Das Archiv des Körpers: Konstruktionsapparate, Materialitäten und Phantasmen 9783839442784

The human body is more than physical materiality. As the central »organ« of society, it refers to something it has never

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Das Archiv des Körpers: Konstruktionsapparate, Materialitäten und Phantasmen
 9783839442784

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Materialität des Körpers – oder Materie tritt nie ohne ihr Schema auf
3. Konturen des Körpers als sichtbares und durchsichtiges Objekt – das Phantasma einer physischen Selbstvervollkommnungsmaschine
4. Das Archiv des Körpers – Körper-Diskurse
5. Körper-Techniken III: Natürlichkünstlich
6. Psychodynamik(en) fragmentierter Körper
7. Körper nach Maß I: Body Extensions – Nahkörper – Technologien – Smart Machines
8. Schluss
Literatur

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Hannelore Bublitz Das Archiv des Körpers

Sozialtheorie

Hannelore Bublitz (Prof. Dr.), geb. 1947, lehrt Soziologie an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gegenwartsanalysen post- und spätmoderner Gesellschaften und Subjekte, Technologien des Körpers, des Geschlechts sowie Selbsttechnologien. Zu ihren Veröffentlichungen zählen »Diskurs« (Einsichten. Theorien der Soziologie, 2003), »Im Beichtstuhl der Medien« (2010) sowie »Judith Butler zur Einführung« (5., ergänzte Auflage, 2018).

Hannelore Bublitz

Das Archiv des Körpers Konstruktionsapparate, Materialitäten und Phantasmen

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Inhalt

1 Einleitung  | 7 2

Materialität des Körpers – oder Materie tritt nie ohne ihr Schema auf  | 27

3

Konturen des Körpers als sichtbares und durchsichtiges Objekt – das Phantasma einer physischen Selbstvervollkommnungsmaschine  | 37

4

Das Archiv des Körpers – Körper-Diskurse  | 53

4.1 Körper-Techniken I: Figurationen des politischen Körpers  |  58 4.2 Die Maschinenmetapher als Chiffre des Lebendigen  |  65 4.3 Körper-Techniken II: Zwangsprozeduren, Blick-Regime, Körper – integriert in einen geräuschlosen Apparat  |  72 4.4 Konstruierte Sichtbarkeiten – Visualisierung und Messung von Körper-Teilen | 81 4.5 Der Körper als Maschine I: Reizbare Maschinen oder die Logik des hygienischen Imaginären | 90 4.6 Der Körper als Maschine II: Architektur eines nachrichtentechnischen Apparats | 98 4.7 Strategien der Menschenökonomie I: Der produzierende Fortpflanzungsund der konsumierende Lustkörper  |  102 4.8 Der Körper als Maschine III: Biokybernetischer Organismus und maschinenlesbarer Text | 111 4.9 Strategien der Menschenökonomie II: Postsoziale Wunschkörper? | 120

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Körper-Techniken III: Natürlichkünstlich  | 129 5.1 Verkörperung(en) des Sozialen (Zwangs)  |  139 5.2 Soziale Magie | 146 5.3 Stillschweigende Performativität (Butler)  |  150 6

Psychodynamik(en) fragmentierter Körper  | 153

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Körper nach Maß I: Body Extensions – Nahkörper – Technologien – Smart Machines  | 159

7.1 Techno-Körper | 159 7.2 Der – verdatete – Körper im Visier von invasiven Überwachungstechnologien | 162 7.3 Körper nach Maß II: Superabled Bodies – Digital Beauties  |  178

8 Schluss  | 189 Literatur  | 193

1 Einleitung

Der Körper ist kein Ding, wie ein Baum oder ein Haus; er ist nicht bloß ein physisches Organ oder Objekt, sondern weist  – durch die Formen seiner Materialisierung, durch das System der Zeichen, durch imaginäre und phantasmatische Dimensionen  – über sich hinaus.1 In seiner (Metaphern-)Geschichte verbergen sich nicht nur (Körper-)Konzepte und Muster, Wunschökonomien und -territorien, sondern an ihm zeigen sich auch das Selbstverständnis und die Geschichte der Moderne. Es geht aber nicht darum, einen – umfassenden – Abriss der Geschichte der Moderne oder des modernen Körpers zu präsentieren. Die folgenden Ausführungen richten sich vielmehr auf Körperrhetoriken, -praktiken und -technologien im Archiv des Körpers, das spezifische Körperbilder und -konzepte 1 | Slavoj Zizek weist am Beispiel von Patricia Highsmiths Geschichte Black House darauf hin, wie ein Objekt als phantasmatischer Raum, als eine Art Leinwand für die Projektion von Begehren funktioniert, das Objekt (»Objekt a«) erscheint von einem nüchternen, unbeteiligten Standpunkt aus als leerer Raum, mit einem vom Begehren getragenen Blick erscheint es als phantasmatischer Raum, als phantasmatisches Objekt a, »das nur mit dem durch das Begehren ›verzerrten‹ Blick wahrgenommen werden kann, ein Objekt, das für einen objektiven Blick nicht existiert. Mit anderen Worten, das objet petit a wird immer, per Definitionem, ›verzerrt‹ wahrgenommen, da es außerhalb dieser Einstellung ›an sich‹, nicht existiert, d.h., da es nichts ist als die Verkörperung, die Materialisierung dieser Entstellung, dieses Mehrs an Verwirrung und Unruhe, die das Begehren in die sogenannte ›objektive Realität‹ bringt« (Zizek, Slavoj: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur, 3. unveränderte Auflage. Wien: Turia + Kant 2000, S. 18-28, hier bes. S. 27). Die Logik des Begehrens macht aus dem Objekt, das an sich nichts bedeutet, ein Objekt, das Bedeutung hat; d.h., das Begehren löst »eine ganze Kette von Konsequenzen aus, die unser ›materielles‹, ›wirkliches‹ Leben und Handeln bestimmen« (ebd., S. 28).

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sowie ein spezifisches Körperwissen ermöglicht und hervorbringt. Dabei geht es auch um Praktiken der  – öffentlichen  – Sichtbarmachung und Zurschaustellung, die personifizierte und repräsentative Verkörperung ­physischer und symbolischer Anforderungen und die entsprechende Modellierung des Körpers. Gemeint sind mit dem ›Archiv‹ nicht Praktiken des archivierenden Sammelns oder etwa Orte des Speicherns wie »die Einrichtungen, die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren […], die man im Gedächtnis behalten will«2 . Die folgenden Betrachtungen schließen an Foucaults einflussreiche Überlegungen an, der den geläufigen Begriff des Archivs im Grunde in sein Gegenteil verkehrt und gegen den institutionalisierten Aspekt der passiven Ablegung und neutralen Speicherung die Zeitlichkeit des Wissens ins Spiel bringt: Es sind die historisch variablen Faktoren, die spezifischen historischen Formen des Wissens und »das Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und das Verschwinden von Aussagen […] bestimmen«3, die Foucault Archiv nennt. Das Archiv ist also nicht der Ort, an dem Dokumente gelagert oder gespeichert werden, sondern es ist »das, was die Diskurse in ihrer vielfachen Existenz differenziert«4. Diskurse sind aber nicht lediglich Ent-Faltungen einer epistemischen Logik oder Struktur, die die historischen Faltungen diskursiver Formationen festlegt und damit die Offenheit und Unabgeschlossenheit von Diskursen leugnet. Ebenso wenig wie das Archiv ein statischer Speicher von Aussagen und Diskursformationen ist, bildet es eine festgelegte Regel. Vielmehr ist es ein dynamisches System, in dem das Gesagte immer wieder be- und überarbeitet wird, und das damit wiederholten Umschichtungen und Transformationen unterliegt.5 2 | Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, hier S. 187. 3 | Foucault, Michel: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 1, 1954-1969. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, hier S. 902; vgl. dazu Foucaults Ausführungen zum Feld diskursiver Ereignisse und zum Archiv: M. Foucault: Achäologie des Wissens, S. 183-190; vgl dazu auch Knut Ebelings Ausführungen zum ›Archiv‹ in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart Metzler 2008, hier S. 221-222. 4 | M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 188 5 | Vgl. Bublitz, Hannelore: Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewussten. Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften. Frankfurt

1 Einleitung

Die Moderne aus der Perspektive des Archivs des Körpers zu rekonstruieren, heißt, den Blick auf die technisch-medialen Konstruktions- und Regulierungsapparate sowie die Phantasmen, aber auch die ­biopolitischen Technologien, die paradigmatisch in eine Körperkultur der Lebens- und Leistungssteigerung und deren permanente Optimierung münden, zu richten. Damit zugleich richtet sich der Blick auch auf das Verhältnis von Körper-Technik(en), die Materialisierung von Körperwissen und Sozialität. Diese Perspektive schließt den Körper als natürliche Ressource gewissermaßen aus. Der Körper kann nicht als vorgeschichtliches Medium verstanden werden. Stattdessen wird auf die Historizität des Körpers verwiesen. Das bedeutet, zu zeigen, dass Dinge, die als evident oder gar natürlich erscheinen, »zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind«6 und deshalb a.M.: Campus 1999, hier S. 222-227; Bublitz, Hannelore.: »Differenz und Integration. Zur diskursanalytischen Rekonstruktion der Regelstrukturen sozialer Wirklichkeit.«, in: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1: Theorien und Methoden, 3. erweiterte Auflage. Opladen: Leske+Budrich 2011, S. 245-282; zur Problematik der Dynamisierung des Archivbegriffs und der – machtpolitischen – Implikationen sowohl der Umschreibungsprozesse als auch der Bedeutung der Medien, die dabei zum Einsatz kommen vgl. Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. München: Fink 2005, S. 17-27. 6 | Foucault, Michel. »Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982)«, in: L.H. Martin/H. Gutmann/P.H. Hutton (Hg.): Technologien des Selbst. Frankfurt a.M.: Fischer 1993, hier S. 16. Foucault entwickelt sein genealogisches Verfahren der Geschichtsrekonstruktion in Anlehnung an Nietzsches Genealogie der Moral. In seinem Aufsatz »Nietzsche, die Genealogie, die Historie.« geht Foucault von der »Ereignis- und Leibhaftigkeit« historischer Prozesse aus. In der Absage an jegliche Metaphysik des Ursprungs, der Kausalität und Teleologie beschreibt Foucault »die Geschichte mit ihren Mächten und Ohnmachten, mit ihren geheimen Rasereien und Fieberstürmen« als »Leib des Werdens« (Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie.«, in: Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens. München: Hanser 1974, hier S. 88). An die Stelle metaphysischen Ursprungsdenkens setzt die Genealogie unzählige Anfänge, diskursive Kreuzungen und Ereignishaftigkeit, Zwischen- und Zufälle statt Kontinuität; vgl. dazu auch Bublitz, Hannelore: »Geheime Rasereien und Fieberstürme: Diskurstheoretisch-genealogische Betrachtungen zur Historie.«, in: Jürgen Martschukat (Hg.):

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auch die Umdeutung und Verschiebung gewohnter Denkweisen mit sich bringt. Geschichte erzeugt und hinterlässt Spuren am Körper, performative Umschriften, die immer wieder überschrieben werden; »sie schreibt sich in das Nervensystem, in das Temperament, in den Verdauungsapparat ein« 7, »am Leib findet man das Stigma der vergangenen Ereignisse […], dem Leib prägen sich die Ereignisse ein« 8. Die Geneaologie rekonstruiert – als machttheoretisches, historisches Verfahren – die Verschränkung von Körper und Geschichte. Das heißt aber auch: Es gibt nichts Feststehendes; der Körper vereinigt als Schauplatz der Verschränkung historischer und körperlich-leiblicher Ereignisse und Prozesse »alle Anzeichen von Überwältigungsprozessen und den jedes Mal dagegen aufgewendeten Widerständen auf sich. Seine (Körper-)Geschichte ist zugleich ein untrügliches An-Zeichen einer ›fortgesetzten Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen‹, die seine Gestalt immer wieder verflüssigen«.9 Mit dem Körper ist aber nicht nur die ›Leibhaftigkeit‹ von Geschichte verbunden, »sondern auch das Phantasma des Körpers als fiktiver Ort dessen, was er nie gewesen ist: Natur oder besser noch Natürlichkeit, Abstammung, Geschlecht, Integrationsmedium heterogener Eindrücke, Selbstvervollkommnungsinstrument. Erst recht der Sozial-, Volks- oder Gesellschaftskörper verweist auf eine Leerstelle, dort, wo der Ein-Druck einer Homogenität entsteht«.10 Der Körper ist gewissermaßen das ›Zentralorgan‹ der Gesellschaft. Und auch wenn die Disziplinierung des Körpers und die räumlich-geometrische Anordnung von Körperbewegungen nicht erst mit der Moderne beginnen, hat der Körper erst in der Moderne zentrale Bedeutung für die Machbarkeit und Gestaltbarkeit der Gesellschaft und des Menschen (als Individuen und Kollektive).11 »Ausgangspunkt und Zielscheibe einer Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt a.M.: Campus 2002, S. 29-41 und Nietzsche, Friedrich: »Genealogie der Moral.«, in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von G.Colli/M. Montinari. München: dtv 1999. 7 | M. Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, S. 90. 8 | Ebd., S. 91. 9 | H. Bublitz: Geheime Rasereien und Fieberstürme, S. 40; F. Nietzsche: Genealogie der Moral, S. 314 (Anm. 14). 10 | H. Bublitz: Geheime Rasereien und Fieberstürme, S. 40-41. 11 | Vgl. dazu ausführlich Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhr-

1 Einleitung

Objektivierung, Metrisierung und Fragmentierung von Bewegung […] ist der menschliche Körper, dessen Bewegungen zunächst an geometrische Raummuster angeglichen und dann einer linearen Zeitordnung unterworfen werden«.12 Der Körper wird – in der Moderne – wie eine Landkarte vermessen und kartografiert. Er ist, was er ist, nicht von Natur aus. Semantisch entzifferbare Codes versehen ihn mit Bedeutung(en);13 so wird er gelesen und decodiert wie eine Schrift, ein Buch.14 Von sich aus bedeutet der Körper nichts, er hat selbst keine eigenständige Bedeutung. Es kamp 1997; Lippe, Rudolf zur: Naturbeherrschung am Menschen, 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974; vgl. kritisch dazu: Duerr, Hans Peter: Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozess. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. Duerr wendet sich gegen die Linearität der historischen Entwicklung, vor allem gegen die Annahme (von Elias), dass sich ein Körperschamgefühl erst in der modernen Gesellschaft herausbilde und das Problem der Entblößung, Nacktheit und Scham in der mittelalterlichen Gesellschaft gänzlich anders, nämlich freier gehandhabt wurde als in der modernen. Duerr geht davon aus, dass es auch im Mittelalter ein in den Blick integriertes Schamgefühl gab. 12 | Klein, Gabriele (Hg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld: transcript 2004, hier S. 8. 13 | Vgl. u.a. Sarasin, Philipp: »›Mapping the body‹. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ›Erfahrung‹.«, in: Historische Anthropologie 7, Heft 3 (1999), S. 437-451; Wilk, Nicole: Körpercodes. Die vielen Gesichter der Weiblichkeit in der Werbung. Frankfurt a.M.: Campus 2002. 14 | Das ›Buch des Lebens‹ (Craig Venter) lässt sich, so argumentiert die Molekularbiologie, im Körper ablesen und entziffern; aber die wissenschaftshistorische Lesart ist die, dass diese Form der Entzifferung des Lebens, die dem ›genetischen Code‹ einen zentralen Stellenwert zuschreibt, in Wirklichkeit, unter dem Einfluss der Informatik, eine Kommunikation der ForscherInnen mit dem Körper ist, die den Körper wie einen Text betrachtet. Die ›Entzifferung‹ des Körpers ist dann gewissermaßen der ›Schreibprozeß‹, der dem Körper einschreibt, was er an ihm abliest. Es geht also hier nicht um die Decodierung, sondern um eine Codierung des Körpers; der Körper wird als Träger – von Genen – codiert und entziffert. Das bedeutet, der Körper spricht nicht zu uns, sondern er wird – durch Einschreibungen – zum Sprechen gebracht; vgl. dazu Fox-Keller, Evelyn: Das Leben neu denken. München: Kunstmann 1998; dies.: Das Jahrhundert des Gens. Frankfurt a.M.: Campus 2001; Kay, Lily E.: Who Wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code. Stanford: Stanford University Press 2000.

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ist ein Supplement, das ihm (hin-)zugefügt wird und seine physischen Grenzen, nicht erst als Techno-Körper, überschreitet. Das Supplement ergänzt, es fügt (sich) hinzu, »es ist ein Surplus […]« 15, ein Überschuss, der über das Wesen(tliche oder Notwendige) hinausgeht oder gar auf einen Mangel oder eine Leere verweist. Aber auch der Körper selbst ist solch ein Supplement, das hinzukommt oder sich an die Stelle setzt; Körper füllen eine Leere, sie repräsentieren ein Abwesendes, das sonst nicht präsent oder sichtbar wäre. »Das Supplement […] gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich an-(die)-Stelle von; wenn es auffüllt, dann so, wie man eine Leere füllt. Wenn es repräsentiert und Bild wird, dann wird es Bild durch das vorangegangene Fehlen einer Präsenz«.16 Am Körper zeigt sich, was sich dem Auge entzieht, eher unauffällig oder verborgen bleibt: Machtausübung und -fülle ebenso wie Unterwerfung, soziale Regeln und Ordnung, abzulesen an seiner Topografie und Morphologie, seinen Haltungen und Gesten. Am Körper und seiner Oberfläche wird aber auch ›gesehen‹, abgelesen und (ab-)gemessen, was nicht unmittelbar evident ist und sein kann, sondern, an und mit ihm hervorgebracht, nur dem strukturierten Beobachterblick zugänglich ist, der den Körper zerlegt, re-strukturiert und rastert und ihn dadurch für Be- und Zuschreibungen zurichtet. Geschlecht und Rasse sind Beispiele dafür. Der Körper ist uns als Bild-Körper zugänglich, der über die bloße Abbildung der Physis hinausgeht. Im Bild-Körper erscheint das, was ›abwesend‹ ist, als Repräsentation, nicht im Sinne einer Abbildung, sondern im Sinne einer stellvertretenden Repräsentation, die den dargestellten Kör15 | Derrida, Jacques: Grammatologie, 5. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, hier S. 250; ich verwende den Begriff des Supplements in Anlehnung an Christine Hankes Untersuchung der Konstitution von Rasse ›zwischen Evidenz und Leere‹ im Diskurs der physischen Rassenanthropologie des 19. Jahrhunderts; vgl. Hanke, Christine: »Zwischen Evidenz und Leere. Zur Konstitution von ›Rasse‹ im physisch-anthropologischen Diskurs um 1900.«, in: Hannelore Bublitz/Christine Hanke/Andrea Seier (Hg.): Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900. Frankfurt a.M.: Campus 2000, S. 179-235; dies.: Zwischen Auflösung und Fixierung. Zur Konstitution von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in der physischen Anthropologie um 1900. Bielefeld: transcript 2007. 16 | Derrida, Jacques: Grammatologie, S. 250.

1 Einleitung

per figuriert und dabei Fiktives und Imaginäres hinzufügt. Insofern beinhaltet der gezeigte Bild-Körper immer einen (Bild-)Überschuss. Diese (Bild-)Überschüsse produzieren fiktive Körperbilder, die die Choreografie der Personen, die sie verkörpern (wollen oder sollen), durch die Inszenierung von Bewegungsabläufen, Gesten, Mimiken und Posen diktieren. Politisch und gesellschaftlich repräsentiert der Körper Ordnung und Macht. Als Bevölkerungs- und Gesellschaftskörper politisch angeordnet und ökonomisch organisiert, bildet er gewissermaßen das zentrale Medium der Repräsentation der sozialen Ordnung, die »Physis des Gesellschaftslebens«17. Als politischer, symbolischer Körper konfiguriert er symbolisch den ›künstlichen‹ Menschen des Staates, die Bevölkerung. Macht konstituiert sich nicht primär über souveränes Recht, sondern durch Haltungen, durch Mechanismen der Disziplin und einer Souveränität, die sich am Körper zeigt. Auf der anderen Seite Ohnmacht, Unterordnung und Hinfälligkeit; auch sie zeigen sich in Körperbewegungen, -haltungen und Gesten. Als Kollektivkörper, der von der (Versammlungs-)Masse gebildet wird, repräsentiert er, wie diese, willenloses Handeln und triebgesteuerte Bewegungsabläufe; als solches geht von ihm, wirft man einen Blick auf die Diskurse zu Masse und Körper, Gefahr für die soziale Ordnung aus.18 Der Massenmensch ist, so scheint es, bloßer physikalischer Körper, ein Aggregatzustand, ein Automat, der programmiert ist und vom Kollektiv gesteuert wird.19 Er bildet den Gegenpol und das Gegenbild zum

17 | Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, 3. Auflage. Zürich/Berlin: diaphanes 2008, hier S. 38. 18 | Vgl. u.a.: Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen [1885]. Stuttgart: Kröner 1975; Canetti, Elias: Masse und Macht. Hamburg: Claassen 1960; Sloterdijk, Peter: Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000; vgl. dazu auch: Bublitz, Hannelore: In der Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur. Bielefeld: transcript 2005, S. 31-62. 19 | Vgl. dazu u.a. Bartz, Christina: »Die Masse und der Automat als Metapher und als Modell.«, in: Hannelore Bublitz/Irina Kaldrack/Theo Röhle (Hg.): Automatismen – Selbst-Technologien. München: Fink 2013, S. 261-274.; vgl. auch H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert.

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bürgerlichen Subjekt, das sich in ihm aufzulösen scheint und seine Autonomie verliert.20 Der visuellen Inszenierung ökonomischer Macht durch möglichst detailgetreue Abbildung von Insignien, materiellen Gütern und Körper-Posen entspricht die Visualisierung sozialer Ausschließungen – am Körper. Eingegliedert in eine Ökonomie körperlicher Bewegung(sabläufe) und ökonomischer Kalküle rückt seine Funktion als Bewegungsapparat und Beschleunigungsinstrument in den Vordergrund. Auch wird er zum Zentrum der Bewegung, zum Ort, an dem Bewegung(en) gespeichert und quasi unbewusst abgerufen werden, aber auch zum Ort, an dem Bewegungsbilder anschaulich transportiert werden. Und schließlich veranschaulicht der Körper als Körpermaschine, wie sich tayloristische Fabrikarbeit in die Technisierung körperlicher Abläufe übersetzt und zur modernen Form der technologischen Erweiterung und Kontrollierbarkeit des Körpers avanciert; dies nicht zuletzt auch im Kontext der gegenwärtigen biopolitischen Durchdringung des Körpers mithilfe von Technologien, als Techno-Körper, Cyborg. Die Archäologie körperlicher Haltungen und Posen gibt Aufschluss über kulturelle Gewohnheiten und soziale Zwänge, aber sie zeigt auch, dass der Körper sich nicht immer und überall umstandslos einfügt in das Arsenal gesellschaftlicher Ordnung(en), sondern sich widersetzt, oft präreflexiv oder unbewusst. Aus dieser Perspektive erscheinen ›Selfies‹ wie Bilder einer Ausstellung, deren Objekte sich der Anonymität einer gesichtslosen Masse widersetzen. Sie geben der Masse der Vielen ein Gesicht – und erscheinen gewissermaßen als Doppelgänger einer lebendigen physischen Person, »Identifikationsfiktionen«, dem Betrachter zum Verwechseln ähnlich, »Instrumente für simulierte Ähnlichkeiten«21, – künstlich. Und sie bilden 20 | Vgl. dazu Bublitz, Hannelore: »These 4: Automatismen formieren Subjekte.«, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winkler (Hg.): Automatismen. München: Fink 2010, S. 30-35; vgl. auch Bublitz, Hannelore: »Täuschend Natürlich. Zur Dynamik gesellschaftlicher Automatismen, ihrer Ereignishaftigkeit und strukturbildenden Kraft.«, in: Hannelore Bublitz/Roman Marek/Christina L. Steinmann/Hartmut Winker (Hg.): Automatismen. München: Fink 2010, S. 153-172. 21 | Groebner, Valentin: Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine. Frankfurt a.M.: Fischer 2015, hier S. 12.

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nicht einfach ab, sondern produzieren performative Entwürfe, die ständig revidieren, was sie abbilden und damit Bewegung in eine Sache bringen, die, wie das Bild und das Foto, fixiert, Stillstand produziert. Selfies sind Fotos, die als flüchtiger Schnappschuss Beschleunigung festhalten, und da sie ständig produziert werden, immer wieder auswechseln und ablösen, was gerade produziert wurde. Produziert wird schnell und zum Verbrauch, Konsum auf der Ebene der Körper-Bilder. Das Selfie ist eine Signatur unserer Zeit. »Die mit ausgestreckten Armen geschossenen und auf allen Social Networks geteilten ›Selfies‹ haben sich in unsere visuelle Alltagskultur eingeschrieben«.22 Grundlegende Figur der Selbstdarstellung in der medialen Gegenwarts-Öffentlichkeit ist die Person, die sich in einem Raum realisiert, in dem die einzelnen sind und sein wollen, was sie darstellen. Zentrales Medium dieser Selbstdarstellung ist der Körper. Am Körper zeigen sich Haltungen, zeigen sich das Geschlecht und die Geschichte. Der Körper verweist auf etwas, das ihm (hin-)zugefügt wird, das er erleidet, erduldet oder von sich aus wählt. Angeordnet mit Objekten der Konsumwelt, präsentiert der Körper, was er noch nicht ist. Was er darstellt, ist ein Image, eine Imago, die über das hinausgeht, was er ist. »Bei der Imagepflege steht weniger die Authentizität des Selbst im Vordergrund, sondern vielmehr die Erzeugung eines solchen Eindrucks«.23 Hier geht es vor allem darum, »sich als ein sozial attraktives Subjekt zu stilisieren«24 – und das geschieht über den Körper, seine Posen und Objekte, mit denen er sich zusammenschließt. Die Objekte des Alltags, Personen und Situationen gehören gewissermaßen dazu. Gegenstände, materieller Besitz, nicht transzendente Dimensionen des eigenen Ich, werden Bestandteil des eigenen Körpers, sie werden, wie Baudrillard annimmt, »verpersönlicht«: »Der Gegenstand lässt sich am leichtesten ›verpersönlichen‹ und verbuchen. Und von dieser subjektiven Buchhaltung ist nichts ausgenommen, alles kann besessen 22 | Titton, Monica: »#RICH. Zur medialen Inszenierung von Luxus und Reichtum in Instagram und im Reality-Fernsehen.«, in: Sabine Schulze/Esther Ruelfs (Hg.): Fette Beute: Reichtum zeigen. Bielefeld/Berlin: Kerber 2014, hier S. 189. 23 | Goffman, Erving 1986: 100, zitiert nach Reichert, Ramón: Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. Bielefeld: transcript 2008, hier S. 76. 24 | R. Reichert: Amateure im Netz, S. 36.

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und investiert, in eine Kollektion geordnet, klassiert und verteilt werden. Der Gegenstand ist so, streng genommen, wie ein Spiegel: Die Bilder, die er widerstrahlt, können nur aufeinander folgen, einander aber nicht widersprechen«. 25

Die Bilder verschmelzen den Körper mit den Objekten der Alltagswelt; er überschreitet, nicht nur wegen der Beziehung zu Objekten, sich selbst. Der so in Szene gesetzte Körper ist mehr als seine physische Erscheinung; was er verspricht sind, angeordnet im Sinne einer Werbekampagne, Zukunft, Erfolg, wenn möglich Reichtum und Vergnügen. Das Augenmerk richtet sich auf die Visualisierung des Möglichen. Auf die Frage nach den Beweggründen, antworten viele: »Das ist, was wir sein wollen«. Alles, was auf Instagram fotografiert und auf Facebook geliked wird, ist Gegenstand eines sozialen Rankings, das eine Person bewertet, die sich überindividuell und persönlich zugleich präsentiert und der Anonymisierung des Individuums in der modernen Gesellschaft durch Praktiken des demonstrativen Konsums und mit ästhetischen Körperpraktiken begegnet. In der Kultur der Gegenwart bilden Körper quasi demonstrative künstliche Aufmerksamkeitsmaschinen, die, wie zuvor Waren, Werbung machen für ihre Besitzer, singuläre, unternehmerische Subjekte, die, einem ›click‹-Fetischismus verfallen, Aufmerksamkeiten wie eine Währung einsammeln und akkumulieren. Darüber hinaus aber kommt es zu einem paradoxen Prozess der ›Refeudalisierung‹ in der Gegenwartsgesellschaft, in dessen Vollzug sich »tradierte Muster der Sozialordnung in neuartiger Weise aktualisieren«26, die die alte Struktur des Öffentlichen als bloße Repräsentation gesellschaftlicher Macht wiedererstehen lassen. Die Frage ist, ob nicht auch die Körper-Bilder Ausdruck einer Refeudalisierung sind; allerdings in einem anderen Sinne, nämlich in dem, dass hier die Vielen, die noch im Leviathan, dem Betrachter abgewandt, gesichtslos blei25 | M. Titton: #RICH. S. 190; vgl. dazu: Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt a.M./N.Y.: Campus 1991, S. 21ff. 26 | Neckel, Sighard: »›Refeudalisierung‹ – Systematik und Aktualität eines Begriffs der Habermas’schen Gesellschaftsanalyse.«, in: Leviathan, 41 (1) (2013), hier S. 48; vgl. auch Neckel, Sighard: »Die neuen Oligarchien – Vorboten der Refeudalisierung.«, in: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, S. 20-23; Neckel, Sighard: »Die Refeudalisierung des modernen Kapitalismus.«, in: Heinz Bude/Philipp Staab (Hg.): Frankfurt a.M./New York: Campus 2016, S. 157-174.

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ben, ein Gesicht bekommen. Diese Refeudalisierung verbindet sich mit postmodernen Selbsttechnologien. Gegenwartsanalysen (post-)moderner Gesellschaften machen deutlich, dass postdisziplinäre Selbsttechnologien – kompetitiver Singularitäten – nicht aus der Perspektive disziplinärer Kontrolltechnologien zu erschließen sind, sondern auf Formen gouvernementaler (Selbst-)Führung beruhen, die feedbackgesteuerte Kontrollkreisläufe ins Subjekt verlagern und sich auf laufend aktualisierte Profile richten. Auch hier, auf visuell-ästhetischer Ebene, findet also gewissermaßen eine ›Refeudalisierung‹ der Gesellschaft statt, in der die Person demonstrativ-feudal darstellt und verkörpert, was die Gesellschaft und die neuen Feudalherren einer globalen Finanzordnung vorgeben zu sein. Dabei zeigen die auf Instagram und anderen sozialen Medien präsentierten Motive eigentlich nur, was uns umgibt: Konsumwelten oder besser, »aktuelle Taxonomien des demonstrativen Konsums«27. Der Körper wird zum Medium, das dafür sorgt, dass der Austausch von Finanzströmen unsichtbar bleibt und stattdessen der Körper zum Schau-Objekt wird, an dem sich unablässig das Maskenspiel von ›natürlich erscheinen und verstellt zu sein‹, gesellschaftlichem Ausschluss und sozialer Zugehörigkeit vollzieht. Der ›Gesellschaftskörper‹, der gleichsam die ›Physis des Gesellschaftslebens‹ ausmacht und die Choreografie der Personen steuert, lässt sich kaum noch als ein Gesellschaftskörper beschreiben, wie er für die bürgerliche Moderne und begrenzt, auch für die standardisierte Massenkultur, wenn auch als Imagination einer homogenen Masse, beschreibbar war. Vielmehr scheint es, dass sich in der Gesellschaft eine körperorientierte Kultur(ästhetik) entfaltet, die den Körper als Gegenstand eines singulären Lebensstils, der darin eingeschlossenen Pflicht zur Selbstoptimierung und Attraktivität sowie einer expressiven medialen Körperpräsentation singularisiert. Dass es dabei durchaus zu kollektiven Mustern und Musterbildungen kommt, wird nicht – mehr – einem Kollektivsubjekt oder -körper zugeschrieben, sondern an mediale Infrastrukturen und Algorithmen delegiert. Alles ist künstlich inszeniert. Die spezifische historisch-gesellschaftliche Konzeption und Codierung des Körpers und das, was über den Körper gedacht und gesagt wird, bildet den Gegenstand der folgenden Betrachtungen. Im Feld der Sichtbarkeit angeordnet, verweist der Körper auf Prozesse, die sich der bloßen Oberflächenwahrnehmung entziehen. Dabei war der 27 | M. Titton: #RICH. S. 189.

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Körper selbst in der abendländischen Kulturgeschichte lange Zeit ›unsichtbar‹, wie traumhafte Gebilde verdrängt, dem Geist und der Vernunft untergeordnet, die ihn beherrschen, wenn nicht unterwerfen, zumindest aber bewusst handhaben, kontrollieren und steuern sollten. Als Inbegriff triebhafter Natur und gewaltförmiger Unmittelbarkeit ein Unding. Von Descartes über Kant bis zur Dialektik der Aufklärung bildet der Körper das Andere der Vernunft.28 Der Körper trug – nicht nur als Automat und Maschine – das Stigma des Minderwertigen, Rohen und Primitiven und war als Denkfigur abendländischen Denkens diskreditiert. Der hier vorgeschlagene Weg ist ein anderer. Gegen den Körper-Geist-Dualismus gerichtet wird körperliche Materialität nicht als Gegensatz zu Geist und Form betrachtet, vielmehr richtet sich der Blick gewissermaßen vom Körper auf die Konstruktionsapparate physisch-körperlicher Materialitäten ebenso wie auf die phantasmatischen Dimensionen, die den Körper in einen imaginären Raum stellen und über den Rahmen des bloß physischen Körpers hinausgehend in Körperbildern anwesend sind, ohne für den objektiven Betrachter wirklich sichtbar zu sein; Physisches und Phantasmatisches greifen im Archiv des Körpers ineinander. Des Weiteren fällt der Blick auf die gesellschaftliche Anatomie des Körpers, dessen Haltungen und Handlungen im Sinne einer ›sozialen Magie‹ operieren, wonach komplexe soziale Situationen durch eine Eigendynamik präreflexiver, performativer Prozesse gesteuert werden und nicht durch absichtsvolle Intentionen, die im Willen und Bewusstsein handelnder Subjekte ihren Ursprung haben. Das Augenmerk richtet sich hier auf die – unbewusste – Inkorporierung, Verkörperung von Praktiken und deren körperlich-materielle Ausübung. Das Archiv des Körpers bildet, wie eingangs schon deutlich gemacht, den historisch situierten epistemischen Diskursraum, in dem spezifische Körperkonzepte, Körperbilder und Codierungen des Körpers hervorgebracht werden und sich Topografien des Körpers verändern. Es zeigt ein historisches Körperwissen, das sich in Körpermodellen und -praktiken wie auch in spezifischen Körperdispositionen und Formen der Sozialität materialisiert. Damit markiert es zugleich die Grenze zu anderen Wissensräumen. Gegen die Vorstellung, der Körper sei bloße 28 | Vgl. u.a. Böhme, Hartmut/Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985.

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Natur, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass der Körper sich historisch im Kontext spezifischer Konstruktionsapparate, Medien und Techniken materialisiert; allerdings aufgrund seiner Evidenz als Natur erscheint. Aufgrund von Naturalisierungsprozessen erscheint auch Kultur, erscheinen soziale Einteilungen und Klassifikationen als natürliche.29 Das heißt dann aber auch, dass kulturelle Körpermodelle und Körpercodes in spezifischen historischen (Wissens-)Regimen entstehen, die gewissermaßen das Repertoire möglicher Materialisierungen bilden. ›Der Körper‹ bildet also durchaus ein historisches Spektrum heterogener Elemente, das jeweils konkrete historische Formen annimmt. Dieses Spektrum soll für die Moderne in groben Zügen entfaltet werden; insbesondere soll deutlich werden, welches Bild vom Körper jeweils produziert wird. Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit theoretischen Zugängen zum Körper, seiner Materialisierung und Materialität. Zunächst wird angenommen, dass Materie immer in einer bestimmten Form auftritt. Im Anschluss an Butlers sprachtheoretisches und Foucaults diskurstheoretisches Programm wird davon ausgegangen, dass der Körper sich performativ, in der ständigen Wiederholung diskursiver Praktiken und in bestimmten historischen Formen materialisiert, die unabgeschlossen bleiben. Damit verbunden ist die Infragestellung des Körpers als der sprachlichen Benennung und diskursiven Formation vorgängige Naturressource – und die Rekonstruktion seiner Historizität und erzwungenen Materialisierung. In einem weiteren Schritt wird skizziert, wie der Körper, der in die christlich-abendländische Kulturgeschichte als Objekt einer Leidens- und Erlösungsgeschichte eingeschrieben ist, dem öffentlichen Spektakel und dem Kreuz der permanenten Sichtbarkeit ausgesetzt wird. Der Körper bildet aus dieser Perspektive ein Massenmedium der (Vor-)Moderne, dessen Marter, wie Foucault historisch anschaulich macht, in der Vormoderne öffentlich zur Schau gestellt wird, um dann hinter den Gefängnismauern zu verschwinden. Die weitere historische Rekonstruktion des Körpers im Archiv zeigt, dass die Formen der Sichtbarmachung des Körpers nicht nur immer technischer und abstrakter werden und zunehmend automatisiert und 29 | Vgl. dazu ausführlich auch H. Bublitz: Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten, S. 199-222.

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anonymisiert durch Apparate, Institutionen und (Daten-)Technologien erfolgen, sondern darüber hinaus auch eine phantasmatische Funktion erfüllen. Der Körper wird, als modellierbares Objekt und leistungsfähige Selbstvervollkommnungsmaschine, auch hier Leidenskörper, mithilfe von technischen (Konstruktions-)Apparaten (re-)konstruiert und medial präsentiert. Er wird Teil eines imaginären, phantasmatischen Raums, in dem die Grenzen des physischen Körpers fließend sind und sich mit Techniken und Technologien der Körpermodifikation verbinden. Was der sichtbare Körper verbirgt, ist die Ökonomie, sind die ökonomischen Beziehungen, die die Gesellschaft regeln, aber intransparent bleiben. Kapitel 4 befasst sich mit dem Archiv des Körpers in der Moderne in verschiedenen historischen und sozialen Kontexten. Der diskurstheoretische Zugang zum Archiv des Körpers rekonstruiert exemplarisch historische Körpermodelle, Formen der Repräsentation, der Codierung und Modellierung des Körpers. Hier zeigt sich, dass die Körperkonzepte in der Moderne sich vom Leib als lebendiger Materie verabschieden. Stattdessen rekurrieren sie auf eine körperliche Materialität, die im Sinne einer technischen Konfiguration modellierbar ist. Dies gilt auch für das Verhältnis von Körper und Sozialität. Zunächst fällt der Blick auf den politischen Körper im klassischen Zeitalter der Vormoderne; er zeigt den Körper des Souveräns als repräsentativ im öffentlichen Raum zur Schau gestellten Körper, der sich in einen vergänglichen, sterblichen Körper und einen symbolischen, unsterblichen Körper verdoppelt. Er personifiziert und repräsentiert Macht im öffentlichen Raum. Kehrseite seiner öffentlichen Sichtbarkeit, die einen demonstrativen Teil der souveränen Herrschaft bildet, ist die dem Zuschauer/Betrachter abgewandte Seite, nämlich die Bevölkerung, die weder Gesicht noch Körper hat und insofern entmaterialisiert ist. Dann wendet sich das Blatt  – und die Bevölkerung und ihr Körper werden, wie jeder einzelne, sichtbarer Gegenstand einer politischen Ökonomie, die die Kräfte des Körpers nicht nur verwaltet, sondern sie  – bis in die ›Automatik der Gewohnheiten‹ – steigert. Der Blick richtet sich nun auf den Körper der Unterworfenen, deren Disziplin nicht freiwillig erbracht, sondern institutionell erzwungen wird. Dass die Optimierung der Körperkräfte Grenzen hat, zeigt sich zwar am lebendigen Körpermaterial; allerdings um den Preis, dass der Körper, nun angeordnet im Feld der Sichtbarkeit und ausgerichtet an einer anonymen Beobachtungsmaschinerie, selbst wie eine Maschine funktioniert, also auch hier entkörpert

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wird. Dem entspricht, dass Sozialität quasi als Körper gedacht wird, dessen Prozesse scheinbar durch ›unsichtbare Hände‹ gesteuert werden. Letztlich verdoppelt sich auch der souveräne Volkskörper der modernen Gesellschaft in den sterblichen Körper biologischer Prozesse auf der einen Seite, dessen begrenzte Nutzung und Lebensdauer Gegenstand einer staatlich regulierten Biopolitik der Vor- und Fürsorge wird und auf der anderen Seite in den, so scheint es zumindest, symbolisch unsterblichen Gesellschafts- und Staatskörper sowie der Nation. Auch hier ist der sterbliche Körper Leidenskörper, symbolisch im männlichen Heldentod überhöht, der als verwundeter, zerstückelter Körper Zeugnis ablegt vom Leiden und Opfer, im weiblichen Körper als ›Gebärmaschine‹, aber auch in den Apparaturen der Reproduktionstechnologien eingebunden in eine Leidens- und Erlösungsgeschichte, die in den Experimenten einer bioästhetischen Gouvernementalität für beide Geschlechter im biotechnisch modifizierten ›Auferstehungsleib‹ ihren Ausdruck findet. Aber darum geht es hier nicht. Es geht um die körperliche Figuration des Politischen – und das, was in der öffentlichen Sichtbarkeit und Zurschaustellung unsichtbar bleibt oder wird. Anschließend geht es um konstruierte Sichtbarkeiten, die Visualisierung und Messung von Körperteilen. Hier wird die Aufteilung des Körpers in Partialobjekte, die Vermessung und das willkürliche Zusammenfügen von Körper-Teilen zu einem Körper zur Methode der Bestimmung von Geschlecht und Rasse. Im weiteren Fortgang zeigt sich, dass der Körper, gegen alle Widerstände, als Automat und Maschine zur Signatur der Moderne und zur Chiffre des Lebendigen wird. Technisch und gesellschaftlich automatisierten Beobachtungssystemen und Kontrollapparaturen unterworfen, wird der Körper im Detail selbst zum Automat. Unablässig wird der Körper metrisiert und registriert. Die Abstände zwischen den Körpern und die Proportionen und Haltungen am Körper werden an Messwerten und technischen Details ausgerichtet. Es entwickelt sich ein umfassendes Netz von Prozeduren zur Kontrolle und Korrektur von Körperbewegungen und -tätigkeiten, die eingeschrieben sind in das Register vom Menschen als Maschine und ihn einbetten in eine politische Anatomie der ökonomischen Nutzung des Körpers. Sie überzieht und durchdringt den Körper mit einem Netz von Disziplinarmaßnahmen, das ihn als Kräftediagramm aus einzelnen Körperteilen, Bewegungen und Gesten zusammensetzt.

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Zugleich konstituieren Diskurse und Praktiken den Körper als ›reizbare Maschine‹, die die Gesellschaft gegen die ›gefährlichen‹, ›verkommenen‹ Populationen und den krankmachenden ›Dreck‹, den sie am und im Leib haben, immunisieren soll. Eingebunden in eine »Physiologie der sozialen Ordnung« erscheint der hygienische Körper gewissermaßen als zivilisatorische Lebensversicherung der Gesellschaft. Wasser und Frottierhandschuh erscheinen als ihre Werkzeuge. Die Reinigung der Körper und die Reinhaltung des öffentlichen Raums von körperlichen Ausscheidungen bilden die zentralen Elemente eines hygienischen Imaginären. Haut, Muskeln und Nerven werden zu den wichtigsten Körperteilen, die nicht nur als Demarkation sozialer Hierarchien, sondern auch als Instrumente der Arbeitsökonomie eingesetzt werden. Technisch codiert, wird der Körper analog zu einem Nerven-Nachrichtensystem entworfen, dessen ›Informationen‹, die Reize, wie in einem Stromnetz zur Überlastung und zum Zusammenbruch des ›nervösen‹ Körpers führen können. Nervenschwäche erscheint als Körper und Gesellschaft gefährdender Zustand, der letztlich, so der eugenische und rassenhygienische Diskurs im 19. Jahrhundert, zur Degeneration führen könnte. Auch die Sexualität liefert ihren Beitrag zur Gefährdung des individuellen und kollektiven Gesellschaftskörpers; sie erscheint, nicht fortpflanzungsorientiert, als krankmachender Faktor. Und der Körper der Hysterikerin und des Neurasthenikers legt, sich auf bäumend und nervös, Zeugnis ab von einer gesellschaftlichen (Körper-)Ordnung, die ihn überfordert, beunruhigt und nervös macht. Als ›untaugliche‹ und kranke Körper dechiffriert, bäumen sie sich auf gegen ihre funktionstüchtige Domestifizierung und Zurichtung auf eine fortpflanzungsorientierte Sexualität, gegen die Technik(en) der Kontrolle und des – abwesenden – Beobachterblicks, der sie durchdringt und sie Praktiken der Einsperrung, der modifizierenden Intervention und Besserung unterstellt. Der Körper wird zum physischen Gefängnis einer anonym, sozial operierenden Kontrollmacht, die ihn überwältigt und aus dem Ausbruchsversuche nur schwer gelingen. Dieses biotechnisch ausgerichtete Körperkonzept findet sich, in ganz anderer Form, im 20./21. Jahrhundert wieder, wo der Körper, von ›Biound Lebensingenieuren‹ programmiert, quasi-religiöse Züge annimmt. Aus dem Korsett des biologischen, vergänglichen Körpers befreit, nun von einem ›genetischen Pastorat‹ vom Leiden wie von einer Sünde befreit, wird er zum unsterblichen ›Auferstehungsleib‹. Neu an diesem

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Körpermodell ist die – möglichst – friktionslose Verbindung von biologisch-organischen und technisch-kybernetischen Komponenten. Technik wird  – auch hier  – zur Metapher eines vollständig modellierbaren und (re-)konstruierbaren Körpers, dessen Bausteine, die DNA, biotechnologisch austauschbar sind. Dieses DNA-Modell löst den christlichen Leidenskörper ab; es lässt den lebendigen Leib gewissermaßen hinter sich und löst sich von körperlicher Materie. Dabei bildet die DNA gewissermaßen die Kommando- und Kontrollzentrale des Körpergeschehens. Die Molekularbiologie, die Informatik und die synthetische Biologie werden zu Programm(ier)wissenschaften eines Körpers, der von Bio-/Lebensingenieuren geschaffen wird. Der maschinenlesbare Körper der Informatik und Molekularbiologie ist ein Nachfolgemodell des eugenischen Körperkonzepts, dem durchaus eine Neucodierung des Körpers als produktivistischer Fortpflanzungsund konsumistischer Lustkörper wie auch entsprechende Praktiken der Rassenhygiene und der ›freien Sexualität‹ entsprachen. Im 20./21. Jahrhundert verbindet sich Marktökonomie mit eugenischen Maßnahmen, die als individuelle Optimierung und Selbsttechnologie vonstattengehen, um ›Wunschkörper‹ zu produzieren. Beide Aspekte werden in den letzten Abschnitten des 4. Kapitels thematisiert. Das 5. Kapitel befasst sich mit dem Verhältnis von körperlicher Materialisierung, Performativität und Sozialität. Zunächst geht es darum, den Körper als Element einer artifiziellen Architektur der – modernen – Gesellschaft und die Techniken des Körpers als Teil automatisierter Abläufe zu präsentieren. Mit Bourdieus Theorie des Körperwissens wird davon ausgegangen, dass sich soziale Hierarchien und Machtverhältnisse körperlich sedimentieren und sich im Zusammenspiel mit komplexen sozialen Situationen quasi-automatisch aktualisieren. Der Körper handelt demnach nicht nur in Übereinstimmung mit bestimmten Regeln und ritualisierten Praktiken, sondern er ist, wie Butler annimmt, diese sedimentierte Praxis, die auf einem verkörperten praktischen Wissen und Gedächtnis des Körpers beruht. Es gibt demnach einen Kreislauf gesellschaftlicher Konventionen und körperlicher Praktiken, die jene reproduzieren und ritualisieren. Der körperliche Habitus ist Teil einer sozialen Magie, die bestätigt, was ihn ins Leben gerufen hat; er setzt alle Hebel in Bewegung, um Gefolgschaften zu organisieren. Butlers Konzept der Materialisierung sieht den Körper und seine soziale Magie dagegen als stillschweigende Form der Performativität von Sprechakten; sie ist das Mittel,

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Dinge wie den Körper, bezogen auf eine kulturelle Matrix, zu fertigen. Der Körper ist darüber hinaus nicht nur Sedimentierung der Strukturen, die ihn hervorgebracht haben; vielmehr überschreitet er, so Butler, die Normen, die ihn hervorbringen, durch Fehlaneignung und Widerstand, durch die Inkongruenz des Körpers, die Bourdieu vernachlässigt. Kapitel 6 und 7 befassen sich mit aktuellen Formen der Überschreitung, mit Konzepten der Fragmentierung und Erweiterung des Körpers. Technisch aufgerüstet und schier endlos modifiziert, wird der Körper, einem ständigen ›upgrading‹ und ›body enhancement‹ unterworfen, zum Cyborg, zum Techno-Körper, der sich zusammenschließt mit den Technologien, die ihn erweitern. Wenn die Körpergrenzen fehlen, zerfällt der Körper in Partialobjekte oder er erweitert sich zum Körper, dessen biologische Elemente mit technischen kommunizieren. Zunächst geht es im 6. Kapitel um das triebdynamische Körperkonzept (von Freud), das von einem Körperganzen und der Dynamik eines Spannungsausgleichs ausgeht. Das Fehlen von festen Körpergrenzen setzt, so Theweleit im Rückgriff auf seine an einem triebdynamischen Konzept ausgerichteten Ausführungen zum Körper-Ich des soldatischen Mannes und dessen ›Wiedergeburt‹ im Terrorismus der Gegenwart, gewissermaßen eine Tötungsmaschinerie in Gang, die paradoxerweise den Körper, zumindest fiktiv, ganz macht. Unterstellt wird hier ein Körperganzes, ein Phantasma, das sich als folgenreich erweist: Zerstückelt in Partialobjekte, schließt der Körper sich, wie Foucault es für die Körpermaschine der Disziplin beschreibt, mit der Waffe zusammen und operiert gewissermaßen als ›Techno-Körper‹. Dieser Aspekt kehrt im 7. Kapitel wieder, wo skizziert wird, wie sich der Körper, den die Technowissenschaften als dynamischen konzipieren, mit Technologien zusammenschließt: Die Frage ist, gibt es eine Differenz zwischen diesen beiden Konzepten und worin besteht sie? Eine weitere Frage, die sich hier anschließt, ist, ob dieser Aspekt in der Konsummaschinerie, von Reckwitz als »Kulturmaschine« bezeichnet, die den Körper wie Konsumobjekte affektiv besetzt, wiederkehrt: Auch hier zerfällt der Körper in Partialobjekte, auch hier wird er mithilfe von Technologien wieder zu einem Ganzen zusammengesetzt. Kapitel 7 befasst sich mit der Erweiterung der Körpergrenzen durch (Nahkörper-)Technologien (u.a. auch smart textiles) und technisch-medial produzierte Wunschkörper, ›digital beauties‹, die als verdatete Körper im Visier post-panoptischer Verdatungs- und Über- sowie Unterwachungstechnologien stehen.

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Es scheint, als unterliege der Körper, je technischer und perfekter er scheint, einer fortgesetzten Leidensgeschichte, die ihn immer wieder, losgelöst von seiner physischen Materialität, verwundet, zerstückelt und, wie den Auferstehungsleib, wieder ganz macht und erstrahlen lässt. Das technologische Unbewusste schließt sich mit den unbewussten körperlichen Praktiken und Techniken zusammen. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist der Hunger – der Industrie, der digitalen Infrastrukturen und des begehrenden Subjekts  – nach Gestaltung und Umgestaltung, nach mehr Möglichkeiten, die gefallen und zu gefallen, einem selbst und vor allem den vielen anderen. Alles im Plural, auch das eigene Selbst, das sich und die Objekte um sich herum, singularisiert und personalisiert. Dabei werden die Muster, die sich in der Datenspur der – singularisierten – Vielen bilden und die es hinter (sich) lässt, unsichtbar, ebenso wie die Tatsache, dass die Unternehmen von der Singularität der Vielen profitieren. Dieses Begehren nach Mehr, folgt nicht – nur – einer technischen Fortschrittslogik, sondern einer Logik der Ökonomie des Begehrens und Wünschens, die nie zu befriedigen ist. Der Körper ist, wie Konsumobjekte, die Trophäe, das, was wir sein wollen, aber nie erreichen werden. Im Spiegel technisch optimierter Bilder verschwindet die Differenz zwischen Physis und Technik. Es ist die technologische Wiedergeburt des Auferstehungsleibs, der uns von den digitalisierten Körper-Bildern entgegenblickt. Für die kompetente inhaltliche Unterstützung danke ich Dr. Jana Eichmann, die das Manuskript gelesen und nützliche Hinweise gegeben hat. Das Buch wäre in der vorliegenden Form letztlich nicht ohne Svenja Grothe, die sowohl die Formatierung als auch – letzte – Korrekturen vorgenommen hat, zustande gekommen. Beiden danke ich an dieser Stelle mehr als ich es mit Worten ausdrücken kann.

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2 Materialität des Körpers – oder Materie tritt nie ohne ihr Schema auf

»Schema bedeutet Form, Gestalt, Figur, äußere Erscheinung, Kleid, Gestik, die Figur eines Syllogismus und die grammatische Form. Wenn Materie nie ohne ihr schema auftritt, bedeutet das, daß sie unter einer bestimmten grammatischen Form in Erscheinung tritt und daß das Prinzip ihrer Erkennbarkeit, ihre charakteristische Geste oder ihr übliches Gewand, von dem, was ihre Materie konstituiert, nicht ablösbar ist«.1

Konzepte der Verkörperung gehen davon aus, dass der Körper aufgrund seiner ›Intelligenz‹ im Zentrum von emotionalen, kognitiven und sozialen Vorgängen steht, die nicht – nur – auf vorgefasste Absichten zurückzuführen sind, sondern auf die eingespielte und erprobte Einbettung des Körpers in mehr oder weniger komplexe Strukturen verweisen. Die Intelligenz versteckt sich also nicht »im Innenraum des Bewußtseins und des Denkens«, sondern in geschickten Bewegungen und Tätigkeiten; dabei muss »der Geist als etwas in den Körper und die Umwelt Ausgedehntes verstanden werden«2  – und zwar gilt diese ›intrinsische Verkörperung‹ für komplexe kognitive Fähigkeiten ebenso wie für soziale.3 In den letzten Jahrzehnten werden Konzepte wie Verkörperung, Materie, Materialität und Materialisierung immer wieder neu verhandelt – im Zusammenhang 1 | Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag 1995, hier S. 57. 2 | Fingerhut, Joerg/Hufendiek, Rebekka/Wild, Markus (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, hier S. 9. 3 | Vgl. ebd., S. 12.

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Das Archiv des Körpers

mit den Technowissenschaften werden neue Konfigurationen von Materialität und Verkörperung diskutiert.4 In diesem Zusammenhang werden Konzepte wie das der Verkörperung durch Konzepte erweitert, die Praktiken der Virtualisierung des Körpers aufgreifen und sich auf die Aggregation von (Informations-)Mustern, molekulare Nahaufnahmen und Datenquanten zu Körperbildern beziehen. Aus ihnen ergeben sich Praktiken, die in die realen Körper intervenieren und sich materialisieren. Im Mittelpunkt u.a. technowissenschaftlicher Diskurse steht der Körper als situierter Akteur, also weder der Körper als determinierte Natur-Ressource noch als Opfer repressiver Kulturpraktiken, sondern als sich »innerhalb von machtvollen, historisch sich verändernden Diskursen und Praktiken«5 konstituierender Körper, womit zugleich auch eine Historisierung des Verhältnisses von Körper und Technologien und damit das der Materialität von Körpern und ihrer »stetig neu zu vollziehenden Materialisierungen«6 historisch kontingenter Schema(ta) angesprochen wird. D.h. der Körper bildet keine geschlossene Entität, sondern es existieren flexible Körpergrenzen, es gibt eine Selbstbeweglichkeit der Materie. In diesem Zusammenhang stellt sich u.a. die Frage, wie Materialisierung und Verkörperung als andauernder Prozess zu denken sind, in dem die körperliche Materialität den Prozess der Verkörperung entscheidend beeinflusst oder steuert.7 Was ist mit der fortlaufenden und »gegenseitige[n] Modifikation von Sozialem durch Körper und von Körperprozessen durch Soziales«8 gemeint? Was meint eine »Dynamisierung und Erweiterung des Begriffs Embodiment als Embodying«, durch »Prozesse der Verkör-

4 | Vgl. u.a. Bath, Corinna/Bauer Yvonne/Bock von Wülfingen, Bettina/Saupe, Angelika/Wesber, Jutta (Hg.): Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper. Bielefeld: transcript 2005; vgl. auch Harasser, Karin: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld: transcript 2013. 5 | C. Bath, Y. Bauer, u.a: Materialität denken, S. 20. 6 | Ebd., S. 20. 7 | Vgl. C. Bath u.a.: Materialität denken, S. 9-29; vgl. auch Schmitz, Sigrid/Degele, Nina: »Embodying – ein dynamischer Ansatz für Körper und Geschlecht in Bewegung.«, in: Nina Degele/Sigrid Schmitz/Elke Gramespacher/Marion Mangelsdorf (Hg.): Gendered Bodies in Motion. Opladen: Budrich UniPress 2010, hier S. 28f. 8 | S. Schmitz/N. Degele: Embodying, S. 29.

2  Materialität des Körpers – oder Materie tritt nie ohne ihr Schema auf

perung von Gesellschaft und Vergesellschaftung körperlicher Materialität zwischen und jenseits von Konstruktion und Determinierung«9? Mit Butler muss angenommen werden, dass Materie und Form untrennbar miteinander verbunden sind; Materie erscheint nicht unabhängig von der Form, sondern sie tritt immer nur in einer bestimmten Form in Erscheinung. Die Form ist die spezifische Art der Aktualisierung der Materie, gewissermaßen das ›Gewand‹, in dem Materie in Erscheinung tritt, so Butler mit Rekurs auf Aristoteles in Bezug auf die Materialität und die Materialisierung des Körpers. Butler geht davon aus, dass Materie immer nur an einer bestimmten Form erkennbar ist und diese »von dem, was ihre Materie konstituiert, nicht ablösbar ist«10. Selbst unbearbeitetes Material (Holz, Wasser, Gesteine) ist nicht formlos, es erscheint in Gestalt(en) und wird durch Formen begrenzt. Ihr Gegenüber ist das Chaos, die Formlosigkeit und Leere; das Tohuwabohu. Die Frage nach der Form der Materie hat, insbesondere in der Moderne, eine beängstigende Dringlichkeit; »tatsächlich wird die Angst vor dem Formverlust oft mit dem Modernisierungsprozess assoziiert. Moderne Lebenswelten werden als chaotisch, amorph und verwirrend charakterisiert; das Tempo der Veränderungen und wechselnden Ansprüche überfordert selbst ein flexibles Bewußtsein«.11 Auch die Menschen der Moderne erscheinen als form- und gestaltlose Materie. Physisch greif bar oder imaginär bildet das massenhafte Menschenmaterial dasjenige, in dem sich, durch unbewusste (Trieb-)Kräfte gesteuert, das Irrationale schlechthin materialisiert – und das deshalb, so die diskursive Übereinkunft, geformt und geführt werden muss. Hier sind körperliche – und psychische – Automatismen, Prozesse der Beschleunigung und Übertragung wirksam, die unvorhergesehen und unkontrolliert ablaufen. In der Masse materialisieren sich körperbasierte Prozesse; hier werden Körper zu ›Leitmedien‹ der Übertragung von Impulsen und Reizen; die Masse wird selbst zum emergenten Phänomen, aus dem sich unvorhersehbare Effekte, selbstreferentielle und feedbackgesteuerte Formen der Kontrolle, ergeben.12 9 | Ebd., S. 31. 10 | J. Butler: Körper von Gewicht, S. 57. 11 | Macho, Thomas: Vorbilder. München: Fink 2011, hier S. 12. 12 | Vgl. dazu G. Le Bon: Psychologie der Massen; Stäheli, Urs: »Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie.«, in: Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben

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Das Archiv des Körpers

Materialisierung impliziert historisch kontingente Formung und Formgebung; sie folgt diskursiven Mustern und kulturellen Semantiken, die einer Eigendynamik unterliegen und die Diskursives und Physisches, Semantisches und Sozio-Technisches miteinander verschränken. Diese Verschränkung verweist auf ein gemeinsames Konstitutionsgeschehen: Das Diskursive bewirkt Materialität, weil es bereits eine Materialitätsform ist und umgekehrt Materialität nicht ohne eine diskursive Form denkbar ist. Materie ist, so Butler, keine bloße Oberfläche oder fertige Substanz, sondern »ein Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so dass sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Stabilität herstellt, den wir Materie nennen«13. Es gibt hier keine personifizierte Macht, die handelt, sondern materialisierende Effekte regulierender Prozesse, durch die sich Körper wie Objekte materialisieren. Schon der Konstitutionsprozess und die Materialität des (Geschlechts-)Körpers sind demnach Produkt von abgelagerten Diskursen, die ihn, durch wiederholten Zugriff auf Konventionen und Zitieren von (Geschlechter-)Normen als geschlechtlich markierten Körper produzieren. Die Materialität von Körpern ist, wie Butler annimmt, eine erzwungene Materialisierung, die performativ erfolgt.14 Performativität ist die »ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert oder restringiert«15. Sie produziert Materialitäten, indem sie wiederholt Gesagtes für wirklich erachtet und anderes, da es nicht gedacht oder gesagt werden kann, für unwirklich hält. Die gegen alle »optik-analogen Modelle von Erkenntnis«, die auf Abbild- oder Widerspiegelungsmodelle hinauslaufen, gerichtete Konzeption der Diskurse als »materielle Produktionsinstrumente diskursiver Praktiken, durch die historisch-soziale Gegenstände überhaupt erst hervorgebracht werden«16, verweist auf (Macht-)Effekte des

und Information. Bielefeld: transcript 2009, S. 85-100.; H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert.; kulturkritisch auch P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, S. 31-63. 13 | J. Butler: Körper von Gewicht, S. 31; kursiv im Original. 14 | Vgl. ebd., S. 24-40. 15 | Ebd., S. 22. 16 | Link, Jürgen: »Dispositiv.«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2008, hier S. 236.

2  Materialität des Körpers – oder Materie tritt nie ohne ihr Schema auf

Diskursiven selbst. Es handelt sich dabei um eine Macht, die, körpertheoretisch gesprochen, ›in Fleisch und Blut‹ übergeht, das ›Natürliche‹ aber nicht ausstreicht oder es zum bloßen Kennzeichen des Sozialen herabstuft  – und damit dem Diskursiven, der Konstruktion, einen gottähnlichen Status einräumt, sondern eine Matrix herstellt, die als kulturelle Bedingung seiner Möglichkeit erscheint. Konstruktion und Materialisierung sind dabei zeitliche Prozesse, die mit laufenden Wiederholungen operieren.17 Folgt man Foucaults diskurstheoretischen Ausführungen zum Körper, zum sexuellen Begehren und der Beziehung des Subjekts zu seinem Körper, so sind diese nicht selbstverständlich oder von Natur aus gegeben, sondern Diskurse stellen die Körper als Phänomene auf spezifische, historische Weise erst her und verwerfen andere Körperkonfigurationen. In den materialreichen historischen Analysen Foucaults zum Körper und Praktiken der Körperdisziplinierung, zum sexuellen Begehren und zum Sexualitätsdispositiv wie zur Regulierung des Gesamtkörpers der Bevölkerung sind es Diskurse, die den Körper systematisch als Objekt des Wissens ›fertigen‹, ihm durch ihren Wahrheitsanspruch den Status einer sozialen Realität verleihen und ihn durch diverse Praktiken beherrschen.18 Die Diskurstheorie rekonstruiert den Körper, ebenso wie das Subjekt, aus einem Geflecht von Zeichensystemen, Machttechnologien, diskursiven und institutionellen Praktiken. Foucaults Diskurstheorie fügt, ebenso wie der sprachtheoretische Ansatz Judith Butlers, die Materialität von Diskursen und deren Machtwirkungen dort ein, wo die Ordnung der Dinge, der Körper und Subjekte als natürliche Ordnung erscheint.19 Es ist die Materialität diskursiver und historischer Praktiken, die hier gegen die ›Natur‹ des Körpers, der Subjekte, der Sexualität und des Geschlechts 17 | Vgl. J. Butler: Körper von Gewicht, S. 24-35. 18 | Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977; Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978. 19 | Vgl. dazu u.a. Bublitz, Hannelore: Diskurs. Bielefeld: transcript 2003; Bublitz, Hannelore: »Macht.«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2008, S. 273-276; Bublitz, Hannelore: »Diskurstheorie.«, in: Robert Gugutzer/Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.): Handbuch Körpersoziologie, Bd.1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 189-204.

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sowie gegen die Annahme einer ahistorischen Natur des Menschen eingesetzt werden. Auch die feministische Kritik naturalisierter Kategorien hat den biologischen Körper als fraglose Natur problematisiert. Insbesondere Judith Butler hat das biologische Geschlecht als außerdiskursiven Ausgangspunkt für die kulturellen Formen von Geschlechtsidentität kritisiert und das Geschlecht als Effekt kultureller Muster und machtförmiger Formen der Vergesellschaftung betrachtet.20 Diskursive Praktiken bilden eine emergente Praxis, die ihre eigenen Formen der Verkettung und der Abfolge besitzt und selbst regelrecht körperhafte Gestalt, wahrnehmbare, ihnen eigene Formen annimmt.21 Diesen Bestimmungen folgend wird Diskursen der Status von Sachen zugesprochen, die der Verfügbarkeit und dem unmittelbaren Zugriff denkender, sprechender und handelnder Subjekte entzogen bleiben. »Ans Sprachliche angelehnt, aber nicht ausschließlich darauf beschränkt, bildet der ›Diskurs‹ den wichtigsten physikalischen Begriff, den Foucaults Diskurstheorie einsetzt, um zu beschreiben, was gesagt wird und was sichtbar ist. Der Diskursbegriff steht geradezu ›emblematisch für Foucaults ›Materialistik‹«.22 Hier, im Diskurs, nimmt Macht materielle Dimensionen an.

20 | Vgl. u.a. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991; J. Butler : Körper von Gewicht; Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Ihre Verknüpfungen von Diskurs, Macht und (Geschlechts-) Körper erweisen sich als überaus folgenreich für körper- und geschlechtertheoretische Fragestellungen; vgl. dazu u.a. Bublitz, Hannelore: Judith Butler zur Einführung, 4. ergänzte Auflage. Hamburg: Junius 2013; Bublitz, Hannelore: »Geschlecht.«, in: Hermann Korte/Bernhard Schäfers (Hg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 9. Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 101-125. 21 | Vgl. H. Bublitz: Diskurs, S. 6. 22 | Seitter, Walter: Das Spektrum der Genealogie. Bodenheim: Philo 1996, hier S. 115; Vgl. dazu auch: Messerschmidt, Reinhardt/Saar, Martin: »Diskurs und Philosophie.«, in: Johannes Angermüller/Martin Nonhoff/Eva Herschinger/Felicitas Masgilchrist/Martin Reisigl/Juliette Wedl/Daniel Wrana/Alexander Ziem (Hg.): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Bd. 1: Theorien, Methoden und Kontroversen. Bielefeld: transcript 2014, hier S. 45ff.; H. Bublitz: Diskurs, S. 7f.

2  Materialität des Körpers – oder Materie tritt nie ohne ihr Schema auf

Während bei Foucault die Regulierung des gesamten Gesellschaftskörpers und die Kontrolle des ›Organo-Körpers‹ jedes Individuums im Vordergrund steht, in der sich Diskurse mit pädagogischen Maßnahmen, medizinischen Praktiken, psychiatrischen Korrekturtechniken und ökonomischen Formen der Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens verbinden,23 betrachtet die poststrukturalistische feministische Theorie, hier vor allem Judith Butler, den Konstitutionsprozess und die Materialität des (Geschlechts-)Körpers als Produkt einer Matrix, die nicht auf ein Subjekt zurückführt werden kann, sondern das Subjekt vielmehr innerhalb einer Matrix geschlechtsspezifischer Beziehungen entstehen lässt. Vorausgesetzt wird hier »strenggenommen kein menschliches Handeln (…), keine willentliche Aneignung (…); sie ist die Matrix, durch die alles Wollen erst möglich wird, sie ist die kulturelle Bedingung seiner Möglichkeit. Die Matrix der geschlechtsspezifischen Beziehungen geht dem Zum-Vorschein-Kommen des ›Menschen‹ voraus«.24 Auf diese Weise konstituiert sich ein sozialer Geschlechtskörper, dessen performativ wiederholte Anrufung und einschärfende Einsetzung einer Norm nicht nur die naturalisierenden Wirkungen der Matrix verstärkt. Vielmehr bringt sie den Körper und das Geschlecht »mit den Mitteln des Ausschlusses« hervor »und zwar so, daß das Menschliche nicht nur in Absetzung gegenüber dem Unmenschlichen produziert wird, sondern durch eine Reihe von Verwerfungen, radikalen Auslöschungen, denen die Möglichkeit kultureller Artikulation regelrecht verwehrt wird«.25 Die Matrix tritt jedoch keineswegs, so betont Butler, an die Stelle des Subjekts, ihre Wirkung ist auch nicht deterministisch, sondern sie beruht geradezu auf der »Zerschlagung und Zersetzung dieser Grammatik und Metaphysik des Subjekts«26; es geht um einen »Prozeß ständigen Wiederholens, durch den sowohl ›Subjekte‹ wie ›Handlungen‹ überhaupt erst in Erscheinung treten. Butler ist der Auffassung, dass es da keine Macht gibt, die handelt, sondern nur ein dauernd wiederholtes Handeln, das Macht in ihrer Beständigkeit und Instabilität ist«.27 Es ist gewissermaßen die Macht der

23 | Vgl. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 125-138. 24 | J. Butler: Körper von Gewicht, S. 29. 25 | Ebd., S. 29. 26 | Ebd., S. 31. 27 | Ebd., S. 31.

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wiederholten ›Einschleifung‹ und der Routine, ja, es sind die unreflektierten Automatismen, die hier Wirkung zeigen – und das Menschliche gegen die Norm ausspielen, indem sie es eingrenzen. Dennoch besteht nach Butler die Möglichkeit, diese Beziehung von Körper und Matrix zu ›sprengen‹ und sich nicht völlig der Norm zu unterwerfen.28 Performativität ist demnach die Macht des Diskurses, durch ständige Wiederholung normierende Wirkungen zu produzieren. Selbst das ›biologische Geschlecht‹ ist demnach eine erzwungene Materialisierung gesellschaftlicher Geschlechternormen. Butler leugnet nicht den Körper in seiner materiellen Beschaffenheit und Eigenständigkeit, aber beide, Körper und Geschlecht, sind Bestandteil einer Geschichte, ohne dass Körper damit aufhören, Körper zu sein. Ihre Materialität löst sich nicht in Diskurse auf, sondern ist vielmehr »vollständig erfüllt […] mit abgelagerten Diskursen«, die präfigurieren und beschränken, was verkörpert wird und wie der Körper erlebt wird. Butler konzediert, dass »die Materialisierung nie ganz vollendet ist, dass die Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung erzwungen wird«29. Der Körper ist die »Wirkung einer Machtdynamik«30, die Butler auf die ständige Wiederholung regulierender Normen, die von der Materie der Körper nicht zu trennen sei, zurückführt. Das »biologische Geschlecht«, das, was körperlich von Natur gegeben zu sein scheint, bildet hier eine kulturelle Norm, ein »regulierendes Ideal«, das die Körper in ihrer geschlechtlichen Identität nicht nur markiert, sondern sie mithilfe eines gesellschaftlichen Geschlechterapparats reguliert. Ein zentraler Aspekt ist hier, wie bei Foucault, die Infragestellung des Körpers als der sprachlichen Benennung und Regulierung vorgängige Naturressource. »Das ›biologische Geschlecht‹ ist demnach nicht einfach etwas, was man hat oder eine statische Beschreibung dessen, was man ist: Es wird eine derjenigen Normen sein, durch die ›man‹ überhaupt erst lebensfähig wird, dasjenige, was einen Körper für ein Leben im Bereich kultureller Intelligibilität qualifiziert«.31 Butler reklamiert, dass das Geschlecht Teil einer den individuellen Körper und die Bevölkerung regulierenden Praxis bildet und ihr nicht untergeordnet ist. 28 | Vgl. dazu u.a. J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 97-122. 29 | Ebd., S. 21. 30 | Ebd., S. 22. 31 | Ebd., S. 22.

2  Materialität des Körpers – oder Materie tritt nie ohne ihr Schema auf

Beide Theorien gehen davon aus, dass sich in den Subjekten und ihren Körpern eine diskursive Macht materialisiert und verkörpert, die zugleich regelt, wie der Körper zu sein hat und wie Subjekte sich auf ihren Körper beziehen. Diese Machtform wirkt also primär hervorbringend, weniger repressiv, unterdrückend. Über die materialisierende Macht von Diskursen hinaus geht es hier um die Einsetzung einer Macht, die nicht von oben herab, als souveräne Macht agiert, sondern wie »ein Netz von Bio-Macht, von somatischer Macht«32, die »zwischen jedem Punkt eines gesellschaftlichen Körpers«33 verläuft, auf die Individuen und ihre Körper einwirkt. Es sind Machtverhältnisse, »die auf den Körper selbst ausgeübt« werden und in die »Tiefe der Körper materiell eindringen können«34, ohne dem Subjekt bewusst zu sein. Die Individuen sind in dieser Machtkonzeption, in der Macht wie ein Beziehungs-Netzwerk durch die Gesellschaft hindurch operiert, »der bewegliche und konkrete Boden, in dem die Macht sich verankert hat, die Bedingung der Möglichkeit, damit sie funktionieren kann«35. Die Genealogie des Körpers und seine – geschlechtsspezifischen – Bezeichnungspraxen werden aus historisch kontingenten Konfigurationen und Machtkonstellationen heraus rekonstruiert. Damit lösen beide Theorieansätze die ›Dinge‹ aus ihrer ahistorischen, scheinbar universellen Präsenz  – und auch die Körper werden diskursiv, durch sprachlich vermittelte Prozesse zu dem, was sie vorher nie waren und nie wesentlich sein werden. Es ist nichts vorher oder immer schon da und will bloß entdeckt werden, sondern der Körper wird durch diskursive und materielle Praktiken konstruiert. Er wird als diskursiv-sprachlich Artikulierbares und Erkennbares produziert – und konstituiert sich zum einen durch diskursive Konstruktionsapparate, zum anderen durch kulturelle Körperpraktiken und -techniken. Was den Körper bewegt und formt, erschließt sich einer Archäologie der kulturellen Gewohnheiten, die zunächst die diskursiven Ereignisse beschreibt und damit eine Art »fotografischen Schnappschuss zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt«36 macht. 32 | M. Foucault: Dispositive der Macht, S. 109. 33 | Ebd., S. 110. 34 | Ebd., S. 108. 35 | Ebd., S. 110; vgl. dazu auch H. Bublitz: Macht. 36 | Keller, Reiner: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. Opladen: Leske+Budrich 2004, hier S. 48.

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Gegen die Annahme, der Körper sei beliebig manipulierbar, insistiert Butler darauf, dass die Materialität des (Geschlechts-)Körpers nicht frei verfügbar und kategorisierbar sei, sondern möglicherweise ein Bereich jenseits des Sagbaren existiere, nicht im Sinne eines substantiellen Kerns, sondern eines Bruchs, etwas, das das Sagbare übersteigt. Die Schwierigkeit ist, »zu bestimmen, wo das Biologische, das Psychische, das Diskursive, das Soziale anfangen und aufhören«37. Wenn, so Butler, Rosi Braidotti darauf besteht, dass sich somatische und soziale Dimensionen niemals gänzlich ineinander überführen und deshalb auch nicht gänzlich voneinander absetzen lassen, dann gibt es Metamorphosen, fluide, schwankende Grenzen;38 zugleich warnt Braidotti aber davor, anzunehmen, wir könnten »den Körper in alle und jede Richtung entwickeln und verändern«39.

37 | J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 298. 38 | Ebd., S. 299/300. 39 | Butler weist darauf hin, dass Braidotti sich sowohl gegen »jede Kapitulation vor technischen Neuschöpfungen des Körpers« wendet wie gegen Transformationen des Körpers (und des Geschlechtsunterschieds), »die das körperliche Leben überwinden oder die Parameter des körperlichen Unterschieds hinter sich lassen wollen« (ebd., S. 310); sie sieht die Differenz (von Körper und Technik zw. Technologie) als Bedingung von Transformationen und Metamorphosen.

3 Konturen des Körpers als sichtbares und durchsichtiges Objekt – das Phantasma einer physischen Selbstvervollkommnungsmaschine

»Mein Körper enttäuscht mich schon wieder. Manchmal glaube ich, mein Leben ist nichts als eine lange Abfolge körperlicher Enttäuschungen […]. Das ist das Schreckliche am Körper. Er ist so sichtbar, so sichtbar. […] Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich Dich um Deine Box beneide. Um das Unsichtbarsein«.1 »Er fühlte den Verrat seines Körpers, und er wusste, dass ein zentraler ungeheuer ermüdender Kampf seines Lebens darin bestand, dass er sich weigerte zu akzeptieren, dass sein Körper ihn wieder und wieder im Stich lassen würde, dass er nichts von ihm erwarten durfte und ihn trotzdem weiter pflegen musste. […] Und warum? Weil sein Körper seinen Verstand beherbergte, nahm er an«. 2

Ein kurzer Blick in die belletristische Literatur zeigt: Der Körper erscheint als sichtbares Zeichen einer unzuverlässigen physischen Materialität, der man ausgeliefert zu sein scheint. »Scheinbares Zeichen der Natur,

1 | Franzen, Jonathan: Unschuld. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2015, hier S. 9-10. 2 | Yanagyhara, Hanya: Ein wenig Leben. München: Hanser 2017, hier S. 193.

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tatsächlich aber gänzlich kulturell«3 ist der Körper aber, wie jedes andere Kulturobjekt, kulturell geformt. An ihm zeigt sich, wird augenscheinlich, was dem Feld des Sichtbaren entzogen ist: Spuren der privaten Biografie, persönliche Leiden, Charakterschwächen, aber auch gesellschaftliche Zwänge, die den Körper besetzen und ihn machtförmigen Beziehungen unterwerfen. Ihr Entstehungszusammenhang bleibt opak, in einer Black Box verborgen. Sie sollen natürlich erscheinen, um – unwidersprochen – wirksam zu sein. Herrschaftssicherung und Machtausübung geschehen über Geheimhaltung. Wenn alles zutage tritt, kann potentiell jeder darüber verfügen, wird Macht in Frage gestellt. Gleichzeitig verbirgt sich am und im Körper, was ihn formt und ausmacht, die Geschichte seiner Entstehung und Bildung, aber auch die – kulturelle – Herkunft der Normen, die ihn geformt haben. Schließlich wird er gewissermaßen ›überstrahlt‹ durch die Phantasmen, die er verkörpert und die ihn über seine bloß physische Erscheinungsform auszeichnen. Das Begehren, so zu sein, wie man nicht ist, bildet eine Signatur der Moderne; sie überschreitet den natürlichen Körper und erscheint doch selbst als natürliches Anliegen. Offensichtlich ist der Körper, der so unweigerlich für jeden sichtbar ist, auch wenn er Vieles, wenn nicht Wesentliches verbirgt, eine Quelle des Glücks  – oder Unglücks. Solange er, wie in der Vormoderne, als »Sitz der natürlichen Eigenschaften der Person«4 gilt, kommt man nicht umhin, sich wohlzufühlen in der eigenen Haut, die mit der natürlichen zugleich auch die soziale Ungleichheit besiegelt. In der Moderne wird der Körper dagegen zur Bühne individueller Lebensführung. Vorstellungen vom Körper sind jedoch keineswegs zeitlos. Sie unterliegen vielmehr dem Lauf der Zeit, in dem sich verschiedene Ideale herauskristallisiert haben.5 Welche Proportionen aber erscheinen als schön oder angemessen, welche nicht? Am Zusammenhang zwischen verschiedenen Körperproportionen und Schönheit bzw. Hässlichkeit sind, so zeigt ein Blick in die Philosophie, begründete Zweifel angebracht. So schreibt der Philosoph Edmund Burke »über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen«: 3 | Dosse, François: Geschichte des Strukturalismus, Bd. 1: Das Feld des Zeichens, 1945-1966. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, hier S. 57. 4 | Alkemeyer, Thomas: »Aufrecht und biegsam. Eine politische Geschichte des Körperkults.«, in: APUZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) 18 (2007). hier S. 7. 5 | Vgl. Eco, Umberto (Hg.): Die Geschichte der Schönheit. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2006, S. 90-97.

3  Konturen des Körpers als sichtbares und durchsichtiges Objekt 

»Meinerseits habe ich viele dieser Proportionen […] sehr sorgfältig geprüft und habe sie sehr ähnlich oder vollständig gleich gefunden bei Personen, die sich nicht nur sehr stark voneinander unterschieden, sondern von denen auch die einen sehr schön und die anderen von Schönheit sehr weit entfernt waren […]. Der Hals, sagt man, hat bei schönen Körpern denselben Umfang wie die Wade und den doppelten Umfang des Handgelenks; […]. Aber welche Beziehung hat die Wade zum Hals und jeder von beiden Teilen zum Handgelenk? Sicher lassen sich jene Proportionen an hübschen Körpern finden – aber ebenso sicher auch an häßlichen […]. Und ich weiß nicht einmal, ob sie nicht an manchen Körpern, die zu den schönsten gehören, gerade am wenigsten exakt vorhanden sind«. 6

Dennoch unterstellt die moderne Medien- und Populärkultur, es gäbe die idealen Proportionen, auch unter der Haut. Ideale Werte von Fettanteil, Muskelmasse und Körpergewicht stehen nun, so scheint es, für die ›Natur‹ des Menschen, wenn auch die zweite, die veränderbar erscheint.7 Jetzt geht es darum, »Wissen über sich selbst zu erwerben«, körperbezogene Inspektionen und Technologien anzuwenden, »die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper […] vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks […], der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt« 8. Nicht erst in der Moderne erscheint der Körper als Objekt, das modelliert werden kann und muss. Aber erst in der Moderne wird der Körper naturwissenschaftlich zum Objekt eines anatomischen Blicks, der ihn zerlegt und als mechanischen 6 | Burke, Edmund: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. III, 4 (1756), in: U. Eco: Die Geschichte der Schönheit, hier S. 97. 7 | In Wirklichkeit geht es hier aber nicht um Proportionen, sondern um die inszenierte (An-)Ordnung von Schönheit, die im Sinne der Schönheitsindustrie funktioniert und die Wahrnehmung der Konsumentinnen strukturiert, ganz nach dem Motto der Ergebnisse der Regensburger Studie ›Beautycheck‹ zu den ›Ursachen und Folgen von Attraktivität‹: Je künstlicher, desto attraktiver, je natürlicher, desto unattraktiver (vgl. http://www.beautycheck.de/cmsms/). So sagt Maria Carey über ihren ungeschminkten Auftritt in einem Film: »Es war super, so hässlich auszusehen. Ein bisschen geschminkt war ich allerdings schon…« (Scholz, Martin: »Es war super, hässlich auszusehen.«, in: Die Welt vom 10.04.2016). 8 | M. Foucault: Technologien des Selbst, S. 26.

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(Bewegungs-)Apparat vorführt, der alle Annahmen über die autonome Seele und den willentlich handelnden Geist ad absurdum führt. Er wird, in langfristigen historischen Prozessen, Ausgangspunkt und Zielscheibe von Messungen, Metrisierungen und einer Vielzahl von Vorschriften und Verhaltenscodes, zum Maß aller Dinge. Am Körper, seiner Oberfläche und Haltung, sieht man, so scheint es, objektiv messbar, was einer kann und weiß. Der Körper wird zum Symbol und Distinktionsmerkmal; er ist der anschauliche, physisch greif bare und gewissermaßen dermatologische Nachweis für Tüchtigkeit, Klugheit und Charakterstärke, für Anerkennung und sozialen Erfolg. Er gibt Auskunft über Wissen und Willensstärke und garantiert, wohlgeformt und gut proportioniert, soziale Anerkennung; vor allem aber lassen sich an ihm die maßvolle ebenso wie maßlose und optimale Realisierung von Lebenschancen, aber auch soziale Unterschiede ablesen, aber nun werden sie individualisiert, in die Verantwortung des Einzelnen gelegt. Am Körper wird die Verkörperung sozialer Regeln eingeübt und sichtbar; über Körperhaltung und -bewegung konstituiert er soziale Ordnung. »Es ist der Körper, über den sich eine Einübung in die Selbst-Bewegung und Bewegtheit des modernen Subjekts vollzieht. Über innere und äußere Haltungen wird der Körper allmählich in jene Ordnung eingepasst, die der Beweglichkeit des modernen Subjekts einen Rahmen gibt«.9 Körper sind instabil und permanent gefährdet, ihre Fassung zu verlieren. »Ich habe aus meinem Körper herausgeholt, was möglich war  – Ich habe es lange genug ausgehalten in diesem Körper«. Mit ihrem Wunsch nach einem ›anderen‹ Körper bringt die Fitnessangestellte in dem Film Burn after Reading (2008) zum Ausdruck, dass ihre Beziehung zu ihrem Körper nicht die beste ist und sie von ihrem Körper, wie von einem abgetragenen Kleid oder einer heruntergekommenen Wohnung, genug hat. Der alternde Körper erscheint ihr als Gefängnis, aus dem sie – mithilfe einiger Körper-Operationen – ausbrechen möchte; er wird zum Objekt einer Erneuerungs-, ja, man könnte fast sagen, Erlösungsgeschichte. Es geht darum, den hinfälligen Körper wie eine lästige Hülle abzustreifen und sich ein neues Gewand zuzulegen, das Attraktivität und Aufmerksamkeit, wenn nicht gar Glück verspricht. Dem liegt ein Körperverständnis 9 | Klein, Gabriele: »Bewegung und Moderne: Zur Einführung.«, in: Gabriele Klein (Hg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld: transcript, hier S. 8.

3  Konturen des Körpers als sichtbares und durchsichtiges Objekt 

zugrunde, das sich, zumindest unbewusst, in der Tradition der christlichen Kulturgeschichte bewegt, in der der Körper als vergänglicher mit einer Leidensgeschichte erscheint, den man hinter sich lässt und der im religiös-christlichen Kontext einem ›Auferstehungsleib‹ weicht. An diesen knüpft sich die Verheißung einer »verewigten Schönheit des Leibes«10. Daran zeigt sich, dass der Körper keine unhintergehbare und unverfügbare Natur(ressource) ist, die es lediglich freizulegen gilt. Vielmehr ist ›der Körper‹ eingebunden in eine Natur- und Kulturgeschichte, die ihn nicht nur mit symbolischen Inschriften und Signaturen versieht, sondern ihn im Rahmen ikonografischer Traditionen (re-)präsentiert und ihn damit zugleich in seiner morphologischen Gestalt erst hervorbringt. Körper unterliegen im Feld der Sichtbarkeit einer permanenten Beobachtung und Visualisierung, weshalb die Frage, was der Körper eigentlich ist, ins Leere läuft; »entscheidend ist, welches Bild – in einem Text, als visuelle Abbildung oder als Inszenierung – wir uns vom Körper machen«11. Phillip Sarasin rekurriert auf Lacan und der auf Freud, wenn er davon ausgeht, dass Zugänge zum Körper über Metaphern, Modelle und Bilder erfolgen. Die Pointe ist, dass die Modelle, mit denen wir uns den Körper erschließen, »weniger über unseren Organismus aussagen als über uns als Subjekte«12 und damit sowohl über wissenschaftliche Leitvorstellungen, kulturelle Codierungen als auch das Imaginäre einer Kultur. Der Körper, etymologisch zurückzuführen auf die materialen Dimensionen oder die materiell in Erscheinung tretende Gestalt (lat. ›corpus‹ im Sinne von ›Leiche‹, ›Leichnam‹) des Leibes, emanzipiert sich in der Moderne von der lebendigen Grundlage des Leibes, von seiner ›Natur‹ und damit von seiner vorgegebenen Bedeutung. Im Vordergrund steht, so 10 | Lang, Bernhard/Mac Danell, Colleen: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens. Frankfurt a.M.: Insel 1996, hier S. 94; vgl. dazu Bublitz, Hannelore: »Das Maß aller Dinge. Die Hinfälligkeit des (Geschlechts-)Körpers.«, in: Birgit Riegraf/Dierk Spreen/Sabine Mehlmann (Hg.): Medien – Körper – Geschlecht. Diskursivierungen von Materialität. Bielefeld: transcript 2012, S. 19-36, hier bes. S. 20 und S. 32. 11 | Vgl. Sarasin, Philipp: »Der öffentlich sichtbare Körper. Vom Spektakel der Anatomie zu den »curiosités physiologiques.«, in: Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, hier S. 420. 12 | P. Sarasin: Der öffentlich sichtbare Körper, S. 419.

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bei Descartes, die örtliche und räumliche Begrenzung; »das, was durch Gefühl, Gesicht, Gehör, Geschmack oder Geruch wahrgenommen oder auch auf mannigfache Art bewegt werden kann, zwar nicht durch sich selbst, aber von irgendetwas anderem, das es berührt«13. Dies verweist nicht nur auf den »Charakter absoluter Dinghaftigkeit«, sondern auch auf die Unterworfenheit des Körpers. »Er ist das ›ob-iectum‹ eines dirigistischen Subjekts«.14 Das wiederum bedeutet: Der Körper hat nicht von sich aus Ausdruck und Bedeutung, sondern »er steht als tote, aber bewegbare Masse der absichtsvollen Lenkung zur Verfügung«15; er wird zum Spiegel des Subjekts, zum ›Außen‹, an dem sich die Absichten, Eigenschaften, Leidenschaften, die Spuren von Vergangenheit und Veränderung ablesen lassen. Neben der symbolischen Erweiterung des Herrschaftskörpers im öffentlichen Raum ist es historisch zunächst der »Verbrecherkörper«, »›ein Massenmedium der Vormoderne‹«16, dessen Marter unter den Blicken der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wird. Mit der Beichte und dem »erlösende[n] Tod des Verbrechers« wird dieses Spektakel als »Theater der Gnade« inszeniert, bis es »als Ausdruck einer archaischen Blutrünstigkeit verachtet«17, hinter die Gefängnismauern verschwindet. Im Projekt der Moderne verbindet sich diese Sichtbarmachung des Körpers dann mit dem ›anatomischen Blick‹, der den Körper als durchsichtiges Ding in Einzelteile zerlegt und sein Funktionieren dem einer Maschine ähnlich beschreibt. »Seit der Neuzeit untersucht man, wie der Körper gebaut ist, wie sich seine Teile zueinander verhalten und wie er funktioniert: eine sehr komplizierte ›Maschine‹, die in verwirrender, fremdartiger Weise wir selbst sind«.18 Von den Sektionen des Körpers bis zur anatomischen Physiologie um 1900 (und zur Genetik des 20./21. Jahrhunderts) ist das Wissen um den

13 | Kutschmann, Werner: Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Die Rolle der ›inneren Natur‹ in der experimentellen Naturwissenschaft der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, hier S. 35. 14 | Ebd., S. 36. 15 | Ebd. 16 | P. Sarasin: Der öffentlich sichtbare Körper, S. 429. 17 | Ebd., S. 430. 18 | P. Sarasin: Der öffentlich sichtbare Körper, S. 421.

3  Konturen des Körpers als sichtbares und durchsichtiges Objekt 

Körper eingebettet in ein (Wissens-)Archiv, das ihn, als Produkt einer diskursiven Konstruktion, »als Ebenbild unseres Geistes«19 zur Schau stellt und öffentlich sichtbar macht. Damit erscheint der Körper zugleich als Verkörperung einer (Erkenntnis-)Norm, die nicht alles am Körper zum Vor-Schein bringt, was sich zeigen ließe, andererseits aber auch Dinge ans Licht bringt, die so vorher noch keiner gedacht, gesehen oder gesagt hat. Der öffentlich gezeigte Körper unterwirft sich je historisch spezifischen Bildern, Modellen und Vorstellungen vom Körper. Schließlich werden (Ende des 19. Jahrhunderts) Bewegungsabläufe des tierischen und menschlichen Körpers mittels (foto-)grafischer Aufzeichnungsverfahren dokumentiert und ausgewertet, um Aufschlüsse über anatomisch-physiologische Funktionen des Körpers zu erhalten. In diesem Zusammenhang werden die Formen der Sichtbarmachung des Körpers nicht nur immer technischer und abstrakter, so argumentiert Sarasin, sondern sie erfüllen ganz offensichtlich eine phantasmatische Funktion. Sie produzieren Körperschemata und -normen, die sich mit dem So-sein-wollen-wie und sich zunächst mit dem christlichen Leidenskörper verbinden: »Das Bild, das den Zuschauern in diesen traditionellen Inszenierungen von ihrem eigenen fremden Körper geboten wurde, war auf eine komplexe Weise mit dem Heil versprechenden Körper Christi verknüpft«.20 Dieses Bild kehrt auch in den sublimen Leistungskörpern und ›Selbstvervollkommnungsmaschinen‹ Ende des 19. Jahrhunderts wieder, auch sie vermitteln ein Bild dessen, wie man zu sein hat; dieses Bild gleicht jedoch nicht mehr dem leidenden Körper Jesu Christus, sondern dem Leidens- und Leistungskörper, der im Moment der Anstrengung (bei körperlichen Übungen) etwas zu werden beabsichtigt, was er nicht ist – und den Übenden mit einem unzulänglichen Körper und einem Begehren zurücklässt, ›ganz‹ – und das heißt, ein trainierter, gesunder Körper zu sein.21 Es entsteht das Bild eines Körpers, der – jenseits des Leidens und der Leistung – unerreichbar scheint, eine Imago, ein Phantasma. Nun weicht das öffentliche Spektakel der – akademisch-wissenschaftlichen – Zergliederung des – toten – Körpers und der Sichtbarmachung 19 | Ebd., S. 420. 20 | Ebd., S. 436. 21 | Ebd., S. 447ff.

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von Fleisch und Blut anderen Formen der kontrollierten Inszenierung des – tierischen und menschlichen – Körpers. Auf dem »Marktplatz der neuen populärwissenschaftlichen Medien«, die die Bedingungen für die öffentliche Sichtbarkeit massiv verändern, tauchen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den europäischen Großstädten öffentlich sichtbare Körper auf, die eher Ausnahmekörpern effizienter Sportler als denen schwitzender Arbeitskörper gleichen. Es handelt sich gewissermaßen um ›Wunderkörper‹, die die Leistungsfähigkeit normaler Körper bei weitem übersteigen: »Wunderläufer, Schwimmer, Radfahrer, Vorturner: das waren in den Jahren vor der Jahrhundertwende die Körper, welche die Physiologen interessierten […]; die Körper von Arbeitern sowie von Frauen hingegen standen bis 1900 für die übergroße Mehrheit der Physiologen fast vollständig außerhalb des Wahrnehmungshorizonts. Der schwitzende Prolet mit seinen aus purer Not aufgeblähten quergestreiften Muskeln interessierte sie nicht. […] Diese schmutzige, menschenverschleißende Plackerei gehörte zweifellos nicht zu jenen Dingen, die in der bürgerlichen Welt der Physiologen so bewundert wurden, daß sie zur selbstverständlichen Ressource für Sinn und Evidenz hätten werden können. […] …das die Physiologen eigentlich interessierende, faszinierende Objekt war nicht dieser hinfällige, oft kranke, nicht selten alkoholisierte und immer übermüdete proletarische Körper, sondern die Körper der sportlichen Efficiency-Spezialisten«. 22

Das Objekt der Begierde wissenschaftlicher Erkenntnis über den Körper ist die »physiologische Selbstvervollkommnungsmaschine«23, die durch Anstrengung wird, was der physische Körper nicht ist und sich im Moment der Anstrengung als unzureichender, ja, fragmentierter Körper erfährt, der sich im Bild eines vollkommen leistungsfähigen, asketisch geformten und makellosen Körper-Ideals spiegelt. Dieses Ideal bildet die Folie eines Ganzen, das man zu sein begehrt und ist Ausdruck eines metaphysischen, quasi-religiös begründeten Begehrens nach Erlösung. Das Bild dieses öffentlich präsentierten und sichtbaren Körpers verspricht nun Gesundheit und Heil. Die Sichtbarkeit des Körpers trifft aber erst recht auf diejenigen Körper zu, die von der Norm – des attraktiven, schönen, gut proportionierten, aber 22 | Ebd., S. 444f. 23 | Ebd., S. 449.

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auch des funktionstüchtigen und vielseitig einsetzbaren Körpers – abweichen. Sie verletzen die kulturellen und sozialen Normen der Betrachter, die auf visueller Ebene ausgehandelt werden. »Nichts ist so offensichtlich wie der fehlgebildete Körper«.24 Außergewöhnliche Körper traten lange Zeit in den Kuriositätenkabinetten und ›Freakshows‹ der Volks- und Populärkultur als »Sinnbilder des Hässlich-Grotesken«25 auf, ehe sie – im 19. Jahrhundert – zur epistemischen Figur, zum Wissenskörper avancieren, die als Variationenvielfalt oder Unregelmäßigkeiten der Natur und nicht mehr – unbedingt – als religiöses Omen oder Wunder gedeutet werden.26 Sie widersprechen als andere Körper den Vorstellungen und Wissensordnungen einer Kultur, die bestimmte Vorstellungen des Normalen favorisiert und verstoßen gegen sie, weil sie dem Modell des Normalen in mehr oder weniger zugespitzter Weise ein Anderes gegenüberstellen. Außergewöhnliche Körper sind, wie alle Körper, keine geschichtslose, natürliche Gegebenheit, sondern sie haben, wie diese, eine Geschichte. Denn das, was als besonders schön, attraktiv und faszinierend oder abstoßend dargestellt und empfunden wird, unterliegt einem spezifischen kulturellen Kontext und einer historischen Ordnung der Dinge – und mit ihnen sozialen und kulturellen Konventionen, aber auch historischem und sozialem Wandel, der die Bedeutung des Körpers verändert. Gleichzeitig birgt das Abweichende, Andere gerade das Potential, Grenzen und Normierungen als Konstruktionen sichtbar zu machen. Erst die Abweichung eröffnet Zugang zum Normalen; es ist geradezu konstitutiv für das Normale. Als historische Repräsentationsformen des Körpers können die 24 | Stammberger, Birgit: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2011, hier S. 11. Stammberger macht in ihrer Arbeit deutlich, dass außergewöhnliche Körper im 19. Jahrhundert zum einen in der Populärkulturkultur auftraten und zum anderen in den diversen Wissenschaften, allen voran der Anatomie und Anthropologie, zur Sprache gebracht wurden. 25 | Ebd., S. 12. 26 | Im 19. Jahrhundert entsteht u.a. die Teratologie, die Lehre von den sog. Monstrositäten und den Ursachen körperlicher Fehlbildungen als eigenständiger Zweig der Lebenswissenschaften; vgl. u.a. auch B. Stammberger: Monster und Freaks, S. 118; vgl. auch Bublitz, Hannelore/Hanke, Christine/Seier, Andrea (Hg.): Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900. Frankfurt a.M.: Campus 2000.

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anderen, außergewöhnlichen Körper nicht ahistorisch betrachtet werden; vielmehr stehen sie immer in einem historischen und sozialen Kontext. Was als hässlich oder schön, ›anders‹ oder abweichend gilt, ist abhängig von kulturellen Vorstellungen.27 Seit dem 17. Jahrhundert vermehren sich die Berichte über dieses Andere; seit der Aufklärung bildet die Figur des ›Wilden‹ und des Exotischen, so scheint es, ein notwendiges Korrelat des zivilisierten Körpers, dessen eingeübte Kulturtechniken als normal, ja, natürlich gelten. Diese Figuren verbinden sich nun mit Diskursen zur – bürgerlichen – Kultur und zur Konstitution von Rasse und Geschlecht.28 Im 19. Jahrhundert entstehen ganze Kartografien des Andersgebildeten, die die Willkür einer Zäsur zwischen dem Normalen und der Abweichung veranschaulichen. Aber das Andersartige, Anormale verstößt nicht nur gegen die kulturelle Ordnung westlicher, aufgeklärter Gesellschaften und deren Gesellschaftsordnung, sondern auch gegen die Ordnung der Natur; es ist selbst »die natürliche Form der Gegen-Natur«29, auch wenn es als 27 | Vgl. B. Stammberger: Monster und Freaks. 28 | Vgl. ausführlich Bublitz, Hannelore: »Zur Konstitution von ›Kultur‹ und ›Geschlecht‹ um 1900.«, in: Hannelore Bublitz/Christine Hanke/Andrea Seier. Der Gesellschaftskörper, S. 19-96; Bublitz, Hannelore: »Die Gesellschaftsordnung unterliegt ›dem Walten der Naturgesetze‹: Sozialdarwinismus als Schnittstelle der Rationalisierung von Arbeit, Bevölkerungspolitik und Sexualität.«, in: H. Bublitz/C. Hanke/A. Seier, Der Gesellschaftskörper, S. 236-324; C. Hanke: Zwischen Evidenz und Leere; C. Hanke: Zwischen Auflösung und Fixierung; vgl. auch te Heesen, Anke: »Das Archiv. Die Inventarisierung des Menschen.«, in: Nicola Lepp/Martin Roth/Klaus Vogel (Hg.): Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Ostfildern-Ruit: Cantz 1999, S. 114-142. 29 | Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (19741975). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, hier S. 77. Foucault behandelt hier drei ›Elemente des Gebiets der Abweichungen‹, die er als drei Figuren oder Kreise betrachtet, die sich Ende des 19. Jahrhunderts als Problem der Anomalie stellen: »das menschliche Monster«, »das zu bessernde«, verhaltensauffällige »Individuum« und »das masturbierende Kind« (vgl. ebd., S. 76-108); vgl. auch Bublitz, Hannelore: »Diskurs und Habitus. Zentrale Kategorien der Herstellung gesellschaftlicher Normalität.«, in: Jürgen Link/Thomas Loer/Hartmut Neuendorff (Hg.): Normalität im Diskursnetz soziologischer Begriffe. Heidelberg: Synchron 2003, S. 151-162, hier bes. S. 154-157.

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das Andere der Ordnung, das Abseitige und Unheimliche immer auch den Wissensordnungen einer Kultur und einem spezifisch kulturellen Kontext entspricht. Prozesse der Wissensbildung am fehlgebildeten, ja, monströsen Körper, am Körpermonster geraten im Zusammenhang mit kulturellen Vorstellungen des Normalen in den Blick und machen es, als dessen Störung, erst sichtbar. Monströse Körper(objekte) werden nun nicht einfach nur angeschaut, vielmehr weicht die öffentliche Lust am Schauen einem wissenschaftlich klassifikatorischen Blick, der in einem engen Zusammenhang mit Diskursen des Normalen, des Geschlechts und der Kultur steht – und die Betrachter beunruhigt, auch dann noch, wenn sie nicht mehr im Verborgenen als Singularität verortet werden können, sondern ihre Einmaligkeit durch Praktiken der Vermessung und des Vergleichs und schließlich durch ihre konstitutive Funktion für das Normale verlieren.30 Demnach geht im Diskurs des Lebendigen von körperlichen Abweichungen, Behinderungen oder Fehlbildungen etwas Beunruhigendes aus, da sie nun als Indizien für die Krise des Normalen oder den Verfall der Kultur gedeutet warden. Denn nun haben sie eine Funktion für das Normale, nämlich die, die Unregelmäßigkeiten wie auch die Regularitäten der Natur zu zeigen. Sie werden zu konstitutionellen Bestandteilen des Normalen und kultureller Vorstellungen des Anderen – und konstituieren die eingeschlossenen Bereiche ebenso wie die des Ausgeschlossenen. Ende des 20. Jahrhunderts erscheint der Körper, der biologischen Alterungs- und Verfallsprozessen ausgesetzt ist, als unerträgliche Last (des Individuums und der Gesellschaft).31 Wie ein abgetragenes oder unmodernes Kleid wird der biologisch-organische, alternde  – faltige oder ›schlappe‹, stellenweise auch ›fette‹ – Körper ›abgelegt‹ oder besser, optimiert und durch einen ›neuen‹, medial und technisch verbesserten Körper ersetzt.

30 | Vgl. B. Stammberger: Monster und Freaks, S. 119. 31 | Vgl. Maasen, Sabine: »Bio-ästhetische Gouvernementalität – Schönheitschirurgie als Biopolitik.«, in: Paula-Irene Villa (Hg.): Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld: transcript 2008, S. 99-118; Morgan, Kathrin Pauly: »Foucault, Hässliche Entlein und Techno-Schwäne – Fetthass, Schlankheitsoperationen und biomedikalisierte Schönheitsideale in Amerika.«, in: Paula-Irene Villa (Hg.): Schön normal, S. 143-172.; N. Wilk: Körpercodes.

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Einem phantasmatisch aufgeladenen Blick ausgesetzt, wird er zum Element eines imaginären Raums, ausgefüllt von einem geradezu utopischen, utopisch schönen Körper, der, ästhetisch gestylt, digital aufbereitet und nachbearbeitet und dadurch – fast – unwirklich inszeniert, wie ein magischer Ort im Sinne einer Heterotopie (Foucault) wirkt.32 Vom Ort des Anderen und dessen Blick erfährt das Subjekt nicht die Wahrheit über sich und (s)einen authentischen Körper, sondern was es sieht, sind phantasmatische Spiegelbilder, die den realen Körper immer als unvollständigen, fragmentierten widerspiegeln. So präsentiert er sich im begehrten Spiegelbild und Glanz ästhetischer Moden, die nicht nur den Körper, sondern das ganze Subjekt, die gesamte Persönlichkeit betreffen – und an panoptische Marktökonomien angeschlossen sind.33 Anschlussfähigkeit ist die Devise; nicht sitzen bleiben auf dem eigenen Ich, nicht zum Ladenhüter eigener Prinzipien werden, die sich nicht verkaufen lassen. Vielmehr muss der Körper, der zum Ausweis der gesamten Persönlichkeit und ihrer – jederzeit revidierbaren – Weltsicht geworden ist, stilsicher präsentiert werden. Nun erfolgt eine Invasion des realen Körpers weniger durch Maßnahmen einer normierenden Disziplinierung, sondern durch medial gespiegelte Bilder des Körpers.34 Nach und nach modernisiert und modifiziert, unterliegt der Körper nun einem Techno-Imaginären, das ihn optimalen Messwerten  – von Gewicht, Proportionen, Fettanteilen und Muskelmasse – und bioästhetischen Praktiken der Selbstführung und -formung unterwirft. Sie weisen ihn nicht nur als gesunden und leistungsstarken Körper aus, sondern 32 | Vgl. Bublitz, Hannelore: »›Magic Mirrors‹: Zur extensiven Ausleuchtung des Subjekts.«, in: Günter Burkart (Hg.): Die Ausweitung der Bekenntniskultur – neue Formen der Selbstthematisierung? Wiesbaden: VS Verlag 2006, S. 105-125. Foucault bezieht Heterotopien sowohl auf – magische – Orte als Gegenräume innerhalb der Gesellschaft als auch auf – utopische – Körper, die Bestandteil eines imaginären Raums bilden; vgl. dazu Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 33 | Vgl. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion.«, in: Jacques, Lacan: Schriften, Bd. 1, 4. durchgesehene Auflage. Berlin: Quadriga 1996, S. 61-70; Angerer, Marie-Luise: Body Options. Körper. Spuren. Medien. Bilder. Wien: Turia + Kant 2000; vgl. auch H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert; H. Bublitz: ›Magic Mirrors‹, S. 120-123. 34 | Vgl. ebd., bes. S. 110.

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präsentieren ihn als ästhetischen Körper, der – in der neoliberalen, globalisierten Gesellschaft selbstregulierter Subjekte etwas hermacht und das Maß aller Dinge zu sein scheint. Das Subjekt wird in der (post-)modernen Konsum- und Mediengesellschaft als ästhetisches, konsumatorisches Kreativsubjekt sichtbar, das sich und seinen Körper digital auf bereitet, in Szene setzt. »Ästhetisierung wird nun zur Norm, zur Form eines vollwertigen Subjekts«.35 Was der makellose Körper hermacht, geht weit über bloße Äußerlichkeiten – und das mit ihnen verbundene ›Heilsversprechen‹ – hinaus; eingebettet in einen biopolitischen Körperkult, der den Körper einspannt in ein dynamisch aufgespanntes Netz permanenter (Bau-)Maßnahmen, sind ästhetisch definierte, makellose Körper der Ausweis für ein unternehmerisches, sich selbst regulierendes Subjekt, das, an flexible Subjektdynamiken angeschlossen, immer in Bewegung ist und riskante soziale Dynamiken verkörpert.36 Der Kampf um Kalorien, gute Ernährung und Optimierung der Körperfunktionen ist in Wahrheit ein Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und Macht, deren Imperative, in einer »Biopolitik der Bilder«37 anschaulich und sichtbar gemacht, wie die asketischen Hochleistungskörper tendenziell unerfüllbar sind, dessen Ziele sich aber nichtsdestotrotz, in körperlichen Siegerposen und Hochglanzabbildungen verkünden.

35 | Reckwitz, Andreas: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld: transcript 2008, hier S. 232; vgl. auch Reckwitz, Andreas: »Die Gleichförmigkeit und die Bewegtheit des Subjekts. Moderne Subjektivität im Konflikt von bürgerlicher und avantgardistischer Codierung.«, in: Gabriele, Klein (Hg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld: transcript 2004, S. 155-184; Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück 2006. 36 | Vgl. dazu: Alkemeyer, Thomas: »Bewegung und Gesellschaft. Zur ›Verkörperung‹ des Sozialen und zur Formung des Selbst in Sport und populärer Kultur.«, in: Gabriele Klein (Hg.): Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld: transcript 2004, S. 43-78; T. Alkemeyer: Aufrecht und biegsam; vgl. auch Gugutzer, Robert: »Körperkult und Schönheitswahn – Wider den Zeitgeist.«, in: APUZ 18 (2007), S. 3-6. 37 | Gutwald, Cathrin/Zons, Raimar (Hg.): Die Macht der Schönheit. München: Fink 2007, hier S. 12.

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Wer makellose Schönheit ausstrahlt und bereit ist, ›Hand an sich zu legen‹ und seine ›Haut zu Markte zu tragen‹, gehört zu den Gewinnern der Gesellschaft. Dabei führt die Maßlosigkeit und Grenzenlosigkeit des technisch Machbaren Regie, die dem medientechnisch (auf-)gerüsteten Körper quasi-religiösen Glanz verleiht und den realen, organischen Körper alt aussehen lässt. Während der hinfällige und unproportionierte Körper zum Ausnahmezustand gerät, bildet der technisch-medial (auf-) geladene Körper den Normalzustand und als solches den Inbegriff ewiger Jugend. Damit überschreitet dieser als jugendlich ausgewiesene Körper den begrenzten irdischen Raum des vergänglichen Lebens: Jugendliche Schönheit, ewige Jugend sind die Eintrittskarten zur Unsterblichkeit, der perfekte, maßgeschneiderte Körper verspricht Erlösung von den irdischen Begierden. Mit der Befreiung des Körper-Subjekts aus einem metaphysischen Gehäuse (in dem sich, wie im Subjekt, eine innere Wahrheit zu verbergen schien) und seiner Einbindung in flexible Begehrensstrategien und Wunschterritorien tritt der Körper erneut in eine Sphäre der Metaphysik ein38. Dem entspricht die irdische Heiligsprechung von Körperkontrolle und Verzicht. Das Leiden einer an ästhetischen Idealen ausgerichteten technisch-artifiziellen Körperoptimierung erzeugt, so Kathleen Morgan, »weltliche Heilige des disziplinierten Fleisches«39, denen eine nicht ungefährliche, allerdings verheißungsvolle, biotechnisch und -ästhetisch angeleitete Reise zur ›himmlischen‹, »verewigten Schönheit des Leibes« in Aussicht gestellt wird.40 Gleichzeitig unterliegt der bio- und medientechnisch gestylte Körper einer doppelten Hinfälligkeit; er unterliegt einer Maßlosigkeit des Begeh38 | Vgl. H. Bublitz: ›Magic Mirrors‹, S. 112. 39 | Vgl. K. P. Morgan: Foucault, Hässliche Entlein und Techno-Schwäne – Fetthass, Schlankheitsoperationen und biomedikalisierte Schönheitsideale in Amerika, S. 156. 40 | Bublitz, Hannelore: »Himmlische Körper oder wenn der Körper den Geist aufgibt. Zur performativ produzierten Hinfälligkeit des Körpers.«, in: Sabine Mehlmann/Sigrid Ruby (Hg.): Für Dein Alter siehst Du gut aus. Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven. Bielefeld: transcript 2010, S. 33-50.; vgl. auch H., Bublitz: Das Maß aller Dinge.

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rens (nach Perfektion) und einem technisch beschleunigten Verfallsdatum, wie es für elektronische Medien, zu denen nun auch der Körper als technisches Medium zählt, längst gilt. Die mit technologischen Angeboten und Möglichkeiten entstehende Vervielfältigung der Wünsche vervielfältigt die Mängel und die Mangelhaftigkeit des realen Körpers, der sich ständig – Technologien – ›übergibt‹. Und sich, so scheint es, aus freien Stücken einem permanenten Gewichtsmanagement und einer ›inneren Polizei‹ überlässt, die dafür sorgt, dass Heißhungerattacken abgewehrt werden.41 Auf diese Weise verkörpert sich die Affirmation einer technisch-medial produzierten Ästhetik, die den makellosen, perfekten Körper an einen ökonomischen Markt- und Mehrwert koppelt und ihn zum Stellvertreter für Anziehungskraft und Attraktivität, vor allem aber daran gebundenen beruflichen Erfolg und sozialen Status wählt. Der an Messwerten ausgerichtete, wohlgeformte, schöne Körper, der sich erfolgreich dynamisch und flexibel durch die Welt bewegt, repräsentiert die Messlatte der gesellschaftlich Erfolgreichen, die an Messwerten ausgerichtete Auskünfte über sich und andere erteilen und den Körper als Distinktionsmedium einsetzen – wie auch deren Kehrseite, die Anhäufung von Elend und Perspektivlosigkeit. Biotechnisch zubereitete Körper zeugen von der ›Wiederkehr des Schönen‹, die, marktstrategisch in Szene gesetzt, das Begehren und Versprechen nach, nicht die Realisierung, einer ›schönen neuen Welt‹ genießen.42 Und wie andere Objekte der Massenkultur auch, zeigt er, aufgrund des maßlosen Hungers nach sexueller Attraktivität und Schönheit, Spuren des Verfalls und der Hinfälligkeit, denen immer wieder durch neue Produkte, durch neue Technologien, entgegengewirkt werden muss.43 Schließlich werden die Körpergrenzen durch technisch inspirierte Körperideale und -phantasmen ausgedehnt, wenn nicht überschritten. 41 | Vgl. K. P. Morgan: Foucault, Hässliche Entlein und Techno-Schwäne – Fetthass, Schlankheitsoperationen und biomedikalisierte Schönheitsideale in Amerika, S. 156f.; vgl. auch H. Bublitz: Das Maß aller Dinge, S. 28-33. 42 | Vgl. ebd.; C. Gutwald/R. Zons: Die Macht der Schönheit, S. 12f.; N. Wilk: Körpercodes, S. 220. 43 | Vgl. zum Kreislauf und zur Normalisierung des Mehr-Begehrens durch die Massenkultur H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert, S. 119-150.

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Es gibt keine Unmittelbarkeit von Körpern jenseits kultureller Repräsentation(sformen) und gesellschaftlicher Formung. Historische Körperbilder und -modelle widersprechen dem Körper als Ort des Natürlichen. Der Körper ist ohne das methodische System der Zeichen nicht zu denken und nie anders denn als immer schon symbolisch bedeutsamer, ›gesprochener Körper‹ zu haben. Kulturelle und soziale Körpercodes verweisen auf den Körper als Projektionsfläche historisch wechselnder Ein- und Überschreibungen. Selbst die elementaren (Bewegungs-)Formen des Körpers folgen kulturellen Mustern, die durch Nachahmung und Verinnerlichung weitergegeben werden. Eine kulturspezifische Gangart, eingeübte Körperhaltungen, die Art der Bewegung und Stellung einzelner Körperteile beim Gehen weisen ihn als kulturell geformten Körper aus. Die Spuren, die historische Ereignisse und subjektive Erfahrungen am Körper hinterlassen, können nur historisch und archäologisch rekonstruiert, nicht unmittelbar erschlossen werden.1 Diskurstheoretisch richtet sich der Blick auf den Körper als kulturelle Konstruktion, die sich mit spezifischen – sozialen – Praktiken und Subjektivierungsweisen verbindet. Diese Position ist zurückzuführen auf Foucault, der den Körper als historisches Objekt einer quasi physischen Präsenz des Wissens rekonstruiert und dessen physische Existenz er dem Kalkül von staatlichen Apparaten unterworfen sieht. Foucault entziffert den Körper und seine Sexualität ja bekanntermaßen als Konstrukt eines Dispositivs, das heißt, einer spezifischen Verschränkung von Diskursen, Praktiken, Architekturen, Programmatiken und Institutionen. Der Körper, scheinbar biologisches Substrat von Subjekten, ist diskurstheoretisch unbestreitbar der 1 | Vgl. Schmidt, Dieter: »Fossilien. Das Insistieren der Körper im Diskurs der Kulturwissenschaften.«, in: Annette, Barkhaus/Anne, Fleig (Hg.): Grenzverläufe. Der Körper als Schnittstelle. München: Fink 2009, S. 65-82.

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Ort, an dem sich diskursive Ereignisse, Machttechniken und Geschichte verschränken. Von zentraler Bedeutung sind die Auswirkungen von Macht-Wissenskomplexen, übersubjektiven Wissensordnungen, die sich über ein ganzes Bündel von Beziehungen zwischen Redepraktiken, Beobachtungs- und Wahrnehmungstechniken sowie institutionell-architektonischen und technischen Anordnungen im Subjekt zu spezifischen Körperpraktiken verbinden. Damit verliert ›der Körper‹, ebenso wie ›der Mensch‹, seine Funktion als überhistorische Referenz und biologisches Substrat; er ist nicht bloße, unverfügbare Natur, die es als ›Urgestein‹ archäologisch lediglich freizulegen gilt, oder die von sich aus zu uns spricht. Es gibt keine authentische Erfahrung und Unmittelbarkeit des Körpers jenseits kultureller Repräsentation(sformen) und kultureller Codes; vielmehr ist der Körper, wie Sarasin im Anschluss an Foucaults diskurstheoretisch angeleitete Analysen annimmt, »immer schon der Ort der Geschichte«2 . Foucault macht deutlich, dass es in der modernen Gesellschaft nicht darum geht, den Körper und das sexuelle Begehren zu unterdrücken; vielmehr geht es darum, den Körper  – als ökonomisches Kräftediagramm, als Objekt disziplinierender und normalisierender Machttechniken anzureizen und ihn, über architektonisch-institutionelle Anordnungen und Geständnispraktiken immer detaillierter bis ins Körperinnere zu durchdringen und die Bevölkerung immer globaler zu kontrollieren.3 Die »diskursive Explosion« um »den Sex«4 und das Sexualitätsdispositiv haben nach Foucault ihre Daseinsberechtigung darin, den gesamten Gesellschaftskörper und den ›Organo-Körper‹ jedes Individuums einer Überwachung zu unterziehen, in der sich Diskurse mit pädagogischen Maßnahmen (Pädagogisierung des kindlichen Sexes), medizinischen Praktiken (die den weiblichen Körper in direkten Zusammenhang mit dem Gesellschaftskörper und seiner Reproduktion bringen), psychiatrischen Korrekturtechniken (pathologischer ›Instinkte‹ wie der ›perversen Lust‹) und ökonomischen Formen der Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens verbinden.5 Alle Abweichungen werden auf körperliche, insbesondere sexuelle Ursachen zurückgeführt, allen voran auf das universelle 2 | Vgl. P. Sarasin: ›Mapping the body‹, S. 440. 3 | Vgl. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 125ff. 4 | Ebd., S. 27. 5 | Vgl. ebd., S. 125-138.

4  Das Archiv des Körpers – Körper-Diskurse

Geheimnis, das alle kennen und das von allen geteilt wird, über das aber niemand spricht: die Masturbation; sie erscheint diskursiv als Ursache allen Übels.6 Diese Aufwertung des Körpers hängt mit der diskursiven Etablierung des »historischen Repräsentationswertes, den die ›Kultur‹ des eigenen Körpers« 7 für das Bürgertum darstellt, zusammen. Die Diskursgeschichte des Körpers gibt den Blick auf ein Wissens-Archiv frei, das diskursive Konstruktionsapparate und Beschreibungen von Körperpraktiken, Wissensformen und (Körper-)Techniken enthält. In dieses Wissens-Archiv (als allgemeinem System von Aussagen) eingeschrieben sind diskursiv hervorgebrachte Körpercodes ebenso wie spezifische, kulturelle Körperpraktiken und -techniken, die in den handelnden Subjekten inkorporiert sind und Formen des Selbstbezugs generieren. »Dieser allgemeine Körpercode bildet den Hintergrund für ganz unterschiedliche Verhaltensweisen, die jedoch allesamt nicht verständlich und erklärbar wären, wenn sie sich nicht als ein Ergebnis eines allgemein geteilten Deutungsmusters darstellten […]. Entscheidend für das Verständnis von ›Praktiken‹ in der handlungstheoretischen Wissensanalyse des späten Foucault ist, daß der fragliche Wissenscode nicht auf der Ebene sich selbst reproduzierender Diskurse zu verorten ist, sondern als inkorporiert in den Akteuren erscheint, die die Praktiken hervorbringen«. 8

In der Rekonstruktion eines Korpus von Aussagen und ihrer Regeln und der  – genealogischen  – Analyse von Praktiken, mit denen die Subjekte und ihre Körper geformt werden, sich aber auch auf sich selbst beziehen und ihre Körper formen, werden Spuren lesbar, die die kultursomatischen Normen und Informationsmuster am Körper hinterlassen haben. Der Körper bildet gewissermaßen ein Archiv, in dem sich spezifische Konstellationen von kulturellem Wissen und Diskurs, von Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen sowie entsprechenden Visualisierungsstrategien verschränken und materielle Gestalt annehmen; zugleich verkörpert er das Archiv der Medien, die ihn repräsentieren und (re-)konstruieren. Medientechnische Apparate eröffnen einen spezifischen Zugang zum 6 | Vgl. M. Foucault: Die Anormalen; H. Bublitz: Diskurs und Habitus, S. 154ff. 7 | M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 150. 8 | Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist: Velbrück 2000, hier S. 298f.; Zit. n. R. Keller: Diskursforschung, S. 51.

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Körper und seiner Anatomie und Materialität, er bildet gewissermaßen deren Projektion. Das Archiv des Körpers spannt eine Beziehung auf zwischen Körpertechniken, Medien und Apparaten. Zugänglich ist auf diese Weise ein diskursiv (re-)konstruiertes Bild des Körpers. Das Archiv ist nicht die Summe aller Texte oder die Archive im Sinne von Institutionen, »die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren«9, sondern hier geht es um die diskursiven Bedingungen von Aussagensystemen. »Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht […]. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge […] sich in distinkten Figuren anordnen«.10 Das heißt, Aussagen über den Körper artikulieren sich innerhalb der Denk- und Praxisstruktur einer Kultur(epoche); sie bildet das kulturelle Unbewusste, die Voraussetzung, das historische Apriori für das, was gedacht oder gesagt wird. In der archäologischen Rekonstruktion dessen, was über den Körper gedacht und gesagt wird, geht es darum, die Aussagen und die Ökonomie sowie die Praktiken, die in einer Kultur und Gesellschaft zirkulieren, ans Licht zu bringen.11 Die Frage, was ›der Körper‹ oder ›der Mensch‹ sei, ist daher aus dieser Sicht nicht zu beantworten. Der diskurstheoretische Zugang zum Körper macht deutlich, dass Annahmen über ›den Körper‹ oder ›den Menschen‹ ebenso wie die eines natürlichen Körpers auf historisch erzeugten Denkmustern beruhen – und auch die Materialität des Körpers eine Geschichte hat, in die Ausschlüsse und Grenzziehungen eingeschrieben sind. Gegen die Auffassung großer Machtzentren und -apparate, aber auch gegen die großen Ideologien gewendet, richtet sich der diskursanalytische Blick auf das Funktionieren der Macht, dorthin, wo sich »wirksame Instrumente der Bildung und Akkumulation von Wissen, Beobachtungsmethoden, Aufzeichnungstechniken, Untersuchungs- und Forschungsverfahren und Verifikationsapparate«12 bilden.

9 | M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 187. 10 | Ebd. 11 | Vgl. dazu auch H. Bublitz: Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten, bes. S. 222-227. 12 | Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, hier S. 43.

4  Das Archiv des Körpers – Körper-Diskurse

Seine Gestalt erhält der Körper durch diskursive Muster und soziale Codes, Narrative, und Praktiken, Körpernormen und Normalisierungsmaßnahmen. »Natur und Materie des Körpers, so wie wir sie wahrnehmen, vorstellen, repräsentieren und bearbeiten [sind] keine verlässliche Referenz mehr außerhalb des Sprechens und Handelns« 13. Wie eine Landkarte ist der Körper historisch und kulturell kartografiert.14 Dadurch verwischen sich die Grenzziehungen zwischen Natur(geschichte) und Kultur(geschichte), zwischen biologischen und informationsverarbeitenden Systemen und damit auch die zwischen der ›Ordnung der Dinge‹ (Foucault) und der Ordnung der Zeichen, der natürlichen und der symbolischen Ordnung.15 Auch die Haut hat »ihre Funktion als Grenze zwischen innen und außen und als Grenze zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verloren, seit bildgebende Verfahren Repräsentationen des Körperinneren aus allen Perspektiven ermöglichen«; darüber hinaus »verwischen sich« auch »die Unterschiede zwischen biologischen und informationsverarbeitenden Systemen« 16 . (Bio-)technologische Modifikationen und Erweiterungen des Körpers transformieren herkömmliche Körperkonzepte. Psycho-Techniken der (Selbst-)Disziplin und der Askese stehen gegenwärtig dynamische Formen der technischen Verkörperung gegenüber.17 Zugleich verbirgt sich im Körper das kulturelle Unbewusste, »das Unbewußte als Quelle des gemeinsamen und spezifischen Charakters der sozialen Tatsachen« 18 . Aber zugleich ist der Körper in seiner kulturellen Codierung nicht bloß gesellschaftliches Konstrukt, nicht bloßer Diskurseffekt.19 Es gibt Einbruchstellen in den Repräsentationssystemen. Der Körper entgleist, verfehlt die Norm,

13 | Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 17651914. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, hier S. 11; vgl. P. Sarasin: ›Mapping the body‹. 14 | Ebd. 15 | Vgl. dazu auch P. Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 438; J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 298f. 16 | P. Sarasin: ›Mapping the body‹, S. 437ff.; vgl. auch E. Fox-Keller: Das Leben neu denken, und dies.: Das Jahrhundert des Gens. 17 | Vgl. u.a. K. Harasser: Körper 2.0. 18 | F. Dosse: Geschichte des Strukturalismus, S. 57. 19 | P. Sarasin: Reizbare Maschinen., S. 11.

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verletzt und wird verletzt, leistet Widerstand, auch als repräsentierter und repräsentativer Körper.

4.1 K örper -Techniken I: F igur ationen des politischen K örpers »Solange Herrschaft durch die Person eines Herrschers öffentlich vermittelt werden muss, bleibt die Notwendigkeit bestehen, diese Herrschaft zeichenhaft sinnfällig zu machen. Die Herrscher demonstrieren ihren Status durch Habitus, Mimik, Gestik, Kleidung und durch Herrschaftszeichen, das heißt durch die symbolische Erweiterung des Herrschaftskörpers im öffentlichen Raum«. 20

Foucault analysiert die politische Besetzung des Körpers; er spricht von einer ›politischen Anatomie‹, die sich nicht auf den Staat als ›Körper‹, sondern auf einen Macht-Wissens-Komplex richtet, der sich auf den Körper und das Wissen um und über den Körper bezieht. »Zu behandeln wäre der ›politische Körper‹ als Gesamtheit der materiellen Elemente und Techniken, welche als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege und Stützpunkte den Macht- und Wissensbeziehungen dienen, welche die menschlichen Körper besetzen und unterwerfen, indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen«. 21

Damit befreit er den Körper aus einer Denktradition, die ihn in ein Wissens-Archiv jenseits der Macht einordnet und rekonstruiert, wie sich der Körper als historisches Objekt des Wissens konstituiert. Foucault wendet sich einer Geschichte des politischen Körpers zu und bezieht sich zunächst auf die symbolische Erweiterung des Körpers des Souveräns im öffentlichen Raum. Er bezieht sich auf Kantorowizc, wenn er davon

20 | Wenzel, Horst: »Zwei Frauen rauben eine Krone.«, in: Regina Schulte (Hg.): Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der höfischen Welt seit 1500. Frankfurt a.M.: Campus 2002, hier S. 38. 21 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 40.

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ausgeht, dass es sich dabei um einen »zweifachen Körper [handelt], da er außer dem vergänglichen Element, welches geboren wird und stirbt, eines enthält, welches über die Zeit hinweg dauert und sich als der physische und gleichwohl unberührbare Träger des Königtums erhält«22 . Dieser unsterbliche Körper des Königs findet seinen Ausdruck, so Foucault, in der Ikonografie wie auch in den Ritualen der Krönung, im Spektakel der Bestrafung, der Marter, im Leichenbegängnis und in den Unterwerfungszeremonien. Im Mittelalter lassen sich demnach mindestens zwei, wenn nicht drei repräsentative Körperkonzepte bestimmen: die zwei Körper des Königs oder der Königin23, die sich in einen natürlichen und einen politischen Körper aufteilen und ein heiliger Bild-Körper, der ihnen an die Seite gestellt wird. Die Präsentation des Herrschaftskörpers im öffentlichen Raum ist gebunden an die Person und deren theatrale Repräsentation des

22 | Ebd., S. 40; vgl. dazu Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990; Schulte, Regina (Hg.): Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der höfischen Welt seit 1500. Frankfurt a.M.: Campus, 2002; Marek, Kristin: Die Körper des Königs: Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit. München: Fink 2007. 23 | Regina Schulte weist darauf hin, dass der Körper der Königin »zum Vexierbild aus theologischen Diskursen des Mittelalters, aus politisch verifizierbaren Daten und aus den Projektionen, die das Weibliche schon immer auf sich vereinigt hat« wird und der Körper der Königin von vornherein in ein politisches Konzept eingebunden zu sein scheint, das »die Weiblichkeit des Körpers der Königin auf seine ›natürliche‹, seine besondere geschlechtliche Dimension zurückverweist, »als sei es ihre Weiblichkeit, die die Politikfähigkeit des Körpers der Königin in die Schranken verweist. Seine politische Kraft scheint der Nähe zu einem männlichen Körper zu bedürfen – als Gemahlin des Königs, als Mutter zukünftiger Herrscher, als Witwe und Hüterin königlichen oder dynastischen Erbes. Die Weiblichkeit des Körpers der Königin konnotiert einen Mangel, aber eben diese Dimension hat in einem spezifischen historischen Kontext ihre Politikfähigkeit eröffnet. Denn auch der Körper des Königs hatte eine natürliche‹ Seite, gezeigt (…) seine Leiblichkeit konnotierte ihn mit dem Mangel, dem Weiblichen«. Vgl. R. Schulte: Der Körper der Königin, S. 11.

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Körpers. Das Physische und die Sichtbarkeit spielt in dieser öffentlichen Darstellung eine große Rolle.24 »Im Zeitalter der Klassik erfolgte Machtausübung demonstrativ, das ›Auge‹ machte Hierarchie evident, indem der Souverän sich und seine Symbole – prachtvoll, drohend – zeigte. Die Untertanen konnten sowohl den Glanz als auch die Gewalt der Ordnung ›sehen‹«. 25

Ebenso wesentlich ist die Bühne, das Theatrale – und damit auch die Inszenierung und die Maskierung, darin impliziert nicht nur eine artistische, sondern vor allem eine fiktive Dimension. »Das Politische an der Person ist gerade ihr ›fürstellender‹, repräsentativer Charakter, der Verkleidung und Stellvertretung kontaminiert, ›Kleid‹ um ›Kleid‹ annehmen kann und darum […] stets in einem prekären Bereich zwischen wirklich darstellender und bloß verstellender Repräsentation operiert«. 26

Diese Blickrichtung auf die Sichtbarkeit des Herrschers kehrt sich in der modernen Gesellschaft um; hier wird die Macht unsichtbar, während sich der Blick unerbittlich auf die ihr Unterworfenen richtet, allerdings nicht in personalisierter, sondern in anonymer und automatisierter Form. Auch das theatrale Modell der personalen Repräsentation transformiert sich und bleibt doch in gewisser Weise bestehen; es transformiert sich in ein theatrales Arrangement, in dem sich ein undurchsichtiges Netz ökonomischer Abhängigkeiten, ein ökonomisches Modell, das »eine heimliche Steuerung der Individuen vollzieht und die personale Gegenseitigkeit im sozialen Verkehr unterläuft«27, zwischen den Personen, den Individuen aufspannt. Die Regulierung dieser undurchsichtigen 24 | Der quasi-artistischen Repräsentation des symbolischen Herrschaftskörpers im öffentlichen Raum, die eine beträchtliche Inszenierungskraft erfordert, entspricht auf der anderen Seite eine Hinterbühne politischer Intrigen und Absprachen. 25 | Gehring, Petra: »Das invertierte Auge. Panopticon und Panoptismus.«, in: Marc Rölli/Roberto Negro (Hg.): Vierzig Jahre »Überwachen und Strafen«. Zur Aktualität der Foucault’schen Machtanalyse. Bielefeld: transcript 2017, hier S. 26. 26 | J. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 21. 27 | Ebd., S. 36.

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Beziehungen und Netzwerke erfolgt durch »unsichtbare Hände, Augen, Agenten und Funktionäre« und unterliegt damit einer »Vorsehung, die Entscheidungen korrigiert, Wünsche weckt und lenkt, Leidenschaften aussteuert, Allianzen stiftet und stabile Objektbeziehungen installiert«.28 Neben der Ökonomisierung des Körpers und seiner Einbindung in Produktionsapparate vollzieht sich eine Ökonomie, in der die Metapher der ›unsichtbaren Hand‹ als Metapher für »eine gewisse Unheimlichkeit ökonomischer Prozesse steht, in denen zirkulierende Objekte und Zeichen einen gespenstischen Eigensinn entwickeln«29. Die ›unsichtbare Hand‹ wird zur Metapher für eine Austauschrelation, in der Angebot und Nachfrage, Gebrauchs- und Tauschwert scheinbar ›Hand in Hand‹ gehen und eine Sozialform, in der verstreute Interessen und Praktiken sich, quasi wie bei einem physischen Körper-Organismus, durch einen ominösen Marktmechanismus zu einer ausgleichenden Ordnung zusammenfügen. Interessant, dass auch hier, auf der Ebene der marktförmigen Regulierung ökonomischer Prozesse, der Körper ins Spiel kommt; hier gehen Dinge ›Hand in Hand‹, was aber, unsichtbar, gleichsam wie ein Automatismus, die Ökonomie regelt. Das »Konzert unsichtbarer Hände«30 regiert demnach effektiver als jede sichtbar ordnende Hand staatlicher Souveränität. Die handgreifliche Körpermetapher, die hier ein Körperorgan, das im Hintergrund der Bühne des Marktgeschehens, als Steuerungsinstrument für ökonomische Dynamiken und Prozesse einsetzt, verdeckt und macht unsichtbar, dass hier blinde Mächte am Werk sind, fehlende Übersicht scheint die Voraussetzung, dass Steuerungsprozesse aus dem Feld des Sichtbaren rücken. Unberechenbare Ereignisse werden gerade dadurch unsichtbar, dass Unvorhersehbares durch das Medium der ›unsichtbaren Hände‹, die wie von Geisterhand wirken, sichtbar wird.31 »Die Metapher der ›unsichtbaren Hände‹ verweist in der Abwesenheit eines planenden Zentrums oder eines Masterplans auf divergierende, verstreut wirkende Einzelkräfte, die die Emergenz einer neuen Struktur oder einer ausgleichenden 28 | Ebd. 29 | Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals. Zürich: diaphanes 2010, hier S. 7. 30 | Ebd., S. 42. 31 | Vgl. ausführlich zur Metapher der unsichtbaren Hände Bublitz, Hannelore/ Kaldrack, Irina/Röhle, Theo/Winkler, Hartmut (Hg.): Unsichtbare Hände. Automatismen in Medien-, Technik- und Diskursgeschichte. München: Fink 2011.

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Ordnung bewirken. Sie rekurriert auf Steuerungsinstanzen, die aus dem Blickfeld des Sichtbaren gerückt, unsichtbar geworden sind […] Was hier geschieht, stellt sich nicht oder (wo)anders bzw. aus einem anderen Blickwinkel dar«. 32

Dieses Abwesende wird auch in der Figuration des Staatskörpers, im Leviathan, anschaulich; er »verleiht einem Abwesenden und Gesichtslosen Maske oder Gesicht« und doch bleibt das Abwesende unsichtbar, fiktiv: »Während nämlich der Körper dieses ›unvergleichlichen‹ Herrschers […] aus der Versammlung der Vielen hergestellt und geformt wird, aus einer Versammlung, die sich auf den Kopf des Leviathan hin ausgerichtet hat, sind gerade diese zur Einheit Versammelten aus dessen gekröntem Haupt selbst verschwunden; während die natürlichen Personen die ›fiktive‹ Person im transparenten Ausbau des Körpers erzeugen, wird gerade diese Fiktion in der naturalisierten Intransparenz der Gesichtszüge gelöscht; und während dieses Haupt wiederum den Betrachter anblickt, sind die in ihm zusammengefaßten Vielen für den Betrachter abgewandt und gesichtlos. Sie haben Gesicht und Stimme nur durch ihn und bleiben doch gerade durch ihn blind und stumm«. 33

Im Leviathan zeigt sich die körperliche Figuration eines Staatskörpers, der in seinem Körper die Territorien und die Bevölkerung repräsentiert, ohne sie sichtbar zu machen; er ist eben nicht bloßes Abbild der vielen Elemente Bevölkerung und ihrer Körper, sondern das »Bild einer stellvertretenden Repräsentation, die die Figurierten in der Figur defiguriert«34; sie damit also nicht verkörpert, sondern sie entkörpert, entmaterialisiert. »Sie ist […] ein Abbild nur insofern, als sie eine in sich gebrochene Logik des Abbildens vorführt«.35 Was hier gezeigt wird, ist eine Figur, die den künstlichen Menschen, die Bevölkerung repräsentiert, bevor sie sich als Gegenstand einer Ökonomie und buchhalterischen Kalküls konstituiert, die sie in ein System der Für- und Vorsorge integriert. Während der Souverän im Leviathan mit seinen Untertanen wie das Haupt mit den Gliedern eines Körpers verbun32 | Bublitz, Hannelore/Kaldrack, Irina/Röhle, Theo/Winkler, Hartmut: »Einleitung.«, in: H. Bublitz/I. Kaldrack/T. Röhle/H. Winkler (Hg.): Unsichtbare Hände, hier S. 12. 33 | J. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 25f. 34 | Ebd., S. 26. 35 | Ebd., S. 26.

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den ist und dieser als unbedeutende, gesichtslose Versammlung der Vielen erscheint, wird es seit dem 18. Jahrhundert als Bevölkerung Gegenstand einer Ökonomie, die sie in eine politische Anatomie des Gesellschaftskörpers integriert. Auch hier handelt es sich um eine Verdoppelung des Körpers der souveränen Macht: zum einen der symbolische Körper der Repräsentation, »der gesetzgebend und normspendend die Choreographie der Personen diktiert« und zum anderen der Körper, »der mit seinen Kräften und Wirkungen gleichsam die Physis des Gesellschaftslebens ausmacht«.36 »Analog zur Formel von den ›zwei Körpern des Königs‹, mit der Ernst Kantorowicz […] eine spezifische Verdoppelung des Körpers beschrieben hat: den sterblichen und den unvergänglichen, den physischen und den unverletzbaren Träger des Königtums, eine Zweiheit, die ausgehend von christologischen Modellen eine politische Ikonographie, eine Theorie monarchischer Regierung und bestimmte Rechtsmechanismen organisiert […], analog dazu könnte man nun, seit dem 17. Jahrhundert, von den ›zwei Körpern des Staats‹ sprechen: von einem symbolischen bzw. repräsentativen, der sich als Konfiguration eines gemeinsamen Willens ausweist, diesen Gemeinwillen inkorporiert und zeitlos macht; und von einem physischen, der den Zusammenhang von Bevölkerung, Individuen und Gütern umfasst und […] einen Komplex aus veränderlichen ›Kräften‹ und ›Vermögen‹ organisiert«. 37

Es entsteht eine Nationalökonomie, die den Körper und seine biologischen Prozesse als politischen Körper organisiert, ihn ökonomisch verwaltet und optimiert und ihn damit in die politische Ökonomie integriert. »Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen […]. Es ist der »Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle«38. Konkret bedeutet das, dass sich historisch am Körper zwei Machtformen entwickeln, die durch vielfältige Beziehungen miteinander verbunden sind, zum einen die, die um »den Körper als Maschine […], seine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische Kontrollsysteme«, kurz, die »Machtprozeduren der Disziplinen: politische Anatomie des menschlichen 36 | Ebd., S. 38. 37 | Ebd., S. 51. 38 | M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 170.

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Körpers« herum angeordnet sind, zum anderen, die, die »um den Gattungskörper zentriert« sind und die »Bio-Politik der Bevölkerung«39 betreffen. Beide Machtformen, so führt Foucault aus, beziehen sich auf »die vollständige Durchsetzung des Lebens«, die die alte souveräne Macht des Königs, die sich in der Mächtigkeit des Todes symbolisierte, überdeckt; stattdessen »sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens«.40 Der Bevölkerungskörper ist nun »nicht mehr im symbolischen und unvergänglichen Körper des Souveräns abbildbar. Er konstituiert sich vielmehr als Gegenstand eines Funktionswissens, das von den Gesetzen der Physik und Physiologie bis hin zur Regularität der Kommunikationen reicht und das Staatsleben nicht in einer symbolischen Ordnung, sondern als kontrollierbares Kräftefeld erfasst«.41 Es entsteht eine Ökonomie, die sich nicht, wie im 19. Jahrhundert, auf ein ökonomisches System im engeren Sinne, also auf die Produktion, Distribution und Zirkulation und Konsumtion von Gütern und Waren bezieht, sondern auf alle Daten und Bewegungen, die das Leben der Bevölkerung und ihren materiellen und sozialen Austausch und dessen Optimierung betreffen. Es geht um eine »Ökonomie des Regierens, die eine umfassende Kontrolle des Details mit einer Gewinn- und Verlustrechnung kombiniert, die die Stabilität der Gesellschaft und die Selbsterhaltung des Staates durch einen Prozess fortlaufender Selbstüberprüfung und -regulierung der Bevölkerung garantiert«42. Dies erfolgt im Rekurs auf Quantifizierungstechniken der Buchführung, durch die Bilanzierung von Gewinn und Verlust. »Dieser Staat erfährt schließlich seine Selbstgewissheit nur dort, wo er im Prozess permanenter Bilanzierung sicherstellt, dass ihm nichts verloren geht«.43 Die Ökonomie entwickelt sich als »Technologie des Regierens«, die den »Zugriff auf die kontingenten Daten des sozialen Verkehrs« einer Bevölkerung reguliert, die »nicht einfach eine Ansammlung von Leuten« ist, sondern »ein Gewebe aus lebenden, tätigen, tauschenden, begehrenden und sich fortpflanzenden Individuen, das eine Vielzahl von Interventionsmöglichkeiten unterschiedlichster Art nahelegt«44 und schließlich ökonomisches und biopolitisches 39 | Ebd., S. 166. 40 | Ebd., S. 167. 41 | J. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 53. 42 | Ebd., S. 61. 43 | Ebd. 44 | Ebd., S. 78f.

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Wissen verbindet, denn der Bevölkerungskörper bildet gewissermaßen die Grundlage des Vermögens und Reichtums der Gesellschaft; die Steuerung der Individuen und die Regulierung der Bevölkerung verbindet sich zu einer politischen Ökonomie eines produktiven Sozialkörpers. Diese neue Re­ g(ul)ierungs-Technologie koordiniert die Akkumulation von Menschen mit der des Kapitals; diese setzt die produktive Nutzung des – ökonomischen – Potentials der Individuen und der Bevölkerung voraus. »Die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation, die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits wurden auch durch die Ausübung der Bio-Macht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren ermöglicht. Die Besetzung und Bewertung des lebenden Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte waren unentbehrliche Voraussetzungen«. 45

4.2 D ie M aschinenme tapher als C hiffre des L ebendigen »Das große Buch vom Menschen als Maschine wurde gleichzeitig auf zwei Registern geschrieben: auf dem anatomisch-metaphysischen Register, dessen erste Seiten von Descartes stammen und das von den Medizinern und Philosophen fortgeschrieben wurde; und auf dem technisch-politischen Register, das sich aus einer Masse von Militär-, Schul- und Spitalreglements sowie aus empirischen und rationalen Prozeduren zur Kontrolle oder Korrektur der Körpertätigkeiten angehäuft hat. Die beiden Register sind wohlunterschieden, da es hier um Unterwerfung und Nutzbarmachung, dort um Funktionen und Erklärung ging: ausnutzbarer Körper und durchschaubarer Körper«. 46

45 | M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 168. 46 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 174.

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Phantasmen der Moderne sind mit dem Körper verbunden, dessen Organismus gewissermaßen ›(maschinen)lesbar‹ in die Schrift gezwungen wird. »Mit dem Aufstieg der Human- und Sozialwissenschaften […] übernimmt das Subjekt, speziell sein Körper, die Funktion eines Forschungs- und Untersuchungsgegenstandes, in den sich die Wahrheit der Wissenschaft in Form herrschender Diskurse […] einschreiben kann. Der Mensch als ein im Körper repräsentiertes Objekt wird zum Text, der Wissen und Macht in sich trägt und dessen Bedeutung von den Agenten des Wissensregimes […] entziffert und gelesen werden kann«. 47

Der Körper erscheint als Text und Konstrukt, er ist, so gesehen, Natur aus zweiter Hand und steht damit für das symbolisch und technisch Machbare, Konstruierte und Kontrollierte. Als Projektionsfläche für historisch wechselnde Einschreibungen erscheint er, wie seine physischen Grenzen, potentiell veränderbar. Der Körper, den die Moderne anatomisch und physikalisch ergründet, technisch formiert und kontrolliert, ist der rekonstruierbare und verfügbare Körper. Automat und Maschine werden zur Chiffre des Lebendigen. Aber in Maschinenmetaphern gelesen, sagt das Modell weniger über den körperlichen Organismus als vielmehr über das Modell und das Erkenntnissubjekt selbst aus. Denn »als Wesen, die in der Sprache leben, als Wesen, die vom Symbolischen strukturiert sind, als das ›komplizierte Apparätchen, das da im Nervensystem verkörpert ist‹ und das wir sind, funktionieren wir wie eine Maschine«.48 Es ist also immer nur ein Bild oder Modell vom Körper, nicht der Körper selbst, der symbolisch repräsentiert wird. Streng genommen ist die Repräsentation des Körpers als Maschine eine Metapher, die weniger den Körper als vielmehr den menschlichen Geist repräsentiert. »Die Frage, was der Körper ist, was das Lebendige ›wirklich‹ ist, scheint keine lösbare Frage zu sein; entscheidend ist daher, welches Bild – in einem Text, als visuelle Abbildung oder als Inszenierung – wir uns vom Körper machen«.49 Seit Descartes spielt die Maschinenmetapher für das Bild des Körpers und die Vorstellung, was der Körper sei, eine zentrale Rolle. So sieht 47 | Reuter, Julia: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: transcript 2002, hier S. 201. 48 | P. Sarasin: Der öffentlich sichtbare Körper, S. 419. 49 | Ebd., S. 420.

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Descartes den Menschen als perfekte (Körper-)Maschine, die wie eine Uhr oder ein vollkommener Automat nach den Gesetzen ihres Triebwerks funktioniert. Der Automat erscheint als vollkommen vorbildlicher Mensch. »Wie eine Maschine gestaltet sein müsste, die unserem Körper ähnlich ist«, schreibt Descartes in seinem Traktat De L’Homme (1632) und sucht Parallelen zu technischen Produkten seiner Zeit; sein Maschinenmodell ist die Uhr; ihr Vorbild ist es, das ihn anregt, den Menschen als maschinenähnliches Substrat zu entwerfen, dessen Körper wie ein mechanisches Gefüge funktioniert. In diesem unvollendet gebliebenen Versuch geht Descartes nicht vom Menschen selbst aus, sondern vom Modell einer Menschenmaschine, die es ihm gestatten soll, den Körper-Menschen unter Vorgaben des mechanischen Funktionszusammenhangs der Maschine zu reproduzieren.50 Der Mensch als Maschine figuriert anatomisch und philosophisch als Modell, das im Grunde die Reproduktion des Menschen verspricht. Damit verkörpert es ein antiklerikales Emanzipationsversprechen: Materie und Technik treten an die Stelle einer Seelenmetaphysik, die medizinisch unter Druck gerät und religiös begründete Macht- und Herrschaftsansprüche, zumindest theoretisch, außer Kraft setzt. Das Körpermodell, das hier präsentiert wird, entwirft den Körper des Menschen ähnlich dem einer Maschine; es begründet Lebensprozesse materialistisch. Während bereits Descartes das Modell des Körper-Menschen mit dem eines Automaten koppelt, Seele und Geist aber ausklammert und versichert, dass der Geist sich substantiell vom Körper unterscheidet, werden diese von La Mettrie etwa hundert Jahre später in seine Analogie von Mensch und Maschine einbezogen. Damit wird ein vollständiger Bruch mit dem Leib-Seele-Dualismus, wie er noch in Descartes’ Modell regiert, vollzogen. Der Automat wird hier zum Inbegriff des Lebendigen; er ist gewissermaßen das perfekte anatomische Vor-Bild des Menschen als Funktionsmaschine. Technik und Materie liefern fundamentale bewegende Prinzipien der Selbstbewegung. Es geht also nicht länger um eine Analogie von Mensch und Maschine; vielmehr formuliert La Mettrie die Annahme, dass der Mensch unter die Maschine subsumierbar sei. Die Maschine(nmetapher) ist das Produkt einer diskursiven symbolischen Aktivität  – und eines spezifischen epistemologischen Zugangs 50 | Vgl. Descartes, René: Über den Menschen (1632). Heidelberg: Schneider 1969; W. Kutschmann: Der Naturwissenschaftler und sein Körper, S. 90f.

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zum Körper. »Seit der Neuzeit untersucht man, wie der Körper gebaut ist, wie sich seine Teile zueinander verhalten und wie er funktioniert: eine sehr komplizierte ›Maschine‹, die in verwirrender, fremdartiger Weise wir selbst sind«.51 Am Leichnam und seinen Körperteilen lässt sich der lebendige Körper – und damit das Leben – rekonstruieren. Sarasin interpretiert den Willen zum Wissen über den Körper und die »Inszenierungen von Körpern in der Öffentlichkeit« und die öffentlichen Bilder des Körpers als »Modell und Versprechen«52, den öffentlich sichtbaren Körper als phantasmatischen Ort, »an dem mehr ›gesehen‹ wird, als was die empirische Beobachtung den Anatomen und Physiologen enthüllt«.53 Aber es geht um mehr, es geht auch um Verfügungsbereitschaft und (Re-)Konstruktion. Dies ist zunächst am ehesten über den toten Körper, den Leichnam, möglich. »Der Leichnam liefert erste Strukturen für die theoretische Reduplikation des Körpers, er war sozusagen die empirische Vorform der späteren Modelle des Körpers, die als mechanische Entwürfe zur Verfassung der menschlichen Natur entwickelt wurden«.54 Anatomische, öffentliche Vivisektionen entwickeln sich zu wahren Spektakeln; sie gehörten zu einer Kultur, »in der die kontrollierte, inszenierte öffentliche Exekution oder eben auch Zerlegung des Körpers noch nicht tabuisiert war«55. Sarasin resümiert für den Zeitraum von 1600 bis zur frühen Neuzeit: »Der öffentlich geöffnete Körper gehört zur Kultur der Anatomie […] und des religiösen Heilsversprechens«56, während die Körper in der Physiologie des 19. Jahrhunderts aus der Öffentlichkeit verschwinden. Die Phantasmen bleiben jedoch. Aber in der Folgezeit rückt der Leistungskörper, »der Körper der sportlichen Efficiency-Spezialisten« ins Zentrum des Interesses (der Physiologen, der Öffentlichkeit). Ende des 19. Jahrhunderts geht es um das Bild des Körpers, wie er, dank fotografischer Abbildverfahren und grafischer Aufzeichnungsmethoden zwar vorgeführt wird, aber

51 | P. Sarasin, Der öffentlich sichtbare Körper, S. 421. 52 | Ebd., S. 421. 53 | Ebd., S. 422. 54 | W. Kutschmann: Der Naturwissenschaftler und sein Körper, S. 90. 55 | P. Sarasin, Der öffentlich sichtbare Körper, S. 434. 56 | Ebd., S. 437.

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nicht ist. Der Körper erscheint als »technobiologischer Organismus«, von dem ein Versprechen ausgeht, das Phantasma des Körpers als »Selbstvervollkommnungsmaschine«57. Dieses Versprechen ist nur über ein Bild zugänglich: »Die Macht des physiologischen Diskurses bestand darin, im Bild des öffentlich sichtbaren Körpers der Efficiency-Spezialisten einen sublimen Körper zu zeigen, der in moderner Weise Gesundheit und Heil zu versprechen schien«.58 Das Wissen um den ›normalen‹ und leistungsstarken Körper speist und strukturiert sich aber nicht nur aus diesen Körpermaschinen, sondern auch aus dem Wissen um den ›abnormalen‹ monströsen Körper. Während diese zunächst als ›Wunderkörper‹ auf den Jahrmärkten und im Zirkus auftreten, treten sie in den Wissenschaftsdiskursen u.a. der Physiologie des 19. Jahrhhunderts als Objekte des Wissens, als Irrtümer entwicklungshistorischer Prozesse des Lebens auf. Sie werden zunächst als anthropologische Objekte taxonomischer Klassifikationssysteme, später eingeordnet in eine Normalisierungsmatrix zur Sprache gebracht. Zugleich verbinden sich mit monströsen Körpern Beherrschbarkeits- und Normalisierungsstrategien, deren Fokus sich auf die disziplinäre Normierung und Normalisierung des Lebens richtet.59 Die Physiologie und die Anatomie avancieren zu Leitwissenschaften des 19. Jahrhunderts. Zugleich bilden sich auf das Leben gerichtete Machttechnologien heraus, die den Körper in einem kultur- und epochenspezifischen Sinn hervorbringen und formen. Wie Foucault zeigt, sind die Wissensformationen nicht von den politischen und ökonomischen Techniken zu trennen; er beschreibt zwei Register, in denen der Mensch als Maschine entworfen wird, das anatomisch-metaphysische Register der Wissenschaft und das technisch-politische Register der Zwangsprozeduren, die zusammenwirken. Es ist naheliegend, davon auszugehen, dass sowohl die cartesianische Vorstellung des Körpers als Automaten als auch La Mettries materialistische Begründung von Körper und Geist oder anthropomorphe Maschinenmetaphern einen Bezug zu einer Wissensproduktion haben, die sowohl mit Naturbeherrschung als auch dem Einsatz der Körpermaschine in 57 | Ebd., S. 447-451. 58 | Ebd., S. 451. 59 | Vgl. zum gesamten Komplex der Wissensgeschichte monströser Körper und deren Normalisierung B. Stammberger: Monster und Freaks.

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den Manufakturen in Beziehung stehen. Aber es sind nicht bloß ökonomische, aber auch nicht bloß technische Modelle, die hier zum Ausdruck kommen. Denn »die berühmten Automaten waren nicht bloß Illustrationen des Organismus; sie waren auch politische Puppen, verkleinerte Modelle von Macht«60. Foucault spezifiziert diese Macht: »Es geht nicht darum, den Körper in der Masse, en gros, als eine unterschiedslose Einheit zu behandeln, sondern ihn im Detail zu bearbeiten; auf ihn einen fein abgestimmten Zwang auszuüben, die Zugriffe auf der Ebene der Mechanik ins Kleinste gehen zu lassen: Bewegungen, Gesten, Haltungen, Schnelligkeit. Eine infinitesimale Gewalt über den tätigen Körper«61 und seine Kräfte. Der Körper ist die Schnittstelle diskursiver Rhetoriken und Macht; diese »Körperlichkeit der Macht beruft sich […] auf die automatische Gelehrigkeit und Fügsamkeit«, die »eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung im Körper miteinander verkettet«.62 Dadurch wird der Körper selbst quasi zur Maschine, der bis in seine einzelnen Körperteile von einem kalkulierten Zwang durchzogen ist, der sich, wie Foucault annimmt, in die »Automatik der Gewohnheiten«63 durchsetzt. In diesem Zusammenhang ist der Körper Gegenstand umfassender Aufzeichnungen von Daten und Registern. Während der Automat mit dem Prinzip der Selbststeuerung jedoch gemeinhin als Ausdruck einer programmierten Wiederholung des Immergleichen nach vorgegebenen Regeln gilt, bildet der Automat sowohl bei Descartes als auch im Automatendiskurs ein Ideal und eine Chiffre des Lebendigen, der mehr ist als bloße Metapher, sondern vielmehr auf eine spezifische Funktionsweise des Körpers hinweist. Bezogen auf den Körper bedeutet das, dass der Automat für mehr steht als Unterwerfung und Gefügigkeit des Körpers. Er figuriert zum einen das Prinzip der Selbstbewegung und Selbststeuerung, die Verfügbarkeit des Lebendigen, jenseits von dessen Steuerung durch Willen und Bewusstsein wie auch dessen mögliche Rekonstruktion. Zum anderen impliziert dies die Perfektionierung einer Automatisierung der Macht und ihres automatisierten, anonymen Zugriffs auf den Körper, der sich ihr nicht oder kaum entziehen kann und gewissermaßen zum »›physika60 | Foucault: Überwachen und Strafen, S. 175. 61 | Ebd., S. 175. 62 | Ebd., S. 177; vgl. dazu auch J. Reuter: Ordnungen des Anderen, S. 201. 63 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 173.

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lischen‹ Gefängnis« einer Macht wird, die qua Apparaturen und Architekturen gewissermaßen als augenlose Kontrolltechnik operiert. Beides verweist auch auf das Versprechen der Vervollkommnung (der Kontrolle) des Menschen, bei der der Körper zum Teil einer Maschinerie, »einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken«64 wird; an die Stelle der symbolischen, personalisierten Macht des Souveräns mit ihren Zeremonien und Ritualen tritt nun die automatisierte und entindividualisierte Maschinerie, in die der Körper als potentiell immer sichtbarer eingebunden ist. Die Faszinationskraft der Selbsttätigkeit technischer Automaten und Anordnungen speist sich zweifellos aus einem Denken, das auf Bemächtigung und Beherrschung rekurriert. Die Technik ergreift den ganzen Körper; er unterliegt einem technischen Druck, den Freuds Psychoanalyse dann später, um 1900, auch auf den psychischen Apparat ausdehnt. Der seelische Apparat wird als »anatomisches Präparat« bestimmt und dieses wiederum technisch wie ein »zusammengesetztes Mikroskop«, ein fotografischer Apparat konstruiert, dessen anatomischer Nachweis keineswegs existiert, »sondern nur als Gleichnis oder Bild im doppelten Wortsinn existiert: als eine hypothetische oder virtuelle Optik, die ihrerseits neben physikalisch-realen Elementen auch im technischen Wortsinn virtuelle Bilder einschließt«65. Der Körper als psychophysischer, gewissermaßen medientechnischer Apparat. Technische Beherrschung erfasst hier nicht nur äußere Natur (in der Produktion), sondern auch »die innere Natur des Menschenkörpers«.66 Das Bild des transparenten, durchschaubaren Körpers und das des mechanischen Apparats erfüllen gleichermaßen eine phantasmatische Funktion, es verweist auf die Möglichkeit der (Re-)Konstruktion und mit ihr auf das Versprechen der potentiellen Kontrollier-, Steuer- und Machbarkeit. Dadurch transformiert sich das Versprechen des gelehrigen, unendlich nutzbaren Körpers in das phantasmatische Versprechen des – technisch – Machbaren und der Verfügbarkeit – ein Versprechen, dessen Erfüllung auf einer anderen Ebene, der der Durchsetzung und Verwaltung des Lebens der Spezies Mensch in den Vordergrund rückt. 64 | Ebd., S. 259. 65 | Kittler, Friedrich: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink 2000, S. 201-211. 66 | Ebd., S. 212.

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4.3 K örper -Techniken II: Z wangsprozeduren , B lick-R egime , K örper  – integriert in einen ger äuschlosen A ppar at »Der Körper des Königs mit seiner merkwürdigen, materiellen und mythischen Gegenwart, mit seiner Kraft, die er selber entfaltet oder anderen überträgt, bildet den extremen Gegensatz zur neuen Physik der Macht […]; ihr Bereich ist jene Niederung der ungeordneten Körper mit ihren Einzelheiten vielfältigen Bewegungen, mit ihren heterogenen Kräften und räumlichen Beziehungen. Es handelt sich um Mechanismen, welche Verteilungen, Verschiebungen, Serien, Kombinationen analysieren und Instrumente einsetzen, um sichtbar zu machen, zu registrieren, zu differenzieren und zu vergleichen: es ist die Physik einer beziehungsreichen und vielfältigen Macht, die ihre größte Intensität nicht in der Person des Königs hat, sondern in den Körpern, die durch eben diese Beziehungen individualisiert werden«. 67

Foucault schildert die Veränderungen eines Gefüges, das sich auf die Sichtbarkeit des Souveräns und die demonstrative politische Repräsentation seines Körpers, aber auch auf den öffentlich gebrandmarkten Körper der Untertanen bezog. Dieser im klassischen Zeitalter erfolgten Form der Machtausübung, die an physisch zur Schau gestellten Symbolen von Macht und Herrschaft ausgerichtet ist, stellt Foucault eine moderne Ordnung gegenüber, die ihre Blickrichtung gleichsam umdreht und den Blick auf die ungeordneten Körper der Vielen mit ihren Einzelheiten, vielfältigen Bewegungen und heterogenen Kräfte richtet. Sie bezieht sich auf eine spezifische Ökonomie der Bewegungen des Körpers, seine Haltungen und Gewohnheiten. Mit der Arbeitsteilung entstand die Notwendigkeit, die verschiedenen Tätigkeiten zu überwachen und zu koordinieren. Voraussetzung ist die Disziplin, die die Macht des Körpers spaltet, einerseits in einen gelehri67 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 267f.

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gen Körper, der Übungen absolviert und daduch seine Tauglichkeit steigert, und andererseits in einen unterworfenen Körper, der den Körper mit der Maschine verbindet und ihn ihr unterwirft. Es geht darum, ihn künstlich als effektiven Kräftekörper zu einer Körpermaschine zusammenzusetzen, die in den Werkstätten und Manufakturen, später in den Fabriken zum Einsatz kommt und den Körper als Produktionsmaschine unterwirft. Hier verschränkt sich beides, es gibt Überschneidungen beider Register, des anatomisch-metaphysischen und des technisch-politischen Registers; beides sind Disziplinen des Körpers, die »›politische Anatomie‹, die auch eine ›Mechanik der Macht‹«68 ist und die Disziplinartechniken, die die Kräfte des Körpers steigern und Nützlichkeitseffekte erzielen. »Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt«.69 Es sind historische Zugriffe auf den Körper, die ihn als Objekt des anatomischen Blicks als transparenten Körper konstituieren und als Körpermaschine technisch verfügbar machen. Es geht dabei um ein Blickregime, das eine Zwangsordnung installiert, die vom Blick regiert wird und um eine Art Mikrophysik, die den individuellen Körper durch Abrichtungs- und Zwangsprozeduren in ein Kontrollsystem einspannt, das anstelle von Strafen die vollständige Überwachung, anstelle seiner bloßen Unterwerfung die Abrichtung, Ausnutzung und Verfügbarkeit des Körpers gewährleistet. An der militärischen Ausrichtung und Dressur des Körpers orientiert, wird der Körper zur Zielscheibe einer Macht, die ihn manipuliert, und damit die Kontrolle seiner Bewegungen, Gesten und Haltungen so durchsetzt, dass »ein kalkulierter Zwang jeden Körperteil durchzieht« 70. Sichtbarmachung und Registrierung ermöglichen nicht nur die Dauerbeobachtung, sondern auch die intensive Ausnutzung des Körpers. Dem Körper als Symbol von Macht und Herrschaft, der seine Unversehrtheit im »Fest der Martern« und in der zum Spektakel dargebotenen Bestrafung des öffentlich, tot oder lebendig ausgestellten, gebrandmarkten und verstümmelten, ja, zerstückelten Verbrecherkörpers quasi wieder herstellt, entspricht der Körper als Objekt unmittelbar physischer Bestrafungen und »Hauptzielscheibe der strafenden Repression«. Dieser 68 | Ebd., S. 176. 69 | Ebd. 70 | Ebd., S. 173.

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Körper der »peinlichen Strafen« weicht historisch in der modernen Gesellschaft dem ›gelehrigen Körper‹ als Gegenstand des Wissens, der lückenlosen Registrierung und Zurichtung, der Techniken der Verbesserung, der Erziehung und Heilung unterworfen wird. Sie verdrängen die geräuschvollen Strafpraktiken und das prunkvolle Schauspiel der Bestrafung. Während sich der direkte, unmittelbare Zugriff auf den Körper lockert, wird der Körper nun »in ein System von Zwang und Beraubung, von Verpflichtungen und Verboten gesteckt«.71 Der Zugriff auf den Körper erfolgt distanzierter, subtiler und geräuschloser; das Zeremoniell der Strafe tritt ebenso wie das physische Leiden und der körperliche Schmerz, wie Foucault deutlich macht, spätestens Ende des 18. Jahrhunderts ins Dunkel. »Aufgrund dieser neuen Zurückhaltung wird der Scharfrichter, der unmittelbare Anatom des Leidens, von einer ganzen Armee von Technikern abgelöst«.72 Die körperlichen (Straf-)Praktiken sind nun in eine »›politische Ökonomie‹ des Körpers« einzuordnen, die den Körper an ein Wissen vom Körper und an seine ökonomische Nutzung binden. Seine Konstitution als Arbeitskraft und Unterwerfung als Produktionskraft ist, wie Foucault annimmt, nur innerhalb eines Unterwerfungssystems möglich, das sowohl direkt physisch als auch indirekt, auf jeden Fall aber kalkuliert und technisch auf den Körper einwirkt. Dieses Wissen um den Körper ermöglicht den Zugriff einer strategisch operierenden Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird, auf die Körper in ihrer Materialität.73 71 | Ebd., S. 18. 72 | Ebd., S. 19. Foucault macht deutlich, dass sich der Zugriff auf den Körper auch in der modernen Gesellschaft (seit dem 19. Jahrhundert) nicht völlig gelöst hat, schließlich steht der Körper weiterhin im Zentrum von Strafpraktiken des Nahrungsentzugs, der Entziehung sexueller Möglichkeiten, der Isolierung und Züchtigung. Eine »unkörperliche Züchtigung«, was sollte das sein? (vgl. ebd., S. 24-25). 73 | Foucault weist darauf hin, dass nicht erst die »politische Ökonomie des Körpers«, sondern auch die »peinlichen Strafen« der Marter von einem Kalkül bestimmt waren, denn sie musste, um Marter zu sein, durchaus Kriterien beachten, nämlich: »eine bestimmte Menge an Schmerzen erzeugen, die man, wenn schon nicht messen, so doch abschätzen, vergleichen und ordnen kann; der Tod ist eine Marter, sofern er nicht einfach den Entzug des Lebensrechts darstellt, sondern Anlaß und Abschluß einer kalkulierten Abstufung von Schmerzen. […] Die Marter beruht auf einer quantifizierenden Kunst des Schmerzes. Aber diese Erzeugung

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Foucault beschreibt, welche Maßnahmen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ergriffen wurden, um die Krankheit (der Pest) unter Kontrolle zu bringen. Es sind Maßnahmen der lückenlosen Überwachung. Zunächst erfolgt »ein rigoroses Parzellieren des Raumes. […] Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden«.74 Dieses Überwachungssystem setzt sich fort in ein »lückenloses Registrierungssystem« 75, das die überwachten Individuen in feste Räume und Positionen einspannt, »die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert«.76 Jedes Individuum wird ständig erfasst, geprüft und aufgeteilt. Es geht darum, die Verwirrungen zu entwirren, zu verhindern, dass die Körper sich mischen und vervielfältigen. Angestrebt wird eine Ordnung, die jedem vorschreibt, was ihm geschieht und jedes Individuum charakterisiert. Hier geht es um den ›wahren‹ Körper, die ›wahre‹ Krankheit, die man jedem zuweist. Die Angst vor der Vielfalt und den ungeordneten Ansammlungen und Aufständen, vor ›Ansteckungen‹ führt zur Reglementierung der Körper bis ins feinste Detail ihrer Existenz. Im Grunde werden die Individuen als Gesellschaftsmitglieder wie ›Aussätzige‹ behandelt, sorgfältig erfasst und individuell differenziert, sortiert und eingeteilt. Dies dient zum einen der Unterscheidung, Zweiteilung und Stigmatisierung, zum anderen der zwanghaften Einstufung und disziplinierenden Aufteilung. Die Disziplinartechniken der Kontrolle, Messung und Besserung, die gegen die Pest und die Krankheiten entwickelt wurden, werden dann eingesetzt, um die Individuen überhaupt präventiv zu überwachen. Es entwickelt sich ein System, das ermöglicht, »ohne Unterlaß zu sehen« 77. Diese radikale und permanente Sichtbarkeit hat auch ihre Regeln. Die Marter setzt die Art der Körperbeschädigung, die Qualität, die Intensität, die Länge der Schmerzen mit der Schwere des Verbrechens in Beziehung« (ebd., S. 46). Die Marter hinterläßt, als Teil eines Rituals, Zeichen am Körper, sie ist brandmarkend. Und sie muss aufsehenerregend sein und im Gedächtnis bleiben. »Sie ist«, wie Foucault schreibt, »eine differenzierte Produktion von Schmerzen, ein um die Brandmarkung der Opfer und die Kindgebung der strafenden Macht herum organisiertes Ritual […]. Im ›Übermaß‹ der Martern ist eine ganze Ökonomie der Macht investiert« (ebd., S. 47; Kursive Hervorhebg. H.B.). 74 | Ebd., S. 251f. 75 | Ebd., S. 252. 76 | Ebd., S. 253. 77 | Ebd., S. 258.

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stellt »das automatische Funktionieren der Macht« 78 sicher, auch wenn sie nur sporadisch durchgeführt wird. Das Panopticon repräsentiert eine Macht(form), die automatisch und kontinuierlich/immer funktioniert  – es produziert die Möglichkeit der Beobachtung und Kontrolle, die unabhängig vom Beobachter und dessen faktischer Präsenz funktioniert – es ist eine Struktur, die individualisierte Kontrolle autonom reproduziert. Der Körper wird in eine produktive Machtmaschinerie integriert, die sein »automatisches Funktionieren« 79 gewährleistet  – und zwar, »ohne dass jemand etwas tun muss«; vielmehr operiert diese zwar sichtbare, aber doch »uneinsehbare« und insofern anonym und automatisch operierende Macht über ein Arrangement, die Architektur, die »Regie des Gebäudes […], die Schaffung fester und sogar lediglich möglicher Blickbahnen«, die die »physische Kraftprobe oder Kollision« wie auch die »händische« Durchsetzung von Hierarchien erübrigt 80. Es geht um die »Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes«,81 dessen Bedeutung allerdings nicht primär in der Fokussierung des Blicks auf die unterworfenen Körper, sondern, wie Petra Gehring annimmt, eher in der Nicht-Präsenz, der »Virtualisierung des Beobachterblicks«, dessen Permanenz und anonymer, automatischer Funktionsweise liegt.82 Supplement des Körpers ist hier die Automatisierung und Permanenz des Gesehenwerdens, die zur körperbewussten Selbststeuerung, zur Disziplin, zwingt. An die Stelle der unmittelbar physischen Bestrafung und Verstümmelung des Körpers tritt die Omnipräsenz einer entpersonalisierten Macht, die den Körper ›gefangen nimmt‹ und ihn einsperrt in Disziplinarräume und -techniken. Aber nicht nur die Macht wird automatisiert und entindividualisiert, auch der Körper wird, ständig charakterisiert und klassifiziert, zum Automaten, zur Maschine für Experimente, die zur Dressur und Korrektur der Individuen und ihrer Körper dienen. Dies geschieht durch eine entpersonalisierte, entkörperlichte Macht. »Die Macht wird tendenziell unkörperlich«.83 Dabei werden die Beobachtungsinstrumen78 | Ebd., S. 258. 79 | Ebd. 80 | P. Gehring: Das invertierte Auge, S. 30. 81 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 258. 82 | P. Gehring: Das invertierte Auge, S. 32. 83 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 260.

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te und -mechanismen in Wissen überführt; »auf jedem Machtvorsprung sammelt sich Wissen an und deckt an allen Oberflächen, an denen sich Macht entfaltet, neue Erkenntnisgegenstände auf«.84 Dieses Überwachungssystem erfasst nicht nur die beobachteten Körper, sondern auch die Beobachter und ihre Körper. Es weitet sich auf die gesamte Gesellschaft und breitet sich im gesamten Gesellschaftskörper aus und ergreift alle möglichen Institutionen. »Es handelt sich um einen bestimmten Typ der Einpflanzung von Körpern im Raum, der Verteilung von Individuen in ihrem Verhältnis zueinander, der hierarchischen Organisation, der Anordnung von Machtzentren und -kanälen, der Definition von Instrumenten und Interventionstaktiken der Macht – diesen Typ kann man in den Spitälern, in den Werkstätte, den Schulen und Gefängnissen zur Anwendung bringen«. 85

Aber sie operiert nicht nur von geschlossenen Institutionen aus, sondern in der Gesellschaft verstreut, von allen möglichen Kontrollpunkten aus. »Ein gesichtsloser Blick, der den Gesellschaftskörper zu seinem Wahrnehmungsfeld macht: Tausende von Augen, die überall postiert sind; bewegliche und ständig wachsame Aufmerksamkeiten«.86 Die Macht wird in der Disziplinargesellschaft, wie der Körper, zu einem geräuschlosen Apparat, »weil es außer einer Architektur und einer Geometrie kein physisches Instrument braucht, um direkt auf die Individuen einzuwirken« 87; dadurch ist ihr stetiges, automatisches Funktionieren gewährleistet. Was dadurch produziert wird, sind gelehrige, produktive Körper, nutzbringende Individuen, die die Gesellschaftskräfte steigern und die Produktivität erhöhen. Diese Steigerung ist in der schier reibungslosen Funktionsweise, aber vor allem der Unterordnung der Körper unter die Nützlichkeit begründet. Es konstituiert sich eine Gesellschaft, in der die Körper in ein Räderwerk der Leistungssteigerung, Wertschöpfung und des Profits eingeschlossen sind. Die Steigerung der Kräfte verbindet sich mit der ›ökonomischen‹ Steigerung der Macht und der »raschen Vergrößerung der zu kontrollierenden und der zu manipulierenden 84 | Ebd., S. 263. 85 | Ebd., S. 264. 86 | Ebd., S. 275. 87 | Ebd., S. 265.

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Gruppen« 88. Es sind gesellschaftliche Transformationsprozesse, Bevölkerungswachstum ebenso wie das Anwachsen der Produktionsapparate, die eine Transformation der Disziplinartechniken bewirken. »An die Stelle von Gewalt/Beraubung setzen die Disziplinen das Prinzip von Milde/ Produktion/Profit. Die Disziplinen sind Techniken, die gemäß diesem Prinzip die Vielfältigkeit der Menschen und die Vervielfachung der Produktionsapparate in Übereinstimmung bringen. […] Die Disziplin vermag die Widrigkeit der Massenphänomene zu verringern; sie kann an der Vielfältigkeit dasjenige reduzieren, was sie unhandlicher als die Einheit macht; sie kann dasjenige einschränken, was sich der Ausnutzung ihrer Elemente sowie ihrer Summe widersetzt; sie kann alles reduzieren, was in ihr die Vorteile der Zahl zu vernichten droht«. 89

Um aus den Körpern das Maximum herauszuholen, werden komplexe Methoden der globalen und detaillierten Überwachung eingesetzt; zur Erhöhung der Nutzbarkeit des Vielfältigen finden Taktiken der Anordnung und wechselseitigen Anpassung der Körper, der Gesten und Rhythmen, der Differenzierung und wechselseitigen Koordination der Körper Anwendung. Das erfolgt durch die hierarchische Überwachung und lückenlose Registrierung, Beurteilung und Klassifizierung. Die Disziplinierung der Körper ist die Methode zur Bewältigung der Akkumulation von Menschen; sie löst das Problem der Anhäufung von Menschen und deren Anpassung an einen Produktionsapparat. Die Akkumulation des Kapitals ist, davon geht Foucault aus, nicht ohne Techniken denkbar, die die Kräfte und die Körper, ihre Gesten und Rhythmen bündeln und optimieren. Die Unterwerfung der Kräfte und der Körper bildet, so Foucault, »die Basis und das Untergeschoß«90 der Akkumulation des Kapitals. Das Ergebnis dieser Technik(en) ist die Konstitution der Körper als Disziplinarmaschine, in der die individuellen Kräfte zu einem Kräftekörper zusammengefügt werden. »Wir können sagen, dass die Disziplin das einheitliche technische Verfahren ist, durch welches die Kraft des Körpers zu den geringsten Kosten als ›politische‹ Kraft zurückgeschraubt und als nutzbare Kraft gesteigert wird«.91 An die Stelle der 88 | Ebd., S. 280. 89 | Ebd., S. 281. 90 | Ebd., S. 285. 91 | Ebd., S. 284.

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endlosen physischen Zerstückelung und letztendlich der Zerstörung des Körpers tritt die Nutzbarmachung des Körpers als leistungsfähigem Kräftekörper. Durch die »Befragung ohne Ende; eine Ermittlung, die bruchlos zur minutiösen und immer analytischer werdenden Beobachtung«92 des Individuums und das »Unter-Beobachtung-Stellen«93 des Körpers, der technischen Zwangsverfahren unterstellt wird, führt, erfüllt der Körper phantasmatische Funktionen eines endlos nutzbaren Leistungskörpers. An die Stelle der physischen Zerteilung in der Marter tritt nun die technische und technologische Zergliederung des Körpers in detaillierte Elemente und Positionen, kontrollierte Abläufe und Bewegungsmuster. Ein System automatisierter, entpersonalisierter Beobachtungstechnologien richtet den Körper zu und macht ihn jederzeit nicht nur beobachtbar, sondern verfügbar. Das Supplement des Körpers ist und bleibt der Automat, die Maschine. Auf der Ebene des technisch-politischen Registers entwickeln sich wiederum zwei Machttechniken, die den Körper jeweils in einen physischen und symbolischen Körper verdoppeln: Da geht es zum einen um den individuellen Körper, seine räumliche Verteilung, Überwachung und Kontrolle und die Organisation eines ganzen Sichtfeldes um sie herum, was ihre Vergleichbarkeit und die Steigerung ihrer Kräfte garantiert; Foucault nennt diese Techniken disziplinäre (Arbeits-)Techniken. Zum anderen installieren sich Maßnahmen und Techniken, deren Ziel die »vollständige Durchsetzung des Lebens«94, und die »Disqualifizierung des Todes«95 ist; der Bevölkerungskörper wird zum Gegenstand regulierender Kontrollen, der Biopolitik der Bevölkerung; sie konstituieren den Bevölkerungskörper als symbolischen Körper, der gewissermaßen an die Stelle des symbolischen Körpers des Königs tritt und diesen transformiert. Hier etabliert sich eine die Bevölkerung regulierende Technik der Normalisierung (des Lebens), die eine »Vereinnahmung des Lebens durch die Macht« ist; sie zielt darauf ab, zugunsten des Lebens zu intervenieren und sich auf das Leben des gesamten Gesellschaftskörpers zu richten, also Formen der Schwäche und Schwächung als allgemeine Formen der 92 | Ebd., S. 291. 93 | Ebd., S. 292. 94 | M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 166. 95 | Ebd., S. 165.

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Degeneration oder kollektives Phänomen der Minderwertigkeit der Rasse zu betrachten und biopolitisch einzugreifen. Aufwertung des Lebens der einen Rasse und Abwertung des Lebens der anderen gehen Hand in Hand. Rassismus als Lösung für die Schwächen und Stärken auf der Ebene der Gesamtbevölkerung; er fügt willkürliche Zäsuren in ein biologisches Kontinuum ein und verlängert das Leben auf der einen und verkürzt es auf der anderen Seite. Bio-Macht als Form einer neuen Macht, die als Macht über das Leben den Tod als Grenze der souveränen Macht gewissermaßen exmatrikuliert. Im Zuge des Anwachsens der Produktionsapparate und der Bevölkerung verändert sich also der machtförmige Zugriff auf den Körper zur Steuerung von Massenphänomenen, die auf die effiziente Sicherung des Lebens (aller) gerichtet ist. Diese Besetzung und Bewertung des lebendigen Körpers ist, davon geht Foucault aus, die unentbehrliche Voraussetzung dafür, dass die Bevölkerung an die Expansion der Produktivkräfte und der Profite ›angepasst‹ wird. Womit man es zu tun hat, ist im Grunde ein neuer Körper, ein vielfältiger Körper der Bevölkerung, dessen Geburten- und Sterblichkeitsrate, unzählige statistische Phänomene, die der globalen Messung unterworfen werden – und vor allem die Intensivierung und Verlängerung, die Optimierung des Lebens. Die Regulierung des Lebens der Bevölkerung richtet sich an statistischen Daten aus; es geht darum, »in dieser Gesamtbevölkerung mit ihrem zufallsbedingten Bereich ein Gleichgewicht [zu] fixieren, einen Mittelwert [zu] erhalten, eine Art Homöostase [zu] errichten, Ausgleiche sichern zu können«96; sie richtet sich auf das Leben und weist sich daran aus, »die Reihe von zufälligen Ereignissen, die in einer lebendigen Masse vorkommen können, zu kontrollieren«.97 Beide Machttechniken, die politische Anatomie des Körpers und die sich auf die Bevölkerung richtende Biopolitik greifen in der Verwaltung des Lebens ineinander. Sie richten sich zum einen auf den individuellen Organismus und dessen Individualisierung, zum anderen geht es um die Eingliederung des Körpers in einen »biologischen Gesamtprozeß«; Anpassung »an die globalen Phänomene, an die Phänomene der Bevölkerung mit den biologischen oder bio-soziologischen Prozessen der 96 | Foucault, Michel: »Leben machen und sterben lassen. Zur Genealogie des Rassismus. Ein Vortrag.«, in: Lettre International 20 (1993), S. 62-67, hier bes. S. 63. 97 | Ebd., S. 64.

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Menschenmassen«98. Foucault nennt diese Machtausübung, die auf den ›Volkskörper‹ ausgeübt wird, Bio-Macht; sie produziert Normalitäten und operiert nicht zentralistisch, sondern im Sinne eines netzförmig zirkulierenden Modells. Aber an dieser Stelle geht es um mehr: Das Supplement, das dem Körper (hin-)zugefügt wird und seine physischen Grenzen überschreitet, ist, über die Rekonstruktion seiner physischen Konstitution, seiner Materialität hinaus, die Verfügbarkeit des Lebens selbst – und die Symbolik der Unsterblichkeit. Was winkt, ist das ewige Leben, die Überwindung des Todes, der die Grenze der Lebensmacht markiert. Es erfolgt die vollständige Subsumtion des Körpers unter eine Lebensmacht, die den individuellen Körper und den Bevölkerungskörper wiederum verdoppelt, nämlich in einen physischen, sterblichen und in einen, der Symbol eines der Materie des Körpers entrückten, unsterblichen Körpers ist.

4.4 K onstruierte S ichtbarkeiten  – V isualisierung und M essung von K örper -Teilen Im 19. Jahrhundert setzt in großem Maßstab eine Vernaturwissenschaftlichung und eine veränderte Anordnung des Wissens ein. Die neu entstehende Wissensform eröffnet einen Raum, in dem der Körper in seinen psycho-physiologischen Dimensionen zur Sprache kommt und sichtbar gemacht wird. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Sammlung von Daten und Visualisierungen. Der Körper wird zum Gegenstand experimenteller Anordnungen, umfassender Messungen und Quantifizierungen seiner einzelnen Körperbestandteile. Anspruch ist die exakte und objektive Beobachtung, Beschreibung und quantifizierende Darstellung. Durch experimentelle, mathematisch-statistische und messende Verfahren konstituiert sich ein neues Wissensfeld, das mittels naturwissenschaftlicher Verfahren ›Wahrheiten‹ aufspürt. In diesem Zusammenhang erscheint der Körper, bevölkerungspolitisch eingebunden und naturwissenschaftlich unterfüttert, als ›Wahrzeichen‹ von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹. Die Bestimmung von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ wird nun am Körper vollzogen. Mit Disziplinen wie der (Physischen) Anthropologie und modernen Wissenschaften vom Geschlecht wird am Körper abgelesen, was zugleich 98 | Ebd.

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als Inschrift von Konstruktionsapparaten und politischen Technologien in den Körper eingeschrieben wird. Auf diese Weise konstituiert sich ein Rasse- und Geschlechtskörper als Effekt von Wissensformen und Erkenntnisweisen; ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ sind also nicht vorher schon als ontologische Determinanten des Körpers vorhanden, sondern sie konstituieren sich als wissenschaftliche Objekte erst in einem komplexen Zusammenspiel von Artefakten, Techniken der Identifizierung und Visualisierung etc. »Die von der Anthropologie identifizierten ›Objekte‹ sind nicht vor der Identifizierung bereits da, sondern entstehen erst in einem Zusammenspiel von Schädel, Technik, Abdruckmaterial, Positionierung, Visualisierung, Identifizierung usw. Gleiches gilt auch für die lebenden Körper, die ins Visier der anthropologischen Erfassung geraten: Sie werden aufgestellt, ihren Körpern wird mit verschiedenen Messinstrumenten zu Leibe gerückt, sie werden mit anthropologisch geschultem Augenschein anvisiert, […]. Was die Anthropologie sieht, misst, beschreibt, analysiert und abbildet, ist auf diese Weise immer schon durch die ›anthropologische Brille‹ zugerichtet und in den Diskurs eingeführt«. 99

Die Ontologie von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹, die auf ›Natur‹ zurückgeführt wird, ist Ergebnis von Wissenschaftspraktiken, die den Körper ›technisch‹ aufstellen und an ihm scheinbar Natur ›beobachten‹, in Wirklichkeit aber immer schon einen technisch zurechtgemachten Körper vor sich haben. Christine Hanke beschreibt z.B., wie die Visualisierung von Schädeln und den Halterungen, »die den Schädel ›in Position bringen‹« auf Fotografien »wie eine Ausstellung von Schädelaufstell-Techniken«100 wirken und geht davon aus, dass es sich um konstruierte Sichtbarkeiten der ›Natur‹ des Körpers handelt. »In dieser engen Verbindung von Knochen und Gestell erscheinen die auf den Fotografien visualisierten Schädel als hybride Artefakte, in denen ›Technik‹ und ›Natur‹ ineinander übergehen und sich vermischen. […], dass es sich bei ihnen nicht einfach um Natur‹ handelt, sondern um komplizierte Zurichtungen, in denen Natur und Technik bereits amalgamiert sind«.101 99 | C. Hanke: Zwischen Auflösung und Fixierung, S. 25f. 100 | Ebd., S. 24. 101 | Ebd., S. 25.

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Es sind »Präparate«, die »ganz selbstverständlich als Stellvertreter der ›Originale‹« gelten; Hanke kommt in Anlehnung an Jörg Rheinbergers wissenschaftstheoretische Forschungen zu der Auffassung, »dass die in der Anthropologie identifizierten Körper nicht einfach einer vorgängigen ›Natur‹ zugeschlagen werden« können, doch »›Natur gleichzeitig auch nicht einfach ausgestrichen oder negiert«102 werden kann. »Unterlaufen wird vielmehr ihre Vorgängigkeit und Unabhängigkeit von wissenschaftlich-technisch-gesellschaftlichen Prozessen«.103 ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ bilden also nicht eine Naturressource, sondern vielmehr ein Supplement des Körpers, das sich den wissenschaftlichen Techniken und Verfahren verdankt und auf das Fehlen einer vorgängigen Präsenz der Merkmale verweist. Es ist die physische Anthropologie, die dem Körper etwas hinzufügt, was er von sich aus nicht aufweist; das wirft die Frage nach dem Begehren auf, das hinter dieser Hinzufügung steht. »So gesehen verweist der unter der Prämisse von Naturwissenschaftlichkeit und Objektivität angetretene physisch-anthropologische Diskurs, der existierende ›Rassen‹ doch nur erfassen will, mit seinen Bemühungen gleichzeitig auf die ›Leere‹ der ontologischen Größe. Dieser Mangel wiederum – so könnte psychoanalytisch formuliert werden – setzt das ›Begehren‹ der Rassenanthropologie in Gang. Sie begehrt, die – mangelnde ›Präsenz‹ von ›Rasse‹ zu ersetzen«.104

Auch die lebendigen Körper werden den rassenanthropologischen Verfahren der Beobachtung und Messung unterworfen; die Oberfläche der Körper erscheint geradezu als Landkarte, deren Struktur es mittels verschiedener Verfahren zu erschließen gilt. »Dieser anthropologische Blick rastert und strukturiert den Gegenstand, den er hervorbringt, und zwar nach Formen, Farben und Größenverhältnissen«.105 Es geht um die Identifizierung von ›rassischen‹ und ›sexuellen‹ Differenzen. Beide Kategorien, ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ sind alles andere als klar definiert, erscheinen aber in den verschiedenen Wissensbereichen als selbstverständlich und evident. Man kann von einem »Gewimmel« rassenanthropologischer

102 | Ebd. 103 | Ebd. 104 | Ebd. S. 190. 105 | Ebd., S. 184.

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Diskurse und Untersuchungen ausgehen, wie Hanke dies tut;106 denn von homogenen und kohärenten Ergebnissen ist die Disziplin weit entfernt, »die Bestimmungsversuche von ›Rassen‹ [gehen] mit einem enormen Konstruktionsaufwand einher«107  – und die fehlende Präsenz der Kategorie ›Rasse‹ am Körper setzt ein akribisches Bemühen in Gang, sie im Archiv des Körpers aufzufinden und evident erscheinen zu lassen. Und obwohl die Schwierigkeiten dieses Unterfangens immens sind, bringt die physische Anthropologie ›Rasse‹ als scheinbar evidente Kategorie immer wieder hervor. Und, was in Bezug auf das Körperkonzept und das ihm zugrunde liegende Phantasma zentral ist: Diese Evidenz hat den Effekt, dass sie zerstückelte Körper hervorbringt und den Raum, in dem Körper sich bewegen, fragmentieren. Es geht auf der Ebene der Bevölkerungs- und Biopolitik um die Konstitution eines fragmentierten Bevölkerungskörpers. Sie grenzen Körper voneinander ab und fügen – willkürliche – Zäsuren dort ein, wo das Material im Sinne der Kategorien und Konstruktionsapparate ›dürftig‹ ist und die Messungen das ›Begehren‹ nach Differenzierung nicht unterstützen. Ähnliches gilt für die Evidenz des Geschlechts. Auch hier gibt es ein Bemühen, ja, man könnte angesichts der endlosen Skalen auch hier von einem Begehren sprechen, die Eindeutigkeit des Geschlechts an die Stelle diffuser Merkmale zu setzen; »denn nur durch das Wissen von eindeutigen Geschlechtsidentitäten wird es möglich, all die sexuellen Abweichungen zu trügerischen Masken zu erklären«108. Die endlosen ›Perversionen‹, Pseudo-Formen und Geschlechtermaskeraden, die als Pathologien oder Verbrechen erscheinen, sollen durch die klare Herleitung und Scheidung der Geschlechter einem ›normalen‹ Geschlecht und seinen ›normalen‹ sexuellen Präferenzen gegenübergestellt und durch Praktiken der Kastration und Modifikation ›normalisiert‹ werden. »Seit dem 18. Jahrhundert dienen die ›Abarten‹ und ›Verirrungen‹ in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen als bloße ›An-Zeichen‹ des einen,

106 | Ebd., S. 181. 107 | Ebd., S. 184. 108 | Schäffner, Wolfgang: »Transformationen. Schreber und die Geschlechterpolitik um 1900.«, in: Elfi Bettinger/Julika Funk (Hg.): Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung. Berlin 1995, S. 273-291, hier S. 274.

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›wahren‹ Geschlechts. Sie deuten als Zeichen von Grenzverschiebungen der Geschlechter auf Normalitätspole hin, die es erst noch herzustellen gilt«.109

Wo zunächst eine endlose Serie von ›Perversionen‹ und, wenn überhaupt, statistische Häufigkeitsverteilungen von diffusen Merkmalen vorliegen, sollen voneinander abgrenzbare Entitäten der Geschlechtskörper und geschlechtlicher Identitäten treten. Der Geschlechtskörper erscheint als Effekt einer Konstruktionsarbeit, die den Körper um das konstruierte Geschlecht herum ›anordnet‹ – und die geschlechtlichen Identitäten als statistische Effekte. »Seit Ende des 18. Jahrhunderts […] konstruieren die neuen Abhandlungen zur vergleichenden Anatomie und zur Physiologie der Frau, zur Geschlechtsnatur und zur komparativen Anthropologie einen Körper, der um das Implantat seines Geschlechts herum festwächst und mit seinen biologischen Funktionen, mit seinen Affekten und Neigungen den Bereich seiner sogenannten Sexualität unterwirft«.110

Der Körper ist aber, wie Schäffner/Vogl deutlich machen, nicht mehr »die evidente Kombination sichtbarer Oberflächen, die die Anatomie aufklappt und beschreibt, er ist vielmehr hinter sich zurückgezogen und kommt in verdeckten Merkmalen zur Erscheinung, die entweder noch ungegenwärtig oder bloß unsichtbar sind, eine latente Existenzform verbürgen oder der Natur abgerungen werden müssen.111 Diese – noch – nicht präsenten und sichtbaren Merkmale werden in psychische und soziale Qualitäten 109 | Bublitz, Hannelore: »Wahr-Zeichen des Geschlechts. Das Geschlecht als Ort diskursiver Technologien.«, in: Andreas Lösch/Dominik Schrage/Dierk Spreen/ Markus Stauff (Hg.): Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern. Heidelberg: Synchron 2001, S. 167-182 hier S. 173; zur gesamten Problematik der Rekonstruktion der Geschlechterdifferenz und Geschlechtsidentität aus dem Körper, dessen Streuungen und Variationen dem Körper als wahrem Ort des Geschlechts widerspricht vgl. auch Mehlmann, Sabine: Unzuverlässige Körper. Zur Diskursgeschichte des Konzepts geschlechtlicher Identität. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer 2006. 110 | Schäffner, Wolfgang/Vogl, Joseph: »Nachwort.«, in: Wolfgang Schäffner/ Joseph Vogl (Hg.): Über Hermaphrodismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, hier S. 223. 111 | Ebd., S. 224.

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übersetzt, »und damit eine Körper-Schrift konstituiert, deren Exegese einen dichten Bedeutungsraum erschließt und den Körper nach Innen verdoppelt«.112 Dieser Körper wird »zum Schauplatz besonderer Kennzeichen, die die Unverwechselbarkeit von Individuen, Altersstufen, Rassen oder Geschlechtern garantieren und berechenbar machen – insbesondere die der Geschlechter, deren Anatomie und Physiologie in einer Vielzahl von Parametern divergieren, in Körperbau, Größe, Gewebeart, Wachstum, Nervenfunktion, Pulsfrequenz… Männlicher und weiblicher Körper sind nun von der Geburt bis zum Tod unterschiedlich organisiert, jeder davon folgt unterschiedlichen Entwicklungsrhythmen, so daß schließlich von einer männlichen und weiblichen ›Struktur‹ der Individuen als deren unfreiwilliger Wahrheit gesprochen werden kann«.113 Das Verhältnis der Geschlechter rückt, wie das Wissen um Zeugung und Fortpflanzung, aus dem Zentrum kirchlicher und juridischer Diskurse in das medizinischen Wissens; gemeinsam mit der Gynäkologie und den Sexualwissenschaften bildet es den zentralen Ort der Bestimmung des Geschlechtskörpers und der Geschlechterdifferenz. Wie der physisch-anthropologische Diskurs schreibt der medizinische und sexualwissenschaftliche Diskurs das ›Geschlecht‹ immer wieder akribisch in den Körper ein, »und während auf der einen Seite eine pedantische Genauigkeit die Zweifelsfälle klassifiziert, einordnet und sortiert, arbeitet auf der anderen Seite eine phantastische Genauigkeit an der Vervielfältigung infinitesimaler Differenzen«.114 Dabei steht zunächst das Wissen um die Abweichungen und Anomalien im Vordergrund. »Dazu gehört nicht nur die minutiöse Klassifizierung des zweifelhaften Geschlechts: neutral, bisexuell, gemischt… Dazu gehört nicht nur das Ansammeln aller verfügbaren Daten über die fraglichen Individuen: die Untersuchung von äußeren und inneren Genitalien, der Körperoberfläche, persönlichen Neigungen, der Ausscheidungen […]. Dazu gehört insbesondere die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen ›physischen Perversionen‹ und ›moralischen Verirrungen‹, die aus dem Hermaphroditen bzw. Pseudohermaphroditen eine eigene Spezies im Fächer der Sexualitäten machen wird, eine Spezies mit besonderen Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Lüsten, einen ›Degenerierten‹: mit

112 | Ebd. 113 | Ebd. 114 | Ebd., S. 229.

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einer Tendenz zur Melancholie und zum Verfolgungswahn, mit falschen Leidenschaften oder objektlosen Begierden«.115 Die Konstitution von Geschlecht läuft über den Körper, genauer, über die Vergeschlechtlichung von Körpern und Körperteilen. So konstatiert Hanke in Bezug auf die physische Anthropologie, dass die Vergeschlechtlichung von Körperteilen im Kontext der Bestimmung von ›Rassedifferenzen‹ gang und gäbe waren und zur Forschungspraxis der Disziplin gehörten. Es wird als selbstverständlich erachtet, Körperteile als männliche oder weibliche zu identifizieren. »Dort, wo das ›Geschlecht‹ in den physisch-anthropologischen Körperidentifizierungen mitberücksichtigt wird, erscheint die (morphologische) […] Differenz von ›Mann‹ und ›Frau‹ als selbstverständlich und vorausgesetzt. Problemlos gerät sie in den Beschreibungen und Vermessungen mit in den Blick. […]. Die Körper selbst werden vergeschlechtlicht, indem ihnen ein ›Geschlecht‹ zugewiesen wird. Damit wird Geschlecht immer wieder als evidente Kategorie hervorgebracht. Das wird besonders deutlich bei den Identifizierungen von Knochenresten des Körpers: In Untersuchungen an vorwiegend prähistorischen, aber auch jüngeren Funden aus Gräbern und anderen Ausgrabungen erhalten Knochen und Schädel jeweils ein ›Geschlecht‹. […] ›Geschlecht‹ durchzieht in der Perspektive der physischen Anthropologie den ganzen Körper, denn neben den als besonders ›geschlechtssignifikant‹ ausgezeichneten Körperteilen des Beckens und des Schädels werden auch alle anderen Körperteile, ihre Formen und -größenverhältnisse vergeschlechtlicht«.116

Hier wie auch in der Sexualpathologie und den Sexualwissenschaften zeigt sich: Das Geschlecht leitet sich nicht von der Anatomie her, sondern schreibt sich in sie ein. Jedes Mischungsverhältnis von Geschlechtsmerkmalen in einem Körper erscheint als Verweiblichung und Abweichung von einer Normalität, die männlich konnotiert ist. Durch den Wegfall eines eindeutigen geschlechtsbestimmenden Kriteriums droht die Polarität der Geschlechter in einer seriellen Verteilung geschlechtlicher und sexueller Formen zu verschwinden. Erst durch die – willkürliche – Einfügung polarisierender Zäsuren in eine Streuung von Körpermerkmalen gelingt es, eine Differenz der Geschlechter auszumachen, die als messbare und 115 | Ebd., S. 232f. 116 | C. Hanke: Zwischen Auflösung und Fixierung, S. 68.

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gemessene naturwissenschaftliche Größen hervorgebracht zu sein scheinen; dies erfolgt dort, wo eine Bevölkerungs- und Geschlechterpolitik dies als Erfordernis in die Körper einschreiben.117 Es wird der Versuch unternommen, der Frage nach der Natur des Geschlechtsunterschieds auf experimentellem Wege näherzukommen; die Unterschiede der Geschlechter werden im Körper und seinen Organen sowie psychischen Prozessen lokalisiert. Es geht in den Diskursen über die Physiologie des Menschen und seines Körpers u.a. um das Verhältnis der Keimdrüsen zum ›übrigen‹ Körper; im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Zusammenwirken der Organe und dem zentralen Regulationsund Steuerungssystem des Körpers, in dem, neben den Nerven, den Drüsen und Hormonen Bedeutung beigemessen wurde. Die Kastration wird Ende des 19. Jahrhunderts zum Standardexperiment zur Erforschung der Physiologie der Geschlechter, aus dem nicht nur hervorgehen soll, worin die Unterschiede der Geschlechter und des Geschlechtstriebs begründet sind, sondern auch Aufklärung über die unterschiedlichen Geschlechts­ charaktere erfolgen soll. »Es ist diese ›Schlagkraft des Experiments‹, die das Interesse an der Kastration begründet und sich verselbständigen läßt. Denn das Experiment verspricht Erkenntnis besonderer Art. Die klaren Alternativen vorher/nachher oder vorhanden/nicht vorhanden begründen Ergebnisse von hoher Eindeutigkeit und Zuverlässigkeit«.118

Wie Breidenstein konstatiert, ist die Disparatheit der ›Beobachtungen‹, die im Kontrast zum Anspruch einer Experimentalwissenschaft stehen, bemerkenswert. Dennoch erscheint die Kastration in den Diskursen der 117 | Vgl. dazu auch H. Bublitz: Wahr-Zeichen des Geschlechts, S. 171-176; vgl. dazu auch Breidenstein, Georg: »Geschlechtsunterschied und Sexualtrieb im Diskurs der Kastration Anfang des 20. Jahrhunderts.«, in: Christiane Eifert/Angelika Epple u.a. (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 216-239. 118 | G. Breidenstein: Geschlechtsunterschied und Sexualtrieb im Diskurs der Kastration Anfang des 20. Jahrhunderts, S. 224. Sie wird bei Tieren tatsächlich als Experiment durchgeführt, während sie bei Männern und Frauen, denen aus unterschiedlichen Gründen die Keimdrüsen entfernt wurden, als ›Beobachtung‹ erfolgte.

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Physiologie, der Sexualwissenschaften und der Gerichtspsychiatrie weiterhin als ›Maßnahme‹, die im Dienste der ›natürlichen Auslese‹ und der Rassenhygiene, also der Verhinderung von Fortpflanzung und Zeugungsfähigkeit wie auch als Korrekturmaßnahme ›abweichender‹ Sexualität erfolgt. Aber ungeachtet der wahllosen Berichte über die Folgen der Kastration und scheinbaren Beweise besticht die Kastration »durch eine besondere Attraktivität, die ihr den Status des ›Experiments‹ verlieh«119, denn, wie Breidenstein argumentiert, das Experiment erscheint als naturwissenschaftlich beglaubigte Form der Erkenntnis. Sie ist an der Begründung biologistischer Auffassungen von Sozialem beteiligt. Die Verfahren, die das Wissen, was ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ sind, garantieren sollen, machen die Anstrengungen deutlich, die unternommen werden, um ein ›exaktes‹ Wissen um die Differenz der ›Rassen‹ und der ›Geschlechter‹ zutage zu fördern. Beide Kategorien werden, im Dienste einer bevölkerungs- und biopolitischen Regulierung des Gattungskörpers und dessen Normalisierung, am Körper und seinen Körperteilen festgemacht; sie fragmentieren und zerstückeln den Körper – und versuchen so, den beunruhigenden Irritationen durch die zahllosen Beobachtungen am Körper zu begegnen.120 Sie münden in die Aporien einer Bevölkerungsund Geschlechterpolitik, die eindeutig am Körper festzumachen sucht, was in seriellen Verteilungen und Streuungen sowie in geschlechtlichen und ethnischen Kulturformen, die keine dauerhaft fixierten Differenzen hervorbringen, begründet ist. Die fixierten Differenzen verweisen auf ein Geschlechterregime, das, wie das Sexualitätsdispositiv der Reglementierung der Geschlechter und der Regulierung der Bevölkerung dient.121 119 | Ebd., S. 233. 120 | Übrigens fügt sich hier auch die Psychoanalyse ein; hier erscheint der ›Kastrationskomplex‹ zwar in Form eines psychischen Konstrukts, aber auch sie befestigt damit nicht nur die Geschlechterdifferenz, sondern schreibt dem männlichen Geschlecht eine signifikante Bedeutung zu, während das weibliche Geschlecht nur als ›das Andere‹ des männlichen vorkommt; vgl. dazu auch G. Breidenstein: Geschlechtstrieb, S. 234f. 121 | Zur gesamten Problematik, Geschlecht als historisch singuläres in die Geschlechterpolitik der Humanwissenschaften und der gesellschaftlichen Biopolitik einzuordnen vgl. Bublitz, Hannelore: »Geschlecht als historisch singuläres Ereignis: Foucaults poststrukturalistischer Beitrag zu einer Gesellschafts-Theorie der Geschlechterverhältnisse.«, in: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.): Soziale

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4.5 D er K örper als M aschine I: R eizbare M aschinen oder die L ogik des hygienischen I maginären »Bürger und ihre Nachfolger, die diversen Funktionäre der Wissensgesellschaft, haben den Körper in verschiedenen Varianten als ›Maschine‹ gedacht. Vor allem die deutschen Physiologen haben den Schritt von der Metapher in Texten zur ›Realmetapher‹ vollzogen, das heißt, den Schritt zur Inszenierung des Muskels als Teil einer elektrophysiologischen Versuchsanordnung, und seit den 1880er Jahren haben sie die Leistungsparameter des gesamten Körpers als einer arbeitenden Maschine systematisch evaluiert. Parallel zum amerikanischen Taylorismus haben sie konsequent versucht, Bewegungen des Körpers nach Maschinenart zu standardisieren und träumten davon, Muskelarbeit überhaupt durch Maschinenarbeit zu ersetzen und menschliche Kraft durch fossile Energie«.122

Der Körper erscheint im Hygienediskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts zunächst als »thermodynamische Kraftmaschine«, dann dominiert allerdings das Bild einer reizbaren Maschine, das die Verbindung des materialistischen Maschinenmodells mit dem physiologischen Konzept der Reizbarkeit impliziert.123 Philipp Sarasin fragt sich, ob die Hygiene schlicht als effiziente Disziplinartechnik verstanden werden muss, die die Bevölkerung durch Hygienestandards normalisiert, oder ob sie eine durchaus individualisierte Sorge um sich und den eigenen Körper darstellt. Er ist der Auffassung, dass sie beides ist und zum einen zwar in den Kampf der Ärzte um die Deutungshoheit und das Behandlungsmonopol gehört, nimmt aber an, dass die Hygieniker nicht nur Normalisierungs- sondern auch Individualisierungswissen boten, also sich um die Sorge um sich zentrierten. Aber auch hier dominieren wieder eine Verortung der Geschlechter. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik, 3. Auflage. Münster: Westfälisches Dampfboot 2008, S. 256 -287 hier bes. S. 269-274. 122 | P. Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 261. 123 | Vgl. ebd., S. 20.

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Reihe von Ordnungsmustern und Klassifikationssystemen. Es wird ein spezifischer Körper ›produziert‹, der sich bestimmten diskursiven Mustern und der Materialität von Medien verdankt, die ihn darstellen und ihn konstruieren. Die Logik eines hygienischen Imaginären erschließt sich am ehesten aus einer Ökonomie, die sich sowohl bei der Nahrungsaufnahme, bei der Sauberkeit und Reinigung als auch in der Sexualität zwischen Mäßigung und Exzess, zwischen Lust und Schmerz bewegt. Der Fokus der Hygieniker richtet sich, so Sarasin, zunächst auf das individuelle körperliche ›Gleichgewicht‹, später auf das des ›Volkskörpers‹. Gleichgewicht und Mäßigung sind die Metaphern, die Gesundheit beschreiben. Gesundheit verlangt eine ›Semiotik des Körpers‹, sie wird ›am Körper, an körperlichen Zeichen abgelesen‹. Zunächst sorgt sich der Hygienediskurs um den individuellen Körper, seine Disziplin(ierung) dient der Gesundheit. Der gesunde Körper, der sich um Mäßigung bemüht, steht im Fokus des Hygienediskurses. Gesundheit erscheint als wirklicher Reichtum der Gesellschaft, als ›wahrhafter Schatz‹, für den es sich zu sorgen lohnt und der sich vor allem beim wohlhabenden bürgerlichen Subjekt findet, auch wenn der Hygienediskurs sich nicht explizit an das städtische Bürgertum richtet. Dennoch wird deutlich, dass bürgerliche Ärzte und Wissenschaftler zu bürgerlichen Lesern sprechen. Die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft sind für die Hygieniker – mit ihren Strapazen, ungenügender und schlechter Nahrung, mit Dreck, Staub, Rauch und Schweiß – unmittelbare Krankheitsursache. Der Körper der Arbeiterschaft bildet gewissermaßen den Inbegriff des gefährlichen, kranken Körpers – und die Distanz des Bürgertums zum ›Proletariat‹ symbolisiert unter anderem die soziale Angst vor Ansteckung. Der Körper des Hygienediskurses ist der des ›Kulturmenschen‹, nicht der des ›verkommensten Proletariats‹.124 Das ›Außen‹ des hygienischen Körpers ist also der ›andere‹, der sozial andere Körper, der allerdings nicht vorgefunden, sondern vom Diskurs konstruiert wird; es ist der monströse, der deformierte Körper und der proletarische, ›verkommene‹ Körper, der als das Fremde, als »Fratze eines monströsen Anderen«125 auftaucht. »Proletarierinnen und Proletarier werden als fremder Kontinent und zuweilen gar als ›fremde

124 | Vgl. ebd., S. 207. 125 | Ebd., S. 208.

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Rasse‹ beschrieben, als ›sauvage‹ und ›nomades‹«.126 Auch die Frauen erscheinen, wie die Schwarzen, als körperlich beunruhigend fremd. Alle diese ›anderen‹ Körper sind konstitutiv für den durch hygienische Praktiken kultivierten Körper des Bürgertums: »Monstrositäten sind keine Ränder des modernen hygienischen Diskurses, nichts ›Verdrängtes‹, sie entstehen vielmehr konstitutiv in seinem Zentrum, gerade weil diese ›starken‹ Differenzen des Geschlechts, der Klasse und der ›Rasse‹ zur Stabilisierung unsicherer Identitäten in die Texte der Hygieniker eingeführt werden. Die monströse Andersheit ist so etwas wie ein ›Platzhalter‹, der die auch durch intensivste Hygienepraktiken nicht erreichbare ›Identität‹ bezeichnet und dem hygienischen Körper ›seine phantasmatische Konsistenz gibt‹«.127

Der ›gesunde‹, hygienisch versorgte Körper, der im Hygienediskurs als »›individueller Körper‹« erscheint, ist de facto ein »bürgerlicher, männlicher, nichtdeformierter, weißer Körper«, der »in seiner Eigenschaft als symbolisierter Körper eine Konstruktion« ist, »ein Bild, das über das reale Objekt ›Körper‹ geblendet wurde, um dieses wahrnehmbar zu machen«.128 Dieses Modell ist entscheidend für ein Körpermodell, das sich in der Sorge um den eigenen Körper manifestiert und Anhaltspunkte für konkrete Körperpraktiken gibt. Ausgangspunkt ist zum einen ein reiztheoretisches Modell, zum anderen eines, das von vitalen Lebenskräften ausgeht. Der Körper wird zum ultimativen Zeichen politischen und individuellen Handelns, er erscheint so dynamisch und veränderbar, wie die moderne Gesellschaft. Die Frage ist, wo das Maß des Zuträglichen, des Hygienischen liegt, das den Körper als gesunde ›Reizmaschine‹ ausmacht. Äußere und innere Reize des Körpers sind fundamentale Voraussetzung für die ›Verbesserungsfähigkeit des Menschen‹ und treiben, folgt man dieser Variante des Hygienediskurses, den Körper an. Auf Reize aktiv und gestaltend zu reagieren und zu genießen, ist demnach das Ziel der menschlichen Existenz. Sarasin macht auf strukturelle Parallelen zwischen dem Mehr-Genießen und dem ökonomischen Mehrwert aufmerksam, die dem expan126 | Ebd., S. 210. 127 | Ebd., S. 211. 128 | Ebd.

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siven Körper der Lust(steigerung) der Hygieniker und der Reiztheoretiker offensichtlich zugrunde liegen. Doch es gibt auch zeitgenössische Kritik an diesem ›Nervendiskurs‹ der ›übertriebenen Genusssucht, die den Körper ruiniere. Und wieder geht es um Mäßigung bei gleichzeitiger Befriedigung der – organischen – Bedürfnisse. Dieser Nervendiskurs taucht später wieder auf, wenn es darum geht, die Neurasthenie (Nervenkrankheit) als Zeichen einer drohenden Entartung der Kultur zu deklarieren. Zudem erscheinen Gehirn und Nerven um 1900 nicht als spezifisches körperliches System, sondern in technischen Metaphern. Schließlich findet eine Verschiebung »vom expansiven zum defensiven Körperbild«129 statt, das sich an den Gleichgewichts- und Mäßigungsdiskurs anschließt. Jetzt wird der Körper als thermodynamische Energiemaschine dargestellt, die Wärme produziert und im Stoffwechsel-Austausch gewissermaßen wie eine Maschine berechenbar ist. Nahrungsmittel erscheinen in Analogie zum Kraftstoff, den eine Maschine braucht. Auch wenn im Hygienediskurs die Vorstellung einer einheitlichen Norm fehlt, an der sich der individuelle Körper ausrichten sollte, er unterliegt doch zumindest flexiblen Normalisierungsprozessen, die das ›Andere‹ als auffälliges Anderes immer wieder neu hervorbringen. Das Modell der Selbstkontrolle verschiebt die Semantik des Reizes, er erscheint als »böse Leidenschaft und als Geschwür«130, als Gefährdung, die sowohl durch zu starke Reize, »ausschweifende Unsittlichkeit« als auch durch Reizarmut ausgelöst wird. Und auch hier erfolgt wieder, wie zuvor bei der Pest, der Angriff auf die Krankheiten, die sich, so schien es zumindest, am meisten in den überfüllten Arbeiterquartieren ausbreiten. Das Monströse im und am Körper findet sich hier, Ungeziefer in jeder Form. Hier ist der Körper der permanenten Bedrohung ausgesetzt, aber die Gefährdung greift auch auf den Körper des (Klein-)Bürgertums über, wenn man es nicht eindämmt. Es geht darum, »die Gefahren und den Gestank des verschmutzten Volkes zu neutralisieren«.131 Die Abwehr von ›Eindringlingen‹ in den Körper, besonders die Haut, erscheint als dringlichste Aufgabe; »die ›Kräftigung‹

129 | Ebd., S. 242. 130 | Ebd., S. 231. 131 | Ebd., S. 265.

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der Haut und die Ästhetik der Körperoberfläche – das sind die elementaren Sorgen«.132 Reinlichkeit und Sauberkeit erscheinen als der Dreh- und Angelpunkt der Moderne, Wasser und der ›Frottierhandschuh‹ sind Vehikel kultureller Modernisierung. Es entsteht gewissermaßen eine »Physiologie der sozialen Ordnung«, die die Reinigung des öffentlichen Raums (die an das Phantasma der steigenden Flut von Exkrementen und Dreck anschließt) und die Tilgung von »sozialen Ausdünstungen« und Körpergerüchen vorsieht. »Der Gestank der Armen« und die »Sekretionen des Elends« werden zum Problem bourgeoiser Kreise: »Angewidert von den schwülen Gerüchen des Volkes, Zeichen einer schwierigen Entfaltung des Begriffs der Person in diesem Milieu, und herausgefordert durch die Ächtung, die auf dem Tastsinn liegt, wird die Bourgeoisie immer empfänglicher für die verwirrenden Botschaften der Intimität«.133 Die Hygiene und ihr Netz von Körperpraktiken werden nicht nur zum Abgrenzungsinstrument von dem »nach Fäulnis, Tod und Sünde stinkenden Volk, sondern es liefert auch eine implizite Rechtfertigung für die Behandlung, die eben diesem Volk zuteil wird. […] Die neue Strategie der Hygiene zeichnet sich durch eine symbolische Gleichsetzung von Desinfektion und Unterwerfung aus«.134 Daraus lässt sich schließen, »daß man den Proletarier durch die Desodorisierung seiner Person zu Disziplin und Arbeit zwingen könnte«.135 Waschen, Desodorants und Parfüms erscheinen als Eintrittskarten in die bürgerliche Gesellschaft. Alle Bemühungen um die Reinlichkeit des Proletariats sind von der Vorstellung strukturiert, die Schmutzschichten, die es fundamental vom Bürgertum trennen, zu beseitigen – und das zeigt sich auf der Oberfläche des Körpers, auf der gereinigten Haut, am gewaschenen Gesicht, das offenbar eine innere Wahrheit des Subjekts zur Erscheinung bringt. »An der Oberfläche der Haut droht also zuallererst eine soziale Verunreinigung, die Vermischung der Epidermis mit Schmutz und Schminke als den Attributen des Proletariats und des Adels«.136 Die

132 | Ebd., S. 279. 133 | Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Berlin: Wagenbach 1984, hier S. 191. 134 | Ebd., S. 191. 135 | Ebd. 136 | P. Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 294.

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Geschichte der Haut ist die Geschichte der sozialen Unterschiede, an und auf der Haut zeigen sich die Demarkationslinien zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft. Mit den neuen Sauberkeitsregeln und den im 19. Jahrhundert rigider werdenden Reinlichkeitsnormen setzt die Disziplinierung der Arbeiterbevölkerung ein; »die bürgerlichen Sauberkeitskampagnen unter der Arbeiterbevölkerung erscheinen als jene disziplinierende ›Zumutung‹, aus der die moderne Mittelstandsgesellschaft entstanden ist«.137 Die Haut und die Muskeln bilden die ›Blaupause‹ der reizbaren Hygienemaschine Körper. Dabei erscheint der Muskelkörper als Signifikant kapitalistischer Leistungsethik und bürgerlicher Leistungsbereitschaft; er wird über das Imaginäre zum Modell des modernen Körpers schlechthin, der sich in einem hegemonialen Körperbild artikuliert, bei dem Haut und Muskeln eine entscheidende Rolle spielen. »Beide Organe, […] die Haut und die Muskeln, sind ›reizbar‹, und der Mensch gilt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als homme sensible, als reizbare Maschine und als empfindsames Wesen«138, auch wenn das ein Widerspruch in sich zu sein scheint. Die Ermüdung ist das Gegenprinzip zum muskulösen Körper, der die reizbare Maschine schlechthin bildet und zur unermüdlichen Arbeitskraft, die sich im Produktionsprozess, bis ins Unendliche potenziert, verausgabt. Das Phantasma der unermüdlichen Optimierung des menschlichen Motors bildet den Fluchtpunkt dieses an den Diskursen der Physiologie ausgerichteten Körperbilds, das im Grunde dem eines athletischen Körpers entspricht, der die Schwelle der Ermüdung ständig hinauszuschieben vermag. Der trainierte Körper ist der, der wie eine 137 | Ebd., S. 265. Judith Butler legt, mit Bezug auf Mary Douglas’ Untersuchung Reinheit und Gefährdung (Frankfurt a.M. 1988), nahe, »daß die Schranke des Körpers niemals bloß durch etwas Materielles gebildet wird, sondern daß die Oberfläche des Körpers: die Haut, systematisch durch Tabus und antizipierte Übertretungen bezeichnet wird; tatsächlich werden die Begrenzungen des Körpers […] zu den Schranken des Gesellschaftlichen per se.« Und Butler fügt hinzu: »Eine poststrukturalistische Aneignung ihrer Theorie könnte diese Körpergrenzen als Schranken des gesellschaftlichen Hegemonialen verstehen.« (J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 194). Dieses gesellschaftliche Hegemoniale ist im 19. Jahrhundert das Körpermodell des Bürgertums, das die Arbeiterkörper regelrecht als »Verunreinigungskräfte« versteht. 138 | P. Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 263.

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Maschine funktioniert, er findet sich weniger im Produktionsprozess als vielmehr in der sportlichen Anstrengung wieder, die ihr richtiges Maß findet und finden muss, während der proletarische Körper übermäßig beansprucht wird und daher per se eine Gefährdung (der Gesellschaft) darstellt. Das Referenzsystem für das auf den Leistungskörper bezogene Imaginäre ist, so stellt Sarasin fest, nicht der Körper, der in der Industriearbeit eingesetzt wird, sondern zumindest bei den Hygienikern, der Sport bzw. die Gymnastik.139 Sarasin nimmt daher an, dass der Diskurs der Hygieniker sich nicht auf die Rationalisierung und Normierung von Körperpraktiken reduzieren lässt, sondern eher, auf die Vermeidung von Ermüdung und heftiger Kraftentfaltung bedacht, an einem Gymnastikprogramm, das am »Gleichgewicht hygienischer Freiübungen« und nicht am »männlich-zackigen Turnen«140 ausgerichtet war. Dennoch taucht die Figur des Athleten, »der seine Muskeln nicht nur für sekundenschnelle Turnübungen gebraucht, sondern lang andauernde Leistungen vollbringen kann, ohne dabei die so gefürchteten Grenzen der fatigue überschreiten zu müssen«141, auch im Diskurs der Hygieniker auf. Auch bei ihnen zeigt sich, wie im Diskurs der Physiologen, die »Modernisierung der Muskelfaser«.142 Der Athlet, der sich asketischen Praktiken der Körpersorge unterwirft und dadurch seine Leistungsfähigkeit steigert und die Ermüdungsresistenz verbessert, bildet die Folie des schier grenzenlosen Einsatzes des Leistungskörpers in der Arbeitswissenschaft und Industrie. Vor allem in der tayloristischen Ökonomie wird er daher arbeitsökonomisch eingesetzt. Hier geht es um die ökonomische Mobilisierung von Arbeitsenergie. Ausgangspunkt ist eine Psychophysik der industriellen Arbeit, die die Kräfteökonomie des Körpers mit dem Werkzeug oder der Maschine koppelt. Unter dem Banner der Rationalisierung der Arbeit wird der Körper in seinen Bewegungen ›rationalisiert‹ und ökonomisiert. Der Arbeitskörper erscheint wie das zu bearbeitende Material als Werkzeug; beide sollen aufgrund von Messungen in ein optimales Verhältnis von Belastung, Ermüdung und Arbeitspausen gebracht werden. Die Effizienz der Taylor’schen Wissenschaft liegt in der Konstruktion einer funktional optimierten Maschinerie, die sich ›auszahlt‹. Auf der Grundlage einer 139 | Ebd., S. 322. 140 | Ebd., S. 324. 141 | Ebd., S. 324f. 142 | Ebd., S. 330.

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naturwissenschaftlich-mathematischen, experimentellen Wissensform (Experiment, Beobachtung und mathematische Formeln – und die sog. ›Arbeitskurve‹) werden die Körper der Arbeiter und ihre Bewegungen, das Material, die Werkzeuge und Maschinen wie auch die Interaktionen zum Gegenstand eines betriebswirtschaftlichen Systems der Rationalisierung. Das Ziel ist die Steigerung des Profits – und die ›Abrichtung‹ des Arbeiterkörpers zur Arbeitsmaschine.143 Optimale Verausgabung von Arbeitskraft wird zum Programm nicht nur der Industriebetriebe, sondern dem einer ganzen Kulturnation, die auf scheinbar naturwissenschaftlich gesichertes, ingenieurmäßiges Wissen/Denken setzt: Feste und objektive Normen, exakte (Be-)Rechnung, objektiver Maßstab und nüchterne Kalkulation verkünden den Sieg naturwissenschaftlich-physikalischen Wissens über den Körper, Prosperität und Wohlstand, hohe Dividenden und optimale Verwertung bilden die Grundlagen der optimalen Passung von Arbeitskörper und Arbeitsmaschine; die ›Ausmerzung‹ des ›Sich-Drückens‹ wird gewährleistet, indem der Körper selbst zur ökonomischen Arbeitsmaschine wird.144 Doch zugleich verschiebt sich, nicht nur im (Hygiene-)Diskurs, die Sorge vom individuellen Körper biopolitisch auf den ›Volkskörper‹, wodurch die Sorge um die Gesundheit auf die des gesamten Gesellschaftskörpers übertragen wird. Jetzt geht es um Praktiken der Regulierung der Bevölkerung, um Auslesepraktiken und Arbeitsökonomien, die sich unmittelbar am und im Körper manifestieren. Geht es im tayloristischen Diskurs um die Auslese der ›Tüchtigsten‹ und deren psychophysische Ausstattung, die Verkoppelung des menschlichen Bewegungsapparats 143 | Vgl. H. Bublitz/C. Hanke/A. Seier: Der Gesellschaftskörper, S. 236-253; vgl. auch Mehrtens, Herbert: »Schmidts Schaufel (9,5 kg.). Frederick W. Taylors Techniken des »Scientific Management.«, in: Werner Sohn/Herbert Mehrtens (Hg.): Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1999, S. 85-106; vgl. auch Bublitz, Hannelore: »Zur ›Einbürgerung‹ des Arbeiterdiskurses in den tayloristischen (Normalisierungs-)Diskurs: Transformationen einer Wissens- und Subjektform.«, in: Werner Sohn/Herbert Mehrtens (Hg.): Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1999, S. 119-140. 144 | Vgl. ausführlich dazu H. Bublitz: Die Gesellschaftsordnung unterliegt dem Walten der Naturgesetze, S. 238-257.

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mit ökonomischen Effizienzkriterien, so rücken auf der Ebene des Gesellschaftskörpers sozialdarwinistische und rassenhygienische Ausleseprinzipien der ›Rassetüchtigkeit‹ und ›Erbgesundheit‹ ins Zentrum einer Optimierung der ganzen Kultur, die sich um die biologische (Fortpflanzungs-)Ökonomie der Geschlechter anordnet. Auf beiden Ebenen, der der Arbeitsökonomie wie auch der des Gesellschaftskörpers geht es um die ›Ausmerzung alles Unrationellen‹; es regiert die Norm der Effektivität und der Heterosexualität; alles andere erscheint als ›Entartung‹, die auf unterschiedlichste Weise geahndet wird. ›Pathologien‹ und ›Perversionen‹ bilden die Scharniere, an denen sexualethische Sittlichkeitsdiskurse und rassenhygienische Argumentationen ›drehen‹, um die sittliche und erbbiologische ›Aufartung‹ des ›Volks- und Gesellschaftskörpers‹ zu garantieren. Rassen- und Gesellschaftsbiologie kreuzen sich mit Diskursen zur sexuellen und kulturellen Moral.

4.6 D er K örper als M aschine II: A rchitektur eines nachrichtentechnischen A ppar ats Wie Foucault deutlich macht, bildet die Sexualität in der modernen Gesellschaft nicht eine unterworfene und unterdrückte körperliche Antriebskraft. Vielmehr bildet der Körper, und darunter die Sexualität, eine Quelle der Anreizung, Stimulierung und Intensivierung der Lüste, es ist der produzierende und konsumierende Körper, der im Fokus des Allianz- und Sexualitätsdispositivs, also der Reproduktion und detaillierten Vermehrung der Zugriffspunkte auf den individuellen und den Gesellschaftskörper, steht. Foucault nennt vier Komplexe, um die herum sich die globale Kontrolle des Bevölkerungs- und Gesellschaftskörpers entfaltet: Dazu gehört die »Hysterisierung des weiblichen Körpers«, der »als ein gänzlich von Sexualität durchdrungener Körper analysiert – qualifiziert und disqualifiziert« wird, er wird als pathologischer Körper in das Feld der medizinischen Praktiken integriert und besitzt eine »organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper (dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muss), wie Foucault annimmt. Er kommt zu der Auffassung: »Die ›Mutter‹ bildet mitsamt ihrem Negativbild der ›nervösen Frau‹ die sichtbarste Form dieser Hysterisierung«145. Im Laufe des 145 | M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 126.

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19. Jahrhunderts gehört die hysterische Frau, wie die kindliche Sexualität, die Onanie und die ›perversen Lüste‹, zu denjenigen Anomalien, die Korrekturtechniken unterzogen werden. Um die Jahrhundertwende erscheint das Problem der ›freien‹ Liebe und der ›freien‹ Sexualität als gesellschaftliches Problem. Die Masturbation tritt, wie die Homosexualität, als Gefährdung einer fortpflanzungsorientierten Sexualität und über sie vermittelten globalen Kontrolle der Bevölkerung in Erscheinung. Die Familie wird in diesem Kontext zum Umschlagplatz umfassender Kontrollpraktiken. Zugleich wird die Jahrhundertwende als »Zeitalter der Nervosität« und einer »nervösen Gesellschaft«146 apostrophiert. Nervenschwäche erscheint als Zeichen der Zeit. Joachim Radkau nimmt an, dass »der Nervositätsdiskurs […] über weite Strecken ein halbverdeckter Diskurs über die Sexualität [war]«, und dass man bei den »Nervenreizen« insbesondere an sexuelle Reize und »bei der ›Nervosität der Zeit‹ an die Turbulenzen der ›freien Liebe‹, die um die Jahrhundertwende aus der Sicht vieler Zeitgenossen das explosivste von allen Problemen war«.147 Körperliche Vorgänge werden nun in Analogie zu technischen Vorgängen der Nachrichtenübermittlung beschrieben. Der Körper erscheint gewissermaßen als nachrichtentechnischer Apparat, der, wie der Telegraf, Nachrichten übermittelt, ein Apparat, der aus elektrischen Leitungen und Bahnen besteht und dessen Antriebskraft auf physikalische, messbare Größen zurückgeführt werden kann. Das Körpersystem funktioniert demnach, folgt man diesem Diskurs, wie ein Leitungsnetz, das Nachrichten transportiert, ein System von Empfangs- und Sendeapparaten, in die die Nervenbahnen, wie Telegrafendrähte, münden. Der Körper wird demnach dominiert von ›technischen‹ Vorgängen der Reizübermittlung, aber auch der Reizüberflutung. »Die rasch ›anschwellenden‹ Nachrichtenströme, die seit der Jahrhundertmitte durch dieses Netz übermittelt wurden, boten sich als Metapher für die ›Überreizung‹ an, die ›asthénie nerveuse‹ oder Neurasthenie, wie dies mit deutlichem Anklang an die Reiztheorie von Broussais und Brown zu Beginn des Jahrhunderts genannt wurde«.148 146 | Vgl. Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München: Hanser 1998, hier S. 33. 147 | Ebd., S. 144. 148 | P. Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 351f.

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Die Frage nach der Gesundheit (des Körpers) ist hier eine der vom Nervensystem verarbeitbaren Reizstärken – »eine technische Frage der messbaren Quanten und Flüsse nach dem Modell des elektrischen Stroms«.149 Die Gefährdung der Gesundheit erscheint als Überlastung der Nerven(reize und -leitungen) und begrenzten Verarbeitungskapazitäten, ja, im Grunde, als Überlastung des komplexen Leitungsnetzes. Es ist nicht mehr das Ich oder das Bewusstsein, das die Vorgänge des Denkens und Empfindens steuert, sondern entscheidend ist deren Rückführung auf ein komplexes Netz von Nachrichten und Reizübertragungen. »Das Subjekt und sein Körper werden als vollständig abhängig von Funktionieren dieser körpereigenen Informationstechnik dargestellt, welche nach Regeln funktioniert, die nicht die des bewussten Geistes sind […] [sondern] die ›Gesetze‹ der Reizübertragung in den Nervenzentren […], der Mitempfindungen […] und der Akkommodation, das heißt der Gewöhnung und Einübung reflexartiger Informationsflüsse«.150

Entscheidend ist demnach der Auf bau, die Architektur des Netzes und die von ihm verarbeitbaren Informationsmengen – nicht die Inhalte. Daraus folgt, da die Vorstellungen vom Körper als Nervensystem, analog der Leitungsnetze, eher dezentral waren und deren Leistungen nicht nur in der Transmission, sondern auch in der Regulierung der Reize zu bestehen schienen, dass seine Leistungsschwächen an verschiedenen Stellen dieses Systems lokalisiert werden. Überreizung und Schwäche werden in einen Zusammenhang mit sozialen Dynamiken der modernen Gesellschaft gebracht. Es treten körperliche Symptome wie Asthma, Lähmungen, Migräne und Kriegstraumata in den Vordergrund; sie erscheinen als Ursache des nervösen soldatischen Mannes, dessen ›Fehlfunktionen‹ sich im »Kriegszittern« äußern: »›Kriegszitterer‹ waren Soldaten, deren Körper aus organisch nicht erklärbaren Gründen den Dienst im Schlachtfeld, eben durch ein unkontrolliertes ›Zittern‹ verweigerten«.151 Zunehmend verschiebt sich der Hauptakzent von der Schwäche auf die Überreiztheit, Ermüdbarkeit und »abnorme Erschöpf barkeit der Neurastheniker«152, 149 | Ebd., S. 353. 150 | Ebd., S. 352f. 151 | Braun, Christina von: Nicht-Ich. Logik, Lüge, Libido, 3. Auflage. Frankfurt a.M.: Neue Kritik 1990, hier S. 330. 152 | Ebd.

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die teils oft nur als deren Einbildung gesehen wird. Umrisshaft zeichnet sich ab, dass es, zumindest bei den männlichen Neurasthenikern, sozialer Druck, Überarbeitung sowie traumatische Erfahrungen sind, die auf diese Weise, ›abreagiert‹ werden. Aus dieser Perspektive bildet die Neurasthenie eine Zivilisationskrankheit, quasi die logische Konsequenz von Grundprozessen der Moderne, des Industriezeitalters, des Aufstiegs der kapitalistischen Arbeitsweise und Konkurrenzwirtschaft, des Individualismus, der Beschleunigung und des urbanen Lebenstempos, aber auch der Sexualität. »Der Nervendiskurs war nicht zuletzt eine dezente [und verdeckte] Konversation über die Sexualität«.153 Sie erscheint als »Unruhestifter im Nervenbewusstsein«; auf der einen Seite erscheint das Nervensystem als »Grundlage für ein neues, egozentrisches Selbstgefühl – das Ich als hochkompliziertes System!«154, auf der anderen Seite als dessen Erosion und Zerfall. ›Nervosität‹ ist eine Chiffre für alles Mögliche, die gewissermaßen geschlechtsspezifische Ausprägungen hat, nämlich die weibliche Hysterie, bei der die Gebärmutter und die weibliche Geschlechtlichkeit als Hysterie-Ursache im Vordergrund standen, während es doch gleichzeitig Anzeichen für das verstärkte Auftreten der männlichen Hysterie gibt, die bei Männern aber nicht akzeptiert wird, und die, obgleich sich die Symptome der weiblichen und männlichen Hysterie einander zunehmend annähern, Neurasthenie genannt wird. Hier verlagert sich die Ursache gewissermaßen vom Unterleib in den Kopf. Der nervöse Mann kämpft um seinen Körper; er wehrt sich gegen seine ›Weiblichkeit‹, gegen die Mutter, die ihn am Ausleben seiner männlichen Geschlechtlichkeit hindert. Auch die Impotenz spielt eine Rolle in der männlichen Hysterie; der Hysteriker gilt als ›feminisiert‹, Weiblichkeit als Fremdkörper im männlichen Körper, der entfernt werden muss. Die kathartische Methode Freuds ist, so argumentiert Christina von Braun, eine Form dieser ›Reinigung‹ des neurasthenischen, hysterischen Mannes; »sie liefert die Möglichkeit, den Fremdkörper Frau aus dem Kopf des Mannes zu entfernen«.155 Neurasthenie lässt sich demnach aus einer Schwäche in der Sexualität ableiten: »Der vorzeitige Samenerguss, die ›ejaculatio praecox‹, 153 | Ebd., S. 33; vgl. auch ebd., S. 144-169. 154 | J. Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, S. 33; vgl. auch S. 121-144 zum Zusammenhang von Neurasthenie und Geschlecht und insbes. S. 135-144 und 144-169 zum Schicksal der männlichen Hysterie, Neurasthenie und Sexualität. 155 | Vgl. ebd., S. 340-341; vgl. auch ebd. S. 142.

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wirkt oft wie das Urbild der reizbaren Schwäche«156; auch die weibliche Neurasthenie, die als Hysterie erscheint, wird zurückgeführt auf ihre Sexualität, genauer, den Uterus.

4.7 S tr ategien der M enschenökonomie I: D er produzierende F ortpfl anzungs und der konsumierende L ustkörper Sexualität wird im Bürgertum des 19. Jahrhunderts tabuisiert und in die Institution der bürgerlichen Kleinfamilie eingeschlossen, ja, »von der Kleinfamilie konfisziert [wird] und [geht] ganz im »Ernst der Fortpflanzung auf«, ganz anders als im 17. Jahrhundert, wo »die Praktiken kaum verheimlicht, die Worte […] ohne übertriebene Zurückhaltung gesagt« wurden, und »die Codes für das Rohe, Obszöne oder Unanständige«157 verglichen mit denen des 19. Jahrhunderts, recht locker waren. »Was nicht auf Zeugung gerichtet oder von ihr überformt ist, hat weder Heimat noch Gesetz. Und auch kein Wort. Es wird gleichzeitig gejagt, verleugnet und zum Schweigen gebracht. Es existiert nicht nur nicht, es darf nicht existieren und bereits in seinen geringfügigsten Äußerungen, seien es Handlungen, seien es Reden, sucht man es zu beseitigen«.158

Dennoch warnt Foucault davor, anzunehmen, dass die Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückt wird, weil sie mit der kapitalistischen Arbeitsordnung, wo man die Arbeitskraft systematisch ausbeutet, unvereinbar sei und sexuelle Lust nur insoweit zugelassen ist, als sie für deren Reproduktion sorgt. Sexualität erscheint ihm als Stützpunkt der Kontrollsysteme, die sich um den individuellen Körper herum anordnen, sich auf den Körper als Maschine, dessen Ausnutzung und die Steigerung seiner Kräfte richten und auf der anderen Seite der biopolitischen Regulierung der Bevölkerung. Und er nimmt an, dass es nicht um Restriktion, sondern um die Anreizung des Sexes geht. Das Sexualitätsdispositiv, das sich, wie Foucault annimmt, seit dem 18. Jahrhundert entwickelt 156 | Ebd., S. 63. 157 | M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 11. 158 | Ebd., S. 12.

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und durchsetzt, schließt sich mit den Körpern zusammen, hier geht es um »die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste«159. Die Verbreitung der Machtmechanismen ist ohne Anreizung des Sexes, wie Foucault die sexuellen Praktiken nennt, nicht möglich. Das Sexualitätsdispositiv funktioniert durch den Anschluss der Körper an die Ökonomie, nicht durch Fortpflanzung und Reproduktion, sondern durch die Aufwertung des Körpers als Gegenstand des Wissens und Element von Machtverhältnissen, seine Intensivierung vermittels mobiler, polymorpher Machttechniken, deren zentrale Relaisstation der »produzierende und konsumierende Körper«160 ist. Die Aufwertung der Sexualität Ende des 19. Jahrhunderts ergibt sich, so Foucault, »aus dieser privilegierten Position der Sexualität zwischen Organismus und Bevölkerung, zwischen dem Körper und globalen Phänomenen«161. Einzelorganismus und gesellschaftlicher Organismus sind über die Sexualität, sowohl die kontrollierte, aber auch die ›unkontrollierte, unregelmäßige oder ausschweifende Sexualität verbunden. Sie wirkt sich, folgt man medizinischen Diskursen, auf den individuellen Körper aus und macht ihn krank, zugleich »hat eine ausschweifende, pervertierte Sexualität auch Auswirkungen auf der Ebene der Bevölkerung, da man von dem sexuell Ausschweifenden annimmt, daß sein Erbgut, seine Nachkommenschaft ihrerseits beeinträchtigt werden und das über Generationen hinweg […]. Es handelt sich um eine Theorie der Degeneration. Die Sexualität, insofern sie ein Herd individueller Krankheiten und andererseits der Kern der Degeneration ist, repräsentiert genau diesen Verbindungspunkt des Disziplinären und Regulatorischen, des Körpers und der Bevölkerung«.162 Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführte Debatte über Geburtenkontrolle, Eugenik und eine ›freie Sexualität‹ hatte bio- und körperpolitische Konsequenzen. Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung generiert, wie Heiko Stoff in einem Beitrag zu dieser Debatte im Anschluss an Foucaults Ausführungen zum Sexualitätsdispositiv annimmt, zwei 159 | Ebd., S. 128. 160 | Ebd., S. 129. 161 | M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 291. 162 | Ebd., S. 292. An dieser Schnittstelle steht die Frau als Verkörperung einer neuen Sittlichkeit, um die herum sich ein sozialethisches Programm entfaltet, dem sowohl Praktiken der bevölkerungspolitischen Regulierung als auch der individuellen Sexual- und Rassen-Hygiene entsprachen.

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höchst unterschiedliche Körperkonzepte. Die »Privatisierung der Lüste und Verstaatlichung der Fortpflanzung« bringt zwei Arten der Verkörperung und damit wieder die »Existenz zweier Körper« hervor, aber dieses Mal nicht den physischen, sterblichen und den symbolischen, unsterblichen, sondern den »Lustkörper als Sender und Empfänger von Sensationen« und einen expertisch angeleitete[n], bevölkerungspolitisch konstituierte[n] und kollektivierte[n] Fortpflanzungskörper«.163 Stoff weist, im Anschluss an Lawrence Birkins explizite Erweiterung des Foucaultschen Ansatzes auf einen epistemischen Wechsel des Körperkonzepts hin: »In Konkurrenz zum Primat des ökonomisch und sexuell produktiven Körpers trat zum fin de siècle der ökonomisch und sexuell konsumierende Körper«.164 Stoff geht davon aus, »dass der konsumistischen Neuordnung der Bio-Macht neue Körper korrespondieren, die in den Laboratorien der Biomedizin etabliert wurden: der hormonelle Lustkörper und der genetische Fortpflanzungskörper«165. Damit stehen sich zwei Körperkonzepte gegenüber: auf der einen Seite das Konzept eines physiologischen Körpers, der am Primat der Lust und ihrer individuellen Befriedigung ausgerichtet ist und auf der anderen Seite das eines genetisch bestimmten Volks- und Bevölkerungskörpers. Der lebendige Körper, seine ›flüchtigen‹ Empfindungen und sein Begehren stehen im Gegensatz zu einem Körperkonzept, das sich an der Fortpflanzung und Vererbung orientiert. »So wie der konsumistische Diskurs die Sexualhormone als Triebstoffe des Lebens, des Begehrens und der Vermischung etablierte, brauchte der produktivistische Diskurs die Sexualhormone als Botenstoffe der Zweigeschlechtlichkeit, als Akteure der Renormalisierung destabilisierter Geschlechtskörper. […] Das flüchtige, begehrende Individuum stand in striktem Gegensatz zur Kontinuität und Histo-

163 | Stoff, Heiko: »Der Orgasmus der Wohlgeborenen: Die sexuelle Revolution, Eugenik, das gute Leben und das biologische Versuchslabor.«, in: Jürgen Martschukat: Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt a.M.: Campus 2002, S. 170-192; hier S. 170. 164 | Ebd., S. 174; vgl. dazu Birkin, Lawrence: Consuming Desire: Sexual Science and the Emergence of a Culture of Abundance, 1871-1914. N.Y./London: Cornell University Press 1988. 165 | H. Stoff: Der Orgasmus der Wohlgeborenen, S. 171.

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rizität des Keimplasmas. Der genetische Körper erreicht den hormonellen Körper ebenso wenig wie letzter Einfluss auf ersteren erlangen kann«.166

Damit lösen sich aber auch die Perversionen der Sexualpathologie, die sich an der produktivistischen, fortpflanzungsorientierten Sexualität orientierte, auf; sie werden von den konsumistischen Variationen der Sexualwissenschaft abgelöst. Der konsumistische Diskurs etabliert einen auf die Befriedigung körperlicher Reize und Sensationen ausgerichteten Körper, was sich, neben einer Um- und Neucodierung der Körper auch auf eine Neucodierung der Kultur, des Zivilisationsbegriffs und des Geschlechts(körpers) auswirkt.167 »Die Zeitperiode des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts lässt sich geradezu unter dem Signum neuartiger Verkörperungen einordnen, wobei nicht nur Männlichkeit eine Verkörperung in einem neuen, hypervirilen, muskulösen, tatkräftigen Männerkörper erfährt, sondern auch weitere Formationen wie die

166 | Ebd., S. 185. 167 | Vgl. dazu ausführlich H. Bublitz: Die Gesellschaftsordnung unterliegt dem ›Walten der Naturgesetze‹, insbesondere den Abschnitt »Die Kulturaufgabe der Frau und die ›neue Ethik‹. Zur Sittlichkeitsdebatte um 1900«, S. 287-315; Bublitz, Hannelore: Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz. Frankfurt a.M.: Campus 1998; hier ist von einer ›Feminisierung der Kultur‹ und der Neucodierung der Geschlechter um 1900 die Rede; vgl. dazu auch Palm, Kerstin: »Die Krise der Männlichkeit – eine Krise des Lebens? Der biologische Lebensbegriff zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.«, in: Ellen Kuhlmann/Regine Kollek (Hg.): Konfiguration des Menschen. Biowissenschaften als Arena der Geschlechterpolitik. Opladen: Leske+Budrich 2002, S. 95-108, hier S. 101-104; Bublitz und Palm weisen darauf hin, dass es ein männliches ›Verweiblichungsbegehren‹ bzw. eine imaginierte Feminität gab, dem entsprach, dass Kultur und Zivilisation im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend weiblich konnotiert waren, aber auf der anderen Seite auch wieder der, wenn auch brüchige, Rückgriff auf Virilität und maskuline Körperlichkeit erfolgte, denn beide Phänomene erschienen bedrohlich und wurden kulturkritisch als Kulturverfall gedeutet. Dennoch ist von einer Umcodierung der Körper die Rede, die nun auch weibliche Anteile aufnimmt.

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Nation oder das Volk in einer körperlich-organischen Imagination sozialdarwinistischer Prägung erscheinen«.168

Ende des 19. Jahrhunderts gibt es eine Reihe von sexualreformerischen Bewegungen und Diskurse, in deren Rahmen sich Vorstellungen einer neuen Sexualmoral und neuen sexuellen Ethik herausbildeten, die an die Stelle der monogamen Fortpflanzungsgemeinschaft die polymorphe Lustbefriedigung und an die Stelle der von der Sexualpathologie konstatierten Perversionen ein variantenreiches Repertoire der Lüste setzten und damit den Entwurf eines ›neuen Menschen‹ verbanden. »Die sexuelle Emanzipation der Frau, die Befreiung des Geschlechtstriebs von der Sünde, ein bewusster und disziplinierter Umgang mit der Sexualität – das waren die Kernpunkte einer neuen Ethik, welche die Basis einer neuen Sexualmoral und der sexuellen Revolution der zwanziger Jahre bilden sollten«.169 Damit geht es nun um homo- oder heterosexuelle Präferenzen, nicht um Pathologien. Dennoch thematisieren auch sexualreformerische Diskurse, obwohl sie gegen die Ehe gewissermaßen als ›pathologische‹ Form der Sexualbeziehung argumentieren, insofern sie, so der Diskurs, Prostitution, außereheliche Schwangerschaft und Mutterschaft wie auch Geschlechtskrankheiten produziere, im Zusammenhang mit der ›freien Liebe‹ und Sexualität die kulturelle ›Entartung‹ und ›Degeneration‹. So argumentiert Helene Stöcker, eine Protagonistin der neuen sexuellen Ethik: »Wir wollen nicht in die Heuchelei verfallen, zu behaupten, dass der Geschlechtsverkehr nur sittlich sei, wenn er der Erzeugung von Kindern diene. […] Man wird zwischen Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung trennen müssen. Man wird z.B. auch Mittel finden müssen, um unheilbar Kranke oder Entartete ganz an der Fortpflanzung zu verhindern«.170 168 | K. Palm: Die Krise der Männlichkeit, S. 103. Neu ist aber auch, dass Männlichkeit überhaupt über den Geschlechtskörper definiert wird; auch das ein Aspekt der ›Feminisierung‹; vgl. dazu ausführlich S. Mehlmann: Unzuverlässige Körper. 169 | H. Stoff: Der Orgasmus der Wohlgeborenen, S. 177. 170 | Stöcker, Helene: »Zur Reform der konventionellen Geschlechtsmoral.«, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 10, 1907, S. 670-676, hier S. 675, zit aus. H. Bublitz: Die Gesellschaftsordnung, S. 299; vgl. zum gesamten Themenkomplex auch H. Bublitz: Die Gesellschaftsordnung, S. 296-304.

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Dem entspricht auf der anderen Seite die Auffassung, dass für Frauen Liebe und Mutterschaft eine natur- und gottgewollte Einheit bilden. Und ›unproduktiver‹ sexueller Konsum galt »weiterhin als pathologisches Zeichen der Degeneration«171. Dennoch insistiert Stöcker auf einer neuen sexuellen Ethik, die das »Sich ausleben« durch Orientierung an einer »strikten Ethik der Selbstkontrolle, der Vernunft, der Rationalisierung einzudämmen versuchte«. Das bedeutet: Der sexuelle Individualismus war eingebunden in einer staatlichen Biopolitik der Bevölkerung und »fand seine Grenze durchaus in den menschenökonomischen Bedürfnissen des Staates«172 . Er funktionierte also, so Stoff, »durchaus im Bezugsrahmen einer staatlich-medikalischen Eugenik«173. Und das bedeutete wiederum, dass sie eine ›freie‹ Sexualität durchaus mit staatlichen Maßnahmen der Regulierung der Bevölkerung verbanden, die »epistemische Trennung von Sexualität und Fortpflanzung erlaubte rassenhygienische Zwangssterilisation ebenso wie sorgenfreie Promiskuität«174 . Zwar stellt die produktivistische Verbindung von Mutterschaft und Eugenik keinen gesellschaftlichen Konsens mehr dar, »das gute Leben, das individuelle und universelle Anrecht auf Orgasmen und fakultativ geregelte Geburten etablierte sich als eine gewichtige Alternative«, aber es etablieren sich, außer sexualreformerischen Vorstellungen von ›freier Liebe‹ und individuellen Sexualpraktiken, staatliche Maßnahmen der Geburtenregulierung und -kontrolle. Sie erschienen als unabdingbares Instrument der Regulierung des Bevölkerungskörpers. Zwischen den Strategien der Menschenökonomie und sexualreformerischen Vorstellungen eröffnete sich ein Raum für staatliche Regulierungen und Zugriffe, die sich an Techniken der Umformung des Menschen orientierten, wie sie in den Lebenswissenschaften – experimentell z.B. am Beispiel der Leistungssteigerung der ›Körpermaschine‹ oder der gegen Ermüdung gerichteten Techniken – entwickelt und erprobt wurden. Die ›Lebensingenieure‹ nahmen für sich das gleiche Recht in Anspruch, wie es Ingenieuren zusteht, die es mit lebloser Materie zu tun haben, von der bloßen Vermessung des Menschen und seines Verhaltens zu deren Kontrolle und Steuerbarkeit war es offenbar

171 | H. Stoff: Der Orgasmus der Wohlgeborenen, S. 178. 172 | Ebd., S. 178. 173 | Ebd. 174 | Ebd., S. 179.

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nur ein kleiner Schritt.175 »Die Vermessung der menschlichen Fähigkeiten mit einem wachsenden Arsenal von Instrumenten, deren Präzision die Möglichkeiten sinnvoller Interpretation der Messergebnisse bis weilen deutlich überstieg, wuchs sich zu einer Obsession der Lebensingenieure aus«.176 Im 19. Jahrhundert wird der Mensch und sein Körper vermessen, katalogisiert und inventarisiert, wie möglicherweise nie zuvor in der Geschichte. Die Auswertung der Daten liefert die Kriterien für eine Verbesserung, die sich an Kriterien der – ökonomischen – Effizienz und effizienter Ausschöpfung aller körperlichen und geistigen Möglichkeiten ausrichtet. Dazu gehört auch ein ›Züchtungsprojekt‹, das das angeblich Höherwertige durch staatliche, biopolitische gewissermaßen erzwingt und das angeblich Minderwertige aussortiert. Psychotechnik, Taylorismus, Rassenhygiene und Eugenik sollten ›Krisen‹ der Moderne durch wissenschaftliche (Sozial-)Techniken quasi ›ausmerzen‹ und den Menschen und seinen Körper zugleich durch rationales Management im Sinne einer Menschenökonomie optimieren. Sie umfasste ein Programm, mit dem sowohl der Bereich der Fabrik- und Büroarbeit als auch die Lebensumstände der Bevölkerung durch die Verbreitung von Hygienemaßnahmen und die ›Hebung der Rasse‹ rational ›gemanagt‹ werden sollten. Ökonomisierung und Rationalisierung zielten auf Leistungssteigerung. »Der ökonomische Zugriff forderte vom Menschen die Einfügung in ein wissenschaftlich legitimiertes System der Effizienz und postulierte eine zweifache Analogie: zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Mensch und Maschine. Oder zwischen Einzelorganismus und Superorganismus, denn als Gegenbild zu Eigensinn und bürgerlichem Individualismus taugten Emsigkeit und Selbstlosigkeit der staatenbildenden Ameisen ebenso gut wie die Unermüdlichkeit und Unbestechlichkeit eines Generators. Nicht nur das Bild vom Menschen als Industriepalast 175 | Vgl. dazu u.a. Schwarz, Roland: »Die Fabrik. Strategien der Menschenökonomie.«, in: Nicola Lepp/Martin Roth/Klaus Vogel (Hg.): Der neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung. Berlin: Cantz 1999, S. 204235; es wird sich im 20./21. Jahrhundert zeigen, dass diese Ingenieurstechnologie endgültig Eingang findet in die Lebenswissenschaften, die synthetische Herstellung des Lebens. 176 | R. Schwarz: Die Fabrik, S. 206.

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und tanzende ›Girlsmaschinen‹, auch die Lebenspraxis von Fließbandarbeit und die Architektur der ›Wohnmaschinen‹ schienen die Grenze zwischen Mensch und Technik aufzuheben«.177

Im eugenischen und rassenhygienischen Diskurs erscheinen Sexualität und nervöse Störungen wie die Neurasthenie aber ganz und gar als Zeichen von Entartung und Degeneration. Nervenschwäche gerät nun zunehmend in den Sog von Fragen der Vererbung178; es gehörte zum Gemeingut biologischen und medizinischen Denkens, dass sich die Nervosität, wie andere ›Schwächen‹ von Generation zu Generation vererben und steigern könnte. »Zusammen mit der Idee des evolutionären Fortschritts war auch der Gedanke der Abwärtsentwicklung, der Degeneration, aufgekommen und zwar auch der nervlichen Degeneration«. Angenommen wurde: »Aus einer bloßen Nervosität in der ersten Generation werde in der zweiten eine Neurose, in der dritten eine Psychose und in der vierten Idiotie«.179 Folgt man sozialdarwinistischen Argumentationsfiguren, dann wird die Arterhaltung und Höherentwicklung der Kultur und der ›Rasse‹ durch den humanitären und zivilisatorischen Schutz des Individuums gefährdet. Zentrale Kategorien sind nun ›Rassetüchtigkeit‹ und ›Rassenbiologie‹, sie bilden das Zentrum einer ›Gesellschaftsbiologie‹, deren zentrale Argumentationsfigur die Gefährdung des ›Höherwertigen‹ durch den Schutz des ›Minderwertigen‹ ist.180 Im Zentrum dieser ›Gesellschaftsbiologie‹ steht die Vererbung. Fortpflanzung, Degeneration und Rassenhygiene sind die Pole, zwischen denen sich der eugenisch-medizinische Diskurs aufspannt. Sowohl Alfred Ploetz, der Begründer des Archivs für Rassenund Gesellschaftsbiologie, ist, wie Ernst Rüdin, Mediziner; die Medizin erhebt Anspruch auf die Deutungshoheit über Kultur und Gesellschaft. Sie entwickelt Handlungsanweisungen und Korrektur- bzw. Selektionsmaßnahmen für das Fortpflanzungsverhalten der Bevölkerung. Kultur 177 | Ebd. 178 | Vgl. dazu auch J. Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, S. 178-181. 179 | Ebd., S. 180. 180 | Vgl. dazu ausführlich H. Bublitz: Die Gesellschaftsordnung unterliegt dem ›Walten der Naturgesetze‹, insbesondere den Abschnitt ›Gesellschaftsbiologie und Kulturvolk. Der rassenhygienische Diskurs als Machtwirkung darwinistischer Diskurspraktiken‹, in: H. Bublitz/C. Hanke/A. Seier: Der Gesellschaftskörper, S. 258-286.

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erscheint hier, wie ›Rasse‹ und ›Volk‹, als biologische Entität. Folgerichtig treten biologistische Lösungen der eugenischen Bevölkerungspolitik an die Stelle sozial- und gesellschaftspolitischer Lösungen. ›Rassetüchtigkeit‹ erscheint als biologische Qualität des Bevölkerungskörpers und der Kultur. Das ›rassetüchtige‹ Subjekt verfügt über einen fortpflanzungsfähigen Körper, dessen Erbanlagen einen biologisch begründeten Kulturkörper konstituieren. Gemeint ist hier der Körper kulturell höherstehender Klassen der Gesellschaft, dessen ›tüchtige Erbanlagen‹ sich, so argumentiert die Eugenik und die Rassenhygiene, durch natürliche Auslese vererben, die allerdings, so der rassenhygienische Diskurs, durch humanistische, individualhygienische Maßnahmen zugunsten ›dekadenter‹ und ›verkommener‹ Bevölkerungsgruppen eingeschränkt bzw. verhindert wird. Hintergrund dieser Annahme ist die These von der zivilisatorisch verursachten ›Entartung‹ und ›Degeneration‹. An die Stelle einer an Heilung und gesellschaftspolitischen Maßnahmen ausgerichteten Körperpolitik tritt hier die Veränderung antiselektorisch wirkender Institutionen und der Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen von der Fortpflanzung.181 Menschenökonomie und Biologie bzw. Eugenik greifen ineinander; bevölkerungspolitisch wünschenswert erscheint »ein qualitativ hochwertiges, menschliches Produkt, aus dem alle negative Faktoren und Eigenschaften ausgeschlossen sind. Ökonomie und Biologie […] gehören unmittelbar zusammen und verlangen nach einer eugenischen Regulierung, nach einer […] ›Biotechnik‹ und ›Soziobiologie‹«.182 Mit diesem Körperkonzept verbinden sich Phantasmen und Obsessionen, die die Kontrolle und Steuerbarkeit der Körper und des Lebens an Effizienz und Leistungsfähigkeit ausrichten. Der Kulturkörper erscheint als Körper, der sich nicht nur hygienischen Maßnahmen unterwirft, sondern die ›Tüchtigkeit‹ der Rasse ins Zentrum biopolitischer Maßnahmen eines Selektions- und ›Züchtungsprojekts‹ stellt. Hier geht es um die Auslese von Erbanlagen, um ›Nationalbiologie‹ analog der Nationalökonomie.

181 | Vgl. zum gesamten Themenkomplex Weingart, Peter/Kroll, Jürgen/Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988; vgl. auch H. Bublitz: Die Gesellschaftsordnung. 182 | H. Stoff: Der Orgasmus der Wohlgeborenen, S. 177.

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4.8 D er K örper als M aschine III: B iok yberne tischer O rganismus und maschinenlesbarer Te x t Die Annahme von La Mettrie, dass der Mensch unter die Maschine subsumierbar sei, setzt sich im 20. Jahrhundert aufgrund der kulturellen und techn(olog)ischen Bedingungen anders durch, als dies im Automatendiskurs des 18. Jahrhunderts der Fall war: Anne Balsamo schlägt in ihrer Untersuchung über Technologien des Geschlechtskörpers (1996)183 vor, die Cyborg-Metapher auf doppelte Weise zu lesen, nämlich zum einen als Verbindung eines menschlichen Organismus mit einem elektronischen oder mechanischen Apparat; gemeint ist damit in der Regel »die Integration hochtechnischer Systeme in organische Abläufe des menschlichen Körpers«184. Zum anderen ist sie lesbar als Einbettung des Organismus in ein kybernetisches Informationssystem. Im ersten Fall findet die Koppelung von Körper und Maschine im Körper selbst statt, die Grenze zwischen physischem Körper und künstlicher Maschine ist durchlässig bzw. aufgehoben. Im zweiten Fall werden die Technologien dem Körper eingeschrieben, er wird zum maschinenlesbaren Körper. Cyborgs sind, so gesehen, hybride Einheiten, die weder organische noch technologische Körper sind, sondern, so Balsamo, geeignet sind, die Vorstellung von Körpern als (im-)materiellen Einheiten und diskursiven Prozessen neu zu strukturieren. Neu an diesem Konzept eines biokybernetischen Körpers ist die Idee des Körpers als eines (kybernetisch modellierten und konfigurierten) informationellen Netzwerks und die Koppelung von biologischen und artifiziellen Systemen. Der Körper wird de-essentialisiert und gewissermaßen als Baukasten aus flexibel kombinierbaren und modellierbaren biotischen Komponenten konfiguriert. Mit dem Eintritt der Molekularbiologie in dieses biokybernetische Modell rücken zellinterne Prozesse in den Vordergrund, die Struktur von lebendigen Organismen wird zum Bestandteil einer informationstechnologischen Logik. Damit ist aber nicht nur eine direkte Koppelung von biologisch-organischen und artifiziellen 183 | Balsamo, Anne: Technologies of the Gendered Body. Reading Cyborg Women. Durham/N.Y. 1996; vgl. dazu auch Bublitz, Hannelore: »Wahr-Zeichen des Geschlechts, S. 181-182. 184 | Spreen, Dierk: Upgradekultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft. Bielefeld: transcript 2015, hier S. 28.

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Prozessen, von Mensch und Maschine-Systemen, sondern auch die technische Rekonstruktion lebendiger Organismen möglich. Die Molekularisierung des Körpers ermöglicht, den Körper nicht mehr als lebendigen Organismus zu betrachten, »sondern als Ansammlung prinzipiell isolierbarer molekularer Mechanismen, die als solche aus ihrem raumzeitlichen Kontext herausgelöst, isoliert und/oder neu zusammengesetzt werden können«185. Damit verschwimmt aber auch die Differenz zwischen körperlicher Materie und Information; »jede beliebige Komponente kann mit jeder anderen verschaltet werden, wenn eine passende Norm oder ein passender Code konstruiert werden können, um Signale in einer gemeinsamen Sprache auszutauschen. Vor allem besteht kein Grund für eine ontologische Entgegensetzung des Organischen, des Technischen und des Textuellen«.186 Der Körper wird als Text oder Zeichensystem bestimmt und als intrinsisch biologisches System entmaterialisiert; organische Prozesse erscheinen in den biokybernetischen Begriffen der Informatik. Technik wird zur Metapher eines vollständig ›lesbaren‹, nicht nur interpretierbaren, sondern kontrollierbaren, letztlich technischen Körpers. »Die Perspektive der Zerlegung und Rekombination stellt demnach eine Herrschaftsperspektive dar, die keine Rücksicht mehr auf Materialität zu nehmen gedenkt. Die Flucht aus dem Körper, die die kybernetische Informationstheorie auszeichnet, erscheint dabei als ideologischer Ausdruck der globalen durchökonomisierten und digitalisierten Informationsgesellschaft«.187

Das Phantasma eines vollständig beherrschbaren Körpers wird hier, so scheint es, durch Befreiung aus einem lebendigen, vergänglichen Körper realisierbar.

185 | Weiß, Martin G.: »Nikolas Rose. Biopolitik und neoliberale Gouvernementalität.«, in: Diana Lengersdorf/Matthias Wieser (Hg.): Schlüsselwerke der Science & Technology Studies. Wiesbaden: Springer 2014, S. 305-315 hier S. 311. 186 | Haraway, Donna: »Manifesto for Cyborgs: Science, Technology and Socialist Feminism in the 1980s.«, in: Socialist Review 80, S. 65-108. Wieder abgedruckt in: Haraway, Donna: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature. London: Routledge 1991, S. 175-176. 187 | D. Spreen: Upgradekultur, S. 21.

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Dieser Körper unterliegt ständigen Umschreibungen. Neu hieran ist die direkte Koppelung von Körper, Lebensprozessen und technischen Funktionsabläufen. Es geht beim Cyborg also nicht um eine Körpermetapher, sondern um reale Schnittstellen und technische Veränderungen des Körpers im Sinne einer »neuen kybernetischen Einheit aus Organischem und Technischem« 188 . Das Ziel ist die friktionslose Übersetzung von organischer und technisch-kybernetischer Informationsverarbeitung. Dabei treten die organischen Kräfte des Körpers in ein neuartiges Verhältnis mit Technologien; ihr Zusammenwirken ist dergestalt gedacht, dass die Technologien nicht länger als technische Prothesen erscheinen, sondern als Teil des Organismus funktionieren und operieren. Es handelt sich um eine technische Erweiterung und um biotechnologische Modifikationen des Menschen und seines Körpers.189 Was sich hier abzeichnet, ist eine fundamentale Transformation des Begriffs des Körpers und des Lebens.190 Die Frage ist: Wie vollzieht sich diese Erweiterung des Körpers zur Maschine, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts, möglicherweise noch metaphorisch gemeint, ankündigt und im 20. Jahrhundert den Körper durch die Verbindung von Molekularbiologie mit Kybernetik und Informationstheorie als nachrichtentechnische Maschine modelliert? Während die Biologie des 19. Jahrhunderts von einem »in der Tiefe des Körpers verborgenen Bauplan« ausgeht, der die Funktion und Integration der Organe bestimmt und dabei den Lebewesen eine Endlichkeit zuschreibt (der Tod ist koexistent zum Leben), und die Physiologie bereits an der experimentellen Rekonstruktion des Lebens interessiert ist, modelliert die Molekularbiologie des 20. Jahrhunderts das Leben und den Körper mit der modernen Genetik fundamental anders. Nicht die Zelle ist der Sitz des Lebens, sondern von nun an wird das Leben in den Genen lokalisiert. »Dies impliziert, daß das wesentliche Merkmal des Lebens nicht mehr in komplexen Phänomenen wie Entwicklung, Stoffwechsel

188 | Ebd. 189 | Vgl. dazu K. Harasser: Körper 2.0. 190 | Vgl. dazu: Ruf, Simon: »Über-Menschen. Elemente einer Genealogie des Cyborgs.«, in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen. Bielefeld: transcript 2001, S. 267-286. hier S. 268.

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oder Reproduktion besteht, sondern in einer in den Genen codierten Botschaft, die die Instruktionen zum Bau des Organismus enthält«.191 Im Zuge kybernetischer Denkmodelle und entwickelter Computertechnologien vollzieht sich ein epistemischer Bruch, der zur Neubestimmung des Körpers, des Menschen und der Auffassung des Lebens führt. Der Körper als Simulationsmodell, der sich aus allen materiellen Verankerungen löst und den menschlichen Geist aus seinem vergänglichen Körper befreit, tritt allerdings keineswegs als simuliertes Modell in Erscheinung, sondern nimmt reale, aber dennoch quasi-religiöse, mystische Züge an und verknüpft sich mit dem Versprechen der Unsterblichkeit. Mit der ›Entdeckung‹ einer Proteinverbindung, der DNA-Struktur, verbindet sich ein Versprechen, ja, eine – fast religiös anmutende – Verheißung, das ›Geheimnis‹ des Lebens entdeckt zu haben. Deshalb liegt es auf der Hand, dass »die Molekularbiologie heute zu einer säkularisierten Religion geworden ist«, die »das Humangenom-Projekt mit der Suche nach dem ›Heiligen Gral‹ vergleicht: An die Stelle der Beichte als Selbstentzifferungsverfahren tritt die Analyse des individuellen Genoms, das uns die Ursache für unser So-Sein, die Wahrheit über unsere Identität und die Möglichkeiten für unsere Zukunft aufzeigen soll. Das Ziel dieses genetischen Pastorats liegt nicht mehr in einem jenseitigen Heil, sondern es verspricht Heilung von diesseitigen Übeln und  – bei guter Führung  – Wohlbefinden und Wohlstand, Gesundheit und Glück. Die Liste der Verheißungen reicht dabei von der Diagnose und Therapie von Krankheiten über die Verlängerung des Lebens und die Lösung sozialer Probleme bis hin zur Sicherstellung der Ernährung für die wachsende Weltbevölkerung«.192 Ähnlich wie um die Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts erscheint die (Natur-)Wissenschaft als Lösungsmittel für gesellschaftliche Probleme der Moderne.

191 | S. Ruf: Über-Menschen, S. 273; vgl. dazu auch E. Fox Keller: Das Leben neu denken. 192 | Lemke, Thomas: »Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität.«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 227-264, hier S. 227.

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»Während es der Biopolitik des 18. und 19. Jahrhunderts um Gesundheit, Hygiene, Geburten- und Sterberaten ging, wandelte sich diese ›Gesundheitspolitik‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine ›eugenische Politik‹, der es – getrieben von der Angst vor biologischer ›Degeneration‹ – um die biologische Qualität der Bevölkerung ging. Gegenwärtige Biopolitik hingegen hat sich der ›Kontrolle‹ des Lebens selbst verschrieben«.193

War es damals eine Fusion aus Medizin, Eugenik und Rassenhygiene, die den Anspruch erhob, die Bevölkerung und die Kultur durch menschenökonomische Technologien zu kontrollieren, so ist es gegenwärtig eine Fusion aus Biologie und Informatik, die das Leben nicht nur zu kontrollieren, sondern es zu modellieren beansprucht. Es sind nicht rassische, sondern genetisch spezifizierbare Qualitäten, die in der »Genetifizierung der Gesellschaft«194 soziale Wirkung zeigen; aber in beiden Fällen geht es um eine Optimierung und Ökonomisierung des Lebens. Welcher Begriff des Körpers und des Lebens liegt hier zugrunde? Molekülketten, die miteinander in einer Doppelhelix-Struktur verschlungen sind, bilden, folgt man dem molekularbiologischen Diskurs, die Grundlage des Lebens. Die Informationsmetapher wird zur Maßeinheit für die Komplexität genetisch verankerter Erbinformationen. Lily E. Kay bezeichnet den genetischen Code als einen metaphorisch verschlüsselten Informationscode, eine historische Metapher, mit der das Buch des Lebens entschlüsselt werden soll und fragt sich, wer das Buch des Lebens geschrieben hat, das Leben und der Körper selbst oder vielmehr die Forscher?195 Der genetische Code, eine Kombination von Zeichen, erscheint als Schlüssel (zum Buch) des Lebens, dessen Rätsel nun auf eine Architektur, eine Ordnung und einen Akteur zurückgeführt werden, das Gen, das, wie zuvor der gesamte Körper, als nachrichtentechnischer Automat entworfen wird, der die Endlichkeit des Lebens durch »eine praktisch unbegrenzte Vielfalt von Kombinationen und Permutationen« ablöst.196 Dieses DNA-Modell des Körpers, dessen Geheimnis offenbar in Proteinverbindungen besteht, wird zum Inbegriff eines Versprechens, das, anders als das Heilsversprechen des christlichen Körpermodells oder das 193 | M. G. Weiß: Nikolas Rose, S. 311. 194 | Ebd., S. 228. 195 | Vgl. L. E. Kay: Who wrote the book of Life? 196 | S. Ruf: Über-Menschen, S. 275.

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des Körpers als effektive Maschine, auf der Grundlage von Texturen sowie deren Zerlegung und Rekombination Umschreibungen (der Geschichte und der Zukunft) ermöglicht. »Damit sind erstens die Geschichte des Individuums, d.h. die hereditäre Vorgeschichte seiner Abstammung und die zukünftige Geschichte seiner Entwicklung sowie die räumliche Ordnung und Struktur des Organismus in codierter Form in der Basensequenz der DNA enthalten. Das Geheimnis des Lebens ist nicht mehr in einem in der Tiefe des Körpers verborgenen Organisationsplan situiert, sondern in der linearen ›Buchstabenfolge‹ der DNA. Anstelle eines organischen Raumes eröffnet sich der postvitale Raum der Molekularbiologie«.197

Die DNA wird zum Ursprung und Agent des Lebens, der Proteine, »Gesetzbuch und ausübende Gewalt, Plan des Architekten und Handwerker des Baumeisters. Das Leben manifestiert sich nicht primär in materiellen Phänomenen wie Stoffwechsel oder Embryogenese, sondern besteht in einem immateriellen und einseitig gerichteten Informationsfluß, dessen Sender die DNA, eine Art Kommandozentrale von communication and control, ist«.198 Es scheint aber so, als ob der informationstechnisch decodierte Körper selbst zu uns spricht und darauf hinweist, dass eine endliche Anzahl von Basentypen eines DNA-Stranges, die sich millionenfach entlang der Kette einer unendlichen Vielzahl von Kombinationen wiederholen, das Geheimnis des Lebens sind. Informationen werden zum Konstruktionsprinzip dessen, was sie rekonstruieren. Es sind die Technologien, die das Rätsel des Lebens und den Körper als Träger von Erbinformationen enthüllen. Der Wissenschaftshistoriker Hansjörg Rheinberger macht auf die ›Konstruktionsapparate‹ dieser ›Entdeckung‹ aufmerksam: »Mit der Gentechnologie werden die zentralen ›technischen‹ Entitäten, die Manipulationswerkzeuge des molekularbiologischen Unternehmens selbst zu molekularen Werkzeugen, sie sind ihrem Charakter nach nicht mehr zu unterscheiden von den Prozessen, mit denen sie interferieren«.199 Damit 197 | Ebd., S. 276. 198 | Ebd., S. 277. 199 | Rheinberger, Hans-Jörg: »Von der Zelle zum Gen. Repräsentationen der Molekularbiologie.«, in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina WahrigSchmidt (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin: Akademie 1997, S. 265-279, hier S. 275.

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verschwindet, so Rheinberger, »auch der letzte Hauch der Illusion, es gäbe eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen etwas Natürlichem und etwas Künstlichem«200. Es entsteht das Modell eines Körpers, »dessen vitale Prozesse im Senden, Empfangen und Verarbeiten von Nachrichten bestehen und den man daher buchstäblich als kybernetischen Organismus, als Cyborg bezeichnen kann«201. Damit verändert sich der alles durchdringende Blick der Anatomie, der den transparenten Körper hervorbringt und es eröffnet sich eine neue Form der Verfügung über den Körper und dessen Rekonstruktion. »Denn die skripturalen Repräsentationen vom Genom als Buch des Lebens, vom genetischen Code oder von der DNA als Sprache verheißen nicht nur Transparenz und eindeutige Lesbarkeit des Lebens, sondern eine neuartige Form der Kontrolle des Lebens. Sie sind die diskursiven Grundlagen und machtvollen rhetorischen Werkzeuge einer Biowissenschaft, der es nicht mehr primär um das ›Verstehen‹ des Lebens, sondern um das ›Umschreiben‹ des Lebens geht und deren Eingriffe in den Organismus auf eine ›Reprogrammierung metabolischer Vorgänge‹ abzielen werden«. 202

Damit verändert sich auch die Bio-Macht, die sich auf die Regulierung der Gesamtkörper der Bevölkerung und die Disziplin(ierung) des Körpers richtete; anstelle der bloßen Regulierung des Lebens formiert sich nun eine neue Machtformation, die man im Anschluss an Donna Haraway als »Technobiomacht« beschreiben könnte, deren Zugriff auf den Körper sich über die Rhetoriken von Kybernetik und Informationstheorie und -technologie herstellt. Wieder gibt es zwei Register: zum einen die Kybernetik, die Informationstheorie und Molekularbiologie, inzwischen aber allen voran die synthetische Biologie, eine »neuartigen Fusion von Lebenswissenschaft, Informatik, Ingenieurstechnologie und Design«203, die anstrebt, biologische Lebewesen und ihren genetischen Code am Computer zu (de-)codieren und zu entwerfen. Zum anderen sind diese Disziplinen

200 | Ebd. 201 | S. Ruf: Über-Menschen, S. 277. 202 | Ebd., S. 278. 203 | Müller, Martin: »Wir müssen dringend reden.«, in: Welt am Sonntag, 22. Jg., vom 29.05.2017, S. 59.

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verschränkt mit Praktiken und Technologien der Gentechnologie, in denen es darum geht, Eingriffe in die Keimbahnen vorzunehmen. Die Verheißung  – und das Supplement des Körpers  – ist in diesem Fall die Umschrift des Körpers und, was wir  – noch  – nicht sind, der ›göttliche Körper‹, der perfekt und tendenziell unsterblich ist, das ewige Leben, künstlich designed. Ganz in diesem Sinne inszenieren sich auch – einzelne  – Vertreter der synthetischen Biologie. Der Schöpfergott liegt oder sitzt, mit dem Laptop auf dem Schoß, und entwirft neue Lebensformen! Umprogrammierte Mikroorganismen bieten die biotechnische Lösung für Klima- und Ernährungskatastrophen, neue Informationstechnologien auf der Basis von DNA führen zur Bio-Technologisierung und Bio-Ökonomisierung des Lebens. Das Leben fungiert als Experimentalraum, während die gesellschaftlichen Implikationen dieses Zugangs nicht annähernd in den Blick kommen. Technik wird hier nicht nur, wie beim Cyborg, zum Bestandteil des Körpers, sondern zur Macht- und Herrschaftstechnik, die den Körper und seine Materialität, indem sie ihn und seine Bestandteile letztlich unendlich zerlegt und rekombiniert, als technisch vollständig kontrollierbar interpretiert. Die Frage ist, ob sich diese Technik als Entmaterialisierung des Körpers oder als Flucht aus dem Körper beschreiben lässt. Was zur Disposition steht, ist der Mensch, wie er sich im 19./20. Jahrhundert als Gegenstand einer das Leben der Bevölkerung verwaltenden Biopolitik konstituiert und etabliert hat. Was bevorsteht, ist ein radikales engineering der Körper, die in biomolekulare Elemente zerlegt werden. Die Macht ist in der Moderne nicht mehr wesentlich juristisch, obwohl es die souveräne Macht, die Gesetzesmacht, zweifellos weiterhin gibt; sie adressiert in der modernen Gesellschaft vor allem die Materialität der Körper, ja, sie ist selbst materialistisch geworden. Das Programm der Verwaltung des Lebens der Bevölkerung, deren permanente Beobachtung und Messung ist ebenso zentral geworden ist wie das der Disziplinierung des Körpers, der sich so einfügt in eine Disziplinarordnung der Gesellschaft und deren Technologien. Aber nun, im »Neuen Testament der Biologie«204 transformieren sich der Körper und das Leben selbst in molekulare Einheiten, die »kleinen Maschinerien der Physikochemie«205. 204 | Foucault, Michel: »Wachsen und Vermehren.«, in: Dits et Ecrits, Bd. 2, 2002, hier S. 128. 205 | Ebd.

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»Man untersucht heute in den Labors nicht mehr das Leben. Man sucht nicht mehr dessen Konturen zu erfassen. Man bemüht sich lediglich, lebende Systeme zu analysieren, ihre Struktur, ihr Funktionieren, ihre Geschichte…Ein lebendes System zu beschreiben heißt, sich sowohl auf die Logik seiner Organisation wie auf die seiner Evolution zu beziehen. Die Biologie interessiert sich heute für die Algorithmen der lebenden Welt«. 206

In dieser Neufassung des Biologischen rückt der Körper, täuschend natürlich, ganz ins Feld des Technischen. Der Körper wird technisch lesbar. »Erst wenn Leben code-basiert verstanden werden kann, eröffnet sich ein kul­ turtechnischer Möglichkeitshorizont zur Inskription symbolischer Operationen. Die technische Kontrolle über das Leben wird über kodifizierte Programmierung ausgeübt, in der der genetische Code mit dem digitalen Code konvergiert und als lineare Zeichenfolge erscheint«. 207

Auf diese Weise werden symbolische Codes in organische übersetzt und materialisieren sich dort. Und es entsteht ein Paradox: Das ›Verschwinden des Menschen‹ korreliert mit der Inthronisation des Menschen als Lebensingenieur, der als Schöpfergott auftritt und, so scheint es, sich an die Stelle Gottes setzt. Aber klingt das nicht allzu emphatisch? Die gegenwärtigen Debatten über Bio- und Gentechnologien bedürfen nicht einer Rückkehr zu dem Körper oder dem Leib, und auch keiner Reontologisierung des Körpers und des Lebens. Der Körper ist ein biotechnisches Projekt des Lebens und der Lebensingenieure geworden.208 Aber war er das nicht schon immer? Und: Ist der Akteur des Geschehens dingfest zu machen? Die Veränderungen der Keimbahnen sind im Nachhinein nicht mehr nachvollziehbar, »weil es sich um einen dem Organismus eigenen Mechanismus handelt«209. Das ist Optimierung ›at its best‹! Natürlich

206 | Ebd, S. 128. 207 | Müller, Martin: »Zoë als Téchne. Zum Paradox möglicher Menschen in der synthetischen Biologie.«, in: Antonio, Lucci/Thomas, Skowronek (Hg.): P­ otential regieren. Zur Genealogie des möglichen Menschen. Paderborn: Fink 2018, S. 239-252, hier S. 248. 208 | Vgl. dazu ebd. 209 | Ebd., S. 252.

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künstlich, aber täuschend natürlich! Das begegnet uns kulturhistorisch auch an anderer Stelle, wie wir in Abschnitt 5 sehen werden.

4.9 S tr ategien der M enschenökonomie II: P ostsoziale W unschkörper ? »Begehrende, orgasmussuchende Hormonkörper und selektierte Genetikkörper, dies waren die Daseinsweisen des modernen Körpers im 20. Jahrhundert«210, so beschreibt Stoff die Körperkonzepte der (Post-)Moderne. Ende des 20. Jahrhunderts konstatiert er eine demokratisierte Ausweitung der Begehrensmöglichkeiten des Konsumkörpers. Diese beziehen sich zum einen auf die körperlichen, sexuellen Erlebnisse und Sensationen, deren ›Normalisierung‹, vor allem aber deren singuläre Performanz, zum anderen auf die »konsumistische Fortpflanzung«, die, wie er annimmt, zumindest in westlichen Gesellschaften »die Praxis des Gebärens zu dominieren beginnt«211 und darauf hinausläuft, sowohl eine – termininierte, schmerzfreie  – Geburt nach eigenen Wünschen als auch genetisch ein Wunschkind zu produzieren. Die »genetische Gouvernementalität«, wie Thomas Lemke die aktuelle Bio-Macht im Anschluss an Foucault nennt, »etabliert eine neue Körperpolitik, die uns anhält, mit dem eigenen Körper, der Gesundheit oder der ›Lebensqualität‹ möglichst ökonomisch umzugehen. Genetifizierung als Selbsttechnologie«.212 Also wieder Menschenökonomie, aber auf neuer Basis, nämlich als Selbsttechnologie. Sie setzt allerdings ein gesellschaftlich, politisch und molekulargenetisches Wahrheits- und Machtprogramm voraus, das eine konsumistische Subjektivierung leitet. Denn erst auf der Grundlage molekularbiologischer Befunde und Design-Strategien der Lebensingenieure, ist es möglich, pränatal und präimplantiv nach genetisch spezifizierbaren Qualitäten zu selektieren. Aber die Molekularbiologie tritt mit der »Genetifizierung« des Körpers nicht nur einen ›Siegeszug‹ auf der Ebene der Transformation des Körpers und der aktuellen Körperkonzepte, sondern auch auf der Ebene der Gesellschaft an: Gesellschaft und Individuum fokussieren sich auf den Körper und auf die Optimierung des Lebens, und damit zunehmend auf 210 | H. Stoff: Der Orgasmus der Wohlgeborenen, S. 191. 211 | Ebd. 212 | T. Lemke: Die Regierung der Risiken, S. 230.

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die technischen Objekte und Prozesse, die der Verbesserung oder besser, der Überwindung des vergänglichen Körper-Lebens dienen. Der Körper als Quelle der Information und Identifikation rückt ins Zentrum einer »postsozialen« Gesellschaft, in der, neben den globalen Möglichkeiten der Finanzökonomie, die der Bio-Wissenschaften und der Informatik die Optimierung des Lebens, life enhancement, versprechen. An die Stelle eines sozialen Selbst tritt, so Knorr-Cetina in ihren Umrissen einer Soziologie des Postsozialen »eine Struktur von Wünschen im Verhältnis zu einem kontinuierlich erzeugten Mangel«213. Dieses Modell lässt sich – mit Rekurs auf Lacan – so verdeutlichen, dass das Subjekt sich hier im Spiegel eines perfekten Körpers und Selbst immer als »ein Bündel von Inkapazitäten« und Mängeln betrachtet; »das Wünschen wird aus der Sehnsucht gegenüber dem perfekten Spiegelbild […] geboren; der Mangel ist permanent, denn es wird immer eine Distanz zwischen der subjektiven Erfahrung von etwas, das wir nicht sind und nicht können, geben, und dem Gaukelbild im Spiegel oder dem anscheinenden ›Ganzsein‹ der Perfektheit von anderen«.214 Die permanente Wiederholung des Mangels mündet immer wieder in das Bestreben, den Mangel zu beheben, was nicht gelingt, zumal sich in der gegenwärtigen Gesellschaft der Spiegel in einer Medien-, Image- und  – informations- und molekularbiologisch informierten  – Wissenskultur manifestiert, die den Körper technisch einem ständigen Upgrade unterzieht.215 Konfrontiert mit einer Wissenskultur, die uns eher Strukturen des Wünschens als fertige Objekte bietet, also Wissensobjekte, die nie völlig erreichbar sind; diese Objekte, zu denen auch das Leben selbst und die Vervollkommnung des Lebens gehören, sorgen durch die Zeichen, die sie abgeben und die auf den Mangel verweisen, für eine »stetige Kontinuität einer Kette von weiteren Wünschen, das Objekt zu komplementieren«216. Aber es geht um mehr, als die Entsprechung zwischen einem Selbst und dem veränderbaren Charakter, die Prozesse und Projektionen, die von den Objekten ausgelöst werden. Es geht um ein Heilsversprechen, das sich di213 | Knorr-Cetina, Karin: »Umrisse einer Soziologie des Postsozialen.«, in: Lars Meyer/Hanno Pahl (Hg.): Kognitiver Kapitalismus. Soziologische Beiträge zur Theorie der Wissensökonomie. Marburg: metropolis 2007, S. 25-41, hier S. 29. 214 | Ebd., S. 30; diese Struktur wird uns beim ästhetischen Konsumkörper wieder begegnen. 215 | Vgl. dazu H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert, S. 119-150. 216 | K. Knorr-Cetina: Umrisse einer Soziologie des Postsozialen, S. 33.

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rekt an das Subjekt und seine Wünsche nach »life enhancement« richtet. Die Lebenswissenschaften suggerieren eine Vervollkommenbarkeit individuellen Lebens und sie richten sich gleichzeitig durch eine auf ganze Bevölkerungen bezogene Biopolitik an die Masse der Bevölkerung, »die nicht primär durch soziale Bindungen integriert wird«217. Der Begriff des Lebens und seine Verbesserung sind wichtiger geworden als alles andere; er rückt den Körper in den Fokus neuer Formen von »Bio-Sozialität«, in deren Mittelpunkt die genetische Ausstattung von Individuen und Gruppen steht, die zu Erfüllungsgehilfen ihres genetischen Programms und gentechnologischer Praktiken werden.218 In der molekulargenetischen Perspektive wird das ›Gen‹ zum Schlüssel individuellen ›Heils‹. Die Krankheit des Körpers erscheint dann als Kommunikationsproblem; das Recht auf Gesundheit als Pflicht zur Information. »Die informationelle Selbstbestimmung erlischt in dem Maße, in dem das Selbst zu einer genetischen Information wird. […] Nach der Aufklärung über die Geheimnisse des genetischen Codes gibt es keine Unmündigkeit mehr, die nicht selbstverschuldet wäre«.219 Die Molekularisierung des Lebens produziert eine Körperpolitik und eine Somatisierung der Individuen, die sich, wie Knorr-Cetina annimmt, einer postsozialen Rationalität verschreibt: Im Rahmen gesellschaftlicher Transformationen werden gesellschaftliche Zwangsmaßnahmen (der Disziplinierung individueller Körper und der sozialen Regulierung der Bevölkerung) gewissermaßen in den Körper selbst verlegt; hier verbergen sich Risiken und Sicherheiten, die zum einen durch Imperative der Selbstregulierung, vor allem aber durch einen »subzellulären Panoptismus«, der mithilfe der Genomanalyse und der Gendiagnostik eröffnet wird,220 zu neuen Formen der Sichtbarkeit des Körpers führen. An die Stelle der Biopolitik, die Einschnitte in einem biologischen Kontinuum vornimmt und damit eine Form des ›Staatsrassismus‹ etabliert, tritt nun eine ›Molekular-Politik‹, die über Disziplinierung, Diskriminierung und Aussonderung (eugenischer Maßnahmen) hinaus humangenetische Formen des Designs installiert. Mit dem Paradigma der Optimierung des Lebens gibt es keine vorgegebene Ordnung des Lebendigen mehr, die Frage nach dem individuellen und kollektiven gesunden Körper ist in 217 | Ebd., S. 36. 218 | Vgl. T. Lemke: Die Regierung der Risiken, S. 251. 219 | Ebd., S. 253. 220 | Ebd., S. 258.

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eine Dynamik der Verbesserung und Steigerung eingebettet. »Der Biopolitik geht es heute nicht mehr darum, die Qualität der Bevölkerung zu verbessern, sondern im Sinne der ›liberalen Eugenik‹ (Habermas 2005) darum, vom Markt vorgegebene Möglichkeiten zur individuellen Verbesserung zu ergreifen«.221 Dabei geht es um die »gezielte Konfiguration ›gesunder‹ und ›lebenswerter‹ menschlicher Existenz«,222 um eine genprogrammatische präventive Maßnahme der Optimierung des Lebens, die alles Leben auf die Begriffe und Denkweise der Informatik und Biologie zurückführt und damit soziale Verhältnisse re-naturalisiert. Der »Aufstieg lebenszentrierter Vorstellungen«223 verweist gesellschaftlich auf ein Zurück zu einer Natur, die artifiziell  – keineswegs nach den Gesetzen und nach dem Vor-Bild der Biologie  – modelliert und produziert wird, sondern den genetischen Text als schöpferische Quelle interpretiert, und jede religiöse Transzendenz durch die Immanenz des genetischen Codes, gesellschaftliche Kontrolle durch »programmatische Antizipation, durch unbegrenzte, aber durch den Code gesteuerte Mutation«224 ersetzt und das gewünschte Körpermodell durch Inskription erzeugt, und er verweist auf ein »temporalisiertes Selbst, das seinen Wünschen in der Objekt-Welt nachgeht«, aber vor allem darauf, »dass dieses Selbst den materiellen Objekten und der Natur näher steht als dem Menschenkonzept der Aufklärung«225. Knorr-Cetina kommt zu der Schlussfolgerung: Der Umgang mit technischen Objekten, zu denen nun auch der Körper gehört, tritt an die Stelle einer Sozialität, die sich am internalisierten Anderen als Repräsentant der Gesellschaft und an Interaktionen mit den anderen ausrichtet. Aber erweist sich die ›Rückkehr‹ zur Natur nicht als Rückkehr zu einer durch und durch technisierten Natur? Und sind nicht das Soziale und die Gesellschaft, sind nicht der Körper und seine Techniken immer schon eingebunden in die artifizielle Konstruktion von Gesellschaft und die Trennung des Menschen von (seiner) Natur, die in der zunehmenden Naturbeherrschung selbst nicht nur beherrscht, sondern zunehmend artifiziell wird? Und ist die zunehmende Artifizierung von Natur

221 | M. G. Weiß: Nikolas Rose, S. 311. 222 | T. Lemke: Die Regierung der Risiken, S. 259. 223 | K. Knorr-Cetina: Umrisse einer Soziologie des Postsozialen, S. 35. 224 | T. Lemke: Die Regierung der Risiken, S. 259. 225 | K. Knorr-Cetina: Umrisse einer Soziologie des Postsozialen, S. 35.

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nicht wiederum verbunden mit der zunehmenden Naturalisierung von technisch und sozial hergestellten Prozessen, die geradezu täuschend natürlich wirken? Entwickeln sich die (Kultur-)Techniken des Körpers nicht mit der zunehmenden Artifizierung der Gesellschaft auch zu Techniken, mit denen nicht zuletzt auch der Körper zunächst auf Distanz zu – seiner – Natur geht und sie sich gewissermaßen ›vom Leib schafft‹, um ihr/ ihm dann mit Technik wieder ›auf den Leib zu rücken‹? So wenig wie der Körper bloße Naturressource oder reine Technologie ist, ist das Soziale per se der Ursprung oder Urgrund des Gesellschaftlichen. Gesellschaft als dasjenige, das sich um den Menschen, um den Anderen als Repräsentant der Gesellschaft und die Interaktion mit dem anderen dreht, ist möglicherweise eine falsche Fährte. Allerdings erscheint diese Vorstellung historisch als »hoch besetzte Erfindung der Geschichte«226; Luhmann bezeichnet diese Vorstellung von Gesellschaft, »irgendwo zwischen Mitleid und Polizei angesiedelt«, als »politisch-ideologisches Programm 227«, das den Blick auf die Gesellschaft eher verstellt als erhellt und eine adäquate Gesellschaftsbeschreibung eher verhindert als ermöglicht. Das Soziale bildet wie die Gesellschaft also keineswegs einen unhintergehbaren Horizont unseres Denkens und keine zeitlose Existenzform menschlicher Sozialität. Gesellschaft kann nicht auf ein unabhängiges Fundament ›des Sozialen‹ zurückgeführt werden, den ›Untergrund‹ der Gesellschaft bildet nicht ›der Mensch‹, sondern die Gesellschaft konstituiert sich jeweils aus historischen Wissensformen, diskursiven Konstruktionen und Technologien, die ›den Menschen‹ in einer spezifisch historischen Konfiguration hervorbringen.228 »Entgegen einer Perspektive, die das Soziale zugrunde legt, kann man von der 226 | Rose, Nikolas: »Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens.«, in: Ulrich Bröckling/Susannne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 71-109, hier S. 75. 227 | Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, hier S. 1030. 228 | Vgl. dazu ausführlich Bublitz, Hannelore: »Der ›Schatten der Wahrheit‹: Gesellschaft als dasjenige, von dem man später sagen wird, daß es existiert hat.«, in: Alex Demirovic (Hg.): Komplexität und Emanzipation. Kritische Gesellschaftstheorie und die Herausforderung der Systemtheorie. Münster: Westfälisches Dampfboot 2001, S. 71-100, hier bes. S. 75-79.

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»Geburt der Gesellschaft im technisch-medialen Apriori sprechen«229. Gesellschaft entsteht im »Spiegelspiel« verschiedener historischer Diskursformationen aufeinander; sie bildet sich historisch im Dreieck zwischen Tausch, Technik und Medien als Technologie, die den Menschen als soziales Wesen konstituiert. »Wenn heute der Mensch vom Schlachtfeld zu verschwinden beginnt, […] dann wird nur konsequent zu Ende geführt, was der Diskurs zwischen Technik, Krieg und Tausch zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Apriori sozialer Praxis der Moderne konstituiert: Das produktive […] Soziale ist von Beginn an auch als Waffentechnologie gemeint, das heißt als eine Vermengung von Körpern und Technik. […]. Bedarf es daher, um sich selbst zu verschlingen, überhaupt noch des Krieges? Genügt nicht vielleicht schon, daß er ein ›gesellschaftliches Wesen‹ ist?« 230

Die Frage, die sich hier stellt, ist, worin diese ›Verschlingung‹ des Menschen begründet ist. Die Vorstellung, dass der Mensch und sein Körper eine Technologie sind, beherrscht das Denken der Moderne. Die Moderne ist von Anfang an mit technischem Fortschritt und technischer Vermittlung verbunden. Sie knüpft »das Heilsversprechen der Menschwerdung eng an technische Rationalität«231. Die Konstitution des Menschen und seines Körpers, und so auch die des Menschenkonzepts der Aufklärung, ist eingebunden in ein technisch-mediales, diskursives Apriori, das dem Menschen zur gleichen Zeit, als es ihn im humanistischen Programm als souveränes Subjekt entwirft, einen »Platzverweis« erteilt.232 Denn: Die moderne Gesellschaft konstituiert sich als Resultat artifizieller, technischer Konstruktionsprozesse, die kontingente Möglichkeiten eröffnen und Dinge veränderbar machen. Im Menschenkonzept der Aufklärung ist keineswegs ›der Mensch‹ als Angehöriger aller sozialen Klassen gemeint, sondern es handelt sich bei dem Entwurf eines aufgeklärten, willentlich handelnden souveränen Subjekts, das sich unabhängig von anderen, frei und autonom wähnt, um einen Entwurf, der an Subjektivierungsformen des Bildungs- und Besitzbürgertums ausgerichtet ist, das 229 | Spreen, Dierk: Tausch, Technik, Krieg. Die Geburt der Gesellschaft im technisch-medialen Aprirori. Hamburg: Argument 1998, hier S. 13. 230 | Ebd., S. 175; vgl. H. Bublitz: Der ›Schatten der Wahrheit‹, S. 78-79. 231 | D. Spreen: Tausch, Technik, Krieg, S. 181. 232 | Vgl. dazu ebd., S. 176-185.

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sich seiner Identität versichert, indem es sich vom Anderen, ihm Fremden abgrenzt. Und dazu gehören nicht nur andere Klassen und ›Rassen‹, sondern auch die Massen der Industriegesellschaft und Massenkultur, die sich nicht einfügen in die Ordnung eines durch und durch, bis in seine innersten Regungen kontrollierten bürgerlichen Subjekts. Aber diese Abgrenzungs- und Verdrängungsleistungen eines seine Triebkräfte kontrollierenden Subjekts hat ja spätestens die Psychoanalyse Freuds in der Blütezeit der bürgerlichen Gesellschaft als Täuschung dekonstruiert. Nicht nur die Massenpsychologie, die die Masse als triebgesteuerten Gegenpol zum bürgerlichen Subjekt deklassiert, dessen Konturen sich in ihr aufzulösen scheinen, hat auf die unbewussten Triebdynamiken hingewiesen.233 Paradoxerweise gehört auch die Technik, die, neben der Ökonomie, konstitutiv ist für die bürgerliche (Industrie-)Gesellschaft, zu den Gegenpolen eines kontrollierten Subjekts  – und das, obwohl Freud annahm, die psychischen Prozesse dieses Subjekts funktionierten selbst wie ein ›Apparat‹. Das Rätselhafte des Unbewussten, dessen Prozesse unbegreiflich erschienen, funktioniert, so nahm Freud an, unter Berufung auf Projektionsmodelle der Psychophysik, selbst als innerpsychisch abgebildete optische Apparatur. Seine Funktionsweise ähnelt der von Techniken, die, wie ein programmierter Automat, vom Wiederholungszwang gesteuert sind, ohne sich auf den Eingriff vernunftgesteuerten Handelns und dessen Veränderungspotential verlassen zu können. (Triebhafte) Natur und Techniken bilden also längst Teil des ›aufgeklärten‹ Subjekts und der Gesellschaft – und nicht zuletzt Adorno und Horkheimer haben in ihrer ›Dialektik der Aufklärung‹ auf das Janusgesicht der Vernunft hingewiesen.234 Es ist der technisch rekonstruierte und konstruierbare, bis in ein Innerstes vergesellschaftete, von Technik, Techniken und Technologien durchdrungene Mensch, dessen ›Natur‹ nicht mehr ohne eine Gesellschaft zu denken ist, für die ›Natur‹ zur »Innenaustattung der zivilisatorischen Welt«235 gehört. Und warum sollten diese technischen Prozesse vor dem Körper haltmachen? Er ist ein zentrales ›Organ‹ der Gesellschaft und ihrer Artifi233 | Vgl. H. Bublitz: These 4: Automatismen formieren Subjekte. 234 | Vgl. dazu H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert, S. 10-24. 235 | Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, hier S. 107; vgl. auch H. Bubitz: In der Zerstreuung organisiert, S. 14.

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zierung. Es sind doch gerade  – quasi-automatisierte  – Techniken des Körpers, die das Subjekt austauschbar, zuverlässig durch ›das Soziale‹ steuern und die Komplexität der Gesellschaft in sozialen Situationen so reduzieren, dass diese handhabbar werden.

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Hans Paul Bahrdt geht davon aus: »Die Gesellschaftsgeschichte steht, soweit wir zurückblicken können, im Zeichen einer zunehmenden Artifizierung von Natur und Gesellschaft« 1, die in Zusammenhang mit technisch-sozialstrukturellen Entwicklungen und im Kontext der Herstellung von Produktionsmitteln, Werkzeugen, Material und artifiziellen Objektwelten stehen. »Menschen […] schaffen sich […] die Natur zunehmend vom Leibe«.2 Bahrdt macht deutlich, dass der Prozess des Werkzeuggebrauchs und der Naturbeherrschung mit einer Trennung von der Natur und ihrer Ausgrenzung aus modernen Lebenswelten verbunden ist, die im Städtebau ihren Höhepunkt findet und damit verbunden ist, dass Menschen die Konditionen ihrer Existenz selbst herstellen. In diesem Prozess »der Artifizierung der Natur vollzieht sich die Artifizierung der Gesellschaft. […] Wie die Artifizierung der Natur nur gelingen kann, wenn auch die sozialen Strukturen artifiziert werden, so ist die Artifizierung der sozialen Strukturen jeweils auf die fortschreitende technische Artifizierung bezogen«.3 Dieser Typus der »artifiziellen Gesellschaft« bestimmt, so Bahrdt, »die Anatomie der Gesellschaft, in der wir leben« 4 . Der Körper ist Element technischer Anordnungen und Vermittlungen des Sozialen und der Gesellschaft. Die Moderne ist geprägt von einer für sie spezifischen »Präsenz artifizieller Wirklichkeiten«5, die, 1 | Bahrdt, Hans Paul: Der Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft: Zur Anthropologie der Technik. Tübingen: Mohr 1995, hier S. 131. 2 | Ebd., S. 132. 3 | Ebd., S. 134. 4 | Ebd., S. 138. 5 | Vgl. Makropoulos, Michael: Theorie der Massenkultur. München: Fink 2008, hier S. 8.

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aus technischen Konstruktionsprozessen hervorgegangen, zur Selbstverständlichkeit moderner Gesellschaften geworden ist. Das Artifizielle des Sozialen zeigt sich nicht nur in den kulturellen Artefakten und sozialen Strukturen, sondern auch in den Bewegungen und Haltungen des Körpers, in seinen Gewohnheiten, Habitualisierungen und seinem quasi automatisierten Einsatz in sozialen Situationen. Er ist eingebettet in Abläufe, die sich der bewussten Kontrolle entziehen und quasi ›hinter dem Rücken‹ der Subjekte und der Gesellschaft. Durchdrungen von Technologien und eingefügt in technologische Anordnungen bildet der menschliche Körper nicht nur ein zentrales, gänzlich kulturelles und gesellschaftliches Medium, sondern zudem ein technisches Medium, das gewohnheitsmäßig soziale Abläufe quasi-automatisiert unterhalb der Schwelle des Bewusstseins ausführt. Die »Archäologie der körperlichen Gewohnheiten«6 zeigt, dass der Mensch nicht Produkt seines Körpers und dessen physischer Natur ist, sondern »daß es der Mensch immer und überall vermocht hat, seinen Körper zum Produkt seiner Techniken und seiner Vorstellungen zu machen« 7. Das Künstliche der Gesellschaft und der Kultur bezieht sich, so zeigen die folgenden Ausführungen, zunächst auf die elementaren Körpertechniken. Die folgenden Überlegungen drehen sich nicht um den Körper als Instrument der Macht, seiner Einsperrung, Disziplinierung, seiner gewaltförmigen Zurichtung, sondern sie wenden sich zunächst den Körpertechniken und den sozialen Automatismen des Körpers zu. Aus seiner Analyse zahlreicher kultureller Beispiele der Gangart, des Marschierens und Schwimmens folgert Mauss: »Der Körper ist das erste und natürlichste Instrument des Menschen« 8 und er nimmt an, dass die Körpertechniken in ihrer Gesamtheit unentbehrlich für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft sind, denn sie regeln bis ins Detail die sozial anerkannte Abfolge der Bewegungen, die Haltungen und Gesten und sind zuständig für den Platz, den das Individuum in der Gesellschaft einnimmt. Hier sind Techniken am Werk, die, kulturell bedingt und sozial praktiziert, den Eindruck erwecken, natürlich zu sein und von selbst zu 6 | Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1975, hier S. 11. 7 | Ebd., S. 10. 8 | M. Mauss: »Die Techniken des Körpers.«, in: Marcel, Mauss: Soziologie und Anthropologie, Bd 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 197-220, hier S. 206.

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funktionieren, zumal sie sich des Körpers bedienen, sich in den Körper einschreiben und am Körper ablesbar machen, wo einer herkommt oder hingehört. »Als Technik ist die Kultur eine Ansteckung, die die ganze Natur und den ganzen Körper erfaßt«.9 Diese Bemerkung, die sich auf Freud und dessen ›technologische‹ Konstruktion des psychischen Apparats bezieht, verweist auf unbewusste Kulturtechniken einer Psychoanalyse, die den Versuch unternimmt, die Komplikationen psychischer Leistungen mit Rekurs auf technische Apparate zu erhellen und verständlich zu machen, aber »von der äußeren Natur und ihrer technischen Beherrschung definitionsgemäß ja immer nur im Rekurs auf die innere Natur des Menschenkörpers handeln kann«10. Auch wenn Freud einen Apparat konstruiert, »der keinem anatomischen Nachweis zugänglich ist, sondern nur als Gleichnis oder Bild im doppelten Wortsinn existiert«11, so deutet sich hier an, dass nicht die Technik und medientechnische Apparate eine Projektion körperlicher Organe darstellen, Maschinen also nicht als Projektionen eines Körpers zu denken sind, sondern umgekehrt, der Körper als In(tro)jektion eines Apparativen, einer Maschine gedacht werden kann. Und Kultur sich, neben den Menschen, auch auf Kulturtechnologien, Apparate, Medien und Maschinen bezieht. Damit fällt der Blick auf Kulturtechniken, die nicht biologisch oder genetisch bedingt, sondern kulturell übermittelt und erworben sind. In gewisser Hinsicht ist der Begriff der Kulturtechnik daher redundant, denn alle Techniken sind Kulturtechniken. Sie sind »ein Produkt von Erziehung und Erfindung. Dies geschieht durch Symbolvermittlung, durch Lernen, begriffene und unbegriffene Praxis. Techniken sind kulturell erworbene Techniken, und werden durch Kulturtechniken vermittelt. […] Knapp gefasst: Techniken, ›technai‹, sind durch Anweisungen, Nachahmung und Training lernbare und lehrbare nützliche Praktiken jeder Art, bei denen man weiß, was man tut, und tut, was man weiß, ohne sie außerhalb ihrer Nützlichkeit beweisen zu müssen oder zu können, seien sie materielle, verbale, mediale oder rituelle Techniken«.12 9 | F. Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, S. 212. 10 | Ebd., S. 212. 11 | Ebd., S. 210. 12 | Schüttpelz, Erhard: »Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken.«, in: Lorenz Engell/Bernhard, Steigert/Joseph Vogl (Hg.): Kulturgeschichte

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Der Begriff der Kulturtechniken schließt die »Techniken des Körpers« ein, die Marcel Mauss als »die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen«13 definiert. Er schließt also, neben dem Bild-, Schrift- und Zahlgebrauch diejenigen Techniken ein, mit denen Kulturen und Gesellschaften Gebrauch vom Körper machen. Demnach hat jede Gesellschaft ihre eigenen Gewohnheiten, die sich körperlich zeigen. »Die Stellung der Arme, der Hände während des Gehens, stellen eine soziale Eigenheit dar, und sind nicht einfach Produkt irgendwelcher rein individueller, fast ausschließlich psychisch bedingter Handlungen und Mechanismen«; vielmehr nimmt Mauss an, dass es eine »Erziehung zum Gehen« gibt. Dasselbe gilt für die »Stellung der Hand beim Essen« und, »was schließlich das Laufen betrifft«, so beobachtet Mauss und macht dies in seiner »Anekdote über das Marschieren« deutlich, dass es eine kulturspezifische Gangart und erst recht eine Art zu marschieren gibt.14 Und auch wenn diese Körpertechniken bewusst erlernt oder antrainiert wurden, so sind sie in ihrer Ausübung vor Reflexion gewissermaßen geschützt und lassen sich nicht auf ein autonomes, willentlich und planvoll handelndes (Schöpfer-)Subjekt zurückführen. Es handelt sich um Techniken, die, als ›gedankenlos‹ gehandhabte Abläufe, die zuverlässige Ausführung sozialer Handlungen garantieren. Als weitgehend unbewusst verrichtete Tätigkeiten rücken sie in die Nähe zum reflexhaften Handeln, quasi von Natur aus Vorhandenen, Natürlichen sowie zum reflexartig Antrainierten, zum anderen erscheinen Körpertechniken als Maschinenhaft-Technisches, das den Körper wie einen Automaten steuert. Gemeint sind Abläufe, die wie ›skills‹, also quasi natürlich wie eine in Gang gesetzte Maschine funktionieren. Komplexe Situationen werden auf diese Weise gewissermaßen ökonomisch so gehandhabt, dass Komplexität reduziert wird. Körpertechniken haben demnach, wie andere Kulturtechniken auch, eine Entlastungsfunktion. Der Anthropologe Gehlen geht davon aus, dass ›der Mensch‹, »sinnesarm, waffenlos, nackt, in seinem gesamten Habitus embryonisch, in als Mediengeschichte (oder vice versa?), Heft 6, Weimar 2006, S. 87-110, hier S. 90; vgl. auch: Schüttpelz, Erhard: »Körpertechniken.«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. 1/2010, S. 101-120. 13 | M. Mauss: Die Techniken des Körpers, S. 199. 14 | Ebd., S. 201.

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seinen Instinkten verunsichert«15, existentiell auf Technik(en) angewiesen ist. Er erklärt die Notwendigkeit der Technik aus Organmängeln des Menschen, schreibt den Techniken also eine Ergänzungsfunktion zu, spricht aber auch von ›Verstärkertechniken‹, die die Organleistungen des Menschen überbieten. Abgesehen von der zwar einleuchtenden, aber dennoch nicht unproblematischen anthropologischen Annahme, Technik sei eine Form des Organersatzes bzw. der Organverlängerung, die sich u.a. auch in der Technikphilosophie Ernst Kapps und in medientheoretischen psychophysischen Begründungen von medientechnischen Apparaten als Projektionen menschlicher Organe findet16, erscheint der Aspekt der mit der Technik gegebenen zunehmenden Entlastung interessant. Allerdings weniger in Bezug auf das ›Wesen‹ der Technik, deren Entwicklung Gehlen in einer Stufenentwicklung vom Werkzeug zum Automaten anordnet; vielmehr insofern, als auf der Stufe des Automaten nicht nur die physische Kraft technisch objektiviert, sondern auch der geistige Aufwand des Subjekts durch technische Mittel entbehrlich gemacht wird. Gehlen geht hier nämlich von einer »Schematisierung des Verhaltens« aus, die im sozialen Kontext von Bedeutung ist. In einem mit ›Automatismen‹ überschriebenen Kapitel rekurriert Gehlen auf »schematische Verhaltensfiguren«: »Als Sozialperson handeln wir sehr oft ›schematisch‹, d.h. in habituell gewordenen, eingeschliffenen Verhaltensfiguren, die ›von selbst‹ ablaufen. Dies aber versteht sich nicht nur von dem im engeren Sinne praktischen, äußeren Handeln, sondern vor allem auch von dessen inneren Bestandstücken: Gedanken- und Urteilsgängen, Wertgefühlen und Entscheidungsakten; auch sie sind meist weitgehend automatisiert. Man kann sie daher nie zureichend von dem Individuellen einer Person aus verstehen, sondern im Gegenteil, nur von deren Rolle im sozialen Zusammenhang her, also gerade sofern ihr ›Träger‹ austauschbar ist«.17

15 | Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme der industriellen Gesellschaft. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1957, hier S. 8. 16 | Vgl. dazu u.a. Kapp, Ernst: Grundlagen einer Philosophie der Technik. Braunschweig: G. Westermann 1877; vgl. auch F. Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, S. 208-214. 17 | Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter, S. 104.

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Gehlen spricht von der »Entlastungsleistung eines solchen sozialen Automatismus«, bei dem nicht nur die Verrichtungen weitgehend automatisiert erfolgen, sondern auch »die zur Arbeit notwendigen Bewusstseinsfunktionen habitualisiert [sind], einschließlich der Aufmerksamkeit, die unter diesen Bedingungen selbst habituell wird«18. Gehlen betont, dass sich auf dieser Basis spezialisierter Gewohnheiten »gesetzmäßig eine immer höhere Reizschwelle, ein sich verfeinernder optischer und taktiler Sinn für Qualitätsunterschiede, ein Plus an motorischen Feinreaktionen und eine differenzierte Skala verfügbarer Denkschemata, kurz, ein hohes gezüchtetes Können« entwickelt, das er mit Thorstein Veblen »eine ›immaterielle Ausrüstung‹ – immaterial equipment – « nennt, das »›notwendig ein Produkt der Gesellschaft ist, der immaterielle Rückstand der vergangenen und gegenwärtigen Erfahrung der Gesellschaft, der keine Existenz abgesondert vom Leben der Gesellschaft hat‹«19. Techniken des Körpers funktionieren demnach als schematisch eingeschliffene Abläufe und Körperschemata eines »im Schnittpunkt verschiedener sozialer Koordinaten funktionierenden Menschen«20, dessen habitualisierte Schemata wie eine Maschine immer und überall quasi ›wie von selbst‹ ablaufen und optimal angepasst sind an verschiedene Situationen. Damit bewegen sich Körpertechniken, wie schon angedeutet, in der Nähe des Automaten- und Maschinenhaften. Sie entziehen sich dem Bewusstsein, haben die Tendenz, wie Gehlen annimmt, »ins ›Unbewußte abzusinken‹« und das heißt für Gehlen »zuverlässig«, aber auch »kritikfest« zu werden, »um so mehr natürlich, wenn sie sozial gestützt sind und innerhalb eines Verhaltens liegen, an das die Gesellschaft selbst ihre Bedürfnisse anknüpft«21. Hier wird deutlich, dass Körpertechniken sich nicht nur dem bewussten Handeln entziehen, sondern vor allem auch ihre Genese, ihre soziale Herkunft unsichtbar machen  – und sich damit gegen Kritik, gegen die Möglichkeit, dass alles auch anders möglich wäre, immunisieren. »Ein derart versachlichtes und an der Sache automatisiertes Denken ist kritikfest und einwandsimmun. Diese Kritikfestigkeit ist eine generelle Eigenschaft aller 18 | Ebd., S. 105. 19 | Ebd., S. 105. 20 | Ebd., S. 105. 21 | Ebd., S. 105.

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Habitualisierungen, und sie erscheint auf der untersten Stufe, im Bereiche der motorischen Gewohnheiten, als der starke Widerstand, den diese ihrer Auflösung und Neukombination entgegenstellen. Diese Invarianz auch der geistigen und Gefühlsgewohnheiten ist übrigens wieder die Bedingung aller zuverlässigen Tradition und Weitergabe, und daher von äußerster Bedeutung als Sozialzement«. 22

Gehlen beschreibt das Können des Körpers als gesellschaftliches und kulturelles Züchtungsprodukt, das sozialintegrative Funktionen erfüllt, indem es die Gesellschaft zusammenhält. Deutlich wird, dass diese Techniken gesellschaftlichen Institutionen in die Hand spielen und sie wie auch die austauschbaren Individuen gegen Kritik immunisieren. Körperliche, automatisierte Gewohnheiten und schematisierte Verhaltensmuster sind also künstliche, kulturell entwickelte Fertigkeiten, die wie Technik(en) zuverlässig funktionieren, indem sie den Körper, das soziale Subjekt und die Gesellschaft vor Reflexion schützen. Es ist ihre technische Seite, der Automatismus und Schematismus, der sie zu einem unentbehrlichen, im Idealfall reibungslosen Medium sozialer Abläufe macht. Damit aber bildet der Habitus auch ein automatisiertes, nicht bewusst kontrolliertes Instrument sozialer Macht(verhältnisse). Auch Marcel Mauss verwendet für die sozialen Körpertechniken den Begriff des Habitus: »Ich hatte […] während vieler Jahre diese vage Vorstellung von der sozialen Natur des ›habitus‹ […]. Dieses Wort ist weitaus besser als ›Gewohnheit‹, […]. Es bezeichnet nicht jene metaphysischen Gewohnheiten, jene mysteriöse ›Erinnerung‹ […]. Diese ›Gewohnheiten‹ variieren nicht nur mit den Individuen und ihren Nachahmungen, sie variieren vor allem mit den Gesellschaften, den Erziehungsweisen, den Schicklichkeiten und den Moden, dem Prestige. Man hat darin Techniken und das Werk der individuellen und kollektiven praktischen Vernunft zu sehen, da, wo man gemeinhin nur die Seele und ihre Fähigkeiten der Wiederholung sieht«. 23

Es ist demnach, so Kittler im Rekurs auf Mauss, »kein unbewußter Wunsch zurück in den Mutterleib, der sich in Brustschwimmen oder Kraulen, Tauchanzügen oder U-Booten über die äußere Natur stülpen oder projizieren würde. Es ist auch kein Einzelner, der in seiner mystischen 22 | Ebd., S. 105. 23 | M. Mauss: Die Techniken des Körpers, S. 202.

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Identität mit dem Gesamtsubjekt Körpertechniken oder technische Apparate seinen eigenen Organen erst mühsam ablauschen müßte. […] Die Entdeckung, daß es Körpertechniken gibt, widerruft Freuds Entdeckung des Unbewußten. Dank der Gesellschaft gibt es eine Intervention des Bewußtseins. Nicht dank des Unterbewußtseins gibt es eine Intervention der Gesellschaft, sondern Dank der Gesellschaft gibt es die Sicherheit einsatzbereiter Bewegungen, die Herrschaft des Bewußten über die Emotion und das Unbewußtsein. Es geschieht aus Vernunftgründen, daß die französische Marine ihre Matrosen verpflichtet, schwimmen zu lernen«.24 Mauss legt Wert darauf, festzustellen, dass die biologische und psychologische Betrachtung dieser Körpertechniken unzureichend sei, und dass das soziologische Element in der Nachahmung derjenigen Personen liege, die Autorität und/oder Prestige verkörpern. »Genau in diesem Begriff des Prestiges der Person, die im Hinblick auf das nachahmende Individuum befiehlt, herrscht, bestimmt, befindet sich das ganze soziale Element«.25 Und da alle drei, die biologischen, psychischen und soziologischen Elemente seiner Auffassung nach »unlösbar miteinander verbunden sind«, kommt Mauss zu der Einsicht: »Vielleicht gibt es beim Erwachsenen gar keine ›natürliche Art‹ zu gehen«.26 Dennoch erscheinen die Körpertechniken als natürliche Techniken. Das Erlernte erscheint täuschend natürlich. Der soziale Effekt besteht darin, dass sie als quasi-natürliche Geschicklichkeiten, als unauffällige ›skills‹ erscheinen, in Wirklichkeit aber Ergebnis und Wirkung performativer Wiederholungen, eingeübter, trainierter Verhaltensweisen sind, die sich an Normen ausrichten. Körpertechniken sind also selbst nicht nur Techniken, die die ganze Natur und den ganzen Körper erfassen, sondern sie konstituieren erst den Körper als natürlichen, sie naturalisieren ihn in seiner Wirkung, obwohl seine Techniken Ergebnis einer sozialen und semiotischen Matrix sind, die dem Körper vorausgeht. Der Körper bildet im Sinne von Mauss sozusagen das ›natürlichste‹ Instrument, mit dem die soziale Matrix immer wieder vollzogen und stabilisiert wird. Insofern haben Körpertechniken, neben ihrer komplexitätsreduzierenden Funktion, die Aufgabe, das kulturelle Archiv aufzurufen und zu verkörpern, ohne dass dies als spezifisch historischer und sozialer Akt ins Bewußtsein der Handelnden tritt; 24 | F. Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, S. 216. 25 | M. Mauss: Die Techniken des Körpers, S. 203. 26 | Ebd., S. 204.

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die Techniken des Körpers erscheinen vielmehr als natürliche Ressource des Körpers. Butler spricht nicht vom Habitus, sondern von Konventionen und deren zitatförmiger Aktualisierung und Materialisierung im Körper, wenn sie davon ausgeht, es handele sich um performative Akte der Verkörperung, die sich im Körper als somatischem Komplex materialisieren und als Habitus verfestigen. Die körperliche Aus- und Aufführung, Performanz und Performativität sozialer Normen bezieht sich demnach nicht auf singuläre Ereignisse, sondern auf die performative Darstellung und Inszenierung von Normen und Konventionen. Performativität erscheint, von Butler sprachtheoretisch begründet, als dasjenige Mittel, das durch wiederholtes Zitieren von Normen und Konventionen, die Wirkung einer »wiederholbaren Materialität« erzeugt. Sie ist das Mittel, ›Dinge‹ wie den Körper hervorzubringen. Sie ist kein vereinzelter oder absichtsvoller Akt, sondern eine sich »ständig wiederholende und zitierende Praxis«27, die den Bezug auf die kulturelle Matrix, die sie zitiert, allerdings verschleiert. Auf diese Weise verbirgt sie die Konvention, deren Wiederholung sie ist. Dadurch entsteht der Effekt der Naturalisierung, d.h. der Akt der performativen Wiederholung von Konventionen erscheint insofern als natürlich, als er die Beziehung zu gesellschaftlichen Normen und zur Historizität der Konventionen, die sie zitiert und aufführt, verdeckt, in Wirklichkeit aber aus diesen abgeleitet ist. Körper bilden aus dieser Perspektive also keine vom historischen Kontext ihrer Materialisierung und ihrer ›körpertechnischen‹ Bewegungen unabhängige Materialität, sondern sie bilden historisch veränderbare, aus sozialen Operationen abgeleitete Materialitäten. Dabei geht die Matrix, wie die Norm und die Konvention, dem Schema körperlicher Materie voraus. Der Körper ist ein Ort der Niederlegung von kulturellen Konventionen und des kulturellen Gedächtnisses, das sich qua Körpertechniken und -praktiken als Kulturtechniken in den Körper/in das Gedächtnis einschreibt und in der körperlichen Bewegung, im performativen körperlichen Akt Muster und Schemata aktualisiert und in actu potentiell immer auch verschiebt. Auf diese Weise tradiert er sprachliche und außersprachliche Konventionen, kulturelle

27 | J. Butler: Körper von Gewicht., S. 22.

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Konstruktionsapparate und -muster. Zugleich aber ist er in der Wiederaufführung eines Musters auch Medium einer aktiven Körperpraxis.28 Was aber sowohl bei Marcel Mauss als auch bei Judith Butler zu kurz kommt, ist, dass die Körpertechniken in dem Maße in ›stumme Praktiken‹ und ihren quasi-automatisierten Vollzug münden, in dem die Komplexität der Gesellschaft steigt. Darin liegt Gehlen richtig, auch wenn er, anthropologisch immer von ›dem Menschen‹ spricht. Automatismen verdanken sich einer Dynamik, die sich darin realisiert, dass »es immer mehr Gesellschaft gibt«, dass also die »Vergesellschaftung des Individuums tendenziell anwächst«29. Der »Einschluss des Subjekts in den Bann der Gesellschaft«30 erfolgt in der modernen Gesellschaft nicht primär durch Unterwerfung des Individuums unter äußeren Zwang, sondern indem ihre Anforderungen, das Mittel der direkten Repression hinter sich lassend, sich dem Bewusstsein des Subjekts weitgehend entziehen und ihm unverfügbar sind. Im Unbewussten eingekapselt, bilden die Körpertechniken stumme Praktiken, deren Entlastungsleistung gerade darin liegt, dass sie, wie die Technik, den geistigen Aufwand des Subjekts entbehrlich macht, wie Gehlen dies für den technischen Automaten annimmt; auch hier findet, wie in den technischen Apparaten, ein Vergessen in die Struktur hinein statt, aber hier geht es um die Struktur des Körpers und seine Automatismen.

28 | Vgl. u.a. Alkemeyer, Thomas: »Bewegung und Gesellschaft«; ders.: »Zwischen Routine und Kreativität. Der Körper als Subjekt der Praxis.«, in: Käthe von Bose/ Hannelore Bublitz/Matthias Fuchs/Jutta Weber (Hg.): Körper, Materialitäten, Technologien. Paderborn 2018. Im Erscheinen. 29 | Adorno, Theodor W.: »Gesellschaft.«, in: Theodor W. Adorno/Walter Dirks (Hg.): Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. Frankfurter Beiträge zur Soziologie, 3. Auflage. Frankfurt a.M. 1967, S. 22-39, hier S. 32. 30 | Nietzsche, Friedrich: »Genealogie der Moral.«, in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben. von G. Colli/M. Montinari. München 1999, hier S. 322; vgl. auch H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert, S. 101.

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5.1  V erkörperung (en) des S ozialen (Z wangs) Der französische Soziologe Pierre Bourdieu führt weiter, was Marcel Mauss bereits als ›habitus‹ beschrieben hatte31: Bourdieu geht davon aus, dass sich im Habitus die soziale Welt in die ›stumme‹ ›Ordnung der Dinge‹ und die ›Ordnung der Köpfe‹, also die Ordnung der physischen und der symbolischen Unterschiede verdoppelt. Soziale Ordnungs- und soziale Strukturmuster setzen sich demnach durch wiederholte, institutionell verankerte Ein- und Ausschließungs- sowie Klassifikations- und Bewertungssysteme in den Köpfen und – über Konditionierungsprozesse – in den Körpern der Menschen fest. Auf diese Weise wird aus strukturellen Grenzen der subjektive Sinn für Grenzen – der seinerseits die objektiven Strukturen stabilisiert, möglicherweise aber auch verschiebt. Aus der Fähigkeit der körperpraktischen Vorwegnahme objektiv-subjektiver Grenzen resultiert, nach Bourdieu wie bei Mauss, der Sinn für den eigenen Platz in der Gesellschaft, der diesen wie ein Platzanweiser unausweichlich anzeigt, ihn aber nicht als objektiven (Struktur-)Zwang erscheinen lässt, sondern als gesicherte, stabile Disposition, die denen Halt und Sicherheit gibt, die sich nach ihr richten. Das richtige Empfinden für den eigenen Platz – the sense of one’s place – wird, folgt man der Bourdieu’schen Theorie, praktisch auf Dauer ankonditioniert – und unbewusst verkörpert und zwar so, dass die Körperhaltung, Mimik und Gestik den sozialen Ort und soziale Zugehörigkeit anzeigen. Entscheidend für die (Selbst-)Verortung in der Gesellschaft und entsprechenden sozialen Feldern ist ein praktisches Wissen, das im Körper, in seinen Bewegungen und Haltungen gespeichert ist. Durch diese, in der körperlichen Disposition verinnerlichten und ausgedrückten Haltung zur Welt, den Habitus, gelingt es sozialen Individuen, das Bild, dem sie zu gleichen haben, als eigenes, als Selbstbild zu akzeptieren. Zugleich verändert sich unter der Hand der Adaptationsvorgang in eine aktive Disposition, die jederzeit nicht nur ›automatisiert‹ abgerufen werden, sondern spielerisch-kreativ ausgeübt werden kann. Der praktische Sinn – der Einordnung und Selbstverortung sowie der Klassifikation der Dinge und Personen – erfordert weder die bewusste Anwendung begrifflich-kategorialer Grundlagen noch eine irgendwie geartete intellektuelle Fähigkeit. Bourdieu spricht vielmehr vom »begriffslosen 31 | Vgl. M. Mauss: Die Techniken des Körpers, S. 199-206.

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Erkennen«32, dem der Körper als Gedächtnisstütze dient. Der Sinn für soziale Distinktion bildet sich gewissermaßen in motorischen Schemata aus, verkörpert sich in elementaren Akten der Körperlichkeit – Bewegung, Haltung und Sorge für den eigenen Körper –, die wie grundlegende Formen des Weltbezugs funktionieren. Bourdieu betont, dass der Habitus »als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen« wirkt, die »kollektiv abgestimmt sein können, ohne das Werk der planenden Tätigkeit eines ›Dirigenten‹ zu sein«, und »die objektiv wie Strategien organisiert sind, ohne in irgendeiner Weise das Resultat einer wirklichen strategischen Absicht darzustellen«33. Eingebunden in einen Regelkreis von Struktur und Praktiken ist der Habitus dasjenige ›Programm‹, das zwar virtuell in der »generativen Grammatik der Handlungsmuster«34 eingeschlossen, aber keineswegs als vorsätzliches Programm beschlossene Sache ist und gänzlich vorhersehbar wäre. Bourdieu schlägt vor, den Habitus »als ein System verinnerlichter Muster« zu definieren, die »es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese«35. Seine Überlegungen zum Habitus legen nahe, dass der Habitus, auf Ausdrucksformen einer sozialen Klasse oder Denkschemata einer ganzen Kultur(epoche) bezogen, ein je spezifisches »Zusammenspiel bereits im Voraus assimilierter Grundmuster ist«, die »eine Unzahl einzelner Schemata«36 hervorbringen. Aber er macht darauf aufmerksam, dass diese einzelnen Schemata keineswegs durch die klassenspezifischen oder epochalen Grundmuster determiniert sind. Als System dauerhafter Dispositionen, Strukturen zweiter Ordnung hervorgebracht und rekursiv auf die objektiven Strukturen zurückwirkend, wird der Habitus zum »praktischen Operator«, in den Wahrnehmungsschemata und Weltanschauungen einer Gesellschaft eingelagert sind, was aber nicht bedeutet, dass er

32 | Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der praktischen Urteilskraft. 3. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, hier S. 734. 33 | Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, hier S. 165. 34 | Ebd., S. 165. 35 | Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, hier S. 143. 36 | Ebd.

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in diesen aufgeht. Als körperliche Disposition folgt der Habitus unterhalb der Schwelle des Bewußtseins zwar automatisierten Abläufen, aber keiner mechanistischen Logik. Er folgt vielmehr, darauf legt Bourdieu wert, einer Logik, in die im Sinne eines flexiblen praktischen Wissens »das Potential einer ars inveniendi, einer Erfindungskunst«37 eingeschlossen ist. Dies steht im Widerspruch zu der Annahme, dass der Habitus nur auf Situationen angewendet wird, die denen seiner ›Einübung‹ als Körperund Kulturtechnik entsprechen. Die Frage ist also, ob der Habitus wie ein vorprogrammierter oder selbstgesteuerter Automat funktioniert. Handelt es sich beim Habitus gewissermaßen um eine automatisierte Mechanik der  – unbewussten  – Reproduktion vorgegebener Strukturen, gelernter Denk- und Wahrnehmungsschemata, zurückführbar auf ›programmierte‹ Erziehung? Oder funktioniert er im Sinne eines habituellen Könnens, das sich dem individuellen Subjekt gegenüber verselbständigt hat, aber auf erfinderische Weise Neues hervorbringt? Beides scheint der Fall zu sein: Zum einen bildet der Habitus ein Konglomerat aus reflexartig ankonditionierten, unbewusst funktionierenden Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die auf einem berechenbaren Kalkül beruhen, zum anderen operiert die körperbasierte Haltung zur Welt im Sinne einer statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnung; er bringt halbformalisierte Regeln ins Spiel. Dies ist auch bei der Verwandlung der Dinge in distinktive Symbole der Fall. Dem Bewusstsein entzogen, erscheint die historische Gewordenheit und Klassifikation der Dinge zu distinkten und distinktiven Symbolen als quasi-natürliche. Der Habitus verfestigt soziale Strukturen und verdinglicht sie  – dadurch erscheinen die Dinge als Objekte einer natürlichen Ordnung. Der inkorporierte, körperlich ›eingeschriebene‹ Habitus funktioniert gewissermaßen wie ein Automat, er setzt das Bewusstsein des Subjekts außer Kraft. Und dies kann er, weil er, wie ein Automat, Informationen speichert. Im Anschluss an den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (16461716) nimmt Bourdieu an, dass der Körper als Speicher und Automat fungiert und »wir Menschen in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten [und damit körperbezogene und -gesteuerte Wesen] sind«38. Dies 37 | Krais, Beate: »Habitus.«, in: Sina Farzin/Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Reclam 2008, S. 98100, hier S. 99. 38 | P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 740.

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impliziert, dass der Körper als eine Art Gedächtnisstütze funktioniert und sich im Körper komplexe Dispositionen einlagern, die sich in Gesten, körperlichen Posituren und Wörtern präsentieren und eine Welt vorgefertigter Gefühle und Erfahrungen sichtbar machen.39 Bourdieu geht davon aus, dass der Körper und das Verhalten bar aller Reflexion gesteuert wird, womit der »wilde« durch einen »habituierten«, d.h. zeitlich strukturierten, zivilisierten Körper ersetzt und in eine »Logik des Aufschubs und des Umwegs, folglich des Kalküls« eingesetzt wird. Zugleich wird das derart Einverleibte zur dauerhaften Disposition, es »findet sich jenseits des Bewußtseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unsersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körpern gemachten Werte«.40 Diese »Vergesellschaftung der Physiologie« erfolgt, indem »physiologische Ereignisse in symbolische verwandelt werden«41, wobei sich, so Bourdieu, intraorganische Bedürfnisse mit konditionellen Stimulierungen verschränken (z.B. durch Umwandlung von Hunger in Appetit und Geschmack).42 Auf diese Weise sind Körpertechniken nach Bourdieu dazu prädisponiert, mit einzelnen Haltungen, Einzelheiten des Auftretens, der körperlichen und verbalen Darstellungsweisen die fundamentalen Prinzipien der ›kulturellen Willkür‹ zu erinnern und abzurufen. Bourdieu ist davon überzeugt, dass der Körper kraft so bedeutungsloser Befehle wie ›halte Dich gerade‹ oder ›halte das Messer in der linken Hand‹ das Wesentliche zu aktualisieren imstande ist, nämlich die »Manifestation der Unterwerfung unter die herrschende Ordnung«43. Sie wird zur körpergewordenen sozialen Ordnung. Die elementaren Akte der Körperbewegung funktionieren daher, davon geht Bourdieu aus, wie grundlegende Metaphern, »die ein umfassendes Verhältnis zur Welt […] zu evozieren vermögen«44. Körperliche Automatismen und motorische Schemata sind demnach nichts anderes als die körperliche Umwandlung 39 | P. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 179f. 40 | Ebd., S. 200. 41 | Ebd., S. 199. 42 | Ebd. 43 | Ebd. 44 | P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 740.

5  Körper-Techniken III: Natürlichkünstlich

gesellschaftlicher Zwänge, Notwendigkeiten und Erfordernisse, die sich als Produkt von mit sozialen Verhältnissen verbundenen Konditionierungsprozessen in »ein dauerhaftes und allgemeines Verhältnis zum eigenen Leib festschreiben – in eine ganz bestimmte Weise, seinen Körper zu halten und zu bewegen, ihn vorzuzeigen, ihm Platz zu schaffen, kurz: ihm soziales Profil zu verleihen«45 und Struktur zu geben. Auf diese Weise entwickelt der Körper eine Art ›genetisches‹ Gedächtnis, in das sich historische Erfahrungen einschreiben. Das Ganze geschieht zwanglos unter Zwang. Man könnte auch von einem gesellschaftlich produzierten, inkorporierten Wiederholungszwang sprechen, der Strukturen immer wieder aufs Neue hervorbringt. Der Habitus ist ein Körperschema zur Begrenzung von Kontingenz und gleichzeitig zur Reduzierung von Komplexität, ein System von Grenzen, das scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten auf das, gemessen an den objektiven Strukturen, Wahrscheinliche reduziert. Die ›Grammatik‹ dieser Dispositionen ist im Körper verankert, ohne dass das Subjekt darum weiß. Der Körper wird zum Relais eines Automatismus, der Prozesse der Klassifikation und Distinktion sowie der Selbstverortung ohne Wissen des Subjekts herstellt. Ėmile Durkheim macht Ende des 19. Jahrhunderts zwei in diesem Zusammenhang interessante Annahmen, nämlich zum einen, dass soziale Tatsachen wie Dinge zu behandeln sind, die »körperhafte Gestalt, wahrnehmbare, ihnen eigene Formen an[nehmen]« und eine ›Realität sui generis‹ bilden, deren Substrat nicht im Individuum oder im individuellen Handeln, sondern in überindividuellen Prozessen liegt. Zum zweiten geht er davon aus, dass soziale Tatsachen »mit einer gebieterischen Macht […], kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen«46 ausgestattet sind. Durkheim bewegt sich ganz auf der Linie der Butler’schen Argumentation, wenn er annimmt, dass die Materialisierung sozialer Normen sich unter Zwang vollzieht, also nicht auf das – intentionale – Handeln des Individuums zurückgeführt werden kann. Wesentlich ist bei Durkheim, dass soziale Phänomene (soziale Bräuche, Gewohnheiten, Normen, Traditionen etc.) sich verfestigen und daher wie Dinge zu behandeln sind, was wiederum darauf verweist, dass sie, einmal sedimentiert, nicht willentlich verändert werden können, sondern eine vom Willen Einzelner 45 | Ebd., S. 739. 46 | Durkheim, Émile: Regeln der soziologischen Methode, 2. Auflage. Neuwied: Luchterhand 1965, hier S. 109.

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unabhängige Existenz haben. Sobald sie den Charakter des Allgemeinen annehmen, haben sie Zwangscharakter. »Denn wenn eine Art des Verhaltens, die außerhalb des Einzelbewusstseins existiert, allgemein wird, kann es nicht anders geschehen als durch Zwang«47, schreibt Durkheim. Hier gerät bereits jene »Tiefenschicht sozialer Macht«48 in den Blick, die augenscheinlich auf die Tatsache verweist, dass soziale Regeln »nur durch die wiederholte Aufzwingung von geradezu körperlichen Verhaltensweisen eingeübt werden können«49. Honneth spricht in diesem Zusammenhang von einer spezifischen »Wendung ins Materialistische«,50 Transformationen der Vorstellungen über soziale Lebensformen, die in den »kognitiven Instrumente[n], der Architektur unserer Räume, der Regelaufzwingung und der Technik unserer Kommunikationsmedien« ebenso materielle Gestalt angenommen haben, wie sie sich im physischen Druck und im Selbstverhältnis niederschlagen. Foucault geht, wie Honneth feststellt, über Durkheim hinaus, wenn er der Subjektwerdung eine »spezifische Wendung ins Materialistische« gibt und »am Vorgang der Einübung in soziale Regeln vor allem das physische Moment der Aufzwingung betont«: »Jede Subjektwerdung des Menschen, also jede Erzeugung von Typen sozialer Individualität, besitzt für ihn ein unverrückbares Stück materiellen Zwanges, weil es stets wenn nicht der handgreiflichen Disziplinierung, so doch der physischen Präsenz verräumlichter Gewalt bedarf, um ein menschliches Wesen in das entsprechende Netzwerk sozialer Regeln einzuüben«. 51

Die Gesellschaft und das Soziale nehmen hier physische Dimensionen an. Diese physische Präsenz und Verkörperung sozialer Regeln verweist auf präreflexive und überindividuelle Strukturen und Prozesse, die sich

47 | Ebd., S. 112. 48 | Honneth, Axel: »Foucault und die Humanwissenschaften.«, in: Axel, Honneth/Martin, Saar (Hg.): Michel Foucault. Bilanz einer Rezeption. Frankfurter Konferenz 2001. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 15-26, hier S. 20. 49 | Ebd., S. 20. 50 | Ebd., S. 24. 51 | Ebd., S. 24.

5  Körper-Techniken III: Natürlichkünstlich

ungewollt verkörpern bzw. Gesellschaft und Körper so verschränken, dass sich die entsprechenden Dispositionen unbewusst herausbilden. Thomas Alkemeyer verweist auf die Körperlichkeit sozialen Handelns, das sich »in letzter Instanz als eine Kette beobachtbarer Bewegungen des Körpers im Raum und im Bezug zum Raum beschreiben«52 lässt. Die Frage ist, ob der Körper als unhintergehbare Grundlage des Sozialen begriffen werden kann, die, diesem vorgängig, Soziales verkörpert, oder ob er erst durch soziale Prozesse entsteht und sich materialisiert. Alkemeyer geht von einem konstitutiven  – nicht korrelativen  – Zusammenhang von sozialen Prozessen und Körper(lichkeit) aus und nimmt an, dass soziale Umwelt und Körper keineswegs zwei gleichberechtigte (Beziehungs- und Dialog-)Partner sind, sondern dass hier Machtbeziehungen, Kulturtechniken und sozial festgelegte Bedeutungsstrukturen am Werk sind, die sich in Körpertechniken ausdrücken. Demnach besteht, so Alkemeyer im Anschluss an Bourdieu, auf der Ebene präreflexiver Körperpraktiken und sozialen Prozessen eine Komplizenschaft im Sinne einer präreflexiven Übereinstimmung körperlicher und sozialer Prozesse. Wenn aber Bewegungen des Körpers in sozialen Praxen eingeschliffen und geformt werden, werden der sozial geformte Körper und seine Techniken selbst, so Alkemeyer, zu »spezifischen Existenzweisen des Sozialen«53. Das Sich-in-der-Gesellschaft-Bewegen führt – über vielfältige Formen des Abguckens, Nachahmens und Wiederholens  – zur Ausbildung – distinkter und distinktiver – sozialer Motoriken und zur Integration geregelter Schemata der sozialen Praxis in Körperschemata.54 Dabei wird ›Verkörperung‹ sowohl als Aneignung gesellschaftlicher, typischer Muster (der Körperbewegung und -haltung) und erwünschter Motoriken wie auch als – eigenständige – Darstellung und Aufführung gesellschaftlicher, körperlicher Semantiken verstanden.55 Körperliche (Bewegungs-) Praxen werden zum Element von Selbsttechnologien, die gesellschaftliche Prozesse und Veränderungen verkörpern. Wie aber übertragen sich soziale Strukturen und Klassifikationen, distinkte und distinktive Muster in körperliche Dispositionen, und wie funktionieren diese strukturierenden Dispositionen des Körpers so, dass sie gewissermaßen als ›stumme 52 | Th. Alkemeyer: Bewegung und Gesellschaft, S. 45. 53 | Ebd., S. 57. 54 | Vgl. ebd., S. 59. 55 | Vgl. Th. Alkemeyer: Zwischen Routinen und Kreativität.

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Praktiken nicht nur unbemerkt bleiben und verdeckt operieren können, sondern zudem natürlich wirken? Körperliche, inkorporierte Dispositionen spielen eine zentrale Rolle im Wissen um Grenzen, das, als habitualisiertes und verkörpertes Wissen, natürlich erscheint und, worauf Gehlen hingewiesen hat, gegen Kritik immun ist.

5.2 S oziale M agie »Alle sozialen Gruppen vertrauen ihr kostbarstes Vermächtnis dem Körper an, der wie ein Gedächtnis behandelt wird; und dass in allen Gesellschaften die Initiationsriten mit dem Leiden arbeiten, das sie dem Körper zufügen, wird verständlich, wenn man weiß, daß […] die Menschen einer Institution umso stärker anhängen, je strenger und schmerzhafter die Initiationsriten waren, die ihnen von dieser Institution auferlegt wurden«. 56

Folgt man Bourdieus (Kultur-)Theorie (des Körpers), dann sedimentieren sich Denkweisen körperlich; sie nehmen, wie soziale Tatsachen, unbewusste und körperhafte Gestalt an. Nach Bourdieu ›übersetzen‹ sich soziale Hierarchien und Positionen in körperliche Dispositionen, die jene buchstäblich verkörpern, sedimentieren, verfestigen – womit sie zur zweiten Natur werden. Der Begriff der körperlichen Hexis und des Habitus spielt eine zentrale Rolle in Bourdieus Theorie; er verweist auf eine (erworbene) Haltung, Habe, Gehabe.57 Der Habitusbegriff steht für die Tiefenstruktur dauerhaft erworbener kollektiver Dispositionen und Schemata, die, wie die Grammatik der Sprache, in der Praxis aktualisiert wird, ohne bewusst erklärt werden zu können oder zu müssen, während der Begriff der Hexis auf äußerlich zu beobachtende Körperhaltungen und 56 | Bourdieu, Pierre: Was heisst sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller 1990, hier S. 89-90. 57 | Marcel Mauss verweist darauf, dass der Habitus »nicht jene metaphysischen Gewohnheiten, jene mysteriöse ›Erinnerung‹«, sondern »Techniken und das Werk der individuellen und kollektiven praktischen Vernunft ist« (M. Mauss: Die Techniken des Körpers, S. 202).

5  Körper-Techniken III: Natürlichkünstlich

-bewegungen verweist. Dabei ist der Habitus sowohl Produkt als auch Produzent von Strukturen und Praktiken. Bourdieus Schlüsselkonzept der Einverleibung bzw. Inkorporierung wird, im Gegensatz zur ›Verinnerlichung‹, als materiell-körperliche Einverleibung kollektiver Schemata und Dispositionen gefasst, die unmittelbar und d.h. unbewusst in die körperliche Motorik eingelagert sind und unbewusst aktualisiert werden. Dahinter steht im Grunde ein strukturalistisches Konzept der körperlichen Materialisierung von Strukturen. Bourdieu beschreibt, wie das funktioniert: »Daß freilich die Schemata über praktische Handlungen verlaufen, ohne im Bewußtsein thematisiert oder erklärt werden zu müssen, heißt nicht, daß sich der Erwerb des Habitus auf ein mechanisches, durch trial and error korrigiertes Lernen beschränkte. Gegenüber einer inkohärenten Folge von Zahlen, die nur schrittweise, durch wiederholte Versuche und gemäß voraussehbarer Progression gelernt werden können, läßt sich eine Serie deshalb viel leichter aneignen, weil sie eine Struktur aufweist, die davon befreit, mechanisch die Gesamtheit der einzeln genommenen Zahlen im Gedächtnis zu speichern: (.) stets ist das Material […] das Produkt der systematischen Applikation einer kleinen Anzahl zusammenhängender praktischer Prinzipien« 58 .

Was auf diese Weise (körper-)praktisch angeeignet wird, ist ein generatives Prinzip von Praktiken, die auf der gleichen Grundlage organisiert sind und sich im Körper sozusagen als eingefleischte Gewohnheiten sedimentieren.59 Die Objektwelt, situiert in Zeit und Raum, wird »mit dem ganzen Leib in den und durch die Bewegungen und Ortsveränderungen«60 inkorporiert. Bourdieu nimmt an, dass jede Gesellschaft »Strukturübungen« vorsieht, »mit denen diese oder jene Form praktischer Meisterschaft 58 | P. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 190. 59 | Vgl. zum Habitus als ›kreativer‹ Gewohnheit auch P. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 164-202, wo Bourdieu darauf hinweist, dass der Habitus nicht ein für alle Mal als feste Struktur habitualisiert ist, sondern als »durch geregelte Improvisationen dauerhaft begründetes Erzeugungsprinzip« (ebd., S. 170) Praxisformen und Praktiken hervorbringt, ohne sich auf die objektiven Strukturen und Strukturbedingungen reduzieren zu lassen. 60 | Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, hier S. 142.

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übertragen werden dürfte«61. Die in Dingen und Personen materialisierten gesellschaftlichen Verhältnisse werden ›unmerklich‹ inkorporiert; das Ensemble solcher dauerhaft erworbenen Körperhaltungen und -bewegungen  – der Hexis  – ist die Grundlage des sozialen Orientierungssinns. Durch wiederholtes mimetisches ›Lesen‹ der Körper, Dinge, Personen und Räume werden automatisierte Handlungsvollzüge entwickelt, werden Einstellungen und Haltungen verstärkt oder gedämpft. Dadurch sedimentieren sich relativ kohärente Schemata, die in der körperlichen Hexis »eine ständige, unauslöschliche Gedächtnisstütze«62 finden. Der Körper bildet den Ort einer zur Natur gewordenen und damit als solche, vergessenen Geschichte, die in körperlichen Dispositionen Form annimmt und sich  – wenigstens temporär  – zu Riten und Stilen sedimentiert. Was sich hier verfestigt, sind Prozesse (der Materialisierung), die den Anschein einer festen Oberfläche und Dauer haben und, was entscheidend ist, den einer »natürlichen Natur« erwecken. In Wirklichkeit aber müssen sie, wie Bourdieu für – elitenbildende – Auswahl- und Einsetzungsriten vorschlägt, auf die Verkörperung von Dispositionen zurückgeführt werden, die den Austausch und die Zirkulation sozialer Positionen sowie kultureller und ökonomischer Kapitalsorten regeln. Sie bilden als unbewusstes Wissen gewissermaßen das symbolische Kapital, das vom Zusammenspiel eines komplexen Systems interdependenter Beziehungen abhängt: Hierbei geht es um »die liturgischen Bedingungen«, ein »Ensemble der Vorschriften, die die Form öffentlicher Äußerungen regeln, die Etikette der Zeremonien, der Code der Gesten und die offizielle Abfolge der Riten«.63 Sie bilden ein »Element – das sichtbarste – eines Systems von Bedingungen, deren wichtigste und durch nichts zu ersetzende diejenigen sind, die – als Verkennung und Glaube – die Disposition zur Anerkennung produzieren, das heißt zu jener Delegation von Autori61 | Ebd., S. 138. 62 | Vgl. Bourdieu, Pierre: »Die männliche Herrschaft.«, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 157-217, hier S. 187; vgl. zum Begriff des Habitus auch Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot: »Habitus.«, in: Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike: Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2009, S. 110-118 und zum Begriff der Hexis Holder, Patricia: »Hexis.«, in: Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike: Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2009, S. 125-127. 63 | P. Bourdieu: Was heisst sprechen?. S. 79.

5  Körper-Techniken III: Natürlichkünstlich

tät, durch die der autorisierte Diskurs seine Autorität bekommt«.64 Diese Dispositionen konstituieren eine Art »sozialer Magie«, deren Gelingen auf unterschwelligen Übereinkünften beruhen, die immer wieder aufgerufen werden. »Das Wunder der symbolischen Wirkung ist keines mehr«, so nimmt Bourdieu an, »wenn man sieht, daß die Magie der Wörter nur Hebel in Bewegung setzt – die Dispositionen – die vorher schon gespannt waren«65. »Akte sozialer Magie« sind auf den Rückhalt »in den sozial geprägten Dispositionen«66 angewiesen. Dabei spielen die »inkorporierten Signale« eine entscheidende Rolle; denn »mehr noch als die dem Körper äußerlich bleibenden Signale wie Orden, Uniformen, Tressen, Insignien usw. sind die inkorporierten Signale, also alles, was man ›Manieren‹ nennt – die Art und Weise zu sprechen (der Akzent), zu gehen oder sich zu geben (Gang, Haltung, Auftreten), zu essen usw. – und der Geschmack als Grundlage der Produktion aller Praktiken, die mit oder ohne Absicht über das Spiel der distinktiven Unterschiede etwas, und zwar die soziale Position bedeuten sollen, dazu bestimmt, zur Ordnung zu rufen und jeden, der es – und sich  – etwa vergessen könnte, an den Platz erinnern, auf den er durch Instituierung verwiesen ist«.67 Dispositionen rekurrieren also, zirkulär, auf symbolische Anerkennung, die ihrerseits Dispositionen verfestigt oder schwächt, je nachdem, ob sie beglaubigt werden oder ihnen Anerkennung verweigert. »Akte sozialer Magie« können nach Bourdieu also nur gelingen, wenn sie im Glauben einer sozialen Gruppe begründet und institutionell anerkannt sind. Es gibt gewissermaßen liturgische Bedingungen, die ausschlaggebend sind für die Materialisierung des Wortes und der Sprechakte. Laut Bourdieu geht die Wirkung performativer Sprechakte zurück auf die gesellschaftliche Macht dessen, der spricht; sie ist sedimentiert in körperlichen Dispositionen. Bourdieu verortet das Subjekt der performativen Äußerung auf einer Karte der gesellschaftlichen Macht, die dynamisch und festgelegt zugleich ist, und die performative Äußerung funktioniert oder funktioniert nicht, je nachdem, ob das Subjekt, das die Äußerung

64 | Ebd. 65 | Ebd., S. 92. 66 | Ebd., S. 91. 67 | Ebd., S. 90.

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ausführt, bereits durch seine gesellschaftliche Machtposition autorisiert ist, sie wirkungsvoll einzusetzen – oder nicht.

5.3 S tillschweigende P erformativität (B utler) Judith Butler führt, anders als Bourdieu, Materialisierung auf die Funktionsweise performativer Sprechakte, die Wiederholung diskursiver Anrufungen zurück. Während Bourdieu von der performativen und sozialen Magie institutionell anerkannter und gruppenspezifisch gestützter ›Einsetzungsakte‹ und ›Institutionsrituale‹ 68 ausgeht und soziale Zuschreibungen und Elitenbildung auf »magische Operationen von Separation und Aggregation« zurückführt, die nach Bourdieu »tendenziell zur Produktion einer geweihten Elite«69 führen, wendet Butler in ihrer Auseinandersetzung mit Bourdieus Theorie des Körperwissens ein, dass die »stillschweigende und materiale Funktionsweise von Performativität« ihrerseits »eine soziale Magie performativ herstellt« 70. Nach Butlers Lesart der Bourdieu’schen Theorie betont Bourdieu zwar die Bedeutung performativer Sprechakte, aber er trennt die gesellschaftlichen von sprachlichen Elementen in der Bedeutung dessen, was Sprechakte zu »sozialer Magie« macht, und geht davon aus, dass es soziale, institutionelle Funktionen (ritueller Ein- und Ausschließung) sind, die Sprechakte mit Autorität ausstatten. Dagegen nimmt Butler an, dass der körperliche Habitus sprachlich und gesellschaftlich zugleich produziert und produktiv wird – und letztlich gesellschaftliche Positionen »selbst aus einer verschwiegenen Performativität bestehen« 71. D.h. die soziale Magie des Habitus und der Einsetzungsriten beruht nach Butler auf der »stillschweigende[n] und materiale[n] Funktion von Performativität« 72 .

68 | Vgl. ebd., S. 84-93; vgl. auch Bourdieu, Pierre: Der Staatsadel. Konstanz: UVK 2004, hier S. 125-152. 69 | P. Bourdieu: Der Staatsadel, S. 125. 70 | J. Butler: Körper von Gewicht, S. 217. 71 | Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin: Berlin Verlag 1998, hier S. 221. 72 | Ebd., S. 217.

5  Körper-Techniken III: Natürlichkünstlich

Aber der Körper ist nicht nur der Ort der Reproduktion von Konventionen und Praktiken, insofern er diese als Praktiken reproduziert und ritualisiert, sondern er »generiert auch Dispositionen, die das gesellschaftliche Subjekt dazu ›neigen‹ lassen, lediglich in relativer Übereinstimmung mit den scheinbar objektiven Anforderungen dieses Feldes zu handeln« 73. Wenn Bourdieu davon ausgeht, dass sich im Körper  – unbewusst  – die Reproduktion von Macht(verhältnissen) materialisiert, dann setzt seine Perspektive voraus, so Butler, »daß der Körper durch die wirksame Wiederholung und Akkulturierung von Normen gebildet wird« 74. Das aber bedeutet: Bourdieu verkennt, dass der Körper nicht nur Sedimentierung von – sozial autorisierten – Sprechakten ist, die ihn konstituiert haben, sondern dass er gegebenenfalls Anrufungen überschreitet, außer Kraft setzt. »Nicht erklärt wird, was bei einer Anrufung zusammenbricht und eine Entgleisung von innen her ermöglicht«.75 Damit wird der Bildungsprozess des Körpers nicht hinreichend als Risiko betrachtet; es erscheint so, als enthielten alle sozialen Situationen eindeutige Hinweise; Kontingenz löst sich hier auf in Kohärenz. Es stellt sich daher mit Butler die Frage, ob fehlgeleitete performative Äußerungen die herrschenden Formen der Anrufung und deren Ausschließungen nicht sichtbar machen und verwirren können. Verletzende Worte treffen den Körper, so Butler, – in seiner Materialität – auf einen Schlag; die Antwort auf verletzende Anrufungen kann autorisiertes Sprechen außer Kraft setzen. Und zweitens: Die performative Äußerung ist keine Handlung eines schon fertigen Subjekts und seines Körpers, sondern eine Form, in der beide ins – gesellschaftliche – Leben gerufen werden; auch diese Subjektbildung übersieht Bourdieu.76 Der performative Sprechakt setzt, als institutionelles Ritual, einen Körper ebenso wie ein Subjekt erst in Kraft – und er ist »nie von vornherein vollständig determiniert […]. Genau darin, daß der Sprechakt eine nicht-konventionelle Bedeutung annehmen kann, daß er in einem Kontext funktionieren kann, zu dem er nicht gehört, liegt das politische Versprechen der performativen Äußerung«.77

73 | Ebd., S. 219. 74 | Ebd., S. 220. 75 | Ebd. 76 | Vgl. ebd., S. 225-230. 77 | Ebd., S. 228.

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6 Psychodynamik(en) fragmentierter Körper

Wie Bourdieu, aber gänzlich anders, nämlich durch das triebdynamische (Körper-)Konzept der Psychoanalyse begründet, stellt Klaus Theweleit fest, dass kulturelle und soziale Zugehörigkeiten über körperliche Dispositionen geregelt und hergestellt werden.1 Theweleit verdeutlicht dies am Körpertyp des soldatischen Mannes als ›Nicht-zu-Ende-Geborenen‹ und beschreibt ihn als symbiotischen und fragmentierten Körper, dessen Körpergrenzen nicht ausgebildet sind und der gleichwohl von der Angst getrieben wird, (bei Bedrohung) auseinanderzufallen.2 Theweleit geht in seiner Beschreibung körperlicher Dispositionen davon aus, dass der Körper – bis in die Struktur der Zellen, Muskulatur etc. hinein – auf das Erreichen eines homöostatischen Körperganzen, ein körperlich-psychisches Gleichgewicht ausgerichtet ist und Spannungsausgleich anstrebt. Es ist ein Körperkonzept, das vom Phantasma eines Körperganzen ausgeht. Dieses triebdynamische Körperkonzept, das, angelehnt an das thermodynamische Modell der Dampfmaschine, auf Druck- und Spannungsausgleich ausgerichtet ist, spielt demnach eine zentrale Rolle für das Selbstgefühl, für ein von anderen unterschiedenes Selbst. »Das Ich«, so Theweleit mit Bezug auf Freud, ist »vor allem ein ›Körper-Ich‹«3; es ist »in letzter Instanz von körperlichen Empfindungen abgeleitet, vor allem

1 | Vgl. Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Bd. 2, 3. Auflage. München [u.a.]: Piper 2005, hier S. 206ff; vgl. auch Theweleit, Klaus: Das Lachen der Täter: Breivik u.a. Psychogramm der Tötungslust. St. Pölten/Salzburg/Wien: Residenz-Verlag 2015, hier S. 191f. 2 | Zurückgeführt wird dies von Theweleit auf den strengen Zugriff auf das eigene Lustempfinden, aber auch »gelegentliche oder andauernde ›verschlingende‹ Emotionalität« (K. Theweleit: Männerphantasien, S. 212). 3 | K. Theweleit: Männerphantasien, Bd. 2, S. 215.

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Das Archiv des Körpers

von denen, die von der Oberfläche des Körpers herrühren. Es kann […] als eine seelische Projektion der Oberfläche des Körpers betrachtet werden [….]«4. Dieses Ich vermittelt ein »Gefühl vom eigenen Leib, der nicht mehr Mutterleib ist«5; der Kern des Ich ist das Körperschema. Gelingt es nicht angemessen, dieses auszubilden, was geschieht, »wenn an der Peripherie Unlustgefühle vorherrschen«6, sich von sich selbst als Objekt zu differenzieren und sich von anderen abzugrenzen, so wird »das Innere des Körpers zum Schauplatz zerreißender Gefühle« 7. Der – unfertige Körper – zerfällt in Partialobjekte und trachtet danach, so Theweleit, den anderen ›zu verschlingen‹. Was bleibt, ist der  – oft lebenslängliche  – Versuch, Körpergrenzen zu errichten und damit Formen der Individuation ›nachzuholen‹. Gelingt dies nicht und bleibt der Körper in gewisser Weise ›unvollständig‹, zerfällt er gewissermaßen in partialisierte Körperteile. Die Fragmentierung des Körpers zeigt die Wirkung, so argumentiert Theweleit, dass komplexe Reize durch Entdifferenzierung und ›Entlebendigung‹ (Devitalisierung) vereinfacht werden; dies geschieht – nach Theweleit – auf zwei Weisen. Erstens: »im Zerstörungsakt, der wirklich ›das Leben nimmt‹ und aus dem Objekt eine undifferenzierte ›Einheit‹ herstellt oder über die Wahrnehmung […], der Lebendes als tot erscheint«8. In seinem Psychogramm der Tötungslust, das in den Überlegungen zu terroristischen Tätern der Gegenwart an seine Ausführungen zum ›soldatischen Ich‹ in den Männerphantasien anschließt, kommt er zu der scheinbar paradoxen Auffassung, dass sich in der körperlichen Entmaterialisierung ein, wenn auch fiktives, Körperganzes materialisiert. Eine Form der Materialisierung, die über den Körper läuft, ist, wie Theweleit in Das Lachen der Täter: Breivik u.a. ausführt, die Entmaterialisierung des Körpers in der Tötungslust, die letztlich dem »fiktive[n] Erreichen der Körperganzheit«9 dient; »durch das Töten eines anderen können sie sich ganz und heil fühlen«10, was aber ja letztlich nur fiktiv erfolgen kann. Es kommt

4 | Ebd. 5 | Ebd. 6 | Ebd. 7 | Ebd., S. 216. 8 | Ebd., S. 217. 9 | K. Theweleit: Das Lachen der Täter, S. 191. 10 | Klaus Theweleit im Gespräch (Aspekte vom 17.07.2015).

6  Psychodynamik(en) fragmentier ter Körper

zu einem Spannungsausgleich, der ein homöostatisches Gleichgewicht im Körperinneren errichtet, indem der Körper eines anderen ausgelöscht wird, sich aber, wenn man das folgende Zitat liest, zugleich mit einer fiktiven, abwesenden Instanz verbindet. Was sich auf diese Weise konstituiert ist, so Theweleit, ein – scheinbar unversehrter – Märtyrerkörper und mit ihm das Phantasma eines Körperganzen. »Fußballclub und Disco allein reichen offenbar nicht, um Teil der Community […] zu werden und zu einem Zustand zu finden, in dem die eigene Körperlichkeit als aushaltbar erlebt wird. Wer weiß also, welches Ereignis es gewesen sein könnte, das Ahmet C. zu dem Gefühl gebracht hat, er werde aus dieser Community herauskatapultiert; oder aber zu der Wahrnehmung: Hier kommst du nie rein! Nie, nie! […] Zum fiktiven Erreichen der Körperganzheit und zur Homöostase (im Tod) kann die Verbindung mit dem abwesenden Gott führen, der durch die Explosion des Attentats in einen anwesenden Gott verwandelt wird. Wo alles in Fetzen fliegt, […] kann sich der neue Körper bilden aus den herumfliegenden Molekülen all der Zerfetzten und der eigenen fliegenden Fetzen in Verbindung mit Allahu Akbar sich zusammenbacken zum Märtyrerkörper, der ins Paradies einfliegt – die 99 versprochenen Jungfrauen zu Füßen, die auf der Stelle darangehen werden, dem neu Eingeflogenen die Unversehrtheit seines Heldenkörpers (samt aller zugehörigen Partialobjekte) zu versichern«.11

Was passiert also, so fragt Theweleit auf dem Hintergrund des triebdynamischen Konzepts der Freud’schen Psychoanalyse, wenn dort, wo Strukturen und Dispositionen vorgesehen sind, die Zugehörigkeiten regeln, keine sind oder nicht fertig ausgebildet werden können, weil eine Lücke klafft  – oder weil sozialer Halt fehlt? Welche körperlichen und psychischen Prozesse entsprechen der konstatierten unüberbrückbaren Kluft zwischen gesellschaftlichen Versprechen und Anforderungen, zwischen Hoffnungen, Erwartungen und Ambitionen einerseits und eingeschränkten Möglichkeiten, diese Hoffnungen zu verwirklichen, auf der anderen Seite? Wie ist das zu verstehen, wenn Theweleit konstatiert, dass sich die Leere materialisiert, also Formen annimmt, in denen sie sich verkörpert, nämlich in einem fiktiven Körperganzen und  – im ›Gelächter‹ der Täter? Das Lachen als quasi körperliche Materialisierung eines fehlenden

11 | Ebd.

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Körperganzen, da, wo es Grenzen zwischen sich und anderen errichten könnte? »Das Gelächter, als körperlich-muskulärer sowie auch psychischer Akt hat die Funktion, die Leere augenblicklich zu füllen; sie anzufüllen mit Irgendetwas, das sofort spürbar und erleichternd ist. Es hat, das scheint offensichtlich, die Funktion, die Wahrnehmung diese Leere zu verhindern. […] Gelacht wird, ganz buchstäblich, um nicht zu weinen. Um nicht zu weinen. Um nicht zu implodieren in die innere Leere hinein, in der es hallt: Ich weiß nichts, ich bin nichts, ich habe keinen Ort, ich habe niemanden, an den oder die ich mich wirklich halten kann; Nichts, das mich hält, ich falle […]«.12

Wie kann dieser Zustand gesellschaftlich und individuell verändert werden, fragt Theweleit. Und ist sich sicher: »Was jedenfalls nicht hilft, […] ist das Angebot, das in den westlichen Ländern flächendeckend heute gemacht wird: […] Angebote in Warenform, die einen neuen Körper und neue Existenzformen versprechen; die Zugehörigkeit versprechen«.13 Denn auch hier lauern die Leere und der Tod. Auch der ›neue‹, warenförmig modellierte und modifizierte Körper ist ja einer, der in Partialobjekte zerfällt und in der Lebendiges als tot oder zumindest unzulänglich erscheint. Auch hier wird der Körper in Einzelteile zerlegt, sowohl als technisch optimierter und auch als realer Körper, der sich, mit Mängeln behaftet, in den ›zerstückelten‹ Körper des ›Spiegelstadiums‹ zurückverwandelt.14 Der reale Körper strebt, folgt man der psychoanalytischen Argumentation, nach Spannungsausgleich, da der medial präsentierte Körper letztlich unerreichbar ist und die Angleichung des realen an den imaginären Körper der Medien, an die medialen Folien misslingt (und schon aus Gründen des Konsumbegehrens der Massenkultur misslingen muss, das ja nie befriedigt werden darf), ein Zustand, der auf Dauer unerträglich ist. Der Körper, dessen Körperteile permanent optimiert werden müssen, verwandelt sich immer wieder aufs Neue in einen imperfekten, »zerstückelten« Körper, der sich nur um den Preis der Abtötung lebendi12 | K. Theweleit: Das Lachen der Täter, S. 99. 13 | Ebd., S. 100. 14 | Vgl. dazu J. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, S. 61-70; vgl. auch S. Zizek: Mehr-Genießen.

6  Psychodynamik(en) fragmentier ter Körper

ger Körper-Regungen am Leben erhalten kann.15 Sowohl auf der Ebene der Kultur- und Werbeindustrie als auch auf der Ebene terroristischer Gewalt sind es gewaltsame Körperpraktiken, Tötungsakte und Tötungsmaschinerien, die dem homöostatischen Spannungsausgleich – und damit letztlich – der Selbsterhaltung dienen. Eine Frage, die sich aufdrängt, ist, ob Theweleit nicht das der Freud’schen Theorie zugrundeliegende Körperkonzept des bürgerlichen Individuums, das die Errichtung von stabilen (Körper-)Grenzen und die Abgrenzung sowie die damit errichtete Distanz gegenüber dem anderen vorsieht, unkritisch übernimmt, wenn er von der Errichtung fester Körpergrenzen ausgeht. Theweleit überträgt dieses Konzept, ohne es zu modifizieren, auf die Problematik terroristischer Täter und jugendlicher Migranten, deren Lebenslage und Körperkonzept sich von denen des Bürgertums, zumal dem des 19./20. Jahrhunderts, doch massiv unterscheidet. Die Frage ist also, ob das psychoanalytische, triebdynamische Körperkonzept, das Freud in der bürgerlichen Gesellschaft des 19./20. Jahrhunderts entwickelte, für die Erklärung von Phänomenen globalisierter, postmoderner Gegenwartsgesellschaften des 21. Jahrhunderts taugt. Zudem stellt sich die Frage, ob das psychoanalytische Körperkonzept, angesichts der Erweiterung des Körpers durch mediale und bioästhetische Körpertechnologien noch angemessen ist. Denn mit Blick auf dynamische Körperkonzepte der Technowissenschaften, das im Folgenden zur Sprache kommt, stellt sich die Frage, worin die Differenz zwischen einem triebdynamischen Körpermodell besteht, das das Fehlen von Körpergrenzen als pathologisch etikettiert und einem Körperkonzept, das die Durchlässigkeit und die Erweiterung von Körpergrenzen geradezu als konstitutiv für die Materialisierung des Körpers entwirft, der als dynamischer Baukasten erscheint und dessen Kennzeichen gerade nicht fixe, sondern flexible Körpergrenzen sind. Auf dem Hintergrund des Archivs des Körpers, in das der homme machine, der Maschinenkörper und das dynamische Körperkonzept der Technowissenschaften gleichermaßen, aber mit unterschiedlicher Konnotation eingeschrieben sind, stellt sich allerdings die für mich viel 15 | Vgl. dazu H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert, S. 119-150; dies.: Im Beichtstuhl der Medien. Bielefeld: transcript 2010; dies.: »Die Hinfälligkeit des (Geschlechts-)Körpers.«, in: Ästhetik & Kommunikation 40 (2009), Heft 144/145, S. 151-160; dies.: Das Maß aller Dinge.

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wichtigere Frage, ob nicht der ›gelehrige Körper‹, der sich »nach Art des Soldaten«, wie Foucault es beschreibt,16 mit der Maschine – und der Waffe – zusammenschließt, und wie Theweleit es für den ›soldatischen Mann‹ beschreibt, hier, im techno-dynamischen Zusammenschluss von Maschine, Technologie und Körper der Postmoderne wiederkehrt. Hier erscheint dieser allerdings nicht, wie im triebdynamischen Körperkonzept, als Pathologie, oder wie in der Foucault’schen Historie, in kritischer Perspektive als politisch nutzbare Strategie, die den Körper quasi untrennbar mit einer Machtmaschinerie verbindet, sondern als neues Körperkonzept, das den Körper als fluide Black Box entwirft, die immer wieder Neues hervorbringt und einer Dynamik unterworfen ist, die den Körper untrennbar mit der Technik verbindet. Und wie verhält es sich dann mit der Durchlässigkeit der Körpergrenzen, wenn diese als solche gar nicht mehr kenntlich sind? Welche Körperdynamiken sind damit angesprochen? Und welcher Begriff von Materialität liegt hier zugrunde?

16 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 173; vgl. zum gesamten Komplex auch ebd. S. 173-250.

7 Körper nach Maß I: Body Extensions – Nahkörper – Technologien – Smart Machines 7.1  Techno -K örper In seinem Essay über Cyborgs und andere Techno-Körper geht Dierk Spreen davon aus, dass »das 20. Jahrhundert […] mit dem Zweifel an der Dauerhaftigkeit der natürlichen Gestalt des humanen Körpers [beginnt]« und »der menschliche Leib […] zu seinen artifiziellen ›Organen‹ in ein problematisches Verhältnis unklarer Grenzen [tritt]«1. Er sieht darin die Geburtsstunde des Cyborgs, einem Hybrid aus organischem und technischem Material oder besser, einer kybernetisch gesteuerten Anpassung von Körpern und Technik. Spreen geht davon aus, dass die Cyborgtechnologie im Kern eine in organische Abläufe des Körpers funktional integrierte Technologie darstellt, die auf der Verbindung zwischen organischer und technischer Informationsverarbeitung beruht und in der Technologie in ein »›intimes Funktionsverhältnis‹ mit dem Organismus eintritt«2 . Damit ist nicht etwa die schon bei Descartes und im Automatendiskurs von La Mettrie gängige Vorstellung des Körpers als eines Apparats gemeint. Gemeint ist auch nicht die mechanische Integration des Körpers in Bewegungsabläufe der Maschine, wie dies die Disziplinierung der Arbeiter durch die tayloristische Organisation der Fabrik vorsah, obwohl sich hier bereits andeutet, dass der Körper des Arbeiters Zubehör der Maschine

1 | Spreen, Dierk: Cyborgs und andere Techno-Körper. Ein Essay im Grenzbereich von Bios und Techne, 2. Auflage. Passau: 2000, hier S. 7. 2 | D. Spreen: Upgradekultur, S. 33.

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wird und die Fabrik im Ganzen bereits einen Cyborg bildet.3 Es geht vielmehr um die Vorstellung einer möglichst friktionslosen Verschmelzung des organischen Körpers mit künstlich-technischen Elementen, die die Möglichkeiten des lebendigen Körpers erweitern und verbessern. Von der ›Cyborgisierung des Körpers‹ kann demnach gesprochen werden, wenn Technologie in ein ›intimes Funktionsverhältnis‹ mit dem Organismus eintritt, sich also an oder unter der Hautgrenze mit dem Körper zu einem erweiterten kybernetisch gesteuerten System von Lebensprozessen und technischen Funktionsabläufen verbindet. »Es geht also gar nicht mehr um artifizielle Körpermetaphern, sondern um die technische Veränderung und Erweiterung leiblicher Vorgänge im Sinne einer neuen kybernetischen Einheit aus Organischem und Technischem«.4 Karin Harasser nimmt an, dass sich schon im prothetischen Körper (der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts) die Konturen eines neuen Modells der Steuerung von Körpern und Individuen abzeichnen, denn auch hier geht es schon weniger um den inneren Konstruktionsplan des Körpers und seine Rekonstruktion, sondern um die Integration der Prothese in den Funktionsablauf des Körpers; aber im Unterschied zu diesem handelt es sich bei der technischen Erweiterung des Körpers gewissermaßen um ein »normalistisch-kybernetisches Modell«, das, wie sie annimmt, das disziplinarisch-mikrophysische Modell der Körperdressur nicht unbedingt ablöst, sondern »Disziplinierungen mithilfe flexibler Methoden der Selbststeuerung und der Passung durch Rückkoppelung überlagert und ›humanitär intensiviert‹«5. Das Leitbild der neueren Technologieentwicklung ist die neuronale Integration der Technologie in den Körper und seine Techniken, die Integration biotechnischer Artefakte in Körper(abläufe und -morphologien). Im Vordergrund steht die Verschaltung lebendiger Körper mit Maschinen 3 | Vgl. D. Spreen: Cyborgs und andere Techno-Körper, S. 38-39; Spreen verweist darauf, dass der bionisch strukturierte Gesamtkörper der tayloristisch organisierten Fabrik, im Gegensatz zum Cyborg, ein Metakörper ist, den die Menschen nach Ablauf der täglichen Arbeitszeit wieder verlassen können, was sicher richtig ist, wenngleich es auch nicht ganz stimmt, weil Teile der Bewegungsabläufe der Fabrikarbeit bereits in den Körper der Arbeiter und seine Struktur ›eingewandert‹ sind, ohne dass dies bewusst ist oder bewusst verändert werden könnte. 4 | Ebd., S. 28. 5 | K. Harasser: Körper 2.0, S. 92-93.

7  Körper nach Maß I

bzw. maschinellen Elementen zu einem hybriden System, das die Frage nach der Körpergrenze bzw. den Körpergrenzen problematisiert und die Frage nach den entsprechenden Körpermodellen aufwirft. Dabei erscheint es sinnvoll, wie Harasser zu Recht annimmt, die aktuellen Verschränkungen von Körpern, Technologien und (Selbst-)Steigerungslogiken historisch zu situieren. Die Frage nach der technischen Erweiterbarkeit des Menschen und seines Körpers führt zwangsläufig zu der Frage: »Welche technischen, wissenschaftlichen, ästhetischen und ökonomischen Kräfte bringen das Begehren und das Phantasma nach (bio-)technologischen Körpermodifikationen hervor?«6 Harasser warnt davor, den Blick nostalgisch auf das aufgeklärte, autonome Subjekt des 19. Jahrhunderts zu richten »und um seinen Untergang zu zittern. Vielmehr geht es eben darum, im Horizont biotechnischer Anthropotechniken Subjektivität als zwar gemacht und von Technologien besiedelt zu begreifen, sie aber nicht einem Determinismus auszuliefern. Denn die humanistischen Anthropotechniken haben die historisch spezifische Selbstwahrnehmung des Einzelmenschen als souverän, individuell, autonomy erst hervorgebracht. […] Die fortgeschrittene Vermischung von Körpern und Maschinen ist kein Schicksal im Sinne einer evolutionären Logik, die auf eine restlose Tilgung des Biologischen hinausläuft. Mit Bruno Latour gesprochen: Die Vermischung mit nicht-menschlichen Wesen hat immer schon stattgefunden«.7 Dennoch gilt es, zu reflektieren, dass die technologische Modifikation von Körpern eingebunden ist in gesellschaftliche Machtstrategien. Der Techno-Körper erscheint als Fluchtpunkt von Phantasmen, die um die Überschreitung der Körpergrenzen kreisen. Spreen nimmt an, dass der Techno-Körper gewissermaßen »aus der Zukunft zu uns« kommt und in Konkurrenz zu den realen Körpern tritt. »Die angemessenen Körpermodelle treten als Konkurrenten unserer Körper auf und drängen mehr oder minder auf deren Verwandlung und technische ›Verbesserung‹«.8 Daran knüpft sich die Frage nach einer Science Fiction, also einer »Art Wissenschaft zukünftiger Möglichkeiten«9. Die Idee der Überschreitung des menschlichen Körpers ist sowohl verbunden mit der Idee der technischen Verbesserbarkeit, dem ›body enhancement‹, als 6 | Ebd., S. 12. 7 | Ebd., S. 101-102. 8 | Ebd., S. 14. 9 | Ebd.

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auch mit dem Traum, der Idee des ewigen Lebens, die gekoppelt ist mit Phantasmen aus den Laboren des Technokapitalismus.

7.2 D er  – verdate te  – K örper im V isier von invasiven Ü berwachungstechnologien »Verdatete Gesellschaften sind solche, in denen ein ›Wille zur möglichst totalen statistischen Selbsttransparenz herrscht. […]. Diese Verdatung beginnt historisch mit direkt physisch messbaren Feldern, etwa demografischen (Geburten und Sterbefälle, was eine wichtige Basis für den Aufstieg des normalistischen Versicherungswesens lieferte), ökonomischen (besteuerbarer Besitz, Waren- und Kapitalströme), metereologischen (Temperaturen und Niederschläge), körperbezogenen (Körpergröße, Körpergewicht etc.), medizinischen (Körpertemperatur, Blutdruck usw.) und soziologischen (Einkommensverteilung usw.).«10

Jürgen Link geht davon aus, dass »moderne westliche Gesellschaften […] verdatete Gesellschaften [sind]«, in denen in vielen gesellschaftlichen Bereichen flächendeckend und routinemäßig Massendaten erhoben werden »um die jeweiligen Massenverteilungen konstruieren zu können«11. Statistische Messungen machen Massenphänomene sichtbar und transparent; dem entspricht auf der Seite der Subjekte »eine Art ›Wille zum Bekenntnis der eigenen Daten‹«12 . Die gesamte Verdatung bezieht sich zunächst auf Eigenschaften von Massen, »die zwar, soweit sie sich auf Menschenmassen erstreckt, auf Eigenschaften von Personen auf baut, aber bloß auf standardisierten Masseneigenschaften wie Körpergewicht«13.

10 | Link, Jürgen: Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart. Konstanz: Konstanz University Press 2013, hier S. 21. 11 | Ebd., S. 21. 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 22.

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Praktiken der In- und Exklusion generieren sich nun zum einen über normalistische Datenkurven, zum anderen über individualisierende Prozesse der Selbstorganisation und -adjustierung; das Individuum wird positioniert und positioniert sich in Datenlandschaften. Die Rankings quantifizieren den Ort des Individuums auf Datenkurven, während die medialen Geständnisse die Daten ›subjektivieren‹. Dabei geht es um soziale Anschlussfähigkeit durch Adjustierung des Subjekts an flexible Spektren der Normalität bei gleichzeitiger Subjektivierung der Daten. In diesem Kontext ist »die strenge Überwachung, die früher die Staaten organisierten, an andere Machtzentren übergegangen, die technisch in der Lage sind […] zu erfahren, an wen wir geschrieben haben, was wir gekauft haben, welche Reisen wir gemacht haben, wofür wir uns besonders interessieren und sogar, welche sexuellen Präferenzen wir haben«14. Idealtypisch lässt sich dies an einem literarischen Beispiel verdeutlichen: In dem Roman Super Sad True Love Story von Gary Shteyngart wird eine Mediengesellschaft präsentiert, in der jeder Augenblick des Lebens des Protagonisten Lenny Abramov, der als Koordinator der Öffentlichkeitsarbeit Lebensfreunde in der Abteilung Posthumane Dienstleistungen daran arbeitet, einer reichen Klientel – u.a. mit der Kontrolle ihrer Fett-/Cholesterinwerte – die Unsterblichkeit zu verkaufen, ausgeleuchtet wird. Lenny Abramov befindet sich in einer exemplarischen Szene, in einer Bar mit Freunden aus dem Medienmilieu: »Das Mädchen am anderen Ende der Bar lachte sofort, ohne sich überhaupt nach mir umzudrehen. Eine Reihe Zahlen erschien auf meinem Display: ›Fickfaktor 780/800, Charakter 800/800, Vorlieben anal/oral/vaginal 1/3/2‹«.15 Als Abramow sich wundert, woher sein Smartphone seine analen Vorlieben kennt, erklärt einer seiner Freunde es ihm: »›Der Charakterwert richtet sich danach, wie ›extro‹ sie ist« […]. Guck dir das an. Über das Mädchen gibt es mehr als dreitausend Images, achthundert Streams und dazu noch so ein langes Multimediadingsbums darüber, wie ihr Vater sie missbraucht hat. Dein Äppärät vergleicht all das mit dem Zeug, das du über dich selbst 14 | Eco, Umberto: »Der Verlust der Privatsphäre.«, in: ders.: Im Krebsgang voran: Heiße Kriege und medialer Populismus. München: Hanser 2007, hier S. 75. 15 | Shteyngart, Gary: Super Sad True Love Story. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2011, hier S. 127.

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eingegeben hast, und bildet daraus einen Punktwert. Du hast zum Beispiel oft was mit missbrauchten Mädchen gehabt, also weiß Dein Äppärät, dass du auf sowas stehst. Komm, lass mich mal dein Profil sehen‹«.16

Shteyngarts Roman zeigt den engen Zusammenhang zwischen Massenranking und Adjustierung des Individuums durch eine Medienkultur, die jeden Augenblick des Lebens erfasst. »Auf seinem ›äppärat‹, einem Super-Smartphone, wird jedes Atom ständig in vielen Dimensionen gerankt und beteiligt sich gleichzeitig ›interaktiv‹ an den Rankings. Konkret sind die wichtigsten Dimensionen Geld und Sex, ›credit‹ und ›fuckability‹. Über elektronische Säulen kann man die Daten sämtlicher Passanten jederzeit abrufen«.17 Die Rankings quantifizieren den Ort des Individuums auf Skalen normalistischen Massenrankings. Und auch wenn das Persönlichkeitsprofil des Protagonisten eher mittelmäßig bis kläglich ist: Das ›Selbst‹ steht hoch im Kurs; es ›zahlt sich aus‹, die Währungen, in denen es zirkuliert, sind Aufmerksamkeit und soziale Attraktivität, die man per Mausklick anfordern und abfragen kann.18 Aus der Perspektive einer Aufmerksamkeitsökonomie, deren Währung die soziale Attraktivität ist, geht es vor allem um persönliches Herausragen, Anderssein, das Singuläre, »gleichzeitig – und zwar für alle. Beides muss gewährleistet sein, um sowohl in den Augen der Anderen als auch in den eigenen ausreichend Bestätigung zu finden« – wobei es darum geht, »dass die eigenen Augen vor allem das sehen, was die der Anderen sehen würden«19. Hier geht es um permanenten Abgleich, flexible Selbstadjustierungsprozesse, ständige Neuausrichtung, eine »innere Optimierungsstrategie«, einen Selbst16 | Ebd., S. 128. 17 | Link, Jürgen: »Wie man auf ›780/800 Fuckability‹ kommt.«, in: Birgit Riegraf/ Dierk Spreen/Sabine Mehlmann (Hg.): Medien, Körper, Geschlecht: Diskursivierungen von Materialität. Bielefeld: transcript 2012, S. 37-50, hier S. 40. 18 | Vgl. Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit, 2. Auflage. München: Hanser 2004; vgl. auch Schroer, Markus: »Sehen und Gesehenwerden. Von der Angst vor Überwachung zur Lust an der Beobachtung.«, in: Merkur 57 (2003), Heft 646, S. 169-173; Schroer, Markus: »Selbstthematisierung. Von der (Er-)Findung des Selbst und der Suche nach Aufmerksamkeit.«, in: Günter Burkart (Hg.): Die Ausweitung der Bekenntniskultur – neue Formen der Selbstthematisierung? Wiesbaden: VS 2006, S. 41-72. 19 | D. Spreen: Upgradekultur, S. 116.

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verbesserungsimperativ, der experimentelle Selbstfindungsprozesse und ›Selbstverwirklichung‹ in individuelle Produktivkräfte ummünzt.20 Das permanente Beobachten der Konsum- und Identitätsmuster anderer beinhaltet im konkurrierenden sozialen Vergleich Strategien der Selbstoptimierung. Auch der Körper gerät ins Visier dieser Optimierungsbestrebungen und Singularisierung. Und zwar tut er dies auf mehreren Ebenen, auf der Ebene der technischen Überwachung, der Verdatung und kompetitiven Selbstvermessung, zum anderen, eng damit verschränkt, auf der Ebene konsumästhetisch gestylter Digital Beauties – und nicht zuletzt auch auf der Ebene der Reproduktionstechnologien und des Design von ›Wunschkörpern‹. Im Zeitalter der ›smart machines‹, die eng an den Körper heranrücken, ja, gewissermaßen Körperteile bilden, hat sich im Zuge von Transformationen der Gegenwartsgesellschaft hin zu einem Daten- und Überwachungskapitalismus eine Veränderung des Projekts der Disziplinargesellschaft hin zu einer Programmatik, die das System der Unterschiede und kompetitiver Singularitäten optimiert, vollzogen und zur Transformationen von Sichtbarkeitsordnungen geführt.21 Gegenwartsanalysen (post-)moderner Gesellschaften machen deutlich, dass postdisziplinäre Selbsttechnologien  – kompetitiver Singularitäten  – nicht aus der Perspektive disziplinärer Kontrolltechnologien zu erschließen sind, sondern auf Formen gouvernementaler (Selbst-)Führung beruhen, die feedbackgesteuerte Kontrollkreisläufe ins Subjekt verlagern und sich auf laufend aktualisierte Profile richten. Diese sind darauf ausgerichtet, Beobachter zu affizieren und sich – durch Auslöser (trigger) – immer wieder

20 | Vgl. ebd., S. 113; vgl. dazu auch H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert, S. 59-64; S. 153. 21 | Vgl. Zuboff, Shoshana: In the Age of the Smart Machine: the Future of Work and Power. New York: Basic Books 1988. Der Überwachungskapitalismus ist für Zuboff eine Form des Informationskapitalismus, der, indem wir Internetdienste nutzen, über den Verkauf von Daten Einfluss nimmt auf unser Verhalten und unsere Präferenzen; Reckwitz nimmt an, dass die Kommunikation kompetitiver Singularitäten an die Stelle der disziplinarischen Sichtbarkeitsordnung tritt; Sighart Neckel geht insofern von einer Rückkehr zu feudalen Gesellschaftsstrukturen aus, als es gegenwärtig aufgrund ererbten Vermögens zu einer Akkumulation von Reichtum und einer breiten Prekarisierung ganzer Bevölkerungsschichten kommt.

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mit neuen Reizen und Erlebnissen, mit schon vorhandenen oder neu geschaffenen Emotionen zu verbinden. Die »Transformation der Sichtbarkeitsordnungen«22 kontrastiert ein disziplinär schematisiertes und standardisiertes Subjekt durch ein Subjekt, das Sichtbarkeit und permanente Beobachtung an Aufmerksamkeitsökonomien bindet. Paradoxerweise konstituiert die Arbeit an der Singularität und dessen kreativer Ausdruck ein soziales Subjekt, das sich seiner selbst immer wieder durch schematisierte Profile vergewissert, sich in zirkulären Prozessen performativ selbst sozial hervorbringt, adjustiert und sozialisiert. Das ist nur auf den ersten Blick überraschend. Auf den zweiten, soziologischen Blick, der die Prozesse und Strukturen der sozialen Logik der Singularitäten rekonstruiert, zeigt sich: »Singularitäten sind durch und durch sozial fabriziert«.23 Auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Transformationsdynamiken verschränken sich im Sozialen wie im Subjekt diverse Ökonomien und Technologien (der Waren, der Zeichen und Symbole, des psychischen Apparats). Reckwitz führt in diesem Zusammenhang Strategien postbürokratischer Subjekte vor Augen: Sie verknüpfen ökonomische Anforderungen mit ästhetisch-expressiven Komponenten, Konsumstrategien mit dem Habitus der Selbstführung (›self growth‹); Technologien der Selbstoptimierung verschränken sich mit solchen des individual-ästhetisch ausgerichteten Kreativsubjekts, das Praktiken einer ästhetischen Körperlichkeit ebenso managt wie Computer Skills der Selbst-Performanz.24 Medial präsent heißt, lokalisierbar und damit erst wirklich, ohne lokal festgelegt zu sein. Die Schematisierung des Subjekts kontrastiert hier mit der  – durch selbstregulative Automatismen gesteuerten  – Arbeit an der Singularität (dessen kreativer Ausdruck allerdings selbst wieder durchaus schematisierten Profilen folgen kann). Subjekte richten sich hier an der Aufmerksamkeit anderer aus. Aber es wird ein Mehrwert produziert, der sich von vorhandenen  – ökonomischen, symbolischen und realen Strukturen – nicht kontrollieren und ›eingemeinden‹ lässt, sondern diese 22 | Reckwitz, Andreas: »Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen.«, in: Andreas Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie. Bielefeld: transcript 2016, S. 271-284. 23 | Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017, hier S. 13. 24 | Vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 519f.

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laufend aufsprengt und transformiert. Zugleich wird deutlich, dass das souveräne, autonome Subjekt sich in diesen Transformationen gewissermaßen ›zersetzt‹; es erscheint als Black Box eines zirkulären Geschehens, das unkontrollierten Prozessen verteilten Handelns und sozialen Austauschs unterworfen ist. Das Sinnbild des digitalen Zeitalters und der Kommunikations- und Aufmerksamkeitsmärkte sind »post-panoptische Kontrolltechnologien«, die, wie die panoptischen Disziplinartechnologien zwar quasi unauffällige Technologien der Datengewinnung und Registrierung des Körpers sind, aber anders als diese verlaufen sie nicht primär über Blickachsen und Sichtbarkeit, sondern sie ›verflüchtigen‹ sich und funktionieren unabhängig von Territorien, von Raum und Zeit.25 Foucault beschreibt »das Programm einer zunehmenden Versprachlichung des Körpers im Kontext von Wissen, Macht und Lust, die das Bedingungsverhältnis zwischen einer sprachlichen Normierung und Klassifizierung und einer sozialen Normierung im Umgang mit dem Körper aufzudecken versucht«26; demgegenüber rekurrieren die post-panoptischen Technologien der Datengewinnung auf unsichtbare und unbewusst mitlaufende Formen der Registrierung und Versprachlichung des Körpers, die in der Aufzeichnung der Bewegungen des Körpers diesen nicht primär überwachen und/oder dressieren, sondern ihn vielmehr virtuell, durch Anweisungen lenken und steuern, ihn in seiner Fortbewegung in Raum und Zeit im Detail registrieren und aufzeichnen, aber auch, so nimmt Petra Gehring an, ›absondern‹, aus dem öffentlichen Raum herausnehmen und ihn ›behindern‹: »Das Wissen des Betroffenen um unsichtbare technogene Grenzen läuft hier nicht nur auf an Dressur erinnernde Effekte hinaus, das digitale Arrangement kommt vielmehr einer künstlichen Körperhinderung, einer der Welt des ›Auges‹ verborgenen Amputationstechnik, gleich«.27 25 | Vgl. dazu S. Zuboff: In the Age of the Smart Machine, S. 337-355; vgl. auch Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 26 | J. Reuter: Die Ordnungen des Anderen, S. 202. 27 | P. Gehring: Das invertierte Auge, S. 38: Allerdings traf diese ›Behinderung‹ doch auch schon auf die panoptischen Disziplinarverfahren zu, auch sie gingen doch weit über ein panoptisches Blickregime hinaus, wenn sie die Gefangenen oder die Arbeitskräfte in der Fabrik wie auch die lernenden Schüler daran hinderten, u.a. durch die Aufteilung im Raum sich frei im Raum zu bewegen.

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Historisch neu daran ist ein Überwachungsmodell, das das panoptische Modell der Überwachung überschreitet; wie dieses bindet es die Möglichkeit der Beobachtung und Kontrolle an eine Macht(form), die automatisch und kontinuierlich funktioniert und omnipräsent ist – und zwar unabhängig vom Beobachter und dessen faktischer Präsenz. Aber im Gegensatz zu dieser panoptischen Disziplinarmacht sind die technisch automatisierten Kontrollsysteme nicht an Raum und Zeit gebunden. Soshana Zuboff geht davon aus, dass die post-panoptischen Informationstechnologien die raumzeitlichen Grenzen überschreiten. Sie nimmt an, dass sich aus dieser panoptischen Macht der Informationstechnologien eine neue Wirtschaftsform, nämlich der »Überwachungskapitalismus« entwickelt hat, der mit unauffällig ermittelten Daten im Netz Gewinne macht.28 Das Informationspanopticon überschreitet die raum-zeitlichen Grenzen des Bentham’schen Panopticons und ermöglicht nicht nur die invasive Überwachung durch Befreiung und Loslösung des Panopticons von Raum und Zeit  – und enge Bindung an Körpertechnologien. Vielmehr erzeugt es darüber hinaus Datenüberschüsse und ermöglicht die Voraussagbarkeit des Konsums. Petra Gehring fragt sich daher, ob angesichts der gegenwärtigen Formen der Datengewinnung noch von ›Überwachung‹ die Rede sein kann, oder ob man nicht eher von einem »Datenproduktionsbegehren und Datenhunger«, spielerischen Bedürfnissen der Netznutzer und deren Selbstprüfungsroutinen, libinös besetztem Konsumbegehren sowie wissenschaftlichen Experimentalpraktiken ausgehen muss. »Eher möchte man doch von verschränkten Kommunikations- und Sicherheitsmärkten sprechen, in welchen Vorprodukte für die informationelle Wertschöpfung zirkulieren«.29 Andreas Reckwitz spricht demgegenüber von der Herausbildung eines Kulturkapitalismus, in dem die Kultur, die, wie er annimmt, für die alte Industriegesellschaft von marginaler Bedeutung war, einen zentralen Stellenwert einnimmt. Reckwitz geht von einer tiefgreifenden Kulturalisierung des Sozialen aus, was auch bedeutet, dass die Sphäre der Kultur keine von der ökonomischen Basis getrennte, abgezirkelte und in gewisser Weise zur Kultur schlechthin überhöhte Sphäre mehr ist, sondern einen Teil des Ökonomischen bildet und sich in eine globale Hyperkultur transformiert. Ökonomie und Technologien werden, wie Reckwitz annimmt, 28 | Vgl. S. Zuboff: In the Age of the Smart Machine, S. 322-337. 29 | P. Gehring: Das invertierte Auge, S. 38.

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zu »großflächig wirkenden Singularisierungsgeneratoren, zu paradoxen Agenten des massenhaft Besonderen«30. Der Kapitalismus der Wissensund Kulturökonomie tritt an die Stelle des ›alten‹ Industriekapitalismus und, so nimmt Reckwitz an, der standardisierten industriellen Produktion. Nun nehmen die gesellschaftliche Bewertung und intensive affektive Besetzung der Dinge einen zentralen Stellenwert ein. Auf der einen Seite also komplexe Valorisierungstechnologien des Ratings und Rankings, mit denen alles Mögliche miteinander verglichen und bewertet wird; »das data tracking durch Suchmaschinen und Unternehmen im digitalen Netz, in dem die anonymen Algorithmen den einzigartigen Bewegungspfad des Users registrieren, um ihn in seinen ganz spezifischen Konsumpräferenzen oder politischen Haltungen zu adressieren und das Netz für ihn zu ›personalisieren‹«31. Auf diese Weise bilden sich »Infrastrukturen zur Fabrikation von Einzigartigkeit«32, die ein Begehren nach personalisierter Sichtbarkeit hervorbringen.33 Die andere Seite dieser ›Personalisierung‹ und dieser Logik des Singulären ist die extreme Relevanz der Affekte und der Attraktivität der Dinge, des Menschen und seines Körpers, der Orte oder Kollektive etc. Das gesamte Leben ist aus dieser Perspektive etwas Besonderes – und dadurch attraktiv und authentisch.

30 | A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 15. 31 | Ebd., S. 20. 32 | Ebd. 33 | Dieses Begehren konstituiert sich aus der Beobachtungs- und Kontrollfunktion panoptischer Technologien, nicht jenseits davon, sie bildet sich nicht erst als post-panoptische Selbsttechnologie heraus, wie einige Autoren annehmen, sondern entsteht mit der Disziplinarfunktion panoptischer Strukturen. Allerdings artikuliert sich das Begehren nach Sichtbarkeit auffällig erst im Rahmen globaler medialer Möglichkeiten der Präsentation und Kommunikation als solche. Es wäre zu überlegen, ob dieses Begehren nach Sichtbarkeit, das sich nicht primär an der Überwachung, sondern an einer Beobachtung der Singularität ausrichtet, analog des Foucault’schen Sexualitätsdispositivs als Element gouvernementaler, die Bevölkerung regulierender Fremd- und Selbstführungs-Technologien einzuschätzen ist. Das Begehren geht demnach nicht von den begehrenden Subjekten, sondern von infrastrukturellen Bedingungen und einem ›Beobachtungsdispositiv‹ aus, das die Bevölkerung reguliert.

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»An alles in der Lebensführung legt man hier den Maßstab der Besonderung an: wie man wohnt, was man isst, wohin und wie man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet. Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert. Das spätmoderne Subjekt performed ein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den anderen, die zum Publikum werden. Nur wenn es authentisch wirkt, ist es attraktiv. Die allgegenwärtigen sozialen Medien mit ihren Profilen sind eine der zentralen Arenen dieser Arbeit an der Besonderheit. Das Subjekt bewegt sich hier auf einem umfassenden sozialen Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Kampf um Sichtbarkeit ausgetragen wird, die nur das ungewöhnlich Erscheinende verspricht. Die Spätmoderne erweist sich so als eine Kultur des Authentischen, die zugleich eine Kultur des Attraktiven ist«. 34

Authentisch ist, was real ist im Sinne des glaubhaft Aufgeführten; es ist demnach im performativen Akt begründet, nicht in einem objektiven Wahrheitsanspruch, wie dies übrigens auch grundlegend ist für die – körperliche – Darstellung des Geschlechts. ›Sexy‹ oder ›Sexied‹ Bodies sind nicht Körper, deren Wahrheit im Geschlecht begründet ist (eine Auffassung, die gesellschaftlich zweifellos immer noch dominant ist), sondern solche Körper, in denen sich die Performativität des Geschlechts und der dargestellten Geschlechternormen materialisiert  – und die deshalb den Eindruck des Natürlichen, Authentischen erwecken. Und dies gilt auch für das Einzigartige, Singuläre: »Indem die soziale Welt sich zunehmend an Menschen, Gegenständen, Bildern, Gruppen, Orten und Ereignissen ausrichtet, die sie als singular begreift und empfindet, ja, diese teilweise gezielt als solche hervorbringt, entfaltet die soziale Logik der Singularitäten für ihre Teilnehmer eine Realität mit erheblichen, sogar unerbittlichen Konsequenzen«. 35 34 | Ebd., S. 9-10. Die Aufgabe der Soziologie besteht nach Reckwitz darin, über diese Mystifizierung des Authentischen und des Besonderen als sozial fabriziert aufzuklären, ohne in die kultur- und ideologiekritische Haltung der Entlarvung des Besonderen als standardisierte, konformistische Variante massenhaft produzierter Muster zu verfallen; zur performativen Kultur des Authentischen vgl. auch: Klein, Gabriele/Friedrich, Malte: Is this real?: Die Kultur des HipHop. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004; vgl. auch H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert, S. 112117. 35 | A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 14.

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Dabei bildet der Körper Teil eines Aggregats von Objekten, die in ihrer Performanz zusammenwirken. Er wird zum Element der publikumswirksamen Anordnung, eines Profils, das Unverwechselbarkeit, gewissermaßen modularisiert, als »kompositorische Singularität«36 auf baut, die unter Aspekten des Authentischen und Attraktiven produziert und konsumiert wird. Deren permanent modifizierte Präsentation und Bewertung entscheidet darüber, ob etwas oder jemand anziehend und, gesellschaftlich folgenreich, wertvoll oder wertlos erscheint.37 Bevorzugte Form ist die visuell anschauliche und sichtbare Form, was die Materialität des Körpers, auch die von Konsumobjekten im eigentlichen Sinne, ins Zentrum einer Aufmerksamkeitsökonomie rückt, deren Währung die Aufmerksamkeit und Affizierung der anderen ist. Grundlage dieser »affektiven Positivkultur«38 sind die Affekte und das Affiziertwerden der anderen, die als Publikum und Darsteller zugleich fungieren. »Die Gesellschaft der Spätmoderne ist in einer Weise eine Affektgesellschaft, wie es die klassische Moderne niemals hätte sein können. Ihre Bestandteile wirken hochgradig affizierend – und die Subjekte lechzen danach, affiziert zu werden und andere affizieren zu können, um selbst attraktiv und authentisch zu gelten«. 39

Das Subjekt und sein ästhetisch gestylter Körper rücken ins Zentrum eines medialen Aufmerksamkeits- und Attraktivitätsmarkts und werden damit selbst zum kulturellen Gut, das einer ständigen Performativität und performativen Bewertung unterliegt. Dabei wird nicht nur der Körper vermessen, sondern auch die Gefühle werden quantifiziert und in Attraktivitätswerte überführt. Die Algorithmen der digitalen Infrastruktur tragen dazu bei, Quantitäten zu bilden, die nicht von den Subjekten, sondern durch Verteilungen generiert werden, die Aufmerksamkeit dort akkumulieren, wo sie schon akkumuliert wurde. Die Akkumulation von Attraktivitäten vollzieht sich also 36 | Ebd., S. 249. 37 | Reckwitz weist daher zurecht darauf hin, dass sich der Besonderheits- und Selbstentfaltungsanspruch der Gesellschaft der Singularitäten als »systematischer Enttäuschungsgenerator dar[stellt], vor dessen Hintergrund sich psychische Überforderungssymptome erklären lassen« (ebd., S. 22). 38 | Ebd., S. 251. 39 | Ebd., S. 17.

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›hinter dem Rücken der Subjekte‹, durch Technologien, nämlich durch die ›maschinelle‹ Beobachtung der Subjekte durch das digitale Computernetz und die hier zirkulierenden Verfahren eines algorithmischen Beobachtungssystems, das Massendaten sammelt und auswertet. Es registriert Subjekte nicht nur als Typen, sondern in ihrer Besonderheit, als Singularitäten.40 Erstellt werden Beobachtungsprofile, die die Aktivitäten des Subjekts und die Bewegungen des Körpers aufzeichnen. Einen besonderen Stellenwert nehmen in diesem Zusammenhang Nahkörpertechnologien ein, die am Körper getragen werden, in eine körperliche Infrastruktur habitualisierter Körpertechniken eingelassen sind und damit Körperschemata – unbewusst – verändern. Sie produzieren neue Formen der Über- oder besser ›Unter‹-Wachung, nämlich invasive Verdatungs- und Überwachungstechnologien (Technologien der sousveillance), die dem ›überwachten‹ Subjekt selbst verborgen bleiben. Im Anschluss an Foucaults Überwachungs-Panopticon wird in Bezug auf digitale, elektronische Technologien der Lokalisierung und der Bewegungsaufzeichnung des Netzes und der Nahkörpertechnologien von post-panoptischen Überwachungstechnologien oder Technologien der ›Unterwachung‹ gesprochen, die dem ›überwachten‹ Subjekt selbst verborgen bleiben, allerdings an die anonyme Kybernetik der Disziplinarmacht anschließen.41 Dadurch konstituiert sich auf der Grundlage von Verdatungspraktiken, die sich hinter dem Rücken der Subjekte vollziehen, ein technologisches Unbewusstes, das sich mit körperlichen Praktiken und Techniken zusammenschließt.42 Die Frage ist dann zum einen, wie sich digitale Nahkörpertechnologien mit habitualisierten Körpertechniken und einem körperlichen Unbewussten verbinden, zum anderen, welches Körperkonzept daraus hervorgeht und welche Phantasmen sich mit ihm verbinden.

40 | Zum gesamten Komplex der Beobachtung des Subjekts, seiner kulturellen, affektiven und maschinellen Singularisierung vgl. A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Kap. VI, S. 225-271. 41 | Vgl. dazu u.a. Kasprowicz, David/Andreas, Michael/Rieger, Stefan (Hg.): Unterwachen und Schlafen: Anthropophile Medien nach dem Interface. Meson press 2017; vgl. auch P. Gehring: Das invertierte Auge. 42 | Vgl. dazu Kaerlein, Timo: Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien. Zur Kybernetisierung des Alltags. Bielefeld: transcript 2018.

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Als apparative Kommunikations-, Beobachtungs- und Sicherheitssysteme prozessieren Nahkörpertechnologien Daten, die sowohl die Lokalisierung als auch (Selbst-)Vermessung und invasive Überwachung des Körpers ermöglichen. Auf diese Weise generieren maschinelle Technologien der (Selbst-)Beobachtung und -verdatung des Körpers, die permanent Körperbewegungen und -funktionen messen, singuläre Körperprofile. Daran anknüpfend entwickeln sich entsprechende, daran ausgerichtete körperbezogene Optimierungs- (oder biomedizinische Therapie-)Praktiken. Profile der maschinellen Singularisierung  – des Pfad-, Körper- und Self-Tracking  – können gewissermaßen in »eine Art persönliche Lebensenzyklopädie«43 überführt werden. Die digitale Protokollierung von Bewegungsabläufen und -mustern und ganzen Sequenzen des Alltagslebens (kommunikativen Praktiken, sozialen Kontakten und habitualisierten Verhaltensweisen in aggregierter Form) bringt durch progressive Selbstverdatung eine neue Form der Selbstreflexion hervor, die sich des quantified self, in dessen Zentrum der verdatete Körper steht, durch Messwerte versichert. Die Frage ist, ob es, wie Spreen annimmt, lediglich darum geht, dass »der verdatete und vernetzte Körper der Upgradekultur […] individuelle Optimierung und soziale Rückversicherung«44 verbindet. Selbstvermessung stiftet offenbar, so nimmt Spreen an, Sicherheit in einer Risikogesellschaft, in der Konkurrenz einen Optimierungsdruck erzeugt. Aber offensichtlich befinden sich die ›kompetitiven Singularitäten‹ in einer paradoxen Situation, denn was optimal ist, ist vorab ja gar nicht klar und letztlich ist es das, was einzigartig ist und attraktiv erscheint. Wie aber kann man sich seiner Singularität – im Sinne eines kreativen, originellen Profils – versichern, wenn die anderen dasselbe tun und Konkurrenten sind und jeder anstrebt, möglichst originell zu sein? Erstmal scheint es gar nicht so klar zu sein, worum es geht: »Philipp, Jungunternehmer, lässt seinen Körper Tag und Nacht technisch überwachen. Auch der Schlaf lässt sich messen: ›Es ermittelt sich ein Score von 76. Das ist schon ganz in Ordnung.‹ Zur Zielbestimmung sagt er: ›Was ich erzielen

43 | A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 257. 44 | D. Spreen: Upgradekultur, S. 117.

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möchte, weiß ich nicht. …] Man sammelt erst die Daten und schaut dann, was sie ausmachen‹«. 45

Diese Aussage weist darauf hin, dass es wenigstens nicht primär um soziale Anschlussfähigkeit und soziale Sicherheit geht, sondern, so paradox es klingen mag, um Kontingenz und Exploration – und beides in enger Verbindung mit Technik(en) und (Nahkörper-)Technologien. Die moderne und erst recht die postmoderne Kultur kann als Kontingenzkultur bezeichnet werden. Kontingenz setzt verschiedene Möglichkeiten voraus, setzt voraus, dass die Dinge nicht zwangsläufig so sind, wie sie sind, sondern auch anders sein könnten. Kultur und ihre Ordnung erscheinen in diesem Verständnis als nicht ein für alle Mal gegeben, sondern als stets anders denkbar und wandelbar. »Eine neue Form der Ordnung, die wir als modern bezeichnen können, bricht sich Bahn, wenn der Verdacht aufkommt, die so unverbrüchlich und allumfassend scheinende Ordnung sei nur eine unter möglichen anderen«.46 Der Begriff der Kontingenz bezeichnet ja zunächst nichts anderes als einen Bereich des Unbestimmten, um nicht zu sagen, Unvorhersehbaren, in dem sich Zufälle realisieren, eben das, was sich ergibt. Und daran anschließend könnte man sagen, dass das prinzipiell anders Mögliche hier kategorial in die moderne Kultur und Wirklichkeit eingeschrieben ist. Sie ist eine »Kultur des Möglichkeitssinns«47, der verallgemeinert und vergesellschaftet ist. Bezugsgröße dieser modernen Kultur ist die Etablierung disponibler Realitäten und die Freisetzung subjektiver Freiheiten. Die schier schrankenlose Verfügbarkeit von Konsumgütern, libidinösen Zeichen und Wunscherfüllungen erscheint in (post-)modernen, neoliberalen Gesellschaften nicht als anomischer Zustand, wie ihn Durkheim für das 19. Jahrhundert annahm, sondern als Affizierung und fortwährender Stachel zur (Selbst-)Optimierung, die das soziale Band der Gesellschaft durch weitgehend unbewusste und selbstgenerative Prozesse der (Selbst-) Steigerung stiftet, die in ihren performativen Formen der Vergesellschaftung über die bloße Erfüllung sozialer Funktionen des Individuums hinausgehen. Denn die moderne (Massen-)Kultur »etabliert artifiziell-­ 45 | Ebd. 46 | Waldenfels 1990, zitiert nach Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz. München/Paderborn: Fink 1997, hier S. 27. 47 | M. Makropoulos: Theorie der Massenkultur, S. 10.

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kontingenzförmige Selbst- und Weltverhältnisse nicht nur dadurch, dass sie ihre Möglichkeitspotentiale realisierbar und Kontingenz um der Selbstentfaltung willen zur wünschbaren Struktur der Lebenswelt macht, sondern auch dadurch, dass sie die impliziten anomischen Tendenzen dieser Realisierungen sozial integriert, indem sie sie in einer komplexen kompetitiven Struktur nach Kriterien kommunikativer Anschlussfähigkeit organisiert«48. Dem entspricht ein Subjektivitätstyp, »dessen Charakteristikum seine kontingenzförmig-konstruktivistische Konstitution ist – unbeschadet aller […] Authentizitätserwartungen, die ihrerseits überhaupt erst unter Bedingungen der Kontingenz als explizite Erwartungen plausibel sind. Es ist eine konstruktivistische Subjektivität im doppelten Sinne. Ihr funktionelles Prinzip ist Selbstentfaltung, Selbststeigerung und Selbstoptimierung […]. Gleichzeitig ist sie aber auch eine kombinatorische: Sie entsteht als autonome Kombination standardisierter Elemente, die massenkulturell angeboten und konsumistisch angeeignet werden«. 49

Problematisch an der individualisierten Upgradekultur ist also nicht oder nicht in erster Linie die Unsicherheit, sondern was sich in der Äußerung des Unternehmers zeigt, ist die Möglichkeitsoffenheit, die durchaus »als Gewinn menschlicher Freiheit bewertet«50 wird. Und, was optimal ist, wird sich erst zeigen. Ständige Verbesserung und Optimierung als Mittel sozialer Integration würde nur die eine Seite körperbezogener Phantasmen benennen. Es sind daher Zweifel angebracht, ob es – nur – darum geht, den Körper mittels neuer Technologien gesellschaftlichen Imperativen, die sich zunehmend subjektiven Einflüssen entziehen, zu unterwerfen, wie Spreen sicher nicht ganz zu Unrecht vermutet. Aber wann wäre der großgesellschaftliche Rahmen dem Subjekt jemals verfügbar gewesen? Wann hat das Subjekt Einfluss genommen auf die Gesellschaft? Eine 48 | Ebd., S. 142f. 49 | Ebd., S. 14; dies trifft abgesehen davon zu, dass hier – noch – davon ausgegangen wird, dass das Subjekt standardisierte Elemente der Massenkultur ›autonom‹ kombiniert, während u.a. Reckwitz annimmt, dass in einer Gesellschaft ›kompetitiver Singularitäten‹ standardisierte Konsumobjekte in den Hintergrund rücken und stattdessen personalisierte Objekte das Potential der kombinatorischen Kreativität singulärer Subjekte bilden. 50 | Ebd.

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solche Perspektive auf den Körper, die nur den Unterwerfungsaspekt unter technologische Imperative der Gesellschaft in den Vordergrund der Betrachtung rückt, verfehlt postdisziplinäre Körpertechnologien. Sie verabsolutiert den instrumentellen Charakter des Körpers als Integrationsinstrument und bleibt in gewisser Weise einer disziplinarisch-panoptischen Sichtweise verhaftet. Zudem wird hier Unterwerfung mit bloßer Unterordnung, wenn nicht gar Unterdrückung verwechselt  – eine Fehlinterpretation, die die gesellschaftlich unausweichliche Unterwerfung aller sozialen Subjekte und ihrer Körper und die kreativ-explorative Seite vernachlässigt oder auch sie als bloß kapitalistisches Ausbeutungsverhältnis entwirft. Folgt man dagegen den kulturtheoretischen Analysen von Reckwitz, dann geht es vor allem darum, Daten zu personalisieren, Singularität zu kreieren und sie als unverwechselbare zu präsentieren. Das gelingt durch ein exploratives Vorgehen, das nicht von vornherein zielgerichtet ist. Als Gegenstand umfassender kultureller Modellierungen bietet der Körper sich als Experimentierfeld an, auf dem sich die eigene Individualität wie auch die permanente Modifikation des ›unternehmerischen Selbst‹ dadurch zeigen, dass die Kontingenz der Wünsche sich im ›Ausprobieren‹ abbildet. Nichts ist vorgegeben, alles ist möglich, der Körper wird zum ästhetischen unabschließbaren Projekt; »es gibt nichts, was ich nicht noch mehr […] anders haben möchte. Gibt immer was zu tun«51, sagt eine Frau, die täglich ins Fitnessstudio geht, um ihre Körpermuskulatur zu verbessern. Jeder Muskel ist Gegenstand ihrer Körperarbeit, die Performance eines wohlgestalteten Körpers das Ziel ihres Projekts. »Der Körper ist nun mehr als seine instrumentelle und soziale Bedeutung, er erscheint vor allem als Quelle aktiv hervorzubringender libidinöser Erfahrungen, insbesondere von Grenzerfahrungen«52, die das Erlebnis sichtbar und unter Umständen messbar machen. Als Objekt einer kompetitiven Singularität ist der Körper nicht primär das Exemplar des Allgemeinen, Standardisierten, von der Gesellschaft Regulierten, Ressource – des Gesundheits- und Immunsystems  – der Gesellschaft und habitualisierter Körpertechniken. Er ist nicht allgemeines oder objektives Faktum, sondern singuläres Objekt der »visuellen Manifestation des wohlgeformten Subjekts«, an dem sich die Expressivität des Subjekts und seiner ›inne-

51 | Ebd. 52 | A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 569.

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ren‹ Erfahrungszustände ablesen lässt.53 Der Körper ist also mehr als ein Arsenal aus technisch modularisierten Körperteilen, zwar ›zerfällt‹ er gewissermaßen in Datenquanten und modularisierte Ansichten von Körperteilen, die insofern ›optimiert werden‹, als sie im Sinne des technisch und ästhetisch-kulturell Möglichen umgestaltet werden (müssen). Aber umgestalten hier nicht – unbedingt – im Sinne kapitalistischer neoliberaler Imperative, funktionstüchtige Zurichtung und Optimierung des Körpers, sondern es geht auch um kreative Umgestaltung im Sinne dessen, was ›ankommt‹ und affiziert. Hier findet die Optimierungslogik des Singulären und die Positivkultur des Attraktiven ihren sichtbaren Ausdruck: Selbstkulturalisierung, Lebensqualität und gutes Leben manifestieren sich am und im Körper als Zeichen einer »singularistischen Lebensführung«, die, aus traditionellen Strukturen entbunden, soziale Integration dadurch gewährleistet, dass sie den eigenen Körper individualästhetisch in Szene setzt und ihn, zumindest auf der Ebene digitaler Praktiken, semiotisch so kontrolliert, dass er affiziert, semiotisch-sinnliche Anregung verspricht. »Das Konsumsubjekt wählt […] solche Gegenstände, die ihm eine semiotisch-sinnliche Anregung versprechen  – eine Anregung, die nicht im Objekt angelegt ist, sondern an das Subjekt die Anforderungen semiotischer Dechiffrierungsarbeit und sinnlicher ›Anregungsfähigkeit‹ stellt«.54 Der Körper bildet so, wie andere Konsumobjekte auch, eine Spiegel- und »Spielfläche von libidinös besetzten Zeichen, Imaginationen und Sinneseindrücken«55, ein Phantasma, das über die – das Leben und die Gesellschaft stellvertretend kontrollierende  – Körperlichkeit weit hinausgeht. Auch geht es nicht oder nicht nur um gouvernementale Selbstregulierung des Körpers, sondern darum, den Körper so zu gestalten, dass er in ein vom Subjekt selbst, wenn auch aus massenkulturell vorgegebenen Angeboten zusammengesetztes, personalisiertes Arrangement, ein subjektiv ›kuratiertes‹ Gesamtbild passt. Das heißt, die Wählbarkeit körperlicher Merkmale geht über den Aspekt der Körperkontrolle oder die instrumentelle gesellschaftliche Funktion des Körpers hinaus. In der postmodernen Subjektkultur des Körperlichen überlagern sich der Expressivitäts- und 53 | Ebd., S. 568. 54 | Ebd., S. 561. 55 | Ebd.

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Souveränitätscode mit dem Stilisierungscode des Körperlichen; der Körper ist als attraktive visuelle Oberfläche ein Medium der Performanz des Subjekts, das sich immer wieder relativ neugestaltet.

7.3 K örper nach M ass II: S uper abled B odies  – D igital B e auties Eine sich an diese Betrachtungen anschließende Frage ist, ob der unsterbliche Körper (des Königs/des Souveräns im Leviathan) in den post-panoptischen Körpertechnologien der postmodernen Gesellschaft nicht in anderer Gestalt wiederkehrt, nämlich zum einen in Gestalt von ›Techno-Körpern‹, die den Computerprogrammen gleichen, die sie und ihr spezifisches Gendesign entwerfen, wie auch in Gestalt von ›Digital Beauties‹, die als ästhetische Objekte der Konsumindustrie und sozialer Attraktivitätsmärkte einer Sichtbarkeitsordnung und einer Aufmerksamkeitsökonomie unterliegen, die ihre permanente Modifikation und Selbststeigerung erforderlich macht. Im Gegensatz zum Leviathan haben nun die Vielen ein Gesicht. Sie manifestieren und präsentieren sich in der Optimierung ihrer Körper, die der souveränen Macht und der öffentlichen Ritualisierung des Todes der Vormoderne das tägliche Fest der genetischen Disziplinierung und der bioästhetischen Optimierung entgegensetzen. Aber, so fragt es sich, »können alle gleichzeitig das Ziel erreichen, ›König‹ [und damit unsterblich] zu sein?«56 Sicher nicht. Aber darum geht es ja gerade: In einer Gesellschaft »kompetitiver Singularitäten«57 zählt das Besondere, es geht darum, im Vergleich mit anderen unvergleichlich, nämlich singular zu sein. »Die Subjekte der Disziplinargesellschaft wurden in jeweils begrenzten Lokalitäten jedes für sich zur Sichtbarkeit gezwungen, im Kulturalisierungskomplex findet hingegen eine aktive, gewollte Konkurrenz um Aufmerksamkeit statt: Das Subjekt begehrt, gesehen zu werden. Dieses Begehren setzt sich entsprechend in einen permanenten Vergleich der Beobachteten untereinander um. Verglichen werden

56 | D. Spreen: Upgradekultur, S. 119. 57 | A. Reckwitz: Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen, S. 280; vgl. A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten.

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freilich nicht mehr die sachlichen Leistungen vor dem Hintergrund eines fixen Maßstabs des Richtigen, verglichen wird der Erfolg auf dem Aufmerksamkeitsmarkt«. 58

Dieses subjektiv artikulierte Begehren, gesehen zu werden, ist allerdings nicht intentional auf das Subjekt zurückzuführen, sondern es wird durch gesellschaftliche Kontrolldispositive und die medial-ökonomische Infrastruktur sozial erzeugt. Es konstituiert sich aus der Beobachtungs- und Kontrollfunktion panoptischer Überwachungstechnologien, denn sie produzieren mit dem disziplinären Zwang, ständig sichtbar zu sein und kontrolliert zu werden, das subjektive Begehren nach Sichtbarkeit. Allerdings artikuliert sich das Begehren nach Sichtbarkeit auffällig erst im Rahmen globaler medialer Möglichkeiten der Präsentation und Kommunikation als solche. Schon das Mitmachen, die Teilnahme an diesem Wettbewerb (um Leben und Tod, denn wer nicht gesehen und wahrgenommen wird, stirbt den sozialen Tod) setzt die Dauerüberwachung des eigenen Körpers und ständige (Selbstver-)Messung und Registrierung von Messwerten voraus. Komplement dieser Lebenssicherung und Optimierung des eigenen Lebens ist das Vergleichsfeld, das die eigene Differenz und den  – unauffälligen  – Ausschlusses des Hinfälligen, Nicht-Optimalen markiert. Komplementär zur Ästhetisierung und Optimierung des Lebens läuft das Einzigartige, Singuläre, das sich sowohl in der ästhetischen Oberfläche des Körpers als auch im Gendesign zeigt, das nicht nur ›Defekte‹, sondern auch das Standardisierte aussortiert oder zumindest diskreditiert. Auf diesem Hintergrund artikuliert sich der Wille zur statistischen Selbsttransparenz nicht nur als Überwachungs- und Kontrollinstrument, sondern auch als Datenbegehren. Im Netz verschränken sich Kommunikations- und Sicherheitsmärkte, auf denen die Produkte, die die Singularisierung des kuratierten Lebens ermöglichen sollen, zirkulieren und sich zu einer neuen Ökonomie entwickelt haben. An alles in der Lebensführung wird der Maßstab des Besonderen angelegt; dazu gehört auch, wie man den Körper gestaltet, ihn präsentiert und welches Leben man aufgrund der körperlichen Performanz führt. Der Technokörper bildet den Ausgangs- und Angriffspunkt neuer (Computer-)Technologien, die das ›Buch des Lebens entziffern – und 58 | A. Reckwitz: Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen, S. 279.

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den Körper um- und überschreiben. Dabei verändert sich der Körper, als nachrichtentechnischer Apparat konstruiert, interpretiert und dechiffriert; er wird zum Zeichensystem, das Informationen über das Erbgut enthält und nach Regeln kybernetischer Systeme der Informatik entschlüsselt wird. Der Körper ›informiert‹ im informationstechnischen Archiv über seine Rekonstruktionsmöglichkeit(en). Letztlich geht es dabei um den synthetischen Körper, dessen (Re-)Konstruktion durch Körper- und Lebensingenieure erfolgt. Der Körper als Automat und Maschine erscheint so auf beiden Ebenen, der der Beobachtung und Kontrolle von Verhaltensmöglichkeiten als auch auf der Ebene des biologischen Lebens und dessen Modifikation als Sammlung von Daten und registrierte Textur. Das Supplement des Körpers ist dort, wo eine Leerstelle ist, die Einschreibung von Prüfverfahren und Nachrichtentechniken in den Körper, die in der Suspendierung des Blicks nicht nur selbst unsichtbar bleiben, sondern das Unsichtbare als Text ›sichtbar‹ machen. Auf beiden Ebenen wird der Körper zum Text und Zeichensystem, die ihn durch Technologien einer Kybernetik der Disziplin(ierung) des Körpers (maschinelle Kontrollsysteme) und kybernetische Mensch-Maschine-Systeme sowie schließlich Verfahren der synthetischen (Re-)Produktion des Lebens entmaterialisieren. Das Begehren, so zu sein, wie man nicht ist, bildet eine Signatur der Moderne, ein Phantasma, das die unterschiedlichsten Körperkonzepte hervorbringt. Aus dem Körper etwas zu machen, was er nicht ist, knüpft an die disziplinierenden und regulierenden Methoden der Intensivierung und Verlängerung des Lebens bis zu Methoden der Selektion und Züchtung an. Der Körper des neuen Menschen ist ein Artefakt biologisch-synthetischer Versuchslabore und digitaler Technologien. Er sollte schöner, gesünder, reiner und langlebiger sein. Mit der Optimierung des Körpers durch Prothesen und Implantate wird das Projekt der Verbesserung des Menschen im 20. und 21. Jahrhundert fortgeschrieben, in dem trans- und posthumanistische Phantasmen sich mit der Überwindung des menschlichen Körpers verbinden. Die Grenzen dieses Körpers, der als biokybernetisches System auf Computerprogramme rekurriert und als dynamisches, flexibles Netzwerk funktioniert, das Informationen prozessiert, verarbeitet und weiterleitet, erscheinen fließend. Transformationsprozesse zwischen Organischem und Anorganischem lassen sich nur mehr einer flexibel-dynamischen körperlichen Entität zuordnen.

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Im postmodernen Subjekt verbinden sich im Körper das technische Phantasma der ingenieurmäßigen Kontrollier- und Machbarkeit mit dem Körper als ästhetisch gestaltetem, expressiv präsentiertem Kunstobjekt. Es geht um die Integration imaginärer Techno-Körper in die realen Körper; vor dem Hintergrund dieser Imaginationen »erscheinen die Körperbilder als Re-Präsentationen eines imaginären Körpers, als Modellierung eines körperhaften Realen«59. Der Körper ist die synthetische, attraktive Oberfläche, die zeigt, was man nicht ist: ein Phantasma, ein unerreichbares Ideal, das aber gerade deshalb den Motor performativer Körpermodifikationen bildet und dies auch nur wegen seiner Unerreichbarkeit sein kann. Aus dem Körper etwas zu machen, was er nicht ist heißt nicht nur, einen wohlgeformten, ästhetisch gestylten Körper zu präsentieren, sondern in gewisser Weise geht es darum, die technische Selbstvergessenheit und Selbstvervollkommnung des Menschen und seines Körpers mit Fantasien vom ewigen Leben und ewiger Schönheit in der Gegenwart umzusetzen. Hand in Hand damit geht »eine Idee von Schönheit, die den gegebenen Körper als empfangsfähiges und modellierbares Material behandelt«60 und mit Technofantasien, ja, mit dem Techno-Fetisch des Übermenschlichen legiert ist. So entsteht das Bild eines Körpers, der – jenseits progressiver Selbstbeobachtung und Selbstvermessung wie auch jenseits seiner attraktiven Präsentation und Performanz – unerreichbar scheint, eine Imago, die sich sowohl mit – transhumanistischen – Ideen der Überschreitung der Grenzen des biologisch-organischen Körpers und seiner Transformierbarkeit, mit Technofantasien von ›superabled bodies‹61 als 59 | Becker, Barbara/Weber, Jutta: »Digital Beauties. Mediale Identitäts- und Körperinszenierungen.«, in: Simone Ehm/Silke Schicktanz (Hg.): Körper als Maß? Biomedizinische Eingriffe und ihre Auswirkungen auf Körper- und Identitätsverständnisse. Stuttgart: Hirzel 2006, S. 169-180, hier S. 178. 60 | K. Harasser: Körper 2.0, S. 21. 61 | Karin Harasser stellt das Problem eines Diskurses über ›Anderskörperliche‹ (›behinderte‹ Körper) dar, der ›Behinderung‹ aufgrund technologischer Auf- und Umrüstung als mögliches ›Übermenschliches‹ des ›superabled‹, des technisch besonders geeigneten Körpers umdeutet. Harrasser kritisiert die Auffassung, dass alles möglich sei und man seinen Körper nach Wunsch designen könne – stattdessen plädiert sie dafür, die Voraussetzungen für diese ›superabled‹-Körperkonzeption mit zu bedenken und die Konzeption des Körpers/körperlicher Praktiken, die jeweils historisch hervorgebracht sind, zu reflektieren und zu sehen, dass die

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auch mit einem zentralen Moment einer ästhetischen Warenökonomie, dem Inszenierungswert des Körpers zusammenschließen.62 Die Attraktion besteht in dem Körper, der mithilfe von unterschiedlichen Körpertechnologien in extenso in eine neue Existenzform eintritt. Es ist ein Körpermodell, das mithilfe von körperlicher Selbstbeobachtung und Selbstvermessung, bionischen (Nahkörper-)Technologien und Vorstellungen eines ästhetischen Körperdesigns und seiner expressiven Inszenierung an der permanenten Modifikation des Körpers ausgerichtet ist. Der Körper ist Attraktor einer libidinösen Ökonomie, die aus ihm ein schillerndes Konsumobjekt macht und dieses als Gegenstand eines konumistischen ›Mehr-Begehrens‹ inszeniert, das gewissermaßen ein demokratisches Anrecht auf Optimierung für alle ist – und sich in gouvernementale Körperpraktiken integriert. »Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Menschen in den transatlantischen Gesellschaften als Besitzende eines optimierbaren Körpers zutiefst demokratisiert […]. Differenz und der konsumistische Drang zum Neuen verlangen nach dauernden Neuformierungen und Erneuerungen: Die Arbeit am Körper – seien dies von den Krankenkassen empfohlene Körpertechniken als selbstsorgende Vorsorgeleistungen wie gesunde Ernährung, fitness, wellness oder aber auch konsumistische Körpertechniken wie Schönheitsoperationen, piercing und tattoos, Drogen, bodymorphing […] – nimmt kein Ende. Allen Körpern – und dies ist etwas historisch Neues – steht das Recht auf Transformation, auf Anpassung, auf den Erwerb von Leistungsfähigkeit, Jugendlichkeit und Schönheit zu. Dass dabei Freiheit und Zwang kaum zu unterscheiden sind, verweist auf die Wirksamkeit eines

technologische Modifikation von Körpern eingebunden ist in gesellschaftliche Machtstrategien vgl. K. Harasser: Körper 2.0, S. 16-21. 62 | Vgl. zur ästhetischen Ökonomie, die die ästhetische Qualität des Tauschwerts der Waren, den Inszenierungswert und das Arrangement ökonomischer Objekte – und damit den Geschmack als soziale Distinktionsstrategie, allerdings nicht mehr als klassenspezifische Form der Abgrenzung, sondern horizontal zwischen Gruppen, die gar nicht mehr unbedingt Schichten zuzuordnen sind, ins Zentrum der Betrachtung der Kulturindustrie stellt, auch Böhme, Gernot: Ästhetischer Kapitalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016.

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über das Selbst, über Bedürfnisse und individualisierte Wünsche funktionierenden Körperregimes«. 63

Im Körper spiegelt sich ein  – libidinöses und ästhetisches  – Begehren (nach Attraktivität, Verbesserung und Optimierung), das durch die personalisierte Warenästhetik der spätmodernen Ökonomie und die technisch-apparativen Beobachtungssysteme aktualisiert wird und in deren »Kulturmaschine« zirkuliert. Sein Design wird durch Phantasmen der Überschreitung des lebendigen Körpers bestimmt. Tausch- und Libidoökonomie greifen ineinander; die Grenzen des Körpers werden bioästhetisch und -technologisch erweitert, aber die Maßnahmen unterliegen nun sowohl der Maßlosigkeit eines technisch-artifiziellen Begehrens, die sich in immer neuen Modifikationen des Körpers/am Körper zeigt, als auch der Maßlosigkeit des Begehrens im Kampf um Sichtbarkeit, der auf sozialen Attraktivitätsmärkten ausgefochten wird und darüber entscheidet, welcher Wert dem technisch und ästhetisch attraktiv präsentierten Körper zugeschrieben wird. In der Annäherung an ein technisches und ästhetisch-artifizielles Optimum überschreitet es die ›natürlichen‹ Körpergrenzen, aber auch die der bloßen Technik; beides verschränkt sich in einem künstlichen, natürlich wirkenden Körper, dessen permanente Modifikation bereits in ihn eingeschrieben ist. Es geht um die performative Produktion eines authentisch wirkenden Körpers, der sich dadurch als singulär ausweist, dass er durch die kreative Performanz global zirkulierender Symbole einer globalisierten Hyperkultur über ein bloß standardisiertes Konsumobjekt hinausgeht. Denn in der körperlichen Inszenierung nehmen die inkorporierten Technologien und ästhetischen Objekte eine neue Gestalt an. Digitale und synthetische Beauties bilden die Applikationsfolien, die Körperinszenierungen anleiten. Es gibt kein Original hinter der Repräsentation, auf das das Bild verweisen könnte, es ist eine ins Bild gesetzte Idealvorstellung, die auf die schier unbegrenzte Manipulierbarkeit der digitalen Bilder verweist, die als beliebige Konstruktionen die performative, immer und immer wieder in Szene gesetzte Inszenierung des realen, materiellen Körpers mehr oder weniger virtuos 63 | Stoff, Heiko: »Alraune, Biofakt, Cyborg. Ein körpergeschichtliches ABC des 20. und 21. Jahrhunderts.«, in: Simone Ehm/Silke Schicktanz (Hg.): Körper als Maß? Biomedizinische Eingriffe und ihre Auswirkungen auf Körper- und Identitätsverständnisse. Stuttgart: Hirzel 2006, S. 35-51, hier S. 47.

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anleitet. Technologisch produzierte Körperbilder und perfekte synthetische Visualisierungen von Körpern besetzen die Imagination; aber in den Körperinszenierungen werden diese Bilder soziale Wirklichkeit. Der artifiziell-ästhetisch präsentierte Körper gewährleistet in der theatralen Inszenierung sowohl Singularität als auch soziale Anschlussfähigkeit. Artifizialität und Natürlichkeit bilden dabei nur scheinbar einen Widerspruch. »Das postmoderne Modell des Körpersubjekts ist hier das doppelt paradoxe einer individuell-idyiosynkratischen und kulturell kriteriengeleiteten visuellen Attraktivität, einer artifiziellen Fabrikation und scheinbaren authentischen Natürlichkeit des attraktiven Körpers«.64 Das ›Andere‹ dieses Körpersubjekts ist nicht nur eines, das seine körperlichen Ausdrucks- und Selbsterfahrungsmöglichkeiten nicht entfaltet oder unterdrückt, sondern zugleich eines, das zur souveränen Steuerung seines Körpers untauglich erscheint. Eingeschränkte Lustfähigkeit und Unfähigkeit zur kontrollierten Selbststeuerung erscheinen als körperliche Grundlage eines überhaupt  – zu Kreativität sowie Körper- und Selbststilisierung  – unfähigen Subjekts. Es bildet gewissermaßen das neue Monströse, das unfähig zur Arbeit am eigenen Körper und seiner Gestaltung erscheint und sich dadurch unattraktiv macht. Als gestaltbare (Ober-)Fläche mit optimalen Messwerten und Maßen, als kombinatorisches Projekt aus Technlogie(n) und Ästhetik bildet der Körper als digitalisiertes Konsumobjekt jenes kulturelle Gesamtgemälde, das, wie andere Kulturgüter/-waren auch, der Inszenierung des Lebens dienen. Es verbindet, wie die Körperentwürfe der synthetischen Biologie, Technik und Design. Und auch hier spielt die Kybernetik eine Rolle: Über Feedbackschleifen werden Rückmeldungen zum ästhetischen Begehren der Beobachter in Körpermodfikationen übersetzt. Eingebettet in Komposita von Konsumobjekten wird er zum Stilelement eines Arrangements, das Wunschterritorien medial präsentiert und zeigt – und sie nicht lediglich im Unbewussten der Subjekte verortet. Die Körpertechniken der ständigen Selbstvermessung und -optimierung sind Teil einer kompetitiven Selbstsorgekultur, die sich als ästhetische Existenz ausweist. Es handelt sich gewissermaßen um eine theatrale Inszenierung des Sozialen, das die Selbstinszenierung der Körpersubjekte einschließt. Damit wird aber auch deutlich, welchen zentralen Stellenwert die Geschmacksästhetik und das Design wie auch die hier zum Einsatz kommenden Kulturtechniken 64 | A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 573-574.

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(Selbstvermessungstechnologien, digitale und ästhetische Kompetenzen) haben: Die Ästhetik des Körperdesigns erweist sich letztlich als Schnittstelle sozialer Kompetenzen (der Auswahl und der Distinktion); an ihr zeigt sich, über den Geschmack, der singuläre Ort des Subjekts, aber auch die spezifische Form, ein postmoderner Modus der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. »Für sich allein würde sich ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen […] sondern nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloß Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein (der Anfang der Zivilisierung); denn als einen solchen beurteilt man denjenigen, welcher seine Lust anderen mitzuteilen geneigt und geschickt ist, und den ein Objekt nicht befriedigt, wenn er das Wohlgefallen an demselben nicht in Gemeinschaft mit anderen fühlen kann […] und Empfindungen nur so viel wert gehalten werden, als sie sich allgemein mitteilen lassen; wo denn, wenn gleich die Lust, die jeder an einem solchen Gegenstande hat, nur unbeträchtlich und für sich ohne merkliches Interesse ist, doch die Idee von ihrer allgemeinen Mitteilbarkeit ihren Wert beinahe unendlich vergrößert«. 65

Am Körper zeigen sich, neben der Geschmacksästhetik, soziale Kompetenzen; der Geschmack dient nicht nur dazu, Gegenstände oder Kunstwerke zu unterscheiden und zu beurteilen, sondern »ist das Distinktionsvermögen schlechthin, nämlich die Kompetenz der Auswahl von Dingen, mit denen man sich umgibt, der Kleidung, die man trägt, und sogar die Freunde, denen man sich zugehörig fühlen kann. Durch die Wahl der Wohnungsausstattung, der Kleidung und der Freunde passt man sich dem Stil bestimmter Gruppen, Stände, Klassen an und unterscheidet sich zugleich von anderen«.66 Kant sieht, wie Gernot Böhme deutlich macht, in der Kultivierung des Alltags einen »Trieb zur Gesellschaft« am Werk (die die Abgrenzung von anderen impliziert, aber nicht vorrangig ist) – und zwar geht es hier nicht unbedingt um verbale Kommunikation, sondern um ein Mitteilen. Mitteilen bedeutet hier nicht unbedingt verbale Kommunikation, sondern, wie schon bei Kant, dass man »sich mit 65 | Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974, hier S. 229-230, zitiert nach: G. Böhme: Ästhetischer Kapitalismus, S. 79. 66 | G. Böhme: Ästhetischer Kapitalismus, S. 81.

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geschmackvollen Dingen umgibt, durch die man anderen Menschen die Gelegenheit gibt, die eigenen Präferenzen affektiv mitzuvollziehen«67. Im Rahmen digitaler Technologien und einer »ästhetischen Ökonomie« erfolgt der Austausch mit anderen weitgehend technisch-medial; diese Art des Mit- ›Teilens‹ ist für kompetitive Singularitäten ein ganz wesentlicher Gestus der Vergesellschaftung singulärer Subjekte. Die »Überzuckerung des Realen mit ästhetischem Flair«68, in dieser sprachlichen Form eine kulturkritische, um nicht zu sagen, -pessimistische Befürchtung, erweist sich als Einbruch des Realen, Bildhaft-Symbolischen in die Realität. Der natürlichkünstliche Körper bildet mit seinen Posen und der visuellen Inszenierung seiner Materialität den Mittelpunkt von Bildern, die, wie die Abbildungen der Rich Kids of Instagram, um aktuelle Taxinomien des demonstrativen Konsums kreisen. Wie diese Konsumtrophäen auf den Fotos der Rich Kids of Instagram, die sie am ausgestreckten Arm und an Handgelenken in die Kameras halten, ist der Körper die Trophäe, die das ist, was wir sein wollen, aber jenseits eines leistungsfähigen Techno-Körpers, einer superabled Selbstvervollkommnungsmaschine nicht sind und nicht sein können. Das makellose Körper-Ideal bildet die Folie eines artifiziell-synthetischen Körpermodells, das man zu sein begehrt. Es ist Ausdruck eines metaphysischen, quasi-religiös begründeten Begehrens nach Erlösung von einem vergänglichen Körper, nach ewiger Leistungsfähigkeit und Schönheit, die die Grenzen des physischen Körpers überschreiten. Der christliche Auferstehungsleib, der sein physisches Gewand hinter sich lässt, kehrt als modisches Utensil irdischer Wunschterritorien auf die Erde zurück. Der Körper wird zum Repräsentant und Symbol eines endlos-endlichen Lebens, dessen Ornament, ewige Jugend und Schönheit, eine technisch optimierte Körperoberfläche wie ein Dekor schmückt.69 Also inszenieren sich die Singularitäten dauerhaft im Spie67 | Ebd., S. 82. 68 | Welsch, Wolfgang: »Das Ästhetische – Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?«, in: Wolfgang, Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Fink 1993, S. 13-47, hier S. 15. 69 | Zur artifiziell-technischen Körperoptimierung und zum Körper als bio-ästhetischem Symbol eines himmlischen Körpers vgl. H. Bublitz: Himmlische Körper oder wenn der Körper den Geist aufgibt, S. 33-50; H. Bublitz: Das Maß aller Dinge, S. 19-36, hier bes. S. 31-34.

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gel medialer Bilder, die den Körper spektakulär zum Einsatz bringen und ihn immer wieder nur als Bild zugänglich machen. Im Zerrspiegel dieser Bilder verschwindet die Differenz zwischen Original und Kopie, Physis und Techne – und was vom Körper übrigbleibt, sind, abhängig von technischen Artefakten und Aufschreibe- und Speichermedien, Phantasmen. Referenz realer Körper sind digital Beauties, die den idealisierten Blick auf den Körper in 3D-Optik präsentieren. »Dabei bilden die realen Körper einerseits losgelöste Referenzpunkte, sind aber andererseits auch die Instanzen, über die jene Körperbilder wahrgenommen werden, welche für den individuellen Selbstentwurf eine wichtige Orientierung darstellen, nicht zuletzt deshalb, weil sie Anerkennung und Prestige verheißen«.70

Der Körper wird zum flexiblen und dynamischen Baukasten, der das Sampling, die immer wieder neue Bearbeitung, einzelner Körperteile nahelegt. Es ist die technologische Wiedergeburt des ›zerstückelten‹ Körpers, der sich, konfrontiert mit einem idealisierten Körperbild, als unzulänglichen und hinfälligen Körper spiegelt, der immer wieder aufs Neue Baumaßnahmen erforderlich macht – und gewissermaßen wie ein Konsumobjekt recycled bzw. ausgetauscht wird. Das Ganze des Körpers wird abgelöst von einem Techno-Imaginären, dem die realen Körper, wie Lacan es für das Spiegelstadium als Bildner des Ich entwirft, zu entsprechen versuchen. Dass dieses Unterfangen scheitern muss, liegt zum einen an den imaginären Körperbildern, die, technisch produziert, real unerreichbar sind, und nicht zuletzt aber auch an den libidinösen Besetzungen der Körperbilder selbst, die die Befriedigung des Begehrens verhindern; sie unterliegen einem Kreislauf, der das Begehren immer wieder erneuert.71

70 | B. Becker/J. Weber: Digital Beauties, S. 178. 71 | Vgl. zu dem gesamten Komplex H. Bublitz: In der Zerstreuung organisiert, S. 119-150.

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Das Anliegen meiner Ausführungen war zu zeigen, dass der Körper keineswegs ein zeitloses physisches Organ oder Objekt ist, sondern über seine physische Materialität hinausweist. Insofern dynamische Formen der Materialisierung historischer Figurationen von Materie zugrunde liegen, sind Körper keine fertigen und stabilen Entitäten, die von anderen Dingen, Körpern oder Prozessen vollständig abgrenzbar sind; vielmehr sind sie mit dem, was sie umgibt, auf vielfältige Weise verwoben. Dies zeigt sich historisch auffällig im Verhältnis zu Techniken und technischen Artefakten, aber nicht nur hier. Schließlich erscheint der Körper sowohl diskursiv als auch real gewissermaßen selbst als technischer Apparat, der selbstvergessen und schematisch Handgriffe verrichtet und Abläufe koordiniert. Zum anderen sind Körper kulturell und sozial mit Bedeutungen belegt und mit Phantasmen verwoben, die aus dem physischen Objekt ein begehrtes Objekt machen, das nur aus einer spezifischen Wahrnehmung heraus existiert und in gewisser Weise die Verkörperung und Materialisierung dieses Begehrens darstellt. Diese beiden Momente waren und sind von entscheidender Bedeutung für die gesamte Betrachtung. Das heißt: Zum einen überschreiten Körper das, was herkömmlich als Ding oder Objekt mit einer bloßen Oberfläche erscheint und in der abendländischen Kulturgeschichte als träge, mechanische Materie in Gegensatz zu Form und Intelligenz tritt. Mit Rekurs auf Butler wird deutlich, dass körperliche Materialität eine Wiederholung von Prozessen der Materialisierung ist, die im Laufe dieser Wiederholungen sowohl hergestellt als auch (de-)stabilisiert werden, so dass sich die Wirkung von Festigkeit und Begrenzung oder aber Brüchigkeit und Widerständigkeit körperlicher Materialität einstellt. Der Prozess der Materialisierung bildet in gewisser Weise selbst eine Technologie, die Körper, so natürlich sie auch erscheinen, zu konstruierten, künstlich produzierten Materialitäten macht. Diese immer unabgeschlossenen Formen der Materialisierung

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treten in spezifischen historischen und gesellschaftlichen Konfigurationen der Materialisierung normativer Figuren von Materie und Technik in Erscheinung. Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Konstruktion von Körpern weder ein einzelner Akt noch ein kausaler Prozess ist, der von einem Subjekt ausgeht, sondern kulturell und gewissermaßen infrastrukturell hervorgebracht wird. Mein Anliegen war/ist, die spezifischen diskursiv-materiellen Apparate und die Praktiken, durch die Körper konstruiert werden und sich konstituieren, an historischen Beispielen zu rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass die spezifischen Körpervorstellungen der Moderne konstitutiv mit diskursiven Konfigurationen verwoben sind, die den Körper zumindest metaphorisch, wenn nicht real, als Automat und Maschine entwerfen und ihn nicht nur mithilfe technischer Apparaturen, sondern selbst auch als technischen Apparat und als Technologie, auch im Bereich sozialer Praktiken, hervorbringen. Der Körper ist, so legt das Archiv der Diskurse nahe, ohne Bezug zu Technik(en), Technologien und Medien nicht zu denken; indem er phantasmatisch über sich hinausweist, ist er, zumindest in der Moderne, als Automat und Maschine konfiguriert, was nicht nur auf seine Funktionsweise, sondern auch auf seine Form- und Modellierbarkeit hinweist. Aber auch in der Vormoderne weist der Körper in der personalen Repräsentation von Macht im öffentlichen Raum über sich hinaus. Die explizite Darstellung des Körpers ist hier ein wichtiges Element politischer Macht: sie wird als singularisierendes Moment der Vielen im Kontext der modernen Konsum- und Populärkultur in veränderter Form wiederaufgeführt. Körper-Techniken sind, so zeigte sich, elementare Kulturtechniken, die, wie Bourdieu im Anschluss an Marcel Mauss ausführt, im Habitus – institutionalisierte  – Zugehörigkeiten verkörpern und Subjekte in einer Art ›sozialer Magie‹ mit symbolischer Anerkennung ausstatten. Auch hier funktioniert der Körper nicht bewusst angeleitet und gesteuert, sondern, ausgestattet mit einverleibten und verkörperten Dispositionen, durchaus im Modus der zuverlässigen Routine, die nicht nur Formen der personalisierten physischen Überwachung und Kontrolle überflüssig macht, sondern auch soziale Hierarchien unbefragt lässt und sie stabilisiert. Allerdings lässt sich der Körper nicht auf dieses zwanglose Einverständnis mit der physischen Reproduktion sozialer Zwänge und der sozialen Vereinnahmung seiner Abläufe reduzieren. Er ist nicht nur Vollzugsorgan abverlangter Routinen und reibungsloser Abläufe, sondern ist, gerade aufgrund seiner physischen Materialität, auch ›Organ‹ der Schwerfälligkeit

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und Widerständigkeit, wenn es darum geht, Strukturen aufzubrechen und zu verändern. Der Konstruktionsmodus von Körpern spiegelt sich in der imaginären Überschreitung des physikalischen Körperobjekts, im Begehren, das ihn mit Bedeutung belegt. Die Überschreitung des physischen Körpers erfolgt mithilfe von Phantasmen, die ihn, in Analogie zu technischen Artefakten, als Selbstvervollkommnungsmaschine beschreiben. Als nachrichtentechnischer Apparat oder informationsverarbeitende Black Box erscheint der Körper als ›Text‹, der, wie alles Geschriebene, Spuren von Umschriften aufweist, auch wenn diese oft schwer entzifferbar sind und sich erst aus einer bestimmten Perspektive rekonstruieren lassen, was dadurch erschwert wird, dass sie, wie die sozialen Körpertechniken auch, als natürliches Element des Körpers erscheinen. Als Techno- und Design-Körper sind Körperbilder, -konzepte und -modelle verwoben mit einem phantasmatischen Versprechen, das, analog dem religiösen Heilsversprechen, an Schöpfungsträume anknüpft, sich an technischen Visionen ausrichtet und auf ihrer Folie Neuschöpfungen des Körpers entwirft. Immer sind Körper und Körperbilder verwoben mit – technischen – (Konstruktions-)Apparaten und Prozessen der Materialisierung, die unabgeschlossen sind und bleiben, sich mit Technologien der performativen Körpermodifikation verbinden und Teil eines phantasmatischen Körpers bilden, dessen Grenzen fließend sind und nicht deterministisch in eine Anzahl festgelegter Wirkungen münden.

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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

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10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

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Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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