, ihren Platz als Zweitbeste in der Klasse zu halten. Das Blatt wendet sich, als sich Lilas Vater weigert, seine Tochter auf die weiterführende Schule zu schicken. Die Grundschullehrerin wendet sich nun von Lila ab, um fortan nur noch Elena zu fördern. Auf diese Weise gelingt es Elena das Gymnasium zu besuchen, später auch die Universität in Pisa. Sie heiratet einen norditalienischen Universitätsprofessor und wird eine erfolgreiche Schriftstellerin. Gelingt Elena der soziale Aufstieg trotz ihrer Mittelmäßigkeit, so ist Lilas Leben von mühsam erkämpften Erfolgen geprägt, die sich jedoch nie als dauerhaft erweisen. Sie heiratet den wohlhabenden Stefano Solara, trennt sich dann aber wieder von ihm und ruiniert ihre Gesundheit als Arbeiterin in einer Mortadellafabrik; sie engagiert sich während der Arbeiteraufstände der 68er und kämpft gegen die lokale Camorra an; sie gründet in den 80er Jahren eine kleine Computerfirma, gibt diese jedoch auf, nachdem ihre vierjährige Tochter eines Tages auf unerklärliche Weise verschwunden ist.

22 Gemeint ist die Hypothese des Literaturwissenschaftlers Marco Santagata, der aus solchen Parallelen schloss, hinter dem Pseudonym verberge sich die in Neapel lebende Professorin Marcella Marmo. Wie Elena, die Erzählerin der Tetralogie, stammt Marmo aus Neapel und studierte in den 1960er Jahren an der Scuola Normale Superiore di Pisa. Marmo stritt jedoch ab. 23 Elena Ferrante, Lʼamica geniale, Rom 2011, S. 27.

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Ferrantes Tetralogie lässt sich als Geschichte Neapels, als Geschichte Italiens sowie auch als Geschichte des Feminismus von der Nachkriegszeit bis heute lesen. Ebenso, wie die zentralen politischen Ereignisse der Nachkriegszeit reflektiert werden, stellt Ferrante auch die Krise des italienischen Bildungssystems dar. Als Repräsentantin der unterprivilegierten Schicht, der ein sozialer Aufstieg mithilfe von Bildung – humanistischer Bildung – gelingt, ist Elena die Protagonistin eines klassischen Bildungsromans. Als traditionell kann auch das aufklärerisch-feministische ‚Programmʻ des Romans gewertet werden, lernt Elena doch, dass Frauen aus armen Schichten selbst bei höherer intellektueller Befähigung niemals die gleichen Aufstiegschancen offenstehen wie den Männern. Das für die italienische Nachkriegszeit noch gültige Modell des Aufstiegs durch Bildung funktioniere heute, reflektiert Ferrante in einem Interview, freilich nicht mehr – und in der Figur Lilas sieht sie dessen Scheitern, aber auch einen möglichen Neuanfang reflektiert: „Im Nachkriegsitalien hat das Bildungswesen zwar alte Hierarchien verfestigt, aber auch eine maßvolle Kooptierung jener mit sich gebracht, die sich redlich bemühten, so dass die, die den Aufstieg nicht schafften sich sagen konnten: das liegt daran, dass ich mich in der Schule nicht angestrengt habe. Die Geschichte Lenùs, aber auch Ninos zeigt, was sich durch Bildung erreichen ließ [...] Es gab also eine Ideologie des Bildungswesens, die heute nicht mehr funktioniert. Ihr Zusammenbruch ist offensichtlich: all die arbeitslosen Akademiker bezeugen auf dramatische Weise, dass die lange Geschichte der Krise einer Legitimierung sozialer Hierarchien durch Bildung jetzt ihren Höhepunkt erreicht hat [...] Während Lenù den schwierigen Endpunkt des alten Systems darstellt, verkörpert Lila, mit ihrer ganzen Geschiche, dessen Krise und in gewisser Hinsicht auch eine mögliche Zukunft.“24

24 „Nell’Italia del secondo dopoguerra l’istruzione ha cementato vecchie gerarchie ma ha anche avviato una discreta cooptazione dei meritevoli, tanto che anche chi restava in basso poteva dirsi: sono finito così perché non ho voluto studiare. La storia di Lenù, ma anche di Nino, mostra questo uso dell’istruzione. [...] Insomma c’è stata un’ideologia dell'istruzione che oggi non funziona più. Il suo cedimento è diventato evidente: i laureati allo sbando testimoniano drammaticamente che la crisi ormai lunga della legittimazione delle gerarchie sociali sulla base dei titoli di studio è giunta a compimento. [...] mentre Lena insomma è il tormentato punto d’arrivo del vecchio sistema, Lila ne mette in scena con tutta la sua persona la crisi e in un certo senso un possibile futuro“ (Übers. Chr. Ott; Nicola Lagioia, Elena Ferrante sono io. Nicola Lagioia intervista la scrittrice misteriosa, in: La Repubblica, 4.4.2016; http://www.re publica.it/cultura/2016/04/04/news).

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Zugleich ist in den Roman auch eine Reflexion über das künstlerische und schriftstellerische Schaffen eingeschrieben. Obwohl sie Lila an Bildung überlegen ist, fürchtet Elena bis zuletzt deren Rivalität. Schriebe Lila einen Roman – glaubt die 60jährige Elena – so würde dieser alle Bücher, die sie selbst bis dahin veröffentlicht hat, in den Schatten stellen. Tatsächlich finden sich über den gesamten Romanzyklus hinweg immer wieder Hinweise, die nahelegen, dass Elena ihre Schriftstellerkarriere im Wesentlichen Lila zu verdanken hat. Nicht nur bildet Lilas Leben den Stoff, aus dem große Teile ihrer Romane gemacht sind. Auch entscheidende schulische und universitäre Erfolge sind auf Gespräche mit Lila zurückzuführen. Zeitungsreportagen über soziale Missstände, für die Lila das Material gesammelt hat, werden unter Elenas Namen veröffentlicht. Zudem tritt Lila als Elenas Kritikerin und Mentorin auf. So korrigiert sie den ersten Zeitungsartikel, den Elena als Gymnasiastin schreibt; sie hilft Elena bei ihren Latein- und Griechischaufgaben und gibt kritische Kommentare zu ihren Romanen ab. Deren Sprache empfindet sie (wie auch Elenas Ehemann Pietro) als zu lebensfern, den Aufbau als zu gekünstelt: „Blitzartig wurde mir klar, dass die Erinnerung bereits Literatur war und dass Lila vielleicht Recht hatte: mein Buch – das doch gerade so viel Erfolg hatte – war wirklich hässlich, und es war hässlich, weil es gut strukturiert war, mit obsessiver Sorgfalt geschrieben, weil es mir nicht gelungen war, die unkoordinierte, anti-ästhetische, unlogische, deformierte Banalität der Dinge nachzuahmen.“25

Jene hässliche, unlogische, deformierte Banalität der Dinge, die Elena in ihrer manierierten Sprache nicht einzufangen weiß, scheint Lila mit grausamer Präzision wiedergeben zu können. Ihre Tagebücher, die Elena heimlich liest, zeugen davon: „Von den Tagebüchern ging jene verführerische Macht aus, die Lila von klein auf ausstrahlte. Sie hatte über unser Viertel geschrieben, über die Familienangehörigen, den Solara-Clan, Stefano, über jede Person und jedes Ding, mit grausamer Präzision.“26

25 Übers. Chr. Ott, Elena Ferrante, Storia della bambina perduta (Lʼamica geniale IV), Rom 2014, S. 292: „Mi resi conto in un lampo che la memoria era già letteratura e che forse Lila aveva ragione: il mio libro – che pure stava avendo tanto successo – era davvero brutto, e lo era perché ben organizzato, perché scritto con una cura ossessiva, perché non avevo saputo mimare la banalità scoordinata, antiestetica, illogica, sformata, delle cose.“ 26 Elena Ferrante, Storia del nuovo cognome (Lʼamica geniale II), Rom 2012, S. 16: „i quaderni sprigionavano la forza di seduzione che Lila spandeva intorno fin da piccola.

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Doch nicht nur um Tagebuchaufzeichnungen handelt es sich hier, vielmehr um Stilübungen: seitenweise hat Lila Gegenstände, Farben, alltägliche Handlungen beschrieben. Elena ist von diesen Tagebüchern so sehr fasziniert, dass sie diese auswendig lernt, bevor sie sie, dem Wunsch Lilas folgend, vernichtet.27 Ein halbes Jahr später schreibt sie ihren ersten Roman.28 Möglicherweise soll nahegelegt werden, dass sich Elena etwas von Lilas Aufzeichnungen angeeignet hat – genauso wie sie sich etwa während der Aufnahmeprüfung zur Eliteuniversität in Pisa Lilas Überlegungen zu Beckett zu eigen gemacht hatte.29 Doch die Neigung, stets nur die Meinungen anderer wiederzugeben, scheint Elenas konstante Eigenschaft zu sein. Dagegen soll Lilas Schreiben, Denken und Fühlen offenbar den exakten Kontrast zu dem Elenas bilden. Lilas Handeln scheint Elena stets authentisch30; die Faszination ihres Schreibstils liegt in seiner Natürlichkeit: „Hinter ihrer Natürlichkeit verbarg sich gewiss ein Kunstgriff, aber es gelang mir nicht, diesen auszumachen.“31 Während Elena in ihren Romanen autobiographische Erlebnisse und Ereignisse aus ihrem neapolitanischen Armenviertel (ein Wissen, das sie mit Lila teilt) verarbeitet, erschafft Lila außergewöhnliche ‚Kunstwerkeʻ. Doch alle schöpferischen und intellektuellen Leistungen Lilas bleiben vereinzelte Episoden in ihrem Leben, von denen allenfalls andere profitieren. So werden die Entwürfe für elegante Schuhe, die sie als zwölfjähriges Mädchen gezeichnet hat, letztlich von den Brüdern Solara benutzt, um eine eigene Schuhlinie zu lancieren. Elena begreift, dass Lilas geniale Ideen Produkte einer momentanen Eingebung sind. Durch sie will Lila (sagt sie) Elena beweisen, dass sie trotz ihrer dürftigen Schulbildung mit ihr konkurrieren kann: „So war also Lila? Fehlte ihr mein hartnäckiger Fleiß? Holte sie aus sich Gedanken, Schuhe, geschriebene und gesprochene Worte, komplizierte Pläne, Raserei und Erfindungen nur hervor, um mir etwas von sich selbst zu zeigen? Und nachdem sich diese Motivation verflüchtigt hatte, verlor sie sich? [...] War alles in ihr nur Frucht des ungeordneten Zufalls?“32

Aveva trattato il rione, i familiari, i Solara, Stefano, ogni persona o cosa, con una precisione spietata.“ 27 Ebd., S. 18. 28 Ebd., S. 432. 29 Ebd., S. 326. 30 Ebd., S. 288. 31 Ebd., S. 17. 32 Übers. Chr. Ott, ebd., S. 143: „Lila era fatta a quel modo? Non aveva la mia cocciuta diligenza? Tirava fuori da sé pensieri, scarpe, parole scritte e orali, piani complicati,

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Lila fehlt es nicht nur an der Fähigkeit, dauerhafte Werke hervorzubringen, ihr wohnt auch ein fataler Hang zur Zerstörung inne. So wie sie im Lauf ihres Lebens ihre intellektuelle Begabung verkümmern lässt, scheint sie auch ihre eigenen Werke über kurz oder lang wieder zurücknehmen oder zerstören zu wollen. Eine Episode aus Band 2 führt dies besonders deutlich vor Augen. Gegen Lilas Willen schmücken die Brüder Solara ihren Schuhladen mit einem überdimensionalen Foto, das Lila als Braut zeigt, an ihren Füßen die selbst fabrizierten Damenschuhe, die nun von den Solara-Brüdern vermarktet werden. Lila willigt dann unter der Bedingung ein, das Foto bearbeiten zu können. Mit Papier und Farben verwandelt sie das Bild in ein avantgardistisches Porträt: „Der Körper von Lila als Braut, wie er auf dem Foto zu sehen war, war grausam zerstückelt worden. Ein Großteil des Kopfes war verschwunden, ebenso der Bauch. Es blieb ein Auge, die Hand, auf die sich das Kinn stützte, der leuchtende Farbfleck des Mundes, diagonal verlaufende Streifen des Oberkörpers, der übereinandergeschlagenen Beine, die Schuhe.“33

Mit diesem Selbstporträt bringt Lila – dies begreift Elena – nicht nur die gewaltsame Verwandlung zum Ausdruck, die sie seit ihrer Hochzeit mit Stefano erlitten hat – der Hochzeit, auf der sie feststellen musste, dass Stefano die von ihr gefertigten Männerschuhe an Marcello Solara verkauft hatte. Vielmehr sieht sie darin einen ersten Ausdruck jenes Bedürfnisses, das Lila viel später in die Tat umsetzen wird: das Bedürfnis, sich selbst zu zerstören, sich auszulöschen. 34 Tatsächlich wird Lila am Ende der Romanhandlung, als beide Frauen bereits über sechzig sind, spurlos verschwinden. Mit ihr verschwindet all ihr Besitz, ihre Fotos, ihr Computer, auf dem womöglich – fürchtet Elena – jener Roman gespeichert war, den Lila eines Tages veröffentlichen und der ihr eigenes Werk in den Schatten stellen würde.35 Am Ende ist es jedoch Elena, die Lilas Geschichte erzählt. An die Stelle der verschwundenen Freundin tritt der Roman, die Mühe,

furie e invenzioni, solo per mostrare a me qualcosa di se stessa? Persa quella ragione, si disperdeva? [...] Tutto, di lei, era frutto del disordine delle occasioni?“ 33 Übers. Chr. Ott; ebd., S. 119: „Il corpo in immagine di Lila sposa appariva crudelmente trinciato. Gran parte della testa era scomparsa, così la pancia. Restava un occhio, la mano su cui poggiava il mento, la macchia splendente della bocca, strisce in diagonale del busto, delle gambe accavallate, le scarpe.“ 34 Ebd., S. 122 35 Ferrante 2011 (wie Anm. 23), S. 18; Ferrante 2014 (wie Anm. 25), S. 440.

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das Flüchtige in eine feste Form zu bannen: „ich, die ich Monate und Monate und Monate geschrieben habe, um ihr eine Form zu geben, die sich nicht auflöst, und sie schlagen, und sie beruhigen, und so mich selbst beruhigen“36. Die Figur ‚Lilaʻ verkörpert so gleichsam die These vom Tod des Autors – und zugleich spiegelt sie die auktoriale Position Ferrantes, die Autorschaft als vollständiges Zurücktreten der empirischen Person hinter dem Werk konzipiert. Wenn die Figur ‚Elenaʻ am Ende entdeckt, dass sie von ‚Lilaʻ nur benutzt wurde, um deren Geschichte zu erzählen („Ihr ganzes Leben lang hatte sie eine eigene Befreiungsgeschichte erzählt, indem sie meinen lebendigen Körper und meine Existenz benutzte“37), so lässt sich dies als ironischer Verweis der Autorin auf ihr Spiel mit Lesererwartungen deuten. Demnach wäre Elena Greco, die nicht umsonst immer nur in Klischees schreibt, ein falsches Double von Elena Ferrante – ebenso wie Ferrante in ihren Interviews bewusst Fehlinformationen zur eigenen Person gegeben hat. Das bedeutet nun freilich nicht, dass Lila die ‚echteʻ Ferrante wäre. Beide Figuren sind Masken, selbstkritische Doubles der Erzählerin Ferrante: die eine Inkarnation eines beflissenen, kleinbürgerlichen Bildungsgedankens und einer romanhaft-inauthentischen Gefühlswelt, die andere Figur eines Flaubert’schen narrateur invisible, der sich selbst auszulöschen sucht, um die ‚Welt der Dingeʻ desto klarer hervortreten zu lassen. Eine verbindliche, Allgemeingültigkeit beanspruchende Kunstideologie findet sich weder bei Amélie Nothomb noch bei Elena Ferrante – Peter Zimas Thesen zum postmodernen Künstlerroman können insofern bestätigt werden. Der Topos der Einzigartigkeit der (heranwachsenden) Künstlerin wird in Amélie Nothombs autobiographischem Diptychon nur mehr parodiert. Nothombs hyperbolisches Schreiben, das selbst Banalitäten zu außergewöhnlichen Ereignissen verklärt, ließe sich als eine schriftstellerische Umsetzung des von Freud theoretisierten frühkindlichen Narzissmus betrachten. Es hat keinerlei Interesse an allgemeingültigen Aussagen, sondern kreist unentwegt um die Person der Erzählerin. Während Nothomb beständig einen Nexus zwischen der empirischen Autorin und ihren Figuren suggeriert und sich damit einer Vermarktungslogik beugt, geht Ferrante mit ihrer Weigerung, als empirische Person am Rezeptionsprozess ihrer Bücher teilzuhaben, einen entgegengesetzten Weg. Sowohl die Figur ‚Elena Fer-

36 Übers. Chr. Ott; Ferrante 2014 (wie Anm. 25), S. 444: „io che ho scritto mesi e mesi e mesi per darle una forma che non si smargini, e batterla, e calmarla, e così a mia volta calmarmi.“ 37 Ebd., S. 451: „Per tutta la vita aveva raccontato una sua storia di riscatto, usando il mio corpo vivo e la mia esistenza.“

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ranteʻ, die die Autorin in ihren Interviews entwirft, als auch Ferrantes Protagonistinnen entsprechen dem Klischee des hochintelligenten, aus armen Verhältnissen stammenden und sich aus eigener Kraft emporarbeitenden Künstlertypus – und doch erfüllen sie es nur in ironisch gebrochener Weise. Denn eine geniale Künstlerin ist in Ferrantes Tetralogie lediglich Lila – die sich dem Künstlertum verweigert beziehungsweise aus der Auslöschung der eigenen Person eine eigene, postmoderne Form von Autorschaft macht. Elena Greco steht dagegen für ein kleinbürgerliches, antiquiertes Ideal von Bildung und Künstlertum ein. Im Gegensatz zu Nothomb bleibt Ferrante freilich nicht im Parodistischen und Anekdotischen stecken. In einem großen Geschichtsentwurf zeichnet sie vielmehr den Bedeutungsverlust der Literatur zugunsten von neuen Medien und politischen Phrasen nach. Eben dadurch zeigt sie freilich auch, dass nicht jeder postmoderne Bildungsroman den Anspruch auf allgemeingültige Aussagen aufgegeben hat.

Autobiographie als Trauerarbeit. roland BARTHES par roland barthes * C HRISTINE T AUBER

„R. B. par R. B. n’est pas une autobiographie, si l’on entend par ce mot, l’écriture de sa propre vie et de ses événements remarquables, ‚la biographie‘ d’une personne écrite par la personne ‚même‘, le récit d’une existence. Au risque d’une incongruité des notions, je l’ai lu comme un portrait: un portrait de Roland Barthes, non par lui-même – il s’agit alors d’un autoportrait – mais par Roland Barthes“, schrieb Louis Marin in paradoxer Zuspitzung 1982.1 Und auch wenn Roland Barthes selbst alle erdenklichen Bemühungen aufgeboten hat, sein Ich in ähnlich geistreichen sprachlichen Volten zu kaschieren und den Autobiographieforscher mit seiner unermüdlichen Taktik des Sich-der-Verstehbarkeit-Entziehens in die Verzweiflung zu treiben, hat er eine Vielzahl von autobiographischen Texten bzw. Porträts hinterlassen.2 Sein bevorzugter Terminus hierfür ist

*

Für Lektüre und hilfreiche Hinweise danke ich Martina Bengert, Susanna C. Berger, Klaus Heinrich Kohrs, Paula Schwerdtfeger und Barbara Vinken.

1

Louis Marin, Roland Barthes par Roland Barthes ou L’autobiographie au neutre, in: Critique. Roland Barthes 423–424, 1982, S. 734–743, erneut in: Ders., L’écriture de soi. Ignace de Loyola, Montaigne, Stendhal, Roland Barthes, hg. von Pierre-Antoine Fabre, Paris 1999, S. 3–13, hier S. 4.

2

Zum autobiographischen Schreiben von Roland Barthes vgl. Andrei Lazǎr, Le „moi“ à découvert. Stratégies iconotextuelles dans Roland Barthes par Roland Barthes, http://www.upm.ro/ldmd/LDMD-01/Lit/Lit%2001%20A0.pdf;

Anne

Herschberg-

Pierrot, Les manuscrits de Roland Barthes par Roland Barthes, style et génèse, in: Genesis, manuscrits, recherche, intervention 19 (no spécial Roland Barthes), Paris 2002, S. 191–215; Magali Nachtergael, Vers l’autobiographie New Look de Roland

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„biographème“. roland BARTHES par roland barthes3 erschien erstmals 1975 in den Éditions du Seuil (höchst passend ein Verlag der Schwelle, des Übergangs) in der Reihe „Écrivains de toujours“, in der Barthes bereits 1954 seinen Michelet par lui-même publiziert hatte. Dieser „Barthes in Potenz“ wird dann noch eine Windung weitergedreht in dem kurzen Text „Barthes puissance trois“4 („Barthes hoch drei“), in dem der Autor der Autofiktion sich selbst rezensiert und sein Subjekt in dieser mehrfachen Potenzierung noch konsequenter dissimuliert. Als letzten, stark autobiographisch aufgeladenen Text publizierte Barthes zu Lebzeiten seine Überlegungen zum affektiven Potential der Photographie in La

Barthes. Photographies, scénographie et réflexivité théorique, in: Image & Narrative XIII/4, 2012, S. 112–128; Gabriele Schabacher, Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion ‚Gattung‘ und Roland Barthes’ Über mich selbst (Studien zur Kulturpoetik, Bd. 7), Würzburg 2007 (v. a. Teil III, S. 183–353); Dies., Das ‚Projekt RB‘. Praxen des Autobiographischen und die Medien des Realen bei Roland Barthes, in: Angela Oster/Karin Peters (Hgg.), Jenseits der Zeichen. Roland Barthes und die Widerspenstigkeit des Realen, München/Paderborn 2012, S. 135–158; Daniela Langer, Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, München 2005 (v. a. S. 259–331); Carlo Brune, Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben, Würzburg 2003 (v. a. S. 244– 292); Françoise Gaillard, La biographie sans la biographie, in: Le biographique. Revue des sciences humaines 224, 1991, S. 85–103; Ottmar Ette, Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M. 1998; Ders., Auf der Suche nach dem (sich verlierenden) Leben. Wissenschaft und Schreiben bei Roland Barthes, in: Oster/Peters (Hgg.) 2012, S. 35–64; Robert Walter-Jochum, Autobiografietheorie in der Postmoderne. Subjektivität in Texten von Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic und Paul Auster, Bielefeld 2016, v. a. S. 100ff.; Birgitta Krumrey, Der Autor in seinem Text. Autofiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als (post-)postmodernes Phänomen, Göttingen 2015; Judith Kasper, Jeter/Balancer. Roland Barthes’ autobiographisches Projekt und die Geburt des Lesers aus der Rippe, in: Lendemains 40, no 158/159, 2015, S. 25–35. 3

Im Folgenden: rBprb. Die schlechte deutsche Übersetzung von Jürgen Hoch Über mich selbst (im Folgenden: ÜMS; zuerst München 1978, Berlin 22009) vergibt schon im Titel semantisches Potential. Die folgenden Übersetzungen aus rBprb lehnen sich an diese Ausgabe an, wurden aber von Fall zu Fall von der Verf. modifiziert.

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In: Quinzaine littéraire 205, 1er–15 mars 1975, wiederabgedr. in: Roland Barthes, Œuvres complètes. Livres, textes, entretiens. Nouvelle édition, hg. von Éric Marty, 5 Bde., Paris 2002, Bd. IV, S. 776.

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chambre claire. Note sur la photographie5, erschienen in seinem Todesjahr 1980. Erst postum wurden dann die Soirées de Paris herausgegeben, eine Art intimes Tagebuch, das sich in kurzen, unregelmäßigen und häufig literarisch überformten Notaten zwischen dem 24. August und dem 17. September 1979 in anrührender Weise mit dem eigenen Älterwerden und dem Scheitern der homosexuellen Liebesfähigkeit zu „einem Jungen“ auseinandersetzt.6 Der intime Zettelkasten mit dem Titel Journal de deuil, dessen Niederschrift am 26. Oktober 1977 und damit einen Tag nach dem Tod der Mutter einsetzt, mit der Barthes bekanntlich sein Leben lang zusammenwohnte und die er bis zu ihrem Ende pflegte, wird 2009 ebenfalls erst postum der Öffentlichkeit preisgegeben.7 Unter drei – wie zu zeigen sein wird, eng miteinander in vielfältigen Zusammenhängen stehenden – Aspekten möchte ich mich im Folgenden den „Autobiographemen“

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Im Folgenden: CC; die hervorragende Übersetzung von Dietrich Leube Die helle Kammer (Frankfurt a. M. 1985, 152014) im Folgenden: HK. Hierzu u. a.: Judith Kasper, Sprachen des Vergessens: Proust, Perec und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken, München 2003, v. a. Dritter Teil: Vergessen des Ichs und Eingedenken des Anderen (Roland Barthes, La chambre claire), S. 243–292; Kentaro Kawashimi, Autobiographie und Photographie nach 1900. Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald, Bielefeld 2011, v. a. S. 183ff.; Katharina Sykora/Anna Leibbrandt (Hgg.), Roland Barthes revisited: 30 Jahre Die helle Kammer, Köln 2012; Ronald Berg, Die Ikone des Realen. Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001; Katja Haustein, Regarding lost time: photography, identity and affect in Proust, Benjamin, and Barthes, London 2012; Geoffrey Batchen (Hg.), Photography degree zero: reflections on Roland Barthes’s Camera lucida, Cambridge, Mass./London 2009.

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Roland Barthes, Soirées de Paris, in: Ders., Incidents, Paris 1987, S. 71–116, hier S. 116. Der Text endet mit dem resignativen Schlusssatz: „Puis je l’ai renvoyé, disant que j’avais à travailler, sachant que c’était fini, et qu’au-delà de lui quelque chose était fini: l’amour d’un garçon.“ Vgl. hierzu: Hanns-Josef Ortheil, Die Pariser Abende des Roland Barthes, Mainz 2015.

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Im Folgenden: JDD. Vgl. Judith Kasper, Angesichts des Verlusts fast nichts. Über Roland Barthes’ Journal de deuil, in: Oster/Peters (Hgg.) 2012 (wie Anm. 2), S. 231– 244. Vgl. auch Barthesʼ Text „Délibération“ über das Tagebuchschreiben, in: Tel Quel 82, 1979, S. 8–18, erneut in: Barthes 2002 (wie Anm. 4), Bd. V, S. 668–681; Valérie Stiénon, Roland Barthes et son Journal: de l’inclination à la délibération, in: Études françaises 45/3, 2009, S. 129–150.

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Roland Barthes nähern8: unter dem der Selbstdementierung, dem der bürgerlichen Professionalisierungsverweigerung und schließlich dem der Trauerarbeit als einem intellektuellen Metier.

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Das unausweichliche Ende jeder autobiographischen Bemühung ist der Tod des Autors. Und es liegt in der Natur der Sache, dass das autobiographische Ich dieses Ende nicht mehr selbst darstellen kann. Daher wählt der Autor Barthes in roland BARTHES par roland barthes die potentiell unabschließbare Form eines dictionnaire bzw. fichier, eines beliebig anreicherbaren Zettelkastens, mit dem man nie ans Ende kommen muss und der unendlich vielen Neuanordnungen unterzogen werden kann. Barthes perhorresziert jedes Ende, das immer ein tödliches ist, er weicht jeglicher Finalität aus. Hieraus begründet sich seine Vorliebe für literarische Formen der Unabgeschlossenheit wie das Fragment bzw. die Fragmentensammlung, während er den bedeutungsschwangeren Aphorismus ablehnt: „Écrire par fragments: les fragments sont alors des pierres sur le pourtour du cercle: je m’étale en rond: tout mon petit univers en miettes; au centre, quoi?“9 Er liebt vor allem die Anfänge, wie er in seiner Autobiographie aus fragmentierten Biographemen gesteht: „Aimant à trouver, à écrire des débuts, il tend à multiplier ce plaisir: voilà pourquoi il écrit des fragments: autant de fragments, autant de débuts, autant de plaisirs (mais il n’aime pas

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Vgl. auch den von Barthes selbst in der dritten Person Singular – wie dann auch passagenweise roland BARTHES par roland barthes – verfassten Klappentext zu den Mythologies, zit. n. der einschlägigen Biographie Barthes’ von Louis-Jean Calvet, Roland Barthes 1915–1980, Paris 2014 (11990), S. 160: „Depuis trois ans, R.B. tente de mener dans des directions différentes une critique engagée: littérature dans ses essais et dans quelques articles de fond sur les romans de Cayrol (Esprit) et de Robbe-Grillet (Critique); théâtre, avec la fondation de la revue Théâtre populaire et quelques chroniques dans France-Observateur, vie quotidienne des Français d’aujourd’hui, dont ces Mythologies sont le témoignage.“

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Fragment „Le cercle des fragments“, S. 111; vgl. auch rBprb, S. 183: „Je ne puis mettre en scène (en texte), comme tels, le symbolique et l’idéologie qui me traversent, puisque j’en suis la tache aveugle (ce qui m’appartient en propre, c’est mon imaginaire, c’est ma fantasmatique: d’où ce livre)“.

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les fins: le risque de clausule rhétorique est trop grand: crainte de ne savoir résister au dernier mot, à la dernière réplique).“10

Das Motto, das sich innen auf dem Umschlag seiner Autobiographie befindet, gibt gleich zu Beginn eine imperativische Leseanleitung für das Folgende: „Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman“. Es erscheint als invertierte Traueranzeige Weiß auf schwarzem Grund, wie an eine Schultafel gekritzelt. Es ist die zu Schrift geronnene Stimme des Autors aus dem off, eine aus dem Nichts aufsteigende individuelle Handschrift, die Spur einer Autofiktion mit romanhaften Qualitäten.11 Dem korrespondiert das Postskriptum unter der Überschrift „Et après?“ im hinteren Innenumschlag; ein Kürzestdialog zwischen zwei anonymen Stimmen, die wohl die Rollen des Lesers und des Autors repräsentieren sollen – ein erneutes Bekenntnis zum Nicht-ans-Ende-KommenWollen, auch diesmal handschriftlich hoffnungsfroh aus dem schwarzen Grund auftauchend: „– Quoi écrire, maintenant? Pourrez-vous encore écrire quelque chose? – On écrit avec son désir, et je n’en finis pas de désirer.“12 Das Romanesk-Romanhafte dieses Buches13 manifestiert sich zuerst in Bildern, die sich das autobiographische Ich vorgeblich als Selbstbelohnung zum

10 rBprb, S. 113. „Da er es liebt, Anfänge vorzufinden und selbst niederzuschreiben, neigt er dazu, diese Lust zu steigern: deshalb schreibt er Fragmente, ebenso viele Anfänge wie lustvolle Erlebnisse (was er hingegen gar nicht mag, ist das Ende, sind die Abschlüsse: das Risiko der rhetorischen Floskel ist dort zu groß: die Furcht, dem letzten Wort, der letzten Replik nicht widerstehen zu können).“(ÜMS, S. 103). Barthes war Zeit seines Lebens ein großer Pläneschmied und Projektemacher, zugleich stellte er sich selbst Stundenpläne auf, um sich durch ein striktes, täglich durchgehaltenes Zeitregime, das mit seinem Notierregime der fiches korrespondiert, selbst zu disziplinieren; vgl. u. a. die Fragmente „Emploi du temps“, rBprb, S. 96f., und „Projets de livres“, S. 179f. 11 Vgl. die Rezension von rBprb auf dem Blog littexpress.over: http://littexpress.overblog.net/article-roland-barthes-roland-barthes-par-roland-barthes-111471560.html: „une autobiographie qui n’admet pas que la représentation de l’auteur puisse être ancré dans le réel“ (Rezensent: K. G.); Joël Zufferey (Hg.), L’autofiction: variations génériques et discursives, Louvain-la-Neuve 2012; vgl. auch: www.fabula.org/atelier. php?L%27autofiction. 12 „– Und was danach? Was jetzt schreiben? Könnten Sie überhaupt noch etwas schreiben? – Man schreibt mit seinem Begehren, und ich höre nicht auf zu begehren.“ 13 Vgl. Roland Barthes, Réponses, in: Tel Quel 47, 1971, S. 89–107, hier S. 102: „je pourrais dire que ma propre position historique (il faut toujours s’interroger là-dessus)

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Abschluss der mühseligen Textarbeit offeriert hat. Die Auswahl dieser Photos sei rein lustbetont, schreibt er. Sie betrifft neben dem eigentlichen ,Familienromanʻ (Abb. 12) seiner Vorfahren bis in die Urgroßelterngeneration hauptsächlich Aufnahmen aus seiner Kindheit in Bayonne und seiner Jugend in Paris. Die unbestrittene Protagonistin dieses autobiographischen Vorspanns in Bildern ist, wie nicht anders zu erwarten, die Mutter. In der erwähnten Auto-Rezension seiner Autofiktion legitimiert Barthes diese Beschränkung auf die Frühzeit seines Lebens wie folgt: „Ce n’est pas pour rien, semble-t-il, que l’imagerie du ‚R. B.‘ (rassemblée symboliquement avant que le texte commence) est l’imagerie à peu près exclusive d’une enfance. Ce n’est pas pour rien que le livre est ponctué trois fois par l’image de la Mère: d’abord radieuse, désignant la seule Nature reconnu par un sujet qui n’a cessé de dénoncer partout le ‚naturel‘; puis comblant, enserrant l’enfant triste dans la rélation duelle, marquant d’une éternelle ‚demande d’amour‘ (Abb. 13); posée enfin à côté, devant et derrière le Miroir et fondant dès lors l’identité imaginaire du sujet“14.

Das spiegelförmig ausgeschnittene Photo ist mit Referenz auf Lacans „Spiegelstadium“ untertitelt „Le stade du miroir: ‚tu es cela‘“ (Abb. 14). In diesem Zitat findet sich schon in nuce Barthes’ berühmtes und oft untersuchtes Konzept des punctum in einer Photographie15, das er später in La chambre claire ausarbeiten

est d’être à l’arrière-garde de l’avant-garde: être d’avant-garde, c’est savoir ce qui est mort; être d’arrière-garde, c’est l’aimer encore: j’aime le romanesque mais je sais que le roman est mort: voilà, je crois, le lieu exact de ce que j’écris.“ Vgl. auch Marie Baudry, Le Romanesque chez Barthes: l’épreuve du réel, in: Oster/Peters (Hgg.) 2012 (wie Anm. 2), S. 201–214. 14 „Es kommt nicht von ungefähr, so scheint es, dass die Bildmenagerie von ‚R. B.‘ (vor Beginn des Textes symbolhaft versammelt) fast ausschließlich die Bildwelt einer Kindheit ist. Und nicht von ungefähr ist das Buch dreimal punktiert vom Bild der Mutter: Zuerst strahlend und damit die einzige Natur bezeichnend, die ein Subjekt anerkennt, das nicht müde wurde, das angeblich Natürliche immer wieder anzuprangern; dann das traurige Kind in eine duale Beziehung einschließend, wunschlos glücklich machend, Indikator eines ewigen Liebesverlangens; schließlich neben, vor und hinter dem Spiegel sitzend und seither als Stifterin der imaginären Identität des Subjekts fungierend.“ 15 Vgl. z. B. Michael Fried, Barthes’s punctum, in: Critical inquiry 31, 2005, S. 539– 574; erneut in: Batchen 2009 (wie Anm. 5), S. 141–169; vgl. CC, S. 71f./79/84/87f.: „Dans cet espace très habituellement unaire, parfois (mais, hélas, rarement) un ‚détail‘

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wird und das dasjenige Moment an einem Photo bezeichnet, das auf den je individuellen Betrachter abzielt, ihn besticht, indem es sein Herz durchbohrt. Dieser Bilderstrecke sind disparate Kommentare als Bildunter- oder -überschriften beigegeben; der eigentliche Text beginnt in der Erstausgabe erst nach dem Imaginarium auf S. 47. Der Frage, ob sprachliche und visuelle Repräsentation in diesem Buch einen je unterschiedlichen Stellenwert für die Selbsterkenntnis des Autors hat oder ob in seinem strukturalistisch-semiotischen Ansatz Bilder und Texte strukturanalogen ,Lektürenʻ unterzogen werden, das Bild mithin als Text wahrgenommen wird, kann in diesem Kontext nicht näher nachgegangen werden.16 Die gesamte Text-Bild-Collage von roland BARTHES par roland barthes ist jedenfalls eine unabschließbare autoreferentielle Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen autobiographischen Schreibens, über das imaginaire eines Ichs, das sich nicht auszusprechen wagt. Die Überlegungen zum „Patch-work“ bieten dem Leser das Fragment eines Diskurses über die écriture autobiographique, über das autobiographische Ich, das sich keinen Standpunkt vorschreiben lässt und sich im Niemandsland zwischen Zeigen und Verbergen ansiedelt – das sich zeigt, um sich zu verbergen:

m’attire. Je sens que sa seule présence change ma lecture, que c’est une nouvelle photo que je regarde, marquée à mes yeux d’une valeur supérieure. Ce ‚détail‘ est le punctum (ce qui me point). […] il suffit que l’image soit suffisamment grande, que je n’aie pas à la scruter (cela ne servirait à rien), que, donnée en pleine page, je la reçoive en plein visage. / Certains détails pourraient me ‚poindre‘. S’ils ne le font pas, c’est sans doute parce qu’ils ont été mis là intentionnellement par le photographe. / Le studium est en définitive toujours codé, le punctum ne l’est pas […]. / Ce que je peux nommer ne peut réellement me poindre. L’impuissance à nommer est un bon symptôme de trouble. / […] plus tard j’ai compris que le vrai punctum était le collier qu’elle portait au ras du cou; car (sans doute) c’était ce même collier (mince cordon d’or tressé) que j’avais toujours vu porté par une personne de ma famille, et qui, elle une fois disparue, est resté enfermé dans une boîte familiale d’anciens bijoux (cette sœur de mon père ne s’était jamais mariée, avait vécu en vieille fille près de sa mère, et j’en avais toujours eu de la peine, pensant à la tristesse de sa vie provinciale). Je venais de comprendre que tout immédiat, tout incisif qu’il fût, le punctum pouvait s’accommoder d’une certaine latence (mais jamais d’aucun examen).“ 16 Vgl. hierzu den zentralen Beitrag von Guillaume Cassegrain, Roland Barthes ou l’image advenue, Paris 2015; vgl. auch Philippe C. Dubois, Barthes et l’image, in: The French Review 72/4, 1999, S. 676–686.

124 | CHRISTINE T AUBER „Me commenter? Quel ennui! Je n’avais d’autre solution que de me ré-écrire – de loin, de très loin – de maintenant: ajouter aux livres, aux thèmes, aux souvenirs, aux textes, une autre énonciation, sans que je sache jamais si c’est de mon passé ou de mon présent que je parle. Je jette ainsi sur l’œuvre écrite, sur le corps et le corpus passé, l’effleurant à peine, une sorte de patch-work, une couverture rapsodique faite de carreaux cousus. Loin d’approfondir, je reste à la surface, parce qu’il s’agit cette fois de ‚moi‘ (du Moi) et que la profondeur appartient aux autres.“17

Jeder autobiographische Text ist vor die Grundsatzentscheidung gestellt, wie er die Beschreibung des eigenen Lebens anordnen soll. Barthes greift auch hier zu einer originellen und zugleich subversiven Lösung: Er unterwirft seine Lebensfragmente einer ,totenʻ, ,sinnlosenʻ Ordnung, indem er sie alphabetisch ordnet. Die einzelnen Buchstaben des Alphabets haben für sich genommen noch keine Bedeutung, sie gleiten nicht „in ein einziges großes Netz hinein, das die Struktur des Buches, sein Sinn, wäre“18, sie sind erfreulich neutral; sie löschen den Ursprung, die genealogische Herkunft des einzelnen Fragments aus und zerschreiben Sinnzuordnungen: „Tentation de l’alphabet: adopter la suite des lettres pour enchaîner des fragments, c’est s’en remettre à ce qui fait la gloire du langage (et qui faisait le désespoir de Saussure): un ordre immotivé (hors de toute imitation), qui ne soit pas arbitraire (puisque tout le monde le connaît, le reconnaît et s’entend sur lui). [...] Cet ordre, cependant, peut être malicieux: il produit parfois des effets de sens; et si ces effets ne sont pas désirés, il faut casser l’alphabet au profit d’une règle supérieure: celle de la rupture (de l’hétérologie): empêcher qu’un sens ‚prenne‘.“19

17 rBprb, S. 171. „Mich selbst kommentieren? Wie langweilig! Ich hatte nur eine Lösung: mich neu-zu-schreiben – aus der Ferne, von sehr weit weg – von jetzt aus: den Büchern, Themen, Erinnerungen, Texten eine andere Art des Sich-Aussagens hinzuzufügen, ohne dass ich jemals wüsste, ob ich von meiner Vergangenheit oder von meiner Gegenwart spreche. Ich werfe so über das geschriebene Werk, über den vergangenen Körper, das Korpus der Vergangenheit, in kaum spürbarer Berührung eine Art patch-work, eine rhapsodische Decke, die aus zusammengenähten Vierecken besteht. Weit davon entfernt, mich zu vertiefen, bleibe ich an der Oberfläche, weil es sich diesmal um ‚Mich‘, um das Ich handelt und weil die Tiefe/der Tiefsinn den anderen gehört.“ (ÜMS, S. 155) 18 ÜMS, S. 161. 19 rBprb, S. 176. „Versuchung durch das Alphabet: die Abfolge der Buchstaben zu übernehmen, um Fragmente aneinanderzufügen, heißt, sich dem zu überlassen, was den

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Der eigene Name wird in roland BARTHES par roland barthes nur im Titel geführt, im Text wird er nicht ausgesprochen. In der Kaskade der Eigennamen der Kleinbürgerfamilien aus Bayonne, denen sich das Fragment „Noms propres“ widmet, fehlt er. Dieses Fragment steht im heterologen Alphabet des dictionnaire autobiographique nach dem „Barres-Spiel“ und vor der „Bêtise“, obwohl es mit einem N beginnt, also an der Stelle, an die „Barthes“ passen würde – doch der eigene Name bleibt Leerstelle. Das autobiographische Ich weigert sich hartnäckig, sich von außen definieren und damit in seinem ,Sinnʻ festlegen zu lassen. Das durch mehrfache Potenzierung der Dissimulation gebrochene Ende von „Barthes puissance trois“ treibt dieses Versteckspiel des Autors wie des Ichs auf die Spitze: „Prisonnier d’une collection (‚X. par lui-même‘) qui lui proposait de ‚se dire‘, Barthes n’a pu dire qu’une chose: qu’il est le seul à ne pouvoir parler vraiment de lui. Tel est le sens, ‚décevant‘, de son livre. Il aurait beau entasser déclarations, interviews ou articles, s’entourer d’un nuage de commentaires, comme la seiche de son encre, rien n’y fera: comme sujet imaginaire et idéologique, la méconnaissance (non l’erreur, mais le report, infini de la vérité à travers le langage) est son lot fatal, quoi qu’il écrive sur lui et de quelque nom qu’il le signe – fût-ce le plus éprouvé des pseudonymes: son propre nom, son Nom Propre. Roland Barthes.“20

Ruhm der Sprache ausmacht (und was Saussure in die Verzweiflung trieb): eine nichtmotivierte Ordnung (jenseits jeder Imitation), die nicht beliebig ist (denn jeder kennt sie, erkennt sie an und kann sich darüber verständigen). [...] Doch diese Ordnung kann tückisch sein: sie produziert bisweilen Sinn; und wenn diese Sinneffekte unerwünscht sind, muss das Alphabet zugunsten einer übergeordneten Spielregel in Fragmente zerlegt werden: der des Bruchs (der Heterologie): es muss verhindert werden, dass ein Sinn sich verfestigt/dass es plötzlich Sinn macht.“ (ÜMS, S. 160f.) 20 Barthes 1975 (wie Anm. 4). „Als Gefangener einer Reihe (‚X. über sich selbst‘), die ihm nahegelegt hat, ‚sich auszusprechen‘, war Barthes nur imstande, eines zu sagen: Dass er der einzige ist, der nicht wirklich über sich sprechen kann. Das ist der Sinn seines Buches – eine ‚Enttäuschung‘ zu sein. Er hätte noch so viele Erklärungen, Interviews oder Artikel anhäufen, sich in eine Wolke von Kommentaren hüllen können, wie der Tintenfisch in seine Sepia, es wäre alles umsonst gewesen: als imaginäres und rein gedankliches Subjekt ist die Verkennung sein unvermeidliches Los (nicht der Fehler, sondern die unendliche Verschiebung der Wahrheit mittels der Sprache), egal, was er über sich schreibt und mit welchen Namen er unterschreibt – und wäre es auch mit dem bewährtesten aller Pseudonyme: seinem eigenen Namen, seinem Eigennamen. Roland Barthes.“

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Das autobiographische Ich entzieht sich der Fixierung auf eine bestimmte soziale, politische, sexuelle oder intellektuelle Identität durch die Lehrmeinung der doxa oder durch die stereotypen Vorurteile ,derʻ bürgerlichen Gesellschaft. Der gesamte Text der Barthes’schen Autofiktion ist geprägt von Strategien des Sich von sich selbst Distanzierens, des Sich der Festlegung auf einen bestimmten Sinn Entziehens. Schon der zweite Eintrag in die Fragmentensammlung, „L’adjectif“, macht diese Verweigerung einer Fremdzuschreibung deutlich, wird aber sogleich durch das links davon stehende Photo des rauchenden Linkshänders Roland Barthes mit der Bildunterschrift „Gaucher“ konterkariert (Abb. 15): „Il supporte mal toute image de lui-même, souffre d’être nommé. Il considère que la perfection d’un rapport humain tient à cette vacance de l’image: abolir entre soi, de l’un à l’autre, les adjectifs; un rapport qui s’adjective est du côté de l’image, du côté de la domination, de la mort.“21 Die Adjektive suchen den Autor in nächtlichen Albträumen als phantasmagorische revenants heim: „La nuit, les adjectifs reviennent, en masse“22, sie sind die Signifikanten seiner Angst vor dem Fixiertwerden, vor der tödlichen Endgültigkeit. Ein weiteres Moment der Selbstdementierung durch Distanzierung findet sich in Barthes’ Überlegungen zu den einer Autobiographie angemessenen Personalpronomina. Im Französischen ist mit der Differenz von ,jeʻ und ,moiʻ bereits eine semantische Verschiebung zwischen zwei möglichen Subjektpronomina gegeben, die dem Verhältnis vom Spiegel zu seinem Bild entspricht bzw. dem sich im Spiegel sehenden Ich (= moi).23 Das mit „Moi, je“ überschriebene Fragment in roland BARTHES par roland barthes, das an der alphabetischen Position des „Subjekts/Sujets“ zu finden ist, geht noch einen Schritt weiter: Es verschiebt das ,Ichʻ, das zu sich selbst und zu seinem Spiegelbild auf Distanz geht und sich damit von sich selbst entfremdet, zum ,Erʻ des ganz Anderen. Die Transformation des „moi, je“ in ein „lui“ und damit in die seit Cäsars Commentarii für Autobiographien literarisch-kanonische dritte Person Singular kommt einem Suizid des Autors an seinem ungeliebten Ich gleich:

21 rBprb, S. 51. „Jedes Bild von ihm selbst ist ihm unerträglich, er leidet darunter, genannt, abschließend benannt zu werden. Er meint, dass die Vollkommenheit einer menschlichen Beziehung auf der Vakanz, dem Aushalten der Leere des Bildes beruht: untereinander, vom einen zum andern, die Adjektive abschaffen; eine Beziehung, die mit Adjektiven versieht, ist auf der Seite des Bildes, auf der Seite der Fremdherrschaft, des Todes.“ (ÜMS, S. 47) 22 rBprb, S. 138. 23 rBprb, S. 127; Jürgen Hoch (ÜMS, S. 115) übersetzt „Moi, je“ unpassenderweise mit „Ich selbst“.

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„dans ‚moi, je‘, ‚je‘ peux n’être pas moi, qu’il casse d’une façon carnavalesque; [...] d’un autre côté, ne pas parler de soi peut vouloir dire: je suis Celui qui ne parle pas de lui; et parler de soi en disant ‚il‘, peut vouloir dire: je parle de moi comme d’un peu mort, pris dans une légère brume d’emphase paranoïaque, ou encore: je parle de moi à la façon de l’acteur brechtien qui doit distancer son personnage: le ‚montrer‘, non l’incarner [...].“ 24

Das ,Erʻ löscht seinen Referenten aus und demütigt ihn – das Ich – damit zu Tode: „‚il‘ est méchant: c’est le mot le plus méchant de la langue: on ne peut l’appliquer sans malaise à qui l’on aime; disant de quelqu’un ‚il‘, j’ai toujours en vue une sorte de meurtre par le langage [...].“25 1975, im gleichen Jahr wie roland BARTHES par roland barthes, erschien auch Philippe Lejeunes Le pacte autobiographique. Das dort entwickelte, wenig überzeugende Konzept geht davon aus, dass der Autor einer Autobiographie durch das Unterzeichnen dieses Paktes verspricht, dem Leser sein Leben ungefiltert und unstilisiert, in einem aufrichtigen „esprit de vérité“ zu präsentieren. Barthes geht mit seinem Leser keinen Pakt ein, er konfrontiert ihn vielmehr mit ständigen Selbstdementierungen, die zugleich die Demontierung jeglichen Wahrheitsanspruchs bedeuten. In seinen autobiographischen Texten herrschen Worte zur Bezeichnung seiner écriture vor, die mit der selbstverweigernden Vorsilbe „dé-“ beginnen, so in „se déprendre“ (sich von sich selbst lösen), „déborder“ (übertreten, überschreiten), „détourner“ (umleiten). Das autobiographische Ich befindet sich im ständigen „déport“ (in der Verschiebung), in der „dérive“ (dem Abdriften). In permanenten Akten der Selbstdistanzierung wird das Subjekt in seinem Versuch, sich zu verfestigen, durchkreuzt. „Déjouer le sujet“ bedeutet aber auch, das Thema des Schreibens, das Subjekt, das das Sujet jeder Autobiographie ist, zu durchkreuzen. Damit soll der Leser vom (rechten) Weg abgebracht („dérouter le lecteur“), verunsichert werden. Das schreibende Ich, das sich als ,Erʻ in der autorlos gewordenen écriture fortschreibt, überträgt die

24 rBprb, S. 202. „In ‚moi, je‘ kann ‚je‘ nicht moi sein, das es in karnevalesker Manier zerschlägt. [...] andererseits kann nicht von sich selbst sprechen heißen: ich bin Derjenige, der nicht von sich spricht; und von sich selbst sprechen und dabei ‚er‘ sagen, kann heißen: ich spreche von mir wie von einem ein wenig Toten [...], oder auch: ich spreche von mir nach Art des Brechtʼschen Schauspielers, der seine Rolle verfremden soll: sie ‚zeigen‘, nicht sie verkörpern.“ (ÜMS, S. 182f.) 25 rBprb, S. 202. „[...] das ‚er‘ ist bösartig: es ist das gemeinste Wort der Sprache: man kann es nur mit großem Unbehagen auf jemanden anwenden, den man liebt; wenn ich jemanden ‚er‘ nenne, kommt es mir immer so vor, als würde ich mit der Sprache eine Mordtat begehen […]“ (ÜMS, S. 183)

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eigene Verweigerung der Subjektwerdung wirkungsästhetisch mit literarischen Mitteln auf den Leser. Der Sinn eines solcherart neu-geschriebenen, wiederbeschriebenen Lebens besteht im „flou de la différence“26, in der Verschwommenheit, der Unschärfe, der bewussten Verunklärung der Differenz. Das Ich befindet sich im „déplacement constant“, es kommt niemals „à sa dernière place“ an27, es lässt sich nicht festsetzen auf einer starren Position, es verweigert die finale Selbstwerdung. Die Rettung vor dem endgültigen Schluss liegt in der „écriture“, der man sich getrost anvertrauen kann wie einer verständnis- und liebevollen Mutter: „n’est-ce pas ce langage qui a renoncé à produire la dernière réplique, vit et respire de s’en remettre à l’autre pour que lui vous entende?“28 Sinnvoll (und das heißt bei Roland Barthes immer auch ethisch verantwortlich) zu leben, bedeutet, sich auf eine unabschließbare Semiose einzulassen, die ihre nur durch den Tod stillzustellende Dynamik der Bedeutungsgenerierung dem Verlangen, der Wollust nach Sinn (dem „désir“, einem Barthes’schen Schlüsselwort) verdankt. Der Genuss, die „jouissance“ (im intellektuellen Sinne des Verstehens, aber auch mit der sexuellen Konnotation) wird endlos aufgeschoben, der eigentliche Lustgewinn liegt im unabschließbaren Spiel des Begehrens selbst, nicht im Vollzug. Die gleiche Strukturlogik ist in dem raffinierten Verweissystem am Werk, mit dem Barthes seine verschiedenen Biographeme verknüpft: Am Ende von roland BARTHES par roland barthes (wo der kleine Roland über den großen spricht, wie man den Minuskeln im Autorvornamen entnehmen kann, dem damit die Aufgabe der dominanten Ordnungszuschreibung einmal mehr entzogen wird) findet sich eine kurze Biographie, vom Autor der Autobiographie selbst zusammengestellt. En marge, in einer Fußnote zu diesem knappen Lebensabriss, scheint das autobiographische Ich mehr von sich preisgeben zu wollen: „Une biographie détaillée est donnée dans ‚Réponses‘, Tel Quel, 47, 1971“.29 Wenn Du wissen willst, wer dieser Roland Barthes wirklich war und ist, musst Du

26 rBprb, S. 199. 27 Roland Barthes, Écrivains, Intellectuels, Professeurs (im Folgenden: EIP), in: Tel Quel 47, no spéciale Roland Barthes, 1971, S. 3–18, hier S. 12: „Dans l’espace enseignant, chacun ne devrait être à sa place nulle part (je me rassure de ce déplacement constant: s’il m’arrivait de trouver ma place, je ne feindrais même plus d’enseigner, j’y renoncerais).“ 28 rBprb, S. 204. „[…] ist es nicht gerade diese Sprache, die sich geweigert hat, die letzte Replik zu geben, die dadurch lebendig pulsiert, dass sie sich dem Anderen überantwortet, damit er Euch versteht?“ (ÜMS, S. 184f.) 29 rBprb, S. 219.

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einen ganz anderen Text als diesen hier lesen, scheint die „note“ sagen zu wollen. Aber von wem wird diese Lebensbeschreibung eigentlich ,gegebenʻ, fragt sich der Leser angesichts der unpersönlichen Passivformulierung. Folgt er dem Fingerzeig, der ihm Antworten, und zwar in authentischer Weise, „tel quel“, verspricht, so läuft er – erwartungsgemäß – erneut in eine Sackgasse, denn der sens unique wird nicht preisgegeben. Der Igel Roland Barthes war längst schon hier und hat den Köder, der tiefergehende Sinnerschließung suggerierte, mitgenommen auf seinem „Ich bin immer schon weg“-Parcours einer sich verschiebenden écriture. „Réponses“ hatte Barthes in der Aufzeichnung eines Fernsehinterviews mit dem Titel „Archives du XXe siècle“ Jean Thibaudeau gegeben. Dass die Sendung jemals ausgestrahlt wird, hält er im Vorspann zu ihrem Teilabdruck in Tel Quel jedoch für illusorisch – „sinon peut-être en cas de mort de l’auteur“, wie die ironische autoreferentielle Volte, die der kurze Einleitungstext nimmt, proklamiert: „On voudra bien en conséquence se rappeler que la personne qui est née en même temps que moi le 12 novembre 1915 va devenir continûment sous le simple effet de l’énonciation une première personne entièrement ‚imaginaire‘; il faudra donc rétablir implicitement dans ce qui suit les guillemets qui conviennent à tout énoncé naïvement référentiel: toute biographie est un roman qui n’ose pas dire son nom. R. B.“30

ANTIBÜRGERLICHE P ROFESSIONALISIERUNGSVERWEIGERUNG Am Ende von roland BARTHES par roland barthes setzt der Autor in seiner kurzen Selbstbiographie erstaunliche Akzente. Aber auch in seinen Auslassungen ist der Lebenslauf signifikant. Insbesondere fällt auf, dass die professionelle Ausbildung von ständigen Krankheitsschüben unterbrochen wird. Die Lungenkrankheit, die ihm die Luft zum Atmen nimmt, scheint immer dann aufgetreten

30 Barthes 1971 (wie Anm. 13), S. 89. „Man möge sich bitte konsequenterweise daran erinnern, dass die Person, die zeitgleich mit mir am 12. November 1915 geboren wurde, im Folgenden allein durch ihr Ausgesprochenwerden zu einer völlig imaginären ersten Person werden wird; man muss also im Nachfolgenden stillschweigend die Anführungszeichen wieder herstellen, die jeder naiv referentiellen Aussage angemessen sind: jede Biographie ist ein Roman, der es nicht wagt, seinen Namen zu nennen. R. B.“

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zu sein, so suggeriert es die ,Biographieʻ, wenn eine Ausbildungsetappe abgeschlossen war und der Eintritt in ein professionelles Leben, in einen Beruf anstand. Nachdem das autobiographische Ich den ersten Teil des Baccalauréat erfolgreich absolviert hat, wird der Anfang vom Ende einer Universitätslaufbahn im klassischen Sinne auf den Tag des Bluthustens genau datiert: „10 mai 1934 Hémoptysie. Lésion du poumon gauche“, eine Form der Erinnerungsdatierung, die sonst nur beim eigenen Geburtstag und dem Todestag des Vaters so tagesgenau zu finden ist. Es handelt sich also nicht allein um gesundheitliche „rechutes“, sondern auch um Rückschläge in der professionellen Vita Barthes’, der sich sein Leben lang gegen die gesellschaftliche Anforderung, ins traditionelle französische Universitätssystem einzutreten, gesträubt hat. Seine Autobiographie mit ihren häufigen Erwähnungen von kleinbürgerlichen Szenen aus der ProvinzHaute-Volée à la Balzac ist auch eine kontinuierliche Abarbeitung an der eigenen Herkunft aus der Bourgeoisie. In deren stereotypem Wertesystem stellt das Professorenamt die Krönung einer gutbürgerlichen Laufbahn dar, war doch die Professionalisierung im ,tertiärenʻ Sektor des Bildungswesens ein Hauptfaktor in der Konstituierung des Bürgertums im 19. Jahrhundert gewesen. Nicht von ungefähr spielt Barthes den spießbürgerlichen Geiz seiner Großmutter mütterlicherseits, die ihrer Tochter nach deren unehelicher Niederkunft mit seinem Halbbruder Michel jegliche Unterstützung versagt hatte, im Journal de deuil gegen die natürliche „noblesse“ und „bonté“ der Mutter aus. 31 Im letzten Eintrag vom 11. März 1979 heißt es dementsprechend: „Sa délicatesse était absolument atopique (socialement): au-delà des classes: sans marque.“32 Inwieweit Barthes’ Krankheitsschübe auch psychisch bedingt waren, ist schwer zu sagen: Faktisch aber haben sie die Ausbildung eines Habitus des Zö-

31 Vgl. z. B. JDD, 12.2.1978, S. 102: „Sentiment difficile (désagréable, décourageant) d’un manque de générosité. J’en souffre. Je ne puis que mettre cela en rapport avec l’image de mam., si parfaitement généreuse (et elle qui me disait: tu es bon). Je croyais, elle, disparue, que je sublimerais cette disparition par une sorte de perfection de ‚bonté‘, l’abandon de toute mesquinerie, de toute jalousie, de tout narcissisme. Et je deviens de moins en moins ‚noble‘, ‚généreux‘.“ JDD, 21.8.1978, S. 208: „Le chagrin est ëgoiste. Je ne parle que de moi. Je ne puis parler d’elle, dire ce qu’elle était, faire un portrait bouleversant (comme celui que Gide fit de Madeleine). (Pourtant: tout est vrai: la douceur, l’énergie, la noblesse, la bonté.)“. JDD, 18.1.1979, S. 237: „Depuis la mort de mam. plus envie de rien ‚construire‘ – sauf en écriture. Pourquoi? Littérature = seule région de la Noblesse (comme l’était mam.).“ 32 JDD, S. 269. „Ihr Feingefühl war völlig atopisch (in sozialer Hinsicht): jenseits der Klassengesellschaft: ohne Distinktion.“

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gerns und der Unschlüssigkeit im Hinblick auf seine professionelle Situation befördert. Weder gelang es ihm, den Einstieg in den Königsweg der École normale supérieure zu nehmen, da er sich nach den zahlreichen Rückfällen immer wieder für längere Aus-Zeiten an den von ihm so beschriebenen Null-Ort des Sanatoriums begeben musste, um dort in der Abgeschiedenheit eines Reklusendaseins zu genesen. In roland BARTHES par roland barthes umschreibt er unter dem Photo von seinem Krankenblatt (Abb. 16) die Typologie der Tuberkulose als „schmerzlose, inkonsistente, saubere Krankheit, ohne Gerüche, ohne das gewisse Etwas, allein ausgezeichnet durch ihre endlose Dauer und das soziale Tabu der Ansteckungsgefahr.“ Während andere Krankheiten den Betroffenen aus dem sozialen Gefüge ausschließen, ihn „entsozialisieren“, führt ihn die Tuberkulose neuen Gemeinschaften zu, einer „kleine[n] ethnographische[n] Gesellschaft, die etwas von einem Stamm, einem Kloster, einem Phalanstère hat: Riten, Beschränkungen, Obhut.“ Den Übergang aus dem Lebensstadium ,krankʻ zu ,gesundʻ vollzog Barthes in einem autonomen Willensakt, indem er 1956 sich selbst und seinen Lungen den Kampf ansagte und sich für fortan genesen erklärte.33 Was ihm von den endlosen Sanatoriumsaufenthalten blieb, war die lebenslange Sorge um den eigenen Körper – ein Thema, das auch in der Autobiographie eine zentrale Rolle spielt. Das Fragment „La Côtelette“ ist vielleicht die schönste und ironischste literarische Miniatur, die je geschrieben wurde über das Stigma der Auserwähltheit, das sich in einer christusgleichen Seitenwunde manifestiert. Zugleich scheint es sich um eine Satire auf das Mysterium des Corpus Christi zu handeln: „Voici ce que j’ai fait un jour de mon corps: À Leysin, en 1945, pour me faire un pneumothorax extrapleural, on m’enleva un morceau de côte, qu’on me restitua ensuite solennellement, troussé dans un peu de gaze médicale (les médecins, suisses, il est vrai, professaient ainsi que mon corps m’appartient, dans quelque état dépiécé qu’ils me le rendent: je suis propriétaire de mon os, dans la vie comme dans la mort). Je gardai longtemps dans un tiroir ce morceau de moi-même, sorte de pénis osseux analogue à la manche d’une côtelette d’agneau, ne sachant pas qu’en faire, n’osant pas m’en débarrasser par peur d’attenter à ma personne, bien qu’il me fût assez inutile d’être enfermé ainsi dans un secrétaire, au milieu d’objets ‚précieux‘ tels que de vieilles clefs, un livret scolaire, le carnet de bal en nacre et le porte-cartes en taffetas rose de ma grand-mère B. Et puis, un jour, comprenant que la fonction de tout tiroir est d’adoucir, d’acclimater la mort des objets en les faisant passer par une sorte d’endroit pieux, de chapelle poussiéreuse où, sous couvert de les garder vivants, on leur ménage un temps décent de morne agonie, mais n’allant pas

33 Calvet 2014 (wie Anm. 8), S. 155.

132 | CHRISTINE T AUBER jusqu’à oser jeter ce bout de moi-même dans la poubelle commune de l’immeuble, je balançait la côtelette et sa gaze, du haut du balcon, comme si je dispersais romantiquement mes propres cendres, dans la rue Servandoni, où quelque chien dut venir les flairer.“34

Die „Côtelette“ repräsentiert hier zwischen den Textfragmenten ein reales Fragment eines Selbst, das – vom integralen Körper des Ichs getrennt und so zum toten Objekt geworden – nicht mehr in das Lebensganze des Autors zu (re)integrieren ist. Da es sich nicht in die Sammlung von Erinnerungsstücken in der Schubladen-Wunderkammer (einem Ort vor der endgültigen Musealisierung und vor dem endgültigen Ableben) einfügen will, muss es letztlich entsorgt werden – in der Sammlung von Textfragmenten von roland BARTHES par roland barthes hingegen erhält es einen Ehrenplatz. Unter dem Lemma „Gaucher“, das doppelsinnig den Linkshänder wie auch einen linkischen Menschen bezeichnet, scheint in einer Kindheitserinnerung erneut das offenbar früh ausgebildete Selbstkonzept Barthes’ als eines nicht nur körperlich gehandicapten Außenseiters auf: „En classe, autrefois, il fallait lutter pour être comme les autres, il fallait normaliser son corps, faire à la petite société

34 rBprb, S. 73f. „Folgendes habe ich eines Tages aus meinem Körper gemacht: [Im Schweizer Sanatorium] Leysin entfernte man mir 1945, um einen Pneumothorax außerhalb des Brustfells vorzunehmen, ein Stück Rippe, das man mir danach feierlich zurückerstattete, in ein wenig Verbandsmull gewickelt (die Schweizer Ärzte bekundeten damit tatsächlich, dass mein Körper mir gehört, in welch bruchstückhaftem Zustand sie ihn mir auch zurückgeben: ich bin der rechtmäßige Besitzer meiner Knochen, im Leben wie im Tod). Lange Zeit bewahrte ich dieses Stück von mir selbst in einer Schublade auf, eine Art knochiger Penis, vergleichbar dem Stiel eines Lammkoteletts, und wusste nicht, wohin damit, wagte nicht, es wegzuwerfen, aus Angst, auf mich selbst einen Anschlag zu verüben, obwohl es für mich eingeschlossen in einer Schublade völlig nutzlos war, inmitten so ‚kostbarer‘ Gegenstände wie alten Schlüsseln, einem Schulnotenheft, dem carnet de bal aus Perlmutt und der Kartentasche aus rosa Taft von meiner Großmutter B. Und eines Tages dann, als mir klar wurde, dass die Funktion einer Schublade darin besteht, den Tod der Gegenstände in ihr zu mildern, ihn heimisch zu machen, indem man sie durch eine Art frommen Ort führt, durch eine staubige Kapelle, in der ihnen unter dem Vorwand, sie lebendig zu erhalten, eine schickliche Zeit düsterer Agonie gewährt wird, schleuderte ich, da ich es niemals gewagt hätte, dieses Stück von mir in den häuslichen Mülleimer zu werfen, das Kotelett und seinen Mull im hohen Bogen vom Balkon in die rue Servandoni, als würde ich romantisch meine eigene Asche verstreuen, wo ein Hund sie wohl beschnuppert haben wird.“ (ÜMS, S. 67)

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du lycée l’oblation de sa bonne main [...].“35 Auch in der großen Gesellschaft des akademischen Lebens blieb Barthes Zeit seines Lebens ein Außenseiter: Doch diese intellektuelle Sonderrolle jenseits des traditionellen, autokratisch strukturierten Universitätssystems war eine selbstgewählte.36 Mit dem Establishment der Literaturkritik und ihrem Doyen, dem Pléiade-Herausgeber Raimond Picard, hatte er sich bereits 1963 in dem berühmten Racine-Streit angelegt, in dem die „nouvelle critique littéraire“ von Picard als „nouvelle imposture“, als dreister Betrug, denunziert worden war.37 Barthes’ Aversion richtete sich gegen eine Institution, die ihm selbst als nicht hinlänglich professionalisiert erschien, da die Hierarchie des einen Professors und der vielen ihm untergeordneten Studenten eine unilaterale Abhängigkeit im Denken und Sprechen erzeugt. Das seit Jahrhunderten in Frankreich insbesondere an der Sorbonne kultivierte pseudoreligiöse Kastendenken des Systems ,Universitéʻ (mit großem U) schlägt sich für Barthes bis in die Erwartungshaltung der Studierenden ihren Professoren gegenüber durch. In einem aufschlussreichen Text in der Barthes selbst gewidmeten Sondernummer 47 von Tel Quel aus dem Jahr 1971 mit dem Titel „Écrivains, Intellectuels, Professeurs“ verurteilt er in einer Aufzählung, „ce que l’enseigné demande à l’enseignant“, dass es hier primär um die Vermittlung von kapitalisierbarem Herrschaftswissen an intellektuell Gegängelte gehe: „1) de le conduire à une bonne intégration professionnelle; 2) de remplir les rôles traditionnellement dévolus au professeur (autorité scientifique, transmission d’un capital de savoir, etc.); 3) de livrer les secrets d’une technique (de recherche, d’examen, etc.); 4) sous la bannière de cette sainte laïque, la Méthode, d’être un initiateur d’ascèses, un guru; de représenter un ‚mouvement d’idées‘, une École, une Cause, d’en être le porte-parole; 6) de l’admettre, lui, enseigné, dans la complicité d’un langage particulier; 7) pour ceux qui ont le fantasme de la thèse (pratique timide d’écriture, à la fois défigurée et protégée par sa fi-

35 rBprb, S. 118f.: „Früher, in der Schule, musste man [als Linkshänder] kämpfen, um so zu sein wie die anderen, man musste seinen Körper norm[alis]ieren [und standardisieren], dem Gymnasium als Gesellschaft im Kleinen das Opfer seiner guten/richtigen Hand bringen.“ (ÜMS, S. 107f.) 36 Barthes versucht sogar, die Knochenentnahme aus seinem kranken Körper in einen autonomen Akt zu transformieren, indem er seine Erzählung von der „Côtelette“ mit dem Satz „Voici ce que j’ai fait un jour de mon corps“ einsetzen lässt. 37 Hierzu Calvet 2014 (wie Anm. 8), S. 185–191.

134 | CHRISTINE T AUBER nalité institutionnelle) de garantir la réalité de ce fantasme; 8) il est enfin demandé au professeur d’être un bailleur de services: il signe des inscriptions, des attestations, etc.“ 38

Versteht man mit Ulrich Oevermann unter Professionalisierung das Eintreten in ein Arbeitsbündnis, in dem der Profession die stellvertretende Krisenbewältigung obliegt39, so konnte die Universität diese Funktion für Barthes nicht übernehmen. Dennoch ist er ein Arbeitsbündnis des gleichberechtigten intellektuellen Austausches eingegangen: Die schon erwähnte Kurzbiographie am Ende seiner Autobiographie bricht mit dem Jahr 1962 ab, als Barthes seinen ersten professionellen Posten übernimmt, indem er „Directeur d’études à l’École pratique des hautes études“ wird – und damit an einer Institution, die ,nebenʻ bzw. ,jenseitsʻ der Universität angesiedelt ist, weil sie, und das machte für Barthes si-

38 EIP, S. 7. Der Lernende erwartet vom Lehrenden, „1) ihn einer gelungenen professionellen Einbindung zuzuführen; 2) die dem Professor traditionellerweise zugeschriebenen Rollen auszufüllen (wissenschaftliche Autorität, Übertragung eines Wissenskapitals, etc.); 3) ihm die Geheimnisse einer Technik zu vermitteln (Recherchetechnik, Examenstechnik, etc.); 4) unter dem Banner jener laizistischen Heiligen, der Methode, ein Lehrmeister der Askesen zu sein, ein Guru; eine ‚ideologische Bewegung‘ zu vertreten, eine Schule, eine Sache, deren Wortführer zu sein; 6) ihm, dem Belehrten, den Zugang zur Komplizenschaft einer Spezialsprache zu gewähren; 7) im Falle derjenigen, die dem Hirngespinst einer Doktorarbeit nachhängen (eine ängstliche Schreibpraktik, die gleichzeitig entstellt und geschützt wird von ihrem Ziel der institutionellen Einmündung), ihnen die Realisierbarkeit dieses Phantasmas zu garantieren; 8) schließlich erwartet man vom Professor, dass er ein Dienstleister gegen Bezahlung ist: er unterschreibt Anmeldungen, Leistungsnachweise etc.“ 39 Unter Oevermanns zahlreichen Arbeiten zur Professionalisierungstheorie seien hier nur beispielhaft genannt: Ulrich Oevermann, Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hgg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt a. M. 1996, S. 70–182; Ders., Die Struktur sozialer Deutungsmuster. Versuch einer Aktualisierung, in: Sozialer Sinn 1, 2001, S. 35–81; Ders., Die Problematik der Strukturlogik des Arbeitsbündnisses und der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung in einer professionalisierten Praxis von Sozialarbeit, in: Roland Becker-Lenz u. a. (Hgg.), Professionalität in der sozialen Arbeit. Standpunkte, Kontroversen, Perspektiven, Wiesbaden 2009, S. 113–142; speziell zur Professionalisierung an Universitäten: Ders., Wissenschaft als Beruf. Die Professionalisierung wissenschaftlichen Handelns und die gegenwärtige Universitätsentwicklung, in: die hochschule 2005/1, S. 15–51.

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cherlich den entscheidenden Unterschied aus, keine Abschlüsse vergibt, sondern sich der Utopie lebenslangen gemeinschaftlichen Denkens und Lernens verpflichtet fühlt. Auch sein inhaltlicher Zuständigkeitsbereich „Sociologie des signes, symboles et représentations“ überschreitet das Übliche des universitären Systems, da er sich zwischen allen Fächern ansiedelt. Sein berühmtes séminaire an der École pratique hatte eher den Charakter eines Jesuitenseminars bzw. eines Laboratoriums jenseits universitärer Borniertheit, eines Ortes, der auch den am Universitätssystem Gescheiterten, den ,naufragés de l’universitéʻ, einen experimentellen Denkraum geistiger Offenheit bot.40 Gleiches gilt dann ab 1977 für seinen neu eingerichteten Lehrstuhl für „Sémiologie littéraire“ (auch dies eine nie dagewesene Denomination für eine ,chaireʻ) am Collège de France, das ähnlich wie die École pratique per definitionem keine im traditionellen Sinne professionalisierte Institution im französischen Bildungssystem darstellt. Seine Berufung ans Collège und die Antrittsvorlesung hatte seine Mutter noch miterleben können (Abb. 17). In Kenntnis dieses Umstands bekommen ihre vom untröstlichen Sohn kolportierten, im Journal de deuil mehrfach protokollierten enigmatischen letzten Worte noch eine weitere Bedeutungsnuance: Die ersten in der Agonie ausgestoßenen Anrufungsworte „Mon Roland, mon Roland“ spielen auf einen französischen Nationalmythos an, die Chanson de Roland, in der Karl der Große seinen treuesten Recken in höchster Not um Beistand anfleht. Die Antwort Barthes’ „Je suis là“ zitiert Abrahams Ergebung gegenüber Gott vor der Opferung Isaaks (1. Mos. 22,1ff.), als er eine schier untragbare Aufgabe übernehmen muss. Die letzte Replik der Mutter schließlich „Tu es mal assis“ 41 ließe sich nicht nur auf den unbequemen Hocker, von dem aus der Sohn der Sterbenden Luft zufächelt, beziehen, sondern auch auf die Tatsache, dass er nie eine chaire, einen Lehrstuhl, angestrebt hat, sondern sich immer zwischen allen Stühlen (und allen ,normalisiertenʻ Geschlechterzuordnungen) ansiedelte.42 Dieses ,Zwischen-allen-Stühlen-sitzenʻ und sich der disziplinären Einordnung Entziehen hatte bereits Barthes’ mehrfache vergebliche Anläufe charak-

40 Calvet 2014 (wie Anm. 8), S. 193. 41 Vgl. EIP, S. 11: „Imagine-t-on une situation plus ténébreuse que de parler pour (ou devant) des gens debout ou visiblement mal assis?“ 42 JDD, 9.11.[1978], S. 50: „Je chemine cahin-caha à travers le deuil. Revient sans cesse immobile le point brûlant: les mots qu’elle m’a dits dans le souffle de l’agonie, foyer abstrait et infernal de la douleur qui me submerge (‚Mon R, mon R‘ – ‚Je suis là‘ – ‚Tu es mal assis‘).“ Diese letzten Worte irgendjemandem zu erzählen, ist Barthes nicht imstande, er vertraut sie nur seinem Tagebuch an (JDD, S. 50 und 178).

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terisiert, denjenigen ,Abschlussʻ zu erlangen, der ihn für die Universitätslaufbahn qualifiziert hätte, die thèse, also die Promotion. Schon in der Phase der Themenwahl traten erhebliche Probleme auf: Projekte zu Jules Michelet, zu Themen aus dem Bereich der Soziolinguistik und der Lexikologie oder auch der Mode wurden im wahrsten Wortsinn ,angedachtʻ und mit dem Anlegen von Karteikarten vorbereitet43, dann aber meist wieder ad acta gelegt, oder sie entwickelten sich zu autonomen Buchprojekten wie dem Système de la mode von 1967, die dann nicht mehr zu Qualifikationsarbeiten taugten.44 Auch die Suche nach geeigneten Betreuern gestaltete sich schwierig: So lehnte Claude Lévi-Strauss es etwa ab, eine Doktorarbeit zum Modethema anzunehmen, weil es ihm zu literarisch erschien und sich nicht in das etablierte und strikt abgrenzende System der Fächer diszipliniert einordnen ließ.45 Dass ein unpromovierter Lehrstuhlinhaber am Collège de France dieser altehrwürdigen Institution als unsicheres Subjekt, als „sujet incertain“ 46, erscheinen musste, das sich durch seine Ungewissheit der Bestimmbarkeit durch andere entzieht, weil es sich allein selbst bestimmen will, reflektiert Barthes dann in ironischer Zuspitzung in seiner dortigen Antrittsvorlesung vom 7. Januar 1977. Diese darf natürlich nicht „cours magistral“ wie die ,ordinäreʻ Universitätsvorlesung heißen, sondern trägt den bezeichnenden Titel einer Unterrichtsstunde: Es handelt sich um eine „leçon“ über den undogmatischen Einsatz von Sprache und Schrift, die dem Publikum eine Lektion in herrschaftsfreiem Diskurs erteilen möchte.47 Das Collège de France ist für Barthes eine Institution „hors-pouvoir“, der es nicht wie der Universität darum geht, zu urteilen („juger“), aus ihrer disziplinär-disziplinarischen Machtvollkommenheit heraus Abschlüsse zu vergeben („promouvoir“) oder sich dem eigenen System zu unterwerfen („s’asservir“). 48

43 Vgl. Barthes 1971 (wie Anm. 13), S. 96: „1956–1963: j’ai connu là une certaine instabilité professionnelle.“ 44 Auch wenn Calvet 2014 (wie Anm. 8), S. 198–200, meint, das Système de la mode sei Barthes „akademischstes“ Buch, das sich am weitesten dem universitären Diskurs anbequemt habe; S. 200: „Barthes s’est plié à toutes les lois d’un genre sérieux, pesant, en un mot ennuyeux – le genre universitaire“. 45 Ebd., S. 164. 46 Roland Barthes, Leçon, Paris 1978, S. 7. 47 Vgl. die Utopie „einer Wissenschaft vom Subjekt“ in HK, S. 26, „deren Name mir gleichgültig ist, sofern sie nur (was noch offen ist) zu einer Allgemeingültigkeit gelangt, die mich weder reduziert noch erdrückt“ („qui ne me réduise ni ne m’écrase“; CC, S. 36f.) 48 Barthes 1978 (wie Anm. 45), S. 9.

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Das Collège siedelt sich außerhalb der universitären Machtstrukturen an. Nur diese Sonderstellung macht es für Barthes erklärlich, dass diese privilegierte Institution jenseits eines „savoir dirigé“, eines dirigistisch und technokratisch vereinnahmten Wissens, bereit ist, ihn als „sujet impur“ in ihre heiligen Hallen aufzunehmen, „où règnent la science, le savoir, la rigueur et l’invention disciplinée.“49 Das Collège wird damit zu einer „atopie“, einem Freiraum jenseits der universitär disziplinierten Räume für eine spezifische Praxis des enseignement, die das intellektuelle Zögern und Innehalten zulässt. Das ehrliche Handwerk einerseits (das „métier“, das auch seine Mutter ergreifen muss, um die vaterlose Familie zu ernähren50), das man als Lehrling in der außeruniversitären ,Lehreʻ („apprentissage“) erlernt, und die Praxis („pratique“) andererseits, die sich der automatisierten ,Technikʻ entgegenstellt, werden in verschiedenen Äußerungen Barthes’ zu Gegenentwürfen zur „profession“, die schon allein sprachlich das angestammte und akkurat abgegrenzte Terrain des „professeur“ ist. In „Écrivains, Intellectuels, Professeurs“ skizziert Barthes ein Gegenmodell zum akademischen Lernen in Form eines von intellektueller Neugier getragenen ,Lehr- und Lern-Raumsʻ jenseits aller Qualifikationsarbeiten, in dem ein Arbeitsbündnis zwischen Lehrenden und Lernenden denkbar ist: „[…] il faudrait substituer à l’espace magistral d’autrefois, qui était en somme un espace religieux (la parole dans la chaire, en haut, les auditeurs en bas; ce sont les ouailles, les brebis, le troupeau), un espace moins droit, moins euclidien, où personne, ni le professeur ni les étudiants, ne serait jamais à sa dernière place. […] En somme, dans les limites mêmes de l’espace enseignant, tel qu’il est donné, il s’agirait de travailler à tracer patiemment une forme pure, celle du flottement (qui est la forme même du signifiant); ce flottement ne détruirait rien; il se contenterait de désorienter la Loi: les nécessités de la promotion, les obligations du métier (que rien n’interdit dès lors d’honorer avec scrupule), les impératifs du savoir, le prestige de la méthode, la critique idéologique, tout est là, mais qui flotte.“51

49 Ebd., S. 8. 50 Vgl. Barthes 1971 (wie Anm. 13), S. 104, wo er vom „‚métier‘ intellectuel (car c’est un métier)“ spricht und von der Notwendigkeit, erneut in die „Lehre“ gehen zu müssen, um neues Wissen zu erlangen („m’adonner à l’apprentissage d’un savoir nouveau“). 51 EIP, S. 12 und 18: „[…] man müsste die Stelle des magistral bestimmten Raums des Dozenten von anno dazumal, der alles in allem ein religiöser Raum war (das Wort, oben, vom Lehrstuhl wie von der Kanzel herab, die Hörer unten, als Jünger, Schafe,

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In seiner Autobiographie benennt Barthes den „ennui“ eines professionalisierten Lebens als seine spezifische Form von Hysterie (eine immer wieder zur Selbstbeschreibung eingesetzte Vokabel). Eine Doppelseite mit Photos in roland BARTHES par roland barthes führt die kindliche Langeweile52 als Vorläuferin des Überdrusses, des Baudelaire’schen ennui, vor, der Barthes unweigerlich bei der Teilnahme an Round-table-Diskussionen überfällt und sich bei öffentlichen Vorträgen im universitären Milieu bis zur verzweifelten Hilflosigkeit steigert: „Höchste Not: der Vortrag“. In Die helle Kammer definiert Barthes sich selbst als „amateur“, als Liebhaber „auf dem Feld der unbekümmerten Wünsche, des ziellosen Interesses, der inkonsequenten Neigung: ich mag/ich mag nicht, I like/I don’t.“53 Er verweist den Leser auf seine offensive Professionalisierungsverwei-

als Herde), durch einen weniger abgezirkelten, weniger euklidischen Raum ersetzen, in dem niemand, weder der Professor, noch die Studenten, je an ihrem endgültigen Platz sind. […] Innerhalb der Begrenzungen des Lehrraumes, wie er nun einmal besteht, ginge es also darum, sich zu bemühen, geduldig eine reine Form herauszuarbeiten, die des unbestimmten Schwebens (eben die Form des Signifikanten); dieses zögerliche Schweben würde nichts zerstören; es würde sich damit begnügen, das Gesetz ein wenig zu verwirren und zu verunsichern: die Anforderungen der Karriere, die Verpflichtungen des Gewerbes (deren skrupulöser Würdigung von jetzt an nichts mehr entgegensteht), die Gebote des Wissens, das Ansehen der Methodik, die Ideologiekritik, alles ist da, aber schwebend/zögernd/ungewiss.“ Vgl. auch Barthes 1971 (wie Anm. 13), S. 100: „Je suis persuadé qu’étudiants et professeurs réalisent déjà bien souvent entre eux des communautés de travail; en tout cas, c’est le régime normal à l’École des Hautes Études.“ 52 Seine kindliche und jugendliche Langeweile führt Barthes in „Réponses“, 1971 (wie Anm. 13), S. 91, auf seine vorgebliche soziale Milieulosigkeit (die im Französischen auch die nicht vorhandene Mitte alludiert) zurück: „Qu’est-ce qu’un ‚milieu‘? Un espace de langage, un réseau de relations, d’appuis, de modèles. En ce sens, j’étais sans ‚milieu‘; j’ai vécu mon adolescence seul avec ma mère, elle-même ‚désintégrée‘ socialement (mais non ‚déclassée‘), peut-être tout simplement parce qu’elle travaillait; nous n’avions pas de ‚relations‘ […].“ 53 HK, S. 36. Vgl. den Cours am Collège de France über Proust, Longtemps je me suis couché de bonne heure, Conférence du 19 octobre 1978, in: Barthes 2002 (wie Anm. 4), Bd. V, S. 470: „Je me mets dans la position de celui qui fait quelque chose, et non plus de celui qui parle sur quelque chose: je n’étudie pas un produit, j’endosse une production; j’abolis le discours sur le discours; le monde ne vient plus à moi sous la forme d’un objet, mais sous celle d’une écriture, c’est-à-dire d’une pratique; je passe à un autre type de savoir (celui de l’Amateur)...“. Vgl. auch Adrien Chassain, Roland

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gerung, wenn er an späterer Stelle im Text – in Klammern – das gängige Vorurteil referiert: „D’ordinaire, l’amateur est défini comme une immaturation de l’artiste: quelqu’un qui ne peut – ou ne veut – se hausser à la maîtrise d’une profession.“54 Bereits in der Autobiographie hatte es das für diesen Amateurstatus aufschlussreiche Fragment „j’aime/je n’aime pas“ gegeben, das Jürgen Hoch in der deutschen Ausgabe Roland Barthes. Über mich selbst absurderweise mit „Ich liebe, ich liebe nicht“ übersetzt hat: „Je n’aime pas: les loulous blancs, les femmes en pantalon, les géraniums, les fraises, le clavecin, Miró, les tautologies, les dessins animés, Arthur Rubinstein, les villas, les aprèsmidi, Satie, Bartók, Vivaldi, téléphoner, les chœurs d’enfants, les concertos de Chopin, les bransles de Bourgogne, les danceries de la Renaissance, l’orgue, M.-A. Charpentier, ses trompettes et ses timbales, le politico-sexuel, les scènes, les initiatives, la fidélité, la spontanéité, les soirées avec des gens que je ne connais pas, etc.“55

Barthes etabliert mit diesem Fragment ein subjektives, Dinge, Zustände, Gegebenheiten, Handlungen und Besitzverhältnisse unterschiedlichster Wertigkeit arbiträr gleichordnendes Evaluierungssystem, das nicht sinnvoll generalisierbar ist.56 Es erinnert vor allem an kindliche Vorlieben und Abneigungen im Hinblick

Barthes: „les pratiques et les valeurs de l’amateur“, in: Littérature Histoire Théorie 15, 2015, http://www.fabula.org/lht/15/chassain.html. 54 CC, S. 154. „Gewöhnlich wird der Amateur als unausgereifter Künstler definiert: als jemand, der zur Meisterschaft in seiner Profession nicht aufsteigen kann – oder will“ (HK, S. 109). 55 rBprb, S. 140. „Was ich nicht mag: weiße Spitze [Hunde], hosentragende Frauen, Geranien, Erdbeeren, das Cembalo, Miró, Tautologien, Zeichentrickfilme, Arthur Rubinstein, Villen, Nachmittage, Satie, Bartók, Vivaldi, zu telefonieren, Kinderchöre, Chopins Klavierkonzerte, burgundische Reigentänze, Renaissancetanz, Orgelmusik, Charpentier, seine Trompeten und Kesselpauken, die Politisierung von Sexualität, Familienkräche, Initiative zu ergreifen, Treue, Spontaneität, Abende mit Leuten zu verbringen, die ich nicht kenne, usw.“ (ÜMS, S. 127) 56 Das Ganze ist natürlich auch eine wunderbare Persiflage auf die verrückte Taxinomie in Jorge Luis Borges’ „Ordnung der Tiere“, mit der Foucault 1966 die Préface zu seiner Ordnung der Dinge einsetzen ließ: „Ce livre a son lieu de naissance dans un texte de Borges. [...] Ce texte cite ‚une certaine encyclopédie chinoise‘ où il est écrit que ‚les animaux se divisent en: a) appartenant à l’Empereur, b) embaumés, c) apprivoisés, d) cochons de lait, e) sirènes, f) fabuleux, g) chiens en liberté, h) inclus dans la

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auf Essen wie in der Formulierung „j’aime pas manger mes épinards“. Der Amateur oder auch der Dilettant im positiven Sinne ist ein Praktiker, der nicht durch ein System konditioniert und diszipliniert ist, der sich die kindliche Neugier bewahrt hat und der für Neues und damit potentiell Krisenhaftes offen ist.

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R. B., wie er sich selbst nennt, wenn er sich überhaupt benennt, hat, wie wir gesehen haben, eine Vorliebe für die Anfänge, nicht jedoch für die Ursprünge. Das Fragment „La défection des origines“ beschreibt den Diskurs als ohne natürlichen Ursprung, ungezeugt und damit vaterlos: „Son travail n’est pas antihistorique (du moins il le souhaite), mais toujours, obstinément, antigénétique, car l’Origine est une figure pernicieuse de la Nature (de la Physis) […]. Pour déjouer l’Origine, il culturalise d’abord à fond la Nature; aucun naturel, nulle part, rien que de l’historique; puis cette culture, (convaincu avec Benveniste que toute culture n’est que langage) il la remet dans le mouvement infini des discours, montés l’un sur l’autre (et non engendrés) comme dans le jeu de la main chaude.“ 57

Barthes verweigert sich der natürlichen Genealogie, indem er die „origines“ strikt ablehnt. Seine Verweigerung der prägenden Kraft der Herkunft führt ihn dazu, selbst die Genealogie des Gottessohnes im christlichen Credo zu einem ,factum non genitumʻ zu invertieren.

présente classification, i) qui s’agitent comme des fous, j) innombrables, k) dessinés avec un pinceau très fin en poils de chameau, l) et cætera, m) qui viennent de casser la cruche, n) qui de loin semblent des mouches‘.“ (Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1989, S. 7). 57 rBprb, S. 167. „Seine Arbeit ist nicht antihistorisch (zumindest hofft er das), aber stets, in eigensinniger Weise, antigenetisch/antigenealogisch, denn der Ursprung ist eine gefährliche Ausprägung der Natur (der Physis) [...]. Um den Ursprung zu durchkreuzen, überformt er zuerst die Natur von Grund auf mit Kultur; nichts Natürliches, nirgends, nur das Historische; dann verschiebt er (da er mit Benveniste übereinstimmt, dass alle Kultur nichts als Sprache sei) diese Kultur in die unendliche Bewegung der übereinandergeschichteten (nicht gezeugten) Diskurse, wie beim Kinderspiel ‚Klatsch mir die Hand‘“ (ÜMS, S. 151). Vgl. auch rBprb, S. 178: „L’ordre alphabétique efface tout, refoule toute origine.“

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Er widersetzt sich den Ursprüngen respektive der Abkunft, da sie die Versatilität des Subjekts einschränken, indem sie es fest in der Vergangenheit verwurzeln. Barthes will für kein Familienerbe dankbar sein müssen. Die mütterliche Referenz ist im Vergleich zur väterlichen eine liebende, nachsichtige. Die Mutter lässt dem Sohn alles ,durchgehenʻ, verfolgt ihn nicht mit spitzen Bemerkungen, macht ihm keine Szenen.58 Die Fremd-Erzeugung in der Zeugung durch einen unbekannten Vater, bei dessen Tod der Sohn gerade einmal elf Monate alt ist, korrespondiert der von Barthes perhorreszierten Fremderzeugung durch die Zuschreibung eines von außen kommenden Sinns. Er stilisiert seine autobiographische écriture zu einer autonomen Selbsthervorbringung, zu einem sich potentiell ad infinitum fortschreibenden, autogenerativen Text, der seine Dynamik aus der Differenz, der Differenzierung, der Pluralisierung von Sinn gewinnt. Dem Anfang wohnt im Gegensatz zum Ursprung hingegen der Zauber inne, immer wieder neu sein zu können, in der steten Iteration gerade das Potential zu haben, Differenz und Diskontinuität zu erzeugen. Den Vater hat Roland Barthes nur als Abwesenheit, als Leerstelle, erlebt: Er fiel 1916 im Ersten Weltkrieg bei einem Seemanöver. Die einzige Stelle in der Barthes’schen Autobiographie, an der diese Absenz in der Metapher des tableau noir aufscheint, ruft erneut die schwarzen Flächen der Innenumschläge des Buches auf, die eine Art ,Trauerrahmungʻ um die gesamte fragmentarische Biographem-Sammlung bilden. Doch das schreibende Ich verspürt keine authentischen Empfindungen ob dieses Vaterverlustes, die autobiographische Szene „An der Schultafel“ spitzt die verordnete Trauer vielmehr zynisch zu: „M. B., professeur de la classe de Troisième A au lycée Louis-le-Grand, était un petit vieillard, socialiste et national. Au début de l’année, il recensait solennellement au tableau noir les parents des élèves qui étaient ‚tombés au champ d’honneur‘; les oncles, les cousins abondaient, mais je fus le seul à pouvoir annoncer un père; j’en fus gêné, comme d’une marque excessive. Cependant, le tableau effacé, il ne restait rien de ce deuil proclamé – sinon, dans la vie réelle qui, elle, est toujours silencieuse, la figure d’un foyer sans ancrage

58 Vgl. CC, S. 107f.: „Sur cette image de petite fille je voyais la bonté qui avait formé son être tout de suite et pour toujours, sans qu’elle la tînt de personne; comment cette bonté a-t-elle pu sortir de parents imparfaits, qui l’aimèrent mal, bref: d’une famille? Sa bonté était précisément hors-jeu, elle n’appartenait à aucun système, ou du moins elle se situait à la limite d’une morale (évangélique, par exemple); je ne pourrais mieux la définir que par ce trait (parmi d’autres): qu’elle ne me fit jamais, de toute notre vie commune, une seule ‚oberservation‘.“

142 | CHRISTINE T AUBER social: pas de père à tuer, pas de famille à haïr, pas de milieu à réprouver: grande frustration œdipéenne!“59

Selbst die Großväter markieren – wie alle Männer in dieser ödipal frustrierten Familie ebenso wie die ausgewischte Tafel für den ,kleinen Rolandʻ nur eine Leerstelle, denn sie sind stumm, kommunizieren nicht mit den nachfolgenden Generationen, begründen also keinen zu tradierenden Familienroman. Sie verweigern sich ihrer Überlieferungsaufgabe und antworten nicht auf die drängenden Fragen des Enkels: Über den Großvater mütterlicherseits, Louis Gustave Binger, der eine beachtliche Offizierskarriere in den Kolonien aufzuweisen hatte, nach seiner retraite dann in den vom Enkel übernommenen Habitus des ennui verfiel, heißt es: „Dans sa vieillesse, il s’ennuyait. Toujours assis à table avant l’heure (bien que cette heure fût sans cesse avancée), il vivait de plus en plus en avance, tant il s’ennuyait. Il ne tenait aucun discours.“60 Léon Joseph Barthes hingegen, Inspecteur aux Chemins de fer du Midi, der Vater des unbekannten Vaters, der in Bayonne seinen bourgeoisen Lebensabend mit dilettantischen und (größtenteils nichtigen) Freizeitbeschäftigungen füllte, wird als Amateurkalligraph charakterisiert: „Il aimait à calligraphier des programmes d’auditions musicales, ou à bricoler des lutrins, des boîtes, des gadgets en bois. Lui non plus ne tenait aucun discours.“61 „La famille sans le familialisme“ (Abb. 18) ist ein Photo überschrieben, das auf den Familialismus als konservative Gegenbewegung gegen ein liberal-

59 rBprb, S. 53. „Monsieur B., Lehrer in der Troisième A des Lycée Louis-le-Grand, war ein kleiner, sozialistisch und nationalistisch gesinnter Greis. Zu Beginn jedes Schuljahres führte er an der Tafel diejenigen Angehörigen von Schülern auf, die ‚auf dem Feld der Ehre gefallen‘ waren; Onkel und Cousins gab es massenweise, aber ich war der einzige, der einen Vater zu verkünden hatte; das war mir peinlich, so, als trüge ich ein Brandzeichen. Nachdem die Tafel wieder gewischt worden war, blieb von dieser öffentlich bekundeten Trauer nichts zurück – höchstens im wirklichen Leben, das sich nicht ausspricht, die Figur eines Zuhauses ohne soziale Verankerung: kein Vater, den man töten, keine Familie, die man hassen, kein soziales Umfeld, das man verdammen müsste – was für eine ödipale Frustration!“ (ÜMS, S. 49) 60 rBprb, im unpaginierten Abbildungsteil unter der Überschrift „Les deux grandspères“, [S. 18/19]. „Im Alter langweilte er sich. Immer zu früh bei Tisch (obgleich die Essenszeit immer weiter vorverlegt wurde), lebte er zunehmend im Vorgriff, so sehr langweilte er sich. Er sprach nicht.“ (ÜMS, [S. 16]) 61 rBprb, ebd. „Gerne schrieb er Konzertprogramme in Schönschrift ab oder bastelte Pulte, Schachteln und Spielzeug aus Holz. Auch er sprach nie.“ (ÜMS, [S. 16])

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aufgeklärtes Eherecht aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, das die Gattenbeziehung als einen beiderseitig aus freien Stücken geschlossenen Vertrag betrachtete, anspielt. Es scheint auf den ersten Blick eine glückliche Kleinfamilie (Vater, Mutter, Kind) zu zeigen. Erst bei näherem Hinsehen gibt es sich als Photographie von Henriette Barthes mit ihren beiden Söhnen Roland und Michel am Atlantik zu erkennen. Michel war der Halbbruder Rolands, einziges Ergebnis einer kurzen Verbindung der Witwe Barthes mit dem verheirateten Halbkünstler und Keramiker André Salzedo, der nach der unehelichen Zeugung des Sohnes sehr schnell wieder aus dem Leben der Familie verschwand. In dieser fröhlichen Kernfamilie gibt es keine ödipalen Verwerfungen, keine ,Szenen einer Eheʻ, keine Familienstreitigkeiten entlang den Geschlechtergrenzen. Henriette und Roland führen eine aggressionslose und gewaltfreie Paarbeziehung über die Generationen hinweg, ohne absolute Vater-Referenz.62 Sie bilden eine harmonische Binade. Diese „relation duelle“63 ist getragen vom kindlichen „Liebesverlangen“ des Sohnes (vgl. Abb. 13 mit der Beischrift „La demande d’amour“), das der Deutungshoheit der Psychoanalyse entzogen werden muss, würde diese sonst doch offenlegen, dass der „fils éternel“ das Inzest-Tabu mit Hilfe seines Ausweichens in die Homosexualität umgeht: „Depuis longtemps, la famille, pour moi, c’était ma mère, et, à mes côtés, mon frère; en deçà, au-delà, rien (sinon le souvenir des grands-parents); aucun ‚cousin‘, cette unité si nécessaire à la constitution du groupe familial. Au reste, combien me déplaît ce parti scientifique, de traiter la famille comme si elle était uniquement un tissu de contraintes et de rites: ou bien on la code comme un groupe d’appartenance immédiate, […] ou bien on en fait un nœud de conflits et de refoulements. On dirait que nos savants ne peuvent concevoir qu’il y a des familles ‚où l’on s’aime‘.“ 64

62 Vgl. CC, S. 54f., wo Barthes strukturell analog von einer absoluten Vaterreferenz der Malerei für die Photographie spricht: „La Photographie a été, est encore tourmentée par le fantôme de la Peinture […]; elle en a fait, à travers ses copies et ses contestations, la Référence absolue, paternelle, comme si elle était née du Tableau […].“ 63 Barthes 1975 (wie Anm. 4). 64 CC, S. 116. „Seit langer Zeit bestand die Familie für mich aus meiner Mutter und meinem Bruder neben mir; darüber hinaus gab es diesseits und jenseits nichts (bis auf die Erinnerung an die Großeltern); keinen ‚Cousin‘, diese für die Bildung der Familiengruppe so notwendige Einheit. Wie sehr mißfällt mir im übrigen dieser wissenschaftliche Usus, die Familie so zu betrachten, als sei sie einzig ein Geflecht aus Zwängen und Riten: entweder codiert man sie als Gruppe von unmittelbarer Zusammengehörigkeit, oder man macht daraus ein Knäuel von Konflikten und Verdrängun-

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Die Beziehung Roland Barthes’ zu seiner Mutter ist eine Paarbeziehung jenseits der ödipalen Triade einer ,normalenʻ Familienkonstellation, die nur ihre Frustration zur Schau stellen kann – eine Liebesbeziehung, die Generationengrenzen aufsprengt und invertiert. In den letzten Tagen ihres Zusammenseins erscheint dem Sohn die Mutter wie die eigene Tochter: „Elle, si forte, qui était la Loi intérieure, je la vivais pour finir comme mon enfant féminin. Je résolvais ainsi, à ma manière, la Mort. Si, comme l’ont dit tant de philosophes, la Mort est la dure victoire de l’espèce, si le particulier meurt pour la satisfaction de l’universel, si, après s’être réproduit comme autre que lui-même, l’individu meurt, s’étant ainsi nié et dépassé, moi qui n’avais pas procréé,65 j’avais, dans sa maladie même, engendré ma mère. Elle morte, je n’avais plus aucune raison de m’accorder à la marche du Vivant supérieur (l’espèce). Ma particularité ne pourrait jamais plus s’universaliser (sinon, utopiquement, par l’écriture, dont le projet, dès lors, devait devenir l’unique but de ma vie). Je ne pouvais plus qu’attendre ma mort totale, indialectique.“66

Die Mutter wird so zu einer marianischen Figur stilisiert, denn auch Maria ist nicht nur mater Dei, sondern eben auch filia und sponsa Christi zugleich, wie Barbara Vinken zutreffend bemerkt hat.67 Und durch die doppelte Unbefleckte

gen. Man könnte meinen, unsere Schulgelehrten könnten sich nicht vorstellen, daß es Familien gibt, ‚in denen man sich liebt‘“ (HK, S. 84). 65 Vgl. rBprb, [S. 27], den Kommentar zum Photo „Le roman familial“: „Dernière stase de cette descente: mon corps. La lignée a fini par produire un être pour rien“. 66 CC, S. 113. „Letztlich erlebte ich sie, die so stark, die mir inneres GESETZ war, als mein weibliches Kind. So bewältigte ich, auf meine Weise, den Tod. Wenn der Tod, wie so viele Philosophen sagen, der schwer erkämpfte Sieg der Gattung ist, wenn der einzelne stirbt, um dem Allgemeinen Genüge zu tun, wenn das Individuum stirbt, nachdem es sich in einem von ihm selbst verschiedenen Wesen fortgepflanzt hat und sich auf diese Weise negiert und aufgehoben hat, dann hatte ich, der ich mich nicht fortgepflanzt hatte, meine Mutter in eben jener Zeit ihrer Krankheit gezeugt. Nun, da sie tot war, hatte ich keinerlei Grund mehr, mich dem Gang des Höheren Lebens (der Gattung) anzupassen. Meine Singularität würde sich nie mehr ins Allgemeine wenden können (es sei denn, utopisch, durch das Schreiben, das Projekt, das seitdem zum alleinigen Zweck meines Lebens werden sollte). Ich konnte nur noch auf meinen vollständigen, undialektischen [d. h. dialektisch nicht auflösbaren] Tod warten.“ (HK, S. 82) 67 Vgl. ihre Rezension der Roland-Barthes-Biographie von Tiphaine Samoyault, Roland Barthes. La biographie, Paris (frz.) und Frankfurt a. M. (dt.) 2015: Barbara Vinken,

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Empfängnis dementiert die Mutter Gottes auch das genealogische Prinzip erfolgreich – Christus steht damit ebenso jenseits aller Genealogie, wie es der vaterlose Barthes für sich beansprucht. Der Tod der Mutter am 25. Oktober 1977 markiert als Ende einer lebenslangen Symbiose die ultimative Krise in der Barthes’schen Biographie. Der Spiegel, den die Mutter dem kleinen Roland vorgehalten hatte, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich als intaktes, autonomes Subjekt zu erkennen, ist zerbrochen. Demjenigen, der seinem Leben selber Struktur verlieh, der die Raumdisposition seiner Arbeitsumgebungen in Paris und im Sommerhaus in Urt vollkommen identisch gestaltete und seine Tage einer geradezu monastischen Einteilung unterwarf, indem er zu jeder Hore dieselbe Handlung vollzog, blieb nach dem Tod der Mutter, die das vielleicht wichtigste Element zur Stabilisierung seiner Lebensordnung war, nur noch, die täglichen Routinen als immerwährende Memoria, als Totengedächtnis zu zelebrieren.68 Am 29. Oktober notiert Barthes in seinem Journal de deuil: „Idée – stupéfiante, mais non désolante – qu’elle n’a pas été ‚tout‘ pour moi. Sinon, je n’aurais pas écrit d’œuvre. Depuis que je la soignais, depuis six mois, effectivement, elle était ‚tout‘ pour moi, et j’ai complètement oublié que j’avais écrit. Je n’étais plus qu’éperdument à elle. Avant, elle se faisait transparente pour que je puisse écrire.“ 69

Aber die écriture verstummt nur vorgeblich, wird im Journal de deuil aufgehoben und kommt dann in Barthes’ Photographie-Buch wieder wirkmächtig zum Einsatz. Im Tagebuch der Trauer, in dem er sich dem von ihm ungeliebten Ende stellen muss, wird das Schreiben explizit als Trauerarbeit reflektiert: „Ce n’est

Roland Barthes. Nicht ohne seine Mutter, in: Die ZEIT vom 12.11.2015; vgl. auch Éric Marty, Roland Barthes, la littérature et le droit de mort, Paris 2010. 68 Vgl. JDD, S. 205 und 202f.: „Continuer à ‚parler‘ avec mam. (la parole partagée étant la présence) ne se fait pas en discours intérieur (je n’ai jamais ‚parlé‘ avec elle), mais en mode de vie: j’essaye de continuer à vivre quotidiennement selon ses valeurs: retrouver un peu la nourriture qu’elle faisait en la faisant moi-même, maintenir son ordre ménager, cette alliance de l’éthique et de l’esthétique qui était sa manière incomparable de vivre, de faire le quotidien.“ 69 JDD, S. 26. „Die Idee – verblüffend, nicht traurig machend – dass sie nicht ‚alles‘ für mich war. Andernfalls hätte ich kein Werk hervorgebracht. Seit ich sie gepflegt habe, also seit sechs Monaten, war sie dann tatsächlich ‚alles‘ für mich, und ich vergaß gänzlich, dass ich jemals geschrieben habe. Ich gehörte über alle Maßen nur noch ihr. Früher machte sie sich wie durchsichtig, damit ich schreiben konnte.“

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pas de solitude que j’ai besoin, c’est d’anonymat (de travail). Je transforme ‚Travail‘ au sens analytique (Travail de Deuil, du Rêve) en ‚Travail‘ réel – d’écriture.“70 Das Schreiben wird zu einer Trauerarbeit und damit zu einem amateurhaft kultivierten métier, das nicht den Routinen der Profession der Psychoanalyse zum Opfer fällt.71 Barthes’ Begriff der Krise ist also durchaus positiv besetzt: 72 Erst in ihr und nach ihrem Durchleben kann etwas Neues entstehen73, erst nach dem Tod der Mutter kann das neue Leben beginnen bzw. die Niederschrift eines neuen Lebensromans in Angriff genommen werden – wenn diesem Projekt des Neubeginns nicht der eigene Tod ein Ende setzt. Auch in den Notizen zu Barthes’ nie geschriebenem Roman Vita Nova74 (dem Vorbild Dantes folgend) wird die fiche mit der Fragmentnotiz75 gegen den bedeutungsträchtigen, wie in Stein gemeißelten Aphorismus und die universitäre ,dissertationʻ ausgespielt. In der argumentativen Entfaltung der an Platons Verteidigungsrede erinnernden „Apologie“ vom 3. September 1979 heißt es unter den an Barthes’ Pascal-Lektüre an-

70 „Ich brauche keine Einsamkeit, sondern ich bedarf des Anonymen (der Arbeit). Ich überführe ‚Arbeit‘ im psychoanalytischen Sinne (Trauerarbeit, Traumarbeit) in tatsächliche ‚Arbeit‘ – des Schreibens“ (S. 143, 31. März 1978). 71 Vgl. den sprechenden Titel von Éric Marty, Roland Barthes. Le Métier d’écrire, Paris 2006. 72 Vgl. EIP, S. 8: „Mettre à distance le stéréotype n’est pas une tâche politique, car le langage politique est lui-même fait de stéréotypes; mais c’est une tâche critique, c’està-dire: qui vise à mettre en crise le langage.“ 73 Vgl. Ulrich Oevermann, Krise und Muße. Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung aus soziologischer Sicht. Vortrag am 19.6.1996 an der Städel-Schule Frankfurt a. M., publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/4953/Krise-und-Musse-1996.pdf; Ders., „Krise und Routine“ als analytisches Paradigma in den Sozialwissenschaften. Abschiedsvorlesung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 2008, in: Roland Becker u. a. (Hgg.), Die Methodenschule der Objektiven Hermeneutik. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2016, S. 43–114. 74 Vgl. Jean-Pierre Martin, Barthes et la „Vita Nova“, in: Poétique 156/4, 2008, S. 495– 508; vgl. auch das Schlusskapitel „Maternal Space“ in: Diana Knight, Barthes and Utopia. Space, Travel, and Writing, Oxford 1997, S. 244–269. 75 Der Übergang vom Fragment zum Journal (de deuil) ist ein fließender: „Sous l’alibi de la dissertation détruite, on en vient à la pratique régulière du fragment; puis du fragment, on glisse au ‚journal‘. Dès lors le but de tout ceci n’est-il pas de se donner le droit d’écrire un ‚journal‘?“; rBprb, Fragment „Du fragment au journal“, S. 114.

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knüpfenden Stichpunkten, die erneut die Grenzen autobiographischer Selbstvergewisserung ausloten: „– Faire comme si je devais écrire ma grande œuvre (Somme) – mais Apologie de quoi? là est la question! En tout cas pas de ‚moi‘! – et qu’il n’en restât que des ruines ou linéaments, ou parties erratiques [...] des Fragmens d’inégale longueur […] (ni aphorismes, ni dissertations) – [...] (alibi du Romanesque, de la diversité de mon moi). Sans complaisance. Pas de Semblant – Quelle Loi? celle, absolue, de mam. [...] – Plus de Je. En tout cas, pas plus que Pascal. [...] – Tout ceci voudrait dire qu’on abandonne l’enfantillage du Récit Vita Nova: ces efforts de grenouille qui veut se faire aussi grosse...“.76

Die Frage nach dem Gesetz – der „Loi“ mit Majuskel-L – wird damit beantwortet, dass der Vater als ultimativer Gesetzgeber (und damit als Vertreter des göttlichen Gesetzes) in der ,verrücktenʻ Barthes’schen Familienkonstellation durch die Mutter substituiert ist.77 In den immer wieder modifizierten Inhaltsübersichten und Strukturierungsanläufen zur Vita Nova tritt der Stellenwert der Mutter in der jetzt ein für allemal vergangenen Vita des Sohnes noch einmal prägnant hervor: Im zweiten Schema vom 22.8.79 findet man die Notizen „Perte du vrai guide, la Mère“, und, en marge, „Le ‚Retour à l’Enfance‘ (sans Mère).“ 78 Die dreimal vom Photo der Mutter punktierte Bilderstrecke am Anfang von roland BARTHES par roland

76 Roland Barthes, Vita Nova, in: Ders. 2002 (wie Anm. 4), Bd. V, S. 994–1001 (Faksimile) und 1007–1017 (Transkription), hier S. 1000. „– So tun, als müsste ich mein opus magnum schreiben (die Summa) – aber Apologie/Verteidigung von was? das ist hier die Frage! Keinesfalls von mir selbst/‚moi‘! – und als seien nur noch Ruinen oder Grundzüge übrig oder erratische Bruchstücke [...] Fragmente ungleicher Länge (weder Aphorismen noch Aufsätze/Seminararbeiten) – [...] (das Alibi des Romanhaften, der Vielgestaltigkeit meines Ichs). Ohne Anbiederung. Kein Anschein von irgendetwas [...] – Welches Gesetz? das eine, absolute, von Mam. [...] Kein Ich mehr. Jedenfalls nicht mehr als bei Pascal. [...] – All das zusammengenommen würde bedeuten, dass man die Kindereien der Erzählung Vita Nova hinter sich lässt: diese Versuche des Frosches, sich zur selben Größe aufzublähen wie…“ – der Ochse in Lafontaines Fabel. 77 Vgl. zur Mutter als Gesetzgeberin in ästhetischer wie moralischer Hinsicht JDD, 7.3.1979, S. 241: „Pourquoi je ne peux m’accrocher à, adhérer à certaines œuvres, à certains êtres: par ex. JMV. C’est que mes valeurs infuses (esthétiques et éthiques) me viennent de mam. Ce qu’elle aimait (ce qu’elle n’aimait pas) a formé mes valeurs.“ 78 Barthes 2002 (wie Anm. 4), Bd. V, S. 996.

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barthes war ein veritables imaginaire, ein fantasme de vie enfantin, des Kindseins im Glückszustand, in dem die schlimmste Einsicht die ist, nicht mehr Kind sein zu dürfen. Glück stellt sich als unbeschwerter Zustand, als zeitenthobenes Schweben dar – wie in den nie enden wollenden Sommermonaten seiner Kindheit in der französischen Provinz: „un état d’oisiveté, d’irresponsabilité et de flottement: tout le monde est là, personne ne me demande rien“ 79. Doch das Kindsein – „le Souverain Bien de l’enfance“80 – ist lange vorbei, man hört spätestens dann auf, Kind zu sein, wenn beide Elternteile gestorben sind 81 und einem als letzte Sorge das Warten auf den eigenen Tod bleibt. Diese Gefahr deutet sich bereits in den Momenten an, in denen sich die leichte, anspielungsreiche, sich nie verhärtende oder allzusehr vertieftende écriture zum Werk verfestigt: „C’est à ce point de contact entre l’écriture et l’œuvre que la dure vérité m’apparaît: je ne suis plus un enfant.“82 In der Autobiographie kommt die Mutter im Text nur an ganz wenigen Stellen vor, ansonsten verdichtet sich ihre Präsenz emblematisch in der Photographie. Eine der wenigen Ausnahmen behandelt erneut das Spiegelstadium des autobiographischen Subjekts: Sie ist eingebettet in eine autopoietische Reflexion, in der Barthes jede Verantwortung für das Verstehen des Lesers und dessen gelingende Sinnerschließung ablehnt: „Le titre de cette collection (X par lui-même) a une portée analytique: moi par moi? Mais c’est le programme même de l’imaginaire! Comment est-ce que les rayons du miroir réverbèrent, retentissent sur moi? Au-delà de cette zone de diffraction – la seule sur laquelle je puisse jeter un regard, sans cependant jamais pouvoir en exclure celui-là même qui va en parler –, il y a la réalité, et il y a encore le symbolique. De celui-là, je n’ai nulle responsabilité (j’ai bien assez à faire avec mon imaginaire!): à l’Autre, au transfert, et donc au lecteur. Et tout cela se fait, c’est ici bien évident, à travers la Mère, présente à côté du Miroir.“83

79 rBprb, S. 170. 80 CC, S. 111; „das HÖCHSTE GUT der Kindheit“, HK, S. 81. 81 Im Journal de deuil bezeichnet Barthes die Trauer um die tote Mutter, die das Schreiben unmöglich macht, als „épreuve adulte“ (S. 249). 82 rBprb, S. 165. „In dem Moment, in dem die écriture sich zum Werk entwickelt, wird mir die furchtbare Wahrheit bewusst: Ich bin kein Kind mehr.“ (ÜMS, S. 149) 83 rBprb, S. 183f. „Der Titel dieser Reihe (X über sich selbst) ist von analytischer Tragweite: moi par moi? Das ist doch gerade das Programm des imaginaire! Wie reflektieren die Strahlen aus dem Spiegel auf mich zurück, wie bricht sich ihr Schall an mir? Jenseits dieser Zone der Diffraktion [der optischen Beugung] – die einzige, auf die ich

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Auch das letzte Buch Roland Barthes’ nimmt seinen Ausgang von einer Photographie der Mutter. Auf der Suche nach dem Spezifischen der Photographie gelangt der Autor zu der Einsicht, dass sie „(zwangsläufig) nichts über das“ sagt, „was nicht mehr ist, sondern nur und mit Sicherheit etwas über das, was gewesen ist.“84 Da die Mutter selbst keine écriture hervorgebracht hat, muss die Erinnerung an ihr vergangenes Dasein im Schreiben des Sohnes konserviert werden, die Memoria hängt ganz an ihm und allein von ihm ab.85 Das Hauptcharakteristikum der Photographie besteht in Barthes’ Überlegungen darin, auf ewig zu dokumentieren, dass das kleine Mädchen, das er auf dem berühmten (und bezeichnenderweise nicht reproduzierten) Kinderphoto seiner Mutter im Wintergarten sieht, einmal tatsächlich dort gewesen ist und dass es wirklich gelebt hat. 86 Wie das Schweißtuch der hl. Veronika (Abb. 19) dokumentiert das Photo eine vergangene Realpräsenz; es belegt, dass die Mutter wie die facies Christi zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich existiert hat, auch wenn sie sich auf ihren Reprä-

einen Blick werfen kann, ohne allerdings denjenigen, der über sie sprechen wird, je daraus ausschließen zu können –, existiert die Realität und zudem das Symbolische. Dafür übernehme ich keinerlei Verantwortung (ich habe gerade genug mit meinem imaginaire zu schaffen!): Es liegt beim Anderen, bei der Übertragung, und damit beim Leser. Und es ist natürlich klar, dass all dies sich durch die Mutter vollzieht, die neben dem Spiegel gegenwärtig ist“ (ÜMS, S. 166). Vgl. auch S. 146, „Un souvenir d’enfance“, wo die Mutter als eine Art Schutzmantelmadonna den kleinen Roland vor den Hänseleien seiner Spielkameraden rettet. 84 HK, S. 95; CC, S. 133: „La Photographie ne dit pas (forcément) ce qui n’est plus, mais seulement et à coup sûr, ce qui a été.“ 85 Vgl. JDD, 29.3.1979, S. 246: „Je vis sans aucun souci de la postérité, aucun désir d’être lu plus tard (sauf, financièrement, pour M.[ichel]), la parfaite acceptation de disparaître complètement, aucune envie de ‚monument‘ – mais je ne peux supporter qu’il en soit ainsi pour mam. (peut-être parce qu’elle n’a pas écrit et que son souvenir dépend entièrement de moi).“ 86 CC, S. 129: „La Photographie ne remémore pas le passé [...]. L’effet qu’elle produit sur moi n’est pas de restituer ce qui est aboli (par le temps, la distance), mais d’attester que cela que je vois, a bien été.“ HK, S. 92: „Die PHOTOGRAPHIE ruft nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück [...]. Die Wirkung, die sie auf mich ausübt, besteht nicht in der Wiederherstellung des (durch Zeit, durch Entfernung) Aufgehobenen, sondern in der Beglaubigung, daß das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist.“

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sentationen ins Unbestimmt-Schemenhafte auflöst, nicht festzuhalten ist.87 Denn die Photographie ist in ihrer Flüchtigkeit „ohne Zukunft (darin liegt ihr Pathos, ihre Melancholie); sie besitzt nicht den geringsten Drang nach vorn“. „Unbeweglich fließt die PHOTOGRAPHIE von der Darstellung zurück zur Bewahrung“88 –, daher ist in jedem Photo auch „stets dieses unabweisbare Zeichen meines künftigen Todes enthalten“.89 Mit dieser Argumentation begibt Barthes sich allerdings in einen fundamentalen Widerspruch. Denn er nimmt ja – nolens volens – in der Reflexion über den eigenen Tod im Spiegel des Sterbens der Mutter und in der Erinnerungsarbeit letztlich doch eine Identität an: Aus dem „Ich schreibe/kommemoriere, also war meine Mutter“ folgt das jedem Versuch der Selbstdementierung zuwiderlaufende „Ich schreibe, also bin ich.“90 Für den Versuch, mit Hilfe eines Photos einen zivilrechtlich hieb- und stichfesten Identitätsnachweis zu erbringen, der das Subjekt eindeutig fixiert, hat Barthes erwartbarerweise nur Hohn und Spott übrig: „Au fond, une photo ressemble à n’importe qui, sauf à celui qu’elle représente. Car la ressemblance renvoie à l’identité du sujet, chose dérisoire, purement civile, pénale même; elle le donne ‚en tant que lui-même‘, alors que je veux un sujet ‚tel qu’en lui-même‘.“91 Am 25. Februar 1980, dem Tag seines Unfalls vor dem Collège de France, hatte Roland Barthes weder Papiere noch einen Lichtbildausweis bei sich. Sein Biograph Louis-Jean Calvet hat die paradoxe Situation im Moment der Einlieferung in die Salpêtrière im Sinne einer gelungenen Dissimulation des Barthes’schen Ich kolportiert: In diesem letzten Sanatorium, in dem der lebenslange linkshändige Raucher einen Monat später seinem erklärtermaßen überwundenen Lungen-

87 Vgl. hierzu Victor I. Stoichita, Zurbaráns Veronika, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 54, 1991, S. 190-206. 88 HK, S. 100. 89 HK, S. 108. 90 In diesem Kontext stellt sich Barthes’ Notiz vom 22. Juli im Tagebuch der Trauer „Tous les ‚sauvetages‘ du Projet échouent. Je me retrouve sans rien à faire, sans aucune œuvre devant moi – sauf les tâches répétées de la routine. Toute forme du Projet: molle, non résistante, coefficient faible d’énergie. ‚À quoi bon?‘“ (JDD, S. 249) als unauthentische Schutzbehauptung dar, hatte er doch die Textredaktion von La chambre claire am 3.6.1979 abgeschlossen. 91 CC, S. 160. „Im Grunde ähnelt ein Photo irgend einer beliebigen Person, nur nicht der, die es darstellt. Denn die Ähnlichkeit verweist auf die Identität des Subjekts, eine lächerliche, rein zivilrechtliche, ja sogar strafrechtliche Angelegenheit; sie gibt es wieder ‚als es selbst‘, während ich auf ein Subjekt aus bin, das ‚in sich es selbst‘ ist.“ (HK, S. 113)

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leiden erliegen sollte, kennt niemand dieses identitätslose Subjekt – „personne ne sait qui il est“92.

92 Calvet 2014 (wie Anm. 8), S. 295.

Autobiographie und Politik

Autobiographische Zeugnisse und historische Mythen im Prozess der europäischen Einigung. Charles de Gaulle und Walter Hallstein P HILIP B AJON

Dieser Essay handelt von autobiographischen Zeugnissen, die von der westeuropäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg berichten. Es handelt sich erstens um die klassischen Lebenserinnerungen eines großen Staatsmannes, des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulles, und zweitens um die autobiographisch gefärbten Schriften eines europäischen Spitzenbeamten, des ersten Präsidenten der europäischen Kommission Walter Hallstein, deren Vorstellungen von Europa heftig miteinander kollidierten. Diese Kollision und das unterschiedliche professionelle Selbstverständnis der beiden Akteure schlugen sich in ihren Selbstzeugnissen ebenso nieder wie ihre grundverschiedenen Persönlichkeiten. Die ausgewählten autobiographischen Schriften hatten außerdem großen Einfluss auf die Weggefährten und Anhänger der beiden Politiker. Ihre Selbstbeschreibungen, Urteile über Zeitgenossen, Geschichtsdeutungen, Prognosen und Klischees fanden schließlich sogar Eingang in die Geschichtsschreibung. Die daraus resultierenden historiographischen Mythen und deren allmähliche Auflösung werden in diesem Essay analysiert.1 Überlegungen und Projekte der europäischen Einigung reichen bis weit in das 19. Jahrhundert zurück. Sie verdichteten sich jedoch nach dem Ersten Welt-

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Dieser Essay entstand am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. Ich danke dem Direktor, Herrn Professor Stefan Vogenauer, für seine Unterstützung.

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krieg zu einer breiteren Bewegung. Der kosmopolitische Graf CoudenhoveKalergi schuf mit der Paneuropa-Bewegung die erste schlagkräftige und transnationale Bewegung zugunsten des europäischen Einigungsprojektes. Der französische Außenminister Aristide Briand suchte im Einvernehmen mit seinem deutschen Amtskollegen Gustav Stresemann nicht nur einen deutsch-französischen Ausgleich zu erzielen, sondern legte vor dem Völkerbund auch einen konkreten Plan für eine weiter ausgreifende europäische Einigung vor. In den Wirren der spannungsreichen 1930er-Jahre konnte dieser Plan keinen Erfolg haben. Während des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besetzung weiter Teile Europas entwickelten sich dann die Zirkel der exilierten Politiker aus besetzten Ländern zu Laboratorien und Ideenwerkstätten der europäischen Integration. Das Vereinte Europa nach dem Weltkrieg wurde in diesen Kreisen oft unter föderalistischen Vorzeichen gedacht. Man träumte von einem revolutionären Akt zur Erschaffung des europäischen Bundesstaates mit einer wahrhaft europäischen Regierung. Doch die föderalistischen Ansätze in der unmittelbaren Nachkriegszeit blieben Fehlschläge. Zu unterschiedlich waren die Interessen, zu schwierig die Rahmenbedingungen des anhebenden Kalten Krieges.2 Im deutsch-französischen Einvernehmen gelang dann ab 1950 eine europäische Einigung unter technokratischen Vorzeichen, nämlich eine Integration des Kohle- und Stahlsektors Frankreichs, Deutschlands, Italiens und der Beneluxländer. Gesteuert wurde diese Wirtschaftsintegration von überstaatlichen, supranationalen Institutionen wie der Kommission, dem Parlament, dem Ministerrat und dem Gerichtshof. Dieses institutionelle Modell hat sich für die weiteren Gründungen im Rahmen der europäischen Einigung bewährt und liegt auch der heutigen Europäischen Union zugrunde. Die sogenannte neo-funktionalistische Theorie beschreibt, wie eine Vielzahl kleiner Integrationsschritte einen Sog in Richtung einer sich stetig vertiefenden Integration erzeugt, dem sich kein Mitgliedstaat mehr entziehen konnte und der in letzter Konsequenz einen Bundesstaat erschaffen würde, so wie ihn auch die Föderalisten herbeisehnten. Angetrieben wurde die europäische Einigung in der neo-funktionalistischen Theorie von den funktionalen, egoistischen Interessen der Mitgliedstaaten, die ihre staatliche Souveränität in europäischen Institutionen konzentrieren, um gemeinsam effizienter handeln zu können. Während es sich beim Föderalismus also primär um eine Zielvorstellung handelt, nämlich die Erschaffung des Bundesstaates in

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Als Gesamtdarstellung zur Europäischen Einigung siehe: Pierre Gerbet, La Construction de l'Europe (Notre Siècle), Paris 1999; zum Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit siehe: Wilfried Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1551), Göttingen 1996.

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einem politischen Akt, beschreibt die neo-funktionalistische Theorie vornehmlich eine Integrationsmethode, in der dem Wohlfahrtsgedanken Priorität eingeräumt wurde. Seine Hochzeit erlebte der Neo-Funktionalismus in den 1950erJahren, insbesondere im Jahre 1957 mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem institutionellen Kern der heutigen Europäischen Union. Innerhalb weniger Jahre wurden gemeinsame Märkte für agrarische und industrielle Produkte errichtet und zahlreiche Politikfelder, die zuvor in nationaler Hand gelegen hatten, ,europäisiertʻ und den Gemeinschaftsinstitutionen unterstellt. Diese ,Vergemeinschaftungʻ setzte der nationalstaatlichen Souveränität einerseits immer engere Grenzen, bescherte den Nationalstaaten aber andererseits auch erhebliche materielle Vorteile.3 Dieser Essay beleuchtet eine spezielle Facette der autobiographischen Überlieferung Charles de Gaulles und Walter Hallsteins, nämlich den Bericht der beiden Akteure über ihre persönliche historische Rolle während der Gründungsund Aufbauphase der Europäischen Gemeinschaften. Dabei soll herausgearbeitet werden, wie de Gaulle und Hallstein sich nicht nur während ihrer Amtszeiten politisch bekämpft haben, sondern wie sie in ihren Erinnerungen ihr Handeln rechtfertigten und ihr manichäisches Weltbild auch im Hinblick auf die Nachwelt zu festigen suchten. Die Überlegungen dieses Aufsatzes basieren auf den veröffentlichten autobiographischen Schriften der beiden Akteure sowie auf sekundärer Literatur zur Geschichte der europäischen Integration. Bereits an dieser Stelle ist anzumerken, dass Hallsteins Schriften keineswegs als Lebenserinnerungen deklariert sind, sondern als ,Sachbücherʻ, die vom Verfasser dieses Essays als autobiographisch gelesen werden. Aus diesem Grund ist im vorliegenden Essay von autobiographischen ,Zeugnissenʻ oder ,Selbstzeugnissenʻ die

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Zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) siehe: Klaus Schwabe (Hg.), Die Anfänge des Schuman-Plans 1950/51. The Beginnings of the SchumanPlan (Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der EG, 2), Baden-Baden 1988; Gilbert Trausch (Hg.), Die Europäische Integration vom Schuman-Plan bis zu den Verträgen von Rom. The European Integration from the Schuman-Plan to the Treaties of Rome (Veröffentlichungen der HistorikerVerbindungsgruppe bei der Kommission der EG, 4), Baden-Baden 1993; zum neofunktionalistischen Modell siehe: Ernst B. Haas, The Uniting of Europe. Political, Social, and Economic Forces, 1950-1957 (Contemporary European Politics and Society), Indiana 2004; Leon N. Lindberg, The Political Dynamics of European Economic Integration, Stanford 1963; zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften siehe: Anne Deighton/Alan S. Milward (Hgg.), Widening, Deepening and Acceleration. The European Economic Community 1957-1963, Brüssel/Baden-Baden 1999.

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Rede, wo die Kategorie der klassischen Autobiographie als unzutreffend erscheint. Der vorliegende Essay gliedert sich in drei Kapitel. Im ersten Kapitel werden die beiden Akteure im Kontext der europäischen Nachkriegsgeschichte eingeführt. Das zweite Kapitel untersucht die Selbstzeugnisse der beiden Persönlichkeiten und diskutiert deren unterschiedliches professionelles und historisches Selbstverständnis. Schließlich wird im dritten Kapitel die Frage nach den historischen Mythen aufgeworfen und das Wirken der Selbstzeugnisse, auch in die Historiographie hinein, nachvollzogen. Bei allen Schritten ist der Blickwinkel dieses Essays immer auf die Europapolitik gerichtet. Am Ende der Untersuchung drängt sich die Erkenntnis auf, dass die autobiographischen Schriften die ,Historisierungʻ der beiden Politiker eher erschwert haben.

I) D ER ,S TAATSMANN ʻ

UND DER

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Die biographischen Eckdaten des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle sind weithin bekannt. Aus nordfranzösischem Adel stammend, verfolgte ,Karl von Gallienʻ eine Karriere als Berufssoldat. Der intellektuelle Militär bewährte sich in den 1930er-Jahren und insbesondere in den ersten Tagen des deutschen Westfeldzugs im Jahre 1940 als weitsichtiger militärischer Befehlshaber. Legendären Status erlangte er dann als Führer des Freien Frankreichs und als Befreier von Paris. Ab 1947 versuchte de Gaulle zunächst, mit Hilfe der gaullistischen Sammlungsbewegung „Rassemblement du Peuple Francais“ (RPF) in das politische Geschehen der sogenannten Vierten Republik einzugreifen, bevor er sich ab 1953 vollständig aus der aktiven Politik zurückzog. Im Jahre 1959 jedoch kehrte er an die Staatsspitze zurück und schied erst im April 1969 aus dem Präsidentenamt.4 De Gaulle mochte sich mit der Fragmentierung und Marginalisierung WestEuropas im Kalten Krieg nicht abfinden und wünschte sich für Europa und für Frankreich eine Rückkehr zu Eigenständigkeit, Einheit und Einfluss. De Gaulles Europa basierte auf der Zusammenarbeit souveräner Staaten. Bis in das Jahr 1943 reichen seine Pläne für eine westeuropäische Staatengruppe – das soge-

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Ernst Weisenfeld, Charles de Gaulle. Der Magier im Elysee, München 1990; Alain Peyrefitte, C'était de Gaulle, Paris 2002; Eric Roussell, Charles de Gaulle, Paris 2002; René Rémond, 1958. Le retour de De Gaulle, Brüssel 1998; Jean Lacouture, Le souverain 1959 - 1970 (De Gaulle, 3), Paris 1986.

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nannte „groupement occidental“5 – zurück, in welcher Frankreich die Führungsrolle zukommen sollte. In seiner Vorstellung sollten sich die westeuropäischen Staaten unter französischer Führung zu einem Staatenbund zusammenfinden und durch eine unabhängige Verteidigungspolitik von den Vereinigten Staaten abgrenzen. De Gaulle missbilligte insbesondere die von den Vereinigten Staaten dominierte militärische NATO-Integration sowie das Kernwaffenmonopol Washingtons, weil er den amerikanischen Sicherheitsgarantien für Westeuropa nicht traute. Die okzidentale Konföderation sollte Frankreichs Verhandlungsposition soweit stärken, dass die französische Regierung auf Augenhöhe mit der britischen und der US-amerikanischen Regierung in internationale Verhandlungen treten konnte. De Gaulle war auch auf dem Höhepunkt der ideologischen Auseinandersetzung davon überzeugt, dass der Marxismus-Leninismus seinen Glanz verlieren und sich – auch und gerade im Falle (Sowjet-)Russlands – die Nation als historische Kraft durchsetzen werde. Mit dem gewandelten, europäisierten und dialogfähigen Russland könne der westeuropäische Staatenbund dann ein diplomatisches Konzert über die Zukunft Europas beginnen. Westeuropa, so de Gaulles Vorhersage, werde einen Prozess der „Entspannung – Einigung – Kooperation“ durchlaufen und zusammen mit den Ländern des Ostblocks und Russland ein „Europa vom Atlantik bis zum Ural“ begründen. In diesem geographisch erweiterten Europa solle dann auch die Lösung der „deutschen Frage“ gelingen, also die deutsche Wiedervereinigung vollzogen werden.6 De Gaulles ,europäische Gesinnungʻ wird von Historikern kontrovers diskutiert. War die vom General in Aussicht genommene europäische Konstruktion nur ein Vehikel für egoistische französische Großmachtambitionen, oder meinte es de Gaulle ernst mit seinem Bekenntnis zu Europa, der Vergemeinschaftung der französischen Atomwaffen und der deutsch-französischen Achse? Insbesondere bleibt umstritten, ob de Gaulle das Prinzip der supranationalen europäischen Einigung rundheraus ablehnte oder lediglich für verfrüht hielt. In der Öffentlichkeit zumindest positionierte er sich in den 1950er-Jahren als vehementester Gegner des entstehenden integrierten Westeuropas.

5

Charles de Gaulle, L'Unité 1942 - 1944 (Mémoires de guerre, 2), Paris 1956, S. 566.

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Hans-Dieter Lucas, Europa vom Atlantik bis zum Ural? Europapolitik und Europadenken im Frankreich der Ära de Gaulle (1958-1969) (Pariser Historische Studien, 35), Bonn/Berlin 1992; Pierre Maillard, De Gaulle et l'Europe. Entre la Nation et Maastricht (Approches, 22), Paris 1995; Maurice Vaïsse, La grandeur. Politique étrangère du général de Gaulle 1958-1969, Paris 1998; Michael Sutton, France and the Construction of Europe 1944-2007. The Geopolitical Imperative, New York 2007.

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Dem phantastischen ‚grand tableau‘ und der visionären Sicht des Generals in die europäische Zukunft konnte der deutsche Kommissionspräsident Walter Hallstein nur die glanzlose und ,trockeneʻ Wirtschaftsintegration entgegensetzen. Der spätere Spitzendiplomat und Staatssekretär Hallstein war im Ursprung Universitätsprofessor für Rechtswissenschaft. Bekanntheit erlangte er durch die nach ihm benannte außenpolitische Doktrin, der zufolge die Bundesrepublik ihre diplomatischen Kontakte zu jedem Staat abbrach, welcher die Deutsche Demokratische Republik völkerrechtlich anerkannte. Als deutscher Unterhändler war Hallstein maßgeblich an den Verhandlungen über die Kohle- und Stahlintegration sowie an der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beteiligt. Als deren erster Kommissionspräsident prägte er von 1958 bis 1967 die Gründerjahre der EWG und gilt bis heute, zusammen mit Jacques Delors, als bedeutendster Kommissionspräsident und als de Gaulles Ur- und Erzfeind in Fragen der europäischen Einigung.7 Hallstein repräsentierte die föderalistische Idee und die neo-funktionalistische Methode.8 Er sah die Kommission als Keimzelle einer künftigen europäischen Regierung, als „Motor, Wächter und ehrlicher Makler“9 auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat. An dieser Stelle kollidierte Hallsteins Führungsanspruch mit der Überzeugung de Gaulles, dass Frankreich berufen sei, eine Gruppe westeuropäischer souveräner Staaten anzuleiten. Hallstein wies zurecht darauf hin, dass die sogenannte ,Wirtschaftsintegrationʻ der 1950er und 1960er-Jahre keineswegs auf die Wirtschaft beschränkt und der Gemeinsame Markt von Beginn an ein hochgradig politisches Unternehmen war, dessen weitere Vertiefung praktisch unaufhaltsam sei. De Gaulle stimmte Frankreichs Teilnahme am Gemeinsamen Markt wegen der ma-

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Wilfried Loth/Marie-Thérèse Bitsch, Die Kommission Hallstein 1958-1967, in: Michel Dumoulin (Hg.), Die Europäische Kommission 1958-1972. Geschichte und Erinnerungen einer Institution, Luxemburg 2007, S. 57–86; Wilfried Loth, Walter Hallstein, ein überzeugter Europäer, in: Michel Dumoulin (Hg.), Die Europäische Kommission 1958-1972. Geschichte und Erinnerungen einer Institution, Luxembourg 2007, S. 87–98; Corrado Malandrino, "Tut etwas Tapferes": compi un atto di corragio. L'Europa federale di Walter Hallstein (1948-1982) (Storia del federalismo e dell'Integrazione europea), Bologna 2005.

8

Wolfgang Wessels, Walter Hallsteins integrationstheoretischer Beitrag – überholt oder verkannt?, in: Wilfried Loth/William Wallace/Wolfgang Wessels (Hgg.), Walter Hallstein – Der vergessene Europäer? (Europäische Schriften, 73), Bonn 1995, S. 281– 310.

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Walter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, Düsseldorf/Wien 1969, S. 56.

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teriellen Vorteile zwar zu, blieb gegenüber der supranationalen Gesamtkonzeption jedoch äußerst skeptisch. An seiner Vision eines staatenbündischen Westeuropas hielt er fest. Die hier umrissenen Europa-Konzepte prallten in den 1950er und 1960erJahren heftig aufeinander. Während die Wirtschaftsintegration sich immer weiter vertiefte und die Kommission eine immer zentralere Rolle spielte, scheiterte de Gaulle bei der Propagierung seiner europäischen Vision. Zwischen 1958 und 1962 versuchte der General, seine westeuropäischen Partner von einer Europäischen Politischen Union à la de Gaulle zu überzeugen. In der sogenannten Fouchet-Kommission legte die französische Regierung einen kleineuropäischkonföderativen Europaplan vor, der jedoch mit den transatlantischen und föderalistischen Leitbildern der Niederlande und Belgiens inkompatibel war und letztlich scheiterte. Sämtlichen transatlantischen Optionen der Kooperation oder Integration entzog de Gaulle auf einer spektakulären Pressekonferenz am 14. Januar 1963 den Boden, als er die Lieferung von US-Raketen an Frankreich, eine gemeinsame nuklearbewaffnete NATO-Flotte sowie den britischen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ablehnte. Da eine Europäische Politische Union nun nicht mehr zur Debatte stand, sollte eine deutsch-französische Exklusivbeziehung zur Grundlage für ein unabhängiges Westeuropa unter französischer Führung werden. Am 22. Januar 1963 unterzeichnete Adenauer in Paris einen Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit in außen-, verteidigungs- und kulturpolitischen Fragen.10 Der sogenannte Elysée-Vertrag stieß in der Bundesrepublik und bei ihren Verbündeten auf zum Teil heftige Ablehnung, stellte er doch die exklusiven Beziehungen zu den USA in Frage. Der Bundestag fügte dem Vertrag daher während der Ratifizierung eine Präambel hinzu, welche die bundesdeutschen Bindungen an die Vereinigten Staaten herausstrich und den Vertrag aus de Gaulles Sicht vollständig entwertete. Der General beklagte sich bitterlich, dass die „deutsch-französische Ehe nicht vollzogen“ worden sei.11 Bundeskanzler Ludwig Erhard, der Konrad Adenauer im Oktober 1963 im Amt nachfolgte, forderte de Gaulle heraus, indem er sich für ein transatlantisch orientiertes Europa und für den britischen Beitritt zur Wirtschaftsgemeinschaft stark machte. Der General unternahm daher einen letzten Versuch, die bundesdeutschen Partner für seine europäische Vision zu gewinnen. Im Juli 1964

10 Corine Defrance/Ulrich Pfeil, Der Elysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945-1963-2003, München 2005; Manfred Steinkühler, Der deutschfranzösische Vertrag von 1963. Entstehung, diplomatische Anwendung und politische Bedeutung in den Jahren von 1958 bis 1969, Berlin 2002. 11 Hans-Peter Schwarz, Adenauer 1952-1967. Der Staatsmann, Stuttgart 1991, S. 888.

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schlug er der Bundesregierung erneut eine enge Zusammenarbeit und insbesondere die Erweiterung des französischen atomaren ,Schutzschirmsʻ auf die Bundesrepublik vor. Erhard und sein Außenminister Gerhard Schröder setzten jedoch ganz auf die US-geführte NATO-Verteidigung und lehnten de Gaulles Angebot rundheraus ab. Enttäuscht und frustriert entschied sich de Gaulle gegen Mitte der 1960erJahre für eine harte Politik gegenüber den europäischen Institutionen und Partnern. Mit einer Intensivierung der französisch-sowjetischen Kontakte setzte er die Bundesregierung unter Druck. Im Rahmen der Wirtschaftsintegration setzte de Gaulle jetzt immer häufiger auf Drohungen und Ultimaten, um französische Interessen einseitig durchzusetzen und die weitere Vertiefung der Integration zu bremsen oder zu verhindern. Mit dieser Politik stürzte er die Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1965 in eine dramatische Existenzkrise. Der General war fest entschlossen, die Kommission unter Walter Hallstein zu entmachten und grundlegende Vertragsprinzipien wie die Abstimmung mit Mehrheit außer Kraft zu setzen.12 Zwar konnte das Auseinanderbrechen der Wirtschaftsgemeinschaft in letzter Minute verhindert werden, doch war nach diesem beispiellosen (auch persönlichen) Zusammenprall das Arbeitsklima vollends ,vergiftetʻ und von extremem Misstrauen geprägt. Weitere Integrationsprojekte kamen in den folgenden Jahren kaum voran. Überdies verließ Frankreich im Jahre 1966 die militärische Integration der NATO und verbannte deren Stäbe nach Belgien. De Gaulle führte fortan einen ,Guerillakriegʻ gegen die europäische Kommission und betrieb Hallsteins Absetzung. Tatsächlich wollte der neugewählte Bundeskanzler Kiesinger de Gaulle im Jahre 1967 keinen Widerstand mehr entgegensetzen und zeigte sich mit Hallsteins de facto-Entmachtung einverstanden. Letzterer kam dem Bundeskanzler jedoch zuvor und verzichtete gänzlich auf seine Nominierung für das Amt des Kommissionspräsidenten. So herrschten gegen Ende der 1960er-Jahre in der europäischen Einigungspolitik Frust, Lähmung und Enttäuschung. In diesem historischen Kontext sind die europapolitischen Passagen der autobiographischen Schriften zu sehen, welche im folgenden Kapitel diskutiert werden.

12 Jean-Marie Palayret/Helen Wallace/Pascaline Winand (Hgg.), Visions, Votes and Vetoes. The Empty Chair Crisis and the Luxembourg Compromise Forty Years On (European Policy, 34), Brüssel 2006; John Newhouse, Collision in Brussels. The Common Market Crisis of 30 June 1965, New York 1967.

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II) S ELBSTZEUGNISSE

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S ELBSTVERSTÄNDNISSE

De Gaulle und Hallstein haben sehr unterschiedliche Selbstzeugnisse hinterlassen, die auf spezifische Weise die Persönlichkeit, den Werdegang und die Profession ihrer Verfasser widerspiegeln. De Gaulles Schriften wurden sukzessive zwischen 1924 und 1997 überwiegend vom Pariser Hause „Plon“ veröffentlicht. Zu ihnen zählen zunächst die frühen militärisch-historischen Abhandlungen, mit denen de Gaulle bereits in den 1930er-Jahren Aufsehen erregte.13 Den Kern seiner Schriften bilden die klassischen Lebenserinnerungen („Mémoires“), nämlich die während der Jahre des Rückzugs aus der Politik redigierten und veröffentlichten Kriegserinnerungen14, sowie die „Memoiren der Hoffnung“15 über die Jahre seiner Präsidentschaft ab 1958. Von letzteren waren drei Bände geplant, bei de Gaulles Tod jedoch nur zwei Bände (weitgehend) fertiggestellt. In einer Sonderbeziehung zu den Lebenserinnerungen stehen de Gaulles Reden und Botschaften („Discours et Messages“) der Jahre 1940 bis 1969, die der General als Teil seiner Werke 1970 veröffentlichen ließ.16 Der französische Diplomat und Pressechef de Gaulles, PierreLouis Blanc, beschrieb, wie de Gaulle seine Reden und Pressekonferenzen akribisch vorgeschrieben hatte und anschließend diesen Sprechtext (nicht aber den gesprochenen Text) als ,autorisierte Fassungʻ hatte veröffentlichen lassen. Blanc zählte die Reden und Botschaften daher ganz selbstverständlich zu den Schriften des Generals. Überdies schilderte Blanc, dass de Gaulle bestimmte Reden von der Veröffentlichung im Rahmen der „Discours et Messages“ ausschloss und andere Reden vor der Aufnahme in die „Discours“ nachbearbeitete. So erscheinen die „Discours et Messages“ als dokumentarischer Anhang seiner Erinnerungen. Schon den Bänden seiner Kriegserinnerungen hatte de Gaulle jeweils einen

13 Charles de Gaulle, La Discorde chez l'ennemi, Paris 1924; Ders., Le Fil de l'épée, Paris 1932; Ders., La France et son armée, Paris 1938; Ders., Trois études, Paris 1945. 14 Charles de Gaulle, L'appel 1940 - 1942 (Mémoires de guerre, 1), Paris 1954; Ders., L'Unité 1942 - 1944 (Mémoires de guerre, 2), Paris 1956; Ders., Le salut (Mémoires de guerre, 3), Paris 1959. 15 Charles de Gaulle, L’effort 1962-1965 (Mémoires d'espoir, 2), Paris 1971; Ders., Le renouveau 1958-1962 (Mémoires d’espoir, 1), Paris 1970. 16 Charles de Gaulle, Pour l'Effort 1962-1965 (Discours et Messages, 4), Paris 1970; Ders., Pendant la Guerre 1940-1946 (Discours et messages, 1), Paris 1970; Ders., Avec le Renouveau 1958-1962 (Discours et messages, 3), Paris 1970; Ders., Dans l'Attente 1946-1958 (Discours et messages, 2), Paris 1970; Ders., Vers le Terme 19661969 (Discours et messages, 5), Paris 1970.

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umfangreichen Anhang mit Reden und Dokumenten beigegeben.17 Komplettiert werden die Schriften de Gaulles von den Briefen und Notizen („Lettres, Notes et Carnets“), die sein Sohn, Admiral Philippe de Gaulle, zur postumen Veröffentlichung ab 1980 auswählte.18 De Gaulles Erinnerungen sind klassische Politiker-Memoiren. Der General entwirft darin ein breites historisches Panorama der Geschichte Frankreichs und Europas im Weltkrieg und unter seiner Präsidentschaft, ,gewürztʻ mit zahllosen historischen Exkursen bis ins 19. Jahrhundert und mit Portraits, z.B. Konrad Adenauers und Walter Hallsteins. Seine Präsidentschaft interpretiert er als politische Erneuerung und Wiedergeburt Frankreichs, die Bände der Redensammlung und der „Memoiren der Hoffnung“ für die Jahre ab 1958 tragen daher auch den Titel „(Avec le) Renouveau“. Er wirbt intensiv für seine Vision eines Staateneuropa und rechtfertigt seine politischen Schritte, mit denen er das „Europa vom Atlantik zum Ural“ umsetzen wollte, z.B. die gescheiterten Fouchet-Pläne von 1960-62. Geschrieben wurden diese Passagen zu einem Zeitpunkt (Ende der 1960er-Jahre) als die gaullistische Vision als gescheitert gelten konnte. Darüber hinaus versucht er sich an einer legendenhaften Ausdeutung historischer Ereignisse, insbesondere der Kriegskonferenz von Jalta im Februar 1945, welche er als eine Verschwörung der Supermächte interpretiert: Die angelsächsischen Mächte und Sowjetrussland hätten nicht nur Deutschland, sondern die Welt unter sich aufgeteilt und Frankreich dabei gedemütigt und zu einer Macht niederen Ranges degradiert. Mit dieser Deutung machte er Jalta argumentativ zum Ausgangspunkt seiner europapolitischen Vision.19 Charles de Gaulle war Zeit seines Lebens ein Charismatiker und begnadeter Rhetoriker, der den Stil französischer Politik bis heute prägt. 20 Eine Glanzstunde de Gaulle‘scher Redekunst war seine Rede in Algier im Juni 1958, die er mit den Worten „Je vous ai compris“ einleitete. Ohne sich inhaltlich festzulegen, konnte de Gaulle auf dem Höhepunkt der algerischen Krise die Gemüter einer Millionenmenge beruhigen.

17 Pierre-Louis Blanc, Témoin de la rédaction des Mémoires d'espoir, in: Espoir 131, 2002, S. 61-66. 18 Erschienen zwischen 1980 und 1997 bei Plon in Paris. 19 Zum Jalta-Mythos siehe: Weisenfeld (wie Anm. 4), S. 36; Alfred Grosser, Affaires Extérieures. La Politique de la France 1944 - 1984, Paris 1984, S. 30. 20 Zu den präsidentiellen Kontinuitäten der Fünften Republik siehe: Grosser (wie Anm. 19); Paul Godt (Hg.), Policy-Making in France. From de Gaulle to Mitterrand, London 1989; Philip Thody, The Fifth Republic. Presidents, Politics, and Personalities, New York 1998.

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Richard Nixon bezeichnete den französischen Staatspräsidenten als einen „illusionist“, nicht weil er Illusionen hatte, sondern weil er Illusionen zu schaffen vermochte.21 De Gaulle äußerte besonders gegenüber angelsächsischen Gesprächspartnern gerne seine Ansicht, dass Frankreich historisch zu Größe und Ruhm berufen sei. Der General, so hieß es schnell, praktiziere lediglich, was schon Napoleon I. suggeriert hatte: „Die Franzosen wollen mit Träumen regiert werden.“22 Viele Weggefährten und Zeitgenossen verehrten ihn folglich als politischen Zauberer und Magier. 23 Diesen Starkult und diese Legendenbildung hatte de Gaulle schon zu Lebzeiten gezielt gefördert. Oft sprach er von sich in der dritten Person und machte keinen Hehl aus seiner Überzeugung, einer historischen Mission zu dienen. Einer Anekdote zufolge hat de Gaulle seinen Hochruf „Es lebe das Freie Quebec“ (der die kanadische Regierung zum Abbruch seines Staatsbesuches veranlasste) gegenüber einem französischen Diplomaten mit folgenden Worten gerechtfertigt: „Wenn der Mensch de Gaulle den historischen de Gaulle betrachtet, dann weiß er, daß dieser historische de Gaulle sich so verhalten muß, wie man es von ihm erhofft. Was macht’s da schon, wenn der Mensch de Gaulle dafür Schläge einstecken muß? Die Pflicht des Menschen de Gaulle, Sie verstehen, die Pflicht des de Gaulle, der bald sterben wird, war es, diesen Satz (von dem ,freien Quebecʻ) zu sprechen.“24

Mit seinen Erinnerungen und Reden hat sich de Gaulle selbst ein Denkmal gesetzt und das Bild des entrückten und einer historischen Mission folgenden Landesvaters befestigt. Tatsächlich sind seine Erinnerungen in Frankreich bis heute ein vielgelesener Klassiker. Ihre literarische Qualität wird immer wieder hervorgehoben.25

21 Weisenfeld (wie Anm. 4), S. 10. 22 Ebd., S. 71-79. 23 Zum Mythos de Gaulle siehe: Matthias Waechter, Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie 1940 bis 1958, Göttingen 2006. 24 Zitiert nach: Weisenfeld (wie Anm. 4), S. 126f. 25 Pierre Messmer/Alain Larcan, Les Ecrits militaires de Charles de Gaulle. Essai d'analyse thématique, Paris 1985; Alain Larcan, De Gaulle, inventaire, la culture, l'esprit, la foi, Paris 2003; Alain Larcan, De Gaulle. Le soldat écrivain, Paris 2005; Adrien Le Bihan, Le Général et son double, de Gaulle écrivain, Paris 1996; Dominique de Roux, L'écriture de Charles de Gaulle, Monaco 1999.

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Die Erinnerungen und Reden demonstrieren aber auch eindrucksvoll die Arbeitsweise, den Regierungsstil und die außergewöhnliche ,Medienkompetenzʻ de Gaulles. Dies gilt insbesondere für die Radio- und Fernsehansprachen während des Zweiten Weltkrieges und vor den Volksbefragungen der Fünften Republik. De Gaulles Pressekonferenzen – verewigt in seiner Redensammlung – wurden als Staatsakte begangen und folgten einem strengen Zeremoniell. Seit de Gaulle spielen präsidentielle Pressekonferenzen im politischen Leben Frankreichs eine wichtige Rolle. Ganz anders der Technokrat Walter Hallstein. Hallstein hat nach seinem Ausscheiden aus der Kommission im Jahre 1967 keine tragende Rolle in der bundesdeutschen Politik mehr gespielt und war dort letztlich auch nicht erwünscht.26 Er hat in den ausgehenden 1960er und den 1970er-Jahren neben einer Redensammlung auch eine umfangreiche Spätschrift im Stile eines Sachbuches über die europäische Einigung vorgelegt, die bei genauem Lesen zwischen den Zeilen stark autobiographische Züge aufwies. Dieses Werk, zunächst „Der unvollendete Bundesstaat“ (1969) und in einer späteren Fassung „Die europäische Einigung“ (1973) betitelt, entstand in enger Zusammenarbeit mit dem vormaligen Kabinettschef Karl-Heinz Narjes bzw. mit der Hilfe des FAZ-Journalisten Hans Herbert Götz.27 Es hätte nicht zu Hallsteins Persönlichkeit gepasst, eine klassische und offensichtlich selbstbezogene Autobiographie vorzulegen. In seinen Schriften ließ Hallstein seine Person vollständig hinter das europäische Projekt zurücktreten. Er verzichtete darauf, in der ersten Person Singular zu berichten. Hallstein galt zeitlebens als sachlich-trockener Charakter, bisweilen sogar als spröde und ungesellig. Von ihm zum Whiskey geladen zu werden, galt als Ausdruck größter persönlicher Wertschätzung. Dabei wussten Weggefährten durchaus auch von seinem Charme gegenüber Damen der Gesellschaft zu berichten. Unzählige Anekdoten ranken sich um seine Verschrobenheit, seine Arbeitswut und seine Lebensumstände als Junggeselle.28 Programmatische Schriften waren somit der perfekte Ausdruck seines technokratischen Selbstverständnisses. Sie sind aber

26 Thomas Jansen, Walter Hallstein – Die Zeit nach der Präsidentschaft, in: Loth/Wallace/Wessels (wie Anm. 8), S. 205-223. 27 Walter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, Düsseldorf/Wien 1969; Walter Hallstein/Thomas Oppermann, Europäische Reden, Stuttgart 1979; Walter Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, Düsseldorf 1973. 28 Gespräch des Verfassers mit Walter Hallsteins stellvertretendem Kabinettschef, Dr. Klaus Meyer (†), Bonn.

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auch Zeugnisse einer sich in den Nachkriegsjahrzehnten professionalisierenden europäischen Beamtenelite mit ihrem spezifischen Esprit de Corps.29 Literarische Klassiker wie etwa de Gaulles Erinnerungen konnten diese technokratischen Schriften nicht werden. Der akademische, analytische Stil macht die Texte schwerfällig und lehrbuchartig, sie atmen den Geist der Bürokratie. Hier schrieb ein Rechtsprofessor, der den Leser mit akademischen Argumenten zu überzeugen versuchte. Das Autobiographische steht zwischen den Zeilen: Wenn Hallstein die historischen Ursprünge und Quellen des Einigungsprojektes erläutert, dann teilt er dem Leser letztlich die eigenen biographischen Erfahrungen mit, welche ihn selbst zum überzeugten Europäer gemacht hatten. Die Schrecken des Weltkrieges hatten ihn von der Notwendigkeit der europäischen Einigung überzeugt. Mit der demokratischen Regierungsform und dem Föderalismus der Vereinigten Staaten hatte er sich in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft, vor allem im Rahmen einer ,Lageruniversitätʻ, bei einer Fortbildung zur Heranziehung von Nachwuchskräften für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland, und später während einer Gastdozentur in Washington intensiv auseinandergesetzt. 30 Die Gründung der Bundesrepublik und den Prozess der bundesdeutschen Parlamentarisierung hatte er intensiv durchlebt und wünschte sich eine vergleichbare demokratische Qualität und Parlamentarisierung für die europäische Gemeinschaftsarchitektur. Seiner Zeit weit voraus, hatte er die „europäische Öffentlichkeit“ und das „Europa der Bürger“ im Blick, wenn er eine „Dramatisierung und damit Popularisierung der großen Optionen“31 forderte. Sobald das Europaparlament endlich echte Mitentscheidungsrechte erhielte und direkt gewählt werde, so Hallsteins Hoffnung, würden transnationale Wahlkämpfe über die großen Fragen der Europapolitik stattfinden und die Bevölkerung länderübergreifend sensibilisieren.32 Wie sehr ihm die Parlamentarisierung der Wirtschaftsgemeinschaft und das europäische Bewusstsein der Bevölkerung Westeuropas

29 Katja Seidel, The Process of Politics in Europe. The Rise of European Elites and Supranational Institutions, Basingstoke 2010. 30 Matthias Schönwald, Hinter Stacheldraht – vor Studenten. Die amerikanischen Jahre Walter Hallsteins 1944-1949, in: Ralph Dietl/Franz Knipping (Hgg.), Begegnungen zweier Kontinente. Die Vereinigten Staaten und Europa seit dem Ersten Weltkrieg, Trier 1999, S. 31-54. 31 Zitat aus: Walter Hallstein, Die echten Probleme der Europäischen Integration, Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, 19. Februar 1965, in: Ders./Thomas Oppermann (Hgg.), Europäische Reden, Stuttgart 1979, S. 523-544, hier S. 529-530. 32 Hallstein (wie Anm. 27), S. 68.

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am Herzen lagen, zeigte sich schon im Jahre 1963, als die Stärkung des Europaparlaments zunächst an rechtlichen Problemen scheiterte und Hallstein vor dem Plenum des Europaparlaments mit Bedauern ausführte: „Aber zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust. Politisch sind wir völlig auf der Seite der Initiatoren dieses Amendements [zur Stärkung des Europaparlaments, P.B.] des Hohen Hauses.“33

Gerade wenn es um das ‚Europa in den Köpfen‘ und die Stärkung des Europaparlaments ging, verstand Hallstein die europäische Einigung ganz und gar nicht als ‚graue Theorie‘ oder ‚blutleere funktionale Notwendigkeit‘. Vielmehr schwärmte er davon, das „psychologische Gefälle auf einen europäischen Zusammenschluß hin“ zu spüren.34 Wenn Hallstein in seinen Schriften über die Dynamik der Integration, die Details der Verträge oder die Funktionen der Institutionen dozierte, dann sprach er über die ideologischen Überzeugungen, zu denen er sich nach Jahrzehnten durchgerungen hatte und über das, was man sein Lebenswerk nennen mag, denn er hatte die komplizierte Gemeinschaftsarchitektur ausgehandelt. 35 Seine Profession als Rechtswissenschaftler hatte ihn außerdem zu der Überzeugung geführt, dass ein ‚Europa des Rechts‘ der Ausweg aus der europäischen Misere war.36 Eine simple Grenzöffnung für den Warenverkehr konnte aus Hallsteins

33 Zitat aus: Walter Hallstein, Vor dem Europäischen Parlament – Antwort auf die Anfrage zu den Haushaltsbefugnissen des Europäischen Parlaments, Straßburg, 27. November 1963, in: Ders./Thomas Oppermann (Hgg.), Europäische Reden, Stuttgart 1979, hier S. 460; zu Hallsteins europapolitischen Präferenzen siehe: Philip Bajon, The European Commissioners and the Empty Chair Crisis of 1965-66, in: Journal of European Integration History 15, 2009, S. 105–124; Thomas Oppermann/Michael Kilian, Vergangenheit und Zukunft des Europäischen Parlaments. Einige Aspekte unter besonderer Berücksichtigung der Sicht von Walter Hallstein, in: Europarecht, 1981, S. 366-391; Ingrid Piela, Walter Hallstein. Jurist und gestaltender Europapolitiker der ersten Stunde. Politische und institutionelle Visionen des ersten Präsidenten der EWG-Kommission (1958-1967), Berlin 2012. 34 Archiv der Europäischen Kommission Brüssel, Hallsteins Rede „Der Weg nach Europa“ vor der Agrarsozialen Gesellschaft in Aachen, 6. Mai 1965, Zitat S. 39. 35 Hanns Jürgen Küsters, Walter Hallstein und die Verhandlungen über die Römischen Verträge 1955-1957, in: Loth/Wallace/Wessels (wie Anm. 8), S. 81–105. 36 Vgl. Manfred Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1994, S. 545ff.

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Sicht zwar den Handel ankurbeln. Eine solche Freihandelspolitik konnte langfristig jedoch nicht genügen, um Westeuropa dauerhaft zu befrieden und zu stabilisieren. Aus Hallsteins Sicht brauchte es ein konstitutionelles Fundament – also supranationale Institutionen, einen starken Europäischen Gerichtshof, ein in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares europäisches Recht mit Vorrang vor dem nationalen Recht, kurzum: eine europäische Rechtsgemeinschaft –, um der europäischen Einigung Bestand und Nachhaltigkeit zu verleihen.37 Nicht umsonst überschrieb er das zweite Kapitel des „Unvollendeten Bundesstaates“ mit „Recht statt Macht“. Hallsteins Sachbücher können somit als entpersonalisierte Autobiographien verstanden werden, mit denen er auch über seine Amtszeit als Kommissionspräsident hinaus die Sachdebatte und den Gang der europäischen Einigung zu beeinflussen suchte. Allein das „Unvollendet“ im Titel seines Sachbuches ist als Aufforderung zu verstehen, stetig auf die ,Vollendungʻ hinzuarbeiten und sich von ungünstigen Rahmenbedingungen nicht entmutigen zu lassen. Dies führt zu den abschließenden Überlegungen im folgenden Kapitel über das Wirken der Autobiographien in die Historiographie hinein.

III) H ISTORIOGRAPHISCHE M YTHEN UND IHRE R EVISION Wie also haben de Gaulles Memoiren und Hallsteins Spätschriften auf die Geschichtsschreibung gewirkt? Die offensichtlichen inhaltlichen Gegensätze zwischen dem Hallstein-Europa und dem de Gaulle-Europa können die Härte der Auseinandersetzungen der 1950er- und 1960er-Jahre nur unzureichend erklären. In dieser Zeit extremer politischer Polarisierung bekämpften sich Hallstein und de Gaulle mit offenem Visier, aber sie wurden auch zu Projektionsflächen für ihre Anhänger und Gegner. Wie eingangs geschildert, wurde de Gaulle von seinen Anhängern als beinahe allmächtiger Staatenlenker verehrt, der die Französische Republik in einsamer Entscheidung auf Kurs hielt und allen Feinden widerstand, ein klassischer Staatsmann Bismarck’schen Zuschnitts, der die ,Kunst des Möglichenʻ meisterhaft beherrschte. Von seinen Gegnern aber wurde der General als der nationalistische und supranationalitätsfeindliche, der ewig gestrige und dem Fortschritt im Wege ste-

37 Alexander Somek, Europa als Rechtsgemeinschaft, Oder: Walter Hallstein ernstgenommen, in: Monika Mokre/Gilbert Weiss/Rainer Bauböck (Hgg.), Europas Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen, Frankfurt am Main 2003, S. 207-230.

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hende ‚Anti-Europäer‘ und ‚Mann des 19. Jahrhunderts‘ dämonisiert, auch von Hallstein selbst. Hallstein hingegen wurde von seinen Gegnern, vor allem von de Gaulle, zum machtbesessenen ‚Eurokraten‘ stilisiert. Wahlweise gab de Gaulle ihm das Label des ‚vaterlandslosen Gesellen‘ oder denunzierte ihn als europäisch bemäntelten Deutschnationalen. De Gaulle galt die Kommission als demokratisch und parlamentarisch nicht legitimierter „aréopage technocratique, apatride et irresponsable“38. Er warf der Kommission vor, sie mache sich „die Insignien des souveränen Staates“ zu eigen, welche ihr nicht gebührten. Dass Hallstein in Washington wie ein Staatsmann empfangen wurde, ausländische Botschafter bei den Europäischen Gemeinschaften akkreditierte und in Brüssel bei Empfängen ,rote Teppicheʻ Verwendung fanden, empfand de Gaulle als infame Anmaßung. Immer wieder versuchte er, die Kommission auf den Rang eines Sekretariats und eines technischen Dienstes herabzustufen, was jedoch nicht die Zustimmung seiner europäischen Partner fand. Auch der britischen Regierung und ‚classe politique‘ blieb Hallstein aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur und seiner europapolitischen Vorstellungen letztlich fremd. Bis heute überwiegt aus diesem Grunde in Frankreich und Großbritannien ein eher kritisches Hallstein-Bild.39 Vor allem aufgrund dieser verhärteten, abwertenden Klischees kamen die zerstrittenen Anhänger des Hallstein-Europas und des de Gaulle-Europas in den 1960er-Jahren nicht mehr ins Gespräch miteinander, sondern zogen sich in ihre ideologischen Wagenburgen zurück.40 Einen europapolitischen Durchbruch und einen bescheidenen Wiederanfang sollte erst die nachfolgende Politikergeneration erzielen: Nach dem Haager Gipfel von 1969 begann u.a. mit Georges Pompidou und Willy Brandt sowie später mit Valerie Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt eine ‚relance européenne‘.

38 Pressekonferenz de Gaulles v. 09.09.1965, in: Charles de Gaulle, Pour l'Effort (wie Anm. 16), S. 381. 39 William Wallace, Walter Hallstein aus britischer Sicht, in: Loth/Wallace/Wessels (wie Anm. 8), S. 225-246; Axel Herbst, Walter Hallstein und die angelsächsische Welt, in: Ebd., S. 247-264. 40 Zur politischen Polarisierung der 1950er und 1960er-Jahre siehe: Wilfried Loth, Hallstein und de Gaulle. Die verhängnisvolle Konfrontation, in: Loth/Wallace/ Wessels (wie Anm. 8.), S. 171–188; Wilfried Loth (Hg.), Crises and Compromises. The European Project 1963-1969 (Publications du Groupe de liaison des professeurs d'histoire contemporaine auprès de la Commission européenne, 8), BadenBaden/Brüssel 2001.

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In ihren späten Selbstzeugnissen taten de Gaulle und Hallstein nichts, um diese Verkrustungen aufzubrechen oder ihre eigene historische Rolle kritisch zu hinterfragen. Im Gegenteil, sie vertraten ihre orthodoxen Standpunkte, sie bestätigten die Stereotype, sie ,droschenʻ kräftig aufeinander ein und unterstrichen damit den politischen Stillstand. Ihr europapolitisches Scheitern reflektierten beide Politiker nicht. Der als Systematiker auftretende Rechtsprofessor stellte seine theoretischen Annahmen über die Dynamik der europäischen Integration niemals in Frage, obwohl das Phänomen ,de Gaulleʻ diese hinreichend ad absurdum geführt hatte. Auch de Gaulle mochte bis zuletzt nicht einsehen, dass sein dynamisches Konzept eines zunächst staatenbündischen Großeuropas für die frühen 1960er-Jahre völlig überzogen gewesen war und er eine Mitschuld am Scheitern seiner hochfliegenden Pläne trug, da er sich (wie im Falle der FouchetPläne) reflexartig auf nationalfranzösische Positionen zurückzog, sobald die europäischen Partner skeptisch und zögerlich reagierten. Darin liegt sowohl bei Hallstein als auch bei de Gaulle ein bemerkenswerter persönlicher und autobiographischer Mangel. Die Selbstzeugnisse de Gaulles und Hallsteins haben in erheblichem Umfang auf die Schriften ihrer Weggefährten und Mitstreiter ausgestrahlt. Sie hatten so gesehen Modellcharakter. Der französische Außenminister Couve der Murville etwa präsentiert sich in seinen Memoiren als Vollstrecker der gaullistischen Politik.41 De Gaulles Informationsminister Alain Peyrefitte hat dem General mit seinem monumentalen Werk „Das war de Gaulle“ ein spätes und wegen mangelnder Differenziertheit unter Historikern umstrittenes Denkmal gesetzt. 42 Hallsteins Auffassung von den Methoden und Zielen der Europäischen Einigung werden von seinen politischen Weggefährten in ihren Erinnerungen geteilt, allen voran vom deutschen Kommissar Hans von der Groeben.43 Der deutsche Spitzendiplomat Rolf Lahr hat sich in seinen Erinnerungen von „Fall und Aufstieg“ auch intensiv mit der europäischen Einigung während der Hallstein-Zeit auseinandergesetzt und hält mit seiner Kritik an der gaullistischen Europapolitik nicht hinter dem Berg.44 Auch der Kanzleramtsdiplomat Herbert Müller-Roschach

41 Maurice Couve de Murville, Une politique étrangère, Paris 1971. 42 Alain Peyrefitte, C'était de Gaulle, Paris 2002. 43 Hans von der Groeben, Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaften. Das Ringen um den Gemeinsamen Markt und die Politische Union (1958-1966), Baden-Baden 1982. 44 Rolf Lahr, Zeuge von Fall und Aufstieg. Private Briefe 1934-1974, Hamburg 1981.

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stellt sich in seiner „Chronik“ deutscher Europapolitik klar hinter das Hallstein’sche Europakonzept.45 Es überrascht daher kaum, dass die Klischees der 1960er-Jahre auch Eingang in die Historiographie fanden. In der Vergangenheit haben sich Historiker bisweilen zu sehr auf die Selbstzeugnisse de Gaulles und seiner Kampfgefährten, also auf die ,offizielle Versionʻ, gestützt. Die gaullistische Regierung wurde in de Gaulle-Biographien und Publikationen zur französischen Außen- und Europapolitik tendenziell als monolithischer Block unter der Kontrolle des Generals geschildert. Erst allmählich arbeiten Historiker die vielen Graustufen, Ambivalenzen und Schwächen der gaullistischen Europapolitik heraus und nehmen dem Mythos de Gaulle einiges seiner Strahlkraft und seines Glanzes. Gerade neuere Studien angelsächsischer Provenienz lassen die gaullistische Außenpolitik in differenzierterem Licht erscheinen, indem sie zum Beispiel auch den Widerstand gegen den Gaullismus, die kommerziellen Hintergründe gaullistischer Politik oder das spielerisch-irrationale Element in de Gaulles Politik thematisieren, um nur wenige Beispiele zu nennen.46 Andererseits wird auch de Gaulles ,Europäertumʻ heute differenzierter gewürdigt: Etwa unterstreichen Historiker heute, dass de Gaulle das Prinzip der Supranationalität nicht aus ideologischer Verblendung rundheraus ablehnte, sondern dass er vor allem mit dem demokratisch kaum legitimierten Bürokraten-Europa nicht einverstanden war und in einer günstigeren

45 Herbert Müller-Roschach, Die deutsche Europapolitik 1949-1977. Eine politische Chronik (Europäische Schriften, 55), Bonn 1980. 46 Laurent Warlouzet, Le choix de la CEE par la France. L'Europe économique en débat de Mendès France à de Gaulle 1955-1969, Paris 2011; Carine Germond, Partenaires de raison? Le couple France-Allemagne et l'unification de l'Europe (1963 - 1969), München 2014; N. Piers Ludlow, Challenging French Leadership in Europe. Germany, Italy, the Netherlands and the Outbreak of the Empty Chair Crisis of 1965-66, in: Contemporary European History 8, 1999, S. 231–248; Andrew Moravcsik, De Gaulle Between Grain and Grandeur. The Political Economy of French EC Policy, 19581970 (Part 1), in: Journal of Cold War Studies 2, 2000, S. 3–43; Andrew Moravcsik, De Gaulle Between Grain and Grandeur. The Political Economy of French EC Policy, 1958-1970 (Part 2), in: Journal of Cold War Studies 2, 2000, S. 44–68; Christian Nuenlist/Anna Locher/Garret Martin (Hgg.), Globalizing de Gaulle. International Perspectives on French Foreign Policies 1958-1969 (The Harvard Cold War Studies Book Series, 13), Langham u.a. 2010.

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historischen Konstellation möglicherweise einer starken Integration Frankreichs oder einer Europäisierung der französischen Atomwaffen zugestimmt hätte.47 Mit der Zeit hat die Historiographie auch ein sachlicheres Bild der frühen Europäischen Kommission gezeichnet, die weniger aus größenwahnsinnigen Eurokraten bestand als aus Spitzenbeamten, die dem Integrationsautomatismus, den sie propagierten, nicht vollständig vertrauten und aus Sorge um die europäische Einigung in den Verhandlungen der 1960er-Jahre teilweise hoch pokerten. Dass ein europäischer Bundesstaat nicht in einer diplomatischen Revolution staatstreichartig über Nacht erzwungen werden konnte, war Hallstein und seinen Kollegen bewusst.48 Die jüngere historiographische Produktion trägt also dazu bei, tiefere Schichten der westeuropäischen Zeitgeschichte freizulegen, welche in der Auseinandersetzung der europapolitischen Lager in den 1960er-Jahren verschüttet worden waren. Die Lebenserinnerungen und politischen Testamente de Gaulles und Hallsteins haben diese Lagerbildung nicht nur literarisch zementiert, sondern wurden als Quellen der europäischen Integrationsgeschichte auch zu leichtfertig herangezogen.

S CHLUSSBETRACHTUNG Die in diesem Aufsatz untersuchten autobiographischen Schriften stammen aus der Feder zweier Persönlichkeiten, die zu Lebzeiten und über den Tod hinaus ,in Feindschaft verbundenʻ schienen. So inkompatibel ihre politischen Visionen und Persönlichkeiten auch waren, so sehr schätzten und brauchten sie sich offenkundig doch als Zielscheibe und Projektionsfläche. Erst die jüngere historiographische Aufarbeitung der verfestigten Mythen und Klischees befreit die historischen Personen ein wenig vom Schleier, der sich nach den Schlagabtauschen der 1960er-Jahre über die beiden Politiker gelegt hatte und den Blick des Betrachters auf ihre politischen und persönlichen Schwächen und Ambivalenzen, ihre Fremdbestimmtheit und ihren Pragmatismus trübte. De Gaulle wird daher heute immer weniger in die Reihe mythischer Gestalten wie „Jeanne d’Arc, Don

47 Wilfried Loth, De Gaulle und Europa. Eine Revision, in: Historische Zeitschrift 253, 1991, S. 629–660. 48 Philip Bajon, Europapolitik "am Abgrund". Die Krise des "leeren Stuhls" 1965–66 (Studies on the History of European Integration, 15), Stuttgart 2012; Katja Seidel (wie Anm. 29).

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Quichotte und Machiavelli“49 gestellt. Und Walter Hallstein erscheint kaum noch als ideologisch verblendeter ,Eurokratʻ. In diesem Zusammenhang haben allerdings die Selbstzeugnisse kaum zur Aufklärung beigetragen und werden von Historikern zunehmend mit Vorsicht gehandhabt. De Gaulle und Hallstein sind in der aufgeheizten Stimmung der 1950er und 1960er-Jahre zu Erzfeinden geworden und haben sich in ihren späten Zeugnissen schließlich unreflektiert auf ihre orthodoxen Standpunkte zurückgezogen, ohne ihre historische Rolle in der europäischen Einigung aus der zeitlichen Distanz kritisch zu beleuchten und ihre visionären oder theoretischen Ansätze zu überdenken. Schnell wird daher übersehen, dass beide Politiker mit ihren grundverschiedenen Konzepten sehr ähnliche Ziele bei der Umgestaltung Europas verfolgten. Frieden, Stabilität und Wohlstand – wie sie im Kern der heutigen Europäischen Union weitgehend verwirklicht sind – wollten beide gleichermaßen.

49 Weisenfeld (wie Anm. 4), S. 124-126.

Lebensgeschichtliche Zeitlosigkeit: Erzählmuster der politischen Funktionärsbiographik in der DDR. Die Aporie der kommunistischen Funktionärsbiographik M ARTIN S ABROW

Die parteikommunistische Autobiographik in der DDR litt unter einem unauflöslichen Selbstwiderspruch: Sie verlangte von ihren Protagonisten immerfort, dass sie das Allgemeine im Besonderen sichtbar machten und dass sich im persönlichen Erleben zugleich die Avantgarderolle der Partei abzeichnete. 1 Mehr noch: Während herkömmlicherweise Lebensberichte nach dem Vorbild des Goetheschen „Wilhelm Meister“ die allmähliche Reifung durch lebensgeschichtliche Veränderung nachzuzeichnen pflegen, kannte das marxistisch-leninistische Konzept der kommunistischen Avantgardepartei und ihrer stets führenden Rolle weder politische Korrektur noch zeitliche Veränderung. Der Partei, die nie irrte und immer recht hatte, war Historizität als Wandel in der Zeit wesensfremd. Aber ihr Mythos lebte von den Kadern, die sie verkörperten – nur wo ein Genosse war, war auch die Partei. In der Memoirenliteratur und Zeugnispublikation der DDR traf daher der ideologische Anspruch, den Kampf der Partei durch die Lebens-

1

Der Beitrag folgt Überlegungen, die ich zuerst entwickelt habe in: Memoiren der Macht. Gedachte Geschichte in der Autobiographik kommunistischer Parteifunktionäre, in: Michael Wildt (Hg.), Geschichte denken. Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute, Göttingen 2014, S. 186-207.

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erzählungen ihrer Akteure zu beglaubigen, mit der biographischen Gebundenheit ihrer Akteure an die Lebensumstände ihrer Zeit zusammen. Allen autobiographischen Bemühungen von ostdeutschen Parteifunktionären war daher eine Konfrontation zwischen eigener Erinnerung und Parteigedächtnis inhärent, die im Kern auf einem strukturellen Dilemma zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit beruhte, das sich in der geschlossenen Sinnwelt der kommunistischen Politikkultur nicht lösen ließ, nämlich dem Gegensatz zwischen einer auf zeitlicher Gewordenheit beruhenden Lebenserzählung und der auf zeitlose Richtigkeit ausgerichteten Selbstinszenierung der kommunistischen Partei. In einer politischen Kultur, in der die charismatisch überhöhte ,Parteiʻ politische Unfehlbarkeit beanspruchen konnte und unumschränkte Definitionsmacht über die Grenzen des Sagbaren ausübte, hätte jedes Eingeständnis, dass die leitenden Kader früher ganz anders gedacht und gehandelt hatten, als es der gegenwärtigen Linie entsprach, den Avantgardeanspruch der Partei in Frage gestellt. Einen herausgehobenen Charakter trugen in dieser politischen Gedächtniswirtschaft die Memoiren führender KPD- und SED-Funktionäre, deren Profession die Politik war. Sie standen in ihrer Lebensgeschichte nicht nur für das Gesicht der Partei, sondern fungierten auch selbst als deren Dogmenwächter und waren so in besonderer Unerbittlichkeit dazu verurteilt, in ihren individuellen Erinnerungen das Allgemeine der Parteiwahrheit abzubilden. Wie gingen die Repräsentanten der Partei in ihren Erinnerungen mit dem paradoxen Ideal der biographischen Zeitlosigkeit um? Tatsächlich brachten kommunistische Autobiographien es im ,Leselandʻ DDR nicht auf beeindruckende Zahlen.2 Entstehung und Erscheinen von Funktionärsmemoiren verdankten sich in der Regel besonderen glücklichen Fügungen und fast in jedem Fall der außerordentlichen Hartnäckigkeit und Leidensbereitschaft ihrer Autoren, die die von ihnen vorgelegten Texte in einer häufig über Jahre hinweg geführten Auseinandersetzung mit verschiedenen Parteiinstanzen durchzukämpfen hatten. Kaum jemand stand diesen Prozess so souverän durch wie der ,linientreue Dissidentʻ Jürgen Kuczynski, der in seinen bis 1945 reichenden Lebenserinnerungen sogar eine angesichts der heiklen Literaturverhältnisse in der DDR denkbar kühne Reflexion auf

2

Ilse Schiel, der zufolge „das Erinnerungsbuch eines Funktionärs der Arbeiterbewegung vor etwa 15 Jahren noch eine kleine Sensation“ darstellte, listete in ihrer Dissertation für die siebziger Jahre 34 Autobiographien auf, die sich vorrangig mit der Geschichte der Arbeiterbewegung befassten; Ilse Schiel, Zum Platz und Wesen der Erinnerungen bei der Verbreitung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes. Erfahrungen und Probleme des Sammelns, Gestaltens, Wertens, Diss. phil. IML, Berlin (O) 1981, S. 25 ff.

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die Gattung Autobiographie unterbrachte. Deren Spezifika leitete er zudem nicht etwa aus Einlassungen der DDR-Geschichtswissenschaft ab, sondern im Dialog mit Wilhelm von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe, und so schloss er seine Ich-Erzählung folgerichtig auch mit der Hoffnung auf „die Verzeihung unseres größten Autobiographen“3 Goethe. Sehr viel unsicherer fühlte sich der Funktionär und Schriftsteller Fritz Selbmann in Anbetracht der „Zurschaustellung der eigenen Blöße in Leihbibliotheken und Buchhandelsschaufenstern“ und machte sich eingedenk der dem Menschen eingeschriebenen Eitelkeit nur skeptisch „an das Geschäft des halb ungewollten, halb unbewußten, im Ganzen aber unumgänglichen Opfers auf dem Altar der historischen Wahrheit“ 4. Selbmann wusste, wovon er sprach: Die allermeisten in der DDR erschienenen Autobiographien beruhten auf erzählerischen Kompromissen mit dem Parteiapparat, die zwangsläufig den autobiographischen Wahrhaftigkeitspakt mit dem Leser brechen mussten. Diesen Unterwerfungszwang sprachen freilich nur die wenigsten Erinnerungsautoren so unbefangen an, wie der in der DDR 1953 unter falschen Anschuldigungen aus seinen Parteiämtern verstoßene und später nur verschämt rehabilitierte Franz Dahlem. Als Alexander Abusch, einst Mitstreiter im französischen Exil, seine Rolle bei Kriegsausbruch 1939 in Dahlems Lebenserinnerungen falsch bewertet fand und sich darüber brieflich bei Dahlem beschwerte, konterte der mit der kühlen Antwort, darauf näher einzugehen wäre „nur möglich gewesen, wenn man die historische Wahrheit geschrieben hätte, wozu die Zeit heute noch nicht reif ist“5. Abusch selbst wiederum musste für seine eigenen Memoiren die Streichung derjenigen Episoden und Kapitel akzeptieren, die sich mit der aktuellen Parteilinie so wenig vertrugen wie eine Schilderung der innerdeutschen Kulturbeziehungen oder die Erwähnung der mit den Namen von Noël Field und Rudolf Slánský verbundenen Säuberungskampagnen der späten Stalinära, in deren Strudel der Autor mitgerissen wurde.6 Doch erging es beiden immerhin noch besser,

3

Jürgen Kuczynski, Memoiren. Die Erziehung des J.K. zum Kommunisten und Wissenschaftler, Berlin (O)/Weimar ²1975, S. 426.

4

Fritz Selbmann, Alternative – Bilanz – Credo. Versuch einer Selbstdarstellung, Halle

5

Franz Dahlem an Alexander Abusch, 25.11.1970, zit. n. Ulrich Pfeil, Zwischen Partei-

1975, S. 7. lichkeit und Geschichte, „wie ich sie tatsächlich erlebt habe“. Textgenese am Beispiel der Memoiren von Franz Dahlem, in: Deutschland Archiv 35, 2002, Heft 1, S. 81-89, hier S. 84. 6

Alexander Abusch, Der Deckname. Memoiren, Berlin (O) 1981; ders., Mit offenem Visier. Memoiren, Berlin (O) 1986. Zu den gestrichenen Textpassagen: Karin Hart-

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als dem im Zuge der spätstalinistischen Säuberungskampagnen als Zionist und französischer Agent abgeurteilten und später ebenfalls stillschweigend rehabilitierten Altkommunisten Paul Merker, der für die unter Leitung Ulbrichts erarbeitete Parteigeschichte „mehr als eintausend Seiten Erinnerung geliefert“ haben wollte. Ihm blieb am Ende nur das Bedauern, „daß ich keine Gelegenheit hatte, durch meine Erinnerungen zu einer geschichtlich einwandfreien Darstellung [...] beizutragen“7. In anderen Fällen blieb es beim wortlosen Schweigen. Über die lebensgeschichtlichen Ausarbeitungen des ehemaligen KPO-Anhängers Jacob Walcher wurde wegen ihres nur „bedingten Wert(s)“ 1958 parteiintern verfügt, dass sie nicht publiziert, sondern vielmehr „in Verwahrung genommen und im Panzerschrank aufgehoben“ werden sollten – tatsächlich verschwanden sie ganz und tauchten erst sechs Jahre später im Nachlass eines IML-Mitarbeiters wieder auf.8 Nirgendwo kommt die Aporie der biographischen Zeitlosigkeit plastischer zum Ausdruck als in einer – dann ihrerseits der Zensur zum Opfer gefallenen – Passage der Lebenserinnerungen von Alexander Abusch, in der der Autor über seine ihn bis ins Innerste erschütternde Freisprechung von dem Vorwurf berichtet, ein zionistischer Agent gewesen zu sein: „Es geschah im Sommer 1951, daß der Vorsitzende der Zentralen Parteikontrollkommission der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands dem Manne, dessen Geschichte bisher erzählt wurde, entgegenkam mit einem Gesicht, aus dem persönliche Freude leuchtete und sagte: ‚Also, es ist nichts gewesen.‘ [...] Schließlich fragte der Angesprochene: ‚Was ist nicht gewesen?‘ Hermann Matern nahm ihn freundschaftlich in den Arm: ‚Setz Dich doch, bitte! Das Parteiverfahren gegen Dich hat niemals stattgefunden. Verstehst Du immer noch nicht, was ich damit meine?‘“9

ewig, Das „Gedächtnis“ der Partei. Biographische und andere Bestände im Zentralen Parteiarchiv der SED in der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv“, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1993, S. 312-323, hier S. 320 ff. 7

Zit. n. Siegfried Lokatis, Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zen-

8

Ebd., S. 197.

9

Zit. n. Hartewig (wie Anm. 6), S. 321.

sur unter Walter Ulbricht, Köln 2003, S. 306.

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D AS I DEAL

DER BIOGRAPHISCHEN

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Die Beispiele illustrieren, dass sich das ahistorische Führungsdogma der SED selbst bei den wenigen Parteifunktionären, die mit dem Privileg der öffentlichen Selbstreflexion ausgestattet waren, nicht mit dem Anspruch auf lebensgeschichtliche Authentizität vertrug. Dennoch wäre es eine erkenntnisverstellende Vereinfachung, die kommunistische Autobiographik als bloßes Lügengewebe abzustempeln und als „Symptom [...] der geistigen Unfreiheit“ zu begreifen, „die Selbsterkenntnis und Bekenntnis im Lebensrückblick ausschließt und damit die echte Autobiographie unmöglich macht“10. Entstehung und Veröffentlichung der Lebensberichte auch von höchsten Parteifunktionären waren von einem zwar unerfüllbaren, aber von beiden Seiten in der Regel ernsthaft angestrebten und fast immer hart umkämpften Anspruch geprägt, persönliche Lauterkeit mit politischer Zweckmäßigkeit in Übereinstimmung zu bringen und zu einer alle Beteiligten überzeugenden Beglaubigungserzählung zu gestalten. Wie im Folgenden am Beispiel Erich Honeckers erörtert werden soll, galt dieser Glaube an die Wahrheit der Fiktion auch für die Berufsbiographie des obersten Repräsentanten der kommunistischen Herrschaft in der DDR. An ihr lassen sich die Erzählzeit und erzählte Zeit zur Deckung bringenden Formungskräfte autobiographischer Rückbesinnung in geradezu klinischer Reinheit zeigen, denn Honeckers 1980 erschienene Autobiographie Aus meinem Leben11 war die einzige Funktionärs-Autobiographie in der DDR, die sich von allen äußeren Anpassungszwängen frei wissen konnte, eben weil sie vom Staatschef selbst stammte. Sie gab sich zunächst als klassische Autobiographie, die im Paratext ihre Authentizität und Wahrhaftigkeit durch Frontispiz, Unterschriftfaksimile und Verlagserklärung beglaubigte. Zur Untersuchung stehen allerdings faktisch nur die neun von fünfundzwanzig Kapiteln seiner Memoiren, die die Zeit bis zu Honeckers Befreiung aus der Zuchthaushaft und seinem Wiederanschluss an die Parteiführung im Frühjahr 1945 schildern. Nur sie tragen überhaupt persönliche Züge und beruhen wenigstens zu einem Teil auf Erlebnissen, die nur der Autor selbst erinnern konnte; die übrigen stellen im wesentlichen bloße Rechenschafts-

10 Gerhard Schmolze, Unseliges und seliges Erinnern. Das Problem der Autobiographie in der DDR, in: Deutsche Studie 19, 1981, S. 73-95, hier S. 92 f. Vgl. Heidrun Bomke, Vergangenheit im Spiegel autobiographischen Schreibens. Untersuchungen zu autobiographischen Texten von Naturwissenschaftlern und Technikern der DDR in den 70er und 80er Jahren, Weinheim 1993, S. 12. 11 Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (O) 1980.

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berichte einzelner ZK-Abteilungen unter Titeln wie „Erfinder und Neuerer gefragt“, „Mit der Jugend für die kommunistische Zukunft“ oder „Die Geburtenrate steigt wieder“, die den lebensgeschichtlichen Verantwortungshorizont auch eines noch so virilen SED-Generalsekretärs zweifellos überstiegen. In den von 1912 bis 1945 reichenden Kapiteln aber ging es mit der Aufgabe einer fugenlosen Zusammenfügung von Parteikult und Lebensschicksal um die Legitimation des kommunistischen Gesellschaftsprojekts insgesamt. Kein anderer Erinnerungsautor in der DDR haftete mit buchstäblich jedem seiner Worte so sehr für die Übereinstimmung seiner Lebensgeschichte mit den ideologischen Normen des Parteigedächtnisses wie Erich Honecker. Das Institut für MarxismusLeninismus stellte einen eigenen Arbeitsstab zusammen, dessen Auftrag darin bestand, alle Textbausteine einem Faktencheck zu unterziehen, damit alle Angaben in den Herrschermemoiren auch den misstrauischsten Blicken von Freund und Feind standhalten konnten, wie einer der bestellten Ghostwriter mit Emphase bekräftigte: „Und überhaupt: In diesem Buch dürfen keine Widersprüche sein. Alles kann der Gegner denn dazu schreiben, nur nicht, es lasse Fragen offen, stehe im Widerspruch zu ‚dem und dem‘. Die Autobiographie muß stimmen.“12 Tatsächlich bereiste in der Produktionsphase der Autobiographie eine mit genauen Klärungsaufträgen betraute Historikergruppe die Bundesrepublik, um bei der Ausarbeitung der einzelnen Kapitel dieser Forderung durch Quellenrecherche in verschiedenen Archiven und zahlreiche Zeitzeugengespräche mit Familienangehörigen und frühen Weggefährten von Honecker nachzukommen. 13 Gleichzeitig unterlagen Honeckers Memoiren als einzige ostdeutsche Funktionärsbiographie nicht der Freigabe durch eine übergeordnete Instanz, die sie auf ihre Konformität mit dem Regelwerk des historisch Denkbaren zu prüfen hatte, sondern konnte deren Normen im Gegenteil sogar in Maßen umformulieren. Besonders eindrucksvoll kommt dies in der faktischen Rehabilitierung des vom kommunistischen Glauben abgefallenen und vom Weggefährten zum

12 Privatarchiv Harald Wessel, Blankenfelde, Dr. Harald Wessel an den Genossen F.J. Herrmann, Büro Honecker, 19.1.1980. 13 „Die Reise erfolgte in Absprache mit dem Generalsekretär unserer Partei, Genossen Erich Honecker. Es war als Aufgabe gestellt, Dokumente und Materialien zur Ausarbeitung der Autobiographie zu sichten und Kopien zu beschaffen. Außerdem sollten Fotos beschafft, die Erinnerungen von Kampfgefährten aufgenommen und historische Fakten anhand einschlägiger Quellen exakt überprüft werden.“ Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (i. f. SAPMO-BArch), NY 4167, 417, Prof. Dr. Voßke. Bericht über die Reise in die BRD vom 14. bis 25. Januar 1980.

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Antipoden gewordenen Herbert Wehner zum Ausdruck, über den Honecker in seinen Memoiren lakonisch befand: „Ich habe damals viel von ihm gelernt.“ 14 Berufsbiographien kommunistischer Politiker des 20. Jahrhunderts gingen mit der Veröffentlichung ihrer Lebensgeschichte mit ihren Lesern eine Wette auf die Wahrhaftigkeit ein, die zu verlieren nicht nur ihre eigene Reputation beschädigt, sondern auch das legitimatorische Fundament der kommunistischen Herrschaft selbst untergraben hätte. Dass diese Wette nur auf der gesicherten Grundlage eines genau geprüften biographischen Faktengerüstes zu gewinnen war, verstand sich von selbst. Daneben aber kam alles auf die inneren Bauprinzipien und die äußeren Absicherungsmechanismen an, die die Ich-Erzählungen der Machthaber in der DDR in die herrschende Sinnwelt einpassten, ohne ihnen ihre Glaubwürdigkeit zu rauben. Diese Mechanismen lassen sich in vier Formungskräfte gliedern, nämlich erstens eine möglichst totale Herrschaft über die Quellen, zweitens eine emphatische Utopiegewissheit der Ich-Erzählung, drittens eine strukturelle autobiographische Entzeitlichung und viertens die narrative Plausibilisierung.

U MFASSENDE Q UELLENKONTROLLE Die Geltungskraft von Honeckers Ich-Erzählung als „Bild eines ehrlichen, ideologisch überzeugten deutschen Kommunisten“15 hing zunächst davon ab, dass es der Parteibürokratie gelang, Kontrolle über alle Quellen zu gewinnen, aus denen Erkenntnisse über Honeckers Leben vor 1945 zu ziehen waren. Dies betraf zunächst die in DDR-Archiven vorhandenen Archivunterlagen, die teils sekretiert, teils auch entfernt und vom Minister für Staatssicherheit in persönliche Verwahrung genommen und in einen eigenen Archivkeller in der MfS-Zentrale verbracht wurden. Mit allerdings einer Ausnahme: Ausgerechnet an die Akten des Zentralen Parteiarchivs kam das MfS nicht heran; die dortigen Mitarbeiter beschieden den Stasi-Leute kühl, dass sie sich nicht um diese sogenannten NJAkten („Nazi-Justiz-Akten“) kümmern sollten; man habe sie schon selbst als Dauerleihe vor Einsichtnahme Dritter gesichert. Die Akten des MfS lagerten bei Auflösung des Ministeriums in einem ominösen ,Roten Kofferʻ, der nach 1989 sensationsgierig gern als Indiz für eine mögliche Erpressung Honeckers durch Mielke interpretiert wurde, in Wahrheit aber auf das genaue Gegenteil zielte, nämlich auf Honeckers Schutz vor einer

14 Honecker (wie Anm. 11), S. 81. 15 „Es gibt keine glatte Straße in die Zukunft“; ebd., S. 37.

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möglichen Infragestellung seiner Ich-Erzählung durch empirische Überprüfung an den Quellen. In einem zweiten Schritt bemühte das MfS sich, ebenso Kontrolle über die mündliche Überlieferung durch einstige Weggefährten und Zeitzeugen zu gewinnen. Dies betraf etwa die aus der DDR in die Bundesrepublik gewechselten Honecker-Biographen Heinz Lippmann und Dieter Borkowski, die Honeckers politischen Werdegang aus eigener Anschauung zu schildern vermochten; sie klopfte die Stasi systematisch und gründlich auf mögliche biographische Schwachstellen hin ab, um sie gegebenenfalls durch Einschüchterungen oder auch Plagiatsverfahren mundtot zu machen. Zu diesem Zweck entwarf das MfS im Januar 1978 einen „Maßnahmeplan“, der die „Aufklärung feindlicher Pläne und Absichten gegen die Partei- und Staatsführung [...] durch auftragsgemäße Presseveröffentlichungen in der BRD“ beinhaltete und unter Wahrung der Konspiration nicht weniger als die „Erfassung und Aufbereitung sämtlicher verfügbarer Materialien“ und „vorhandene(r) Erkenntnisse, auch aus anderen Diensteinheiten des MfS [...] und Forschungseinrichtungen des Partei- und Staatsapparates der DDR“ anstrebte. Mit Hilfe dieses gigantischen Aufwandes glaubte die Staatssicherheit, aus der Kakophonie der umlaufenden Quellen und Zeugnisse so etwas wie eine auf Problemzonen fokussierte Gesamtbiographie der führenden Genossen mit Honecker an der Spitze gewinnen zu können: „In einer Analyse sind sämtliche zusammengetragenen Veröffentlichungen, Dokumente und Erkenntnisse zu bestimmten Zeitabschnitten im persönlichen Werdegang der vorgegebenen Personen zu erfassen mit dem Ziel, Widersprüche darin auszuweisen, die tatsächlichen Quellen erkennbar zu machen und feindliche Absichten zu dokumentieren.“16

Hier kommt ein biographiepolitischer Kontrolleifer des SED-Staats zum Ausdruck, der sich nicht auf das Lager des Gegners im anderen Deutschland beschränkte. Auch in der DDR selbst wurden ehemalige Haftgenossen und Fluchtkameraden Honeckers zum Ziel einer „lückenlosen Ermittlung und Aufklärung der tatsächlichen persönlichen, beruflichen und politischen Entwicklung und Betätigung“. Für Honeckers Vertrauten im Zuchthaus und späteren Fluchtkameraden Erich Hanke etwa arbeitete das MfS einen in nicht weniger als 24 Teilaufgaben gegliederten Fragenkatalog aus, der neben der „Auswertung der verfügbaren Gestapo-Vorgänge, der Akten des Oberreichsanwalts mit seinen Vernehmungen“ auch die „exakte Feststellung seiner tatsächlichen illegalen Tätigkeit von

16 Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, MfS HA IX/11 SV 19/77, Bd. 27, Maßnahmeplan zum SV 19/77, 24.2.1977.

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Juni 1933 bis August 1935 in Berlin und Beschaffung von Beweisen dazu“ sowie die „Aufklärung und Dokumentierung der Umstände seiner Verhaftung“ umfasste.17 Nimmt man noch hinzu, dass das MfS auch die Beschaffung von Hankes Kaderakte und seiner Personalunterlagen bei der Humboldt-Universität zu Berlin sowie eine Einschätzung seiner Haltung im Zuge der Verhaftung18 plante, werden die Dimensionen des Vorhabens erkennbar: Das MfS ging seit Honeckers Aufstieg zum SED-Generalsekretär daran, dessen lebensgeschichtliches Umfeld in einer solchen Lustrationstiefe zu durchdringen, dass nach Möglichkeit alle denkbaren Quellen von Parallel- und Gegenerinnerungen identifiziert und notfalls auch durch gezielte Desavouierung neutralisiert werden konnten, bevor sie der parteioffiziellen Lebensgeschichte des Staatschefs in ihrer Deutungshoheit gefährlich zu werden vermochten.

E MPHATISCHE U TOPIEBEGLAUBIGUNG Eine zweite Formungskraft der Honeckerschen Modellbiographie lag in ihrer emphatischen Utopiebeglaubigung. Die Memoiren des ostdeutschen Partei- und Staatschefs durchzog die Gewissheit des biographischen Helden, auf einen vorbildhaften und von allen Anfechtungen freien politischen Lebensweg zurückblicken zu können. Den festen Glauben an einen musterhaften politischen Werdegang behielt Honecker auch über den Umbruch von 1989 hinweg. „Ich brauche mein Buch ‚Aus meinem Leben‘ nicht umzuschreiben und auch nicht meine Kaderakten im Zentralkomitee der SED“19, gab er 1992 zu Protokoll und hatte schon unmittelbar nach seinem Sturz Besuchern wie Reinhold Andert den Eindruck vermittelt, mit seiner Lebensgeschichte ebenso ungebrochen wie unbefangen umzugehen.20 Honeckers über 1989 hinwegreichender Glaube an seine unbedingte Ich-Kontinuität lässt die Bindungskraft der kommunistischen Sinnwelt

17 Ebd. 18 „Tiefgründige Auswertung und Analysierung der faschistischen Prozeßunterlagen, um die Ursachen seiner Verhaftung und der anderen Personen festzustellen. (Welche Angaben belastenden Charakters zu welcher Zeit zu welchen Personen getätigt?).“ Ebd. 19 Erich Honecker, Zu dramatischen Ereignissen, Hamburg 1992, S. 67. 20 Reinhold Andert registrierte bei seinen ausführlichen Gesprächen mit Honecker in Lobetal: „Ich merkte aber bald, daß ich von Honecker ehrliche Antworten bekam, wenn ich Fragen persönlich, mit der eigenen Biographie verwoben, stellte.“ Nach dem Sturz. Gespräche mit Erich Honecker, Leipzig 2001, S. 116.

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fassbar werden, die jedenfalls für ihren obersten Repräsentanten keine Konfrontation, nicht den geringsten Anflug von Selbstzensur und Tabubewusstsein mit sich brachte, sondern den Glauben an ein unbefangen gelebtes Leben als geradliniger Kommunist von der Jugend bis ins Alter ermöglichte. An die Wahrhaftigkeit dieser kontinuitätsbewussten Ich-Erzählung glaubte Honecker so stark, dass er sich noch in der Untersuchungshaft 1992 mit neuen autobiographischen Schreibplänen beschäftigte, wie er dem Gefängnisarzt offenbarte: „Auf die Frage, ob er, Herr Honecker, beabsichtige, seine Lebenserinnerungen zu schreiben, gibt er an, daß er schon dabei sei. Er habe damit in Moskau begonnen.“ 21 Tatsächlich hatte Honecker in seiner Lebensgeschichte kein Konversionserlebnis zu verarbeiten, geschweige denn einen zwischenzeitlichen Abfall vom kommunistischen Glauben oder auch nur eine zeitweilige Distanzierung von der mäandernden Politik der von Moskau aus geführten kommunistischen Weltbewegung zu bekennen. Er stammte aus einem seit Generationen sozialdemokratisch bzw. kommunistisch eingestellten Elternhaus, das ihn wie seine Geschwister wie selbstverständlich schon mit zehn Jahren an die kommunistische Bewegung heranführte. Nicht Auflehnung gegen das Herkommen und Emanzipation von der Familie kennzeichnete seine Sozialisation, sondern eine familiäre Staffelübergabe, zu der der Vater den Sohn so behutsam wie zielgewiss in die gemeinsame Denkwelt einführte22 und ihn mit seinem generationsübergreifenden Lebenssinn ausstattete: „Damals [...] erklärte mir mein Vater in seiner einfachen Art, warum die Reichen reich und die Armen arm sind, woher die Kriege kommen, wer an den Kriegen verdient und wer unter ihnen leidet. Für mich war das einleuchtend. Ich gewann ein klares Weltbild. Ich nahm mir vor, mein Leben dem Kampf für eine Welt des Friedens und des Sozialismus zu widmen. An dieser Lebensaufgabe habe ich festgehalten, bis heute.“ 23

21 Archiv der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin, 2 Js 26/90, Bd. 28, Volkmar Schneider, Gerichtsärztliche Untersuchung in der Strafsache gegen Honecker und andere, 26.8.1992, S. 23. 22 Honecker (wie Anm. 11), S. 7 f.: „Wir hatten Glück, daß die Novemberrevolution uns den Vater zurückbrachte. Er war gewillt, seinen Kindern die richtigen Lehren aus den Jahren des Völkermordes zu vermitteln. [...] Die karg bemessene Freizeit der Eltern diente der politischen Arbeit und dem Gespräch mit den Kindern.“ 23 Ebd., S. 9. Das dem Kapitel zur Illustration beigegebene Foto zeigt dementsprechend Vater und Sohn einträchtig nebeneinander in die Kamera schauend: „Spielmannszug des Roten Frontkämpferbundes in Wiebelskirchen – etwa 1929. Hinter der großen Trommel Wilhelm Honecker, neben ihm sein Sohn Erich“. Ebd., S. 22.

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Späterhin wiederum säumte kein Hitler-Gruß Honeckers Lebensweg und kein Kompromiss mit den politischen Zumutungen des NS-Regimes. Weder schwur der spätere SED-Politiker je einen Eid auf Hitler, noch musste er gar wie andere einen braunen Fleck in seiner Lebensgeschichte übertünchen, und er zog anders als viele auch seiner kommunistischen Altersgenossen nicht für Hitlers Sache in den Krieg. Stattdessen hatte er die Zeit des ,Dritten Reichesʻ buchstäblich vom ersten bis zum letzten Tag zunächst in der Illegalität des kommunistischen Widerstands und dann in den Zellen eines Zuchthauses verbracht, ohnmächtig einer Repression ausgeliefert, die den Tod zum täglichen Begleiter machte. Sein musterhafter Lebenslauf erlaubte dem Autobiographen Honecker wiederum, die Grenzen des politisch Sagbaren an einzelnen Stellen gezielt zu überschreiten und damit eine lebensgeschichtlich legitimierte Individualität zu unterstreichen, die sich so unbefangen geben konnte, weil sie sich ihrer gelebten Übereinstimmung mit den Ansprüchen der Partei gewiss war: Gleich mehrfach ließ er in seinen Memoiren prominente kommunistische Parteigänger auftauchen, deren Namen in der DDR-Historiographie bis dahin weitgehend totgeschwiegen worden waren. Unter ihnen befanden sich der 1933 vermutlich auf Stalins Befehl ermordete Max Hoelz ebenso wie der später gleichfalls als ,trotzkistischer Staatsfeindʻ verfolgte Erich Wollenberg, über den sich Honecker unter Berufung auf sein damaliges Erleben ein großmütiges Urteil zugesteht: „Wollenberg hat später trotzkistischen Gruppen angehört und sich nach 1945 gehässig am Hetzfeldzug der USA und der BRD gegen die Sowjetunion und die DDR beteiligt. Damals aber half er mir, Lenins revolutionäre Lehre und das Leben im Lande Lenins besser zu verstehen.“24 Solche biographischen Grenzüberschreitungen als Ausdruck ideologischer Liberalisierung zu interpretieren, ginge fehl: Honecker gestattete sich vor allem deshalb ein freundliches Urteil über Wollenberg, weil der ihm als Nachwuchskader in Moskau 1930/31 den Weg zum Innersten der Macht gebahnt und seine Sehnsucht nach einer Begegnung mit dem Führer des Weltproletariats gestillt hatte, an die sich Honecker auch 1980 noch so ungebrochen und dankbar erinnern mochte, als habe in der sowjetischen Hemisphäre nie eine durchgreifende Entstalinisierung stattgefunden: „In der Nähe Stalins weilte ich während meines Aufenthaltes in Moskau zweimal. Auf dem IX. Kongreß des Leninschen Kommunistischen Jugendverbandes der Sowjetunion [...] im Moskauer Bolschoitheater saß ich vier Reihen hinter ihm im Präsidium, und ich sah ihn anläßlich einer Sitzung des Obersten Sowjets im Großen Saal des Kreml. Erich Wollenberg hatte mich hingebracht. Auf den Stufen zum Großen Saal des Kreml kam uns der legendäre Reitergeneral Budjonny

24 Ebd., S. 39.

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entgegen [...]. Wollenberg, der Budjonny persönlich kannte, stellte mich vor. Noch heute bin ich Wollenberg dafür dankbar, obwohl er sich, wie gesagt, später auf die Seite des Gegners schlug.“25

B IOGRAPHISCHE Z EITLOSIGKEIT Das entscheidende Moment der Versöhnung von Lebensgeschichte und Parteiideal in der kommunistischen Berufsbiographik aber bildete die erzählerische Entzeitlichung des eigenen Lebens, wie sie Honeckers Umgang mit seiner eigenen Lebensgeschichte in geradezu idealtypischer Weise bestimmt. Im September 1990 um eine knappe Selbstcharakterisierung gebeten, erteilte er dem ihn untersuchenden Gefängnisarzt die lakonische Auskunft: „Ich war Kommunist, bin Kommunist und werde Kommunist bleiben.“26 Nicht anders hatte er schon in seinen Memoiren 1990 dem Reifungsideal des bürgerlichen Entwicklungsromans eine Absage erteilt und ihm das Credo einer Lebensgeschichte entgegengestellt, die so wenig wie die Partei Umbrüche und Irrwege kannte: „Ich kann mich an keinen Augenblick in meinem Leben erinnern, da ich an unserer Sache gezweifelt hätte – weder in der Kindheit noch in der Jugendzeit, den Jahren der politischen Arbeit im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) und des Eintritts in die Kommunistische Partei Deutschlands, weder im antifaschistischen Widerstandskampf 1933 bis 1935 noch im faschistischen Zuchthaus 1937 bis 1945, weder in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, dem Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), im Dezember 1935 noch vor dem ,Volksgerichtshofʻ im Juni 1937, weder in der Kaserne der ,Leibstandarte Adolf Hitlerʻ der faschistischen ,Schutzstaffelʻ (SS) Ende 1935 noch im Angesicht des Henkers, der während der anderthalb Jahre Untersuchungshaft mein ständiger Begleiter war.“27

Während parteiverbundene DDR-Autoren wie Franz Dahlem oder Max Seydewitz und auch Jürgen Kuczynski ihre Jugend als Schritt für Schritt erfolgendes Hineinwachsen in die kommunistische Bewegung erzählten, präsentierte Hone-

25 Ebd., S. 41. 26 Archiv der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin, 2 Js 26/90, Bd. 7, K.-J. Neumärker/ J. Morgner/ G. Schott, Nervenfachärztliches Gutachten Erich Honecker, 2.9.1990, S. 43. 27 Honecker (wie Anm. 11), S. 9: „Soll man es begrüßen oder beklagen, daß sich die Geburt eines Menschen seiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung entzieht?“

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cker sich in seinen eigenen Erinnerungen als puer senex, der gleich im ersten Satz seiner Memoiren darüber reflektiert, seine eigene Menschwerdung nicht schon mit den Augen des Erwachsenen wahrnehmen zu können: „Soll man es begrüßen oder beklagen, daß sich die Geburt eines Menschen seiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung entzieht?“ Entsprechend will schon der Sechsjährige zu den politischen Versammlungen des Vaters mit Genossen in die Stube geschlichen und vom Geist der Revolution ergriffen worden sein: „Doch die Stimmung solcher Zusammenkünfte, das hartnäckige Ringen um Klarheit, das gegenseitige Vertrauen der Versammelten, ihr Wille zur revolutionären Veränderung des Lebens und auch die Namen der großen Revolutionäre, deren Wort aus dem Mund meines Vaters kam, faszinierten mich und hinterließen einen unvergeßlichen Eindruck. (-) In jenen Jahren hörte ich auch zum erstenmal den Namen Wladimir Iljitsch Lenin.“ 28

Die Figur des puer senex, der rückschauend schon als gerade Sechsjähriger Bekanntschaft mit den Ahnen der kommunistischen Bewegung geschlossen haben wollte, verkehrte sich im weiteren Verlauf von Honeckers Parteikarriere in das Bild des jungen Alten, der von der Tribüne singend und klatschend den Vorbeimarsch der FDJ begleitete und sein Leben lang denselben politischen Zielhorizont behielt. Seinen mit Frieden, Obdach, Nahrung und Arbeit umrissenen politischen Forderungskatalog formulierte Honecker noch 1989 nicht anders, als er es sechzig Jahre zuvor getan hatte29, wie schon den nur wenige Jahre jüngeren Hermann Axen befremdete: „Erich hat noch im Alter die Ideale aus den dreißiger Jahren gehabt: Der hat zum Beispiel einmal jungen Leuten erzählt: ‚Hättet ihr 1945 gedacht, daß wir heute solche Wohnungen bewohnen können?‘ Bloß haben diese Leute damals noch nicht gelebt. Für Erich war

28 Ebd., S. 6. 29 Reinhold Andert/Wolfgang Herzberg, Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör, Berlin/Weimar 1990, S. 418 u. 424: „Hatten nicht bei uns alle zu essen und zu trinken? Ja! Hatten nicht bei uns alle die Möglichkeit, sich sowohl für den Sommer, den Herbst, den Winter und das Frühjahr zu kleiden? Ja! Gab es in der DDR Obdachlose? Nein“. Noch den Verweis auf die „permanente Mangelsituation im Konsumsektor“ parierte Honecker ungerührt mit der Überzeugung, „daß zum Beispiel auf textilem Gebiet die Modefrage eine entscheidende Rolle bei der Profitmaximierung in der kapitalistischen Welt spielt [...]. Bei uns konnten alle satt werden.“

188 | M ARTIN SABROW wichtig, ein Dach überm Kopf zu haben, genug zu essen, warme Kleidung, genug Geld für eine Eintrittskarte fürs Kino am Wochenende und ein Kondom.“30

Bis zum Ende begleitete Honecker in zeitloser Weise auch die Teilung der Welt in zwei Lager und ein über alle Systembrüche hinwegreichendes Freund-FeindDenken, in dem Honecker wie selbstverständlich seine Verhaftung durch die Generalstaatsanwaltschaft der DDR im Dezember 1989 mit seiner Verhaftung durch die Gestapo im Dezember 1935 identifizierte: „So wie ich am 4. Dezember 1935 von der Gestapo in der Klosterstraße in die Mitte genommen wurde im Auto, so ging auch diese Fahrt von der Charité bis nach Rummelsburg.“ 31

N ARRATIVE E INPASSUNG Erst an letzter Stelle dieser biographischen Formungskräfte rangiert – anders als in den Autobiographien anderer prominenter Parteiveteranen 32 – der unverstellte Eingriff in die lebensgeschichtliche Faktizität durch gezielte Retusche missliebiger Aspekte. Aber auch hier hieß in Honeckers Memoiren niemals plumpe Lüge oder auch nur stillschweigende Auslassung das Rezept. Stattdessen griff der Ich-Erzähler zu verschiedenen Verfahren der narrativen Einpassung. So behauptete Honecker in seinen Memoiren, dass mit ihm auch alle seine Geschwister stets an der roten Fahne festgehalten hätten: „Ihr ist keiner untreu geworden“33. Sein jüngster Bruder aber war nach dem Anschluss der Saar ans Reich Gefolgschaftsführer in der Hitlerjugend geworden und später zur Kriegsmarine gegangen, um sich dann in englischer Kriegsgefangenschaft in Ägypten eine Infektion zuzuziehen, an der er nach der Entlassung in die Heimat 1947 starb. Honecker bewältigte den offenbaren Widerspruch durch eine aufschlussreiche Kontextverschiebung, die den fehlgehenden Bruder zum bloßen Opfer der Verhältnisse machte: „Man wollte ihn [...] zu einem ‚kleinen Führer‘ machen. Das gelang nicht ganz, denn als mein Bruder Robert in den Gewässern Griechenlands in englische Gefangenschaft geriet,

30 Interviewäußerung Hermann Axen, 17.12.1991, in: Margarita Mathiopoulos, Rendezvous mit der DDR. Politische Mythen und ihre Aufklärung, Düsseldorf/Wien 1994, S. 56. 31 Andert/Herzberg (wie Anm. 29), S. 44. 32 Vgl. etwa zu Franz Dahlem: Ulrich Pfeil (wie Anm. 5); Sabrow (wie Anm. 1). 33 Honecker (wie Anm. 11), S. 7.

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zog er sich in den heißen Tagen und kühlen Nächten im Sande Ägyptens eine unheilbare Krankheit zu, an der er nach der Rückkehr [...] in Wiebelskirchen starb.“34

Honeckers narratives Mittel zur Versöhnung von Faktizität und Fiktionalität lag hier in der kausalen Verbindung von sachlich unzusammenhängenden Geschehnissen – denn natürlich verurteilte Roberts Tod 1947 nicht das nationalsozialistische Werben um ihn in den dreißiger Jahren zum Scheitern. Ein anderes Beispiel bietet Honeckers später nie mehr erwähnte erste Eheschließung. Ende 1946 heiratete er eine Gefängniswärterin namens Charlotte Schanuel, die er 1944 als zu Aufräumarbeiten nach Berlin kommandierter Häftling in dem Frauengefängnis kennengelernt hatte, in dem er zu dieser Zeit einsaß. Seine spätere Ehefrau war als Justizvollzugsbeamtin Teil des nationalsozialistischen Repressionsapparates und hatte im Rahmen ihres Dienstes auch die Delinquentinnen auf ihrem letzten Weg zum Schafott in Berlin-Plötzensee zu beaufsichtigen. Zwei Jahre lang und noch als Gründungsvorsitzender der FDJ lebte Honecker mit seiner Frau in der Parallelwelt eines in der NS-Zeit entstandenen Gefängniswärtermilieus, bis der frühe Tod seiner Frau im Juni 1947 die damit verbundene Trennung von politischem Anspruch und privater Lebensführung aufhob. Diesen biographisch schwierigen Umstand bewältigte Honecker als Ich-Erzähler vor wie nach 1989 durch die Aufspaltung von Charlotte Schanuel in unterschiedliche Figuren, die in seinem Lebensbericht zum einen als dienstverpflichtete Aufseherin im Frauengefängnis, zum anderen als private Bekannte auftauchen. Deren gemeinsame Identität deutete der Autor ganz unfreiwillig nur dadurch an, dass er ihnen jeweils – und sachlich ganz unzutreffend – ein und denselben Persilschein anheftete: die Zwangsverpflichtung zu ihrer anstößigen Tätigkeit im Strafvollzug des ‚Dritten Reichesʻ und ihre angebliche einstige Mitgliedschaft im kommunistischen Arbeitersportverein Fichte. 35

34 SAPMO-BArch, NY 4167, 651, Erich Honecker, [Aus meinem Leben], Ms., 17.12.1979. 35 In Honeckers Memoiren lesen sich die verschiedentlichen Bezugnahmen auf Charlotte Schanuel vor und während seiner gemeinsam mit einem Haftkameraden namens Erich Hanke gewagten Flucht aus dem Gefängnis im März 1945 so: „Dabei lernte ich im Frauengefängnis Barnimstraße zufällig eine Aufseherin kennen, die dorthin dienstverpflichtet worden war. Wie sich herausstellte, war sie Mitglied des Arbeiterturn- und Sportvereins ‚Fichte‘ gewesen, dem auch ich viele Jahre angehört hatte“ –„ Wie ich später erfuhr, hatte Erich Hanke Glück; mir selber war es nicht so hold, obwohl ich zeitweilig bei Oma Grund in der Landsberger Straße 37 Zuflucht fand – in der Luftlinie 100 Meter vom Frauengefängnis Barnimstraße entfernt. Ihre Tochter war dienst-

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Glättende Rücksichtnahme offenbart Honeckers Ich-Erzählung schließlich auch in ihrem Umgang mit biographischen Auslassungen von Weggefährten und Zeitzeugen. Erkennbar bemühte er sich, seine Lebensgeschichte so vorzutragen, dass sie sich nicht in Widerspruch zu anderen bereits publizierten Lebenszeugnissen setzte. Namentlich in Bezug auf die verwirrenden und angezweifelten Umstände seines gescheiterten Gefängnisausbruchs im April 1945 und seiner späteren Befreiung aus dem Zuchthaus Brandenburg suchte er die Glaubwürdigkeit der eigenen Darstellung prononciert dadurch zu unterstreichen, dass er Erinnerungen anderer Autobiographen ausdrücklich zitierte oder stillschweigend paraphrasierte. Nur in Ausnahmefällen lässt sich aus Honeckers biographischen Äußerungen nach dem Sturz ermitteln, dass er zuvor als Autobiograph gezielt unbequeme Erlebnisse unterdrückt hatte, die ihm sehr wohl noch präsent waren. So verhielt es sich etwa mit einer terroristischen Aktion im Saargebiet, an der sich Honecker in der Zeit der Abstimmung über die Rückkehr der Saar in das Deutsche Reich im Januar 1935 beteiligt hatte. In seinen Memoiren schwieg er sich über diese Episode aus, und auch nach 1989 mochte er die tatsächlichen Zusammenhänge nur verschwommen andeuten: „Im Zusammenhang mit diesen ganzen Ereignissen erhielt ich also noch einen Auftrag von Herbert Wehner, in das Gebiet von Neunkirchen zu fahren. Ich habe mich dann dort auch aufgehalten, es fand [...] noch eine große Manifestation dort statt, in Neunkirchen am Stumm-Denkmal im Zentrum. Der Plan war der gewesen, so gegen 12 Uhr eine Hakenkreuzfahne zu verbrennen und eine Rede zu halten. [...] Ich hab das Zeug entgegengenommen und habe dort kurz gesprochen unter dem Schutz der Roten Jungfront und des Jugendverbandes vor etwa 300 Genossinnen und Genossen, die mit Pistolen bewaffnet waren. Es kam dann zu einem Beritt der Landjäger, das war die damals aufgestellte Poli-

verpflichtet worden.“ – „Als ich schließlich am 4. Mai 1945 über Pankow und Weißensee in das Stadtzentrum von Berlin kam, sah ich überall die furchtbaren Zerstörungen. [...] Meine Bekannten in der Landsberger Straße 37 traf ich zu meiner Freude unversehrt an“. Honecker (wie Anm. 11), S. 102 u. 111 f. Dass es sich bei der Aufseherin, der Tochter einer Oma Grund und seiner Bekannten um dieselbe Person handelte, bestätigte Honecker 1990 mündlich, ohne allerdings zu erwähnen, dass sie später auch seine Ehefrau wurde: „Mein erster Weg war selbstverständlich zur Familie Grund, zur alten Oma und ihrer Tochter, die auf der Grundlage der Dienstverpflichtung im Frauengefängnis Barnimstraße damals ihren Dienst absolvierte.“ Reinhold Andert, Interview mit Honecker, transkribierte Tonbandaufzeichnung, Januar 1990 (im Besitz des Vf.).

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zei an der Saar. Und als sie die erhobenen Pistolen sahen, haben sie kehrt gemacht und sind abgegangen.“36

In Wahrheit handelte es sich um ein veritables Sprengstoffattentat auf ein Versammlungslokal der Rechten in Neunkirchen, das durch die Weltpresse ging. „Kommunistische Terrorversuche in Neunkirchen“ meldete die Saarbrücker Zeitung; „Ein mißglückter Bombenanschlag“ titelte die Presse im Reich und berichtete ausführlich darüber, „daß am Sonntagabend von Kommunisten eine Bombe in ein Verkehrslokal der Deutschen Front in Neunkirchen geworfen wurde“37. Honeckers Rendezvous mit dem Terror blieb Episode, und das Gewaltfanal verhallte, das als Teil einer Anschlagserie die Lage im Saargebiet so destabilisieren sollte, dass der Völkerbundsrat womöglich die Abstimmung für ungültig erklären und damit den Status quo der Saar erhalten würde. Politisch war der Vorgang unbedeutend, für die Biographieanalyse hat er Gewicht: Er gibt den Blick frei auf eine der wenigen gezielten Reinigungen der persönlichen Erinnerung zu politischen Zwecken in der Ich-Erzählung des kommunistischen Nachwuchspolitikers Erich Honecker.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Welche weiterführenden Erkenntnisse lassen sich aus diesem Befund ziehen? Honeckers Kontinuitätsbiographie operierte mit den Kunstgriffen der Auslassung, der Dekontextualisierung und der Umwertung, aber sie log nicht gezielt. Sie suchte eine Brücke zwischen persönlicher Glaubwürdigkeit und politischer Opportunität zu schlagen, auf der der Autor Halt an einem fürsorglichen Parteiapparat fand, der widersprechende Lesarten nach Kräften zu unterdrücken versuchte, dem Ich-Erzähler aber zugleich eigene narrative Vorgaben aufherrschte. Honeckers Memoiren entwickelten sich in einem Parallelogramm der Kräfte, in das neben den eigenen auch die bereits publizierten Erinnerungen von Zeitgenossen ebenso einflossen wie die biographischen Legitimationsansprüche des SED-Apparats und dessen Leitnorm, die in der Verbindung von Wahrhaftigkeit und Widerspruchsfreiheit bestand. Auch im historischen Herrschaftsdiskurs der DDR ging es nur ausnahmsweise um die nackte und unverstellte Unterdrückung individuellen Erlebens zuguns-

36 Ebd. 37 Ein mißglückter Bombenanschlag, in: Teltower Kreisanzeiger, 14.1.1935; Bombenanschlag in Neunkirchen, in: Berliner Volkszeitung, 14.1.1935.

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ten eines oktroyierten Parteigedächtnisses, sondern immer auch um die Utopie einer erreichbaren Übereinstimmung von kommunikativer und kultureller Erinnerung. Ostdeutsche Memoiren verwandelten sich unter dem äußeren Druck des institutionalisierten Parteigedächtnisses und der inneren Lenkung durch ihre Erzählkonventionen in eine weitgehend entsubjektivierte Erinnerung zweiter Ordnung, die dennoch auch unter dem Druck der empörendsten Gängelung nicht in der binären Logik von Wahrheit und Lüge aufging. Die Autobiographik kommunistischer Parteifunktionäre der DDR erzählt auf diese Weise vielleicht nur wenig Verlässliches über den politischen Lebensweg ihrer jeweiligen Verfasser, aber jedenfalls sehr viel über die Funktionsweise eines Herrschaftssystems, das sich nicht nur auf Gewalt stützte, sondern ebenso auf das Bindung erzeugende Zusammenspiel von gedanklicher Geschlossenheit und erfahrener Glaubwürdigkeit.

„Die Stasi war mein Eckermann.“ 1 Die verborgene Identitätskonstruktion der Chemiker in der DDR in den geheimen Autobiographien der DDR-Geheimpolizei der 1950er und 1960er Jahre G EORG W AGNER -K YORA

Selbst die geheim gehaltene Identität von elitären Führungsgruppen im Nachkriegsdeutschland kann durch Selbstbeschreibungen kenntlich gemacht werden. Voraussetzung ist allerdings eine erhöhte methodische und konzeptionelle Anstrengung, das Verborgene tatsächlich aufzuspüren und kontrolliert analysieren zu können. Diese autobiographische Analyse einer literaturwissenschaftlich informierten historischen Hermeneutik funktioniert nur durch ein erweitertes geschichtswissenschaftliches Quellenverständnis, welches nach einer Forschungskritik im Folgenden vorgestellt werden soll. Auch in der kulturwissenschaftlich ausgerichteten traditionellen deutschen Sozialgeschichte überbrückt der autobiographische Ansatz die starre Fixierung auf materielle Klassenlagen und erlaubt die Analyse von Sinndeutungen. Diese können als Mentalitäten von gesellschaftlichen Gruppen und damit als berufsgruppenspezifische Identitätskonstruktionen in ihrer spezifischen Historizität eingefasst werden. Erst eine solche autobiographische Textanalyse eröffnet die Möglichkeit einer kohärenten Beschreibung so-

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Sven Michaelsen, „Mein Leben ist ein Schelmenroman“. Kurz vor seinem 80. Geburtstag spricht Wolf Biermann über die Kriegsnacht, die er als Sechsjähriger überlebte, Vorteile einer dicken Stasi-Akte und das Glück der späten Vaterschaft, in: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 40 v. 7.10.2016, Titel, S. 10-21, hier S. 17, 3. Spalte.

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zial bedingter und kollektiv kommunizierter Selbst- und Fremdbilder. Sie wiederum erklären Gesellschaftlichkeit als einen kommunikativen Prozess, der durch sichtbare Statuslagerungen ausgezeichnet ist. Hierbei nimmt die individuelle Konfrontation mit der eigenen Täterschaft im Nationalsozialismus ein besonders wichtiges Untersuchungsfeld für die Geschichtsschreibung der deutschen Nachkriegsgesellschaften ein. Waren NaziTäter auch in der Bundesrepublik und der DDR noch ihrer früheren nationalsozialistischen Anschauung treu geblieben und in welcher Weise zeigte sich das in ihrem beruflichen und privaten Alltag? Konvertierten Nationalsozialisten aus ihrem nationalsozialistischen Selbst in ein demokratisches oder in ein sozialistisches Selbst und wenn ja, unter welchen Bedingungen vollzog sich dieser Veränderungs- und Angleichungsprozess? Aufgrund nachhaltig erfolgreich gebliebener persönlicher Verschweigens- und Verschleierungsstrategien in der Erlebnisgeneration der NS-Täter ist dieses Themenfeld bislang weitgehend unentdeckt geblieben. Historiker haben wenig Licht ins Dunkle gebracht, nicht zuletzt deshalb, weil Autobiographien fehlen. Und gerade die prominenten Gründungsväter der westdeutschen Sozialgeschichte waren ideologisch allesamt nationalkonservativ gefestigte Mittäter des Nationalsozialismus gewesen, so dass ihre unkritischen Schüler institutionell Investigation verhinderten, um kein entsprechendes Forschungsfeld entstehen zu lassen.2 Aber in der DDR gab es unter den Bedingungen eines totalitär ausgerichteten Staatswesens die ,Chanceʻ, diese bildungs-

2

Dies zeigte sich in besonders öffentlichkeitswirksamer Form lediglich im Streitfall um die NS-Historiker Theodor Schieder, Hans Rothfels und Werner Conze, welche von einer breiten Front etablierter Historiker gegen ihre generationsjüngeren Kritiker vehement in Schutz genommen und damit auch entgegen der Faktenlage ihrer exzessiven Verschwisterung mit den ideologischen Prämissen und Ausrottungsplanungen des NS-Regimes während des Zweiten Weltkrieges rehabilitiert worden sind. Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2002; Ders./Michael Fahlbusch, Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn 2010. Diese Publikationen sind im Kontext einer manifesten Historiker-Kontroverse anzusiedeln. Vgl. nur ausschnittweise Heinrich August Winkler, Hans Rothfels. Ein Lobredner Hitlers? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49, 2001, S. 643-652; Ingo Haar; Quellenkritik oder Kritik der Quellen? Replik auf Heinrich August Winkler, in: ebd., 50, 2002, S. 497-505; Heinrich August Winkler, Geschichtswissenschaft oder Geschichtsfälschung? Ingo Haar und Hans Rothfels: Eine Erwiderung in: ebd., 50, 2002, S. 635-652.

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bürgerliche Distanz als investigatives Forschungsobjekt der Geheimpolizei festzulegen, sobald die Vermutung akuter Devianz Einzelner eine politische Dimension erreichte. Dies war bei den Chemikern der DDR durchgängig der Fall. Sie galten als potenziell oppositionelle Elitenangehörige, deren Umerziehung von Bürgerlichen zu Sozialisten, zumindest aber deren Loyalität durch permanente Überwachung zu gewährleisten sei. Erst im Generationenwechsel der 1960er Jahre erhoffte sich die Staatsmacht eine unmittelbare Angleichung an den von der DDR kreierten neuen sozialistischen Manager-Habitus. In gegenseitigem Misstrauen verhaftet blieb die permanente Beobachtung und Aushorchung allerdings eine allgemein verbreitete Alltagsrealität. Sie konstituierte Sinndeutungen, die ihrerseits auf die Beschatteten zurückwirkten. Und diese Verhörprotokolle sind als Quellen „Inoffizieller Mitarbeiter“ des Staatssicherheitsdienstes der DDR der Forschung zugänglich.3

1. AUTOBIOGRAPHISCHE G ESCHICHTSWISSENSCHAFT UND DAS L EBEN W OLF B IERMANNS Der Stellenwert der Autobiographieforschung innerhalb der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft ist trotz einer starken lebensphilosophischen Traditionslinie, die von Wilhelm Dilthey als Hermeneutik fundiert wurde, nicht geklärt. Dies hat mit einer konstitutiven fachwissenschaftlichen Theorieabstinenz zu tun, welche immer wieder auf einen ziemlich banalen Historismus in der Politikgeschichte zurückgreift. So hat die Geschichtswissenschaft die Herausforderung eines textbasierten ,linguistic turnʻ bislang nicht angenommen und demzufolge hinkt sie ein halbes Jahrhundert den hermeneutisch besser informierten Nachbarwissenschaften, insbesondere der Literaturwissenschaft, hinterher. Zu dessen Innovationen zählt ein ausgeweitetes Quellenverständnis, insbesondere der ,EgoDokumenteʻ. Literaturwissenschaftlich betrachtet handelt es sich dabei nicht um bloße Informationsträger zeitgenössischen Geschehens, sondern um ,Schriftʻ im Sinne eines gesellschaftlich zustande gekommenen Verarbeitungsprozesses diverser Sinnzusammenhänge. Sowohl der Verfasser selbst als auch seine Adressaten, die Bedingungen der Textproduktion und die Interpretation seines Inhalts spielen hierbei eine gleichwertige Bedeutung zur Entschlüsselung vergangener

3

Mit dem Sturm auf die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße im Januar 1990 begann die umfassende Sicherung der nachgelassenen Stasi-Dokumente. Hierbei trat Wolf Biermann mit aufwärts gereckter Klobürste in der Hand als Ikone der Aufklärung wirkmächtig in Erscheinung.

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Sinndeutungen als Gegenstand der historischen Analyse. Damit wird der Rahmen ausgeweitet von einer punktuellen Situationsbeschreibung zum panoramatischen Blick auf das gesamte Umfeld der analysierten Persönlichkeit. Es konstituiert ihre Gesellschaftlichkeit historisch. Erst dadurch liefert die Autobiographie Anknüpfungspunkte für eine umfassende Sinndeutung ihrer Persönlichkeit im Rahmen einer kontrollierten Kontextualisierung. Entschiedene Kritik an der methodischen Begrenzung der Geschichtswissenschaft in der Autobiographieforschung wurde bereits zur Jahrtausendwende in der Historischen Zeitschrift formuliert.4 Mehr als eine eng verstandene Abbild-Hermeneutik habe sie gar nicht aufzubieten, wenn sie sich auf das Feld der autobiographischen Rekonstruktion von Gesellschaftlichkeit begäbe. Es ermangele sowohl eines grundlegenden Theorieverständnisses als auch überhaupt einer wissenschaftlichen Quellenkompetenz. Zuvor hatte Martina WagnerEgelhaaf ihre konzeptionelle Übersicht auf die Potenziale einer textkritischen Autobiographieforschung vorgelegt, welche die linguistische Wende bereits umfassend als die historische Ausweitung literaturwissenschaftlicher Methodik für Textgattungen der Moderne rezipierte.5 Hinter der Grenzlinie von Interdisziplinarität gelegen blieb dies bislang aber folgenlos für die Geschichtswissenschaft. Dagmar Günthers Fundamentalkritik aus der Feder der Historikerin moniert zudem die Verengung des Fragehorizontes auf die soziale Klasse der Bildungsbürgerlichen als prominentem Quellenerzeuger. 6 Weder vormals Adlige, noch Geistliche, noch die Arbeiter, auch nicht die Vertriebenen und Flüchtlinge oder andere unterscheidbare gesellschaftliche Statusgruppen in diversen Klassenlagen kämen im historiographischen Konzept der Gesellschaftsgeschichte als historische Subjekte vor – sie hätten keine Stimme, weil sie vorgeblich selber zu wenige Tagebücher geschrieben hätten. Somit kumulierten frappierende Defizite: Eine bloße Abbild-Hermeneutik verleite dazu, eine 1:1-Realität als chronikalisches Protokoll von Lebensläufen zu schreiben und damit die selbstreferenzielle Perspektive des schreibenden Bildungsbürgertums gar nicht mehr zu ver-

4

Dagmar Günther, „And Now for Something Completely Different“. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 272, 2001, S. 25-61.

5

Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 161-201; zur Quellenlage S. 26-32.

6

Vgl. Günther (wie Anm. 4), S. 30: „Doch warum gilt die Gattung als bürgerlich, speziell bildungsbürgerlich? Weil die meisten Lebenserinnerungen aus der Feder von Professoren, höheren Verwaltungsbeamten, Pastoren, Ärzten, Rechtsanwälten stammen?“

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lassen. ,Wahrheitʻ ergäbe sich damit allein aus dem, was als bedeutungsvoll von den Memoirenschreibern identifiziert worden sei und zwar entlang ihrer eigenen Bewertungsmaßstäbe, nicht als Ergebnis einer kontrollierten Textanalyse, welche eine kontextualisierte Darstellung dieser Sinndeutungen erst ermögliche. Eine darauf aufbauende Mentalitätsanalyse als einer textkritisch analysierten Sinndeutung der Identitätskonstruktion der wort- als schriftführenden Person sei auf diesem Wege nicht erbracht worden, ja nicht einmal in Ansätzen angestrebt gewesen.7 Letztlich erfolge damit ein erkenntnistheoretischer Zirkelschluss auf eng gefasster Quellengrundlage, welcher nicht einmal den von Dilthey für die historische Autobiographieforschung gesetzten hermeneutischen Standards entspräche.8 Günthers Befund gipfelt in der These, dass die zeitgenössische Geschichtswissenschaft bei einem abbildhaften Vorverständnis von Autobiographie als vermeintlichem Lieferanten von „Faktalität“ stehengeblieben sei und deshalb Kontextualisierung nicht zulasse.9 Demgegenüber sei aber jener der Autobiographie eigentümliche selbstreferenzielle Schreibgestus als „Text“ im Sinne des „linguistic turn“ aufzufassen, welcher als eine valide „Quelle für Prozesse der Subjektkonstitution“ zu analysieren sei.10 Sie plädiert infolgedessen für eine typologische Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes ,Selbstberichtʻ. Autobiographien müssten nunmehr als eigenständige „kommunikative Wirklichkeit“ verstanden und methodologisch dementsprechend als eine Textgattung sui generis konzeptualisiert werden können.11 Eigenständige theoretische Überlegungen entlang einer umfangreicheren Erforschung von Stasi-Autobiographien haben den Verfasser zu einer Entlehnung des Habitus-Begriffs aus der Nachbarwissenschaft der Soziologie geführt und damit ebenfalls noch keinen explizit ausformulierten Brückenschlag zum literaturwissenschaftlichen Textgebrauch ermöglicht. Habitus im Sinne Bourdieus als einen Sammelbegriff für Statuserwartungen und ihrer Praxis zu verstehen, ermöglicht es, den Prozess der mentalen Identitätskonstruktion an alltäglicher Statusrepräsentation zu ermessen, sowohl an berufsspezifischen Wertvorstellungen

7

Ebd., S. 38-48.

8

Ebd., S. 26f., 36. Umfassend dazu auch Wagner-Egelhaaf (wie Anm. 5), S. 19-26.

9

Günther (wie Anm. 4), S. 32.

10 Ebd., S. 35. 11 Ebd., dazu auch S. 31.

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als auch an den aus diesen resultierenden Konsumchancen.12 Dieser erweiterte Habitusbegriff eröffnet die sozialkonstruktivistische Option einer Neubeschreibung des Alltagslebens der Probanden unter den Prämissen ihres eigenständig erschaffenen Wert- und Handlungshorizontes. Er kann (auto-) biographisch erfasst werden, sofern entsprechende Ego-Dokumente vorliegen. Allerdings zeigt dieses Verfahren Grenzen auf, wenn die konkrete Beschreibung der Intentionalität jener Optionen ansteht, also die Entscheidungsoptionen in Hinblick auf Statusfragen und mikropolitische Gesellschaftspolitik beurteilt werden sollen. Sofern diese nicht unter dem Oberbegriff der Bürgerlichkeit eingefasst werden können, dem Leitthema Pierre Bourdieus, müssen weitere klassenspezifische Statuslagerungen (neu) erschlossen werden. Hier nun kann die Ausweitung des autobiographischen Untersuchungsfeldes für die deutsche Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in zweifacher Richtung weiterhelfen: durch die Vermehrung des Quellenbestandes jener ,Selbstberichteʻ durch neue Arten von Ego-Dokumenten und durch die Neubewertung von Intentionalität als einer nicht bloß bürgerlich verstandenen Identitätskonstruktion, die nicht allein sozialkonstruktivistisch, sondern auch textspezifisch analysiert werden kann. Damit können neue Beschreibungsformen in die historische Autobiographieforschung eingeführt werden. Müssen die engen Grenzen einer durch unausgesprochene Vorannahmen ideologisch und normativ vollständig überfrachteten und letztlich stark in ihrer Aussagekraft eingegrenzten Bürgertumsforschung überwunden werden, nicht zuletzt deshalb, weil in den vergangenen Jahrzehnten das Untersuchungsfeld der Gesellschaftsgeschichte klassenspezifisch zum großen Nachteil sozialer Universalität einseitig bürgerlich überformt worden ist, dann werden konzeptionelle Alternativen im Sinne des ,linguistic turnʻ unausweichlich. Denn dann müssen die klassischen Ego-Dokumente der Lebenserinnerungen als Kern der Autobiographieforschung erweitert werden um jedweden vorhandenen Quellentyp, welcher die Lebensbeschreibung Einzelner vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Klassen- und Statuslage ermöglicht. Damit könnte der enge Fokus auf selbstreferenzielle Wahrnehmungen von Klassen- und Mentalitätslagen überwunden werden, welche in den klassischen Selbstberichten etwa der bürgerlichen Tagebuchschreiber notwendig eintreten. Vor dem Hintergrund des Quellenkorpusʼ der DDR-Geheimpolizei über die deutsche Bevölkerung soll nachfolgend ein Psychogramm von historischer Ge-

12 Vgl. Georg Wagner-Kyora, Vom „nationalen“ zum „sozialistischen“ Selbst. Zur Erfahrungsgeschichte der deutschen Chemiker und Ingenieure im 20. Jahrhundert (Studien zur Unternehmensgeschichte Bd. 28), Stuttgart 2009, hier S. 38-56.

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sellschaftlichkeit im Spagat zwischen Verantwortungsethik und verneinter Auschwitz-Erinnerung auf der Basis individueller Devianz gegenüber Staat und Geschichte konstruiert werden. Nicht lediglich zur Illustration, sondern als fallanalytische Rahmensetzung dieses Aufsatzes ist einleitend anzumerken, dass der Dichter und Liedermacher, Georg Büchner-Preisträger Wolf Biermann, über eine Stasi-Akte von 50.000 Seiten Umfang verfügt, welche insgesamt 200 Spitzel zusammengetragen und beschrieben haben, um seine DDR-Biographie in den 27 Jahren zwischen 1952 und 1979 als das Leben des Geheimnisvollen zu kommentieren!13 Entstanden ist damit ein monumentales Quellenwerk, dessen heuristischer Ort für die Geschichtswissenschaft in einer noch zu schreibenden Selbst-Biographie des prominentesten DDR-Dissidenten anzusiedeln ist. Denn diese Akten sind nur ansatzweise mit dem Inhalt seiner gerade erschienenen Memoiren14 abgeglichen worden. Erst wenn hier umfassend eine textkritische Kohärenz hergestellt würde, gelänge es, eine Gesellschaftsgeschichte der DDR aus der Individualgeschichte von Wolf Biermann heraus zu schreiben. Dabei träten dann sowohl der Beschriebene als Selbst-Biograph in seiner Autobiographie als auch die zeitgenössisch Beschreibenden, jene Unzahl von Stasi-Spitzeln, als Autoren einer umfassend kontextualisierten Biermann-Biographie und ihrer Sinndeutungen hervor. Dieses Vorgehen verspricht erheblichen erkenntniskritischen Ertrag, zumal Biermann selber diese ergänzende Quellengattung als heuristisch besonders ergiebig einschätzt: „Das ist natürlich ein gewaltiges Privileg, denn diese Akten sind deutsche Wertarbeit. Es gibt mal einen Zahlendreher oder einen falsch geschriebenen Namen, aber ansonsten sind die Akten absolut zuverlässig. Die Stasi war mein Eckermann.“

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Biermann als Historiker seiner selbst führt den historisch-hermeneutischen Abgleich eigener Erinnerungen, der mit dem Quellenbestand der Stasi ebenfalls möglich ist, zudem anhand der Recherche in den eigenen TagebuchErinnerungen – Biermann verfügt über 200 bislang nicht umfassend ausgewertete Tagebücher – als ein kontrolliertes Wahrheitsfindungsverfahren selber vor: Denn diese Tagebücher wurden seitens seiner Ehefrau fallweise eingesetzt, um strittige Erinnerungen zu klären.

13 Michaelsen (wie Anm. 1), S. 17. 14 Wolfgang Biermann, Warte nicht auf bessre Zeiten!, Berlin 2016. 15 Michaelsen (wie Anm. 1), S. 17.

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An dieser Stelle nun setzen eigenständige Überlegungen ein: Diese Aufgabe einer umfassenden Kontextualisierung sollte künftig insgesamt der StasiÜberlieferung zukommen können, nämlich potenziell in all jenen Fällen, in denen sowohl Tagebücher als auch Prominenz fehlen und zudem in jenen Fällen, in denen die negative Prominenz zur Verhinderung von Schriftlichkeit und von Zeugenschaft geführt hat. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, diese beiden Typen von bislang nicht geschriebenen Autobiographien, jene der Unbekannten und jene der Geschichtsverschweiger, als dennoch quellenkritisch rekonstruierbare Typen von Autobiographien in die zeithistorische Forschung einzuführen. Dies geschieht nachfolgend anhand von vier biographischen Stationen, indem ich abschließend einen gegenwärtig von zentraler geschichtspolitischer Relevanz erkennbaren Fall von individuell veranlasster Geschichtsvernichtung als Kernproblem der Autobiographieforschung positioniere. Und hierbei wird der Rahmen dieses Aufsatzes wieder geschlossen. Denn jene Person, der ich mich auf dem Umweg über die Stasi-Quellen schließlich annähern kann, ist niemand anderer, bislang in der Forschung vergleichsweise Unbekannter, als derjenige, der im Januar und Februar 1943 als Organisator des Arbeitseinsatzes auf der Baustelle des Bunawerkes IV in Auschwitz mitverantwortlich dafür gewesen ist, dass Wolf Biermanns Vater, Dagobert Biermann, in seiner Eigenschaft als verfolgter Widerstandskämpfer, Kommunist und Jude, als KZ-Häftling in Auschwitz durch Zwangsarbeit auf der Baustelle des Bunawerkes I ermordet worden ist.16 Die Relevanz dieser innovativen Gesellschaftsgeschichte durch Autobiographien ergibt sich also zunächst aus der heuristischen Attraktivität der vorliegenden Quellen selbst, aber auch aus der nachhaltig wirksamen Geschichtsarbeit Prominenter. Sie führen uns in die DDR der späten 1950er und der 1960er Jahre, in die bildungsbürgerlichen Führungsschichten der beiden großen Chemiewerke Bunawerke I bei Halle und Leunawerke bei Merseburg, und dann zurück an den Ort der großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts – auf die Baustelle des Chemiewerkes Bunawerke IV nach Auschwitz, in die Jahre 1943 und 1944.

16 Vgl. ebd., S. 12f.

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2. V ERANTWORTUNGSETHIK ZWISCHEN M AUERBAU UND W ERKSTREUE : P RODUKTIONSDIREKTOR F RIEDRICH M OLL 1958-1961 Das vier Jahrzehnte lang geläufige Überwachungsmodell der autobiographischen Interview- und Berichtspraxis über deviante Individuen in der DDR seitens ,Inoffizieller Mitarbeiterʻ wurde bereits in den 1950er Jahren entwickelt. Hierbei wurden verdächtige Chemikerbiographien als Bestandteile einer antizipierten, aber unausgesprochen bleibenden Kollektivbiographie des Chemikers entindividualisiert: Indem Abweichungen vom vorgeblichen ,Idealtypʻ des guten Chemikers markiert wurden, konnten seitens der Stasi-Spitzel überaus aussagekräftige Identitätskonstruktionen des richtigen Handelns beschrieben werden, also gewissermaßen die konstitutiven mentalen Bestandteile eines Moralkatalogs des Chemikers in der DDR. Diese basierten auf den alltäglichen Selbstbeschreibungen der Chemiker selbst. Sie zeigen uns das zeitgenössisch wahrgenommene Berufsbild unter dem Offenbarungsdruck politisierter Leitfragen an. Alle diese quellenkritisch gewonnenen Ergebnisse sind bereits in meiner Habilitationsschrift publiziert17, allerdings noch nicht unter der leitenden Fragestellung nach den methodischen Grenzlinien der Hermeneutik durch Autobiographien infolge des linguistic turn konzeptionell analysiert worden. In der Hierarchie der Bunawerke I in Schkopau bei Halle ganz oben angesiedelt war der Produktionsdirektor, Friedrich Moll. Es ist deshalb eine große Besonderheit für die Frühzeit der DDR, dass er sich im Laufe des Jahres 1958 zur Kooperation mit der DDR-Geheimpolizei, dem sogenannten Staatssicherheitsdienst, entschlossen hatte. Seine Motivation für diesen ungewöhnlichen Schritt in Richtung auf die andere Seite des politischen Unterdrückungssystems lag in einer anfänglich recht verwirrend erscheinenden Mischkalkulation strategisch intendierter Abwehrreflexe diesem gegenüber. Sie sollte sich allerdings zugunsten ,seiner Leuteʻ, also der ihm unterstellten Akademikerschaft von Chemikern und Ingenieuren aus den Führungsetagen der Bunawerke auswirken. Gerade auch die jüngeren, teilweise bereits in der DDR akademisch sozialisierten Akademiker mit Chemie- und Ingenieurstudium, manchmal immer noch mit der bis in die 1950er Jahre hinein obligatorischen Promotion, verstand Moll als Teil seiner Interessengemeinschaft bildungsbürgerlicher Berufe. Moll wollte potenziell fluchtwillige Akademiker vor Nachstellungen der Geheimpolizei schützen, da diese bereits zu diesem Zeitpunkt außergewöhnliche investigative Methoden anwendete, um an Informationen zu kommen. Besonders verstörend wirkte sich

17 Wagner-Kyora (wie Anm. 12), hier S. 381-423.

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hierbei die überraschende Einbestellung Einzelner in die Stasi-Büroräume auf dem Werksgelände aus. Der Produktionsdirektor Friedrich Moll beobachtete diesen Übereifer mit großer Sorge, zumal mit Verkündung des sogenannten Chemieprogramms vom November 1958 (durch den Diktator Ulbricht in den Merseburger Leunawerken) der offene Druck auf die Chemieindustrie und ihre Führungsköpfe enorm zugenommen hatte.18 Wenn Moll sich nun selber als Geheimer Informant kommunikativ der Geheimpolizei in halb-konspirativen Sechsaugengesprächen (zunächst regelmäßig in einem Merseburger Café) öffnete, dann beabsichtigte er damit, mittels einer intensiven Gegenpropaganda ,seine Akademikerʻ abzuschirmen gegenüber dem Zugriff des Staates auf ihre labile Loyalität. Moll hatte die mentale Lagerung dieser Männer vollständig erfasst. Seine Hoffnung bestand darin, Fluchtwillige intentional zu stärken, damit deren psychische Notlage im Vorfeld ihres Fluchtplans nicht durch den unwillkommenen Außendruck seitens der Geheimpolizisten verstärkt würde und damit erst der Auslöser für den Weggang gegeben würde. Ursache dessen war in der Regel die politische Devianz der Bildungsbürgerlichen, gepaart mit aktuellen Erfahrungen sozioökonomischer Zurücksetzungen infolge der lohn- und arbeitspolitischen Bevorzugung der Arbeiterbelegschaft sowie auch die latente politische Unterdrückungserfahrung in der SED-Diktatur selbst. Wenn aber Molls Konzept der vorbeugenden Gefahrenabwehr nicht aufging, weil früher oder später alle diese Fluchtwilligen auch tatsächlich gen Westen verschwanden, dann suchten sie sich vergleichsweise schnell einen neuen Arbeitgeber bei den westdeutschen Nachfolgeunternehmen des früheren Konzerns Interessengemeinschaft (IG) Farbenindustrie in Ludwigshafen, in Hüls oder in Leverkusen und zogen damit noch weitere Fluchtwillige nach.19 Für die DDR war das einer der mitentscheidenden Gründe für den Mauerbau im August 1961, weil die Westflucht der Akademiker aus der Industrie über die S-Bahnhöfe Berlins einfach nicht zu stoppen war. Welche intentionalen Konsensangebote schweißten die Akademiker in der Chemieindustrie der DDR zusammen? Hierzu zählte in erster Linie ein spezifisches Arbeitsethos, das als eine autonome Gruppenidentität verstanden wurde:

18 Vgl. ausführlich dazu ebd., S. 70-87. 19 Vgl. Staatssicherheitsdienst, Bezirksverwaltung Halle: Treffen mit GI Moll am 30.11.1960, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Außenstelle Halle 873/63 III, S. 39, zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), hier S. 409.

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„[…] meinen Kollegen predige ich, ihr habt in der DDR eure Berechtigung nur am Arbeitsplatz, arbeitet dort, gebt eine gute Arbeit, ihr werdet anständig bezahlt und habt auch einige Vergünstigungen. Und den anderen Stellen und wenn ich mit Staatsfunktionären zusammenkomme sage ich, tut mir den einzigen Gefallen, lasst mir die mit Fragen in Ruhe, die nicht unbedingt zu ihrem Berufe gehören.“

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Dieses bürgerliche Arbeitsethos, das gezielt wertneutral avisiert war, damit die nicht vorhandene politische Loyalität gegenüber dem SED-Regime nicht offen markiert werden musste, wurde eingehegt durch ein strikt hierarchisches Ordnungsmodell korporativer Herrschaft, an deren Spitze nicht die SED, sondern die Werkleitung der Bunawerke in Gestalt des populären und charismatisch auftretenden Werkdirektors Johannes Nelles und des Produktionsdirektors Friedrich Moll stand. Dieses weithin bekannte Spitzenduo verkörperte die Statusidentität der Akademiker. Indem Moll und Nelles eine spezifische repräsentative Handlungsautonomie performativ ins Werk setzten, beeinflussten sie die Wahrnehmung ihrer Führungsgruppe propagandistisch im Sinne ihrer ,HierbleiberIdentitätʻ als einer politischen Programmatik. 21 Konkret lässt sich dieses identitätsstiftende Kräftefeld im Konfliktfall eines von der Stasi durch übermäßige Investigation bedrohten Chemikers aus der neu aufgebauten Polyäthylen-Abteilung belegen. Nachdem dessen Fluchtabsichten durch entsprechende Signale kollegenintern ruchbar geworden waren und Molls Antenne erreicht hatten, wurde er vom Werkleiter Nelles persönlich zugunsten einer abwartenden Duldung ermahnt. Anschließend maßregelte dieser die lokale Stasigruppe und holte eine Entschuldigung dort ein. Damit war der Fall aber nicht erledigt. Denn im Anschluss mobilisierte die Werkhierarchie alle weiteren Hierarchiestufen, das waren insgesamt drei, um dem Geschädigten deren jeweilige persönliche Wertschätzung zukommen zu lassen. Darüber hinaus gewährte sie ihm einen dreitägigen Sonderurlaub. Und zum Gespräch mit dem Werkleiter war er überdies mit dessen Dienstwagen chauffiert worden, damit allenthalben die Grenzüberschreitung der Stasi markiert und als Regelverletzung dokumentiert würde. Mehr an offener solidarisierender Statusrepräsentation zugunsten eines Einzelnen war innerhalb der Werkhierarchie politisch nicht möglich. Sie offenbarte die große Homogenität und tiefsitzende Loyalität der Chemiker untereinander, die innerhalb eines starken korporativen Gruppenkonsenses gewachsen

20 Treffen mit Moll am 12.8.1958, BSTU Ha 873/63 I, S. 49, zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), hier S. 385. 21 Vgl. Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 412-422.

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war und eine eigenständige berufsgruppenspezifische Identitätskonstruktion herausgebildet hatte.22 Warum aber war dann der Produktionsdirektor Friedrich Moll, der kurz vor der Verrentung stand, nicht selbst schon lange in den Westen abgewandert? Der Hauptgrund lag darin, dass er generationell bedingt keine gleichwertige Stelle im Westen mehr hätte finden können und ansonsten also arbeitslos geblieben wäre. So war Moll in Schkopau zum anhaltenden Aussitzen des statuskonfligierenden Gegensatzes mit der SED-Riege im politischen Apparat des Bezirkes Halles gezwungen und musste sich deshalb auch mit dessen Schergen von der Stasi kommunikativ auseinandersetzen. Intentional verbrämte er diese berufliche Ausweglosigkeit in der umlagerten bürgerlichen Spitzenposition mit Rechtfertigungsmustern, die als zwei politisierte Stereotypisierungen deutsch-lokalnationaler Ehrenhaftigkeit gelesen werden können: mit der Standortloyalität und mit der Verpflichtung zu einem gesamtdeutsch gedachten Wiederaufbau. Hierbei wurde ,der Sozialismusʻ bereits weitsichtig als ein Auslaufmodell zerstörter Hoffnungen avisiert: „… also ich bin eigentlich ganz zufrieden, und was kommt, ich wart´s ab, ich fürchte bloß, ich kann nicht lange genug warten, vielleicht hat in zwanzig Jahren der Sozialismus wirklich den absoluten Sieg errungen, dann freue ich mich, daß ich dabei war, wenn er es nicht errungen hat, dann sage ich mir, naja, hast Pech gehabt, aber lieber Gott nochmal, hast wenigstens was geschafft dabei.“

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Wesentlich später, in einem kurzen Briefwechsel von Mitte August 1961 mit dem zeitweise noch im jetzt völlig abgeschotteten Westen verbliebenen BunaAbteilungsleiter Albert Grimm formulierten beide eine Absage an die Deutschlandpolitik beider Staaten aus. Aber diese deviante innerdeutsche politische Programmatik war zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr zeitgemäß. Denn mit dem Mauerbau hatten die Akademiker ihr manifestes Drohpotenzial verloren, das allein im immer kurz bevorstehenden Weggang bestanden hatte. Renitente Fachkollegen wurden jetzt unmittelbar durch die Geheimpolizei diszipliniert. Eine Fürsprache Molls war nicht mehr gefragt, auch seine Funktion als beratender Stasi-Informant war damit hinfällig geworden. Er selber konnte erst nach langwierigen Abwehrkämpfen mit der lokalen Stasi-Hierarchie, die ihn noch im Weggang als ,Inoffiziellen Mitarbeiterʻ dann für den Westen anwerben wollte –

22 Vgl. ebd., S. 385-391, 399. 23 Treffen mit Moll am 27.8.1959, BSTU Ha 873/63 I, dort S. 211; zit. nach WagnerKyora (wie Anm. 12), hier S. 509f.

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allerdings erwartungsgemäß vergeblich –, nach Ludwigshafen in den verdienten Ruhestand ausreisen.24

3. M YSTIFIZIERTE U NSCHULDSERKLÄRUNGEN : D IE AUSCHWITZ -E RINNERUNGEN DES SED-P ROPAGANDACHEFS 1954 UND 1950 Es gibt keine autobiographischen Erinnerungen von Chemikern und Ingenieuren an ihre Tätigkeit im Bunawerk IV in Auschwitz, denn aus den naheliegenden Gründen, die eigenen Spuren als Mittäter der größten Menschheitsverbrechen zu verwischen, hatten alle Beteiligten auf der Täterseite ein existenzielles Interesse daran, an ihrem korporativen Schweigekonsens bis heute festzuhalten. Das dort von ihnen zwischen Winter 1941 und Januar 1945 aufgebaute Chemiewerk mit den beiden strategisch wichtigsten Produktionsstrecken aus den Leuna- und den Bunawerken I in Merseburg/Halle hatte durchgängig etwa 26% KZ-Häftlinge in einer Belegschaft von mehr als 17.000 Werksangehörigen ,beschäftigtʻ, also zeitgleich schätzungsweise jeweils 4.000 KZ-Zwangsarbeiter.25 Alle diese wurden auf grauenhafte Art und Weise auf einer der damals weltweit größten Baustellen menschenunwürdig ausgebeutet und brutal gequält und fast alle wurden dann – nach etwa drei Monaten Sklavenarbeit – durch den Gasmord zu Tode gebracht, insgesamt schätzungsweise mindestens 30.000 jüdische Arbeiter im Auschwitzer Bunawerk IV. Die Verantwortung daran lastet auch an den IG Farbenindustrie-Akademikern, die den Arbeitseinsatz auf der Baustelle organisierten und dies durchgängig mit großer Brutalität taten.26 Aber auch die Erinnerung an das Leben im Werk aus der Perspektive jener, die unter den IG-Akademikern Zwangsarbeit ausführten und erlitten, ist nur durch einen einzigen, einen italienischen Chemiker überliefert worden – weil die allermeisten anderen Opfer ermordet worden sind. Als inhaftierter Widerstandskämpfer gehörte er ebenfalls zu den Opfern dieser Mordmaschinerie im Bunawerk IV in Auschwitz und überlebte nur durch glücklichen Zufall: Primo Levi. Er schilderte in seiner literarischen Doppel-Autobiographie die Zustände im

24 Vgl. ebd., S. 511-516. 25 Vgl. Bernd C. Wagner, IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941-1945, München 2000, hier S. 207-227. 26 Ebd., S. 228-263.

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Werk Auschwitz detailliert27 und widmete dem Psychogramm der Nazi-Täter aus der Chemiker-Funktionselite eingehende Charakterstudien, die auf seiner Kenntnis historischer Personen und ihrer Wirkung in Auschwitz beruhen. Hierbei überkreuzen sich die literaturwissenschaftliche und die geschichtswissenschaftliche Analyse der Autobiographie in idealtypischer Weise, da beide Zugangswege durch die hermeneutische Lesart von Levis Werk als ,Schriftʻ beschritten werden können. Dies ist an anderer Stelle bereits geschehen und soll nicht Thema vorliegender Studie sein.28 Primo Levi wurde in der Tischlerei in Auschwitz eingesetzt und hatte dort mutmaßlich persönlichen Kontakt zu diesen beiden Chemikern, deren Autobiographie im Fortgang analysiert wird, also sowohl zu Karl-Heinz Küster als auch zu Gernot Adolphi. Infolge der Stasi-Investigation aus den Jahren 1954 und 1950 ist diese zweite Autobiographie in ihren beiden Bestandteilen einer früheren und späteren Version überliefert. Sie enthält die Auschwitz-Erinnerung eines Technischen Zeichners, der innerhalb der Werkshierarchie den Akademikern untergeordnet, aber den Arbeitern übergeordnet war. Dieser, Karl-Heinz Küster, war fünf Jahre nach der Befreiung von Auschwitz zum Instrukteur für Agitation und Propaganda der SED-Landesleitung in der Bezirksleitung Halle aufgestiegen.29 In dieser Position wurde er weitere vier Jahre später von der Sekretärin Christa Laue aus den Leunawerken bei der Stasi denunziert. Denn diese erinnerte sich bei einem zufälligen erneuten Zusammentreffen mit Küster an eine frühere gemeinsame Wanderung in den Beskiden, dem oberschlesischen Gebirgszug südlich von Auschwitz. Damals habe er, Karl-Heinz Küster, ein NSDAPParteiabzeichen am Revers getragen.30 Und das war nun der Gegenstand der Denunziation: Ehemalige NSDAP-Parteimitglieder durften nicht der SED angehören! Basierte Küsters SED-Karriere auf einer leicht durchschaubaren Lebenslüge?

27 Primo Levi, Ist das ein Mensch? München 92000, ital. Erstausgabe Turin 1946; Ders., Das periodische System, München 1987. 28 Vgl. hierzu ausführlich Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 666-689. Hierbei nimmt einen entscheidenden Stellenwert die Aufklärung der tatsächlichen historischen Bezüge anhand einer konkreten Zuschreibung der literarischen zu den historischen Personen am Standort Bunawerke IV Auschwitz ein, der durch Namenslisten teilweise möglich ist, teilweise aber auch gezielter literarischer Fiktion halber nicht möglich ist. 29 Vgl. ebd., S. 690-722. 30 Bericht Christa Laue, Halle vom 24.5.1954. Staatsarchiv Merseburg SEDSammlungsgut IV/8-645, S. 40, zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 691.

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Die Verhältnisse in Auschwitz selber waren nicht der Anlass der Denunziation Christa Laues, aber sie wurden in der Folge zu ihrem eigentlichen Erzählgegenstand. Denn begierig stürzte sich die Geheimpolizei auf alle Details, deren sie habhaft werden konnte, indem sie auch eigene frühere Recherchen aus dem Jahr 1950 über den Beschuldigten reaktivierte. Nach kurzem Zögern erklärte sich Küster auch dazu bereit, erneut ausführlich Rechenschaft über sein Angestelltenverhältnis im Bunawerk IV in Auschwitz zu geben, was zur Grundlage seiner damit einsetzenden vollständigen Rehabilitation wurde. Allerdings bezogen sich diese Auskünfte jetzt nicht mehr auf seine Tätigkeit im Chemiewerk Auschwitz, sondern nur auf die dort anzutreffenden Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Lebens innerhalb der Angestelltenschaft. Küster musste nämlich wortreich erklären, weshalb eine bloße Verwechslung vorliege und die Denunziantin nicht das NS-Parteiabzeichen, wohl aber das Abzeichen des Deutschen Alpenvereins an seinem Revers gesehen habe, ein stilisiertes Edelweiß. Hierfür rekapitulierte er ausführlich seinen Habitus als statusmäßig anerkannten Angestellten, der es ihm ermöglicht habe, in der Freizeit sogar an einer Beskiden-Wanderung der Werksbelegschaft teilzunehmen – während unten im Tal der Schornstein des Krematoriums rauchte. Nicht die Tätigkeit als Technischer Zeichner in Auschwitz stand hier zur Debatte, sondern seine habituelle Verschwisterung mit dem Kleidungsstil der mittleren und höheren Angestellten dort. Sie nämlich hatte Laue auf ihre Fährte gebracht: „Die Genossin Laue hat sich bei ihrer Beschuldigung, daß der Gen. K. Mitglied der NSDAP gewesen sei, von folgendem Standpunkt leiten lassen: Alle Belegschaftsmitglieder, d.h. die Angestellten, mit denen sie dienstlich zu tun hatte, waren Mitglieder der ehemaligen NSDAP, und zwar vornehmlich Kollegen, die in leitenden Funktionen waren. Sie vertrat den Standpunkt, daß aus diesem einfachen Grunde auch der Gen. K. Mitglied der NSDAP gewesen sei, da er ja zu dem Mitarbeiterkreis des Dir. Dr. Dürrfeld gehörte und es nach ihrer Meinung keinen Untergebenen des Dr. Dürrfeld gab, der nicht in der Nazipartei war.“

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Wenn Laues Beobachtung stimmte, waren die IG-Akademiker des Aufbauwerkes Auschwitz in hohem Maße von einer NSDAP-Loyalität geprägt gewe-

31 SED-Bezirksleitung Halle, Bezirksparteikontrollkommission, Warthold, an Grundeinheit der Abteilung Agit/Prop betr. Verhalten des Genossen Karl-Heinz Küster in der Vergangenheit – seine Zugehörigkeit zur NSDAP, Halle vom 22.7.1954, Staatsarchiv Merseburg SED-Sammlungsgut IV/8-645, S. 25; zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 694.

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sen, so wie das für verschiedene andere IG-Werke auch zutraf, etwa für die Agfawerke Wolfen.32 Aber in den Leunawerken war im Gegensatz dazu eine Akademikerschaft vertreten, die in großen Teilen eine bemerkenswerte habituelle und auch politisch wirkungsvolle Distanz der bildungsbürgerlichen TechnikerElite zur NSDAP, der Nazipartei, aufgebaut hatte und diese wohl auch anhaltend zu wahren beabsichtigte.33 Und stärker noch mag diese sogar in der Führungsebene der Bunawerke I in Schkopau ausgeprägt gewesen sein, der auch Friedrich Moll bereits als Produktionsdirektor angehörte. Er profilierte sich nämlich als umsichtig agierender Schirmherr der dort beschäftigten Zwangsarbeiterinnen, die in den Leunawerken bereits ein wesentlich erbärmlicheres Dasein fristeten.34 Wenn nun aufstiegswillige Leuna-Akademiker an den neuen IG-Standort nach Auschwitz gewechselt waren, hatten sie dort einen Radikalisierungsschub durchgemacht, indem sie der NSDAP bereitwillig beitraten? Oder wechselten ohnehin nur solche dorthin, die bereits zuvor NSDAP-affin gewesen waren? Viel spricht für diese letztere Annahme. Weitere personelle Querverbindungen zwischen früheren Auschwitz- und später wieder in den Leunawerken Beschäftigten legen allerdings nahe, dass es durchaus möglich war, später eine NSDAPMitgliedschaft auf Dauer einfach zu verschweigen, sofern die Freundesnetzwerke mitzogen. Oder es gelang analog, durch einen validen Dauerpersilschein von Freunden die inkriminierende NSDAP-Mitgliedschaft jedenfalls so weit in den Hintergrund zu rücken, dass sie selbst einer späteren SED-Mitgliedschaft und damit der völlig ungehinderten eigenen Nachkriegskarriere keineswegs mehr im Wege stand. Die Biographie Karl-Heinz Küsters schien diese Annahme zeitgenössisch indirekt zu bestätigen, allerdings in einer unerwarteten Art und Weise. Er hatte nämlich bereits vier Jahre zuvor, also im Jahr 1950, eine weitere autobiographische Erklärung geschrieben, in der er umfassend seine Widerstände gegen den eigenen Standortwechsel nach Auschwitz geschildert hatte: Küsters Abteilungsleiter Dr. Braus hatte ihn bereits im Jahr 1941 wiederholt nach dort abzuwerben versucht, kurz vor dessen eigenem frühen Weggang nach Auschwitz. Aber Küster weigerte sich aufgrund der Mundpropaganda „… daß dort ein Konzentrationslager sei und die Häftlinge zur Arbeit herangezogen werden sollen und daß die dort ansässigen Polen als Lohn nur 25% von dem Lohn eines deutschen Arbeiters erhalten sollen. Weiter erfuhren wir nichts; aber das reichte mir, um das

32 Ebd., S. 167-189. 33 Ebd., S. 137-142. 34 Ebd., S. 198-262.

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erste Angebot von Dr. Braus (mit ihm als techn. Zeichner nach Auschwitz zu gehen) abzulehnen.“

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Danach geriet nun Küster eigenen Angaben zufolge selber unter Verfolgungsdruck, indem er in höchst unüblicher Weise im Sommer 1942 plötzlich zur Wehrmacht eingezogen wurde. Denn die Unabkömmlichkeitsquote erreichte bei manchen Berufsgruppen in den Chemiewerken, so etwa bei den Chemikern, 90% bis 100%! Auch technische Zeichner gehörten zu den Mangelberufen, die nicht eingezogen wurden. Allerdings wurde Küster bei Abfahrt zur Front am Hauptbahnhof Halle erneut höchst überraschend noch für vier weitere Wochen zurückgestellt, um ihn weiter psychologisch unter Druck setzen zu können. Und tatsächlich sei dadurch sein anhaltender Widerstand gebrochen worden, denn in deren Verlauf habe er sich dann zur Übersiedlung nach Auschwitz entschlossen. Unfreiwillig dort angekommen, habe er dann in der Tischlerwerkstatt in Auschwitz den Kontakt mit jüdischen KZ-Häftlingen gesucht, um ihnen gut zuzureden. Mit dieser autobiographischen Narration versuchte Küster im Jahr 1950 einen widerstandsnahen Status seines Angestelltendaseins zu kreieren, der seine spätere Propagandatätigkeit in der SED Bezirksleitung Halle rechtfertigte: „Daß im Lager Menschen verbrannt wurden, war uns allen bekannt, aber von den Methoden im Einzelnen wußte ich nichts. Ich hatte den Wunsch, mehr mit ihnen zu diskutieren, aber es war auch ein Risiko und man mußte vorsichtig sein. Das Opfer, auch eingesperrt zu werden, hätte der Bewegung nicht gedient.“

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Hatte Küster damit seine eigene Position geklärt, verlegte er sich in seinem frühen Erinnerungsbericht von 1950 mehr und mehr auf die Rolle des investigativen Aufklärers und machte sich damit die Perspektive seiner späteren StasiInterviewer selbst zu eigen:

35 Heinz Küster, Erklärung betr. meine Tätigkeit im damaligen IG-Werk Auschwitz OS in der Zeit von 1942 bis 1945; meine allgemeinen Beobachtungen; sowie das Verhalten meiner Freunde und Genossen Ernst Kawelke und Kurt Letsch, Bad Dürrenberg v. 18.6.1950, Staatsarchiv Merseburg. SED-Sammlungsgut IV/8-645, S. 70-75, hier S. 70f.; zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 696. 36 Unbez. (der Bezirksparteikontrollkommission zugeschrieben), Überprüfungsprotokoll Karl-Heinz Küster, undatiert (1950/51), Staatsarchiv Merseburg. SED-Sammlungsgut IV/8-645, S. 67f.; zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 700.

210 | G EORG W AGNER -K YORA „Was das berüchtigte KZ-Lager Auschwitz anbetrifft, so kann es keinen Menschen geben, der in Auschwitz und Umgegend gewohnt oder gearbeitet hat und nichts von diesem Vernichtungslager gewußt haben will. Wenn der große Kamin des Krematoriums rauchte und der Westwind den Rauch ins IG-Werk trieb, konnte man oft und von allen Belegschaftskreisen die stumpfsinnige und gewissenlose Feststellung hören: ,Heute riecht´s wieder nach Menschenfleisch.ʻ - Was sich in dem KZ zutrug, interessierte die meisten wenig oder nur am Rande. Es war natürlich gefährlich darüber Erkundigungen einzuziehen und man war zumeist auf zufällige Berichte von dritter Seite angewiesen.“

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Man kann in dieser Narration des nachrangigen Auschwitz-Täters eine Banalisierung des Bösen feststellen, so wie sie Hannah Arendt zutreffend im selbstinszenierten Habitus des Judenschlächters Adolf Eichmann diagnostiziert hat. 38 Es handelt sich hierbei sowohl um ein Verbrechenseingeständnis als auch um eine Entrückung der Verantwortungshaltung in ein allgemein Unzugängliches, um den Massenmord als kollektive und damit als eine unabweisbare Tat darstellen zu können, also sowohl um eine historische confessio als auch um eine literarische Ästhetisierung dieser, welche zudem im größeren Rahmen der Gleichgesinnten noch vor Ort wiederholend performativ eingeübt worden sei. Sie lässt dann keine individuell nachweisbaren Täterspuren mehr erkennen, gerade weil sie eine mystische Verschleierung der eigenen Verantwortungshaltung aufzeigt, um Untätigkeit zugunsten der Opfer retrospektiv zu legitimieren. Dieses Modell der Verfremdung eigener Täterverantwortung ist bis heute das dominierende in der Auseinandersetzung von Zeitzeugen mit ihrem eigenen Mordhorizont in Auschwitz geblieben. Hierbei ist die Mischung von Ungreifbarem, willkürlich erscheinendem Ästhetisierten, mit ganz genauen Tathinweisen, dem Historischen, kennzeichnend: „Auf dem Werksgelände selbst arbeiteten ungefähr 4.000 KZ-Häftlinge. Anfangs waren sie nur als Tiefbau-, Erd- und Transportarbeiter beschäftigt. Kollegen, die schon vor meiner Ankunft dort arbeiteten, berichteten mir von grausamsten Mißhandlungen auf dem Werksgelände durch die SS-Posten. Dies sei angeblich auf Ersuchen des Direktors Dr.

37 Ebd. (Überprüfungsprotokoll), S. 73f.; zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 710. 38 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (amerik. 1963), München 1964.

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Dürrfeld abgestellt worden und unter Ausschluß der Öffentlichkeit abends in die KZLager verlegt worden.“

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Ross und Reiter konnten also bereits 1950 eindeutig und sehr präzise benannt werden – aber sie wurden damals und sie werden bis heute auf das unaufschiebbar Notwendige begrenzt: auf die Täterschaft Dürrfelds. Andere Mittäterschaft wurde nicht verfolgt, denn der Einzige, der für die Häftlingspolitik in Auschwitz bestraft worden ist, war der Technische Direktor Walter Dürrfeld, der mit fünf Jahren Haft in den Nürnberger IG-Farbenprozessen abgeurteilt wurde – wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Niemand anderer der AuschwitzAkademiker ist bis heute aufgrund der gleichen Vergehen, die auf den nächstniedrigeren Hierarchiestufen begangen wurden, juristisch belangt worden!

4. U NSCHULDSBEHAUPTUNG UND S CHWEIGEN : D IE VERBORGENE AUSCHWITZ -E RINNERUNG DER C HEMIKER DER DDR 1965 UND 1967 IN DER V ÄTER - UND DER S OHNESGENERATION Die Chemiker aus Auschwitz sind Objekt, nicht Subjekt ihrer Geschichte. Entgegen jeder Erwartung werden noch siebzig Jahre später selbst Ehrungen im öffentlichen Raum solchen Mittätern zuteil, die zwischen 1941 und 1945 an Holocaust-Verbrechen direkt beteiligt waren. Gemeint ist der DDR-Verfahrenstechniker Günther Adolphi, nach dem als Ehrenprofessor (seit 1972) der nachmaligen Technischen Hochschule für Chemie in Merseburg diejenige Verbindungsstraße in Merseburg benannt wurde, die zur Fachhochschule führt. 40 Erst nach lautstarken Protesten des Merseburger Lokalhistorikers Manfred Linck und des Autors wurden die neuen Straßenschilder 2015 überklebt, um Raum für eine historische Aufarbeitung zu geben, die gegenwärtig noch anhält. Adolphi war nach Recherche des Autors in seiner Habilitationsschrift „Unterabteilungsleiter

39 Überprüfungsprotokoll (wie Anm 36), S. 74, zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12) 711. 40 Vgl. den aktuellen wikipedia-Eintrag zu Günther Adolphi. Dessen Informationen basieren auf den einschlägigen Zeitungsartikeln in der Mitteldeutschen Zeitung: Michael Bertram, Streit um Günther Adolphi-Straße in Merseburg, in: Mitteldeutsche Zeitung, Merseburg, vom 9.7.2015; Ders: Interview mit Georg Wagner-Kyora, „Chemiker hat Verbrechen mitorganisiert“, in: Mitteldeutsche Zeitung vom 18.3.2015; Dirk Skrzypczak, Günther Adolphi wird abgeklebt, in: Mitteldeutsche Zeitung vom 15.7.2015.

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der Hydrierung gewesen“41, also die zentrale Managementfigur beim Aufbau dieser zweiten wichtigen Produktionsstrecke des Bunawerkes IV in Auschwitz. Hierbei koordinierte er den Arbeitseinsatz der Häftlinge auf dieser Baustelle. Manfred Linck nun fand wenige Jahre nach meiner Publikation, etwa 2012, bei Gelegenheit eines archivalischen Dachbodenfunds in Leuna, der den bislang verschollenen Bestand der Korrespondenz sämtlicher Zulieferbetriebe des IG Werkes Auschwitz enthielt, heraus, dass Adolphi regelmäßig auf dem Verteiler als zentraler Ansprechpartner der Werkleitung Baustelle Auschwitz erschienen war und somit als engster Mitarbeiter des Technischen Direktors Dürrfeld fungiert hatte, also als die ,rechte Handʻ Dürrfelds bezeichnet werden kann, wie er bereits in den entsprechenden Stasi-Akten adressiert worden war.42 Damit wird beweisbar, dass Adolphi selbst den gesamten Arbeitseinsatz auf der Baustelle des Bunawerkes IV in Auschwitz organisiert hatte, jedenfalls soweit Dürrfeld dies nicht in Eigenverantwortung getan hatte. Entgegen dieser Faktenlage hält der Rektor der Fachhochschule Merseburg Kirbs weiterhin am politischen Ziel der Straßenbenennung zugunsten Adolphis fest und hat hierfür ein studentisches Expertengremium eingesetzt, das sich im Übrigen Lincks und meiner Auffassung im Sommer 2016 anschloss, sowie einen weiteren externen Experten benannt, dessen Votum noch aussteht. Eine gemeinsame Erinnerungskultur in Hinblick auf die Auschwitz-Täterschaft hat es also bislang nicht gegeben, weder auf der lokalen noch auf der nationalen Ebene. Auch die Rezeption entsprechender autobiographischer Grundlagenforschung über die Erinnerung von Auschwitz aus der Täterperspektive in der 2009 erschienenen Habilitationsschrift des Verfassers steht noch aus. Aber die Erinnerung an ihre Tätigkeit in Auschwitz wurde siebzig Jahre lang zielgerichtet von den Chemikern und Ingenieuren ausgespart. Sie bildete seitdem eine fortlaufende kommunikative Verschweigensoption heraus, der sich alle anschlossen und die bis heute anhält. Dieser Schweigekonsens hat bislang nur wenige Unterbrechungen erfahren. Die Chemiker der Leuna- und der Bunawerke betrieben demzufolge aktiv eine negative Erinnerungskultur, um Geschichte im Konsens der Mitwisser und Mittäter auf Dauer zu zerstören. Ironischerweise besetzte aber die Stasi wiederholend dieses Feld und wurde damit ,zum Eckermannʻ der Chemiker aus Auschwitz. Sie leistete damit eine historische Grundlagenforschung, zu der kein Historiker imstande gewesen wäre.

41 Vgl. Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 690. 42 Dieser Bestand wird durch den Merseburger Historiker Manfred Linck dem Staatsarchiv Merseburg übergeben.

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Mehr und mehr nahm sie herbei ihre eigentlich erzieherische Funktion im Sinne ihres totalitären Auftrages wahr, dezidiert in der Absicht, ihre Klientel vor den Nachstellungen anderer zu schützen und damit das Schweigen vom Wissen abzugrenzen: „Als im Frühjahr 1965 der Auschwitzprozeß in Westdeutschland stattfand, schwebte Professor A. (Adolphi) in tausend Ängsten. Durch einen zuverlässigen und überprüften IM (Inoffizieller Mitarbeiter) wurde uns damals bekannt, daß Prof. A. im Zusammenhang des Auschwitzprozesses im internen und uns nicht bekannten Kreis erklärt haben soll, wenn sein Name mit in diesem Prozeß erwähnt werden sollte, er wahrscheinlich mit dem Ausschluß aus unserer Partei rechnen muß und damit gleichzeitig mit seiner Abberufung von seiner Funktion an der TH (Merseburg).“

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Der ,Staatssicherheitsdienstʻ nahm Partei zugunsten der Nazi-Täter. Aus Sicht der Geheimpolizei war die größte Gefahr um Adolphis Karriere bereits zwei Jahre später aber unentdeckt vorbeigegangen, was nach Lage der Dinge nicht ohne die flankierende fortdauernde Ignoranz westdeutscher Strafverfolgung zu erklären ist. Tatsache ist, dass nämlich alle IG-Auschwitz-Chemiker aus der Spitzenebene bis heute faktisch Prozess-Immunität genießen, so das ihr intensives Mitwirken an den Menschheitsverbrechen der KZ-Arbeitspolitik im Bunawerk IV in Auschwitz im gesamtdeutschen Maßstab nicht juristisch aufgearbeitet worden ist – eines der unentschuldbaren Versagenssyndrome unserer nationalen Straf- und Erinnerungspolitik. Warum Adolphi in Frankfurt nicht mitangeklagt wurde, nachdem er doch bereits im Nürnberger IG-Farben-Prozess als Zeuge zugunsten Dürrfelds ausgesagt hatte, also prozessbekannt gewesen sein dürfte, blieb auch den StasiProzessbeobachtern in Halle ein Rätsel. Es ist mit der damaligen Fixierung auf SS-Wachmannschaften als Hauptangeklagte zu erklären, die bis heute anhält und auch noch den bislang letzten Auschwitz-Prozess in Detmold von 2016 prägte. Günther Adolphi jedenfalls beendete im gleichen Jahr, also noch 1967, durch den Ruhestand seine öffentlichkeitswirksame Karriere als anerkannter Fachhochschulprofessor mit internationalem Standing und wurde solcherart etwaigen biographischen Nachforschungen entzogen.44

43 Schreiben MfS-Objektdirektion Leuna an MfS-Bezirksverwaltung Halle, Abt. XVIII/2 vom 5.5.1967. BSTU Ha 2213/89 Pa, S. 53, zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 727. 44 Lebenslauf Günther Adolphi, zitiert nach dem gleichnamigen wikipedia-Eintrag vom 11.2.2016.

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Erkennbar war für die DDR-Geheimpolizei noch 1967 ein großes Problem, dass sich Professor Günther Adolphi der Recherche und Investigation in eigener Sache nachhaltig widersetzte. Sie blieb also unvorbereitet, was künftige Enthüllungen zutage fördern mochten und das war nicht nach dem Geschmack der Mielke-Behörde. Bereits in den 1950er Jahren waren Nachforschungen nach Adolphis Auschwitzer Tätigkeit an dessen Schweigen abgeprallt. Denn anders als der Technische Zeichner Karl-Heinz Küster konnte er es sich als Spitzenchemiker nämlich leisten, keine Nachfragen zuzulassen und praktischerweise einfach den Mund zu halten. Seine NSDAP-Parteimitgliedschaft stand seiner rasanten Aufstiegsmobilität als wichtigster Verfahrenschemiker der DDR niemals im Wege. Beides war nur durch das kollektive Beschweigen in einem dichten Netzwerk Gleichgesinnter vor Ort in Leuna und in Merseburg möglich. 45 Die Geheimpolizei beschritt in dieser Notlage den Umweg, den Sohn Günther Adolphis, Gernot Adolphi, als Inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben, um aus ihm mögliche biographische Gefahrenquellen von Adolphi senior in Auschwitz herauszubekommen. Zwar gelang dieses Vorhaben nicht, aber weil der Vater den Sohn im Sommer 1944 „während der Ferien als Tischlerlehrling“ ins Bunawerk IV nach Auschwitz „geholt“ hatte46, berichtete Gernot Adolphi als Zeitzeuge von den Zuständen dort, was bei den Geheimpolizisten auf erhebliches historisches Interesse stieß: „Im Jahre 1944 holte ihn sein Vater nach dort. Vorher teilte er ihm mit, daß dort fast nur Häftlinge und Kriegsgefangene arbeiten und daß im Winter sehr viele sterben würden, da sie nicht genügend zu essen bekommen. Solange der IM keinen Kontakt zu den Häftlingen bekam, sah er sie, wie er selbst zugab, als Menschen II. Klasse an. Das hatte er in der Schule gelernt. Erst als sein Vater ihm sagte, daß der Krieg für Deutschland verloren ist und er auch mehr mit den Häftlingen in Berührung kam, tauchten bei ihm gewisse Zweifel auf. Ernsthafte Gedanken habe er sich damals jedoch nicht gemacht. In der Tischlerei, wo der IM arbeitete, waren weitere Häftlinge tätig. Mit einem Häftling (Opernsänger aus Köln) hatte er näheren Kontakt. Ohne sich Gedanken zu machen, hat er

45 So besuchten sich die Ehefrauen anerkannter Chemiker regelmäßig zum Kaffee bei Frau Adolphi. Mdl. Auskunft Eva Douma, Berlin v. 12.10.2016. 46 Lebenslauf Gernot Adolphi vom 31.3.1959, BSTU Ha 2213/89 Pa, S. 25f.; zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 730.

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diesem mehrfach etwas zu essen gegeben, da dieser immer Hunger hatte. Als der Meister das einmal sah, hat er ihn gewarnt, wenn die SS was merkt, kommt er auch ins Lager.“

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In dieser autobiographischen Narration kommen abschließend vielfältige Bezüge des Vorgenannten zusammen. So hatte es der aufstiegsorientierte Spitzenchemiker nicht verabsäumt, seinen eigenen Sohn als mental entlastenden Zeugen seiner Mittäterschaft nach Auschwitz nachkommen zu lassen, mehr als ein Jahr nach dem Mord an Dagobert Biermann in Auschwitz.48 Adolphi junior gab sich im Nachhinein unschuldiger als er es als unmittelbar Beteiligter zeitgenössisch gewesen sein wird, da er selber bei den ihm anvertrauten KZ-Zwangsarbeitern dezidiert autobiographische Nachforschungen nach deren sozialen Hintergrund anstellte. Zu dieser Zeit, als er sich mit dem anonym bleibenden Kölner Opernsänger auseinandersetzte, war auch der italienische Widerstandskämpfer Primo Levi dort als Zwangsarbeiter ,beschäftigtʻ und mithin ebenfalls kursorisch Zeitzeuge der Vater-Sohn-Verbindung Adolphis geworden, ohne das dies allerdings einen Niederschlag in seiner eigenen Doppel-Autobiographie gefunden hätte. Möglicherweise hätten also Adolphi junior und Primo Levi ähnliche Gespräche miteinander führen können, sofern sich das hier von Adolphi junior und im Übrigen auch von Karl-Heinz Küster an anderer Stelle erwähnte Ausverhandeln – ebenfalls in dieser Auschwitzer Werkstischlerei – einer vorgeblichen Widerstandstätigkeit kommunikativ fortgesetzt haben würde. Und daraus ergibt sich zwangsläufig die Option einer näheren Bekanntschaft aller hier beschriebenen Protagonisten über ihre Auschwitzer Jahre hinaus, also von Karl-Heinz Küster mit Adolphi junior und mit Adolphi senior. Infolgedessen bildeten diese drei einen festen Schweigekonsens aus, der ihre Nachkriegskarrieren erfolgreich in der Negation von Geschichte trug. Und sie hielten die Namen der jeweils Anderen selbst aus ihren Stasi-Investigationsprotokollen heraus. Sie trafen sich wohl bei Gelegenheit in den Folgejahrzehnten verschiedentlich im Werk, aber sie re-

47 BSTU Ha, MfS Bezirksverwaltung Halle, Abteilung XVIII/2, Oberleutnant Pohle, Bericht über den Aufenthalt des IM „Dr. Anton“ im KZ Auschwitz, Halle vom 28.10.1965; zitiert nach Wagner-Kyora (wie Anm. 12), S. 731. 48 Dagobert Biermann war im Dezember 1942 nach Auschwitz verbracht worden und sein Tod ist für den 22.2.1943 dokumentiert: „Ein jüdischer Genosse meiner Eltern hat Auschwitz als Funktionshäftling überlebt. Er erzählte, dass mein Vater bei der Selektion an der Rampe nicht gleich ins Gas kam, sondern noch eine Nummer auf den Arm kriegte. Ob er später totgeschlagen, erschossen oder vergast wurde, wissen wir nicht.“ Michaelsen (wie Anm. 1), S. 12f.

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deten wohl selten oder niemals wieder über ihre gemeinsamen Tätererfahrungen in Auschwitz in den Jahren zwischen 1943 und 1945. Als ästhetisierte Narrative handelt es sich in beiden Fällen, den StasiAutobiographien von Karl-Heinz Küster und Gernot Adolphi, um Motive eines Gerichtsgesprächs mit anhaltendem Unschuldserweis, also um eine rhetorisch festgefügte Narrativität mit klar ersichtlicher Zielorientierung aufgrund einer biographischen Interessenlagerung. Eine juristische oder auch nur moralische Verurteilung der Täter lag zeitgenössisch nicht im Interesse der als Gerichtspartei auftretenden Stasi-Verhörpolizisten. Retrospektiv hatte diese Abart der Gerichtsrede die Funktion, das eigene ,Gewissenʻ, besser: die eigene memoria als eine einmal feststehende individuelle autobiographische Erinnerung im Sinne einer von Mittäterschaft unbefleckten vorgeblichen Allerweltserinnerung hervorzuheben. Der in beiden Narrativen ausformulierte Hilfsgestus gegenüber den jüdischen Opfern zeigt an, dass diese Ästhetisierung des Verborgenen als eine bereits eingeübte Diskursivität kommunikativ erfolgreich war, zumal sie ihre Außenwirkung auf die Stasi-Investigativen nicht verfehlte. Eine eigenständige Täter-Verantwortung, vor allem auch jene des eigenen Vaters Günther Adolphi, wurde in dieser Narration vollständig ausgeblendet und diese Berichtslücke wurde fortan weitgehend verborgen, um Geschichte insgesamt ungeschrieben zu machen. So war es möglich, dass auch Adolphi junior ein Leben unbeeinträchtigt von jenen Erinnerungsqualen führen konnte, die den annhähernd gleichaltrigen, etwas jüngeren Generationsgenossen Wolf Biermann ein Leben lang geprägt haben: „Ich muss gar nicht nach Auschwitz. Ich bin schon mein Leben lang in Auschwitz. Von Anfang an, immer wieder. Jeder beliebige Schornstein erinnert mich an meinen Vater.“

49

Beide Lebensläufe unterscheiden sich diametral dadurch, dass der wertabweisende und geschichtsvergessende Chemiker auch infolge seiner persönlichen Erinnerungspolitik den komplementären Karrierelebenslauf in der DDR absolvierte: Nach dem Chemiestudium an der Martin Luther-Universität Halle von 1948 bis 1953 trat Gernot Adolphi als Diplom-Chemiker in die Abteilung Hydrierung der Leunawerke ein, er promovierte nebenbei bis 1956 und wurde anschließend Versuchsleiter. Seit 1958 war er am Neubau der L-Forming-Anlage der Leunawerke beteiligt, also im Spitzenbereich des Investitionsgeschehens im Rahmen

49 Ebd., S. 21.

„DIE S TASI WAR

MEIN

E CKERMANN “

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des 1958 verkündeten DDR-Chemieprogramms. Er trat schließlich im Jahr darauf in die SED ein. Zum Jahresbeginn 1961 wechselte er in die Vereinigung Volkseigener Betriebe Mineralöle, der Aufsichtsbehörde des Leunawerkes, nach Halle und wurde hier Abteilungsleiter Investitionen und Neue Technik. Während der Kombinatsgründung 1967 ging er wieder zurück ins Leunawerk, um seine sozialistische Musterkarriere als DDR-Chemiker fortzusetzen – im gleichen Jahr, als er als Stasi-Informant angeworben wurde.50 Dieses ist der Lebenslauf eines Geschichtsverneiners, der ausschnitthaft zur narrativen Zeugenschaft über seine Auschwitz-Erinnerung zwar gezwungen wurde, aber daraus keine Sinndeutungen des Anderen ableitete. Dennoch können wir dadurch valide Informationen über die Identitätskonstruktion der Chemiker im 20. Jahrhundert abgeben, auch wenn er sie in instrumenteller Absicht ästhetisiert hatte, um seine Mittäterschaft in Auschwitz und vor allem die TäterKarriere seines Vaters dort zu verharmlosen, um beide zu Lasten der Geschichte zu exkulpieren. So erreicht die autobiographische Narrativität ihre hermeneutische Dimension als Geschichtsquelle und als ,Schriftʻ (ecriture) der Literaturen des 20. Jahrhunderts.

Z USAMMENFASSUNG Autobiographien von Professionsangehörigen können eine erhebliche heuristische Relevanz und Signifikanz entfalten, sofern sie in der Lage sind, durch Investigation auch das Verborgene und das instrumentell Verschleierte zum Vorschein zu bringen. Dies gelingt in der Regel nur dann, wenn benachbarte Lebensläufe eine Kontrolle der biographischen Kohärenz ermöglichen, wie das mit den hier vorgestellten vier Lebensläufen von Friedrich Moll, Karl-Heinz Küster, Günther und Gernot Adolphi der Fall ist. Dann können selbst die am entferntesten und bislang außerhalb der Reichweite des Gesagten liegenden Erinnerungsbestandteile in zureichendem Maße erfasst und als die soziale Konstruktion von Selbstbildern, als die Identitätskonstruktion des Chemikers in ihrer dezidiert politischen Absicht erforscht werden. Sie können dann erst historisiert sowie zureichend geschichtspolitisch kommentiert werden, indem auch ein Zeitzeuge wie Wolf Biermann ergänzend das Verborgene narrativ dynamisiert. Die für Historiker beispiellos fruchtbare investigative Leistung der älteren ,Eckermannʻ-Kollegen vom Staatssicherheitsdienst der DDR hat hier in einer

50 Vgl. Georg Wagner-Kyora, Der „neue Intelligenzler“ als „sozialistischer“ Individualist, in: Wagner-Kyora (wie Anm. 12), hier S. 733-737.

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Vielzahl von autobiographisch wichtigen Einzelfällen ,vorgearbeitetʻ, indem sie Quellen durch Interviews und Berichte ausfertigte, welche ,das Leben der Anderenʻ in der individualisierten Berichtsform ihrer persönlichen Narrativität enthalten. Dass diese Ergebnisse nicht dazu hinreichen, auch das Feld der Geschichtspolitik progressiv zu besetzen, steht auf einem anderen Blatt – jenem der massiven Deutungskonkurrenz erfolgreicher reaktionärer Eliteangehöriger in der Bundesrepublik und der DDR und dem schwachen Nachhall historischer Erkenntnis, der selbst in der Ästhetisierung von Selbstberichten zunehmend ungreifbar erscheint, sofern nicht das Korrektiv der vergleichenden Analyse ordnend eingreift. Aber die Geschichtsschreibung allein ist nun einmal nicht dazu tauglich, selbst die schwersten Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts als ein Hindernis für die posthume öffentliche Ehrung der Täter aufzubauen, selbst dann nicht, wenn die unmittelbare Zeitzeugenschaft der Opfer dem entgegensteht. Hier ist die Politik gefragt, um Deutungshoheit zu begründen. Denn jene Namenlosen haben keine einflussreichen, wenngleich nur vereinzelt analytisch interessierten Freunde unter den Historikern. Diese wiederum können die disparate bundesdeutsche Erinnerungslandschaft über die Schrecken von Auschwitz um das Feld der Autobiographiegeschichte erweitern, sofern sie Narration und Berichtetes hermeneutisch korrigierend auszudeuten verstehen, wenn sie es auch auf die Auschwitzer Täterseite erweitern wollen. Und dieses Vorhaben hat jetzt erst begonnen.

Autobiographie und Gesellschaft in Lebensbeschreibungen von Personen des öffentlichen Lebens

Wilhelm von Bodes Lebensbeschreibungen. Gegnerschaft als Professionsideal T HOMAS E SER

Wenige Wochen nach dem Tod des Berliner Generaldirektors Wilhelm von Bode († 1.3.1929) verfasste sein Düsseldorfer Amtskollege Karl Koetschau den „Versuch einer Charakteristik“ des Verstorbenen. Koetschaus Versuch erschien sofort auf Seite 1 der Zeitschrift für Bildende Kunst.1 Für einen Nachruf an derart prominenter Stelle fällt er seltsam pietätlos-düster aus. Bode sei zeitlebens ein „Fanatiker der Sache“ gewesen, der leidenschaftlich und besessen „über Leichen“ gegangen sei und nie „wirkliche Freundschaften“ entwickeln konnte. In geistiger Isolierung und als schlechter Taktiker sei er von „entfesseltem Willen getrieben“ gewesen, ein Mensch, für den es „im Leben etwas wie Behagen überhaupt nicht gab“, und der in der „dünnen Luft der Einsamkeit“ lebte. Koetschau schloss seinen Nachruf mit dem Hinweis, Bode bereits 1911 zu einer Autobiographie angeregt zu haben, die dieser dann auch verfasst habe, die aber im Erzählerischen allzu angeschwollen sei und impulsiver Ausfälle gegenüber Lebenden wegen nicht in Druck gehen konnte. Jetzt, nach dem Tod, sei ihre Drucklegung aber Desiderat. Tatsächlich erschien Wilhelm Bodes „Mein Leben“ im Folgejahr 1930. Sie liest sich noch immer ambivalent als imposante Leistungsschau wie als unfreiwillig maßloses Charakterselbstbild eines Unzeitgemäßen. Das Ideal eines – nicht nur gründerzeitlichen – Museumsdirektors prägte sie gleichwohl recht nachhaltig.

1

Karl Koetschau, Wilhelm von Bode. Versuch einer Charakteristik, in: Zeitschrift für Bildende Kunst 63 (Heft 1), 1929/1930, S. 1-3.

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D AS KONFLIGIERENDE P ROFESSIONSIDEAL „M USEUMSDIREKTOR I N “ 2 HEUTE . E IN KURZER G EGENWARTSBEZUG Zeitgenössisch, im 21. Jahrhundert, lässt sich ein solches Professionsideal im paradoxen Leistungsdreieck darstellen (Abb. 20). Kein noch so universeller Amtsträger wird ihm heute gerecht. Es ist von sich ausschließenden Professionalitätsbildern, individuellen Neigungsmustern und öffentlichen Qualifikationstopoi geprägt und wurzelt in Vielem auf Idealen der Bode-Zeit.3 Entnehmen kann man diese Professionsbilder Texten zu Stellenausschreibungen, kulturjournalistischen Kommentaren bei Neubesetzungen, Laudationes, aber auch Tätigkeitsdarstellungen in Dienst- und Arbeitsverträgen. Der Museumsbeamte Im berufs- wie personalrechtlichen Sinn ist die Leitung eines deutschen Museums in der Regel eine Position im Öffentlichen Dienst, mit Gehaltsgruppenzuordnung, laufbahnrechtlichen Regeln, Verortung in einem Stellenplan und einer Stellenbeschreibung. Der Museumsleiter ist demnach zuvorderst Amtsträger, dem die Verantwortung über öffentliches Sachvermögen in Form der Sammlungen obliegt und der, personalrechtlich versiert, einen Mitarbeiterstab leitet. Die Museumssammlung, die Liegenschaften und Veranstaltungen seiner Institution verwaltet, plant und optimiert er im Rahmen des aufwandstechnisch Möglichen, vor allem unter strikter Etat-Treue. Er hält Dienstwege ein. Als Verwalter zeichnen ihn Staats- und Obrigkeitstreue aus. Sowohl die Grundstrukturen wie die Alltagsprobleme seiner Institution sind ihm vertraut. Im Sinn des Begriffes leitet er als oberster ,Konservatorʻ konservativ im Stillen, ohne sonderliche Öffentlichkeits- und Medienaffinität.

2

Der Einfachheit halber im Folgenden im Maskulin gehalten.

3

Zu Kontinuität und Wandel des Berufsbilds lese man im Vergleich zwei Stellungnahmen vom Beginn und Ende des vergangenen Jahrhunderts: William Evans Hoyle, Die Vorbildung eines Musemsdirektors, in: Museumskunde 2, 1906, S. 175-189; sowie: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik

Deutschland:

Handreichung

des

Kulturausschusses

der

Kultus-

ministerkonferenz zu Dienstaufgaben der an Museen tätigen Wissenschaftler (Konservatoren/Kustoden), 1996; zu letzterem aufschlussreich Christian von Heusinger, Kritische Bemerkungen zur „Handreichung des Kulturausschusses der Kultusministerkonferenz zu den Dienstaufgaben der an Museen tätigen Wissenschaftler“, in: Kritische Berichte 3, 1998, S. 70-78.

W ILHELM VON B ODES L EBENSBESCHREIBUNGEN

| 223

Das gegenwärtig vorherrschende, regelrecht verklärte öffentliche Idealbild eines Museumsleiters hat mit einer solchen Amtsperson wenig gemein. Es ist jenes des Ausstellungsmachers. ,Curated byʻ. Der Ausstellungsmacher Seit den frühen 1970er Jahren entwickelt sich der ,Ausstellungsmacherʻ als vorher weitgehend unbekannter Professionsbegriff zum Synonym vom zupackenden Kreativen im Museum. Seit den 1990ern macht ihm im Deutschen das Verbum ,kuratierenʻ Schlagwort-Konkurrenz.4 Vorlage für dieses Professionsideal ist ein zugleich kreatives wie kulturpraktisch-handfestes Aufgabenbild. Denn der Ausstellungsmacher ist gebildeter Libertin, enfant terrible und gesellschaftlich Verantwortlicher zugleich. Er verkehrt im intellektuellen Milieu (auch den Halbwelten des Kulturbetriebs), sucht und gewinnt dabei aber auch das große Publikum und die Öffentlichkeit. Nachhaltig wirkt er allenfalls als Bauherr in der Organisation von Erweiterungsbauten, für die er spektakuläre Architekturen und große Architektennamen sucht. Er ist kein skrupulöser Wissenschaftler oder Beamter, denn seinem ,curated byʻ wohnt der Mut zum Inszenieren und Provozieren inne. Zugleich denkt er unternehmerisch. Ein Hang zur Eitelkeit wird augenzwinkernd akzeptiert. Der Wissenschaftler und Forscher Qua Ausbildung und Stellenausschreibungen wiederum soll ein Museumsleiter – jedenfalls an einem deutschen kunst-, kultur- oder allgemeinhistorischen Museum – primär Wissenschaftler sein. Nachdem er ein einschlägiges Hochschulstudium durchlief, lautet seine Berufsbezeichnung Kunsthistoriker oder Historiker, Archäologe oder Ethnologe. Er hat in seinem Fach einen hohen akademischen Titel erworben. Sein konstitutiv professionelles Kommunikationsfeld sind nicht das Feuilleton, das Bildungsbürgertum oder die Personalversammlung, sondern die Scientific Community, mit den seriösen, traditionellen Kommunikationsmedien und -orten der Fachpublizistik und des Tagungswesens, gern ergänzt um den Hörsaal im Rahmen einer Hochschullehrtätigkeit. Als Spezialist und Kenner agiert der forschende Musemsdirektor international und erfährt seine professionelle Anerkennung mittels Systemeinbindung ins Wissenschaftssystem und positiver Wahrnehmung seiner Forschungsergebnisse, also in Fachrezensionen und Schriftenverzeichnis.

4

Laut Google Ngram Viewer. Mittlerweile wird vor allem das inflationäre ,curated byʻ einem immer kritischeren Diskurs unterzogen, David Balzer, Curationism. How Curating Took Over the Art World and Everything Else, London 2015.

224 | THOMAS E SER

B ODE

UND SEINE

M EMOIREN

Für eine professionsgeschichtliche Rückschau zu Konstanz wie vermutlicher Kurzlebigkeit dieses heutigen Spannungsdreiecks, dem sich Berufsbild und Amtsideal ,Museumsdirektorʻ ausgesetzt sehen, ist die Lektüre von Wilhelm von Bodes Autobiographie „Mein Leben“ äußerst aufschlussreich.5 Bis weit hinein ins 20. Jahrhundert nahm Bode in der (ungeschriebenen) Hierarchie der berühmtesten Museumsleiter aller Zeiten die Rolle eines Pioniers, ja eines Patrons ein. Noch 1955 kam sein früher Protegé und späterer Gegner Ludwig Justi 6 nicht umhin, allem persönlichen Zerwürfnis zum Trotz Bodes Ertüchtigung der Berliner Museen als weltgeschichtliche Tat zu feiern. Bode habe die Staatlichen Museen „zum Range der älteren Galerien in Italien, Paris, London und St. Petersburg erhoben. Kein anderer Museumsmann in Europa oder Amerika ist mit seiner umfassenden Leistung auch nur entfernt zu vergleichen.“ 7 Noch nach dem Zweiten Weltkrieg feiert hier die Feder eines Liberalen wie Justi den „Bismarck des Museums“8 als Sieger im Kulturwettstreit PreußischDeutschlands gegen Italien, Frankreich, England und Russland. Bode sei schlicht der beste „Museumsmann“ aller Zeiten und Kontinente. Welchen Anteil an dieser Fama Bodes die Lektüre seiner Lebenserinnerungen hatte, ist schwer einzuschätzen. Vermutlich war er eher gering. Denn viel wirkmächtiger war seine publizistische Allgegenwart in Forschung, Museumspolitik und Kunsthandel um 1900, seine Präsenz als sachlicher Meinungsbildner, als Streitpartei in der zeitgenössischen Presse bis hin zur posthumen Ehrung in Institutionen wie dem Berliner „Bode-Museum“. Die Erinnerung an ihn hing nicht von einer Autobiographie ab.

5

Wilhelm von Bode, Mein Leben, 2 Bde., Berlin 1930.

6

Zu Bode und Justi jüngst Timo Saalmann, Von Wilhelm Bode zu Ludwig Justi. Die Generaldirektoren der Berliner Museen vom Kaiserreich bis in die Nachkriegszeit, in: Beate Böckem/Olaf Peters/Barbara Schellewald (Hgg.), Die Biografie – Mode oder Universalie. Zu Geschichte und Konzept einer Gattung in der Kunstgeschichte, Berlin/Boston 2016, S. 185-199.

7

Ludwig Justi, Bode, Wilhelm von, in: Neue Deutsche Biographie 2, 1955, S. 347f. (Onlinefassung); URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd119034921.html. Justis Galerien-Ranking meint die Uffizien (Italien), das Musée du Louvre (Paris), die Londoner National Gallery und die Eremitage in St. Petersburg.

8

Diesen Beinamen erhielt Bode noch zu Lebzeiten, früh etwa bei Karl Scheffler, Wilhelm Bode, in: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe 14 (Heft 4), 1916, S. 201-204, hier S. 203.

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Zumal „Mein Leben“ ein gleich doppelter Argwohn entgegenschlug und schlägt: Zeitgenossen kommentierten bereits lange vor ihrem Erscheinen, man brauche sie eigentlich gar nicht. Und bis heute vermissen Rezensenten bei ihrer Lektüre jede Lesefreude. Max Liebermann, ansonsten dem Klatsch nicht abgeneigt, urteilte 1907, Bodes mögliche Memoiren seien unnütz, denn „seine kunsthistorischen Schriften sind seine Memoiren“ 9. Noch heute gelten sie nicht unbedingt als spannender Lesestoff, sondern als literarisch „öde“, stilistisch belanglos und thematisch „eindimensional“, wie es Bodes Konversation auch im Allgemeinen gewesen sei.10 Gleichwohl ist „Mein Leben“ für die Museums- und Kunstgeschichte fraglos eine Quelle ersten Ranges.11 Mit der Niederschrift hatte er 1907 begonnen. Bode stand damals bereits im siebten Lebensjahrzehnt, war aber erst seit zwei Jahren als Generaldirektor der Berliner Königlichen Museen mit dem höchsten deutschen Museumsamt betraut. Als Anlass für das Memorienschreiben nennt er eingangs „die Familie“; ein gängiger autobiographischer Bescheidenheitstopos als Einleitungsmotiv, wonach autobiographische Tätigkeit zunächst nur diskret für die privaten Nachfahren bestimmt gewesen sei.12 Erst auf Drängen des „Umfelds“ hin habe er sich für die Veröffentlichung entschieden. Mittelbar stellt sich die Adresse „an meine Familie“ freilich in die weniger bescheidene Tradition des Fürstenspiegels, der den Nachfahren als Tugendlehre gelten soll. So widmete etwa auch Otto von Bis-

9

„Daher ist Wickhoffs Wunsch, dass Bode uns seine Memoiren schreiben möge, eigentlich schon erfüllt: seine kunsthistorischen Schriften sind seine Memoiren.“ Max Liebermann, Wilhelm Bode, in: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe 5, 1907. S. 89-92, hier S. 91.

10 Nach Werner Knopp, Blick auf Bode, in: Wilhelm von Bode. Museumsdirektor und Mäzen. Wilhelm von Bode zum 150. Geburtstag. Hg. v. d. Staatlichen Museen zu Berlin, Berlin 1995, S. 7-20, hier S. 9. Florian Illies urteilt in der Besprechung zur Neuedition von 1997 zu literarischem Gehalt und Stil von „Mein Leben“ besonders hart: „stilistisch [...] belanglos und ermüdend [...]. Ein solches Werk ist heute nur noch mit einem ausführlichen Kommentar lesbar“ (FAZ 1.11.1997). 11 So die richtige Bewertung im Vorwort der zweibändigen Neuedition: Wilhelm von Bode, Mein Leben. Hg. von Thomas W. Gaethgens/Parbara Paul. Bearbeitet von Barbara Paul/Tilmann von Stockhausen/Michael Müller/Uta Kornmeier, 2 Bde., Berlin 1997. Im Folgenden zitiert „ML“ mit Band- und Seitenangabe. 12 Die Familie als initialer Adressat wird bereits in der früheren, kürzeren Autobiographie behauptet; Wilhelm Bode, Fünfzig Jahre Museumsarbeit, Bielefeld/Leipzig 1922, S.III. Im Folgenden zitiert „50 Jahre“ mit Seitenangabe.

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marck seine „Gedanken und Erinnerungen“ von 1898 „Den Söhnen und Enkeln zum Verständnis der Vergangenheit und zur Lehre für die Zukunft“13. Tatsächlich, und gelegentlich übersehen, verfasste Wilhelm Bode zwei Autobiographien. Eine kurze noch zu Lebzeiten, durchaus bereits streitbar, mit aber eher bescheidenen siebzig Seiten Umfang und dem Titel „Fünfzig Jahre Museumsarbeit“14. Ihr folgte posthum, im Jahr 1930, das zweibändige „Mein Leben“, das auf knapp fünfhundert Seiten bis zum Jahr 1910 berichtet. Der Veröffentlichungszeitpunkt erst unmittelbar nach dem Ableben war schon zu Lebzeiten wohl kalkuliert: „Allerdings habe ich Lebenserinnerungen niedergeschrieben, sogar ziemlich ausführliche, aber diese sind für meine Familie und für unsere Museen bestimmt, zur Veröffentlichung werden sie sich nur zum Teil eignen, und auch das erst nach meinem Tode.“15 In gebotener Beschränkung auf die wichtigsten Karrierestationen sei kurz in Erinnerung gerufen, was Bode unter den spätgründerzeitlichen Zeitgenossen dermaßen zum Ruhm gereichte. Zunächst ohne hohe Amtsposten im Berliner Museumsbetrieb, machte er seit Anfang der 1870er als Assistent in der Skulpturenabteilung durch immer weiter gespannte internationale Akquise bedeutender Gemälde und Skulpturen auf sich aufmerksam. 1883 wurde er Direktor der Skulpturenabteilung. Eine intensive Beratung von Privatsammlern setzte ein, die er als ,Fördererʻ im politischen wie monetären Sinn für seine Anliegen gewann. 1890 wurde er zugleich Leiter der Berliner Gemäldegalerie. Bode nahm sich nun mehr und mehr der Neukonzeption ganzer Sammlungspräsentationen und Neubauten an. 1905 schließlich wurde er Generaldirektor sämtlicher Berliner Museen. Im Alter von achtzig Jahren ging er 1925 in den Ruhestand. Neben diesem Museumsbeamten Bode gab es auch den Fachautor. Sein Schriftenverzeichnis umfasst knapp sechshundert Titel. Seine Reisetätigkeit war ebenso immens wie seine weltumspannende Kommunikation, von der heute noch über 65.000 an ihn gesandte Briefe von rund sechstausend verschiedenen Verfassern der Auswer-

13 Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, 3 Bde., Stuttgart 1898 und 1922. Im dritten, posthum 1922 erschienenen Band gelangt die Widmung an die Söhne und Enkel aufs Titelblatt. 14 Bismarck (wie Anm. 13). 15 50 Jahre, S. III. Die 1930 noch diskret weggelassenen Passagen zu den Lebensjahren 1911-1928 wurden 1997 auf Grundlage der komplett erhaltenen Manuskripte erstmals und kommentiert veröffentlicht; Gaethgens/Paul (wie Anm. 11).

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tung harren.16 Der Öffentlichkeit galt sein Urteil als sakrosankt. Eine Simplizissimus-Karikatur von 1912 erklärt jede seiner Äußerungen über Kunst zum Gottesurteil (Abb. 21).17 Seine zu Lebzeiten angedichteten oder von späterer Kunstgeschichte erfundenen Beinamen versuchen sich an mehr oder weniger originellen Superlativen, wie „Bismarck des Museums“18, „größter Museumsleiter der Welt“19, „Genie der Museen“20, „Museums-Condottiere“ oder „Cäsar der Berliner Museen“. Kritischere Stimmen sprechen von einer „Diktatur Bode“ oder dem „System Bode“.21

K AUFEN , B AUEN , R EISEN , S TREITEN . I NTENTIONSMUSTER IN „M EIN L EBEN “ Bodes „Mein Leben“ ist zuvorderst Tätigkeitsbericht. Die Autobiographie erlaubt sich kaum Exkurse ins Allgemeine, die Entwicklung des „gesamten Museumswesens“ der fünf Jahrzehnte von 1870 bis 1920 wird, entgegen der Ankündigung in der Einleitung, nicht dargestellt.22 Bode bleibt stets nahe am eigenen Wirken, mit und vor allem contra andere(n) Akteure(n), so dass sich die Überfülle an Begegnungen mit Vorgesetzten und Politikern, Sammlern und Händlern, Kennern und Fachkollegen als gewaltige prosopografische Selbstdarstellung á la „Wen-ich-alles-kannte“ liest. Rasant sind die Ortswechsel des

16 Laut Findbuch Nachlass Wilhelm von Bode des Zentralarchivs der Staatlichen Museen

zu

Berlin

(http://www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/zentral-ar

chiv.html). 17 „Der da kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten“. Drei ältliche Kunstfreunde betrachten ein Gemälde und warnen einander „Lassen Sie uns den Anblick dieses Bildes noch in Andacht genießen! Morgen schon kann es Bode für unecht erklären.“ Simplizissimus, 16,2. 1911/12, S. 562. 18 Scheffler (wie Anm. 8). 19 So Gustav Glück, Direktor der Gemäldegalerie des Wiener Kunsthistorischen Museums, zu Bodes 80. Geburtstag, in: Der Kunstwanderer. Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen 7/8, 1925/26, S. 157. 20 Vortragstitel von Gerd Biegel, 2010. 21 Ulrike Wolff-Thomsen, Die Wachsbüste einer Flora in der Berliner Skulpturensammlung und das System Wilhelm Bode. Leonardo da Vinci oder Richard Cockle Lucas?, Kiel 2006. Allgemein zu Beinamen mit weiteren Nachweisen vgl. Knopp (wie Anm.10), hier S. 12-13. 22 ML, Bd. I (wie Anm. 11), S. 2

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Vielreisenden. Dabei kreisen die Lebenserinnerungen stets um drei elementare Aktivitätsfelder: •

• •

Kaufen, im Sinn einer möglichst umfassenden und anhaltenden Akkumulierung von Kunstwerken möglichst vieler Epochen und polikultureller Herkunft zur Mehrung der Berliner Museumsbestände Bauen, im Sinn einer immer größeren öffentlichen Sichtbarmachung dieser Akkumulationsorte und ihres quantitativen Gedeihens23 Streiten, genauer: dem Obsiegen in steter individueller Konkurrenz mit anderen Kunstkennern und Publizisten, mit Sammlern, Händlern, Kulturpolitikern und Bauverantwortlichen.

Diese Aktivitätsfelder waren zu Bodes Lebzeiten keineswegs neu. Das doppelte Professionsfeld des sammelnden und bauenden Kurators als kunsthistorische wie organisatorisch-bauherrschaftliche Aufgabe hatte sich seit den 1820er Jahren entwickelt. Der Aufschwung setzte mit den Museumsbauten Klenzes wie der Münchner Glyptothek (seit 1816) und Schinkels Berliner Altem Museum (seit 1825) ein. Zunehmend bedingend für den Museumsbaubedarf wurden spektakuläre Erwerbungen für die nun öffentlichen Sammlungen, so die Sammlung Solly für die Berliner Gemäldegalerie 1821 und die Sammlung Sulpiz-Boisserée für München im Jahr 1827. Deutschlands erster moderner Museumsdirektor, Gustav Friedrich Waagen (1794-1868), bereiste noch mit Schinkel Italien, und war dann 35 Jahre lang Erster Direktor der Berliner Gemäldegalerie. Bereits Waagen hatte das hauptamtliche Reisen – wie es Bode später selbst praktizierte – vorgelebt. Zu Waagens Reiserei urteilt später Bodes Nachfolger als Berliner Generaldirektor, Wilhelm Waetzoldt, mit gehörigem Welterfahrenheitspathos „Die großen Kenner sind ausnahmslos große Reisende“24 gewesen.

23 Zum Paradox und baldigen Ende dieses kulturpolitischen Prozesses Walter Grasskamp, Das Kunstmuseum. Eine erfolgreiche Fehlkonstruktion, München 2016. 24 Wilhelm Waetzoldt, Deutsche Kunsthistoriker. Zweiter Band: Von Passavant bis Justi, Leipzig 1924, S. 32.

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I CH UND E S . D ER KENNERSCHAFTLICHE P ORTRÄTSTIL IN B ODES AUTOBIOGRAPHISCHEN S CHRIFTEN Mit solcher Betonung von Bodes sagenhafter Kennerschaft, allerdings nicht auf einer Fernreise, sondern aufs innerste Private konzentriert, warten gleich mehrere Illustrationen in Bodes autobiographischen Schriften auf. Sie behaupten einen intim-intensiven Bezug zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Kunstwerk und Kenner, an dem zunächst niemand anderer teilhaben darf. Erfunden hat den Porträttyp Max Liebermann bereits um 1890, eine Vorzeichnung befindet sich heute in Kapstadt (Abb. 22), die Ausführung in gegenwärtig nicht nachweisbarem Berliner Privatbesitz. Bode sitzt in konzentrierter Betrachtung einer italienischen Kleinbronze in seinem Arbeitszimmer. Der Betrachter beobachtet dieses ProfiBetrachten aus neutral seitlicher, profilbildender Perspektive, in welcher der Porträtierte die Skulptur im doppelten Wortsinn ,begreiftʻ, aber mit seiner Erkenntnis zunächst für sich bleibt. Liebermann entwarf diesen Gelehrtenhabitus ursprünglich als Auftragsarbeit für eine 1891 erschienene Illustration in „Schorers Familienblatt“. Bode sah sich darin anscheinend derart trefflich porträtiert, dass er Liebermann bei späteren, weit repräsentativeren Gemäldeporträts auf diesen Typus verpflichten wollte. Das Gemälde sollte sogar in Bodes Wohnzimmer hängen.25 Der Maler gehorchte dem zwar nicht, gleich mehrere zeitnahe Porträtfotographien Bodes orientieren sich aber deutlich an Liebermanns Typ. Auf dem ersten (Abb. 23) kurz nach 1890 entstandenen Foto hält Bode eine wohl niederländische Miniaturschnitzerei einer „Anbetung der Könige“ in Händen, im Hinter-

25 Margreet Nouwen vom Max-Liebermann-Archiv, Berlin, verdanke ich den frdl. Hinweis auf die Kapstadter Vorzeichnung; vgl. zu dieser auch Hans Fransen, Michaelis Collection. The Old Town House, Cape Town. Catalogue of the Collection of Paintings and Drawings. Zwolle 1997, S. 33. Zur Zeichnung in Berliner Privatbesitz ausführlich Sigrid Achenbach u.a., Max Liebermann in seiner Zeit. Ausstellungskatalog Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, München 1979, Kat. 253 (Sigrid Achenbach). Zur Prägewirkung für die Gelehrtenikonographie: Von allen Seiten schön. Bronzen der Renaissance und des Barock. Wilhelm von Bode zum 150. Geburtstag, hg. von Volker Krahn. Ausstellungskatalog, Altes Museum. Berlin 1995; darin: Einleitung, S. 9 (Volker Krahn). Vgl. ebd. Volker Krahn: „Ein ziemlich kühnes Unterfangen …“. Wilhelm von Bode als Wegbereiter der Bronzenforschung, seine Erwerbungen für die Berliner Museen und seine Beziehungen zu Sammlern, S. 34-55.

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grund eine umstritten Botticelli zugeschriebene Version der „Simonetta Vespucci“. Das zweite Foto mit identischer Pose (Abb. 24) zeigt ihn beim Betrachten eines venezianischen Reliefs der „Maria mit Kind“26. Jahrzehnte später erkor Bode die Liebermann-Zeichnung zum Frontispiz für seine beiden Autobiographien (Abb. 25 und Abb. 26)27. Offen bleibt, ob 1890 er selbst, oder Liebermann, oder nicht doch ein anonymer Fotograf Urheber dieser suggestiven Inszenierung von Kennerschaft und Autorität gewesen ist.

D IE L IPPMANN -P ASSAGE Erkenntnisleistung und damit professionelles Selbstbild vollziehen sich in dieser Gelehrtenikonographie nicht mittels Büchern (die eher achtlos herumliegen, vgl. Abb. 23 und Abb. 24), sondern am Objekt selbst. Trotz seines Engagements für akademische Einrichtungen wie das Kunsthistorische Institut in Florenz durchzieht auch den Text von Bodes Lebensbeschreibung ein steter antiakademischer Unterton. Umfassendere Lehrtätigkeit hatte er nie aufgenommen, auch das Vortragswesen war ihm eher fremd.28 Mangels eigener akademisch-professoraler Amtsmacht konnte Bode zum Beispiel im Leistungsfeld des Förderns von Nachwuchskräften nicht auf Schüler zurückgreifen. Dabei war Patronage ein wichtiger Statusgenerator im Verwaltungsapparat der Berliner Gründerzeitjahre. Bode verknüpft nun mit der Schilderung personalpolitischer Schachzüge auch andere Leistungsfelder, die er – und hierin liegt ein grundsätzliches Mitteilungsanliegen seiner Memoiren – immer gleichzeitig zu erledigen verstand. Exemplarisch liest sich dazu die Berufung des jungen Friedrich Lippmann zum Direktor des Berlinern Kupferstichkabinetts 1876: „Auf Lippmann hatte ich im Ministerium schon gleich nach Hothos 29 Tode hingewiesen, auf ihn war ich zurückgekommen, als sich die Unterhandlungen mit Kolloff 30 als aussichtslos erwiesen. Im März 1876 führte mich dann der Zufall in Paris täglich mit ihm [=

26 Um 1530, Eigentum des Kaiser-Friedrich Museumsvereins, Inv. M 113. 27 50 Jahre (wie Anm.12), Frontispiz; ML, Bd. 2 (wie Anm.11), Frontispiz. 28 Jürgen Zimmer, Bibliografie Wilhelm (von) Bode, in: Jahrbuch der Berliner Museen 38, 1996. Beiheft „Kennerschaft“. Kolloquium zum 150sten Geburtstag von Wilhelm von Bode, S. 183-249, hier S. 183. 29 Heinrich Hotho war erster Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts gewesen, qua wissenschaftlicher Expertise aber mehr Kunstphilosoph als Historiker. 30 Eduard Kolloff, sog. „Entdecker Rembrandts“, 1876 bereits betagt in Paris lebend.

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Friedrich Lippmann] zusammen, als ich zur Versteigerung der Sammlung seines Bruders von Lippmann-Lissingen geschickt war. Ich fand Lippmann in verzweifelter Stimmung. Sein Bruder, der eine Zeitlang zu den reichsten Leuten Wiens gezählt wurde, hatte durch die Krisis, die in Wien der Ausstellung 1873 gefolgt war31, den größten Teil seines Vermögens verloren, so daß er sich schließlich zur Versteigerung seiner wertvollen Bildersammlung, die er unter der Aufsicht seines Bruders zusammengebracht hatte, entschließen mußte. Friedrich Lippmann, dessen Vermögen dabei gleichfalls stark in Mitleidenschaft gezogen und der daher am Erfolg der Versteigerung mit interessiert war, hatte die Inszenierung in Paris übernommen. Was er dabei erfahren und erlitten, die schmähliche Behandlung durch die maßgebenden Händler, der Zwang, sie am Gewinn stark zu beteiligen, Hauptbilder vor der Versteigerung im Hôtel Drouot billig abzugeben: alles das hatte ihn aufs tiefste niedergedrückt. Nur die Aussicht, nach Berlin als Direktor des Kupferstichkabinetts zu kommen, hielt ihn noch hoch. Ich sagte ihm, daß ich alles dafür vorbereitet hätte, verhehlte ihm aber die Schwierigkeiten nicht. Man habe ihn dem Ministerium, gerade von Wien aus, als halben Händler, als unstet, launisch und bequem geschildert, man habe auch Angst, ihn als Ausländer und Juden dem Kaiser in Vorschlag zu bringen. Außerdem nähme man Anstand daran, daß er sich wissenschaftlich bisher nicht betätigt, ja nicht einmal den Dr. phil. gemacht habe. Lippmann erklärte sich bereit, den Doktor nachzuholen, wir besprachen ein Thema, und einige Monate später lag diese für das Herz eines Philologen wie Schöne32 unerläßliche Prüfung wissenschaftlichen Strebens glücklich hinter ihm. Inzwischen hatte ich, im Juli, eine Reise nach Wien gemacht, um über den Ankauf der wertvollen Lippmannschen Sammlung altdeutscher und altniederländischer Gemälde, die für 50.000 fl. angeboten war, zu verhandeln. Bei der Gelegenheit glückte es mir, die dortigen maßgebenden Herren, namentlich Eitelberger33 für die Unterstützung bei Lippmanns Berufung nach Berlin zu gewinnen, nachdem dieser vom Österreichischen Museum zurückgetreten war. Ich teilte Eitelberger mit, weshalb wir einen Mann wie Lippmann an der Spitze des Kabinetts brauchten, und fand ihn bereit, nach Berlin zu kommen, um dort im Ministerium alle gewünschten Aufklärungen über seinen langjährigen Volontär und Assistenten zu geben. Sein Wort war entscheidend, sowohl beim Protektor34 wie beim Minister. Genoß doch Eitelberger große Achtung und Vertrauen auch in Preußen, dank seiner Erfolge in Österreich, wo er – und er fast allein – durch seine geschickte diplomatische Art für die Belebung des Kunsthandwerkes wie für die Inventarisation und den Schutz der Denk-

31 Dem Wiener Börsencrash von 1873. 32 Der ironische Unterton gilt Bodes jahrzehntelangem Vorgesetztem, Richard Schöne, dem Direktor der Königlichen Museen in Berlin. 33 Rudolf Eitelberger, Direktor des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, und somit Kollege wie Konkurrent im latenten Wiener-Berliner Museumswettstreit. 34 Kronprinz Friedrich Wilhelm, Protektor der Museen.

232 | THOMAS E SER mäler Außerordentliches geleistet hatte. Bereits Anfang November 1876 zog Friedrich Lippmann als Direktor in das Kupferstichkabinett ein, aus dem Professor Weiß35 ausschied, um, durch gute Freunde, zu der Würde eines Direktors des Kgl. Zeughauses befördert zu werden; freilich nur für kurze Zeit, da er hier noch weniger brauchbar war.“36

Der Berufungsbericht, in schnellem Fakten-Stakkato niedergeschrieben, will als Husaren-Stück gelesen sein. Mühelos gelang Bode vieles auf einen Streich. Für Berlin entdeckte und besorgte er mit Lippmann einen hervorragenden neuen Mitarbeiter. En passant hatte er Lippmann vorher noch vor bösen Pariser Händlern, und damit gleich die ganze Lippmann-Familie vor privatem Konkurs gerettet. Dabei verscherzte es sich Bode bei der Berufung nicht mit Lippmanns österreichischem Vorgesetzten, dem eine Generation älteren Wiener Museumspapst Rudolf Eitelberger. Ja, Bode weiß Eitelberger sogar für die Wiener Abberufung einzuspannen und nach Berlin zu bewegen, wo sich der selbstlose Eitelberger für die Abwerbung seines tüchtigen Mitarbeiters einsetzt. Nebenbei kümmert sich Bode um die unverzügliche Nachqualifikation seines neuen Protegees „in einigen Monaten“, mit einem Seitenhieb gegen titelfixierte „Philologen“ wie seinen Chef, den allseits renommierten Richard Schöne.

G EGNERSCHAFT

UND S UPERATIO ALS AUTOBIOGRAPHISCHES M OVENS

Generelle Motive von Bodes Professions- und Leistungsverständnis, die in der Lippmann-Passage aufscheinen, sind Elitevernetztheit und Reisediplomatie, ein unverzügliches Vor-Ort-Sein, wenn es etwas zu Kaufen oder Managen gibt, sowie die regelmäßige Übervorteilung Frankreichs und Österreichs als den beiden großen nationalen Kontrahenten Preußens, wenn etwa habgierige Pariser Händler zurechtgewiesen oder Wiener Kollegen personalpolitisch über den Tisch gezogen werden. Entsprechend größte autobiographische Freude macht Bode das Beschreiben von Gegnern, Widersachern, Konkurrenten. Auseinandersetzungen mit ihnen enden idealerweise im Triumph. Drei Schlachtfelder taten sich auf. Vor allem Bodes kennerschaftliche Auseinandersetzungen mit Fachkollegen gewannen seit den 1890er Jahren an Schärfe. Man warf sich gegenseitig vor, Fälschungen aufgesessen zu sein. Gestritten wurde um die (v.a. französische) Mo-

35 Hermann Weiß, Direktor des Königlichen Zeughauses, erneut platziert Bode hier den Professorentitel mit spitzer Ironie für eine „unbrauchbare“ Person. 36 ML, Bd. I (wie Anm. 11), S. 121f.

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derne und deren Sammlungseignung für (deutsche) Galerien und Museen. Bode nahm hier eine streng konservative Haltung ein. Die letzten Lebensjahrzehnte bestimmten dann Baufragen, im besonderen Fragen der richtigen Nutzung der nördlichen Berliner Museumsinsel, der sprichwörtliche ,Berliner Museumskriegʻ, den Bode noch als Achtzigjähriger befeuerte. 37 Fruchtbar wäre zu Bodes Konfliktfeldern eine soziologisch-rollengeschichtliche Untersuchung, die sein streitlustiges Agieren als sammelnder, bauender und publizierender Museumsleiter mit dem generellen Konflikt- und Aggressionspotential der preußisch-gründerzeitlichen Berufswelt Berlins in Beziehung setzte. Denn trotz seiner enormen Leistungsbilanz ist Bodes selbstformuliertes Rollenmovens wieder und wieder auf die Superatio fixiert, auf das Übervorteilen und Überwinden von individuellen Gegnern. Ironischerweise haben Bodes Memoiren hierin viel mit jenen seines intimsten Gegners der Berliner Frühzeit gemein, den „Erlebnissen und Eindrücken“ des Akademiedirektors Anton von Werner (1843-1915)38, der als Karrierist schlechthin galt, und dessen charakterlich übler Nachrede Bode nur deshalb entging, weil ihm die Nachwelt die Staatlichen Museen verdankt.39 Es gibt in Wilhelm Bodes Lebensbeschreibungen keine wirklichen Weggefährten oder Freunde, jedenfalls keine, die regelmäßig über längere Zeit hinweg erwähnt sind. Das Soziogramm, das sich bei der Lektüre ergibt, nennt zu Karrierebeginn einige Mentoren und Förderer, bald auch Vorgesetzte, frühes Bekanntwerden mit Kronprinz und Kaiser, den Kaiserinnen und Ministern, die von ihm Rat erbitten, aber von denen er auch Unhöflichkeiten und Herablässigkeit ertragen muss. Amtliche Vorgesetzte werden zumeist als zaghaft und entscheidungsschwach oder akademisch-kompliziert abqualifiziert. Neutral bis wohlwollend ist das Verhältnis zu Sammlern geschildert, wobei er ganz offen das Zweckfreundschaftliche anspricht. Eine dritte Protagonistengruppe bilden schließlich (ehemalige) jüngere Mitarbeiter, ,Ephebenʻ und Protegés wie Lippmann, mit später oftmals in Gegnerschaft mündenden Karrieren. Die Ausrichtung seiner Gegnerschaften differiert personell und institutionell. Sie ist obrigkeitskritisch, schildert generationsspezifische und nationale Konfliktfelder und bedient sich regelmäßig des Vorwurfs des Dilettantismus oder der Mediokrität. Bodes Anti-Moderne-Haltung ist primär als Generationskonflikt

37 Saalmann (wie Anm.6), S. 190-191. 38 Anton von Werner, Erlebnisse und Eindrücke, Berlin 1913. 39 So Helmut Börsch-Supan, Die offizielle Kunst in Berlin 1875-1890, in: Johannes Kunisch (Hg.), Bismarck und seine Zeit, Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, NF, Beiheft 1, Berlin 1992, S. 323-357, hier S. 336.

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personalisiert, wenn etwa ehemals teils Vertraute und später namhafte Sammlungsdirektoren wie Hugo von Tschudi40 (1851-1911) als nett aber „weichlich“, oder der Hamburger Direktor Gustav Pauli (1866-1938) und Staedel-Chef Georg Swarzenski (1876-1957) samt der Cassirer-Clique bezichtigt werden, ihn zu Fall bringen zu wollen.41 Anti-amerikanisch äußert er sich auch in anderen Schriften, wenn er den europäischen Kunstmarkt von US-amerikanischen Sammlern bedroht sieht.42 Anti-französische und anti-englische Haltungen kulminieren in den Memoiren nicht zuletzt ihres Verfassungszeitpunkts wegen, der sich weit in den Ersten Weltkrieg hineinzog. Vom „Sieg“ erhoffte sich Bode noch 1914 nichts weniger als das Ende der Moderne: „Denn die furchtbaren Plagen, die schrecklichen Folgen jeden Krieges, denen auch der Sieger nicht entgehen kann, werden auch bei uns eine Hebung der vielfach sehr gesunkenen Moral allmählich fördern und werden hoffentlich auch die Kunst von den perversen Bahnen, in die sie, wieder unter Vorgang von Frankreich, sich verirrt hat, in wirklich gangbare Wege einlenken lassen.“43

D ER L ISTIGE . T HEATRALISCHE M OMENTE Bodes Rollen- und Erfolgsverständnis im Berufsalltag – samt dessen anekdotisch-literarischer Überhöhung in der Autobiographie – tritt besonders konzentriert in einer weiteren Passage aus „Fünfzig Jahre Museumsarbeit“ zu Tage. Sie spielt im Pariser Kunsthandel, wo es ihm in der Rue de Rivoli gelang, dem Sammler Friedrich Spitzer einen Donatello abzuluchsen. Die Episode enthält vielerlei Triumph-Motive erfolgreichen Sammelns, von konkurrierender Kennerschaft und latentem Antisemitismus gegenüber jüdischen Sammlern und Händlern, über die große Internationalität im Kunsthandel und die permanente Fälschungsphobie bis hin zum Agieren incognito.

40 In den 1880ern Assistent bei Bode in Berlin, privat sogar eine Weile sein Untermieter. 1996 Direktor der Nationalgalerie gegen Bodes Willen. 41 ML, Bd. I (wie Anm. 11), S. 391, 412. 42 Die amerikanische Gefahr im Kunsthandel, in: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe 5, 1907, S. 4-6. 43 ML, Bd. I (wie Anm. 11), S. 391.

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„Ich besuchte den bekannten Pariser Amateur-Marchand Friedrich Spitzer, der damals (1877) noch in einem Hause der Rue de Rivoli wohnte, und ließ mir seine Schätze zeigen, als sich unerwartet Baron Adolphe Rothschild, sein Gönner und bester Kunde, melden ließ, mit dem er mich aus irgendeinem Grund nicht zusammenzubringen wünschte. Er nötigte mich daher rasch in ein kleines Zimmer nach dem Hofe, mit allerhand Abraum. Am Boden lag eine Bronzebüste ohne Sockel, die meine Aufmerksamkeit erregte. Ich betrachtete sie genau, und Spitzer überraschte mich mit der Büste in der Hand, als er wieder eintrat, und mich mit den Worten empfing: ,die garstige Fälschung hätten Sie liegen lassen sollen; es ist eine Schande, daß ich mich damit habe anführen lassen.ʻ Auf dieses Bekenntnis seinerseits behielt ich die Bemerkung, daß mir die Büste eine Studie Donatellos zu der von ihm geplanten Reiterstatue des großen Mantuaner Condottiere zu sein schiene, wohlweislich bei mir und konnte einige Wochen später ,die Fälschungʻ um 3000 Francs durch einen Bekannten Spitzers erwerben.“44

Handlung und Motivik sind gleich einer Theaterszene verdichtet. Sie spielt in Hinterzimmern, die Protagonisten treten unvermittelt auf und ab, verstecken, betrügen und übervorteilen sich. Wie zu erwarten, bleibt der Ich-Erzähler schließlich Sieger, sein Einsatz unlauterer Mittel tut dem Stolz keinen Abbruch. Kernszene ist das Überrascht-Werden „mit der Büste in der Hand“, wie es sich als Standardpose im Bode-Porträt bereits etabliert hatte (vgl. Abb. 22-26). Eine private Charakterschwäche, zu der sich Bode mit durchaus sympathischer Ehrlichkeit bekennt, ist (als Steigerung der List ins Lasterhafte) gelegentliche Bosheit, vor allem dann, wenn sie sich gegen konkurrierende Nationalitäten richten ließ. Ein deftiges Beispiel birgt die Schilderung der Rückreise zur See von der Chicagoer Weltausstellung von 1892. Bode litt unter heftiger Seekrankheit und übergab sich versehentlich in der Kabine eines englischen (!) Mitreisenden: „Da wurde mir plötzlich so elend, daß ich schleunigst nach unten in meine Kabine stürzte […] aber kaum war ich in der Kabine, als die Explosion schon in furchtbarster Weise erfolgte. Wie ich endlich etwas zu Bewußtsein kam und wieder aus den Augen sehen konnte, erschien mir die Kabine fremd. Ich sah näher zu und – richtig: ich war in der Kabine des Nachbars! Entsetzt und doch voll teuflischer Freude schlüpfte ich hinaus in meine eigene Kabine und lag nach wenigen Minuten in meinem sauberen, warmen Bett und schlief zwölf Stunden durch – so fest, daß ich nicht einmal von der Entrüstung des Nachbars etwas hörte, als er spät abends von seiner Pokerpartie herunterkam, und die freundli-

44 50 Jahre (wie Anm. 12), S. 47.

236 | THOMAS E SER che Bescherung in seiner Kabine entdeckte! Von diesem Tage ab fühlte ich mich pudelwohl.“45

M EMOIREN ? L EBENSERINNERUNGEN ? R ECHTFERTIGUNGSSCHRIFT ? „Mein Leben“ ist ein langer, mit Ehre-generierender Intention verfasster Tätigkeitsbericht, durchsetzt mit kleinen, wohl dosierten Exkursen ins PrivatMenschliche. In der äußeren Summe ein großes Leistungszeugnis, Protokoll der beruflichen Lebensleistungen und Positionierungen gegen Widerparte, mit gegen Ende zunehmenden, warnenden, memorandenartigen Passagen über Fehlentwicklungen, im Besonderen bei den modernen Museumsbauten, und somit eindeutiger Tendenz zur Rechtfertigungsschrift. Warum schrieb Bode eine Rechtfertigungsschrift, wo er es als ,Bismarck des Museumsʻ doch gar nicht nötig gehabt hatte? Einen Gutteil trugen sicher die exogenen, ereignisgeschichtlichen Lebensumstände von Bodes Generation, also der um 1850 Geborenen, bei. Die fünf Jahrzehnte ihres Erwachsenendaseins und ihrer beruflichen Karriere waren in tragischem Auf und Ab gerahmt vom „ große[n] Jahr unserer neueren deutschen Geschichte“ 1870/7146 und dem „furchtbaren Wechsel“ von 1918.47 Versagenserfahrung brachte dabei nicht nur Versailles und das Ende Preußens mit sich. Auch der Sieg der Moderne, jener „ultraimpressionistischen Richtung“48 und ihr Einzug ins Museum, den Bode zeitlebens hatte verhindern wollen, war zum Zeitpunkt des Verfassens endgültig Bahn gebrochen. In „Mein Leben“ hält Bode der kollektiven Enttäuschtheit über den totalen Verlust preußisch-konservativer Werte sein besonders rechtschaffen-erfolgreiches, individuelles Leben entgegen. Bodes Kuratorengeneration übte ihr Amt in heftigen, als existenziell empfundenen Autoritätskonflikten aus, die oftmals die psychischen Belastungsgrenzen überschritten. Bodes „nervenkranker“ Wiener Museumsleiterkollege Moriz Thausing etwa, Direktor der Albertina, stürzte sich 1884 eines Forschungsstreits mit Wiener und Berliner Museumskollegen wegen in Leitmeritz

45 ML, Bd. I (wie Anm. 11), S. 258-259. 46 Ebd., S. 27. 47 Ebd., S. 408. 48 Ebd., S. 278f.

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in die Elbe und ward erst Tage später tot geborgen. 49 Wilhelm Bode stürzte sich nicht in die Havel. Wie sich ein gründerzeitlicher Firmeninhaber auf dem Totenbett um die posthume Marktfähigkeit seiner Firma gesorgt haben mag, resümierte er schon in mittleren Jahren über eine Zeit im Krankenbett: „Die Lebensgefahr, in der ich damals und seither wiederholt schwebte, ließ mich der unfreiwilligen Muße auf dem Krankenbett, neben dem Ausspinnen von Plänen für Neubauten, über Wege und Mittel nachsinnen, wie über mein Leben hinaus unsere Museen auf dem Kunstmarkt konkurrenzfähig erhalten werden können.“50

49 Theodor von Frimmel, Artikel „Thausing, Moriz“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 37, Leipzig 1894, S. 660-664. 50 50 Jahre (wie Anm. 12), S. 31f.

„Menschen zu helfen, ist überall nötig und möglich, nicht erst in Lambaréné“. Zur autobiographischen Konstruktion eines humanitären Helfers J OHANNES P AULMANN

I M D IENST DER H UMANITÄT : AUTOBIOGRAPHISCHE K ONSTRUKTION Politikwissenschaftler und Ethnologen erzählen die Geschichte der westlichen humanitären Hilfe als eine Geschichte, die gekennzeichnet ist von Professionalisierung, Säkularisierung und Internationalisierung.1 Damit erscheint sie als Teil von fundamentalen Prozessen im 20. Jahrhundert: als Teil des Aufstiegs der „professional society“ (Harold Perkin), als Form des zunehmenden Einflusses von Experten in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sowie als Ausprägung der Verwissenschaftlichung des Sozialen in einer säkularen und globalisierten Moderne.2 Die Anfänge dieser langfristigen Entwicklung der humanitä-

1

Siehe Jonathan Benthall, Relief, in: The Palgrave Dictionary of Transnational History, hg. von Akira Iriye/Pierre-Yves Saunier, Basingstoke 2009, S. 887–893; Michael Barnett, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca, N.Y. 2011, S. 17f.; kritisch abwägend Johannes Paulmann, Conjunctures in the History of International Humanitarian Aid during the Twentieth Century, in: Humanity 4 (Heft 2), 2013, S. 215-238, hier S. 218f. Dieser Aufsatz behält die ursprüngliche Vortragsform im Wesentlichen bei; die Anmerkungen beschränken sich auf ein Minimum. Für wertvolle Hinweise danke ich Bernhard Gißibl (Mainz).

2

Siehe Harold Perkin, The Rise of Professional Society. England since 1880, London 1989; Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und

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ren Hilfe lagen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg im Umfeld des Völkerbunds, doch kamen sie erst nach 1945 voll zum Tragen. Die Zahl der internationalen Organisationen vermehrte sich jetzt unter dem Schirm der Vereinten Nationen, als aus temporären Kriegs- und Nachkriegsorganisationen der Krisenbewältigung dauerhafte UN-Einrichtungen wurden. Das reichte vom Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR bzw. Office of the United Nations High Commissioner for Refugees, 1950-51) über die Organisation für Katastrophenhilfe (UNDRO, United Nations Disaster Relief Organization, 1971) bis zum UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA, 1991). 3 Einen organisatorischen Schub erfuhr das Aktionsfeld der humanitären Hilfe ferner durch die Gründung von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen in den sechziger Jahren, insbesondere jedoch durch die starke Vermehrung internationaler NGOs ab den achtziger Jahren. Zunehmender Wettbewerb zwischen den Organisationen um Gelder und Spenden sowie ein verstärktes Medienengagement – im doppelten Sinne der Medienberichterstattung und der Medienarbeit seitens humanitärer Organisationen – begleiteten die Entwicklung. Die Rede ist daher heute kritisch von ,Mediatisierungʻ, d.h. dass Medien, ihre Interessen und Logik, den Diskurs und die Aktivitäten der humanitären Akteure beeinflussen, wenn nicht gar bestimmen. Und die Rede ist von der ,humanitären Internationaleʻ bzw. der ,Hilfe- und Entwicklungsindustrieʻ bestehend aus internationalen Organisationen, Entwicklungs- und Nothilfeexperten sowie Beratern, Wissenschaftlern, Lobbyisten und Fachjournalisten.4

konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (Heft 2), 1996, S. 165-193; Martin Kohlrausch /Helmuth Trischler, Building Europe in Expertise. Innovators, Organizers, Networkers, Basingstoke 2014; ferner Reiner Grundmann/Nico Stehr, Expertenwissen. Die Kultur und die Macht von Experten, Beratern und Ratgebern, Weilerswist 2010; Karl A. Ericsson, Toward a General Theory of Expertise. Prospects and Limits, Cambridge 1999. 3

Hinzu kamen in der Mitte der siebziger Jahre verschiedene Notfallämter der UN Food and Agriculture Organization (FAO), des World Food Programme und der World Health Organization (WHO).

4

Winfried Schulz, Reconstructing Mediatization as an Analytical Concept, in: European Journal of Communication 19 (Heft 1), 2004, S. 87-101; Frank Bösch/Norbert Frei (Hgg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; Gerhard Vowe, Mediatisierung der Politik. Ein theoretischer Ansatz auf dem Prüftstand, in: Publizistik 51 (Heft 4), 2006, S. 437-455; Friedrich Krotz, The meta-process of ‚mediatization‘ as a conceptual frame, in: Global Media and Comunication 3 (Heft

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Dieses bekannte Narrativ aus politikwissenschaftlicher, organisationssoziologischer und medienwissenschaftlicher Perspektive möchte ich mit einer Gegenerzählung kontrastieren. Sie findet sich exemplarisch in der autobiographischen Konstruktion eines humanitären Helfers, der in Deutschland gerade in jenem Zeitalter, das als von Professionalisierung geprägt erscheint, aktiv war: Gemeint ist Rupert Neudeck (1939-2016). Neudeck publizierte seine autobiographischen Erinnerungen als 68-Jähriger im Jahr 2007 unter dem Titel Abenteuer Menschlichkeit.5 Bereits 2002 hatte er Erinnerungen an Die Menschenretter von Cap Anamur veröffentlicht. Mit ,Cap Anamurʻ, dem Namen eines Rettungsschiffes für Bootsflüchtlinge, nahm er auf jene vom ihm begründete Hilfsorganisation Bezug, die ihn 1979 in Deutschland und darüber hinaus zum allseits bekannten humanitären Helfer gemacht hatte. Neudeck war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eine prominente Figur. Seine autobiographischen Schriften richteten sich insofern an eine breitere Öffentlichkeit, als sie einerseits der Spendenwerbung dienten6, andererseits aber auch allgemein die Bewusstseinsbildung über die Verhältnisse in der ,Dritten Weltʻ fördern sollten. Sie können jedoch zugleich als eine Form der Selbstdeutung und -auslegung verstanden werden. Als Journalist war es Neudeck gewohnt, seinen Lesern mit Narrativen eine gesellschaftliche Deutung von Ereignissen vorzulegen. In den Texten geht es daher auch um das gesellschaftliche Bild des Helfers.7 Obgleich die Öffentlichkeit Neudeck als gleichsam berufsmä-

3), 2007, S. 256-260; Alex de Waal, Famine Crimes. Politics and the Disaster Relief Industry in Africa, Oxford 1997. 5

Benutzte Ausgabe: Rupert Neudeck, Abenteuer Menschlichkeit. Erinnerungen, Köln 2007 (erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch); siehe auch Christel und Rupert Neudeck, Zwei Leben für die Menschlichkeit, Gütersloh 2009 (Gütersloher Verlagshaus) und Rupert Neudeck, Die Menschenretter von Cap Anamur (zuerst bei C. H. Beck, München 2002), München 2004 (Wilhelm Heyne Verlag).

6

In Neudecks Buch ist eine Anzeige seiner später gegründeten Organisation „Grünhelme e.V.“, mit der nach freiwilligen Mitarbeitern (Bauhandwerkern und Medizinern) gesucht wird, unter der Nummer des Spendenkontos abgedruckt.

7

In der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung wird unterschieden zwischen Memoiren und Autobiographie. Memoiren reflektieren eher die öffentliche Funktion und Rolle im Hinblick auf deren gesellschaftliche Bedeutung und Aussagekraft; Autobiographien sind stärker auf die Person und auch das Privatleben orientiert. Das ist für den vorliegenden Aufsatz nicht bedeutsam, mag aber im Hinblick auf Unterscheidungen zwischen Autobiographie als Genre und Autobiographischem als in andere Texte eingebundene Einlassungen, die biographische Selbstauslegung betrei-

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ßigen humanitären Helfer wahrnahm und er einer bekannten humanitären Organisation vorstand8, sind die Bücher nur auf eine gewisse Art Professionsautobiographien. Sie propagierten nämlich eigentlich das Gegenteil des ausgebildeten Experten im Dienst einer internationalen humanitären Organisation: Ihr Modell war tatsächlich der humanitäre Helfer als berufsmäßiger Nicht-Experte, der Mensch „im Dienst der Humanität“.9 Sein Erfolg und die Legitimation seines Handelns beruhte gerade darauf, dass er sich von Experten gezielt abgrenzte. Um die autobiographische Konstruktion als Gegenerzählung zu den strukturellen und über den Individuen stehenden Entwicklungen von Professionalisierung und Säkularisierung herauszuarbeiten, werde ich in einem ersten Abschnitt das Verhältnis von Hilfe für den Nächsten zu der Frage nach der sachlichen Zuständigkeit behandeln. Neudecks Hervorhebung dieses von ihm als zentral erachteten Spannungsfeldes verweist auf den Einfluss der katholischen Soziallehre und seine eigene anhaltende Kritik an der bürokratischen Moderne. Der folgende Abschnitt beleuchtet die medialen Verflechtungen des humanitären Helfers, der sich einerseits gegen die Logik der Medien wehrte, andererseits aber unausweichlich auf sie angewiesen war und sich ihrer geschickt bediente. Der letzte Abschnitt erläutert, wie Neudeck seine individuellen Lebenserfahrungen heranzieht, um die autobiographische Konstruktion als humanitärer Helfer zu festigen, ja sie geradezu als einen zwingenden Lebenslauf zu begründen.

ben, wichtig sein. Die vorliegenden Texte Neudecks vermischen beide Formen der eigenen Lebensbeschreibung. 8

Neudeck war von 1975 bis 2002 beim Deutschlandfunk fest angestellt; Neudeck, Abenteuer (wie Anm. 5), S. 177. Er behauptet, dass er „dieses Nebeneinander von im Grunde zwei Berufen […] nur schaffen [konnte], weil es für die Sache der humanitären Arbeit beim Sender eine Grundsympathie gab“; ebd., S. 178.

9

Neudeck, Abenteuer (wie Anm. 5), S. 85. Vgl. zu den Vorstellungen über die Ausbildung von Entwicklungshelfern in den 1960er Jahren mit Fokus auf „ökonomischer Selbsttechnik“ Sandra Maß, „Eine Art sublimierter Tarzan“. Die Ausbildung deutscher Entwicklungshelfer und -helferinnen als Menschentechnik in den 1960er Jahren, in: WerkstattGeschichte 42, 2006, S. 77-89; mit Betonung kolonialer Traditionen und rassistischer Einstellungen die Thesen von Hubertus Büschl, In Afrika helfen. Akteure westdeutscher „Entwicklungshilfe“ und ostdeutscher „Solidarität“ 1955-1975, in: Archiv für Sozialgeschichte 48, 2008, S. 333-365.

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D ER N ÄCHSTE UND DER Z USTÄNDIGE : K ATHOLISCHE S OZIALLEHRE UND BÜROKRATISCHE M ODERNE Rupert Neudeck bezieht sich in seinen Erinnerungen 2007 an mehreren Stellen auf einen anderen, weithin bekannten humanitären Helfer: auf Albert Schweitzer (1875-1965). Er führt ihn nicht ausdrücklich als ein persönlich maßgebliches Vorbild an. Gleich auf der ersten Seite verweist er jedoch auf eine Verbindung zwischen Jean-Paul Sartre, den er als seinen eigenen Mentor ausführlicher würdigt, und Albert Schweitzer. Sartres Vater Jean-Baptiste heiratete nämlich 1904 Anne-Marie Schweitzer, eine Cousine Albert Schweitzers, und Jean-Paul wuchs nach dem frühen Tod seines Vaters ab 1906 bei seinem Großvater Charles Schweitzer auf. Verwunderlich ist diese kurze, aber prominent platzierte, explizite Referenz an Albert Schweitzer nicht, galt dieser doch in den fünfziger Jahren als einer der ,großenʻ und guten Deutschen. Rupert Neudeck hätte es wahrscheinlich nicht so formulieren wollen, doch stellte er sich mit diesem Hinweis auf Schweitzer gleich auf der ersten Seite seiner Erinnerungen in die Nachfolge des berühmten Mannes. Die zweite Referenz erwies Neudeck dem Tropendoktor, als er über die Zeit seines angefangenen, dann aber abgebrochenen Jurastudiums in Bonn Ende der fünfziger Jahre berichtete. Damals engagierte er sich mit anderen Mitgliedern der Katholischen Studentengemeinde in der Vinzenz-Konferenz, einer 1833 in Paris gegründeten Organisation für Laien, die sich – ihrem Vorbild, dem heiligen Vinzenz von Paul aus dem 17. Jahrhundert folgend – für notleidende arme Mitmenschen in ihren Pfarrgemeinden einsetzten. Die Mitglieder arbeiteten unentgeltlich, jeder konnte tätig werden. Neudeck schreibt, dass er diese Zeit nie vergessen werde, „weil sie bis heute für mich die Wegmarkierung ist: Arme haben wir immer und überall. Menschen zu helfen, ist überall nötig und möglich, nicht erst in Lambaréné.“10

10 Neudeck Abenteuer (wie Anm. 5), S. 24. In einer dritten Referenz an Schweitzer berichtet Neudeck über den Kinderchirurgen Dr. Alfred Jahn (geb. 1937), den er als einen „der späten Nachfahren von Albert Schweitzer“ bezeichnet, „der ja schon Anfang des 20. Jahrhunderts als junger Pfarrer die ‚vielgerühmten Kulturstaaten‘ aufforderte, endlich etwas für diesen Kontinent [Afrika] zu tun“; Neudeck Abenteuer (wie Anm. 5), S. 108. Jahn, von 1983 bis 2002 Chefarzt der Kinderchirurgie an St. Marien in Landshut, war in den 1970er Jahren u.a. auf dem deutschen Hospitalschiff ,Helgolandʻ in Vietnam tätig gewesen. Er behandelt seit den 1990er Jahren bis heute Kinder in Ruanda, wo er seit seinem Eintritt in die Rente auch lebt. Siehe Alfred Jahn,

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Neudeck führt hier über seine Aktivität in der Studentenzeit ein zentrales Motiv seines Selbstverständnisses als humanitärer Helfer ein: die Hilfe für den Nächsten – ob nah oder fern. Die Nächstenliebe ist bei ihm allerdings keine gradlinige Angelegenheit. Er erzählt an anderer Stelle (im Kapitel „Christ sein“) auch die Beispielgeschichte vom barmherzigen Samaritaner 11 und nutzt sie zur scharfen Abgrenzung. Priester und Levit helfen dem unter die Räuber gefallenen Mann, der von Jerusalem nach Jericho unterwegs war, nicht. Der Samaritaner jedoch – Angehöriger einer nicht zu den zwölf Stämmen Israels zählenden Glaubensgemeinschaft und damit dem Hilfsbedürftigen scheinbar am entferntesten stehend – erbarmte sich, versorgte die Wunden des Verletzten und brachte ihn zur weiteren Pflege in die nächste Herberge. Neudeck zieht in seiner Interpretation eine scharfe Linie, indem er folgert: „Das ist eben der alles entscheidende Unterschied: Ein Christ ist immer ein Nächster, nie der Zuständige.“ Mit den Zuständigen bezeichnet er abwertend den Priester und den Leviten, „deren Beruf es ist zu helfen“, die jedoch beide entweder vorgaben, „nicht das richtige Mandat“ zu haben, oder „Ärger und Folgelasten fürchteten“. 12 Seine Abgrenzung des Nächsten, der Hilfe leistet, von den „Zuständigen“, die Hilfe leisten müssten, es aber nicht tun, erläutert Neudeck in seinen Erinnerungen wiederholt. Das beginnt mit der Darstellung seiner eigenen Hilfsaktion für vietnamesische Bootsflüchtlinge zwischen 1979 und 1981. Damals gründete er zusammen mit seiner Frau Christel und dem Schriftsteller Heinrich Böll die Organisation ,Cap Anamur/Deutsche Notärzte e.V.ʻ. Sie rüsteten ein Hospitalschiff aus – die ,Cap Anamurʻ –, das Menschen, die aus Vietnam flohen, im südchinesischen Meer vor dem Ertrinken, Verdursten und Ausgeraubt werden retten sollte. Die befristete Nothilfeaktion machte Neudeck weithin bekannt. Seine Prominenz war eng verbunden mit der bis heute existierenden Organisation, die

Erinnerungen und Reflexionen. Hospitalschiff „Helgoland”, Vietnam – Landshut – Ruanda, Sonnefeld 2016; Ders., Thailand, ganz anders. Erlebnisse eines deutschen Kinderchirurgen, München 1988 (Neuauflage: Nierstein 2003); Suzanne Kaplan (Hg.), Kinderchirurg Dr. Alfred Jahn und die Waisenkinder von Kigali, Nierstein 2004; Iris Hellmich/H. Eckstein (Hgg.), Dr. Alfred Jahn in Ruanda. Berichte und Gedanken über Kinderschicksale, Dienheim 2007. Jahn spielt in mehreren Fernsehdokumentation Hans-Dieter Grabes (geb. 1937) eine zentrale Rolle bzw. wird selbst zum Gegenstand: zuerst in Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang (1970), dann in Dr. med. Alfred Jahn, Kinderchirurg in Landshut (1984) und in Diese Bilder verfolgen mich – Dr. med. Alfred Jahn (2002). 11 Neudeck, Abenteuer (wie Anm. 5), S. 211. 12 Ebd.

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sich dauerhaft etablierte und im Folgenden in verschiedenen Krisenregionen der Welt tätig geworden ist. Die neuartige Rettung der Bootsflüchtlinge im Jahr 1979 schildert Neudeck in seinen Erinnerungen als eine Auseinandersetzung zwischen dem Nächsten und dem Zuständigen: „Nah ist jemandem, der auf dem Südchinesischen Meer in Gefahr ist zu ertrinken, nur der, der schon auf dem Weg zu ihm ist und ihn mit einem großen Schiff retten kann. Ob dieser das richtige Mandat hat und die richtige Fahrtroute, ob er erfahren ist in Seenotrettungsaktionen oder in Aufnahmequisquilien, ist erst mal ganz nebensächlich. Entscheidend für den Nächsten ist, dass er da ist.“13

Neudeck benennt konkret verschiedene Zuständige, die nicht tätig wurden oder ihm und seinen Leuten gar Steine in den Weg legten: die amerikanische Marine, der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen und der Chef der Caritas, ferner die Beamten des Auswärtigen Amtes mit ihren seerechtlichen Bedenken, die Ministerialbeamten und Politiker in der Bundesrepublik, deren Bereitschaft, Vietnamesen als Asylanten aufzunehmen, nicht lange anhielt. Auf die teilweise heftigen Auseinandersetzungen mit anderen, großen Hilfsorganisation in der Bundesrepublik, zum Beispiel dem Deutschen Roten Kreuz, geht Neudeck nicht weiter ein. Der persönliche und organisatorische Konflikt zwischen ihm und dem Präsidenten Walter Baragtzky sowie dem Generalsekretär Jürgen Schilling ist historisch aus den Quellen untersucht worden und braucht an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.14 Hinter den konkreten Konflikten und damit strategisch verknüpften Abgrenzungen steht bei Neudeck ein allgemeines Spannungsverhältnis: das Unbehagen an der bürokratischen Moderne.15 Er schreibt

13 Ebd., S. 54. Das Zusammenwirken von zivilgesellschaftlichen Gruppen, staatlichen Stellen, Parteien und Medien bei der Aufnahme der Flüchtlinge erläutert Frank Bösch, Engagement für Flüchtlinge. Die Aufnahme vietnamesischer „Boat People“ in der Bundesrepubklik, in: Zeithistorische Forschungen 14, 2017, S. 13-40. 14 Zu den Konflikten siehe Michael Vössing, Competition over Aid? The German Red Cross, the Committee Cap Anamur, and the Rescue of Boat People in South-East Asia, 1979-1982, in: Johannes Paulmann (Hg.), Dilemmas of Humanitarian Aid in the Twentieth Century, Oxford 2016, S. 345-368. 15 Neudeck kritisierte die Moderne im Sinne der bürokratische Moderne, in der Rationalität an die Stelle affektiver sozialer Beziehungen tritt. In Max Webers Bestimmung der rationalen Herrschaft ist Kompetenz (Zuständigkeit) zusammen mit dem regelgebundenen Betrieb von Amtsgeschäften eine Grundkategorie, „welche bedeutet a)

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selbst in seinen Erinnerungen im Zusammenhang mit der Rettungsaktion für Vietnamesen: „Das ist der Unterschied zwischen dem Nächsten und dem Zuständigen. Die Moderne lebt ja von Zuständigkeiten, von Experten und Gutachten. Davon muss sich, wer Menschen aus den Klauen von Ritter, Tod und Teufel befreien will, frei machen.“16 Schon das Wort „Abenteuer“ im Buchtitel betont ein risikofreudiges, tatkräftiges Anpacken von unmittelbaren Problemen. Damit stilisiert sich Neudeck als Aktivist und sucht sich von sorgfältig geplantem, organisiertem, aber zu langsamem und distanziertem Vorgehen anderer abzugrenzen. Tatsächlich huldigt Neudeck gleichsam der ‚guten Tat‘, wenn er fortfährt: „Wie wir uns davon frei gemacht haben? Nicht mit Hilfe einer Strichliste oder eines Kriterienkatalogs, nein, durch die Aktion, die Tat.“ Auch hier geht es um Selbststilisierung, denn Neudeck geht bei seinen „Abenteuern“ durchaus planvoll und organisiert vor. Seine Legitimation gewinnt er aus der christlichen Lehre: „Was bedeutet mir denn die Lehre des Evangeliums, wenn ich sie nicht einmal im Leben beherzigen und anwenden kann, nämlich genau dann, wenn die Lage, die Situation da ist“.17 Er beruft sich explizit sogar auf Jesus, der die Gesetze und Normen nicht aufheben wollte, aber dort mit ihnen in Konflikt geriet, wo sie sich gegen die Menschen und die Nächstenliebe richteten.18 Neudeck vergewissert sich so in seinem Christsein seines „Abenteuer(s), genannt humanitäre Hilfe“.19 Offenkundig muss er sich in seinen Erinnerungen als fast Siebzigjähriger gegen verschiedene Entwicklungen seit 1979 abgrenzen, gegen die vielfältige Konkurrenz anderer humanitärer Organisationen und deren Anspruch. Er platziert sich selbst und seine Tätigkeit in die Entwicklung der demokratischen Zi-

einen kraft Leistungsverteilung sachlich abgegrenzten Bereich von Leistungspflichten, b) mit Zuordnung der etwa dafür erforderlichen Befehlsgewalten und c) mit fester Abgrenzung der eventuell zulässigen Zwangsmittel und der Voraussetzungen ihrer Anwendung.“ – Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972, S. 125. 16 Neudeck, Abenteuer (wie Anm. 5), S. 54f.; Neudeck wendet sich auch an anderer Stelle gegen Experten: „Wenn es um die Rettung von Menschenleben geht, haben Zuständigkeit und Fachgutachten ausgespielt“ (ebd., S. 60). Nur mit deutlicher Distanzierung schreibt er einmal davon, dass das Komitee „Ein Schiff für Vietnam“ schnell „den Ruf der Experten“ hatte (ebd., S. 69). 17 Ebd., S.55 18 Ebd., S. 222, mit direktem Bezug auf ein Buch von Heiner Geißler, Was würde Jesus heute sagen. Die politische Botschaft des Evangeliums, Berlin 2003. 19 Ebd., S. 57.

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vilgesellschaft, deren Anfänge Historiker in die Jahrzehnte ab den neuen sozialen Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre datieren. Neudeck schreibt: „In einer freien Verfassung gibt es den Staat und die Gesellschaft, die sich als Träger dieses Landes gleichberechtigt gegenüberstehen und nebeneinander arbeiten. In einer freien demokratischen Ordnung kann die freie Bürgerinitiative Dinge tun, die die eigene Regierung manchmal am liebsten verbieten würde. (…) Die freie Bürgerinitiative ist für mich das Urbild der NGO. Die Nichtregierungsorganisation ist für mich bestimmt durch das unabhängige Agieren von Staat und Kommerz. Die Mehrzahl der NGOs sind heute (2007) für mich keine NGOs mehr“.20

Hier grenzt Neudeck sich von einer Entwicklung ab, die wir aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit Professionalisierung der humanitären Hilfsorganisationen beschreiben. Dezidiert heißt es unter der Überschrift von Kapitel 5 „Im Dienst der Humanität“: „Eines muss ich in der Rückschau immer wieder betonen, weil es bis heute unsere Arbeit charakterisiert: Das Komitee ‚Ein Schiff für Vietnam‘ ist nicht im klassischen Sinne ‚gegründet‘ worden, sondern spontan entstanden, aus dem Wunsch, in einer konkreten Situation zu helfen. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu der bedachten, über Monate und Jahre vorbereiteten Gründung einer Organisation. Diese Spontaneität brachte natürlich Schwierigkeiten mit sich, aber hatte und hat bis heute auch ihre großen Vorteile. So waren wir von Anfang an gegen zu viel Einbindung in die lähmenden bürokratischen und administrativen Strukturen gewappnet.“21

20 Ebd., S. 66. Der Begriff der Zivilgesellschaft scheint bei seinem Aufkommen um 2000 Vertretern eines Linkskatholizismus wie eines Linksprotestantismus eine positiv besetzte und bürgerlich akzeptable Kategorie zu liefern, um den mit 1968 verbundenen gesellschaftlichen Aufbruch zu beschreiben. Bei der Prüfung dieser Beobachtung wäre zu fragen, inwieweit es sich um ein konfessionsübergreifendes Generationenphänomen handelt. 21 Ebd., S. 85. Neudeck fährt fort: „Wir waren eben durch die 68er-Bewegung geprägt und fürchteten das, was in der Sprache der Studentenbewegung ,Etablierungʻ hieß. Etabliert sein, das war uns unangenehm, da schüttelte es uns fast körperlich.“ Neudeck unterscheidet an anderer Stelle die deutsche Entwicklung von derjenigen in Frankreich, wo „die französischen Freunde ein gutes Verhältnis zu ihren staatlichen Instanzen“ hatten; er bezieht sich hier auf das von Bernard Kouchner und anderen betriebene Schiff „Ile de Lumière“. Er verweist ferner darauf, dass Kouchner und Claude Malhuret von Médecins sans Frontières zum Secrétaire d’État pour les affaires huma-

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Neudeck verbindet dieses Selbstbild spontaner, unbürokratischer Hilfe auch mit dem physischen Ort, von dem aus die Organisation ,Cap Anamurʻ gesteuert wird. Für die Schilderung der Organisationszentrale nutzt Neudeck in seinen Erinnerungen eine literarisch-fiktive Darstellung aus der Feder von Günter Grass. Dieser hat seinem Buch Mein Jahrhundert (1999) die chaotisch anmutende Organisationszentrale des Komitees ‚Ein Schiff für Vietnam‘ in der Neudeck’schen Küche im privaten Reihenhaus der Familie in Troisdorf-Spich beschrieben.22 Neudeck zitiert Grass ausführlich, der die Szene in Form eines fiktiven Berichts widergibt, den ein Beamter des Auswärtigen Amtes an seinen Staatssekretär schreibt. In Neudecks autobiographischen Erinnerungen sind damit literarische Textpassagen von Grass eingeflochten, die durch das Renommee von Grass und durch das Zitieren seitens Neudeck doppelt Autorität und Authentizität gewinnen. Die Selbststilisierung wird so geschickt verhüllt. Im Übrigen drückt auch die Beibehaltung des Schiffsnamens für die Organisation ,Cap Anamurʻ, nachdem sie keine Menschen mehr aus der See fischte, sondern medizinische Versorgung in Krisenregionen sicherte, aus, dass es sich hier wie bei einem Schiff um eine bewegliche, an vielen Orten einsetzbare und flexible Organisation handele. Neudeck beschließt die Veranschaulichung des Nicht-Büros in der Reihenhausküche damit, dass er erwähnt, von 1994 bis 2003 habe man dann vorübergehend richtige Büros in Köln angemietet; er beschreibt diese Erfahrung aber als „eine kleine Niederlage“, denn anschließend fühlten seine Frau und er sich in der eigenen Wohnung als „Headquarter der NGO Grünhelme“ wieder wohl.23 Bei der räumlichen Selbstverortung ging es offenbar darum, sich von den etablierten Organisationen wie etwa dem Deutschen Roten Kreuz abzuheben, mit denen ,Cap Anamurʻ im Wettbewerb um Spenden und öffentliche Aufmerksamkeit stand. Ein Büro, so lässt sich in Anlehnung an Neudeck formulieren, haben Zuständige, während das bürgergesellschaftliche Engagement der heimischen Wohnung und dem Reihenhaus entspringt. Der unbürokratische, spontane und ,beseelteʻ Aktionismus war das Markenzeichen Neudecks, das sich eben auch in der scheinbar chaotischen, nicht etablierten Zentrale in einer Küche zeigte. Allerdings steht hinter der äußeren Selbstdarstellung auch ein abweichendes, religiös geprägtes Selbstverständnis, was die Erwartung und den Anspruch angeht, den Neudeck an die humanitäre Hilfe hat. Während heute viele Nicht-

nitaires und in Personalunion Gesundheitsminister wurden – Neudeck, Abenteuer (wie Anm. 5), 69f. 22 Ebd., S. 58f. 23 Ebd., S. 59f.

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regierungsorganisationen, die dauerhaft arbeiten, die Nachhaltigkeit ihrer Tätigkeit betonen, sich oft in die Nähe der Entwicklungszusammenarbeit stellen und politische Veränderungen in der Welt fordern, bezieht sich Neudeck auch 2007 unmittelbar auf Gott: „Die Leiden und das millionenfache Unrecht, das Menschen zeit [sic] unserer Geschichte erleiden, das können wir mit eigener Kraft nicht aus der Welt bringen. Dafür müssen wir uns klagend, rufend, schreiend, manchmal auch verfluchend wie Hiob, an den Schöpfer des Himmels und der Erde wenden. Und an jenen Jesus Christus, der uns zugleich auffordert, die Welt nicht in dem beschissenen Zustand zu belassen, in dem sie ist.“24

Weniger emphatisch verweist er namentlich auf den Jesuiten Oswald von NellBreuning (1890-1991) und die katholische Soziallehre. Deren Prinzipien entsprechen seinem Selbstverständnis als humanitärer Helfer: Es handelt sich dabei um die Personalität, d.h. die aktive individuelle Selbstorganisation des Menschen, die Solidarität sowie die Subsidiarität, also den Grundsatz, nach der die jeweils größere gesellschaftliche oder staatliche Einheit nur dann unterstützend tätig wird, wenn die kleinere Einheit – Individuum, Familie, Kirchengemeinde – dazu nicht in der Lage ist. Neudeck grenzt sich damit dezidiert von säkularen NGOs ab, die unmittelbar politisch aktiv werden wollen, und er setzt sich eben auch wieder von der Vorrangstellung sowie der Macht staatlicher Instanzen und der Bürokratie mit ihren Regularien ab. Die stilisierte Reihenhausküche in Troisdorf bei Bonn passt hier im Übrigen als Ort bestens: Die Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit, die persönliche Unterstützung für die Nächsten leistet, besitzt hier ihren ikonischen Mittelpunkt.

D AS K REUZ MIT DEN M EDIEN : D IE MEDIALEN V ERFLECHTUNGEN DER H UMANITÄREN Neudeck schildert in seiner Autobiographie ausführlich sein gespanntes Verhältnis als humanitärer Helfer zu den Medien unter der Überschrift „,Ist schon wieder ein Papst gestorben?ʻ – Das Kreuz mit den Medien“25. Seine distanzierende Darstellung sei kurz zusammengefasst, bevor ich seine eigene, enge Verflechtung mit den Medien erläutere. Neudeck beklagt die nachlassende Bedeutung des Mediums Hörfunk und den Aufstieg des Fernsehens zum Leitmedium. Der Bil-

24 Ebd., S. 31f. 25 Ebd., S. 173-196.

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derzwang führe zum „Lügen wie gefilmt“.26 Besonders die „Gier nach Quoten“27, die auch nicht vor Nachrichten und politischen Sendungen halt mache, bedinge inzwischen, dass auch die öffentlich-rechtlichen sich kaum noch in ihrem Aktualitätszwang und in der mangelnden Distanz zu Politik von den kommerziellen Anstalten unterschieden. Die Politik gebe nun die Themen fast aller politischen Berichterstattung vor. In Krisengebieten seien die Journalisten vom Militär abhängig, die deutschen daher etwa auf die Standorte der Bundeswehr fixiert. Neudeck fasst zusammen: „Die Politiker machen das mit, wir Humanitären auch. Unsere Devise: Die Medien sind wichtig. Sie sind es auch. Aber sind sie so wichtig, dass sie uns andauernd zum Verfälschen der Wahrheit verleiten und verführen müssen?“28 ,Cap Anamurʻ machte verschiedentlich schlechte Erfahrung mit Medien, weil kritisch, aber ungerechtfertigt negativ über die Organisation und ihren Vorsitzenden berichtet wurde. Neudeck erwähnt in seinen Erinnerungen einen Artikel, der 1993 im Focus erschien und der Hilfsorganisation vorwarf, sie würde misshandelte bosnische Frauen in einer Art Gefängnis halten. Besonders traf ihn aber eine Sendung von „Report Baden-Baden“ am 21. August 2000. Dort wurde ,Cap Anamurʻ vorgeworfen, dass sie keine Übersicht über ihre Gelder besitze und Spenden in Höhe von fast 60 Millionen DM nicht zeitnah ausgebe, sondern horte. Die Finanzbehörden prüften die Organisation daraufhin über Wochen intensiv, ohne dass am Ende von dem Verdacht auf Veruntreuung und der nicht steuergerechten Ausgabe etwas übrig blieb. Neudeck bekennt, dass er seither „ein abgrundtiefes Misstrauen“29 gegen seinen eigenen Beruf des Journalisten habe – denn der Journalismus war tatsächlich seine Profession bevor und während er als humanitärer Helfer Prominenz erlangte. In den Erinnerungen selbst beschreibt Neudeck, dass die erste Ausfahrt der ,Cap Anamurʻ ins Südchinesische Meer von mehreren Zeitungs-, Hörfunk- und Fernsehjournalisten begleitet wurde – und auch damals schon das Verlangen nach Bildern selbstverständlich ausgeprägt war.30 Nachdem das Schiff nach mehreren Tagen noch keine Flüchtlingsboote gesichtet hatte und die Journalisten Neudecks Darstellung zufolge revoltierten, weil sich nichts tat, entschloss er

26 Ebd., S. 181. 27 Ebd., S. 178. 28 Ebd., S. 186. 29 Ebd., S. 193. 30 Neudeck erwähnt namentlich Volker Zielke, ARD-Korrespondent in Hongkong, mit seinem NDR-Team, Bruno Funk vom ZDF und den Zeitungsjournalisten und Fotografen Michael Stefanowski.

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sich, den Kurs zu wechseln und ein Flüchtlingslager auf den indonesischen Anambas-Inseln anzusteuern, damit die Medienvertreter ihre Bilder vom Elend aufnehmen konnten.31 Wenn man Neudecks Darstellung von 2007 glauben darf, dann wäre dies ein Beispiel für die Mediatisierung, denn sein humanitäres Handeln richtete sich hier an den Bedürfnissen der Journalisten aus. Doch wie sahen jenseits dieses kritisch-distanzierten Bildes vom Verhältnis zu den Medien die Beziehungen des humanitären Helfers Neudeck zu den Medien aus? Sie sind tatsächlich von Anfang an durch eine enge Verflechtung geprägt gewesen. Neudeck war von Beruf Journalist: Er begann 1970 mit 31 Jahren seine Laufbahn, als er gerade in Münster seine Doktorarbeit in Philosophie über Die politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus abgeschlossen hatte. Seine erste Stelle erhielt er beim Katholischen Rundfunkinstitut in Köln als Redakteur bei der Funkkorrespondenz und dem Fernsehdienst, zwei Fachpublikationen für Journalisten. Durch diese Arbeit erhielt Neudeck „Zugang zu den Größen des Medienbetriebs“32. 1975 wechselte er dann als politischer Redakteur zum Deutschlandfunk, wo er 27 Jahre bis 2002 festangestellt war. Ein öffentlichrechtlicher Sender sicherte also seine bürgerliche Existenz bis zur Rente. Seine humanitäre Arbeit leiste er, seiner eigenen Darstellung nach, während seiner Urlaubs- und Freizeit (manchmal unbezahlt). Neudeck erklärt, dies nur geschafft zu haben, weil es „für die Sache der humanitären Arbeit beim Sender eine Grundsympathie“ gegeben habe. Die außerordentliche Freiheit beruhte aber ganz wesentlich auf der Finanzierung, Struktur und den Arbeitsweisen einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, wie sie in der Bundesrepublik jener Zeit existierte. Die Flexibilität der Hilfsaktionen und die persönliche Absicherung ihres Motors erscheinen nur vor dem Hintergrund einer bürokratischen Medienorganisation denkbar, die allerdings heute kaum noch so viel individuellen Spielraum für einen Redakteur zulassen würde. Die Verflechtung von ,Cap Anamurʻ mit den Medien war eng. Im Komitee waren an journalistischer Prominenz u.a. vertreten: Werner Höfer, Franz Alt (SWF-Report), der ehemalige Programmdirektor Deutsches Fernsehen Hans Abich und Klaus von Bismarck, Präsident des Goethe-Instituts, der als ehemaliger Intendant das entwicklungspolitische Engagement des WDR forciert hatte. Und: auch die Kontakte zu Heinrich Böll und Jean-Paul Sartre waren aus Interviews entstanden, die er als Rundfunkreporter führte, hatten sich Neudeck also über seine berufliche Tätigkeit eröffnet. Die Gründung des Aktionskomitees 1979 wurde, sorgfältig vorbereitet, durch eine Pressekonferenz mit dem aus Paris an-

31 Ebd., S. 75. 32 Ebd., S. 176.

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gereisten André Glucksmann medial in Köln inszeniert. 33 Als die erhofften Spendengelder anfangs nicht eingingen, bekam Neudeck im Juli 1979 ein Fernsehinterview mit Franz Alt, dem Moderator des politischen Magazins „Report Baden-Baden“. Er durfte die Kontonummer des Hilfskomitees nennen: Danach flossen die Gelder erst richtig und es wurde möglich, das Schiff zu chartern und auszurüsten. Ohne die medialen Verflechtungen, in denen Neudeck sich als beruflich abgesicherter Journalist befand, wäre seine Hilfsorganisation unbedeutend geblieben. Allein aus einer Küche im Reihenhaus hätte sie sich nicht aufbauen lassen. Die kulturkritische Medienschelte in den Erinnerungen verdeckt diese strukturellen Zusammenhänge. Die eigentlichen Aktivitäten des Komitees vor Ort wurden von den Medien eng begleitet – keineswegs unkritisch, wie Neudeck, auch damit die strukturelle Abhängigkeit herunterspielend, nicht müde wird zu betonen. Die journalistischen Kollegen teilten im Übrigen nicht unbedingt den geradezu missionarischen Eifer, den Neudeck an den Tag legte. Mit der Anwesenheit der Journalisten von Presse, Rundfunk und Fernsehen an Bord der ,Cap Anamurʻ, die bereitwillig auf die erste Fahrt mitgenommen wurden, zeigte sich bereits die grundsätzliche Verflechtung. In dem Moment, in dem Neudeck wegen der Unzufriedenheit der Medienvertreter den Kurs wechselte, änderte sich lediglich die Agency innerhalb der medialen Zweckgemeinschaft: Nicht mehr Neudeck nutzt die Medien für seine Agenda, sondern die Medien drängen ihm ihre Logik auf. Neudecks Handeln war also damals nicht nur mediatisiert, sondern diese Mediatisierung gestaltete sich von Anfang an konflikthaft. Dies wurde auch in der fachinternen Öffentlichkeit offenkundig.34

D ER ZWEITE G EBURTSTAG : D IE AUTOBIOGRAPHISCHE K ONSTRUKTION EINES HUMANITÄREN L EBENS In den ersten drei Kapiteln der Erinnerungen konstruiert Neudeck sein humanitäres Leben aus drei Bildern: Erstens der eigenen biographischen Erfahrung von Flucht, zweitens dem Versuch, sein Leben in den Dienst der „Gesellschaft Jesu“ zu stellen, und drittens dem Erlebnis einer zweiten Geburt. Mit diesem Rückgriff auf seine eigenen Lebenserfahrungen verfestigt er die autobiographische Kons-

33 Ebd., S. 66-71. 34 Neudeck erhielt von journalistischen Kollegen deutliche Kritik; siehe die Debatte zwischen ihm und Bruno Funk in der Fachzeitschrift medium 9/11 (1979), S. 4-10.

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truktion als humanitärer Helfer und lässt sie als geradezu zwingenden Lebenslauf erscheinen. Zur biographischen Erfahrung: Neudeck wurde 1939 in Danzig geboren. Im Januar 1945 flüchtete seine Mutter mit ihm Richtung Westen. Sie hatte vor, in Gdingen, damals Gotenhafen genannt, ein Schiff zu nehmen, für das sie auch bereits Karten besorgt hatte. Sie wollte mit Sohn und Tochter auf dem ehemaligen KdF-Schiff „Wilhelm Gustloff“, das im Krieg zu einem Lazarettschiff umgerüstet worden war, über die Ostsee nach Norddeutschland. Doch die Familie kam zu spät: die ,Gustloffʻ hatte bereits abgelegt und „[wir blickten] einem großen weißen Dampfer hinterher“.35 Das weitere Schicksal der ,Gustloffʻ ist bekannt: Das Schiff wurde von sowjetischen U-Booten torpediert und von den ca. 10.000 Menschen an Bord kamen fast 9.000 um, lediglich 1.200 überlebten. Die Erzählung der eigenen biographischen ,Erfahrungʻ für die Lebenskonstruktion Neudecks ist offenkundig. Er und seine Familie hätten dasselbe tödliche Schicksal erleiden können, das später viele Bootsflüchtlinge aus Vietnam erfuhren. Die lebensgeschichtliche Erfahrung funktioniert teilweise wie das Negativ einer Fotografie: Dort das Lazarettschiff ,Wilhelm Gustloffʻ der Nazis – hier das Hospitalschiff ,Cap Anamurʻ; dort die sowjetischen U-Boote – hier die südchinesischen Piraten, welche die vietnamesischen Flüchtlinge ausraubten; dort die rettungslose Situation der Flüchtlinge im Jahr 1945 – hier die rettende Aktion des selbst schon einmal Davongekommenen humanitären Helfers im Jahr 1979. Neudeck kann hier aus seiner eigenen ,Zeitgenossenschaftʻ für sein Handeln Orientierung gewinnen und eine Instanz für die Einhaltung menschlicher Werte werden. Zum Versuch, Jesuit zu werden: Nach dem Abitur studierte Neudeck ein Semester Jura in Bonn, brach aber ab. Er rationalisiert dies in den Erinnerungen mit dem Satz: „Ich wollte mit Menschen, ich wollte nicht mit Akten zu tun haben.“36 Er stieg zunächst auf Katholische Theologie um und verbrachte drei Monate im Priesterseminar in Paderborn. Doch diese Laufbahn schien ihm schnell auch nicht die richtige. „Ich wußte nach drei Monaten im Paderborner ,Kastenʻ: Das ist es auch nicht. Wenn schon ein Leben, wie man katholisch sagt, in der ,Nachfolge Jesu Christiʻ, dann muss es radikal sein, dann darf es keine Schonung und keine Kompromisse geben.“37 Also begann er ein Noviziat in der „Gesellschaft Jesu“. Ausführlich schildert Neudeck den Alltag des Noviziats: er betont die Härte, die Askese, die Exerzitien. Er hielt zwei Jahre durch, dann brach er anscheinend körperlich zusammen (er wog nur noch 40 Kilo, so sehr hatte er

35 Ebd., S. 11. 36 Ebd., S. 24. 37 Ebd., S. 25.

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sich selbst kasteit). Die Diagnose lautete Leukopenie, ein Mangel an weißen Blutkörperchen. Neudeck kam für zwei Monate ins Krankenhaus, und er verließ den Orden, bevor er das Noviziat abschließen konnte. Über seine inneren Gefühle vermerkt er nur sehr knapp „Ich spürte: Mein Interesse am Orden schwand.“38 Hier teilt er seinen Lesern nicht wirklich etwas mit. Das braucht er auch nicht, denn die Episode besitzt als solche in der autobiographischen Konstruktion eine wichtige, klar erkennbare Funktion. Sie zeigt Neudeck als einen Sinnsuchenden, einen der bereit ist, radikal zu sich selbst zu sein. Die Jesuitenzeit ist eine Art Prüfung, die er zwar (noch) nicht besteht, doch in der er seine Ernsthaftigkeit beweist. Ohne dass Neudeck dies ausspricht, können wir erkennen: Das war noch nicht der richtige Platz für den außergewöhnlichen Menschen Rupert Neudeck. Solche Episoden sind übliche Elemente einer Heiligenvita, der sich die Autobiographie hier annähert. Neudeck würde diese Interpretation selbstverständlich weit von sich weisen. Die Darstellung verschweigt auch, was die Jesuiten auszeichnet und was Neudeck bei Ihnen gelernt haben mag: planvolles, bestens vorbereitetes und in Szene gesetztes Handeln. In der autobiographischen Konstruktion folgt nun das dritte Bild – die zweite Geburt. Darüber brauche ich nicht mehr sehr viel erzählen, denn das biographische Ereignis ist bekannt: Es handelt sich um die Rettungsaktion für vietnamesische Bootsflüchtlinge. Neudeck schildert sie im vierten Kapitel unter der Überschrift „Arche Noah, Flüchtlingsklasse“. Die Schilderungen sind episodenhaft und behandeln die praktischen Hindernisse. Es sind die Rahmungen durch Überschriften und wenige Sätze, welche die humanitäre Aktion zur autobiographischen Konstruktion werden lassen. Wir müssen eigentlich nicht mehr feststellen, dass Neudeck nun seine Aufgabe gefunden hat: Warum Jesuit werden, wenn seine eigentliche Rolle die eines Noahs im Südchinesischen Meer ist? Er selbst sagt: „Wir haben zwei biblische Träume wahr machen können“ – den Traum von der Arche Noah und das Menschenfischern. Die Autobiographie wird an dieser Stelle zur Geschichte eines Missionars: Albert Schweitzer lässt grüßen. Ganz folgerichtig stilisiert Neudeck den 9. August 1979 zu seinem „zweiten Geburtstag“.39 Dies ist der Tag, an dem er mit der ,Cap Anamurʻ, die zum schwimmenden Hospital mit Operationssaal umgerüstet worden war, mit einer MedizinerCrew an Bord aus dem japanischen Hafen Kobe auslief, um Menschen zu retten.

38 Ebd., S. 35. 39 Ebd., S. 71.

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E INE G EGENERZÄHLUNG ZUR P ROFESSIONALISIERUNG DER H UMANITÄREN H ILFE Wer Rupert Neudeck im letzten Jahrzehnt seines Lebens einmal bei einem öffentlichen Auftritt erlebt hat, wird wahrscheinlich eine Art ,autobiographische Performanzʻ oder ein Tableau vivant erlebt haben. Die hier aus den veröffentlichten Texten gewonnenen Mosaiksteine aus seinem Leben bildeten ein fest gefügtes, nicht zu erschütterndes Bild in drei Teilen: der persönlichen Erfahrung von Flucht und glücklicher Rettung vor dem Untergang auf der ,Gustloffʻ, der Selbstkasteiung als Jesuit und schließlich dem zweiten Leben als humanitärer Helfer. Den Kitt bilden ‚die gute Tat‘, die katholische Soziallehre und der christliche Missionsauftrag. Die Funktion der autobiographischen Aufführung und ihrer Verschriftlichung in den Erinnerungen lag in der Selbstauslegung, die Medienkritik abwehren sollte, interne Streitigkeiten mit ehemaligen Verbündeten abschirmte und gegenüber der Konkurrenz anderer humanitärer Organisationen besondere Merkmale hervorhob. Positiv formuliert dienten die autobiographischen Bausteine dazu, den Aktionsspielraum des Rupert Neudeck für seine Anliegen zu erhalten. Neudeck betont seine anti-bürokratische, gegenüber der Moderne kritische Haltung. In dieser Hinsicht war er den Anfängen von Médecins sans Frontières vergleichbar, die ebenfalls in den 1970er Jahren eine Betätigung jenseits der bürokratisierten Medizin des französischen Wohlfahrtsstaats suchten.40 Aus der Gegenerzählung zur professionellen Modernisierung gewann Neudeck persönliche Autorität und Legitimation. Darin war er wiederum den humanitären Aktivisten aus der Musikszene wie Bono oder Bob Geldorf seit den 1980er Jahren durchaus ähnlich. Wie diese nutzte Neudeck zugleich andere Aspekte der Moderne intensiv für seine Zwecke – insbesondere die Medien. Hinsichtlich der Professionalisierung humanitärer Hilfe schließt sich daran meine wesentliche Argumentation an: die Professionalisierung der Hilfe ist im 20. Jahrhundert und besonders nach 1945 offensichtlich, anders sieht es hingegen mit der Professionalisierung der Helfer aus. Im Unterschied zu den klassischen Berufen gibt es keinen einzelnen Beruf des humanitären Experten, der sich analog herausgebildet hätte. Es mag ein Standesethos und ein Selbstverständnis geben, aber keine effektiven ,gate-

40 Siehe Michal Givoni, Humanitarian Dilemmas, Concern for Others, and Care for the Self. The Case of Médecins sans Frontières, in: Paulmann (Hg.), Dilemmas (wie Anm. 14), S. 371-392.

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keeperʻ-Mechanismen, die den Zugang zum Feld beschränken würden.41 Das lässt auch Raum für begeistert-empathische Amateure wie Neudeck und verleiht der in der Überschrift ausgedrückten Haltung Plausibilität, dass Menschen zu helfen überall nötig und möglich sei. Überzeugungskraft gewinnen humanitäre Helfer wie Neudeck vor dem Hintergrund der politischen Figur des Ausnahmezustands. Der Soziologe Craig Calhoun hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der jüngsten Zeit der „eingebildete Notfall“ („emergency imaginary“) als Ausnahmesituation im Rahmen einer vorgestellten Norm globaler Ordnung beschrieben oder behandelt werde. 42 Humanitäre Krisen im globalen Süden erscheinen insbesondere den entfernten Beobachtern als Notfälle, auf die schnell und weltweit mit Hilfe reagierte werden müsse und könne. Die humanitäre Hilfe wird so – verbunden mit einem moralischen Imperativ, Leiden zu verringern – zu einem Modus globalen Handelns. In diese Vorstellungswelt passt Neudeck bestens. Analog zum staatlichen Ausnahmezustand, in dem die Herrschaft des Rechts im Namen des Allgemeinwohls ausgesetzt wird, erfordert der humanitäre Notfall die Überwindung von Bürokratie und Expertentum, um zum Wohl der bedürftigen Menschen tätig werden zu können – überall erscheint dies Fürsprechern wie Neudeck nötig und möglich. Humanitäre Helfer stellen sich selbst damit scheinbar außerhalb der komplexen Zusammenhänge historischer, sozialer, ökonomischer und politischer Faktoren und ermächtigen sich selbst zum sofortigen, unmittelbaren Handeln. Neudeck beansprucht für sich, auf diesem Weg „radikale Humanität“ zu vertreten.43 Langfristige, grundlegende Veränderungen, welche die Ursachen der Not bekämpfen könnten, treten für sie in den Hintergrund – zunächst jedenfalls.

41 Anders als bei der ‚Hilfe‘ verhielt es sich dagegen bei der Entwicklungszusammenarbeit; siehe Maß, Sublimierter Tarzan (wie Anm. 9). 42 Siehe Craig Calhoun, A World of Emergencies. Fear, Intervention, and the Limits of Cosmopolitan Order, in: The Canadian Review of Sociology 41 (Heft 4), 2004, S. 373-395. 43 Rupert Neudeck (Hg.), Radikale Humanität. Notärzte für die Dritte Welt, Reinbek bei Hamburg 1986. Dieser Selbstbezeichnung folgt Patrick Merziger, The Radical Humanism of ‘Cap Anamur’/ ‘German Emergency Doctors’ in the 1980s. A Turning Point for the Idea, Practice and Policy of Humanitarian Aid, in: European Review of History. Revue européenne d’histoire 23, 2016, S. 171-192.

Autobiographie in den Künsten

In den Wucherungen der „schmucklosen Wahrhaftigkeit“. Richard Wagner und seine Autobiographien L AURENZ L ÜTTEKEN

Die produktive Wucht, mit der Richard Wagner sein eigenes Zeitalter zu bannen vermochte, hatte schwerwiegende Folgen, wurde doch die Bedingungslosigkeit, die er mit seinem Werk verband, als Herausforderung anhaltender Maßlosigkeit empfunden. Das Panorama reicht dabei von bewundernder Hingabe über abwägende Distanz bis zur abgrenzenden Verachtung, nur Gleichgültigkeit schien unmöglich zu sein, und dies sollte sich nach seinem Tod nicht ändern, im Gegenteil. Wagners schließlich erwählter Wirkungsort Bayreuth, aus dem er nach der Parsifal-Uraufführung geradezu panisch nach Venedig geflohen ist, verwandelte sich um 1900, unter der Regie seiner Witwe Cosima, zur mythischen Weihestätte einer eigenwilligen Gemeinschaft, die, ebenso entschieden völkisch-national wie antisemitisch, nachdrücklich politischen Einfluss gesucht und ihn schließlich auch erreicht hat.1 Gleichwohl spiegelt diese Gemeinde der selbst ernannten Gralshüter, die schließlich in Hitler mit seiner verquer-pittoresken Vereinnahmung ihren Erfüllungsgehilfen finden sollte, nur einen Teil der WagnerWirklichkeiten nach 1900. Denn diese reichten von Thomas Manns psychologisierender Deutung bis zu Ernst Kurths gestaltpsychologischer Anverwandlung, von Strauss’ und Hofmannsthals vielschichtiger Abgrenzung bis zu Strawinskys

1

Vgl. hier Sven Friedrich, Der ‚Prophet seines Volkesʻ. Der Wagner-Mythos um 1900, in: Laurenz Lütteken. (Hg.), Musik und Mythos – Mythos Musik um 1900. Zürcher Festspiel-Symposium 2008, Kassel u.a. 2009 (Zürcher Festspiel-Symposien 1), S. 1471, hier v.a. S. 24ff.; auch Udo Bermbach, Houstan Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart/Weimar 2015, S. 84ff.

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wütender Ablehnung, von George Bernard Shaws Lektüre im Kontext linkshegelianischer Kapitalismuskritik bis hin zu Arnold Schönbergs Entdeckung eines Ahnherrn beim Abschied von der Tonalität. Ein guter Teil der Schwierigkeiten beim Umgang mit Wagner gründete wohl in der Unerbittlichkeit, in der er, der selbsternannte Protagonist des 19. Jahrhunderts, Kunst und Leben miteinander zu überblenden suchte. Wagner war berauscht von der Vorstellung einer neuen Kunstepoche, als deren Wortführer er sich selbst sah und in der die Grenzen zwischen dem Kunstwerk und seinem Schöpfer vollends zerfließen sollten. Noch nach dem Scheitern des Aufstands von 1848/49 reklamierte der mittellos gewordene Komponist in Zürich, das er, wie viele Emigranten, für den Ort einer geglückten Revolution hielt, die herausgehobene Existenz des Künstlers, dessen Privileg vor allem darin bestehe, bereits im Vorgriff auf die künftige, auf die revolutionäre Gesellschaft leben zu dürfen – ganz selbstverständlich finanziert von jenem Kapital, das zu vernichten er eigentlich angetreten war. Immerhin, ein bedeutender Profiteur des Kapitalismus wie sein Mäzen Otto Wesendonck scheint diese Denkfigur akzeptiert zu haben: „Ich setze nämlich als die Bedingung für das Erscheinen des Kunstwerkes in allererster Stelle das Leben, und zwar nicht das im Denken willkürlich widergespiegelte des Philosophen und Historikers, sondern das allerrealste, sinnlichste Leben, den freiesten Quell der Unwillkürlichkeit.“2 Und daraus zog er dann die Schlussfolgerung: „Der wahre Künstler [...] konnte dagegen nur in Unübereinstimmung mit dem Geiste des öffentlichen Lebens der Gegenwart sich kundgeben: wie aber gerade von ihm erst das Kunstwerk erkannt wird, welches in seiner sinnlichsten Erscheinung dem Leben verständnisvoll sich erschließen kann, so mußte er nothwendig die Verwirklichung seines höchsten künstlerischen Wollens in das Leben der Zukunft, als ein von der Herrschaft des Monumentalen wie der Mode befreiten, setzen [...]“.3

Der Wille, Kunst und Leben auf diese Weise unentwirrbar zu vermischen, um das Leben schließlich selbst zum Kunstwerk zu erheben, macht es bei Wagner nahezu unmöglich, die Dinge trennscharf auseinanderzuhalten. Der Autor scheute weitgehende Überschreibungen des eigenen Schaffens keinesfalls, nicht nur im Tristan, der dafür als ein Paradigma gelten kann. Auch der erste Akt der Wal-

2

Richard Wagner, Eine Mittheilung an meine Freunde (1851), in: Ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen. Zweite Auflage, Bd. 4, Leipzig 1888, S. 230-344, hier S. 239.

3

Ebd., S. 241.

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küre, der von der Affäre mit Mathilde Wesendonck nicht getrennt wurde und gar nicht getrennt werden sollte, gibt davon ein nicht minder deutliches Zeugnis.4 Die Unverfrorenheit, mit der sich die persönlichen Verhältnisse über das Werk legten, wurde von den Beteiligten, so herausfordernd sie gewesen sein mögen, durchaus akzeptiert. Dem königlichen Gönner Ludwig II. etwa war es ernst damit. Als er, zum Entsetzen der Hofbeamten, im Mai 1866 inkognito nach Luzern reiste, um dem Komponisten zum Geburtstag zu gratulieren, erschien er vor der Tribschener Tür als ‚Walther von Stolzingʻ. Damit gab er sich beziehungsreich als jener Adlige zu erkennen, der in den Meistersingern durch seine Kunst Aufnahme in die Bürgergesellschaft finden will.5 Kunst und Leben waren in diesem Augenblick eins geworden. Aus dem Willen zu dieser unentwegten Vermischung leitete Wagner schon früh die Notwendigkeit der autobiographischen Mitteilung ab. Die Biographie war folglich kein Begleitumstand des Werkes, sondern mit diesem so sehr verknüpft, dass sie als Werk eigenen Rechts gelten musste. Deswegen bedurfte nicht nur das Geschriebene und das Komponierte der Mitteilung, sondern auch jenes Leben, mit dem es verschmolzen sein sollte. Diese Konstellation hat jedoch zu einer merkwürdigen Unschärfe geführt, denn es lässt sich nicht wirklich ausmachen, wie viele autobiographische Anläufe, Skizzen und Mitteilungen es bei Wagner eigentlich gibt – und welcher Stellenwert ihnen zukommt. 6 In keinem anderen Bereich seiner reichhaltigen öffentlichen Inszenierung wirkt er derart unschlüssig, widersprüchlich und auch rätselhaft. Unmittelbar vor der Revolution und nach dem rauschenden Erfolg des Rienzi, zeitlebens Wagners meist-

4

Dazu Laurenz Lütteken, „Was noch nie sich traf, danach trachtet mein Sinn“. Mythisches Erzählen und musikalische Wirklichkeit im ersten Akt der ‚Walküreʻ, in: Musiktheorie 22, 2007, S. 101-110; zum Kontext auch Egon Voss, Die Wesendoncks und Richard Wagner, in: Axel Langer/Chris Walton (Hgg.), Minne, Muse und Mäzen. Otto und Mathilde Wesendonck und ihr Zürcher Künstlerzirkel, Zürich 2002, S. 117129.

5

Michael Riedler, Richard Wagner. Seine Zeit in Luzern. Das Museum in Tribschen, Luzern 2001, S. 12f.; zu den Verwicklungen und enormen finanziellen Anstrengungen Ludwigs vgl. den Überblick bei Hannelore Putz, Richard Wagner in München. Ein spannungsreiches Zwischenspiel, in: Laurenz Lütteken. (Hg.), Exil als Daseinsform. Die Schauplätze Richard Wagners. Zürcher Festspiel-Symposium 2013 (Zürcher Festspiel-Symposien 5), Kassel u.a. 2014, S. 97-113.

6

Vgl. hier den Überblick bei John Deathridge, Wagner Lives. Issues in Autobiography, in: Thomas S. Grey (Hg.), The Cambridge Companion to Wagner, Cambridge 2008, S. 3-17.

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gespielte Oper, ist ein erster autobiographischer Text entstanden, und dieser wurde auch veröffentlicht, im Februar 1843 in Heinrich Laubes Zeitung für die elegante Welt.7 Der Ort der Publikation war nicht zufällig gewählt, ging es doch Laube wie dem Hofkapellmeister offenbar darum, eine exemplarische musikalische Biographie der Zeit vorzulegen: die spezialisierte Profession, die Musik, ebenso hinter sich lassend wie die ständischen Schranken. Dass dieser Text durchaus programmatisch gemeint war, zeigt sich im späteren Bekenntnis zu ihm, denn Wagner hat mit ihm seine auf zehn Bände geplante Schriftenausgabe eröffnet.8 Und er enthält, bezogen auf die Juli-Revolution, die programmatische Verlautbarung: „Mit einem Schlage wurde ich Revolutionär und gelangte zu der Überzeugung, jeder halbwegs strebsame Mensch dürfe sich ausschließlich mit Politik beschäftigen.“9 Dieser Text, den der noch nicht einmal Dreißigjährige unter dem das Vorläufige betonenden Titel Autobiographische Skizze publiziert hat, basiert auf Notizen, die er kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag regelmäßig anzufertigen begann und die er, einer eigenen Aussage folgend, in einer roten Brieftasche aufbewahrt hat. Abgesehen von der auffälligen Art (und Farbe) dieses Behältnisses ist es vor allem bemerkenswert, dass wir von diesen Notizen nur durch Wagners eigene Äußerungen wissen. Er hat sie offenbar selbst vorsätzlich vernichtet. An ihre Stelle trat nun eine andere Sammlung, die er ‚Annalenʻ nannte, und die er bis 1867 relativ systematisch geführt hat. Diese Annalen, denen Ende 1868 noch ein zweiter Band hinzugefügt wurde, sind erhalten, aber nur indirekt. Denn sie wurden ergänzt durch autobiographische Aufzeichnungen, die er im August 1865 auf dem Hochkopf begann und bis ein Jahr vor seinem Tod geführt hat. Diese Sammlung nannte er Das braune Buch, und sie enthält neben den offenbar dort abgeschriebenen Annalen noch weitere Notizen, auch Dichtungen.10 Das Geflecht dieser Aufzeichnungen ist verwirrend: die ‚rote Brieftascheʻ, die vernichtet wurde, die ‚Annalenʻ, die nur als Abschrift erhalten sind, das ‚braune Buchʻ als amorphe Sammlung. Es ist aber noch aus einem anderen

7

Zu Laube vgl. nach wie vor Ellen von Itter, Heinrich Laube. Ein jungdeutscher Journalist und Kritiker, Frankfurt am Main u.a. 1989 (Europäische Hochschulschriften 1, 1143); sowie Jakob Karg, Poesie und Prosa. Studien zum Literaturverständnis des Jungdeutschen Heinrich Laube, Bielefeld 1993.

8

Richard Wagner, Autobiographische Skizze (Bis 1842), in: Gesammelte Schriften

9

Ebd., S. 7.

(wie Anm. 2), Bd. 1, 1887, S. 4-19. 10 Joachim Bergfeld (Hg.), Richard Wagner. Das braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882, Zürich u.a. 1975.

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Grund verwirrend: in diesen unentwegten Überschreibungen und Revisionen, in denen klare Abgrenzungen kaum auszumachen sind, fehlt der Wille zur Veröffentlichung. Nur die Skizze wurde, im Widerspruch zu ihrem Titel, gedruckt, sie allein beanspruchte den Status einer Mitteilung. Wagner selbst hatte in den Schriften ab 1849 in immer stärkerem Maße die Aufgabe des Kunstwerks und die Persönlichkeit des Künstlers zu bestimmen gesucht. Während drei dieser Texte – Kunst und Revolution (1849), Das Kunstwerk der Zukunft (1850) und Oper und Drama (1851) – auf das Kunstwerk selbst, also die Grundlegung des Musikdramas gerichtet waren, galten zwei weitere der Figur des Künstlers. In dem unter Pseudonym veröffentlichten Pamphlet über Das Judentum in der Musik (1850) lieferte der Autor eine negative Bestimmung, es sollte also unwiderruflich festgelegt werden, wer von diesem Künstlertum der Zukunft ausgeschlossen sein müsse. Die parallel dazu entworfene Mittheilung an meine Freunde (1851) hingegen lieferte ein positives Beispiel – in der Figur des Autors selbst. Gerade in dieser Schrift, deren euphemistischer Titel in einem willentlichen Widerspruch zu den monumentalen Ausmaßen steht, geht es ja nicht allein um die Ankündigung des Ring, sondern um eine programmatische Vermischung des Ästhetischen mit dem Persönlichen. Auch die Mittheilung erweist sich also in gewisser Hinsicht als autobiographische Schrift, und wiederum programmatisch endet sie mit dem Ausruf: „Nun denn, ich gebe Euch Zeit und Ruhe, darüber nachzudenken: – denn nur mit meinem Werke seht Ihr mich wieder!“11 Der Titel der Mittheilung an meine Freunde verweist, wie schon die Autobiographische Skizze, auf eine habituelle Eigenwilligkeit aller autobiographischen Bekundungen Wagners. So sehr er sein Wirken mit teleologischem Sendungsbewusstsein überwölben wollte, so indifferent bleiben die damit verbundenen persönlichen Äußerungen. Der Grundwiderspruch, warum eine Mitteilung an Freunde überhaupt gedruckt worden ist, wird nicht gemildert, sondern entschieden verschärft durch seine ausführlichen einleitenden Überlegungen, wer denn ein ‚Freundʻ sei – und wer nicht (eine Denkfigur, die ganz unmittelbar mit dem antisemitischen Bekenntnis zusammenhängt). Das Private, das Intime solcher Freundschaft wird durchkreuzt durch die Anonymität der Adressaten – und durch die Veröffentlichung. Diese Mischung vom Willen, etwas Beständiges zu errichten, und der nachdrücklichen Ephemerität, die schon die Skizze prägt, erweist sich als eine spektakuläre Inszenierung hoher Suggestionskraft, die auch die Pläne zum Ring unentwegt durchzieht und sich bis in den Bau des Bayreuther Festspielhauses fortsetzt. Am 22. Mai 1872, beim Baubeginn, versenkte Wagner im Grundstein ausgerechnet diese Verse: „Hier schliess’ ich ein Ge-

11 Wagner (wie Anm. 2), S. 344.

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heimnis ein,/ da ruh’ es viele hundert Jahr’: so lange es verwahrt der Stein,/ macht es der Welt sich offenbar.“12 Eine entscheidende Voraussetzung für diese Selbstdeutung war die Behauptung, die biographische Erzählung sei von einem Bruch durchzogen, der einen grundlegenden Neuanfang nötig gemacht habe. Die gescheiterte Revolution begriff Wagner, unter Umdeutung aller Fakten seiner Biographie, als scharfe Zäsur. Diese Deutung ermöglichte es ihm, sich auch im biographischen Selbstverständnis abzuwenden vom klassischen Ideal bildender Entwicklung. Kaum zufällig hielt er ausgerechnet in einer bitteren Diagnose des Scheiterns seiner Ehe mit Minna 1850 fest, er habe „mit allem Alten gebrochen“, ja er „bekämpfe es“ mit sämtlichen Kräften.13 Dem Tenor und Pädagogen Friedrich Schmitt bekannte er 1854, „gänzlich“ mit dem Kunstleben seiner Zeit gebrochen zu haben.14 Die Zeugnisse für diese Selbstdeutung sind zahlreich, und sie mögen eine erste Ursache dafür sein, daß Wagner nie wieder zu einer zusammenhängenden, konsistenten autobiographischen Erzählung fand – obwohl sie ihm doch von so entscheidender Bedeutung für das Verständnis seines Werkes war.15 In der spektakulären Autobiographie Mein Leben setzen sich diese Unwägbarkeiten nicht nur fort, sie verdichten sich sogar noch. Der wiederum monumentale Text verdankte sich, wie schon die für Laube entstandene Skizze, einem äußeren Anlass, nämlich einer mehr oder weniger ausdrücklichen Aufforderung Ludwigs II., also jenes Königs, der offenbar über einen besonderen Sinn für Wagners Engführung von Kunst und Leben verfügte. Im Mai 1865, wenige Tage vor der Münchner Uraufführung des Tristan, teilte er dem Komponisten mit: „Eine unaussprechliche Freude würden Sie mir mit einer ausführlichen Beschreibung Ihres Geistesganges und auch äußerlichen Lebens bereiten! – Darf

12 Zit. nach Markus Kiesel (Hg.), Das Richard Wagner Festspielhaus in Bayreuth. The Richard Wagner Festival Theatre Bayreuth, Köln 2007, S. 63 13 Richard an Minna Wagner aus Paris am 16. April 1850, in: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, hg. von Hans-Joachim Bauer/Johannes Forner, Leipzig 1967ff., Bd. 3, S. 275ff. (Nr. 71), hier S. 282. 14 Richard Wagner an Friedrich Schmidt aus Zürich am 21. Juni 1854, in: Wagner (wie Anm. 13), Bd. 4, S. 143ff. (Nr. 80), hier S. 145. 15 Zum Kontext dieser Denkfigur vgl. Laurenz Lütteken, Der autodidaktische Dilettant? Wagner in den 1830er Jahren, in: Ders. (Hg.), Das ungeliebte Frühwerk. Richard Wagners Oper ‚Das Liebesverbotʻ. Symposium München, Bayerischer Rundfunk, 2013 (Wagner in der Diskussion 12), Würzburg 2014, S. 151-170.

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ich wohl die Hoffnung nähren, diese meine Bitte dereinst erfüllt zu sehen?“16 Wagner genügte, in den hochfliegenden Monaten der Münchner Zeit, dem königlichen Wunsch zwar umgehend, doch auf eine ebenso eigenwillige wie widersprüchliche Weise. Er, der ansonsten gerne und intensiv in seinen Manuskripten gearbeitet hat17, entschied sich gegen die Eigenhändigkeit und für das Diktat. Zur Niederschrift ausersehen war Cosima von Bülow, die wenige Wochen vorher das erste gemeinsame Kind, die Tochter Isolde, geboren hatte, die aber der Form nach noch immer die Frau Hans von Bülows, des Dirigenten der anstehenden Tristan-Uraufführung, war. In dieser Entscheidung gibt sich erstmals das immer bedeutsamer werdende Vorbild von Goethe und Eckermann zu erkennen, gleichwohl mit Zuspitzungen und Zumutungen. Eckermann war ein Sekretär, Cosima die Geliebte. Und bei Goethe ging es um Gespräche, bei Wagner um eine autobiographische Erzählung. Damit wurde das Intime, Persönliche des Genres in sein Gegenteil verkehrt: Autobiographie als Dialog, als Ansprache. Das Persönliche, das Bekenntnishafte wurde damit entschieden eingeschränkt, sichtbar nicht nur, aber besonders deutlich an den amourösen Eskapaden des Protagonisten, die nun ausschließlich durch den Filter der späteren Ehefrau sichtbar werden sollten. Gerade das Verhältnis zu Mathilde Wesendonck, wohl die einzige wirkliche Liebesbeziehung, auf die sich Wagner in seinem Leben eingelassen hat, sollte damit bis zur Unkenntlichkeit überschrieben werden. Andererseits hat der Modus der Niederschrift gerade dort, wo es um Dritte jenseits des Persönlichsten geht, einen harschen, unerbittlichen und auch herablassenden Ton hervorgerufen. In der Mittheilung an meine Freunde hatte Wagner darauf bestanden, daß der „wahre Künstler“ sich nur in „Unübereinstimmung mit dem Geiste des öffentlichen Lebens der Gegenwart“ befinden könne. Wie um diese „Unübereinstimmung“ äußerlich kundzutun, handelt es sich bei Mein Leben um eine Autobiographie uneigener Hand. Deren Konzeption stand mit dem königlichen Auftrag fest: Sie sollte von den Kindertagen bis zur Berufung nach München, also exakt bis zum 3. Mai 1864 reichen. Der Text bricht gleichsam ab, und abermals spielen schroffe Zäsur und Vagheit eine zentrale Rolle. Der letzte Satz Wagners lautet daher beziehungsreich: „Der gefahrvolle Weg, auf den mich heute mein Schicksal zu höchsten Zielen berufen hatte, sollte nie frei von Sorgen und Nöten von bis dahin mir noch ganz ungekannter Art sein; nie jedoch hat unter dem

16 Ludwig II. von Bayern an Richard Wagner am 27. Mai 1865; Wagner, Sämtliche Briefe (wie Anm. 13), Bd. 17, S. 158ff., hier S. 159. 17 Die heute in Bayreuth befindliche autographe Niederschrift von „Kunst und Revolution“ legt davon ein besonders anschauliches Zeugnis ab.

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Schutze meines erhabenen Freundes die Last des gemeinsten Lebensdruckes mich wieder berühren sollen.“18 Grundlage des Textes bildete das Konvolut autobiographischer Notizen – und der Dialog mit Cosima. Das ganze Unternehmen zog sich über 15 Jahre, also bis in den April 1880 hin. Auch hier zeigt sich Wagners erstaunliche Neigung, einmal gefasste Pläne über einen kaum vorstellbar langen Zeitraum weiterzuverfolgen und durchzuführen, ein Verfahren, das bei der Konzeption des Ring geradezu paradigmatisch erkennbar ist. Der ursprüngliche Vorsatz wurde nie geändert, ungeachtet des Debakels, in dem die Münchner Zeit endete, ungeachtet der Uraufführung des Ring und der Einweihung des Bayreuther Festspielhauses – und ungeachtet der nun vollzogenen Hochzeit mit Cosima, die 1870 in Luzern stattgefunden hatte. So treu Wagner dem ursprünglichen Konzept blieb, so verwirrend widersprüchlich verhielt er sich, wie vorher schon im Falle der Brieftaschen und Annalen, im Blick auf die Intention. Die Parallelen zu Goethe sind offenkundig und gesucht: neben der Nähe des Titels auch die Konzeption, bei Goethe bis zum Gang nach Weimar, bei Wagner bis zur Ankunft in München reichend. Wagner ließ sein Werk, nochmals in ostentativer Parallele zu Goethe, in vier Bänden drucken, allerdings sind die Bände sukzessive zwischen 1870 und 1880 erstellt worden, eine wirkliche Gesamtredaktion war damit von vornherein ausgeschlossen. Doch war mit diesem Druck, nun anders als bei Goethe, keine wirkliche Veröffentlichung verbunden. Die ersten drei Bände wurden vom Haus Bonfantini in Basel erstellt, also jenem Verlag, mit dem Nietzsche eng verbunden war; der vierte dagegen wurde bei Burger in Bayreuth gedruckt. Es handelte sich jedoch um die Herstellung von wahrscheinlich nur 18 Exemplaren, und der Autor war genauestens darauf bedacht, dass deswegen der Drucker nicht als Verleger in Erscheinung trat.19 Dem ersten Band stellte er ein kurzes Vorwort voran, von dem gänzlich unklar ist, an wen es sich eigentlich richten sollte. Neutrale ‚Leserʻ gab es ja gar nicht. Zudem wurde der eigentliche Anlass gleich verdreht. Vom König war gar nicht mehr die Rede, vielmehr sei der Text „von meiner Freundin und Gattin, welche mein Leben von mir sich erzählt wünschte, nach meinen Diktaten unmittelbar niedergeschrieben worden“.20 In der Mittheilung von 1851 hatte er bereits festgelegt, was ihm ‚Freundeʻ sind: „Es sind dieß Die, die mit mir als Künstler und Mensch so weit sympathisiren, daß sie meine Ab-

18 Richard Wagner, Mein Leben. Vollständige, kommentierte Ausgabe, hg. von Martin Gregor-Dellin (zuerst 1963), München 1976, S. 755. 19 Die genaue Zahl lässt sich aufgrund der komplizierten Überlieferungsgeschichte nicht sicher ermitteln. 20 Wagner (wie Anm. 18), S. 5.

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sichten zu verstehen vermögen, [...] die mit mir gleich fühlen und empfinden“.21 Die Verknüpfung von Freundschaft und bedingungsloser Hingabe an Leben und Werk, gespiegelt in der vermeintlich unmittelbaren Niederschrift eines doch nur mittelbaren Vorgangs, degradiert damit sogar die Ehefrau zur Erfüllungsgehilfin – in einem Vokabular überdies, das etwa gegenüber Mathilde Wesendonck nie Verwendung gefunden hatte. Und so wird aus dem ‚ichʻ des ersten Satzes sogleich unversehens ein ‚wirʻ: „Uns beiden entstand der Wunsch, diese Mitteilungen über mein Leben unsrer Familie sowie bewährten treuen Freunden zu erhalten“.22

Und genau daraus resultiert die seltsame Unentschiedenheit zwischen privater und öffentlicher Mitteilung: „Da der Wert der hiermit gesammelten Autobiographie in der schmucklosen Wahrhaftigkeit beruht, welche unter den bezeichneten Umständen meinen Mitteilungen einzig einen Sinn geben konnte, deshalb auch meine Angaben genau mit Namen und Zahlen begleitet sein mußten, so könnte von einer Veröffentlichung derselben, falls bei unseren Nachkommen hierfür noch Teilnahme bestehen dürfte, erst einige Zeit nach meinem Tode die Rede sein; und hierüber gedenke ich testamentarische Bestimmungen für meine Erben zu hinterlassen.“23

Wagner nun ließ bereits 1870 den ersten Band verschiedenen ‚Freundenʻ zukommen, doch bereits nach wenigen Tagen nötigte Cosima ihren Mann, die Rückforderung der Exemplare einzuleiten. Gleichwohl gelangten alle vier Bände auf die eine oder andere Weise an solche Freunde, doch nach dem Tod ihres Mannes forderte Cosima unerbittlich alle umlaufenden Bände zurück – um sie zu vernichten. Zu einer wirklichen Öffentlichkeit fand die Autobiographie erst 191124, also bald 30 Jahre nach Wagners Tod, nun jedoch bereits in einer von Cosima redigierten und stark veränderten Version – ohne, dass dies auf dem Titelblatt kenntlich gemacht wäre. Die Autobiographie erschien gleichzeitig mit der nun auf sechs Bände angewachsenen Wagner-Biographie von Carl Friedrich Glasenapp, der die erste Version noch 1877 und approbiert von seinem Gegenstand herausbringen konnte. Glasenapp, für den Biographik nicht Distanz schaf-

21 Wagner (wie Anm. 2), S. 234. 22 Wagner (wie Anm. 18), S. 5. 23 Ebd. 24 Richard Wagner, Mein Leben, 2 Bde., München 1911; ersch. im Bruckmann Verlag.

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fen, sondern bedingungslose Aneignung ermöglichen sollte, lieferte damit gleichsam den Kontext für Wagners Selbstdarstellung: Biographie und Autobiographie als verflochtene Form der Selbstauslieferung an den Gegenstand. 25 So sollte ausgerechnet jener fragmentarische, im Diktat entstandene und merkwürdig zwischen Öffentlichkeit und Privatheit schwankende Text von Mein Leben die Auseinandersetzung mit Wagner im Grunde durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch prägen. Eine kritische Edition steht überdies noch aus. Dabei hat der Verfasser seinem Text selbst eigenwillige Distanzierungen mitgegeben. Wagner sah sich stets als ein Leser, der im Anderen nur das Eigene aufzuspüren bemüht ist, und diese Haltung prägt auch die autobiographische Erzählung. Gegen den Willen zur „schmucklosen Wahrhaftigkeit“ steht immer wieder das Ungenaue, das Ungefähre, das Unheimliche – für das er gern die Chiffre des Traumes verwendet hat. Schon die Begegnungen mit dem todkranken Vater „erfüllten mich durchaus nur wie Traumgebilde“. 26 Die Erinnerung an den ersten Besuch in Eisleben sei ihm „noch in späteren Zeiten oft im Traume wiedergekehrt“, und „keine Nacht verging bis in meine spätesten Knabenjahre, ohne daß ich aus irgendeinem Gespenstertraum mit fürchterlichem Geschrei erwachte!“27 Zudem verknüpfte Wagner den Traum regelmäßig mit seinem Werk. Schon über die Aufführung der B-Dur-Ouvertüre heißt es: „Ich erwachte schließlich, als die Ouvertüre, zu welcher ich alle banalen Schlußformen verschmäht hatte, ganz unversehens abbrach, wie aus einem unbegreiflichen Traum: alle Wirkungen eines Hoffmannschen Phantasiestückes auf mich erblichen gegen den sonderbaren Zustand, in welchem ich zu mir kam, als ich das Erstaunen des Publikums am Schlusse meines Werkes gewahrte. Ich hörte keine Mißfallsbezeugung, kein Zischen, kein Tadeln, selbst nicht eigentliches Lachen, sondern nahm nur die größte Verwunderung aller über einen so seltsamen Vorfall wahr, der jedem gleich wie mir wie ein unerhörter Traum vorzukommen schien.“28 Noch das Kunstwerk der Zukunft sei aus einer „Träumerei“ hervorgegangen, und

25 Wie um diesen Aspekt hervorzuheben, erwog die Familie Wagner allen Ernstes, Glasenapp 1903 für den Literaturnobelpreis zu nominieren; die Nominierung ist durch Felix

Dahn

erfolgt

(http://www.nobelprize.org/nomination/archive/show_people.-

php?id=11221; letzter Zugriff am 02.05.2016); zur Verbindung von Dahn zu Bayreuth Udo Bermbach, Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart/Weimar 2011, S. 95f. 26 Wagner (wie Anm. 18), S. 12. 27 Ebd., S. 14 u. S. 19. 28 Ebd., S. 61.

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dessen Auftakt, das Rheingold-Vorspiel, sei „im Halbtraume“ konzipiert worden.29 Die Widersprüche sind offenkundig: ein Fragment, das dennoch abgeschlossen wurde; eine Traumerzählung, die dennoch schmucklos wahrhaftig sein sollte; ein Privatissimum, das dennoch gedruckt wurde, aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war; ein persönlichstes Zeugnis, das aber diktiert und von der Schreibenden kontrolliert wurde; der Wille zur monumentalen Inszenierung, der dennoch keine feste Gestalt erlangen sollte. Diese Unsicherheiten verlängern sich in den Fortgang der autobiographischen Aufzeichnungen, für die der Modus der kohärenten Erzählung gänzlich preisgegeben wurde. Wagner wählte nun, für die Zeit nach 1864, die Form des Tagebuchs, aber, die Widersprüche neuerlich zuspitzend, nicht des eigenen Tagebuchs, sondern das der Ehefrau. Die am 1. Januar 1869 einsetzenden Aufzeichnungen Cosimas sind nichts anderes als die Fortsetzung der Autobiographie durch die Schreibende, nochmals das GoetheEckermann-Modell heraufbeschwörend, denn hier tritt der eigentliche Autor tatsächlich in die dritte Person zurück. Zudem sind die Tagebücher adressiert: „So soll denn der erste Tag des Jahres auch den Anfang meiner Berichte an euch, meine Kinder, enthalten.“30 Sie sind getragen von der bedingungslosen Zuspitzung von Wagners Freundschaftsbegriff: „Ich komme zu dir und will mein höchstes heiligstes Glück darin finden, dir das Leben tragen zu helfen.“ 31 Obwohl Glasenapp nachweislich auf sie zugreifen konnte, blieben sie tatsächlich ein Privatissimum – und ungedruckt. Erst 1976, also fast einhundert Jahre nach deren Abschluss, wurden sie veröffentlicht. Hinzu kommt noch die Lücke zwischen 1864 und 1868, die wichtigste Phase der Münchner Episode, ausgerechnet jener Zeitraum, in dem der persönliche Kontakt zum Auftraggeber und Förderer Ludwig besonders eng und in dem der lebenslang erhoffte politische Einfluss tatsächlich gegeben war. Für sie gibt es nur fragmentarische Aufzeichnungen in den Annalen. Wagners dezidierter Wille, Kunst und Leben zusammenzuführen, hat zumindest im Falle der Kunstwerke zu vergleichsweise festen Gestalten geführt. Die

29 Ebd., S. 439; zur komplexen Dechiffrierung dieses Denkmusters Reinhard Wiesend, Die Entstehung des ‚Rheingoldʻ-Vorspiels und ihr Mythos, in: Archiv für Musikwissenschaft 49, 1992, S. 122-145; die Traum-Figuren im Werk selbst sind reichhaltig, besonders deutlich bei Wotan im Rheingold und im dritten Akt der Meistersinger von Nürnberg. 30 Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 1: 1869-1877, hg. von Martin GregorDellin/Dietrich Mack, München/Zürich 1976, S. 21. 31 Ebd.

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anfänglichen Pläne, auch hier das Ephemere zur Geltung zu bringen, im Vorsatz etwa, Theater und Partitur nach der Aufführung des Ring zu verbrennen, wurden zugunsten fester Strukturen bereinigt, und seien diese auch, wie beim Bayreuther Festspielhaus, von eklatanten und offensichtlichen Widersprüchen durchzogen. In der autobiographischen Erzählung hingegen wurde Homogenität nicht erreicht, und sie sollte auch gar nicht, wie schon in der Gegenüberstellung von diktierten Lebenserinnerungen und Tagebüchern einer dritten Person erkennbar, hergestellt werden. Gerade hierin berühren sie sich mit den Erzählstrukturen im Werk selbst.32 Wagners autobiographische Versuche sind sowohl im Modus der Darstellung als auch des Dargestellten Fragmente geblieben, wenn auch monumentale Fragmente. Hierin liegen Provokation, Herausforderung und Beunruhigung gleichermaßen begründet. Wagner ist zeitlebens der unbehauste Revolutionär geblieben, und sein Bemühen, daraus eine zusammenhängende Erzählung zu generieren, ist gescheitert. Dieses Scheitern war offenkundig angestrebt, zu viele der Bruchlinien wurden willentlich gezogen und im Laufe der Jahre sogar verstärkt. Inmitten der zahllosen Bestrebungen, das eigene Leben zum Kunstwerk zu überhöhen, ist ausgerechnet die frühe Autobiographische Skizze das einzige Dokument geblieben, das, dem Titel zum Trotz, öffentlich Textcharakter beansprucht hat. Die „Unübereinstimmung mit dem Geiste des öffentlichen Lebens“ blieb also bis zum Schluss bestimmend. Es ist bei alledem nicht erstaunlich, dass in den trostlosen Bayreuther Rezeptionssteuerungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auch und gerade dies begradigt, bereinigt – und damit seines Sinnes beraubt worden ist.

32 Vgl. hier v.a. William E. McDonald, What Does Wotan Know? Autobiography and Moral Vision in Wagner’s ‚Ringʻ, in: 19th-Century Music 15, 1991, S. 36-51.

Beziehungsprobleme. Über das Verhältnis von Leben und Werk am Beispiel der Künstlerautobiographie Ludwig Richters S ASKIA P ÜTZ

Die deutschsprachige Künstlerautobiographie hat ihre Blütezeit im späten 19. Jahrhundert.1 Damit fällt ihre charakteristische Ausprägung zeitlich zusammen mit der Ausdifferenzierung der Monographie als wissenschaftlichem Genre, sowohl als Publikation als auch als Ausstellungskonzept.2 Die Monographie ist Ausdruck eines Interesses am Werk eines einzelnen Künstlers, seiner Systematisierung und Zuschreibbarkeit. Dass dieser Einfluss der wissenschaftlichen Werkstrukturierung und Stilidentität von größtem Einfluss auf die Künstlerautobiographie ist, dass die in der Kunstgeschichte oft als Quellenmaterial verwendeten Texte eng mit dieser selbst verschränkt sind und auf ihre Erkenntnisse aufbauen und nicht umgekehrt, soll hier am Beispiel der Autobiographie des Landschaftsmalers und Illustrators Ludwig Richter aufgezeigt werden. Künstlerautobiographien haben zwei Fluchtpunkte: sie zielen einerseits auf die literarische Identität des erzählenden Künstlers in seiner Lebensgeschichte und andererseits auf seine künstlerische Identität, die seine Erkennbarkeit und

1

Vgl. Saskia Pütz, Künstlerautobiographie. Die Konstruktion von Künstlerschaft am Beispiel Ludwig Richters, Berlin 2011, S. 20.

2

Vgl. Saskia Pütz, Max Jordan and the Creation of the Artist as a National Role Model at the Beginning of the German Empire, in: Maia Wellington Gahtan/Donatella Pegazzano (Hgg.), Monographic Exhibitions and the History of Art, London/New York 2017 (im Druck).

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Unverwechselbarkeit vom Werk her garantiert. Der Künstler soll also nicht nur im Text als kohärentes Selbst erscheinen, sondern dieses muss auch noch mit dem Gesamtwerk korrelieren und in Übereinstimmung zu bringen sein. Das verbindende Element zwischen dem Künstler, dem Einzelwerk und dem Gesamtwerk ist der persönliche künstlerische Stil. Die komplexe Problematik der Begriffe ‚Stil‘ und ‚Werk‘ und ihre – vornehmlich literaturwissenschaftliche – Diskussion kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden, es sei daher nur auf die umfassende und immer noch lesenswerte Darstellung der Geschichte und Funktion des Stils als kulturwissenschaftlichem Diskurselement von Hans Ulrich Gumbrecht und Ludwig K. Pfeiffer verwiesen.3 In Bezug auf die Wurzeln der kunstwissenschaftlichen Verbindung der Künstlerpersönlichkeit mit einem werkbezogenen Stilbegriff im späten 18. und ersten Drittel des 19. Jahrhunderts möchte ich an dieser Stelle lediglich auf die Arbeiten von Gabriele Guercio und Karen Hellwig verweisen.4 Was den Werkbegriff betrifft haben Hans Belting und Karlheinz Stierle bereits vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass die Geschichte des Werkbegriffs erst noch geschrieben werden muss. 5 Dies ist bisher erst und nur teilweise aus rechtswissenschaftlicher6 Perspektive eingelöst worden

3

Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hgg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main 1986, insbes. die Beiträge von K. Ludwig Pfeiffer, Produktive Labilität. Funktionen des Stilbegriffs, in: Ebd., S. 685-725, und Hans Ulrich Gumbrecht, Schwindende Stabilität. Eine Geschichte des Stilbegriffs, in: Ebd., S. 726-788.

4

Gabriele Guercio, The Identity of the Artist. A reading of monographic Studies Devoted to the Old Masters During the Nineteenth Century, Ann Arbor 1996; Karin Hellwig, Vitenkunstgeschichte und Künstlerbiografik, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 5, 2002, S. 51–60; Dies., Ernst Förster und die Künstlerbiographik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Christian Drude (Hg.), 200 Jahre Kunstgeschichte in München, München 2003, S. 68–81; Dies., Von der Vita zur Künstlerbiographie, Berlin 2005.

5

Karlheinz Stierle, Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997; Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998.

6

Zum Werkbegriff im Urheberrecht gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen, als transnationalen Vergleich siehe beispielsweise Eva-Marie König, Der Werkbegriff in Europa. Eine rechtsvergleichende Untersuchung des britischen, französischen und deutschen Urheberrechts (Geistiges Eigentum und Wettbewerbsrecht 103), Tübingen 2015.

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und anhand von Einzelfallanalysen in musik- und literaturwissenschaftlicher7 Hinsicht. Aus kunsthistorischer Sicht sollen hier ein paar Überlegungen zu diesem Themenkomplex am Beispiel der wohl prägendsten und seinerzeit berühmtesten Künstlerautobiographie von Ludwig Richter beigetragen werden.

L UDWIG R ICHTER Richters Lebenserinnerungen eines deutschen Malers wurden 1885 ein Jahr nach dem Tod des Künstlers nach fast zwanzigjähriger Entstehungszeit publiziert (Abb. 27). Folgt man Uwe Japp, dann beantworten Künstlererzählungen die Fragen nach der Entstehung des Genies (oder Talents), nach der Art und Weise der kreativen Praxis und nach der Generalisierung des Singulären, oder anders formuliert: nach der Genealogie, der Typologie und nach der Theorie. 8 Die Fragen an die Autobiographie müssten also lauten: Wie wird Richter zum Künstler? Was für eine Art Künstler wird er? Welche allgemeinen Maximen ergeben sich aus dem speziellen Fall? Die ersten beiden Fragen sollen hier in den Blick genommen werden. Die Frage nach der Typologie wird von der zeitgenössischen Rezeption Richters nicht problematisiert. Er wird selbstverständlich in der Tradition Dresdener Landschaftsmalerei verortet. Mit einem ihrer Protagonisten, dem Begründer der Sächsischen Landschaftsansichten, Adrian Zingg, ist er vermittelt über seinen Vater auch direkt verbunden, dessen Schüler und Mitarbeiter Ludwig Richter war. Ein Erbe, von dem Richter sich deutlich zu lösen versucht. 9 In seiner Auto-

7

Die musikwissenschaftlichen Untersuchungen zum Werkbegriff dominieren die Fachliteratur, siehe Herwig Gottwald/Andrew Williams (Hgg.), Der Werkbegriff in den Künsten. Interdisziplinäre Perspektiven. Symposion des Salzburger Interdisziplinären Forschungszentrum „Metamorphischer Wandel in den Künsten“ 2005 (Wissenschaft und Kunst 6), Heidelberg 2009; in letzterem Sammelband hat sich Caecilie Weissert lediglich zu einem Aspekt, der Wandlungsfähigkeit des künstlerischen Werkbegriffs, geäußert.

8

Vgl. die Einleitung in Uwe Japp, Das deutsche Künstlerdrama. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin u.a. 2004, S. 1-19.

9

Eingehend zur Auseinandersetzung bzw. Absetzung Richters von der Dresdener Tradition der Landschaftsmalerei, vor allem der Landschaftsgraphik Adrian Zinggs, siehe Saskia Pütz, Adrian Zingg als Vorbild oder Gegenbild? Tradition, Ökonomie und Naturstudie in der Landschaftsgraphik Ludwig Richters, in: Roger Fayet/Regula Krähen-

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biographie setzt er den bereits über ihn existierenden Texten ein ganz anderes Modell seiner künstlerischen Selbstwerdung und Stilentwicklung entgegen: Erstens den Beginn seines Oeuvres, wie er also das darstellt, was später als Anfang seines Gesamtwerkes gelten und Eingang in die Forschung finden wird; zweitens die künstlerische Entwicklung seines Werkes, geprägt von einem persönlichen Stil, wie also eine Reihe von Einzelwerken zu einem Gesamtwerk komponiert wird. Dahinter steht die Frage nach den Strukturen und Mechanismen eines Modells von Künstlerschaft, also künstlerischer Autorschaft, das bis heute erfolgreich die Vorstellung in den Köpfen der Betrachter, aber auch der Künstler selbst sowie der Wissenschaftler dominiert. Betont sei an dieser Stelle, dass nicht die Identitätsfrage im moralischen Sinne der Selbstübereinstimmung und Authentizität eines mit sich selbst identischen Wesens erörtert werden soll, sondern die Frage nach den literarischen Mitteln, mit denen ein einheitliches Gesamtwerk im Text konstruiert wird.

D IE I NSZENIERUNG DES D ER W ATZMANN

ERSTEN

W ERKES :

Steigen wir mit der Darstellung, besser gesagt, der Inszenierung von Richters ‚erstem‘ Werk in seiner Autobiographie ein: es handelt sich um den Watzmann, den Richter 1824 nach fast einjähriger Arbeit daran vollendet (Abb. 28). Der gebürtige Dresdener befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr in Rom und bezieht sich mit dem alpinen Landschaftsgemälde auf eine Station seiner Hinreise nach Italien. In seiner Autobiographie beschreibt Richter nach der eingehenden Darstellung seiner Kindheit und Ausbildung in Dresden sowie der ausführlichen Schilderung seiner Wanderschaft nach Italien, wie er vor Ort in Rom die Eindrücke seiner Reise verarbeitet. Mit diesem als seinem ersten Gemälde reüssiert er schließlich als Dreiundzwanzigjähriger innerhalb der deutschen Künstlergemeinschaft in Rom. Das Bild steht am Anfang einer beruflichen Laufbahn als Landschaftsmaler. Um dieses erste Werk innerhalb seiner Autobiographie voraussetzungslos aus der eigenen Vorstellung entstehen zu lassen, rückt Richter die Originalität seiner Idee in den Vordergrund: Er beschreibt die Werkgenese des Watzmanns so, dass die Wahl des Bildgegenstands, eine Zu-

bühl/Bernhard von Waldkirch (Hgg.), Wissenschaft, Sentiment und Geschäftssinn. Landschaft um 1800, Zürich 2017, S. 244–265.

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sammenfassung der „bedeutendste[n] Eindrücke“10 der durchwanderten Alpennatur, sich als Bild in seinem Innern formte und bereits feststand, bevor er sich mit ähnlichen Kunstwerken seiner Zeitgenossen auseinandersetzte. So wird die Wanderschaft nach Rom von Richter als Weg geistiger Reifung in Tradition der „empfindsamen Bildungsreise“11 dargestellt. Die Einreise nach Italien folgt der seit den Pilgerreisen des Mittelalters geprägten Vorstellung einer gefährlichen Probe, auf die der Reisende gestellt wird. Wie eine Reihe von Prüfungen gestaltet sich das Kapitel seines Aufbruchs, das Richters Lektionen im selbstständigen Reisen darstellt und die Gefahren, denen er sich dadurch aussetzt.12 Im Salzkammergut, wo Richter einen längeren Aufenthalt von sechs Wochen einlegt, gewinnt laut Text erstmals sein schöpferisches Bedürfnis Form. Nur auf dieser Etappe der geistig-künstlerischen Vorbereitung beschreibt Richter, dass er Studien nach der Natur angefertigt, dass er überhaupt gezeichnet habe, und zwar Berge und Wasserfälle. Angesichts der beeindruckenden Alpennatur äußert er erstmals den Wunsch, dieser Erfahrung Ausdruck zu verleihen und seine „Kräfte an einer größeren Arbeit zu erproben“13. Schließlich inszeniert Richter seine Ankunft als eine Art Erneuerung oder Wiedergeburt: Er hält am 28. September 1823, seinem 20. Geburtstag, Einzug unter Glockengeläute und Kanonendonner – Leo XII. wurde gerade zum Papst gewählt. Gewissermaßen durch die Reise geläutert und neu geboren erreicht Richter mit seiner Ankunft in Rom eine neue Entwicklungsstufe und wird auch sofort von Gleichgesinnten in den ersehnten Kreis der Künstler aufgenommen. Mittlerfigur ist hier vor allem Richters früherer Mentor Carl Wagner, ein Schüler seines Vaters, der bereits in Dresden wegweisend für Richters Auffassung der Landschaftsmalerei war und dem er in Rom laut der Autobiographie zufällig wiederbegegnet und von diesem in die dortige Künstlergemeinschaft eingeführt wird. Das Motiv der personalen und in diesem Falle künstlerischen Erneuerung, das Richter mit seinem Eintreffen in Rom regelrecht einläutet, hatte zum Zeitpunkt der Niederschrift der Lebenserinnerungen bereits eine lange literarische Tradition und war zu einem Topos gereift. Für die deutsche Literatur des 19.

10 Ludwig Richter, Lebenserinnerungen eines deutschen Malers. Selbstbiographie nebst Tagebuchniederschriften und Briefen, Frankfurt am Main 1885, S. 137. 11 Zum Begriff der ,empfindsamen Bildungsreise‘ siehe Barbara Hofmann, Joseph Anton Koch. Das Tagebuch einer Ferienreise an den Bodensee von 1791. Eine Studie zu Inhalt und Form des malerischen Reiseberichts im ausgehenden 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2004, S. 38-48. 12 Richter (wie Anm. 10), S. 106-110. 13 Ebd., S. 113.

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Jahrhunderts immer noch von prägender Bedeutung war Goethes modellbildende Verarbeitung des ursprünglich pietistischen Vorstellungsmusters der ‚Wiedergeburt‘ und des ‚neuen Lebens‘ in der Italienischen Reise, die 1816 veröffentlicht wurde und die Richter selbstverständlich gut bekannt war.14 Goethe beginnt mit seiner Ankunft in Rom ein neues Leben, dessen neuer Zustand von ihm als Gewinnung einer persönlichen Identität beschrieben wird. Er findet sich selbst wieder, jedoch als ein anderer, als Künstler, als bessere Existenz. Nach dem gleichen modellhaften Ablauf von vorausgehender Krise, daraus hervorgehender Erkenntnis der eigenen Wissens- und Erfahrungslücken und darauf reagierender aktiver Selbstbildung vor allem durch Lektüre kunsttheoretischer Texte, findet schließlich auch Richter in Rom sein eigenes künstlerisches Selbst auf einer neuen Stufe wieder. Schon auf der Hinreise erwähnt Richter den sehnlichen Wunsch, endlich ein Ölbild in Angriff zu nehmen, wozu er in Rom durch die italienischen Landschaftsgemälde seiner Freunde Ernst Ferdinand Oehmes und Carl Wagners angeregt wird.15 Und bezeichnenderweise erwähnt Richter nicht die kleinformatigen Aquarelle Oehmes, von denen es mehrere gab und die in einer viel unmittelbareren Beziehung zu seinem Watzmannbild zu stehen scheinen16, sondern eine italienische Landschaft. Der Watzmann wird in der Autobiographie als erstes Gemälde überhaupt dargestellt, das Richter in Angriff nimmt und im Jahr darauf 1824 mit Erfolg vollendet. Es ist gewissermaßen sein Meisterstück, das ihm die Anerkennung unter den Kollegen in Rom sowie auf der Dresdener Akademie-Ausstellung einbringt. Nachdem Richter in den Lebenserinnerungen der Darstellung seiner Anfänge in der Ölmalerei – beziehungsweise deren Fehlschlagen – breiten Raum gewährt und in teils karikierenden Passagen in einem ganzen Kapitel die Unfähigkeit seiner verschiedenen Lehrer beschreibt, wird von der lang ersehnten Ausbildung zum Meister auf italienischem Boden nichts mehr erwähnt. Die Entstehung des ersten Gemäldes wird als voraussetzungs- und müheloses Schaffen geschildert, im Gegensatz zu dem Ringen, Zweifeln und permanenten Überarbeiten, die den Bildfindungsprozess späterer Arbeiten kennzeichnen. Gerade das vermeintliche Fehlen einer soliden Ausbildung im Ölmalen, das Richter sehr eindringlich wäh-

14 Vgl. Klaus H. Kiefer, Wiedergeburt und Neues Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer Reise, Bonn 1978, und allgemein Raymond Lee Burt, The Pietist Autobiography and Goethes „Lehrjahre“. An Examination of the Emergence of the German Bildungsroman, Los Angeles 1985. 15 Das Bild ließ sich leider bisher nicht identifizieren. 16 Siehe beispielsweise Ernst Ferdinand Oehme: Der Pianazzo-Wasserfall, 1820er Jahre, Feder, Bleistift, Aquarell, 26,3 x 23,6 cm, Dresden, SKD, Kupferstich-Kabinett.

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rend seiner Ausbildungszeit in Dresden schildert, bereitet den Auftritt seines ersten Gemäldes im Rahmen der Autobiographie gewissermaßen als Schöpfung aus dem Nichts vor. Gleichzeitig kommt sein innerer Entwicklungsdrang nun zu voller Entfaltung. Ausdrücklich stellt Richter also die Wahl seines ersten Bildgegenstands in den Lebenserinnerungen als individuellen Schöpfungsprozess dar, der sich nur und ausschließlich aus seinen persönlichen Reiseeindrücken herleitet. Erst nachdem er das in ihm entstandene ‚innere Bild‘ zu Papier gebracht hat, die Komposition also bereits feststeht, beginnt Richter laut seiner Autobiographie sein erstes Ölbild im Herbst 1823 und vollendet es gewissermaßen als künstlerischen Wettstreit mit dem „alte[n] Kunsthaupt“17 – gemeint sind der gut eine Generation ältere Tiroler Maler Joseph Anton Koch (1768-1839) und seine alpinen Landschaften. Was Richter in seiner Autobiographie marginalisiert ist gerade diese Auseinandersetzung mit der aktuellen Landschaftsmalerei vor Ort in Rom, nicht nur mit der künstlerischen Autorität auf diesem Gebiet, die Koch darstellt, sondern auch mit seinen Zeitgenossen. Joseph Anton Koch repräsentierte die aus der klassizistischen, so genannten ‚heroischen‘ oder ‚idyllischen‘ Landschaftsmalerei des ausgehenden 18. Jahrhunderts sich entwickelnde Richtung von Naturdarstellungen.18 Es wird sich bei Kochs Werk, an dem er parallel zu Richter arbeitete und es zeitgleich abschloss, wohl um das Reichenbachtal mit dem Wetterhorn handeln.19 Aus kunsthistorischer Sicht wäre also gerade das alpine Wasserfallmotiv eine Möglichkeit an vielfältige Traditionen anzuknüpfen, so der ‚Totallandschaft‘ mit dem darin notwendig enthaltenen Wasserkreislauf, die direkte Auseinandersetzung mit Koch sowie die Verbindung zu den norwegischen Landschaften von Johan Christian Claussen Dahl20, der insbesondere mit einem

17 Richter (wie Anm. 10), S. 141. 18 Heroismus und Idylle. Formen der Landschaft um 1800 bei Jacob Philipp Hackert, Joseph Anton Koch und Johann Christian Reinhart, Ausst. Kat. Wallraf-RichartzMuseum, Köln, Köln 1984 und Otto von Lutterotti, Joseph Anton Koch 1768–1939. Leben und Werk, Mit einem vollständigen Werkverzeichnis, Wien/München 1985. 19 Joseph Anton Koch: Das Reichenbachtal mit dem Wetterhorn, 1824, Öl auf Leinwand, 91 x 81 cm, Stuttgart, Staatsgalerie. 20 Wesentlich ist, dass die damit verbundene allgemeine Symbolik des Wasserkreislaufs als Zeichen des Lebens, von Werden und Vergehen, (Wieder-)Geburt und Zerstörung, Taufe und Untergang, Richter natürlich ebenso geläufig war, wie der Wasserfall als Metapher für das Genie. Das Bild der natura naturans, der schaffenden Natur als unerschöpfliche, gewaltige, maß- und formlose Bewegung, stand letztlich für das menschliche Freiheitsstreben überhaupt. Kochs Schmadribachfall ist direkt im Zu-

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Wasserfallbild 1821 in Dresden für Aufregung unter den Künstlern gesorgt hatte.21 In seiner Autobiographie stellt Richter das Erlebnis eines Wasserfalls in der Natur als eigentliche Inspirationsquelle zu seinem Bild dar. Er verstärkt damit die Lesart des Watzmannbildes als Gleichnis seiner eigenen Situation: Vom ersten Kapitel an ist immer wieder die Sehnsucht nach der freien Natur und künstlerischer Selbstbestimmung geschildert worden, kontrastiert durch die eigenen Fehlschläge sowie das Schicksal seines Vaters, dessen künstlerische Fähigkeiten letztlich durch fehlende Entfaltungsmöglichkeit sowie die zermürbende Auftragsarbeit „erloschen“22. Nun steht der Watzmann da als Zeichen und Ausdruck dieser gewonnenen Freiheit. Mit der Watzmann-Episode ist Richter in seiner Darstellung an seinem vorläufigen Ziel angekommen: der Ausbildung zum und Anerkennung als Landschaftsmaler. Die eigentliche Entwicklungsgeschichte seiner künstlerischen Ausbildung kommt damit zu einem vorläufigen Abschluss. In den Autobiographien seiner Künstlerkollegen Ernst Rietschel und Wilhelm von Kügelgen bildet dieses Ereignis, also die offizielle Anerkennung nach dem gängigen Autobiographie-Modell, den Schlusspunkt.23 Richter jedoch ist noch nicht einmal bei der Hälfte seiner Erzählung angekommen. Er beschreibt im Folgenden nicht nur äußere Stationen seines weiteren beruflichen Werdegangs, sondern auch seine spezifisch künstlerische Entwicklung: die Ausprägung seines eigenen Stils, die sich in seinem Werk, im Sinne eines Gesamtwerks, manifestiert.

D IE AUSPRÄGUNG EINES

EIGENEN

S TILS

Zwei Merkmale sind es vor allem, mit denen Richter in seiner Autobiographie seinen künstlerischen Stil charakterisiert: das detailgenaue Studium der Natur und die Verbindung von Historien- und Landschaftsmalerei zur ‚romantischen Landschaft‘. Der erste Identitätsfaktor, das unmittelbare Naturerlebnis und nah-

sammenhang dieser Freiheitsmetaphorik zu verstehen und wurde zu Richters Zeit auch so rezipiert. Dies alles war Richter sehr wohl bekannt – aber er erwähnt nichts davon. 21 Möglicherweise handelt es sich um Johan Christian Clausen Dahl: Norwegische Landschaft mit Wasserfall, 1821, Öl auf Leinwand, 98,8 x 137,3 cm, Kopenhagen, Thorvaldsens Museum. 22 Richter (wie Anm. 10), S. 287. 23 Pütz (wie Anm. 1), S. 104-132.

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sichtige Naturstudium, unterläuft allerdings Richters Konzept eines sich teleologisch aus sich selbst heraus entwickelnden künstlerischen Selbst: Seine künstlerische Besonderheit entsteht über die Partizipation an einer Gemeinschaftserfahrung. Die in der Kunstgeschichte wohl am meisten zitierte Passage aus Richters Autobiographie lautet: „Die französischen Maler mit ihren Riesenkasten brauchten zu ihren Studien ungeheure Quantitäten von Farbe, welche mit großen Borstenpinseln halb fingerdick aufgesetzt wurde. Stets malten sie aus einer gewissen Entfernung, um nur einen Totaleffect, oder wie wir sagten einen Knalleffect zu erreichen. Sie verbrauchten natürlich sehr viel Maltuch und Malpapier, denn es wurde fast nur gemalt, selten gezeichnet; wir dagegen hielten es mehr mit dem Zeichnen als mit dem Malen. Der Bleistift konnte nicht hart, nicht spitz genug sein, um die Umrisse bis ins feinste Detail fest und bestimmt zu umziehen. Gebückt saß ein Jeder vor seinem Malkasten, der nicht größer war als ein kleiner Papierbogen, und suchte mit fast minutiösem Fleiß auszuführen, was er vor sich sah. Wir verliebten uns in jeden Grashalm, in jeden zierlichen Zweig und wollten keinen ansprechenden Zug uns entgehen lassen. Luft- und Lichteffecte wurden eher gemieden als gesucht; kurz, ein Jeder war bemüht, den Gegenstand möglichst objectiv, treu wie im Spiegel, wiederzugeben.“24

In Richters Text vereint die lineare, nazarenische Landschaftszeichnung die deutschen Künstler in Rom und unterscheidet sie im Wesen von ihren französischen Kollegen. Die nahsichtige, detailgenaue Zeichnung nach der Natur wird also einerseits als wesensverwandter Stil der Deutschen dargestellt. Andererseits hat sie als positiv besetzte künstlerische Erfahrung und Aneignung von Natur innerhalb der Autobiographie nur in Italien ihren Platz, wo sie Teil von Richters künstlerischer Läuterung und Vollendung ist. Mit dem zweiten Identitätsfaktor, der ‚romantischen Landschaft‘, reiht Richter sich selbst in eine malerische Tradition ein. Er beschreibt, dass er die historische oder ideale Landschaftsmalerei, für die Joseph Anton Koch steht, nach seiner eigenen Vorstellung weiterentwickelt zu der so genannten „romantischen Landschaft“, in der Mensch und Natur in ein sinnstiftendes Wechselverhältnis treten.25 Nachdem er ausführlich auf die Schwierigkeiten der Bildfindung bei seinem zweiten Gemälde Rocca die Mezzo im Sabinergebirge eingeht, beschreibt er anhand der Entstehung seines dritten Bildes Tal bei Amalfi die Entwicklung seines eigenen künstlerischen Stils (Abb. 29). Laut seiner autobiographischen Selbstdarstellung orientiert Richter

24 Richter (wie Anm. 10), S. 158f. 25 Ebd., S. 241, 248, 249.

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sich darin vor allem an Julius Schnorr von Carolsfeld und dessen Figurenauffassung.26 Die frühen Ansätze dieser neuen Landschaftsmalerei durch Carl Philipp Fohr, Ernst Heinrich, Franz Horny und Friedrich Olivier erwähnt Richter nur nebenbei. Der Vergleich mit dem Gemälde zeigt, dass Richter Schnorrs Korrekturen vollständig übernommen und ausgearbeitet hat (Abb. 30).27 Richter ordnet die Ausprägung und Genese seines eigenen künstlerischen Stils damit deutlich der zweiten Nazarenergeneration in Rom zu. Im Text wird der einmal so gereifte künstlerische Stil danach nicht mehr verändert. Brüche, heterogene und divergente, aber parallele Stilphänomene gibt es in Richters Darstellung nicht. Andere autobiographische Texte von Richter ebenso wie seine Werke zeigen allerdings ein solches mehrfaches Ansetzen und Neuausrichten seines künstlerischen Ausdrucks, ebenso wie das reflektierte und zielgerichtete Vorgehen bei der Wahl der stilistischen Richtung, der angemessenen und richtigen ‚Manier‘, wie Richter es nennt.28 Exemplarisch seien hier nur zwei spätere Gemälde Richters, Das Mädchen auf der Wiese von 1826/27 und Der Morgen bei Palästrina von 182929, angeführt, die beide nach seiner Rückkehr aus Italien entstanden und als Auseinandersetzung mit den erhabenen Landschaften Caspar David Friedrichs und den geognostischen Landschaftsbildern von Carl Gustav Carus gesehen werden können. Nicht in Bezug auf das dargestellte Thema, aber hinsichtlich der Komposition, der Staffelung der Hintergründe und der Darstellung atmosphärischer Phänomene liegt in den Bildern Richters die Nähe zu den Dresdener Landschaftsmalern. Richter schildert in seinen Lebenserinnerungen die Entwicklung seiner künstlerischen Identität als stringenten, weitgehend ungebrochenen, natürlichorganischen Wachstumsprozess. Resümierend stellt er in seiner Autobiographie für das Ende seiner römischen Zeit fest, dass diese „bestimmte Richtung“, die er gewonnen habe, „so ganz mit [s]einem innersten Wesen im Einklang stand“ und er auf diese aus „innerster Neigung hinsteuerte“30. Für Richter ist der Stil eine

26 Ebd., S. 248. 27 Zum Prozess der Bildfindung vgl. Gerd Spitzer, Ludwig Richter – Der Maler, in: Gerd Spitzer (Hg.), Ludwig Richter – Der Maler. Ausstellung zum 200. Geburtstag, Ausst. Kat. Staatliche Kunstsammlungen, Galerie Neue Meister, Dresden, Berlin/München 2003, S. 13–43. 28 Vgl. ausführlich hierzu Pütz (wie Anm. 1), S. 153-154. 29 Ludwig Richter: Das Mädchen auf der Wiese, 1826/27, Öl auf Leinwand, 35 x 47,5 cm, Dresden, SKD, Neue Meister und Ders.: Der Morgen bei Palestrina, 1829, Öl auf Leinwand, 78 x 100 cm, Dresden, SKD, Neue Meister. 30 Richter (wie Anm. 10), S. 249 und 241.

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persönlichkeitsidentifizierende Eigenschaft, die als Signum unverwechselbarer Individualität zugleich das Werk auszeichnet.31 Der individuelle Charakter des Menschen und seine künstlerische Darstellungsweise hängen unmittelbar und unzertrennbar miteinander zusammen. Wie die Persönlichkeit, das Wesen des Menschen selbst, ist auch sein formaler Ausdruck von vornherein schon in ihm angelegt und bedarf günstiger Entwicklungsumstände, um sich frei und seiner Natur gemäß entfalten zu können. Das unbewusste, emotionale Erkennen des „Gleichartige[n] oder sympathisch Verwandte[n]“32 ist in Bezug auf seine stilistische Orientierung wie eine innere Kompassnadel, die ihn leitet. Er kann seinen „eignen Weg getreu verfolgen, ohne durch eigne oder fremde Theorien abgelenkt zu werden“33, so dass sich seine künstlerische Entwicklung in der Darstellung der Lebenserinnerungen wie die naturgemäß-organische Entfaltung seiner wesensmäßigen Anlagen vollzieht. Er betont dies in einer Passage: „Ueberhaupt muß ich hier bemerken, daß ich mich nicht erinnern kann, jemals etwas in der Art dieses oder jenes geschätzten Meisters componirt zu haben, so nahe mir das bei meiner Verehrung für manche derselben auch lag, und so anregend sie mir vorschwebten. Immer konnte ich erst dann Etwas produciren, wenn es auf meine eigne Weise in mir lebendig geworden war. Was aber nun meine Weise war, hätte ich dann nicht auszusprechen vermocht und vermöchte es auch heute noch nicht.“34

In seinen Lebenserinnerungen stellt Richter dieses Gesamtwerk dar als ein dynamisches Gebilde, das sich untrennbar von seinem Leben organischmorphologisch entwickelt. Werke, die sich diesem Modell nicht unterordnen lassen, werden entweder nur kurz oder gar nicht genannt oder auch umdatiert. Und sie werden immer wieder an seine persönlichen Erlebnisse rückgebunden. Seiner Kunstauffassung entsprechend gründen Stil wie auch Themenwahl der Gemälde ausschließlich in seiner subjektiven Erfahrung, so dass er diesen Zusammenhang in seinen Lebenserinnerungen in den Vordergrund rückt, beziehungsweise eine solche Bezugnahme überhaupt erst konstruiert. Die unabhängige, von externen

31 Richters Stilbegriff ist ambivalent: Einerseits verwendet er den Begriff als qualitatives Werturteil, so wenn er Kochs Gemälde als „stylvolle Landschaftsbilder“ bezeichnet, ebd., S. 163. Die weitaus häufigere und in diesem Zusammenhang wichtigere Bedeutung hat der Stil jedoch im hier genannten Sinne als individuelle Eigenschaft. 32 Ebd., S. 149. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 237f.

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Einflüssen freie und damit authentische Schöpfung aus der eigenen und verinnerlichten Naturerfahrung ist Richters produktionsästhetische Maxime. Richter erschafft sich selbst als natürlichen, authentischen und wahrhaften Künstler durch die starke Überzeichnung eines Gegenbilds. Diese Identitätskonstruktion durch Alterität setzt auf kontrastreiche Gegensätze. „[A]lte[s] Zopfthum“35 und „Baumschlag“36 stehen hier metonymisch für ein ganzes Ausbildungssystem, sind Kampfbegriffe einer ganzen Künstlergeneration. Im Kontext der Autobiographie betrachtet wird deutlich, dass diese Polarität sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text zieht. Es ist eine narrative Strategie Richters, die er einsetzt, um seine eigene positive Künstleridentität und ihre Bildung und Charakteristik im Text zu schärfen. Dafür nutzt Richter kontrastierende Distinktionsmerkmale, die er in verschiedenen Formen von negativ konnotierter Alterität einsetzt.37 Von Beginn an stellt Richter die Entwicklung seines künstlerischen Wesens, seine innere Natur, dem Wertesystem des 18. Jahrhunderts gegenüber, das ihm als Folie zur negativen Abgrenzung dient: dazu zählen der klassizistisch geprägte Bildungshorizont seines Elternhauses, das abhängige Arbeitsverhältnis seines Vaters, die Zingg’schen Zeichenmethoden, die Ausbildung an der Dresdener Kunstakademie und damit die Tradition der sächsischen Landschaftsmalerei sowie seine Reise nach Frankreich als Hofkünstler eines russischen Aristokraten. Innerhalb der Lebenserinnerungen verhindert dieses Werte- und Regelsystem Richters natürliche Entfaltung. Gemäß dem literarischen Topos des ‚Wunderkindes‘ ist es lediglich sein inneres Gefühl38, das nach dem „einfach Wahre[n], Naturgemäße[n]“39 verlangt und ihn leitet auf seiner Suche nach Identifikationsfiguren und Möglichkeiten, sich Ausdruck zu verschaffen. Um seine künstlerische Individualität und Autonomie herauszustellen grenzt Richter sich innerhalb der Autobiographie durch literarisch überlieferte Formeln und Motive deutlich von den zeitgenössischen kanonischen Leitbildern ab. So kann er die am klassischen identitätsgenetischen Modell orientierte Bildung seines künstlerischen Selbst als unabhängige, organische Entfaltung aus seiner eigenen natürlichen Anlage heraus entstehen lassen.

35 Ebd., S. 53. 36 Ebd., S. 50. 37 Zum hier verwendeten Alteritätsbegriff siehe Aleida Assmann/Jan Assmann, Kultur und Konflikt. Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns, in: Jan Assmann/Dietrich Harth (Hgg.), Kultur und Konflikt, Frankfurt am Main 1990, S. 11–48, hier S. 27. 38 Richter (wie Anm. 10), S. 50. 39 Ebd., S. 51.

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Deutlich negiert Richter in seinen Lebenserinnerungen sämtliche von außen kommenden positiven Einflüsse sowohl von privater wie institutioneller Seite und zeichnet demgegenüber ein reduziertes und stark verallgemeinerndes Bild seiner Ausbildung. Indem er nicht nur Zingg, sondern die verschiedenen Versuche seiner privaten Lehrer sowie des Unterrichts an der Akademie als künstliche Anleitungen zur schematischen, nicht von der Naturbetrachtung ausgehenden Darstellung charakterisiert, schafft Richter einen negativen Pol, gegenüber dem er die Natürlichkeit seines eigenen inneren, ‚wahren‘ Kunststrebens besonders hervorheben kann. Im weiteren Textverlauf wird dieses Konglomerat negativer Kräfte mit weiteren Merkmalen legiert. Richter überformt seine Darstellung deutlich mit dem Nationalcharakterstereotyp eines Frankreichs der ‚Anciens‘, was zu seiner Ausbildungs- wie Schreibzeit aktuell war.40 Insbesondere das System der Kunstakademien wurde als eine Einrichtung nach französischem Vorbild wahrgenommen, die der Verbreitung eines klassizistisch-idealen Kanons diente. Innerhalb der Autobiographie verdichten sich schließlich diese unterschiedlichen Gegenüber zu einem omnipotenten Gegenmodell, das als ‚das Französische‘ bezeichnet werden kann und ‚das Klassische‘ ebenso integriert wie ‚das Akademische‘. Richter setzt dieses negativ besetzte ‚Andere‘ oder ‚Französische‘ als Interpretament für seine positive Künstlerwerdung ein. Nur mittels dieser ausgeprägten, radikalen Differenz des ‚Anderen‘, die er als unüberbrückbare Entfremdung von der Tradition und der Abkehr von ihren Institutionen und Akteuren darstellt, kann er seine eigene Identität als Künstler im Text garantieren.

40 Allgemein zur Entstehung und Wandlung der deutschen und französischen Nationalcharakterstereotype, so die Bezeichnung von Ruth Florack, siehe Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart u. a. 2001; Sylvaine Reb-Gombeaud, Le Sturm und Drang et le 'caractère national allemand'. La construction d'une identité culturelle, in: André Combes/Anne-Marie Corbin-Schuffels/Irina Fougeron (Hgg.), Images de l'altérité, Villeneuve d'Ascq 2002, S. 161–171; Michael Maurer, Frankreich oder Italien. Zur Idealkonkurrenz von Nationalcharakterstereotypen und Kulturmodellen um 1800, in: Edoardo Costadura/Inka Daum/Olaf Müller (Hgg.), Frankreich oder Italien? Konkurrierende Paradigma des Kulturaustausches in Weimar und Jena um 1800, Heidelberg 2008, S. 13–25.

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K UNSTHISTORISCHE Z UORDNUNG Diese deutliche Selbstzuordnung und -einschreibung in die Kunstgeschichte, die Richter mit seinen Lebenserinnerungen vornimmt, ist nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kunstgeschichtsschreibung seiner Schreibzeit in den späten 1860er und 1870er Jahren zu verstehen. Wichtig für Richter sind hier die Schriften Anton Springers und der programmatische Realismus, der in der Zeitschrift Die Grenzboten seit den 1850er Jahren von Gustav Freytag propagiert wurde, mit dem Springer unmittelbar zusammenhängt.41 Auch Richter ist direkt mit dem Netzwerk um diese Zeitschrift verbunden, zu dem Autoren, Sammler, Verleger, Kuratoren und Kunsthistoriker gehören, darunter auch der Kunsthistoriker Anton Springer, der Direktor der Berliner Nationalgalerie Max Jordan, der Handzeichnungssammler Eduard Cichorius und der Archäologe und Biograph Otto Jahn, die an der Genese von Richters Autobiographie unmittelbar beteiligt sind.42 Betrachtet man die Überblickswerke Anton Springers, die zu dieser Zeit entstehen – vor allem die Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, die zuerst 1867 und dann in einer überarbeiteten Ausgabe 1886 erschienen – dann stellt er die aktuelle moderne Kunst in einem ungebrochenen Zusammenhang mit der Kunst zu Beginn des 19. Jahrhunderts stehend dar. Damit findet eine wichtige erneute Aufwertung der Kunst der sogenannten Nazarener statt, die zwischenzeitlich in Misskredit geraten waren. Christian Scholl konstatiert für das ausgehende 19. Jahrhundert sogar einen „Kanonbruch“ und eine Neukonzeptionierung der Kunstgeschichte anhand der kunsthistorischen Überblickswerke und Periodika.43 Diese neue Darstellung der Geschichte der modernen Kunst des 19. Jahrhunderts als Kontinuum ist jedoch nur möglich, wenn ihre Anfänge, wenn also die Kunst zu Beginn der Moderne, anschlussfähig ist zur zeitgenössischen realistischen Landschaftsmalerei, für die auch Springer eintritt. Um dies zu gewährleisten muss der Anfang nicht nur eine Befreiung vom Alten darstellen, sondern die hier entstehende Kunst muss das Potential beinhalten zu einer stringenten teleologischen Entwicklung bis hin zu den vorherrschenden realistischen Tendenzen im

41 Vermittelt durch Jahn wurde Springer 1857 mit Gustav Freytag persönlich bekannt und Mitarbeiter von dessen Zeitschrift „Die Grenzboten“. Zu Springers wissenschaftlichem Stil in Anknüpfung an Gustav Freytag siehe Johannes Rößler, Poetik der Kunstgeschichte. Zur ästhetischen Begründung der deutschen Kunstwissenschaft bei Anton Springer und Carl Justi, Berlin 2009. 42 Pütz (wie Anm. 1), S. 235-237; Pütz (wie Anm. 2). 43 Christian Scholl, Revisionen der Romantik. Zur Rezeption der neudeutschen Malerei 1817-1906 (Ars et Scientia 3), Berlin/Boston 2012, S. 560-619.

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späten 19. Jahrhundert. Hierin liegt die Bedeutung der Spätromantiker oder zweiten Nazarener-Generation, zu der auch Ludwig Richter gehört. Sie stellen das lebende Bindeglied zwischen der dezidiert realistischen Position Springers und dem Grenzboten-Kreis auf der einen Seite und der Generation der frühen romantischen Maler dar.44 So reformuliert Springer 1886 in seiner überarbeiteten Ausgabe der Bilder aus der neueren Kunstgeschichte die bereits in seiner Erstausgabe 1867 geäußerte Ansicht der voraussetzungslos und autodidaktisch entstandenen Kunst der Romantik. An diese knüpft er die „Wiedergeburt“ der zeitgenössischen Kunst.45 Geradezu polemisch stellt Springer es als Verdienst der romantischen Kunst heraus, das „Uebel“ der Kunst des 18. Jahrhunderts bekämpft zu haben.46 Diese wirke „unausstehlich“ und „widerlich“ „durch den Mangel an ernst wahrer Auffassung und durch die gezierten, verzweickten [sic.] Formen, die sich weder naiv an die Wirklichkeit anschließen, noch von reinem idealen Sinne getragen auf die ewigen Grundformen menschlicher Erscheinungsweise zurückgehen.“47 Erst den „romantischen Neuerern“48 in ihren „Kämpfen“49 im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts sei es nach Springer gelungen, die „langweilige Afterclassizität“50 der Kunstakademien zu überwinden. Diese drastische Formulierung entstammt seiner bereits 1858 veröffentlichten Geschichte der bildenden Künste im neunzehnten Jahrhundert, mit der er sich programmatisch dem herrschenden Realismus verschrieben hatte. 51 Dieser Überblick Springers, der als einer der ersten deutschen universitären Kunsthistoriker mit seinen Schriften stark zur Kanonbildung innerhalb der Disziplin beigetragen hat, sieht die Entstehung der modernen Kunst zu Beginn des 19. Jahrhunderts in

44 Ausführlicher dazu siehe Saskia Pütz, Geschichten vom Anfang. Zur Rezeption der romantischen Landschaftsdarstellung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Norman Kasper/Jochen Strobel (Hgg.), Praxis und Diskurs der Romantik 1800-1900, Paderborn 2016, S. 241–260. 45 Anton Springer, Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, Bonn 21886, Bd. 2, S. 341. Springer sieht zwar durchaus Anknüpfungspunkte bei älteren Künstlern, wie beispielsweise Asmus Jacob Carstens, Eberhard Waechter und Gottlieb Schick, allerdings nur im Rahmen ihrer „Beschränkung“: vgl. Pütz (wie Anm. 44), S. 250. 46 Springer (wie Anm. 45), S. 311. 47 Ebd. 48 Anton Springer, Geschichte der bildenden Künste im neunzehnten Jahrhundert, Leipzig 1858, S. 16. 49 Ebd., S. 15. 50 Ebd. 51 Siehe Springer (wie Anm. 48), S. IX.

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einem radikalen Bruch und der Überwindung des Alten. Er interpretiert die Kunst am Jahrhundertanfang in einem Kontinuum bis hin zur zeitgenössischen Kunst stehend, in der die Anfänge des Realismus in der Malerei angelegt sind. Auch wenn die Formulierungen in den späteren Darstellungen zurückhaltender und differenzierter sind, bleibt die Vorstellung eines Neuanfangs bei Springer in seinen Bildern aus der neueren Kunstgeschichte 1867 und in ihrer zweiten Auflage 1886 erhalten. Seine Darstellungen untermauert Springer nicht mit Bildmaterial, sondern mit literarischen Quellen: Sowohl die Geschichte der bildenden Künste im neunzehnten Jahrhundert als auch das Kapitel über die „Wege und Ziele der gegenwärtigen Kunst“ innerhalb der Bilder aus der neueren Kunstgeschichte (in beiden Ausgaben) verzichten gänzlich auf Abbildungen. Stattdessen zitiert Springer vielfach autobiographische Dokumente, um seine Ausführungen empirisch zu belegen. Während er sich in dem früheren Werk allerdings mit dem Verweis auf Briefe, Biographien oder autobiographische Quellen begnügt, fügt er den Bildern vielfach längere Zitate hinzu, um die Evidenz seiner Darstellung zu erzielen. Dieses methodische Vorgehen ist von der historischen Quellenkritik seines Lehrers, des Altphilologen Karl Lachmann, beeinflusst, die Springer ebenso wie sein Studienfreund und Kollege, der Archäologe Otto Jahn, der eine für die Autobiographie Richters wichtige Biographie des Künstlers geschrieben hat, adaptiert. 52 Später orientierte sich Springer deutlich an Freytags Verfahren der anschaulichen, authentisierenden und zugleich interpretierenden Präsentation der Quellen, wie dieser sie vor allem in seinen umfangreichen Bildern aus der deutschen Vergangenheit exemplarisch umsetzte.53 Das Interesse an autobiographischem Quellenmaterial als empirischer Grundlage für die historische Betrachtung beschränkte sich nicht nur auf historische Quellen. Viele Mitglieder des Grenzboten-Kreises regten auch die Produktion autobiographischer Texte bei den Künstlern an oder verfassten selbst Biographien über Zeitgenossen. Bei den Künstlern, die durch den Grenzboten-Kreis besondere Aufmerksamkeit erfuhren, handelte

52 Vgl. Pütz (wie Anm. 1), S. 60–62. 53 Zu Springers Verfahren vgl. Rößler (wie Anm. 41), S. 104–111; Martin Nissen, Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848-1900), Köln 2009, S. 281-316 und Georg Steinhausen, Gustav Freytags Bedeutung für die Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Kulturgeschichte N. S. 3, 1896, S. 1-20. Freytag hatte bereits ab 1852 Artikel aus seinen „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“ in den Grenzboten veröffentlicht, deren eigenständige Publikation als Buch er ab 1855 konzipierte und von 1859 bis 1866 schließlich realisierte. 1867 erschien der erste Band bereits in der fünften Auflage.

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es sich neben Ludwig Richter unter anderem um Julius Schnorr von Carolsfeld, Ernst Rietschel, Josef von Führich und Wilhelm Schirmer. Alle diese Künstler sind aus heutiger Sicht eher zur Spätromantik zu zählen, teilweise zur zweiten Generation der Nazarener. Diese Auswahl hatte einerseits natürlich damit zu tun, dass die Künstler überhaupt noch am Leben und damit in der Lage waren, Autobiographisches zu verfassen. Ihr Miterleben der ersten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, die Springer als das „goldene Zeitalter unserer Kunst“ 54 bezeichnet, ließen sie an den historischen Ereignissen und Zuständen, wie beispielsweise den Nazarenern in Rom oder den Ausbildungsverhältnissen an den Akademien, teilhaben. Diese „späteren Künstler[…]“ zeichneten sich dadurch aus, dass sie „dem traditionellen Idealismus, der nur das ursprünglich Große und Mächtige anerkennt, scheinbar am schroffsten entgegentraten“, und von denen einzelne nach seiner Meinung „ohne Zagen den alten Meistern als ebenbürtig zur Seite“ 55 gestellt werden können. Wenn Ludwig Richter also sein künstlerisches Werk und seinen Stil bewusst von der Kunst des 18. Jahrhunderts, von akademisch-klassizistischen Prägungen, aber auch von der in den 1860er und 1870er Jahren nicht favorisierten emotional aufgeladenen oder als ‚symbolisch‘ bezeichneten Malerei von Caspar David Friedrich absetzt, geschieht dies gewissermaßen als Funktion der Kunstgeschichtsschreibung seiner Zeit. Eine äußerst erfolgreiche und für die nachfolgende Kunstgeschichte folgenreiche Stilzuordnung und kunsthistorische Einschreibung, wie sich gezeigt hat, da Richters Text als vermeintlich authentische historische Quelle von der Forschung immer wieder als Referenztext herangezogen wurde.56

54 Springer (wie Anm. 45), S. 342. 55 Ebd., S. 348. 56 Siehe beispielweise Werner Hofmann (Hg.), Caspar David Friedrich, 1774-1840, Ausst. Kat. Hamburger Kunsthalle, München 1974, S. 25 oder Werner Busch (Hg.), Landschaftsmalerei (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren 3), Berlin 1997, S. 274–276.

Louise Bourgeois: Child Abuse (1982). Autobiographisches als Vehikel postmoderner Subjektkonstitution A NNIKA W IENERT

„Ich heiße Louise Josephine Bourgeois. Ich wurde am 24. Dezember 1911 in Paris geboren. Der schöpferische Impuls für alle meine Arbeiten der letzten fünfzig Jahre, alle meine Themen, ist in meiner Kindheit zu suchen. Meine Kindheit hat nie ihre magische Kraft, nie ihr geheimnisvolles Dunkel, nie ihre Dramatik verloren.“ 1

In gerade einmal vier Sätzen verhandelt dieses Statement aus einer Publikation von 1994 den Zusammenhang zwischen Leben und Werk der Künstlerin. Insofern kann es als extrem knappe Variante einer Berufsautobiographie gelesen werden. Die traditionelle Vorstellung der Kindheit als ein prägender Lebensabschnitt wird darin mit Fragen nach künstlerischer Autorschaft verbunden. 2 Die Frage nach dem Verhältnis des Subjektes zu seinem vergangenen Selbst, also der Künstlerin zu ihrer Kindheit, thematisiert dabei nicht nur die Erinnerung, sondern explizit auch ihre fiktionalen Anteile3, die in den Formulierungen „magische Kraft“ und „geheimnisvolles Dunkel“ aufscheinen. Kindheit fungiert als

1

Louise Bourgeois, Album. Veröffentlicht 1994 bei Peter Blum Edition, New York. Deutsche Übersetzung nach Hans-Ulrich Obrist (Hg.), Louise Bourgeois. Destruction of the Father – Reconstruction of the Father. Schriften und Interviews 1923-2000, Zürich 2001, S. 301.

2

Zu dieser Verbindung vgl. Catherine Crimp, Childhood as Memory, Myth and Meta-

3

Ebd., S. 162-163.

phor. Proust, Beckett and Bourgeois, London 2013.

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metaphorische und mythologische Figur eines Ursprungs. 4 Als exzeptionell wird dabei herausgestellt, dass die Kindheitserfahrung zum einen unverändert wirksam blieb und zum anderen die exklusive Quelle für das künstlerische Werk sei. Was die Künstlerin nach dem Kindesalter erlebte, scheint unerheblich und wird nicht erwähnt, auch wenn es einiges zu berichten gäbe. Schließlich studierte sie in den 1930ern in Paris und bewegte sich dort im Umfeld der Surrealisten. Bereits 1938 zog sie jedoch mit ihrem Ehemann, dem amerikanischen Kunsthistoriker Roger Goldwater, nach New York, also in die Stadt, die bald darauf Paris als Zentrum der westlichen Avantgardekunst ablösen sollte. Bis zu ihrem Tod 2010 war sie künstlerisch tätig, begleitete und kommentierte aber auch bis ins hohe Alter das Schaffen jüngerer Künstler und Künstlerinnen. Neben der bildenden Kunst beschäftigte sie sich intensiv mit der Psychoanalyse. All dies schlage sich aber nicht im Werk nieder, sondern der Ausgangspunkt „aller Arbeiten“ und „aller Themen“ liege in der Kindheit, behauptet Bourgeois. Im Rahmen dieses Aufsatzes kann die Entwicklung des Gesamtwerkes nur skizzenhaft zusammengefasst werden.5 Während des Kunststudiums in den 1930ern in Paris beschäftigte sich Bourgeois mit Malerei und Zeichnung. Zu ihren Lehren zählten Vertreter des Art deco, neben den bereits erwähnten Surrealisten stand sie beispielsweise auch in Kontakt mit dem Bildhauer Alberto Giacometti. Nach ihrer Übersiedlung in die USA wandte sie sich der Bildhauerei zu, wobei sie zeitlebens auch immer im Medium der Zeichnung arbeitete. In den USA stand sie zunächst in Verbindung mit den Vertretern des Abstrakten Expressionismus, der sich zur dominanten Kunstrichtung der Zeit entwickelte, sie selbst suchte und fand aber andere formalästhetische Ausdrucksformen. Zwischen 1949 und 1953 hatte sie drei Einzelausstellungen in New York und verschiedene Beteiligungen an Gruppenausstellungen mit den führenden Künstlern des Abstrakten Expressionismus.6 Danach zog sie sich weitgehend von einer öffentlichen Betätigung als Künstlerin bis 1966 zurück.7 In diesem Jahr war sie auf der New Yorker Gruppenausstellung „Eccentric Abstraction“ vertreten. Mit diesem Begriff hatte die US-amerikanische Kunstkritikerin Lucy Lippard verschiedene post-minimalistische Positionen im Be-

4

Ebd.

5

Für diesen Überblick vgl., soweit nicht anders angegeben, Marie-Laure Bernadac, Sculpting Emotion, in: Dies., Louise Bourgeois, Paris 2006, S. 49-57, hier S. 52.

6

Robert Storr, A Sketch for a Portrait: Louise Bourgeois, in: Ders./Paulo Herkenhoff/Allan Schwartzman (Hgg.), Louise Bourgeois, London/New York 2003, S. 2693, hier S. 45.

7

Ebd., S. 48.

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reich der Bildhauerei zusammengefasst.8 Bourgeois galt ihr als Vorreiterin einer Hinwendung zu Formen organischer Abstraktion, die sinnlich-evokativ und metaphorisch-assoziativ wirken. Lippard spricht von „indirectly erotic or scatological allusions, and emphasis on the beautiful side of art“.9 In den 1970er Jahren arbeitete Bourgeois mit Performances und Environments, im darauffolgenden Jahrzehnt ist eine Rückkehr zu einer figurativen Formsprache zu beobachten. Ab den 1990er Jahren entstand die Werkgruppe der Zellen, die als narrativenigmatische Installationen bezeichnet werden können. In diesen zum Teil äußerst großformatigen Arbeiten arrangierte sie architektonische Elemente, Skulpturen, Textilarbeiten und objets trouvés. Galt sie lang als artists’ artist, gelang ihr im Alter von 70 Jahren der Durchbruch mit einer Einzelausstellung 1982 im New Yorker Museum of Modern Art. Es war außerdem die erste Soloshow einer Frau in dieser Institution. Parallel zur Ausstellung veröffentlichte die Künstlerin in der Zeitschrift Artforum eine TextBildstrecke mit dem Titel Child Abuse.10 Erst mit dieser Publikation wurde die Erzählung der Kindheit als maßgebliche Motivation des künstlerischen Schaffens eingeführt. Im Zentrum steht dabei die langjährige außereheliche Beziehung des Vaters. Bis dato hatte Louise Bourgeois nie öffentlich und, soweit sich das nachvollziehen lässt, wohl auch nicht im privaten Umfeld über die Affäre gesprochen.11 Der Zeitschriftenbeitrag kann somit gewissermaßen als Ursprung der Ursprungserzählung bezeichnet werden. Im Folgenden wird der autobiographische Gehalt dieser Erzählung untersucht. Dafür werden zunächst einige Elemente der achtseitigen Publikation in ihrer Text-Bild-Zusammenstellung analysiert. Anschließend wird der Rekurs auf das Autobiographische in verschiedene zeitgenössische Diskurse eingeordnet, um abschließend herauszuarbeiten, inwiefern dieser Rekurs als postmoderne Strategie der Authentifizierung weiblicher künstlerischer Autorschaft verstanden werden kann. Bei den schwarz-weißen Abbildungen im Artforum handelt es sich einerseits um Familienphotos aus Louise Bourgeoisʼ Kindheit, andererseits um Aufnahmen einzelner Skulpturen. Der Text erzählt von Kindheitserlebnissen und berührt die Frage, wodurch ihre eigene künstlerische Betätigung motiviert ist bzw. warum jemand überhaupt Künstler oder Künstlerin wird. Insofern gibt es Argumente dafür, diese Publikation als Berufsautobiographie zu bezeichnen. Auch das Alter

8

Vgl. Lucy Lippard, Eccentric Abstraction, in: Dies., Changing. Essays in Art Criticism, New York 1971, S. 89-111.

9

Ebd., S. 101.

10 Louise Bourgeois, Child Abuse, in: Artforum 20 (Heft 4), 1982, S. 40-47. 11 Storr (wie Anm. 6), S. 39.

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der Autorin zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist genretypisch, die meisten Autobiographien werden im Alter von etwa 70 Jahren verfasst. Als Autobiographie verstanden, stände dieser Text strenggenommen außerhalb ihres künstlerischen Œuvres und müsste zu diesem in Beziehung gesetzt werden. Aus dieser Perspektive wäre zu fragen, wie diese Beziehung zu verstehen ist: Erklärt er das Werk, kommentiert er es, handelt er von etwas ganz anderem? Ich möchte hier einem anderen Verständnis der Zeitschriftenpublikation nachgehen, welches die vier Doppelseiten mit ihrem dramatisch-suggestiven Arrangement von Text und Bild als genuin künstlerische Äußerung betrachtet. Dafür spricht erstens die artifizielle Komposition des Beitrags selbst, und zweitens die mediale Rahmung. Die Zeitschrift Artforum veröffentlicht regelmäßig künstlerische Bildstrecken und machte den Werkcharakter auch durch die Betitelung „A Project by Louise Bourgeois“ deutlich. Drittens ist die grundsätzliche methodische Überlegung anzuführen, Selbstäußerungen von Künstlern und Künstlerinnen als Teil ihres Werks zu analysieren. Aus dieser Perspektive soll danach gefragt werden, wie das Autobiographische als künstlerische Strategie eingesetzt wird. Kathleen Bühler unterscheidet in ihrer Einführung zum Ausstellungkatalog Ego Documents. Das Autobiografische in der Gegenwartskunst zwischen der Autobiographie und dem Autobiographischen. Das Autobiographische in der Kunst bestimmt sie als das, „was in einem visuellen oder plastischen Werk als genuine Erfahrung des Autors wahrgenommen werden kann.“ Es gehe um „Erfahrungen, welche ein Publikum als authentisch akzeptiert“ 12. Bühlers Formulierung ist hierbei hervorzuheben: Es geht um die Frage der Wahrnehmung und Akzeptanz, nicht darum zu entscheiden, was eine authentische Erfahrung ist oder nicht ist. Dieser Aufsatz untersucht daran anschließend nicht den autobiographischen Gehalt des Werks. Während Bühler die Aufmerksamkeit auf die Seite der Rezeption lenkt, soll hier das Autobiographische als Werkstrategie akzentuiert werden. Der Text von Child Abuse bezieht sich wie angesprochen formal und inhaltlich auf das Genre der Autobiographie, somit auf eine schriftliche und öffentliche Form der Selbstkonstitution. Der Einsatz von Familienphotos erinnert an das private Photoalbum und somit an ein in erster Linie visuelles und privates, ungleich weiter verbreitetes Medium der Hervorbringung und Sinngebung von Le-

12 Kathleen Bühler, Ego Documents – eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Ego Documents. Das Autobiografische in der Gegenwartskunst, Ausst.Kat. Kunstmuseum Bern, Heidelberg 2008, S. 15-33, hier S. 17.

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bensgeschichte.13 Die erste Doppelseite entspricht auf der visuellen Ebene der von Timm Starl für das private Photoalbum als charakteristisch herausgearbeiteten „Bevorzugung des Harmonischen, Friedvollen, ‚Schönenʻ und der Hintanstellung alles Ärgerlichen, Unerfreulichen, Bedrohlichen“14 (Abb. 31). Vor einem Bergpanorama sind links und rechts Mutter bzw. Vater und Tochter mit Spazierstöcken auf einem Wanderweg abgebildet. Eine der Photographien ist offensichtlich seitenverkehrt abgedruckt, so dass sich ein spiegelsymmetrisches Arrangement ergibt, das an der Spiegelachse eine Form ausbildet, die an weibliche Geschlechtsorgane erinnert. Der eindeutige und augenfällige Bruch mit dem Friedvollen vollzieht sich jedoch sprachlich: Oben rechts prangt in grellem Pink die Überschrift „Child Abuse“. Im Text auf der folgenden Doppelseite werden zunächst allgemeine Äußerungen zur Bedeutung der Vergangenheit für einen Künstler/eine Künstlerin getroffen. Darauf folgt ein Satz, mit dem das eingangs zitierte Statement von 1994 vorformuliert wird: „Everything I do was inspired by my early life.“15 Unvermittelt wird danach das darunterliegende Photo erläutert: „On the left, the woman in white is The Mistress. She was introduced to the family as a teacher but slept with my father and she stayed for ten years.“ Das Photo zeigt im Vordergrund zwei Frauen, die hintereinander in einem schmalen Ruderboot sitzen. Da beide weiß gekleidet sind, dient der Hinweis auf die Farbe der Kleidung nicht so sehr der Identifizierung der Figur, als dass dadurch die Perfidie ihrer Täuschung symbolisch vorbereitet wird. Die Kapitalisierung der Bezeichnung als Geliebte macht deutlich, dass es hier eher um eine Rolle, ein Stereotyp geht als um eine individuelle Persönlichkeit. Die Festlegung auf diese Rolle überschattet alle anderen Handlungen der Figur, sodass eine Tätigkeit als Lehrerin dadurch sogar für ungültig erklärt wird. Zwar wurde sie als Lehrerin eingestellt, aber stattdessen schlief sie mit dem Vater: Die Formulierung legt nahe, dass diese beiden Tätigkeiten sich ausschließen würden. Auf der folgenden Doppelseite ist links eine Architekturphotographie abgebildet (Abb. 32). Sie zeigt in Untersicht einen Zaun aus Metallstäben, der auf einem Mauersockel mit zwei Hermen angebracht ist. Bei der rechten Herme

13 Zum Verhältnis von Photographie und Autobiographie vgl. Alma-Elisa Kittner, Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009; zum privaten Photoalbum vgl. Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München/Berlin 1995. 14 Vgl. ebd., S. 23. 15 Bourgeois (wie Anm. 10), S. 43.

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handelt es sich um eine weibliche Figur. In einiger Entfernung ist hinter dem Zaun die Fassade eines herrschaftlichen Anwesens mit betontem Mittelrisalit und zwei kurzen Seitenflügeln zu sehen. Der Text darüber adressiert den Leser/die Leserin direkt: „Now you will ask me, how is it that in a middle class family a mistress was a standard piece of furniture? Well, the reason is that my mother tolerated it and that is the mystery. Why did she?”16 Dadurch wird eine metaphorische Deutung des Bildes nahegelegt: Mann und Frau, als Grundpfeiler der bürgerlichen Familie, stehen dem Haus vor und erhalten die sprichwörtliche Fassade aufrecht. Der trügerische Charakter der bürgerlichen Fassade ist allerdings selbst eine Binsenweisheit. Das Erstaunen, das aus dem Text spricht, entspricht daher eher der kindlichen Erlebnisperspektive, als dass es sich spontan beim Lesen einstellen würde. Im folgenden Absatz wird der titelgebende Kindesmissbrauch erläutert: „So what role do I play in this game? I am a pawn. Sadie is supposed to be there as my teacher and actually you, mother, are using me to keep track of your husband. This is child abuse.“17 Die Bezeichnung Kindesmissbrauch, die in der Regel mit männlicher sexualisierter Gewalt in Verbindung gebracht wird, verwendet Bourgeois hier für eine psychologische Manipulation durch die Mutter. Diese steht dadurch als eigentliche Täterin im Zentrum der Anklage. Der Text auf der rechten Seite bezichtigt den Vater und die Lehrerin des Verrats: „I was betrayed not only by my father, damn it, but by her too. It was a double betrayal.“ Der Doppelcharakter wird durch die darunter abgebildete Skulptur verdeutlicht. Es handelt sich um ein weißes, längliches Objekt, das auf der einen Seite phallisch ausgeformt ist und an einen Knüppel oder Mörserstößel erinnert, an der anderen Seite hingegen in einen Frauenkopf mündet. Während diese Skulptur vor einem neutralen Hintergrund abgebildet ist, wird auf der nächsten und letzten Doppelseite rechts eine Skulptur im Kontext von Bourgeoisʼ Wohnhaus und Atelier gezeigt (Abb. 33). Die anatomisch recht genaue Darstellung eines Phallus trägt den zunächst widersprüchlich erscheinenden Titel La Fillette und ist an einer Art Fleischerhaken aufgehängt. Der Text spricht von dem langjährigen Verlangen, der Englischlehrerin den Hals umzudrehen, um dann unvermittelt mit folgendem Satz zu enden: „Everyday you have to abandon your past or accept it and then if you cannot accept it you become a sculptor.“ 18 Die autobiographische Erzählung eines prägenden Konflikts aus der Kindheit wird also gerahmt von der verallgemeinerten Behauptung, dass eine unbe-

16 Ebd., S. 44. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 47.

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wältigte Vergangenheit zur künstlerischen Betätigung zwinge. Die Publikation insgesamt führt ein als authentisch vermitteltes Deutungsangebot nicht nur des Werks, sondern der Person der Künstlerin selbst ein, das von da an die Rezeption dominierte. Dass diese Interpretation erst zu einem relativ späten Zeitpunkt ihrer künstlerischen Laufbahn etabliert wurde, legt die Frage nach dem Entstehungskontext nahe. Gabriele Schmid hat ausgeführt, dass der Diskurs um Gegenwartskunst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Kritiker/innen und Kurator/innen bei der Deutung von Kunstwerken privilegierte und formale Qualitäten von Kunst ins Zentrum stellte.19 Vor diesem Hintergrund schlägt sie vor, die Betonung der autobiographischen Quellen als eine Strategie der Künstlerin zu interpretieren, die Deutungshoheit über ihre Kunst beanspruchen zu können. Hinzuzufügen wäre, dass diese Strategie außerdem für ihr in formalästhetischer Hinsicht heterogenes und von bis dato dominanten Kunstrichtungen in den USA wie dem Abstrakten Expressionismus, Konzeptkunst oder Minimal Art deutlich unterschiedenes Gesamtwerk eine interpretative Vereinheitlichung und Zugänglichkeit schuf. Fest steht: Die Strategie ging auf. „Child Abuse ist wie andere autobiographische Schilderungen Louise Bourgeois’ vom Publikum wörtlich genommen worden.“20 Trotz neuer Forschungsbeiträge seit 199021 wird diese Deutung weiterhin fortgeschrieben. Die unkritische Übernahme der autobiographischen Selbstdeutung in der Rezeption von Bourgeoisʼ Œuvre steht in einer Tradition geschlechtsspezifischer Auffassung von künstlerischer Kreativität. Der Künstlerin kommt in der geschlechtlichen Arbeitsteilung „die emotional-private Auseinandersetzung mit dem Selbst“22 zu. Gisela Elsner schrieb zum Jahr der Frau 1980: „Ohnehin liegt die weibliche Fähigkeit eher im Intuitiven, das sich nicht leicht in Worte kleiden lässt, von den Begriffen ganz zu schweigen. Vergessen wir nicht, dass die weibliche Kreativität im Kopfe bestenfalls Banalitäten oder Plagiate produziert, im Unterleib hingegen ein Ergebnis zeitigt, das schon in seiner Lebensfähigkeit je-

19 Gabriele Schmid, Die Architektur der Erinnerung. Künstlermythos und Vermittlungsstrategien in den autobiographischen Schriften von Louise Bourgeois (1911-2010), in: Beate Böckem/Olaf Peters/Barbara Schellewald (Hgg.), Die Biographie – Mode oder Universalie? Zu Geschichte und Konzept einer Gattung in der Kunstgeschichte, Berlin 2016, S. 234-253. 20 Ebd., S. 249. 21 Für Literaturhinweise s. Crimp (wie Anm. 2), S. 19. 22 Tanja Röckemann, „We are ready to lead“. Lena Dunham und Hillary Clinton – zum affirmativen Gehalt des bürgerlichen Feminismus des 21. Jahrhunderts, in: Konkret, März 2016, S. 26-27, hier S. 27.

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dem Kunstwerk überlegen ist: nämlich das Kind.“23 In diese zunächst inferiore, spezifisch weibliche Rolle hat sich Louise Bourgeois mit der Veröffentlichung von Child Abuse eingeschrieben. Heute mag Elsners feministische Polemik insofern überholt klingen, als dass sich das Kreativitätsideal in den letzten 35 Jahren verändert hat und eine intuitive, emotionale Kreativität nicht mehr grundsätzlich abwertet. So ist es keineswegs abwertend zu verstehen, wenn Louise Bourgeois 2009 bescheinigt wird, ihre Inspiration entspringe direkt aus den Emotionen, die ihre Vergangenheit auslöst, und ihre Kunst als „closer to life than to art“ charakterisiert wird.24 Als Begründung für den Einsatz und den Erfolg der Strategie kann auch der sogenannte Psychoboom25, der in den 1970er Jahren aufkam, angeführt werden. In diesem Zusammenhang ist die Selbstkonstitution in Child Abuse weniger an den Beruf der Künstlerin gebunden, sondern als eine „therapeutische Erzählung des Selbst“26 zu verstehen, die sich nach der Soziologin Eva Illouz mittlerweile als eine wichtige Erweiterung des autobiographischen Diskurses etabliert hat. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass in dieser Erzählung „das seelische Leid auf Dauer zu einem konstitutiven Aspekt der Identität wird.“27 Bourgeoisʼ Einsatz der Vokabel Kindesmissbrauch ist in diesem Kontext noch spezifischer zu verorten. Im Laufe der 1970er Jahre entwickelte sich Kindesmisshandlung zu einem zentralen Thema feministischer Kritik an der patriarchalischen Familie. Die Vorstellung des Kindes als empfindsames und vor allem unschuldiges Opfer war dabei anschlussfähig für weite Teile der Gesellschaft, so dass dieses Aktionsfeld nicht auf aktivistische feministische Kreise beschränkt blieb.28 Im Zusammenhang mit dem second wave feminism kann außerdem die literaturtheoretische Diskussion von Autorschaft sowie die Autobiographieforschung der Zeit hinzugezogen werden. Seit Ende der 1960er Jahre bemühten sich Frauen und andere, bis dahin nicht autobiographiewürdige Gruppen, einen Autor- oder eben Autorinnenstatus zu erkämpfen.29 Die Selbstnarration von Louise Bourgeois scheint dabei dem Konzept des von der Moderne postulierten kohärenten

23 Zitiert nach ebd. 24 Bernadac (wie Anm. 5), S. 53. 25 Vgl. Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016. 26 Eva Illouz, Die Errettung der modernen Seele (engl. 2008), Frankfurt am Main 42015, S. 288ff. 27 Ebd., S. 305. 28 Ebd., S. 280-283. 29 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 96-103.

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Selbst zu entsprechen und wurde mehrheitlich auch so wahrgenommen, und das zu einem Zeitpunkt, als der „Tod des Autors“ (Roland Barthes) schon ausgerufen und „der Status von Autorschaft bereits in die Krise geraten war.“ 30 Seit 1982 wurde immer wieder ein zentrales Deutungsmuster bemüht, das der kindlichen Traumatisierung und daraus resultierender lebenslanger psychischer Leiden, die durch künstlerische Betätigung kanalisiert wurden. Der Inhalt dieser autobiographischen Erzählung konnte an spezifisch-künstlerische und allgemeinkulturelle Diskurse der Zeit anknüpfen und erfüllte dabei geschlechtsspezifische Erwartungen. Insofern ist der umfängliche Einsatz des Autobiographischen in Bourgeoisʼ Werk nicht als eine gewissermaßen nachgeholte, aber historisch im Grunde überholte Variante der Autobiographie zu verstehen, die den Tod des Autors durch die Geburt der Autorin ersetzen würde. Durch die nahezu penetrante Wiederholung des Autobiographischen scheint sie das Konzept des autonomen Selbst nicht so sehr zu kopieren als nachgerade zu parodieren. Hinzu kommt, dass das autobiographische Schreiben und Sprechen der Künstlerin Stereotypen von ,Andersheitʻ entspricht, wie sie auch für die nicht westliche Autobiographik herausgestellt wurden: „das Fehlen linearer Entwicklungslinien zugunsten repetitiver, reihender, zyklischer Strukturen, Schilderungen des Alltäglichen, Prozessualität statt Erreichen eines Endpunktes, Aufgehen im Beschriebenen statt Distanz.“31 Diese allgemeine Charakterisierung passt auch zu dem in Auszügen zitierten Text von Child Abuse. ,Andersheitʻ im Sinne von Simone de Bouvoirs Formulierung von der Frau als dem anderen Geschlecht spielt in Bourgeoisʼ bildnerischen Arbeiten insofern eine Rolle, als sie um Aspekte von Sexualität, Körperlichkeit und familiäre Beziehungen kreisen, die auch aus heutiger Perspektive noch als ,klassische Frauenthemenʻ wahrgenommen werden. Insbesondere die Themen Schwangerschaft und Geburt sind kulturell weiblich besetzt. Andrea Jahn hat Bourgeoisʼ Arbeiten zu diesen Themen überzeugend in Bezug zu Julia Kristevas Theorie der Verwerfung gesetzt.32 Die poststrukturalistische Philosophin konzipiert Schwangerschaft und Geburt als „Erweiterung der körperlichen Grenzen und als Auflösung der imaginären Identität“, wodurch sie zu „Metaphern für die

30 Alma-Elisa Kittner, Die visuelle Autobiographie in der bildenden Kunst, in: Böckem/Peters/Schellewald (wie Anm. 19), S. 255-266, hier S. 265. 31 Wagner-Egelhaaf (wie Anm. 29), S. 97. 32 Vgl. Andrea Jahn, „The Artist giving Birth to Herself“. Louise Bourgeoisʼ schwangere Körper, in: Kathrin Hoffmann-Curtius (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, S. 206-220.

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Infragestellung des autonomen Subjektes, das die Trennung von Selbst und Anderem voraussetzt“33, werden. Der angedeutete Widerspruch zwischen dem auktorialen Selbstbewussten der Tradition der modernen Autobiographik und dem ostentativen Gestus der Alterität ist daher nur ein scheinbarer. Die Konfrontation von binären Kategorien wie männlich und weiblich, aktiv und passiv etc. zielt nicht darauf ab, die damit einhergehenden Wertungen aufzuheben oder umzukehren, sondern die Kategorien selbst zu dynamisieren und hybridisieren. So ist auch die Bezeichnung eines übergroßen Phallus als La Fillette, zu deutsch Das Mädchen, nicht allein als plakative Ironie zu verstehen. Die Betitelung ist keine Text-Bild-Schere, sondern verweist darauf, dass Bourgeois den Phallus von der biologistischen Festlegung auf das männliche Geschlecht löst. Insofern stellt ihr Werk nicht allein das autonome Subjekt der Moderne in Frage, sondern vor allem auch dessen geschlechtsspezifische Identität.34 Allen konstruktivistischen Lesarten zum Trotz bleibt zu konstatieren, dass Louise Bourgeois sich als weibliches künstlerisches Subjekt keinesfalls auflöste, sondern ein solches Subjekt äußerst erfolgreich herstellte und authentifizierte. Andreas Reckwitz hat dargelegt, dass die von Richard Rorty diagnostizierte Kultur der Selbsterschaffung (self-creation) eine historisch-spezifische, spätmoderne Form der Subjetkonstitution sei. Sie gehe „auf ein historisch außergewöhnliches Vokabular des Selbst aus dem Umkreis der Psychologie und des Selbstwachstums (self growth) zurück, die wiederum ein romantisches Erbe verwaltet.“35 Genau in diesem romantischen Erbe sieht Reckwitz den Beginn des Kreativitätsdispositivs, dass ausgehend vom Kunstfeld in den 1980er Jahren in die Phase der Hegemonialisierung eintritt. Vor dem Hintergrund dieser Analyse ist die von Louise Bourgeois 1982 eingeführte Synthese von Werk und Selbst als verbindliche Deutung ihres Schaffens nicht als Wiederbelebung eines Kunstkonzeptes der klassischen Moderne zu verstehen36, sondern als spezifisch postmoderne Figuration des Künstlersubjekts.

33 Ebd., S. 216. 34 Vgl. Hannah Westley, The Body as Medium and Metaphor, Amsterdam 2008, S. 164ff. 35 Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt am Main 32013, S. 12. 36 So bescheinigt Marie-Laure Bernadac (wie Anm. 5), S. 54, der Künstlerin: „she […] brilliantly revives the concept of art as autobiography, previously advocated by Picasso […]“.

Autobiographie in der Wissenschaft

Ein Leben für die Wissenschaft. Forschung und Selbsterforschung. Zu Werner Heisenbergs Der Teil und das Ganze (1969) M ARTINA W AGNER -E GELHAAF

Die literaturwissenschaftliche, insbesondere die germanistische Autobiographieforschung hat sich bislang vor allem an kanonischen Autobiographien abgearbeitet und auch anhand dieses etablierten Korpus ihre Theorieentwicklung betrieben. So hat etwa Wilhelm Dilthey in seiner für die hermeneutische Grundlegung der Geisteswissenschaften bedeutsamen Schrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften Augustinusʼ Confessiones, Rousseaus Confessions und Goethes Dichtung und Wahrheit als Marksteine der Autobiographiegeschichte hervorgehoben. Er schreibt: „Ich blicke in die Selbstbiographien, welche der direkteste Ausdruck der Besinnung über das Leben sind. Augustin, Rousseau, Goethe zeigen ihre typischen geschichtlichen Formen. Wie erfassen diese Schriftsteller nun verstehend den Zusammenhang der verschiedenen Teile ihres eigenen Lebensverlaufes? Augustin ist ganz auf den Zusammenhang seines Daseins mit Gott gerichtet. Seine Schrift ist zugleich religiöse Meditation, Gebet und Erzählung. Diese Erzählung hat ihr Ziel in dem Ereignis seiner Bekehrung, und jeder frühere Vorgang ist nur eine Station auf dem Weg zu diesem Ziel, in welchem die Absicht der Vorsehung mit diesem Menschen beschlossen ist. […] Rousseau will vor allem das Recht seiner individuellen Existenz zur Anerkennung bringen. Hierin ist eine neue Anschauung von unendlichen Möglichkeiten der Realisierung von Lebenswerten enthalten. […] Und nun Goethe. In Dichtung und Wahrheit verhält sich ein Mensch universalhistorisch zu seiner eigenen Existenz. Er sieht sich durchaus im Zusammenhang mit der literarischen Bewegung seiner Epoche. Er hat das ruhige, stolze Gefühl seiner Stellung in

302 | M ARTINA W AGNER -EGELHAAF derselben. So ist dem Greis, der zurückschaut, jeder Moment seiner Existenz in doppeltem Sinn bedeutend: als genossene Lebensfülle und als in den Zusammenhang des Lebens hineinwirkende Kraft.“1

Damit ist ein, zweifellos hochkarätiger, Kanon begründet und zudem eine sehr kurz gefasste Geschichte der Autobiographie erzählt. Die Literaturwissenschaft hat sich in der Folge zumeist auf die Autobiographien von Schriftstellerinnen und Schriftstellern konzentriert, weil sie die Texte weniger in Bezug auf ihren Quellenwert analysiert, wie das vielleicht in anderen Disziplinen, etwa der Geschichts- oder auch der Kunstwissenschaft, der Fall ist, sondern weil sie den Blick eher auf den Kunstwerkcharakter der Autobiographie richtet. 2 Das heißt, die Literaturwissenschaft interessiert sich vordringlich für die Frage, wie Literatinnen und Literaten mit der literarischen Form der Autobiographie umgehen. Die Autobiographie ist ja ein Genre, und die Genreentwicklung vollzieht sich bekanntlich im Spannungsverhältnis von Erfüllung und Überschreitung. Und gerade den vorgegebene Muster überschreitenden, experimentellen, reflexiven Umgang mit der autobiographischen Form traut die Literaturwissenschaft üblicherweise sehr viel eher Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu, denen es nicht allein darum geht, Lebensgeschichte zu hinterlassen, sondern mit ihrer Autobiographie auch ein anspruchsvolles literarisches, ja, ein künstlerisches Werk hervorzubringen. Aber doch wendet sich auch die Literaturwissenschaft, nachdem sie sich mit den raffiniertesten Formen des autobiographischen Selbstexperiments auseinandergesetzt hat und sich natürlich weiter damit auseinandersetzt, in der jüngsten Zeit auch den autobiographischen Zeugnissen anderer Gesellschaftsund Berufsgruppen zu. Die Entwicklung begann eigentlich in den USA, wo plötzlich die Autobiographien ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, oftmals von Minderheiten, in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geraten sind. Auch die sog. ‚Berufsautobiographie‘ ist in den letzten Jahren verstärkt in das literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeitsfeld getreten. 3 Der Beruf

1

Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften,

2

Zu dieser Debatte vgl. auch Martina Wagner-Egelhaaf, Zum Stand und zu den Per-

Einleitung von Manfred Riedel, Frankfurt a.M. 1981, S. 244f. spektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft, in: BIOS 23 (Heft 2, 2010), S. 188-200 und Volker Depkat, Zum Stand und den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft, in: ebd., S. 170-187. 3

Vgl. dazu auch die in Münster entstandene Dissertation von Katharina Lammers mit dem Titel „Lebenswerke. Zur Berufsautobiographie in der Gegenwart“, die sich mit

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ist im Leben des modernen Menschen ein überaus zentraler Referenzpunkt und wesentlicher Identitätsfaktor. In nahezu jedem Formular, das wir ausfüllen, muss der ‚Beruf‘ eingetragen werden; und trifft man Menschen, die man bislang noch nicht kannte, spricht man bevorzugt erst einmal darüber, was der bzw. die andere ‚beruflich macht‘, weil Fragen nach dem Privatleben sehr viel verfänglicher sein können. Und natürlich markiert der Beruf den sozialen Status eines Menschen. Für die Autobiographieforschung stellt sich die Frage, in welcher Weise das berufliche Selbstbild das autobiographische Schreiben prägt. Diese Frage ist bislang noch nicht systematisch aufgegriffen worden. Natürlich ist die ‚literarische‘ Autobiographie, also die Autobiographie von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, auch eine Berufsautobiographie – sie wird in der Forschung bislang nur nicht als solche perspektiviert. 4 Im Rahmen eines spezifischen Diskussionskontexts zur Berufsautobiographie, wie ihn die vorliegende Publikation eröffnet, kann dieser Sachverhalt nicht deutlich genug unterstrichen werden, eröffnet die Perspektive auf die Autobiographie von Schriftstellerinnen und Schriftstellern im Zeichen der Kategorie ‚Beruf‘ doch zweifellos neue Interpretationsmöglichkeiten, denen die Autobiographieforschung verstärkt nachgehen sollte. 5 Indessen sind auch Autobiographien von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die im Folgenden im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, ,Berufsautobiographien‘. Grundlegend für eine Auseinandersetzung mit diesem Subgenre der Autobiographie ist die These, dass der Beruf des Wissenschaftlers bzw. der Wissenschaftlerin ein ganz besonderer ist, dass Wissenschaft nicht nur ein Beruf, sondern eine Lebensform ist. Man kann in diesem Zusammenhang natürlich Max Weber zitieren, der in „Wissenschaft als Beruf“ (1917/1919) den

Autobiographien von Unternehmern, Wissenschaftlern, Politikern und Popstars beschäftigt und dabei insbesondere auch die Rolle von Ghostwritern thematisiert. 4

Selbstverständlich sind auch ,Berufsautobiographien‘ literarisch; sie haben ihre eigene Literarizität, die es in ihren spezifischen Formen zu analysieren gilt.

5

Die Frage wird z.T. in der ebenfalls in Münster entstehenden Dissertation von Sarah Nienhaus verfolgt, die sich im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1150 ‚Kulturen des Entscheidens‘ und im Teilprojekt ‚Herkules am Scheideweg? Szenarien des Entscheidens in der autobiographischen Lebenslaufkonstruktion‘ u.a. mit der Berufsentscheidung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in der Zeit um 1900 befasst. David Ginnuttis untersucht im selben SFB-Teilprojekt Autobiographien von Politikerinnen und Politikern aus der Perspektive des ‚Entscheidens‘. Auch bei dieser Berufsgruppe spielt die Berufsentscheidung eine wichtige Rolle.

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Beruf im emphatischen Sinne als Berufung gefasst hat. 6 Prägt der Beruf im Leben eines Menschen in der Regel seine aktive mittlere Lebensphase, impliziert die Vorstellung einer ‚Berufung‘ bereits ein Lebenskonzept, die Vorstellung eines teleologischen Verlaufs, bei dem innere Berufung und deren äußere Realisierung, im Idealfall bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit der ‚Berufung‘ auf einen Lehrstuhl, konvergieren. 7 Die etymologische Verbindung von ‚Beruf‘ und der religiösen Kategorie der ‚Berufung‘, die nicht ohne Grund im Begriff der akademischen Berufung nachklingt, weist auf die eminente Rolle des Konzepts der individuellen Persönlichkeit hin, das dem emphatischen Berufsverständnis Max Webers ebenso zugrunde liegt wie dem akademischen Berufungsritual. Wie auch immer: Man darf davon ausgehen, dass die Wissenschaft im Leben eines Wissenschaftlers/einer Wissenschaftlerin eine Leitfunktion hat, und in autobiographiesystematischer Hinsicht lässt sich die Erkenntnisfrage formulieren, ob und in welcher Weise wissenschaftliche Kategorien, Paradigmen, Denkfiguren die Wahrnehmung, den Blick auf das eigene Leben des Autobiographen/der Autobiographin bestimmen. Diese Frage muss natürlich disziplinär differenziert gestellt werden. Mit ihr verbindet sich die weitergehende Frage, ob und inwiefern die Autobiographie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern das Genre der Autobiographie erweitert oder aber in einer noch zu bestimmenden, spezifischen Weise erfüllt. Die jüngere Autobiographieforschung hat herausgestellt, dass die Autobiographie ein topisches Genre ist, das in einem hohen Maße Gattungskonventionen folgt und immer wieder dieselben Topoi aufruft. Stefan Goldmann hat darauf hingewiesen, dass sich noch die moderne Autobiographie stark an der antiken

6

Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Ders., Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919 (Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Bd. I/17), hg. v. Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1994, S. 1-23, hier S. 5f.

7

Vgl. Sigurd Hjelde, (Artikel) „Berufung. I. Religionswissenschaftlich“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4 Online, hg. v. Hans Dieter Betz/Don S. Browning/Bernd Janowski/Eberhard Jüngel, Tübingen 1998-2007: „Als B. bezeichnet man das Erlebnis eines Menschen, von einer göttlichen oder anderen übermenschlichen Macht ergriffen und in deren Dienst genommen zu werden. Der Begriff hängt so mit dem der Erwählung eng zusammen; zugleich kann die B. als eine Art Initiation angesehen werden, der eine längere Lehr- und Reifezeit vorausgehen oder folgen kann“ (http://referenceworks.brillonline.com/entries/religion-in-geschichte-und-gegenwart /berufung-COM_01840?s.num=0&s.rows=20&s.f.s2

_parent=s.f.book.religion-in-

geschichte-und-gegenwart&s.q=Berufung) (Zugriff 7. 10. 2016).

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Personentopik orientiert, derzufolge etwa bei einer Lobrede ganz bestimmte Punkte abgearbeitet werden müssen.8 Die Persistenz dieser Topik lässt sich beispielsweise noch in Friedrich Andreas Hallbauers Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie aus dem Jahr 1725 ablesen, wo es heißt: „Man beschreibet eine Person, wenn man redet von ihren Namen, Geschlecht, Vaterlande, Auferziehung, Gaben des Gemüths, Leibes und Glückes, Verrichtungen und Thaten, Eigenschaften, Ort und Zeit, wo und wenn sie gelebet, Lebens=Art, Alter, Tod, Begräbniß, u.d.g. Man muß eben nicht alles bey einer Person anbringen, es sey denn in Lebensläuffen.“9

Dieses topische Verständnis der Autobiographie widerspricht sicher der landläufigen Vorstellung von der Autobiographie als einem authentischen und ganz individuellen Bericht über das eigene Leben. Doch muss man sich vor Augen führen, dass, wer seine Autobiographie schreibt, immer schon andere Autobiographien gelesen hat, so dass er oder sie bereits von einem Begriff dessen geleitet wird, was eine Autobiographie ist, wie sie (idealiter) auszusehen hat und was sie berichtet. Dieses kulturelle Vor-Wissen strukturiert selbstverständlich das eigene Vorhaben und den eigenen autobiographischen Text, der sich mithin, zumindest in einem gewissen Maße, an der überlieferten Topik der Autobiographie orientiert. Im Hinblick auf die Autobiographien von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern lassen sich die Frage und der Forschungsauftrag formulieren, ob es spezifisch wissenschaftliche bzw. sich von der Wissenschaft herschreibende Topoi der autobiographischen Selbstdarstellung gibt. Dass die Wissenschaftlerautobiographie nicht nur einen modernen Spezialfall der Autobiographie darstellt, sondern mit der Gattungsgeschichte in konstitutiver Weise verbunden ist, hat bereits der Autobiographieforscher Günter Niggl hervorgehoben:

8

Vgl. Stefan Goldmann, Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiographie, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994, S. 660-675. Vgl. Ders., Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis, Stuttgart 1993. Die Topik der Autobiographie wird auch in den Blick genommen von Gabriele Schabacher, Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion ‚Gattung‘ und Roland Barthesʼ Über mich selbst, Würzburg 2007.

9

Friedrich Andreas Hallbauer, Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie, Jena 1725 (Nachdruck Kronberg 1974), S. 299.

306 | M ARTINA W AGNER -EGELHAAF „Die Tradition der religiösen Konfession will nach augustinischem Vorbild die Bekehrung als den Angelpunkt des eigenen Lebens darstellen und dieses von Anfang an auf jenes Hauptereignis hinordnen; sie wird durchkreuzt von der Tradition der Berufs-(meist Gelehrten-)Autobiographie, die den beruflichen Werdegang von den Studienjahren in die öffentliche Wirksamkeit mit ihren wechselnden Erfolgen und Konflikten als das eigentliche autobiographische Thema betrachtet und seit dem Ende des 16. Jahrhunderts durch mehrere umfangreiche, zunächst noch lateinisch geschriebene Werke, vor allem in Frankreich (Junius, Thuanus, Huetius), aber auch in Deutschland (Ursinus, Andreä) vertreten ist und im 18. Jahrhundert eine neue Blütezeit erleben wird.“ 10

Niggl betrachtet also die Gelehrtenautobiographie neben der Konfessionsautobiographie als die zweite historische Wurzel des Genres. Das heißt nichts anderes als dass die beiden Grundtypen der Autobiographie, Konfessionsautobiographie und Gelehrtenautobiographie, die Gattung strukturell hervorbringen und, so könnte man sagen, konditionieren. Da liegt es nahe danach zu fragen, wie sich diese Prototypen der Autobiographie weiterentwickelt und ob bzw. in welcher Weise sie noch in der Gegenwart etwas zur Gattungsentwicklung und -reflexion beizutragen haben. Dies wäre freilich ein großes Projekt. Im Folgenden sollen mit Blick auf die Wissenschaftlerautobiographie lediglich einige Grundzüge herausgearbeitet werden. Eine Kategorie, die es im Zuge einer umfassenden Analyse von Wissenschaftlerautobiographien zu berücksichtigen gilt, ist die Rolle des ‚Zufalls‘, auf die bereits Max Weber hingewiesen und dabei bemerkenswerterweise auch über seinen eigenen Weg gesprochen hat. Er schreibt in Wissenschaft als Beruf: „Gewiß: nicht nur der Zufall herrscht [im Lebenslauf eines Wissenschaftlers; M.W.-E.], aber er herrscht doch in ungewöhnlich hohem Grade. Ich kenne kaum eine Laufbahn auf Erden, wo er eine solche Rolle spielt. Ich darf das um so mehr sagen, als ich persönlich es einigen absoluten Zufälligkeiten zu verdanken habe, daß ich seinerzeit in sehr jungen Jahren in eine ordentliche Professur eines Faches berufen wurde, in welchem damals Altersgenossen unzweifelhaft mehr als ich geleistet hatten. Und ich bilde mir allerdings ein, auf Grund dieser Erfahrung ein geschärftes Auge für das unverdiente Schicksal der vielen zu haben, bei denen der Zufall gerade umgekehrt gespielt hat und noch spielt, und die trotz

10 Vgl. Günter Niggl, Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 21998, S. 366-391, hier S. 372.

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aller Tüchtigkeit innerhalb dieses Ausleseapparates nicht an die Stelle gelangen, die ihnen gebühren würde.“11

Was Weber hier ausführt, ist erstaunlich aktuell, und er bekräftigt diesen Gedanken zwei Seiten später, wenn er schreibt: „Das akademische Leben ist also ein wilder Hazard.“12 Dass Weber in einem wissenschaftlichen Aufsatz autobiographisch argumentiert, ist – soweit das hier vorgelegte Forschungsdesign – nur die Kehrseite dessen, was in Autobiographien von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zur Untersuchung und zur Debatte steht: die Frage nämlich, ob und in welcher Weise der wissenschaftliche Gegenstand bzw. die wissenschaftliche Methode die Wahrnehmung des eigenen Lebens und dessen autobiographische Vergegenständlichung bestimmt. Exemplarisch soll im Folgenden Werner Heisenbergs 1969 erschienene Autobiographie Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik im Zentrum der Betrachtung stehen. Dieser Text hat über literatur- und naturwissenschaftliche Rezeptionskreise hinaus keinen geringen Bekanntheitsgrad. 1969 im Piper Verlag in München erschienen, wurde er 1973 in das Programm des dtv-Taschenbuch-Verlags übernommen. Piper brachte 1996 eine neue Taschenbuchauflage auf den Markt, die 2012 in 9. Auflage vorliegt. Der Teil und das Ganze seien die „Lebenserinnerungen eines Genies“, schrieb Armin Herman, Professor für Physik an der Universität Stuttgart, 1983 in der Wochenzeitung Die Zeit.13 Im Nachtprogramm von ARD-alpha lief am 2. Juli 2016 ein 2011 vom Bayerischen Rundfunk produziertes biographisches Feature unter dem Titel „Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze (1958-1976)“.14 Man kann darüber diskutieren, ob es sich bei Der Teil und das Ganze tatsächlich um eine Autobiographie handelt. Legt man einen engen, am Goethe’schen Modell der das Leben chronologisch in Prosa erzählenden Autobiographie zugrunde 15, tut man sich

11 Weber (wie Anm. 6), S. 3. 12 Ebd., S. 5. 13 Achim Herman, Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, in: Die Zeit vom 15. April 1983 (http://www.zeit.de/1983/16/der-teil-und-das-ganze) (Zugriff 8.10.2016). 14 Werner Heisenberg. Der Teil und das Ganze (1958-1976) (http://www.br.de/fern sehen/ard-alpha/sendungen/werner-heisenberg/teil-ganzes100.html) (Zugriff 8. 10. 2016). Der zeitliche Einsatz 1958 erklärt sich damit, dass Heisenberg „seit 1958 wieder in seiner Heimatstadt München“ lebte. Von 1946 bis 1958 war er Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik in Göttingen. Heisenberg, geb. 1901, starb 1976. 15 Vgl. dazu auch die oft bemühte Definition des französischen Autobiographietheoretikers Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, in: Ders., Der autobiographi-

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vielleicht etwas schwer mit einer eindeutigen Klassifikation. Im Vorwort schreibt der Autor selbst, dass es sich bei seinem Buch „nicht eigentlich um Lebenserinnerungen handeln“ soll, vielmehr gehe es um die „Entwicklung der Atomphysik in den letzten 50 Jahren [zurückgerechnet von 1969], so wie der Verfasser sie erlebt hat.“16 Aber doch wird hier ein Leben in zeitlicher Abfolge, freilich in enger Verschränkung mit der wissenschaftlichen Laufbahn und der allgemeinen Entwicklung der Atomphysik präsentiert, wie der Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt, das bereits einen guten Überblick dessen bietet, was den Leser/die Leserin erwartet: Vorwort 1. Erste Begegnung mit der Atomlehre (1919-1920) 2. Der Entschluß zum Physikstudium (1920) 3. Der Begriff „Verstehen“ in der modernen Physik (1920 bis 1922) 4. Belehrung über Politik und Geschichte (1922-1924) 5. Die Quantenmechanik und ein Gespräch mit Einstein (1925-1926) 6. Aufbruch in das neue Land (1926-1927) 7. Erste Gespräche über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion (1927) 8. Atomphysik und pragmatische Denkweise (1929) 9. Gespräche über das Verhältnis zwischen Biologie, Physik und Chemie (1930-1932) 10. Quantenmechanik und Kantsche Philosophie (1930 bis 1932) 11. Diskussionen über die Sprache (1933) 12. Revolution und Universitätsleben (1933) 13. Diskussionen über die Möglichkeiten der Atomtechnik und über die Elementarteilchen (1935-1937) 14. Das Handeln des Einzelnen in der politischen Katastrophe (1937-1941) 15. Der Weg zum neuen Anfang (1941-1945) 16. Über die Verantwortung des Forschers (1945-1950) 17. Positivismus, Metaphysik und Religion (1952) 18. Auseinandersetzungen in Politik und Wissenschaft (1956-1957)

sche Pakt, a.d. Französ. v. Wolfram Bayer/Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1994, S. 13-51, hier S. 14: „Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt“. 16 Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1973, S. 7.

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19. Die einheitliche Feldtheorie (1957-1958) 20. Elementarteilchen und Platonische Philosophie (1961 bis 1965)17 Die wissenschaftliche Vita beginnt also im Alter des jungen Mannes, der zum ersten Mal seiner künftigen Wissenschaft begegnet bzw. sich mit ihr kritisch auseinandersetzt. Die ,klassische‘ Autobiographie Goethe’schen Typs beginnt mit der Kindheit und schildert ausführlich die Erfahrungen und Erlebnisse des Jugendlichen. Diese Phase ist für Heisenberg sekundär: Das (wissenschaftliche) Leben beginnt mit dem geistigen Eintritt in das wissenschaftliche Denken. Heisenberg schreibt: „Um mich [nach den Wirren von Krieg und Revolution; M.W.-E.] allmählich wieder auf die Schule vorzubereiten, zog ich mich dann mit unserer griechischen Schulausgabe der Platonischen Dialoge auf das Dach des Priesterseminars zurück. Dort konnte ich, in der Dachrinne liegend und von den ersten Sonnenstrahlen durchwärmt, in aller Ruhe meinen Studien nachgehen und zwischendurch das erwachende Leben auf der Ludwigstraße beobachten. An einem solchen Morgen, als das Licht der aufgehenden Sonne schon das Universitätsgebäude und den Brunnen davor überflutete, geriet ich an den Dialog ‚Timaios‘, und zwar an jene Stelle, wo über die kleinsten Teile der Materie gesprochen wird.“ 18

Die folgenden Kapitel zeichnen den wissenschaftlichen Werdegang des jungen Physikers nach. Die Gespräche bzw. Gesprächsthemen werden eng mit der Lebenschronologie des Autors verschränkt. Der Text gibt aber auch, wie das Inhaltsverzeichnis zeigt, philosophischen und allgemeinen Bildungsfragen Raum, so dass man sagen kann, Der Teil und das Ganze beschreibe nicht nur die äußeren Lebensstationen, sondern vor allem auch den geistigen Weg Werner Heisenbergs. Damit lehnt sich der Text an das Modell des Bildungsromans an, geht aber insofern auch darüber hinaus, als er im Grunde eine Art geistiges Vermächtnis des Autors darstellt. Die letzten Worte des Buchs werden denn auch in dem erwähnten Feature des Bayerischen Rundfunks von Werner Heisenbergs Sohn Martin Heisenberg mit einer gewissen, respektvollen Andacht vorgelesen: „In ihr [Beethovens Serenade für Violine, Viola und Cello in D-dur; op. 8, M.W.-E.] verdichtete sich für mich beim Zuhören die Gewißheit, daß es, in menschlichen Zeitmaßen

17 Ebd., o. S. 18 Ebd., S. 16f. Das Bild wird in dem Feature des Bayerischen Rundfunks spielfilmhaft, mit einem Schauspieler, der den jungen Heisenberg verkörpert, als offensichtlich entscheidendes Lebensbild in Szene gesetzt.

310 | M ARTINA W AGNER -EGELHAAF gemessen, immer wieder weitergehen wird, das Leben, die Musik, die Wissenschaft; auch wenn wir selbst nur für kurze Zeit mitwirken können – nach Niels‘ Worten [gemeint ist Niels Bohr; M.W.-E.] immer zugleich Zuschauer und Mitspieler im großen Drama des Lebens.“19

Frau und Familie spielen im Text kaum eine Rolle, sondern werden eher am Rande erwähnt; Elisabeth Heisenberg erscheint bestenfalls als umsichtige Gastgeberin, aber immerhin ist das Buch ihr gewidmet. In einer am Goethe’schen Bildungsparadigma orientierten Autobiographie spielen hingegen die Erfahrung der Liebe und die Begegnung mit der Frau des Lebens eine sehr zentrale Rolle. In Heisenbergs Wissenschaftsautobiographie ist das sozusagen eine selbstverständliche Gegebenheit – die Randbedingung gewissermaßen für ein erfolgreiches Wissenschaftlerleben. Bernd Neumann hat gezeigt, dass die Autobiographie, wie sie sich im 18. Jahrhundert ausprägte und bis in das 20. Jahrhundert hinein fortgeschrieben wurde, üblicherweise ein Leben von der Geburt bis zum Eintritt des autobiographischen Ichs in die Gesellschaft beschreibt. Traditionellerweise fällt dieser Moment mit dem Beginn des Berufslebens und der Eheschließung zusammen. Die Autobiographie beschreibt, so Neumann, „das Leben des noch nicht sozialisierten Menschen, die Geschichte seines Werdens und seiner Bildung, seines Hineinwachsens in die Gesellschaft.“20 Wenn dagegen das Ergehen eines Individuums als Träger einer sozialen Rolle geschildert wird, so liegt nach Neumann die Memoirenform vor.21 Heisenbergs Text verbindet das chronologische Strukturmoment der Autobiographie22 mit Merkmalen, die eher typisch für Memoiren sind, beispielsweise auch gerade die Tatsache, dass Der Teil und das Ganze vor dem privaten Bereich Halt macht.23 Kennzeichnend für den Text ist tatsächlich die Gesprächsform. In ihr verschränken sich wissenschaftliches Konzept und literarische Form. Die einzelnen

19 Ebd., S. 288. 20 Bernd Neumann, Von Augustinus zu Facebook. Zur Geschichte und Theorie der Autobiographie, Würzburg 2013, S. 39; es handelt sich bei diesem Buch um die wenig veränderte Neuauflage von Neumanns älterer Studie Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt am Main 1970. 21 Vgl. ebd. 22 Max Weber (wie Anm. 6), S. 8 betont das für die Wissenschaft gültige Fortschrittsparadigma, das mit dem entelechischen Entwicklungs- und Bildungsgedanken konvergiert, obwohl er dem Gedanken einer Wissenschaftlerautobiographie, ja, der Autobiographie überhaupt, kritisch gegenübersteht. 23 Vgl. Neumann (wie Anm. 20), S. 28.

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Kapitel geben Gespräche mit Freunden wieder, aber vor allem mit Fachkollegen und anderen berühmten Wissenschaftlern. Diese Gespräche werden wörtlich wiedergegeben. Möglicherweise hat sich der Autor von den Platonischen Dialogen, deren Lektüre er eingangs ja erwähnt, inspirieren lassen, geht es in ihnen doch auch darum, dem fachfremden Leser bzw. der Leserin die Grundfragen der modernen Atomphysik in allgemeinverständlicher Weise zu vermitteln. Handelt es sich bei den Platonischen Dialogen um Maieutik (,Hebammenkunstʻ), die den Schüler im Gespräch zur Erkenntnis führen soll, haben die geschilderten Gespräche bei Heisenberg wohl wenigstens eine wissensdidaktische Funktion: Der Leser und die Leserin von Der Teil und das Ganze soll verstehen, worum es bei der hochkomplexen Materie der Atomphysik geht. Die wörtliche Wiedergabe von Gesprächen, die vor Jahrzehnten geführt wurden, ist natürlich hochfiktional. Für Heisenberg steht sie indes im Dienst der Sache. Die Problematik des Verfahrens reflektiert er gleich zu Beginn und rechtfertigt es, bezeichnenderweise mit einem Thukydides-Zitat, das dem Vorwort als Motto vorausgestellt ist: „Was nun die Reden betrifft, die […] gehalten worden sind, so war es mir als Ohrenzeugen […] unmöglich, den genauen Wortlaut des Gesagten im Gedächtnis zu behalten. Daher habe ich die einzelnen Redner so sprechen lassen, wie sie nach meinem Vermuten den jeweiligen Umständen am ehesten gerecht geworden sein dürften, indem ich mich dabei so eng wie möglich an den Gedankengang des wirklich Gesprochenen hielt.“24

Wissenschaftlicher Sachgehalt und Fiktion25 bilden also keineswegs Gegensätze. Das lässt wiederum an Goethe denken, der seine Autobiographie deshalb Dichtung und Wahrheit nannte, weil erst die Dichtung das zum Vorschein zu bringen vermag, was Goethe, wie er gegenüber Eckermann zu Protokoll gab, die „höhere Wahrheit“ seines Lebens nannte.26 Die Verschränkung von wissenschaftlichem Gegenstand und Gesprächsmodus, in dem der Gegenstand vermittelt wird, kommt in dem von Celestino Piatti (1922-2007), dem Schweizer Graphiker, gestalteten Titelcover der dtvAusgabe von 1973 kongenial zum Ausdruck (Abb. 34): Zwei im Profil gezeich-

24 Heisenberg (wie Anm. 16), S. 7. 25 Zur Kategorie der ‚Autofiktion‘ vgl. grundlegend Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld 2013. 26 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Christoph Michel (Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, 40 Bde., Bd. II/12), Frankfurt am Main 1999 (30.3.1831); vgl. dazu Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart/Weimar 22005, S. 3.

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nete Gesichter sind im Gespräch einander zugewandt. Bunte Kreisbahnen von Elementarteilchen sind über die beiden mit schwarzer Linie gezeichneten Gesichter gelegt. Die Bewegung der Atomteilchen scheint auf diese Weise mit der Bewegung des Gesprächs verschränkt. Durch das Auge des linken Gesichts verläuft eine grüne Kreisbahn, durch das des rechten Gesprächsteilnehmers eine gelbe. Die auf unterschiedlichen Bahnen kreisenden Teilchen scheinen auf unterschiedliche Positionen der am Gespräch Beteiligten hinzuweisen, die aber doch an einem gemeinsamen Problem arbeiten. Möglicherweise wird dieses gemeinsame Problem durch den (nicht sichtbaren) Atomkern symbolisiert, um den sich die Teilchen auf ihren unterschiedlichen Bahnen bewegen. In diesem Sinn ist auch der Titel des Buchs doppelt lesbar: Zum einen bezieht er sich natürlich auf das Thema der Atomphysik, die Suche nach der einheitlichen Feldtheorie, Heisenbergs Lebensthema gewissermaßen, zum anderen ist „Der Teil und das Ganze“ auch im autobiographietheoretischen Sinn zu verstehen. In Diltheys Schrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, eine, wie vermerkt, für die Autobiographietheorie grundlegende Schrift, geht es zentral um das Verhältnis von Teil und Ganzem, gerade im Blick auf und in Abgrenzung von den Naturwissenschaften. Da heißt es etwa: „Nur weil das Leben selbst ein Strukturzusammenhang ist, in welchem die Erlebnisse in erlebbaren Beziehungen stehen, ist uns Zusammenhang des Lebens gegeben. Dieser Zusammenhang wird unter einer umfassenden Kategorie aufgefaßt, welche eine Weise der Aussage über alle Wirklichkeit ist, – dem Verhältnis des Ganzen zu Teilen …“.27

Das heißt nichts anderes als dass das Verstehen des Lebens ein Verstehen des Zusammenhangs von Teil und Ganzem darstellt, das als Problem in konstitutiver Weise der Struktur eines autobiographischen Texts unterliegt. Nun ist aber das hermeneutische Verhältnis von Teil und Ganzem, bei dem das Verständnis des Teils das Verständnis des Ganzen bedingt und umgekehrt, sicher ein anderes als das atomphysikalische.28 In beiden Fällen aber bedarf es einer gedanklichen Agilität, die zwischen den Polen vermittelt und die, versinnbildlicht durch Piattis Kreisbewegungen, der statischen Denkfigur des Entweder-Oder eine Absage erteilt. Wie ausgeprägt Der Teil und das Ganze von einem hermeneutischen Denkansatz geprägt ist, wird gleich zu Beginn des Vorworts deutlich, wo es heißt:

27 Dilthey (wie Anm. 1), S. 241. 28 Deshalb hat das Teilchen der Atomphysik auch ein anderes Geschlecht als der Teil vom Ganzen.

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„Wissenschaft wird von Menschen gemacht. Dieser an sich selbstverständliche Sachverhalt gerät leicht in Vergessenheit, und es mag zur Verringerung der oft beklagten Kluft zwischen den beiden Kulturen, der geisteswissenschaftlich-künstlerischen und der technisch-naturwissenschaftlichen, beitragen, wenn man ihn wieder ins Gedächtnis zurückruft. Das vorliegende Buch handelt von der Entwicklung der Atomphysik in den letzten 50 Jahren, so wie der Verfasser sie erlebt hat. Naturwissenschaft beruht auf Experimenten, sie gelangt zu ihren Ergebnissen durch die Gespräche der in ihr Tätigen, die miteinander über die Deutung der Experimente beraten. Solche Gespräche bilden den Hauptinhalt des Buches. An ihnen soll deutlich gemacht werden, daß Wissenschaft im Gespräch entsteht.“29

Während Dilthey in Die geistige Welt kategorisch und idealtypisch deklariert „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“30 und diesen Unterschied als Unterscheidungsmerkmal zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nimmt, rückt Heisenberg Natur- und Geisteswissenschaften aneinander, indem er darauf hinweist, dass beide von Menschen gemacht werden. Und auch die Naturwissenschaftler müssen ihre Experimente deuten und sie tun das im Gespräch miteinander. Heisenberg entwickelt hier ein hermeneutisches Bild von den Naturwissenschaften. Auch das Gespräch selbst ist natürlich eine zutiefst hermeneutische Figur, die zwei oder mehr Gesprächspartner/innen ihre Äußerungen und Gedanken im Hören auf den/die andere/n entwickeln und je nachdem auch revidieren bzw. korrigieren lässt.31 Auch wenn in Der Teil und das Ganze die Atomphysik im Mittelpunkt steht, ist Heisenberg doch durchweg bemüht, auch seine humanistische Bildung zur Darstellung zu bringen. Immer wieder zitiert er beispielsweise Goethe32, und auch Schiller ist in seinem Text präsent, letzterer

29 Heisenberg (wie Anm. 16), S. 7. 30 Zit. nach Jürgen H. Petersen/Martina Wagner-Egelhaaf, Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch, 8., neu bearbeitete Auflage, Berlin 2009, S. 181. 31 Vgl. Karlheinz Stierle, Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hgg.), Das Gespräch, München 1984, S. 297-334, hier S. 297f.: „Das Gespräch als Alternative zum Diskurs erhält erst vor dem Hintergrund einer spezifischen Erfahrung und Ausprägung diskursiver Praxis seine emphatische Bedeutung. Die Idee einer dialogischen Geselligkeit, bei der Reden und Hören verschränkt sind zu einem Ganzen, dem erst die unvordenkliche Figur des Sinns entspringt, steht der monumentalen und monologischen Arbeit der Diskurse entgegen, ihrem methodischen und dogmatischen Geltungsanspruch.“ 32 Vgl. Heisenberg (wie Anm. 16), S. 31, 38, 41, 281, 287.

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bemerkenswerterweise mit einer Strophe aus dem „Reiterlied“, die sich im angeführten Kontext wie eine Interpretationshilfe für das eigene Leben liest: „Des Lebens Ängsten, er wirft sie weg. Hat nicht mehr zu fürchten, zu sorgen, Er reitet dem Schicksal entgegen keck, Trifft’s heute nicht, trifft es doch morgen, Und trifft es morgen, so lasset uns heut, Noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit.“33

Dazu muss man sich vor Augen führen, dass das Gedicht am Ende von Kapitel 14 steht, das mit „Das Handeln des Einzelnen in der politischen Katastrophe (1937-1941)“ überschrieben ist. Heisenberg weist im Kontext der Textstelle auf den nahenden Ausbruch des Kriegs mit Russland hin. Vor diesem Zusammenhang mögen auch die nicht mit abgedruckten Strophen des Gedichts „Aus dem Wallenstein“ mitzulesen sein: „Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! Ins Feld, in die Freiheit gezogen. Im Felde, da ist der Mann noch was werth, Da wird das Herz noch gewogen. Da tritt kein anderer für ihn ein, Auf sich selber steht er da ganz allein. Chor. Da tritt kein anderer für ihn ein, Auf sich selber steht er da ganz allein. Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist, Man sieht nur Herren und Knechte, Die Falschheit herrschet, die Hinterlist, Bey dem feigen Menschengeschlechte, Der dem Tod ins Angesicht schauen kann, Der Soldat allein ist der freie Mann. Chor.

33 Zit. nach ebd., S. 210, vgl. auch S. 27, 181.

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Der dem Tod ins Angesicht schauen kann. Der Soldat ist der freie Mann.“34

Desgleichen werden Jugenderinnerungen, so zum Beispiel an eine Wanderung mit Freunden, im Licht der romantischen Literatur verklärt, wenn es heißt: „Den Rest der Nacht verbrachten wir an Lagerfeuern und in Zelten auf einer Waldwiese oberhalb des Schlosses, und dort wurde auch Eichendorffscher Romantik Raum gegeben. Der junge Geiger, schon ein Student, setzte sich zu unserer Gruppe und spielte Menuette von Mozart und Beethoven, dazwischen alte Volkslieder, und ich versuchte, ihn auf meiner Gitarre zu begleiten.“35

Die Musik spielt überhaupt eine große Rolle in Der Teil und das Ganze. Werner Heisenberg war ein guter Pianist und kommt immer wieder auf das Klavierspiel zu sprechen.36 Auf besagter Wanderung wird dem jungen Mann, den der Widerstreit der Meinungen seiner heftig diskutierenden Freunde verwirrt, schmerzlich das „Fehlen [einer] wirksamen Mitte“ bewusst. Und hier wird es nun plötzlich sehr literarisch und romantisch: „Die Schatten auf dem Burghof wurden länger, und schließlich folgte dem heißen Tag eine graublaue Dämmerung und eine mondhelle Nacht. Immer noch wurde gesprochen, aber dann erschien oben auf dem Balkon über dem Schloßhof ein junger Mensch mit einer Geige, und als es still geworden war, erklangen die ersten großen d-moll-Akkorde der Chaconne von Bach über uns. Da war die Verbindung zur Mitte auf einmal unbezweifelbar hergestellt. Das vom Mondlicht übergossene Altmühltal unter uns wäre Grund genug für eine romantische Verzauberung gewesen; aber das war es nicht. Die klaren Figuren der Chaconne waren wie ein kühler Wind, der den Nebel zerriß und die scharfen Strukturen dahinter sichtbar werden ließ. Man konnte also vom zentralen Bereich sprechen, das war zu allen Zeiten möglich gewesen, bei Plato und bei Bach, in der Sprache der Musik oder

34 Friedrich Schiller, Reiterlied, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776-1799, Bd. I, hg. v. Julius Petersen/Friedrich Beißner, Weimar 1943, S. 377f. Es folgen auf die von Heisenberg zitierte Strophe drei weitere, hier nicht wiedergegebene Strophen mit Chor-Refrain. 35 Heisenberg (wie Anm. 16), S. 20. 36 Das biographische Feature des Bayrischen Rundfunks (wie Anm. 14) ist dementsprechend mit Klaviermusik untermalt und setzt den Klavierspieler Heisenberg wirkungsvoll in Szene.

316 | M ARTINA W AGNER -EGELHAAF der Philosophie oder der Religion, also mußte es auch jetzt und in Zukunft möglich sein. Das war das Erlebnis.“37

Die jungen Leute sind übrigens bemerkenswert gebildet und haben, obwohl sie zum Teil noch nicht mit dem Studium begonnen haben, ihren Platon ebenso präsent wie andere Philosophen und Naturforscher, etwa Malebranche und Newton. Wenn Heisenberg gegen Ende seines Buchs in einem Gespräch mit Carl Friedrich von Weizsäcker Goethes Gedanken von der Urpflanze auf die Nukleinsäure als Urlebewesen bezieht und die Elementarteilchen mit den regulären Körpern in Platons Timaios vergleicht38, sucht er ganz im Goethe’schen Sinn nach der Einheit der Wissenschaft und des Lebens. Bezeichnenderweise ist an dieser Stelle von der Rolle des Zufalls die Rede. Heisenberg gibt zu bedenken: „[…] wenn auch in der Entwicklung der Fülle der Gebilde später der Zufall eine wichtige Rolle spielt, so könnte es sein, daß auch dieser Zufall irgendwie auf die zentrale Ordnung bezogen ist.“ Darauf diagnostiziert von Weizäcker richtig: „Bei dem was du sagst, klingt es manchmal so, als hieltest du darüber hinaus noch irgendeinen Zusammenhang mit dem Ganzen für möglich, von dem man sagen könnte, daß er dem Einzelereignis einen Sinn gibt.“39 Hier zeigt sich ein Generationenbruch: Während Heisenberg offensichtlich ein von Einheit und Zusammenhang geprägtes Weltbild zugrunde legt, das mit dem hermeneutischen Ansatz seiner autobiographischen Darstellung der Atomphysik konvergiert, ist der nur elf Jahre jüngere Carl Friedrich von Weizäcker hier sehr viel skeptischer. Doch kann man nicht behaupten, dass Heisenberg aufgrund seines in Der Teil und das Ganze zum Ausdruck kommenden Kulturpessimismus ein rückwärtsgewandtes Welt- und Wissenschaftsbild vertreten hätte. Wissenschaft ist für ihn nicht nur das Zusammenspiel, ja, die Zusammenkunft von Teil und Ganzem, sondern sie ist eindeutig, entsprechend dem Wissenschaftsparadigma der Neuzeit40, fortschrittsbestimmt. Darauf verweisen bereits einige Kapitelformulierungen in Der Teil und das Ganze, wie etwa Kapitel 6 „Aufbruch in das

37 Heisenberg (wie Anm. 16), S. 20. Die Formulierung von der „Verbindung zur Mitte“ lässt an die kritische Modernediagnose von Hans Sedlmayrs viel diskutiertem Buch Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom der Zeit, Salzburg/Wien 1948 denken, der Heisenberg hier trotzig zu widersprechen scheint. 38 Heisenberg (wie Anm. 16), S. 281. 39 Ebd. 40 Dass Wissenschaft generell dem Fortschrittsgedanken verpflichtet ist, betont auch Max Weber in „Wissenschaft als Beruf“; vgl. Weber (wie Anm. 6), S. 8.

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neue Land (1926-1927)“ oder auch Kapitel 7 „Der Weg zum neuen Anfang“. Es wird deutlich, dass seine Vorstellung von der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlichen Entwicklung in einem hohen Maße der Kategorie des Neuen verpflichtet ist. Immer wieder ist im Text die Rede von dem ‚Neuland‘, das betreten wird oder das es zu entdecken gilt41; im Hinblick auf das von Paul M. Dirac vorhergesagte Positron (Antiteilchen des Elektrons) spricht Heisenberg von einem „ungeheuer weiten neuen Land“, zu dem „schon undeutlich die Wege [zu] erkennen“ sind und in das die Wissenschaft „vorstoßen“ 42 muss. Besonders anschaulich aufgrund der sie tragenden Metaphorik ist die folgende Passage, die den modernen Forscher ganz explizit in die Tradition der frühneuzeitlichen Weltumsegler und Entdecker stellt: „Wenn man fragt, worin eigentlich die große Leistung des Christoph Kolumbus bestanden habe, als er Amerika entdeckte, so wird man antworten müssen, daß es nicht die Idee war, die Kugelgestalt der Erde auszunützen, um auf der Westroute nach Indien zu reisen; diese Idee war schon von anderen erwogen worden. Auch nicht die sorgfältige Vorbereitung seiner Expedition, die fachmännische Ausrüstung der Schiffe, die auch von anderen hätte geleistet werden können. Sondern das schwerste an dieser Entdeckungsfahrt war sicher der Entschluß, alles bis dahin bekannte Land zu verlassen und so weit nach Westen zu segeln, daß mit den vorhandenen Vorräten eine Umkehr nicht mehr möglich war. In ähnlicher Weise kann wirkliches Neuland in einer Wissenschaft wohl nur gewonnen werden, wenn man an einer entscheidenden Stelle bereit ist, den Grund zu verlassen, auf dem die bisherige Wissenschaft ruht, und gewissermaßen ins Leere zu springen.“ 43

Wissenschaftlicher Fortschritt, so ist das zu verstehen, bedeutet, sich von bisherigen sicheren Wissensbeständen zu verabschieden und sich auf das ‚Meer‘ des Ungewissen zu begeben, ja, sich diesem Ungewissen auszusetzen und dafür sogar das eigene Leben zu riskieren. Dass dieses Konzept nicht ohne Weiteres auf die Kunst zu übertragen ist, wo es eher um die Auseinandersetzung des Neuen mit dem Alten und die „Freiheit in der Wahl der Ausdrucksmittel“ 44 geht, diskutieren die Freunde kontrovers schon zu Beginn des Buchs. Für das eigene Lebenskonzept setzt Heisenberg eher auf Kontinuität. Tatsächlich stellt sich massiv die Frage – Heisenberg stellt sie sich selbst und disku-

41 Vgl. Heisenberg (wie Anm. 16), S. 37. 42 Ebd., S. 159. 43 Ebd., S. 88. 44 Vgl. ebd., S. 29; vgl. auch S. 31f.; zur Positivbewertung des Neuen vgl. auch S. 35, 50f., 53, 175, 179f.

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tiert sie mit anderen, z. B. mit dem italienischen Physiker Enrico Fermi –, warum er in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland geblieben und nicht wie andere emigriert ist. Diese Entscheidung scheint ihm nicht leicht gefallen zu sein. Die Antwort, die Heisenberg für sich – und seine Leser/innen – findet, lautet, dass er sich entschieden habe, in Deutschland einen Kreis von jungen Leuten um sich zu sammeln, „die an dem Neuen in der Wissenschaft mitmachen wollen“45 und die er nicht im Stich lassen wolle. Außerdem müsse er dafür sorgen, dass nach dem Krieg wieder gute Wissenschaft in Deutschland gemacht würde. Hier bekommen Heisenbergs Ausführungen etwas Apologetisches. Die Apologie ist eine Grundfigur der Autobiographie. In der Forschung gilt die Antidosis-Rede des Isokrates (5./4. Jhdt.), in der dieser fingiert, vor Gericht angeklagt zu sein, um überhaupt über sich sprechen zu können, als eine frühe Form der Autobiographie. Das apologetische Moment ist dabei doppelt reflexiv: Bedarf es der Rechtfertigung, um über sich und das eigene Leben zu sprechen, erscheint es nicht zufällig, dass Isokrates die Gerichtssituation fingiert, in der sich der Angeklagte zu rechtfertigen hat und im Zuge dieser Rechtfertigung natürlich über sich spricht.46 Heisenberg schreibt also, könnte man sagen, unbewusst das autobiographische Grundmuster der Rechtfertigung weiter. In der Tat war das autobiographische Sprechen nicht immer selbstverständlich. Es setzt ein sich seiner selbst bewusstes und selbstmächtiges Subjekt voraus, das der Überzeugung ist, das eigene Leben sei es wert, anderen mitgeteilt zu werden. Diese autobiographische Sprechposition hat sich in Europa erst in der Frühen Neuzeit und insbesondere im 18. Jahrhundert herausgebildet. Bis heute haftet der Autobiographie bisweilen der negative Ruf an, ein voyeuristisches Genre zu sein, gelten Autobiographinnen und Autobiographen als selbstverliebte Menschen, die unnötiger- und oftmals peinlicherweise die Welt mit ihrem Privatleben und ihrer Weltsicht behelligen.47 Auch Max Weber äußert sich in „Wissenschaft als Beruf“ skeptisch zu Wissenschaftlerautobiographien:

45 Ebd., S. 200. 46 Vgl. Wagner-Egelhaaf (wie Anm. 26), S. 107; vgl. dazu jetzt auch Roman Kremer, Autobiographie als Apologie. Rhetorik der Rechtfertigung bei Baldur von Schirach, Albert Speer, Karl Dönitz und Erich Raeder, Göttingen 2017. 47 Vgl. etwa „Was gute Biographien von schlechten unterscheidet“ (http://www.literaturtipps.de/topthema/thema/was-gute-biographien-von-schlechten-unterscheidet.html) (Zugriff 10. 10. 2016): „Biographien sind die ewigen Bestseller: ,Lehrerkind‘, ,Unerhörtes aus dem Alltag eines Grundschullehrers‘, ,Ansichten einer neugeborenen Mutter‘, ,Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker‘, ,Die Welt aus der Sicht eines Jungen, der 11 Jahre als hirntot galt‘ und ,Das Tagebuch einer Magersüchtigen‘ – heute gibt es

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„,Persönlichkeitʻ auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient. Und nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiet ist es so. Wir kennen keinen großen Künstler, der je etwas anderes getan hätte, als seiner Sache und nur ihr zu dienen. Es hat sich, soweit seine Kunst in Betracht kommt, selbst bei einer Persönlichkeit vom Range Goethes gerächt, daß er sich die Freiheit nahm: sein ,Lebenʻ zum Kunstwerk machen zu wollen. Aber mag man das bezweifeln48, – jedenfalls muß man eben ein Goethe sein, um sich das überhaupt erlauben zu dürfen, und wenigstens das wird jeder zugeben: unbezahlt ist es auch bei jemand wie ihm, der alle Jahrtausende einmal erscheint, nicht geblieben. Es steht in der Politik nicht anders. Davon heute nichts. Auf dem Gebiet der Wissenschaft aber ist derjenige ganz gewiß keine ,Persönlichkeitʻ, der als Impresario der Sache, der er sich hingeben sollte, mit auf die Bühne tritt, sich durch ,Erlebenʻ legitimieren möchte und fragt: Wie beweise ich, daß ich etwas anderes bin als nur ein ,Fachmannʻ, wie mache ich es, daß ich in der Form oder in der Sache, etwas sage, das so noch keiner gesagt hat wie ich: – eine heute massenhaft auftretende Erscheinung, die überall kleinlich wirkt, und die denjenigen herabsetzt, der so fragt, statt daß ihn die i nnere Hingabe an die Aufgabe und nur an sie auf die Höhe und zu der Würde der Sache emporhöbe, der er zu dienen vorgibt.“49

Glücklicherweise wird dieses Verdikt weder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch Angehörige anderer Berufsgruppen abhalten, weiterhin ihre Auto-

keine Grenzen mehr für das, worüber die Menschen in ihren Biographien und Autobiographien berichten. Alles wird Thema, nichts bleibt verborgen. Je schlimmer das Schicksal, desto dicker das Buch, desto höher die Platzierung auf den BestsellerListen. Was im Internet mit Facebook-Profilen und -Statusmeldungen seinen Anfang nimmt, findet sein Ende zwischen zwei Buchdeckeln und in den Verkaufscharts der Online-Buchhändler: Menschen schreiben Biographien, um ihr Innerstes offen zu legen – und damit im besten Falle noch Geld zu verdienen.“ Es sei hier angemerkt, dass auch Autobiographieforscher/innen sich des Öfteren rechtfertigen müssen, warum sie sich mit einem angeblich so voyeuristischen Genre wie der Autobiographie beschäftigen. Der den Autobiographinnen und Autobiographen unterstellte Voyeurismus wird dann gern auf die Forscherin übertragen. Tief verwurzelte (und moralisch wertende) Vorurteile über das Autobiographische verschaffen sich hier Ausdruck. 48 In der Tat! 49 Weber (wie Anm. 6), S. 7f.; zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem selbstdarstellerischen Habitus von Wissenschaftlern vgl. differenziert Thomas Etzemüller, Ins ,Wahre‘ rücken. Selbstdarstellung im Wissenschaftsbetrieb, in: Merkur 69 (Heft 297), 2015, S. 31-43; auch unter: http://www.eurozine.com/ articles/2015-10-13etzemueller-de.html (Zugriff 10. 10. 2016).

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biographien zu schreiben, denn, wie Heisenberg zu Recht vermerkt, Wissenschaft – und man darf hier vermerken Kultur – ist von Menschen für Menschen gemacht.

Wie ich von mir schweige. Die Wissenschaftliche Selbstbiographie Max Plancks* T HOMAS E TZEMÜLLER

Das Genre der Biographie bzw. Autobiographie ist methodisch und inhaltlich außerordentlich konservativ. Die Texte sind fast durchweg nach einem klaren chronologischen Schema aufgebaut, sie setzen ein Subjekt als eine biologischpsychologische Einheit voraus, das mit einem Eigennamen und – zumindest seit der Neuzeit – durch Abbildungen eindeutig zu identifizieren ist. In einer Biographie gilt es einerseits, eine erschöpfende Darstellung eines Lebens zu bieten mit allen Lebensleistungen einer Person, die sie überhaupt erst biographiewürdig macht. Alain Corbins Biographie eines unbekannten Holzschuhmachers ist die Ausnahme von der Regel.1 Andererseits soll eine Biographie diskret sein, sie muss auf Tabus Rücksicht nehmen, Takt wahren, außerdem interessieren die Leser viele Details aus dem Alltag gar nicht. Biographien und Autobiographien zeichnen sich also einerseits durch einen vermeintlich direkten Bezug auf eine (vergangene) Realität aus, andererseits durch zahllose Lücken. 2

*

Es handelt sich um die ergänzte Fassung des Vortrages, den ich auf der Tagung „Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Autobiographie und Professionsgeschichte“ gehalten habe. Der Vortragsstil ist weitgehend beibehalten.

1

Vgl. Alain Corbin, Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert

2

Vgl. Thomas Etzemüller, Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt am

ein ganz gewöhnliches Leben (frz. 1998), Frankfurt am Main/New York 1999. Main/New York 2012; sowie Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorie, Stuttgart/Weimar 2009, jeweils mit weiteren Literaturhinweisen.

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Auch wenn man die Autobiographie eines Wissenschaftlers wie die von Max Planck liest, erwartet man sich in der Regel – wie in der (Auto-)Biographie eines Politikers oder eines Künstlers – Informationen über das Berufsleben, über Erfolge, möglicherweise Einblicke in das Privat- und Seelenleben des Protagonisten. Eine (Auto-)Biographie soll prinzipiell Zugang verschaffen, nicht auf Distanz halten. Interessant ist es nun, sich die Autobiographie eines Wissenschaftlers unter der genau umgekehrten Prämisse zu betrachten: sie ist dazu da, zu verschweigen. Soziologen wie Logan Wilson, Jacques Barzun oder Martin Kohli haben bereits seit den 1940er Jahren von einer biographischen „Schweigepflicht“ gesprochen, die sich Wissenschaftler seit Langem auferlegten. 3 Dieses Schweigen, so Kohli, sei erst die Voraussetzung gewesen, wissenschaftliche Aussagen von der Autorität einer Person zu befreien; dem Schweigen korrespondieren stilistische Konventionen, um Autoren aus ihren wissenschaftlichen Texten herauszuhalten. Ähnlich sieht es mit autobiographischen Texten von Wissenschaftlern aus, aus denen ,privateʻ Dinge zumeist weitgehend getilgt sind, etwa die Ehefrauen. Meist bleibt ein von Alltagsbezügen gereinigtes ,Ichʻ, das primär als Autor eines wissenschaftlichen Werkes auftritt, eine reine Leistungsbiographie. Dieser Konvention folgend werden dann viele Nachlässe von Wissenschaftlern regelrecht gestaltet – nicht im Sinne einer vertuschenden Manipulation, sondern als selbstverständliches Befolgen eines unhinterfragbaren Ideals. Wissenschaftshistoriker schließlich übersetzen dieses Quellenarrangement in eine Biographie und reproduzieren derart das Ideal des reinen Wissenschaftlersubjekts – als Vorbild unter anderem für den wissenschaftlichen Nachwuchs.4 Die Allianz von Autobiographen und Biographen verschweigt, was die jüngere Wissenschaftsforschung ans Licht zu heben versucht: Die Bedeutung kollektiver Prozesse; die Tatsache, dass Forschungsergebnisse in sozialer Interaktion gewonnen werden; die Bedeutung von „produktiv verniemandeten“ Ehe-

3

Vgl. Logan Wilson, The Academic Man. A Study in the Sociology of a Profession (1942), New York 1964; Jacques Barzun, Foreword, in: Theodore Caplow/Reece J. McGee, The Academic Marketplace, New York 1958, S. v-vii; Martin Kohli, „Von uns selber schweigen wir.“ Wissenschaftsgeschichte aus Lebensgeschichten, in: Wolf Lepenies (Hg.), Geschichte der Soziologie, Frankfurt am Main 1981, Bd. 1, S. 428465.

4

Vgl. Thomas Etzemüller, Der „Vf.“ als biographisches Paradox. Wie wird man zum „Wissenschaftler“ und (wie) lässt sich das beobachten?, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hgg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 75-95.

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frauen für die Leistungsfähigkeit ihrer Männer; 5 die Marginalisierung bzw. Prämierung von Forschungsleistungen je nach Status und Reputation eines Wissenschaftlers usw. Wir wissen mittlerweile, wie sehr wissenschaftliche Leistungen bzw. deren Rezeption von sozialen Strukturen, Geschlechterverhältnissen, diskursiven Formationen und biographischen Zufällen abhängen, dass wir es also nicht mit demjenigen ,Reinraumʻ der Wissenschaft zu tun haben, den das Ideal behauptet.6 Max Plancks Wissenschaftliche Selbstbiographie entspricht auf den ersten Blick – und vermutlich auch in der Intention des Verfassers – der klassischen Wissenschaftlerbiographie.7 Der Text ist 1948 erschienen und umfasst etwa 28 Druckseiten. Varianten, die in den Jahren 1935, 1945 und 1946 publiziert wurden, sind an anderer Stelle nachgewiesen, aber für unsere Fragestellung unwesentlich.8 Diese Fragestellung lautet: Was steht in diesem Text, was nicht? Ich werde an dieser Autobiographie exemplarisch vorführen, wie eine (Wissenschaftler-)Autobiographie narrativ gestaltet wird, wie man sie aber zugleich gegen den Strich lesen kann, um sie wissenschaftssoziologisch zu deuten (und auszubeuten). Planck setzt den Ton mit dem ersten Wort der Überschrift, es handelt sich um eine wissenschaftliche Autobiographie. Der erste Satz koppelt dementsprechend seine Jugend mit seinem Weg in die Wissenschaft: „Was mich zu meiner Wissenschaft führte und von Jugend auf für sie begeisterte, ist die durchaus nicht selbstverständliche Tatsache, daß unsere Denkgesetze übereinstimmen mit den Gesetzmäßigkeiten im Ablauf der Eindrücke, die wir von der Außenwelt empfangen, daß es also dem Menschen möglich ist, durch reines Denken Aufschlüsse über jene Gesetzmäßigkeiten zu gewinnen. Dabei ist von wesentlicher Bedeutung, daß die Außenwelt etwas von uns Unabhängiges, Absolutes darstellt, dem wir gegenüberstehen, und das Streben nach den Gesetzen, die für dieses Absolute gelten, erschien mir als die schönste wissenschaftliche Lebensaufga-

5

Gummert, Marlies, Rede einer selbstbewußten Professorenfrau. Ein Dokument, in:

6

Vgl. zusammenfassend Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer, Wissenschafts-

Kursbuch, 1979, H. 58, S. 85-100. forschung. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York 1995; Peter Weingart, Wissenschaftssoziologie, Bielefeld 2003; Sabine Maasen, Wissenssoziologie, Bielefeld 22009. 7

Max Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie, Leipzig 1948.

8

Vgl. Max Planck, Persönliche Erinnerungen, in: Ders., Erinnerungen I, Berlin 1948, S. 114-146.

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be.“9 Die Welt, das erkennende Wissenschaftlerindividuum, die Methode des reinen Denkens und objektive Gesetze, damit ist im ersten Absatz ein objektivierendes, a-subjektes wissenschaftliches Ethos festgeschrieben. Das Einzige, was man als ,persönlichʻ bezeichnen könnte, ist die Leidenschaft von Jugend an. Aber das ist ein biographischer Topos, und daher bedeutet er keine Kontaminierung mit Subjektivität. Dieser Topos beglaubigt vielmehr Planck als Wissenschaftlersubjekt, das praktisch das ganze Leben in den Dienst der Wissenschaft gestellt hat. Wer von Jugend auf für eine Sache brennt und nicht mehr von ihr lässt, ist in seiner Profession ernst zu nehmen und als von Grund auf trainiert anzusehen – anders als Hobbywissenschaftler oder Laien.10 Planck schildert dann die Einflüsse seiner Lehrer und Professoren am Gymnasium und an der Universität; es geht dabei um ihn prägende Anregungen seiner Lehrer, den Vortragsstil der Professoren sowie deren Theoreme, an die Planck mit seinen akademischen Arbeiten anschloss. Es folgte eine Durststrecke, weil die Altvorderen seine Dissertation ignorierten bzw. deren Ergebnisse ablehnten. Seine Habilitationsschrift machte ihn zum theoretischen Physiker, weshalb er jahrelang auf eine Professur warten musste. Ein wissenschaftlicher Preis, ein Ruf nach Kiel, und danach geht es im Text um seine wissenschaftliche Arbeit sowie den Kontakt zu bedeutenden und für ihn wichtigen Wissenschaftlern. Wir erfahren zwar in einem Halbsatz, dass er schon lange einen Hausstand hatte gründen wollen, doch Übersiedlungen nach Kiel und Berlin scheint er alleine durchgeführt zu haben. ,Menschlichesʻ findet sich, wenn er Hermann Helmholtz’ Güte in einem Absatz schildert oder erwähnt, dass seine eigenen Theoreme gegen die Autorität alter Ordinarien keine Chance hatten. Vom gereizten Ton einer Debatte ist einmal die Rede, eine wissenschaftliche Auseinandersetzung wird wie ein Duell geschildert, bei dem Schlagfertigkeit und natürlicher Witz die Waffen darstellten. Planck bemerkt zwar, dass der Konservatismus alter Ordinarien Innovationen bremst, doch grundsätzlich schildert er wissenschaftliche Kontroversen als Austausch von Argumenten. Wenn Gegner erkennen, dass ihre Einwände auf Rechenfehlern beruhen, ziehen sie ihre Einwände zurück. Wissenschaft bedeutet, mühsam die Wahrheit zu finden, zu überzeugen und sich überzeugen zu lassen. Planck schließt seine Erinnerungen mit einem Bescheidenheitstopos, der in eine Erfolgsmeldung im Gewande des Dienens übergeht. Arnold Sommerfeld schrieb ihm: „‚Der sorgsam urbar macht das neue Land / Dieweil ich hier und da

9

Planck (wie Anm. 7), S. 7.

10 Beaufaÿs, Sandra, Die Freiheit arbeiten zu dürfen. Akademische Laufbahn und legitime Lebenspraxis, in: Beiträge zur Hochschulforschung 37, 2015, H. 3, S. 40-59.

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ein Blumensträußchen fand.‘ Darauf konnte ich nur erwidern: ‚Was ich gepflückt, was Du gepflückt, / Das wollen wir verbinden, / Und da sich eins zum andern schickt, / Den schönsten Kranz draus winden.‘“11 Dieser Abschnitt ist mehrfach aufgeladen: Ein Kollege bescheinigt dem anderen selbstlos bahnbrechende Erfolge, stilisiert ihn aber zugleich zum bodenständigen Landmann, einer in der Moderne positiv besetzten Sozialfigur. Der antwortet demütig mit dem – hier metaphorisch verkleideten – Ethos des Wissenschaftlers: nur gemeinsam kommen wir zum Erfolg. „Meinem Bedürfnis“, so schließt er, „sowohl von den gesicherten Ergebnissen meiner wissenschaftlichen Arbeit als auch von meiner im Laufe der Zeit gewonnenen Stellung gegenüber allgemeineren Fragen, wie die nach dem Sinn der exakten Wissenschaft, nach ihrem Verhältnis zur Religion, nach der Beziehung der Kausalität zur Willensfreiheit, möglichst vollständig Zeugnis abzulegen, entsprach es, wenn ich in den zahlreichen, im Laufe der Jahre immer häufiger an mich ergangenen Einladungen zu Vorträgen in Akademien, an Universitäten, gelehrten Gesellschaften und Veranstaltungen für weitere Kreise stets gern Folge leistete und davon manche wertvolle Anregung persönlicher Art mitgenommen habe, die ich für den Rest meines Lebens dankbar aufbewahre.“12

Bescheiden nach Wahrheit suchen, Bekanntheit erlangen, eingeladen werden und die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf gesellschaftliche Fragen ausweiten – das ist die typische Erfolgsgeschichte eines Wissenschaftlers, die durchaus auch heute noch als Rollen- und Aufstiegsmodell erfolgreicher Naturwissenschaftler fungiert.13 Was fehlt? Ehefrau und Familie, sie spielen für die wissenschaftliche Arbeit offenbar keinerlei Rolle. Planck scheint sogar alleine umzuziehen. Wir wissen nicht, ob seine Wohnung geschmackvoll eingerichtet war, wie er sein Privat-

11 Zit. nach Planck (wie Anm. 7), S. 34. 12 Ebd., S. 34. 13 Am Beispiel eines Historikers habe ich die strategische Selbstpositionierung in der Wissenschaft, die Voraussetzung für die Genese wissenschaftlicher Erkenntnis ist, genauer untersucht: Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001; als Theoretisierung: Ders., „Ich sehe das, was Du nicht siehst“. Zu den theoretischen Grundlagen geschichtswissenschaftlicher Arbeit, in: Jan Eckel/Thomas Etzemüller (Hgg.), Neue Ansätze der Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 27-68.

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leben gestaltete, wie er mit Kollegen und Mitarbeitern umging, wie er Konflikte zuerst mit Lehrern und höherrangigen Wissenschaftlern, dann mit Kollegen ausfocht usw. Die ältere Wissenschaftstheorie hat sich dafür wenig interessiert. Für die jüngere spielen soziale und kulturelle Faktoren bei der Wissensproduktion eine wesentlich wichtigere Rolle. Um nur einige wenige Ansätze anzureißen: Mit dem Konzept der ,Personaʻ wird die Entstehung einer spezifischen Form des professionellen Wissenschaftlers in den Blick genommen – im Gegensatz beispielsweise zum Künstler oder dem gebildeten Dilettanten.14 Beim Konzept der ,Subjektivierungʻ geht es darum, wie ein Individuum in diese Form des Wissenschaftlers hineinwächst, also in einem langen Prozess von Außen geprägt und von Innen heraus bestimmte technische Fertigkeiten erlernt, einen spezifischen Habitus annimmt und disziplinäre Praktiken ausbildet. Es erlernt nicht einfach in einer formellen Ausbildung bestimmte Techniken, sondern es wird zugleich in einem informellen Prozess befähigt mitzuspielen, es wird wirklich zum Kollegen. Die Persona verschafft der Wissenschaft Autorität, Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, das Subjekt dem Individuum. 15 Die Idee des Denkstils schließlich bezeichnet Erwerb und zugleich Verlust kognitiver Fähigkeiten, man sieht als Angehöriger einer Disziplin die Realität in Form einer Gestalt, und man verlernt regelrecht, alternative Gestalten zu erkennen.16 Es geht in allen Fällen um Dispositionen, die ein Individuum zu einem spezifischen Subjekt machen, dass als – in diesem Fall – Wissenschaftler anerkannt wird17, und das durch Formatierung Kreativität freisetzt. Mit diesen Perspektiven liest man eine Autobiographie wie die Max Plancks mit anderen Augen. Was können wir dem Text also entnehmen, wenn wir ihn gegen den Strich lesen? Zuerst einmal gibt es Andeutungen, die auf die Bedeutung vermeintlich nichtwissenschaftlicher Faktoren schließen lassen, etwa wenn er erwähnt, einen wichtigen Preis auf Grund von Beziehungen erhalten zu haben. Er hatte als theoretischer Physiker lange auf eine Professur gewartet, und sich deshalb entschlossen, „mich irgendwie in der wissenschaftlichen Welt vorteilhaft

14 Vgl. Lorraine Daston/H. Otto Sibum, Introduction: Scientific Personae and Their Histories, in: Science in Context 16, 2003, S. 1-8. 15 Vgl. zusammenfassend Etzemüller (wie Anm. 4). 16 Maßgeblich Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), Frankfurt am Main 21993; vgl. dazu Etzemüller, Ich sehe das (wie Anm. 13). 17 Vgl. Norbert Ricken, Anerkennung als Adressierung. Über die Bedeutung von Anerkennung für Subjektivationsprozesse, in: Alkemeyer/Budde/Freist (wie Anm. 4), S. 69-99.

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bekannt zu machen“18 – mit anderen Worten: eine gezielte Strategie anzuwenden, für die Kollegen sichtbar zu werden, in diesem Fall die Teilnahme an einer Preisaufgabe der Göttinger philosophischen Fakultät über das Wesen der Energie. Ansatzweise erkennen wir hier den ,Matthäus-Effektʻ, den der Wissenschaftssoziologe Robert K. Merton 1968 beschrieben hat: Wer hat, dem wird gegeben. Ergo: wer bekannt ist, wird deutlich öfter zitiert, als die eher unbekannten Wissenschaftler.19 Wenn er Hermann von Helmholtz beschreibt, enthüllt Planck einen für die damalige Zeit spezifischen wissenschaftlichen Habitus: Wissenschaft war eine männliche Angelegenheit; es gab eine klare Hierarchie zwischen älteren und jüngeren Wissenschaftlern; für die sozialen Beziehungen zwischen beiden spielten Verehrung und Güte eine wichtige Rolle; wissenschaftliche Wahrheit bedarf der Beglaubigung durch die integre Person des Wissenschaftlers: „Ich lernte ihn aber auch von seiner menschlichen Seite kennen und ebenso hoch verehren, wie ich es in wissenschaftlicher Hinsicht von jeher getan hatte. Denn in seiner ganzen Persönlichkeit, seinem unbestechlichen Urteil, seinem schlichten Wesen verkörperte[,] sich die Würde und die Wahrhaftigkeit seiner Wissenschaft. Dazu gesellte sich eine menschliche Güte, die mir tief zu Herzen ging. Wenn er im Gespräch mich mit seinem ruhigen[,] eindringlich forschenden, und doch im Grunde wohlwollenden Auge anschaute, dann überkam mich ein Gefühl grenzenloser kindlicher Hingabe, ich hätte ihm ohne Rückhalt alles, was mir am Herzen lag, anvertrauen können, in der gewissen Zuversicht, daß ich in ihm einen gerechten und milden Richter finden würde; und ein anerkennendes oder gar lobendes Wort aus seinem Munde konnte mich mehr beglücken als jeder äußere Erfolg“20.

Auf der anderen Seite stand die Autorität alter Männer. „Es gehört zu den schmerzlichsten Erfahrungen meines wissenschaftlichen Lebens, daß es mir […]

18 Planck (wie Anm. 7), S. 12. 19 Robert K. Merton, Der Matthäus-Effekt in der Wissenschaft, in: Ders., Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt am Main 1985, S. 147-171. Peter Weingart (wie Anm. 6), S. 24, bemerkt allerdings, dass „wirklich bedeutende Arbeiten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch unabhängig vom Status ihrer Autoren gesehen werden. Der ‚Matthäus-Effekt‘ begünstigt dagegen vor allem die Verbreitung weniger bedeutender Arbeiten reputierter Autoren und die Arbeiten von Autoren, die bekannten Universitäten bzw. Instituten angehören.“ 20 Planck (wie Anm. 7), S. 15.

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niemals gelungen ist, eine neue Behauptung, für deren Richtigkeit ich einen vollkommen zwingenden, aber nur theoretischen Beweis erbringen konnte, zur allgemeinen Anerkennung zu bringen.“ Und er schloss daraus: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben[,] und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht wird“21. Solche Einsichten theoretisierte Planck allerdings nicht, sonst wäre ihm der Widerspruch aufgefallen, dass er explizit an eine absolute Wahrheit glaubt, der sich Generation für Generation die jeweils Alten verweigern, während die jeweils Jungen sie erkennen – bis sie selber alt geworden sind? Das Erkennen der Wahrheit ist altersabhängig? Interessant ist auch die narrative Gestaltung von Konflikten. Ludwig Boltzmann und Friedrich Wilhelm Ostwald standen sich in einem lebhaften Duell mit „manchen drastischen Effekten“ gegenüber, in dem die Waffen Schlagfertigkeit und natürlicher Witz waren. Planck spielte den Sekundanten für Boltzmann, der damit wenig einverstanden war, weil er mit Plancks wissenschaftlichem Standpunkt über Kreuz lag. Das trug zu einem lebenslange gereizten Ton in Boltzmanns Briefen an Planck bei, „der erst in der letzten Zeit seines Lebens, als ich ihm von der atomistischen Begründung meines Strahlungsgesetzes berichtete, einer freundlichen Zustimmung wich“22. Das, was eigentlich als Essenz der Wissenschaft gilt, inhaltliche Kontroversen, scheint zu persönlichen Verstimmungen geführt zu haben, die wiederum nicht direkt, sondern nur humoristisch verkleidet benannt werden konnten, ein weiteres Indiz dafür, wie ,Privatesʻ in die reine Wissenschaft eingreift.23 In der Fassung von 1946 gibt es einige zusätzliche Hinweise, etwa über die Bedeutung des Musizierens für Vergemeinschaftungsprozesse, wenn sich die Kollegen mit ihren Familien in privatem Kreis trafen, sowie, spiegelbildlich dazu, Aussagen über einen definitiv falschen Habitus. Ein „eigenartiger, etwas phantastisch veranlagter Student“ sprach bei Helmholtz vor, um zu belegen, dass der Satz von der Erhaltung der Kraft unrichtig sei. Helmholtz habe geduldig zugehört und versucht, ihm die Lückenhaftigkeit seiner Gedankengänge darzu-

21 Ebd., S. 19, 22. 22 Ebd., S. 21. 23 Die Grenze zwischen ,Privatemʻ resp. ,Sozialemʻ und ,Wissenschaftʻ ist für die Naturwissenschaften u.a. in den sog. Laborstudien relativiert worden; vgl. prominent Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main 1991.

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legen. „Erst als der junge Mann, durch solch wohlwollende Aufnahme sicherer geworden, anfing, sich unpassend über die Person seines Kollegen KUNDT zu äußern, fand er Worte scharfen Tadels und brach die Unterredung ab, vielleicht mit einem Gefühl der Erleichterung, daß er auf diese Weise dem Gespräch eine Ende machen konnte“24. Es scheint, als habe Helmholtz’ Takt zu einer gewissen Konfliktscheu beigetragen, die er erst durch den ungebührlichen Angriff auf einen Kollegen überwinden konnte. Fazit: Es gibt in dieser kurzen Autobiographie eine Reihe von Hinweisen, die für Wissenschaftssoziologen und Wissenschaftstheoretiker verwertbar sind. Allerdings sind es nur Andeutungen, Bruchstücke, die in ein theoretisches Gerüst eingearbeitet und mit zahllosen anderen autobiographischen Texten dieser Art verglichen werden müssen. Für eine dichte Beschreibung wissenschaftlicher Praktiken reichen sie bei weitem nicht aus. Der Text verschweigt mehr als dass er enthüllt, und das ist, behaupte ich, einer der Zwecke solcher Autobiographien gewesen. Die Andeutungen zeigen, dass sich Planck der Produktionsbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis wenigstens ansatzweise bewusst gewesen ist. Er hat sie aber nicht systematisch reflektiert, sondern dem Ideal des körperlosen, allein der Sache verpflichteten Wissenschaftlers untergeordnet. Seine Selbstbiographie ist ein wichtiges Instrument, dieses Ideal festzuschreiben. Sie beinhaltet sicherlich einige Informationen, doch darüber hinaus ist ihr Narrativ vor allem selbst eine Information: für eine spezifisch wissenschaftliche Praktik der Selbststilisierung, um eine spezifische Vorstellung von Wissenschaft zu sichern, nämlich das klassische Fortschrittsmodell der Naturwissenschaften. Denn im wissenschaftlichen Dreischritt Versuch → Verifizierung/Falsifizierung → Fortschritt darf die Person des Wissenschaftlers nur eine Funktionsstelle innehaben. Sie darf keine soziale Bedeutung haben, weil das bedeuten würde, dass die „Entstehung […] einer wissenschaftlichen Tatsache“ (Ludwik Fleck25) noch anderen Faktoren unterliegt als dem rein wissenschaftlichen Handwerk. Ludwik Fleck und andere haben genau das herausgearbeitet; hingegen bemühen sich Naturwissenschaftler wie Planck, dies zu relativieren. Flecks Buch und Plancks Selbstbiographie erschienen im selben Jahr 1935 und markieren damit symbolisch zwei extreme Pole der wissenschaftlichen Reflexion. Was Fleck lakonisch ans Licht gehoben hat, wird von Planck mit Schweigen übergangen.

24 Planck (wie Anm. 8), S. 133. 25 Fleck (wie Anm. 16).

Sprachliche Strukturen autobiographischer Darstellungen

Autobiographisches Erzählen: Sprechen und Schreiben R OLF H AUBL

Es gibt zahlreiche Versuche, das gattungsspezifische Wesen des Menschen zu bestimmen. Er gilt als Homo faber, als Homo ludens und auch als Homo narrator. Als solcher erzählt er Geschichten (Stories), mit denen er sich seine Lebenswelt als subjektiv bedeutsam und Sinn stiftend aneignet. Drei Arten von Geschichten lassen sich unterscheiden: Eine Person kann • • •

Geschichten über ihre Mit- und Umwelt erzählen (Fremdthematisierung), Geschichten, in denen sie sich selbst zum Thema macht (Selbstthematisierung), sowie insbesondere autobiographische Geschichten, in denen sie erzählt, wie sie sich im Zeitverlauf ihres Lebens entwickelt hat.

Selbst-referentielle Geschichten können mündlich und schriftlich erzählt werden, wobei der mündliche Sprachgebrauch dem schriftlichen entwicklungslogisch vorausgeht. Insoweit eine Person ihre Lebensgeschichte erzählt, aktiviert sie ihr autobiographisches Gedächtnis, das ihr Erinnerungen an verschiedene Phasen ihres Lebens ermöglicht. So gesehen, besteht die Lebensgeschichte einer Person aus einer langen Reihe von mehr oder weniger zusammenhängenden autobiographischen Geschichten, die sie nach Maßgabe der narrativen Kompetenz, über die sie verfügt, stilistisch und rhetorisch gestaltet und präsentiert.

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AUTOBIOGRAPHISCHES E RINNERN Autobiographisches Erzählen setzt ein autobiographisches Gedächtnis voraus.1 Entgegen der räumlichen Metaphorik des Gedächtnisses als Speicher, die das Alltagsbewusstsein nach wie vor bestimmt, gilt heute als wissenschaftlich gesichert, dass Erinnern ein Prozess des Rekonstruierens bzw. Konstruierens ist, der eine fortlaufende – motivierte – Veränderung vorhandener Erinnerungsspuren zur Folge hat. Niemand verfügt über Erinnerungen aus seinem Leben, sondern immer nur an sein Leben, mithin von einem Hier-und-heute aus rückblickend auf ein Dortund-damals. Diese Rückblicke sind Gemengelagen aus Fakten und Fiktionen. Gehen wir gedankenexperimentell davon aus, dass alles, was sich im Leben einer Person bisher ereignet hat, ihr als vollständige Datenmenge zur Verfügung steht, dann kann sie – je nach Funktion ihres autobiographischen Erzählens (siehe unten) – verschiedene autobiographische Geschichten und das heißt auch: verschiedene Lebensgeschichten konstruieren. Welche davon ist die wahre Geschichte? Konstruktivistisch betrachtet, verfehlt die Frage die Antwort. Hätte eine Person die Möglichkeit, alle autobiographischen Geschichten, die sie jemals erzählt hat, zu sichten und zu vergleichen, würden sich in der Regel vielfältige Übereinstimmungen ergeben, die alle „familienähnliche“ (Wittgenstein) Varianten wären, ohne dass sich eine ultimative Geschichte fände. Wer – szientistisch gedacht – ,wahreʻ Geschichten verlangt, wird enttäuscht. Denn es geht im autobiographischen Erzählen nicht um Wahrheit, sondern um narrative Identität2, um eine (bis auf weiteres) plausible und unwidersprochene Antwort auf die Frage ,Wer war ich früher?ʻ – ,Wer bin ich heute?ʻ – ,Wer werde ich morgen sein (können)?ʻ Sind autobiographische Erzählungen selbst-referentielle Erzählungen, so geht das jeweilige Selbst nicht den erzählten Geschichten voraus, vielmehr sind es die erzählten Geschichten, die es konstituieren. Auf die Frage nach seinem Selbst antwortet ein autobiographischer Erzähler, indem er aus seinem identitätsstiftenden Fundus von autobiographischen Geschichten diejenigen auswählt und zur Sprache bringt, die er aktuell für geeignet hält, einem bestimmten Adressaten (oder Adressatenkreis) ein glaubhaftes

1

Rüdiger Pohl, Das autobiographische Gedächtnis. Psychologie unserer Lebens-

2

Jens Brockmeier/Donal Carbaugh, Narrative and Identity. Studies in Autobiography,

geschichte, Stuttgart 2007. Self and Culture, Amsterdam, 2001.

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Selbstbild zu vermitteln. Selten erzählt er, was er noch nie erzählt hat. Und nur selten erzählt er seine ganze Lebensgeschichte.

I NTERSUBJEKTIVE V ALIDIERUNG Autobiographisches Erzählen ist ein interaktiver Prozess, in dem es um die Herstellung einer geteilten sozialen Wirklichkeit geht: einer Wirklichkeit, die dadurch zustande kommt, dass Adressaten manche der erzählten autobiographischen Geschichten glauben und andere nicht, wobei es eine ganze Reihe von Zwischenstufen gibt: ,plausibelʻ, ,weit hergeholtʻ, ,übertriebenʻ, ,möglichʻ, ,unwahrscheinlichʻ, ,erfundenʻ. Ein autobiographischer Erzähler kann nicht erzählen, was er will. Er muss seine autobiographischen Geschichten inhaltlich und formal so gestalten, dass sie für den Adressaten seiner Erzählung glaubhaft sind. Deshalb kommt es vor, dass eine Person verschiedene Varianten einer autobiographischen Geschichte prüft, bis sie diejenige gefunden hat, die man ihr abnimmt. Sie kann damit strategisch-taktische Ziele verfolgen. Sie kann aber auch die Glaubhaftigkeit einer Geschichte austesten, um sie selbst glauben zu können. Psychisch belastend sind ,wahreʻ autobiographische Geschichten, die dem Erzähler nicht geglaubt werden, obwohl er sich wahrhaftig bemüht, sie glaubhaft zu machen. Autobiographische Geschichten sind – kommunikationsethisch betrachtet – bestenfalls wahrhaftig. Dann erzählt eine Person im Bewusstsein, dass sie das, was sie erzählt, selbst für wahr hält. Sie weiß es nicht besser und versucht nicht, den Adressaten ihrer Erzählung zu täuschen. Freilich kann sie sich selbst täuschen. Und deshalb im Bewusstsein erzählen, dass sie sich womöglich selbst täuscht, was ihr einen Irrtumsvorbehalt abverlangt. Dieser Vorbehalt weist dem Adressaten autobiographischer Geschichten eine bestimmte kommunikative Rolle zu: Verfügt er über (vermeintlich) besseres Wissen, darf er den Erzähler korrigieren oder ihm Beobachtungen anbieten, die dessen Selbstverständnis erweitern. Dies trifft zum einen auf Fälle zu, in denen es in den Geschichten um Ereignisse geht, die der Adressat selbst durch seine Anwesenheit zu bezeugen vermag. Zum anderen kann der Adressat auf die Architektur der Erzählung fokussieren und aus ihr Indikatoren für einen Zweifel an dem Wahrheitsanspruch des Erzählers gewinnen. So validieren signifikante Andere die Geschichten, die sie erzählt bekommen, freilich ohne selbst irrtumsfrei zu sein.

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AUTOBIOGRAPHISCHES E RZÄHLEN –

MÜNDLICH

Wie eine Person ihr Leben erzählt, hat sie in psychodynamischer Perspektive immer nur bedingt unter Kontrolle. Leidet sie an Traumata oder (unbewussten) psychischen Konflikten, dann ist anzunehmen, dass sich eine solche Erlebnisstruktur in der Art und Weise niederschlägt, was sie (unmerklich) wie erzählt. Der mündliche autobiographische Erzähler erzählt und beobachtet sich zugleich dabei, wobei eine Antizipation dessen, was der Adressat (vermeintlich) erwartet, kontinuierlich mitläuft. Was er wie erzählt, wirkt auf den Erzähler zurück: kognitiv, emotional und instrumentell. Wird sich ein Erzähler gewahr, dass er gerade dabei ist, mehr zu erzählen, als was er erzählen wollte, weil er sich von seiner Erzählung hat fortreißen lassen, kann er z.B. abrupt das Thema wechseln. Solche Manöver kommen umso eher vor, je detaillierter er erzählt und je weniger er darauf achtet, seinen Erzählfluss zu kontrollieren. Wird ein Erzähler plötzlich abstrakt, mag dies seinem Adressaten anzeigen, dass er an einen ,wunden Punktʻ gelangt ist. Gleiches gilt für Situationen, in denen der Erzähler seinen ,roten Faden verliertʻ und seine Erzählung aus immer mehr ,dunklen Stellenʻ besteht, die sein Adressat trotz allem Bemühen nicht aufzuhellen vermag.

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SCHRIFTLICH

Der Übergang von einer mündlichen autobiographischen Erzählung zu einer schriftlichen, womöglich noch literarischen, ist gravierend. Mit dem Gebrauch der Schrift erhöht sich die Selbstkontrolle. Spontaneität nimmt ab: erste Einfälle kann ein schreibender Erzähler solange überarbeiten, bis sie ihm zusagen. Indem die Spontaneität abnimmt, schwinden auch die logischen Brüche und grammatikalischen Unkorrektheiten, die für mündliches Erzählen typisch sind und eben oftmals einen Einblick in latente Prozesse, starke Emotionen und querschießende unliebsame Gedanken erlauben. Schreiben, vor allem literarisches, errichtet eine Rationalitätsfassade, mit deren Hilfe ein Erzähler seine Selbstkontrolle zu wahren sucht. Aber kein Text lässt sich soweit bereinigen, dass er keine irritierenden Passagen mehr hat. Freilich ist autobiographisches Schreiben nicht gleich Schreiben. Zwischen dem Schreiben eines Tagebuches, intimer Briefe und einer romanhaften Autobiographie gibt es große Unterschiede. Desgleichen ist das mündliche autobiographische Erzählen auf der Couch eines Psychoanalytikers nicht mit dem Erzählen von selbst-referentiellen Anekdoten auf einer Party zu vergleichen. Es sind alles autobiographische Formate, die ihre eigenen Kommunikationsbeding-

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ungen haben. Dennoch behält die Differenz mündlich-schriftlich ihre übergreifende basale Relevanz.

AUTOBIOGRAPHISCHE

NARRATIVE

K OMPETENZ

Autobiographische narrative Kompetenz ist die Fähigkeit, autobiographische Geschichten so zu erzählen, dass sie bei ihrem Adressaten eine intendierte Wirkung erzielen, zumindest wahrscheinlich machen. Diese Kompetenz ist interindividuell nicht gleich verteilt. Sie wird erworben und zu unterschiedlichen Kompetenzniveaus entwickelt. Dementsprechend gibt es ,bessereʻ und ,schlechtereʻ Erzähler, je nach ihrem Geschick, sich in die Welt eines Adressaten hineinzuversetzen und eine Sprache zu finden, die ihn dort erreicht. Verfolgt man die lebensgeschichtliche Entwicklung autobiographischer narrativer Kompetenz, so lässt sich ein bestimmter Verlauf skizzieren3: In der Regel wissen Achtjährige mit der Aufforderung, ihr Leben zu erzählen, noch wenig anzufangen. Sie nennen eine Reihe wichtiger Gegebenheiten, fügen diese aber nicht zu einer Lebensgeschichte zusammen. Zwölfjährige tun dies zwar, ihren autobiographischen Geschichten fehlt es aber an subjektiver Sinn stiftender Bedeutung. Präsentiert wird ein chronologischer Lebenslauf, der sich an institutionellen Lebenslaufstationen – Geburtsdatum, Geburtsort, Kindergarten, Einschulung, Umzüge, Schulwechsel… – orientiert. Auch Freunde und Hobbies werden lediglich aufgezählt. Erste Auskünfte über Motive sowie ein Nachdenken über den bisherigen eigenen Entwicklungsverlauf finden sich ab dem sechszehnten Lebensjahr. Fortan werden Werte und Normen immer wichtiger. Im Alter von zwanzig Jahren sind die jungen Erwachsenen anhaltend mit der Erkenntnis beschäftigt, dass ihre adoleszente Lebensführung kontingent ist: Wenn sie anders leben könnten, als sie leben, gibt es zwar Wahlmöglichkeiten, zugleich aber auch das Risiko, sich falsch zu entscheiden und zu scheitern. Eine Lebensgeschichte, wie man sie mit Erwachsenen zumindest partiell rekonstruieren kann, ist nicht vor der mittleren Adoleszenz zu erwarten. Dass sich die autobiographische narrative Kompetenz in der skizzierten Richtung entwickelt, ist nicht zwangsläufig. Denn sie wird von Kindheit an ge-

3

Tilman Habermas, Identität und Lebensgeschichte heute, in: Psyche 65 (Heft 7), 2011, S. 646-668, hier S. 657f.

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lehrt und gelernt.4 So zeigen Untersuchungen, dass Mütter von Dreijährigen ihre Kinder anregen, gemeinsam mit ihnen ihr bisheriges Leben zu erinnern und davon zu erzählen. Dieses Co-Memorieren hat eine entwicklungsförderliche Funktion, zumal dann, wenn Mütter solche Ereignisse selektieren und kombinieren, die mit der aktuellen Entwicklungsaufgabe zu tun haben, vor deren Bewältigung ihre Kinder gerade stehen. Dabei bildet sich ein bestimmter Stil erinnernden Erzählens bzw. erzählenden Erinnerns heraus, in dem sich die mütterliche Vorgabe per Identifikation niederschlägt. Identifikation ist keine Imitation, sondern eine mehr oder weniger eigensinnige Aneignung. Deshalb finden sich im Stil der späteren Erwachsenen zwar Spuren der Praxis ihrer Mütter (genau genommen ihrer Familien, da letztlich die gesamte Familie co-memoriert), in der Regel aber keine identische Reproduktion. Hinzu kommt, dass die Stil-Bildung primär praktisch und damit präreflexiv erfolgt. Dies schließt den Einfluss ein, den soziokulturelle Rahmenbedingungen nehmen. So dürfte autobiographisches Erzählen universell, in seiner konkreten Ausgestaltung aber kultur-, schicht-, generationen- und geschlechtsspezifisch sein.

F UNKTIONEN

AUTOBIOGRAPHISCHEN

E RZÄHLENS

Wem eine Person welche autobiographischen Geschichten wie erzählt, ist nicht nur abhängig davon, was sie von sich weiß und über welches Sprachvermögen sie verfügt, sondern immer auch von den Funktionen, die ihre Erzählungen erfüllen sollen. Es sind eine ganze Reihe von (nicht trennscharfen) Funktionen zu nennen, von denen nachfolgend eine Auswahl skizziert wird: Bedeutung und Sinnstiftung: Eine Person formatiert ihre Erlebnisse und Erfahrungen als autobiographische Geschichten, weil sie dadurch eine narrative Ordnung gewinnt, die unzusammenhängende Sinnesdaten in einen Zusammenhang bringt. Dabei kommt es zu einer narrativen Glättung, durch die Komplexität reduziert und Prägnanz gesteigert wird. Sind es Geschichten, die bereits mehrmals erzählt wurden und sich in der Kommunikation mit signifikanten Anderen bewährt haben, kann sich eine Person ersparen, jeweils neu zwischen relevant und irrelevant zu unterscheiden. Kommt es allerdings zur Bildung von Ste-

4

Judith A. Hudson, The Emergency of Autobiographical Memory in Mother-childconversation, in: Robyn Fivush/Judith A. Hudson, (Hgg.): Knowing and Remembering in young children, Cambridge 1990.

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reotypen, schottet sich die Person dagegen ab, ihre Erlebnisse und Erfahrungen gegebenenfalls auf den Prüfstand der Selbstkritik zu stellen. Unterhaltung und Geselligkeit: Autobiographische Geschichten zu erzählen, kann unterhaltsam sein, vor allem dann, wenn sich die adressierten signifikanten Anderen daran beteiligen, indem sie selbst anschlussfähige Geschichten beisteuern. Dadurch erfolgt eine soziale Assoziation, ohne dass diese Vergemeinschaftung als bewusster Zweck intendiert zu sein braucht. Aus solchen Nebensächlichkeiten können Hauptsachen werden, z.B. dann, wenn sich ein thematischer Fokus herausbildet, dessen gemeinsame kommunikative Bearbeitung größere Ernsthaftigkeit verlangt. Rechtfertigung und Entschuldigung: Sieht sich eine Person mit Vorwürfen signifikanter Anderer konfrontiert, sich (moralisch) unangemessen verhalten zu haben, kann sie geeignete autobiographische Geschichten aufbieten, um sich zu verteidigen: Die Geschichten sollen dann entweder rechtfertigen, dass die Person überzeugende Gründe hatte, sich so und nicht anders zu verhalten, oder aber eine Schuld eingestehen, die eine Wiedergutmachung verlangt. Authentifizierung: Eine Person erzählt autobiographische Geschichten, um mit ihnen ihre Position (in einer strittigen Frage) zu belegen. Dabei nimmt sie eine Überlegenheit für sich in Anspruch, die sie aus der Überzeugung ableitet, dass die eigene Zeugenschaft wahrheitshaltiger ist als Hörensagen. Selbstdarstellung: Wenn eine Person mit der Erzählung autobiographischer Geschichten eine bewusste Selbstdarstellung betreibt, geht sie von einer Differenz zwischen ihrem realen Selbst und einem dargestellten Selbst aus. Diese Differenz eröffnet ihr einen Spielraum, der es erlaubt, sich signifikanten Anderen so zu präsentieren, dass diese einen intendierten Eindruck von ihr gewinnen. Eine solche Eindruckslenkung ist nicht zwangsläufig ein Täuschungsversuch. Die Maskierung des realen Selbst durch ein dargestelltes Selbst kann verschiedene akzeptable Gründe haben, z.B. befürchteter Kritik vorzubeugen, um nicht sofort unter Druck zu geraten, oder die eigene Attraktivität zu erhöhen, um Kontaktchancen zu verbessern. Autobiographische Geschichten können sogar im Dienst des realen Selbst stehen: Dann stellt eine Person ihr reales Selbst so dar, dass es als reales und nicht als maskiertes wahrgenommen wird. Selbsterhöhung: Eine Person erzählt autobiographische Geschichten, die von ihrer eigenen Großartigkeit handeln. Diese Geschichten übertreiben, in manchen Fällen ist ihr das bewusst, in anderen Fällen nicht. Erreicht die Person, dass die signifikanten Anderen, die sie adressiert, ihr Glauben schenken, verbucht sie dies als narzisstische Gratifikation. Das gilt sogar für autobiographische Geschichten eines Scheiterns, wenn sie es als heroisch darstellt. Eine narrative Selbsterhöhung kann präventiv erfolgen, um Selbstwertkrisen vorzubeugen, oder kurativ,

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um einen abgesunkenen Selbstwert wieder zu erhöhen. Nicht selten kreiert eine Person einen (unbewussten) „persönlichen Mythos“5, den sie ein Leben lang elaboriert. Ein solcher Mythos ist solange psychisch stabilisierend, wie er nicht zu einer Lebenslüge wird, die dazu zwingt, die Realität zum eigenen Schaden auszublenden. Solange es bei „positiven Illusionen“6 bleibt, können Selbsttäuschungen nachweislich sogar zu psychischer Gesundheit beitragen. Selbstenthüllung: Manche autobiographischen Geschichten sind lebensgeschichtliche Geheimnisse, die eine Person nur ausgewählten signifikanten Anderen oder auch niemandem erzählt. Gründe dafür sind unter anderem Scham oder Angst vor unliebsamen Konsequenzen. Enthüllt eine Person, was sie bislang nicht erzählt hat, ist dies für sie ein riskanter Vertrauensbeweis, da sie sich nicht sicher sein kann, wie die adressierten signifikanten Anderen reagieren. Deshalb geht sie das Risiko besonders dann ein, wenn die Adressaten ihrerseits bereit sind, etwas von sich preiszugeben, was ihnen nicht leicht fällt. Die Überwindung von Hemmungen erhöht die Glaubhaftigkeit. 7 Selbstheilung durch Kohärenz: Stößt eine Person in ihrer Selbstbeobachtung auf (verunsichernde) Widersprüche, die sie psychisch belasten, kann sie autobiographische Geschichten konstruieren, die diese Widersprüche beseitigen. Ziel ist die Erhöhung der Kohärenz, da kohärentes Erzählen „heilende Kraft“8 zu entwickeln vermag. Freilich gefährdet nicht jeder Widerspruch die Kohärenz. Ist sich eine Person ihrer Widersprüche bewusst und kann sie diese nicht nur tolerieren, sondern auch als Anregung für Selbstreflexion nutzen, erreicht sie ein höheres Integrationsniveau. Kontingenzbewältigung: Eine Person mag sich in ihrem Leben nicht zurechtfinden. Gelingt es ihr jedoch, einen narrativen ,roten Fadenʻ zu knüpfen, kann sie an psychischer Stabilität gewinnen, indem sie die Ordnung der erzählten Geschichten auf die Ordnung ihres gelebten Lebens überträgt. Und umgekehrt: Wenn eine Person die Erfahrung macht, dass sie die Wahl hat, ihr gelebtes Leben unterschiedlich zu erzählen, mag sie die Hoffnung oder gar die Zuversicht

5

Peter Hartocollis/Ian Davidson Graham, The Personal Myth in Psychoanalytic Theory. Madison, 1992.

6

Shelley E. Taylor, Positive Illusion. Creative Self-deception on the Healthy Mind,

7

Lothar Schmidt-Atzert, Selbstenthüllung auf Gegenseitigkeit: Was Du mir verrätst,

New York 1989. verrate ich auch Dir, in: Albert Spitznagel/Lothar Schmidt-Atzert, (Hgg.): Sprechen und Schweigen. Zur Psychologie der Selbstenthüllung, Bern, 1986, S. 92-111. 8

Jürgen Straub/Brigitte Boothe, Die heilende Kraft des Erzählens, in: Psychotherapie und Sozialwissenschaften 4, 2002, S. 155-165.

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gewinnen, auch im Leben eine Wahl zu haben und folglich anders – besser – zu leben als bisher. Emotionsarbeit: Jede autobiographische Geschichte hat eine emotionale Grundtönung. Mit den Geschichten, die eine Person erzählt, kann sie Einfluss auf ihren eigenen aktuellen Gefühlshaushalt nehmen. So mag die Aufzählung eigener Erfolge im Leben helfen, eine momentan vorherrschende Niedergeschlagenheit zu mildern. Desgleichen kann eine Person signifikante Andere, die sie adressiert, emotional ,ansteckenʻ, wobei dabei oft weniger der Inhalt einer Geschichte zählt als ihr expressives Wie.

S OZIOKULTURELLE N ORMEN AUTOBIOGRAPHISCHEN E RZÄHLENS Autobiographische Geschichten werden im Rahmen (normativer) soziokultureller Erwartungen erzählt. Für die westliche Kultur gibt es eine Reihe von Merkmalen, die ein „wohlgeformtes autobiographisches Narrativ“ 9 ausmachen. Zentrales Merkmal ist die Präsentation einer linearen kausallogischen (chronologischen) Ereigniskette, die – stimmig interpretiert – auf einen bestimmten Plot hinausläuft. Wenn von einem autobiographischen Erzähler ein solches Narrativ erwartet wird, läuft er Gefahr, als unverständlich, fragwürdig, vielleicht sogar als psychisch krank erlebt zu werden, wenn er es nicht bedient. Wie eine Person ihr Leben erzählt, ist eine individuelle kreative Leistung. Das heißt allerdings nicht, dass ihre Erzählungen ohne kollektive Vorbilder wären. Im Gegenteil: Individuelle Erzählungen – ob mündlich oder schriftlich – erweisen sich in der Regel als Varianten von Mustererzählungen, die in einer Kultur in Umlauf sind. Die Übernahme von oder auch nur die Anlehnung an solche Muster erhöht die Erzählbarkeit, was zum einen erzählökonomisch relevant ist, aber mehr noch, einen Glaubhaftigkeitsvorschuss bietet.10 Indem ein Erzähler eine bestimmte Mustererzählung gebraucht, deren Leerstellen er mit seinen individuellen Daten füllt, fragt er die soziokulturelle Zugehörigkeit seines Adressaten an. Steigt der auf die Mustererzählung ein, erkennen sie sich beide wechsel-

9

Kenneth J. Gergen/Mary M. Gergen, Narrative and the Self as Relationship, in: Leonhard Berkowitz, (Hg.), Advances in Experimental and Social Psychology, New York 1988. S. 17-56.

10 Rolf Haubl, Die allmähliche Verfertigung von Lebensgeschichten im soziokulturellen Erinnerungsprozess, in: Edith Geus-Mertens (Hg.), Eine Psychoanalyse für das 21. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 33-45, hier S. 36ff.

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seitig als ihresgleichen. Das schließt Differenzen nicht aus, erlaubt es ihnen aber, sich innerhalb eines geteilten Wirklichkeitsmodells und deshalb vergleichsweise konfliktarm über diese Differenzen zu verständigen. In einer seit 20 Jahren laufenden Untersuchung werden die biographischen Erzählungen erwachsener US-Amerikaner analysiert.11 Die Forscher haben eine Mustererzählung rekonstruiert, die sie „redemption narratives“ (Erlösungsgeschichten) nennen. Es sind Erzählungen, die mit einer privilegierten glücklichen Kindheit und dem frühen Bewusstsein beginnen, dass andere Menschen es schlechter haben, woraus die moralische Verpflichtung abgeleitet wird, den eigenen Status zu rechtfertigen. Dann ereignen sich immer wieder Schicksalsschläge, an deren Bewältigung der autobiographische Erzähler wächst. Er gibt nicht auf, macht das Beste aus seiner Situation und wird letztlich für sein Durchhalten belohnt. Dieses optimistische Erzählmuster finden die Forscher als Grundmuster einer ganzen Reihe von typischen US-amerikanischen Erzählungen, von der des Selfmademans über die der auserwählten Nation bis hin zu Konversionserzählungen der Puritaner und Befreiungserzählungen der Sklaven. US-Amerikaner, die ihr Leben nach diesem Muster erzählen, zeichnen sich durch psychisches Wohlbefinden und Generativität, das Bestreben, eigene Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben, aus. Wie will man den Zusammenhang interpunktieren? Erzählen US-Amerikaner solche autobiographischen Geschichten als Ausdruck ihres psychischen Wohlbefindens oder fühlen sie sich psychisch wohl, weil sie solche autobiographischen Geschichten erzählen? Andere Forscher haben die Autobiographien von US-amerikanischen homosexuellen Männern im Zeitraum von 1930 bis in die 1980er Jahre untersucht. 12 Sie stellen fest, dass die Liberalisierung der Homosexualität ab den 1970er Jahren die Mustererzählung verändert hat: im Mittelpunkt steht nunmehr das ,Comingoutʻ. Und auch hier gilt: In diesem Muster schlagen sich reale Erfahrungen nieder, zugleich liefert es für diejenigen Homosexuellen, die sich noch nicht öffentlich zu ihrer sexuellen Orientierung bekannt haben, eine Regieanweisung, wie ein solches Bekenntnis erfolgreich abgelegt werden kann. Generell wird man sagen können, dass sich die „effektive Sozialisation“13 eines Gesellschaftsmitgliedes auch darin zeigt, dass es über einen breiten Fundus von Mustererzählungen verfügt, der es ihm – wenn man so will, in jeder Lebenslage – erlaubt, sich selbst und seine signifikanten Anderen zu orientieren.

11 Dan P. McAdams, The Redemptive Self. Stories Americans Live By, New York 2006. 12 Bertram J. Cohler, Writing Desire. Sixty Years of Gay Autobiography, Madison 2007. 13 Gergen/Gergen (wie Anm. 9) S. 33.

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Es ist das „kulturelle Gedächtnis“14 einer Gesellschaft, das diese Orientierung etwa in Form literarischer Gattungen, zum Beispiel „als Tragödie, Komödie oder als romantische Sage“15 bewahrt, die ihrerseits thematische Varianten von abstrakteren Verlaufskurven sind, wie etwa diejenigen, die Lebensgeschichten „als Beständigkeiten, als Verbesserungen oder als Verschlechterungen“16 präsentieren. Einem vergleichbaren Modell folgend, lassen sich vier „Ontologien des Selbst“17 unterscheiden: eine gute Vergangenheit erzeugt eine gute Gegenwart, eine schlechte Vergangenheit erzeugt eine schlechte Gegenwart, eine gute Vergangenheit erzeugt eine schlechte Gegenwart, eine schlechte Vergangenheit erzeugt eine gute Gegenwart. Dabei kommt die Dynamik der beiden diskontinuierlichen Verläufe durch (krisenhafte) Wendepunkte im Lebenslauf 18 zustande, was Ereignisse sind, die es – wodurch auch immer – einer Person unmöglich machen, sich weiter wie bisher zu verhalten. Dem Forschungsbereich der „illness narratives“ lassen sich viele eindrucksvolle Beispiele dafür entnehmen, wie lebens- und überlebenswichtig es ist, solche Wendepunkte gut zu meistern.19

K RISE

AUTOBIOGRAPHISCHEN

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Nicht selten wird so getan, als sei autobiographische Wohlgeformtheit universal. Genau genommen trifft dies aber nicht zu. Die Vorstellung von einer linearen (chronologischen) Entwicklung, die aus kausallogisch verbundenen autobiographischen Geschichten besteht und auf einen Plot zuläuft, der als Fortschritt gilt, trägt die Signatur des europäischen Bürgertums und damit ein historisches Verfallsdatum.

14 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 15 Gergen/Gergen (wie Anm. 9), S. 33. 16 Ebd. 17 Agnes Hankiss, Ontologies of the Self. On the Mythological Rearranging of One´s Life History, in: Daniel Bertaux (Hg.), Biography and Society: The Life History Approach in the Social Sciences, Beverly Hills 1981, S. 203-211. 18 Jürg Willi, Wendepunkte im Lebenslauf, Stuttgart 2013. 19 Lars Christer Hydén, Illness and Narrative, in: Sociology of Health and Illness 19, 1997, S. 48-69.

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So geht der Übergang von einer vormodernen (westlichen) Gesellschaft zu einer spät- oder gar postmodernen (westlichen) Gesellschaft mit einer Krise des autobiographischen Erzählens einher, die darin besteht, dass der vormalige Idealtypus immer weniger geeignet erscheint, die Selbsterfahrung von immer mehr Gesellschaftsmitgliedern treffend zu beschreiben. Die Postmoderne misstraut dem Glauben an einen linearen Fortschritt nicht zuletzt deshalb, weil er im Zivilisationsbruch der Shoa seine Unschuld auf immer verloren hat. Was für die Avantgarde gilt, muss freilich nicht auch für den Alltagsmenschen gelten. Ist die populäre Autobiographik nach wie vor an einer Chronologie des Lebens mit einem autonomen Ich-Erzähler ausgerichtet, so wird diese Autonomie im Verlauf des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses immer fragwürdiger. Als Folge davon tritt an die Stelle einer kohärenten Lebensgeschichte eine Collage von Fragmenten. Ein gutes Beispiel dafür ist die in den 1930er Jahren entstandene „Berliner Chronik“, in der Walter Benjamin seine Kindheit erzählt, aber eben nicht linear, sondern – wie auch in seinem nachfolgenden autobiographischen Text „Eine Kindheit im 19. Jahrhundert“ – zusammengewürfelt wie in einem Kaleidoskop, das mit jeder Drehung ein neues Bild erzeugt. Der Leser wird eingeladen, kreuz und quer zu lesen. Die Fragmente geben keinen Weg vor, sondern führen in eine endlose Suchbewegung. „Erinnerungen, selbst wenn sie in die Breite gehen, stellen nicht immer eine Autobiographie dar. Und diese hier ist ganz sicher keine, auch nicht für die berliner Jahre, von denen hier einzig die Rede ist. Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluss des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede.“ 20

Wenn Benjamin seine ,Berliner Chronikʻ nicht als Autobiographie verstanden wissen will, dann deshalb, weil das „sogenannte Bild vom eigenen Wesen, das wir in uns tragen, […] von Minute zu Minute pure Improvisation“21 ist. Wenn aber die Welt in eine Vielzahl von erinnerten „Augenblicken“ zerfällt, müssen andere narrative Strategien gefunden werden, um sich selbst – wahrhaf-

20 Walter Benjamin, Berliner Chronik, Frankfurt am Main 1988, S. 372 f. 21 Walter Benjamin, Vom Glauben an die Dinge, die man uns weissagt, in: Illuminationen, Frankfurt a.M. 1977, S. 301.

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tig – zum Thema zu machen: „Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie“.22 Aus den genannten Gründen schreibt z.B. auch Pierre Bourdieu bewusst keine Autobiographie, sondern die „Skizze einer Auto-Analyse“, bei der es sich um „Elemente einer soziologischen Selbstbeschreibung“ handelt.23 Der autobiographische Schreiber markiert rückblickend einzelne Ereignisse als subjektiv bedeutsam und Sinn stiftend, was aber nichts anderes zum Ausdruck bringt als die Neigung „sich zum Ideologen des eigenen Lebens zu machen“.24 Wenn der autobiographische Erzähler ,ichʻ sagt oder schreibt, suggeriert ihm sein Eigenname, er sei ein autonom handelndes Subjekt. Aber: „Der Versuch, ein Leben als eine einmalige und sich selbst genügende Abfolge von Ereignissen zu verstehen, deren einziger Zusammenhang in der Verbindung mit einem ‚Subjekt‘ besteht, dessen Konstanz nur die eines Eigennamen sein dürfte, ist ungefähr so absurd, wie der Versuch, eine Fahrt mit der U-Bahn zu erklären, ohne Struktur des Netzes zu berücksichtigen, das heißt, die Matrix der objektiven Relationen zwischen den verschiedenen Stationen.“25

Die Einheit des Ich, das der Eigenname bezeichnet, verdeckt eine Illusion. Denn auf alle autobiographisch Schreibenden wartet eine Enttäuschung: Ich ist immer ein Anderer26!

ANALYSE

VON

AUTOBIOGRAPHIEN

Abgesehen von narrativen Interviews werden autobiographische Erzählungen bisher eher selten als Datenmaterial zur Beantwortung sozialwissenschaftlicher Forschungsfragen genutzt. Das gilt für mündliche Erzählungen, wie sie im Alltag vorkommen, und ebenso für Autobiographien, die geschrieben worden sind,

22 Almut Finck, Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, Berlin 1991. 23 Pierre Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt am Main 2002, S. 9. 24 Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: Ders., Rede und Antwort, Frankfurt am Main 1992, S. 78-83, hier S. 80. 25 Ebd., S. 82 26 Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint (1949), in: Ders., Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1975, S. 61-71.

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um sie zu veröffentlichen, sei es auf dem anonymen Buchmarkt oder – weniger zugänglich – als persönliches Dokument für einen bestimmten privaten Leserkreis. Sind die meisten publizierten Autobiographien die Lebenserinnerungen von Prominenten, so ist die Gruppe der Menschen, die autobiographisch schreiben, sehr viel umfangreicher.27 Forschungsprojekte, die Autobiographien als Datenmaterial nutzen, können Einzelfallanalysen sein. Ergiebiger sind allerdings Sammlungen von Autobiographien, die mit einem bestimmten thematischen Fokus zusammengestellt werden und Vergleiche erlauben. Wecken die einzelnen Schreiber die Aufmerksamkeit interessierter Forscher, dann nicht nur als einzigartige Personen, sondern als Repräsentanten überindividueller soziokultureller Lebenslagen, beispielsweise als historische Zeitzeugen. In psychodynamischer Hinsicht ist von Interesse, wie verschiedene Menschen bestimmte gleiche, vielleicht sogar universale Entwicklungsaufgaben bewältigen.

S CHLUSSWORT Autobiographisches Sprechen und Schreiben ist ein Forschungsgegenstand, für den sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen interessieren. In der Tat benötigt es eines interdisziplinären Ansatzes, um die Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen, die er bietet. Autobiographisches Sprechen und Schreiben materialisiert sich in dauerhaften Dokumenten, die eine handlungsentlastete Analyse erlauben: als audiovisuelle Aufzeichnungen gesprochener Sprache und deren Transkription sowie als geschriebene Texte, deren elaborierteste Form die BuchAutobiographie ist. Werden die Dokumente dabei als Zeugnisse einer außertextuellen Wirklichkeit gelesen, so bedarf es profunder Kenntnisse über die narrative Konstruktion einer innertextuellen Wirklichkeit, um ,Dichtung und Wahrheitʻ soweit möglich ermessen zu können.

27 Stephan Porombka, Biographie und Buchmarkt, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2010, S. 444-450.

Abbildungen

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Abbildung 1: Paul Bonatz, Leben und Bauen, Zeichnung des Verfassers, S. 62

Abbildung 2: Gerhard Kosel, Unternehmen Wissenschaft, Formalisierung des geistigen und wissenschaftlichen Arbeitsprozesses (Auszug)

A BBILDUNGEN

Abbildung 3: Johann Wolfgang von Goethe: Der Castello Scaligero von Malcesine am Gardasee. 1786. Kohle auf Papier. 37,2x31,3 (Bez. „Schloß von Malcesine.“)

Abbildung 4: Postkarte „Malcesine – Vista d Nord-Ovest“ mit Poststempel von 1929

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350 | DAS EIGENE L EBEN ALS ÄSTHETISCHE F IKTION

Abbildung 5: Olaf Gulbransson: „Malcesine“. Aus: Simplicissimus 13/2 (13.4.1908)

Abbildung 6: Postkarte „Lago di Garda. Malcesine“ mit Poststempel von 1966 („Es sind nicht alle so!!!“, schreibt rückseitig der Absender, ein gewisser Horst)

A BBILDUNGEN

Abbildung 7: Uwe Göbel: Schutzumschlag der deutschen Ausgabe von Zapperis Studie unter Verwendung des in Rom entstandenen Goetheporträts von Angelika Kauffmann, 1999

Abbildung 8: Henry D. Thoreau im Jahr vor seinem Tod, Porträtphotographie von Edward Sidney Dunshee, August 1861

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352 | DAS EIGENE L EBEN ALS ÄSTHETISCHE F IKTION

Abbildung 9: Henry Ford, Porträtphotographie von Fred Hartsook, ca. 1919

Abbildung 10: Titelseite der Erstausgabe von Walden, 1854

A BBILDUNGEN

Abbildung 11: Tabelle zu den Kosten des Hüttenbaus, Walden, Erstausgabe, 1854

Abbildung 12: Le roman familial, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 27

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Abbildung 13: La demande d’amour, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 11

Abbildung 14: Le stade du miroir, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 29

A BBILDUNGEN

Abbildung 15: Gaucher, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 50

Abbildung 16: La tuberculose-rétro, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 43

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Abbildung 17: Roland Barthes bei seiner Antrittsvorlesung am Collège de France, 7. Januar 1977

Abbildung 18: La famille sans le familialisme, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 35

A BBILDUNGEN

Abbildung 19: Francisco de Zurbarán, Das Schweißtuch der hl. Veronika, 1658, Öl auf Leinwand, 105 x 83,5 cm, Museo Nacional de Escultura, Valladolid

Abbildung 20: Rollentheoretisches Schema der aktuellen Professionsideale „Museumsdirektor“

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Abbildung 21: Ragnvald Blix: Karikatur auf den „Kenner“ Wilhelm Bode, Simplicissimus, 16 / 33, S. 562

Abbildung 22: Max Liebermann, Wilhelm Bode beim Betrachten einer Bronzeplastik, um 1890, Kapstadt, Michaelis Collection

A BBILDUNGEN

Abbildung 23: unbekannter Photograph, Wilhelm Bode beim Betrachten eines niederländischen Hausaltärchens, Photographie wohl um 1890, hier als Frontispiz in Mein Leben, Bd. 2, 1930

Abbildung 24: unbekannter Photograph, Wilhelm Bode beim Betrachten eines Reliefs der „Maria mit Kind“

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Abbildung 25: Frontispiz und Vorwort in Fünfzig Jahre Museumsarbeit, 1922

Abbildung 26: Frontispiz und Titelseite in Mein Leben, Bd. 2, 1930

A BBILDUNGEN

Abbildung 27: Titelblatt der Erstausgabe von Ludwig Richters Lebenserinnerungen eines deutschen Malers, 1885

Abbildung 28: Ludwig Richter, Der Watzmann, 1824, Öl auf Leinwand, 120,2 x 92 cm

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Abbildung 29: Ludwig Richter, Tal bei Amalfi mit Ausblick auf den Meerbusen von Salerno, 1825/26, Öl auf Leinwand, 100 x 138 cm

Abbildung 30: Julius Schnorr von Carolsfeld, Italienische Landleute, 1826, Feder und Pinsel in Braun, 261 x 442 mm

A BBILDUNGEN

Abbildung 31: Louise Bourgeois, Child Abuse: A Project by Louise Bourgeois for Artforum, 1982, S. 40 u. 41

Abbildung 32: Louise Bourgeois, Child Abuse: A Project by Louise Bourgeois for Artforum, 1982, S. 44 u. 45

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364 | DAS EIGENE L EBEN ALS ÄSTHETISCHE F IKTION

Abbildung 33: Louise Bourgeois, Child Abuse: A Project by Louise Bourgeois for Artforum, 1982, S. 46 u. 47

Abbildung 34: Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze (Cover)

Abbildungsnachweise

Abb. 1: Paul Bonatz, Leben und Bauen, Stuttgart 1950, S. 62 Abb. 2: Gerhard Kosel, Unternehmen Wissenschaft. Die Wiederentdeckung einer Idee. Erinnerungen, Berlin 1989, S. 224 Abb. 3: Weimar, Klassik Stiftung Weimar, Ggz/0559 Abb. 4: Privatbesitz Abb. 5: Privatbesitz Abb. 6: Privatbesitz Abb. 7: Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Gestalters Abb. 8: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Henry_David_Thoreau_-_Dunshee_ ambrotpe_1861.jpg Abb. 9: http://www.loc.gov/pictures/item/94506959/ Abb. 10: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Walden_Thoreau.jpg Abb. 11: https://web.archive.org/ Abb. 12: Le roman familial, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 27 Abb. 13: La demande d’amour, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 11 Abb. 14: Le stade du miroir, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 29 Abb. 15: Gaucher, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 50

366 | A BBILDUNGSNACHWEISE

Abb. 16: La tuberculose-rétro, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 43 Abb. 17: http://kevv-analyst.com/wp-content/uploads/2016/03/sers.jpg Abb. 18: La famille sans le familialisme, in: roland BARTHES par roland barthes, Paris 1975, S. 35 Abb. 19: Ausst.-Kat. Zurbarán, Museum Kunstpalast Düsseldorf, hg. v. Beat Wismer, Odile Delenda und Mar Borobia, München 2015, S. 195 Abb. 20: Eigene Graphik Abb. 21: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Abb. 22: Iziko Museums of Cape Town. Iziko South African National Gallery Abb. 23: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Abb. 24: Unbekannter Fotograf Abb. 25: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Abb. 26: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Abb. 27: Privatbesitz Abb. 28: Ludwig Richter – Der Maler. Ausstellung zum 200. Geburtstag, hrsg. v. Gerd Spitzer, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Galerie Neue Meister, 27. September 2003 – 4. Januar 2004; München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek, 22. Januar – 25. April 2004, München/Berlin 2003, S. 131 Abb. 29: Ebd., S. 159 Abb. 30: Ebd. Abb. 31: 2017. Digital image, the Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence Abb. 32: 2017. Digital image, the Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence Abb. 33: 2017. Digital image, the Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence Abb. 34: Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1973, mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

ZENO ACKERMANN, Professur für British Cultural Studies. Englische Literaturund Kulturwissenschaft, Julius-Maximilians-Universität Würzburg PHILIP BAJON, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt a.M. DIETRICH ERBEN, Lehrstuhl für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design, Technische Universität München THOMAS ESER, Leiter der Sammlung Wissenschaftliche Instrumente und Medizingeschichte, Waffen und Jagdkultur, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg THOMAS ETZEMÜLLER, Professur für Kulturgeschichte der Moderne unter besonderer Berücksichtigung Nordeuropas, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg ROLF HAUBL, Prof. i.R., Direktor Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a.M. und Lehrstuhl für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie, Goethe Universität Frankfurt a.M. LAURENZ LÜTTEKEN, Lehrstuhl für Musikwissenschaft, Universität Zürich CHRISTINE OTT, Lehrstuhl für Literaturwissenschaft des Französischen und Italienischen, Goethe Universität Frankfurt a.M. JOHANNES PAULMANN, Direktor der Abteilung für Universalgeschichte, LeibnizInstitut für Europäische Geschichte und Professor am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

368 | V ERZEICHNIS DER A UTORINNEN UND A UTOREN

SASKIA PÜTZ, Kunstgeschichtliches Seminar, Universität Hamburg MARTIN SABROW, Direktor am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam CHRISTINE TAUBER, Forschungsabteilung am Zentralinstitut für Kunstgeschichte München und Professorin am Department Kunstwissenschaften der LudwigMaximilians-Universität München MARTINA WAGNER-EGELHAAF, Univ.-Professorin an der Abteilung Neuere deutsche Literatur, Westfälische Wilhelms-Universität Münster GEORG WAGNER-KYORA, Historisches Seminar der Leibniz Universität Hannover THOMAS WEIDNER, Stellvertretender Direktor, Münchner Stadtmuseum ANNIKA WIENERT, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Deutsches Historisches Institut Warschau TOBIAS ZERVOSEN, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design, Technische Universität München

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 À (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 À (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 À (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)

Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 À (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

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Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)

Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 À (DE), 978-3-8376-1709-2

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 À (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 À (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 À (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6

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