Darstellungen von Anfang und Schöpfung in der frühesten volkssprachlichen Literatur [1 ed.] 9783412524586, 9783412524562

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Darstellungen von Anfang und Schöpfung in der frühesten volkssprachlichen Literatur [1 ed.]
 9783412524586, 9783412524562

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Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters BAND 6

Herausgegeben von Klaus Gereon Beuckers, Andreas Bihrer und Timo Felber

Alisa Heinemann

Darstellungen von Anfang und Schöpfung in der frühesten volkssprachlichen Literatur

BÖHLAU VERLAG  WIEN KÖLN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch (Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. lat. 52, fol. 42v). Korrektorat: Sara Alexandra Horn Satz: Bettina Waringer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52458-6

Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2

Vorgehen und methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.1 Zusammenschau: Die Perspektive auf das Verbindende . . . . . . . . . . . 18 2.2 Vom Großen ins Kleine: Das Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.3 Vom Kleinen ins Große: Der mehrfache Kontext . . . . . . . . . . . . . . . 22

3

Begriffsklärung: Welche(n) Namen hat der Anfang? . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.1 Ausgangspunkt der Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.2 Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.3 Welt(-Anfang). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

4

Der Caedmon-Hymnus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.1 Bedas Caedmon-Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.2 Bedas Hymnus-Paraphrase. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.3 Der altenglische Hymnus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4.4 Auf Namenssuche: Die Frage nach der schöpferisch tätigen Kraft. . . . . 45 4.4.1 Die Namen des Schöpfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.4.2 Der Schöpfer – ein Vieles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4.4.3 Vom Ewigen, Heiligen und Allmächtigen. . . . . . . . . . . . . . . . 50 4.4.4 Schöpferlob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.4.5 Exkurs: Schöpferlob im Guthlac . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.5 Das Erzählen von der Schöpfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4.5.1 Das Werk: Ein Wunder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4.5.2 Himmel und Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4.5.3 Himmel und Überhimmel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4.6 Christianisierung für alle, oder: Die Anerkennung der Inkulturation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

5 Beowulf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5.1 Die Verse 89 bis 98. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.1.1 Der Scop und sein Gesang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

5.1.2 Die schöpferisch tätige Kraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5.1.3 Das Schöpfungswerk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5.1.4 Wer trägt die Schöpfung? Zum Aspekt der Mündlichkeit. . . . . . 78 5.2 Die Verse 99 bis 110 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5.2.1 Der Beginn des Bösen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5.2.2 Von Kain zu Grendel: Die Genealogie des Bösen . . . . . . . . . . . 82 5.2.3 Zurück zum Schöpfer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 5.3 Die Verse 89 bis 110: Der Weg der Schöpfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 6

Zum Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet. . . . . . . . . . . . . . . . 90 6.1 Text und Überlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 6.2 Der Schöpfungshymnus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 6.2.1 „Dat gafregin ih“: Über das Ich und das Erfragen. . . . . . . . . . . 95 6.2.2 Über das, was nicht war. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6.2.3 Über den einen allmächtigen Gott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 6.2.4 Über die „geista“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 6.3 Das Gebet: Erde und Himmel – Himmel und Erde: Über die Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6.4 De poeta. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 6.5 Ich und Du – Gott im Gegenüber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

7 Der Heliand-Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Zum Wortbegriff des Heliand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Das gehörte Wort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Das geheime Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Das wirkende Wort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Exkurs: Der Tatian-Prolog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Welt, Himmel, Erde: Erschaffung und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Die „uuerold“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 „himil endi erða“ – „erðe endi uphimil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Schöpfung und Geschichte: Die sechs Weltalter. . . . . . . . . . . . 7.3 Wort, Schöpfung, Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 127 127 130 133 137 138 138 142 147 149

8

151 152 157 157

Otfrids Evangelienbuch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 II, 1, 1–6: „In principio erat Verbum“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 II, 1, 7–34: Logos und Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Der Zustand des Davor: „Er“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

8.2.2 Am Anfang: „Tho“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Die „worolt“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Mensch und Schöpfung: Zur Rolle des Menschen im Schöpfungsganzen . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Schöpfung bei Otfrid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

160 170

Auswertung und Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Die Schöpfung und ihre Werke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Die Schöpfung und ihr Schöpfer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Die Schöpfung und ihre Träger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177 177 184 189

173 175

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Textausgaben, Faksimiles. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Untersuchungen, Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2020 als Dissertation zur Erlangung des Akademischen Grades eines Dr. phil. angenommen und für die Drucklegung stellenweise überarbeitet. Dass diese Arbeit über den Anfang schließlich selbst zu einem Ende gekommen ist, hat viel mit denen zu tun, die sie begleitet haben. Mein größter Dank gilt Uta Störmer-Caysa. Sie hat meine Freude an alten Texten nicht nur geweckt, sondern in zahlreichen Gesprächen und durch unzählige Anregungen immer wachgehalten. Ihr und all meinen Mainzer Kolleginnen und Kollegen danke ich dafür, dass ich bei ihnen eine Arbeitsumgebung vorgefunden habe, die ich mir nicht angenehmer und produktiver hätte ausmalen können. Bei Sabine Obermaier möchte ich mich außerdem und insbesondere dafür bedanken, dass sie das Zweitgutachten übernommen hat. Auch außerhalb der Mainzer Altgermanistik gab es Menschen, deren fachliche Kompetenz mir im Zuge der Arbeit an meinem Promotionsprojekt Hilfe und Motivation war. Mein erster Dank gilt an dieser Stelle Wolfgang Haubrichs, der einigen Passagen dieser Arbeit sein prüfendes Auge geschenkt hat. Brigitte Karb danke ich dafür, dass sie mit mir ihr altphilologisches Know-how geteilt hat, Julian Joachim dafür, dass er es so mit seinem philosophischen Wissen getan hat. Herzlich danken möchte ich Timo Felber für seine Unterstützung, die es mir in einer ganz und gar bewegten Zeit dennoch leicht gemacht hat, an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel anzukommen. Ihm sowie Klaus Gereon Beuckers und Andreas Bihrer danke ich für die Aufnahme in diese Reihe. Fernab der wissenschaftlichen Pfade danke ich der Mainzer Mensa-Gruppe. Nicht nur dafür, dass sie mich buchstäblich am Leben gehalten hat, sondern vor allem für die Stunden, in denen ich das, was auf dem Schreibtisch lag und manchmal lauerte, vergessen durfte. Ulrike Schneider und Sven Müller sei an dieser Stelle außerdem für ihr grandioses Bastelwerk gedankt. Mein tiefster und uneingeschränkter Dank gilt meiner Familie, insbesondere meiner Großmutter Resi und meinen Eltern Doris und Wilfried, auf deren Liebe und Vertrauen sich alles gründet. Gar nicht genug danken kann ich meinem Partner Michael. Für alles. Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern. Hamburg, im März 2021

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1 Einleitung „Freitag“, sagte Polly nachdenklich, „ich bin nur ein kleines Mädchen und so und weiß nicht die Bohne über das Universum und dergleichen. Kannst du mir“, denn inzwischen duzte sie ihn, „mit deinem Wissen und so weiter aushelfen?“ „Ich freue mich, dass du mir diese Frage gestellt hast“, sagte Freitag, „denn das Universum ist mein Spezialthema, und ich habe manches Quiz gewonnen, in dem es genau darum ging. Doch lass uns fürbassschreiten und uns unter jenen Apfelbaum beim alten Anger drauß’ hinlagern, denn das ist der beste Ort, um meinen berühmten Lehren zu lauschen.“ Also fürbasselten sie zum alten Anger drauß’ und lagerten sich unter den Apfelbaum hin, und dort begann Freitag sein enormes Wissen auszubreiten. „Vor einer Million Million Jahren, bevor dein Onkel geboren war“, begann er, „schwebte ein winziges Stück Käse inmitten des Weltraums, als plötzlich irgendwas wahnsinnig wurde. Es machte einen großen Knall und flog überallhin wie eine alte Dame beim Sommerschlussverkauf. Eine bis zwei Minuten lang roch alles nach Käse. Dann erschien plötzlich wegen naturwissenschaftlicher Chemikalien der Planet Erde, und als Nächstes begann auch schon ein Geschöpf im Meer zu wachsen.“1

In der erzählten Welt des Kinderbuchs von Andy Stanton liegt der Anfang allen Seins im Käse. Die bestechende Klarheit, mit der die Frage nach dem Anfang hier beantwortet wird, täuscht fast über die Tatsache hinweg, dass das Universum (und vor allem sein Anfang) ein „Spezialthema“ ist, das als solches auch einen Spezialumgang erfordert. Wie sah er wohl aus, der Anfang des Universums, des Himmels, der Erde, des Lebens? Diese Fragen beschäftigen nicht nur die kleine Polly. Sie sind anthropologische Konstanten. Eine allgemeingültige Antwort auf sie zu finden, ist nicht möglich – und kann nicht Anliegen dieser Arbeit sein. Vielmehr geht es darum, die literarische Diskussion dieser Fragen nachzuzeichnen und in diesem Zuge anzuerkennen, dass in der literarischen Auseinandersetzung mit den immer gleichen Fragen nicht immer die gleichen Antworten gegeben werden. Literarische Texte stellen ein ganzes Bündel an Ideen und Konzepten bereit, wie der Anfang ausgesehen haben könnte. Im Wasser, so erklärt das im Babylon gegen Ende des zweiten Jahrtausends vor Christus entstandene Gedicht Enūma eliš, entstehen die Götter.2 1 2

Stanton, Andy: Sie sind ein schlechter Mensch, Mr. Gum. Aus dem Englischen von Harry Rowohlt. Frankfurt a. M. 2014, ohne Seitenangabe. Vgl. Lambert, Wilfried: Babylonian creation myths. Winona Lake 2013 (Mesopotamian civilizations 16), S. 50 f. Zum Enūma eliš sowie zu den frühen mythologischen Erzählungen Mesopotamiens mit Abbildungen ihrer Überlieferungsträger vgl. auch George, Andrew: Die Kosmogonie des alten Mesopotamien. In: Anfang und Ende. Vormoderne Szenarien von Weltentstehung und Weltuntergang. Hg. von Marion Gindhardt und Tanja Pommerening. Darmstadt 2016, S. 7–25.

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Die Wasser der Tiamat und des Apsû bzw. das Gemisch aus weiblichem und männlichem Gewässer ist es, das hier am Beginn allen Lebens steht.3 Auch in altägyptischen Vorstellungen spielt das Wasser im Prozess der Weltentstehung eine entscheidende Rolle. Im Wasser liegt alles seit jeher aufbewahrt.4 Jedoch wird Schöpfung nicht als einmaliger Vorgang, sondern als fortwährender Prozess der Erneuerung gedacht. So steht die Sonne jeden Morgen aufs Neue als Zeichen eines nie endenden Schöpfungskreislaufs am Himmel.5 Die chinesische Mythologie etwa kennt eine weibliche Schöpfungsgöttin, wobei Nügua (oder Nüwa) vor allem Schöpfungsbewahrerin bzw. -wiederherstellerin ist.6 Die Welt, so die Vorstellung, besteht aus einem Unterbau, über den sich der auf vier Eckpfeilern ruhende Himmel spannt. Als Weltenretterin tritt Nügua in Erscheinung, als jene Pfeiler brechen und die Erde nicht länger vom Himmel bedeckt wird. Die in Unordnung geratene Welt wird zurück in die Ordnung gebracht, indem Nügua den Himmel flickt und die abgebrochenen Pfeiler stabilisiert. In der griechischen Mythologie ist es ebenfalls eine weibliche Göttin, Gaia, die, so formuliert Hesiod in seiner Theogonie, aus dem Chaos hervorgeht und die Wurzel eines weit verzweigten Götterstammbaums bildet.7 Noch für Boethius im sechsten Jahrhundert nach Christus schien das Künden von der Schöpfung ebenso relevant wie für Hesiod im siebten Jahrhundert vor Christus. Im neunten Gedicht des dritten Buchs der Consolatio wendet sich ein namenloses Ich an den Schöpfer (vgl. III, 9, 2),8 von dem berichtet wird, dass er die Welt nach festen Gesetzen lenkt, dass er die Zeit auf Ewigkeit hin eingerichtet und das All von einem Urbild hergeleitet hat und seither bewegt, ohne selbst je bewegt worden zu sein. Platons Timaios9, der Boethius als Quelle diente, berichtet vom Werk des Schöpfers,

3 4

Vgl. ebd., S. 19 f. Zu den Vorstellungen und Deutungen der Weltentstehung im Alten Ägypten vgl. Verhoeven, Ursula: Konzeptuelle Variationen über die Weltentstehung im Alten Ägypten. In: Vormoderne Szenarien von Weltentstehung und Weltuntergang, S. 26–40, zum sog. Urwasser vgl. S. 27 f. 5 Vgl. ebd., S. 26 und 33. 6 Vgl. Handbuch der Mythologie. Hg. von Christoph Jamme und Stefan Matuschek. Darmstadt 2014, S. 282, sowie auch Lianshan, Chen: Chinese Myths and Legends. Cambridge 2011, S. 10–30. 7 Hesiods Theogonie wird im Folgenden zitiert nach: Hesiod: Theogonie. Werke und Tage. Griechisch und Deutsch. Hg. und übers. von Albert von Schirnding. Mit einer Einführung und einem Register von Ernst Günther Schmidt. 5., überarb. Aufl. Berlin 2012. Vgl. zur oben genannten Stelle ebd., S. 14–17. 8 Die Consolatio des Boethius wird im Folgenden zitiert nach: Boethius: Trost der Philosophie. Consolatio Philosophiae. Lateinisch und Deutsch. Hg. und übers. von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon. 5. Aufl. Darmstadt 1995. Das Gedicht wird vorgetragen von der allegorischen Gestalt der Philosophie vor ihrem Gesprächspartner, dem zum Tode Verurteilten (Boethius selbst), der im Kerker sitzend den Tod erwartet. 9 Platons Timaios wird im Folgenden zitiert nach: Platon: Timaios. Griechisch – Deutsch. Hg., übers., mit einer Einl. und mit Anm. versehen von Hans Günter Zekl. Hamburg 1992 (Philosophische Bibliothek 444).

12 | Einleitung

dass dieses zunächst „in Bewegung ohne Takt und Regel“10 (30a) existiert habe, ehe es aus der Unordnung „in die Reihe gebracht“11 (30a) wurde. Die schöpferisch tätige Instanz ist hier eine bildende, alles ineinander fügende Instanz. Im Kern einer australischen Weltanfangsidee steht gar der schaffend tätige Schlaf. So kann Karora, ein Nasenbeutler, im Schlaf (und aus sich selbst heraus) Nachkommen zeugen.12 Diese Vorstellung von der Zeugung und Vermehrung der eigenen Nachkommen im Schlaf sowie die Tatsache, dass das erste Lebewesen gewissermaßen außerhalb einer bestehenden, irgendwie gearteten Welt zu existieren scheint, erinnert stark an die eddische Vorstellung vom Beginn des Lebens. In der Völuspá der Lieder-Edda13 und der Gylfaginning der Prosa-Edda14 wird vom ersten lebendigen Geschöpf namens Ymir berichtet, das, ähnlich wie Karora, aus sich selbst heraus im Schlaf einen Sohn zeugen kann und sich dabei im zunächst nicht näher definierten Raum des „Ginnungagap“ befindet. Es ist bemerkenswert, dass Ursprungsvorstellungen offensichtlich nicht auf spezifische kulturelle, historische und geographische Räume und Kontexte beschränkt sind, sondern sich zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten parallele Ursprungsideen ausmachen lassen. Und ebenso bemerkenswert ist es, dass, so vielfältig die Weltanfangserklärungen insgesamt sein mögen, sie sich in gewissen Punkten überschneiden. In der Gylfaginning ist jedoch nicht nur die Rede vom Ursprung der lebendigen Wesen. Weiterhin findet sich auch eine Darstellung des Ursprungs der Welt. Die (lebendige) Welt ist in der Gylfaginning gewissermaßen ein Recyclingprodukt des Todes. Nachdem der zweigeschlechtliche Ymir für Nachkommen gesorgt hat, wird er von den Götterbrüdern Odin, Vili und Vé getötet,15 die aus dem Leichnam des Riesen die Erde formen: Das Meer und alle Gewässer sind Ymirs Blut, Ymirs Fleisch bildet das Festland, seine Knochen bilden die Felsen; seine Zähne werden zu Sand und Stein, und seine Schädeldecke wird als Himmel errichtet, den die drei Brüder über der Erde aufspannen, ehe in einem letzten Schritt Ymirs Gehirn in den Himmel geworfen wird und dort als Wolkenformation weiterbesteht.16 Der Tod des Riesen Ymir ist hier zugleich Grund und Voraussetzung für die Entstehung wieder neuen Lebens. Bei alledem steht Ymir am Anfang allen Lebens, ohne dass ihm selbst 10 Ebd., S. 33. 11 Ebd. 12 Die Geschichte von Karora erzählt Strehlow, Theodor George Henry: Aranda Traditions. Melbourne 1947, S. 7–14. 13 Die Völuspá wird im Folgenden zitiert nach: Kommentar zu den Liedern der Edda. Hg. von Klaus von See, Beatrice La Farge und Katja Schulz unter Mitwirkung von Simone Horst und Eve Picard. Band 1: Götterlieder, Teil I: Vǫluspá [R], Hávamál. Heidelberg 2019. 14 Die Gylfaginning wird im Folgenden zitiert nach: Snorri Sturluson: Gylfaginning. Texte, Übersetzung, Kommentar von Gottfried Lorenz. Darmstadt 1984 (Texte zur Forschung 48). Zum Begriff „Ginnungagap“ vgl. vor allem die Anmerkungen ebd., S. 107–109. 15 Vgl. Snorri, Gylfaginning, S. 152. 16 Vgl. ebd., S. 158–160.

Einleitung | 13

explizit ein Anfang zugeschrieben wird. In Snorris Erzählung ist er einfach da – ebenso wie die Götterbrüder, die zuständig dafür sind, dass aus Ymir neues Leben erwächst, einfach da sind. Der Riese und die Götter sind ewige Prinzipien. Einen Anfang ex nihilo gibt es nicht. Doch nicht nur Ymir, Odin, Vili und Vé sind in der Gylfaginning schöpferisch tätig und an der Entstehung neuen Lebens oder der Gestaltung der Erde beteiligt. Im Prolog der Gylfaginning wird zunächst auf einen allmächtigen Gott verwiesen, der am Anfang Himmel und Erde sowie zuletzt zwei Menschen mit Namen Adam und Eva erschaffen hat.17 Es ist dies offenkundig jener Gott, den auch die Genesis des Alten Testaments als Schöpfer des Himmels und der Erde ausweist. Bereits hier treten zwei Schöpfungstraditionen nebeneinander, ja gemeinsam auf. Snorri sah offensichtlich keinen Widerspruch darin, zwei Anfangserzählungen unmittelbar aufeinander folgen zu lassen. In der Literatur werden also keine abschließenden und allgemeingültigen Antworten auf die eingangs gestellte Frage danach, wie der Anfang des Himmels, der Erde und des Lebens ausgesehen haben könnte, gegeben. Es gibt ein Mehr an Vorstellungen, und das Beispiel Snorris zeigt, dass dieses Mehr auch zugelassen wird. Weil das Fragen nach dem Anfang der Welt und des Menschen zum Menschsein dazugehört, überliefern auch eine Vielzahl von Texten kosmogonische Theorien: Texte, die, so sollte der einleitend unternommene Ausflug gezeigt haben, den unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen und Denktraditionen, den unterschiedlichsten historischen Zeiträumen und Gegebenheiten entstammen. Dabei unterscheiden sich die Ursprungserzählungen in ihrer jeweiligen Vorstellung von dem, was am Anfang schon da ist, also in ihrer Vorstellung von der erschaffenden Instanz. Ihr mögliches Inventar ist aber immer auch beschränkt durch das Resultat der Schöpfungsbemühungen: Erde, Himmel, Lebewesen. So entstehen Übereinstimmungen und Überlappungen zwischen Texten, die in einer im Detail oft schwer nachvollziehbaren Weise an verschiedenen Orten motivlich parallele dichterische Ausgestaltungen des Erzählens vom Anfang der Welt und des Lebens hervorbringen. Jenen Übereinstimmungen und Überlappungen, aber auch Brüchen und Differenzen zwischen Texten wendet sich diese Arbeit zu. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Brüche und Differenzen zwischen Texten, in denen es um die Frage nach dem Anfang der Welt geht, nicht immer hingenommen und anerkannt wurden. In seiner Arbeit zu den Paradigmen zu einer Metaphorologie weist Blumenberg auf einen prominenten Fall hin, in dem der Versuch unternommen wurde, aus Brüchen Überlappungen zu machen, indem die erkannten Unterschiede zweier Ursprungserzählungen „ineinandergezwungen und verpreßt“18 wurden.

17 Vgl. ebd., S. 43. 18 Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1998 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1301), S. 116.

14 | Einleitung

So habe die „patristische Inversionstechnik“19 die im Timaios dargestellte demiurgische Schöpfung von der biblischen Genesis abstammen lassen, obwohl es sich bei der sorgfältig aufbauenden Hand des Demiurgen und dem schöpferische Kraft entfaltenden Mund Gottes um „zwei urverschiedene Metaphern des Ursprungs“20 handele. Jene Urverschiedenheit erklärt Blumenberg damit, dass die schöpferische Hand des Demiurgen-Baumeisters „erklären und zuschauen lassen“21, hingegen der Mund bzw. das Wort des biblischen Gottes gerade nichts erklären wolle. Blumenberg spricht damit die speziellen Effekte an, die mit den Metaphern Hand und Mund jeweils erzielt werden. Um den je speziellen Effekt von Metaphern geht es später auch Black.22 Für Black „ist es eine Hauptaufgabe für Theoretiker der Metapher, zu erklären, wie ein […] Ergebnis, das trotz seiner Vertrautheit verblüffend ist, zustande kommt“.23 Die Frage danach allerdings, wie es zu diesem oder jenem „Ergebnis“ kommt, ist doch nicht allgemeingültig zu beantworten. In seinen Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien weist Hübner darauf hin, dass die zeitgenössisch zur Verfügung stehenden erkenntnistheoretischen Ansätze den Metapherngebrauch vorgeben und gleichzeitig auch die Interpretation von Metaphern beeinflussen.24 Das heißt, dass Metaphern unterschiedlich interpretiert werden – je nachdem, in welcher Zeit sie gebraucht werden. So ergebe sich Hübner zufolge der „interpretatorische Habitus“25 antiker und mittelalterlicher Rhetoriker aus der Auffassung, dass „die Metapher dem eigentlich Gemeinten mittels einer begrifflichen Analogie eine Eigenschaft prädiziert, die das eigentlich Gemeinte ontologisch hat“26. Diese Auffassung hat es verhindert, dass im Mittelalter Metaphern eine Bedeutungsoffenheit zugeschrieben werden konnte, sondern im Gegenteil dafür gesorgt, dass die Bedeutung einer Metapher als fest und eindeutig galt. Obwohl gerade das Erzählen vom Weltanfang, so wird es bei Blumenberg deutlich, ohne Metaphern nicht auskommt, ist diese Arbeit keine metapherntheoretische Arbeit. Es ist nicht Gegenstand des Interesses, mit vorgelagerten Theorien spezielle Effekte von Metaphern und überhaupt deren Zustandekommen zu erklären.

Die in dieser Arbeit getroffene Textauswahl konzentriert sich auf jene Texte, die als früheste und frühe überlieferte Zeugnisse volkssprachlicher Literatur (im Gegensatz zur lateinischen 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Black, Max: Mehr über die Metapher. In: Theorie der Metapher. Hg. von Anselm Haverkamp. 2., um ein Nachwort zur Neuausg. und einen bibliographischen Nachtrag erg. Aufl. Darmstadt 1996, S. 379–413. 23 Ebd., S. 384. 24 Hübner, Gert: Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien. In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der Georg-August-Universität Göttingen vom 17.–20. Oktober 2002. Hg. von Arthur Groos und Hans-Jochen Schiewer unter Mitarb. von Jochen Conzelmann. Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), S. 113–153. 25 Ebd., S. 131. 26 Ebd.

Einleitung | 15

Literatur) gelten und die zu Beginn und im Verlauf der Christianisierung im heutigen europäischen Raum entstanden sind. Der Hinweis auf ihre Entstehung zu Beginn und im Verlauf der Christianisierung heißt jedoch nicht, dass in ihnen ausschließlich Weltursprungsszenarien entworfen werden, deren Inhalte sich mit denen der biblischen Genesis decken. So wie das Aufkommen einer volkssprachlichen Schriftlichkeit nicht bedeutet, dass die lateinische Literaturproduktion einfach abbricht, hat die fortschreitende Christianisierung nicht zur Folge, dass vorchristliche Vorstellungen einfach verschwinden. Insgesamt fünf Weltanfangsdarstellungen sollen im Folgenden genauer untersucht und an dieser Stelle zunächst kurz vorgestellt werden. Das älteste überlieferte Gedicht in altenglischer Sprache berichtet von Caedmon, der unverhofft vom Hirten zum Dichter avanciert, indem er den Wächter des Himmels, den Schöpfer von Himmel und Erde, in neun stabenden Langzeilen zu preisen vermag.27 Der Caedmon zugeschriebene Gesang findet sich in der Überlieferung des Moore Bede sowie des Saint Petersburg Bede zwar (auch) in altenglischer Sprache, erzählt wird die Geschichte des Hirten aber auf Latein, in Bedas Historia ecclesiastica gentis Anglorum. Das in der Volkssprache verfasste Lied wird Bedas lateinischem Text einmal als Marginalie, einmal als Nachtrag auf einer leeren Manuskriptseite beigestellt. Gelehrtensprache und Volkssprache stehen hier untrennbar neben- und miteinander. Auch im altenglischen Beowulf wird vom Weltanfang gesungen.28 Das Wissen um den Ursprung der Menschen wird hier einem Scop zugeschrieben, der beim Klang seiner Harfe von der Erschaffung der Erde sowie der Installation von Sonne und Mond kündet. Seine Kunst gibt er in der Halle Heorot vor den feiernden Dänen zum Besten, die wenig später vom mordgierigen Grendel überfallen werden, der sich vom nächtlichen Gesang des Scop offenbar gestört fühlt. Das althochdeutsche Wessobrunner Schöpfungsgedicht und Gebet, das in einer Handschrift aus dem neunten Jahrhundert überliefert ist, gibt Zeugnis über die Vorstellung des Davor und malt die Situation vor der Existenz der Welt, des Himmels oder der Berge aus, 27 Der Caedmon-Hymnus wird im Folgenden zitiert nach seinen beiden frühesten Überlieferungsträgern: Moore Bede [M], fol. 128v (Cambridge, University Library Kk. 5. 16) und Saint Petersburg Bede [P] (früher Leningrad Bede), fol. 107r (St. Petersburg, Russische Nationalbibl., Lat. Q. v. I. 18). Benutzt werden jeweils die Faksimile-Ausgaben: The Moore Bede. Historia ecclesiastica gentis anglorum. Cambridge University Library MS Kk. 5. 16. Preface by Peter Hunter Blair, with a contribution by R. A. B. Mynors. Copenhagen 1959 (Early english manuscripts in facsimile 9) und The Leningrad Bede. An eighth century manuscript of the Venerable Bede’s historia ecclesiastica gentis anglorum in the public library, Leningrad. Ed. by Olof Arngart. Copenhagen 1952 (Early english manuscripts in facsimile 2) sowie die kritische Edition O’Donnells: O’Donnell, Daniel Paul: Cædmon’s Hymn. A multi-media study, archive and edition. Woodbridge 2005, S. 206. 28 Der Beowulf wird im Folgenden zitiert nach: Klaeber’s Beowulf and the Fight at Finnsburg. Ed., with introduction, commentary, appendices, glossary, and bibliography by R. D. Fulk, Robert E. Bjork and John D. Niles with a foreword by Helen Damico. 4th edition. Toronto/Buffalo/London 2008.

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bevor im Gebetsteil Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde angesprochen wird.29 Ähnlich wie der altenglische Caedmon-Hymnus stehen der althochdeutsche Stabreimteil über den Zustand des Davor sowie der althochdeutsche Gebetsteil umrahmt vom Lateinischen: Der althochdeutsche Text ist unter der Überschrift de poeta überliefert und wird von einem lateinischen Spruch begleitet, der sich auf fol. 66r des Überlieferungsträgers an das Gebet anschließt. Auch der altsächsische Heliand 30 besitzt eine lateinische Praefatio sowie die Versus de poeta, wobei das Epos selbst in der Volkssprache verfasst ist. Der nur in einer Handschrift aus dem zehnten Jahrhundert überlieferte Heliand-Prolog ist von Interesse, da dieser eine Darstellung des Weltanfangs enthält, die eng an die Evangelisten geknüpft wird. Diese sind es hier, die das schöpfungshandelnde Wort Gottes an einer Stelle eingegeben bekommen und nun mit diesem Wort umgehen können. Der Heliand-Prolog fordert zu einem Vergleich mit dem im neunten Jahrhundert entstandenen Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg heraus.31 Dieses ist neben dem Heliand das umfangreichste überlieferte frühmittelalterliche literarische Zeugnis in deutscher Sprache. Das erste Kapitel des zweiten Buchs der Evangelienharmonie wird (in Hs. V) mit „In principio erat verbum“ überschrieben, worüber auch hier Anschluss an das Evangelium gesucht wird, indem an den Beginn des Johannesevangeliums appelliert wird, an dem auch der Beginn der Welt eine Rolle spielt.

29 Der althochdeutsche Text wird im Folgenden zitiert nach: Wessobrunner Gebet. In: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. Hg. von Elias von Steinmeyer. 2. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1. Aufl. Berlin 1916, S. 16. Die lateinische Überschrift sowie der lateinische Abschluss, die den althochdeutschen Text in seinem einzigen Überlieferungsträger einrahmen, werden dem althochdeutschen Text im Folgenden beigestellt und nach der Handschrift (München, Bayer. Staatsbibl., Clm 22053, fol. 65v und 66r) zitiert. 30 Der Heliand wird im Folgenden zitiert nach: Heliand und Genesis. Hg. von Otto Behaghel. 10., überarb. Aufl. von Burkhard Taeger. Tübingen 1996 (ATB 4). 31 Otfrids Evangelienbuch wird im Folgenden zitiert nach: Otfrids Evangelienbuch. Hg. von Oskar Erdmann. 6. Aufl. besorgt von Ludwig Wolff. Tübingen 1973 (ATB 49).

Einleitung | 17

2 Vorgehen und methodische Überlegungen

2.1 Zusammenschau: Die Perspektive auf das Verbindende Der Caedmon-Hymnus, der Beowulf, der Wessobrunner Schöpfungshymnus samt Gebet, der Heliand sowie Otfrids Evangelienbuch: Jeder der genannten Texte kann als ausgiebig erforscht bezeichnet werden. Dass sie nun in dieser Auswahl in eine Zusammenschau gestellt werden, ist neu. Zusammenschau meint, dass die altenglischen und althochdeutschen Texte sowie der altsächsische Text jeweils für sich und dann miteinander gelesen werden und nicht einzelne Texte als reine Vergleichsgrößen an einen anderen Text gelegt werden.1 Was die Texte miteinander verbindet und ihre Zusammenschau plausibel macht, ist das Darstellungselement des Weltanfangs. Das Verbindende zwischen den Sprachen, Texten und Kulturen des frühen Mittelalters ist es, für das die Forschung in der jüngsten Zeit wieder den Blick geschärft hat. Es wurde die Aufnahme der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem frühen Mittelalter sowie in diesem Zuge der verstärkte interdisziplinäre Austausch gefordert und forciert.2 Der 1 Der Caedmon-Hymnus und der Schöpfungsgesang des Scop im Beowulf etwa wurden in der Forschung immer wieder in Bezug zueinander gesetzt und miteinander gelesen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Bessinger, Jr., J. B.: Homage to Cædmon and Others. A Beowulfian Praise Song. In: Old English Studies in Honour of John C. Pope. Ed. by Robert B. Burlin and Edward B. Irving, Jr. Toronto 1974, S. 91–106, sowie Johnston, Andrew James: Beowulf und das Problem des absoluten Anfangs. Der Gesang des scop in Heorot. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hg. von Udo Friedrich, Andreas Hammer und Christiane Witthöft. Berlin 2014 (Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 3), S. 105–118. Auf Ähnlichkeiten des Gesangs des Scop im Beowulf und des Caedmon-Hymnus zum Wessobrunner Schöpfungshymnus wurde zwar hingewiesen, aber es blieb doch, auch weil das Forschungsinteresse woanders lag, beim generellen Hinweis darauf, dass Ähnlichkeiten in der Ausgestaltung der Schöpfungsdarstellung bestehen. Vgl. Schwab, Ute: Zum Wessobrunner Gebet. Eine Vorstellung und neue Lesungen. In: Romanobarbarica 10 (1988/89), S. 383–427, hier S. 401, oder auch Haubrichs, Wolfgang: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). 2., durchges. Aufl. Tübingen 1995 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I.1), S. 244. 2 Vgl. etwa LiLi 47/2 (2017), in deren Vorwort (Archäologie der Anfänge, S. 141–143) Bleumer, Herweg und Kipf nicht nur einen interdisziplinären Austausch fordern, sondern deren Beiträge selbst ein Beispiel für den interdisziplinären Austausch der Frühmittelalterforschung darstellen. Zum einen entstammen die Beiträge unterschiedlichen philologischen Perspektiven, zum anderen wird der historisch enge Begriff des Frühmittelalters weiter gefasst, sodass auch spätere Quellen (etwa im dreizehnten Jahrhundert aufgezeichnete skandinavische Texte) in den Blick genommen werden können. Das ermöglicht es, „Methoden- und Theorieangebote zu erproben, deren Validität für historisch spätere Phänomene schon erwiesen ist, die aber etwa für die älteste deutsche Literatur noch einer genaueren Überprüfung bedürfen“ (ebd., S. 142).

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interdisziplinäre Ansatz ergibt sich in der Forschung zur frühmittelalterlichen Geschichte, Literatur und Kultur nun wie selbstverständlich, bedenkt man, dass, so formuliert es Sahm, „Migrationen und Expansionen im Bereich der lateinisch-romanisch-germanischslawischen Kulturen“3, die „durch Prozesse der Integration und des Ausgleichs wesentlich gekennzeichnet [sind], […] das Europa des frühen Mittelalters als einen einheitlichen Kommunikationsraum in den Blick rücken“4. Für die Literatur im Speziellen hat schon Haubrichs den Blick für das Verbindende geschärft und die theodiske Literatur als mit der lateinischen Literatur, aber auch mit den volkssprachlichen Schwestersprachen verwoben herausgestellt.5 Es ist diese Perspektive auf das Verbindende (zwischen Sprachen, Texten, Kulturen), die die Vernetzung unterschiedlicher philologischer Disziplinen unerlässlich macht, wenn es um Untersuchungen frühmittelalterlicher Literatur in der Volkssprache geht. In der Vernetzung der Philologien, aber auch in der Auseinandersetzung der germanistischen Mediävistik mit dem frühen Mittelalter sieht Sahm letztlich nicht nur die Möglichkeit des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, sondern auch eine politische Notwendigkeit. So gehe es auch darum, den aus der Fachkompetenz im Umgang mit den Sprachen, Literaturen und Kulturen des frühmittelalterlichen Europa abgeleiteten und legitimierten Deutungsanspruch gegenüber ideologischen oder esoterischen Vereinnahmungen zu behaupten6.

Durch Migrations- und Expansionsbewegungen wurde Wissen weiträumig verbreitet und wurden neue Begriffe in Umlauf gebracht. Es entstanden Kontakte, Austausche und Anregungen, die sich auch in der Literatur widerspiegeln und die eine ideologische Vereinnahmung der Literatur im Hinblick auf deren nationale Identität unmöglich machen. Dabei können Kontakte und Austauschbeziehungen (vor allem fernab von Missionsbewegungen) aber nicht linear nachgezeichnet werden. So ist nicht mit abschließender Sicherheit zu sagen, welche Texte dem Verfasser eines Textes, der vom Weltanfang kündet, zugänglich waren bzw. welche erzählten Geschichten er gekannt hat. Vor allem dann nicht, wenn hinter dem überlieferten Text eine orale Tradition steht. Welche Wege Erzählungen gegangen sind, die vielleicht über Jahrhunderte ausschließlich mündlich tradiert wurden, ist im Detail nicht 3

Sahm, Heike: „Die ich rief, die Geister …“ – Kurzes Plädoyer für eine interdisziplinär integrierte Frühmittelaltergermanistik. In: LiLi 47/2 (2017), S. 155–165, hier S. 164. 4 Ebd. 5 Grundlegend zu den Bedingungen der frühmittelalterlichen volkssprachlichen Literatur: Haubrichs, Die Anfänge, S. 4: „Verwoben ist die volkssprachige Literatur des Mittelalters mit der in viele Äste, theologische, wissenschaftliche, juristische, poetische und andere, verzweigten lateinischen Literatur, aber auch mit den Schwestersprachen der Romania und der Angelsachsen, jedes Einzelstück für sich in eigenem Geflecht sitzend und nur selten zu literarhistorischer Kontinuität gelangend.“ 6 Ebd., S. 164 f.

Zusammenschau: Die Perspektive auf das Verbindende | 19

zu rekonstruieren. Austauschbeziehungen sind hier längst unsichtbar geworden. Gerade vor diesen unklaren Hintergründen fällt es auf, dass in verschiedenen europäischen Volkssprachen gehäuft Weltanfangserzählungen überliefert sind. Klar ist damit zumindest so viel, dass nicht wenige Verfasser frühester literarischer Zeugnisse in der Volkssprache für sich entschieden haben, dass das Thema Weltanfang eines ist, das literarisch behandelt werden will. Diese dichterische Entscheidung verbindet ihre Texte in der heutigen Wahrnehmung miteinander, ohne dass man zwangsläufig unmittelbare Kontakte zwischen ihnen ansetzen muss. Die folgende Untersuchung macht es sich zum Ziel, jenes Verbindende zwischen den Texten näher zu fassen. Über die Feststellung hinaus, dass Textschaffende des frühen Mittelalters für sich die Entscheidung getroffen haben, den Weltanfang zu behandeln, soll zum einen geprüft werden, ob und inwieweit die jeweiligen konkreten Gestaltungen des Themas übereinstimmen. Zum anderen wird gefragt, was es ist, das die Darstellung des Weltanfangs verlangt und wie der Weltanfang funktionalisiert wird. Im Folgenden wird der weitere Umgang mit jenen Texten, die auf diese Fragen untersucht werden sollen, näher erläutert.

2.2 Vom Großen ins Kleine: Das Wort Die literarische Darstellung vom Weltanfang ist jeweils eingebunden in einen bestimmten erzählerischen Kontext: Sie erfolgt an einem bestimmten Punkt der Handlung, die Erzählung vom Beginn der Welt wird bestimmten Figuren in den Mund gelegt usw. Die Beziehung der jeweiligen Weltanfangsdarstellung zu ihrem erzählerischen Kontext ist stets mitzuberücksichtigen, wobei der Zugang zu diesem Gesamtszenario, das heißt zur Darstellung des Weltanfangs und ihrem unmittelbaren Erzählkontext, stets über das einzelne Wort gesucht wird. Dieses Vorgehen gründet auf der Annahme, dass das Wissen um die Bedeutung des Wortes bei den Verfassern der hier relevanten Texte bekannt war und das einzelne Wort ganz bewusst ausgesucht und platziert wurde. Die Voraussetzung dieser Annahme geht auf Isidor von Sevilla zurück, der in seinen Etymologiae zeigt, dass die Namen, mit denen Phänomene belegt werden, immer auch etwas über das Wesen der Phänomene aussagen.7 Isidor, der schon im frühen Mittelalter rezipiert und (ins Althochdeutsche) übersetzt wurde, erklärt die Phänomene aus der Geschichte des Wortes heraus, das dem Phänomen als Name dient. Die Welt („mundus“) etwa erklärt Isidor über das griechische Wort „κοσμος“ (kosmos), das dieselbe Bedeutung wie „mundus“ habe (XIII, i, 2).8 Kosmos bedeute auch Schmuck, weshalb auf das Wesen der Welt wie folgt geschlossen werden kann: Die Welt 7 Isidors Etymologiae werden im Folgenden zitiert nach: Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive originum libri XX. Rec. brevique adnotatione critica instruxit W. M. Lindsay. Oxford 1911. 8 Vgl. die deutsche Übersetzung von Möller: Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Übers. und mit Anm. versehen von Lenelotte Möller. Wiesbaden 2008, S. 491.

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zeichnet sich durch ihre Schönheit aus, die herrührt von der Vielfalt ihrer Elemente sowie der Schönheit der Sterne. Das Phänomen wird hier über den Namen, der ihm gegeben wird, erklärt und fassbar gemacht. Der Verweis auf die Etymologie ergibt sich aus der Bedeutung Isidors zur Zeit der Entstehung der zu besprechenden Texte. Isidor belegt ein Bewusstsein für die Beschreibungsgewalt des einzelnen Wortes, das aufgrund dieser ihm zugeschriebenen Beschreibungsgewalt von Textherstellern bewusst gewählt und gesetzt wird. Dass in einer Zeit, in der eine volkssprachliche Schriftlichkeit entsteht, ein in lateinischer Tradition stehendes Wortbewusstsein herrscht, ist in einiger Hinsicht plausibel anzunehmen. So finden sich etwa im Codex Clm 22053, vor dem Eintrag des Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebets, Worterklärungen zu Isidors Etymologiae.9 Wichtig ist anzumerken, dass die Etymologie dennoch nicht zum Instrument der Erkenntnisgewinnung dieser Arbeit erhoben wird.10 Wenn, wie oben ausgeführt, der Zugang zum dargestellten Gesamtszenario über das einzelne Wort gesucht wird, dann geht es weniger darum, seiner Herkunft nachzuspüren, sondern eher um seine Verwendung in einem Text und um seine konkrete Bedeutung11, die ihm in diesem Text zukommt. Darüber hinaus sollen die einzelnen Quellen einander aber auch vergleichend gegenübergestellt werden: Gibt es Wörter, die in mehreren Weltanfangsdarstellungen vorkommen? Gibt es Wörter, die erst hinzutreten? Zu dem zu untersuchenden Ensemble aus Herkunft, Verwendung und Bedeutung tritt also auch der Aspekt der Bewegung von Wörtern. Das Interesse gilt hierbei der Sichtbarmachung von Übereinstimmungen wie der Sichtbarmachung von Unterschieden, um zu rekonstruieren, in welchen Grenzen sich das Erzählen vom Weltanfang bewegt. Die hier zugrunde liegende Frage ist die, ob es Wörter und Vorstellungen gibt, die als eine Art Kern des Narrativs gelten können, weil sie immer wieder vorkommen und weil deren Vorkommen in einem den Weltanfang behandelnden Text für diejenigen, die an seiner Herstellung beteiligt sind, also offensichtlich relevant ist.

9 Vgl. München, Bayer. Staatsbibl., Clm 22053, fol. 47v–65r. 10 Dass dies leicht auf einen „Holzweg“ führt, hat Gauger gezeigt: Vgl. Gauger, Hans-Martin: Über Sprache und Stil. München 1995 (Beck’sche Reihe 1107), S. 62–81. 11 Damit ist nun nicht ein ursprünglicher Bedeutungskern gemeint, dem eine Art überzeitliche Wahrheit zugesprochen wird. Mit Gauger, ebd., S. 69, wird Bedeutung als etwas Bewegliches aufgefasst: „Ein Wort ist ein Kontrakt auf Zeit, den eine Sprachgemeinschaft mit einem Lautzeichen […] in bezug auf einen bestimmten Inhalt geschlossen hat“.

Vom Großen ins Kleine: Das Wort | 21

2.3 Vom Kleinen ins Große: Der mehrfache Kontext Im Hinblick auf diese Fragen werden Texte untersucht, in denen sich einerseits Darstellungen des Weltanfangs finden und die andererseits zu den frühesten überlieferten volkssprachlichen Textzeugnissen zählen. So kann man von einem Anfang im doppelten Sinn sprechen: Am Anfang der Literaturproduktion in der eigenen Sprache steht häufig auch ein Erzählen vom Anfang (der Welt). Die Leistung der Verfasser jener frühen volkssprachlichen Texte besteht damit nicht nur darin, Ursprungswissen weiterzugeben, sondern auch darin, Ursprungswissen erstmals in der eigenen Sprache aufzuschreiben oder aufschreiben zu lassen, nachdem in den Jahrhunderten zuvor ausschließlich in der Gelehrtensprache geschrieben wurde. Hinter der schriftlichen Fixierung von Wissen in der Volkssprache steht damit auch eine große Übersetzungsleistung: Wissen wird von der Gelehrtensprache in die Volkssprache übersetzt. Vor allem am Beispiel des im neunten Jahrhundert entstandenen Evangelienbuchs Otfrids zeigt sich, dass diese Leistung alles andere als gering zu schätzen ist. Als erster mit Namen überlieferter volkssprachlicher Autor sieht sich Otfrid in der Pflicht, sein Vorhaben, das Evangelium „in frenkisga zungun“ (I, 1, 114) wiederzugeben, zunächst zu erklären. Auch die eigene Sprache besitze „rihti“ und „slihti“ (I, 1, 36) und sei imstande, Gottes Wort in angemessener Weise erklingen zu lassen. Die Franken sollen daher nicht davon absehen, Gott zu besingen und zu preisen und auf ihre Weise, in ihrer eigenen Sprache nämlich, Anteil am christlichen Glauben zu haben (vgl. I, 1, 31–40). Die lateinische Literaturtradition und auch die orale Tradition des Erzählens, die ebenso zur Vor- und Mitgeschichte volkssprachlicher Schriftlichkeit gehört12, werden durch jene frühe volkssprachliche Schriftlichkeit natürlich nicht aufgegeben oder abgelöst; es wird aber ein neuer Weg des literarischen Ausdrucks geschaffen und es entsteht eine neue Gruppe Rezipierender.13 Die frühe volkssprachliche Literatur ist also geprägt von der Transferleis12 Vgl. dazu Haubrichs, Die Anfänge, S. 3 f.: „Volkssprachige Literatur des frühen Mittelalters wächst hervor aus der nur in ihren verschrifteten Reflexen noch faßbaren, aus ihrer Latinisierung und historischen Akkulturation erschließbaren, ja oft nur aus ihrer bloßen Erwähnung rekonstruierbaren mündlichen Dichtung der Stämme und ihrer führenden Schichten.“ 13 Wie diese Gruppe aussah und wer ihr angehörte, kann im Einzelnen nicht rekonstruiert werden. Es ist jedoch zu erwähnen, dass auch Frauen Zugang zu jenen frühen volkssprachlichen Texten hatten. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang etwa auf die von Otfrid im Approbationsschreiben an Liutbert genannte Judith: „veneranda[] matrona[] […] nomine Judith“ (Liutb., 8 f.). Otfrid erklärt, er sei von jener Judith gefragt worden, ob er nicht ein Evangelienbuch in der Volkssprache verfassen könne. Vgl. zu dieser Judith Haubrichs, Wolfgang: Laien, Klerus, Mönche, König als Anreger und Rezipienten des volkssprachigen Evangelienbuchs Otfrids von Weißenburg (a. 863/71). In: Konstanz und Wandel. Religiöse Lebensformen im europäischen Mittelalter. Hg. von Gordon Blennemann, Christine Kleinjung und Thomas Kohl. Affalterbach 2016 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 11), S. 71–112. Obwohl man über Judith nicht viel erfährt, geht Haubrichs der Identifizierung Judiths nach und vermutet „die in Schwaben begüterte Tochter der Kaisertochter Gisela und des

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tung ihrer Verfasser, die sich im Spannungsfeld zwischen oraler und schriftlicher Tradition, zwischen Gelehrtensprache und Volkssprache befinden und die nicht zuletzt auch mit einer aufkommenden christlichen Tradition umgehen müssen. Es geht darum, sich inmitten von alten und neuen Traditionen und Wissensordnungen zu verorten. Die Darstellung vom Weltanfang ist damit nicht nur eingebunden in einen bestimmten Erzählkontext, sondern auch in einen der Erzählung übergeordneten Kontext einer Schwellensituation, in der das frühe literarische Schaffen in der Volkssprache stattfindet. Die Literaturwissenschaft kann sich jener Schwellensituation bzw. genereller: den historischen Umständen, unter denen ein Text entstanden ist, annähern. Sie kann sogar versuchen, diese zu rekonstruieren. So kann etwa die Parallele zwischen dem Prolog der Gylfaginning und Gen 1 des Alten Testaments durch die vorangegangene Besiedlung Islands durch Christen sowie die Missionsbemühungen der Mächtigen erklärt werden.14 Der Text Snorris reagiert hier zunächst auf die besonderen Bedingungen seiner Zeit, in der Island längst christlich Markgrafen Eberhard von Friaul“ als „Projektfigur zur Identifizierung mit Otfrids veneranda matrona, deren intellektuelle und geistliche Interessen von ihm so intensiv charakterisiert werden, zumal der Name zur Otfridzeit äußerst selten war, die Chronologie ganz ausgezeichnet passt und Otfrid weitere noch näher zu zeichnende Verbindungen nach Schwaben besaß“ (vgl. ebd., S. 81). Haubrichs weist außerdem auf die Annahme der älteren Forschung hin, die von Otfrid erwähnte Judith sei die Frau des Grafen Adalbert Illustris (vgl. ebd.). Erwähnenswert ist auch der Hicila-Vers, eine Griffelritzung in Hs. P (Heidelberg, Universitätsbibl., Cod. Pal. lat. 52, fol. 90r) des Evangelienbuchs Otfrids, die entweder „Hicila diu scona min filu l[a]s“ (Die edle Hicila hat viel in mir gelesen) oder „hicila diu scoaza nuiz filo“ (Die liebliche Hicila benutzte [dieses Buch] häufig) gelesen wird. Zum Hicila-Vers vgl. Hartmann, Heiko: Hicila-Vers. In: Althochdeutsche und altsächsische Literatur. Hg. von Rolf Bergmann. Berlin/ Boston 2013, S. 163 f. Zu abweichender Lesung vgl. jedoch zuletzt Haubrichs, Laien, Mönche, König als Anreger und Rezipienten, S. 100. Haubrichs liest (nach Autopsie): „Kicila diu scona min filo l(a) s“ (Gisela, die edle, hat viel in mir gelesen). Zwar ist nichts über Kicila/Hicila bekannt, aber es beweist der in die Handschrift eingeritzte Vers doch, dass Otfrids Evangelienbuch nicht nur hörend, sondern auch lesend rezipiert wurde und Hs. P eben auf diese Weise von einer Leserin studiert wurde. Zeugnis einer hörenden Rezipientin liefert etwa Beda, in dessen Historia ecclesiastica die Äbtissin Hild Caedmons Gesang vernimmt und daraufhin dessen Aufnahme ins Kloster veranlasst. Frühmittelalterliche Zuhörerinnen und Leserinnen müssen daher ebenso vorausgesetzt werden wie Zuhörer und Leser. Im Folgenden wird daher von den Rezipierenden die Rede sein. 14 Die Parallelen zwischen Gen 1 des Alten Testaments und dem Prolog der Gylfaginning, in dem der allmächtige Gott als Errichter des Himmels und der Erde sowie Schöpfer Adams und Evas ausgewiesen wird, sind sicherlich kein Zufall. Island war zum Zeitpunkt der Entstehung der Prosa-Edda längst christlich. Vgl. etwa Zander, Helmut: „Europäische“ Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im internationalen Vergleich. Berlin/Boston 2016. Zander macht darauf aufmerksam, dass durch die Freilegung etwa der „Kirche von Foransstadir, die seit dem frühen 11. Jahrhundert bestand“ (ebd., S. 214), eine Besiedlung der Insel durch Christen bereits vor 1000 angenommen werden kann. Zum Ende des zehnten Jahrhunderts sahen sich die Einwohner Islands dann auch dem „Druck des norwegischen Königs Olf Tryggvason zur Abkehr vom Heidentum ausgesetzt“ (ebd., S. 213), weshalb die freien Männer Islands im Jahr 1000 zum Allthing zusammenkamen, wo der endgültige Beschluss der Taufe gefasst wurde (vgl. ebd., S. 213 f.).

Vom Kleinen ins Große: Der mehrfache Kontext | 23

ist, ehe er den Beginn der Welt anschließend aus einer ganz anderen Perspektive darstellt, die nichts mehr mit den biblischen Darstellungen von Weltanfang zu tun hat. Doch mit solchen Erklärungen und Einschätzungen ist die Wirklichkeit eines Textes und jener, die an seiner Herstellung mitgewirkt haben, nie vollständig zugänglich. Die Rekonstruktion der historischen Umstände, unter denen Texte entstehen, verrät noch nichts über ihre je eigenen diskursiven Regeln, die eben im Hinblick auf genau diese Umstände festlegen, was zu sagen wahr bzw. nicht wahr ist. In seinen Überlegungen zur Ordnung des Diskurses geht Foucault davon aus, dass jede Zeit, jede Epoche die Grenzen absteckt, innerhalb derer gesprochene oder geschriebene Dinge als wahr oder falsch gelten. Im Zuge dieses Gedankens, dass jede Zeit oder Epoche ihre eigenen diskursiven Regeln hat, kommt Foucault auf Mendel zu sprechen, dessen Beobachtungen und Erkenntnisse zweifellos immer schon wahr gewesen seien; jedoch habe diese Wahrheit in seiner Epoche noch nicht erkannt werden können.15 Mendels Gegenstände und Methoden, so erklärt Foucault, waren der Biologie des neunzehnten Jahrhunderts schlicht nicht vertraut, und obwohl er die Wahrheit sagte, war er dennoch „nicht ‚im Wahren‘ des biologischen Diskurses seiner Epoche“16, in der „biologische Gegenstände und Begriffe […] nach ganz anderen Regeln gebildet“17 wurden. Alle gesprochenen oder geschriebenen Äußerungen vollziehen sich nun innerhalb der diskursiven Regeln ihrer Zeit, die vorgeben, was in dieser Zeit zu sagen richtig oder falsch ist. In Bezug auf literarische Äußerungen heißt das, dass all das, was ein Individuum schreibt und was es nicht schreibt, was es entwirft, und sei es nur eine flüchtige Skizze, was es an banalen Äußerungen fallen läßt – dieses ganz differenzierte Spiel […] von der Autor-Funktion vorgeschrieben [ist], die es von seiner Epoche übernimmt oder die es seinerseits modifiziert18.

Die Produktion von Texten ist damit bestimmten Regeln unterworfen, die in der Zeit der Textentstehung anerkannt sind und an die sich der Autor, der die Regeln kennt, halten kann oder nicht. Wenn es im Folgenden um das Erzählen vom Weltanfang geht, so ist dieses eingebunden in einen bestimmten diskursiven Kontext. Dabei kann ein bestimmter diskursgeschichtlicher Kontext selbstverständlich nicht von außen in die zu untersuchenden frühmittelalterlichen Texte hineingelesen werden. Es kann nur davon ausgegangen werden, dass er sich in die Logik des Textes eingeschrieben hat und dass das Textgewebe selbst seine diskursgeschichtlichen Voraussetzungen freilegen kann. 15 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 1991 (Fischer Wissenschaft 10083), S. 24 f. 16 Ebd., S. 25. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 21.

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An diesem Punkt der Überlegungen ruht der Blick wieder ganz auf dem Text, der letztlich die in der literaturwissenschaftlichen Untersuchung allein zu befragende Instanz ist. Die textimmanente sowie die vergleichende Untersuchung von Texten, die den Weltanfang darstellen, konturieren einen Rahmen, in dem ein Denken vom Weltanfang stattfindet. Innerhalb dieses Rahmens werden sprachliche Bilder entworfen, die im Folgenden nachgezeichnet werden sollen. Dabei wird sich zeigen, ob es Bilder gibt, die die Texte miteinander teilen. Während sich jene Bilder innerhalb des Rahmens ganz auf der Ebene der erzählten Handlung befinden, soll außerdem das Bewusstsein für die Tatsache geschärft werden, dass sich das Erzählen vom Weltanfang immer auch in einem übergeordneten, größeren Rahmen, also im Kontext der diskursiven Regeln seiner Zeit vollzieht. Das bedeutet, dass der Erzählrahmen und das, was er präsentiert, Ausdruck dieser Regeln ist und nicht spontaner Ausdruck einer Laune, aus der heraus der Anfang der Welt entweder so oder so erzählt wird. In der Perspektive auf das Verbindende, das zunächst allein in der Tatsache, dass vom Weltanfang erzählt wird, besteht, soll nun untersucht werden, ob sich auch in der jeweiligen literarischen Ausgestaltung des Weltanfangs, in der das einzelne Wort bewusst platziert und das Erzählen generell den diskursiven Regeln seiner Zeit unterworfen ist, verbindende Elemente ausmachen lassen.

Vom Kleinen ins Große: Der mehrfache Kontext | 25

3 Begriffsklärung: Welche(n) Namen hat der Anfang?

3.1 Ausgangspunkt der Überlegungen Schaut man sich die Titel einiger neuerer deutschsprachiger Arbeiten an, die sich mit der Frage, wie sich verschiedene Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten den Anfang des Seienden vorgestellt haben, beschäftigen, fällt auf, dass dieser Anfang oftmals mit der Entstehung der Welt in eins gesetzt wird.1 Es ist die Welt, die mit den Begriffen Anfang, Entstehung und Erschaffung zusammengebracht wird und die diesen Punkt des Anfangs, von dem alles andere ausgeht, allein zu markieren scheint. Dabei zeigt sich, dass Begriffe wie Weltanfang oder Weltentstehung auch synonym mit dem Begriff Schöpfung verwendet werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sich das, was Schöpfung sein soll, einzig auf die Erschaffung der Welt erstreckt bzw. umgekehrt die Erschaffung der Welt gemeint ist, wenn von Schöpfung die Rede ist. Aber auf welche Aspekte des Erschaffens oder des Geschaffenen beziehen sich diese Begriffe jeweils? Und in welchem Verhältnis steht die Welt zur Schöpfung? Diesen Fragen soll in diesem Kapitel, das der Sensibilisierung für die Begriffe Schöpfung und Welt(-Anfang, -Entstehung usw.) und damit der Schärfung des eigenen Begriffsinstrumentariums dient, nachgegangen werden.

3.2 Schöpfung Während im Zusammenhang mit literarischen Darstellungen erster Dinge und ersten Lebens die Welt mit Begriffen wie Anfang oder Entstehung zusammengebracht wird, wird die Schöpfung bisweilen mit dem Begriff des Mythos in Verbindung gebracht.2 Dies scheint zunächst sinnvoll, wie ein kurzer Exkurs zeigen soll: In seiner Arbeit am Mythos erklärt Blumenberg, dass der Mythos das menschliche Bedürfnis, sich in der Welt zuhause zu fühlen und zurechtzufinden, befriedige.3 Denkt man sich den Menschen als einen in die Welt gestellten Menschen, kann er nicht Augenzeuge ihrer Entstehung gewesen sein. Obwohl er 1

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So etwa in dem 2016 von Marion Gindhardt und Tanja Pommerening herausgegebenen Band Anfang und Ende, Vormoderne Szenarien von Weltentstehung und Weltuntergang, oder: Die Entstehung der Welt. Schöpfungsmythen aus dem Alten Ägypten nach dem Buch von Fayum. Hg. von Horst Beinlich. Dettelbach 2014, sowie: Die Erschaffung der Welt – alte und neue Schöpfungsmythen. Hg. von Dorothea Klein. Würzburg 2012. Vgl. den Verweis auf die „Schöpfungsmythen“ im Titel ebd. Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Sonderausg. der 5. Aufl. 1990. Frankfurt a. M. 1996, S. 127.

26 | Begriffsklärung: Welche(n) Namen hat der Anfang?

bei der Schöpfung nicht dabei war, erzählt er aber von ihr und sucht sich auf diese Weise einen Zugang zum Anfang allen Seins zu verschaffen. Es ist der Mythos, der Blumenberg zufolge zur „Ausdrucksform dafür [wird], daß der Welt und den in ihr waltenden Mächten die reine Willkür nicht überlassen ist“4, indem er all dem Unbekannten einen Namen gibt und eben jene Geschichten erzählt, in denen „Erklärungen für das Unerklärliche, […] Benennungen für das Unnennbare“5 gegeben werden. Blumenberg stellt den Menschen als „homo pictor“6 vor, der sich die Welt nach seinem Bild malt und die Welt aus diesem Bild heraus auch begreift. Schon Cassirer hatte formuliert, dass sich das Ich „in seinen eigenen Produkten eine Art von ‚Gegenüber‘ [schafft], das ihm als durchaus objektiv, als rein gegenständlich erscheint“7. Mythisches Denken bedingt das menschliche Bewusstsein für die Umwelt also maßgeblich, wobei Cassirer vor allem den Göttern eine bedeutende Rolle zuweist, da der Mensch in diesen letztlich sich selbst erkennen könne.8 Den Schöpfergott zählt Cassirer dabei zu den „mythischen Urmotiven“9, die sich dadurch auszeichneten, dass sie „als solche keiner weiteren Ableitung und ‚Erklärung‘ mehr fähig und bedürftig zu sein scheinen“10. Durch seine Gottesanschauung gelinge es dem Menschen letztlich, sich als ein zur Handlung fähiges Subjekt zu erkennen: Denn der Mensch überträgt nicht einfach seine eigene, fertig-ausgestaltete Persönlichkeit auf den Gott und leiht diesem nicht schlechthin sein eigenes Selbstgefühl und Selbstbewußtsein: sondern die Gestalt seiner Götter ist es, an der er dieses Selbstbewußtsein erst findet. Durch das Medium der Gottesanschauung gelangt er dazu, sich selbst als tätiges Subjekt vom bloßen Inhalt des Tuns und von dessen dinglichem Ertrag loszulösen11. Die Funktion des Mythos lässt sich nun wie folgt benennen: Der Mythos verleiht der Welt Bedeutsamkeit und führt sie an den Menschen heran, der seine eigene Rolle in der Welt auf diese Weise begreift. Es sind erzählte Geschichten, die einen Zugang zu den Bedingungen der eigenen Existenz ermöglichen. In diesem Zusammenhang scheint es plausibel, Erzählungen, die sich der Schöpfung zuwenden, als Mythen zu bezeichnen, weil sie eben Auskunft darüber geben, wie man sich jenes eigentlich Unerklärliche narrativ zu eigen, also erklärbar gemacht hat. Es ist dabei jedoch nicht zu vergessen, dass sich die Funktion dessen, was in den Texten, die im Folgenden besprochen werden sollen, erzählt wird, wohl nicht allein in der Welterklärung erschöpft: Literarische Schöpfungsdarstellungen sind schließlich eingebunden in einen ganz bestimmten Erzählrahmen, innerhalb dessen sie wiederum eine bestimmte

4 5 6 7

Ebd., S. 50. Ebd., S. 11. Ebd., S. 14. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. 9., unv. Aufl. Darmstadt 1994, S. 259. 8 Vgl. ebd., S. 245: „Denn das Ich, das eigentliche ‚Selbst‘ des Menschen findet sich erst auf dem Umweg über das göttliche Ich.“ 9 Ebd., S. 247. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 253.

Schöpfung | 27

narrative Funktion erfüllen, und sie finden sich eben immer wieder in jenen frühesten überlieferten volkssprachlichen Texten, was auf eine literaturgeschichtliche Relevanz dieser Darstellungen hinweist. Die Darstellung von Schöpfung besitzt somit sicherlich mehr als eine rein mythische Funktion.

So wenig Schöpfungserzählungen eine einzige, rein mythische Funktion besitzen, so wenig kann von einem einzigen, allgemeingültigen Schöpfungsbegriff ausgegangen werden. Der Schöpfungsbegriff, wie er heute verwendet wird, unterscheidet sich stark vom Schöpfungsbegriff der Zeit, in der die Texte entstanden sind, um die es im Folgenden gehen wird. Der mit neuhochdeutsch Schöpfung verwandte althochdeutsche Begriff „skepfeda“ ist nur bei Notker belegt und Meineke zufolge als „-ida-Ableitung von der verbalen Basis ‚scepf-‘‚ anzusehen“12. „Skepfeda“/„skepfedo“ steht bei Notker für positio, dispositio und auch für ratio.13 Das Lexem wird aus etymologischen Gründen synonym zu „scaffunga“ verwendet,14 das ebenfalls nur bei Notker belegt ist. In Notkers Übersetzung der Boethius-Bearbeitung der aristotelischen Categoriae wird „skepfeda“ im zweiten Buch für „positio“ gesetzt: „Quod autem non est permanens . quomodo hoc positionem aliquam habebit? Táz nehéina uuîla úngeuuéhselôt neíst . uuîo mág táz háben státa . álde kelégenî . álde sképfeda?“15 Es wird hier allerdings nicht nur „skepfeda“ für „positio“ gesetzt, sondern werden neben „skepfeda“ auch „stata“ und „kelegenî“ genannt und damit insgesamt drei Aspekte von „positio“ beleuchtet. Alle drei Aspekte beziehen sich auf jene Dinge, die „permanens“ und auf bestimmte Art und Weise im Raum angeordnet und eben genau so beschaffen sind, dass sich ihre (An-) Ordnung oder Lage im Raum nicht verändert. „Skepfeda“ bezieht sich so auf die spezifische Beschaffenheit von Dingen, die als „permanens“ gelten.16 Die Bedeutung von „skepfedo“ für „ratio“ ist vergleichbar mit der Bedeutung von „skepfedo“ für „positio“, die am ehesten mit Beschaffenheit wiedergegeben werden kann. Im zweiten Buch der Bearbeitung der Consolatio des Boethius heißt es an einer Stelle: „Quod hoc ipsum septum breuis habitaculi . plures nationes incolunt . distantes lingua . Moribus . ratione totius uite. Dáz in démo sélben smálen ána-sídele . mânige dîete bûent . úngeliche 12 Meineke, Birgit: Althochdeutsche -scaf(t)-Bildungen. Göttingen 1991 (Studien zum Althochdeutschen 17), S. 172. 13 Vgl. Sehrt, Edward H.: Notker-Glossar. Ein althochdeutsch-lateinisch-neuhochdeutsches Wörterbuch zu Notkers des Deutschen Schriften. Tübingen 1962, S. 182. 14 „Schöpfen“. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. M–Z. Erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. 2. Aufl. Berlin 1993, S. 1237. Vgl. hierzu Meineke, Althochdeutsche -scaf(t)-Bildungen, S. 173, die „scaffunga“ aus „inhaltlichen Gründen“ neben „skepfeda“/„skepfedo“ stellt. Ob sich Bedeutungsübereinstimmungen zwischen beiden Begriffen ausmachen lassen, ist noch zu klären. 15 Notker der Deutsche: Boethius’ Bearbeitung der „Categoriae“ des Aristoteles. Hg. von James C. King. Tübingen 1972 (ATB 73), S. 50 f. 16 Zur Übersetzung von „skepfedo“ vgl. auch Meineke, Althochdeutsche -scaf(t)-Bildungen, S. 173. Meineke übersetzt mit „die (feste) Beschaffenheit einer Sache, die beständig ist“.

28 | Begriffsklärung: Welche(n) Namen hat der Anfang?

éinánderên . in sprâcho . únde in síten . únde in álles íro lîbes sképfedo“17. „Lîbes skepfedo“ steht hier im Kontext der Ausführung des Gedankens, dass die Menschen, auch wenn sie auf engstem Raum mit- und nebeneinander leben, doch ganz unterschiedlich sind. Diese Unterschiede manifestieren sich zum einen konkret in den jeweils gesprochenen Sprachen oder in den jeweils ausgeübten kulturellen Praktiken; zum anderen werden sie auf einer viel grundsätzlicheren Ebene angesiedelt, indem davon ausgegangen wird, dass jeder Mensch eine ihm eigene Beschaffenheit oder Verfassung mitbringt,18 wenn er in die menschliche Gesellschaft eintritt. In Notkers Consolatio-Bearbeitung steht „skepfedo“ weiterhin auch für „dispositio“, wobei „skepfedo“ auch hier wohl am ehesten mit Beschaffenheit zu übersetzen ist: „Ex meane dispositione mutabitur scientia diuina? Éin uuanchot nu gótes uuizentheit . nâh mînero sképfedo . díu mír míttundes ûf uuírdet?“19 „Skepfedo“ tritt hier mit Possessivpronomen auf und wird darüber an den Menschen gebunden, der eine ihm eigene Anlage oder Beschaffenheit erkennt, die durch eine höhere Macht verursacht wurde.20 „Skepfeda“/„Skepfedo“, so lässt sich bis hier festhalten, steht bei Notker für die Anlage oder spezifische Beschaffenheit von Dingen oder Menschen. Ob sich bei Notkers Verwendung von „scaffunga“ tatsächlich Übereinstimmungen mit der Verwendung von „skepfeda“/„skepfedo“ erkennen lassen, soll abschließend geprüft werden. „Scaffunga“ steht bei Notker für forma, lex, dispositio und moderatio.21 Im Fall des Setzens von „scaffunga“ für „forma“ zeigt sich durchaus eine inhaltliche Übereinstimmung mit dem Begriff „skepfeda“: „illud certe manifestum est . prouidentiam inmobilem formam esse gerendarvm rerum […] sô íst îo dáz kuís . prouidentiam uuésen stílla . únde éinstûodela scáffunga dero geskéhen súlndôn díngo“22. Es scheint in dieser Passage die Vorstellung auf, dass die göttliche „providentia“ die unbewegliche Wesensform ist, durch die Dinge hervorgebracht oder ausgeführt werden. Die Dinge werden damit nicht etwa ad hoc hervorgebracht, sondern sind in ihrer spezifischen Form oder Beschaffenheit seit jeher so und nicht anders, eben unbewegt (vielleicht als Idee?), da.

17 Notker der Deutsche: Boethius, „De consolatione Philosophiae“. Buch I/II. Hg. von Petrus W. Tax. Tübingen 1986 (ATB 94), S. 98. 18 Zur Übersetzung von „lîbes skepfedo“ vgl. auch Meineke, Althochdeutsche -scaf(t)-Bildungen, S. 173. Meineke übersetzt mit „Lebensweise eines Volkes“, wobei zu fragen ist, ob Notkers „lîbes skepfedo“ wirklich so weit gefasst werden muss. 19 Notker der Deutsche: Boethius, „De consolatione Philosophiae“. Buch IV/V. Hg. von Petrus W. Tax. Tübingen 1990 (ATB 101), S. 270. 20 Zur Übersetzung von „skepfedo“ vgl. auch Meineke, Althochdeutsche -scaf(t)-Bildungen, S. 173. Meineke übersetzt mit „Veranlassung des Menschen, auf die hin göttliches Wissen sich nicht ändert“. 21 Vgl. ebd., S. 179. 22 Notker der Deutsche: Boethius, „De consolatione Philosophiae“. Buch IV/V. Hg. von Petrus W. Tax. Tübingen 1990 (ATB 101), S. 214.

Schöpfung | 29

Im dritten Buch der Consolatio-Bearbeitung Notkers steht „scaffunga“ für „lex“:23 „Sed lex dona coerceat. Áber in dîen uuórten . únde mít téro gedíngûn . únde mít téro scáffungo“. In dieser Passage werden gleich drei Aspekte von „lex“ beleuchtet; es stehen neben „scaffunga“ außerdem „uuorte“ und „gedinga“24. „Scaffunga“ ist hier schwer zu fassen. Das Gesetz, so die Vorstellung, beschränkt die „dona“ in den Worten, der Bedingung und eben in „scaffunga“. Die Gaben also werden vom Gesetz vorgegeben, wobei „uuorte“, „gedinga“ und „scaffunga“ eben jenes Gesetz formen und sich wohl auf dessen spezifische Form oder Beschaffenheit beziehen. In Notkers Schrift De arte rhetorica und also im Zusammenhang mit Überlegungen zur Redekunst wird „scaffunga“ auch für „moderatio“ gesetzt: „Et quid est moderatio? scafunga mézunga metelscaft“25. Zuerst steht die Frage, was „moderatio“ bedeutet. Als Antwort folgt eine Aufzählung: „moderatio“ ist „scafunga“, „mezunga“ und „metelscaft“, wobei „scafunga“ sicherlich schwieriger zu fassen ist als „mezunga“ und „metelscaft“, die übersetzt werden können mit Abmessung und Maßhalten. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle wohl nur, dass sich „scaffunga“ hier auf den bewussten Einsatz von Sprache bezieht, von der in rechter Weise Gebrauch gemacht werden sollte. In Notkers Übersetzung von Ps 144 wird „scaffunga“ im Sinne von schaffen verwendet und steht ohne direktes Bezugswort: „Iustus dominus in omnibus uiis suis . et sanctus in omnibus operibus suis. Vnser truhten ist rehter in allen sinen uuégen . daz chit in allen sinen scáffungon . unde ist heîlig in allen sînen uuerchen“26. „Scaffunga“ ist erklärende Hinzufügung für das, was mit „uueg“ gemeint ist. Dass Meineke „scaffunga“ als Übersetzungsleistung von „dispositio“ ausweist, lässt sich mit einem Blick in den Notker latinus erklären. Als Quelle zu Ps 144, 17 wird Cassiodor angegeben: „Viae Domini sunt dispositiones atque uoluntates“27. Es werden die Wege Gottes hier als absichtsvoll geordnete Wege vorgestellt. In der entsprechenden Notker-Passage bezeichnen die Wege auch die Wege Gottes, wobei sich „scaffunga“ unmittelbar auf diese bezieht. Im Wissen um die im Notker latinus angegebene 23 Notker der Deutsche: Boethius, „De consolatione Philosophiae“. Buch III. Hg. von Petrus W. Tax. Tübingen 1988 (ATB 100), S. 181. 24 Vgl. zu „scaffunga“ für „lex“ auch Luginbühl, Emil: Studien zu Notkers Übersetzungskunst. Mit einem Anhang: Die altdeutsche Kirchensprache. Einleitung von Stefan Sonderegger. Photomechan. Nachdr. d. Ausg. „Studien zu Notkers Übersetzungskunst“, Weida i. Thür. 1933, sowie „Die altdeutsche Kirchensprache“, St. Gallen 1936. Berlin 1970 (Das Althochdeutsche von St. Gallen 1), S. 99–101. Zur Übersetzung von „scaffunga“ vgl. ebd., S. 99. Luginbühl übersetzt „scaffunga“ allgemein mit „die besondere Bestimmung, die über etwas getroffen wird, und wodurch die Dinge ihre besondere Gestalt erhalten“. 25 Notker der Deutsche: De arte rhetorica. In: Ders.: Die kleineren Schriften. Hg. von James C. King und Petrus W. Tax. Tübingen 1996 (ATB 109), S. 105–186, hier S. 179. 26 Notker der Deutsche: Der Psalter. Psalm 101–150, die Cantica und die katechetischen Texte. Hg. von Petrus W. Tax. Tübingen 1983 (ATB 93), S. 528. 27 Notker latinus: Die Quellen zu den Psalmen, Psalm 101–150, den Cantica und den katechetischen Texten (mit einem Anhang zum Wiener Notker). Hg. von Petrus W. Tax. Tübingen 1975 (ATB 80), S. 694.

30 | Begriffsklärung: Welche(n) Namen hat der Anfang?

Quelle und den dort gegebenen Verweis auf die von Gott geordnet angelegten Wege ist „scaffunga“ wohl am besten mit absichtsvolle Ordnung zu übersetzen. Es ist aber weiterhin zu beachten, dass in der Notker-Bearbeitung explizit auch auf Gottes Werke verwiesen wird. Es wird hier also das Bild eines tätigen, eines schaffenden Gottes gezeichnet, sodass denkbar ist, dass mit den absichtsvoll geordneten Wegen der Verlauf des göttlichen Schaffensvorgangs gemeint ist. Nach Durchsicht und Vergleich der Belegstellen für die althochdeutschen Begriffe „skepfeda“ und „scaffunga“ bei Notker zeigt sich, dass beide Begriffe gebraucht werden, um die spezifische Beschaffenheit oder Anlage eines Menschen oder einer Sache zu bezeichnen. „Skepfeda“ und „scaffunga“ beziehen sich in den angeführten Belegstellen damit nicht in erster Linie auf einen Vorgang des Entstehens (von Menschen oder Sachen), sondern auf die besondere Beschaffenheit von bereits Da-Seiendem, ungeachtet des Zeitpunkts ihres InsSein-Tretens oder ungeachtet auch einer Instanz, die ihr Ins-Sein-Treten veranlasst hat oder noch veranlassen wird. Allerdings darf nicht davon ausgegangen werden, dass das, was mit „skepfeda“/„scaffunga“ bezeichnet wird, einfach ein Auf-bestimmte-Art-und-Weise-Seiendes meint, das gewissermaßen aus sich selbst heraus (so und nicht anders) ist. Zumindest an einer Stelle wird doch ein klares Verursachungsverhältnis Gott – „scaffunga“ ausgedrückt und darüber angezeigt, dass „scaffunga“ eben nicht einfach so, aus sich selbst heraus, ist, sondern die Existenz von „scaffunga“ an eine bestimmte Instanz gebunden ist: „Vnser truhten ist rehter in allen sinen uuegen daz chit in allen sinen scaffungon unde ist heîlig in allen sînen uuerken“ (Hervorhebung A. H.). „Scaffunga“ wird hier über das Possessivpronomen direkt an Gott gebunden, wodurch angezeigt wird, dass das, was als „scaffunga“ bezeichnet werden kann, Gott zugehörig ist. Gott wird nun weiterhin als tätiger Gott dargestellt, indem ihm „uuerke“ zugeschrieben werden. Dadurch wird „scaffunga“ eben an einen schaffenden Gott gebunden, dessen „uuege“ vielleicht jenen Schaffensprozess abbilden, der sich letztlich in den göttlichen „uuerken“ erschöpft. Auch im Beispiel „scaffunga“ für „forma“ wird „scaffunga“ an Gott angebunden und bezeichnet die unbewegliche Wesensform von Dingen, die (noch) hervorgebracht werden und in dieser Vorstellung also immer schon so und nicht anders und (vielleicht als Idee) da sind.

3.3 Welt(-Anfang) Während der Begriff, der sich im neuhochdeutschen Begriff Schöpfung fortsetzt, in seiner frühesten Verwendung nach der Beschaffenheit und Ordnung von allem Möglichen fragen kann und dabei an Gott gebunden werden kann oder nicht, wird mit Anführung des Begriffs Weltanfang der konkrete Zeitpunkt des Beginns einer bestimmten Entität, eben der Welt, in den Fokus gerückt. Der Begriff Weltanfang setzt voraus, dass die Welt nicht nur ist, sondern irgendwann anfing zu sein – wobei zu fragen ist, was eigentlich die Welt Welt(-Anfang) | 31

auszeichnet. Der Begriff Welt geht zurück auf althochdeutsch „weralt“, wobei sich „weralt“ zusammensetzt aus althochdeutsch „wer“, Mann, und dem Grundwort, das aus dem in altenglisch „ieldo“, altnordisch „ǫld“ und gotisch „alds“ überlieferten Substantiv besteht, das mit Alter übersetzt werden kann.28 Der Begriff Welt kann so mit (Zeit-)Alter des Menschen bzw. Lebenszeit des Menschen übersetzt werden. Es ist also der Mensch, der in der Welt immer schon eingeschlossen ist. Das bedeutet, dass sich der Mensch, der nach dem Weltanfang fragt, auf die Suche letztlich nach dem eigenen Anfang macht. Die Verbindung zwischen Welt und Mensch findet sich als Gedankenfigur von Mikrokosmos und Makrokosmos schon bei Platon formuliert (als Verbindung zwischen κοσμος und άνθρωπος).29 Im Timaios30 setzt sich das Weltganze aus Weltkörper und Weltseele zusammen (31b–37e).31 Die Elemente des Weltkörpers entsprechen dabei denjenigen Elementen, die auch den Körper des Menschen zusammenhalten (41d–42a).32 Während das Weltganze als Werk eines Schöpfers gelten muss, wird die Erschaffung des Menschen den Göttern übertragen (41a–d).33 Der Schöpfer des Weltganzen befiehlt diesen, das eigene Schöpfungshandeln nachzuahmen und lebendige Wesen in jenes Weltganze hineinzustellen. Zu diesem Zweck will der Schöpfer den Göttern eine Aussaat bereitstellen, in der der Mensch angelegt ist und die sie nun zum Wachsen bringen sollen. Der Mensch nimmt seinen Ursprung dann in eben jenem Mischkrug, in dem auch die Seele des Weltganzen gemischt wurde, bevor die Saat an die Götter übergeben wird, die den Menschen anschließend heranziehen sollen. Bei der konkreten Gestaltung des Menschen halten sich die Götter an die Gestalt des Weltganzen. Vor allem der menschliche Kopf ist es, der, so heißt es, nach dessen Vorbild gebildet wird, indem er ebenso kugelig geformt ist wie die Welt: Also, die göttlichen Umläufe – zwei waren es – banden sie [die Götter, A. H.], in Nachahmung der Gestalt des Alls – kreisrund ist es – in einen kugelförmigen Körper ein, wir nennen den heutzutage „Haupt“, er ist das göttlichste Stück und übt über alle Vorgänge in uns die Herrschaft aus. Ihm gaben sie auch den gesamten Leib bei, die Götter, ihm zur Dienstleistung ihn beigesellend, und waren dabei darauf bedacht, daß er an allen Bewegungsformen, so viele da wären, teilhätte.34 (44d)

28 „Welt“. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, M–Z, S. 1555. 29 Zu den antiken Mikrokosmos-Vorstellungen vgl. Finckh, Ruth: Minor Mundus Homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 1999 (Palaestra 306), S. 24–61. 30 Explizit zur Mikrokosmos-Vorstellung des Timaios vgl. ebd., S. 27–37. 31 Platon, Timaios, S. 35–47. 32 Ebd., S. 57–59. 33 Ebd., S. 55–57. 34 Ebd., S. 65.

32 | Begriffsklärung: Welche(n) Namen hat der Anfang?

In der Physiologie des Menschen spiegelt sich so das gesamte Weltganze wider, nach dessen Vorbild er selbst gestaltet wurde. Dabei steckt im Menschen bzw. schon in der Saat des Menschen derselbe Stoff, der auch zur Herstellung der Seele des Weltganzen verwendet wurde, wodurch der Mensch ein Abbild des Weltganzen im Kleinen darstellt. Dem Begriff Welt ist die Vorstellung vom Menschen, in den Traditionen, die mittelalterlichen Textverfassern bekannt gewesen sein konnten, also schon inhärent, sodass, wird nach dem Weltanfang gefragt, nach dem eigenen Anfang gefragt und so ein anthropologisches Bedürfnis ausgedrückt wird. Dabei steht die Frage nach dem Anfang der Welt bzw. die Frage nach dem Anfang des Menschen unabhängig von der Frage nach dem Begründer des Anfangs der Welt/des Menschen und ungeachtet auch der Frage nach dem Beginn weiterer Entitäten. Der Fokus liegt ganz auf dem Wann (Anfang) des einen Was (Welt/Mensch) – wohingegen der Schöpfungsbegriff in seiner frühesten volkssprachlichen Verwendung die Beschaffenheit oder Ordnung von etwas in den Fokus nimmt und damit vielmehr nach dem Wie fragt. Ebenso spielt aber auch das Wer eine Rolle. Denn Gott wird durchaus schon in ein Verursachungsverhältnis zur „scaffunga“ gestellt. Die heutigen Beschreibungsbegriffe Schöpfung und Weltanfang repräsentieren die Verschiedenheit der historischen Begriffe und damit die Verschiedenheit ihrer Vorstellungen nicht mehr. Das Synonymsetzen beider Begriffe zeigt, dass die Grenzen ihrer (historischen) Verschiedenheit längst verwischt sind. Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, eine solche Verschiedenheit rückwirkend zu etablieren. Allerdings soll von nun an dem Schöpfungsbegriff immer dann Vorzug gegenüber dem Begriff des Weltanfangs gegeben werden, wenn ein Text explizit die in die Zeit tretenden Entitäten in ein Verursachungsverhältnis zum Göttlichen stellt.

Welt(-Anfang) | 33

4 Der Caedmon-Hymnus Auf fol. 128v des Moore Bede, eines Manuskripts der Historia ecclesiastica gentis Anglorum des Beda Venerabilis aus dem achten Jahrhundert,1 befindet sich eines der frühesten überlieferten poetischen Zeugnisse in altenglischer Sprache. Dieses frühe volkssprachliche Zeugnis ist ein Nachtrag, fol. 128v das letzte Blatt der die lateinische Historia überliefernden Handschrift. Während diese durchgehend von nur einer Hand in angelsächsischer Minuskel geschrieben wurde, sind die ersten drei Zeilen jener letzten Seite in einer wesentlich kleineren Schrift geschrieben. Die Strichstärke ist feiner und einzelne Buchstaben sind stark verblasst.2 Gemeinsam mit dem Moore Bede gilt der Saint Petersburg Bede als frühester Überlieferungsträger des altenglischen Textes. Dieser wird ebenfalls ins achte Jahrhundert datiert3 und überliefert den altenglischen Text als Marginaleintrag am unteren Rand einer Manuskriptseite zum lateinischen Text Bedas (fol. 107r). Im Folgenden wird der volkssprachliche Text auf Grundlage dieser beiden frühesten Überlieferungsträger wiedergegeben, weil sich in beiden Handschriften das besondere Verhältnis zwischen der lateinischen Historia und dem altenglischen Text auf das Beste offenbart: In beiden Überlieferungsträgern wird der volkssprachliche Text vom lateinischen visuell abgesetzt, ja buchstäblich an den Rand gedrängt. Als marginaler Eintrag bzw. Nachtrag ist er aber letztlich doch da, lesbar für die, die Einsicht in die Handschrift haben. Die Volkssprache, und davon geben der Moore Bede wie der Saint Petersburg Bede Zeugnis, bahnt sich hier langsam ihren Weg in die Schriftlichkeit.

4.1 Bedas Caedmon-Erzählung Beda berichtet von einem gewissen Caedmon, der über Nacht vom Schreib- und Leseunkundigen zum Dichter avanciert und durch diese neu gewonnene Gabe zu dichten sein säkulares Leben als Viehhirte hinter sich lassen und Mönch im Kloster Streanæshalh 1 2

3

Zur Datierung des Moore Bede vgl. Bede’s ecclesiastical history of the english people. Ed. by Bertram Colgrave and R. A. B. Mynors. Oxford 1969, S. xliii: „It was written in Northumbria in or soon after the year 737, as can be inferred from the retrospective dating attached to certain historical events.“ Vgl. hierzu O’Keeffe, Katherine O’Brien: Visible song. Transitional Literacy in Old English Verse. Cambridge 1990 (Cambridge Studies in Anglo-Saxon England 4), S. 34. Katherine O’Brien O’Keeffe geht davon aus, dass die Historia wie jene ersten Zeilen von fol. 128v von der Hand eines Schreibers stammen, auch wenn eingeräumt wird, dass „[t]here is, however, a considerable difference between the scribe’s work on the Historia and his execution of Caedmon’s Hymn on the first three lines of 128v, a sort of addendum to the text of the history.“ Zur Datierung des Saint Petersburg Bede vgl. Colgrave/Mynors, Bede’s Ecclesiastical History of the English People, S. xliv. Es wird davon ausgegangen, dass die Handschrift nicht später als 747 entstanden ist.

34 | Der Caedmon-Hymnus

werden kann.4 Jenes plötzliche Vermögen, religiöse Texte durch „verb[a] poetic[a] maxima suavitate et conpunctione“5 wiederzugeben,6 sei ihm, so erzählt Beda, von Gott anvertraut worden und also als göttliches Geschenk zu erachten: „divinitus adiutus gratis canendi donum accepit“7. Unterricht im Dichten oder Singen habe er nie erhalten, und bevor ihm jenes Geschenk zuteilgeworden war, habe er das Dichten geflissentlich gemieden.8 Wenn die Harfe allabendlich unter den Hirten herumgereicht wurde und der, der sie in die Hand bekam, ein Lied zum Besten geben sollte, verließ Caedmon die Gruppe und ging zu den Tieren in den Stall.9 Eines Abends aber ist es nicht die wandernde Harfe, die ihn zum Singen hinreißen will, sondern eine Erscheinung im Traum: „canta mihi aliquid“10 fordert diese und präzisiert: „canta […] principium creaturarum“11. Vom Beginn der Lebewesen soll der Hirte singen. Das göttliche Geschenk entgegennehmend, erhebt er seine Stimme ein erstes Mal zum Gesang. In diesem Vorgang offenbart sich eine Hesiod’sche Prägung. Zu Beginn seiner Theogonie berichtet Hesiod davon, wie ihm, als er am Fuß des Helikon Lämmer hütete, die Musen erschienen und ihn das Singen lehrten:12 Und [die Musen, A. H.] hauchten die Stimme mir, die göttliche, ein, zu sagen, was war und was sein wird, hießen mich preisen den Stamm der ewig seligen Götter, aber am Anfang und Ende des Lieds sie selbst zu besingen.13

Es sind bei Hesiod die Töchter des Zeus, die ihn, Hesiod, den Schafhirten, zum Dichter berufen und durch deren Berufung er von der Entstehung der ersten Dinge zu berichten weiß: „Wahrlich, als erstes ist Chaos entstanden […]“14. Wie Caedmon ist auch Hesiod ein einfacher Hirte gewesen, der durch göttliches Zutun die Dichtkunst erlangte. Hesiods Gesang ähnelt dem Gesang Caedmons nicht, aber die erzählten Umstände, unter denen der Mensch jenes Wissen um den Beginn überhaupt erst gewinnt, werden auf ähnliche

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Hs. M, fol. 90v–92r; Hs. P, fol. 106va–108vb. Hs. M, fol. 90v; Hs. P, fol. 106vb. Da Caedmon weder singen noch lesen kann, werden ihm jene Texte sprachlich vermittelt: „divinis litteris per interpretes disceret“ (Hs. M, fol. 90v; Hs. P, fol. 106vb). Hs. M, fol. 91r; Hs. P, fol. 106vb. Vgl. Hs. M, fol. 91r; Hs. P, fol. 106vb. Vgl. Hs. M, fol. 91r; Hs. P, fol. 107ra. Hs. M, fol. 91r; Hs. P, fol. 107ra. Hs. M, fol. 91r; Hs. P, fol. 107rb. Vgl. Hesiod, Theogonie, S. 7–9. Ebd., S. 9. Ebd., S. 15.

Bedas Caedmon-Erzählung | 35

Weise ausgestaltet.15 Es handelt sich hierbei um ein Wissen, das sich der Mensch nicht selbst aneignet, sondern das ihm durch göttliche Vermittlung eingegeben wird. Der Gesang, der um den Ursprung kreist, ist also sowohl bei Hesiod als auch in Bedas Caedmon-Erzählung im eigentlichen Sinn göttlichen Ursprungs. Die Verbindung zwischen (mindestens) einer göttlichen Instanz und dem Beginn der Welt bzw. der Verkündung jenes Beginns wird zu keiner Zeit gekappt, sondern über den Menschen aufrechterhalten. Unbedingt ist in diesem Zusammenhang jedoch auf die Überlegungen Klaus von Sees hinzuweisen, der nicht etwa in Hesiod „die genaueste Parallele zum Caedmon-Bericht“16 erkennt, sondern im Offenbarungserlebnis Mohammeds.17 Auch wenn sich nicht sicher sagen lässt, auf welche Weise Beda in den Besitz eines Wissens um die Geschichte Mohammeds kommen konnte, so ist es von See zufolge durchaus denkbar, dass Beda, der „seine Kirchengeschichte gerade in jenen Jahrzehnten schreibt, als der Islam am tiefsten ins christliche Abendland vorgedrungen war“18, die Visionsgeschichte des Islam auch „für einen christlichen Dichter“19 zu beanspruchen suchte. Ganz gleich jedoch, welche literarische Parallele zur Caedmon-Passage nun die „genaueste“20 sein mag, so ist doch festzuhalten, dass Texte, in denen einer Figur ein Wissen um die ersten Dinge zugeschrieben wird, Erklärungsansätze bieten, auf welche Weise der Mensch in den Besitz dieses Wissens überhaupt gelangen konnte. Visionsschilderungen dienen hier als Legitimationsgrundlage,21 auf der eigentlich göttliches Wissen an den Menschen herangetragen werden kann.

15 Zu literarischen Parallelen der Caedmon-Passage vgl. Lester, G. A.: The Cædmon story and its analogues. In: Neophilologus 58 (1974), S. 225–237. Lester erstellt einen Katalog der „essential features of the story of Caedmon’s dream“ (ebd., S. 228), die dann mit vermeintlichen Parallelen abgeglichen werden können. Im Zusammenhang mit einem Hesiod-Caedmon-Vergleich hält Lester fest, dass Übereinstimmungen „do not appear to be very great, but this is mainly due to the fact that the surviving descriptions of their inspiration are so brief as to make a greater degree of correspondence impossible“ (ebd., S. 229). 16 See, Klaus von: Caedmon und Muhammed. In: ZfdA 112 (1983), S. 225–233, hier S. 230. 17 Vgl. hierzu auch Lester, The Cædmon story and its analogues, S. 228. Lester wies schon 1974 auf die Parallelen zwischen der Caedmon-Erzählung und der Geschichte Mohammeds hin. 18 Von See, Caedmon und Muhammed, S. 233. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 230. 21 Vgl. ebd., S. 228. Klaus von See erklärt, dass Beda die Existenz christlicher Dichtung „ausdrücklich legitimieren zu müssen [glaubt], und er […] dies mit einer Erzählung [tut], die das erste volkssprachliche Lied – sinnigerweise einen Schöpfungshymnus – auf einen förmlichen Auftrag Gottes zurückführt.“

36 | Der Caedmon-Hymnus

4.2 Bedas Hymnus-Paraphrase Caedmon reagiert auf die nächtliche Vision, indem er vom Ursprung kündet. In Hs. M, fol. 90v sowie Hs. P, fol. 106vb heißt es, dass Caedmon stets und ausschließlich „in sua id est anglorum lingua“ zu singen pflegt. Dennoch wird sein Gesang zunächst in lateinischer Prosa wiedergegeben:22 nunc laudare debemus auctorem regni caelestis potentiam creatoris et consilium illius facta patris gloriae quomodo ille cum sit aeternus deus omnium miraculorum auctor extitit qui primo filiis hominum caelum pro culmine tecti dehinc terram custos humani generis omnipotens creavit.23 Nun sollen wir den Urheber des Himmelreichs preisen, die Macht des Schöpfers und seinen Plan, die Werke des herrlichen Vaters. So wurde jener, weil er der ewige Gott ist, zum Urheber aller Wunder, der zuerst den Menschenkindern den Himmel als First des Daches und darauf die Erde als allmächtiger Hüter des Menschengeschlechts geschaffen hat.24

Im Anschluss an die Paraphrase des Gesangs Caedmons folgt eine kurze Reflexion über die Leistung literarischer Übersetzungen: hic est sensus non autem ordo ipse verborum quae dormiens ille canebat neque enim possunt carmina quamvis optime composita ex alia in aliam linguam ad verbum sine detrimento sui decoris ac dignitatis transferri.25 Das ist der Sinn, nicht aber dieselbe Anordnung der Wörter, die jener im Schlaf sang: Gedichte nämlich können nicht – ganz gleich, wie gut sie verfasst sind – wortgetreu von einer Sprache in die andere übertragen werden, ohne Schaden für ihre Schönheit und Würde.

Beda erklärt, er habe den Sinn oder vielmehr den Inhalt des Gesangs zwar wiedergeben, jedoch dieselbe Abfolge der von Caedmon im Zuge des Singens ursprünglich gewählten Worte nicht einhalten können. Es wird darauf hingewiesen, dass im Prozess des „transferre“, im Prozess der Übertragung vom einen ins andere, also hier bei der Übersetzung vom 22 Zum Verhältnis von altenglischem und lateinischem Text vgl. Bammesberger, Alfred: Discrepancies between Cædmon’s Hymn and its Latin Rendering by Bede. In: Anglo-Saxon Micro-Texts. Ed. by Ursula Lenker and Lucia Kornexl. Berlin/New York 2019 (Buchreihe der Anglia / Anglia Book Series 67), S. 329–346. Bammesberger geht davon aus, „that CædH can truly claim priority over the version found in Bede’s Historia ecclesiastica“ (ebd., S. 343). 23 Hs. M, fol. 91r; Hs. P, fol. 107rb. 24 Sofern nichts anderes vermerkt ist, handelt es sich bei allen Übersetzungen um eigene. 25 Hs. M, fol. 91r; Hs. P, fol. 107rb.

Bedas Hymnus-Paraphrase | 37

Altenglischen ins Lateinische, unweigerlich etwas verloren gehen muss. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass sich jener Prozess des „transferre“ nicht allein in der Übersetzung erschöpft. Auch die letztliche Übertragung eines (wie behauptet) mündlich vorgetragenen Liedes in Schrift muss als Transformationsprozess beurteilt werden; und es ist eben jener Übertragungsprozess, auf den in Bedas Caedmon-Erzählung immer wieder angespielt wird. Immer wieder wird hier an die Tradition des mündlichen Dichtens erinnert, die sich doch eigentlich auszeichnet durch Situationsgebundenheit und das Fehlen eines über die Situation hinauswirkenden Speichermediums: Da wird die Harfe als Begleitinstrument der singenden Hirten vorgestellt, das Singen als Abendunterhaltung dargestellt und eben das besondere Erlebnis Caedmons ausgeführt, durch das dieser ein erstes Mal singend in Erscheinung tritt. Was er hier eigentlich singt, bleibt den Rezipierenden jedoch verborgen. Es ist lediglich eine Paraphrase seines Gesangs, die Beda liefert. Auch auf die Memoria, die Herausforderung, mündlich Vorgetragenes im Gedächtnis zu behalten, wird hingewiesen. So heißt es auf fol. 91r des Moore Bede, dass sich Caedmon das, was er im Schlaf gesungen hat, im Wachzustand wieder in Erinnerung ruft: exsurgens autem a somno cuncta quae dormiens cantaverat memoriter retinuit et eis mox plura in eundem modum verba Deo digni carminis adjunxit. Erwachend aber hat er all das, was er im Schlaf gesungen hatte, im Gedächtnis festgehalten und fügte den Worten bald noch mehr Worte in derselben Weise eines gotteswürdigen Liedes hinzu.

In der Caedmon-Erzählung wird so auf unterschiedliche Formen der Literaturproduktion Bezug genommen, indem – wohlgemerkt in der Schrift – auf Formen und Aspekte des mündlichen Erzählens, das Harfenspiel oder die Memoria, hingewiesen wird. Johnston unterscheidet sogar zwischen drei Sprachen bzw. sprachlichen Ausdrucksmitteln, die in der Caedmon-Passage Bedas verhandelt werden, nämlich zwischen dem Latein des gebildeten Klerikers, der angelsächsischen Dichtungssprache und der gesprochenen Alltagssprache, deren Beherrschung aber offenkundig zu nicht viel mehr befähigt, als sich mit dem Vieh im Stall zu unterhalten.26

26 Vgl. Johnston, Andrew James: Caedmons mehrfache Anderssprachigkeit. Die Urszene der altenglischen Literatur im Spannungsfeld frühmittelalterlicher Sprach- und Kulturgegensätze. In: Exophonie. AndersSprachigkeit (in) der Literatur. Hg. von Susan Arndt, Dirk Naguschewski und Robert Stockhammer. Berlin 2007, S. 66–86, hier S. 73.

38 | Der Caedmon-Hymnus

Im Zuge der Wiedergabe der Caedmon-Geschichte in lateinischer Sprache erhebt Beda die volkssprachliche Dichtung zur ausschließlich mündlichen Dichtung,27 wobei hier noch unterschieden werden muss zwischen der kunstvollen Dichtersprache, die offensichtlich die Harfe spielenden Hirten beherrschen, und der nicht künstlerischen Alltagssprache, die, so stellt Johnston heraus, in Bedas Caedmon-Erzählung in den Viehstall verbannt wird.28 Dadurch, dass Beda die Volkssprache in den Bereich der Oralität rückt, kann er den Hymnus schriftlich nur in lateinischer Sprache festhalten und muss er, so will es der Prozess des transferre, das Risiko des Verlusts hinnehmen. Johnston bemerkt hierzu: „Statt den Triumph einer kulturellen Tradition über die andere zu inszenieren, lotet der Text das Spannungsverhältnis aus, das sich im Austausch zwischen ihnen ergibt“29. Diese Einschätzung ist nur plausibel. Die lateinische Übertragung des Hymnus, das erkennt Beda selbst, kann das, was tatsächlich gesungen wurde und wird, doch nicht wiedergeben, ohne an künstlerischem Wert einzubüßen. Gleichzeitig ist es Beda nicht möglich, den Hymnus in der Volkssprache aufzuschreiben, weil er diese ganz dem Bereich der Oralität zuweist. Damit erkennt Beda das Spannungsverhältnis der kulturellen Traditionen zueinander an und löst es nicht auf.

4.3 Der altenglische Hymnus Dass allerdings Volkssprache und Gelehrtensprache durchaus in der Schrift vereint sein können, zeigen die beiden frühesten Überlieferungsträger des Caedmon-Hymnus, in denen der volkssprachliche Text immerhin als Marginaleintrag zum lateinischen Text überliefert ist.30 Der lateinische Text Bedas reichert den Text in der altenglischen Sprache dabei mit Informationen zu seinem Urheber und auch zu seiner Darbietungsform, dem (mündlichen) Singen, an. Latein und Volkssprache greifen hier unmittelbar ineinander; es entsteht eine Interaktion zwischen Kontext und Text, sodass man an dieser Stelle wohl von einem ersten Versuch sprechen kann, das Spannungsverhältnis, das von Beda noch erkannt wie anerkannt wurde, aufzulösen: „primo cantavit Caedmon istud carmen“ heißt es in der vierten Zeile 27 Vgl. ebd. 28 Johnston bezieht sich an dieser Stelle auf den sich in den Stall zurückziehenden Caedmon, der die Dichtersprache zunächst nicht beherrscht. Selbstverständlich hat die nicht künstlerische Alltagssprache (auch) in der menschlichen Gesellschaft ihren Platz. 29 Ebd., S. 72. 30 Vgl. hierzu O’Keeffe, Visible song, S. 35. O’Keeffe geht davon aus, dass lateinischer und volkssprachlicher Text seit jeher als Einheit verstanden wurden: „The inclusion of Caedmon’s Hymn by the original scribes in both CUL, Kk. 5. 16 and in Leningrad Q. v. I. 18 suggests that from earliest times Caedmon’s Hymn was considered a worthy companion to the Latin account of Caedmon’s miracle. Its appearance in Leningrad Q. v. l. 18, a manuscript from Wearmouth-Jarrow very close to the author’s copy, and the discipline obvious in its script, spacing and orthography speak to the care which the Old English poem was thought to merit.“

Der altenglische Hymnus | 39

von fol. 128v des Moore Bede; zuallererst hat Caedmon dieses Lied gesungen, das unten stehend in kritischer Edition von O’Donnell wiedergegeben wird, die auf der Grundlage von M unter Hinzuziehung von P erstellt wurde („Northumbrian aelda recension“):31 Nu scylun hergan    hefaenricaes uard, metudæs maecti,    end his modgidanc, uerc uuldurfadur—    sue he uundra gihuaes, eci dryctin,    or astelidæ! He aerist scop    aelda barnum heben til hrofe,    haleg sceppend; tha middungeard,    moncynnæs uard, eci dryctin,    æfter tiadæ firum foldu,    frea allmectig. Nun sollen wir32 den Hüter des Himmelreichs preisen, die Macht des Schöpfers und die Gedanken seines Geistes, das Werk des herrlichen Vaters, wie er, der ewige Herr, den Beginn eines jeden Wunders festgesetzt hat. Er schuf den Menschenkindern zuerst den Himmel als Dach, der heilige Schöpfer. Dann machte33 der Hüter des Menschengeschlechts die mittlere Erde, der ewige Herr, der allmächtige Herrscher, den Menschen das Land.34 31 O’Donnell, Cædmon’s Hymn, S. 206. Die diplomatischen Abdrucke des im Moore Bede sowie im Saint Petersburg Bede überlieferten Hymnus finden sich ebd., S. 222 (Hs. M) und 225 (Hs. P). 32 Der altenglische Text steht ohne Pronomen. Vgl. dazu O’Donnell, Cædmon’s Hymn, S. 109: „While the fact that 1a appears without ƿue/ƿe in different recensions, in different dialects, and in manuscripts copied more than a century apart indicates that the pronounless construction was acceptable Old English“. Da die Konstruktion in Textzeugen, die nach dem Ende des zehnten Jahrhunderts entstanden sind, allerdings so nicht mehr vorkommt, wird eingeräumt, dass sie späteren Schreibern entweder als zu schwierig vorgekommen sein musste oder diesen schlicht nicht mehr geläufig war (vgl. ebd.). 33 Wie *tēogan an dieser Stelle zu verstehen ist, ist nicht abschließend geklärt. Vgl. zur Übersetzung von *tēogan ausführlich Bammesberger, Discrepancies between Cædmon’s Hymn and its Latin Rendering by Bede, S. 334–337. Dass Uneindeutigkeit im Umgang mit dem Verb aus Vers 8 besteht, zeigt sich schon daran, dass *tēogan – und darauf weist auch Bammesberger (ebd., S. 334) hin – in O’Donnells Glossar mit make, create (O’Donnell, Cædmon’s Hymn, S. 232), aber in der der aelda recension beigegebenen Übersetzung mit appoint (ebd., S. 108) übersetzt wird. Für diese letzte Übersetzungslösung spricht sich auch Bammesberger aus, wenn er *tēogan mit assign (Bammesberger, Discrepancies between Cædmon’s Hymn and its Latin Rendering by Bede, S. 344) übersetzt. Zur Übersetzungslösung von *tēogan mit zuweisen oder übergeben statt machen vgl. dieses Kapitel weiter unten. 34 In der angegebenen Übersetzung wird „foldu“ als Akkusativ Singular und, O’Donnell, Cædmon’s Hymn, S. 108, folgend, „as a direct object for tiadæ, parallel to middungeard “ gelesen. Die oben stehende Übersetzung fasst „folde“ als alternative Bezeichnung für „middungeard“ auf. O’Donnell weist jedoch auch darauf hin, dass „foldu“ außerdem als Genitiv Singular aufgefasst werden kann, „in which case it is a complement to firum“ (ebd.). Die Auffassung von „foldu“ als Akkusativ Singular sei O’Donnell zufolge jedoch letztlich die wahrscheinlichere (vgl. ebd.). Anders sieht das Bammesberger, Discrepancies

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Der Gesang weist Stabreime auf und lässt sich in neun Verse einteilen. Er beginnt mit dem direkten Aufruf („Nu scylun hergan“, V. 1), den Hüter des Himmelreichs („hefaenricaes uard“, V. 1), seine Macht („maect“, V. 2) sowie seine Wunder (vgl. V. 3) zu preisen. Immerhin habe er, „eci dryctin“ (V. 4), der ewige Herr, den Anfang („or“, V. 4) eines jeden Wunders begründet. Ewigkeit und Anfang werden im vierten Vers unmittelbar zusammengebracht: Anfänge werden von dem, was ewig ist, festgeschrieben. Wunder haben einen Anfang. Die Ewigkeit, und somit die schaffende Instanz selbst, hat keinen. Nach dem Aufruf zum Lobpreis des Himmelhüters folgt ab dem fünften Vers die Darstellung seiner Schöpfertaten.35 Zuerst erschafft er den Menschenkindern den Himmel als Dach: „He aerist scop    aelda barnum / heben til hrofe“ (V. 5 f.). Anschließend schenkt er ihnen „middungeard“ (V. 7). Wie der Himmel den Menschen als Dach gegeben wird, so gilt auch „middungeard“ explizit ihnen (so steht „firas“ im neunten Vers im Dativ). Im altenglischen Hymnus hat der Mensch damit eine bemerkenswerte Stellung inne. Zum einen ist das Erschaffene direkt auf ihn und seine Bedürfnisse zugeschnitten. Zum anderen wird seine eigene Erschaffung im Hymnus nicht erwähnt, obwohl seine Existenz vorausgesetzt wird.36 Das muss nicht bedeuten, dass er tatsächlich da ist. Ebenso gut ist denkbar, dass er zunächst als Idee oder Anlage existiert, die sich nicht zwingend schon materialisiert haben muss. Einen Hinweis auf die gedankliche Annahme des Menschen gibt der Text selbst. So ist denkbar, dass das im zweiten Vers genannte „modgidanc“, was mit between Cædmon’s Hymn and its Latin Rendering by Bede, S. 332–334. Auf der Grundlage der eordu recension des Textes fasst er foldu als Genitiv Singular auf und übersetzt schließlich die Verse 7 bis 9 mit „then afterwards he assigned the middle-earth to the men of earth, the almighty lord“ (ebd., S. 344). In Bammesbergers Übersetzung stehen die „men of earth“ damit in Übereinstimmung mit den in der eordu recension in V. 5 genannten „eordu barnum“, die mit „children of earth“ (ebd.) übersetzt werden. Doch egal, wie übersetzt wird: In beiden hier angegebenen Übersetzungen scheint die Vorstellung auf, dass „moncynnes uard“ den Menschen „middungeard“ gibt, und eine Zusammengehörigkeit von „firas“ und „folde“ besteht. Entweder wird den Menschen „folde“ explizit (zum Bewohnen) gegeben, oder sie sind dem Land in gewisser Weise immer schon in dem Sinne zugeordnet, dass klar ist, dass sie dort und nirgends sonst leben. 35 Zum Aufbau des Hymnus vgl. Schwab, Ute: The miracles of Cædmon – revisited. In: Atti dell’Accademia Peloritana, Classe di lettere, filosofia e belle arti 59 (1983), S. 5–36. Schwab erkennt einen zweiteiligen Aufbau des Hymnus. Die ersten vier Verse bildeten die Darstellung der „First Creation in God’s mind“ (ebd., S. 23), die letzten fünf die „Second (i. e.) the visible Creation“ (ebd.). Der Übergang vom ersten in den zweiten Teil werde Schwab zufolge markiert durch das Pronomen „he“ im fünften Vers, der im Gegensatz zu allen anderen Versen keine Bezeichnung der schöpferisch tätigen Instanz aufweist. Ausgehend vom fünften Vers, der die zentrale Position (vgl. ebd., S. 25) bilde, erkennt Schwab einen konzentrischen Aufbau des Hymnus: In den Versen 5 f. steht die Form „scop“ und steht „sceppend“, der Schöpfer; in den Versen 4 und 8 ist jeweils von „eci dryctin“ die Rede und wird also die Ewigkeit des Schöpfers betont, wohingegen die Verse 2 und 9 zusammengehen, indem beide die Allmacht des Schöpfers betonen (vgl. ebd.). 36 Vgl. dazu Bammesberger, Discrepancies between Cædmon’s Hymn and its Latin Rendering by Bede, S. 337.

Der altenglische Hymnus | 41

Gedanke (des Geistes) übersetzt werden kann, auf eben diesen gedachten Menschen, diesen Menschen in Gedanken hinweist.37 Auf „modgidanc“ folgt das Substantiv „uerc“ im dritten Vers. Gepriesen werden sollen sowohl die Gedanken als auch die Werke des Schöpfers. Wenn die Werke zunächst auf der Idee des Werks fußen, so muss auch der Erschaffung des Menschen eine Idee vom Menschen zugrunde liegen. Ganz gleich jedoch, ob dieser bereits da ist oder als zukünftig seiend gedacht wird, muss er in irgendeiner Form bereits angelegt sein. Wäre er das nicht, könnte ihm auch kein Himmel als Dach errichtet werden – ja, es wäre nicht einmal klar, dass er überhaupt ein Dach brauchen könnte. Der Mensch oder die Vorstellung vom Menschen geht also dem zuerst („aerist“, V. 5) erschaffenen Himmel voraus. Damit ist der Hymnus als finale Erzählung angelegt. Die hier dargestellte Schöpfung ist auf den Menschen hin organisiert und folgt einem bestimmten Zweck bzw. einer bestimmten Ordnung. Wird *tēogan in Vers 8 mit zuweisen oder übergeben übersetzt, so wie es zuletzt Bammesberger38 vorgeschlagen hat, verhielte es sich mit der (mittleren) Erde (V. 7) ähnlich wie mit den Menschen. Der Akt des Zuweisens der Erde als Lebensraum für die Menschen implizierte, dass die Erde schon da ist und ihr nur noch ihre besondere Funktion zugesprochen werden muss. In der Rolle des Zuweisenden müsste der Hüter der Menschheit (V. 7) nicht zwingend auch der Schöpfer der Erde sein – obwohl zu bedenken ist, dass er der Begründer des Anfangs aller Wunder ist (vgl. V. 3 f.) und ihm so wohl durchaus auch Anteil an der Existenz der Erde (wie auch der Menschen, wann immer sie ins Sein treten mögen) zugeschrieben werden kann. Mit Sicherheit kann über den Menschheitshüter nur gesagt werden, dass er der ist, der sich um das Zuhause der Menschen verdient macht. Jenes Zuhause ist an dieser Stelle wörtlich zu nehmen, denn in der Gesamtheit ihrer Darstellung bilden Himmel und Erde, letztlich die grobe Kontur eines Hauses – mit (Fuß-)Boden und Dach – ab, in das der Mensch (irgendwann) einziehen wird. Die Schöpfung also, die im Hymnus darin besteht, dass den Menschen Himmel und Erde gegeben werden, ist ein Haus, Himmel und Erde sind Zuhause des Menschen. Diese Vorstellung scheint beinahe banal, und doch wird jede scheinbare Banalität schließlich dadurch aufgehoben, dass die 37 Zu „modgidanc“ vgl. Howlett, D. R.: The Theology of Caedmon’s Hymn. In: Leeds studies in English 7 (1974), S. 1–12, hier S. 7 f. Howlett zufolge bezeichnet „his modgidanc“ den Heiligen Geist. In den ersten zwei Versen des Hymnus sieht Howlett die göttliche Trinität aufscheinen: Die Bezeichnungen „hefaenricaes uard“ und „metudæs maecti“ stehen seiner Ansicht nach für den Vater und den Sohn. „To speak of the Son as the creative Power of God“ (ebd., S. 7) scheint noch einleuchtend, zumal er seine Übersetzung von „metudæs maecti“ mit Sohn durch das Zurateziehen weiterer Quellen begründen kann. „[H]is modgidanc“ mit „Holy Ghost“ gleichzusetzen, ist jedoch fraglich, da Howlett keine weiteren Belegstellen anführt, die „his modgidanc“ für „Holy Ghost“ führen. Vgl. dazu auch „modgeþanc“. In: An Anglo-Saxon dictionary. Based on the manuscript collections of the late Joseph Bosworth. Ed. and enlarged by T. Northcote Toller. Repr. Oxford 1972, S. 694. Es wird hier keine Quelle angeführt, in der jene Bezeichnung für den Heiligen Geist steht. 38 Bammesberger, Discrepancies between Cædmon’s Hymn and its Latin Rendering by Bede, S. 344.

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Schöpfungsrichtung von oben nach unten verläuft und das Haus so einen transzendenten Anstrich erhält. Ein menschlicher Baumeister wäre schlicht nicht in der Lage, zuerst ein Dach zu errichten und sich von dort zur Erde vorzuarbeiten. Das Bild eines Schöpfungshauses zeichnet Beda auch in seinem Kommentar zur Genesis – und vergleicht hier den menschlichen Baumeister mit dem göttlichen: Nam humana fragilitas cum aliquid operator, uerbi gratia cum domum aedificamus, in principio operis materiam preparamus et post hoc principium fodimus in altum; deinde immittimus lapides in fundamentum, deinde parietes augescentibus lapidum ordinibus apponimus; sicque paulatim ad perfectionem operis propositi proficiendo peruenimus. Deus autem cuius omnipotens manus est ad explendum onus suum, non eguit mora temporum qui, sicut scriptum est, Omnia quaecumque uoluit fecit. Vnde benedictum est quia In principio creauit Deus caelum et terram, ut aperte detur intellegi quia utrumque simul ab eo factum est quamuis utrumque simul ab homine dici non possit.39 Denn wenn die menschliche Schwäche irgendetwas erarbeitet, wenn wir zum Beispiel ein Haus bauen, bereiten wir zu Beginn des Unterfangens das Baumaterial vor und nach diesem Anfang graben wir in die Tiefe. Dann lassen wir Steine in den Grund ein, dann, indem die Reihen an Steinen sich mehren, setzen wir Wände dazu. Und so gelangen wir durch den Fortschritt nach und nach zur Vollendung unseres Werks, das wir uns vorgenommen hatten. Gott aber, dessen Hand allmächtig ist, seine eigene Aufgabe zu vollenden, bedurfte keines Verzugs der Zeiten; er, der, wie geschrieben steht, alle Dinge, die er wollte, vollbrachte. Daher ist gut gesprochen, dass Gott am Anfang Himmel und Erde schuf, sodass offen erkannt werden kann, dass beides gleichzeitig von ihm erschaffen wurde, obgleich nicht beides gleichzeitig vom Menschen gesagt werden kann.

Während der Mensch nur nach und nach sein Haus aufbauen könne, könne der Schöpfer alles gleichzeitig entstehen lassen, sodass also (in Bezug auf Gen 1,1) nicht etwa der Himmel, weil er zuerst genannt wird, eine Vorrangstellung vor der Erde einnimmt, sondern Himmel und Erde sowohl gleichzeitig wie gleichrangig seien.40 Für das im Caedmon-Hymnus Dargestellte passt diese Vorstellung, obwohl auch hier das Bild eines Schöpfungshauses aufscheint, nicht ganz, weil über die Adverbien „aerist“ (V. 5) und „tha“41 (V. 7) eine klare zeitliche Chronologie der Erschaffung von „heben“ (V. 6) und „middungeard“ (V. 7) etabliert wird. 39 Bedae Venerabilis Opera. Pars II: Opera Exegetica. 1: Libri qvatvor in principivm Genesis vsqve ad nativitatem Isaac et eiectionem Ismahelis adnotationvm. Cura et studio Ch. W. Jones. Turnhout 1967 (CCSL 118 A), S. 3. 40 Vgl. zu Bedas Haus-Vorstellung auch Ramonat, Oliver: Lesarten der Schöpfung. Moses als Autor der Genesis im Mittelalter. Berlin 2010 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 36), S. 86 f. 41 Zu „tha“ vgl. O’Donnell, Cædmon’s Hymn, S. 206: „[...] tha can be construed as either a causal conjunction (‚when‘) or an adverb (‚then‘).“ Weil im Hymnus ganz explizit auf den „aerist“ erschaffenen

Der altenglische Hymnus | 43

Es ist nun diese vom Dach zur Erde bauende Instanz, die mit einer Vielzahl an Bezeichnungen ausgestattet wird. Insgesamt sieben verschiedene Benennungen der schöpferischen Kraft lassen sich in den neun Versen des Hymnus ausmachen.42 In den ersten vier Versen wird sie bezeichnet als „hefaenricaes uard“ (V. 1), „metud“ (V. 2), „uuldurfadur“ (V. 3) und „eci dryctin“ (V. 4). Vers 5 weist als einziger keine Anrufung jener Kraft auf. In den übrigen Versen finden sich die Benennungen „haleg sceppend“ (V. 6), „moncynnæs uard“ (V. 7) sowie „frea allmectig“ (V. 9). Diese Vielzahl an Schöpferbezeichnungen lässt den Hymnus letztlich wie einen Thesaurus erscheinen, wie eine Sammlung von Begriffen, mit denen der Schöpfer auch in der Volkssprache angerufen werden kann. Während in der lateinischen Version des Hymnus explizit Gott („aeternus deus“, Hs. M, fol. 90v; Hs. P, fol. 107rb) erwähnt wird, der mit allen Werken bzw. allem Wunderbaren in Kausalzusammenhang gebracht wird („quomodo ille cum sit aeternus deus omnium miraculorum auctor extitit“, So wurde jener zum Urheber aller Wunder, weil er der ewige Gott ist), findet sich der altenglische Begriff God im volkssprachlichen Hymnus an keiner Stelle.43 Statt „aeternus deus“ steht hier „eci dryctin“, dem zwar auch die Eigenschaft, ewig zu sein, zugeschrieben wird, der aber eben nicht Gott genannt wird. Auch wird er im altenglischen Hymnus nicht Urheber aller Wunder genannt, weil er ewiger Herr ist. Es heißt hier: „Nu scylun hergan […] sue he uundra gihuaes, / eci dryctin or astelidæ“ (Nun sollen wir preisen, wie er, der ewige Herr, den Beginn eines jeden Wunders festgesetzt hat). Im altenglischen Hymnus ergibt sich das Wunderbare nicht als Folge einer Gotthaftigkeit des Schöpfers, sondern steht der Schöpfer gemeinsam mit seinen Wundertaten am selben Punkt, der nun den Anfang begründet, der noch zu beschreiben ist. Wenn, wie im lateinischen Text, Gotthaftigkeit allein die Erklärung dafür bietet, warum Wunderbares entsteht, dann muss angenommen werden, dass die Rezipierenden des Textes die Eigenschaften und Fähigkeiten Gottes kennen und eben mit dem Gotthaften bereits vertraut sind. Der altenglische Hymnus ist an dieser Stelle weniger voraussetzungsvoll als der lateinische. Er befindet sich vielmehr noch im Beschreibungsprozess. Zunächst geht es darum, den Schöpfer mit Namen zu belegen und ihn so auch in der Volkssprache fassbar zu machen. So ist das Namen-Suchen für den Schöpfer eine Aufgabe, die explizit dem in der Volkssprache Dichtenden zukommt. Himmel hingewiesen wird, ergibt die Übersetzung von „tha“ mit dann, danach Sinn und nimmt die durch „aerist“ eingeführte Ordnung auf. 42 Insgesamt ruft Caedmon den Schöpfer achtmal an. Die Bezeichnung „eci dryctin“ allerdings findet sich im Hymnus an zwei Stellen, in den Versen 4 und 8. Vgl. zu den Schöpferbezeichnungen im CaedmonHymnus Fox, Michael: Origins in the English Tradition. In: The Oxford handbook of English literature and theology. Ed. by Andrew Hass, David Jasper and Elisabeth Jay. Oxford 2007, S. 35–53, hier S. 37. Fox zufolge können im Caedmon-Hymnus „seven unique“ Schöpferbezeichnungen ausgemacht werden. 43 Vgl. dazu Bessinger, Jr., Homage to Cædmon and Others, S. 93: „It is […] interesting that God is not given the name ‚God‘ in Caedmon’s Hymn, but rather is referred to by a famous series of heroic periphrases in a pleonastic tour de force“.

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4.4 Auf Namenssuche: Die Frage nach der schöpferisch tätigen Kraft 4.4.1 Die Namen des Schöpfers In ihrer Arbeit zu den Bezeichnungen für die christliche Gottheit im Altenglischen44 gibt Anne Scheller einen Überblick über eben jene in Dichtung, Glossen und Prosa vorkommenden Bezeichnungen und deren Überlieferung.45 Auch die aus dem Caedmon-Hymnus bekannten Begriffe „heofonweard“, „metod“, „fæder“, „dryhten“, „(ge)scyppend“ und „frēa“ werden aufgeführt. Die Bezeichnung „heofonweard“, die Scheller mit Himmelhüter übersetzt, ist unter anderem in Genesis A, V. 120 überliefert: „þa wæs wuldortorht / heofonweardes gast    ofer holm boren / miclum spedum“ (V. 119–121).46 Genesis A paraphrasiert die biblische Genesis in altenglischer Sprache, „heofonweard“ erscheint hier im Kontext des göttlichen Schöpfungsaktes. Jener Vers 120 findet seine Entsprechung Scheller zufolge im biblischen Genesisvers 1,2, in dem „deus“ für Gott belegt ist und anstelle des Himmelhüters steht:47 „et Spiritus Dei ferebatur super aquas“. Die Translationsleistung von Genesis A besteht also in der Paraphrasierung Gottes mit Himmelhüter. Auch die Bezeichnung „metod“ findet Scheller in Genesis A wieder:48 „Metod engla heht, / lifes brytta,    leoht forð cuman / ofer rumne grund“ (V. 121–123). Gott wird hier mit den Engeln in Zusammenhang gebracht. „Metod engla“ kann mit Schöpfer der Engel übersetzt werden. Für den Begriff „fæder“ kann Scheller insgesamt 4100 Belege ausmachen. In König Alfreds Übersetzung der augustinischen „Soliloquien“ wird er eindeutig zur Bezeichnung Gottes verwendet:49 Die in Buch I (unter anderem) angeführten Bezeichnungen für Gott, „min drihten“, „min feder“ und „min sceapen[d]“, werden hier in einer Reihe genannt.50 Gott ist hier nicht einfach Gott, sondern wird auch Herr, Vater und Schöpfer genannt. Es 44 Scheller, Anne: Bezeichnungen für die christliche Gottheit im Altenglischen. Hamburg 2010 (Schriften zur Mediävistik 17). 45 Selbstverständlich umfasst Schellers Korpus Quellen, die sämtlich jünger sind als der Caedmon-Hymnus. Dennoch geben ihre Quellen Aufschluss darüber, in welcher Tradition die oben genannten Begriffe vornehmlich stehen. Es kann angenommen werden, dass diese Begriffstraditionen schon vor der schriftlichen Aufzeichnung bekannt waren und sie also auch der Verfasser des Hymnus bereits gekannt haben konnte. 46 Vgl. Scheller, Bezeichnungen für die christliche Gottheit im Altenglischen, S. 185. Genesis A wird im Folgenden zitiert nach: Genesis. In: The Junius manuscript. Ed. by George Philip Krapp. New York 1931, S. 3–87. 47 Vgl. Scheller, Bezeichnungen für die christliche Gottheit im Altenglischen, S. 185. 48 Vgl. ebd., S. 222. 49 Vgl. ebd., S. 127. 50 King Alfred’s Version of St. Augustine’s Soliloquies. Ed. by Thomas A. Carnicelli. Cambridge, Massachusetts 1969, S. 54.

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ist bemerkenswert, dass sich in genau dieser Reihe auch die Begriffe „drihten“ und „sceapen[d]“ wiederfinden, die auch der Caedmon-Hymnus aufweist. Der Begriff „dryhten“ allerdings entstammt eigentlich „dem Kontext des Gefolgschaftswesens“51 und kann also auch in „militärische[r] Bedeutung“52 Verwendung finden. So wird er nicht in allen Quellenbelegen zur Bezeichnung Gottes oder Jesu Christi gebraucht.53 Auch in Holthausens Altenglischem etymologischen Wörterbuch wird der „dryhten“ klar dem Kontext des Militärwesens zugeordnet. Hier heißt es, „dryht“ bezeichne unter anderem das Heer oder das Gefolge, „gedryhta“ werde im Sinne von Genosse oder Kamerad verwendet, und „dryhtin“ könne, je nach Kontext, sowohl mit Gefolgsherr als auch mit König oder Gott übersetzt werden.54 Es ist nicht verwunderlich, dass man sich zur Bezeichnung Gottes aus dem Vokabelvorrat des Militäroder Kriegswesens bedient. Zumindest im Alten Testament tritt Gott auch als Kriegsherr in Erscheinung. In Jos 8 etwa wird die Eroberung der Stadt Ai beschrieben. Gott erscheint hier in der Rolle des Beraters und Beistands. Er ist es, der Josua anweist, gen Ai zu ziehen, einen Hinterhalt zu stellen und den erbeuteten Raub unter seinen Leuten aufzuteilen:55 dixit autem Dominus ad Iosue ne timeas neque formides tolle tecum omnem multitudinem pugnatorum et consurgens ascende in oppidum Ahi ecce tradidi in manu tua regem eius et populum urbemque et terram faciesque urbi Ahi et regi eius sicut fecisti Hiericho et regi illius praedam vero et omnia animantia diripietis vobis pone insidias urbi post eam. (Jos 8,1 f.) Dann sagte der Herr zu Josua: Fürchte dich nicht, und hab keine Angst! Nimm alle kriegstüchtigen Männer, brich auf, und zieh nach Ai! Siehe, ich habe den König von Ai und sein Volk, seine Stadt und sein Land in deine Gewalt gegeben. Du sollst es mit Ai und seinem König ebenso machen, wie du es mit Jericho und seinem König gemacht hast. Doch ihren Besitz und das Vieh in der Stadt dürft ihr erbeuten. Leg im Rücken der Stadt einen Hinterhalt! 56

Er ist es auch, der Josua später auffordert, das Schwert gegen Ai zu erheben:

51 Scheller, Bezeichnungen für die christliche Gottheit im Altenglischen, S. 389. 52 Ebd. 53 Vgl. ebd., S. 110. 54 „Dryhten“. In: Holthausen, Ferdinand: Altenglisches etymologisches Wörterbuch. 3., unv. Aufl. Heidelberg 1974, S. 79. 55 Die Vulgata wird im Folgenden zitiert nach: Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, adiuvantibus B. Fischer, I. Gribomont, H. F. D. Sparks, W. Thiele recensuit et brevi apparatu critico instruxit Robert Weber. Editionem quintam emendatam retractatam praeparavit Roger Gryson. Stuttgart 2007. 56 Die deutschen Bibelstellen werden im Folgenden übernommen aus: Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Neu bearb. und erw. Ausg. Deutsch hg. von Alfons Deissler und Anton Vögtle in Verb. mit Johannes M. Nützel. 3. Aufl. der Sonderausg. Freiburg/ Basel/Wien 2007.

46 | Der Caedmon-Hymnus

dixit Dominus ad Iosue leva clypeum qui in manu tua est contra urbem Ahi quoniam tibi tradam eam. (Jos 8,18) Da sagte der Herr zu Josua: Streck das Sichelschwert in deiner Hand gegen Ai aus; denn ich gebe es in deine Gewalt.

Im Begriff „dryhten“ liegt jene Funktion Gottes als Kampfesbeistand und Kampfberater eingeschlossen; er ist Bezeichnung und Charakterisierung zugleich. Im Beowulf lassen sich die unterschiedlichen Verwendungsweisen von „dryhten“ nun besonders deutlich nachzeichnen. So spricht Beowulf den König der Gauten in Vers 2000 mit „dryhtin Hiġe(lāc)“ an. „Dryhtin“ steht an dieser Stelle als Herrschertitel und meint König. An anderer Stelle wiederum beschwört Beowulf „hāliġ dryhten“ (V. 686), womit unzweifelhaft Gott gemeint ist: „ond siþðan wītiġ God / on swā hwæþere hond,    hāliġ dryhten / mǣrðo dēme,    swā him ġemet þinċe“ (V. 685–687). Da das Personalpronomen „him“ in Vers 687 im Singular steht, kann darauf geschlossen werden, dass hinter den Ausdrücken „wītiġ God“ (Weiser Gott) und „hāliġ dryhten“ (Heiliger Herr) ein und dieselbe Idee steht, sie also in dieser Passage zur Bezeichnung einer (einzigen) transzendenten Kraft verwendet werden. „Dryhten“ steht hier synonym zu „God“ und ist also eindeutig in einen religiösen Kontext eingebunden. So ist „dryhten“ einerseits Gottesbezeichnung, die in literarischen Texten andererseits aber weiterhin zur Bezeichnung weltlicher Herrscher verwendet wird. Diese Parallelverwendung hat zur Folge, dass, steht „dryhten“ für Gott, diesem stets etwas Menschliches und andersherum dem mit „dryhten“ bezeichneten weltlichen Herrscher etwas Gottähnliches anhaftet. Die Denkvoraussetzung dafür, Gott menschlich erscheinen zu lassen, bildet die christliche Heilsgeschichte. Isidor, der die Namen Gottes („De Deo“, VII, i) sammelt und erläutert, erklärt in Bezug auf Gottes Sohn („De filio Dei“, VII, ii), der zugleich Gott selbst ist (Nam ipse Dei Patris Unigenitus filius, dum esset aequalis Patri, propter salutem nostram formam servi accepit, Während nämlich er selbst als eingeborener Sohn des göttlichen Vaters dem Vater gleich war, nahm er um unseres Heiles willen die Gestalt eines Dieners an [VII, ii, 1]), dass dieser mit Namen belegt werden kann, die entweder seine Menschlichkeit hervorheben oder auf seine Göttlichkeit anspielen: Proinde quaedam nomina in illo ex divinitatis substantia, quaedam ex dispensatione susceptae humanitatis adsumpta sunt (VII, ii, 1), Also ergeben sich aus seiner göttlichen Art heraus einige Namen für ihn, einige wurden aufgenommen aus dem (Begriffs-)Vorrat seiner angenommenen menschlichen Art. Gott und Mensch kann der Gottessohn deshalb genannt werden, weil er sowohl Wort als auch Fleisch ist: „Deus autem et homo, quia Verbum et caro“ (VII, ii, 12). Vor der Namenwahl steht also immer die Frage nach dem Status, der dem Gottessohn in einem bestimmten Kontext zugesprochen werden soll, und steht die Bewusstmachung der Tatsache, dass der Sohn Gottes (bzw. Gott selbst) beides ist und sein kann: Gott und Mensch. Auf Namenssuche: Die Frage nach der schöpferisch tätigen Kraft | 47

Die Zulässigkeit, Gott mit menschlichen Zügen auszustatten, ergibt sich also aus der Heilsgeschichte. In Bezug auf den Kreis der Rezipierenden der Caedmon-Erzählung sowie des altenglischen Caedmon-Hymnus bedeutet das einerseits, dass in dem Moment, in dem Gott „dryhten“ genannt wird und also menschliche Züge verliehen bekommt, das zeitgenössische Publikum als Kennerpublikum angesehen wird, das eben diese Zulässigkeit aufgrund der Kenntnis der Heilsgeschichte anerkennt. Ein nicht wissendes Publikum erkennt andererseits in „dryhten“ nur den Gefolgsherrn bzw. weltlichen Herrscher. Diesem Publikum werden Gott bzw. der menschgewordene Sohn über einen Begriff vorgestellt, der Gott als alten Bekannten erscheinen lässt. Neben dem Begriff „sceapen[d]“/„(ge)scyppend“, der, wie Scheller ausführt, in den ca. 580 Belegen fast immer als Gottesbezeichnung gebraucht wird,57 bleibt schließlich noch der im Caedmon-Hymnus verwendete Begriff „frēa“. Von den übrigen besprochenen Begriffen unterscheidet sich „frēa“ insofern, als er neben der Bezeichnung des christlichen Gottes auch zur Bezeichnung nicht christlicher Götter herangezogen wird.58 So lässt die Etymologie des Wortes eine Verbindung zur Göttin Freyja zu,59 und auch an den Gott Freyr60 muss gedacht werden, den Sohn Njörds, der etwa aus den Skírnismál der Lieder-Edda bekannt ist. Darüber hinaus ist auch eine Verwendung des Begriffs im rein weltlichen Kontext möglich. So kann „frēa“ im Sinne von Herr oder König Gebrauch finden.61 In diesem Zusammenhang lohnt ein erneuter Blick in den Beowulf. In Vers 500 ist hier die Rede vom (Gefolgs-)Herrn62 der Dänen: „Ūnferð maþelode, […] / þē æt fōtum sæt    frēan Scyldinga, / onband beadurūne“ (V. 499–501). Die Annahme, dass hier (ein) Gott gemeint sein könnte, lässt die Passage nicht zu. „Frēa“ steht an dieser Stelle in einem eindeutig weltlichen Kontext. Es zeigt sich, dass die Begriffe „dryhten“ und „frēa“ also nicht ausschließlich zur Bezeichnung eines christlichen Gottes herangezogen werden können. Beide Begriffe können auch verwendet werden, um weltliche Herren zu bezeichnen. Durch die Tatsache, dass nun „frēa“ etymologisch auch mit „Freyja“ und „Freyr“ verwandt ist, weist gerade jener Begriff außerdem auf ein enges Verhältnis zwischen vorchristlicher und christlicher Religion hin. Offensichtlich bedient man sich aus demselben Begriffsvorrat, wenn es um die Bezeichnung des jeweiligen Gottes geht. Jener gemeinsame Pool an Begriffen bildet jeweils die Grundlage des Sprechens über das, woran geglaubt wird. Der Prozess der Namensgebung 57 58 59 60

Vgl. Scheller, Bezeichnungen für die christliche Gottheit im Altenglischen, S. 248. Vgl. ebd., S. 132 f. „Frēa“. In: Holthausen, Altenglisches etymologisches Wörterbuch, S. 115. Vgl. Scheller, Bezeichnungen für die christliche Gottheit im Altenglischen, S. 132. Vgl. auch Polomé, Edgar C.: „Freya“ und „Freyr“. In: 2RGA 9 (1995), S. 584–594. 61 „Frēa“. In: Holthausen, Altenglisches etymologisches Wörterbuch, S. 115. 62 Vgl. zur Übersetzung von „frēa“: Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Übers. und hg. von Martin Lehnert. Stuttgart 2004 (Reclams Universal-Bibliothek 18303). Lehnert übersetzt mit Gefolgsherr.

48 | Der Caedmon-Hymnus

präsentiert sich damit als immerwährender Transferprozess: Auf bereits bekannte Begriffe und Bezeichnungen wird zurückgegriffen, um sie schließlich umzudeuten und in neue Kontexte und Sinnzusammenhänge zu stellen. Neben „frēa“ oder „dryhten“ ist schließlich auch das in den Versen 1 bis 7 des Hymnus vorkommende „uard“ kein Begriff, mit dem sich eigentlich und ausschließlich Gott bezeichnen ließe. „Uard“ bzw. „weard“ meint einen Wärter, einen Hüter oder Besitzer.63 Im Hymnus bezieht sich jenes Hüten und Bewachen einmal auf das Himmelreich (V. 1), ein andermal auf die Menschheit (V. 7). Der Himmel und die Menschen sind also einem Hüter anheimgegeben, der auf beide Sphären, die des Oben wie des Unten, ein wachsames Auge hat. In Bedas Caedmon-Erzählung spielt der Begriff des Hüters eine zweifache Rolle. Nicht nur kommt er im Caedmon zugeschriebenen Hymnus vor, auch wird die Figur des Caedmon selbst als Hüter vorgestellt – als Hüter der Tiere. Auf fol. 91r des Moore Bede heißt es, dass Caedmon in der Nacht mit der Aufgabe des Viehhütens betraut ist. So geht er, nachdem er der Gesellschaft der Singenden entflohen ist, den direkten Weg „ad stabula iumentorum, quorum ei custodia nocte illa erat delegata“. Die Hüterfunktion wird also sowohl der schöpferisch tätigen Kraft als auch Caedmon zugeschrieben. Die erschaffende Instanz hütet den Himmel und die Menschen und steht am Ursprung allen Seins – von dem Caedmon, der Hüter des Viehs, schließlich Kunde zu geben vermag. Während der eine Hüter Himmel und Erde erschaffen hat, erschafft der andere sie in der Dichtung erneut. Jenes Erschaffen in der Dichtung ist allerdings nur durch die Traumvision möglich, nur dadurch, dass das Wissen um den Schöpfungshergang Caedmon von außen eingegeben wird. Im Zuge des Empfangens der Gesangskunst in der Visionsnacht muss Caedmon seine Hüterexistenz letztlich sogar aufgeben. Von nun an ist er Dichter und ausschließlich schöpferisch tätig. Während der Schöpfer zunächst erschaffen hat und sein Werk anschließend hütet, ist Caedmon erst Hüter und später Schöpfer. Am Beginn des Beginns steht der Schöpfer allein; der Mensch, der sich das Schöpfungswissen erst aneignen muss, kann nur folgen.

4.4.2 Der Schöpfer – ein Vieles Zu Anfang dieses Kapitels steht die Frage, wer oder was sich hinter der schöpferisch tätigen Kraft verbirgt, die im Caedmon-Hymnus auf so vielfältige Weise angerufen wird. Sicherlich können die vorkommenden Bezeichnungen allesamt verwendet werden, um Gott zu bezeichnen. Das muss aber nicht die einzige und ausschließliche Lösung sein. Doch ganz gleich, wer oder was sich hinter den angeführten Begriffen und Bezeichnungen verbirgt, so ist doch bemerkenswert zu sehen, woher jene Begriffe, die Gott bezeichnen können, übernommen werden. So besaß „dryhten“ ursprünglich militärische Bedeutung und kann 63 „Weard“. In: Holthausen, Altenglisches etymologisches Wörterbuch, S. 386.

Auf Namenssuche: Die Frage nach der schöpferisch tätigen Kraft | 49

auch „frēa“, übersetzt als Herr oder König, in eindeutig weltlichen Zusammenhängen stehen. Vor diesem Hintergrund scheinen die Bemühungen der Forschung, die den Hymnus seit Jahrzehnten entweder in einen vornehmlich christlichen64 oder in einen germanisch-heidnischen65 Kontext einzuordnen versucht, fragwürdig. Allein anhand der Etymologie jener Begriffe wird deutlich, dass Christianisierung vor allem Um- und Neudeutung von bereits bekannten Wissensinhalten und Traditionen bedeutet. Die im Caedmon-Hymnus besungene Schöpferinstanz setzt sich damit aus unterschiedlichen Funktionszuschreibungen und Traditionen zusammen. Um sie zu benennen, bedient man sich aus dem Pool des bereits Bekannten – wobei der Schöpfer im Zuge jener Umdeutung von Begriffen, also durch die Sprache, gewissermaßen selbst erst erschaffen wird. Seine Namensgebung birgt in sich schon einen schöpferischen Akt. Durch die verschiedenen Namen, die vergeben werden, wird ein farbenfrohes Bild des Schöpfers gemalt und ihm so überhaupt eine Identität verliehen.

4.4.3 Vom Ewigen, Heiligen und Allmächtigen Jene im Hymnus bezeichnete Schöpferkraft ist nun allerdings nicht nur Hüter, Schöpfer, Vater und Herr. Sie wird außerdem als „eci“ (ewig), „haleg“ (heilig) und „allmectig“ (allmächtig) beschrieben. Es bleibt also auch zu fragen, was jene Attribute über den im Hymnus angerufenen Schöpfer verraten können. Die Idee des ewigen Gottes ist aus der Genesis bekannt. In Gen 21,33 ruft Abraham seinen Herrn, den ewigen Gott 66 an – an einem Punkt, an dem der Angerufene die Erde natürlich längst geschaffen hat. Auch Gottes Allmacht wird in der Bibel mehrfach betont. Vom allmächtigen Gott ist in Offb 11,17 sowie Offb 15,3 und 16,7 die Rede, wobei aber vor allem in Offb 4 ein Gottesbild gezeichnet wird, das dem des Hymnus erstaunlich nahekommt. „[S]anctus sanctus sanctus Dominus Deus omnipotens qui erat et qui est et qui venturus est“, heißt es in Vers 8. Dreimal wird der „Deus omnipotens“, der allmächtige Gott, als „sanctus“ (heilig) bezeichnet. Wie die schöpferische Kraft im altenglischen Hymnus wird der biblische Gott in dieser Passage sowohl als heilig als auch als allmächtig dargestellt. Außerdem wird erneut auf seine Unendlichkeit hingewiesen: Er ist der, „qui erat et qui est et qui venturus est“, er war, und er ist, und er kommt. Wenig später, in Vers 11, 64 Vgl. hierzu etwa Seven old english poems. Ed. with Commentary and Glossary by John C. Pope. 2nd edition. New York/London 1981, S. 45, oder Mitchell, Bruce und Fred C. Robinson: A Guide to Old English. 8th edition. Malden, Massachusetts 2012, S. 228. 65 Vgl. hierzu etwa Hülsmann, Gertrud: Der Caedmon-Hymnus. Versuch einer Neudeutung in sprachund religionsgeschichtlicher Sicht. Münster 1980, S. 9. 66 Im Wortlaut der Vulgata: „Surrexit autem Abimelech et Fichol princeps militiae eius reversique sunt in terram Palestinorum Abraham vero plantavit nemus in Bersabee et invocavit ibi nomen Domini Dei aeterni.“

50 | Der Caedmon-Hymnus

wird schließlich noch sein Verdienst um die Schöpfung herausgestellt: „tu creasti omnia et propter voluntatem tuam erant et creata sunt“, du bist es, der die Welt erschaffen hat, durch deinen Willen war sie und wurde sie erschaffen. Die Zuschreibungen „eci“, „haleg“ und „allmectig“, mit denen die Schöpferinstanz im Hymnus versehen wird, entstammen allesamt einem christlichen Kontext. Wenn nun die Adjektive ewig, heilig und allmächtig in den Schriften der Bibel immer wieder zu „deus“ treten und also die Eigenschaften der Ewigkeit, Heiligkeit und Allmacht eng an den christlichen Gott gekoppelt sind, so scheint letztlich auch das im Hymnus auftretende „eci“ imstande, dem Ausdruck „eci dryctin“ einen christlichen Anstrich zu geben. In dem Moment, in dem die Rezipierenden des Hymnus den Begriff der Ewigkeit in Verbindung zum christlichen Gott bringen, wird der „eci dryctin“ zu eben diesem. Die der Schöpferinstanz im Hymnus zugeschriebenen Eigenschaften sind demnach in der Lage, kontextgebend wirken und bekannte Begriffe in neue Sinnzusammenhänge stellen zu können.

4.4.4 Schöpferlob Am Beginn des Caedmon-Hymnus steht eine Aufforderung: „nu scylun hergan“ (V. 1). Die Intention des Gesangs wird sogleich klar formuliert: Gelobt werden soll der Hüter des Himmelreichs, die Macht des Schöpfers, das Werk des herrlichen Vaters. Es geht also nicht nur darum, den Schöpfer beim Namen zu nennen, sondern auch darum, ihn im und durch Gesang zu preisen. Das Singen bzw. Musizieren und das Lobpreisen stehen seit jeher in engem Zusammenhang. In Ps 56,10 des Paris Psalter heißt es etwa: „[…] and min hearpe    herige drihten“67, und meine Harfe verherrliche den Herrn. Das Harfenspiel wird hier christlich gedeutet, die musizierende Harfe wird zum Lobpreis Gottes eingesetzt. In diesem Zusammenhang scheint es nur folgerichtig, dass es im Zuge der Heidendarstellung im Beowulf heißt, dass jene, die in Götzentempeln Opferzeremonien abhalten (V. 175 f.), auch nichts von der Lobpreisung verstehen: wið þēodþrēaum.    Swylċ wæs þēaw hyra, hǣþenra hyht;    helle ġemundon in mōdsefan,    metod hīe ne cūþon, dǣda dēmend,    ne wiston hīe drihten God, nē hīe hūru heofena helm    herian ne cūþon. (V. 178–182)

67 The Paris Psalter and the Meters of Boethius. Ed. by George Philip Krapp. London/New York 1932 (The anglo-saxon poetic records 5), S. 9.

Auf Namenssuche: Die Frage nach der schöpferisch tätigen Kraft | 51

Solcherart war ihre Gewohnheit, die Hoffnung der Heiden; der Hölle gedachten sie im Herzen. Den Schöpfer kannten sie nicht, den Richter der Taten, nicht kannten sie Gott, auch konnten sie nicht preisen den Schützer des Himmels, den Hüter der Herrlichkeit.

Der christliche Glaube manifestiert sich nicht nur in der Bejahung der Existenz Gottes und im Gottvertrauen, sondern auch in der Fähigkeit zum Gotteslob. Dadurch, dass im Hymnus „hefaenricaes uard“ (V. 1) wie „metud“ (V. 2) gepriesen werden, grenzt sich sein vermeintlicher Verfasser Caedmon explizit von den Heiden ab. Nach der Visionserfahrung ist er zum Lobpreis befähigt, plötzlich kann er Preislieder singen. Es ist dies der erste Schritt des Viehhirten in Richtung eines neuen Lebens.

4.4.5 Exkurs: Schöpferlob im Guthlac Bemerkenswert im Zusammenhang mit dem Thema Lobpreis ist außerdem die Tatsache, dass Begriffe und Bezeichnungen, die aus dem Caedmon-Hymnus bekannt sind, gehäuft auch im Guthlac A68 vorkommen. Wie Caedmon wird auch Guthlac vorgestellt als einer, der zum Lobpreis Gottes fähig ist: Von Dämonen heimgesucht und sogar bis vor die Pforte der Hölle geführt (vgl. V. 557–559), lässt dieser sich nicht verführen und singt unbeirrt Preislieder auf Gott:69 ond ic bletsige    bliðe mode lifes leohtfruman,    ond him lof singe þurh gedefne dom    dæges ond nihtes, herge in heortan    heofonrices weard. Þæt eow æfre ne bið    ufan alyfed leohtes lissum,    þæt ge lof moten dryhtne secgan,    ac ge deaðe sceolon weallendne wean    wope besingan, heaf in helle,    nales herenisse halge habban    heofoncyninges. (V. 608–617) Und ich preise ihn voller Freude, den Ursprung des Lichts des Lebens, und singe ihm Loblieder zwecks gebührender Verehrung, Tag und Nacht, preise in meinem Herzen den Himmelhüter. Das 68 Der Guthlac wird im Folgenden zitiert nach: The Exeter Book. Ed. by George Philip Krapp and Elliott Van Kirk Dobbie. London/New York 1936 (The anglo-saxon poetic records 3), S. 49–88. 69 Auch an früherer Stelle heißt es schon, dass Guthlac stets zum Lobpreis Gottes fähig war: „Symle Cristes lof / in Guðlaces    godum mode / weox ond wunade“ (V. 393–395).

52 | Der Caedmon-Hymnus

wird euch von oben niemals erlaubt sein, in der Gnade des Lichts auf den Herrn Lobpreis zu sprechen. Vielmehr sollt ihr im Tode heulend euer tobendes Leid beklagen und Trauer in der Hölle haben, nicht die heilige Lobpreisung des Himmelkönigs.

Die gepriesene Instanz wird in dieser Passage als „leohtfruma“, als „heofonrices weard“ und als „heofoncyning“ bezeichnet. Sie wird dem Licht und dem Himmel zugeordnet und als Ursprung, Hüter und König beschrieben. Die gezogene Verbindung zwischen dem Lobgepriesenen und dem Himmel ist bekannt aus dem Caedmon-Hymnus, in dem es im ersten Vers heißt: „nu scylun hergan    hefaenricaes uard“. Die Verbindung zwischen eben jenem Objekt und dem Licht allerdings kennt der Hymnus nicht. Das Kompositum „leohtfruma“ setzt sich zusammen aus „leoht“ (Licht) und „fruma“ (Ursprung, Anfang) und kann mit Ursprung des Lichts übersetzt werden. Im Text steht „leohtfruma“ mit dem Genitiv von „lif“ (Leben): „lifes leohtfruma“, was mit Ursprung des Lichts des Lebens übersetzt werden kann. Nachdem Guthlac den Dämonen entkommen und seine ungebrochene Treue zu Gott unter Beweis stellen konnte, wird er aus den Fängen der bösen Mächte befreit und seine Seele in den Himmel gehoben: Swa wæs Guðlaces    gæst gelæded engla fæðmum    in uprodor, fore onsyne    eces deman læddon leoflice.    Him wæs lean geseald, setl on swegle,    þær he symle mot awo to ealdre    eardfæst wesan, bliðe bidan.    Is him bearn godes milde mundbora,    meahtig dryhten, halig hyrde,    heofonrices weard. (V. 781–789) So wurde Guthlacs Seele in den Armen der Engel, die ihn freundlich begleiteten vor das Angesicht des ewigen Richters, in den Himmel geführt. Ihm wurde Lohn zugesprochen, ein Sitz im Himmel, wo er wo er für immer, für immer und ewig, sich an fest bleibender Stätte aufhalten und freudvoll bleiben darf. Das Gotteskind ist sein sanfter Beschützer, der mächtige Herr, der heilige Hirte, der Hüter des Himmelreichs.

Dieses Schicksal Guthlacs wird abschließend auf eine allgemeine Ebene gehoben. Ein Platz im Himmel könne allen Seelen zuteilwerden – wenn sie es nur verstehen, die göttlichen Lehren in Worten und Taten zu leben und weiterzutragen: Swa soðfæstra    sawla motun in ecne geard    up gestigan

Auf Namenssuche: Die Frage nach der schöpferisch tätigen Kraft | 53

rodera rice,    þa þe ræfnað her wordum ond weorcum    wuldorcyninges lare longsume,    on hyra lifes tid earniað on eorðan    ecan lifes, hames in heahþu. (V. 790–796) Aufsteigen in die ewige Stätte, ins Himmelreich, können so die Seelen der unerschütterlich Treuen, derjenigen, die hier in Worten und Werken die beständige Lehre des herrlichen Königs erfüllen und sich in der Zeit ihres Lebens auf Erden ein ewiges Leben sowie ein Zuhause in der Höhe verdienen.

Im Zuge der Ausführung eben jenes Gedankens, dass all diejenigen, die Gottes Lehren hochhalten, schließlich selbst emporgehoben werden, werden Bezeichnungen für die göttliche Instanz und göttliche Attribute angeführt, die so oder so ähnlich auch aus dem Hymnus bekannt sind: Guthlac etwa kann den Dämonen Widerstand leisten, weil das „bearn godes“ ihn in seinen Schutz genommen hat, das weiterhin als „meahtig dryhten“, „halig hyrde“ und „heofonrices weard“ bezeichnet wird. Statt „meahtig dryhten“ steht im Hymnus „eci dryctin“, ewiger Herr. Der Hinweis auf die göttliche Ewigkeit findet sich im Guthlac allerdings auch, nur an anderer Stelle: So heißt es in den Versen 781 bis 784, dass Guthlacs Seele vor den ewigen Richter (vgl. V. 783) geführt wird. Das Attribut heilig wird im Hymnus dem Schöpfer („haleg sceppend“, V. 6) zugesprochen, in Guthlac steht „halig hyrde“ (V. 789). Obwohl für das Göttliche selbst immer unterschiedliche Bezeichnungen gewählt werden, sind sich beide Texte immerhin einig darin, diese mit den Zuschreibungen der Ewigkeit und Heiligkeit zu versehen. Was aber ist nun mit der göttlichen Allmacht? Zumindest im Hymnus ist das Göttliche ja nicht nur ewig und heilig, sondern auch allmächtig (vgl. V. 9). Im Guthlac findet sich das Adjektiv „ælmihtig“ substantiviert: Der Allmächtige, so heißt es in Vers 760, stehe allem Erschaffenen in uneingeschränkter Liebe gegenüber: „Swa se ealmihtiga    ealle gesceafte / lufað under lyfte    in lichoman, / monna mægðe    geond middangeard“ (V. 760–762). „Wuldor“ (Herrlichkeit, Pracht) erscheint als Kompositionsglied in beiden Texten in „wuldorcyning[]“ (Guthlac, V. 793) und „uuldurfadur“ (Caedmon-Hymnus, V. 3). Der Guthlac-Verfasser und der Verfasser des Caedmon-Hymnus sind sich also darin einig, dass der Lobgepriesene als ewig, heilig und allmächtig zu denken ist, dass er das Himmelreich hütet und mit dem Attribut der Herrlichkeit in Verbindung zu bringen ist. Offenbar gibt es einen festgefügten Vokabelschatz, dessen man sich bedient, um das Objekt des Lobpreises zu bezeichnen. Dabei finden sich jedoch nicht nur Übereinstimmungen zwischen beiden Texten. Die in Guthlac präsente Vorstellung etwa vom Ursprung des Lebens im und als Licht findet sich im Hymnus nicht. Bei aller Übereinstimmung besteht also immer noch ein Spielraum für Varianzen in Bezug auf die Namen des Schöpfers.

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4.5 Das Erzählen von der Schöpfung 4.5.1 Das Werk: Ein Wunder Nachdem bislang vornehmlich die Frage nach der schöpferischen Kraft im Vordergrund stand, soll das Augenmerk nun dem Werk der Schöpfung gelten. Im dritten Vers des Hymnus ist zunächst ganz allgemein die Rede vom Werk des „uuldurfadur“ und von den Wundern, die dieser begründet hat. Wer oder was verbirgt sich aber hinter jenen Wundern – und was überhaupt ist mit Wunder gemeint? „Wundor“ kann mit „Wunder, Schreckbild, Ungetüm; Be-, Verwunderung“70 übersetzt werden. Das bedeutet zum einen, dass der Begriff ganz neutral Dinge, Wesen oder Sachverhalte bezeichnen kann, die ein Gefühl der Verwunderung bzw. Irritation auslösen. Zum anderen aber kann eben jenes „wundor“ auch solche Dinge, Wesen und Sachverhalte bezeichnen, die eindeutig negativ konnotiert sind und mit Besorgnis oder gar Furcht wahrgenommen werden. Ein Beispiel für jenes „wundor“, mit dem besorgniserregende Ungetüme benannt werden können, findet sich im Beowulf. Nachdem Beowulf auf den Grund des Sees getaucht ist, erwartet ihn nicht nur Grendels Mutter, sondern obendrein auch eine Schar wundersamer Unterwasserwesen, die als „wundra“ bezeichnet werden (V. 1509). Dass es sich bei jenen Wesen nicht um angenehme Zeitgenossen handelt, wird sogleich deutlich: „ac hine wundra þæs fela / swe[n] cte on sunde“ (V. 1509 f.). Beowulf wird durch ihre Anwesenheit bedrängt und belästigt („swenċan“, press hard; harass; afflict)71; sie fügen ihm Schaden zu. An anderer Stelle wird im gleichen Text allerdings auch das als „wundor“ bezeichnet, was schlicht erstaunen lässt. Ein großes Wunder scheint es etwa zu sein, dass die Halle Heorot, während dort Beowulf gegen den Eindringling Grendel kämpft, unter dem Kampfgetöse nicht zusammenstürzt:      Reċed hlynsode. Þā wæs wundor miċel    þæt se wīnsele wiðhæfde heaþodēorum,    þæt hē on hrūsan ne fēol. (V. 770–772) Die Halle erschallte. Das war ein großes Wunder, dass der Weinsaal die Kampfentschlossenen überstand und dass er nicht in sich zusammenfiel [eigentlich: zu Boden fiel].

Mit dem Begriff „wundor“ lässt sich all das bezeichnen, was dem Menschen fremd ist, was er nicht begreifen kann, was ihn unter Umständen gar in Not versetzt und dem er letztlich 70 „Wundor“. In: Holthausen, Altenglisches etymologisches Wörterbuch, S. 410. 71 Fulk/Bjork/Niles, Klaeber’s Beowulf, S. 439.

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nur mit Staunen und Verwunderung begegnen kann. Im Hymnus ist es die Schöpfung und sind es ihre Werke, die als „uundra“ bezeichnet werden. Es ist hier die Einstellung des Hymnus-Verfassers gegenüber der Schöpfung, die deutlich zutage tritt: Wundern muss man sich über die Schöpfung, weil man sie eigentlich nicht ganz versteht. Im Zuge des Eingeständnisses, dass sich der Schöpfungshergang allen Denkkategorien entzieht, und im Zuge seiner Bezeichnung als Wunder wird zugleich auch die Ambivalenz der Schöpfung betont. Immerhin, und das wurde weiter oben gezeigt, schließen „uundra“ auch das Bedrohliche und Unheimliche nicht aus. Die Schöpfung ist somit wunderbar und wunderbar unheimlich zugleich.

4.5.2 Himmel und Erde In den Versen 5 bis 7 des Caedmon-Hymnus steht die Erschaffung des Himmels und der Erde im Fokus. Die Wörter „or“ (V. 4, Anfang), „hrof“ (V. 6, Dach; Gewölbe) und „middungeard“ (V. 7, mittlere Erde) bzw. „folde“ (V. 9, Erde; wüstes Land), die im Text auch in dieser Reihenfolge genannt werden, erinnern an Gen 1,1: „In principio creavit Deus caelum et terram“. Auf diese Parallele weist auch O’Donnell hin,72 und Solopova und Lee wollen den Caedmon-Hymnus als „christian poem“73 verstanden wissen, dessen Grundlage „the Book of Genesis“74 sei – wobei sowohl O’Donnell als auch Solopova/Lee sogleich einräumen, dass sein Bezug zu dieser Grundlage allenfalls „slight“75 bzw. „very loosely“76 anmutet. Die Genesis verkündet die Erschaffung des Tages und der Nacht (Gen 1,3–5) sowie die Errichtung des Firmaments, das die Wasser des Himmels von den Wassern der Erde trennt (Gen 1,6–8). Ferner ist die Rede von der Trennung der Erde und der Meere (Gen 1,9 f.) und schließlich von der Schöpfung der Pflanzen (Gen 1,11–13) und Himmelskörper (Gen 1,14–19), der Tiere (Gen 1,20–26) und Menschen (Gen 1,26–31). Von den Gestirnen des Himmels, von Tieren oder Pflanzen kündet der Hymnus nicht, es finden sich hier nur die auch in der Genesis genannten Himmel und Erde sowie der Verweis auf den Menschen. Die Genesis berichtet von der Erschaffung des Menschen am sechsten Schöpfungstag – wohlgemerkt nach der Errichtung des Himmels und der Erde. Wenn der Mensch im Hymnus in der Idee („modgidanc“, V. 2) bereits angelegt ist und ihm nur dadurch bereits der Himmel als Dach erschaffen werden kann, dann existiert jene Idee vom Menschen bereits zum Zeitpunkt der Erschaffung des Himmels. Himmel und Erde werden im Hymnus also für einen 72 O’Donnell, Cædmon’s Hymn, S. 58. 73 Solopova, Elizabeth and Stuart D. Lee: Key concepts in medieval literature. New York/Basingstoke 2007, S. 97. 74 Ebd. 75 O’Donnell, Cædmon’s Hymn, S. 58. 76 Solopova/Lee, Key concepts in medieval literature, S. 97.

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zukünftig seienden Menschen als Dach und Grund errichtet und stecken die räumlichen Grenzen ab, in denen er sich bewegt. Sie werden am Menschen ausgerichtet, während der Mensch nach Vorstellung der Genesis in die Welt gestellt wird: In eine Welt, die existierte, bevor seine eigene Existenz begründet wird. Anders als der Hymnus ist die biblische Erzählung vom Sechstagewerk nicht final motiviert. Auch die hohe Anzahl an Gottesbezeichnungen weist die Genesiserzählung an keiner Stelle auf. In den neun Versen des Hymnus lassen sich sieben verschiedene Benennungen des schöpferisch tätigen Gottes ausmachen. Im Verweis auf den Gegenstand des Hymnus besitzt die Zahl Sieben eine erstaunliche Symbolkraft und lässt schließlich doch noch eine gewisse Parallele zur Genesis aufscheinen. Immerhin vollendet der christliche Gott sein Werk in sieben Tagen, segnet den letzten Schöpfungstag und ruht aus (Gen 2,1–3). Was allerdings den strukturellen Aufbau der beiden Texte angeht, so könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Die Genesis berichtet von der Welterschaffung und der Schöpfung des Menschen und gliedert sich in zwei Teile: Gen 1 kündet von der „Erschaffung der Welt in sieben Tagen“77, Gen 2,4–3,24 vom „Auftrag und Scheitern des Menschen“78. Während die vielen Gottesbegriffe des Hymnus als dessen strukturierendes Merkmal anzusehen sind (es gilt: eine Gottesbezeichnung pro Vers, der mittlere Vers ist ausgenommen), folgt Gen 1 einem Strukturprinzip, das die Schöpfungswerke mit der Formel „Und Gott sprach einleitet“79, um sie mit der Formel „Da wurde aus Abend und Morgen der X. Tag“80 zu beschließen. Der altenglische Hymnus wiederum besteht erstens aus einem Aufruf zum Lobpreis des Himmelhüters und widmet sich zweitens dem Werk des Schöpfers, wobei der Hymnus eben vor allem geprägt ist durch die Vielzahl an Bezeichnungen für die schöpferische Kraft. Der Schöpfer steht dadurch weit eher im Fokus als seine Schöpfung, deren Darstellung in der Genesis den größten Raum einnimmt. Die Darstellung des Schöpfungsvorgangs beläuft sich im Hymnus auf die Nennung von „heben“ (V. 6), „middungeard“ (V. 7) und, wenn „foldu“ als Akkusativ aufgefasst wird,81 „folde“ (V. 9). Die Schöpfungsabfolge von oben nach unten ist aus der Anfangszeile der Genesis bekannt. Weil die Errichtung des Himmels auch im Caedmon-Hymnus den ersten Schöpfungsschritt bildet, auf den die Nennung von „middungeard“ (V. 7) erst folgt, lässt sich an dieser Stelle ein einziger deutlicher Bezug zwischen dem Hymnus und der Genesiserzählung ausmachen. In beiden Fällen wird von oben nach unten gebaut; in beiden Fällen ist das Dach da, ehe die Erde ist. Dabei ist jedoch die Erde im Hymnus nicht nur Erde, sondern mittlere Erde. Die Erde als Mittleres setzt auch Isidor, der erklärt, dass sich die Erde im mittleren Teil der Welt 77 Klaiber, Walter: Schöpfung. Urgeschichte und Gegenwart. Göttingen 2005 (Biblisch-theologische Schwerpunkte 27), S. 17. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 18. 80 Vgl. ebd., S. 17. 81 Zur Übersetzung von „firum foldu“ vgl. Kapitel 4.3.

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befindet und von den Sphären des Himmels eingeschlossen wird: „Terra est in media mundi regione posita, omnibus partibus caeli in modum centri aequali intervallo consistens“ (De terra, XIV, i, 1), Die Erde ist in den Bereich der Mitte der Welt gesetzt worden, so liegend wie ein Kern, der von allen Teilen des Himmels im gleichen Abstand entfernt ist. Als Mittleres kann die Erde hier ihrer räumlichen Anordnung zum Himmel wegen gelten. Der Himmel mit seinen Sphären umkreist die Erde, wodurch diese zum Kern eines kugelförmigen Raums wird. Böldl expliziert in Bezug auf den Wortbestandteil „-geard“ am Beispiel seiner altisländischen Entsprechung „-garðr“, dass „-garðr“ ursprünglich Zaun, Mauer, Einfriedung bedeutete und in Skandinavien den Bauernhof bezeichnete.82 Das Wortglied „-garðr“ in „miðgarðr“ zeigt also an, dass „miðgarðr“ stets eine irgendwie bearbeitete Erde meint, die sich eben in der Mitte eines, im Caedmon-Hymnus aber zunächst nicht näher spezifizierten, Raumarrangements befindet. Der Begriff „miðgarð“ ist aus der eddischen Literatur bekannt. In der vierten Strophe der Völuspá wird der Begriff im Zusammenhang mit der Setzung des Landes durch Burrs Söhne gebraucht: áðr Burs synir biǫðom um ypðo, þeir er miðgarð mæran skópo. (4, 1–4) Ehe Burrs Söhne das Land hochhoben, diejenigen, die Midgard, den berühmten, schufen.83

Wie genau man sich „miðgarð“ vorzustellen hat, geht aus der Strophe nicht hervor. Mehr Klarheit bringt ein Blick in die Gylfaginning. Hier werden Burrs Söhne als Erschaffer der ersten Menschen vorgestellt, die „miðgarð“ sogleich zur Wohnstätte erhalten: „Hét karlmaðrinn Askr en konan Embla, ok óloz þaðan af mannkindin þeim er bygðin var gefin undir Miðgarði“84. Nach der Errichtung des Zuhauses für die Menschen errichten Burrs Söhne eine Burg mit Namen Asgarðr, den Sitz der Götter, der den Mittelpunkt alles Erschaffenen bildet: „Ϸar næt gerðu þeir sér borg í miðium heimi er kallat er Ásgarðr […]“85. Miðgarð meint also das Land, das eigens für die Menschen geschaffen wurde und das geographisch klar vom Sitz der Götter abgegrenzt wird. Zur genauen Beschaffenheit der 82 Vgl. Böldl, Klaus: Miðgarðr und Útgarðr. In: 2RGA 20 (2002), S. 10–12, hier S. 10. 83 Die Übersetzung ist übernommen aus: Von See [u. a.], Kommentar zu den Liedern der Edda, Band 1, Teil I, S. 95. 84 Snorri, Gylfaginning, S. 168. Lorenz übersetzt: „Der Mann hieß Askr und die Frau Embla, und aus ihnen ging die Menschheit hervor, der als Siedlungsgebiet Miðgarðr gegeben wurde“. 85 Ebd. Lorenz übersetzt: „Danach errichteten sie sich mitten in der Welt eine Burg, die Ásgarðr genannt wird“.

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Erde finden sich Informationen im achten Kapitel der Gylfaginning. Hier wird darauf hingewiesen, dass rund um „miðgarð“ ein aus den Brauen Ymirs gefertigter Wall gezogen wird, der die Erde der Menschen vor Eindringlingen von außen schützt: En fyrir innan á iǫrðunni gerðu þeir borg umhverfis heim’ firir úfriði iǫtna, en til þeirar bogar hǫfðu þeir brár Ymis iǫtuns ok kǫlluðu þá borg Miðgarð. Doch weiter innen auf der Erde errichteten sie einen Burgwall rund um die Welt gegen den Unfrieden der Riesen, und zu diesem Wall (zu dieser Palisade) verwendeten sie die Brauen (Wimpern) des Riesen Ymir und nannten diese Burg Miðgarðr.86

„Miðgarð“ meint hier das geformte, auf die spezifischen Bedürfnisse des Menschen abgestimmte und bearbeitete Land. Der Gedanke einer den Menschen gegebenen und an die menschlichen Bedürfnisse angepassten Schöpfung ist auch im Caedmon-Hymnus vorherrschend. „Middungeard“ wird hier jedoch nicht von mehreren Göttern erschaffen und geformt, sondern besitzt einen einzigen Erschaffer, den Hüter oder Beschützer der Menschheit. Gerade diese Bezeichnung des Hüters, die im Zusammenhang mit dem erschaffenen „middungeard“ fällt, geht mit der in der Gylfaginning betonten Funktion eben dieses Ortes konform. Weil der Schöpfer eben Hüter oder Beschützer der Menschen ist, bereitet er ihnen ein Land, in dem sie sicher vor den sie von außen umgebenden Gefahren leben können. Die Nennung von „middungeard“ verdeutlicht, dass das Erschaffene an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet ist und der Schöpfer einzig zum Zweck des Wohlergehens des Menschen plant: Der Himmel ist den Menschen ein Dach, das Land, in dem sie leben, ist ihnen ein sicheres Zuhause. Für den Menschen geht mit dieser ihn schützenden und so nach außen hin auch abschirmenden Schöpfung dabei eine gewisse Sesshaftigkeit einher: Er kann sich nur innerhalb derjenigen Grenzen bewegen, die ihm die Schöpfung, die auf seinen Schutz hin angelegt ist, vorgibt. Der Begriff der mittleren Erde lässt nun unterschiedliche Vorstellungen der Erde zu. Nach der Vorstellung Isidors bildet die Erde den Kern eines dreidimensionalen Modells und ist Mittleres in Bezug auf die die Erde umschließenden Himmelssphären. Nach eddischer Vorstellung ist die mittlere Erde nicht Mittleres in Bezug auf die Anordnung von Himmel und Erde, sondern Mittleres in Bezug auf andere Erden, die sie umschließen. Dabei schließen sich beide Vorstellungen nicht aus. So ist denkbar, dass die mittlere Erde den Erdteil bezeichnet, der von anderen Erdteilen umschlossen wird, während eben die Gesamtheit dieser Teile wiederum eingeschlossen wird von den Himmelssphären. Zumindest muss als Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, dass es nicht die eine Erde oder den einen Himmel gibt, sondern beide in sich ein- bzw. aufgeteilt sind.

86 Ebd., S. 158 und 160. Die Übersetzung ist von Lorenz übernommen.

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4.5.3 Himmel und Überhimmel Die umgekehrte Abfolge der beiden ersten Schöpfungswerke, also die, in der die Erde vor dem Himmel steht, ist ebenfalls überliefert. Sie findet unter anderem in der Völuspá Erwähnung: Ár var alda, þar er Ymir bygði, vara sandr né sær né svalar unnir; iǫrð fannz æva né upphiminn, gap var ginnunga, en gras hvergi […] (3, 1–8) Es war der Anfang der Zeiten, als Ymir hauste, Sand war nicht, noch See, noch kühle Wellen; die Erde war nicht, noch der Oberhimmel, ein Schlund war der mächtigen Leere,87 und nirgends Gras, […]88

87 Zum „ginnungagap“ vgl. Vries, Jan de: Ginnungagap. In: Ders.: Kleine Schriften. Hg. von Klaas Heeroma und Andries Kylstra. Berlin 1965, S. 113–132: Den Wortbestandteil „gap“ übersetzt Jan de Vries mit gähnende Kluft (vgl. ebd., S. 113). Das Element „ginnunga“ ist schwieriger einzuordnen. De Vries stellt zunächst drei in der Forschung bereits vorgetragene Erklärungen für die Form des Wortes „ginnunga“ vor. In der ersten Deutung ist „ginnunga“ Gen. Sg. eines männlichen Nomens „ginnungi“, das allerdings nicht belegt ist (vgl. ebd., S. 113 f.). „Ginnungi“ wird als Nebenform zum Eigennamen „Ginnungr“ gesehen, was bedeutet, dass die Kluft „persönlich gedacht[]“ (ebd., S. 113) werden müsste. In der zweiten Deutung ist „ginnunga“ Gen. Pl. eines männlichen Nomens „ginnungr“, was unter anderem mit Habicht übersetzt werden kann, was wiederum, wie de Vries formuliert, bedeuten könnte: „der sich fangen oder überlisten läßt“ (ebd., S. 114). Der Form nach kann „ginnunga“ auch Gen. Pl. eines weiblichen Nomens „ginnung“ sein. In dieser Deutung wird „ginnung“ in Verwandtschaft zu „gína“ gestellt und „gap var ginnunga“ als „weite Öffnung von Klüften“ (ebd.) vorgestellt. De Vries zeigt sich von keiner der drei Deutungen überzeugt und erklärt die „ginnungagap“-Passage letztlich vom Wort „ginnung“ aus, „das in der Nebenform ginning in der altnordischen Sprache bewahrt ist“ (ebd., S. 131) und das „Täuschung, Betörung, Verspottung“ bedeute (ebd.), allerdings in der Grundbedeutung „magisches Verfahren, wodurch der Bezauberte getäuscht werden kann“ (ebd.). Man denke an „Gylfaginning“, die Täuschung des Gylfi, „aber wohl zu merken in ganz eigentlichem Sinne: eine Täuschung durch die magischen Handlungen der zauberkräftigen Götter“ (ebd.). „Ginnungagap“ übersetzt de Vries sodann als „der mit magischen Kräften erfüllte Urraum“ (ebd., S. 132), wobei die magischen Kräfte eine generelle Anlage zur Schöpfungsfähigkeit bezeichneten und die Kluft also als schöpfungsmächtig ausgewiesen wird: „Denn der Raum, aus dem das kosmische Leben hervorgehen soll, ist nicht etwas absolut Leeres, sondern er bedeutet eine Potenz, eine Urkraft, welche die Schöpfung einmal möglich machen wird“ (ebd.). 88 Die Übersetzung ist übernommen aus: Von See [u. a.], Kommentar zu den Liedern der Edda, Band 1, Teil I, S. 86.

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Erde und Oberhimmel werden hier nicht im Zusammenhang mit deren Entstehung genannt, sondern werden vielmehr als (noch) nicht seiend gedacht. Ihre Benennung dient der Veranschaulichung eines vor der Schöpfung liegenden Nichts. Was erzählt wird, wird dabei einer Seherin in den Mund gelegt.89 Diese ist es, die sich als Wissende zeigt, die vom Hergang der Weltentstehung berichtet und offensichtlich auch den Zustand des Davor kennt. Die erzählende Stimme lässt sich so letztlich verorten. Eine weissagende Seherin spricht, weil nur sie durch ihre Fähigkeiten in der Lage ist, vom Ursprung der Welt zu künden. Ähnlich ist es auch im Fall des Caedmon-Hymnus, der ja bekanntlich einem Hirten mit Namen Caedmon zugeschrieben wird. Die Erzählstimme erhält in beiden Fällen einen Namen und so eine Identität. Nordal nimmt eine Entstehung der Völuspá um 1000 an,90 weist jedoch darauf hin, „daß die formelhafte Verbindung jörð – upphiminn […] im Isländischen auch in Gedichten erscheint, die noch älter sind als die ‚Völuspá‘“91. Er nennt in diesem Zusammenhang unter anderem die Vafþrúðnismál,92 in denen in Strophe 20 von „jörð“ und „uphiminn“ die Rede ist: Segðu þat it eina, ef þitt œði dugir oc þú, Vafþrúðnir, vitir, hvaðan iǫrð um kom eða uphiminn fyrst, inn fróði iǫtunn. (20, 1–6) Sag du das zum einen, wenn dein Verstand taugt und du, Vafþrúðnir, (es) weißt, woher die Erde kam oder der Oberhimmel zuerst [in der Urzeit], kundiger Riese.93

Es zeigt sich, dass die Verbindung „jörð“ – „upphiminn“ in der eddischen Literatur eine gewisse Tradition besitzt.94 Doch taucht sie nicht nur dort auf; auch das Altenglische kennt 89 Zum Erzählrahmen der Völuspá vgl. die Ausführungen Nordals in: Völuspá. Hg. von Sigurður Nordal. Aus dem Isländischen übers. und mit einem Vorwort zur deutschen Ausg. von Ommo Wilts. Darmstadt 1980 (Texte zur Forschung 33), S. 16–21. 90 Vgl. ebd., S. 135. 91 Ebd., S. 31. 92 Die Vafþrúðnismál werden zitiert nach: Von See [u. a.], Kommentar zu den Liedern der Edda. Band 1: Götterlieder, Teil II: Götterlieder: Vafþrúðnismál, Grímnismál, Vǫluspá [H]. 93 Die deutsche Übersetzung ist übernommen aus ebd., S. 1045. 94 Vgl. Nordal, Völuspá, S. 31. Nordal bezeichnet das als Paar auftretende „jörð“ – „upphiminn“ als „formelhafte Verbindung“. Zur umgekehrten Verbindung von Himmel und Erde vgl. aber auch: Snorri Sturluson, Gylfaginning, S. 43: Der Prolog wird hier eingeleitet mit: „Almáttigr guð skapaði í uphafi himin ok jǫrð“, Der allmächtige Gott schuf am Anfang Himmel und Erde. Eindeutig ist hier der Einfluss

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neben dem im Caedmon-Hymnus angeführten Begriff „heben“/„heofon“ den Begriff „upheofon“, der sich unter anderem im Christ95 findet: Im Zusammenhang mit der Darstellung des Weltuntergangs ergreifen die Flammen des apokalyptischen Feuers (vgl. V. 968–970) in Christ  III auch „eorþan mid hire beorgum,    ond upheofon“96 (V. 967). Die Verbindung aus Erde und Überhimmel begegnet auch in der althochdeutschen Literatur: Im Zuge der Beschreibung des Zustands vor der Schöpfung ist im althochdeutschen Wessobrunner Schöpfungshymnus die Rede davon, „dat ero niuuas    noh ufhimil“ (V. 2). Wenig später allerdings, im Prosateil, finden sich Erde und Himmel wieder andersherum angeordnet: „Cot almahtico du himil enti erda gauuorahtos“. Unmittelbar nachdem Gott als einzige Existenz inmitten des Nichts vorgestellt wurde („Do dar niuuiht niuuas    enteo ni uuenteo, / enti do uuas der eino    almahtico cot“, V. 6 f.) und es nun an die Schöpfungsdarstellung geht, kehrt sich die Formel um. Der Zustand, der vor dem Schöpfungsakt herrscht, zeichnet sich hier (u. a.) durch die Nicht-Existenz von Erde und Überhimmel aus. Kaum aber, dass der auch aus dem Hymnus bekannte Allmächtige als schöpferisch tätige Instanz auftaucht, ist die Rede von Himmel und Erde. Dieses Strukturprinzip weist auch das Bekenntnis zum christlichen Glauben auf. So wird im St. Galler Credo,97 dem Glaubensbekenntnis in althochdeutscher Sprache, der Allmächtige als Schöpfer des (zuerst genannten) Himmels und der Erde ausgewiesen: „Kilaubu in kot fater almahticum, kisca[f ]t himiles enti erda“. In den oben genannten Beispielen wird die formelhafte Verbindung von Himmel und Erde stets in Verbindung zum allmächtigen Schöpfergott gestellt, wohingegen die Verbindung aus Erde und Überhimmel von diesem unabhängig stehen kann. Dass sich aus dieser ersten Beobachtung jedoch keine allgemeine Regel ableiten lässt, macht etwa Ps 101 des Paris Psalter deutlich, in dem es heißt: „Æt fruman þu,    drihten, geworhtest / eorþan frætwe    and upheofen“98 (Ps 101,22). Die Ornamente der Erde sowie des Überhimmels werden hier als Werke des Herrn ausgewiesen. In dieser Passage wie auch im oben zitierten Vers des Christ (V. 967), lässt der „upheofon“ die zuerst genannte Erde nicht lange allein.99 Die Erde wird jeweils im ersten Schritt genannt, der Überhimmel im zweiten: ein Umstand, der Genesis zu erkennen. Vgl. zur Verbindung „jörð“ – „upphiminn“ auch: Von See [u. a.], Kommentar zu den Liedern der Edda, Band 1, Teil II, S. 1047–1050. 95 Christ wird zitiert nach: Krapp/Dobbie, The Exeter Book, S. 3–49. 96 Vgl. hierzu auch The Judgment Day I, zitiert nach ebd., S. 212–215. Auch hier wird, wieder im Zusammenhang mit der Darstellung des Weltuntergangs, auf den „upheofon“ (V. 59) verwiesen, der sich am Tag der Apokalypse durch gehörigen Lärm auszeichnet. 97 Das St. Galler Credo wird zitiert nach: Sangaller Paternoster und Credo. In: Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 27. 98 Krapp, The Paris Psalter and the Meters of Boethius, S. 74. 99 Vgl. hierzu auch Vers 1128 des Christ: „eorðan ealgrene ond uprodor“. Der Begriff „uprodor“ kann wie „upheofon“ mit Himmel übersetzt werden und folgt auch hier der zuerst genannten Erde nach.

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der an die aus der eddischen Literatur bekannte formelhafte Verbindung von „jörð“ und „upphiminn“, aber auch an die im Wessobrunner Schöpfungshymnus verwendete Verbindung von „ero“ und „ufhimil“ erinnert, wobei zumindest in der altenglischen Version von Ps 101 Erde und Überhimmel klar im Kontext christlicher Weltschöpfung stehen und eben nicht im Zusammenhang mit dem Zustand des Davor genannt werden. Es bleibt somit festzuhalten, dass „upheofon“/„upphiminn“/„ufhimil“ immer dann stehen, wenn zuvor schon die Erde genannt wurde. In der Schöpfungschronologie ist die Errichtung des Überhimmels also offensichtlich nur gestattet, wenn die Erde bereits da ist. Das ergibt durchaus Sinn: Wie sollte es einen Überhimmel geben, wenn sich dieser nicht tatsächlich über etwas anderes, bereits Existierendes, spannen könnte? Da sich der Verfasser des Caedmon-Hymnus nun für die umgekehrte Schöpfungschronologie entschieden hat und die Erschaffung des Himmels der Erschaffung der Erde voranstellt, kann es keinen Überhimmel geben. Hier, wie etwa auch im Wessobrunner Schöpfungshymnus, in dem der „himil“ ebenfalls vor „erda“ genannt wird, braucht es keinen Überhimmel, um das Schöpfungswerk in seiner räumlichen Quantität einzugrenzen.

4.6 Christianisierung für alle, oder: Die Anerkennung der Inkulturation Der Caedmon-Hymnus markiert den Beginn einer volkssprachlichen Dichtung im angelsächsischen Raum. Dabei liegt er eingebettet in eine lateinische Historia, die dem Hymnus eine Geschichte zuschreibt und so das Drumherum seiner Entstehung liefert. Der Fiktion nach ist das volkssprachliche Dichten ausschließlich mündliches Dichten. An die mündliche Literaturproduktion wird in Bedas Caedmon-Erzählung immer wieder appelliert, während sich der Caedmon zugeschriebene und (wie behauptet) mündlich vorgetragene volkssprachliche Hymnus im Moore Bede sowie im Saint Petersburg Bede aufgeschrieben findet. Es offenbart sich hier noch eine gewisse Nichtvereinbarkeit der unterschiedlichen Formen der Literaturproduktion. Über das mündliche Dichten in der Volkssprache wird so allenfalls nachgedacht; den Hymnus aber tatsächlich in der Volkssprache wiederzugeben, das stand für Beda außer Frage. Dennoch liefert seine Erzählung durch die Darstellung der nächtlichen Traumvision Caedmons die unmissverständliche Versicherung, dass das volkssprachliche Dichten seine Berechtigung hat und Dichtung volkssprachlich sein darf. Immerhin wird in seiner Erzählung ausgerechnet demjenigen das Wissen um den Schöpfungshergang eingegeben, der des Lateinischen nicht mächtig ist und der sich allein durch Sprachbenutzung, nicht aber schriftvermittelt ausdrücken kann. Caedmon ist nun nicht immer schon ein Dichter. Er wird zum Dichter in dem Moment, in dem er nicht wie bisher das Weite sucht, sondern ein erstes Mal wagt, sich in poetischer Weise für alle hörbar auszudrücken. Es ist dann sein neu erworbenes Wissen und sein Können, die dem Hirten die Tür ins Kloster öffnen und aus dem Hirten einen Mönch machen. Christianisierung für alle, oder: Die Anerkennung der Inkulturation | 63

Bedas Caedmon-Erzählung ist die Dokumentation eines Christianisierungsprozesses, eine Dokumentation der Christianisierung des einfachen Mannes, die sich darüber vollzieht, dass dieser von der Erschaffung des Himmels und der Erde erzählen kann. Dokumentiert wird in diesem Zusammenhang auch der Anfang des volkssprachlichen Erzählens: Denn der Fiktion nach dichtet und singt Caedmon schließlich stets in seiner eigenen, der englischen Sprache. Im Kern der Erzählung Bedas steht eine Schöpfungsvorstellung, die, in Bezug auf die Nennung des Himmels vor der Erde, mit der Genesis, mit volkssprachlichen Paternosterund Credotexten sowie mit dem Wessobrunner Prosateil geteilt wird. Aber sie ist kein Gebet, und ihre Darstellung vom Beginn wird durchaus in dichterischer Freiheit entworfen, die sich Lizenzen gegenüber der Genesis herausnimmt. So ist etwa die finale Motivation der Schöpfungserzählung, die auf den Menschen hinzielende Organisation der Schöpfung, allein dem Hymnus vorbehalten. Der Vorgang des Schöpfungsbaus von oben nach unten verleiht der Schöpfungsdarstellung zwar einen klaren Transzendenzbezug, aber der für das Unten gebrauchte Begriff „middungeard“ ist ein Begriff, der unter anderem aus dem eddischen Kontext bekannt ist und dort einen Ort bezeichnet, der von den Göttern für die Menschen geschaffen wurde, um sie vor der Gefahr eindringender Riesen zu schützen. Anders auch als in der Genesis und vielmehr an die Völuspá erinnernd, in der eine Seherin vom Beginn der Welt erzählt, lässt sich die Erzählstimme des Hymnus in Bedas Erzählung eindeutig bestimmen. Es ist der Hirte Caedmon, der von der Schöpfung singt. Sein Wissen sowie die Fähigkeit, dieses Wissen in ein künstlerisches Gewand zu hüllen, bilden erst die Voraussetzung dafür, von nun an ein geistliches Leben führen zu können. Damit lässt sich die narrative Funktion der Schöpfungsdarstellung klar benennen: Für Caedmon ist sie die Eintrittskarte in eine neue Welt. Das, was er besingt, die Errichtung von Himmel und (mittlerer) Erde für die Menschen, muss also mit den christlichen Lehren vereinbar sein, sonst wäre er nicht ins Kloster berufen worden. Es werden nun volkssprachliche Begriffe wie „frea“ oder „dryhten“ in das christliche Leben aufgenommen und hier anerkannt, obwohl sie auch weiterhin im weltlichen Kontext Gebrauch finden können. So ist es nicht allein der Hirte, der in der Historia eine Transformation durchläuft. Der Christianisierungsprozess spiegelt sich auch in dem im Hymnus verwendeten Begriffsvokabular wider. In und durch die Sprache wird (der christliche) Gott erst erschaffen, erschaffen aus bereits Bekanntem. Wenn Beda in seiner Caedmon-Erzählung also den Verlauf eines Christianisierungsprozesses schildert, so lässt sich jener Verlauf bereits anhand einzelner Wörter und Begriffe nachzeichnen. Es ist der Verlauf des Fortschreitens vom einen zum anderen, der hier erzählt wird, wobei das, was davor war, nicht etwa verdrängt wird, sondern, wiewohl in neue Kontexte gestellt, erhalten bleibt. Bedas Erzählung vom dichtenden Viehhirten ist so als literarischer Ausdruck der Anerkennung und Bejahung von Inkulturation zu lesen. Dabei, und daran lässt Beda keinen Zweifel, gehört die Schöpfung bzw. das Erzählen von ihr, ausschließlich ins Kloster – und nicht in den Viehstall oder in die allabendliche Runde der singenden Hirten. 64 | Der Caedmon-Hymnus

5 Beowulf Hat die altenglische Literatur mit dem Caedmon-Hymnus ihren Beginn gefunden, markiert unter anderem der anonym überlieferte Beowulf  ihren weiteren Verlauf. Seine 3182 Stabreimzeilen sind in nur einer Handschrift überliefert, die heute in der British Library in London aufbewahrt wird.1 Das Manuskript des Beowulf wird ins beginnende elfte Jahrhundert datiert, wobei eine Entstehung ein paar Jahre früher oder später nicht ausgeschlossen ist.2 Die Frage nach der Entstehungszeit des Epos ist schwieriger zu klären. Während erste Meinungen zur Datierungsfrage eine Entstehung des Epos nicht weit nach Ausgang des vierten Jahrhunderts annehmen,3 grenzen die Herausgeber der Klaeber-Edition den frühestmöglichen Entstehungszeitraum wie folgt ein: „The poem cannot have been recorded earlier than the events it describes or alludes to (ca. A. D. 500), nor earlier than missionaries’ introduction of the art of writing to the English in the late 6th century.“4 Was den spätestmöglichen Datierungszeitraum angeht, so hat sich Frank für eine Datierung ins späte neunte oder frühe zehnte Jahrhundert ausgesprochen,5 wobei sie schon 1981 am Ausgangspunkt ihrer Überlegungen festhielt, dass after one hundred and fifty years of speculation we have reached no certainty regarding the date of Beowulf, certainty may not be attainable. Still, there is always the chance that one’s own peculiar perspective may suggest new lines of inquiry, add something, however minuscule, to the small kernel of evidence that is safe to regard as the established fact of Beowulf scholarship6.

Bis heute wurden in der Forschung alle möglichen Jahrhunderte zwischen der Datierung nach dem vierten Jahrhundert und der Spätdatierung Franks als Entstehungszeiträume in Erwägung gezogen.7 Die Entstehungsfrage des Epos ist also nicht abschließend geklärt;

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London, British Library, Cotton Vitellius A. XV, fol. 132r–201v. Klaeber’s Beowulf folgt der alten Foliierung, wenn in Bezug auf V. 1 angemerkt wird, dass „Fol. 129r begins”. Zu alter und neuer Foliierung vgl. Fulk/Bjork/Niles, Klaeber’s Beowulf, S. xxvii f. Ebd., S. xxvii f. Vgl. zu den Anfangsüberlegungen der Datierungsfrage des Beowulf Chase, Colin: Opinions on the Date of Beowulf, 1815–1980. In: The dating of Beowulf. Ed. by Colin Chase. Toronto/Buffalo/London 1997 (Toronto old english series 6), S. 3–8, hier S. 3. Fulk/Bjork/Niles, Klaeber’s Beowulf, S. clxii. Vgl. Frank, Roberta: Skaldic Verse and the Date of Beowulf. In: The dating of Beowulf. Ed. by Colin Chase. Toronto/Buffalo/London 1997 (Toronto old english series 6), S. 123–139, sowie dies.: A scandal in Toronto: the dating of Beowulf a Quarter Century On. In: Speculum 82 (2007), S. 843–864. Frank, Skaldic Verse and the Date of Beowulf, S. 123. Vgl. hierzu die Übersicht bei Chase, Opinions on the Date of Beowulf, S. 3–8.

Christianisierung für alle, oder: Die Anerkennung der Inkulturation | 65

einzig die Datierung seines einzigen Überlieferungsträgers grenzt den Zeitraum ein, indem er eine Entstehung nach Beginn des elften Jahrhunderts ausschließt. Auch im Beowulf findet sich eine Schöpfungsdarstellung. In den Versen 89 bis 98 wird die Schöpfung der Erde und der Lebewesen dargestellt; in den Versen 99 bis 110 wird der Einbruch des Bösen in die gerade geschaffene Szenerie ausgeführt. Die Darstellung der Schöpfung im Beowulf lässt sich somit in zwei Teile gliedern: In einem ersten Schritt wird der Schöpfungsakt an sich dargestellt, in einem zweiten Schritt wird gezeigt, dass das Erschaffene nicht statisch ist, sondern sich weiterentwickelt. Anders als im Caedmon-Hymnus erschöpft sich Schöpfung also nicht in der Errichtung des Himmels und der Erde. Es wird vielmehr deutlich, dass die Schöpfung keine einzigartige Aktion ist, sondern ihren Gang immer weitergeht.

5.1 Die Verse 89 bis 98 5.1.1 Der Scop und sein Gesang Die Schöpfungserzählung liegt früh in die Handlung des Epos eingebettet und folgt unmittelbar auf die Darstellung des durch den dänischen König Hrothgar veranlassten Baus der Halle Heorot. In dieser Halle, die als höchste und größte vor allen anderen Hallen steht, werden glänzende Feste veranstaltet und die besten Krieger mit Geschenken versehen. Reges Treiben herrscht dort allabendlich und freudvoller Jubel, der eines Abends noch zusätzlich vom Harfenklang eines Scop begleitet wird. Dieser ist es, der vom Ursprung der Menschen (V. 91) zu künden weiß:      Þǣr wæs hearpan swēġ, swutol sang scopes.    Sæġde, sē þe cūþe frumsceaft fīra    feorran reċċan, cwæð þæt se ælmihtịga    eorðan worh(te), wlitebeorhtne wang,    swā wæter bebūgeð, ġesette siġehrēþiġ    sunnan ond mōnan, lēoman tō lēohte    landbūendum, ond ġefrætwade    foldan scēatas leomum ond lēafum,    līf ēac ġesceōp cynna ġehwylcum    þāra ðe cwice hwyrfaþ. (V. 89–98) Dort war Harfenklang, der helle Gesang des Scop. Es redete, der den fernen Ursprung der Menschen erzählen konnte, sprach, dass der Allmächtige die Erde machte, leuchtendes Land, so weit das

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Wasser es umgibt, dass der Siegreiche Sonne und Mond den Landbewohnern als leuchtendes Licht setzte und die Winkel der Erde mit Zweigen und Blättern schmückte. Das Leben auch gab er jedem Geschöpf, das sich dort lebendig bewegt.

Es ist hier nicht der Scop selbst, der singt, sondern der Erzähler, der den Scop-Gesang in indirekter Rede an die Rezipierenden weitergibt. Eitelmann hält in diesem Zusammenhang fest, „dass der genaue Wortlaut nur der internen Zuhörerschaft, den anwesenden Dänen, bekannt ist; der externen Rezipientenschaft bleibt er hingegen verborgen“8. Indem der Erzähler zwischen den Scop und die Rezipierenden tritt, wird die Darstellung des Ursprungs ein Stück weit ihrer Unmittelbarkeit beraubt und bewahrt dadurch einen gewissen Geheimnischarakter. Das Wort „Scop“ bezeichnet zunächst einen Dichter oder Sänger.9 Ursprünglich zurückzuführen ist das Wort auf das germanische *scopōn (tanzen, singen, hüpfen).10 Damit, so heißt es bei Werlich, „erscheint [der Scop, A. H.] gesichert als Bezeichnung für den germanischen Priesterdichter in seiner Funktion als ‚(Vor-)Tänzer‘ im Bereich des gehüpften Kulttanzes“11. Jedoch erschöpft sich die Funktion des Scop nicht allein in seiner Rolle als Priesterdichter. So verweist Holthausen auf etymologische Verwandtschaft auch mit dem mittelniederländischen Verb „schoppen“, dem althochdeutschen „scoffōn“ sowie dem altisländischen „scopa, skėypa“, wobei jeweils mit spotten übersetzt wird.12 Diese Verwandtschaft weist nun auf die Funktion des Scop „als Spottdichter“13 hin, „dessen prinzipielle Aufgabe es war, seinem Herrn zu huldigen und mit Scheltreden dessen Widersacher herabzusetzen“14. Die Etymologie des Wortes lässt also auf mindestens zwei Funktionen schließen, die dem Scop zugeschrieben werden können: Zum einen ist er Priesterdichter und als solcher Teil ritueller Praktiken und kultischer Tätigkeiten. Zum anderen ist er ein „Gefolgschaftsdichter“15, der die weltlichen Zusammenhänge sieht und auf diese reagiert, wobei Werlich darauf hinweist, dass sich der Scop allmählich „vom singenden und tanzenden Priesterdichter zum improvisierenden Dichter und Sänger der westgermanischen Gefolgschaft“16

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Eitelmann, Matthias: Beowulfes Beorh. Das altenglische Beowulf-Epos als kultureller Gedächtnisspeicher. Heidelberg 2010 (Anglistische Forschungen 410), S. 103. 9 Holthausen, Altenglisches etymologisches Wörterbuch, S. 281. 10 Vgl. Eitelmann, Beowulfes Beorh, S. 99. 11 Werlich, Egon: Der westgermanische Skop. Der Aufbau seiner Dichtung und sein Vortrag. Münster 1964, S. 317. 12 Holthausen, Altenglisches etymologisches Wörterbuch, S. 281. 13 Eitelmann, Beowulfes Beorh, S. 100. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Werlich, Der westgermanische Skop, S. 318.

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entwickelt hat und also der Gefolgschaftsdichter den Priesterdichter ab einem gewissen Zeitpunkt abgelöst hat. Weiterhin ist der Scop ein mündlich Vortragender; darauf verweist in der oben angeführten Passage schon die Tatsache, dass, bevor sein „sang“ (V. 90) anhebt, zunächst Harfenklang („hearpan swēġ“, V. 89) zu hören ist. Während er singt, begleitet sich der Scop also auf der Harfe. Seine Kunst ist akustische Kunst, eine Kunst, die stets Momentaufnahme ist und als solche nicht in einen schriftlichen Text überführt oder integriert werden kann. Hatte auch Beda erkannt, dass der Prozess des „transferre“ immer Verluste mit sich bringt, weil erzählte Geschichten nie eins zu eins wiedergegeben oder in eine andere Sprache überführt werden können, wird im Beowulf gar nicht erst versucht, den Wortlaut des Scop-Gesangs getreu wiederzugeben. So wird die Erzählung vom Ursprung der Erde und ihrer Geschöpfe mit der Inquitformel „cwæð þæt“, er sagte, dass … (V. 92), eingeleitet und schließlich durch den Erzähler wiedergegeben. Dadurch, dass sein Gesang nur indirekt Eingang in das Epos findet, wird der Scop in seiner Rolle als mündlich und ausschließlich für den Moment Dichtender anerkannt und in dieser ihm zugewiesenen Rolle auch dargestellt. Während über den Scop im Beowulf gesagt werden kann, dass er zur abendlichen Unterhaltung Harfe spielt und dazu von der Schöpfung singt, bezweifelt Frank doch, dass es den „Anglo-Saxon Oral Poet“ jemals gegeben habe17 – einfach deshalb, weil er keine Spuren hinterlassen hat: „[...] if such poets existed in Anglo-Saxon England, they have vanished without a trace“18. Vielmehr vergleicht Frank die mündlich vortragende Sängerfigur der altenglischen Literaturtradition – wie Caedmon oder den Scop des Beowulf – mit den musizierenden Sängerfiguren, die schon die lateinische Literatur kannte,19 woraufhin Johnston im Scop und in der Mündlichkeit seiner Kunst ein „traditionsreiches literarisches Stereotyp“20 erkennt: „[...] ein gelehrtes literarisches Stereotyp, das auf antiken Vorbildern beruht“21. Es ist nun der erste Blick der Rezipierenden in die neu erbaute Halle, der auf jenen Scop fällt, der mit seiner Harfe vor der versammelten Kriegerschar steht. Der Bau des

17 Vgl. Frank, Roberta: The Search for the Anglo-Saxon Oral Poet. In: Textual and material culture in anglo-saxon England. Thomas Northcote Toller and the Toller Memorial Lectures. Ed. by Donald Scragg. Cambridge 2003, S. 137–160. 18 Ebd., S. 138. 19 Vgl. ebd., S. 154: „Yet the harp or lyre circling among dinner guests is not an exclusively insular custom. In Book III of his Etymologies, Isidore lists the various kinds of poems and musical instruments appropriate to different occasions […]. Perhaps the Whitby diners were just doing as the Romans did.“ 20 Johnston, Andrew James: Medialität in Beowulf. In: GRM 59 (2009), S. 129–147, hier S. 135. Johnstons These lautet, dass im Beowulf „historische Komplexität unter anderem über mehr oder minder deutliche Verweise auf mediale Aspekte der dargestellten Kulturen inszeniert“ (ebd., S. 130) werde. Hierzu ist auch die Mündlichkeit zu zählen, durch deren Inszenierung eben Anschluss an die lateinische Literatur gesucht werde. 21 Ebd.

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Prachtgebäudes steht damit parallel zum Weltenbau,22 der hier besungen wird. Es kann an dieser Stelle eine Art doppelter Schöpfungsaspekt ausgemacht werden: Der Scop besingt die Schöpfung, während er sich im Innern einer noch jungen architektonischen Schöpfungsleistung befindet. Doch wie jung ist die Halle wirklich? In einem Aufsatz über das Problem des absoluten Anfangs im Beowulf weist Johnston auf den Fußboden der Halle hin, im Text beschrieben als „fāgne flōr“ (V. 725),23 als (bunt) schimmernder Boden, „in dem die Forschung Überreste einer römischen Villa sieht“24. Sollte der Hallenboden tatsächlich als Reminiszenz an eine römische Villa fungieren, die einmal an jenem Ort existierte, an dem nun der Dänenkönig eine prachtvolle Halle erbauen ließ, so bedeutete das, dass diese „buchstäblich auf den Fundamenten einer verlorenen Kultur [ruhte]“25. Heorot wäre so nicht ex nihilo erbaut worden, sondern Neues wäre aus Altem entstanden, wobei jenes Alte zumindest in Teilen erhalten geblieben und lediglich in einen anderen Zustand überführt worden wäre. Ebenso wie die Halle, die Relikte aus vergangenen Zeiten und Kulturen aufbewahrt, präsentiert sich also auch der in der Halle vortragende Scop, der hier ja selbst auf antikem Grund steht bzw. an antike Traditionen anschließt. Wenn der Scop, wie Johnston herausstellt, als literarisches Stereotyp aufzufassen ist, mag er hier zwar durchaus als Appell an das mündliche Erzählen stehen, in der Tat ist er aber der schriftlichen Literaturproduktion verhaftet, in die er mit seiner Erwähnung in der einzigen überlieferten Beowulf-Fassung letztlich erneut Einzug hält. Der Scop trägt damit einerseits eine ganze Vorgeschichte mit in das Epos hinein und wird andererseits auf dem bunt schimmernden Hallenboden platziert, der wiederum seine ganz eigene Vorgeschichte hat, indem er an die kulturellen Überbleibsel der Römer erinnert. Da die Schöpfungserzählung unmittelbar an die Figur des Scop gebunden wird, der diese, auf dem schimmernden Boden stehend, zum Besten gibt, wird auch sie letzten Endes gespeist von eben jener Vorgeschichte ihres Trägers sowie ihres Aufführungsrahmens. 22 Vgl. hierzu Eitelmann, Beowulfes Beorh, S. 101. Vgl. weiterhin Bessinger, Jr., Homage to Cædmon and Others, S. 91–106, der vom Hallenbau Hrothgars eine Verbindung zum Caedmon-Hymnus zieht und den durch den Schöpfergott veranlassten Erdenbau des Caedmon-Hymnus und den durch Hrothgar veranlassten Hallenbau des Beowulf parallel setzt. Sie beide, der Schöpfergott wie der König, seien Erbauer und Ausschmücker. 23 Johnston, Beowulf und das Problem des absoluten Anfangs, S. 108. 24 Ebd. Johnston bezieht sich an dieser Stelle auf Lerer, Seth: „On fagne floor”: the postcolonial Beowulf, from Heorot to Heany. In: Postcolonial Approaches to the European Middle Ages. Translating cultures. Ed. by Ananya Jahanara Kabir and Deanne Williams. Cambridge 2005 (Cambridge Studies in medieval literature 54), S. 77–104. Lerer beschreibt den „fāgne flōr“ der Halle Heorot als „a floor seemingly decorated or patterned in some way. The word fag or fah appears throughout the poem to connote the patterned objects of the warrior’s treasury: swords, hilts, coats of mail, helms, and the like. But here, I think it means something quite specific. Grendel stands not just on a patterned floor, but a tessellated one: a mosaic relic of an older, Roman architectural past“ (ebd., S. 77). 25 Johnston, Beowulf und das Problem des absoluten Anfangs, S. 108.

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5.1.2 Die schöpferisch tätige Kraft Die Ursprungsdarstellung wird in gerade einmal sieben Versen abgehandelt (vgl. V. 92–98). Dabei werden die Erde (V. 92) sowie das leuchtende Land (V. 93) als Produkte des Allmächtigen (V. 92) ausgewiesen und sind weiterhin Sonne und Mond (V. 94) sowie Zweige und Blätter (V. 97) als Werke des Siegreichen (V. 94) anzusehen, der außerdem für die Existenz aller lebendigen Geschöpfe verantwortlich ist: „ġesceōp / cynna ġehwylcum    þāra ðe cwice hwyrfaþ“ (V. 97 f.). Der Scop, von dem es zu Beginn heißt, er könne vom Ursprung der Menschen berichten, besitzt also offensichtlich auch ein Wissen um den Hergang der Entstehung der Erde. Der Ursprung des Menschen und der Ursprung der Erde gehören hier untrennbar zusammen; sie sind beide Bestandteile einer Erzählung. Ähnlich wie im Caedmon-Hymnus, in dem der Himmel den Menschen als Dach dienen soll, werden auch im Beowulf Sonne und Mond einzig zu dem Zweck aufgehängt, den „landbūendum“ (V. 95) Licht zu spenden. Getreu dem Motto form follows function wird der Mensch im Entstehungsprozess sogleich mitgedacht und die Erde für ihn eingerichtet. Der Erschaffer der Erde wird als Allmächtiger (vgl. V. 92) bezeichnet, der Lebenseinhaucher als Siegreicher (vgl. V. 94). Die Schöpferinstanz wird durch substantivierte Adjektive bezeichnet, die ihr die Eigenschaften, allmächtig und siegreich zu sein, zuschreiben. Von der Eigenschaft der Allmacht war bereits im Kapitel zum Caedmon-Hymnus die Rede. Auch im Hymnus wurde der Schöpfer als allmächtig ausgewiesen, wobei gezeigt werden konnte, dass jene Eigenschaft vor allem dem christlichen Gott zugeschrieben wird.26 Die Bezeichnung „siġehrēþiġ“ allerdings scheint keineswegs einem rein christlichen Kontext zu entspringen. An anderer Stelle des Epos heißt es etwa, dass man nicht mehr damit gerechnet habe, dass Beowulf noch einmal aus den Tiefen des Grendelsees auftauchen und siegreich vor den König treten würde: „þæt hē siġehrēðiġ    sēċean cōme / mǣrne þēoden“ (V. 1597 f.). Auch im Guthlac wird der Begriff in einem nicht christlichen Kontext verwendet. Nachdem Guthlac über die dämonischen Angreifer triumphieren konnte, kehrt er auf seinen Berg zurück. In den Versen 732 f. heißt es: „Sigehreðig cwom / bytla to þam beorge.“ Guthlac wird an dieser Stelle siegreich genannt, nachdem der Kampf gegen die Dämonen zu seinem Vorteil ausgegangen ist. In der Passage des Gesangs des Scop wird der Schöpfer einmal nach dem aus der Bibel bekannten allmächtigen Gott benannt; einmal wird er mit dem gleichen Titel versehen wie der gegen die Dämonen Kämpfende. Dies kann man ähnlich auch im Caedmon-Hymnus beobachten: Hier wird der Schöpfer mit den aus der Bibel bekannten Attributen ewig oder heilig versehen, aber auch mit dem ursprünglich in militärischer Bedeutung verwendeten Begriff „dryhten“ in Zusammenhang gebracht. Um den Schöpfer benennen und damit 26 Vgl. ebd., S. 110. Johnston geht davon aus, dass „die Verwendung des Begriffs Ælmihtiga für den Schöpfergott […] in eine christliche Richtung“ weist.

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begreifbar machen zu können, bedient man sich einmal des christlichen Vokabelschatzes, einmal aus dem Fundus des Kampf- oder Militärvokabulars. Begriffe wie „dryhten“ oder „siġehrēþiġ“ können um- und neu gedeutet werden und sind damit Teil eines kreativen Prozesses. So wird das Bild eines Schöpfers gezeichnet, der seine Kräfte aus der geistlichchristlichen wie der weltlichen Sphäre bezieht und dadurch stets ein Zugleich ist – ein Zugleich, das sich aus der christlichen Heilsgeschichte heraus erklären lässt, in der Gott als Mensch in der Welt erscheint und damit die Vorstellung eines menschlichen Gottes bzw. göttlichen Menschen begründet.

5.1.3 Das Schöpfungswerk In den Versen 92 bis 98 werden die Schöpfungswerke genannt, die der Scop in seinem Vortrag besingt: Es ist zunächst die Erde, die erschaffen wird, dann das Land, soweit das Wasser es umschließt. Anschließend werden die lichtspendenden Gestirne Sonne und Mond gesetzt und wird die Erde mit Zweigen und Blättern geschmückt, bevor schließlich jedes Geschöpf ein Leben erhält. Bei Hoops heißt es, der Schöpfungsgesang folge „ziemlich genau der Darstellung der biblischen Genesis“27, und im Kommentar zu Klaeber’s Beowulf   halten die Herausgeber fest, die Verse 90 bis 98 seien „obviously based on Gen. I“28. So erinnerten Sonne und Mond an die „duo magna luminaria“, von denen in Gen 1,16 die Rede ist, und sei ihre im Beowulf beschriebene Funktion, den Landbewohnern Licht zu spenden („tō lēohte landbūendum“, V. 95), als Anlehnung an Gen 1,17 („ut lucerent super terram“) aufzufassen.29 Auch Vers 98, so halten die Herausgeber weiterhin fest, finde seine Entsprechung in der Genesis. In „cynna ġehwylcum    þāra ðe cwice hwyrfaþ“ erkennen sie eine Parallele zu Gen 1,21: „creavit[] […] omnem animam viventem atque motabilem“30. Es ist ferner auch die Reihenfolge der im Beowulf erwähnten Schöpfungswerke, die an den Verlauf der Genesis erinnert:31 Das Land wird vom Wasser geschieden (Gen 1,9 f.) und die Erde bepflanzt (Gen 1,11 f.); zwei große Lichter werden angebracht (Gen 1,14–19) sowie letztlich Tiere und Menschen erschaffen (Gen 1,20–28). Aus diesem Muster bricht der Verfasser des Beowulf  jedoch vor allem in Bezug auf die Pflanztätigkeit aus. In der Genesis finden die Trennung von Wasser und Land und die Erdbepflanzung an einem einzigen, dem dritten Schöpfungstag statt, und am darauffolgenden Tag erst werden die Gestirne errichtet. Im Beowulf  hingegen ist der Aspekt des 27 28 29 30 31

Hoops, Johannes: Kommentar zum Beowulf. 2., unv. Aufl. Heidelberg 1965, S. 27. Fulk/Bjork/Niles, Klaeber’s Beowulf, S. 121. Vgl. ebd., S. 122. Vgl. ebd. Vgl. hierzu auch Eitelmann, Beowulfes Beorh, S. 101.

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Pflanzens der Errichtung der Sonne und des Mondes nachgestellt.32 So werden Bausteine der Genesis zunächst übernommen, um sie dann umzuordnen. Es ist also auch eine architektonische Leistung, die der Verfasser erbringt. Sein Erzähltes erinnert zwar an die bekannte Schöpfungsarchitektur der Genesis, aber einzelne Baubestandteile werden neu angeordnet. Während sich Hoops und die Beowulf-Herausgeber einig sind, dass der Schöpfungsgesang des Scop – zumindest in den Versen 90 bis 98 – an die biblische Genesis angelehnt ist, stellt Eitelmann die Frage, ob er nicht „ebenso gut mit der germanisch-heidnischen Kosmogonie konform gehen könnte“33. Zu berücksichtigen gelte es seiner Ansicht nach, dass der Schöpfungsvortrag nicht unmittelbar vom Scop wiedergegeben, sondern durch den Erzähler paraphrasiert wird.34 Damit sei es vorstellbar, dass der Erzähler den Bericht des Scop, der möglicherweise heidnisch geprägt ist, christlich umdeutet, indem er „die spezifisch heidnischen Charakteristika durch Abstraktion extrem reduziert“35. Die eddische Vorstellung vom Beginn der Welt etwa ist der Vorstellung der biblischen Genesis in gewissen Punkten nicht unähnlich.36 Zumindest in Bezug auf die jeweiligen Schöpfungswerke und deren chronologische Aufzählung sind Übereinstimmungen zwischen den Schöpfungserzählungen der Lieder- und Prosa-Edda sowie der Genesis auszumachen.37 In der vierten Strophe der Völuspá sind es Burrs Söhne, die das Land hochheben. Darauf ist die Rede von der Sonne, deren Existenz allerdings nicht auf Burrs Söhne zurückgeführt werden kann, da der Text ihre Erschaffung gar nicht erwähnt,38 und „grœnom lauki“, was mit Lauch übersetzt werden kann und wohl eine Pflanzenbezeichnung ist.39 Die Entstehung des Lauchs gründet auf dem Zusammenspiel von erst emporgehobenem Land und (bereits existierender?) Sonne und steht, anders als diese, damit durchaus in Verhältnis zum Wirken der Söhne Burrs:

32 33 34 35 36

Vgl. ebd. Ebd., S. 102. Vgl. ebd. Ebd., S. 103. An dieser Stelle ist zu berücksichtigen, dass die eddischen Texte christlich geprägt sind. Vgl. etwa Snorri, Gylfaginning, S. 43. Die Gylfaginning wird eingeleitet mit den Worten Almáttigr guð skapaði í uphafi himin ok jǫrð ok alla þá hluti, er þeim fylgja, ok síðarst menn tvá, er ættir eru frá komnar, Ádám ok Évu, ok fjǫlgaðisk þeira kynslóð ok dreitðisk um heim allan, Der allmächtige Gott schuf am Anfang Himmel und Erde und alle Dinge, die mit ihnen verbunden sind, und zuletzt zwei Menschen, von denen die (Menschen-)Geschlechter abstammen, Ádám und Éva, und ihr Geschlecht vermehrte sich und breitete sich über die ganze Welt aus. Snorri ist daran gelegen, christliche und vorchristliche Vorstellungen in seinen Text zu integrieren und neben- und miteinander bestehen zu lassen. 37 Vgl. Eitelmann, Beowulfes Beorh, S. 103. 38 Vgl. die Anmerkung in Von See [u. a.], Kommentar zu den Liedern der Edda, Band 1, Teil I, S. 95. 39 Vgl. die Anmerkung in ebd., S. 101.

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áðr Burs synir biǫðom um ypðo,40 þeir er miðgarð mæran skópo; sól skein sunnan á salar steina, þá var grund gróin grœnom lauki. (4, 1–8) ehe Burrs Söhne das Land hochhoben, diejenigen, die Midgard, den berühmten, schufen; die Sonne schien von Süden her auf die Steine des Saals, da war der Erdboden bewachsen mit grünem Lauch.41

Im Dvergatal, das die Strophen 9 bis 16 der Völuspá umfasst, wird sodann die Erschaffung der Zwerge dargestellt. Nordal nimmt an, dass jene Strophen nicht „zum ursprünglichen Bestand des Gedichts“42 gehören und erst später Eingang in die Völuspá gefunden haben. Es muss also ein Bestreben gegeben haben, auf die Darstellung der Erschaffung der Erde die Erschaffung von Lebewesen folgen zu lassen, wobei der Zwergeneinschub vor den in Strophe 17 zuletzt genannten ersten Menschen Askr und Embla steht. Diese sind es, die von den Asen Odin, Hœnir und Lóðurr in Strophe 18 das Leben eingegeben bekommen.43 Im achten Kapitel der Gylfaginning der Prosa-Edda sind es nun Hár, Jafnhár und Þriði, die vom Anfang berichten.44 Wie in der Völuspá sind es auch hier Burrs Söhne, die den Anfang begründen, indem sie den zuvor getöteten Riesen Ymir in das Ginnungagap werfen. Aus Ymirs Körper entsteht sodann die Erde, aus seinem Blut entstehen das Meer und alle Gewässer. Sein Fleisch bildet das Festland, seine Knochen die Felsen, seine Zähne und zerbrochenen Knochen die Steine und das Geröll:

40 Vgl. zu 4, 1 f. ebd., S. 86: Der Beginn der vierten Strophe sei „als Nebensatz und Fortsetzung der Formulierung in Vsp. 3 aufzufassen“, sodass also die in Strophe 3 genannte Erde („iǫrð fannz æva“, 3, 5) und das in Strophe 4 genannte Land als unmittelbar aufeinander bezogen gelten können. 41 Die deutsche Übersetzung ist übernommen aus ebd., S. 95. 42 Nordal, Völuspá, S. 40 f. 43 Vgl. zu den Strophen 17 und 18 die Anmerkung in Von See [u. a.], Kommentar zu den Liedern der Edda, Band 1, Teil I, S. 176: „Vsp. 17 handelt vom Auffinden des kraft- und schicksalslosen Paares Askr und Embla durch die drei Asen, die in Vsp. 18 als Odin, Hœnir und Lóðurr identifiziert werden und das Paar mit Lebensmerkmalen ausstatten“. Dieser Vorstellung nach sind Askr und Embla als leblose Körperhüllen schon da; die Asen treten sodann als Gestalter des menschlichen Wesens auf (vgl. ebd., S. 192). 44 Vgl. Snorri, Gylfaginning, S. 158–160.

Die Verse 89 bis 98 | 73

„Hár segir: Eigi er þar lítið af at segia. þeir tóku Ymi ok fluttu í mitt Ginnungagap ok gerðu af honum iǫrðina; af blóðe hans sæinn ok vǫtnin; iǫrðin var gǫr af holdinu, en biǫrgin at beinunum; griót ok urðir gerðu þeir af tǫnnum ok iǫxlum ok af þeim beinum er brotin vóro“. Hár sagt: „Davon ist nicht wenig zu berichten. Sie nahmen Ymir und warfen ihn mitten in das Ginnungagap und machten aus ihm die Erde – von seinem Blut das Meer und die Gewässer; das Festland wurde aus dem Fleisch gemacht und die Felsen aus den Knochen, die Steine (den groben Sand resp. den Kies) und die Geröllfelder machten sie aus den Zähnen und Backenzähnen und aus denjenigen Knochen, die zerbrochen waren“.45

Aus dem Haar des Riesen, so erklärt der aus den Grímnismál zitierende Hár wenig später, seien die Bäume entstanden, und Ymirs Hirnschale spanne sich schließlich als Himmel über dem Erschaffenen auf: baðmr ór hári, / en ór hausi himinn, der Baum aus dem Haar und aus der Hirnschale der Himmel.46 Zuletzt werden aus Ymirs Gehirn die Wolken geformt.47 Der tote Körper des Riesen wird zum Träger neuen Lebens. Das Blut, das den toten Körper Ymirs verlässt, fließt in neuen Formationen unablässig weiter; den Haaren des Toten wird eine neue Funktion zugewiesen, sodass sie losgelöst von ihrem bisherigen Träger weiterleben können. Leben und Tod gehen an dieser Stelle Hand in Hand: Im Tod erst ist das Leben. An den vier Himmelsenden, so weiß wiederum Þriði zu berichten, werden Zwerge postiert, bevor Glut und Funken in den Himmel gehängt werden, um von dort zu leuchten: […] undir hvert horn settu þeir dverg. […] Þá tóku þeir síur ok gneista þá er lausir fóru ok kastað hafði ór Muspellzheimi, ok settu á miðian Ginnungahimin. […] und unter jede Ecke stellten sie einen Zwerg. Dann nahmen sie Glutteilchen und Funken, als sie frei umherflogen und aus Muspellzheimr ausgeworfen waren, und setzen sie mitten an den Ginnungahiminn.48

Im neunten Kapitel der Gylfaginning werden dann aus Hölzern Askr und Embla, die ersten Menschen erschaffen.49 Die nachstehende Tabelle fasst die in der Genesis, in Völuspá und Gylfaginning sowie die im Scop-Gesang genannten Schöpfungswerke noch einmal zusammen:

45 Ebd., S. 158 f. 46 Ebd., S. 159 f. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 158 f. 49 Ebd., S. 168 f.

74 | Beowulf

Gen 1,3–2,7

Die Völuspá der LiederEdda (Str. 4 sowie 9–18)

Die Gylfaginning der ProsaEdda (8. und 9. Kap.)

Der Scop-Gesang des Beowulf (V. 89–98)

Licht Himmel Wasser Land Pflanzen Gestirne Tiere Menschen

(Hochgehobenes) Land Pflanzen Lebewesen

Wasser Land Felsen, Steine, Geröll Pflanzen Himmel Wolken Gestirne Lebewesen

Erde Land (in Abgrenzung zum Wasser) Gestirne Pflanzen Lebewesen

Ganz gleich nun, ob sich der Scop in seinem Gesang an die biblische Schöpfungsvorstellung der Genesis oder eine vorchristliche Kosmogonie anlehnt: Zumindest die genannten Schöpfungswerke Erde, Pflanzen und Lebewesen begegnen in allen Texten. Die Frage nach der Grundlage, auf der sich der Gesang des Scop entfaltet, ist nicht zu beantworten. Wenn auch die Herausgeber des Klaeber’schen Beowulf in der Genesis eine offensichtliche ­Referenzquelle des Scop-Gesangs erkennen wollen, so erweist sich doch auch die Frage nach der Nähe seines Gesangs zu einer vorchristlichen Kosmogonie als berechtigt,50 sodass letztlich festgehalten werden muss, dass, „beyond question, there is a biblical influence here, wheth­er or not the poet drew on other lore“51. Eine weitere Parallele des Schöpfungsgesangs im Beowulf wurde etwa in Vergils Aeneis gesehen.52 Auch hier ist es ein Sänger, Iopas, der sich in einer lärmenden Festhalle befindet und mit musikalischer Unterstützung ein Lied vom Ursprung der Menschen und Tiere zum Besten gibt: hic canit errantem lunam solisque labores, unde hominum genus et pecudes, unde imber et ignes, Arcturum pluuiasque Hyadas geminosque Triones, quid tantum Oceano properent se tingere soles hiberni, uel quae tardis mora noctibus obstet. (I, 742–746)53

50 Vgl. die Überlegungen Eitelmanns, Beowulfes Beorh, S. 102 f. 51 Fulk/Bjork/Niles, Klaeber’s Beowulf, S. 121. 52 Vgl. ebd. sowie Hoops, Kommentar zum Beowulf, S. 27. Zum Einfluss Vergils auf den Beowulf-Verfasser vgl. außerdem Campbell, Alistair: The use in Beowulf of earlier heroic verse. In: England before the conquest. Studies in primary sources presented to Dorothy Whitelock. Ed. by Peter Clemoes and Kathleen Hughes. Cambridge 1971, S. 283–292. 53 Vergilivs Maro, P.: Aeneis. Recensvit atqve apparatv critico instrvxit Gian Bagio Conte. Editio altera. Berlin/Boston 2019 (Bibliotheca Tevbneriana 2040), S. 28.

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Dieser [Iopas] besingt den umherschweifenden Mond und die Anstrengungen der Sonne, woher das Menschengeschlecht und die (Land-)Tiere, woher Unwetter und Feuersbrünste stammen, er besingt den Arcturus und den hyadischen Regen sowie das Sternenpaar im Großen Bären, warum nur sich die Wintersonnen beeilen, in den Ozean einzutauchen oder welche Verzögerung den lang andauernden Nächten entgegensteht.

Die Welt, die hier beschrieben wird, ist eine dynamische Welt. Verwendet werden dynamische Verben wie „errare“ (umherirren, -schweifen) oder „properare“ (eilen), um den Wechsel von Mond und Sonne oder den Gezeitenwechsel zu beschreiben. Es wird das Bild einer Welt gezeichnet, die nicht erst im Entstehen begriffen ist, sondern längst in Bewegung versetzt wurde und sich seitdem unaufhörlich bewegt. Woher genau Menschen und Tiere letztlich stammen, wird in der Paraphrase durch die erzählende Instanz nicht gesagt. Erwähnt wird nur, dass der Sänger von ihren Ursprüngen kündet. Was Iopas genau zu erzählen weiß, bleibt allein den sich in der Halle befindenden Gästen vorbehalten. Das Lied des Iopas sei, so Volk, „ganz und gar naturwissenschaftlich“54 und gebe „Antwort auf eine Reihe von problemata […], wie die Frage nach der Herkunft von Menschen und Tieren, Wasser und Feuer und den Ursachen der Jahreszeiten“55. Die Frage nach der Himmelsmechanik scheint hierbei die dringlichste zu sein; sie bildet die zentrale Entstehungsfrage an die Welt. Statt die Frage aber nach dem „unde“, dem Woher von Mensch und Tier tatsächlich zu klären, wird in der Paraphrase sogleich von den immer kürzer werdenden Tagen in den Wintermonaten berichtet. Sollte der Sänger die Frage nach dem Woher in seinem Gesang auch beantwortet haben, so gibt sie der Erzähler weder wieder noch beantwortet er sie. Das Woher ist in seiner Paraphrase lediglich eingeschoben zwischen Ausführungen über den Mond und die Sonne, über den hyadischen Regen und das Sternenpaar im Großen Bären. Die paraphrasierte Ursprungserzählung des Iopas ist also weit weniger um den Menschen als um die kosmische Ordnung der Natur zentriert. Obwohl auch im Beowulf das vom Scop Gesungene durch eine erzählende Instanz wiedergegeben und unmittelbares Erzählen auch hier nicht zugelassen wird, begibt sich der Erzähler, dem Scop folgend, aber doch zurück an den Punkt des Ursprungs (V. 91), von dem aus offensichtlich auch der Scop seine Erzählung beginnt.56 So wird in der Paraphrase des Scop-Gesangs im Beowulf vom Schöpfer berichtet, der den Landbewohnern Sonne und Mond als Lichtquellen installiert, während der Erzähler der Aeneis bereits auf deren mühsamen Gang hinweist. Der Standpunkt des Erzählers wie des Erzählens ist damit jeweils 54 Volk, Katharina: Lehrgedicht oder „Naturgedicht“? Naturwissenschaft und Naturphilosophie in der Lehrdichtung von Hesiod bis zur Aetna. In: Wissensvermittlung in dichterischer Gestalt. Hg. von Marietta Horster und Christiane Reitz. Stuttgart 2005 (Palingenesia 85), S. 155–173, hier S. 160. 55 Ebd. 56 Immerhin wird angekündigt: „Sæġde sē þe cūþe / frumsceaft fīra    feorran reċċan“ (V. 90 f.).

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ein anderer. Der Erzähler des Beowulf unternimmt eine Reise zurück zu den Ursprüngen, während Vergils Erzähler gewissermaßen in seiner Zeit bleibt und aus seiner Zeit heraus berichtet. Wenigstens aber finden die Gestirne in beiden Texten Erwähnung. Auch vom Wasser wird sowohl in der Beowulf- als auch in der Aeneis-Passage berichtet sowie in beiden Texten erklärt, dass die Sänger in ihrem jeweiligen Vortrag um den Ursprung der Lebewesen auf der Erde kreisen. Der Ursprung also ist Thema beider Dichtervorträge, auch wenn er in der durch den Erzähler der Aeneis gegebenen Paraphrase nicht mehr ausgeführt wird. Im Vergleich des Scop-Gesangs mit den Schöpfungsvorstellungen der Genesis und der eddischen Texte konnten Überschneidungen im Hinblick auf die in den Texten jeweils genannten Schöpfungswerke festgestellt werden. Auch bei Vergil werden Wasser, Gestirne, Lebewesen genannt, die aus den zuvor besprochenen Texten bekannt sind. Jedoch scheinen die in der angeführten Aeneis-Passage beschriebenen Vorgänge und Erscheinungen seltsam raumenthoben. Himmel und Erde bilden hier keine Koordinaten, innerhalb derer sich das Dargestellte abspielt (die Begriffe Himmel und Erde kommen schlicht nicht vor), und so bleibt bis zuletzt offen, wo bzw. in welchen Bahnen die Gestirne eigentlich umherschweifen und welche Grenzen dem Lebensraum der Menschen und Tiere gesetzt sind. Ähnlich verhält es sich auch im Beowulf: In der Paraphrase des Scop-Gesangs wird zwar eindeutig auf die Erde verwiesen, die der Allmächtige vor allem anderen erschafft („cwæð þæt se ælmihtịga    eorðan worh[te]“, V. 92), der Himmel aber wird zu keinem Zeitpunkt erwähnt. Während die Gestirne in der Genesis explizit „in firmamento caeli“ (Gen 1,14) errichtet werden und auch in der Gylfaginning Ymirs Hirnschale zum Himmelszelt erklärt wird, wird der Himmel in der Paraphrase des Scop-Gesangs gänzlich ausgeklammert.57 Dadurch ist an dieser Stelle nicht einmal sicher zu sagen, an welchem Ort Sonne und Mond als Leuchten eigentlich installiert werden. Die Frage nach der Ordnung der Schöpfungswerke im Raum kann so nicht geklärt werden – ebenso wenig wie die Frage nach der Chronologie der genannten Schöpfungswerke: Denn von Sonne und Mond heißt es, sie werden den Landbewohnern als Leuchten gegeben. Die Frage ist dabei, wann und ob überhaupt jene Landbewohner erschaffen wurden. Immerhin wird auf die Erweckung der Geschöpfe zum Leben erst in Vers 98 hingewiesen und stehen die Geschöpfe hiermit erst am Ende der aufgezählten Schöpfungswerke. Entweder geht die Schöpfungschronologie an dieser Stelle durcheinander und existieren lebendige Geschöpfe bereits zum Zeitpunkt der Errichtung von Sonne und Mond, oder es sind die Geschöpfe zum Zeitpunkt der Errichtung der Gestirne als Idee bereits vorhanden und nur noch nicht ins Sein gesetzt worden. Die Frage nach dem Zeitpunkt des Ins-Sein-Treten der lebendigen Geschöpfe bleibt ebenso unklar wie die Frage, von wo Sonne und Mond den Geschöpfen eigentlich leuchten, wenn es keinen Himmel gibt. 57 Vgl. dazu Bessinger, Jr., Homage to Cædmon and Others, S. 100, der die Schöpfungsdarstellung im Beowulf durch die Nichterwähnung des Himmels als „less complete“ ausweist.

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Durch die Ausklammerung des Himmels wird nicht zuletzt auch mit der unter anderem aus dem eddischen Kontext bekannten formelhaften Verbindung von „jörð“ und „upphiminn“ gebrochen – ebenso wie mit der umgekehrten Verbindung von „caelum“ und „terra“, die die Genesis einleitet und die auch aus dem Caedmon-Hymnus („heben“; „middungeard“) oder dem Wessobrunner Gebet („himil enti erda“) bekannt ist. Wurde im Caedmon-Hymnus oder im Wessobrunner Gebet von oben nach unten gebaut und sich vom Himmel abwärts zur Erde hinuntergearbeitet, wird im Beowulf eher eine horizontale als eine vertikale Ausdehnung der Schöpfungswerke dargestellt. Die Erde spielt in der Schöpfungserzählung des Beowulf eine zentrale Rolle. Nicht nur wird die Wiedergabe des Scop-Gesangs mit dem Verweis auf die Erschaffung der Erde eingeleitet; diese präsentiert sich auch ungewohnt autark, indem ihr der Himmel als Verbindungspartner genommen wird. Während die im Weiteren aufgezählten Schöpfungswerke paarweise auftreten (Sonne und Mond, V. 94; Zweige und Blätter, V. 97) und dabei teilweise noch zusätzlich durch Alliteration miteinander verbunden sind oder, wie im Fall von „wang“ (V. 93), einen ebenfalls alliterierenden Gegensatz („wæter“, V. 93) an die Seite gestellt bekommen, steht die Erde für sich allein. In diesem Punkt unterscheidet sich der Schöpfungsgesang des Beowulf von den Schöpfungsdarstellungen der Genesis, der eddischen Texte, des Caedmon-Hymnus oder des Wessobrunner Gebets. Der Himmel wird in diesen Texten stets genannt und der Blick nach oben damit immerfort gewährt. Dadurch, dass der Himmel im Scop-Gesang des Beowulf aus- bzw. abgeschnitten wird, wird eben jener Blick nach oben verweigert und die Schöpfung gewissermaßen auf die Erde geholt.

5.1.4 Wer trägt die Schöpfung? Zum Aspekt der Mündlichkeit Die Schöpfungsdarstellung Vergils weist mindestens eine weitere Parallele zum Beowulf auf: In beiden Texten wird das Wissen um die Schöpfung an eine Trägerfigur gebunden, die ihr Wissen in der jeweils erzählten Welt mündlich weitergibt. Wenn der angelsächsische Scop Frank zufolge nach antikem Vorbild gestaltet ist, erscheint die Parallelbeziehung noch umso enger. Der Gesang des Scop ist in der Überlieferung des Beowulf nun in englischer Sprache überliefert und entfaltet sich der Fiktion nach inmitten der Festgesellschaft der Dänen, die das Schöpfungslied hörend rezipieren. Doch der Gesang dringt auch nach außen; er verlässt die Halle und wird bis ins Sumpfland zu Grendel getragen, für den das Gehörte offensichtlich ein Aufruf zum Angriff ist. Obwohl der Scop-Gesang noch die Schöpfungsleistung eines monotheistischen Gottes zum Thema machte, halten sich die immer wieder attackierten Dänen schon wenig später in ihrer Not an ihre Götzen:

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Hwīlum hīe ġehēton    æt hærgtrafum wīġweorþunga,    wordum bǣdon þæt him gāstbona    ġēoce ġefremede wið þēodþrēaum.    Swylċ wæs þēaw hyra, hǣþenra hyht;    helle ġemundon in mōdsefan,    metod hīe ne cūþon, dǣda dēmend,    ne wiston hīe drihten God, nē hīe hūru heofena helm    herian ne cūþon, wuldres waldend. (V. 175–183) Gelegentlich verhießen sie in Götzentempeln Opfer für die Götzen, baten mit Worten darum, dass ihnen der Geist-Töter Schutz gewähre gegenüber dem großen Unheil. Solcherart war ihre Gewohnheit, die Hoffnung der Heiden; der Hölle gedachten sie im Herzen. Den Schöpfer kannten sie nicht, den Richter der Taten, nicht kannten sie Gott, den Herrn, auch konnten sie nicht preisen den Schützer des Himmels, den Hüter der Herrlichkeit.

Die in der Halle versammelten Dänen werden also kurz nach der Scop-Passage als Heiden dargestellt, die sich, wenn auch vergebens, Götzen zuwenden. Obwohl die im Beowulf dargestellten Dänen damit nicht dem christlichen Glauben anhängen, stehen ihre heidnischen Praktiken offensichtlich nicht im Widerspruch zu ihrer Abendunterhaltung, in deren Verlauf sie über das Werk eines monotheistischen Schöpfergottes belehrt werden. Trotzdem, und darauf macht Johnston in Bezug auf die heidnische Praxis der Dänen zu Recht aufmerksam, werde über das Erscheinen des Scop, der den götzenverehrenden Dänen vom monotheistischen Schöpfergott vorsingt, durchaus und unmissverständlich eine „Grenze zwischen Heiden und Christen“58 gezogen und bewusst ein Anachronismus platziert. Dieser Anachronismus hat Johnston zufolge die Funktion, den heidnischen Vorfahren, die hier nun Dänen sind, doch zumindest schon „eine Ahnung der christlichen Offenbarung zuzugestehen“.59 Das anachronistische Moment besteht im Aufeinanderprallen von christlicher Lehre und heidnischer Praxis und wird eng an das Medium der gesprochenen Sprache geknüpft: Der Scop trägt seine christlichen Inhalte singend vor, die Dänen wenden sich mit Worten (V. 176) an ihre Götzen. So offenbart sich zumindest in der praktischen Ausübung sowohl des heidnischen als auch des christlichen Glaubens eine Schnittstelle. Über das Wort – und dies ist offensichtlich ein Wissen, das in der erzählten Welt Bestand hat und von Heiden wie von Christen geteilt wird – vermitteln und verfestigen sich religiöse Inhalte und Praktiken. Über die Betonung der mündlich vermittelten Glaubensausübung werden 58 Johnston, Medialität in Beowulf, S. 134. 59 Ebd., S. 136.

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unterschiedliche Traditionsfäden zusammengebunden: Die antike Tradition, der die Figur des Scop erwächst, gibt vor, dass sich diese über das Medium der gesprochenen Sprache ausdrückt, wobei die Bedeutung des Wortes auch den Heiden bekannt ist. So, wie sich im Zuge des Hallenbaus die antike Kultur mit der Kultur der Dänen vermischt, so bildet auch das Wort ein eben solches Gebäude ab, in das die antike, die neue christliche und die alte vorchristliche Tradition einziehen können.

5.2 Die Verse 99 bis 110 5.2.1 Der Beginn des Bösen Unmittelbar auf den Schöpfungsgesang folgt eine Ausführung über das Böse. Diese ergibt sich aus der Tatsache, dass der Gesang des Scop ein unheilbringendes Wesen zum Überfall auf die Dänenhalle veranlasst. Weil der Kampf gegen dieses Wesen im weiteren Handlungsverlauf zentral sein wird, kann man sagen, dass der Schöpfungsgesang, in dem es um den Anfang allen Lebens geht, im Handlungsrahmen selbst einen Anfangspunkt bildet: Der Scop-Gesang wird zum „Auslöser für die Handlung des Epos“60 und markiert damit, so Johnston, „einen doppelten Anfang“61. Indem der Gesang vom Anfang den Anfang der Handlung des Epos markiert, bilde er schließlich, so Johnston weiter, den Punkt, an dem dichterisches und göttliches/schöpferisches Schaffen parallel gesetzt werden.62 Das heißt, dass am Punkt des Singens von Schöpfung der Scop selbst ein schöpferisches, weil anfangsetzendes Potenzial entfaltet: Swā ðā drihtguman    drēamum lifdon, ēadiġlīċe,    oð ðæt ān ongan fyrene fre(m)man    fēond on helle; wæs se grimma gǣst    Grendel hāten, 60 Johnston, Beowulf und das Problem des absoluten Anfangs, S. 110. 61 Ebd., wobei Johnston außerdem auf ein Drittes und damit gar auf einen dreifachen Anfang hinweist, indem er die Parallele des Schöpfungsgesangs im Beowulf zum Caedmon-Hymnus herausstellt: „Zugleich aber scheint der Schöpfungsgesang auf eine dritte Erzählung vom Anfang zu verweisen, nämlich auf die legendarische Geburtsstunde der altenglischen Literatur, worin meines Erachtens das eigentlich Kunstvolle dieser Verknüpfungen besteht. Denn der Schöpfungsgesang des Beowulf ist in der altenglischen Literatur keineswegs singulär. Vielmehr findet er sein Pendant im Gesang Caedmons, welcher so etwas wie den mythischen Anfang nicht nur der englischen Literatur, sondern auch der englischen Literaturgeschichte und sogar der englischen Literaturgeschichtsschreibung bildet.“ 62 Vgl. ebd., S. 117.

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mǣre mearcstapa,    sē þe mōras hēold, fen ond fæsten;    fīfelcynnes eard wonsǣlī wer    weardode hwīle, siþðan him scyppen    forscrifen hæfde in Cāines cynne –    þone cwealm ġewræc ēċe drihten,    þæs þe hē Ābel slōg; ne ġefeah hē þǣre fǣhðe,    ac hē hine feor forwræc, metod for þȳ mane    mancynne fram. (V. 99–110) So lebten die Gefolgsmänner in Freude, glücklich, bis einer begann Frevel zu tun, ein Feind aus der Hölle. Es wurde der düstere Geist Grendel genannt, der berühmte Nachtmahr des Schwellenreichs, der die Moore beherrschte, das Fenn und die Feste. Eine Weile schon bewohnte der unselige Mann das Land, das dem Geschlecht der Fīfel gehörte, nachdem ihn der Schöpfer in Kains Geschlecht verbannt hatte. Den Mord rächte der ewige Herr, weil dieser Abel erschlagen hatte. An der Fehde erfreute er [Kain] sich nicht, denn er, der Herr, verbannte ihn deshalb weit fort von der Menschheit.

Es ist hier weiterhin der Erzähler, der spricht. Allerdings gibt er nicht mehr den Gesang des Scop wieder. Formen in der dritten Person („sæġde“, V. 90; „cūþe“, V. 90) sowie Inquitformeln („cwæð þæt“, V. 92), die in der zuvor besprochenen Passage noch vorkommen und eindeutig auf den Scop verweisen, lassen sich in der hier angeführten Passage nicht finden. Dennoch scheinen beide angeführten Textstellen thematisch verbunden. In den Versen 99 bis 110 wird zunächst auf die freudvolle Zeit hingewiesen, die die Dänen (vgl. V. 99) in der Halle Heorot – in der sie gerade noch den Klängen des Scop gelauscht haben – verbringen, bevor eine weitere Ursprungsthematik verhandelt wird: Diesmal geht es um die Ursprünge des Übels auf der Erde. Es ist ein waghalsiger Sprung von der anfänglichen Freude („dreám“, V. 99) ins Unheil („fyren“, V. 101), der damit vollführt wird. War in den Versen zuvor und im Zusammenhang mit dem Lied über die Erschaffung der Erde noch die Rede vom glänzenden Land oder von Sonne und Mond, die den Erdenbewohnern Licht spenden, bleibt hier von Licht und Glanz nichts mehr übrig.63 Alles Bunte und Lebendige weicht dem Wüsten und der Leere. So wird nunmehr auf „mōr“ (V. 103) und „fen“ (V. 104) verwiesen, auf das Moor und den Sumpf. Der Erde, die im Gesang des Scop soeben durch die Hand des Allmächtigen erschaffen wurde und die sich durch Licht und Lebendigkeit

63 Zum Hell-Dunkel-Kontrast vgl. Wright, Herbert G.: Good and Evil; Light and Darkness; Joy and Sorrow in Beowulf. In: An Anthology of Beowulf Criticism. Ed. by Lewis E. Nicholson. Notre Dame/ London 1976 (Notre Dame books 27), S. 257–267. Grendels dunkles Moor werde Wright zufolge in Kontrast zu den lichtdurchfluteten Versen des Scop-Gesangs gesetzt; als Anhänger der Dunkelheit fühle sich Grendel „irritated by the erection of Heorot“ (ebd., S. 258).

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auszeichnete, wird nun eine andere Erde entgegengestellt: „fīfelcynnes eard“ (V. 104) – ein Land, das die Fīfel beheimatet und Zuhause ungeheuerlicher Kreaturen ist.

5.2.2 Von Kain zu Grendel: Die Genealogie des Bösen Für die Dänen ist die Zeit der Glückseligkeit in dem Moment vorbei, in dem sich der „fēond on helle“ (V. 101) zum Verbrechen verleiten lässt. Der Feind aus der Hölle erhält sogleich einen Namen: „wæs se grimma gǣst Grendel hāten“ (V. 102). Auch Grendel selbst wird schnell in einen harschen Gegensatz zu den lichtdurchfluteten Versen 89 bis 98 gesetzt, indem er als „mearcstapa“ (V. 103) vorgestellt wird, als Nachtmahr des Schwellenreichs. Er wird der Dunkelheit und der Nacht zugeordnet – einer Nacht, die hier bedrohlich erscheint. Grendel, der im weiteren Verlauf des Epos eine zentrale Rolle spielen wird, wird in Vers 102 ein erstes Mal genannt und ausführlich vorgestellt. Neben der Tatsache, dass er dem Dunklen verhaftet ist, erfahren wir noch anderes über ihn: We learn that Grendel is essentially a monstrous exile, a man-shaped64 creature exciting a degree of pity (wonsæli wer), whose dwelling-place is described or implied by a bewildering number of terms (mearc, moras, fen, fæsten, and fifelcynnes eard) which have as their common feature their remoteness from human habitation65.

Als „monstrous exile” wird Grendel bezeichnet, weil er nicht auf der Erde der Menschen lebt, sondern in der Erde der Fīfel zuhause ist. Dass diese keine Wahl-, sondern eine Exilheimat darstellt, wird in den Versen 106 bis 107 deutlich: Auf der Erde der Ungeheuer lebt Grendel, „siþðan him scyppen    forscrifen hæfde / in Cāines cynne“, seit ihn der Schöpfer in Kains Nachkommenschaft verbannt hat. Grendel wird also in die Genealogie Kains gestellt, der zuallererst aus der Gemeinschaft der Menschen entfernt wurde: „hē hine feor forwræc, / metod for þȳ mane    mancynne fram“ (V. 109 f.). Das Eintreten in die Zugehörigkeit zum „Cāines cynne“ (V. 107) bedeutet für Grendel damit ebenfalls „remoteness

64 Insgesamt wird Grendel als unheilvolle („grimma gǣst“, V. 102) und gar höllische Erscheinung („fēond on helle“, V. 101) vorgeführt, aber auch als „wer“ (V. 105; Mann, Mensch) bezeichnet. Das Wort „wer“ findet sich im Epos an vielen weiteren Stellen, wird dort allerdings nie zur Bezeichnung eines in irgendeiner Form monströsen oder diabolischen Wesens gebraucht (vgl. unter anderem die Verse 216, 1222, 1233, 1268, 1650). In diesem Sinn ist Grendel als Erscheinung zu sehen, die sowohl Teile des Monströsen als auch Teile des Menschlichen in sich trägt. 65 Orchard, Andy: Pride and Prodigies. Studies in the Monsters of the Beowulf-Manuscript. Cambridge 1995, S. 59.

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from human habitation“66. Kain und die Exilwelt stehen unmittelbar in Bezug zueinander, wobei zu fragen ist, wo eigentlich diese Exilwelt der Fīfel liegen soll. Im Zuge des ScopVortrags wurde sie nicht besungen; vom wüsten Land ist hier nicht die Rede, allein das leuchtende Land findet Erwähnung. Die Exilwelt existiert damit sowohl in einem geographischen Außerhalb als offensichtlich auch in einem Außerhalb der Schöpfung. Während in der im Scop-Gesang dargestellten Erde die Menschen zuhause sind, werden der Exilwelt anderweltliche Wesen zugewiesen: Þanon untȳdras    ealle onwōcon, eotenas ond ylfe    ond orcneas, swylċe ġī(ga)ntas,    þā wið Gode wunnon lange þrāge;    hē him ðæs lean forġeald. (V. 111–114) Von dort entsprangen alle ungeheuerlichen Wesen, Riesen und Alben und Ungeheuer, auch solche Giganten, die lange Zeit gegen Gott kämpften. Er bezahlte ihnen den Lohn dafür.

Riesen, Alben, Ungeheuer und Giganten: Sie alle leben im Fīfel-Land, wobei vor allem die Frage danach, wie jene „Fīfel aussehen und was sie gewohnheitsmäßig tun, […] nicht festzustehen [scheint]“67. Das hält Störmer-Caysa fest, die zeigen kann, dass in keinem der Texte, die von Fīfeln berichten, eigentlich klar wird, wie man sich diese vorzustellen hat.68 Nur dies kann mit einiger Sicherheit festgehalten werden: Es handelt sich um anderweltliche Wesen, die nicht im Land der Menschen leben und deshalb, so heißt es in Strophe 51 der Völuspá, um die Menschenwelt erreichen zu können, erst mit dem Schiff anreisen müssen.69 Ihre Reise steht hier im Zusammenhang mit Zerstörung und Untergang der diesseitigen Welt, weshalb die Fīfel Störmer-Caysa zufolge „als finstere Gegner und Eroberer“70 anzusehen seien. Auch darauf, dass diese Gegner als riesenhaft gedacht werden können, wird hingewiesen: Im Waldere seien es Fīfel, die Dietrich feindlich bedrängen, während in

66 Ebd. 67 Störmer-Caysa, Uta: Fīfel und Drachenblut. Mythologeme und Wissenssedimente des Beowulf in interkultureller Verhandlung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9/2 (2018), S. 109–131, hier S. 113. 68 Vgl. ebd., S. 111–117. Störmer-Caysa führt hier die altenglische Boethius-Übersetzung an, in der vom „Fīfel-Strom“, einem Wasserweg, die Rede ist, sowie zwei Fragmente des altenglischen Waldere, wo Dietrich vor einem Fīfel-Angriff bewahrt werden kann. Auch in Strophe 51 der Völuspá findet das Geschlecht der Fīfel Erwähnung. 69 Vgl. ebd., S. 115. 70 Ebd.

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der Virginal H, an deren Parallele zum Waldere Höfler erinnert habe, Dietrich explizit von Riesen gefangen genommen werde.71 Dass Fīfel also riesenhafte Wesen sind, ist denkbar, finden sich in den Versen 111 bis 114 doch noch weitere Riesen-Verweise – immerhin werden auch „eotenas“ und „ġī(ga)ntas“72 dem Exil zugeordnet und kann vielleicht Grendel selbst als Riese ausgewiesen werden, weil er in Vers 761 ebenfalls „eoten“ genannt wird.73 Diese mehrmaligen Verweise auf riesenhafte Wesen sowie vor allem die Auslagerung dieser Wesen in eine räumlich vom Land der Menschen abgetrennte Welt lässt an das vom Land der Menschen getrennt liegende Riesenland denken, das die Gylfaginning kennt.74 Die Menschen, so heißt es hier im achten Kapitel, bewohnen die Burg „Miðgarðr“, die gegen die Gefahr eindringender Riesen geschützt wird, indem ein Wall um sie gezogen wird. Durch die Ziehung des Walls haben die Riesen nicht mehr die Möglichkeit, das Land der Menschen zu betreten. Es wird hier also von einer horizontalen Anordnung verschiedener Welten ausgegangen, die nebeneinander bestehen können, nicht aber miteinander bestehen müssen. Es ist weiterhin zu bedenken, dass Grendel auch als „fēond on helle“ (V. 101) bezeichnet und damit der Hölle zugeordnet wird. So ist zu fragen, ob mit dem Fīfel-Land, dem Grendel ja nun auch zugehörig ist, nicht die christliche Hölle gemeint sein kann – und eben nicht ein Land der Riesen, das geographisch getrennt vom Land der Menschen liegt. Ungeachtet jedoch der Frage, ob „fīfelcynnes eard“ die christliche Hölle abbildet oder nicht, zeigt die Nennung des Begriffs immerhin, dass eine Vorstellung der Hölle vorhanden ist. In der Schöpfungsdarstellung der Verse 89 bis 98 spielt die Hölle ebenso wenig eine Rolle wie der Himmel, dessen Existenz aber ebenso vorausgesetzt wird, weil er schließlich in Vers 182 genannt wird – was zeigt, dass durchaus eine Idee des Himmels vorhanden ist (Gott wird hier als Schützer des Himmels bezeichnet). Die Paraphrase des Scop-Gesangs zentriert sich ausschließlich um den Platz der Erdenbewohner („landbuend“, V. 95) im Schöpfungsganzen; Himmel und Hölle werden ausgeklammert und nicht explizit als Werke der Schöpfung herausgestellt, obwohl deren jeweilige Existenz vorausgesetzt wird. Sie sind da, gehören aber nicht zum Kern einer Schöpfungserzählung, die im Beowulf allein das im Blick behält, was den Bewohnern der Erde gegeben wird. Die Frage nach den Fīfeln, die Frage danach, wer sie sind und wo sie leben, bleibt bis zuletzt ungeklärt, sodass volkssprachliche Erzählungen von Fīfeln, sollte es sie gegeben

71 Vgl. ebd., S. 113. 72 Vgl. ebd. unter Hinweis auf Gwara, Scott: Heroic Identity in the World of Beowulf. Leiden/Boston 2008 (Medieval and renaissance authors and texts 2). Störmer-Caysa verweist hier auf die Arbeit Gwaras (Heroic Identity in the World of Beowulf, S. 163), in der auf zwei Glossenbelege hingewiesen wird, in denen lateinisch „gigas“ mit altenglisch „eoten“ übersetzt wird. 73 Vgl. Störmer-Caysa, Fīfel und Drachenblut, S. 113. 74 Vgl. Snorri, Gylfaginning, S. 158–160.

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haben, heute schlicht nicht mehr rekonstruierbar sind.75 Anders verhält es sich mit dem geschilderten Ereignis des Brudermords: Dieses stellt einen eindeutigen Bezug zum Alten Testament her. „Cain’s killing of Abel“, so erklärt Orchard, sei gar „[t]he only biblical event[] certainly alluded to in Beowulf“76. Nicht im kurz zuvor dargestellten Schöpfungsakt will Orchard also eine Anspielung auf ein biblisches Ereignis erkennen, sondern im Verweis auf Kain und Abel. Tatsächlich scheint die Nennung Kains in Verbindung mit dem Namen „Ābel“ (V. 108), dem Substantiv „cwealm“ (Mord, V. 107) und dem Verb „forwrecan“ (verbannen, V. 109) imstande, die gesamte Brudermordgeschichte des Alten Testaments abzubilden: Kain tötet seinen Bruder Abel und wird daraufhin von Gott verdammt, ein ewig unstetes Leben zu führen: „vagus et profugus eris super terram“ (Gen 4,12). Hellgardt und Müller wiederum erkennen anders als Orchard noch einen weiteren Bezug zum Alten Testament. Im Anschluss an die Paraphrase des Scop-Gesangs findet sich der Hinweis auf ein kurzes, aber glückliches Leben in jener Halle, das durch das Auftauchen Grendels jäh gestört wird. Laut Hellgardt und Müller ließe sich „[d]ie Störung des harmonischen Zustands in Heorot […] in direktem heilsgeschichtlichem Zusammenhang mit der Störung des harmonischen Zustands der biblischen Urgeschichte verstehen“77. Tatsächlich wird ähnlich dem in der Genesis geschilderten paradiesischen Zustand, in dem die Menschen vor dem Sündenfall leben, auch im altenglischen Epos ein glücklich-harmonischer Zustand beschrieben,78 der schließlich durch das Auftreten des Feindes aus der Hölle (vgl. V. 101), eines Nachkommens Kains, durchbrochen wird.79 Der Wechsel von Harmonie und Disharmonie bildet also eine gewisse Analogie zu den Ereignissen und ihrer Abfolge in der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments. Der Beowulf-Verfasser hält sich zunächst an die chronologische Abfolge von Gen 1–4, erzählt von Schöpfung und Brudermord, wobei eben durch die Nennung Kains und Abels 75 Vgl. Störmer-Caysa, Fīfel und Drachenblut, S. 115. 76 Orchard, Pride and prodigies, S. 58, wobei Orchard neben dem Verweis auf das Brudermordmotiv auch auf das biblische Motiv der Sintflut verweist, das im Epos in den Versen 1699 bis 1693 zur Sprache kommt. 77 Hellgardt, Ernst und Stephan Müller: Der Sänger und die Runen. Über christliche und heidnische Kommunikationspraktiken und das Geschichtsbild des „Beowulf“. In: Grippe, Kamm und Eulenspiegel. Festschrift für Elmar Seebold zum 65. Geburtstag. Hg. von Wolfgang Schindler und Jürgen Untermann. Berlin/New York 1999, S. 177–206, hier S. 178. 78 Vor allem das Adjektiv „wlitebeorht“ (V. 93) scheint diesen Glückszustand, der auch im Alten Testament dem Beginn des irdischen Lebens eigen ist, auszudrücken. So werden in der altenglischen Genesis A Adam und Eva als „wlitebeorht“ dargestellt: „þa wæs Eue, Adames bryd, / gaste gegearwod. Hie on geogoðe bu / wlitebeorht wæron on woruld cenned / meotodes mihtum“ (V. 186–189). An dieser Stelle führt das Paar noch ein glückliches Leben. Erst an späterer Stelle werden sie aus dem Paradies vertrieben und wird Kain Abel erschlagen. Das im Gesang des Scop angeführte „wlitebeorht“ scheint den anfänglichen Zustand des Glücks somit auf geeignete Weise zu evozieren. 79 Vgl. Hellgardt/Müller, Der Sänger und die Runen, S. 178.

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bewusst biblische Bilder und Szenen evoziert werden. Trotz dieser Parallelen zur biblischen Schöpfungs- und Sündenfalldarstellung ist letztlich aber doch festzuhalten, dass er in vielerlei Hinsicht auch umbaut. Zum einen wird im Zuge der Schöpfungsdarstellung der Himmel ausgeklammert; zum anderen greift der Beowulf-Verfasser in den biblischen Stammbaum ein und sortiert diesen um, wobei letztlich die Kainssippe ihr Zuhause im geographisch nicht fixierten anderweltlichen Fīfel-Land erhält. Es ist ein ungeheuerliches Wesen namens Grendel, das neu in die genealogische Abfolge von Adam und Eva, Kain und Abel aufgenommen wird. Damit vollbringt der Verfasser erneut eine architektonische Leistung: Ähnlich der neu erbauten Halle Heorot, die auf den Fundamenten des Vergangenen, den Überresten alter Bauten, steht, ist Grendel dem Nährboden einer ihm zeitlich vorausliegenden Tradition entwachsen, die weiterhin offenbleibt für Eingriffe und so eben immer wieder um- und weitergebaut werden kann.

5.2.3 Zurück zum Schöpfer Die Frage nach der schaffenden Kraft wurde bereits in Kapitel 5.1.2 aufgeworfen. In den Versen 89 bis 98 wurde das Bild eines Schöpfers gezeichnet, der sich dadurch auszeichnet, dass er sowohl dem Oben wie dem Unten zugeordnet ist. Durch den Gebrauch des Begriffs „ælmihtiga“ (V. 92) wird die schöpferische Kraft einerseits einer geistlichen Sphäre zugeordnet; mit dem Begriff „siġehrēþiġ“ (V. 94) wird sie andererseits mit weltlichen Attributen versehen. In den Versen 99 bis 110 wird der Schöpfer erneut angerufen. Es finden sich hier die Bezeichnungen „scyppen“ (V. 106), „ēċe drihten“ (V. 108) und „metod“ (V. 110). Dies sind allesamt Bezeichnungen, die bereits aus dem zuvor besprochenen Caedmon-Hymnus bekannt sind. Während der Hymnus ein Preislied auf „metudæs maecti“ (V. 2) anstimmt, der „eci dryctin“ (V. 4 und 8) als Begründer eines jeden Wunders ausgewiesen wird und der „haleg sceppend“ (V. 6) einen Himmel als Schutzdach für die Menschen errichten lässt, hat der Schöpfer und ewige Herr in den genannten Beowulf-Versen ganz andere Aufgabenbereiche zu bewältigen: Der Schöpfer verbannt den Unhold Grendel in die Nachkommenschaft Kains, der ewige Herr rächt den Mord an Abel, indem er dessen Mörder aus der menschlichen Gemeinschaft verstößt. Erneut greift der Schöpfer in sein Schöpfungswerk ein und begründet mit der Verbannung Kains das Fīfel-Land. Obwohl Fulk, Bjork und Niles mit Entschiedenheit festhalten, dass der im Beowulf dargestellte Schöpfungsvorgang „no special resemblance to Caedmon’s Hymn“80 zeigt, weisen der Hymnus und die auf die Schöpfungserzählung folgenden Beowulf-Verse 99 bis 110 in der Wahl der Schöpferbezeichnungen sehr wohl Parallelen auf. Das muss kein Zufall sein. 80 Fulk/Bjork/Niles, Klaeber’s Beowulf, S. 121. Die Herausgeber beziehen sich mit dieser Feststellung auf die Verse 90 bis 98 des Epos.

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Immerhin kann davon ausgegangen werden, dass der Verfasser des Epos die Historia ecclesiastica und damit auch die Geschichte Caedmons gekannt hat.81 Aus der Annahme, dass der Beowulf-Verfasser die Historia kannte, ergibt sich die intertextuelle Beziehung zwischen dem Hymnus und der Schöpfungsdarstellung des Epos natürlich von selbst. Jedoch ist es ebenso möglich, dass beide Texte (zumindest in Teilen) auf einer gemeinsamen Grundlage bzw. auf dem gemeinsamen Wissen um ein bereits festgefügtes Schöpferbild beruhen. In Fortsetzung dieses Gedankens ließe sich auf Genesis A verweisen. Auch hier begegnen „ece drihten“ (V. 112), „metod“ (V. 121) und „scippend“ (V. 137) wieder. Ganz gleich, welcher Text welches Bild zuerst anführte oder ob einer dieser Texte auf Grundlage eines anderen Textes entstanden ist, wird doch deutlich, dass es einen etablierten Begriffsfundus gegeben haben muss, dessen man sich bediente. Das ließ sich bereits im Vergleich des Caedmon-Hymnus mit Guthlac feststellen. In beiden Texten wurde die göttliche Instanz mit den Attributen ewig, heilig und allmächtig versehen, und beide Texte waren sich einig in der Vorstellung, dass diese die Hüterin des Himmelreichs ist. Während das den Schöpfer bezeichnende Begriffspersonal einigermaßen festgelegt zu sein scheint, werden die ihm zugeschriebenen Handlungen und Fähigkeiten hingegen auf weit vielfältigere Weise gestaltet. So kommt es, dass die Schöpferbezeichnungen in den Versen 99 bis 110 des Beowulf allesamt in Zusammenhang mit dem Bösen stehen, wohingegen etwa der „Metod“ in Genesis A noch als „Metod engla“ (V. 121) ausgewiesen wird und damit als Schöpfer oder Herr der Engel vor den Rezipierenden steht. Anders als im Hymnus oder in Genesis A geht es in den oben angeführten Versen des Beowulf außerdem nicht mehr um die Schöpfung der ersten Dinge. Die Schöpfung der Erde wurde kurz zuvor im Gesang des Scop dargestellt; nunmehr geht es um den Fortgang und die weitere Entwicklung des Erschaffenen. Der Schöpfer wird wieder auf den Plan gerufen, nachdem sich sein Werk längst verselbstständigt hat. Der „scyppen“ (V. 106) erscheint so nicht in seiner Rolle als Begründer des Neuen, sondern vielmehr als Veränderer des bereits Existierenden, indem er zum Beispiel das Kainexil einrichtet und alle Ungeheuer dorthin verbannt. Die Verse 89 bis 110 des Beowulf lassen sich als Weitererzählung bekannten Materials verstehen. Vor allem die durch den Schöpfer veranlasste Verbannung der Sündigen ins Moor kann schließlich als eine Art Drehen an der Schöpfungsuhr verstanden werden. Ausgehend von der Schöpfungsdarstellung in den Versen 89 bis 98 wird sodann ein dunkel-wüster Ort beschrieben und also das Bild vom Schöpfungsbeginn, wie ihn das Alte Testament darstellt, heraufbeschworen. Die Schöpfung ist damit als unaufhörlicher Schöpfungsgang zu verstehen und präsentiert sich als creatio continua, indem es dem Schöpfer möglich ist, immer wieder in seine Schöpfung einzugreifen. Diese Vorstellung des Wiedereingreifens in die

81 Vgl. Johnston, Beowulf und das Problem des absoluten Anfangs, S. 113 f.

Die Verse 99 bis 110 | 87

Schöpfung scheint schon in der Sintfluterzählung der Genesis auf, und auch in Ps 103 wird die stetige Aktivität Gottes in Bezug auf seine Schöpfung betont: omnia in te sperant ut des cibum eis in tempore suo dante te illis colligent aperiente manum tuam replebuntur bono abscondes vultum tuum et turbabuntur auferes spiritum eorum et deficient et in pulverem suum revertentur emittes spiritum tuum et creabuntur et instaurabis faciem terrae sit gloria Domini in sempiternum laetabitur Dominus in operibus suis qui respicit terram et tremet tangit montes et fumabunt cantabo Domino in vita mea psallam Deo quamdiu sum placeat ei eloquium meum ego autem laetabor in Domino deficiant peccatores de terra et impii ultra non sint benedic anima mea Domino. (Ps 103, 27–35) Sie alle warten auf dich, dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit. Gibst du ihnen, dann sammeln sie ein; öffnest du deine Hand, werden sie satt an Gutem. Verbirgst du dein Gesicht, sind sie verstört; nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde. Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen, und du erneuerst das Antlitz der Erde. Ewig währe die Herrlichkeit des Herrn; der Herr freue sich seiner Werke. Er blickt auf die Erde, und sie erbebt; er rührt die Berge an, und sie rauchen. Ich will dem Herrn singen, solange ich lebe, will meinem Gott spielen, solange ich da bin. Möge ihm mein Dichten gefallen. Ich will mich freuen am Herrn. Doch die Sünder sollen von der Erde verschwinden, und es sollen keine Frevler mehr dasein. Lobe den Herrn, meine Seele! Halleluja!

„Ece drihten“ (V. 108) und „metod“ (V. 110) werden im Beowulf nach dieser Vorstellung gestaltet. Das einmal Geschaffene ist nicht so und nur so gesetzt, sondern zeichnet sich vielmehr durch ein ständiges Wieder- und Weitererschaffen aus.

5.3 Die Verse 89 bis 110: Der Weg der Schöpfung In der Caedmon-Erzählung des Beda galt das Wissen um die Schöpfung als Eintrittskarte in ein geistliches Leben. In dem Moment, in dem Caedmon zum Träger jenes Wissens um den Schöpfungshergang wird, kehrt er dem Hirtenleben den Rücken und tauscht Viehstall gegen Klostermauern. Seine nächtliche Vision und sein neu erworbenes Wissen geben Caedmon den Weg vor, der nun ausgebreitet vor ihm liegt und den er nur zu gehen hat. Im Beowulf findet sich keine Darstellung eines individuellen Christianisierungsprozesses. Es ist hier nicht der Schöpfungsgesang, der seinem Sänger den Weg in ein neues geistliches Leben weist, sondern ein weltlicher Sänger, der den Schöpfungsgesang in die Dänenhalle hineinträgt. Die Schöpfung wird aus einer rein christlichen Umgebung herausgenommen und hält Einzug in die verschiedensten Bereiche des Lebens: Der Gesang des Scop ist nicht mehr ausschließlich für geistliche Ohren bestimmt, sondern wird den fröhlich feiernden 88 | Beowulf

Dänen vorgetragen; er entfaltet sich unter dem Dach der prächtigen Halle Heorot, und es muss davon ausgegangen werden, dass das musikalische Treiben auch dem Feind aus der Hölle, wohnhaft im Fīfel-Land, nicht verborgen bleibt. Die Musik und damit auch die Schöpfung, die sich in der Musik vollzieht, erfüllen nunmehr einen Ort, dessen Architektur sich sowohl konservierend als auch innovativ zeigt. Die Dänenhalle, die Hrothgar erst neuerlich hat errichten lassen, ruht auf dem Fundament eines römischen Bauwerks, also auf dem Fundament einer längst vergangenen Zeit. Es ist jene Architektur, nach deren Bauplan auch das Schöpfungsnarrativ selbst gebaut ist. Zum einen werden in der Schöpfungserzählung die Schöpfungswerke Erde, Pflanzen und Lebewesen genannt, die schon aus den eddischen Texten sowie der Genesis bekannt sind. Zum anderen jedoch wird die Erde sogleich von ihrem Partner – dem Himmel, der sowohl in der Lieder-Edda (wenn auch in der Negation) als auch in der Prosa-Edda oder der Genesis noch an ihrer Seite auftritt – getrennt und muss fortan für sich alleine stehen. Bis dato bekannte Bilder und Motive werden einerseits konserviert, andererseits aber auch innovativ eingesetzt und weiterentwickelt. In dem Moment, in dem der Scop die Schöpfung mit sich nach Heorot nimmt, wird sie aus dem rein christlichen Ideenkontext, in den etwa Beda sie in seiner Caedmon-Erzählung eingebettet hat, herausgelöst. In den Versen 99 bis 110 zieht der Verfasser zunächst den festgefügten Fundus der geläufigen Bezeichnungen für die schöpferische Instanz heran, um diese sodann in ganz neue Kontexte zu überführen. Die aus Genesis A oder dem Caedmon-Hymnus bekannten Schöpferbezeichnungen wie „ece drihten“, „metod“ und „scippend“ werden nun im Kontext des Einbruchs des Bösen in die Welt verwendet, oder es wird das Brudermordmotiv des Alten Testaments angeführt, um schließlich das eposeigene Ungeheuer Grendel in die biblische Genealogie zu stellen. Der Blick auf die Schöpfung verändert sich und mit ihm auch das Erzählen von ihr. Bereits durch den Ausschluss des Himmels im Zuge der Schöpfungsdarstellung bleibt der Blick nach oben verwehrt. Die Schöpfung wird von einem weltlichen Sänger auf die Erde geholt. Der Blick haftet an dem, was sich unten abspielt. In diesem Zusammenhang wird auch relevant, worauf Johnston aufmerksam gemacht hat. Der Gesang des Scop, der um den Anfang der Welt und des Lebens kreist, ist es, der den Anfangspunkt der erzählten Handlung markiert. Sein Gesang ruft den Feind aus dem Land der Fīfel auf den Plan, dessen Bekämpfung die Dänen im weiteren Handlungsverlauf mehr als alles andere beschäftigen wird. So werden in der Darstellung des Scop-Gesangs das dichterische und das göttliche Wirken parallel zueinander gesetzt, weil sowohl das dichterische wie das göttliche Wirken darauf ausgerichtet sind, einen Anfang zu markieren. Die Idee der auf die Erde geholten Schöpfung meint also auch, dass am Punkt des Singens von der Schöpfung nicht nur über die besondere Leistung des allmächtigen Schöpfers der Erde nachgedacht wird, sondern auch über die besondere Leistung des Singens. Diese besteht darin, dass im Handlungsrahmen des Epos das Singen den Startpunkt der Handlung bildet.

Die Verse 89 bis 110: Der Weg der Schöpfung | 89

6 Zum Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet

6.1 Text und Überlieferung In beiden bis hierher besprochenen Texten war das Erzählen von der Schöpfung Teil eines größeren Handlungskomplexes. In Bedas Caedmon-Erzählung trägt Caedmon sein Wissen um den Beginn der Welt hinein ins Kloster, wo er, der einstige Hirte, ein neues Leben beginnen kann. Im Beowulf  ist es der Scop, der das Erzählen vom Anfang der Erde und ihrer Lebewesen in die prächtige Dänenhalle Heorot hinein trägt, in die bald schon das Unheil Einzug halten soll. Demgegenüber ist im Wessobrunner1 Schöpfungshymnus und Gebet das Erzählen von dem, was am Anfang war, nicht in einen größeren erzählerischen Kontext eingebunden, sondern steht für sich allein. Überliefert ist der mit „de poeta“ überschriebene Text, der um oder kurz nach 8002 entstanden ist, in einer Handschrift aus dem neunten Jahrhundert.3 Der althochdeutsche Textteil umfasst neun stabgereimte Verse und einen Gebetsteil in Prosa, auf den ein lateinischer Abschluss folgt. 1

2

3

Zum Namenszusatz Wessobrunner vgl. Hellgardt, Ernst: Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet. In: Althochdeutsche und altsächsische Literatur. Hg. von Rolf Bergmann, S. 510–515, hier S. 510. Der Hinweis auf Wessobrunn ergibt sich aus der Tatsache, dass die Bibliothek des Klosters Wessobrunn mittelalterliche Aufbewahrungsstätte des Textes war. Vgl. Steinhoff, Hans-Hugo: Wessobrunner Gebet. In: 2VL 10 (1999), Sp. 961–965, hier Sp. 961. Vgl. zur Datierung des Textes aber auch Herweg, Mathias: Anfang und Ende der Welt im Stabreim. Kosmologische Entwürfe der ältesten deutschen Literatur. In: Anfang und Ende. Vormoderne Szenarien von Weltentstehung und Weltuntergang. Hg. von Marion Gindhardt und Tanja Pommerening. Darmstadt 2016, S. 105–123, hier S. 110. Herweg hält eine Entstehung des Textes vor 800 nicht für ausgeschlossen. München, Bayer. Staatsbibl., Clm 22053, fol. 65v und 66r. Hymnus und Gebet bilden das einzige deutschsprachige Stück im Codex, der ansonsten lateinisches Schrifttum überliefert. Ausnahmen bilden unter anderem die deutschen Übersetzungen lateinischer Länder- und Städtenamen auf fol. 61r–63r sowie die Glosse „Kazungali“ (mit Sternrune) auf fol. 63r. Zur handschriftlichen Umgebung des Textes vgl. Huismann, Johannes A.: Das Wessobrunner Gebet in seinem handschriftlichen Kontext. In: Althochdeutsch. In Verb. mit Herbert Kolb, Klaus Matzel, Karl Stackmann hg. von Rolf Bergmann, Heinrich Tiefenbach und Lothar Voetz. Heidelberg 1987, Band 1: Grammatik, Glossen und Texte, S. 625–636. Für einen Überblick über die Glossen im Codex vgl. Seebold, Elmar: Chronologisches Wörterbuch des deutschen Wortschatzes. Band 2: Der Wortschatz des 9. Jahrhunderts. Bearb. von Elmar Seebold, unter Mitarb. von Brigitte Bulitta, Elke Krotz und Elisabeth Leiss. Berlin/New York 2008, S. 100 f. Zur Datierung der Handschrift vgl. Hellgardt, Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet, S. 510. Hellgardt nimmt eine Entstehung der Handschrift zu Beginn des neunten Jahrhunderts an. Der althochdeutsche Text (samt Interpunktion) wird im Folgenden zitiert nach: Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 16. Die lateinische Überschrift und der lateinische Abschluss, die sich bei Steinmeyer nicht finden, werden nach der Handschrift zitiert. Abweichend von Steinmeyer werden nach „paum“ in Vers 3, zwischen „ni“ und „nohheinig“ in Vers 4 sowie nach „enti cot heilac“

90 | Zum Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet

Im unten stehenden Abdruck werden die tironische Note für enti sowie die Sternrune für ga,4 die sich in den althochdeutschen Textteilen finden, jeweils kursiv gesetzt: de poeta Dat gafregin ih mit firahim    firiuuizzo meista, Dat ero niuuas    noh ufhimil, noh paum    noh pereg niuuas, ni nohheinig    noh sunna niscein5, noh mano niliuhta    noh der mareo seo. Do dar niuuiht niuuas    enteo ni uuenteo, enti do uuas der eino    almahtico cot, manno miltisto,    enti dar uuarun auh manake mit inan cootlihhe geista.    enti cot heilac. Cot almahtico, du himil enti erda gauuorahtos enti du mannun so manac coot forgapi, forgip mir in dino ganada rehta galaupa enti cotan uuilleon, uuistóm enti spahida enti craft, tiuflun za uuidarstantanne enti arc za piuuisanne enti dinan uuilleon za gauurchanne. Qui non uult peccata sua penitere ille uenit iterum ubi iam amplius illum non penitebunt nec illorum se ultra erubescit.

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in Vers 9 keine Lücken im Text angesetzt. Diese kann man nur ansetzen, wenn man davon ausgeht, dass sich der Verfasser des Textes streng an die Regeln der Stabreimmetrik gehalten hat. Vgl. dazu den Stellenkommentar in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150. Hg. von Walter Haug und Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), S. 1066 f. Haug folgend, der betont, dass der Text in der überlieferten Form „einen klaren Sinn ergibt“ (ebd., S. 1063), wird der Text ohne die von Steinmeyer gesetzten „...“, die für angenommene Lücken in der Überlieferung stehen, wiedergegeben. Mit metrischen Mängeln wird also gerechnet (vgl. ebd.). Zur Verwendung der Sternrune im Text vgl. Schwab, Ute: Die Sternrune im Wessobrunner Gebet. Beobachtungen zur Lokalisierung des clm 22053, zur Hs. BM Arundel 393 und zu Rune Poem V. 86–8. Amsterdam 1973 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 1). Vgl. zur Konjektur „scein“ Haug, Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150, S. 1067: „An der Besserung von stein zu scein wird, im Blick auf den syntaktischen Gleichlauf von v. 5a, kaum gezweifelt“. Zum Vorschlag, die in der Hs. überlieferte Form gegen die Konjektur zu setzen, vgl. zuerst Gottzmann, Carola L.: Das Wessobrunner Gebet. Ein Zeugnis des Kulturumbruchs vom heidnischen Germanentum zum Christentum. In: Althochdeutsch. In Verb. mit Herbert Kolb, Klaus Matzel, Karl Stackmann hg. von Rolf Bergmann, Heinrich Tiefenbach und Lothar Voetz. Heidelberg 1987, Band 1: Grammatik, Glossen und Texte, S. 637–654, sowie dann auch Schwab, Zum Wessobrunner Gebet, S. 418–423. Diesem Vorschlag zufolge würde auch die Nicht-Existenz des Steins im Zuge der Darstellung des präkreativen Zustands eigens betont.

Text und Überlieferung | 91

Über den poeta6 Das erfuhr ich unter den Menschen als das Höchste allen Wissens,7 dass weder die Erde war noch der Überhimmel, weder Baum noch Berg, weder ein einziges noch schien die Sonne, weder leuchtete der Mond noch die glänzende8 See. Als da nichts war, nichts der/an Enden und der/an Wenden, da war der eine, allmächtige Gott, der besonders den Menschen gegenüber Freigiebige,9 und da waren auch manche mit ihm,10 herrliche Geister, und der heilige Gott.

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So übersetzt Klein, Dorothea: Die Schöpfung in der Dichtung – der Dichter als Schöpfer. Vom Wessobrunner Schöpfungsgebet zu Oswald von Wolkenstein. In: Die Erschaffung der Welt – alte und neue Schöpfungsmythen. Hg. von ders. Würzburg 2012, S. 43–78, hier S. 50. Zur Frage, wer „poeta“ ist bzw. sein kann, siehe Kapitel 6.4. 7 Zur Formel „firiuuizzo meista“ siehe Kapitel 6.2.1. 8 Zur Übersetzung von „mareo“ bzw. Vers 5 vgl. Haug, Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150, S. 1067. In der oben angegebenen Übersetzung wird „liuhta“ auch auf „seo“ bezogen. Die dem Verb „mareo“ zugeschriebene Bedeutung „glänzend“ ist, darauf weist Haug hin, nicht im Althochdeutschen, aber im Altenglischen und im Altnordischen belegt. Weil der Wessobrunner Schöpfungshymnus, worauf später noch genauer einzugehen ist, auch an anderer Stelle Einfluss des Altenglischen zeigt, ist es nicht unplausibel, für „mareo“ die Bedeutung „glänzend“ anzunehmen. 9 Zur Diskussion der Übersetzungsmöglichkeiten von „manno miltisto“ siehe Kapitel 6.2.3. 10 Die Präposition „mit“ steht hier mit Akkusativ; in Vers 1 steht „mit“ mit Dativ („firahim“). „Mit“ steht etwa auch im Hildebrandslied in Verbindung mit dem Akkusativ: „dat du neo dana halt mit sus sippan man / dinc nigileitos“ (V. 31 f., zitiert nach: Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 1–8). Vgl. außerdem die althochdeutsche Interlinearversion der Benediktinerregel, zitiert nach: Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 190–281: Hier wird die Präposition „apud“, auf die im Lateinischen der Akkusativ folgt, auch in der althochdeutschen Übersetzung mit „mit“ und Akkusativ wiedergegeben. So wird „apud deum“ mit „mit cotan“ (Steinmeyer, S. 200, Z. 4) überschrieben und ist in diesem Zusammenhang auch auf „ad eum“, das mit „ze inan“ (Steinmeyer, S. 191, Z. 30 f.) übersetzt wird, hinzuweisen. Vgl. dazu jedoch Henkel, Nikolaus: Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum sprach- und literarhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe. In: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994. Hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson und Gisela Vollmann-Profe. Berlin 1996 (Wolfram-Studien 14), S. 46–72. Henkel nimmt an, dass die „deutschen Interpretamente […] getrennte lexikalische Informationen zur Präposition und zum Nomen bzw. Pronomen sowie außerdem eine Angabe zur Kasusverbindung der Präposition, wie sie im Lateinischen Grundtext vorliegt“ (ebd., S. 61), bietet. „Die Fügung mit cotan“ bedeutete also, dass „die Präposition apud im Lateinischen den Akkusativ nach sich zieht“ (ebd.). Es ist damit ebenso denkbar, dass in der Verbindung von (althochdeutsch) „mit“ und Akkusativ ein lateinischer Einfluss mitschwingt, der sich daraus erklärt, dass die lateinischen Präpositionen „ad“ oder „apud“, die althochdeutsch mit „mit“ übersetzt werden können, mit Akkusativ stehen. Evtl. zeigt auch aber auch ein Einfluss des Altenglischen. In Millers Einleitung zur Old English Version of Bede’s Ecclesiastical History wird die Verbindung „mid“ + Akkusativ als typisch anglisch ausgewiesen: Vgl. The Old English Version of Bede’s Ecclesiastical History of the English People. Ed. with a translation and introduction by Thomas Miller. Pt. 1. London 1890 (Early English Text Society, Original series 95), S. xlvii: „Mid with the accusative is excluded from Wessex, may have existed in Kent, and is just traceable in East Anglia“.

92 | Zum Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet

Allmächtiger Gott, der Du den Himmel und die Erde erschaffen hast und der Du den Menschen so manches Gute gegeben hast: Gib mir durch Deine Gnade den rechten Glauben und den guten Willen, Weisheit und Klugheit und Kraft, den Teufeln und dem Schlechten zu widerstehen und Deinen Willen zu wirken. Wer nicht bereit ist, seine Sünden zu bereuen, der kommt wieder dorthin, wo sie ihn nicht mehr zur Umkehr ermahnen werden und wo er sich ihrer nicht weiter zu schämen braucht.

Während der Stabreimteil nach „enti cot heilac“ abbricht, ist der Gebetsteil, so Hellgardt, „syntaktisch konsistent“11. Hellgardt nimmt an, dass beide Teile „ursprünglich nicht zusammen“12 gehörten und nennt den „handschriftlich in keiner Weise markierte[n] Übergang […] ein ungelöstes Problem“13. Auf den ersten Blick scheinen beide Teile auch inhaltlich nicht unmittelbar Bezug aufeinander zu nehmen. Allerdings macht Boesch unter Hinweis auf Ps 89,2 („antequam montes nascerentur et parturiretur terra et orbis a saeculo et usque in saeculum tu es“, Ehe die Berge geboren wurden, die Erde entstand und das Weltall, bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit) und 17 („et sit decor Domini Dei nostri super nos et opus manuum nostrarum fac stabile super nos opus manuum nostrarum confirma“, Es komme über uns die Güte des Herrn, unseres Gottes. Lass das Werk unserer Hände gedeihen, ja, lass gedeihen das Werk unsrer Hände!) darauf aufmerksam, dass die Verbindung aus hymnischer Dichtung und Gebet nicht ungewöhnlich ist.14 Die Tatsache, dass der Text immer schon als mehrteilig aufgefasst wurde,15 ist wohl auch der Grund dafür, dass die Benennung des althochdeutschen Textes bis heute nicht einheitlich ist. Seit jeher werden verschiedene Titel angeführt, wenn es darum geht, den in Clm 22053 überlieferten Text zu bezeichnen. Das Benennungschaos nehmen Gold, Herweg, Meyer-Almes und Schanze zum Anlass, die gebräuchlichen Benennungen und Bezeichnungen zu hinterfragen und in diesem Zusammenhang Funktionsweise, Gattung und Überlieferungsverbund des althochdeutschen Textes noch einmal genauer in den Blick zu nehmen.16 Wessobrunner Gebet, Wessobrunner Schöpfungsgedicht oder Wessobrunner Schöpfungsgebet und Wessobrunner Schöpfungshymnus sind 11 Hellgardt, Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet, S. 511. 12 Ebd. Vgl. hierzu auch Steinhoff, Wessobrunner Gebet, Sp. 963, der ebenfalls davon ausgeht, dass der Stabreimteil zunächst selbstständig war und das Gebet dann auf das Gedicht im Stabreim hin formuliert wurde. 13 Hellgardt, Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet, S. 511. 14 Vgl. Boesch, Bruno: Lehrhafte Literatur. Lehre in der Dichtung und Lehrdichtung im deutschen Mittelalter. Berlin 1977 (Grundlagen der Germanistik 21), S. 127. 15 Vgl. dazu unter anderem Steinhoff, Wessobrunner Gebet, Sp. 962. Steinhoff spricht von einem „zweigliedrige[n] Aufbau“ des Textes. 16 Gold, Julia [u. a.]: Ein althochdeutscher ‚Spruch vom Weltanfang‘. Anmerkungen zu Funktionsweise, Gattung und Überlieferungsverbund des sog. ‚Wessobrunner Gebets‘. In: PBB 140 (2018), S. 157–171.

Text und Überlieferung | 93

häufige Bezeichnungen des Textes.17 Verwendung finden weiterhin auch solche Titel, die seine Mehrgliedrigkeit zum Ausdruck bringen: Wessobrunner Schöpfungsgedicht und Gebet oder Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet. All diese Benennungen weisen Gold [u. a.] als problematisch aus. Das Stichwort Gebet treffe nur auf den Prosateil zu, das Stichwort Gedicht hingegen unterschlage genau diesen Teil.18 Das Stichwort Schöpfung wird wiederum als „irreführend“19 bezeichnet, da es dem Inhalt des Textes nicht völlig entspreche (im Stabreimteil geht es um den Zustand vor der Schöpfung). Zunächst würdigen Gold [u. a.] den in Clm 22053 insgesamt überlieferten Text – bestehend aus lateinischer Überschrift, volkssprachlichem Stabreim- und Prosateil sowie lateinischem Abschluss – als „Einheit“20. In Anlehnung etwa an Schwab21 wird darauf verwiesen, dass die Zweigliedrigkeit des althochdeutschen Textteils „strukturell an das funktionale Analogieprinzip von Zauber- oder Segenssprüchen erinnert“22, an das Prinzip der Abfolge von historiola und incantatio.23 Obwohl zu fragen sei, inwieweit der Stabreimteil tatsächlich als historiola gelten könne,24 scheine es doch die Zweigliedrigkeit des althochdeutschen Textteils zu sein, die bewusst an das Strukturprinzip von Zaubersprüchen angelehnt wurde.25 Gold [u. a.] schlagen deshalb vor, den auf den Blättern 65v und 66r von Clm 22053 überlieferten Text als Spruch zu bezeichnen, genauer als „Spruch vom Weltanfang“ oder „Wessobrunner Spruch vom Weltanfang“26. Es ist zu fragen, aus welchen Gründen der Bezeichnung Weltanfangsspruch Vorrang vor der Bezeichnung Schöpfungsspruch eingeräumt wird.27 Denn gerade wenn Gold [u. a.] mit Steinhoff 28 auf die Parallele des stabgereimten Textteils zu Gen 1,2 hinweisen, muss doch anerkannt werden, dass die Darstellung des präkreativen Zustands ein 17 Vgl. die Verweise auf die Forschungsbeiträge, in denen jene Benennungen jeweils vorkommen, bei ebd. S. 162 f. 18 Vgl. ebd., S. 162. 19 Ebd., S. 163. 20 Ebd., S. 165. 21 Vgl. Schwab, Zum Wessobrunner Gebet, S. 383–427, hier S. 385 f. sowie 389 f. Vgl. auch Haubrichs, Die Anfänge, S. 243. 22 Gold, Julia [u. a.]: Ein althochdeutscher ‚Spruch vom Weltanfang‘, S. 165. 23 Vgl. ebd., S. 165 f. 24 Vgl. ebd., S. 166 f.: Gold [u. a.] geben zu bedenken, dass der Stabreimteil „nicht von einem vorgängigen mythischen Ereignis [erzählt], das als Präzedenzfall nach dem Analogieprinzip auf die aktuelle Situation übertragen werden könnte, sondern […] von einem zeitlosen Zustand [berichtet]. Auch die Allmacht Gottes wird lediglich konstatiert bzw. indirekt aus seiner Präexistenz abgeleitet, nicht aber aus konkretem und wiederholbarem Handeln.“ 25 Vgl. ebd., S. 167. 26 Vgl. ebd., S. 171. 27 Ebd.: „Es handelt sich bei dem vierteiligen lateinisch-deutschen Mischtext […] nicht um einen ‚Schöpfungsspruch‘, sondern um einen (oratorischen) ‚Spruch vom Weltanfang‘ und von der Präexistenz Gottes.“ 28 Ebd. Es steht hier der Verweis auf Steinhoff, Wessobrunner Gebet, Sp. 964.

94 | Zum Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet

Teil der christlichen Vorstellung von Schöpfung ist. Zu fragen ist auch, ob die Bezeichnung Spruch wirklich sinnvoll ist, weil sie auch in ganz anderen Bereichen vorkommt – in der Lyrik etwa, man denke aber auch an den Rechtsspruch etc. – und daher den Charakter des bezeichneten Textes nicht eindeutig zu fassen vermag. Den auf fol. 65v und 66r von Clm 22053 insgesamt überlieferten Text als Einheit anzuerkennen, ist hingegen plausibel und richtig. Aber obwohl der Schreiber die vier Textteile im Codex als Einheit präsentiert, ist der formale Unterschied zwischen den einzelnen Textteilen trotzdem gegeben: Es gibt die lateinischen Textteile und die volkssprachlichen Textteile, und zwischen den letztgenannten Teilen gibt es einen formalen Unterschied; hier steht ein Hymnus29 in Stabreimen, dort steht ein Gebet in Prosa. So wird die etwa von Hellgardt verwendete Bezeichnung Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet 30 dem althochdeutschen Textteil formal voll gerecht. Weil das Augenmerk im Folgenden besonders auf diesem Teil, der Schöpfung thematisiert, liegen wird, wird diese Bezeichnung übernommen.

6.2 Der Schöpfungshymnus 6.2.1 „Dat gafregin ih“: Über das Ich und das Erfragen Der Hymnus handelt nicht von der Schöpfung, sondern berichtet vom Zustand, der vor jeder Schöpfung liegt: ein Zustand, in dem die Erde nicht ist und kein Himmel, in dem Bäume und Berge nicht existieren, in dem es keine Sonne, keinen Mond und kein Gewässer gibt. Benannt wird das, was nicht ist („Do dar niuuiht niuuas“, V. 6), ein Nichts, das jedoch gar nicht existiert. Das Nichts bzw. die Vorstellung des Nichts nämlich wird sogleich durchbrochen durch das, was „do uuas“ (V. 7), durch den einen allmächtigen Gott und die „geista“ (V. 9), die ihn begleiten. Im ersten Vers gibt sich ein „ih“ zu erkennen. Bei dem zu Beginn des Stabreimteils stehenden „Dat gafregin ih“ handelt es sich um eine, in stets ähnlicher Form vor allem aus

29 Von einem Hymnus zu sprechen, ist insofern plausibel, als Gott und die Darstellung seiner göttlichen Macht (wie im sog. Caedmon-Hymnus) im Fokus des Stabreimteils steht. Vgl. dazu Haubrichs, Die Anfänge, S. 243: „[D]em eigentlichen Gebet geht noch eine feierlich poetische, exemplarische Erzählung der Allmacht Gottes voraus“. Gott wird als allmächtig und heilig vorgestellt, außerdem als „manno miltisto“, worin Haubrichs (ebd., S. 244) einen Fürstenpreis sieht. Es ist der Preis Gottes, der in Vorbereitung auf das Gebet steht, das Gottes Gnade und Freigiebigkeit zuletzt bestätigt. 30 Vgl. Hellgardt, Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet, S. 510–515. Vgl. außerdem Steinhoff, Wessobrunner Gebet, Sp. 961, der, wie Hellgardt, einmal, um den Stabreimteil zu bezeichnen, von „Wessobrunner Schöpfungshymnus“, und einmal, um den Prosateil zu bezeichnen, von „Gebet“ spricht.

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der altenglischen Literatur bekannte, epische Eingangsformel.31 In der altenglischen Exodus-Erzählung etwa heißt es zu Beginn: „Hwæt! We feor and neah    gefrigen habbað / ofer middangeard    Moyses domas“32, und im Widsith33 beginnt eben jener Widsith seinen langen Monolog mit den Worten: „Fela ic monna gefrægn    mægþum wealdan!“ (V. 10). Im Beowulf fungiert die Formel nicht als Einleitungsformel, sondern findet sich an unterschiedlichen Stellen des Epos wieder. So zählt Andrew insgesamt fünf „Đa-iċ-ġefræġn“Stellen im Werk (V. 74, 2484, 2694, 2752, 2773).34 Seebold weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die – nur im Wessobrunner Hymnus belegte – Form „gafregin“ „wohl mit Recht als ae. Form“35 (zu fregnan, frægn, frugnon, frugnen,36 fragen; mit Präfix ga- übersetzt Seebold mit erfahren37) gelten kann. Diese Annahme kann weiterhin etwa dadurch gestützt werden, dass sich die Verbindung aus „ich“/„ic“ und „gafregin“/„gefrægn“ auch in im Exeter-Book überlieferten Riddle 47 38 wiederfindet, wo sie in Verbindung mit dem „wundor“ steht: „Moððe word fræt.    Me þæt þuhte / wrætlicu wyrd,    þa ic þæt wundor gefrægn, / þæt se wyrm forswealg    wera gied sumes“ (V. 1–3). Der Eingangsformel des Wessobrunner Stabreimteils ähnelt sie damit auf bemerkenswerte Weise. Wie im althochdeutschen Text berichtet auch in Riddle 47 ein Ich davon, wie es von einem Wunder oder von einem hohen bzw. vom höchsten Wissen erfahren hat – hier von der erstaunlichen Begebenheit, dass sich ein hungriger Wurm durch eine Vielzahl an dichterischen Werken frisst und am Ende doch kein bisschen schlauer ist. Die Eingangsformel des Wessobrunner Stabreimteils zeugt also durchaus von einem Kontakt mit der altenglischen Literatur. In Bezug auf den Beginn des altenglischen Exodus (siehe oben: „Hwæt! We […] gefrigen habað“) hält Weiskott fest, dass „[t]he use of we delimits and invites an audience of insiders well versed in the biblical account“39. Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt, ist die, ob durch die Verwendung des „ih“ im hier besprochenen Stabreimteil gerade das Gegenteil erzielt werden soll: Soll dadurch, dass ein „ih“ spricht, angezeigt werden, dass sich keine Insider im Kreis der Rezipierenden befinden und es also nur einen Insider, nämlich das 31 Zu den altenglischen Eingangsformeln vgl. Weiskott, Eric: English Alliterative Verse. Poetic Tradition and Literary History. Cambridge 2016, S. 53–66. Vgl. außerdem Steinhoff, Wessobrunner Gebet, Sp. 963: „Die Eingangsworte (Dat gafregin ih) nehmen unter Wahrung ihrer nichtbair. Sprachform eine in ags. und as. Dichtungen geläufige Formel auf.“ 32 Aus der altenglischen Exodus-Erzählung wird zitiert nach: Exodus. In: Krapp, The Junius manuscript, S. 91–107. 33 Aus dem Widsith wird zitiert nach: Krapp/Dobbie, The Exeter Book, S. 149–153. 34 Vgl. Andrew, S. O.: Postscript on Beowulf. Cambridge 1948, S. 7 f. 35 Seebold, Elmar: Vergleichendes und etymologisches Wörterbuch der germanischen starken Verben. Den Haag/Paris 1970 (Janua Linguarum, Series Practica 85), S. 209. 36 Vgl. ebd., S. 208. 37 Vgl. ebd., S. 209. 38 Aus Riddle 47 wird zitiert nach: Krapp/Dobbie, The Exeter Book, S. 205. 39 Weiskott, English alliterative verse, S. 56.

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Ich selbst, gibt? Ist das im Wessobrunner Stabreimteil verhandelte Wissen als exklusives Wissen aufzufassen, in das nur das Ich Einsicht hat? Die „ih-gafregin“-Formel weist gleich zu Beginn darauf hin, dass es sich um ein Wissen handelt, das das Ich in Erfahrung gebracht hat, und nicht um eines, das es immer schon in seinem Besitz hatte. Es muss also eine Quelle geben, aus der es sein Wissen hat schöpfen können. Was es erfahren hat, hat es „mit firahim“ erfahren. Das Substantiv „firahim“ ist Dativ zu „firaha“, Menschen, und steht mit der Präposition „mit“. Je nachdem, wie „mit“ übersetzt wird, scheint entweder die Vorstellung eines Ichs auf, das das, was es nun auszuführen gewillt ist, mit, bei oder unter den Menschen erfahren hat, oder es findet sich die Vorstellung eines Ichs, das sein Wissen direkt von den Menschen eingegeben bekommen hat.40 Hat das Ich sein Wissen mit, bei oder unter den Menschen erworben, bedeutete das nicht zwingend, dass auch diese ihm das Wissen vermittelt haben. Es bedeutete nur, dass das Ich bestimmte Kenntnisse in einem Zustand der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erlangt hat, wobei über die eigentliche wissensvermittelnde Instanz nichts gesagt werden könnte. Wird davon ausgegangen, dass das Ich sein Wissen von den Menschen hat und diese also die direkte Wissensquelle des Ichs bilden, ist das Ich nun nicht der (einzige) Insider, sondern gibt es mehrere Insider – eben die Menschen, die vor dem Ich schon Einsicht in das zu einem bestimmten Zeitpunkt weitergegebene Wissen hatten. Doch ganz gleich nun, ob das Wissen von den Menschen direkt kommt oder inmitten von Menschen gefunden wurde: Der Eingangsvers lässt zumindest sicher darauf schließen, dass das Wissen vom Vor-Anfang der Erde oder des Himmels ein Wissen ist, das sich unter Menschen bereits breitgemacht hat und das innerhalb der Gruppe der Menschen vermittelt wird. In diesem Zusammenhang merkt Hartwich an, dass sich das Ich „auf das Wissen der Menschen und ihre mündliche Tradition“41 beruft. Anders als im Caedmon-Hymnus ist es also nicht ein durch göttliche Vision eingegebenes Wissen, das entfaltet werden soll, sondern eines, das seinen Platz längst in der Gemeinschaft der Menschen gefunden hat und innerhalb dieser Gemeinschaft auch weitergegeben wird. Das, was da weitergegeben wird, wird nun als „firiuuizzo meista“ bezeichnet. Im Althochdeutschen Wörterbuch wird „firiuuizzi“ mit Wißbegierde, Neugier; Wunder, wunderbare Erscheinung übersetzt.42 Schon Wackernagel zeigt außerdem eine Verwandtschaft von 40 Vgl. „mit“. In: Schützeichel, Rudolf: Althochdeutsches Wörterbuch. 7., durchges. und verb. Aufl. Berlin/Boston 2012, S. 226. Zu letzterer Übersetzungsmöglichkeit vgl. Boesch, Lehrhafte Literatur, S. 128. Boesch übersetzt „mit firaha“ mit von Menschen und spricht sich damit für den direkten Übertragungsweg des höchsten Wissens über die „firaha“ zum „ih“ aus. 41 Hartwich, Wolf-Daniel: Christlicher Monotheismus und Germanische Theologie. Schöpfungsmythen in der mittelalterlichen Literatur und ihre politisch-kosmologische Funktion. In: ZRGG 48 (1996), S. 39–67, hier S. 47. 42 „Firiuuizzi“. In: Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias v. Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. und hg. von

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„firuwizzî“ mit gotisch „fairhvu“, Welt, auf und übersetzt mit „was alle Welt […] weiß od. zu wissen strebt“43. „Firiuuizzo meista“ meint also ein Wissen, das zu erlangen unbedingt erstrebenswert ist und dem man mit Neugier begegnet, weil es von wunderbaren Dingen handelt. Die Weitergabe von Wissen folgt dabei bestimmten Regeln. Im zu Beginn des Wessobrunner Stabreimteils stehenden Verweis des „ih“ auf die Dinge, die es von oder unter den Menschen erfahren hat, erkennt Schaefer Parallelen zum Eingang des Hildebrandslieds („Ik gihorta dat seggen“), aber auch zum „Hwæt we“-Einsatz des Beowulf („Hwæt, wē GārDena    in ġeārdagum“).44 In Bezug auf den Beginn des Beowulf hält Schaefer fest, dass es sich hierbei „um ein Erbe aus der Oralität handelt“45. Sie weist darauf hin, dass es sich [b]ei den formal wie erzähltechnisch relevanten Formeln […] schon in der primären Oralität um Elemente [handelt], die für den Dichter nicht nur eine Erleichterung im improvisierenden Erzählen darstellen, sondern für ihn auch (wohl vorbewußt) integraler Bestandteil dieser Art des Erzählens sind46.

Wenn formelhaften Ausdrücken die im Zitat angeführte Funktion zukommt, das Memorieren von Wissensinhalten zu erleichtern, dann erleichtern, ja ermöglichen sie auch deren Tradierbarkeit.47 Das stete Wiederholen bzw. Wiederhören (auf Seiten der Rezipierenden) bildet Schaefer zufolge „die Grundlage für eine bestimmte Art der ‚Tradition(alität)‘ in der Oralität“48, wobei mit Tradition „die ununterbrochene oral-aurale Kommunikationskette“49 gemeint ist, durch die formelhaft dargestellte Wissensinhalte weitergetragen werden. Aus der Tatsache, dass formelhafte Ausdrücke Wissen erst tradierbar machen, folgert Schaefer auch eine „Tradierwürdigkeit“50 dieses Wissens: „[W]as so geformt ist, ist traditionell im Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Berlin 1952 ff., Band 3, Sp. 909. Vgl. außerdem „firiwizzi“. In: Lloyd, Albert L., Otto Springer und Rosemarie Lühr: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Band 3. Göttingen 2007, Sp. 290–292, hier Sp. 291. Es wird hier darauf hingewiesen, dass das Adjektiv „firiwizzi“, zu dem das Substantiv wohl gebildet wurde, ursprünglich gespannt hinblickend, anstarrend bedeutete. 43 „Firuwizzî“. In: Wackernagel, Wilhelm: Kleineres altdeutsches Lesebuch nebst Wörterbuch. Basel 1861, S. 344. 44 Vgl. Schaefer, Ursula: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1992 (ScriptOralia 39), S. 142. 45 Vgl. ebd. sowie auch Haubrichs, Die Anfänge, S. 244. Haubrichs weist die Eingangsworte des Textes „als Formel der heimischen mündlichen Dichtung“ aus. 46 Schaefer, Vokalität, S. 84. 47 Vgl. ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd.

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Sinn von bewahrenswertem gemeinsamem Besitz“51. Folgt man dieser Überlegung, dann wird nachvollziehbar, warum der Verfasser des Stabreimgedichts sein Werk mit der „ihgafregin“-Formel einleitet, die Parallelen im Hildebrandslied oder im Beowulf findet. Das, was das Ich erfahren hat und was es nun in der Dichtung weitergibt, befindet sich nicht in seinem eigenen Besitz, sondern ist Gemeinbesitz. Obwohl ein „ih“ spricht, muss der Gedanke eines exklusiven Wissens deutlich zurückgewiesen werden: Das erzählende Ich hat „mit firahim“ (V. 1), von den Menschen oder unter den Menschen etwas erfahren und trägt dieses Wissen nun wieder in die Gemeinschaft der Menschen hinein. Während Caedmon das Wissen um den Beginn der Welt ins Kloster getragen und der Scop des Beowulf sein Lied von der Schöpfung im Kreis der in der Halle Heorot versammelten Dänen zum Besten gegeben hat, scheint das Wissen von den ersten Dingen bzw. vom Zustand vor den ersten Dingen hier für alle geöffnet zu sein.

6.2.2 Über das, was nicht war Das Augenmerk lag bis hierher vornehmlich auf dem Ich des Textes, dem Träger des sprachlich vermittelten Wissens um das, was weiterhin ausgeführt werden soll. Was aber weiß das Ich nun konkret über den Anfang bzw. den Vor-Anfang zu berichten? Ab Vers 2 wird das vom Ich Erfragte ausgeführt. Von den Menschen hat es davon erfahren, [d]at ero niuuas    noh ufhimil, noh paum    noh pereg niuuas, ni nohheinig    noh sunna niscein, noh mano niliuhta    noh der mareo seo.

Schwarzbach-Dobson bemerkt in Bezug auf den ersten Teil des Spruchs, dass dieser „[m]it einer paradoxen Aussage über die Zeit beginnt“52, indem nicht erzählt wird, was erschaffen wird, sondern aufgezählt wird, was alles (noch) nicht erschaffen wurde.53 So bestehe „[d]er Anfang der Zeit […] vor allem in der Negation der Gegenwart, d.h. der strukturellen Mitte zwischen Schöpfung und Endzeit“54. Der Weg zurück an den Anfang kann offensichtlich 51 Ebd. 52 Schwarzbach-Dobson, Michael: Narrative Zeitkonzeptionen in volkssprachlichen Texten des Frühmittelalters: Mythos – Erzählung – Geschichte. In: PBB 138 (2016), S. 30–50, hier S. 40. 53 Vgl. ebd. 54 Ebd. Vgl. hierzu auch Klein, Die Schöpfung in der Dichtung – der Dichter als Schöpfer, S. 47: „[D]er Dichter […] bestimmt das Nichts als absolute Negation alles Seienden […]. Diese negative Kosmologie wird entworfen, um begreiflich zu machen, dass es vor aller Schöpfung bereits den Schöpfergott gegeben hat.“

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nur frei beschritten werden, wenn alles Bekannte zunächst aus dem Weg geräumt wird. In der Vorstellung des Ichs markiert der Anfang jenen Punkt, an dem alles jetzt Seiende und also alles Bekannte noch nicht war. Schwarzbach-Dobson hält dahingehend fest, dass im Wessobrunner Schöpfungshymnus „von der Mitte aus“55 erzählt werde, wodurch sich der Text „gegen eine logische Naturordnung [stelle], die vom Anfang über die Mitte zum Ende geht“56. Im Caedmon-Hymnus oder im Beowulf wird ein Anfang gesetzt, indem die Existenz des ersten Werks begründet wird. Mit dem „aerist“ erschaffenen Himmel wird der Anfang im Caedmon-Hymnus gesetzt, wird das benannt, was als Erstes ist. Der Scop des Beowulf berichtet davon, wie in einem ersten Schritt die Erde erschaffen wurde. Diese ist es, die das erste Schöpfungswerk darstellt und die gemacht wird, damit weiterhin Zweige, Blätter und lebendige Wesen auf ihr Platz finden können. Der Wessobrunner Schöpfungshymnus wiederum beschwört die Nicht-Existenz der bekannten Schöpfungswerke. Doch egal, in welcher Ordnung erzählt wird, ob von der Mitte oder vom Anfang (dieses oder jenes Schöpfungswerks) aus – in einigen Punkten scheinen sich alle drei Texte auf dasselbe Wissen um die Schöpfung zu beziehen: Denn wenn der Hymnus die Vorstellung des Nichts heraufzubeschwören sucht, so tut er das, indem er etwas negiert. Dieses Etwas bildet zunächst die Erde, die „niuuas“. Um die Erde aber überhaupt benennen, ja, um sie überhaupt negieren zu können, muss eine Vorstellung von ihr vorhanden sein. Auch die beiden altenglischen Texte wissen etwas über die Erde zu berichten und bringen sie, wie der althochdeutsche Hymnus auch, in Verbindung mit einer allmächtigen Instanz, die offensichtlich schon da ist, bevor die Erde ist. Die Vorstellung von der Präexistenz einer Allmacht findet sich sowohl im Caedmon-Hymnus als auch im Beowulf oder im Wessobrunner Schöpfungshymnus. Die Darstellung des bloßen Nichts ist damit in keinem Fall möglich; immer ist da schon eine allmächtige Kraft. Im Wessobrunner Schöpfungshymnus findet die Erde in Verbindung mit „ufhimil“ Erwähnung. Mit der etwa aus der eddischen Literatur bekannten formelhaften Verbindung aus „jörð“ und „upphiminn“, auf die im Kapitel zum Caedmon-Hymnus bereits eingegangen wurde, findet sich mit der Verbindung aus „ero“ und „ufhimil“ also eine weitere festgefügte Formel im Text. Die „jörð-upphiminn“-Formel, das wurde gezeigt, findet sich unter anderem in der Völuspá, deren dritte Strophe, so Kartschoke, den neun Stabreimversen des Wessobrunner Schöpfungshymnus „auffallend ähnlich[]“57 ist. Wie dieser geht auch die Völuspá davon aus, dass sich der Urzustand dadurch auszeichnet, dass „jörð fannz æva né 55 Schwarzbach-Dobson, Narrative Zeitkonzeptionen in volkssprachlichen Texten des Frühmittelalters, S. 40. 56 Ebd. 57 Kartschoke, Dieter, Karl Reichl und Jürg Glauser: Frühchristliche Dichtung. In: 2RGA 10 (1998), S. 138–159, hier S. 141. Vgl. auch Haubrichs, Die Anfänge, S. 244: „Besonders nah steht eine Strophe der nordischen, noch heidnischen, ‚Völuspá‘, […] die das Chaos schildert: ‚Da war nicht Sand noch See noch feuchtkühle Wogen, Erde gab’s nicht noch Oberhimmel‘“.

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upphiminn“ – dass weder die Erde war noch der Überhimmel. Auch hier hat man es mit einer „negative[n] Kosmologie“58 zu tun, indem aufgezählt wird, was (noch) nicht ist: Den Sand, die See, das Gras, Erde und Himmel – alles das gibt es nicht. In der Reihe der nichtexistierenden Naturphänomene wird nur „seo“ (V. 5) durch das Adjektiv „mari“/„mare“ näher beschrieben. Vielleicht bezieht sich „mari“/„mare“ auf die räumliche Dimension des Gewässers, und man hat sich die See als groß vorzustellen. Denkbar ist aber auch eine Übersetzung mit glänzende oder leuchtende See. Die Vorstellung von der leuchtenden See ist bemerkenswert. Wenn weder Sonne noch Mond bislang gesetzt wurden, kann nichts das Wasser anstrahlen und damit leuchten oder glänzen lassen. Das Leuchten müsste also aus dem Wasser selbst kommen, Lichtquellen müssten im Wasser selbst verborgen liegen. Es wäre dies eine geradezu unchristliche Vorstellung. In der Genesis nämlich werden die Leuchten in den Himmel gesetzt – nicht in die See hineingetaucht. Einmal mehr wird deutlich, dass das Nichts nicht vorstellbar ist. Das vertraute Bild einer Wasseroberfläche, die glänzt, weil sich Sonne oder Mond in ihr spiegeln, kann selbst dann nicht aufgegeben werden, wenn Sonne und Mond als nicht seiend ausgewiesen werden. Das Nichts soll dargestellt werden, indem zugleich das vertraute Bild einer glänzenden Wasseroberfläche evoziert wird. Auch die Völuspá kann die Vorstellung des Nichts nicht aufrechterhalten. So wird die dritte Strophe eingeleitet mit dem Verweis auf den Riesen Ymir, der in diesem leeren Urzustand haust und der – ähnlich wie die immer schon angelegte allmächtige Instanz – die Vorstellung des Nichts sogleich zunichtemacht. Ymir also existiert, bevor Erde und Himmel existieren. Die „jörð-upphiminn“-Formel wird angeführt im Zusammenhang mit der Darstellung dessen, was noch nicht ist, und bildet die Umkehrung der aus Gen 1,1 bekannten Schöpfungsfolge, in der der Himmel vor der Erde steht. Zwischen der Völuspá und dem Wessobrunner Stabreimteil lassen sich also insofern Ähnlichkeiten erkennen, als beide Texte von einer negativen Kosmogonie ausgehen und in diesem Zuge die Erde-Überhimmel-Verbindung anführen. Obwohl der Wessobrunner Schöpfungshymnus von der christlichen Himmel-Erde-Abfolge abweicht, steht seine „christliche Herkunft“59 für Gottzmann außer Frage. Die Idee, dass der Text germanische Vorstellungen verbreitet, weist sie vehement zurück.60 Auch die Parallelen zur Völuspá seien letztlich doch nur oberflächlich, da „nur die Wörter sær, iǫrð, upphiminn, sól und máni“61 in beiden Texten übereinstimmten und der altnordische Text ohnehin „aus einer ganz anderen Vorstellungswelt“62 stamme als der althochdeutsche. Dennoch sind es 58 Ebd. 59 Gottzmann, Das Wessobrunner Gebet, S. 638. 60 Vgl. ebd. 61 Ebd., S. 651. Der Kontext, in dem jene Wörter stehen, wird nicht beachtet. 62 Ebd., S. 652.

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jene germanischen Vorstellungen, auf die Gottzmann in ihren weiteren Ausführungen immer wieder verweist. Die Tatsache, dass gerade der „ufhimil“, der keine Parallelen in der christlichen Überlieferung hat, betont, vor allem aber negiert wird, weise ihrer Ansicht nach darauf hin, dass es dem Verfasser des althochdeutschen Textes darum ging, eben diese vermeintlich germanischen Vorstellungen, in denen „ein rein materialistisch orientiertes Denken“63 vorherrschend gewesen sei und also die Erde als Fundament allen Seins gilt, zu negieren.64 Es ist mehr als fraglich, ob die Darstellung einer negativen Kosmogonie mit der Negierung der germanischen Vorstellungswelt gleichzusetzen ist. Händl etwa ist der Ansicht, dass die im (ihrer Meinung nach ebenfalls unzweifelhaft christlich geprägten) Text angeführten Formeln, die eben dieser Vorstellungswelt entspringen, noch nicht als „Invektive gegen germanisch-heidn[ische] Kosmos- u[nd] Naturvorstellungen“65 gelten müssen. Vielmehr erkennt sie im Aufgreifen altbekannter Formeln ein „Fruchtbarmachen heimisch-germ[anischer] Strukturen u[nd] Vorstellungen im Rahmen der Missionierung germanischer Gebiete“66. Schon Haubrichs erwägt die Möglichkeit, dass der Text im Stabreimteil bewusst „auf germanische Formeln der Urzeitschilderung“67 zurückgreift, weist aber auch darauf hin, dass die „Art, das dem göttlichen Schöpfungsakt vorausgehende Chaos in der Negation des Seienden darzustellen“68, unter anderem aus der Bibel bekannt ist. Immerhin heißt es in Gen 1,2: „terra autem erat inanis et vacua et tenebrae super faciem abyssi et spiritus Dei ferebatur super aquas“. Die biblische Vorstellung, dass der Schöpfung eine dunkle Leere vorangeht, die nur durch Gott gefüllt werden kann, klingt auch im althochdeutschen Text an. Trotzdem aber scheint die dort in Vers 2 angeführte Verbindung aus „ero“ und „ufhimil“ (vor allem die Verwendung des Begriffs „ufhimil“), die die Bibel nicht kennt, doch eher darauf hinzudeuten, dass hier gezielt „archaische[] Dichtersprache“69 benutzt wird, mit der Anschluss an altenglische oder altnordische Texte gesucht wird. Ähnlich sieht das auch Schwarzbach-Dobson, der die in den Text eingelassenen Spuren germanischer Kultur als gezielt gesetzte „Anknüpfungspunkte für Rezipienten“70 ausweist, „denen über den Einstieg mit bekannten Bildern der Zugang zum unbekannten Christentum erleichtert wird“71. Als ein solches bekanntes Bild kann nun sicherlich der Begriff „ufhimil“ (sowie die gesamte 63 Ebd., S. 641. 64 Vgl. ebd. 65 Händl, Claudia: Wessobrunner Gebet. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Hg. von Wilhelm Kühlmann in Verb. mit Achim Auernhammer [u. a.]. 2., vollst. überarb. Aufl. 13 Bände. Berlin/New York 2008–12, Band 12, S. 342–344, hier S. 343. 66 Ebd. 67 Haubrichs, Die Anfänge, S. 244. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Schwarzbach-Dobson, Narrative Zeitkonzeptionen in volkssprachlichen Texten des Frühmittelalters, S. 31. 71 Ebd.

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„ero“-„ufhimil“-Verbindung) gelten, der ja aus anderen, nicht christlichen Quellen bekannt ist. Im Zuge der Anführung dieses Begriffs bzw. dieser Verbindung verweist das erzählende Ich auf die Menschen (vgl. V. 1). Sie sind es ja, von oder unter denen das Ich etwas über die Beschaffenheit des Urzustands erfahren hat – und es ist also ihr Wissen, das das Ich, als Teil des Diskurses seiner Zeit, wiedergibt.72 Die Tatsache, dass die „firaha“ die Verbindung aus „ero“ und „ufhimil“ offenbar kennen und weitergeben und sich diese Weitergabe nicht mit der Vorstellung eines sogleich heraufbeschworenen christlichen Gottes auszuschließen scheint, könnte in diesem Zusammenhang als eine solche Zugangserleichterung angesehen werden. Dass die Erde-Überhimmel-Verbindung tatsächlich als ein strategisches Mittel genutzt wird, um die Aufmerksamkeit der Rezipierenden zu erlangen und sie über den Weg des Vertrauten auf den Weg des noch Unvertrauten zu führen, scheint plausibel. Dem althochdeutschen Text käme so die Funktion zu, die neuen christlichen Lehren zu verkünden und zugänglich zu machen – wobei sich zeigt, dass die alten Lehren nicht einfach übergangen, sondern vielmehr bewusst genutzt werden, um sich von diesen ausgehend dem neuen Glauben zuzuwenden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nach der zugangserleichternden, da bekannten Stabreimformel „ero“ – „ufhimil“ (V. 2) mit „enteo ni uuenteo“ (V. 6) ein voller Endreim steht, der in der althochdeutschen Literatur erstmals im neunten und zehnten Jahrhundert auftritt, und zuletzt Prosa folgt, die vor allem Gebrauchstexte (Gebetsliteratur etwa) prägt. Ist der Einstieg über die bekannte (archaische) Formel erst geglückt, so scheint es, können auch andere, vielleicht noch unbekannte Formeln und Formen angeführt werden. Der Übergang von Stabreim zu Endreim und schließlich zu Prosa unterstreicht den kulturellen Umbruch hin zu einem neuen Glauben also auch auf der Formebene.

6.2.3 Über den einen allmächtigen Gott In Vers 7 wird dem Nichts bzw. der Abwesenheit von etwas die Anwesenheit des einen allmächtigen Gottes entgegengesetzt: „enti do uuas der eino almahtico cot“.73 Es ist ein monotheistischer Gott, der da war, als sonst nichts war, weder „enteo ni uuenteo“ (V. 6). 72 Vgl. Gottzmann, Das Wessobrunner Gebet, S. 654. Gottzmann erklärt, es sei der Dichter, der „ero“ und „ufhimil“ verneint – was sogleich in eins gesetzt wird mit der Verneinung des „heidnischen Unglauben[s]“. Es wird an dieser Stelle übersehen, dass es nicht der Dichter (bzw. das Sprecher-Ich, das mit dem Dichter nicht identisch sein muss) ist, der die Existenz von „ero“ und „ufhimil“ verneint, sondern dass es die „firaha“ sind, die von der Nicht-Existenz der Erde und des sich über ihr aufspannenden Himmels erzählen. 73 Vgl. zum Status Gottes Schwarzbach-Dobson, Narrative Zeitkonzeptionen in volkssprachlichen Texten des Frühmittelalters, S. 41: „Indem Gottes Gegenwart die Nicht-Existenz des Anfangs füllt, enthebt sich sein Status über die Zeitstrukturen der immanenten Welt.“

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„Enteo“ und „uuenteo“ interpretiert Schwab als „Richtungen (Himmelspole[]), Gestirnbahnen und Himmelsumläufe[]“74. Sie stützt sich mit dieser Interpretation unter anderem auf einen Text des Meissners aus dem dreizehnten Jahrhundert, in dem es heißt, dass „[…] got gewundert hat: / besunder die vier wende!“ (V. 1 f.),75 die sie an dieser Stelle mit „Himmelsrichtungen“76 übersetzt. Dadurch, dass der Text die Existenz von „enteo“ und „uuenteo“ verneint, öffnet er den Blick in einen zeitenthobenen Nicht-Raum, in dem kein Punkt gesetzt und kein Kreis gezogen ist. Nur Gott ist – ein Gott, der selbst ohne raumzeitliche Ausdehnung sein muss, wenn er in diesem Zustand sein kann. Die Vorstellung von Etwas, das ist, aber keine Ausdehnung im Raum hat, könnte ein Erbe der Spätantike sein. In seiner Schrift über den Geist, die Ideen und das Seiende erklärt Plotin, dass der Geist der wahre Schöpfer des Kosmos, also der Ursprung aller Formen sei, die irgendwann durch ihn erst hervorgebracht werden: Man wird andererseits aber auch untersuchen, ob die Seele bereits zum Einfachen gehört. Nein, vielmehr gibt es etwas in ihr, das teils wie Materie, teils Form ist – der Geist in ihr, der teils wie die Gestalt aus dem Erz ist, teils wie der, der die Gestalt im Erz schafft. Wenn man ebendies auf das All überträgt, wird man auch dort zum Geist aufsteigen und ihn als wirklichen Schöpfer und Baumeister bezeichnen und behaupten: Das Zugrundeliegende ist, indem es Gestalten angenommen hat, jeweils zu Feuer, Wasser, Luft und Erde geworden, diese Gestalten aber kommen von einem anderen her: Das ist die Seele. Die Seele wiederum hat auch den vier Elementen die Gestalt des Kosmos gegeben. Für sie (die Seele) aber ist der Geist Spender der rationalen Formen […].77

74 Schwab, Zum Wessobrunner Gebet, S. 415. Schwab konstatiert, dass Vers 6 des Wessobrunner Schöpfungshymnus „von den deutschen Übersetzern meist ohne viel Überlegung“ (ebd., S. 412) wiedergegeben werde, indem für althochdeutsch „enteo ni uuenteo“ neuhochdeutsch Enden und Wenden angeführt werden. 75 Ebd., S. 414. Die Interpunktion richtet sich hier nach Schwab, die die „vier wende“ (V. 2) nicht mit den im Text des Meissners sogleich genannten vier Elementen „viur, erde, wazzer unde luft“ (V. 3) gleichsetzt, sondern durch ihre Interpunktion die „vier wende“ getrennt von den Elementen betrachtet. Vgl. im Gegensatz dazu den Text des Meissners zitiert nach: Der Meissner: Gottes Schöpfungswunder. In: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Hg. von Walther Killy. Band 1: Mittelalter. Hg. von Helmut de Boor. München 1965, S. 390. Bei de Boor findet sich die entsprechende Passage wie folgt interpungiert: „Merket, wie got gewundert hât / besunder die vier wende: / viur, erde, wazzer unde luft / hânt manigerleie wunder.“ Allerdings findet sich schon bei de Boor der Übersetzungshinweis, „wende“ mit „Himmelsrichtungen“ zu übersetzen (vgl. ebd.). 76 Schwab, Zum Wessobrunner Gebet, S. 414. 77 Plotins Schrift „Über den Geist, die Ideen und das Seiende“: Enneade V 9 [5]. Text, Übersetzung, Kommentar von Matthias Vorwerk. München/Leipzig 2001 (Beiträge zur Altertumskunde 145), S. 31–33.

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Dabei trage der Geist alle Formen stets schon in sich und kommen also alle Formen in ihm zusammen: Der Geist sei nun also die seienden Dinge und zwar in der Weise, daß er sie alle in sich hat nicht wie an einem Ort, sondern indem er sie wie sich selbst hat und eins ist mit ihnen.78

Aus der Idee, dass der Geist immer ein Vieles in sich trägt, resultiert die Frage, wie es sein kann, dass Vieles aus Einem entsteht.79 Während der Geist stets schon mehr als Eines ist, ist er, wie Plotin in Enneade V 4 ausführt, doch auf das Eine zurückzuführen: Wenn es nach dem Ersten etwas gibt, so muß es notwendig aus jenem stammen, und zwar entweder unmittelbar oder es muß sich durch Zwischenglieder auf jenes zurückführen, also eine Ordnung von Zweitem und Drittem vorhanden sein, wobei das Zweite auf das Erste, das Dritte auf das Zweite zurückzuführen ist.80

Das Erste von allem ist ein Einfaches, so hält er fest;81 am Anfang steht eine Ursache, ein Ursprung. Der Geist sei dabei als direkte Wirkung dieses Ersten/Einen zu verstehen, der jedoch selbst nicht mehr ein Eines sein könne, da er ja nach dem Ersten existiert. Plotin nennt den Geist in diesem Zusammenhang ein „Eines Vieles“82. Es fällt auf, dass Gott im althochdeutschen Text explizit als „der eino“ vorgestellt wird – an seiner Einheit und Einfachheit darf hier offensichtlich kein Zweifel aufkommen, und doch wird da längst mehr angenommen als dieses Eine: Mond und Sonne, Baum und Berg werden ja, wenn auch unter Hinweis auf ihre Nicht-Existenz, genannt, wodurch ihre jeweilige (zukünftige) Existenz klar vorausgesetzt wird. Wo sich das Viele im Zustand seiner Noch-nicht-Existenz genau befinden soll, wird allerdings nicht klar. Als Scharnier zwischen dem Einen und dem Vielen könnte der Geist fungieren. Explizit gemacht wird das im althochdeutschen Text allerdings nicht.

78 Ebd., S. 39. 79 Vgl. hierzu den Kommentar in ebd., S. 172 f. 80 Plotin: Seele – Geist – Eines. Enneade IV 8, V 4, V 1, V 6 und V 3. Griechisch – Deutsch. Griechischer Lesetext und Übers. von Richard Harder, in einer Neubearb. fortgef. von Rudolf Beutler und Willy Theiler, eingel., mit Bemerkungen zu Text und Übers. und mit bibl. Hinweisen versehen von Klaus Kremer. Hamburg 1990 (Philosophische Bibliothek 428), S. 25. 81 Vgl. ebd. 82 Ebd. Vgl. hierzu auch ebd., S. 29: „Deshalb ist der Geist nicht einfach, sondern Vielheit, und weist bereits eine Zusammensetzung auf (natürlich nur eine geistige) und erfaßt bereits schauend die Vielheit. Er ist gewiß auch selbst das Gedachte, jedoch auch das Denkende, und somit bereits Zweiheit; anderseits ist er aber vom Gedachten selbst verschieden und nach ihm.“

Der Schöpfungshymnus | 105

Im Stabreimteil wird Gott als allmächtig und heilig bezeichnet. Auch im Caedmon-Hymnus wurde dem Schöpfer die Eigenschaft der Heiligkeit zugesprochen und der „frea“ als allmächtig ausgewiesen. Es konnte hier gezeigt werden, dass die Eigenschaften, mit denen der Schöpfer im Hymnus ausgestattet wird, Eigenschaften sind, die auch dem christlichen Gott zugeschrieben werden. Neben den Attributen der Allmacht und Heiligkeit ist es außerdem die Ewigkeit, die im Hymnus gleich zweimal betont wird: Es ist der ewige Herr, der den Anfang festsetzt („eci dryctin,    or astelidæ“, V. 4) und der den Menschen die Erde schenkt (vgl. V. 7–9). Während die einsetzende Schöpfung hier einen Anfang („or“) bildet, ist der Erschaffer und Anfangsbegründer selbst auch wieder „eci“, ewig, einfach da, ohne Anfang oder Ende.83 In beiden Texten lassen sich also Übereinstimmungen in den Gott bzw. dem Schöpfer zugewiesenen Eigenschaften ausmachen, die eindeutig aus einem christlichen Kontext übernommen wurden. Im althochdeutschen Text wird Gott jedoch außerdem als „manno miltisto“ (V. 8) bezeichnet. Haubrichs vermutet in dieser Bezeichnung die „Adaption eines traditionellen Fürstenprädikates“84, wie es in der altenglischen Beowulf- oder Exodus-Dichtung begegnet. Letztere bezeichnet Moses in Vers 550 als „manna mildost“, während es im Beowulf Beowulf selbst ist, der nach seinem Tod als „manna mildust“ (V. 3181) betrauert wird. Einmal mehr offenbart der althochdeutsche Text hier seine Nähe zur altenglischen Literatur sowie die Vorliebe für das Formelhafte. Obwohl die Formel Schwab zufolge zur „germanischen Dichtersprache“85 gehört, scheint es ihrer Ansicht nach aber nicht ausgeschlossen, dass sie hier „eine theologische Funktion angenommen haben“86 könnte. Immerhin steht die Bezeichnung „manno miltisto“ in einer Reihe mit dem allmächtigen Gott, wodurch sie unmittelbar selbst christlich eingefärbt wird. Doch was bedeutet es eigentlich, was sagt es über Gott aus, dass er „milti“, ja sogar der „miltisto“ von allen ist? Schwab führt zwei Übersetzungsmöglichkeiten der Formel an und übersetzt einmal mit „der freigiebigste der Männer“ und einmal (mit objektivem Genitiv) mit „der ganz besonders seinen Leuten gegenüber Freigiebige“87. Die zweite Übersetzung weist sie als die bessere88 aus und merkt an, dass die Vorstellung des Schöpfergottes als

83 Vgl. zur Vorstellung des ewigen Gottes, die der Wessobrunner Schöpfungshymnus mit dem CaedmonHymnus teilt, Schwab, Zum Wessobrunner Gebet, S. 424. Schwab geht davon aus, dass sich die Ewigkeit Gottes im althochdeutschen Text in der Annahme seiner Präexistenz ausgedrückt findet. 84 Haubrichs, Die Anfänge, S. 244. 85 Schwab, Zum Wessobrunner Gebet, S. 402. 86 Ebd. 87 Vgl. ebd., S. 389, sowie auch Steinhoff, Wessobrunner Gebet, Sp. 964, der sich ebenfalls für eine Übersetzungslösung mit objektivem Genitiv ausspricht. 88 Vgl. Schwab, Zum Wessobrunner Gebet, S. 389.

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„largus dator“ eine auch in der volkssprachlichen Literatur verbreitete Vorstellung89 ist, die etwa im Caedmon-Hymnus durchscheint.90 Immerhin errichtet der Schöpfer den Himmel hier explizit als Dach für die Menschen und überlässt ihnen die Erde als Ort zu leben. Die Eigenschaft, freigiebig zu sein, bringt Schwab also unmittelbar mit Gottes Schöpfungsverhalten gegenüber den Menschen zusammen: Er ist freigiebig, weil er sein Werk den Menschen überlässt, damit diese sich hierin einrichten können. Ihr Zuhause ist zwar sein Werk, aber es ist nicht für ihn selbst bestimmt. Schwabs Vorschlag, in „manno miltisto“ einen den Menschen gegenüber freigiebigen Schöpfer zu sehen, führt unweigerlich auch zu der Annahme, dass eben jene Menschen in irgendeiner Weise schon da sind. Es wäre an dieser Stelle bemerkenswert, dass, obwohl im Stabreimteil ja gerade nicht von der Schöpfung die Rede ist, sondern im Gegenteil aufgezählt wird, was noch nicht existiert, schon auf die Menschen hingewiesen wird, denen gegenüber sich ein Schöpfer als freigiebig erweist. Die Übersetzung von „man“ mit objektivem Genitiv birgt damit eine Art Gleichzeitigkeitsproblem: Wie kann Gott gegenüber den Menschen freigiebig sein, wenn sie noch gar nicht da sind? Immerhin wird im Stabreimteil explizit darauf hingewiesen, dass nur „der eino almahtico cot“ (V. 7) und mit ihm „geista“ (V. 9) existieren. Die Annahme jedoch, dass mit der Formel „manno miltisto“ zumindest implizit schon auf Gottes Schöpfung verwiesen werden soll, darauf, dass er seine Schöpfung den Menschen zum Geschenk machen wird, scheint vor allem dann plausibel, wenn auch der sich an die Verse anschließende Prosateil in den Blick genommen wird. Hier heißt es, dass Gott „mannun so manac coot forgapi“. Der Verweis darauf, dass Gott den Menschen so manches Gute gegeben hat, schließt sich unmittelbar an die Aufzählung der Schöpfungswerke „himil enti erda“ an. Das lässt darauf schließen, dass die gesamte göttliche Schöpfung – und hier klingt eine ähnliche Vorstellung an, wie sie schon im Caedmon-Hymnus geäußert wurde – den Menschen als Gabe und Gut gegeben wird.91 Explizit wird hier ausgedrückt, dass Gott die Menschen beschenkt, dass er ihnen gegenüber als „largus dator“ erscheint und, so formuliert Schwab, das gesamte Schöpfungswerk Gottes also „anthropozentrisch definiert“92 ist. Wenn sich Gottes Freigiebigkeit nun allein in der Beziehung zu den Menschen offenbart, müssen die Menschen bereits in der im Stabreimteil geäußerten Idee, dass Gott „manno miltisto“ ist, in irgendeiner Form bereits angelegt sein. 89 Vgl. ebd., S. 401 f. Schwab verweist hier auf das lateinische Carmen ad Deum, das von englischer Herkunft ist und aus der Schule Aldhelms stammt. 90 Vgl. ebd., S. 402. 91 Das Bild des Hauses, das im Caedmon-Hymnus ausgemacht werden kann, gibt es im Wessobrunner Schöpfungshymnus allerdings nicht. Während der Hymnus dem Himmel eine ganz bestimmte Funktion zuweist, die er für die Menschen haben soll (der Himmel wird ihnen als Dach gegeben), lässt der althochdeutsche Text offen, in welcher Funktion Himmel und Erde erscheinen und ob ihnen überhaupt eine rein auf den Menschen ausgerichtete Funktion zukommt. 92 Schwab, Zum Wessobrunner Gebet, S. 389.

Der Schöpfungshymnus | 107

Fasst man „manno“ als subjektiven Genitiv auf, besteht das Gleichzeitigkeitsproblem ebenfalls. Wenn Gott der Freigiebigste der Menschen ist, dann wird Gott selbst als Mensch gedacht und wäre er sogar einer unter vielen – ein Gedanke, der einerseits wieder voraussetzte, dass es Menschen gibt und der andererseits durch den Hinweis auf Gott als einer unter vielen auch die Vorstellung des Polytheismus zuließe (wobei eben dann auch die anderen Götter als Menschen vorgestellt würden). Wenn Schwab die Übersetzung mit objektivem Genitiv als bessere Übersetzung ausweist, dann bezieht sie sich also auf diejenige Übersetzungslösung, die die Vorstellung mehrerer Götter(-Menschen) ausschließt. Die Entscheidung für die Übersetzung von „manno miltisto“ mit der gegenüber den Menschen Freigiebige wird sicherlich aus theologischen Gründen getroffen. Egal aber, ob nun mit objektivem oder mit subjektivem Genitiv übersetzt wird: In beiden Fällen wird eine Vorstellung des Menschen evoziert. In der Übersetzung mit objektivem Genitiv ist Gott gegenüber den Menschen freigiebig; in der Übersetzung mit subjektivem Genitiv erscheint Gott selbst als Mensch (unter Menschen). Die eine Übersetzung hält eine ausschließlich theomorphe Bestimmung Gottes bereit; die andere lässt eine anthropomorphe Bestimmung Gottes zu. Gerade die anthropomorphe Bestimmung Gottes ist es, die schon aus den zuvor besprochenen Texten bekannt ist. Schließlich erkennen die altenglischen Texte im Schöpfergott einen Gefolgsherrn („dryhten“). Bei der Bezeichnung Gottes in der Volkssprache lassen sich also immer wieder Übertragungsstrategien feststellen, im Zuge derer weltliche Begriffe theologisch umgedeutet werden. Am ehesten ist so letztlich Haubrichs zu folgen und anzunehmen, dass die Formel „manno miltisto“ als Fürstenprädikat zu lesen ist und die Freigiebigkeit, die, egal in welcher Übersetzung, herausgehoben wird, eine Fürstentugend darstellt, die nun auch Gott zugeschrieben wird. Dabei nimmt die im Stabreimteil angesprochene Freigiebigkeit schon das vorweg, was im Prosateil noch ausgeführt werden wird, oder andersherum:93 Der Prosateil nimmt die zuvor formulierte Idee des freigiebigsten Gottes nochmals auf und führt sie weiter aus. Gott, so viel steht fest, ist freigiebig; er ist allmächtig und heilig, und er ist präexistent vor allen Dingen und durchbricht das Nichts mit seiner Existenz – wobei es nun eben diese Eigenschaften sind, die nicht allein Gott zufallen. Mit ihm sind es auch die Geister, die vor der Erschaffung der Erde, im zeitenthobenen Nicht-Raum, existieren.

93 Zur Verknüpfung von Stabreim- und Prosateil vgl. Haubrichs, Die Anfänge, S. 245.

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6.2.4 Über die „geista“ Wer oder was aber sind diese „geista“? Haug beantwortet diese Frage mit: „Damit sind die Engel gemeint“94. Noch im vorigen Kapitel begegnete jedoch ein „geist“, der alles andere als ein engelhaftes Wesen ist: Im Beowulf ist es Grendel, der als „fēond on helle“ (V. 101) sowie als „se grimma gǣst“ (V. 102) vorgestellt wird. „Gǣst“ ist hier ein unheilbringendes Wesen, das vom Schöpfer in die Nachfolge Kains gestellt und aus der menschlichen Gesellschaft verstoßen wird. Im Etymologischen Wörterbuch des Althochdeutschen wird die Bedeutung von „geist“ wie folgt gefasst: „Geist, Atem, Hauch, Gespenst, Erscheinung eines Verstorbenen, Engel, Helfer, Dämon, Teufel, (bildlich für die Kürze des Lebens) Wehen, Wind, Leben(skraft), Wille, Vorsatz; spiritus“95. Ursprünglich, so heißt es weiter, werde „das mit westgerm. *gaista- bezeichnete Konzept […] im Bereich der ekstatischen Gemütsverfassung“96 gebraucht. „Geist“ kann also sowohl ein körperliches Wesen (im Fall Grendels etwa ein teuflisches Wesen) bezeichnen als auch unkörperlich gedacht werden und so für eine bestimmte Gemütsverfassung oder eine immaterielle Erscheinung stehen. Zu denken ist darüber hinaus auch an den Heiligen Geist, der einen Teil der göttlichen Trinität bezeichnet und in der frühmittelalterlichen christlichen Literatur im Altenglischen als „halga gast“97 oder im Althochdeutschen als „heilager geist“ bzw. „wîher geist“ erscheint. So heißt es im St. Galler Credo, dass Jesus „fona uuihemu keiste“ empfangen wurde.98 Der Heilige Geist ist hier der Geist, 94 Haug, Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150, S. 1067. 95 „Geist“. In: Lloyd, Albert L., Otto Springer und Rosemarie Lühr, Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen, Band 4, Sp. 129. Im Althochdeutschen kann „geist“ (wie im Altenglischen) also auch einen üblen Geist bezeichnen. So etwa in Notkers Bearbeitung von Ps 108, 11, zitiert nach: Notkers Psalmen nach der Wiener Handschrift. Hg. von Richard Heinzel und Wilhelm Scherer. Straßburg/ London 1876, S. 188: „alieni daz sint die unreinen keiste die uone himela ferstozen sint, den gebiutet der tiufal same sinemo manhoubete.“ 96 „Geist“. In: Lloyd, Albert L., Otto Springer und Rosemarie Lühr, Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen, Band 4, Sp. 130. 97 Vgl. etwa Ælfric’s Preface to Genesis, zitiert nach: The Old English Version of The Heptateuch, Ælfric’s Treatise on the Old and New Testament and his Preface to Genesis ed. from all existing mss. and fragments with an introduction and three appendices together with a reprint of A Saxon Treatise concerning the Old and New Testament: now first published in print with English of our times by William L’isle of Wilburgham [1623] and the Vulgate text of the Heptateuch by S. J. Crawford. London 1922 (Early English Text Society, Original series 160), S. 71–80. Hier heißt es: „Godes gast ys se Halga Gast, þurh þone geliffæste se Fæder ealle þa gesceafta, þe he gesceop þurh þone Sunu, ˥ se Halga Gast færþ geond manna heortan“ (Z. 58–60). 98 Vgl. zu dieser Vorstellung auch den Weißenburger Katechismus, zitiert nach: Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 29–34: „Gilaubiu in got almahtigon, scepphion himiles enti erda. Endi in heilenton Christ, suno sinan einagon, truhtin unseran. Ther infanganer ist fona heilegemo geiste […]“ (V. 47–49).

Der Schöpfungshymnus | 109

durch den Jesus Christus in die Welt gelangt.99 Der Glaube an ihn wird zum Ende des Gebets noch einmal bekräftigt: „kilaubu in uuihan keist“100. Krogmann stellt die im Stabreimteil auftauchenden „geista“ neben Notkers Bearbeitung von Ps 103,4,101 in der es heißt: „Du dina geiste machost poton, so du si uz sendest ze Tobia unde ze Zacharia unde ze Mariun“ (die lateinische Parallelstelle in der Wiener Handschrift lautet: „Qui facis angelos tuos spiritus et ministros tuos ignem urentem“). Die Parallele zwischen beiden Texten besteht darin, dass jeweils die Existenz mehrerer Geister angenommen wird, die in direkte Verbindung zu Gott gestellt werden. Während der lateinische Psalmentext, auf den sich Notker bezieht, zwei unterschiedliche Übersetzungsmöglichkeiten zulässt (Der Du Deine Geister zu Boten machst oder Der Du Boten zu Deinen Geistern machst), sind es in der althochdeutschen Bearbeitung ganz klar die Geister, die von Gott zu Boten gemacht und als solche zu Tobias, Zacharias und Maria gesandt werden. Dieser Verweis auf die biblischen Figuren definiert die Geister näher: Im Buch Tobit des Alten Testaments wird der Engel Raphael von Gott zum alten Tobias und zu seiner Frau Sara gesandt, um deren Sohn Tobias auf seiner Reise nach Medien zu begleiten und zu beschützen (Tob 3,25–5,15). Im Lukasevangelium ist es der Engel Gabriel, der Zacharias erscheint und diesem die Geburt seines Sohnes Johannes ankündigt (Lk 1,11–13), bevor er nach Galiläa gesandt wird, um Maria die Geburt Jesu anzukündigen (Lk 1,26–31). Erst der Verweis auf die biblischen Figuren macht deutlich, wer oder was jene „geista“ eigentlich sind: Sie sind von Gott ausgesandt, um als Engel unter den Menschen zu wirken. Als göttliche Boten bilden sie das Bindeglied zwischen Gott und den Menschen. In Notkers Bearbeitung von Ps 103, 4 geht die Existenz der Geister der Existenz der Botenengel voraus: „Du dina geiste machost poton“. Dass Gott die Geister zu Boten macht, bedeutet, dass die Geister vor dem Zeitpunkt des Gemacht-Werdens noch keine Boten waren. Die „geista“ dürfen hier also nicht mit den „poton“ in eins gesetzt werden. Die „geista“ sind zuerst einmal „geista“ und werden dann erst zu „poton“ – die Unterscheidung 99 Vgl. hierzu Kremer, Jacob: „Heiliger Geist“. I. Biblisch-theologisch. 2. Neues Testament. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. von Walter Kasper. Durchges. Ausg. der 3. Aufl. 1993–2001. 11 Bände. Freiburg i. Br./Basel/Wien 2006. Band 4, Sp. 1306–1308, hier Sp. 1306. Es heißt hier, dass „[d]ie biblischen Autoren […] schon auf vorgegebene urkirchl. Äußerungen über die Bedeutung des HG. für die Getauften sowie für Jesu Lebensentstehung u. Wirken zurückgreifen [konnten]. Dies zeigen z.B. die auf unterschiedl. Quellen zurückgehenden Angaben über die geistgewirkte Empfängnis Jesu in Mt 1,18–21 u. Lk 1,35, die unter Verwendung des aus der urkirchl. G.-Erfahrung vertrauten Begriffs die überird. Herkunft Jesu zu erklären suchen.“ 100 Im Fränkischen Taufgelöbnis, zitiert nach Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 23, als Frage formuliert: „Gilaubistu in heilagan geist?“ (V. 8). 101 Vgl. Krogmann, Willy: Altenglische Literatur. In: 2RL 1 (2001), S. 22–24, hier S. 22. In seinem Artikel behandelt Krogmann den Einfluss der altenglischen Literatur auf die althochdeutsche Literatur. Dass sich auch bei Notker eine „geista“-Stelle findet, ist für Krogmann Indiz dafür, dass der Wessobrunner Schöpfungshymnus nicht aus dem Altenglischen hergeleitet wurde.

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zwischen „spiritus“ und „angelos“, zwischen Geist und Boten(-engel) bemisst sich an der zeitlichen Dimension ihrer jeweiligen Existenz. Dieser Gedanke findet sich auch in Isidors Etymologiae. In VII, v, 2 heißt es, die Engel seien zunächst einmal reiner Geist und Engel nur dann, wenn sie ausgesandt werden: Semper enim spiritus sunt, sed cum mittuntur, vocantur angeli, Immer aber sind sie Geister, werden jedoch, wenn sie ausgeschickt werden, Engel genannt. So sei die Bezeichnung Engel auch eher eine Berufs- denn eine Charakterbezeichnung: Angelorum autem vocabulum officii nomen est, non naturae (VII, v, 2), Der Name der Engel ist aber Bezeichnung ihrer Aufgabe, nicht ihrer Natur. Bilden die „geista“ des Wessobrunner Schöpfungshymnus damit also auch eine Art Vorstufe zu etwas anderem, das schlicht noch nicht gemacht wurde? Während Notkers Kommentar zu Ps 103, 4 vermehrt Verben der Tätigkeit (machen, tun, senden) aufweist und damit ein Bild sowohl des aktiven Gottes als auch der in Aktivität begriffenen Engel gezeichnet wird, findet sich im althochdeutschen Hymnus vornehmlich das Zustandsverb sein. So geht es hier hauptsächlich darum, aufzuzählen, was entweder ist oder nicht ist. Über Gott und die „geista“ erfährt man also auch nur, dass sie sind, nichts aber darüber, was sie tun (oder ob sie überhaupt etwas tun). Es scheint somit durchaus denkbar, dass die Geister hier als Vorstufe der Engel angesehen werden können, weil der noch nicht tätig gewordene Gott sie bislang nicht mit der ihnen zugedachten Botenfunktion betraut hat. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und den Geistern, die Frage danach, ob die „geista“ von Gott geschaffen wurden und somit bereits Teil der göttlichen Schöpfung sind, klärt der Text nicht. Bei Ambrosius finden sich Hinweise darauf, dass die Engel vor der Welt erschaffen wurden und ihre Existenz also gewissermaßen zwischen Schöpfer und „mundus“ steht: „Sed etiam Angeli, Dominationes et Potestates, etsi aliquando cœperunt; erant tamen jam quando hic mundus est factus“,102 Aber die Engel, Dominationes und Potestates, auch wenn sie irgendwann anfingen zu existieren, waren trotzdem schon, als die Welt erschaffen wurde. Es ist an dieser Stelle auch auf Augustinus hinzuweisen, der in der Frage nach der Existenz der Engel eine theologische Leerstelle erkannt hat. In Bezug auf die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Engel erschaffen wurden und ob sie überhaupt als Gottes Werke anzusehen sind, stellt Augustinus in De civitate Dei fest: „Vbi de mundi constitutione sacrae litterae loquuntur, non euidenter dicitur, utrum uel quo ordine creati sint angeli“,103 Wo die Heilige Schrift über den Aufbau der Welt spricht, wird nichts darüber gesagt, ob oder wo in dieser Ordnung die Engel erschaffen wurden. Zwar geht Augustinus nicht davon aus, dass der biblische Schöpfungsbericht die Engel einfach übergeht, er muss aber hinnehmen, 102 Sancti Ambrosii Mediolanensis Episcopi Opera Omnia. Ed. J.-P. Migne. Tomi primi pars prior. Paris 1845 (MPL 14), Sp. 123–274, hier Sp. 131. 103 Sancti Avrelii Avgvstini De civitate Dei libri XI–XXII, ad fidem qvartae editionis Tevbnerianae qvam A. MCMXXVIII–MCMXXIX cvravervnt Bernardvs Dombart et Alphonsvs Kalb. Turnhout 1955 (CCSL 48), S. 328.

Der Schöpfungshymnus | 111

dass sie nicht explizit als Gottes Werke ausgewiesen werden. Als Möglichkeit erwägt er die Gleichsetzung der Engel mit dem Licht und ordnet die Erschaffung der Engel darüber in die Chronologie des Sechstagewerks ein: „Nimirum ergo si ad istorum dierum opera Dei pertinent angeli, ipsi sunt illa lux, quae diei nomen accepit, cuius unitas ut commendaretur, non est dictus dies primus, sed dies unus“, Gewiss also, wenn die Engel zu Gottes Werken an diesen Tagen gehören, sind sie selbst jenes Licht, das den Namen „Tag“ erhalten hat, der, auf dass seine Einheit ausgedrückt werde, nicht „der erste Tag“, sondern „ein Tag“ genannt wurde. Mit Ausweis der Engel als „lux“ wird deren Schöpfung an die in der Genesis tatsächlich beschriebene Schöpfung des Lichts gebunden und werden die Engel damit als göttliches Schöpfungswerk vorgestellt. Die Annahme, die Engel seien göttliche Schöpfungswerke, lässt sich im althochdeutschen Text nicht ausmachen. Während unklar bleiben muss, wann und wodurch die Existenz der Geister hier begründet wurde, so ist doch sicher, dass sie „cootlih“ sind. Schützeichel übersetzt die Adjektive „guotlih“, „gotlih“, „cootlih“ mit herrlich, ehrenvoll und ruhmreich und führt unter anderem den Althochdeutschen Isidor als Belegquelle für das Wort an.104 Hier findet sich guotlih als Übersetzung von „gloria“ und wird als Merkmal des Göttlichen gebraucht: „Missus est autem ad gentes post gloriam deitatis […]“105 wird übersetzt mit „So chisendit uuard chiuuisso zi dheodum after dheru sineru gotnissa guotliihhin […]“106; „sanctus sanctus sanctus dominus deus exercituum. plena est omnis terra gloria eius“107 wird übersetzt mit „heilac heilac heilac druhtin uuerodheoda got. Folliu ist al ęrdha dhinera guotliihhin.“108 Indem die Geister als „cootlih“ bezeichnet werden, werden sie mit einem göttlichen Merkmal versehen. Damit sind sie nicht nur „mit“ Gott, sondern wird ihr Sein durchzogen von der göttlichen „gloria“, dem höchsten Guten, wodurch sie ein Merkmal des Göttlichen auch in sich tragen. Diese Vorstellung erinnert an die Ausführungen des Pseudo-Dionysius über das Gute Gottes. Im vierten Kapitel seiner Schrift Die Namen Gottes wendet sich Pseudo-Dionysius dem Gott zugeschriebenen Namen Der Gute zu.109 Gottes Gutheit, so heißt es, erstreckt sich allein durch ihr Sein „auf alles Seiende“ (IV, 1); durch seine Gutheit haben alle intelligiblen und intelligenten Manifestationen des Seins, Kräfte und Wirksamkeiten ihren Bestand, durch diese haben sie ihre Existenz und ihr ewiges und unveränderliches 104 „Guotlih“. In: Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch, S. 135. 105 Der althochdeutsche Isidor. Nach der Pariser Handschrift und den Monseer Fragmenten neu hg. von Hans Eggers. Tübingen 1964 (ATB 63), S. 26. 106 Ebd., S. 27. 107 Ebd., S. 38. 108 Ebd., S. 41. 109 Pseudo-Dionysius Areopagita: Die Namen Gottes. Eingel., übers. und mit Anm. versehen von Beate Regina Suchla. Stuttgart 1988 (Bibliothek der griechischen Literatur 26), S. 42.

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Leben, indem sie von jeglicher Verderbnis, von Tod, Materie und Entstehung gereinigt, ferner der unsteten, fließenden, bald hier- und bald dorthin mit sich fortreißenden Veränderung enthoben sind.110

In diesem Zusammenhang finden auch die Engel Erwähnung, von denen es heißt, dass ihre mit innerweltlichen Kategorien nicht faßbaren Erleuchtungen und das vollendende Wirken [ihrer] ganzen Vollkommenheit […] von der allursächlichen und quellenhaften Güte [stammt], von der ihnen das Gutartige gegeben wurde, außerdem das Offenbaren der in sich verborgenen Güte und Bote zu sein wie Verkünder des göttlichen Schweigens.111

Gleich zu Beginn der Abhandlung über den göttlichen Namen Der Gute ist also auch von den Engeln die Rede, von denen wir erfahren, dass sie, werden sie als seiend gesetzt, eben auch vom göttlichen Guten durchströmt sind und als vom göttlichen Guten Durchströmte danach streben, dieses Gute zu offenbaren und im Botendienst weiterzugeben. Die Eigenschaft, gut zu sein, wird den Engeln bei Pseudo-Dionysius ebenso zugeschrieben wie die Eigenschaft, „unkörperlich und von der materiellen Realität abgelöst“112 zu sein. Die Engel werden als geistige Wesen vorgestellt, die als solche nicht mit den bereits oben angeführten innerweltlichen Kategorien zu fassen sind. Wenn also das Gut-Sein wie das Geistig-Sein zu den wesentlichen Eigenschaften der Engel gehört, dann bleibt letztlich festzuhalten, dass die „cootlihhe[n] geista“ des althochdeutschen Textes ganz klar eine Vorstellung der Engel dadurch evozieren, dass sie diese wesentlichen Eigenschaften beschreiben. Auch wenn die „geista“ noch keine Engel sind, weil sie noch nicht als Boten ausgesandt wurden, liegt der Vorstellung der „cootlihhe[n] geista“ doch zumindest schon eine Vorstellung der Engel insofern zugrunde, als das Adjetiv „cootlih“ ganz klar auf eine Wesenheit der Engel verweist. Ein tätiger (Engel-)Erschaffer wird so zumindest schon in Aussicht gestellt. Die Engel, deren Herkunft und Entstehung in der Bibel im Unklaren bleibt, werden im Wessobrunner Schöpfungshymnus bereits vor der Schöpfung platziert. Indem ihre der Schöpfung vorausgehende Existenz aufgedeckt wird, wird eine theologische Leerstelle gefüllt – eine Leerstelle, die schon Augustinus erkannt und gefüllt hat, indem er die Engel mit dem innerhalb des Sechstagewerks erschaffenen Licht gleichsetzte. Indem der althochdeutsche Text die „geista“ noch im zeitlichen Davor der Schöpfung verortet, scheint er vielmehr der Vorstellung des Ambrosius zu folgen, der die Engel zeitlich zwischen Schöpfer und Entstehung der Welt platziert. Zugleich finden jedoch auch die zeitgenössischen Engelvorstellungen Berücksichtigung. So heißt es im oben angeführten Zitat aus De divinus nominibus, 110 Ebd. 111 Ebd., S. 43. 112 Ebd., S. 42.

Der Schöpfungshymnus | 113

dass alle intelligiblen und intelligenten Manifestationen des Seins ein ewiges und unveränderliches Leben besitzen. Auch im althochdeutschen Muspilli herrscht die Vorstellung von den ewigen Engeln vor. Die Engel überdauern hier das Ende der Welt. Sie sind auch dann noch, wenn die Welt und mit ihr die Menschen zugrunde gegangen sind: „denne der gisizzit,    der dar suonnan scal / enti arteillan scal    toten enti quekkhen, / denne stet dar umpi    engilo menigi, / guotero gomono:    gart ist so mihhil“ (V. 85–88).113 Der Wessobrunner Schöpfungshymnus ist es, der die Engel nun auch vor den Anfang setzt. Sie werden damit als Wesen vorgestellt, deren Existenz nicht an die Existenz der Welt und der Menschen gebunden ist. Dabei ist die Frage, ob nicht die Vorstellung von den ewigen, engsten Anteil am Göttlichen habenden Engeln die Vorstellung vom Monotheismus brüchig werden lässt. Schließlich wird doch durch den Verweis auf die mit dem einen Gott existierenden Wesen die göttliche Einzigartigkeit zunichtegemacht. Auch im Caedmon-Hymnus schien die Idee der göttlichen Einzigartigkeit schon problematisch: So lässt der dort zur Bezeichnung Gottes verwendete Begriff „dryctin“ (V. 4 und 8) an den Genossen oder Kameraden denken, der in ein Gefolge integriert ist. Gott als einziges zu setzen, scheint schlicht nicht vorstellbar. Die Idee des monotheistischen Gottes wird nicht konsequent umgesetzt. So wie das „ih“ (V. 1) des Wessobrunner Stabreimteils „mit firahim“ (V. 1) ist, so befindet sich auch Gott wie selbstverständlich in Gesellschaft. Zusammen mit den Geistern existiert er im Nichts vor der Schöpfung, wobei dieses Nichts erst im Prosateil gefüllt wird. Es ist sodann, im Gebet, die Rede von der Schöpfung, die allein Gottes Werk ist – die Geister zumindest werden hier nicht mehr erwähnt.

6.3 Das Gebet: Erde und Himmel – Himmel und Erde: Über die Schöpfung Im Gebetsteil des althochdeutschen Textes wird ein erstes Mal explizit auf die Schöpfung verwiesen. Eingeleitet wird er mit dem Verweis darauf, dass der allmächtige Gott Himmel und Erde erschaffen hat. Die Allmacht Gottes wurde zuvor schon betont; wieder wird im Prosateil auf das zuvor Ausgeführte Bezug genommen bzw. wieder ist zu beobachten, dass der Stabreimteil als Hinführung auf das dient, was es noch auszuführen gilt. Neben der Allmacht Gottes, auf die im Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet gleich zweimal hingewiesen wird, werden auch Himmel und Erde jeweils doppelt genannt: Zu Beginn des Stabreimteils stehen „ero“ und „ufhimil“ (V. 2), zu Beginn des Prosateils stehen „himil enti erda“. Während im ersten Teil die Nicht-Existenz von Erde und Himmel beschworen wird, werden sie im zweiten Teil als Schöpfungswerke des Allmächtigen vorgestellt. Erde und Himmel werden dabei nie für sich allein, sondern stets in Verbindung miteinander aufgeführt. Durch diese Bindung sind sie entweder beide nicht oder beide gemeinsam existent; eine 113 Das Muspilli wird zitiert nach: Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 66–73.

114 | Zum Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet

unabhängige Existenz entweder der Erde oder des Himmels vom jeweiligen Verbindungspartner bleibt ausgeschlossen. Innerhalb ihrer Verbindung scheinen sie allerdings insofern frei zu sein, als sie ihre Plätze tauschen können. So finden die Erde und der Himmel zwar für sich genommen zweimal Erwähnung, die Verbindung aber, in der sie jeweils stehen, ist nicht beide Male dieselbe. Im ersten Teil wird die Erde vor dem Himmel genannt, im zweiten Teil steht der Himmel vor der Erde. Das Präfix uf- muss im ersten Teil notwendig gesetzt werden, damit die Stabreimformel funktioniert. Außerdem wird durch uf- die räumliche Anordnung von Erde und Himmel deutlich gemacht: Der Himmel befindet sich oben, die Erde unten; wie ein Dach spannt sich der „ufhimil“ über der Erde auf. Im zweiten Teil braucht der „himil“ das Präfix uf- nicht, weil dieser Teil in Prosa verfasst ist. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass die im Stabreimteil genannte Verbindung keine Parallelen in der christlichen Überlieferung hat, sondern, so hielt Gottzmann fest, mit ihrer Nennung vielmehr an die germanische Vorstellungswelt erinnert werden soll. In der im Gebet angeführten Verbindung hingegen, darin schien sich die Forschung einig, wurden Parallelen zur Vorstellungswelt der Christen gesehen: Der Himmel wird errichtet, bevor die Erde geschaffen wird; der Transzendenzgedanke tritt deutlich zutage. Die Tatsache aber, dass der althochdeutsche Text beide möglichen Verbindungen nennt, wobei er zuerst die Erde-Himmel-Abfolge und dann die Himmel-Erde-Abfolge anführt, erinnert an eine Quelle aus der Spätantike, die dieselbe Anordnung der beiden Schöpfungspole aufweist. Es ist das neunte Gedicht des dritten Buchs der Consolatio des Boethius, das den Schöpfer zunächst als den Erschaffer der Erden und des Himmels (vgl. III, 9, 2) vorstellt, um ihn später als Schöpfer von Himmel und Erde (vgl. III, 9, 20) auszuweisen: O qui perpetua mundum ratione gubernas, Terrarum caelique sator, qui tempus ab aevo Ire iubes stabilisque manens das cuncta moveri, Quem non externae pepulerunt fingere causae Materiae fluitantis opus, verum insita summi Forma boni, livore carens tu cuncta superno Ducis ab exemplo; pulchrum pulcherrimus ipse Mundum mente gerens similique in imagine formans Perfectasque iubens perfectum absolvere partes. Tu numeris elementa ligas, ut frigora flammis Arida conveniant liquidis, ne purior ignis Evolet aut mersas deducant pondera terras. Tu triplicis mediam naturae cuncta moventem Connectens animam per consona membra resolvis. Quae cum secta duos motum glomeravit in orbes, In semet reditura meat mentemque profundam

Das Gebet: Erde und Himmel – Himmel und Erde: Über die Schöpfung | 115

Circuit et simili convertit imagine caelum. Tu causis animas paribus vitasque minores Provehis et levibus sublimes curribus aptans In caelum terramque seris, quas lege benigna Ad te conversas reduci facis igne reverti. Da, pater, augustam menti conscendere sedem, Da fontem lustrare boni, da luce reperta In te conspicuos animi defigere visus. Dissice terrenae nebulas et pondera molis Atque tuo splendore mica; tu namque serenum, Tu requies tranquilla piis, te cernere finis, Principium, vector, dux, semita, terminus idem. (III, 9) Oh, der du lenkst die Welt mit immerwährender Vernunft, Schöpfer der Erden und des Himmels, der du der Zeit befiehlst, von Ewigkeit aus zu gehen; bleibst selbst unbewegt und veranlasst, dass alles sich bewegt; du, den nicht außerhalb liegende Gründe dazu angetrieben haben, das Werk aus fließender Materie zu erschaffen und in den wahrhaft die Form des höchsten Gutes eingebettet liegt, der du, frei von Missgunst, alle Dinge von einem vorhergehenden Beispiel herbeiführst; du selbst der Schönste, betreibst die schöne Welt mit dem Verstand und du formst sie in gleicher Gestalt und befiehlst, dass vollkommene Teile ein vollkommenes ergeben. Du bindest die Elemente mit Zahlen, sodass Kälte und Hitze, Dürre und Regen harmonisch sind und das reinere Feuer nicht ausbricht oder die Lasten die eingetauchten Länder herabziehen. Aus der Mitte der Drei-Natur löst du die Seele, die alles bewegt, und fasst sie ein in geordnete Glieder. Immer wenn diese, selbst getrennt, das Bewegte zusammenballt in zwei Kreise, dann wandelt sie, die in sich selbst zurückkehren wird, umher und umkreist den tiefen Verstand und verwandelt den Himmel mit Hilfe eines ähnlichen Bildes. Du treibst die Seelen und die niederen Leben aus gleichen Gründen voran und verteilst sie, der du die Hohen in leichte Wagen einfügst, auf Himmel und Erde; diese, die dir zugewandt sind, lässt du mit wohlwollendem Gesetz und mit rückführendem Feuer zurückkommen. Vater, erlaube meinem Verstand, den erhabenen Sitz zu besteigen, gib ihm die Quelle des Guten zu schauen, gewähre ihm, nachdem das Licht wiedergefunden wurde, die Blicke des Geistes nur auf dich zu richten. Vernichte die Nebel und Anstrengungen der irdischen Last und leuchte auf mit deinem Glanz; du nämlich bist das Heitere, du bist stille Erholung für alle Frommen, dich schauen ist Ziel, Start, Träger, Führer, Weg und Ende zugleich.

Der Hymnus lässt sich in drei Teile gliedern. Zunächst steht allein der Schöpfer im Fokus. In den ersten neun Versen erfährt man über ihn, dass er die Welt nach dauernden und festen Gesetzen lenkt, dass er die Zeit auf Ewigkeit hin eingerichtet hat, dass er das All von einem Urbild hergeleitet hat und bewegt, ohne selbst je bewegt worden zu sein. Man erfährt weiter, dass der Schöpfer allein das höchste Gute ist und dass er die Welt, die durch ihn 116 | Zum Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet

nur existiert, seit jeher im Geist trägt und nach diesem Bild im Geist erst geformt hat. Als Grundvoraussetzung findet sich also der Glaube an ein Weltregiment, das von einem vernünftigen Schöpfer erst geschaffen und dann von diesem gelenkt wird.114 In einem zweiten Schritt folgt eine Ausführung über das eigentliche Schöpfungswerk. Mit Zahlen, so heißt es, werden zunächst die Elemente gebunden, und auf Geheiß ihres Schöpfers halten Hitze und Kälte, Regen und Dürre fortan ihr Maß. Anschließend wird die Seele, die das Weltall bewegt, aus der Mitte der Drei-Natur (vgl. III, 9, 13) entlassen.115 Der letzte Schöpfungsakt besteht in der Hervorbringung der Einzelseelen, wobei alle Wesen entweder dem Himmel oder der Erde zugeordnet werden. Insgesamt kann in Bezug auf die Schöpfung festgehalten werden, dass Schöpfung vor allem Ordnungsstiftung ist. Die Elemente halten ihr Maß, die Seele lässt das Weltall sich in vorgegebenen Bahnen bewegen, und die Lebewesen bekommen ihren Platz entweder im Himmel oder auf der Erde zugewiesen. Im dritten und letzten Teil des Hymnus findet sich wieder eine Hinwendung zum Schöpfer. Hervor tritt hier das Ich, das den Vater (vgl. III, 9, 22) bittet, er möge seinem Geist die Fähigkeit verleihen, das Gute zu schauen und sich niemals von ihm abzuwenden. Es bittet weiterhin darum, dass sich alle irdischen Nebel lichten mögen und der Blick auf den Ursprung, den Urheber aller Dinge, frei wird. Bereits bei Boethius lässt sich beobachten, was weiter oben in Bezug auf den Wessobrunner Text festgehalten wurde: In ihrer Rolle als primäre Schöpfungswerke bilden Erde und Himmel zwar feste Verbindungspartner, innerhalb ihrer Verbindung können sie aber variabel angeordnet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im lateinischen Hymnus von mehreren Erden die Rede ist (vgl. III , 9, 2), während der althochdeutsche Text die Erde stets im Singular anführt. So scheint nicht nur die Reihenfolge frei wählbar, innerhalb derer Himmel und Erde genannt werden können, sondern ist auch Singular- und Pluralbildung variabel. Die Vorstellung mehrerer Erden bzw. Erdteile passt mit dem zusammen, was schon in Bezug auf den Caedmon-Hymnus festgehalten werden konnte: Im altenglischen Hymnus wird „middungeard“ (V. 7) genannt, wobei der Wortbestandteil „middun-“ sowie die in der eddischen Literatur aufscheinende Vorstellung von „miðgarð“ anzeigen, dass es sich hierbei um einen Teil der Erde handeln muss, der zwischen anderen Teilen der Erde 114 Vgl. Scheible, Helga: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius. Heidelberg 1972 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften N. F. 46), S. 102. 115 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Platon, Timaios, S. 39–47 (34a–37c). Die Darstellung der Erschaffung und Zusammensetzung der Weltseele hat Boethius in verknappter Form aus dem Timaios übernommen. Bei Platon heißt es, dass aus der Vermischung des Teilbaren mit dem Unteilbaren eine dritte Substanz entsteht. Diese neu entstandene Substanz wird nun wieder mit den Substanzen des Unteilbaren und des Teilbaren zusammengebracht, sodass aus drei Substanzen eine entsteht, die anschließend wieder geteilt wird, wobei sich jeder neu entstandene Teil aus dem Teilbaren, dem Unteilbaren und der dritten Substanz zusammensetzt. Die Weltseele bringt das All erst in Bewegung, sie umfängt es und lässt seine Bewegung in geordneten Bahnen verlaufen.

Das Gebet: Erde und Himmel – Himmel und Erde: Über die Schöpfung | 117

eingeschlossen liegt. Es ist also davon auszugehen, dass die Erde auch eine in bestimmter Weise aufgeteilte Erde bezeichnen und diese Vorstellung einer Erde aus Teilen auch in der Paarverbindung aus Himmel und Erde angezeigt werden kann. Parallelen weisen beide Texte aber nun nicht nur in Bezug auf die Erde-Himmel-/Himmel-Erde-Anordnung auf, sondern wie der althochdeutsche Text endet auch der lateinische Hymnus mit der Hinwendung zum Schöpfer, mit der Bitte um eine klare Sicht nur auf ihn, der allein die Quelle des Guten bildet, wobei der lateinische Textteil, der sich unmittelbar an das althochdeutsche Gebet anschließt, hier noch einen Schritt weitergeht und die Konsequenzen des Sich-Verleiten-Lassens aufzeigt. So werde der, der seine Sünden nicht bereut, an einen Ort geschickt, an dem die Sünde anerkannt ist – eine Vorstellung, die an das im Beowulf dargestellte Land der Fīfel (V. 104) erinnert. In beiden Texten, im lateinischen Hymnus des Boethius wie im althochdeutschen Gebet, wird der Schöpfer mit Du angesprochen. An diesem Punkt ist er nicht mehr der Ewige und Allmächtige, nicht mehr der, der sich gegenüber den Menschen als besonders freigiebig erweist, nicht der Vater oder das höchste Gute: Er ist Du, das direkte Gegenüber.

6.4 De poeta Was in Clm 22053, fol. 65v–66r überliefert ist, steht unter der Überschrift „de poeta“. Die Frage, wer dieser „poeta“ eigentlich sein soll, hat die Forschung immer wieder beschäftigt. Schlosser stellt seiner neuhochdeutschen Übersetzung des Textes die Überschrift „Von einem Dichter“116 voran, während Huismann im „poeta“ den Schöpfer bzw. „den latinisierten ποιητήν“117 (von ποιητής, poiētēs) sieht. Huismanns Annahme wird dadurch gestützt, dass auf fol. 63r von Clm 22053, also dem Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet unmittelbar voranstehend, lateinisch glossierte griechische Namen überliefert sind.118 Obwohl die „konventionelle Bedeutung“119 von „poeta“, wie Klein herausstellt, Dichter oder Poet sei, folgt sie der von Huismann geäußerten Auffassung, „poeta“ meine den schöpferisch wirkenden Gott. Allerdings bleibe der Begriff letztlich doch eine „Kippfigur“120, die sowohl den Schöpfer als auch den Dichter meint. Dabei erlaube es „die Mehrdeutigkeit des Wortes

116 Vgl. Althochdeutsche Literatur. Mit altniederdeutschen Textbeispielen. Auswahl mit Übertragungen und Kommentar. Hg. von Horst Dieter Schlosser. 2., überarb. und erw. Aufl. Berlin 2004, S. 49, sowie auch Schlosser, Horst Dieter: Die literarischen Anfänge der deutschen Sprache. Ein Arbeitsbuch zur althochdeutschen und altniederdeutschen Literatur. Berlin 1977, S. 101. 117 Huismann, Das Wessobrunner Gebet in seinem handschriftlichen Kontext, S. 633. 118 Vgl. ebd. 119 Klein, Die Schöpfung in der Dichtung – der Dichter als Schöpfer, S. 50. 120 Ebd.

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[…], auch den Menschen als mit einem schöpferischen Vermögen ausgestattet zu denken“121. Klein macht damit deutlich, dass man sich in der Übersetzung der Überschrift nicht zwischen Schöpfer und Dichter entscheiden muss, weil der Begriff eben mehrdeutig bleibt und sowohl die Vorstellung des (durch das Wort) schöpferisch tätigen Gottes wie des schöpferisch tätigen Menschen zulässt. Wenn der Schöpfer die Vorstellung des Dichters beinhaltet, bedeutete das, dass Schöpfung eine ästhetische Qualität besitzt und sich andersherum der Dichter als Schöpfer verstünde, der weltschaffend tätig sein kann. Dabei ist wichtig, dass wiederum der Dichter sowohl den wortbegabten Schöpfergott als auch den wortbegabten Menschen meinen kann. Es bleibt jedoch zu fragen, ob dem Menschen überhaupt schöpferische Fähigkeiten zugeschrieben werden können. Während Gott durch Aussprechen des (ersten) Wortes Etwas aus Nichts heraus schafft, kann doch der Mensch immer nur Etwas aufgrund von etwas schon Seiendem schaffen. Bereits Augustinus unterschied in De Trinitate deshalb zwischen zwei Arten der Schöpfung: Aliud est enim ex intimo ac summo causarum cardine condere atque administrare creaturam, quod qui facit solus creator est deus; aliud autem pro distributis ab illo uiribus et facultatibus aliquam operationem forinsecus admouere […].122 Es ist nämlich das eine, aus dem Innersten und dem wichtigsten Angelpunkt der Ursachen die Schöpfung zu begründen und zu lenken – wer das tut, ist allein der Schöpfer Gott; etwas anderes aber, für die von ihm verteilten Kräfte und Fähigkeiten irgendeine Tätigkeit von außen heranzubringen.

Gott allein ist Schöpfer zu nennen, weil sich seine creatio aus dem Nichts heraus vollzieht, weil er die erste Ursache allen Seins ist und seiner creatio nichts vorausgeht als das Wort, das die Dinge festsetzt. Er allein steht am Beginn der Dinge, die, einmal geschaffen, keine weitere Schöpfung aus dem Nichts zur Folge haben können. Unter anderem auf Augustinus Bezug nehmend fragt Kiening in seiner Arbeit zur literarischen Schöpfung im Mittelalter, ob mit solcher Lehre „das Thema menschlicher Schöpfung schon erledigt [sei]“123. Ist es dem Menschen unmöglich, aus sich selbst heraus kreativ zu sein, weil er eben nicht Etwas aus Nichts heraus, sondern nur etwas Anderes aus dem 121 Ebd. 122 Sancti Avrelii Avgvstini De trinitate libri XV. Cura et studio W. J. Mountain avxiliante Fr. Glorie. Turnhout 1968 (CCSL 50), S. 143. 123 Kiening, Christian: Literarische Schöpfung im Mittelalter. Göttingen 2015, S. 9. Ebenfalls in Bezug auf das augustinische „solus creator est deus“ formulierte Cramer, Thomas: Solus Creator est Deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum. In: Daphnis 15 (1986), S. 261–276, hier S. 261, noch radikaler: „Die Haltung des Mittelalters zur künstlerischen Hervorbringung ist grundsätzlich mit dem […] lapidaren Satz des Augustinus definiert“. Allerdings, so heißt es bei Cramer weiter, ließen sich zumindest

De poeta | 119

schon (durch Gott) Gegebenen schaffen kann? Kiening, der Texte des zwölften bis fünfzehnten Jahrhunderts in den Blick nimmt, weist die Autoren jener Zeit zumindest als „die Grenze zwischen göttlichem und menschlichem Schaffen“124 Auslotende aus. Sollte auch der Weg zu einer Idee der schöpferischen Autonomie des Künstlers noch weit sein, geht Kiening immerhin davon aus, dass sich Formen der künstlerischen Eigenmächtigkeit sowie ein Bewusstsein für diese künstlerische Eigenmächtigkeit bereits im Mittelalter herausgebildet haben. Seiner Ansicht nach eröffneten sich den mittelalterlichen Dichtern durchaus Spielräume, in denen sich „die schöpferischen Möglichkeiten der Rhetorik und der Sprache […] entfalten“125 konnten. So beriefen sich einzelne Autoren zwar auf die Tradition, innerhalb derer ihre Werke entstanden sind, gleichzeitig allerdings stilisierten sie „die eigene Autorschaft zu einer keineswegs unerheblichen“126. So führe etwa Gottfried von Straßburg aus, wie beschwerlich die Suche nach der besten Version des Tristan gewesen sei, die, so formuliert Kiening, die Grundlage bieten sollte „für eine geradezu lebensspendende Funktion seines [Gottfrieds, A. H.] eigenen Erzählens für die Gemeinschaft der Lesenden“127. Liest man den „poeta“-Verweis in der Überschrift tatsächlich als Kippfigur und erkennt in „poeta“ den wortbegabten Schöpfergott als auch den wortbegabten Menschen, dann spiegelt sich doch jenes Bewusstsein für die schöpferischen Möglichkeiten von Sprache, die Kiening erst in Texten des zwölften bis fünfzehnten Jahrhunderts erkennt, bereits hier wider. Die Annahme einer Kippfigur, die sich nicht festlegen lassen will, lässt den Gedanken zu, dass, da der Mensch, der den Schöpfungsanfang aus dem Innersten heraus Augustinus zufolge ja nicht kennt, sich diesen durch Analogie von der Vorstellung des künstlerischästhetischen Schaffensprozesses her erklärt und sich den Schöpfer also als Dichter vorstellt. Wenn der Schöpfer Dichter ist, dann wird das Dichten letztlich, um weiterhin im augustinischen Bild zu bleiben, zum Innersten und wichtigsten Angelpunkt der Ursachen128 erklärt und wird umgekehrt dem Dichter, der Schöpfer ist, die Fähigkeit zugeschrieben, aus dem Innersten heraus erschaffen zu können.

Ansätze eines Bewusstseins „für die schöpferische Autonomie des Menschen“ (ebd., S. 264) bereits in der Literatur des zwölften Jahrhunderts finden. 124 Kiening, Literarische Schöpfung im Mittelalter, S. 11. Vgl. auch Klein, Die Schöpfung in der Dichtung – der Dichter als Schöpfer, S. 64: „Die Vorstellung, dass der Mensch, namentlich der künstlerisch tätige, ein zweiter Gott sei, der in seinem schöpferischen Tun neben den ersten trete, ist nicht erst eine Erfindung der Neuzeit.“ 125 Vgl. Kiening, Literarische Schöpfung im Mittelalter, S. 30. 126 Ebd., S. 29. 127 Ebd. 128 Vgl. oben die Übersetzung von Augustins De Trinitate: Sancti Avrelii Avgvstini De trinitate libri XV, S. 143.

120 | Zum Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet

6.5 Ich und Du – Gott im Gegenüber Zu Beginn des Kapitels wurde auf Boesch hingewiesen, der im althochdeutschen Text Parallelen zu Ps 89 erkennt. In Ps 89 wird Gottes Präexistenz vor jeder Schöpfung sowie seine Ewigkeit betont – und Gott immer wieder mit Du angesprochen. Auch das Paternoster, das vor der Aufzeichnung des Wessobrunner Gebets schon in althochdeutscher Sprache aufgeschrieben wurde, weist die Du-Ansprache Gottes auf.129 Es ist das Gebet, in dem das Du seinen Platz hat. Das Gebet ist eine „kommunikative Praxis“130, innerhalb derer sich, so drückt es Weyel aus, „Einzelne, Gruppen oder kultische Gemeinschaften an eine Gottheit wenden und ihre Lebenssituationen vor die Gottheit bringen, von der sie Leben, Gesundheit und Überfluss an allem Lebensnotwendigen erwarten“131. Es ist die gewählte Form des Gebets, die die Formen des Möglichen und Sagbaren mit vorgibt und die direkte Ansprache Gottes möglich macht. Das Wessobrunner Gebet ist der einzige der bis hier besprochenen volkssprachlichen Texte, der ein Ich und ein Du zulässt. Im Zuge der Anrede Gottes offenbart sich dieser als „almahtic“. Dass es sich beim Schöpfer des Himmels und der Erde um „Cot“ handelt und diese Tatsache so klar ausgesprochen wird, ist bemerkenswert. Immerhin wurde das Wort Gott in den altenglischen Texten konsequent vermieden. Indem der Verfasser des althochdeutschen Textes hier explizit auf Gott verweist, will er offensichtlich nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen lassen, dass es sich beim mit Du Adressierten nicht um Gott handeln könnte. Dabei zieht die direkte Anrede außerdem eine Gegenwartsebene ein: Gott ist nicht vergangen, sondern anwesend. Indem das Ich Gott in der Adressierung als Schöpfer von Himmel und Erde ausweist, wird der Bogen aber auch bis zum Anfang gespannt. Gott war am Beginn, und er ist auch jetzt noch. Die Du-Prädikation findet sich erst im Gebetsteil des Textes. Ein Ich hingegen spricht in beiden Teilen. Während sich das Ich des Gebetsteils allein Gott zuwendet, nimmt das Ich des Stabreimteils Bezug auf die „firaha“ (V. 1), in deren Mitte er das Höchste allen Wissens vernommen hat. Ein Ich verortet sich damit in der menschlichen Gesellschaft, das andere Ich in der Verbindung zu Gott. So ist das eine Ich in der Lage, seine Stellung als Teil der Gesellschaft zu reflektieren; das andere Ich bezieht Stellung in Bezug auf seinen Glauben, dem es in rechter Weise folgen will.

129 Das St. Galler Paternoster wird zitiert nach: Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 27 f. Parallelen zwischen dem Paternoster und dem Wessobrunner Gebetsteil lassen sich außerdem in der jeweils an Gott gerichteten Bitte erkennen, dieser möge seine/n Anrufer im Glauben unterstützen und ihn nicht auf Abwege führen. 130 Weyel, Birgit: Gebet. In: Handbuch Literatur und Religion. Hg. von Daniel Weidner. Stuttgart 2016, S. 236–240, hier S. 236. 131 Ebd.

Ich und Du – Gott im Gegenüber | 121

In der menschlichen Gesellschaft kursiert ein Wissen um das Davor, den präkreativen Zustand. Der präkreative Zustand ist im Gebetsteil überwunden, die Schöpfung wird als vollzogen herausgestellt. Der „ufhimil“ (V. 2), den die „firaha“ (V. 1) noch kennen, spielt im Gebetsteil keine Rolle mehr. Im Zuge der Herauslösung von Erde und Überhimmel aus dem Stabreim stehen Himmel und Erde und wird Schöpfung als transzendenter Vorgang beschrieben. Der Weg hin zur Schöpfung wird beschritten über bekannte Stabreimformeln („ero“ – „ufhimil“, V. 2), dann schon zeigt sich Endreim („enteo ni uuenteo“, V. 6), am Ende steht Prosa – und damit Gott, der Schöpfer, der zuerst den Himmel, dann erst die Erde setzt. Das Ich des Hymnus übernimmt die Rolle des Rezipierenden seiner Zeit, indem es archaische Stabreimformeln, die aus der eddischen Literatur bekannt sind und in der menschlichen Gesellschaft noch kursieren, wiedergibt. Das Ich des Gebetsteils wiederum preist schon einen monotheistischen Schöpfergott. So macht der althochdeutsche Text insgesamt deutlich, dass durch die Annahme des christlichen Glaubens nicht alle anderen, vor diesem Glauben existierenden Ideen und Vorstellungen getilgt werden, sondern ganz im Gegenteil diese immer noch einen festen Platz in der menschlichen Gesellschaft haben und vielmehr als Wegbereiter hin zum neuen Glauben genutzt werden.

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7 Der Heliand-Prolog Der Heliand ist eine in altsächsischer Sprache verfasste Evangelienharmonie in Stabreimen. Überliefert ist der Text in zwei Handschriften und vier Fragmenten. Hs. M1 sowie die überlieferten Fragmente2 werden ins neunte Jahrhundert datiert, während für Hs. C3 die zweite Hälfte des zehnten Jahrhunderts als Entstehungszeit angenommen wird.4 Mierke weist darauf hin, dass die „zeitlich enge Situierung von fünf der sechs Handschriften […] zeigt, dass zunächst ein reges Rezeptionsinteresse am Text vorhanden gewesen sein muss“.5 Der Text in Hs. M ist aufgrund von verloren gegangener Blätter nur lückenhaft überliefert, und auch der Schluss der Dichtung fehlt. Obwohl auch der in Hs. C überlieferte Text nach V. 5968 einfach abbricht, ist er Taeger zufolge dennoch als „vollständigste[r] Textzeuge“6 anzusehen. So sind etwa die ersten 84 Verse des in Hs. C überlieferten Prologs ausschließlich dort überliefert. Über den Dichter des Heliand ist wenig zu sagen.7 Allein 1 2

3 4 5 6 7

München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 25. Hs. S, München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 8840; Hs. P, Berlin, Deutsches Historisches Museum, Bibl., R 56/2537; Hs. V, Rom (Vatikanstadt), Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 1447; Heliand-Fragment auf fol. 27r und 32v; Hs. L, Leipzig, Universitätsbibl., Thomas 4073 (Ms). Zum 2006 gefundenen Fragment L des Heliand, das im siebzehnten Jahrhundert als Bucheinband verwendet wurde, vgl. Schmid, Hans-Ulrich: Ein neues ‚Heliand‘-Fragment aus der Universitätsbibliothek Leipzig. In: ZfdA 135 (2006), S. 309–323. London, British Library, Cotton Caligula A. VII. Taeger, Burkhard: Heliand. In: 2VL 3 (1981), Sp. 958–971, hier Sp. 959. Grundlegend zum Heliand und zu seiner Überlieferung vgl. auch Haubrichs, Wolfgang: Heliand. In: Althochdeutsche und altsächsische Literatur. Hg. von Rolf Bergmann, S. 154–163. Mierke, Gesine: Memoria als Kulturtransfer. Der altsächsische „Heliand“ zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Köln/Weimar/Wien 2008 (Ordo 11), S. 33. Taeger, Heliand, Sp. 959. Allerdings rückte gerade dieser in den vergangenen Jahren wieder verstärkt ins Interesse der Forschung. Vgl. hierzu vor allem Haferland, Harald: Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter. Göttingen 2004, S. 25–72, sowie zuvor schon ders.: War der Dichter des ‚Heliand‘ illiterat? In: ZfdA 131 (2002), S. 20–48. Haferland stellt den Heliand-Dichter als sächsischen Sänger vor, dessen Werk ein Beispiel für improvisiertes Erzählen sei. Eine Beteiligung literater Instanzen wird aber angenommen, sodass die Arbeit am Heliand letztlich als eine Art „Teamwork“ (ebd., S. 46) zu verstehen sei. Vor Haferland haben schon Franz Jostes (Der Dichter des Heliand. In: ZfdA 40 [1896], S. 341–368) und Wilhelm Bruckner (Der Helianddichter – ein Laie. Wissenschaftliche Beilage zum Bericht über das Gymnasium in Basel, Schuljahr 1903/04. Basel 1904.) den Heliand als Werk eines illiteraten Sänger-Dichters ausgewiesen. Zu anderen Einschätzungen kommen Johannes Rathofer (Der Heliand. Theologischer Sinn als tektonische Form. Vorbereitung und Grundlegung der Interpretation. Köln/Graz 1962 [Niederdeutsche Studien 9]), der im Dichter des Heliand einen literaten Theologen sieht, sowie Klaus Gantert (Akkommodation und eingeschriebener Kommentar. Untersuchungen zur Übertragungsstrategie des Helianddichters. Tübingen 1998 [ScriptOralia 111]), der den Heliand-Dichter als schriftlichen Autor ausweist.

Der Heliand-Prolog | 123

die Praefatio in librum antiquum lingua Saxonica conscriptum sowie die Versus de poeta et interprete huius codicis liefern einige (vage) Informationen:8 Mit einem nicht unbekannten Dichter oder Sänger („non ignobilis vates“) wird der Text in der Praefatio in Verbindung gebracht. Außerdem wird angespielt auf Bedas Caedmon-Bericht, indem das Können des Dichters auf eine mirakulöse Traumerscheinung zurückgeführt wird, die ihn mit diesen Worten auffordert, göttliche Lehren in eigener Sprache wiederzugeben:9 „o quid agis Vates, cur cantus tempora perdis? incipe divinas recitare ex ordine leges, transferre in propriam clarissima dogmata linguam”. […] qui prius agricola, mox et fuit ille poeta. (Versus, V. 24–28) „Oh, was tust Du, Dichter, warum verlierst Du die Zeiten des Gesangs? Fang an, die göttlichen Gesetze aus ihrer Ordnung heraus vorzutragen, die berühmtesten Lehren in Deine eigene Sprache zu übertragen!“ Jener, der vorher Bauer war, wurde bald Dichter.

Während Otfrid in seinem Evangelienbuch nicht nur sich selbst nennt, sondern auch die Schwierigkeit betont, vom Leben Jesu in fränkischer Sprache zu erzählen, finden sich jedoch weder in der Praefatio noch in den Versus Hinweise auf den Namen des Heliand-Dichters oder auf eventuelle Schwierigkeiten, die altsächsische Sprache zur Sprache der Literatur zu machen. Schwab bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Praefatio weiterhin „kein Approbationsgesuch für die geistliche, auch keine Widmung an die weltliche Obrigkeit, wie das Werk Otfrieds“10, enthält, jedoch immerhin den Förderer des Unternehmens, Jesu Leben in altsächsischen Stabreimen zu erzählen, nennt: „Ludouicus piissimus Augustus“11 – dessen Identität allerdings nicht sicher geklärt ist. Drögereit ging 1951 davon aus, dass 8

Vgl. Sahm, Heike: Scrîƀan, settian endi singan endi seggean forð. Textgenese und Tradierung in der Fiktion des Heliand. In: Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Bruno Quast und Susanne Spreckelmeier. Berlin/Boston 2017, S. 41–72, hier S. 43. Sahm gibt allerdings zu bedenken, „dass beide Vorreden […] deutlich später als der Heliand selbst datiert werden […] und sich die Paratexte vermutlich weniger dem Versuch, faktisches Wissen über den Text weiterzugeben [verdanken], als vielmehr, ihm einen prominenten Ursprung zuzuschreiben.“ 9 Vgl. Haubrichs: Heliand, S. 155 f. Zu den Parallelen der lateinischen Vorrede des Heliand zur Caedmon-Erzählung vgl. auch Cathey, James E.: Die Rhetorik der Weisheit und Beredtheit im altsächsischen Heliand. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft N. F. 37 (1996), S. 31–46. Cathey zeigt weiterhin, dass sich der Text auch über die Vorrede sowie den Prolog hinaus durch viele weitere Hinweise auf das (weise) Sprechen auszeichnet. 10 Schwab, Ute: Einige Beziehungen zwischen altsächsischer und angelsächsischer Dichtung. Mit einem Beitrag von Wolfgang Binnig. Spoleto 1988 (Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 8), S. 19. 11 Die Praefatio wird zitiert nach: Behaghel/Taeger, Heliand und Genesis, S. 1 f.

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hinter dem Namen eher Ludwig der Deutsche als Ludwig der Fromme zu vermuten sei.12 Schwab allerdings fragt sich fast vierzig Jahre später noch, wer mit „Ludouicus piissimus Augustus“ gemeint sein könnte: „Ludwig der Fromme? Ludwig der Deutsche? – oder ein anderer Ludwig?“13 – und beantwortet die Frage kurzerhand mit: „Wir wissen es nicht“14. Zuletzt erklärte Haubrichs, dass sowohl Ludwig der Fromme als auch Ludwig der Deutsche als Auftraggeber infrage kommen könnten, machte die Frage nach der Identität des „Ludouicus piissimus Augustus“ allerdings auch abhängig von der Übersetzung der Vorrede bis „actum est nuper“15. Cum plurimas Reipublicæ utilitates Ludouicus piissimus Augustus summo atque præclaro ingenio prudenter statuere atque ordinare contendat, maxime tamen quod ad sacrosanctam religionem æternamque animarum salubritatem attinet, studiosus ac devotus esse comprobatur hoc quotidie solicite tractans, ut populum sibi a Deo subiectum sapienter instruendo ad potiora atque excellentiora semper accendat, et nociva quæque atque superstitiosa comprimendo compescat. In talibus ergo studiis suus iugiter benevolus versatur animus, talibus delectamentis pascitur, ut meliora semper augendo multiplicet et deteriora vetando extinguat. Verum sicut in aliis innumerabilibus infirmioribusque rebus eius comprobari potest affectus, ita quoque in hoc magno opusculo sua non mediocriter commendatur benevolentia. Nam cum divinorum librorum solummodo literati atque eruditi prius notitiam haberent, eius studio atque imperii tempore, sed Dei omnipotentia atque inchoantia mirabiliter actum est nuper, ut cunctus populus suæ ditioni subditus, Theudisca loquens lingua, eiusdem divinæ lectionis nihilominus notionem acceperit. Indem der allerfrömmste und erhabene Herrscher Ludwig bestrebt ist, die zahlreichen Belange des Reiches aus allerhöchstem und ausgezeichnetem Verstand klug zu entscheiden und zu ordnen, vor allem aber jene Belange, welche die allerheiligste Religion und das Heil der Seelen betreffen, erweist er sich auch als eifrig und bemüht und sorgt gleichsam täglich sich darum, das ihm von Gott untergebene Volk in weiser Unterrichtung stets zu besserem und ausgezeichneterem Verhalten zu entflammen, schädliche Einflüsse und etwaigen Aberglauben aber durch Unterdrückung in Schranken zu halten. Sein wohlwollender Sinn übt sich also ohne Unterlass in der Bemühung, weidet sich an der Freude, stets und zunehmend das Bessere zu mehren und das Schlechtere durch Verbote auszulöschen. Wie man so seine Zuneigung in unzähligen anderen und untergeordneten Dingen spüren kann, so hat er auch gegenüber folgendem durchaus nicht geringzuschätzendem Werk sein Wohlwollen in 12 Vgl. Drögereit, Richard: Werden und der Heliand. Studien zur Kulturgeschichte der Abtei Werden und zur Herkunft des Heliand. Essen 1951, S. 106 f. 13 Schwab, Einige Beziehungen zwischen altsächsischer und angelsächsischer Dichtung, S. 20. 14 Ebd. 15 Haubrichs, Wolfgang: Ludwig der Deutsche und die volkssprachige Literatur. In: Ludwig der Deutsche und seine Zeit. Hg. von Wilfried Hartmann. Darmstadt 2004, S. 203–232.

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erstaunlichem Maße bewiesen. Denn weil bis dahin allein die Schreibkundigen und Gelehrten die Kenntnis der göttlichen Schriften besaßen, ist es vor kurzem auf seinen Antrieb und noch zur Zeit der Reichseinheit [, aber auch wunderbarerweise mit der Allmacht und auf Betreiben Gottes,] unternommen worden, allem seiner Herrschaft unterworfenem Volk, auch wenn es eine theodiske Sprache spricht, dennoch die Kenntnis der göttlichen Schriften zu verschaffen.16

Haubrichs verweist auf den Tempuswechsel, der sich hier vollzieht:17 Zuerst steht Präsens, ab „actum est nuper“ steht Vergangenheit („acceperit“). Einleuchtend folgert Haubrichs daraus, dass der Auftraggeber zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes noch leben musste, jedoch das Adverb „nuper“ zurückverweist auf den Zeitpunkt des Entschlusses zur Arbeit an einer volkssprachlichen Bibelübersetzung, der mit „imperii tempore“ näher bestimmt werde.18 Haubrichs übersetzt „eius studio atque imperii tempore“ zunächst mit „auf seinen Antrieb und zur Zeit seines Reichs“19, um sogleich festzuhalten, dass „es […] nach den einleitenden Sätzen eine geradezu unsinnige Trivialität [sei], zu schreiben, dass dieser trefflich regierende augustus seinen Auftrag zur Zeit seines Reichs gab“20. So stellt er eine andere, plausiblere Übersetzung vor: „auf seinen Antrieb und noch zur Zeit des Reichs, des Imperiums“21, die allerdings impliziert, dass „der Auftrag in die Zeit vor der divisio imperii, also in die Zeit der Reichseinheit, zu datieren wäre, womit freilich auch nur noch Ludwig der Deutsche als Auftraggeber in logisch konsistentem Text in Frage käme“22. Es lässt sich über den Heliand-Dichter nur so viel sicher sagen: Er ist es, der theologisch gelehrtes Material erstmals in sächsische Stabreime überführt. Wie schon in den zuvor besprochenen Texten wird damit auch die Schöpfung, auf die im Heliand-Prolog hingewiesen wird, in Stabreime gekleidet. So begegnen hier Formeln, die aus anderen Texten bekannt sind. Zum Prolog hält Sahm noch 2017 fest, dass dieser „gemessen an seiner Bedeutung wenig Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden“23 habe. In einem Aufsatz untersucht sie den Prolog auf Merkmale der Dichtungstradition der Oral Poetry. An dieser Stelle soll der Bezug des Prologs nun auf eine andere Erzähltradition herausgearbeitet werden: Wie wird in altsächsischen Stabreimen von der Schöpfung erzählt, wie werden bekannte Formeln 16 Die Übersetzung ist übernommen von ebd., S. 218. 17 Vgl. ebd., S. 224. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Sahm, Scrîƀan, settian endi singan endi seggean forð, S. 42 f. Vgl. aber Rathofer, Johannes: Zum ‚Heliand‘Eingang. Ein textkritischer Versuch im Lichte der Quelle. In: Niederdeutsches Wort 9 (1969), S. 52–72. Rathofer, der sich 1969 ausschließlich dem Dichtungsbeginn widmet, bescheinigt diesem „gedankliche und sprachliche Blässe“ (ebd., S. 55), die er auf „gestörte Überlieferung und die Eingriffe der Editoren“ (ebd.) zurückführt. Dem „textkritischen Problem“ (ebd.) hält er Besserungsvorschläge entgegen.

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eingesetzt, welche Elemente treten neu hinzu und warum ist es überhaupt relevant, in einer Evangelienharmonie über die Schöpfung zu sprechen?

7.1 Zum Wortbegriff des Heliand Im Prolog des in Hs. C überlieferten Heliand-Textes dreht sich vieles um das Wort. Es ist das Wort, das gesprochen und gehört wird, das heilig sein kann, himmlisch oder weise, und das sich als wirkungs- und machtvoll erweist. Weil die Verweise auf das Wort den gesamten Prolog durchziehen und dem Wort auch in der hier aufscheinenden Schöpfungsvorstellung eine besondere Rolle zukommt, soll zunächst auf die Bedeutung des Wortes eingegangen werden, bevor die einzelnen Schöpfungswerke sowie der Schöpfungsverlauf in den Blick genommen werden.

7.1.1 Das gehörte Wort In den ersten neun Versen des Heliand-Prologs steht der Verweis auf den Beginn der Aneignung des göttlichen Wortes durch den Menschen. Im Prolog wird auf die verwiesen, die damit beginnen wollen, das Wort Gottes zu verkünden: Manega uuâron,24    the sia iro môd gespôn, ……………….,    that sia bigunnun uuord godes, reckean that girûni,    that thie rîceo Crist undar mancunnea    mâriða gifrumida mid uuordun endi mid uuercun.    That uuolda thô uuîsara filo liudo barno loƀon,    lêra Cristes, hêlag uuord godas,    endi mid iro handon scrîƀan berehtlîco an buok,    huô sia scoldin is gibodscipi frummian, firiho barn. (Prol. V. 1–9) Viele gab es, die ihr Herz antrieb, dass sie begannen, das Wort Gottes, das Geheimnis, darzulegen, dass der mächtige Christ unter dem Menschengeschlecht Wunder vollbrachte mit Worten und mit Werken. Das wollten da viele der klugen Menschenkinder loben, die Lehre Christi, das heilige Wort

24 Zitiert wird hier Lk 1,1. Im Lukasprolog legt Lukas sein Vorhaben dar, von Jesus zu berichten. Im Heliand-Prolog werden in Vers 9 dann alle vier Evangelisten genannt, die von Jesus und seinen Werken berichtet haben.

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Gottes, und mit ihren Händen auf glanzvolle Weise in ein Buch schreiben, wie sie, die Menschenkinder, seine Lehre ausführen sollten.

Das, was Gott mit Worten und mit Werken gewirkt hat, das wollen nun sie, die Menschenkinder, aufschreiben und bewahren. Von denen allerdings, die den Wunsch haben, das Gotteswort zu verkünden, sind allein vier dazu berufen, das Evangelium in Buchform zu bringen. Es sind Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, denen Gott die Aufgabe des Aufschreibens zugewiesen hat; es sind diese vier, die allein Inspiration durch den Heiligen Geist erfahren haben: frummian, firiho barn.    Than uuârun thoh sia fiori te thiu under thera menigo,    thia habdon maht godes, helpa fan himila,    hêlagna gêst, craft fan Criste, –    sia uurðun gicorana te thio, that sie than êuangelium    ênan scoldun an buok scrîƀan     endi sô manag gibod godes, hêlag himilisc uuord:    sia ne muosta heliðo than mêr, firiho barno frummian,     neƀan that sia fiori te thio thuru craft godas    gecorana uurðun, Matheus endi Marcus, – sô uuârun thia man hêtana – Lucas endi Iohannes;    sia uuârun gode lieƀa, uuirðiga ti them giuuirkie.    Habda im uualdand god, them heliðon an iro hertan    hêlagna gêst fasto bifolhan    endi ferahtan hugi, sô manag uuîslîk uuord    endi giuuit mikil, that sea scoldin ahebbean    hêlagaro stemnun godspell that gouda,    that ni haƀit ênigan gigadon huergin, thiu uuord an thesaro uueroldi,    that io uualdand mêr, drohtin diurie    eftho derƀi thing, firinuuerc fellie    eftho f îundo nîð, strîd uuiđerstande –,    huand hie habda starkan hugi, mildean endi guodan,    thie thes mêster uuas, aðalordfrumo    alomahtig. That scoldun sea fiori thuo    fingron scrîƀan, settian endi singan    endi seggean forð, that sea fan Cristes    crafte them mikilon gisâhun endi gihôrdun, […] (Prol. V. 9–35)

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Dann waren doch sie vier inmitten der Menge dazu [bestimmt], die hatten die Macht Gottes, Hilfe vom Himmel, den heiligen Geist, Kraft von Christus. Sie wurden zu dem Zweck ausgewählt, dass sie allein das Evangelium in ein Buch schreiben sollten und so manche Lehre Gottes, das heilige himmlische Wort. Sie [die Lehren und Worte Gottes] brauchten nicht mehr Männer aus der Schar der Menschenkinder [es] zu vollbringen, sondern nur sie vier, die durch die Kraft Gottes dazu ausgewählt wurden, Matthäus und Markus – so hießen die Männer –, Lukas und Johannes. Sie waren Gott lieb, dieser Arbeit würdig. Der waltende Gott hatte ihnen, den Helden, in ihre Herzen den heiligen Geist fest eingeprägt und weisen Sinn, so manches weise Wort und großen Verstand, dass sie mit den Stimmen der Heiligen anheben sollten diese vorzügliche Gottesrede, die nirgendwo ihresgleichen hat, die Worte in dieser Welt, die den Waltenden von nun an stärker, den Herrn preisen soll, und einerseits böse Dinge und Sünde fällen und andererseits dem Hass der Feinde, dem Kampf widerstehen soll – denn er hatte einen festen Sinn, barmherzig und gut, der ihr Meister war, der allmächtige edle Fürst.25 Das sollten diese vier nun mit ihren Fingern schreiben, aufsetzen und singen und weitererzählen, was sie von der Kraft Christi, der großen, sahen und hörten, […]

Was die Evangelisten weitersagen, das, so heißt es, „gisâhun endi gihôrdun“ (V. 35) sie von „Cristes crafte“ (V. 34). Das Wissen, das sie besitzen, ist also ein unmittelbar durch das Göttliche eingegebene Wissen. Was Gott gesprochen hat, das sprechen sie nach bzw. erneut aus, wodurch ihrem Wort ein Stück göttlicher Wahrhaftigkeit anhaftet. Diese Form der Kommunikation zwischen Gott und Mensch26 ist auch aus den zuvor besprochenen Texten des Hesiod oder Beda bekannt. Sowohl Hesiod als auch Caedmon, so wird erzählt, hören die 25 Zu „aðalordfrumo“ vgl. Zanni, Roland: Heliand, Genesis und das Altenglische. Die altsächsische Stabreimdichtung im Spannungsfeld zwischen germanischer Oraltradition und altenglischer Bibelepik. Berlin/ New York 1980 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 76), S. 83. Zanni erklärt den Begriff über seine altenglische Entsprechung „aeþele ord-fruma“, edler Fürst, und verweist auf eine Belegstelle in Vers 263 des Beowulf, in der der Begriff im weltlichen Gebrauch steht. Zanni hält fest, dass „wir es hier mit einer Prägung zu tun [haben], die ursprünglich dem weltlichen Bereich angehörte und später in christlicher Umgebung umgedeutet worden ist.“ Die Übersetzung von altenglisch „aeþele ord-fruma“ mit edler Fürst ist in der Übersetzung von Vers 31 des Heliand-Prologs von Zanni übernommen. 26 Zur Bedeutung des Wortes bzw. zur Kommunikation mit Gott im Prolog des Heliand vgl. Mierke, Gesine: Die ‚Rede des Autors‘ als Konzept. Kommunikation mit Gott im altsächsischen Heliand. In: Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende. Hg. von Nine Miedema, Angela Schrott und Monika Unzeitig. Berlin 2012 (Historische Dialogforschung 2), S. 229–246. Mierke weist darauf hin, dass aufgrund der generellen „unzureichenden Erkenntnis- und Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen […] die poetische Wahrheit – das Verfassen des Wortes Gottes – nur durch göttliche Inspiration zu legitimieren [sei], wie dies die Evangelisten im Heliand bezeugen“ (ebd., S. 244). Während die inspirierten Menschen vom Wort künden dürfen, ist hingegen, so hält Mierke fest, „Christus selbst […] das göttliche Wort und daher unlösbar mit Gott verbunden“ (ebd., S. 246). So vollziehe sich der „Übergang des Wortes aus Präexistenz und Transzendenz in Geschichte und Immanenz […] in der Inkarnation“ (ebd.).

Zum Wortbegriff des Heliand | 129

göttliche Stimme und erheben nach diesem Ereignis ihre eigene. Die Folge aus Hören und Weitererzählen ist eine bekannte und legitimiert das Sprechen von Dingen, in die eigentlich nur das Göttliche selbst Einsicht haben kann. Mierke bemerkt in diesem Zusammenhang, dass, „[i]ndem der Autor die Inspiration durch den Heiligen Geist betont, […] er den Evangelisten göttliche Legitimation und alleinigen Wahrheitsanspruch zu[spricht]“27. Dieser Wahrheitsanspruch, den der Dichter des Heliand durch Verweis auf die von Gott inspirierten Evangelisten erhebt, spielt auch bei Beda eine wichtige Rolle. Beda verfasst die Kirchengeschichte des englischen Volkes, seine Caedmon-Passage zeichnet einen individuellen Christianisierungsprozess nach: Der Hirte Caedmon sieht sich zum Lobpreis Gottes veranlasst, weil er das Göttliche selbst geschaut hat. Caedmon ist also berechtigt, Gott und dessen Schöpfung zu besingen, weil er die göttliche Stimme gehört hat und sein Gesang damit unmittelbar vom Göttlichen gewollt, geleitet und beeinflusst ist. Beda sowie der anonyme Heliand-Dichter legitimieren ihr eigenes Sprechen, das eben auch ein Sprechen über Gott und Gottes Wirken ist, indem sie jene Autoritäten heranziehen, die von höchster Stelle autorisiert sind, göttliches Wissen zu verbreiten. Sie zeigen, dass sie die Autoritäten und deren jeweilige Geschichte kennen, sie weisen sich als Teilhaber eines exklusiven Wissens aus und werden dadurch letztlich selbst zu Autoritäten.28

7.1.2 Das geheime Wort In den oben angeführten Versen 1 bis 35 wird das göttliche Wort als heilig (V. 7 und 15), himmlisch (V. 15) und weise (V. 23) beschrieben. Das Wort Gottes wird mit denselben Begriffen beschrieben, die in den zuvor besprochenen Texten als Beschreibungen für Gott selbst stehen. Im Caedmon-Hymnus wird der Schöpfer als „haleg“ (V. 6) bezeichnet und, indem er „hefaenricæs uard“ (V. 1) genannt wird, den himmlischen Sphären zugeordnet. Im Wessobrunner Gebet findet sich ein Verweis auf Gottes Weisheit, die das Ich voraussetzen muss, wenn es diese Weisheit auch für sich erbittet: „forgip mir in dino ganada rehta galaupa enti cotan uuilleon, uuistóm enti spahida enti craft“. Entsprechend der zu Beginn des Johannesevangeliums geäußerten Vorstellung, dass „In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum et Deus erat Verbum“ (Joh 1,1), scheint es nachvollziehbar, das Wort mit den an anderer Stelle ausschließlich Gott vorbehaltenen Attributen auszustatten.

27 Mierke, Memoria als Kulturtransfer, S. 268. 28 Vgl. hierzu ebd., S. 272 (in Bezug auf den Heliand-Dichter): „Hinter den von Gott berufenen und durch den Heiligen Geist Inspirierten kann der Autor seinen Namen nicht nennen, durch das Verfassen des Werkes stellt er sich dennoch in diese Tradition und verweist auf Autoritäten, die sein Handeln rechtfertigen.“

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Im Heliand-Prolog wird das göttliche Wort aber außerdem als „girûni“ (V. 3) bezeichnet. Das Wort „karuni“ begegnet unter anderem in den Murbacher Hymnen sowie im Althochdeutschen Isidor. In den Murbacher Hymnen ist die Rede vom „heilac kotes karuni“29 und vom „karuni uuntarlihc“30, wobei „karuni“ beide Male als Übersetzung für lateinisch „mysterium“ steht. Im Althochdeutschen Isidor taucht das Wort „chiruni“ immer wieder auf. Es findet sich hier etwa als Übersetzung für „archana“ („daucgal fater chiruni“31) – oder „archana secretorum“ („heilac chiruni“32) – sowie für „sacramentum“ („heilac chiruni“33). Die Belege zeigen, dass „karuni“/„chiruni“ oftmals entweder selbst als heilig bezeichnet und also mit einem göttlichen Attribut versehen wird oder zumindest in Verbindung zum heiligen Gott steht. Das „girûni“, das im Heliand-Prolog als Synonym für das Wort Gottes verwendet wird, kann also wie Gott selbst heilig sein, wodurch die im Johannesevangelium betonte Vorstellung, dass „Deus erat Verbum“ über die Verwendung von „girûni“ auch im Heliand durchscheint. Das etymologisch mit „girûni“/„karuni“/„chiruni“ verwandte Verb „rûnên“ findet sich etwa in der Segensformel Ad equum errehet 34 und wird hier mit Zauber assoziiert.35 Ganz ähnlich heißt es in Hirsch und Hinde: „Hirez runeta hintun in daz ora uuildu noh, hinta, …?“36, wobei „runeta“, so Edwards, wohl als „Liebesgeflüster“37 aufzufassen ist. Altnordisch „run“ steht für die Runen als Schriftzeichen. In Strophe 142 der eddischen Hávamál 38 wird der göttliche Ursprung der Runen besungen und ein Bezug zur vorchristlichen Mythologie hergestellt: Rúnar munt þú finna ok ráðna stafi, miǫk stóra stafi, 29 Die Murbacher Hymnen. Nach der Handschrift hg. von Eduard Sievers. Mit einer Einführung von Evelyn Scherabon Firchow. New York/London 1972, S. 42. 30 Ebd., S. 49. 31 Eggers, Der althochdeutsche Isidor, S. 12 f. 32 Ebd., S. 18 f. 33 Ebd., S. 34 f. 34 Ad equum errehet wird zitiert nach: Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 373. 35 Vgl. Edwards, Cyril: winileodos! Zu Nonnen, Zensur und den Spuren der althochdeutschen Liebeslyrik. In: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Hg. von Wolfgang Haubrichs [u. a.]. Berlin/New York 2000 (Ergänzungsbände zum RGA 22), S. 189–206, hier S. 200. 36 Hirsch und Hinde wird zitiert nach: Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, S. 399. 37 Edwards, winileodos!, S. 200. 38 Die Hávamál werden zitiert nach: Von See [u. a.], Kommentar zu den Liedern der Edda. Band 1: Götterlieder, Teil I: Vǫluspá [R], Hávamál. Heidelberg 2019.

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miǫk stinna stafi, er fáði fimbulþulr ok gørðo ginnregin ok reist hroptr rǫgna, […] (142, 1–7) Runen wirst du finden und zu deutende Stäbe, sehr große Stäbe, sehr starke Stäbe, die der gewaltige Redner färbte und die die hohen Mächte schufen und der Beschwörer der Mächte ritzte, […]39

Es gehe in dieser Strophe, so die Herausgeberinnen des Kommentars zu den Götterliedern der Edda, um die „Verwendung zauberkräftiger Runen“40. Diese werden hier vom gewaltigen Redner und Beschwörer der Mächte gefärbt und geritzt, wobei mit „fimbulþulr“ und auch „hroptr rǫgna“ La Farge und Schulz zufolge Odin gemeint sei,41 der als Färber und Ritzer der Runen aber nur fungieren kann, weil die Götter („ginnregin“) diese zuvor geschaffen haben. Die Erschaffung der Runen und der Umgang mit ihnen bleibt so allein den Göttern vorbehalten.42 Das im Heliand-Prolog vorkommende „girûni“ musste bei den Sprachbenutzenden des zehnten Jahrhunderts Assoziationen zum geheimnisvollen Sprechen sowie zum kultisch verwendeten Schriftzeichen wachgerufen haben. Insgesamt steht der Begriff „girûni“ für Geheimnis, Mysterium, ein Geflüster oder Geraune, das zu vernehmen eine gewisse Nähe oder vielmehr ein Eingeweihtsein voraussetzt. Wenn im Heliand-Prolog das göttliche Wort als „girûni“ bezeichnet wird, so wird das göttliche Wort ausgewiesen als eines, das nicht für jeden vernehmbar ist, also auch Geheimnis bleibt. Doch was bedeutet es nun, dass das Wort Gottes ein für den Menschen offensichtlich nicht ganz durchsichtiges Ereignis darstellt? Ausgerechnet das Wort, das im Heliand-Prolog eine so entscheidende Rolle spielt, soll letztlich ein Geheimnis bleiben? Das Wort wird im Zusammenhang mit dem zu Beginn des Prologs stehenden Verweis auf die unbestimmte und namenlose Anzahl an Menschenkindern angeführt, die sich vorgenommen haben, vom Wort Gottes zu erzählen. Die Menschenkinder wissen offenbar um die Taten Christi – so steht das Wort Gottes, das „girûni“, das sie erzählen wollen, unmittelbar vor dem Hinweis darauf, dass der mächtige Christ unter den Menschen Wunder vollbrachte (V. 3 f.). Obwohl also das Wissen um das Wort Gottes, das „girûni“ um das Wirken Christi schon zirkuliert, bevor die Evangelisten vom Leben Christi berichten, wird doch das Wort Gottes zunächst als eine nicht vollständig erklärbare Begebenheit vorgestellt. Die Menschen wollen etwas 39 Die deutsche Übersetzung ist übernommen aus ebd., S. 900. 40 Ebd. 41 Vgl. ebd., S. 903. 42 Vgl. ebd.

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erzählen, das sie eigentlich nicht recht verstehen. Wahre Einsicht und Erkenntnis besitzen erst diejenigen, die aus der Menge der Menschenkinder bald mit Namen hervortreten: die vier Evangelisten, die das Wort unmittelbar durch den heiligen Geist empfangen haben. Das ihnen auf diese Art vermittelte Wort wird in Vers 23 als „uuîslîk uuord“ bezeichnet. Das göttliche Wort ist also sowohl Geheimnis, etwas, das die Menschen nicht ganz durchschauen können, als auch ein weises bzw. Weisheit vermittelndes Wort. Es ist beides zugleich, unerklärbar und doch voller Wissen. Indem das mit Weisheit angefüllte Wort an einem bestimmten Punkt an die Evangelisten weitergegeben wird, sind es letztlich wohl sie allein, die das zunächst Unerklärbare durch die durch das Göttliche vermittelte Kenntnis erklären können.

7.1.3 Das wirkende Wort Über die vier Evangelisten erfährt man, dass sie das, was sie aufschreiben, von Gott selbst gesehen und gehört haben. Die Tatsache, dass sie das Gotteswort gehört haben, legitimiert ihr Schreiben. Doch das Wort Gottes ist nicht nur eines, das gehört und anschließend weitererzählt werden will; es ist auch ein unmittelbar handelndes Wort, das in dem Moment schon wirkt, in dem es vorgebracht wird. Die Evangelisten, so heißt es, sollen aufschreiben, singen und weitererzählen, that sea fan Cristes    crafte them mikilon gisâhun endi gihôrdun,    thes hie selƀo gisprac, giuuîsda endi giuuarahta,    uundarlîcas filo, sô manag mid mannon    mahtig drohtin, all so hie it fan them anginne    thuru is ênes craht, uualdand gisprak,    thuo hie êrist thesa uuerold giscuop endi thuo all bifieng    mid ênu uuordo, himil endi erða    endi al that sea bihlidan êgun giuuarahtes endi giuuahsanes:    that uuarð thuo all mid uuordon godas fasto bifangan    […] (Prol. V. 34–43) was sie von der Kraft Christi, der großen, sahen und hörten, worüber er selber sprach, lehrte und wirkte, viel Wunderbares, so manches unter den Menschen, der mächtige Herr, so wie er es, der Herrscher, alles von Anfang an durch seine alleinige Kraft sprach, als er zuerst diese Welt erschuf und als er alles umfing mit einem Wort, Himmel und Erde und alles, was sie umfasst haben; das behandelten sie [die Evangelisten] als ein Gemachtes und Gewachsenes: Das wurde da alles mit Gottes Worten fest umfangen […]

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Die (gehörten) Worte Christi markieren nicht nur den Ausgangspunkt für die Aufnahme der Schreib- und Erzähltätigkeit der Evangelisten, sondern, so macht es die vorliegende Passage deutlich, stehen außerdem in enger Verbindung zur Welt, zu Himmel und Erde sowie allem weiterhin Geschaffenen. In Bezug auf die Schöpfung sind Wort und Werk untrennbar miteinander verbunden: Der Schöpfer sprach in dem Moment, in dem er die Welt erschuf (vgl. V. 39), wobei durch das Wort weiterhin auch Himmel und Erde und alles sonst Geschaffene umfangen wurde (vgl. V. 40 f.). Das Wort wird hier körperlich gedacht. Es muss eine Anlage zum Fangen/Greifen besitzen, und es muss sich zu Himmel und Erde ausstrecken und also im Raum ausdehnen können, um Himmel und Erde einfangen und sie so im eigenen Raum zusammenführen zu können. Das Wort kann damit einerseits schöpferisch tätig werden – die Welt wird im Zuge des Sprechens geschaffen – und andererseits zusammenführend und bündelnd, indem es Himmel und Erde umfängt und dadurch in sich einschließt und in einem Raum anordnet, dessen Grenzen die Umarmung des Wortes aufzeigt. Das Wort lässt entstehen, und das Wort ordnet. Das Wort ist immer ein handelndes Wort, eines, das unmittelbar wirkt. Dieses Zusammenspiel von Wort und Wirken ist aus dem Alten Testament bekannt: Gott sprach … und es ward … Es ist jene Formel, die das strukturbestimmende Prinzip von Gen 1 bildet, wobei sich die Frage aufdrängt, weshalb die Einleitung zu einer Evangelienharmonie überhaupt Anspielungen auf die alttestamentliche Genesis enthält. Der in den Versen 38 bis 43 vorliegende Verweis auf das Wort Gottes, das schöpferisch wirksam ist, sowie die damit in Verbindung stehende Anführung der Himmel-Erde-Formel ist hier als eine Art Ergänzungswissen anzusehen. Immerhin wurde das, was die Evangelisten von Christi Kraft eingegeben bekamen, in den vorangegangenen Versen bereits als gewaltig (V. 34), Christi Wort bereits als wunderbar (V. 36) beschrieben. Reicht das nicht aus, um die Worte und Schriften der Evangelien als ebenso gewaltig und wunderbar herauszustellen? Für den Verfasser des Prologs tut es das offensichtlich nicht. Erst in der Anspielung auf die Genesis, so scheint es, wird die wahre Bedeutung des Wortes Christi offenbar, das nun auch im Besitz der Evangelisten ist. Erst im Verweis auf das die Welt festsetzende und Himmel und Erde umfassende Wort wird auch die volle Wirkmacht der Evangelisten deutlich gemacht, die eben dieses Wort nun aufschreiben, singen und weitererzählen. Das aus der Genesis bekannte Prinzip von Sprechen und Handeln ist ein Prinzip, auf das in der frühmittelalterlichen volkssprachlichen Literatur immer wieder angespielt wird. In einem 2011 erschienenen Aufsatz beschäftigt sich Sahm mit den Formeln „uuord endi uuerc“ sowie „dâd endi uuord“ und verweist auf den hohen Stellenwert, den das Wort – wie das Begriffsfeld sprechen überhaupt – im Beowulf sowie im Heliand einnimmt.43 „Uuord 43 Vgl. Sahm, Heike: „Uuord endi uuerc“ in Heliand und Beowulf. Ein Thema und seine Modifikation in der frühmittelalterlichen Epik. In: GRM 61 (2011), S. 1–23. In der volkssprachlichen Literatur, so die These Sahms, werde ein sich in den Formeln verdichtendes „literarisches Konzept im Sinn der Oral

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endi uuerc“ ist Sahm zufolge mehr als eine in der frühmittelalterlichen Dichtung beliebte Stabreimformel. Vielmehr werde der enge Zusammenhang von Wort und Werk auf narrativer Ebene reflektiert und auch dargestellt.44 Im Heliand etwa werde über die Formel hinaus „eine semantische Relation von Wort und Tat gesetzt“45, indem ihre Formelbindung immer wieder auch aufgebrochen und „uuord“ und „uuerc“ variierend eingesetzt werden.46 Der enge Zusammenhang von Wort und Tat wird so auch über die Formel hinaus deutlich: „Worte sprechen und Taten tun sind die zwei Seiten einer Medaille, die zwei Manifestationen einer Handlung“47. In den oben zitierten Versen 34 bis 43 des Heliand-Prologs zeigt sich eben dies auf bemerkenswerte Weise. Das Wort und die Tat spielen im Zuge des knapp dargestellten Schöpfungsvorgangs unmittelbar zusammen und bilden das göttliche Prinzip ab, nach dem die Welt entsteht und geordnet wird: Das durch Gott gesprochene Wort materialisiert sich, das Wort wird. Auch in den zuvor besprochenen Texten wird das Wechselspiel von Wort und Werk immer dann relevant, wenn es darum geht, Schöpfung darzustellen. Dem göttlichen Prinzip der Schöpfung folgend wird im Zusammenhang mit der Darstellung der Schöpfung bzw. der einzelnen Schöpfungswerke immer wieder zunächst auf die verwiesen, die das Wissen um die Schöpfung und ihre Werke ausschließlich im und durch das Wort besitzen und nur durch das Wort auch nach außen tragen können. Der Hinweis auf das (gesprochene) Wort steht dabei stets vor den Ausführungen über die Schöpfung. So geht der Schöpfungsdarstellung in Bedas Historia der Hinweis auf Caedmons Gesang voraus, der in der schriftlichen Fixierung weiterwirkt. Das Wort materialisiert sich hier, es wird zu Schrift bzw. hat Schrift unmittelbar zur Folge. Im Beowulf wird die Passage über die Schöpfung eingeleitet mit dem Hinweis auf den Klang der Harfe, der den Schöpfungsgesang des Scop begleitet. Was der Scop singt, ist allein den in Heorot feiernden Dänen vorbehalten. Der Erzähler gibt das Gesungene sinngemäß wieder und erinnert immer wieder an das Wort, das den schriftlich überlieferten Ausführungen über die Schöpfung unmittelbar voraus geht: „Þǣr wæs hearpan swēġ, / swutol sang scopes.    Sæġde, sē þe cūþe / frumsceaft fīra    feorran reċċan, / Poetry […] thematisiert und reflektiert“ (ebd., S. 4). Zunächst wird gezeigt, dass das Zusammenwirken von Wort und Werk die gesamte narrative Struktur des Beowulf prägt. Diese nämlich zeichne sich aus durch „[d]as Wechselspiel von Taten, die Reden hervorbringen und Reden, die Taten hervorbringen“ (ebd., S. 9) – ein Wechselspiel, das sich bereits erahnen lässt, hält man sich den hohen Anteil an wörtlicher Rede im Epos vor Augen (vgl. ebd.). 44 Vgl. ebd., S. 11. 45 Ebd., S. 15. 46 Vgl. ebd. Für die Variation von „uuord“ und „uuerc“ führt Sahm unter anderem folgendes Beispiel aus dem Heliand an: „Zacharias thô gimahalda    endi uuið selƀan sprac / drohtines engil,    endi im thero dâdeo bigan, / uundron thero uuordo“ (V. 139–141). Zacharias wundert sich über die Taten des Engels, die sogleich durch Worte variiert werden. Es wird hier deutlich, dass über die enge Bindung von Wort und Tat in der Stabreimformel hinaus ein Zusammenhang der beiden Substantive hergestellt wird. 47 Sahm, „Uuord endi uuerc“ in Heliand und Beowulf, S. 15.

Zum Wortbegriff des Heliand | 135

cwæð þæt se ælmihtịga    eorðan worh(te)“ (Hervorhebung A. H.). Auch im Wessobrunner Stabreimteil steht zu Beginn der Verweis auf die mündliche Vermittlung des nun Ausgeführten: „Dat gafregin ih mit firahim    firiuuizzo meista, / Dat ero niuuas    noh ufhimil“. Obwohl das mündlich Vermittelte längst verklungen ist, hinterlässt es doch zumindest eine Spur im überlieferten Text, indem auf das Erfragte/Erfahrene hingewiesen und die Quelle des eigenen Schaffens freigelegt wird. Die literarische Darstellung der Schöpfung folgt in den genannten Texten also stets auf den Hinweis auf das Wort, wobei der Hinweis des Erzählers auf das gehörte Wort zugleich als Hinweis auf das eigene Tun und damit als poetologische Reflexion gelten kann: Ich habe etwas gehört, und weil ich etwas gehört habe, bin ich autorisiert, das Folgende zu erzählen. Im Heliand-Prolog manifestiert sich die Verbindung zwischen Wort und Werk nun auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Einmal ist es das Gotteswort, in dem und aus dem heraus (die Welt) erschaffen wird, einmal ist es das an die Evangelisten weitergegebene Wort, aus dem heraus das Evangelium entsteht, auf das sich eine neue Religion gründet. Auch das Wort der Evangelisten wirkt also anfangsbegründend. Es ist an dieser Stelle auf die Verse 32 bis 42 hinzuweisen, die als direkter Vergleich des Tuns der Evangelisten mit dem Tun des Schöpfergottes gelesen werden können: Die Evangelisten sollen sprechen, singen, schreiben, erzählen, […] so wie es der Herr am Anfang auch getan hat. In dieser Lesart48 fällt der Hinweis auf das den Anfang der Welt begründende Wort Gottes mit dem Verweis auf die den Anfang der (christlichen) Religion begründenden Worte der Evangelisten unmittelbar zusammen. Wenn die Evangelisten sprechen und schreiben sollen, „all so“ (V. 38) der Schöpfer tat, als er am Beginn das Wort sprach, dann bedeutet das, dass das göttliche Schöpfungswort parallel zum Verkündigungswort der Evangelisten gesetzt wird. Die Arbeit der Evangelisten (das Aufschreiben, Singen und Weitererzählen) wird im Heliand-Prolog so mit dem Akt der Schöpfung direkt in Bezug gesetzt.

48 Vgl. jedoch Sahm, Scrîƀan, settian endi singan endi seggean forð, S. 54, die die Stelle als „Vergleich von Christus mit Gott [liest] (‚die Evangelisten sollen schreiben ..., was sie von Christus sahen und hörten ..., was der mächtige Herr selber sagte und ... bewirkte, ganz so, wie am Anfang der Herrscher sprach, ...‘ […])“. Ob man sich nun für diese oder jene Lesart entscheidet, so ist in jedem Fall festzuhalten, dass Evangelisten, Jesus Christus und Schöpfergott über das Wort aneinander angeschlossen werden: Die Evangelisten können durch göttliche Inspiration das Wort verkünden, Jesus Christus wirkt das Wort in der Welt, die das Wort des Schöpfergottes erst festgesetzt hat.

136 | Der Heliand-Prolog

7.1.4 Exkurs: Der Tatian-Prolog Hauptquelle des Heliand ist die lateinische Übersetzung der Evangelienharmonie des Tatian,49 dessen Prolog50 wie folgt beginnt: Quoniam quidem multi conati sunt ordinare narrationem quae in nobis completae sunt rerum, Sicut tradiderunt nobis qui ab initio ipsi viderant et ministri fuerunt sermonis, […] (Prologus, Lk 1,1 f.) Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren.

Der Tatian-Prolog/Lk 1,1 f. beginnt mit dem Verweis auf Viele, die sich in ihren Berichten an die Überlieferungen derjenigen halten, die von Anfang an das Wort sahen und dem Wort dienten. Anders als im Tatian wird die Vorstellung einer Folge aus vielen Berichtenden im Heliand nicht zugelassen. Zwar gab es viele, die, so heißt es im Heliand, ihr Herz antrieb, […] dass sie begannen, das Wort Gottes zu erzählen (V. 1 f.), aber es waren letztlich doch nur vier, die tatsächlich vom Wort erzählten, wodurch, so Sahm, der Gedanke „an konkurrierende Textzeugen“51 sogleich abgewendet werde. Der Tatian-Erzähler stellt sich nun selbst vor als einer von vielen und beruft sich auf die Überlieferungen derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Es wird hier die aus dem Alten wie Neuen Testament bekannte Verbindung von Anfang und Wort um einen weiteren Partner erweitert: die Augenzeugen bzw. Diener des Wortes. Wenn auch der Heliand-Prolog vom Prolog des Tatian insofern abweicht, als die vier Evangelisten an die Stelle der namenlosen und nicht zählbaren Gruppe der vielen rücken, so decken sich doch zumindest deren Fähigkeiten mit den Fähigkeiten der im Tatian genannten Berichtgeber: Die Evangelisten, so erzählt der Heliand, sahen und hörten das Wort, das der Herrscher „fan them anginne“ (V. 38) gesprochen hatte. Auch im Heliand wird so eine Verbindung zwischen dem Anfang und dem Wort, das man sehen und dem man dienen kann, hergestellt. Allerdings wird im Heliand ganz klar der Herrscher an den Anfang gesetzt („all so hie it fan them anginne    thuru is ênes craht, / uualdand gisprak“, V. 38 f.), wohingegen es im Tatian die Berichtgeber sind, die von Anfang an beim Wort waren. Es 49 Vgl. Haubrichs, Heliand, S. 159 f. Grundlegend zu den Quellen des Heliand vgl. Windisch, Ernst: Der Heliand und seine Quellen. Leipzig 1868. Vgl. zu den Parallelen des Heliand-Prologs zum Prolog des Tatian auch Sahm, Scrîƀan, settian endi singan endi seggean forð, S. 48–52. 50 Der Prolog des Tatian wird zitiert nach: Tatian. Lateinisch und altdeutsch mit ausführlichem Glossar. Hg. von Eduard Sievers. 2., neubearb. Ausg. Unv. Nachdr. Paderborn 1960, S. 13. 51 Sahm, Scrîƀan, settian endi singan endi seggean forð, S. 49.

Zum Wortbegriff des Heliand | 137

ist zu fragen, worauf sich dieser Anfang bezieht: Auf den Anfang des Wortes selbst oder auf den Anfang der Überlieferung des Wortes? Im Tatian bleibt diese Frage unbeantwortet. Der Heliand-Dichter wiederum macht deutlich, dass die Beantwortung der Frage nicht eigentlich drängt: Der Herrscher sprach von Anfang an das Wort, das an einem bestimmten Punkt an die Evangelisten weitergegeben wird, die im Zuge der Aneignung des Wortes immer auch Anteil am Anfang dadurch haben, dass das Wort am Anfang schon war. Durch die Aneignung des Wortes sind die Evangelisten in der Lage, „all so“ (V. 38) zu tun, wie der Schöpfer an eben jenem Anfang tat, als er das Wort sprach. Damit werden die vom Wort Berichtenden im Heliand durch ihre Anteilhabe am Wort, und durch Wiedergabe des Wortes, in den Rang des Schöpfers selbst erhoben, während von diesem in den ersten vier Versen des Tatian nicht einmal die Rede ist. Von einem Herrscher oder Schöpfer wird nicht berichtet; die Erzähler/Berichtgeber sind es ja, von denen es heißt, sie seien „fon anaginne“ (Er-)Kenner des Wortes gewesen. In beiden Texten wird den worttragenden Instanzen, den namenlosen Berichtgebern des Tatian oder den Evangelisten, eine Einsicht in das, was von Anfang an war, zugeschrieben. Diese Einsicht vollzieht sich über die Inbesitznahme des Wortes, ganz gleich, an welchem Zeitpunkt sich diese ereignet hat – allein über die Aneignung des Wortes wird Einsicht in die Vorgänge des Anfangsgeschehens ermöglicht. Das Wort zu tragen heißt, einen Schritt in Richtung des Anfangs allen Seins gehen zu können.

7.2 Welt, Himmel, Erde: Erschaffung und Ordnung 7.2.1 Die „uuerold“ Die göttliche Schöpfung vollzieht sich, so berichtet die Erzählung in den Versen 34 bis 43, im Wechsel von Wort und In-Erscheinung-Treten des Wortes. Im Zuge des Sprechens des Wortes wird die „uuerold“ (V. 39) geschaffen; anschließend nimmt das alles umschließende Wort Himmel und Erde in sich auf, bevor zuletzt ein weiterer Verweis auf das Wort folgt, das auch alles weiterhin Existierende fest in sich einschließt („all so hie it fan them anginne    thuru is ênes craht, / uualdand gisprak,    thuo hie êrist thesa uuerold giscuop / endi thuo all bifieng    mid ênu uuordo, / himil endi erða    endi al that sea bihlidan êgun / giuuarahtes endi giuuahsanes:    that uuarð thuo all mid uuordon godas / fasto bifangan“, V. 38–43). Im Heliand-Prolog ist es die „uuerold“, die Gott vor allem anderen erschaffen hat und die in den Schöpfungsdarstellungen der bis hierher besprochenen volkssprachlichen Texte bislang keine Rolle gespielt hat. Bis hierher waren es stets Himmel oder Erde, die als erste Werke der Schöpfung errichtet werden. Im Heliand-Prolog macht die Setzung der „uuerold“ 138 | Der Heliand-Prolog

als erstes Schöpfungswerk insofern Sinn, als sie mit „uualdand“ und „uuord“ einen Stabreim bildet. Der enge Zusammenhang zwischen Schöpfer, Wort und Werk wird damit ein weiteres Mal deutlich gemacht, wobei die unauflösliche Verbindung von Wort und Werk hier nicht nur wieder betont, sondern auch auf der Formebene dargestellt wird. Der Schöpfer der Welt ist jedoch nicht nur „uualdand“, sondern wird zuvor auch als „mahtig drohtin“ (V. 37) bezeichnet. Im Caedmon-Hymnus, im Beowulf und im Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet wurde die Schöpferinstanz als allmächtig beschrieben („frea allmectig“52, „ælmihtịga“, „almahtigo cot“/„Cot almahtico“). Die Eigenschaft der Allmacht wird im Heliand-Prolog nun auf den Begriff der Macht eingeschränkt; der Schöpfer ist nicht mehr uneingeschränkt und allumfassend mächtig zu nennen. Dabei ist der Wegfall des Präfixes all- dem Stabreim geschuldet: „sô manag mid mannon mahtig drohtin“ (V. 37). Der Herr ist mächtig, und er befindet sich unter Menschen. Die Allmacht wird dem Herrn also in dem Moment abgesprochen, in dem er inmitten von Menschen verortet wird. Ähnlich wie im Wessobrunner Schöpfungshymnus, in dem die Schöpferinstanz als „manno miltisto“ erscheint und damit, zumindest in der Übersetzung mit subjektivem Genitiv, als Mensch unter vielen ausgewiesen wird, scheint diese Vorstellung von einem menschlichen Schöpfer unter Menschen auch hier auf: Der Schöpfer wirkt inmitten vieler (Menschen) und muss darüber – so verlangt es der Stabreim – seine Allmacht aufgeben. Nachdem der Schöpfer als „mahtig drohtin“ vorgestellt wurde, wird er gleich darauf als „uualdand“ ausgewiesen. Als „uualdand“, so heißt es, sprach er das den Anfang der Welt begründende Wort, wobei er über diese Tätigkeit gleichgesetzt wird mit dem in Vers 42 genannten „god“, der ebenfalls Wort-Sprecher ist („that uuarð thuo all mid uuordon godas / fasto bifangan“, V. 42 f.). Der Schöpfer(-Gott) wird so in einem Dreischritt eingeführt: Zuerst, und noch bevor auf irgendein Schöpfungswerk hingewiesen wird, ist er „mahtig drohtin“, der inmitten von Menschen erscheint und wirkt; dann ist er der Wort-sprechende „uualdand“, der aus diesem Wort heraus die Welt festsetzt; und schließlich ist er „god“, der dadurch, dass er ebenfalls als Träger des Wortes vorgestellt wird, mit „uualdand“ in eins fällt. Noch bevor der Begriff Gott angeführt wird, wird er schon als unter den Menschen wirksame Instanz dargestellt. Aus der Menge der Menschen erhebt er sich dann erst zum Wort-Sprecher-Gott. Den Rezipierenden wird er so zunächst vorgeführt als einer, der unter ihnen ist und wirkt und der dann erst als Abstraktum „god“ erscheint, das die „uuerold“ durch Sprechen des Wortes erschaffen hat. Der Weg der Einführung der schöpferisch tätigen Instanz geht hier über den Weg des Konkreten hin zum Abstrakten. „Mahtig drohtin“, „uualdand“ und „god“ wird also jene Instanz genannt, die die „uuerold“ erschaffen hat. Altsächsisch „uuerold“ ist eine Zusammensetzung aus einem ersten Glied germanisch *wera-, was mit Mann oder Mensch übersetzt werden kann, und einem 52 Im Caedmon-Hymnus steht jedoch, wo es der Stabreim fordert, auch die Bezeichnung „metudæs maecti“ (V. 2). So kennt der Hymnus sowohl den mächtigen als auch den allmächtigen Schöpfer.

Welt, Himmel, Erde: Erschaffung und Ordnung | 139

zweiten Glied, das Zeitalter, Lebenszeit, Alter, Zeit bedeuten kann.53 Auf den Begriff der Welt wurde bereits im Kapitel zur Begriffsklärung eingegangen: Welt kann übersetzt werden mit (Zeit-)Alter des Menschen oder Lebenszeit. Es ist also der Mensch, der im Wort „uuerold“ immer schon eingeschlossen ist, sodass, wenn von der Existenz der Welt ausgegangen wird, auch die Existenz des Menschen vorausgesetzt werden bzw. der Mensch in irgendeiner Form schon angelegt sein muss. Die Welt ist im Heliand-Prolog nun nicht nur Resultat der Schöpfung; sie taucht auch an vielen weiteren Stellen der Erzählung auf. Die Grundbedeutungen des Begriffs fasst Sowinski54 wie folgt zusammen: Welt kann zum einen das „Resultat des Schöpfungsvorgangs durch Gott“55 bezeichnen, zum anderen „Naturbereich“56 sein, die „Gesamtheit der Menschen als Objekt der Weltherrschaft Christi“57 meinen, sich auf den „Lebensbereich der Sünder und der Guten“58 sowie auf „Ort und Ziel des Erlösungshandelns Christi“59 beziehen und nicht zuletzt für das „Missionsfeld für Christus und seine Jünger und alle künftigen Anhänger“60 stehen. Diese Bedeutungsübersicht zeigt, dass der Begriff „uuerold“ im Heliand vor allem auf den Wirkungsbereich christlicher Mission und Herrschaft bezogen ist. Wenn nun davon ausgegangen wird, dass der Mensch im Wort „uuerold“ immer schon eingeschlossen ist, ebnet diese Annahme seiner (gegenwärtigen oder angenommenen zukünftigen) Existenz die Grundlage für das Erscheinen Jesu, der in der Welt seinen Wirkungsbereich findet. Der Ursprung der Welt ist dabei im durch Gott gesprochenen Wort zu suchen. Die Verbindung zwischen Wort und Schöpfung ist aus der Genesis bekannt, ebenso die Himmel-Erde-Formel. Die Verbindung zwischen Wort, Schöpfung und Welt hingegen nicht. Diese Verbindung begegnet erst in Joh 1,1–11: In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum et Deus erat Verbum hoc erat in principio apud Deum omnia per ipsum facta sunt et sine ipso factum est nihil quod factum est in ipso vita erat et vita erat lux hominum et lux in tenebris lucet et tenebrae eam non conprehenderunt fuit homo missus a Deo cui nomen erat Iohannes hic venit in testimonium ut testimonium perhiberet de lumine ut omnes crederent per illum non erat ille lux sed ut testimonium perhiberet de lumine erat lux vera quae inluminat omnem hominem venientem in mundum 53 „Welt“. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, M–Z, S. 1555. 54 Sowinski, Bernhard: Darstellungsstil und Sprachstil im Heliand. Köln/Wien 1985 (Kölner germanistische Studien 21), S. 280. 55 Ebd. Sowinski führt folgende Belegstellen an: V. 39; 811; 4092; 3265; 4637. 56 Ebd. Sowinski führt folgende Belegstellen an: V. 658 und 687. 57 Ebd. Sowinski führt folgende Belegstellen an: V. 409; 585; 2324; 2436; 3113; 4298; 4834; 5587. 58 Ebd. Sowinski führt folgende Belegstellen an: V. 136; 748; 3629 ff.; 4926; 5573. 59 Ebd. Sowinski führt folgende Belegstellen an: V. 246; 2215; 3609 ff.; 5383; 5432. 60 Ebd. Sowinski führt unter anderem folgende Belegstellen an: 3000 ff.; 3167 ff.; 2124 ff.

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in mundo erat et mundus per ipsum factus est et mundus eum non cognovit in propria venit et sui eum non receperunt. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt. Es trat ein Mensch auf, der von Gott gesandt war; sein Name war Johannes. Er kam als Zeuge, um Zeugnis abzulegen für das Licht, damit alle durch ihn zum Glauben kommen. Er war nicht selbst das Licht, er sollte nur Zeugnis ablegen für das Licht. Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.

Im Prolog des Johannesevangeliums wird auf den Beginn der Genesis angespielt und auf den Ursprung des Wortes verwiesen. Es geht hier, so heißt es bei Beutler, um „das Sein des göttlichen Logos“61, der ewig und auf das Göttliche ausgerichtet ist.62 Das Wort ist von Anfang an bei Gott; das Wort ist Schöpfung und den Menschen Leben und Licht. In Joh 1,6 wird Johannes eingeführt, der Zeugnis vom Licht geben und damit zum Glauben anleiten soll. Johannes ist der Bezeuger des Lichts, durch Jesus Christus aber kommt das Licht, das die Menschen erleuchtet, erst in die Welt. Das Wort, durch das die Welt einst geschaffen wurde, kehrt also wieder zurück und hält erneut Einzug in die Welt. Allerdings erkennt die Welt das Wort nicht an; es heißt, die Seinen nehmen das Wort nicht auf, wobei mit „die Seinen“ Beutler zufolge „die von Gott im Wort geschaffenen Menschen“63 („omnes“ aus Joh 1,7; „omnes homines“ aus Joh 1,9; „mundus“ aus Joh 1,10)64 gemeint seien. Gott erscheint als Logos in der Welt und der Logos Gottes ist Christus. Schnell geht der Prolog des Evangeliums von der Schöpfungsthematik über zur Heilsgeschichte: Die Welt geht auf den Logos zurück und der Logos zieht sogleich in die Welt ein und erleuchtet diese durch seine Gegenwart; die Welt ist ganz auf das Erscheinen und Wirken Christi hin ausgerichtet. Im Heliand-Prolog werden nun gewissermaßen der Prolog des Johannesevangeliums und der Prolog der Genesis zusammengeführt. Der im Prolog des Johannesevangeliums zentrale Begriff Welt wird mit der in der Genesis stellvertretend für die gesamte Schöpfung stehenden Formel Himmel und Erde verknüpft, wobei weiterhin die sowohl im Alten als auch im Neuen Testament geäußerte Idee des schöpferischen Wortes eine Rolle spielt. Die Welt, und mit ihr der Mensch, so wird es im Heliand-Prolog betont, geht vor 61 62 63 64

Beutler, Johannes: Das Johannesevangelium. Kommentar. Freiburg i. Br./Basel/Wien 2013, S. 83. Vgl. ebd. Ebd., S. 91. Vgl. ebd.

Welt, Himmel, Erde: Erschaffung und Ordnung | 141

allem anderen aus dem Wort hervor, wobei es späterhin der Mensch sein wird, der das Wort durch den heiligen Geist vermittelt bekommt und der sich das Wort auf diese Weise selbst auch aneignen kann. Der Mensch also geht aus dem Wort hervor, um schließlich wieder zum Wort zurückzufinden, es aufzunehmen und weiterzutragen und den Kreislauf des Wortes weiterzuführen.

7.2.2 „himil endi erða“ – „erðe endi uphimil“ Auf die Nennung der „uuerold“ folgt im Heliand-Prolog die Nennung von „himil endi erða“. In Vers 40 heißt es, dass Gott Himmel und Erde „bifieng mid ênu uuordo“. Während Gott die Welt aus dem Wort bzw. aus dem Akt des Sprechens heraus „giscuop“, wird die Erschaffung von Himmel und Erde nicht eigens genannt. Über Himmel und Erde wird nur gesagt, dass sie vom Wort umfangen werden. So wie das Wort nach Himmel und Erde greift und sie umfängt, so halten Himmel und Erde nun ihrerseits etwas in sich fest. Damit umfängt nicht nur das Wort Himmel und Erde, sondern schließen auch Himmel und Erde etwas in sich ein, nämlich das, was als Gemachtes und Gewachsenes (vgl. V. 42) gelten kann: „uualdand gisprak,    thuo hie […] bifieng    mid ênu uuordo, / himil endi erða    endi al that sea bihlidan êgun / giuuarahtes endi giuuahsanes“ (V. 39–42). Himmel und Erde werden an dieser Stelle behältnisartig gedacht. Sie beide umschließen etwas, wobei sich das, was sie umschließen, zwischen Erde und Himmel befinden muss, wenn, wie etwa Isidor es in seinen Etymologiae („De terra“, XIV, i, 1) tut, davon ausgegangen wird, dass die Erde von den Himmelssphären umschlossen wird und in der Mitte eines Himmelsgewölbes liegt.65 Wenn die Erde das Mittlere und der Himmel, bzw. seine Sphären, das Äußere abbilden, dann müsste sich diesem Bild zufolge das Gemachte und Gewachsene zwischen der Erde in der Mitte und dem den Raum nach außen hin abgrenzenden Himmel anordnen. Wenn Himmel und Erde alles Seiende bedecken, umschließen und zwischen sich eingefasst halten, während sie selbst vom Wort umschlossen werden, liegt alles Seiende letztlich im Wort – darauf weisen die Verse 42 f. eindeutig hin: „that uuarð thuo all mid uuordon godas / fasto bifangan“. Allerdings wird auch eine klare, räumlich modellierte Ordnung dessen etabliert, was im Wort eingeschlossen liegt: Der Griff des Wortes bildet die den Raum nach außen hin abgrenzende Instanz, während Himmel und Erde gewissermaßen einen zweiten Griff bilden, der sich um alles andere legt, das nun mit dem Wort selbst nicht unmittelbar in Berührung kommt. Wenn alles Geschaffene und Gewachsene also im Griff des Wortes liegt, bleibt jedoch noch unklar, wo eigentlich die zuerst erschaffene „uuerold“ verortet werden muss. Steht die „uuerold“ außerhalb des Griffs, oder muss sie im Verweis auf das Gemachte und Gewachsene mitgedacht werden? Diese 65 Vgl. zu dieser Vorstellung des die Erde umschließenden Himmelsgewölbes Kapitel 4.5.2.

142 | Der Heliand-Prolog

Frage lässt der Text offen. Es ist allerdings denkbar, dass Himmel und Erde und alles, was sie umfasst haben, in ihrer Gesamtheit das abbilden, was mit „uuerold“ bezeichnet wird. Zumindest findet sich diese Vorstellung bei Isidor, der in seinen Etymologiae erklärt, dass die Welt aus Himmel, Erde und Meer sowie allen übrigen Werken Gottes, die in Himmel, Erde und Meer liegen, besteht: Mundus est caelum et terra, mare et quae in eis opera Dei, Die Welt ist Himmel und Erde und das Meer sowie die in diesen sich befindende Schöpfung Gottes (XIII , i, 1). Nach dieser Vorstellung, der zufolge Himmel, Erde und alle weiteren Schöpfungswerke die von Gott erschaffene Welt abbildeten, wären also auch Himmel, Erde und Meer ganz klar Werke der Schöpfung. Ob der Verfasser des Heliand diesem Gedanken folgt, ist unklar – die Gleichsetzung von Himmel und Erde mit „uuerold“ kann allenfalls als Möglichkeit mitgedacht werden. Die im Prolog des Heliand gezogene Verbindung zwischen Himmel und Erde sowie die Verbindung zwischen Wort und Schöpfung zeugen von einer christlich geprägten Schöpfungsvorstellung. Haferland hält es deshalb für „[b]emerkenswert“66, dass sich an anderer Stelle des Werks die Verbindung aus „erðe endi uphimil“ (V. 2886) findet und somit der „Schöpfungsgedanke […] in germanische Terminologie übersetzt“67 werde. Die Erde-Überhimmel-Formel wird angeführt im Zusammenhang mit der Darstellung der Wundertaten Jesu. Denn in der 34. Fitte wird die Speisungsgeschichte erzählt:68 Fünf Brote und zwei Fische reichen aus, um den Hunger von fünftausend Menschen zu stillen. Nach der Speisung erheben die Menschen ihre Stimmen; sie preisen den Vollbringer des Wunders und fordern, Jesus solle ihr König werden. Jedoch wird diese Forderung als wertlos herausgestellt. Welchen Wert schon kann der Name des „uueroldkuninges“ (V. 2893) für den heiligen Herrn (vgl. V. 2892) haben? In den Versen 2882 bis 2895 heißt es: sô grôte craft mid gode.    Thea gumon alle giuuarð, that sie ine gihôƀin    te hêrosten, gikurin ine te cuninge:    that Kriste ni uuas uuihtes uuirðig,    huand he thit uueroldrîki, erðe endi uphimil    thurh is ênes craft selƀo giuuarhte    endi sîðor giheld, land endi liudskepi,    – thoh thes ênigan gilôƀon ni dedin uurêðe uuiðersacon –    that al an is giuualde stâd, cuningrîkeo craft    endi kêsurdômes, meginthiodo mahal.    Bethiu ni uuelde he thurh thero manno sprâka hebbian ênigan hêrdôm,    hêlag drohtin, 66 Haferland, Mündlichkeit, S. 32. 67 Ebd. 68 Vgl. Mt 14,13–21; Mk 6,35–44; Lk 9,12–17 sowie Joh 6,5–15.

Welt, Himmel, Erde: Erschaffung und Ordnung | 143

uueroldkuninges namon;    ni he thô mid uuordun strîd ni afhôf uuið that folc furður,    ac fôr imu thô, thar he uuelde, an ên gebirgi uppan. (V. 2882–2895) Die Menschen wurden sich alle einig, dass sie ihn zum Herrscher erheben, ihn zum König wählen wollten: Das war Christus nicht wenig würdig, denn er selbst erschuf dieses Weltreich, die Erde und den Überhimmel mit alleiniger Kraft und bewahrte seither das Land und die Menschheit – doch die feindseligen Widersacher folgten dem einen Glauben nicht, dass alles in seiner Gewalt steht, die Kraft der Königreiche und des Kaiserreichs, das Gericht über die Menschen. Daher wollte er um der Rede der Menschen willen nicht irgendeine Herrschaft haben, der heilige Herr, nicht den Namen eines Weltkönigs. Weder stritt er darüber mit Worten noch erhob er sich weiter über das Volk, sondern zog für sich dorthin, wohin er wollte, hinauf ins Gebirge.

In dieser Passage wird Christus als Schöpfer der Erde und des Überhimmels vorgestellt, der auch nach der Schöpfung das Land und seine Bewohner erhält und somit nicht nur ihr Schöpfer, sondern auch ihr Bewahrer ist. Bevor jedoch Erde und Überhimmel als seine Werke ausgewiesen werden, steht der Verweis auf das „uueroldrîki“ (V. 2885). In der Schöpfungschronologie steht das Weltreich vor Erde und Überhimmel, die wiederum vor Land und Leuten stehen. Wie schon im Prolog wird auch hier im Rahmen einer Schöpfungsdarstellung die „uuerold“ vor Himmel und Erde bzw. Erde und Überhimmel genannt. An dieser Stelle kann ihr allerdings, durch die Verbindung mit „-rîki“, was unter anderem mit Reich oder Land übersetzt werden kann,69 auch eine räumliche Dimension zugeschrieben werden. Eine räumliche Dimension beschließen weiterhin auch die unmittelbar nach dem Weltreich genannten Schöpfungswerke Erde und Überhimmel, die ja als einfassende Entitäten fungieren. Es scheint, als sei die sowohl im in Hs. C überlieferten Prolog als auch in der oben zitierten Passage vor allen anderen Werken genannte „uuerold“, und damit die Gesamtheit der Menschen, als herausragendes Schöpfungswerk zu sehen, während die weiterhin genannten Schöpfungswerke den Bereich der Entfaltung des menschlichen Lebens eingrenzende Instanzen bilden. Das in Vers 2886 des Heliand angeführte Paar Erde und Überhimmel begegnete bereits in anderen Texten – vor allem dann, wenn es darum ging, den Zustand, der vor jeder Schöpfungstätigkeit liegt, fassen zu können. Die Formel diente als Repräsentant jenes Zustands des Davor, der stets als ein Zustand des Nichts imaginiert wurde. Eine Rückkehr zu diesem Zustand des Nichts schien dabei nur möglich über den Weg der Negation von Etwas, der Negation dessen, was ist. In der Völuspá wird dieser Weg beschritten, indem die Existenz von „jörð“ und „uphimin“ verneint wird. Im Wessobrunner Schöpfungshymnus wird ein Zustand 69 Vgl. „Rīki“. In: Tiefenbach, Heinrich: Altsächsisches Handwörterbuch. A Concise Old Saxon Dictionary. Berlin/New York 2010, S. 314.

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heraufbeschworen, in dem „ero niuuas noh ufhimil“. Auch in den Vafþrúðnismál findet sich die Verbindung aus „iǫrð“ und „uphiminn“ („Segðu þat it eina, / ef þitt œði dugir / ok þú, Vafþrúðnir, vitir, / hvaðan iǫrð um kom / eða uphiminn / fyrst, inn fróði iǫtunn“, 20, 1–6). Erde und Überhimmel werden hier allerdings nicht als nicht seiend vorgestellt, sondern angeführt im Zusammenhang mit der Frage nach dem Woher der Schöpfungswerke. Die Frage nach dem Ursprung von Erde und Überhimmel resultiert hier aus dem Unwissen des Fragenden über den Schöpfer, über dessen Schöpfung und über den Schöpfungshergang. In Bezug auf die beiden eddischen Texte und den Wessobrunner Stabreimteil wurde an anderer Stelle bereits darauf hingewiesen, dass die Erde-Überhimmel-Formel unabhängig vom christlichen Schöpfergott stehen kann, während die Himmel-Erde-Formel immer dann steht, wenn von der christlichen Schöpfung die Rede ist und die Existenz eines allmächtigen Gottes vorausgesetzt wird. Es ist daher nicht eigentlich bemerkenswert,70 dass die Erde-Überhimmel-Formel Eingang in den Heliand gefunden hat, sondern dass sie hier unmittelbar mit der christlichen Schöpfung in Verbindung gebracht wird, innerhalb derer Erde und Überhimmel nicht nur erschaffen, sondern auch erhalten werden. Damit nämlich stehen sie schöpfungsbejahend vor uns und eben nicht in der Negation, nicht als Wegweiser in Richtung eines vor der Schöpfung liegenden Nichts. Im Heliand-Prolog wird eine Verbindung zwischen dem schöpferisch tätigen „Krist“ (V. 2884) und der Erde-Überhimmel-Formel etabliert. Wenn Haferland die Erde-Überhimmel-Formel als Übersetzung des Schöpfungsgedanken in germanische Terminologie ausweist, so ist doch im Zuge der Etablierung der Verbindung jener Formel mit dem Wunder wirkenden Christus weiterhin zu fragen, ob hier nicht vielmehr germanische Terminologie ins Christliche übersetzt werden soll. In jener Frage nach dem vorchristlichen und/oder christlichen Gehalt des Heliand spiegele sich, so hielt Rathofer schon 1962 fest, „das alte Übersetzungsproblem von einer Sprache in die andere, von einem Kulturkreis in den anderen“71 wider. Der älteren Forschung, die vornehmlich die Auffassung vertrat, im Heliand werde Christliches bewusst „germanisiert“72, widerspricht Rathofer insofern, als er davon ausgeht, dass es Anliegen des Dichters war, die Sprache, die ihm eben zur Verfügung stand und innerhalb derer sich noch keine feste christliche Terminologie herausgebildet hatte, christlich einzufärben bzw. aufzufüllen.73 Drei Jahrzehnte später bemerkt Gantert, dass „eine ausgewogene Synthese von germanischem und christlichem Grundgehalt im

70 Vgl. Haferland, Mündlichkeit, S. 32. 71 Rathofer, Der Heliand, S. 21. 72 Ebd. Rathofer bezieht sich hier unter anderem auf Vilmar, A. F. C.: Deutsche Altertümer im Hêliand als Einkleidung der evangelischen Geschichte. Beiträge zur Erklärung des altsächsischen Hêliand und zur innern Geschichte der Einführung des Christentums in Deutschland. Marburg 1845. Die Studie Vilmars hat die Diskussion um die Germanisierung des Christentums erst ins Rollen gebracht. 73 Vgl. Rathofer, Der Heliand, S. 21.

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Heliand heute zumindest der deutschsprachigen Germanistik als opinio communis“74 gelte und Elemente einer nicht vom Christentum beeinflussten Tradition des Dichtens verwendet werden, ohne dass ihre Verwendung eine „nennenswerte Einschränkung genuin christlicher Vorstellungen“75 zur Folge hätte. Jene Synthese, von der Gantert spricht, lässt sich nun auch über die spezifische Verwendung der Erde-Überhimmel-Formel hinaus beobachten. Nur wenige Verse vor Anführung der Erde-Überhimmel-Formel wird der Begriff „middilgard“ verwendet: hêrron habdun.    Thô sie heƀencuning, thea liudi loƀodun,    quâðun that gio ni uurđi an thit lioht cuman uuîsaro uuârsago,    eftha that he giuuald mid gode an thesaru middilgard    mêron habdi, ênfaldaran hugi. (V. 2874–2878) Dann lobten sie, die Leute, den Himmelskönig, sagten, dass niemals ein weiserer Prophet ans Licht gekommen sei, oder dass niemand größere Gewalt durch Gott in diesem Mittelgarten hätte, niemand ein reineres Herz.

Der Begriff begegnete schon im Caedmon-Hymnus und ist auch aus der eddischen Schöpfungsvorstellung bekannt, wie sie in der Gylfaginning ausgeführt wird: „En fyrir innan á iǫrðunni gerðu þeir borg umhverfis heim’ firir úfriði iǫtna, en til þeirar bogar hǫfðu þeir brár Ymis iǫtuns ok kǫlluðu þá borg Miðgarð“76. Innen auf der Erde, so heißt es hier, errichten Odin, Vili und Vé zum Schutz der Menschen vor den Riesen einen Zaun, „Miðgarð“ genannt, den sie aus den Brauen oder Wimpern Ymirs herstellen. Weder im CaedmonHymnus noch im Heliand aber sind es drei Instanzen, die am Schöpfungswerk beteiligt sind. In beiden Texten wird von einem monotheistischen Schöpfergott ausgegangen und gibt es auch keinen Urriesen Ymir, aus dessen Gesichtsbehaarung ein Zaun, der „Miðgarð“ begrenzt, gemacht werden könnte. Es ist die göttliche Größe Jesu, die im Heliand-Prolog dadurch zum Ausdruck gebracht werden soll, dass es heißt, niemand habe je größere Gewalt mit Gott besessen als der, der sich gerade in „middilgard“ aufhält. Es ist an dieser Stelle Jesus Christus, der in den Schutzgarten der Menschen eintritt und diesen Ort zum 74 Gantert, Akkommodation und eingeschriebener Kommentar, S. 297. 75 Ebd. Gantert diskutiert in seiner Arbeit jedoch nicht die Übertragung von Vorchristlichem in Christliches oder umgekehrt, sondern widmet sich den Übertragungsstrategien, die der Heliand-Dichter wählt, um die Distanz zwischen dem zu vermittelnden Text und der Kultur der sächsischen Rezipierenden zu überbrücken. Besprochen werden in diesem Zusammenhang die Akkomodation an die bestehende mündliche Tradition des Erzählens sowie der eingeschriebene Kommentar, der den Text zugleich überträgt und erläutert. 76 Snorri, Gylfaginning, S. 158.

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Ort seiner Wunder werden lässt. „Middilgard“ oder „uphimil“ – es ist letztlich kein Bereich mehr nicht christlich zu nennen: weder die Welt noch die mittlere Erde, weder Erde noch Überhimmel. In all diesen Bereichen, so will es der Heliand, ist und war immer schon Christus als ihr Erschaffer, ihr Erlöser und Heilsbringer.

7.2.3 Schöpfung und Geschichte: Die sechs Weltalter Im Zuge der Ausführungen über die Schöpfung der Welt, des Himmels und der Erde sowie über die Weitergabe des Schöpfungswissens an die Evangelisten wird das Erschaffene in die Chronologie der sechs Weltalter überführt: giuuarahtes endi giuuahsanes:    that uuarð thuo all mid uuordon godas fasto bifangan,    endi gifrumid after thiu, huilic than liudscepi    landes scoldi uuîdost giuualdan,    eftho huar thiu uueroldaldar endon scoldin.77    Ên uuas iro thuo noh than firio barnun biforan,    endi thiu f îƀi uuârun agangan: scolda thuo that sehsta    sâliglîco cuman thuru craft godes    endi Cristas giburd, […] (Prol. V. 42–49) Das wurde da alles mit Gottes Worten fest umfangen und danach ausgeführt, welches Volk später die größte Macht über das Land haben sollte oder wohin die Weltalter führen sollten. Eines von ihnen stand den Menschenkindern noch bevor, und die fünf waren vergangen: Das sechste sollte da seliglich kommen durch Gottes Gewalt und Christi Geburt.

Alles, was ist, ist durch Gott. Doch nicht nur wird im Prolog auf das verwiesen, was der „mahtig drohtin / […] fan them anginne“ (V. 37 f.) tat, sondern es wird sogleich auch ein Ende mitgedacht. Wurde in Vers 39 noch auf die Erschaffung der Welt hingewiesen, wird in den Versen 45 f. gefragt, „huar thiu uueroldaldar / endon scoldin“. Ein „uueroldaldar“, so heißt es, stehe den Menschen noch bevor (vgl. V. 46 f.), während fünf bereits vergangen seien (vgl. V. 47). Insgesamt wird damit von sechs Weltaltern ausgegangen. Auch im Evangelienbuch Otfrids finden die „wóroltaltar“ (II, 9, 21) Erwähnung, wobei wie im Heliand davon ausgegangen wird, „thaz wórolt ist gidéilit,    in séhsu giméinit“ (II , 9, 20). Die bei Otfrid und im Heliand-Prolog angegebene Zahl der Weltalter entspricht der Anzahl der Epochen, in die Augustinus die Weltgeschichte einteilt, außerdem 77 In Hs. C, fol. 12r heißt es: „huar thiu uuerold aldar endon scoldi“.

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der Anzahl der göttlichen Schöpfungstage. Im letzten Kapitel des 22. Buchs De civitate Dei findet sich folgende Gliederung: Das erste Weltalter umfasst die Zeit Adams bis zur Sintflut, das zweite Weltalter die Zeit der Sintflut bis zu Abraham, das dritte reicht von Abraham bis David, das vierte von David bis zur babylonischen Gefangenschaft und das fünfte von der Gefangenschaft bis zur Geburt Christi. Das mit Christi Geburt eingeläutete sechste Weltalter dauert noch an, weshalb das kommende siebte Weltalter, in dem Gott ruhen wird, nur in Aussicht gestellt werden kann.78 Der Heliand-Dichter folgt Augustinus in dem Punkt der Positionierung der Menschenkinder im sechsten bzw. hier an der Schwelle zum sechsten Weltalter, das mit der Geburt Christi beginnt. Die knappe Schöpfungsdarstellung im altsächsischen Text ist auf das In-Erscheinung-Treten Christi hin organisiert. Die „êrist“ erschaffene „uuerold“ wird damit nicht nur geschaffen, sie besitzt auch eine historische Konstanz: So wird ihr eine Vergangenheit zugeschrieben (die vergangenen fünf Weltalter) sowie eine Zukunft in Aussicht gestellt („Ên uuas iro thuo noh than“, V. 46). Es ist bemerkenswert, dass der Welt gleich nach dem Hinweis auf ihre Erschaffung in Vers 39 eine Geschichte zugeschrieben wird, innerhalb derer sie bereits fünf Weltalter hinter sich gebracht hat. Es ist ein waghalsiger Sprung in der Zeit, der hier vollführt wird, wobei sogleich auch die Frage nach dem Ende des Weltenlaufs gestellt wird. Die Verortung der Welt in ihrer Gegenwart scheint nur möglich im Blick auch auf ihre Vergangenheit und Zukunft. Vergangenheit und Zukunft sind hier zu verstehen als Eckpunkte einer SechsPunkte-Skala, an der sich der Lauf der Welt ausrichtet. Die Darstellung der Welterschaffung im Heliand-Prolog bildet damit den Startpunkt der Geschichte und ist Auslöser einer Bewegung, die auf ein Ende zusteuert. Dabei ist zu bedenken, dass ausschließlich der Welt sowohl eine Vergangenheit als auch eine Zukunft und Gegenwart zugedacht wird. Himmel und Erde dagegen werden nicht entlang einer Skala ausgerichtet, die zeitlich organisiert ist. Himmel und Erde sind wie selbstverständlich gesetzt – eine Geschichte wird ihnen nicht zugeschrieben, nicht einmal wird erwähnt, dass sie erschaffen wurden. Sollte die „uuerold“ hier allerdings in Isidor’schem Verständnis, also als Gesamtheit von Himmel, Erde etc. aufgefasst werden, dann müssten Himmel und Erde in der Weltalter-Passage mitgedacht werden. Der Heliand-Verfasser müsste dann aber ein kundiges Publikum voraussetzen, das jenes Mitdenken unternimmt. Letztlich ist auch an dieser Stelle aber nicht sicher zu sagen, in welcher Ordnung Welt und Himmel/Erde zueinander stehen; es kann nur sicher gesagt werden, dass die Welt eine zeitliche Dimension beschließt, während Himmel und Erde räumliche Kategorien bilden. Dazu passt auch eine Überlegung Sahms, die erklärt, dass im Verweis auf die Zeitlichkeit der Welt außerdem „der Einsatzpunkt der erzählten Handlung erreicht“79 werde. Wurde das Wort Gottes in den Versen zuvor in indirekter Rede wiedergegeben, wird nun in die 78 Sancti Avrelii Avgvstini De civitate Dei libri XI–XXII, S. 865 f. 79 Sahm, Scrîƀan, settian endi singan endi seggean forð, S. 53.

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direkte Erzählerrede gewechselt. Dieses Vorgehen vergleicht Sahm mit dem des Nibelungendichters am Beginn des Epos: Wie dieser über den Verweis auf die „alten mæren“ in seine Erzählgegenwart findet, finde der Heliand-Dichter in die seine über den Verweis auf Gottes Wort und Wirken.80 Die Schöpfung bzw. Schöpfungsdarstellung ist damit in doppelter Hinsicht zielgerichtet. Nicht nur ist die Schöpfung innerhalb der Erzählung auf die Geburt Christi hin organisiert, die die geschichtliche Gegenwart der „uuerold“ im sechsten Weltalter markiert, sondern auch auf das Erreichen der Erzählgegenwart. Während einerseits die „uuerold“ in der Geschichte, die ihren Ausgangspunkt im Wort Gottes hat und deren Gegenwart und Zukunft in Christi Erscheinen liegt, verortet wird, verortet sich der Erzähler über den Rückbezug auf den Ursprung der Welt im Ursprung seiner Erzählung. Die direkte Erzählerrede schließt sich nahtlos an die indirekte Wiedergabe der Worte und Taten Gottes an.81 Über die Verweise auf das gesprochene, das wirkende und anschließend weitergegebene Wort ist es der Erzähler, der nun das Wort übernimmt.

7.3 Wort, Schöpfung, Geschichte Im Heliand-Prolog wird vor allem die Bedeutung des Wortes für das Schöpfungshandeln herausgestellt. Zu Beginn des Prologs steht der Verweis auf die Menschen, die vom göttlichen Wort künden wollen. Das Wort Gottes wird hier noch als „girûni“ bezeichnet, als etwas, das eigentlich nicht recht zu begreifen ist. So sind es erst die Evangelisten, die aus der Schar der Menschen dadurch herausragen, dass sie das Wort Gottes eingegeben bekommen und es vollständig begreifbar machen können. Das Wissen, das die Evangelisten besitzen, ist ein Wissen um das Wesen Christi als Wort, das mit Gott am Anfang der Schöpfung steht. Das wiederum den Evangelisten vermittelte Wort ist ein auf die Verkündigung des Wirkens Christi gerichtetes Wort. Der Gang des Wortes lässt sich damit wie folgt nachzeichnen: Zuerst ist das Wort bei Gott und begründet die Schöpfung (der „uuerold“). Anschließend sind es die Menschen, die vom Wort Gottes künden wollen, allerdings dieses Wort nicht vollständig durchschauen können. Erst die Evangelisten durchdringen Gottes Wort, nachdem sie eben das weise Wort eingegeben bekommen haben und dieses aufschreiben und weitererzählen, ehe es zuletzt beim Erzähler liegt. Es ist mithin ein wanderndes Wort, das im Heliand-Prolog vorgestellt wird: eines, das weitergetragen werden will und ab einem gewissen Punkt auch weitergetragen wird, weil das Göttliche selbst Einsicht in sein Wort gibt. Auch die „uuerold“, die durch das Wort in Erscheinung tritt, ist, wie das Wort selbst, in Wanderschaft begriffen. So wird der Weltengang in sechs Etappen eingeteilt, deren sechste Etappe mit der Geburt Christi beginnt und 80 Vgl. ebd., S. 53 f. 81 Vgl. ebd., S. 54.

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an deren Schwelle die Welt nach Auffassung des Heliand nun steht. Die Welt bekommt eine Geschichte zugeschrieben, die ihren Ursprung im schöpferischen Gotteswort nimmt und auf Jesu Erscheinen und Wirken in der Welt hin organisiert ist. Ausgehend von der Darstellung der Schöpfung wird der Ankunft Jesu entgegengeblickt, von der die Evangelisten künden sollen. Dabei verweist die Himmel-Erde-Formel klar auf den Beginn der Genesis, ebenso auch die Verbindung zwischen Sprechen und Handeln, die an das Schöpfungsprinzip des Alten Testaments erinnert. Die Verbindung zwischen Wort, Welt und Schöpfung sowie das Organisiert-Sein der Welt auf das Erscheinen und Wirken Christi hin erinnert wiederum an den Beginn des Johannesevangeliums. Der Heliand-Prolog steht damit als Scharnier zwischen Altem und Neuem Testament und bringt die Schöpfungsidee des Alten Testaments mit der christlichen Schöpfungsidee, die gleich in die Heilsgeschichte mündet, zusammen. Die zentralen Schöpfungsgedanken der Bibel fließen in den Versen 34 bis 43 des altsächsischen Textes zusammen und werden durch die Begriffe Wort, Welt, Himmel und Erde repräsentiert. Während Himmel und Erde nun allerdings im Griff des Wortes verortet werden, wird die Welt in der Zeit verortet – in einer Zeit, die auf die Ankunft des Erlösers gerichtet ist und als sechstes Weltalter vorgestellt wird. Auch die Evangelisten müssen in diesem sechsten Weltalter verortet werden, wenn sie von den Taten und Lehren Christi berichten können. Sie erhalten an einem bestimmten Punkt jenes Weltalters Einsicht in das göttliche Wirken, durch das die Welt einst festgesetzt wurde. Wie das am Beginn der Welt stehende Wort Gottes, das ein wirkendes Wort ist, ist auch das Aufschreiben und Weitererzählen des Wortes wirkungsvoll. So darf es nicht verwundern, dass ihr Verkündigungshandeln mit dem Schöpfungshandeln Gottes gleichgesetzt wird. Gott schafft die Welt, und die Evangelisten schaffen die Grundlage, auf der eine neue Religion entstehen kann. Schöpfung und Verkündigung werden an dieser Stelle direkt nebeneinander gestellt, Vergangenes und auf die Zukunft gerichtetes werden parallel gesetzt, die Lehren des Alten und Neuen Testaments zusammengebracht. Schöpfung erschöpft sich nicht mehr nur in der Festsetzung der Welt, sondern wird auch in anderen Zusammenhängen relevant. Der göttliche Schöpfungsplan wird so immer weitergeführt.

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8 Otfrids Evangelienbuch Mit Nachdruck stellt Suntrup die literarische Leistung Otfrids von Weißenburg heraus: Als „erster deutscher Dichter“1, so hebt er hervor, habe dieser „Methoden und Inhalte der theologischen Bibelerklärung in die deutsche Dichtung ein[ge]führt“2 und eine Literaturtheorie verfasst, in der die fränkisch-deutsche Sprache zur Sprache der Literatur erhoben wird.3 Otfrids Anliegen ist es, die Worte und Werke Jesu Christi in fränkischer Sprache wiederzugeben. Die Taten Christi sollen den Franken in ihrer Sprache vermittelt werden, damit auch sie, die vor der lateinischen Sprache erschaudern mögen (vgl. Liutb., 23–29), die „sanctissima verba“ (Liutb., 27) vernehmen können. Otfrid war Schüler des Hrabanus Maurus (ca. 780–856)4 und des Bischofs Salomo von Konstanz (839–871), wobei die Beziehung zu Letzterem nicht zu datieren und auch ein Ort des Austauschs der beiden nicht zu ermitteln ist.5 Dass Otfrid sein Vorhaben – zunächst in lateinischer Sprache – in einer Widmung an Liutbert, der von 863 bis 889 Erzbischof von Mainz ist,6 erklärt,7 gibt einen Anhaltspunkt für den Abschluss des Evangelienbuchs.8 Das Jahr 863 ist, so hält Kleiber fest, terminus post quem des Abschlusses des Evangelienbuchs, das Jahr 871, in dem Salomo stirbt, bildet den terminus ante quem.9

1

Suntrup, Rudolf: Anfänge deutscher Dichtung: Das Beispiel Otfrid von Weißenburg. In: Germanistische Mediävistik. Hg. von Volker Honemann und Tomas Tomasek. 2., durchges. Aufl. Münster 2000 (Münsteraner Einführungen: Germanistik 4), S. 33–59, hier S. 33. 2 Ebd. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Kleiber, Wolfgang: Otfrid von Weissenburg. Untersuchungen zur handschriftlichen Überlieferung und Studien zum Aufbau des Evangelienbuchs. Bern/München 1971 (Bibliotheca germanica 14), S. 131. Kleiber hält fest, dass Otfrid zu der Zeit in Fulda war, als Hraban die Schule leitete (822–842). 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Gerlich, Alois: Liutbert. In: Lexikon des Mittelalters. Hg. von Robert-Henri Bautier. München/ Zürich 1991, Band 5, Sp. 2039 f. 7 Zu jenen Erklärungen bzw. Rechtfertigungen von Autoren früher volkssprachlicher Bibeldichtung vgl. Kellner, Beate: Wort Gottes – Stimme des Menschen. Textstatus und Profile von Autorschaft in Otfrids von Weißenburg ‚Evangelienbuch‘. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hg. von ders., Peter Strohschneider und Franziska Wenzel. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 139–162. Anhand des Caedmon-Hymnus sowie Otfrids Evangelienbuch wird herausgearbeitet, dass sich beide Texte zu der Frage positionieren, warum heilige Inhalte innerweltlich dargestellt werden können und dürfen. Am Ende hält Kellner fest, dass „bei aller Verschiedenheit zwischen der Geschichte vom Singen des illiteraten Caedmon und dem Schreiben des gelehrten Weißenburger Mönchs“ (ebd., S. 161) doch in beiden Texten menschliche Autorschaft erklärt und legitimiert werden muss. 8 Vgl. Kleiber, Otfrid von Weissenburg, S. 131. 9 Vgl. ebd.

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In Otfrids Evangelienbuch soll den Franken das vermittelt werden, was bislang nur in der Gelehrtensprache vermittelt worden ist. Dazu gehört auch das Wissen um die theologische Schöpfungsidee, die im zweiten Buch des Evangelienbuchs Otfrids entfaltet wird. Im Zuge des Vorhabens, in fränkischer Zunge über christliche Inhalte zu sprechen, wählt Otfrid eine Versform, die in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters zum „Standardvers“10 avancieren sollte: Sein Evangelienbuch ist in Endreimen, nicht in Stabreimen verfasst. Aus Otfrids Evangelienbuch wird im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Erdmanns, der die Wiener Hs. V11 zugrunde liegt, auf der die Überlieferung Otfrids insgesamt fußt. Die Hss. P12 und F13 werden vergleichend hinzugezogen. Die das Evangelienbuch in Fragmenten überliefernde Hs. D14 überliefert das zu Beginn des zweiten Buchs der Evangelienharmonie dargestellte Schöpfungsgeschehen nicht, weshalb sie im Folgenden keine Rolle spielen wird.

8.1 II, 1, 1–6: „In principio erat Verbum“ Die Hs. V des Evangelienbuchs stellt im ersten Kapitel des zweiten Buchs einen Bezug zum Johannesevangelium her, indem der Text eine lateinische Überschrift erhält, die den ersten Vers des Johannesevangeliums in roten Majuskeln zitiert: „In principio erat verbum“15 (fol. 42r). Hs. P (fol. 42v) eröffnet das zweite Buch gar mit einer Zierseite, die das erste Kapitel einleitet mit den (ebenfalls in roten Majuskeln geschriebenen) Worten: „In principio erat verbum et verbum erat apud deum et deus erat verbum“. Das zweite Buch ist als Kommentar und Erzählung des Johannesevangeliums zu lesen. So geht es in II, 1, 1–6 zunächst um das Wort, das schon war, als noch nichts war: 10 Suntrup, Anfänge deutscher Dichtung, S. 33. Zu Versbau und Stil Otfrids vgl. grundlegend auch Haubrichs, Die Anfänge, S. 300 f. sowie Schröder, Werner: Otfrid von Weißenburg. In: 2VL 7 (1989), Sp. 172–193, hier Sp. 183–186. Schröder führt eindringlich die Folgenschwere des Wechsels von Stabreim zu Endreim vor, indem er erklärt: „Der über Tausende von Versen durchgeführte Endreim bleibt O.s Wagnis, er hat ihn für die dt. Dichtung recht eigentlich tauglich gemacht. […] Sein Werk steht am Anfang einer mehr als tausendjährigen Kunstübung“ (ebd., Sp. 184). 11 Hs. V, Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 2687. 12 Hs. P, Heidelberg, Universitätsbibl., Cod. Pal. Lat. 52. Vgl. auch die handschriftennahe Edition von Kleiber und Heuser: Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Band 2: Edition der Heidelberger Handschrift P (Codex Pal. lat. 52) und der Handschrift D (Codex Discissus: Bonn, Berlin/Krakau, Wolfenbüttel), Teil 1: Texte (P/D). Hg. und bearb. von Wolfgang Kleiber unter Mitarb. von Rita Heuser. Tübingen 2006. 13 Hs. F, München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 14. 14 Zum Codex Discissus [D] vgl. den Beitrag von Wolfgang Milde in: Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, Band 2, Teil 2: Einleitung und Apparat. Hg. und bearb. von Wolfgang Kleiber unter Mitarb. von Rita Heuser, Tübingen 2010, S. 95–103. 15 In Hs. F fehlt der Verweis auf den ersten Vers des Johannesevangeliums. Ein erstes Zitat von Joh 1,1 steht mit „Er alle anagifti theru thruhtines gischefti“ auf fol. 22r: „Et verbum erat apud deum“.

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Er allen wóroltkreftin    joh éngilo giscéftin, so rúmo ouh so in áhton    mán ni mag gidráhton; Er sé joh hímil wurti    joh érda ouh so hérti, ouh wíht in thiu gifúarit,    thaz sịụ éllu thriu rúarit: So was io wórt wonanti    er állen zitin wórolti; thaz wír nu sehen óffan,    thaz was thanne úngiscafan. (II, 1, 1–6) Vor allen Kräften der Welt und den Engelsgeschöpfen, so weit weg auch, dass der Mensch es in Gedanken nicht erreicht, bevor Meer und Himmel geworden wären und auch die feste Erde, und [bevor] etwas in sie hineingeführt worden wäre, das sie alle drei berührt: Da existierte das Wort seit jeher dauernd und vor allen Zeiten der Welt. Was wir jetzt offen sehen, das war damals noch ungeschaffen.

Das Wort geht den „wóroltkreftin“ (II , 1, 1) und „zitin wórolti“ (II , 1, 5) voran und ist damit außerzeitlich. Es existierte bereits in einer Ferne, in die der Mensch mit bloßer Vorstellungskraft nicht dringen kann. Die Nicht-Existenz all dessen, „thaz wír nu sehen óffan“ (II, 1, 6), ist für den Menschen nicht vorstellbar; darauf weist Otfrid eigens hin. Anders als in der Völuspá und auch im Wessobrunner Schöpfungshymnus, die beide den Zustand vor der Schöpfung imaginieren, wird hier explizit darauf hingewiesen, dass dieser Zustand eigentlich nicht imaginiert werden kann. Für den Menschen ist er „so rúmo“ (II, 1, 2), zu weit weg, als dass er sich ihm annähern könnte. Er, der selbst Teil der Schöpfung ist, kann nicht hinter die Schöpfung zurücktreten. Mit Verweis auf diese menschliche Unzulänglichkeit wird gleichzeitig betont, dass der Mensch nicht an das alles begründende Wort herantreten kann, das vor der Schöpfung schon existierte. Das Wort wird in eine zeitliche wie räumliche Ferne gerückt, in die der Mensch nicht eindringen kann. Bei Otfrid ist die Ordnung klar: Zuerst und immer schon ist das Wort, dann erst sind die Kräfte der Welt, die Engel, das Meer, der Himmel und die Erde. Während im Heliand-Prolog durch die Verwendung der Konjunktion „thuo“, als, eine Gleichzeitigkeit des Wortes und der Schöpfung etabliert wird („uualdand gisprak,    thuo hie êrist thesa uuerold giscuop“, V. 39), wird bei Otfrid eine zeitliche Distanz zwischen dem Wort und der Welt sowie den Engeln, dem Meer, dem Himmel und der Erde darüber errichtet, dass es heißt, dass das Wort „io“ (II, 1, 5) ist und „er“ (II, 1, 1 sowie 3 und 5), also vor allen Weltkräften und -zeiten, vor Meer, Himmel und Erde schon existierte. In II, 1, 1–6 wird der Fokus zunächst allein auf den göttlichen Logos gerichtet, der vor allen Zeiten und Kräften schon war, also ewig ist, und auf den dann erst folgt, was ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr „úngiscafan“ (II, 1, 6) zu nennen ist: die Welt, das Meer oder der Himmel, die, anders als der Logos, einen Anfang in der Zeit besitzen und sich so in eine Schöpfungschronologie einreihen. Dass all jene aufgezählten Entitäten, die im Zustand des „Er“, also „thanne“ (II, 1, 6), noch ungeschaffen waren, als Werke der Schöpfung gelten können und somit eine Schöpfungsthematik bereits anklingt, obwohl zunächst ja der Zustand vor der II, 1, 1–6: „In principio erat Verbum“ | 153

Schöpfung in den Blick gerückt werden soll, kann durch Verweis auf „nu“ (II, 1, 6) angenommen werden: Im „Nu“, im Ist-Zustand, von dem aus erzählt wird, wird die jeweilige Existenz der zuvor genannten Kräfte und Phänomene vorausgesetzt. Die in II, 1, 1–6 aufgezählten (noch) nicht seienden Entitäten eint die Eigenschaft, einen Anfang in der Zeit zu besitzen und dem Zustand des „Er“ nachzufolgen. Allerdings kann nicht von einer Schöpfungseinheit ausgegangen werden, die jene Entitäten bilden, sondern scheinen einige von ihnen zusammenzugehören, während andere eine Art Sonderstellung besitzen bzw. in festgefügte Bündnisse nicht mit aufgenommen werden. So werden Meer, Himmel und Erde in II, 1, 4 mit Verweis auf „sịụ éllu thriu“ zu einer Dreiereinheit zusammengefasst:16 Sie alle drei, so heißt es, werden (noch nicht) durch das berührt, das in sie hineingeführt wurde – während über die „wóroltkrefti“ (II, 1, 1) und „éngilo giscéfti“ (II, 1, 1) nicht gesagt wird, dass sie etwas in sich aufnehmen können oder werden. Diese zu Beginn des zweiten Buchs dargestellte Ordnung der genannten Entitäten lässt sich Haubrichs zufolge auf die Schöpfungsvorstellung des Augustinus zurückzuführen, der zwischen zwei Stadien der Schöpfung unterscheidet.17 Haubrichs ordnet die im Evangelienbuch genannten „wóroltkrefti“ und „éngilo giscéfti“ der ersten Schöpfungsstufe zu, Meer, Himmel und Erde der zweiten.18 Im Zuge dieser Annahme stützt er sich auch auf die Glossa Ordinaria, aus der zitiert wird: „proinde duas res Deus fecit ante omne tempus: angelicam creaturam et materiam informem“19 (Zwei Dinge machte Gott vor aller Zeit: Die zu den Engeln gehörenden Geschöpfe und die formlose Materie).20 Es fällt auf, dass auch bei Otfrid nicht die Rede von den Engeln ist, sondern „éngilo giscéfti“, die Geschöpfe der Engel genannt werden. Denkbar ist, dass durch diese Bezeichnung ihr Status als geschaffen herausgestellt werden soll. Wenn 16 Vgl. hierzu auch Ernst, Ulrich: Der Liber Evangeliorum Otfrids von Weissenburg. Literarästhetik und Verstechnik im Lichte der Tradition. Köln/Wien 1975 (Kölner germanistische Studien 11), S. 256. Ernst spricht in diesem Zusammenhang von einer „Trias der kosmischen Zonen“. 17 Vgl. Haubrichs, Wolfgang: Ordo als Form. Strukturstudien zur Zahlenkomposition bei Otfrid von Weißenburg und in karolingischer Literatur. Tübingen 1969 (Hermaea N. F. 27), S. 191 f. Haubrichs unterscheidet zwischen „creatio prima“ und „creatio secunda“. 18 Vgl. ebd., S. 192. 19 Walafridi Strabi Fuldensis monachi opera omnia ex editione Duacensi et collectionibus Mabillonii, Dacherii, Goldasti, etc. nunc primum in unum coadunata accurante J.-P. Migne. Tomus primus. Paris 1852 (MPL 113), Sp. 69. 20 In der Edition Mignes wird die Glossa Ordinaria als Werk des Walahfrid ausgewiesen: Vgl. Walafridi Strabi Fuldensis monachi opera omnia ex editione Duacensi et collectionibus Mabillonii, Dacherii, Goldasti, etc. nunc primum in unum coadunata accurante J.-P. Migne. Tomus primus/Tomus secundus. Paris 1852/1879 (MPL 113/114). Vgl. zur Autorenfrage etwa Solomon, David A.: An Introduction to the Glossa Ordinaria as Medieval Hypertext. Cardiff 2012, S. 40 f. Die Forschung ist sich heute einig, dass Walahfrid nicht Autor der Glossa ist. Vgl. zu einer Verbindung Otfrids und Walahfrids aber Schröder, Otfrid von Weißenburg, Sp. 174 f. Schröder weist auf die Möglichkeit hin, dass Otfrid Walahfrid in seiner Fuldaer Studienzeit, sollte diese noch in die ausgehenden 820er Jahre gefallen sein, getroffen haben konnte.

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die Engel aus der göttlichen creatio hervorgehen, sind sie Kreaturen Gottes. Otfrids Hinweis auf die Engelsgeschöpfe, deren Existenz nicht hineinreicht in den Zustand des „Er“, in dem nur der Logos ist, kann dabei als Korrektiv an der im Wessobrunner Schöpfungshymnus aufscheinenden Vorstellung des steten Miteinander von Gott und Engeln verstanden werden. Während hier im Stabreimteil nur die Rede davon ist, dass die Engel „mit“ Gott sind („enti dar uuarun auh manake mit inan / cootlihhe geista“) und bis zuletzt unklar bleibt, ob sie von Gott erschaffen wurden oder ob sie gar am Schöpfungsgeschehen beteiligt sind, lässt Otfrid diese Fragen gar nicht erst zu: Sie sind Geschöpfe Gottes, an dessen Schöpfung sie nicht unmittelbar beteiligt sein können, wenn sie dem Zustand des „Er“ erst nachfolgen. Neben den Engelsgeschöpfen ist es, so heißt es in der Glossa Ordinaria, die materia informis, die dem Beginn der Zeit vorausgeht. Von der materia informis ist auch bei Augustinus die Rede. In den Confessiones heißt es: Tu enim, domine, fecisti mundum de materia informi, quam fecisti de nulla re paene nullam rem, unde faceres magna, quae miramur filii hominum.21 Du aber, Herr, machtest die Welt aus der ungeformten Materie, die, fast ein Nichts,22 Du aus nichts geschaffen hast, damit Du daraus Großes machen konntest, das die Menschenkinder bewundern.

Augustinus zufolge ist die Welt aus formloser Materie hervorgegangen; ihre Erscheinungsform habe sich erst zu einem bestimmten Zeitpunkt verändert: Formlose Materie ist dann zu Form geworden. Auch Otfrid geht davon aus, dass das nun Seiende, bevor es ins Sein getreten ist, in einer Form schon da war, die allerdings für die Gruppe des „wir“ (II, 1, 6), die ja nur sieht, was „óffan“ (II, 1, 6) vor ihr steht, zunächst nicht sichtbar bzw. einsehbar ist. So heißt es in II, 1, 41–44: Tház thar nu gidán ist,    thaz was io in góte sos iz ist, was gịáhtot io zi gúate    in themo éwinigen múate; Iz was in imo io quégkaz    joh filu líbhaftaz, wíalih ouh joh wánne    er iz wolti iróugen manne. (II, 1, 41–44)

21 Sancti Avgvstini Confessionvm libri XIII , qvos post Martinvm Skutella itervm ed. Lvcas Verheijen. Turnhout 1981 (CCSL 27), S. 220. 22 Zum Begriff des Beinahe-Nichts des Formlosen vgl. ebd., S. 218: non tamen omnino nihil: erat quaedam informitas sine ulla specie, Nicht aber ein völliges Nichts: Es war eine gewisse Formlosigkeit ohne irgendeine Form.

II, 1, 1–6: „In principio erat Verbum“ | 155

Was da nun gemacht ist, das war schon immer in Gott, so wie es ist, war seit jeher zum Guten hin erdacht in seinem ewigen Sinn. Es war in ihm schon immer lebendig und ganz und gar wirklich, wie und wann er es dem Menschen auch hätte zeigen wollen.

Die bei Otfrid erwähnten Weltkräfte (II , 1, 1) scheinen nun eben jene formlose Materie zu bezeichnen, die seit jeher in Gott liegt und die gemeinsam mit den Engelsgeschöpfen die „duas res“ bilden, die der Dreiheit aus Meer, Himmel und Erde vorausgehen. Nichts anderes als formlose Materie können sie meinen, da es keinen Hinweis darauf gibt, dass sie – wie das Meer, der Himmel und die Erde – etwas in sich einfassen. Von der Dreiheit Meer, Himmel, Erde grenzen sie sich also dadurch ab, dass sie nichts in sich aufnehmen können und dem Dreierbündnis zeitlich vorausgehen. Immerhin geht Otfrid (wie Augustinus) davon aus, dass Gott das Formlose irgendwann in Form überführt, die die Menschen dann bewundern bzw. sehen können („thaz wír nu sehen óffan“ [II, 1, 6]). Wenn Form aus Formlosem hervorgeht, dann muss das Formlose vor der Form bereits existiert haben. Letztlich wird so eine dreistufige schöpferische Ordnung errichtet: Grundannahme ist die Präexistenz des Logos, durch den zunächst formlose Materie und dann Form entsteht. Auf das Wort, das allein vor allem anderen ist, folgen die „duas res“, auf die wiederum die Dreiheit aus Meer, Himmel und Erde folgt. Meer, Himmel und Erde heben sich dabei sowohl zeitlich von den Weltkräften und den Engelsgeschöpfen als auch durch ihre Eigenschaft, etwas in sich fassen zu können, ab. Die Idee, dass Werke der Schöpfung etwas in sich fassen, begegnet auch im Heliand. Im Heliand-Prolog schließen Himmel und Erde all das in sich ein, was als Gemachtes und Gewachsenes gelten kann (vgl. V. 39–42). Allerdings sind es hier nur Himmel und Erde, die etwas in sich führen – bei Otfrid wird das Zweierbündnis zwischen Himmel und Erde um das Meer als dritten Partner erweitert. Es ist das Meer, das mit Himmel und Erde dadurch in Verbindung gebracht wird, dass es wie sie etwas in sich führen kann. Als (ein-)fassende Entitäten können sie alle drei fungieren, weil sie körperlich gedacht werden: Die Erde ist „hérti“ (II, 1, 3), fest, und kann, wie das Meer und der Himmel auch, berührt werden („Er sé joh hímil wurti    joh érda ouh so hérti, / ouh wíht in thiu gifúarit,    thaz sịụ éllu thriu rúarit“ [II, 1, 3 f.]). Bei alledem gilt es außerdem zu bedenken, dass die Dreiheit aus Himmel, Erde und Wasser zu Beginn der Genesis angeführt wird: „In principio creavit Deus caelum et terram terra autem erat inanis et vacua et tenebrae super faciem abyssi et spiritus Dei ferebatur super aquas“ (Gen 1,1 f.). Im zweiten Buch der Evangelienharmonie Otfrids, das mit einem Zitat aus dem Prolog des Johannesevangeliums eröffnet wird, wird also sogleich auf aus der Genesis bekannte Schöpfungswerke rekurriert. Es sind diese drei Werke, durch deren Nennung auch ein Bezug zur Schöpfungsvorstellung des Alten Testaments hergestellt wird. Dabei werden Meer, Himmel und Erde nicht nur genannt, sondern auch in „sịụ éllu thriu“ (II , 1, 4) zusammengefasst und so von den zuvor genannten Kräften und Geschöpfen 156 | Otfrids Evangelienbuch

abgegrenzt. Otfrids Ordnung der Schöpfung ist damit zugleich eine Ordnung des Wissens über Schöpfungsinhalte. So werden Meer, Himmel und Erde von den zuerst genannten Weltkräften und Engeln nicht nur dadurch entkoppelt, dass sie diesen zeitlich nachfolgen und im Gegensatz zu ihnen eine körperliche Ausdehnung besitzen, sondern auch dadurch, dass „sịụ éllu thriu“ einer anderen Vorstellungswelt entspringen.

8.2 II, 1, 7–34: Logos und Schöpfung 8.2.1 Der Zustand des Davor: „Er“ Auch die Verse II, 1, 7 bis 12 werden in Hs. V und Hs. P explizit auf Joh 1,1 bezogen. In beiden Handschriften stehen die lateinischen Zitate von Joh 1,1 jeweils am rechten Rand des Pergaments: „Et verbum erat apud deum et deus erat verbum“.23 Das immer schon existierende Wort ist seit jeher bei Gott, der selbst das Wort ist. Es lag, so heißt es bei Otfrid, schon immer in der Brust des Herrn, eingeschlossen in dessen Herz: Er alleru ánagifti    theru drúhtines giscéfti, so wés iz mit gilústi    in theru drúhtines brústi. Iz was mit drúhtine sar    (ni brást imos ío thar), joh ist ouh drúhtin ubar ál,    wanta ér iz fon hérzen gibar. Then ánagin ni fúarit,    ouh énti ni birúarit, joh quam fon hímile óbana    (waz mág ih sagen thánana?). (II, 1, 7–12) Vor allem Beginn der Schöpfung des Herrn war es [das Wort] mit voller Freude in der Brust des Herrn. Es war sogleich mit dem Herrn, es fehlte diesem dort niemals, und ist durchaus auch der Herr, weil der es aus seinem Herzen geboren hat. Einen Anfang hat es nicht, auch das Ende berührt es nicht, vom Himmel oben nämlich kam es. Was kann ich davon weiterhin sagen?

Der Logos liegt im Herrn (II, 1, 9) und ist gemeinsam mit diesem vor allem Beginn, ewig und ungeschaffen. Auch weiterhin wird die Existenz des Logos mit Gott „er“ (II, 1, 7) allen

23 In der Ausgabe Erdmanns werden die Marginalien nicht handschriftengetreu platziert, sondern stehen im Apparat unter dem Text. Für die handschriftengetreue Wiedergabe der Marginalien vgl. die Neuedition von Kleiber und Heuser: Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, Band 1: Edition nach dem Wiener Codex 2687, Teil 1: Text, hg. und bearb. von Wolfgang Kleiber unter Mitarb. von Rita Heuser, Tübingen 2004.

II, 1, 7–34: Logos und Schöpfung | 157

Anfängen betont und ein außerzeitlicher Zustand beschworen, der vor der Schöpfung liegt. So wird auch Vers 13 wieder mit „Er“ eingeleitet: Er máno ríhti thia náht,    joh wurti ouh súnna so glát, ódo ouh hímil, so er gibót,    mit stérron gimálot: So was er io mit ímo sar,    mit imo wóraht er iz thar; so wás ses io gidátun,    sie iz allaz sáman rietun. (II, 1, 13–16) Bevor der Mond die Nacht ordnete und die so glänzende Sonne [gemacht] wurde, oder auch der Himmel, wie er es befahl, mit Sternen verziert wurde: Da war er schon immer mit ihm, mit ihm erschuf er es dort; was sie je auch machten, sie hatten es alles gemeinsam beraten.

Ähnlich den Versen II, 1, 1 bis 6, in denen die Präexistenz des Logos vor der Existenz etwa des Meeres, des Himmels und der Erde betont wird, sind es nun der Mond, die Sonne sowie der (hier zum zweiten Mal angeführte) Himmel, denen ein zeitliches Davor zugewiesen wird. Diesem Davor folgt sogleich der Hinweis auf das „Io“ (II, 1, 15) des Logos, wodurch erneut dessen Außerzeitlichkeit hervorgehoben wird. In den Hss. F, P und V werden die oben stehenden Verse wieder von einem Johanneszitat begleitet: „Hoc erat in principio apud deum“. Die Verse 15 f. wiederholen sich in II, 1 insgesamt viermal (V. 19 f., 23 f., 27 f., 31 f.) und bilden den Refrain des Kapitels, wobei in den Handschriften jeder einzelne Refrainvers bzw. Kehrreim von Marginalien begleitet wird, die, wie Ernst festhält, „auf Io 1,2 und Io 1,3“24 basieren: In Hs. V werden Vers 14 sowie die Verse 18 bis 20 begleitet von „Hoc erat in principio apud deum“, die Verse 23 und 27 stehen mit „Hoc erat in“ bzw. „Hoc erat in principio“25, während auf Höhe der Verse 31 sowie 35 Joh 1,3 zitiert wird: „Omnia per ipsum facta sunt“. Ernst weist den Kehrreim aus „als freie poetische Paraphrase der lateinischen Marginalien“26, in denen, so Haubrichs, die „cooperatio von Vater und Sohn im Schöpfungsgeschehen“27 verdeutlicht werde. Der Sohn ist das fleischgewordene Wort, auf das in II, 1, 5 erstmals hingewiesen wird und das, so nach dem Johannesevangelium, im Anfang schon mit Gott war und durch das alles erst geworden ist. 24 Ernst, Der Liber Evangeliorum Otfrids von Weißenburg, S. 269. 25 Hs. V, fol. 42r und 42v. In Hs. F, fol. 22r wird nur Vers 23 von „Hoc erat“ begleitet, in Hs. P, fol. 43v heißt es auf Höhe der Verse 23 und 27: „Hoc erat“. 26 Ernst, Der Liber Evangeliorum Otfrids von Weißenburg, S. 269. 27 Haubrichs, Ordo als Form, S. 194. Vgl. hierzu auch Heinrich, Bettina: Frühmittelalterliche Bibeldichtung und die Bibel. Ein Vergleich zwischen den altenglischen, althochdeutschen und altsächsischen Bibelparaphrasen und ihren Vorlagen in der Vulgata. Frankfurt a. M. [u. a.] 2000 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1 1768), S. 184: „Die beiden zentralen Gedanken, Christi Dasein bei Gott vor aller Zeit und seine Beteiligung an jedem Schöpfungsakt Gottes, hebt Otfrid in refrainartig wiederkehrenden Versen (Kehrreimen) hervor.“

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Für Haubrichs ergibt sich aus der Tatsache, dass Christus zu Beginn des zweiten Buchs als Logos vorgestellt wird, der am Anfang mit Gott war, ein „Neueinsatz“28 im Werk Otfrids: Im ersten Buch der Evangelienharmonie geht es um Christi „Menschennatur“;29 der göttliche Vater offenbare sich hier, so formuliert Haubrichs, noch in eher „kleinem Kreis, im Akt der Taufe“30. In II, 1 dann liegt der Fokus eben nicht auf dem Menschensohn und Erlöser, sondern wird gewissermaßen die sich im großen Kreis offenbarende göttliche Vaterschaft betont. So wird durch den „phänomenalen und originellen johanneischen Neueinsatz des Heilsgeschehens aus der Perspektive der Gottheit“31 also eine weitere, eine andere Perspektive auf die Heilsgeschichte eingenommen. Im Refrainvers heißt es, dass die schöpferische Instanz „iz“ (z.B. II, 1, 15) gewirkt hat, womit in den oben angeführten Versen 13 bis 16 nur das Werk aus Mond, Sonne, Sternen und Himmel gemeint sein kann. Der Logos wird hier erstmals als tätiger Logos vorgestellt, der über sein Tätig-Sein mit den zuvor genannten Gestirnen des Himmels in Verbindung gesetzt wird. Diese Verbindung erscheint jedoch paradox. Im Zuge des Appells an das zeitliche Davor und also die Nicht-Existenz von Himmel und Erde sowie Mond und Sonne wird zugleich deren Status als geschaffen und damit als seiend herausgestellt. Es wird an dieser Stelle einmal mehr deutlich, dass der Blick auf das Davor immer nur ein Blick zurück sein kann – getätigt in einer Zeit bzw. aus einer Zeit heraus, in der die genannten Gestirne, das Meer, der Himmel und die Erde bereits existieren und der Zustand des Davor damit längst überwunden ist. In den Versen 17 f., 21 f., 25 f. und 29 f. wird der Logos auch weiterhin immer wieder mit dem Himmel in Verbindung gebracht. Ging dem ersten Refrainvers der Hinweis auf den Mond, die Sonne, den Himmel und die Sterne voran, ist der Fokus auch im Folgenden zunächst ganz auf die Vorgänge des Himmels gerichtet. In den Versen 17 f. werden, bevor der zweite Refrain einsetzt, Himmel und Wolken genannt: Er ther hímil umbi    sus émmizigen wúrbi, odo wólkan ouh in nóti    then liutin régonoti: So was er io mit ímo sar,    mit imo wóraht er iz thar; so wás ses io gidátun,    sie iz allaz sáman rietun. (II, 1, 17–20)

28 Haubrichs, Wolfgang: Disposition und Gestaltung der evangelischen materiae im ‚Liber evangeliorum‘ Otfrids von Weißenburg. In: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010. In Verb. mit Susanne Köbele und Klaus Ridder hg. von Eckart Conrad Lutz. Berlin 2012 (Wolfram-Studien 22), S. 41–62, hier S. 52. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 53.

II, 1, 7–34: Logos und Schöpfung | 159

Bevor der Himmel sich so unentwegt drehen konnte oder auch die Wolken gemäß ihrer Bestimmung den Leuten regneten: Da war er schon immer mit ihm, mit ihm erschuf er es dort; was sie je auch machten, sie hatten es alles gemeinsam beraten.

Dem Himmel wird hier eine dauernde Bewegung zugeschrieben, wobei jenem andauernden himmlischen Bewegt-Sein sogleich ein zeitlicher Riegel vorgeschoben wird, indem auch Vers 17 wieder mit „Er“ eingeleitet und so erneut auf einen früheren Zeitpunkt verwiesen wird, der jener immerwährenden Himmelsbewegung vorausgeht. So schreibt Otfrid dem Himmel einen Anfang, aber kein Ende zu. Einmal existent, ist er „émmizig“ (II, 1, 17), mithin für immer in Bewegung begriffen.

8.2.2 Am Anfang: „Tho“ Dieser Vorstellung des sich bewegenden Himmels entspricht auch das in II, 1, 21 f. Ausgeführte: Tho er déta thaz sih zárpta    ther hímil sus io wárpta, thaz fúndament zi hóufe,    thar thiu érda ligit úfe: So wás er io mit ímo sar,    mit imo wóraht er iz thar; so wás ses io gidátun,    sie iz allaz sáman rietun. (II, 1, 21–24) Als er erreicht hatte, dass sich der Himmel drehte und sich ewig so bewegte, und er das Fundament aufhäufte, auf dem die Erde liegt: Da war er schon immer mit ihm, mit ihm erschuf er es dort; was sie je auch machten, sie hatten es alles gemeinsam beraten.

Anders als die Verse 1, 3, 7, 13 und 17 wird Vers 21 allerdings nicht mit „Er“, sondern mit „Tho“ eingeleitet. Es wird an dieser Stelle nicht mehr an eine Vorzeitlichkeit appelliert, sondern ein bestimmter Zeitpunkt fixiert: der Zeitpunkt, an dem der Logos schöpferisch tätig wurde. In II, 1, 21 wird der Zustand des Davor in den Zeitpunkt des Zu-dieser-Zeit überführt, wobei es der tätige Logos ist, der diese Zeitlichkeit begründet. Im Zuge der Setzung der Zeit wird das Adverb „io“ (II, 1, 21), das zuvor ausschließlich in Verbindung zum außerzeitlichen Logos stand, in Bezug zu seiner Schöpfung gesetzt. Über die Verwendung von „io“ wird hier eine besondere Nähe zwischen dem Schöpferlogos und seinem Geschaffenen hergestellt: Der Himmel ist in ewiger Bewegung begriffen. Im Geschaffenen liegen die Eigenschaften des Erschaffers damit aufbewahrt. Am Beginn der Zeit, den Zustand des „Tho“ begründend, stehen Himmel und Erde. Vers 21 zeichnet sich durch eine hohe Anzahl an Verben der Tätigkeit aus: „tuon“, „zerben“ und „werben“. Als der Schöpferlogos „déta“, tätig wurde, kam Bewegung auf. Diese 160 | Otfrids Evangelienbuch

Bewegung, ausgedrückt durch „zerben“, sich drehen32, und „werben“, sich drehen, wenden; umkehren; bewegen,33 bezieht sich Erdmann zufolge auf die „Rotation des Himmelsgewölbes“34. Ihm zufolge sind die „thaz“-Sätze von „deta“ abhängig, sodass Vers 22 mit dem vorangehenden Vers wie folgt verbunden ist: „er deta thaz fundament zi houfe“.35 Die Verse 21 f. sind so zu übersetzen mit: Als er erreicht hatte, dass sich der Himmel drehte und sich ewig so bewegte, und er das Fundament aufhäufte, auf dem die Erde liegt: Da war er schon immer mit ihm […]. Die Frage ist hier, wie man sich jenes (aufgehäufte) Fundament vorzustellen hat. Was wird da aufgehäuft, und woraus besteht das Fundament? Im Hinweis auf das Fundament der Erde erkennt Ernst einen Rekurs auf das Alte Testament und verweist unter anderem auf Ijob 38,4–7:36 ubi eras quando ponebam fundamenta terrae indica mihi si habes intellegentiam quis posuit mensuras eius si nosti vel quis tetendit super eam lineam super quo bases illius solidatae sunt aut quis dimisit lapidem angularem eius cum me laudarent simul astra matutina et iubilarent omnes filii Dei. Wo warst Du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt. Wer setzte ihre Maße? Du weißt es ja. Wer hat die Meßschnur über ihr gespannt? Wohin sind ihre Pfeiler eingesenkt? Oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als alle Morgensterne jauchzten, als jubelten alle Gottessöhne?

Der Erde werden an dieser Stelle mehrere Fundamente („fundamenta“) zugeschrieben, wobei nicht klar wird, wie man sich diese vorzustellen hat. Dies zu klären, scheint auch nicht relevant; die erste Frage, die in Ijob 38,4–7 gestellt wird, ist vielmehr die, wer die Erde und das Erdenfundament errichtet, also die Erde gegründet hat. Auch auf Ps 103,5 weist Ernst hin: „[…] qui fundasti terram super basem suam“37. Gott setzte die Erde auf ihrem Grund fest, heißt es, wobei es erneut nicht relevant scheint, diesen Grund näher zu bestimmen. Deutlich wird nur, dass jener Grund von der Erde selbst mitgebracht wird, also etwas der Erde eigenes ist („super basem suam“). Zu dieser Vorstellung des Fundaments, 32 „Zerben“. In: Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch, S. 406. 33 „(H)werban“, „werben“. In: Ebd., S. 381. 34 Otfrids Evangelienbuch. Hg. und erkl. von Oskar Erdmann. Halle a. d. S. 1882 (Germanistische Handbibliothek 5), S. 385. 35 Vgl. ebd. sowie die Übersetzung Vollmann-Profes in: Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Auswahl. Althochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hg., übers. und komm. von Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart 1987 (Reclams Universal-Bibliothek 8384), S. 73. Auch Vollmann-Profe übersetzt: „Als Gott die Drehbewegung des Himmels veranlaßte und das Fundament aufschichtete, auf dem die Erde ruht, da war Christus […]“. 36 Vgl. Ernst, Der Liber Evangeliorum Otfrids von Weißenburg, S. 262. 37 Vgl. ebd.

II, 1, 7–34: Logos und Schöpfung | 161

das der Erde selbst schon inhärent ist, passt eine ebenfalls von Ernst angeführte Stelle aus einer Schrift des Athanasius, der Oratio contra gentes:38 Idem ipse qui Dei virtus et sapientia est, cœlum volvit terramque suspensam ac nulla re innixam, proprio nutu fundavit et firmavit. Ab illo sol collucens universum orbem illustrat, et luna lumen dimensum habet. Ejus numine aqua in nubibus suspenditur, pluviæ terram irrigant.39 Derselbe, der Gottes Tugend und Weisheit ist, drehte den Himmel und begründete und befestigte die Erde, die aufgehängt worden war und durch keine Sache unterstützt wurde, auf ihrer eigenen Schwerkraft. Von dort erleuchtet die strahlende Sonne den ganzen Himmel und verursacht der Mond ein vermessendes Licht. Durch seinen göttlichen Befehl wird das Wasser in die Himmel gehängt, bewässern die Regentropfen die Erde.

Nach Vorstellung des Athanasius stützt sich die Erde auf die eigene Schwerkraft („proprio nutu“). Sie wird nicht, wie es bei Otfrid der Fall ist, von einer Schöpferinstanz auf ein Fundament gestellt, sondern bringt ihr eigenes Fundament schon mit. Die Verbindung, die Ernst zwischen Otfrid und Athanasius zieht, ergibt sich jedoch nicht selbstverständlich. Es ist fraglich, ob Otfrid die Oratio contra gentes gekannt hat. So bemerkt Brennecke: Von seinen [des Athanasius, A. H.] eigenen Werken war im lateinischen Westen eigentlich nur die vita Antonii wirklich bekannt und verbreitet, die schon zu seinen Lebzeiten in zwei lateinischen Übersetzungen erschienen war […]. Außer einigen wenigen Texten wie z.B. der epistula ad Afros, die an den Westen adressiert war, kannte man im Westen kaum etwas von ihm.40

Ein Bezug Otfrids auf Athanasius soll an dieser Stelle also zurückgewiesen werden. Anders dürfte es sich etwa mit dem Timaios verhalten, der zweimal ins Lateinische übertragen wurde und eine wichtige Quelle bildet, wenn es um die Frage nach der noch im Frühmittelalter vorherrschenden Vorstellung von Anfang und Beschaffenheit des Kosmos geht. In der Timaios-Übersetzung des Calcidius, die Wiesinger zufolge „verbreiteter und bekannter war“41 als die Übertragung des Cicero, findet sich nun eine mehr oder weniger explizite Vorstellung von der befestigten Erde. Diese wird hier getragen durch eine durch

38 Vgl. ebd. 39 S. P. N. Athanasii archiepiscopi Alexandrini opera omnia quae exstant vel quae nomine circumferuntur, accurante et recognoscente J.-P. Migne. Tomus primus. Paris 1857 (MPG 25), Sp. 3–96, hier Sp. 82. 40 Brennecke, Hanns Christof: Athanasius von Alexandrien auf dem Konzil von Florenz. Berlin/Boston 2016 (Hans-Lietzmann-Vorlesungen 13), S. 10. 41 Wiesinger, Michaela: Mischungsverhältnisse. Naturphilosophisches Wissen und die Elementenlehre in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Berlin/Boston 2017 (Hermaea N. F. 142), S. 52.

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sie hindurchlaufende Achse. Damit liegt sie nicht auf etwas anderem auf, sondern wird gehalten wie eine Perle an der Schnur: Dicit autem, quod hanc quoque deus constrictam limitibus per omnia uadentis et cuncta continentis poli constituerit noctis dieique custodem. Sed polum nuncupat eum, qui omne mundi corpus peruadit, axem.42 Er heißt aber, dass Gott auch diese Wächterin über Tag und Nacht, die durch die Grenzen des alles durchdringenden und alles zusammenhaltenden Pols gebunden ist, eingesetzt habe. Aber Pol nannte er diejenige Achse, die den ganzen Weltkörper durchfährt.

Insgesamt zeigt sich, dass die Frage nach der Beschaffenheit der Befestigung der Erde auf ganz unterschiedliche Weise beantwortet werden kann. Einmal liegt die Erde auf etwas anderem auf, einmal läuft etwas durch sie hindurch, einmal wird ihr ein Fundament gegeben, einmal bringt sie dieses selbst mit. Es scheint für Otfrid schlicht nicht relevant, wie das Fundament der Erde genau aussieht, woraus es besteht und wie es aufgebaut ist. Es scheint nur wichtig zu betonen, dass sich die Erde auf irgendetwas stützt, dass sie stabil und unbewegt ist, während die Himmelskörper stets in Bewegung sind.43 Ernst zufolge ergibt sich damit das Bild einer Erde, die „unbewegt im Mittelpunkt des Weltalls steht und permanent von den Himmelskörpern umkreist wird“44 – ein Bild, das sowohl in den Psalmen als etwa auch im Timaios gezeichnet wird. Otfrids Hinweis auf das Fundament vereint so die Fundamentvorstellungen des Alten Testaments mit naturphilosophischen Lehren. Am Punkt der Zeitsetzung, im Verweis auf „Tho“, ist der Zustand des außerzeitlichen Davor endgültig überwunden. Kein weiterer Vers des Kapitels wird mehr mit „Er“ eingeleitet. Der Blick, der in II, 1, 12 f. und 17 f. auf die Gestirne des Himmels und die Wolken gerichtet war, wandert in II, 1, 22 dann hin zur Erde. In dem Moment, in dem der Logos außerhalb seiner selbst tätig wird und damit den Beginn der Zeit setzt, werden also diese beiden, Himmel und Erde, genannt, wodurch erneut die Schöpfungsvorstellung von Gen 1 aufscheint: „In principio creavit deus caelum et terram“. Heinrich merkt an, dass im Zuge der Betonung der cooperatio von Vater und Sohn im Schöpfungsgeschehen „Beispiele aus der Genesis“45 genannt werden. Haubrichs hingegen erklärt, dass die in II , 1 insgesamt 42 Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus. Hg. von J. H. Waszink. London/Leiden 1962 (Corpus Platonicum medii aevi. Plato latinus 4), S. 165 f. 43 Vgl. hierzu auch Isidors Etymologiae, XIV, i, 1. Isidor stellt die Erde hier als „consistens“ vor: „Terra est in media mundi regione posita, omnibus partibus caeli in modum centri aequali intervallo consistens“. 44 Ernst, Der Liber Evangeliorum Otfrids von Weißenburg, S. 262. 45 Heinrich, Frühmittelalterliche Bibeldichtung und die Bibel, S. 184. Als „Beispiele“ führt sie unter anderem Himmel, Erde und Meer an.

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aufgeführten Schöpfungsstadien und -werke nicht nach der Vorstellung von Gen 1 wiedergegeben werden, weil sie sich zeitlich nicht nach der dort ausgeführten Schöpfungschronologie richteten.46 Vielmehr orientierten sie sich seiner Meinung nach an den „wenigen großen Ordnungen der Welt“47, unter die auf der einen Seite Kosmos und Himmelreich, auf der anderen Seite Paradies und Menschenwelt gefasst werden.48 Auf Paradies und Menschenwelt wird unmittelbar nach der Nennung von Himmel und Erde Bezug genommen: Ouh hímilrichi hóhaz    joh páradys so scónaz, éngilon joh mánne    thiu zuei zi búenne: So was er io mit ímo sar,    mit imo wóraht er iz thar; so wás ses io gidátun,    sie iz allaz sáman rietun. (II, 1, 25–28)49 Auch [schuf er] das hohe Himmelreich und das überaus schöne Paradies, damit Engel und Menschen diese beiden bewohnen [können]: Da war er schon immer mit ihm, mit ihm erschuf er es dort; was sie je auch machten, sie hatten es alles gemeinsam beraten.

Die wenigen großen Ordnungen der Welt, von denen Haubrichs spricht, lassen sich anhand der Stichworte „himil“ (II, 1, 3, 12, 14, 17, 21 und 25) und „erda“ (II, 1, 3, 22) sowie „paradys“ (II, 1, 25) erkennen. Der Himmel wird in den Versen 3 bis 25 immer wieder genannt, das Himmelreich ausgestattet mit Mond und Sonne, mit Sternen und Wolken, um nach der Darstellung der Himmelsphäre auch die Erde und das Paradies in den Blick zu nehmen. Tatsächlich wird das Sechstagewerk von Gen 1 nicht im Einzelnen nachgezeichnet. Stattdessen wird durch die Nennung von Himmel, Erde und Paradies (in dieser Reihenfolge) aber durchaus an die zeitliche Chronologie der gesamten alttestamentlichen Schöpfungsdarstellung appelliert, die sich über Gen 1 und Gen 2 aufspannt. Das Himmelreich wird in II, 1, 25 als hoch beschrieben („hímilrichi hóhaz“) – eine Vorstellung, die sich mit II, 1, 12 deckt, in dem von „hímile óbana“ die Rede ist, von dem aus der fleischgewordene Logos hinabsteigt. Es scheint, dass sich die bei Otfrid geschilderte Anordnung von Himmel und Erde in ein Oben und ein Unten gliedert und also vertikal gedacht wird. Wenn sich das Kommen des Logos vom Himmel hinab vollzieht und also ein Hinabsteigen erforderlich ist, um den Menschen begegnen zu können, müssen sich diese 46 Vgl. Haubrichs, Ordo als Form, S. 194. 47 Ebd. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. auch IV, 4, 50–52 des Evangelienbuchs: „bréiti ouh thinaz ríchi in thaz hoha hímilrichi; / Thaz thúnsih hiar giháltes joh éngilo ouh giwáltes, / joh selben páradises, mit giwélti thar irscínes!“ Das hohe Himmelreich wird hier mit Christus in Verbindung gebracht, der Gewalt über die Engel und die Menschen haben soll. An dieser Stelle werden die Sphären des Oben wie des Unten in Christus vereint, der in alle Sphären hineinreicht.

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unten befinden. Ist dieses Unten nun mit dem in II, 1, 25 genannten Paradies gleichzusetzen? Der Begriff des Paradieses könne, so Goetz, sowohl „das irdische Paradies“50 als auch das „Jenseits“51 meinen.52 Wenn das irdische Paradies die „Wohnstätte der ersten Menschen vor dem Sündenfall“53 bezeichnet, dann kann nichts anderes bei Otfrid gemeint sein – schließlich wird das Paradies bei Otfrid im Zuge einer Schöpfungsdarstellung genannt, auf die der Sündenfall in christlicher Chronologie erst folgt, und wird das Paradies auch bei ihm explizit als Wohnstätte für den Menschen vorgestellt (vgl. II, 1, 26). Auch Pseudo-Isidor stellt das Paradies als Wohnort der ersten Menschen vor, wobei durch den Hinweis auf die ersten Menschen auch bei ihm ein Schöpfungsgedanke anklingt: Et quia post aquam terra in elimentorum ordine statuta est, prius de paradiso, ubi primorum hominum habitatio exstiterat, quamuis conmorandi loco, sermo ponendus est, de quo plurimorum diuersae sententiae prolatae sunt.54 Und weil nach dem Wasser die Erde in der Reihung der Elemente angeordnet ist, muss die Rede über das Paradies, wo der Wohnort der ersten Menschen – obgleich ein Ort des kurzen Verweilens – entstanden war, vorangestellt werden, über den unterschiedliche Meinungen Vieler geäußert worden sind.

50 Goetz, Hans-Werner: Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters. Berlin 2012 (Orbis mediaevalis 13.2), Teil I, Band 2, S. 90. 51 Ebd., S. 91. 52 Vgl. hierzu Sancti Avrelii Avgvstini De Genesi ad litteram libri dvodecim eivsdem libri capitvla de Genesi ad litteram inperfectvs liber locvtionvm in Heptatevchvm libri septem recensvit Iosephus Zycha. Prag/ Wien/Leipzig 1894 (CSEL 28, 1), S. 229. Augustinus fasst die unterschiedlichen Ansichten über die Qualitäten des Paradieses in lib. VIII, 1 wie folgt zusammen: „Et plantauit deus paradisum in Eden ad orientem et posuit ibi hominem quem finxit. non ignoro de paradiso multos multa dixisse; tres tamen de hac re quasi generales sunt sententiae. una eorum, qui tantummodo corporaliter paradisum intellegi uolunt, alia eorum, qui spiritaliter tantum, tertia eorum, qui utroque modo paradisum accipiunt, alias corporaliter, alias autem spiritaliter.“ – Und Gott pflanzte das Paradies im Eden nach Osten und stellte den Menschen dorthin, den er erschuf. Ich weiß genau, dass Viele Vieles über das Paradies gesagt haben. Drei Ansichten über diese Sache sind jedoch geradezu allgemein: Eine von denjenigen, die wollen, dass das Paradies ausschließlich körperlich verstanden wird, eine andere von denjenigen, die es geistig verstanden wissen wollen, eine dritte von denjenigen, die das Paradies auf jede von beiden Weisen annimmt, bald körperlich, bald geistig. 53 Goetz, Gott und die Welt, Teil I, Band 2, S. 90. 54 Liber de ordine creaturarum. Un anónimo irlandés del siglo VII. Estudio y edicion critica. Ed. Manuel C. Díaz y Díaz. Santiago de Compostela 1972 (Monografias de la Universidad de Santiago de Compostela 10), S. 156. Vgl. zu dieser Schrift Worstbrock, Franz Josef: Isidor von Sevilla. In: 2VL 11 (2004), Sp. 717–746, hier Sp. 738: „Die kleine kosmologische Schrift, die gegen das überwiegende Zeugnis der Überlieferung heute als unecht gilt, ist wahrscheinlich ein nach I.s Tod entstandenes Werk eines unbekannten irischen Autors.“

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Das Paradies als Wohnort meint das irdische Paradies für den körperlichen Menschen.55 Es ist nun die Frage, ob sich die Vorstellung einer vertikalen Anordnung von Himmel und Erde mit der Vorstellung einer kreisförmigen Bewegung des Himmels sowie der Himmelskörper um die Erde, auf die weiter oben hingewiesen wurde, ausschließt. Gibt es einen Teil des Himmels, der stets nur oben und damit vom „werben“, auf das in II , 1, 21 verwiesen wird, ausgeschlossen ist? Eine vertikale Ausrichtung von Himmel und Erde sowie die Zuordnung der Geschöpfe einmal zum Oben, einmal zum Unten sind aus dem Alten Testament bekannt. Gen 28, 10–15 berichtet von der Flucht Jakobs nach Haran, im Zuge derer er im Traum eine Treppe erblickt, die von der Erde in den Himmel hineinragt. Entlang dieser Treppe steigen die Engel hinauf und hinab, während Gott selbst oben ist und die Menschen auf der Erde verteilt sind: igitur egressus Iacob de Bersabee pergebat Haran cumque venisset ad quendam locum et vellet in eo requiescere post solis occubitum tulit de lapidibus qui iacebant et subponens capiti suo dormivit in eodem loco viditque in somnis scalam stantem super terram et cacumen illius tangens caelum angelos quoque Dei ascendentes et descendentes per eam et Dominum innixum scalae dicentem sibi ego sum Dominus Deus Abraham patris tui et Deus Isaac terram in qua dormis tibi dabo et semini tuo eritque germen tuum quasi pulvis terrae dilataberis ad occidentem et orientem septentrionem et meridiem et benedicentur in te et in semine tuo cunctae tribus terrae et ero custos tuus quocumque perrexeris et reducam te in terram hanc nec dimittam nisi conplevero universa quae dixi. Jakob zog aus Beerscheba weg und ging nach Haran. Er kam an einen bestimmten Ort, wo er übernachtete, denn die Sonne war untergegangen. Er nahm einen von den Steinen dieses Ortes, legte ihn unter seinen Kopf und schlief dort ein. Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich unaufhaltsam ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.

Oben ist der Sitz des Göttlichen, und auch die Engel können sich oben befinden. Die Menschen hingegen werden dem Oben an keiner Stelle zugeordnet. So ist es auch bei Otfrid: Das hohe Himmelreich bezeichnet im Evangelienbuch den für die Engel geschaffenen 55 Vgl. Goetz, Gott und die Welt, Teil I, Band 2, S. 92.

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Raum, und von „hímile óbana“ (II, 1, 12), so heißt es, kommt der Logos. In Buch V des Evangelienbuchs wird Jesus Christus im Zuge der Himmelfahrt dann wieder in das hohe Himmelreich zurückkehren, von dem aus er gekommen ist: Er fuar io thémo mezze    zi sínes sélbes sezze, zi sin selbes gúallichi    in sines fáter richi, Ubar hóhi hímilo,    inti íst in allen óboro, zi díuri thar sin fáter was,    zi sin selbes zésuer gisaz. Thar scówot er sin ríchi,    thaz hoha hímilrichi. (V, XVIII, 7–11) Er fuhr immer auf diese Weise zu seinem eigenen Sitz, zu seiner eigenen Herrlichkeit, in das Reich seines Vaters, über die Höhe Himmel, und ist [dann] allen übergeordnet, hin zu der Würde, wo sein Vater war, zu dessen Rechten er Platz nahm. Von dort blickt er über sein Reich, das hohe Himmelreich.

Es sind also der Logos und die Engel, die im Oben oder im hohen Himmelreich verortet werden – nicht ist es der Himmel selbst, der sich ausschließlich dort befindet. Die Idee, dass das Göttliche oder die Engel oben bzw. hoch im Himmel sind, schließt für Otfrid nicht die Vorstellung aus, dass der Himmel in dauernder Bewegung ist und ununterbrochen um die Erde kreist. Offensichtlich kann sich dieser Otfrids Vorstellung zufolge weiterhin kreisend bewegen, ohne die göttlichen Instanzen aus ihren oberen oder hohen Positionen im Himmel hinauszudrehen. Die Frage ist dabei weiterhin, ob sich der Himmel oben und das hohe Himmelreich auf ein und denselben Himmel beziehen, oder ob zwei oder mehr unterschiedliche Himmel gemeint sind. Verschiedene Quellen geben Auskunft darüber, wie man sich den Aufbau des Himmels im Frühmittelalter vorgestellt hat.56 In seiner Schrift De natura rerum geht Beda davon aus, dass es mehrere Himmel gibt, und unterscheidet zwischen dem Firmament (V. De Firmamento), unterschiedlich hohen Himmeln (VI. De Varia Altitudine Caeli, VII. De Caelo Superiore) und den himmlischen Wassern (VIII . De Aquis Caelestibus).57 Auch bei Beda kommt die Darstellung des Himmels bzw. der Himmelsordnung nicht ohne Verweis auf die Engel aus. Die zur Schar der Engel zählenden Virtutes werden in VII, 2 f. im Raum des oberen Himmels verortet: Caelum superioris circuli […] uirtutes continet angelicas, Der Himmel des höheren Kreises enthält die zu den Engeln zählenden Virtutes. Wird davon ausgegangen, dass sich Otfrid auf die Vorstellung von einem den Engeln eigenen Himmelbereich stützt, ist es denkbar, dass das hohe Himmelreich nicht mit dem Himmel oben identisch ist, sondern die Engel und die göttliche Instanz auf zwei unterschiedliche Himmel 56 Zum Himmel in der mittelalterlichen Vorstellungswelt vgl. ebd., S. 75–88. 57 De natura rerum, in: Bedae Venerabilis Opera. Pars I: Opera Didascalica. Turnhout 1975 (CCSL 123 A), S. 173–234, hier S. 196–198.

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verteilt sind. Auch Isidor stellt in seinen Etymologiae mehrere – bei ihm sind es insgesamt sieben verschiedene – Teile des Himmels vor, wobei vor allem die Beschreibung der Himmelskugel zu der bei Otfrid aufscheinenden Himmelsdarstellung passt. Die Himmelskugel nämlich, so heißt es in den Etymologiae, sei in kreisförmiger Bewegung begriffen: Nam philosophi dicunt caelum in sphaerae figuram undique esse convexum […]. Hunc moveri dicunt, et cum motu eius sidera in eo fixa ab oriente usque ad occidentem circumire, septentrionibus breviores gyros iuxta cardinem peragentibus. (XIII, v, 2) Denn die Philosophen sagen, dass der Himmel in Gestalt einer Kugel überall gewölbt sei. Sie sagen, dass dieser bewegt werde und mit den an ihm befestigten Sternen in einer Bewegung von Osten nach Westen umherkreise, wobei er im Norden kürzere Kreisbewegungen durch die Wendepunkte ziehe.

Es wird hier von einem Himmel (oder Himmelsteil) ausgegangen, der sich gemeinsam mit den Fixsternen unablässig dreht. So wie es in zeitgenössischer Vorstellung nicht den einen Himmel gibt, gibt es auch nicht den einen Engel. In Bezug auf die Engel und ihre Position(en) im Himmel sowie im Schöpfungsganzen ist es unerlässlich, auch die Überlegungen des Pseudo-Dionysius zu berücksichtigen, dessen Schrift Über die himmlische Hierarchie Auskunft über die zeitgenössischen Engelsvorstellungen gibt. In Kapitel VI wird unterschieden zwischen drei Hierarchien, denen jeweils drei Gruppen himmlischer Wesen zugeteilt werden.58 Der ersten Gruppe gehören die Throne, die Cherubim und die Seraphim an. Diese sind Gott am nächsten. Der zweiten Gruppe werden die Mächte, die Herrschaften und die Kräfte zugeteilt, während die dritte und unterste Hierarchie die Engel, Erzengel und Prinzipien einschließt. Damit sind die neun Namen der himmlischen Wesen genannt und ihre (Rang-) Ordnung festgelegt – eine Ordnung, die sich, wie die Kapitel VII, VIII und IX zeigen, auch in drei Höhenstufen gliedert: Die erste Triade, Throne, Seraphim und Cherubim, wird als „höchste[] Seinsstufe[]“59 beschrieben, die zweite Triade aus Mächten, Herrschaften und Kräften wird „mittlere[] Gliederung“60 genannt, wodurch die Triade aus Engeln, Erzengeln und Prinzipien als unterste Stufe gelten muss. Bevor diese Ordnung allerdings vorgestellt wird, geht Pseudo-Dionysius allgemein auf das Wesen der Engel ein. In Kapitel IV heißt es, dass sich die Engel stets nach der Höhe richteten und dem Oben zugewandt seien.61 58 Über die himmlische Hierarchie wird zitiert nach: Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie. Eingel., übers. und mit Anm. versehen von Günter Heil. Stuttgart 1986 (Bibliothek der griechischen Literatur 22), S. 42 f. Zu den neun Ordnungen der Engel vgl. auch Isidors Etymologiae, VII, v. 59 Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die himmlische Hierarchie, S. 43. 60 Ebd., S. 48. 61 Vgl. ebd., S. 39.

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Diese Vorstellung erinnert an das, was sich bei Otfrid dargestellt findet: an die Verortung der Engel im hohen Himmelreich. Das Werk des Pseudo-Dionysius wurde unter der Aufsicht Hilduins im Kloster SaintDenis ins Lateinische übertragen. Als Abt des Klosters bezeugt ist Hilduin ab 814. Ob Otfrid die in Saint-Denis entstandene Übertragung gekannt hat, die man im Übrigen als „mangelhaft[]“62 bezeichnet hat und die auch nur „geringe Verbreitung fand“,63 ist nicht nachzuweisen. Dass aber Otfrid Hilduin kannte und mit ihm in Kontakt stand, nimmt Lapidge unter Berücksichtigung eines Gedichts an, in dem sich ein Otfridus zu Beginn an Hiltuuin wendet:64 Presbiter ista tuo, Dionisi, Otfridus honori optulit ex voto munera, sancte pater. Namque palatina dudum famulatus in aula, Hiltuuini patris deditus obsequio.65 Dionysius, Heiliger Vater, der Priester Otfrid gab zu Deinen Ehren auf ein Gelübde hin diese Abgaben. Längst nämlich diente er dem kaiserlichen Hof, wurde in die Obhut des Vaters Hilduin gegeben.

Lapidge weist zunächst darauf hin, dass die Identität jenes Otfridus unklar bleiben muss, vermutet aber, dass dieser mit dem Verfasser des Liber Evangeliorum identisch ist: „[T]here is every reason to think that he is identical with the well-known Otfrid of Weissenburg“66. Sicherlich, darauf macht Haubrichs immer wieder aufmerksam,67 setzte sich Otfrid auch mit den Schriften des Johannes Scotus Eriugena auseinander, der sich um 867 ebenfalls

62 Prelog, Jan: Hilduin von St-Denis. In: Lexikon des Mittelalters. Band 5, Sp. 20. 63 Ebd. 64 Vgl. hierzu Haubrichs, Wolfgang: Nekrologische Notizen zu Otfrid von Weissenburg. In: Adelsherrschaft und Literatur. Hg. von Horst Wenzel. Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1980 (Beiträge zur älteren deutschen Literaturgeschichte 6), S. 7–113, hier vor allem S. 33–37. Schon 1980 identifiziert Haubrichs jenen „Otfridus“, der in der Hs. Rom (Vatikanstadt), Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Regin. lat. 469, fol. 25v–26v Gedichte an Hilduin richtet, mit dem Weißenburger Mönch. Eine Verbindungslinie zwischen Otfrid von Weißenburg und Hilduin lässt sich Haubrichs zufolge von politischen Überlegungen her ziehen: „Otfrid hat sich in den Dreißiger Jahren in das Fulda Hrabans […] gewandt. […] Als dann, im Jahr 838, der Konflikt zwischen Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen erneut losbrach, nach dem Tode des alten Kaisers sich die Söhne gegenseitig bekriegten, Hraban die Partei Lothars ergriff, mag sich Otfrid zu dem Lotharanhänger Hilduin gewandt haben“ (ebd., S. 36). 65 Zitiert nach: Lapidge, Michael: Hilduin of Saint-Denis. The Passio S. Dionysii in prose and verse. Leiden 2017 (Mittellateinische Studien und Texte 51), S. 18. 66 Ebd., S. 19. 67 Vgl. Haubrichs, Ordo als Form, S. 195 f.

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daran macht, Werke des Pseudo-Dionysius ins Lateinische zu übertragen.68 In dessen Schrift über die himmlischen Hierarchien werden die Engel eingeteilt in Seraphim, Cherubim und Thronus, Dominatio, Virtus und Potestas sowie Princeps, Archangelus und Angelus.69 Zwar kann aus der bloßen Tatsache, dass Otfrid vom „hímile óbana“ (II, 1, 12) spricht und die Engel dem hohen Himmelreich zuweist, nicht mit Sicherheit gefolgert werden, dass er sich auf die zeitgenössischen Lehren des Himmels und/oder der Engel stützt. Sicher ist aber, dass in der Zeit seines Wirkens Vorstellungen über den Himmel sowie über die Engel, ihr Wesen und ihre Verortung im Schöpfungsganzen, auf Latein niedergeschrieben wurden, und sicher ist, dass Otfrid um die zeitgenössische Aktualität und Relevanz dieser Themen wusste. Der (späte) kulturelle Aufstieg des Klosters Weißenburg etwa, den Kleiber am bemerkenswerten Bücherzuwachs des Weißenburger Skriptoriums unter Otfrid festmacht,70 ist wohl nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass Otfrid auf die Themen und Debatten seiner Zeit reagierte und so den Austausch zwischen den Klöstern forcierte und vorantrieb.

8.2.3 Die „worolt“ Nachdem die Engel und die Menschen jeweils Himmel und Paradies zugeordnet wurden, wird der Begriff „wórolt“ angeführt: So er thára iz tho gifíarta,    er thesa wórolt ziarta, thar ménnisgon gistátti,    er thíonost sínaz dáti: So was er io mit ímo sar,    mit imo wóraht er iz thar; so wás ses io gidátun,    sie iz allaz sáman rietun. (II, 1, 29–32) Als er es dann dahin gebracht hatte, dass er diese Welt ausschmücken konnte, um den Menschen hineinzustellen, damit er Dienst an ihm täte: Da war er schon immer mit ihm, mit ihm erschuf er es dort; was sie je auch machten, sie hatten es alles gemeinsam beraten.

Wurde zu Beginn von II, 1 noch das in den Fokus gerückt, was „[e]r allen wóroltkreftin“ (II, 1, 1) und „állen zitin wórolti“ (II, 1, 5) war, ist nun die Rede davon, dass der Logos „iz tho gifíarta“ (II, 1, 29) und in diesem Zusammenhang auch „thesa wórolt ziarta“ (II, 1, 29). 68 Vgl. Ruh, Kurt: Geschichte der abendländischen Mystik. Band 1. Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts. München 1990, S. 32. 69 Zur Ordnung und zu den Namen der Engel vgl. Iohannis Scoti Erivgenae Expositiones in ierarchiam coelestem. Ed. J. Barbet. Turnhout 1975 (CCCM 31), S. 92–151. 70 Vgl. Kleiber, Otfrid von Weissenburg, S. 131–155.

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Nach Verweis auf die Welt setzt in II, 1, 31 f. der fünfte und letzte Refrain ein, der in F, P und V nicht vom Johanneszitat „Hoc erat in principio apud deum“ begleitet wird, sondern mit Joh 1,3 steht: „Omnia per ipsum facta sunt“. Nachdem also die cooperatio von Vater und Sohn im Zuge des Schöpfungsgeschehens immer wieder betont wurde, wird der Schöpfungsteil beendet mit dem Verweis auf die schöpferische Kraft, die inmitten dieser cooperatio zur Entfaltung kommt. Das in den Versen 13 bis 32 dargestellte Schöpfungsgeschehen endet mit der Nennung der Welt, die als ausgeschmückte Welt vorgestellt wird. Die Welt wird vom Schöpfer also nicht nur erschaffen, sondern auch geschmückt oder verziert, sodass der Schöpfungsakt hier zusätzlich eine ästhetische Dimension besitzt. Die Vorstellung einer ausgeschmückten Welt findet sich auch bei Isidor, der in den Etymologiae im Abschnitt „De mundo“ (XIII, i) erklärt, dass das griechische Wort für lateinisch „mundus“ „κοσμος“ (kosmos) laute, was auch Schmuck („ornamentum“) bedeutet: Graeci vero nomen mundo de ornamento adcommodaverunt, propter diversitatem elementorum et pulchritudinem siderum (XIII, i, 2), Die Griechen aber gaben der Welt ihren Namen vom Schmuck (her), wegen der Vielfalt der Elemente und der Schönheit der Sterne. So erscheint die Welt als schöne Welt, deren Schönheit durch nichts überstrahlt wird: Nihil enim mundo pulchrius oculis carnis aspicimus (XIII, ii, 2), Nichts Schöneres nämlich als die Welt können wir mit menschlichen Augen wahrnehmen. Diese Vorstellung einer schönen Welt übernimmt Otfrid und stellt sie eben als ausgeschmückte bzw. verzierte Welt vor, wodurch der Akt der Schöpfung nicht mehr nur als pragmatisch-zielgerichtet erscheint, sondern als kunstvoll eingerichtet dargestellt wird. Die Welt bildet nun einerseits den Endpunkt der sich über die Verse 13 bis 32 erstreckenden Passage, die das Verhältnis zwischen Logos und Schöpfung thematisiert, und dient andererseits als Ausgangspunkt für den in Vers 34 folgenden Hinweis auf seinen Sohn: Sin wórt iz al giméinta,    sus mánagfalto déilta al io in thésa wisun    thuruh sinan éinegan sun. (II, 1, 33 f.) Sein Wort machte alles zum Gemeingut, teilte es in Vielheit auf, alles jeweils in diese Arten, durch seinen einzigen Sohn.

All das, was je geschaffen wurde, wurde „thuruh“ (II, 1, 34), also durch seinen einzigen Sohn, oder auch: seinetwegen (es kann hier der Sohn sowohl als Grund als auch Voraussetzung von Schöpfung gelesen werden), geschaffen. Erstmals wird die Mitwirkung des Sohns am Schöpfungsgeschehen explizit thematisiert und werden die bis hierher erwähnten Werke der Schöpfung an den „druhtin“ und seinen „sun“ gebunden. Der Weg der Schöpfung führt bei Otfrid also über den Himmel zur Erde, breitet sich dann bis hin zum Paradies aus und mündet im Verweis auf die Welt (II, 1, 29), auf die schließlich die Nennung des Sohns folgt, dessen Anteil am soeben dargestellten Schöpfungsvorgang II, 1, 7–34: Logos und Schöpfung | 171

noch einmal betont wird. Am Beginn der Zeit stehen Himmel und Erde; mit ihrer Nennung wird ein erstes Mal auf einen konkreten Zeitpunkt, „tho“, verwiesen, der das außerzeitliche „Er“ als verseinleitende Konjunktion ablöst. War es in den Versen 1 bis 6 im Zusammenhang mit dem Verweis auf den Zustand des Davor noch möglich, die Weltkräfte und Engelsgeschöpfe vor Himmel und Erde zu nennen, sind sie es, die im Verweis auf den Anfang der Zeit zuerst stehen und damit vor die „worolt“ rücken. Himmel und Erde werden bei alledem ausschließlich in dieser Reihenfolge genannt. Ob sie als noch nicht seiend oder als seiend vorgestellt werden: Zuerst steht der Himmel, dann die Erde. In der Völuspá und im Wessobrunner Schöpfungshymnus ist das anders. In der Negation stehen hier jeweils zuerst die Erde und dann der Überhimmel, wohingegen im Zuge der Schöpfungsdarstellung der Himmel vor die Erde tritt. Otfrid geht damit, anders als die Verfasser der Völuspá und des althochdeutschen Schöpfungshymnus, von einer festgefügten Ordnung von Himmel und Erde aus, die an keiner Stelle aufgebrochen werden kann. Diese Ordnung ist vorgegeben in der Genesis, nach deren Vorstellung Gott am Anfang Himmel und Erde errichtet hat. Das „In principio“ des Alten Testaments wird hier unmittelbar mit dem „In principio“ des Johannesevangeliums, auf das sich Otfrid zu Beginn des zweiten Buchs explizit bezieht, zusammengebracht. Durch die Nennung von Himmel und Erde in ausschließlich dieser Reihenfolge zeigt sich, dass auf den Zustand, der vor der Schöpfung liegt, nur rekurriert werden kann, indem zunächst die bekannten Bilder von Schöpfung aufgerufen werden, um diese dann auszuradieren. Es wird im Zuge dieses Vorgangs deutlich, dass sich der Mensch, auch wenn er das Davor der Schöpfung in den Blick zu rücken versucht, immer schon in einem Schöpfungsganzen verortet, das er nicht überwinden kann. Mit der Setzung von Himmel und Erde an den Beginn sowie mit dem darauf folgenden Verweis auf das Paradies, in das die Menschen einziehen, werden die markanten Eckpfeiler der Schöpfungsvorstellung des Alten Testaments chronologisch abgebildet. Erst nachdem Himmel und Erde den Beginn der Zeit begründet haben und auf das Paradies hingewiesen wurde, findet die Welt, ein Zentralbegriff des Neuen Testaments, Erwähnung. Die einzelnen Werke der Schöpfung werden also in der Chronologie der christlichen Schöpfungsvorstellung aufgeführt, wobei jedes Werk in Verbindung zum göttlichen Logos gesetzt wird. Dessen stete und immerwährende Existenz spiegelt sich dabei schon in der Struktur des Textes wider. Durch die in die Verse eingeschobenen Kehrreime wird seine Außerzeitlichkeit und Mitwirkung an der Schöpfung immer wieder hervorgehoben. Aufgrund der Bindung jedes aufgezählten Werks an den Logos bzw. an die cooperatio von Vater und Sohn werden letztlich alle Werke als Resultate eben jener cooperatio ausgewiesen. Es kommt so zu einer Überblendung der Schöpfungsvorstellung der Genesis und der des Johannesevangeliums, zu einer Überblendung des „Anfang[s] der Genesis mit dem des vierten Evangeliums“71, die Kiening in seiner Arbeit zur literarischen Schöpfung im Mittelalter immer wieder auch 71 Kiening, Literarische Schöpfung im Mittelalter, S. 125.

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in Texten des zwölften bis fünfzehnten Jahrhunderts ausmacht und die ihm zufolge einer „Um-, ja Überschreibung des kanonischen Textes“72 gleichkommt. Immerhin, so betont er, sei der Ursprung, um den es im Evangelium gehe, nicht derjenige, der in der Genesis dargestellt werde, weil dieser zeitlich vor den im Evangelium erzählten Ereignissen liege.73 Das Evangelium sei daher als eine Art Zurückführung vor den Beginn etwa des Himmels und der Erde zu verstehen, als Rückführung in jenen außerzeitlichen Zustand, aus dem heraus Zeit erst gesetzt werden kann.74 Wenn also Otfrid die Werke der Schöpfung nach deren Vorkommen in der Bibel aufzählt, wird jede scheinbar strikte Chronologie schließlich dadurch als nichtig ausgewiesen, dass über den mit Christus identifizierten Logos immer wieder ein Verweis auf die Schöpfungsidee der Genesis gesetzt wird bzw. zeitlich sogar über die alttestamentliche Schöpfung hinausgegriffen wird. Die Schöpfungsvorstellungen des Alten wie des Neuen Testaments werden so als immer schon aufeinander Bezug nehmend dargestellt und darüber letztlich in eins geführt.

8.3 Mensch und Schöpfung: Zur Rolle des Menschen im Schöpfungsganzen Otfrids Schöpfungsschau ist als Zusammenführung der Schöpfungsvorstellungen des Alten und Neuen Testaments zu lesen. Die in Gen 1 und Gen 2 sowie in Joh 1 aufgeführten Schöpfungsideen beziehen sich, so wird zu Beginn des zweiten Buchs des Evangelienbuchs deutlich herausgestellt, auf den einen Anfang, in dem alle Vorstellungen von Schöpfung zusammenlaufen. Dem am Anfang der Schöpfung stehenden Paar von Himmel und Erde wurde auch in den zuvor besprochenen Texten eine initiative Rolle im Schöpfungsganzen zugewiesen. Vom Paradies hingegen war bislang nicht die Rede. Im Caedmon-Hymnus werden Himmel und Erde als Behausung des Menschen errichtet; im Wessobrunner Schöpfungshymnus wird den Menschen Himmel und Erde und so manches Gute gegeben; im Beowulf wird zumindest die Erde für den Menschen geschaffen, und im Heliand-Prolog werden Himmel und Erde, hier wieder als feste Partner, als Raum der Schöpfung dargestellt, als Raum, der alles Erschaffene in sich fasst. Bei Otfrid zieht der Mensch ins Paradies ein. Der Himmel bildet hier nicht wie im Caedmon-Hymnus das Dach eines eigens für ihn gebauten Hauses, sondern ist göttliches Refugium. So heißt es in II, 1, 12, dass der göttliche Logos „quam fon hímile óbana“. Der Logos kommt vom Himmel, er steigt von oben nach unten herab. Nur dadurch, dass er nach unten fährt, können ihm die Menschen eben dort begegnen. Bis dahin war das Wort für diese „so rúmo“, dass „mán ni mag gidráhton“ (II, 1, 2); sie 72 Ebd., S. 126. 73 Vgl. ebd., S. 127. 74 Vgl. ebd.

Mensch und Schöpfung: Zur Rolle des Menschen im Schöpfungsganzen | 173

hatten keine Teilhabe am Wort. Schöpfung kann für sie daher nur das sein, was sich ihnen „nu“ offen zeigt, was sie „nu sehen“ (II, 1, 6) können. Die Menschen haben statt einer Einsicht in den Schöpfungsvorgang also nur eine Außensicht auf das, was Gott „wolti iróugen manne“ (II, 1, 44). Es ist dieser Verweis auf den Menschen als Betrachter der Schöpfung, die ihn völlig neu im Schöpfungsganzen verortet. Während Caedmon von der Schöpfung singt und der Scop im Beowulf von der Schöpfung erzählt, während das Ich im Wessobrunner Schöpfungshymnus etwas erfragt und aus der Menge der Menschen Antwort erhält, und während es im Heliand-Prolog die Evangelisten sind, die „scrîƀan, / settian endi singan    endi seggean forð“ (V. 32 f.), was sie zuvor gehört haben, erscheint der Mensch bei Otfrid eher passiv: Er sieht die Schöpfung von außen an. Obwohl der Gruppe des „Wir“ die Fähigkeit des Sehens des Gezeigten in II, 1, 6 grundsätzlich zugeschrieben wird, endet das Kapitel mit dem Verweis auf die Blindheit der sündigen Menschen: Thaz lib was líoht gerno    súntigero mánno, zi thíu thaz sie iz intfíangin    int írri ni gíangin. In fínsteremo iz scínit,    thie súntigon rínit; sint thie mán al firdán,    ni múgun iz bifáhan. Sie bifíang iz alla fárt,    thoh síes ni wurtun ánawart, so iz blíntan man birínit,    then súnna biscínit. (II, 1, 45–50) Das Leben strebte danach, das Licht der sündigen Menschen zu sein, sodass sie es empfangen könnten [und] nicht in die Irre gingen. In der Finsternis leuchtet es, trifft die Sündigen; sind die Menschen dem Bösen anheimgefallen, können sie es nicht erfassen. Es umfing sie [zwar] immerzu, doch sie wurden es nicht gewahr. So traf es [gleichsam] einen Blinden, den die Sonne bescheint.

Zwar umfängt das Licht die Sündigen, doch sie können es nicht sehen bzw. erkennen. Ihnen bleibt das, was sie unmittelbar umgibt, verschlossen. Für Haubrichs ergibt sich eben daraus die „Heilsbedürftigkeit“75 des Menschen: Die „sündig gewordene[] Schöpfung“76 verlange nach einem Erlöser, den sie schließlich im fleischgewordenen Wort, in Jesus Christus, finde. Diese Heilsbedürftigkeit ist es nun, die Haubrichs zufolge als Ein- und Hinleitung zum zweiten Buch zu verstehen sei, in dem es um „die Offenbarung des Logos in ihren verschiedenen Äußerungen“77 geht. Christi Heilsaufgabe besteht also darin, die Blinden

75 Haubrichs, Ordo als Form, S. 200. 76 Ebd. 77 Ebd.

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zu Sehenden zu machen. Er soll die Sicht der Sündigen frei machen für das, was bislang verschlossen lag – nur so können sie von der Sünde erlöst werden. Hs. V überliefert neben den Versen 45 bis 50 auch den Vers Joh 1,4:78 „et vita erat lux hominum: et lux in tenebris lucet, et tenebræ eam non comprehenderunt, dum magis ab ea comprehensi sunt“79. Wenn das Licht wie zu Beginn des Johannesevangeliums gleichgesetzt wird mit Christus, dann wird der Mensch im Licht eben diesen erkennen: Christus, den Erlöser, der, anders als er selbst, Einsicht und Anteil hat an all dem, was ihm selbst bislang verschlossen geblieben war. Er wird Christus erkennen, der „fon hímile óbana“ (II, 1, 12) kommt, der durch das Wort und im Wort erschuf und einteilte. In der Erscheinung Christi in der Welt, in der Fleischwerdung des Logos, wird dem Menschen schließlich auch das „óffan“ (II, 1, 6) vor Augen geführt, in das er bislang keine Einsicht hatte. In ihm wird er dem Wort, der vom Himmel kommenden schöpferischen Kraft, dem Göttlichen begegnen, das ihn von der Sünde erlöst hat. Durch die Geburt des eingeborenen Sohns wird der Mensch aufgefordert, aus der Rolle des untätigen Betrachters herauszutreten und dem Göttlichen aktiv gegenüberzutreten.

8.4 Schöpfung bei Otfrid Die bei Otfrid genannten Schöpfungswerke sind jeweils aus mindestens einem der zuvor besprochenen Texte bekannt. Wurden Himmel, Erde, Engel, Menschen und Welt in den zuvor besprochenen Texten an den Herrn oder den Allmächtigen, an Gott oder Gottes Wort gebunden, so werden sie bei Otfrid Werk für Werk auch an den Christus, den göttlichen Logos, rückgebunden. Die Mitwirkung Christi an der Schöpfung wird in II, 1 immer wieder eindringlich betont, indem ein die Schöpfungskooperation von Vater und Sohn proklamierender Refrain in die Verse 13 bis 32 eingeflochten und jedes erschaffene Werk an diese cooperatio angebunden wird. Schöpfung, so soll zu Beginn des zweiten Buchs der Evangelienharmonie deutlich gemacht werden, ist immer schon christlich, also vom Logos bestimmt. Wort, Vater und Sohn gehen der Schöpfung voran und begründen die Schöpfung, die dann wiederum geradewegs zuläuft auf das Erscheinen des Sohnes im Schöpfungsganzen. Der in II, 1, 34 erstmals erwähnte Sohn wird dabei innerhalb dieses Ganzen verortet. Seine Mitwirkung ist Voraussetzung dafür, dass Himmel und Erde, Paradies und Welt überhaupt erschaffen werden können, wobei ihre Entstehung wiederum die Voraussetzung für sein irdisches Heilswirken bildet. Damit werden die Schöpfungsthematik und Christi Wirken in eine sich gegenseitig bedingende Beziehung gesetzt.

78 Hs. V, fol. 43r. Ebenso die Hss. F und P 79 „Dum magis ab ea comprehensi sunt“ fehlt in der Vulgata.

Schöpfung bei Otfrid | 175

Das Heilswirken wird nötig, weil der Mensch das Licht, das ihn umgibt, zunächst nicht erkennen kann. Am Ende des zweiten Buchs wird er als blind vorgestellt. Es braucht den, der ihn das Licht erst sehen lässt. Die Blindheit des Menschen ist Ausdruck der sündig gewordenen Schöpfung, innerhalb derer der Mensch zwar verortet wird, deren Phänomene und Erscheinungen er aber zunächst nicht erkennen kann. Solange das Licht für ihn noch nicht erkennbar ist, kann der Mensch nur blind existieren, wobei doch bereits in II, 1, 6 auf einen Zustand rekurriert wird, in dem die Gruppe des Wir das sehen kann, was die schöpferische Instanz ihr „óffan“ vor Augen geführt hat. Der Erzähler schließt sich in die Gruppe des Wir mit ein und verweist auf die gemeinsame Fähigkeit, „nu“ sehen zu können. In der Erzählgegenwart wird die Fähigkeit zu sehen also vorausgesetzt, sodass der Zustand der Blindheit als vergangener Zustand ausgewiesen wird. Wenn der sehende Mensch der ist, der zum Licht geführt wurde, dann wird also davon ausgegangen, dass die Gruppe des Wir dieses Licht bereits geschaut und darüber gleichzeitig Christus erkannt hat, der das Licht ist. Im Zeitpunkt der Gegenwart, im Zeitpunkt des „Nu“, ist der Blick auf die Schöpfung immer ein Blick zurück. Die Schöpfung vollzog sich „tho“, damals, und wurde begründet durch die Erschaffung von Himmel und Erde. Vor dem Zeitpunkt des „Tho“ liegt der Zustand des „Er“, das außerzeitliche Davor, das sich der Mensch nicht einmal vorzustellen vermag. Während der sehende Mensch im Zeitpunkt der Gegenwart existiert, Himmel und Erde den Beginn der Zeit bilden und weder der Mensch noch Himmel und Erde in den Zustand des „Er“ hineinreichen, ist der Logos wiederum „io“, schon immer und für immer. Wenn allein der Logos immer und überzeitlich ist, so heißt das, dass allem anderen ein konsequenter Anfang zugeschrieben werden muss. Blieb im Wessobrunner Schöpfungshymnus bis zuletzt unklar, wann und wodurch die Engel erschienen sind, und wurde auch im Prolog des Heliand nicht geklärt, wann und wodurch und ob überhaupt Himmel und Erde erschaffen wurden, wird bei Otfrid unmissverständlich klar, dass alles Existierende einen Anfang besitzen muss, wenn nichts außer dem Logos dem Beginn der Zeit vorausgeht und damit auch nichts außer ihm Schöpfung begründen konnte. Die Schöpfung ist allein sein Werk. So ist es bei Otfrid auch nicht der Mensch, der von ihr singt oder erzählt und der sich die Schöpfung auf diese Weise aneignet und zu seinem Werk macht. Schöpfung wird ganz an den Logos gebunden, wobei dem Menschen doch die Möglichkeit gegeben wird, dem Logos in dem Moment zu begegnen, in dem dieser als fleischgewordener Logos in die Welt tritt und die Welt und den Menschen durch sein Erscheinen und über sein Erscheinen hinaus am Transzendenten teilhaben lässt.

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9 Auswertung und Schlussbetrachtungen Bis hierher wurden literarische Entwürfe von Schöpfung vorgestellt, die sich in frühen volkssprachlichen Texten finden lassen. Obwohl kein Entwurf dem anderen gleicht, lassen sich doch immer wieder auch Übereinstimmungen zwischen den Texten ausmachen. Die Ergebnisse der Untersuchung sollen in dieser Auswertung noch einmal zusammengefasst werden. Zentral sind dabei die folgenden Fragen: Welche Wörter, Formeln oder Motive kommen immer wieder vor? Gibt es eine Bildlogik, die allen Schöpfungsvorstellungen zugrunde liegt? Wo und inwieweit lassen sich Einblicke in Wissensbestände gewinnen, die schon vor der Christianisierung existiert haben? Jene Fragen sollen beantwortet werden erstens im Hinblick auf die jeweiligen Vorstellungen von Schöpfung und zweitens im Hinblick auf die jeweiligen Vorstellungen der Schöpfungsursache. Drittens wird außerdem auf die jeweilige Erzählinstanz eingegangen, an die die Schöpfungsdarstellung im Einzelnen gebunden wird.

9.1 Die Schöpfung und ihre Werke Im Caedmon-Hymnus wird der ewige Herr („eci dryctin“, V. 4) am Beginn eines jeden Wunders verortet. Das Tun des Herrn ist ein Wunder („uundor“, V. 3) – Schöpfung, so wird an dieser Stelle deutlich, ist eigentlich nicht recht zu verstehen, sie ist eben wunderbar, obwohl von ihren Werken und deren Funktionen aber berichtet wird: Es werden Himmel und Erde den Menschen als Dach und Grund errichtet („He aerist scop    aelda barnum / heben til hrofe,    haleg sceppend; / tha middungeard,    moncynnes uard, / eci dryctin,    æfter tiadæ / firum foldu    frea allmectig“, V. 5–9). Der Schöpfungschronologie zufolge steht der Dach-Himmel zuerst, danach wird die Erde für die Menschen gemacht. Dabei ist die Erde nicht einfach Erde, sondern „middungeard“, mittlere Erde, die in der eddischen Tradition eine immer schon bearbeitete Erde meint, die eigens für den Menschen bzw. zum Schutz des Menschen eingerichtet wird. So ist „Miðgarð“ in der Gylfaginning der Ort, an dem die Menschen leben und der durch eine Art Schutzzaun geographisch vom Land der Götter sowie vom Land der Riesen abgetrennt liegt. Auch im altenglischen Hymnus ist die mittlere Erde eigens für die Menschen vorgesehen. In der im Hymnus dargestellten Schöpfungshandlung wird vom Himmel zur Erde, also von oben nach unten gebaut. Himmel und Erde stehen vertikal zueinander: Der Himmel ist Dach und bietet den Menschen Schutz von oben; unten bietet die mittlere Erde ihnen Schutz vor außen lauernden Gefahren. Auch ungeachtet der eddischen Tradition von „Miðgarð“ impliziert der im Hymnus gegebene Verweis auf das Mittlere, dass es ein Außen geben und also „middungeard“ zwischen anderem, vielleicht zwischen anderen Erden, eingeschlossen liegen muss. Ohne ein Außen könnte es kein Mittleres geben. Die Schöpfung und ihre Werke | 177

Das Schöpfungshaus versammelt so mehrere Zimmer unter einem Dach(-Himmel), wobei das Zimmer in der Mitte dasjenige ist, in das eben die Menschen einziehen. Schöpfung ist eine zielgerichtete, pragmatische Schöpfung, und die Idee des Menschen muss der Idee von Himmel und Erde vorausgehen, sonst könnten diese nicht an seinen Bedürfnissen ausgerichtet werden. Der Mensch ist also schon da bzw. muss in irgendeiner Form angelegt sein, bevor es zur Schöpfungshandlung kommt. Die chronologische Schöpfungsabfolge von Himmel und Erde findet sich auch im Gebetsteil des Wessobrunner Textes, im Heliand-Prolog sowie in Otfrids Evangelienbuch. Im Wessobrunner Gebet werden Himmel und Erde als Schöpfungswerke eines allmächtigen Gottes ausgewiesen: „Cot almahtico, du himil enti erda gauuorahtos“. Im Zusammenhang mit dem Verweis auf ihren Schöpfer steht der Himmel vor der Erde; im Zuge der Aufzählung dessen jedoch, was vor dem Schöpfungsereignis noch nicht war, stehen sie in umgekehrter Reihenfolge: „Dat gafregin ih mit firahim    firiuuizzo meista, / Dat ero niuuas    noh ufhimil“. Bei „ero“ – „ufhimil“ handelt es sich um eine Stabreimformel, die auch aus der eddischen Literatur bekannt ist. Das Präfix „uf-“ muss dem „himil“ notwendigerweise vorangestellt sein, will man in Verbindung mit „ero“ eine Stabreimformel etablieren. Neben der Tatsache, dass die Anführung des Überhimmels dem Stabreim geschuldet ist, transportiert die Bezeichnung aber auch die Vorstellung eines Himmels, der sich eben über etwas anderem aufspannt. Ähnlich der Vorstellung der mittleren Erde, die kein Mittleres sein kann, wenn nicht ein Äußeres sie umgibt, kann der Überhimmel kein Oberes sein, wenn es nicht ein Unteres gibt. Worüber aber sollte sich der Überhimmel eigentlich aufspannen, wenn es ihn gar nicht gibt? Erst Himmel und Erde („himil“ – „erda“) werden (jedoch ohne zeitlichen Indikator und als Charakteristik Gottes) als geschaffen ausgewiesen, Erde und Überhimmel („ero“ – „ufhimil“) stehen in der Darstellung einer negativen Kosmogonie und sind ja gerade noch nicht erschaffen worden. Dennoch, ob im Zustand des (Noch-)Nicht oder im Schon-da-Sein: Im Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet werden (Über-)Himmel und Erde immer in Verbindung zueinander gesetzt; eine Existenz von (Über-)Himmel oder Erde außerhalb dieser Zweierverbindung wird offensichtlich nicht als Möglichkeit in Erwägung gezogen. Der Text stellt den Umbruch von Nichts in Etwas, in ein Stadium letztlich der Schöpfung dar, die sich im Gebetsteil als vollzogen herausstellt („du himil enti erda gauuorahtos“ [Hervorhebung A. H.]). Auch auf der Formebene des Textes lassen sich Umbrüche feststellen: Zuerst stehen Stabreime, „enteo ni uuenteo“ zeigt Endreim, wobei abschließend ein Gebet in Prosa steht. Es ist also auch eine Art kultureller Umbruch, der hier nachgezeichnet wird. Es steht eine Kombination aus Stabreim und Endreim, der seit der Zeit Otfrids die althochdeutsche Literatur prägt, sowie Prosa, die vor allem Gebrauchstexte kennzeichnet. Im Prosateil steht nun auch der Verweis darauf, dass der Schöpfer den Menschen so manches Gute gegeben hat („du mannun so manac coot forgapi”). Wie im Caedmon-Hymnus offenbart sich auch hier die Vorstellung einer Schöpfung für den Menschen, die Vorstellung 178 | Auswertung und Schlussbetrachtungen

einer zielgerichteten Schöpfung, die den Menschen stets mitdenkt. Im Zuge der Schöpfungsdarstellung des Heliand-Prologs werden „himil endi erða“ (V. 41) genannt, die, so heißt es, mit einem Wort umfangen werden: „uualdand gisprak,    thuo hie êrist thesa uuerold giscuop / endi thuo all bifieng    mid ênu uuordo / himil endi erða    endi al that sea bihlidan êgun“ (V. 39–41). Das Wort wird körperlich gedacht; es ist in der Lage, Himmel und Erde zu umfangen, wobei wiederum Himmel und Erde selbst etwas umfasst haben. Die Schöpfungshandlung besitzt an dieser Stelle einen ordnenden Aspekt. Schöpfung meint Absteckung des Raums, der mehrere Dimensionen besitzt. Einmal fungieren Himmel und Erde als umfassende und damit behältnisartige Entitäten, einmal werden Himmel und Erde selbst umfangen vom Wort, das eben auch Behältnisfunktion besitzt. Der im Vorgang der Schöpfung entworfene Raum ist damit zwiebelartig aufgebaut. Himmel und Erde sind also raumgebend. Wann und wie sie in den Raum und damit ins Dasein getreten sind, wird im Text allerdings nicht gesagt. Anders verhält es sich mit der Welt, die im Zuge der Schöpfungsdarstellung vor der Himmel-Erde-Formel schon genannt wird. Es wird hier die Welt explizit als geschaffen ausgewiesen, geschaffen im und durch das gesprochene Wort. Dabei ist sie „êrist“, zuerst, und markiert also den Anfang der Schöpfung, die dann zum Umfangen des Himmels und der Erde übergeht. Bedenkt man, dass im Wort „Welt“ der Mensch etymologisch immer schon enthalten ist, steht auch dieser an eben jenem Beginn der Zeit. Er ist in der Welt und mit der Welt und wird so im Schöpfungsprozess wieder mitgedacht bzw. ist dem Schöpfungsgeschehen schon inhärent. Es ist außerdem denkbar, dass auch Himmel und Erde (sowie das, was sie umfasst haben), der Welt inhärent sind. Dieser Gedanke, die Welt als Gesamtheit der göttlichen Schöpfung zu sehen, findet sich bei Isidor und könnte von dort Eingang in den altsächsischen Text gefunden haben. Es wäre also zumindest möglich, dass Himmel und Erde sowie alles von diesen beiden Umfasste gemeinsam die Welt abbilden, sodass, wenn die Welt als Werk der Schöpfung ausgewiesen wird, auch Himmel und Erde als Schöpfungswerke anzusehen wären. Mit Sicherheit hingegen kann festgehalten werden, dass sie alle drei, Welt, Himmel und Erde, insofern in Verbindung zueinander stehen, als sie innerhalb der Schöpfungshandlung vom Wort bewegt werden: Die Welt wird mit Aussprechen des Wortes entlang einer Zeitskala ausgerichtet, Himmel und Erde werden überführt in einen Raum, dessen Grenzen das Wort selbst bildet. Dabei werden diese beiden, Himmel und Erde, auch in der Schöpfungsdarstellung des Heliand-Prologs – und in diesem Punkt erinnert er an das im Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet Ausgeführte – wieder unmittelbar zusammen gedacht; sie beide werden vom Wort umfangen und sie beide sind es wiederum, die etwas umfangen haben. Himmel und Erde treten auch hier ausschließlich in der Paarverbindung auf. Die Begriffe Wort, Welt, Himmel und Erde finden sich auch in der Schöpfungsdarstellung Otfrids. Anders als im Heliand-Prolog werden im Evangelienbuch Himmel und Erde jedoch ganz explizit als (vom und im und durch das Wort) geschaffen ausgewiesen Die Schöpfung und ihre Werke | 179

(„Tho er déta thaz sih zárpta    ther hímil sus io wárpta, / thaz fúndament zi hóufe,    thar thiu érda ligit úfe: / So wás er io mit ímo sar“, II, 1, 21–23) und wird außerdem die Errichtung von Himmel und Erde vor Errichtung der Welt dargestellt: „So er thára iz tho gifíarta,    er thesa wórolt ziarta“ (II, 1, 29). Obwohl auch bei Otfrid nicht ganz klar wird, wie sich Himmel und Erde zur Welt verhalten, also wie die einzelnen Schöpfungswerke zueinander in Beziehung stehen bzw. im Schöpfungsraum angeordnet sind, weiß Otfrid die Himmel-Erde-Verbindung doch näher zu beschreiben. Der Himmel, so heißt es in II, 1, 21, drehe sich, einmal geschaffen, ewig, während die Erde als ruhend und im Gegensatz zum Himmel also unbewegt vorgestellt wird. Dabei ruht sie nicht im luftleeren Raum, sondern auf einem Fundament. Es ergibt sich damit das Bild einer permanent ruhenden Erde, die von einem nicht näher bestimmten Fundament gehalten und von einem sich permanent bewegenden Himmel umkreist wird. Weiter werden auch das hohe Himmelreich sowie das überaus schöne Paradies geschaffen, die als Wohnstätten einmal der Engel, einmal der Menschen ausgewiesen werden: „Ouh hímilrichi hóhaz    joh páradys so scónaz, / éngilon joh mánne    thiu zuei zi búenne“ (II, 1, 25 f.). Die Tatsache, dass einmal von Himmel, einmal vom hohen Himmelreich die Rede ist, lässt die Vorstellung mehrerer Himmel zu – eine Vorstellung, die sich auch in zeitgenössischen Schriften, etwa bei Beda, findet und die also zu zeigen imstande ist, dass Otfrid mit den Lehren und Vorstellungen seiner Zeit bestens vertraut war. Hohes Himmelreich und Paradies werden nun explizit für die Engel und die Menschen erschaffen. Dabei wird die Erschaffung der Engel und Menschen zwar nicht eigens erwähnt, es kann aber trotzdem davon ausgegangen werden, dass sie als gemacht vorgestellt werden: Immerhin ist in II, 1, 1 die Rede nicht nur von den Engeln, sondern von den Geschöpfen der Engel („Er allen wóroltkreftin    ioh éngilo giscéftin“), wodurch zumindest diese als Werke der Schöpfung ausgewiesen werden. Die Zuweisung von Engeln und Menschen zu Himmelreich und Paradies zeigt weiterhin, dass Schöpfung auch bei Otfrid eine zielgerichtete Schöpfung ist: Himmelreich und Paradies müssen in irgendeiner Form bewohnbar, also an den Bedürfnissen derjenigen Lebewesen ausgerichtet sein, die in ihnen Platz finden sollen. Vom Menschen heißt es weiterhin, dass er in die Welt gestellt wird: „So er thára iz tho gifíarta,    er thesa wórolt ziarta, / thar ménnisgon gistátti,    er thíonost sínaz dáti“ (II, 1, 29 f.). Die Welt ist das zuletzt genannte Werk, das man sich als verziert oder ausgeschmückt zu denken hat und das also, wie das Paradies, (Wohn-)Raum für den Menschen bietet. Ob damit Paradies und Welt in eins fallen oder das Paradies in der Welt liegt, ist nicht zu klären. Auch über die jeweilige Anordnung von Paradies und Welt im Schöpfungsganzen und das räumliche Verhältnis zwischen Paradies, Welt und Erde kann nichts gesagt werden. Das Zusammenwirken der Schöpfung kann in seiner Gesamtheit nicht erfasst werden. Vielmehr werden unterschiedliche Dimensionen von Schöpfung aufgezeigt. Mit Einsetzen des „tho“, mit Einsetzen der Zeit, und mit Ausweis der ab II, 1, 21 genannten Werke als in der Zeit seiend wird die gesamte Schöpfung in der Zeit verortet. Alles einmal 180 | Auswertung und Schlussbetrachtungen

Geschaffene besitzt einen Anfang und war also nicht schon immer – wobei es dann zumindest vom Himmel heißt, dass er sich, einmal in die Zeit gesetzt, auf ewig bewegen könne. Schöpfung wird hier entlang einer Zeitskala ausgerichtet, deren erstes Ereignis sie selbst ist und deren gesamte zeitliche Ausdehnung gegen unendlich geht. Neben der zeitlichen Dimension besitzt Schöpfung bei Otfrid auch eine räumliche. Der Himmel dreht sich; er ist im Raum und begründet durch seine immerwährenden Drehbewegungen einen Raum, in dem wieder andere Werke (unbewegt) existieren können. Die Erde ruht und wird von einem Fundament gehalten, das ihr einen stabilen Platz gibt. Während die Erde erhöht auf dem aufgehäuften Fundament aufliegt, wird das Himmelreich als hoch beschrieben und der Blick auf die Schöpfung damit in die Höhe gelenkt. Paradies und Welt wiederum werden nicht einem Oben oder einem Unten zugeordnet. Wie das hohe Himmelreich werden aber auch sie als Lebensraum für bestimmte Geschöpfe gemacht. Hohes Himmelreich und Paradies werden für Engel und Menschen geschaffen, und auch die Welt ist für den Menschen. Über Anordnung oder Bewegung im Raum wird nichts gesagt, dennoch wird auch über Paradies und Welt Näheres bekannt: Das Paradies wird als überaus schön beschrieben, bei der Welt handelt es sich um eine verzierte, geschmückte Welt. An dieser Stelle kommt eine ästhetische Dimension von Schöpfung zum Tragen. Schöpfung ist nicht nur zielgerichtet-pragmatisch auf den Menschen hin geordnet, sondern bietet ihm eine Umgebung an, die dieser als mit Bedacht eingerichtet erfährt. Insgesamt liefert Otfrid so eine Schöpfungsschau, die eine zeitliche, eine räumliche und eine ästhetische Dimension besitzt. Die aufgeführten Werke werden geschaffen, wodurch sie also einen Anfang in der Zeit besitzen, die dann – wie im Fall des Himmels – auf Ewigkeit zielt; sie werden als sich drehend oder auf etwas anderem ruhend beschrieben, wodurch räumliche Vorstellungen evoziert werden, und sie werden als schön oder ausgeschmückt bezeichnet, was einzelnen Schöpfungswerken ein kunstvolles Design zuschreibt. Im Caedmon-Hymnus, im Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet, im HeliandProlog und in Otfrids Evangelienbuch werden im Zuge der Darstellung von Schöpfung Himmel und Erde genannt. Geht es an das Schöpfungshandeln, werden Himmel und Erde errichtet, wobei der Himmel noch vor der Erde gesetzt wird. Die schöpferisch tätige Instanz baut von oben nach unten, der Schöpfungsverlauf offenbart einen klaren Transzendenzgedanken. Einzig im Beowulf wird die ansonsten so enge Verbindung zwischen Himmel und Erde aufgelöst. In der Wiedergabe des Scop-Gesangs gibt es keinen Himmel. Zuerst wird die Erde genannt, dann das Land, das vom Wasser umschlossen wird: „cwæð þæt se ælmihtịga    eorðan worh(te), / wlitebeorhtne wang,    swā wæter bebūgeð“ (V. 92 f.). Anschließend ist die Rede von Sonne und Mond, die den Landbewohnern als leuchtende Lichter gesetzt werden („ġesette siġehrēþiġ    sunnan ond mōnan, / lēoman tō lēohte    landbūendum“, V. 94 f.), wobei die Frage ist, wo sich eigentlich Sonne und Mond befinden, wenn es keinen Himmel gibt. Es scheint hier, als würde durchaus ein Himmel vorausgesetzt, der jedoch im Rahmen einer Schöpfungserzählung nicht zwingend genannt Die Schöpfung und ihre Werke | 181

werden muss – eine Tatsache, die darauf hinweist, dass die Himmel-Erde-Formel nicht festgefügt ist und somit literarische Schöpfungsdarstellungen nicht zwingend der Bildlogik eines vertikalen Schöpfungsbaus, der streng von oben nach unten verläuft, folgen müssen. Während die im Zuge der Schöpfungsdarstellung vorgenommene Ausklammerung des Himmels dem Beowulf eigen ist, ist der Gedanke, dass einzelne Schöpfungswerke eigens für bestimmte Lebewesen geschaffen und errichtet werden, ein bekannter. So kündet der Scop davon, dass Sonne und Mond, wo immer sie auch aufgehängt werden, dazu da seien, den Landbewohnern Licht zu spenden: „tō lēohte    landbūendum“ (V. 95). Auch die Vorstellung von verzierten bzw. geschmückten Schöpfungswerken („ond ġefrætwade    foldan scēatas / leomum ond lēafum“, V. 96 f.) ist bekannt. Zumindest Otfrid macht den Aspekt einer schönen und ausgeschmückten Schöpfung ebenfalls stark und verleiht ihr so eine ästhetisch-kunstvolle Dimension. Nachdem im Beowulf Erde, Land, Sonne und Mond sowie Zweige und Blätter gesetzt wurden, wird den Geschöpfen das Leben geschenkt: „ond ġefrætwade    foldan scēatas / leomum ond lēafum,    līf ēac ġesceōp / cynna ġehwylcum    þāra ðe cwice hwyrfaþ“ (V. 96–98). An dieser Stelle scheint es, als gehe die Schöpfungschronologie durcheinander. Am Ende erst steht der Hinweis auf die zum Leben erweckten Geschöpfe, wobei doch zuvor Sonne und Mond den Landbewohnern schon als Lichtquellen installiert wurden. Ob die Landbewohner zum Zeitpunkt der Errichtung von Sonne und Mond schon existierten, ist nicht zu sagen. Sicher ist nur, dass sie im Schöpfungsprozess schon mitgedacht und ihre Bedürfnisse als Maßstab an die Schöpfungshandlung angelegt wurden. Zu den sich lebendig bewegenden Geschöpfen gehört auch das Ungeheuer Grendel, das nun allerdings nicht im mit Blättern und Zweigen geschmückten leuchtenden Land, sondern in einer sumpfigen und lichtfernen Exilheimat zuhause ist: im Land, das dem Geschlecht der Fīfel gehört („wæs se grimma gǣst    Grendel hāten, / mǣre mearcstapa,    sē þe mōras hēold, / fen ond fæsten;    fīfelcynnes eard / wonsǣlī wer    weardode hwīle“, V. 102–105). Dorthin, so heißt es, habe der Schöpfer zuerst Kain verbannt, in dessen Nachfolge Grendel dann gestellt wird: „siþðan him scyppen    forscrifen hæfde / in Cāines cynne –    þone cwealm ġewræc / ēċe drihten,    þæs þe hē Ābel slog” (V. 106–108). Das Land der Fīfel liegt weit fort von der Menschheit („ne ġefeah hē þǣre fǣhðe,    ac hē hine feor forwræc, / metod for þȳ māne    mancynne fram“, V. 109 f.), sodass die in der Wiedergabe des Scop-Gesangs geschilderte Schöpfung nicht als umfassende Schöpfungsschau anzusehen ist. Das Schöpfungsgeschehen erschöpft sich offensichtlich nicht in der Errichtung der geschmückten Erde und des Landes sowie der Gestirne, sondern es gibt außerdem eine Art Schöpfungs-Außerhalb, das eben unter anderem das Fīfel-Land umfasst. Dass das Fīfel-Land geographisch getrennt vom Land der Menschen liegt, wird im Text betont; wer oder was aber eigentlich die das Land bewohnenden Fīfel sind, bleibt unklar. Allein eine Nähe zur Dunkelheit kann ihnen zugesprochen werden sowie ein ungeheuerliches Wesen und eine generelle Anderweltlichkeit, die sich schon dadurch ergibt, dass das Fīfel-Land fernab der Menschheit liegt. Es bleibt die Frage, ob sich hinter der Vorstellung 182 | Auswertung und Schlussbetrachtungen

eines Landes für die Fīfel nicht eigentlich die Vorstellung der Hölle verbirgt. Immerhin wird Grendel, der ja im Zusammenhang mit den Fīfeln genannt wird, auch als „fēond on helle“ (V. 101) bezeichnet und damit einerseits als Bewohner des Fīfel-Landes ausgewiesen und andererseits der Hölle zugeordnet. Dadurch ist es denkbar, dass Fīfel-Land wie Hölle auf denselben Ort, auf die Wohnstätte Grendels nämlich, verweisen. Während die im Zuge der Ungeheuer-Verbannung ins Fīfel-Exil genannten Namen Kain und Abel direkt auf die Brudermordgeschichte der Genesis verweisen, bildet der FīfelBegriff heute eine Leerstelle, die nicht vollständig gefüllt werden kann. Volkssprachliche Erzählungen von Fīfeln, sofern es sie gegeben hat, sind nicht überliefert und auch nicht zu rekonstruieren. Und da, wo Fīfel sonst auftauchen, etwa in der Völuspá, werden sie nicht näher beschrieben und wird keine Vorgeschichte der Fīfel erzählt, sodass darauf geschlossen werden kann, dass das zeitgenössische Publikum im Besitz eines Wissens um jene Wesen war, das eine detaillierte Fīfel-Einführung oder -Beschreibung irrelevant machte. In dem Moment nun, in dem die Erzählung von Kain in das Fīfel-Land Einzug hält, überlagern sich Vorstellungen, die ganz klar einem biblischen Kontext entspringen, mit Vorstellungen, die einem heute nicht mehr zugänglichen Wissensfundus entnommen wurden und rätselhaft bleiben. Durch die Ausklammerung des Himmels im Beowulf  lässt sich allenfalls ein Kernbegriff nennen, der sich in allen hier besprochenen Texten finden lässt: Es ist die Erde, die stets genannt wird, wenn es um die Darstellung des Ursprungs allen Lebens geht und die als Kernbegriff literarischer Schöpfungsdarstellungen gelten kann. Allerdings decken sich die in den Texten jeweils aufscheinenden Vorstellungen der Erde nicht. Obwohl die Erde in jeder Schöpfungsdarstellung genannt wird, werden ihr doch ganz unterschiedliche Eigenschaften – sie ist Mittleres, sie ist passiv-ruhend, sie ist an den Himmel als Verbindungspartner gebunden, sie tritt alleine auf – und Funktionen – der geographisch eng gesteckte Bereich der mittleren Erde bietet Schutz vor äußeren Erden; die Erde wirkt gemeinsam mit dem Himmel behältnisartig – zugeschrieben. Im Einzelfall ist nicht einmal sicher zu sagen, ob sie tatsächlich ein Werk der Schöpfung ist oder nicht vielmehr schon vor Einsetzen der Schöpfungshandlung existiert hat. Was die im Einzelnen genannten Werke der Schöpfung angeht, so zeigt sich deutlich, dass es keine einheitliche Vorstellung darüber gibt, welche Werke das Schöpfungsgeschehen insgesamt umfasst, welche genannten Entitäten überhaupt als geschaffen anzusehen sind und in welcher Ordnung sie zueinander stehen. Im Hinblick auf die chronologische Festsetzung und Anordnung sowie die spezifischen Eigenschaften ihrer Werke folgt Schöpfung also nicht einer verbindlichen Bildlogik, die alle Verfasser kennen und in ihre literarischen Entwürfe hineintragen. Allerdings, und diese Vorstellung eint letztlich alle besprochenen Texte, liegt jeder Schöpfungshandlung die Idee des Menschen zugrunde, wird der Mensch im Schöpfungsgeschehen immer schon mitgedacht. Damit ist Schöpfung, ungeachtet der Werke, die sie hervorbringt, eine zielgerichtete Schöpfung, die den Menschen in ihrem Verlauf mitbedenkt, obwohl die Erschaffung Die Schöpfung und ihre Werke | 183

des Menschen dabei gar nicht explizit benannt werden muss. Die Klärung der Frage, ob der Mensch da ist oder nicht bzw. ob er bereits erschaffen wurde oder nicht, spielt offensichtlich keine Rolle. Vielmehr wird er als Maßstab oder Idee dem Schöpfungshandeln zugrunde gelegt. Im Caedmon-Hymnus werden Himmel und Erde dem Menschen als Dach und Grund gegeben. Im Beowulf werden Sonne und Mond den Landbewohnern als Leuchten installiert. Im Wessobrunner Gebet heißt es, Gott habe den Menschen so manches Gute gegeben. Im Heliand-Prolog ist die Welt nun das einzige sichere Schöpfungswerk, das dem Schöpfer zugeschrieben werden kann, wobei es gerade der Begriff Welt ist, der den Menschen immer schon mitträgt. Bei Otfrid ist der Mensch dem Begriff Welt nicht nur etymologisch schon inhärent, sondern er wird ihr explizit noch einmal zugeordnet: Der Mensch wird in die Welt gestellt; die Welt wird geschaffen, um dem Menschen einen Ort zum Leben anzubieten. Der Mensch ist damit sowohl Ziel- als auch Ausgangspunkt einer Schöpfung, die eine für ihn gemachte Schöpfung ist.

9.2 Die Schöpfung und ihr Schöpfer Nichts entsteht aus Nichts heraus. In den besprochenen Texten entsteht Etwas durch ein Tun und wird dieses Etwas tätig hervorgebracht von einer mit vielen verschiedenen Namen belegten Instanz, die schon war, bevor irgendetwas war. Es ist somit, und diese Vorstellung eint alle hier besprochenen Texte, stets die Rede von einer Schöpfung, deren Ursache geklärt ist und freigelegt werden kann. Dabei ist diese Ursache selbst ohne jeden Anfang. Im Caedmon-Hymnus lässt sich ein ganzes Arsenal an Schöpferbezeichnungen ausmachen. Die schöpferische Instanz ist „hefaenricaes uard“ (V. 1) sowie „moncynnæs uard“ (V. 7), „metud“ (V. 2), „uuldurfadur“ (V. 3), „dryctin“ (V. 4 und 8), „sceppend“ (V. 6) und „frea“ (V. 9). In Bedas lateinischer Hymnus-Paraphrase wird der Urheber der Schöpfung „auctor“, „creator“, „pater“, „deus“ und „custos (humani generis)“ genannt, werden also statt sieben verschiedener Schöpferbezeichnungen nur fünf angeführt. Im volkssprachlichen Text geht es um das Worte-Suchen für die schöpferische Instanz, darum, ein Begriffsvokabular zu entfalten, das geeignet ist, eben jene Instanz fortan auch in der eigenen Sprache benennen zu können. Während im lateinischen Text „aeternus deus“ steht, steht im altenglischen Text „eci dryctin“. „Dryhten“ ist aus anderen literarischen Kontexten bekannt, in denen das Wort nicht zur Bezeichnung einer Schöpferinstanz verwendet wird. Vielmehr ist es dem Kontext des Gefolgschaftswesens zuzuordnen und wird in anderen Texten etwa als Herrschertitel angeführt. Die mit dem Begriff „dryhten“ verbundene Vorstellung speist sich also aus dem Wissen um ein bestimmtes Sozialsystem, das über die Hierarchie Herrscher/ Gefolge organisiert ist. Auch der Begriff „uard“ ist ein Begriff, der dem weltlichen Kontext zuzuordnen ist. Bemerkenswert ist, dass das Hüten oder Bewachen in der CaedmonErzählung eine doppelte Bedeutung erhält. Nicht nur wird die schöpferische Instanz Hüter 184 | Auswertung und Schlussbetrachtungen

genannt, sondern Caedmon selbst ist Hüter, genauer: Hüter der Tiere. In diesem Punkt fallen die schöpferische Instanz und der von ihr singende Mensch in eins. Sie beide sind mit der Aufgabe des Hütens vertraut, wobei allerdings Caedmon mit Eintritt ins Kloster diese Aufgabe schließlich abgeben muss. Während Schöpferbezeichnungen wie „dryhten“ oder „uard“ aus weltlichen Kontexten bekannt sind und nach wie vor in weltlichen Kontexten auch verwendet werden, spannt Beda den Hymnus in seiner Caedmon-Erzählung doch in einen klar christlichen Rahmen ein. Immerhin wird Caedmon nach Erlangen der Fähigkeit, vom „dryhten“ zu singen, ins Kloster berufen, wodurch unmissverständlich deutlich gemacht wird, dass das Wissen um die Tätigkeiten von „dryhten“ und „uard“ hinter Klostermauern gehört. Dadurch, dass man sich aus dem Gefolgschaftsvokabular bedient, sowie durch die doppelte Bedeutung von „uard“ wird jedoch die schöpferische Instanz auch vermenschlicht. Die schöpferisch tätige Instanz, die im lateinischen Text „deus“ genannt wird, wird mit weltlichen Begriffen umschrieben, die den zeitgenössischen Rezipierenden vertraut erscheinen mussten. „Deus“, der volkssprachlich als „dryhten“ oder „uard“ erscheint, wird so letztlich konkretisiert und fassbar gemacht. Der Verfasser des Beowulf schreibt die Rezipierenden des vom Scop vorgetragenen Schöpfungsgesangs in sein Epos nun eigens hinein: Es sind die Gefolgsleute des dänischen Königs Hrohtgar, die in der Halle Heorot den Klängen der Harfe, dem Gesang des Scop lauschen. Jene Dänen, die eben noch zum Gesang des Scop feierten, werden nur wenig später als Heiden dargestellt, die, dem Polytheismus verhaftet, ihren Götzen huldigen. Gott, den Herrn („drihten God“, V. 181), so heißt es, kennen sie nicht. Es stehen hier mehrere Götzen gegen einen „God“ – wobei die Ineffektivität der heidnischen Praktiken sogleich betont wird, indem die Verrichtung des Götzendienstes als vergeblich bezeichnet und das Heidentum so als nutzloser Zeitvertreib abgetan wird. In der Paraphrase des Scop-Gesangs wird die Schöpferinstanz den Dänen in der Halle als „se ælmihtịga“ (V. 92) und „siġehrēþiġ“ (V. 94) vorgestellt. Während die Vorstellung eines allmächtigen Schöpfers aus dem Caedmon-Hymnus bekannt ist, ist die Vorstellung eines siegreichen Schöpfers dem Beowulf eigen. Der Begriff des Siegreichen wird im Epos aber auch an anderer Stelle gebraucht. So wird Beowulf siegreich genannt, nachdem er Grendels Mutter im Kampf bezwingen konnte. In der Paraphrase des Scop-Gesangs wird also ein aus dem weltlichen Kontext bekannter Begriff zur Bezeichnung der schöpferisch tätigen Instanz verwendet, die dem Publikum darüber als längst bekannte, also vertraute Instanz vorgeführt wird. Eben diese Vertrautheit ist es, die die heidnischen, dem Polytheismus anhängenden Dänen offensichtlich völlig unbeschwert zum Scop-Gesang feiern lässt, obwohl sich in ihm doch die Vorstellung eines monotheistisch-christlichen Schöpfers offenbart. Immerhin wird vom Allmächtigen wie vom Siegreichen im Singular gesprochen, wodurch das Schöpfungsgeschehen ganz klar auf eine monotheistisch gedachte Ursache zurückgeführt wird. Außerdem wird durch die Zeichnung eines Schöpfers, der menschliche Züge trägt, auf die Heilsgeschichte verwiesen, Die Schöpfung und ihr Schöpfer | 185

die die heidnischen Dänen nicht kennen, und mit deren Kernidee (Gott wirkt als Mensch in der Welt) sie aber vertraut gemacht werden, indem ihnen jene – neue – Geschichte über längst bekannte Begriffe vermittelt wird. Weil die heidnischen Dänen Gott nicht kennen (vgl. V. 181), werden sie auch nicht mit ihm konfrontiert, sondern mit Begriffen, die sie eben kennen. Damit erscheint das Unbekannte als Bekanntes und kann dem Bekannten unterstellt werden, seit jeher schon eine christliche Bedeutung getragen zu haben. Im Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet ist nun explizit von Gott die Rede. Sowohl im Stabreim- als auch im Prosateil steht „cot“, wobei „cot“ in beiden Teilen als allmächtig ausgewiesen wird – im Stabreimteil ist er „der eino almahtico cot“, im Prosateil wird er mit „Cot almahtico“ angerufen – und im Stabreimteil außerdem mit dem Adjektiv „heilac“ („cot heilac“) verbunden. Der Verweis auf Allmacht und Heiligkeit der Schöpferinstanz steht in Übereinstimmung mit dem Caedmon-Hymnus, wobei auf die Allmacht des Schöpfers auch in der Scop-Passage des Beowulf hingewiesen wird. Weiterhin deckt sich die Vorstellung des einen Schöpfers („der eino almahtico got“) mit den in den altenglischen Texten jeweils aufscheinenden Vorstellung vom Schöpfer, der auch hier stets ein allein handelnder Schöpfer ist. Neben „cot heilac“ und „Cot almahtico“ steht die Bezeichnung Gottes als „manno miltisto“. Diese Bezeichnung ist nicht eindeutig zu fassen. Je nachdem, ob „man“ mit subjektivem oder objektivem Genitiv übersetzt wird, ergeben sich zwei unterschiedliche Gottesbilder: So kann „manno miltisto“ einmal für den Freigiebigsten der Menschen stehen, einmal für den gegenüber den Menschen Freigiebigen. Stellt man sich Gott als den Freigiebigsten der Menschen vor, zählte Gott selbst zu den Menschen und wäre er ein Mensch unter vielen, der sich von den anderen nur dadurch abhöbe, dass er von allen der Freigiebigste ist. Stellt man sich Gott vor als den, der sich gegenüber den Menschen als Freigiebigster zeigt, dann muss nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass Gott selbst zur Gruppe der Menschen zählt. Er würde den Menschen nur auf eine bestimmte Art begegnen, ihnen gegenüber besonders freigiebig sein. Für welche Übersetzung man sich auch entscheidet: In jedem Fall bleibt die Idee eines Gottes, der freigiebig ist, und es bleibt der Verweis auf den in unmittelbare Beziehung zu Gott gestellten Menschen, dessen Existenz, obwohl im Stabreimteil ja der Zustand vor der Schöpfung dargestellt werden soll, bereits angenommen wird. Die Frage, ob Gott im Stabreimteil als Mensch vorgestellt werden soll oder nicht, bleibt offen und ist damit ebenso wenig sicher zu klären wie die Frage, wer eigentlich mit „poeta“ gemeint ist. „De poeta“ lautet die Überschrift, die dem Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet in seinem einzigen Überlieferungsträger vorangestellt ist. „Poeta“ kann einerseits den Schöpfer meinen, andererseits aber auch für den Dichter stehen, der es ja ist, der vom Schöpfer und seiner Schöpfung kündet und die Rezipierenden überhaupt erst mit der Schöpfung vertraut macht. Der Begriff „poeta“ kann also „cot“ meinen, aber auch das von „cot“

186 | Auswertung und Schlussbetrachtungen

kündende Ich und bleibt damit, so hat es Klein auf den Punkt gebracht, eine „Kippfigur“1, die sich nicht festlegen lassen will. Zwischen dem Dichter des Textes und dem Dichter des Himmels und der Erde lässt sich nicht mehr unterscheiden, sodass hier eine Ermächtigung des Menschen beobachtet werden kann, der sich durch die Verwendung jener Kippfigur zumindest so lange selbst eine schöpferische Fähigkeit zuschreibt, bis der „poeta“-Begriff wieder auf die Seite des allmächtigen Schöpfergottes hinüberkippt. In diesem Punkt verhält es sich ähnlich wie mit der Bezeichnung Gottes als „manno miltisto“. Die Annahme, dass Gott hier als Mensch imaginiert werden soll, ist der Grammatik der Formel zufolge ebenso plausibel wie die Annahme einer ausschließlich theomorphen Bestimmung Gottes. Damit weist der Wessobrunner Text mindestens zwei Kippfiguren auf: Es wird die Vermenschlichung des Schöpfers, die sich anhand der Verwendung von altenglisch „dryhten“ schon zeigen ließ, hier geradezu auf die Spitze getrieben. Die Übereinstimmung von Göttlichem und Menschlichem erscheint im Heliand-Prolog nun nicht nur als Möglichkeit, nicht als vage Kippfigur, sondern wird ganz konkret formuliert. Die vier Evangelisten sind hier dazu bestimmt, die göttliche Lehre und das heilige Wort weiterzutragen („Than uuârun thoh sia fiori te thiu / under thera menigo,    thia habdon maht godes, / helpa fan himila,    hêlagna gêst, / craft fan Criste“, V. 9–12). Sie sind nicht aus sich selbst heraus Schreiber, Setzer oder Sänger, sondern sie werden zum Schreiben, Setzen und Singen veranlasst, indem ihnen das göttliche Wort eingegeben wird, durch das alles Leben und alle Dinge ihren Anfang nahmen. In dem Moment, in dem das Wort aufgeschrieben, gesetzt und gesungen wird, tun die Evangelisten, so heißt es, „all so“ (V. 38) der Schöpfer tat, als er seine Worte am Anfang sprach. Es erfolgt eine Gleichsetzung des Tuns der Evangelisten mit dem Tun Gottes, die darüber plausibel gemacht wird, dass die Evangelisten das Wort sprechen. Die Weitergabe des Wortes, das Gott am Anfang aller Schöpfung sprach, stattet die Evangelisten also mit Schöpferqualitäten aus. Während die schöpferisch tätigen Evangelisten Markus, Matthäus, Lukas und Johannes heißen, wird der Schöpfer, bei dem allein das Wort am Anfang lag, mit verschiedenen Bezeichnungen belegt. Er ist „mahtig drohtin“ (V. 37), „uualdand“ (V. 39) und schließlich „god“ (V. 42), der „thurh is ênes craft“ (V. 38) am Anfang zu sprechen begann. Während der Schöpfer(-Gott) im Caedmon-Hymnus, im Beowulf sowie im Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet stets als allmächtiger Schöpfer vorgestellt wurde, wird der Aspekt der Allmacht hier auf den Aspekt der Macht zusammengeschrumpft und ist die Macht des Schöpfers also nicht mehr uneingeschränkt und allumfassend zu nennen. Die Bezeichnung „drohtin“ für Schöpfer ist bekannt aus den besprochenen altenglischen Texten und herausgenommen aus dem Vokabelinventar des Gefolgschaftswesens. Der „uualdand“ bezeichnet den mit Macht Ausgestatteten, den Herrschenden. Allein dadurch, dass in Vers 42 „god“ genannt wird, wird dem zuvor genannten Herrn und dem Waltenden eine theomorphe 1

Klein, Die Schöpfung in der Dichtung – der Dichter als Schöpfer, S. 50.

Die Schöpfung und ihr Schöpfer | 187

Bedeutung beigemessen, indem ihnen allen, „drohtin“, „uualdand“ und „god“, die Tätigkeit des Wort-Sprechens am Anfang zugeschrieben wird und also „drohtin“, „uualdand“ und „god“ im Zuge der Ausführung dieser (einmaligen) Tätigkeit in eins fallen. Über das Wort bzw. die Tätigkeit des Wort-Sprechens wird jedoch nicht nur eine Verbindung zwischen „drohtin“/„uualdand“ und „god“ etabliert, sondern werden ja auch die Evangelisten in die Verbindung „drohtin“/„uualdand“/„god“ aufgenommen. Sie alle kennen das Wort und künden vom Wort. Über diese im Prolog des Heliand aufs Engste geknüpfte Bindung zwischen Mensch und Gott wird zugleich eine Vermenschlichung des Schöpfers sowie eine Ermächtigung des Menschen angezeigt. Während im Heliand-Prolog das Wort eine (Schöpfer-)Fähigkeit ist, die „drohtin“, „uualdand“, „god“ sowie den Evangelisten zugeschrieben wird, betont Otfrid im Evangelienbuch die Einheit bzw. vielmehr das Eins-Sein von Wort und Schöpfer. Das Wort ist der Schöpfer und der Schöpfer ist das Wort. Diesem Gedanken zugrunde liegt die Annahme, dass das Wort in der Brust des Herrn liegt („Er alleru ánagifti    theru drúhtines giscéfti, / so wés iz mit gilústi    in theru drúhtines brústi. / Iz was mit drúhtine sar    [ni brást imos ío thar], / joh ist ouh drúhtin ubar ál,    wanta ér iz fon hérzen gibar“, II, 1, 7–10). Dadurch, dass der Zustand vor jedem Beginn in den Blick genommen, aber die Existenz des Schöpfer-Wortes betont wird, wird die Überzeitlichkeit des Wortes dargestellt, das, so heißt es bereits in II, 1, 5, „was [...]    er állen zitin wórolti“. In diesem Zustand des Vor-allem-Seins ist es, so heißt es weiter, „so rúmo“ (II, 1, 2), zu weit weg, dass der Mensch es nicht zu fassen vermag. Das Wort, das in der Darstellung des Heliand-Prologs den Menschen über den Heiligen Geist erreicht, wird im Evangelienbuch nun in eine Ferne gerückt, die für den Menschen unerreichbar ist. An das Schöpfer-Wort werden ab II, 1, 21 alle genannten Schöpfungswerke gebunden, um in II, 1, 33 f. auch den Sohn in das Schöpfungsgeschehen einzubeziehen bzw. diesen als immer schon am Schöpfungsgeschehen beteiligt auszuweisen: „Sin wórt iz al giméinta,    sus mánagfalto déilta / al io in thésa wisun    thuruh sinan éinegan sun“. „Druhtin“, Wort und Sohn sind Urheber der Schöpfung; die Schöpfung also ist das Werk der Trinität, aus deren Mitte heraus sie sich vollzieht, indem über sie beraten wird („so wás ses io gidátun,    sie iz allaz sáman rietun“, zuerst II, 1, 16). Die Schöpfungshandlung geht bei Otfrid aus von der cooperatio des Vaters und des Sohnes, bei/in denen das Wort liegt, aus dem heraus sich Schöpfung entfaltet. Dabei läuft die sich so entwickelnde Schöpfungshandlung geradewegs auf das Erscheinen des Sohnes in der Welt zu. Mit seinem Eintreten in das Erschaffene erscheint so schließlich das schöpfungshandelnde Wort in der Welt: Das Wort wird Mensch und ist als Mensch für die anderen Menschen sichtbar. Es ist diese Vorstellung eines vermenschlichten Schöpfers, die alle besprochenen Texte eint. Dabei kann jene Vermenschlichung auf unterschiedliche Art ausgedrückt werden. Zum einen werden volkssprachliche Bezeichnungen angeführt, die aus dem weltlichen 188 | Auswertung und Schlussbetrachtungen

Kontext, genauer aus dem Kontext des Gefolgschaftswesens bekannt sind. Der Schöpfer erscheint so als Gefolgsherr oder Herrscher, als mächtig oder siegreich. Zum anderen wird eine Gleichsetzung von Mensch und Schöpfer über das Wort errichtet: Der Mensch, der das schöpfungshandelnde Wort kennt und weiterträgt, ist wie der Schöpfer, weil auch dieser am Anfang das Wort gesprochen hat. In der Kippfigur („de poeta“) verschwimmt die Unterscheidung zwischen Mensch und Schöpfer(-Gott), weil sie nicht eindeutig auf Mensch oder Schöpfer verweisen, sich aber im Kontext, in dem sie stehen, gleichermaßen plausibel auf den Menschen und den Schöpfer beziehen können. Zuletzt lässt Otfrid das schöpfungstragende Wort in Gestalt des Menschen in der Welt erscheinen. Die Vorgabe der Präsenz des Logos in der Welt findet Otfrid im Johannesevangelium. Indem in Hs. V die ersten Verse des Johannesevangeliums in roten Majuskeln neben den Text in II, 1 eingetragen wurden, wird auf diese Vorgabe explizit verwiesen. Der Gedanke eines Schöpfers, der Mensch sein kann, ist genuin christlich, wobei nicht zu vergessen ist, dass der Mensch, der nach christlicher Auffassung in der Welt erscheint, der Logos ist und bleibt, während ja im Heliand-Prolog das Wort ganz neue Träger findet. Diese sind nun nicht mit dem Wort selbst identisch, sondern bekommen das Wort von außen eingegeben. Trotz der unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wer Träger des Wortes ist und sein darf, sind sich die besprochenen Texte doch darin einig, dass das rein Geistige, der Schöpfer nur als Mensch erfassbar ist. Nur wenn der Schöpfer, der Logos als Mensch erscheint, wird er konkret vorstellbar und erscheint vertraut.

9.3 Die Schöpfung und ihre Träger Neben der Tatsache, dass das Wort wie im Heliand-Prolog oder in Otfrids Evangelienbuch als schöpfungsinitiierendes, also als vom göttlichen Schöpfer ausgesprochenes Wort ausgewiesen wird, wird die Bedeutung des Wortes in den besprochenen Schöpfungsdarstellungen auch auf einer anderen Ebene herausgestellt: Die jeweils dargestellten Schöpfungsvorstellungen liegen nämlich, so will es die Fiktion, immer wieder im Wort, und so ist es der Verweis auf das Wort, auf das Sprechen oder Singen, der die Schöpfungsdarstellungen begleitet. Beda erzählt die Geschichte Caedmons, der durch eine Vision zum dichterischen Wort findet, das ihn schließlich ins Kloster führt. Was Caedmon in seiner eigenen Sprache singt, steht in den beiden frühesten Überlieferungsträgern des Hymnus jeweils zumindest als Marginaleintrag. Im Beowulf wird der Scop vorgestellt als der, der vom Ursprung der Menschen erzählen kann. Dabei wird sein Gesang zum Auslöser für die Handlung des Epos, weil dieser von Grendel gehört und zum Anlass genommen wird, die Dänen in der Halle zu überfallen. Der Scop-Gesang, der um den Anfang allen Lebens kreist, bildet damit den Anfangspunkt der Ereignisse, die im weiteren Handlungsverlauf des Epos auserzählt werden. Dem singenden Scop werden so selbst schöpferische Qualitäten zugeschrieben: Wie Die Schöpfung und ihre Träger | 189

der Schöpfer, von dem er singt, ist er mit seinem Gesang selbst ein Anfang-Setzender. Im Wessobrunner Schöpfungshymnus ist es ein Ich-Sprecher, der in Stabreimen vom Voranfang erzählt, über den er Bescheid weiß, weil die „firaha“ davon erzählen; im Prosateil dann ist es ein Ich, das sich dem Schöpfergott im Gebet zuwendet. Im Heliand-Prolog wird die Weiterbzw. Übergabe des Wortes dargestellt und dies mit einem klaren Auftrag verbunden: Das Wort ist allein dazu da, festgehalten zu werden. Es geht um das Fixieren des Wortes, das nicht ein verklingendes sein soll, sondern eines, das sich materialisiert. Im Zuge der göttlichen Schöpfung, das wird im Prolog des Heliand immer wieder betont, wird das Wort, bringt das Wort etwas hervor, wobei nun auch die Evangelisten den Auftrag bekommen, eben dies zu tun und das Wort also werden zu lassen. Sie sollen das Wort in der Schrift einfangen und aufheben. Das Wort wird hier als wirksames Wort herausgehoben. Bei Otfrid ist Schöpfung etwas, über das beraten werden will, etwas, das inmitten der Unterredung zwischen Vater und Sohn stattfindet. Das Wort ist auch hier ein schaffendes, wirksames Wort, das jedoch nicht weitergetragen, sondern im Blick auf den Zeitpunkt des Anfangs an den Logos rückgebunden wird. Mit Ausnahme des Evangelienbuchs Otfrids wird das Wort in den besprochenen Texten als emanzipiertes Wort dargestellt, als eines, das nicht ausschließlich an Gott gebunden ist, sondern auch durch andere Instanzen vermittelt werden kann. In Isidors Etymologiae heißt es, dass der Sohn Gottes bzw. Gott selbst sowohl Wort als auch Fleisch und damit sowohl Mensch als auch Gott ist. In Gott fallen Wort und Fleisch in eins. Diese Vorstellung streicht Otfrid heraus, indem er Schöpfung an den Logos anbindet, von dem sie nicht entkoppelt wird. In den anderen Texten hingegen wird sie erweitert, indem das Wort an den Menschen weitergegeben wird und also nicht mehr (in und bei) Gott ist, wodurch schließlich auch göttliches Potenzial an den Menschen abgegeben wird. Dieser verbreitet das Wort dann selbst weiter und trägt es in die unterschiedlichsten Kontexte hinein: ins Kloster, in den Kreis der feiernden Dänen, ins Gebet, in die Schrift. Es ist die Rolle des Menschen im Schöpfungsganzen, die in den besprochenen Texten reflektiert wird. Der Mensch ist Voraussetzung der Schöpfungshandlung oder wird im Zuge der Schöpfungshandlung schon mitgedacht. Dabei wird der Urheber der Schöpfung als Mensch gezeichnet, was im Hinblick auf die Heilsgeschichte plausibel ist, weil Jesus Christus, der sowohl Wort als auch Fleisch ist, als Mensch in der Welt erscheint. Am Ende ist es dann der Mensch (der nicht Jesus Christus ist) selbst, der sich das Wort und damit schöpferisches Potenzial aneignet. Dieses Potenzial drückt sich darin aus, dass er von der Schöpfung erzählt und so sein Wissen um die Schöpfung im und durch das Wort an andere weitergibt und mit seinem Wort etwas bewirkt: Caedmon begründet die englische Literaturgeschichte; der Gesang des Scop im Beowulf wird zum Ausgangspunkt der Handlung des Epos; die Evangelisten im Heliand begründen durch das Fixieren der Geschichten von Jesus Christus die christliche Religion, und das Ich des Wessobrunner Schöpfungshymnus

190 | Auswertung und Schlussbetrachtungen

erzählt, was es weiß, unter der Überschrift „de poeta“. Dadurch wird sein Erzählen von vornherein unter den Aspekt des schöpferisch Wirksamen gefasst. Das jeweilige Erzählen von Schöpfung ist stets ein individuelles Erzählen, denn die Schöpfungserzählungen sind nicht identisch, sondern weichen voneinander ab. Das Medium, in dem Schöpfungsdarstellungen sich weitertragen lassen, ist gesetzt, wogegen der Schöpfungsverlauf, die Schöpfungswerke und deren zeitliche wie räumliche Anordnung nicht festgefügt sind. Das Medium ist das Wort. Nur im Wort kann Schöpfung weitergetragen werden – wobei der das Wort besitzende Mensch mit der erzählten Schöpfung kreativ umgehen kann. Das Wort ist sein Wort, er spricht es aus in seiner Sprache, die nicht die Gelehrtensprache ist, er erzählt eine individuelle Geschichte vom Anfang, und er erhebt sich als Besitzer des Wortes in den Stand des „poeta“, des Dichters, der mit dem Schöpfer von Himmel und Erde gleichgesetzt werden kann, weil er das Wort kennt, das allein schöpferisch wirksam ist, weil es etwas Neues begründet. Darüber wird dem Menschen ein schöpferisches Potenzial zugewiesen, das sich eben im Erzählen, Singen und Schreiben widerspiegelt. Schon im Frühmittelalter wird das dichterische Wort so als kreative Leistung anerkannt – wobei diese Anerkennung noch nicht ganz ohne Legitimationsbemühungen auskommt. So zeigt zumindest Bedas Caedmon-Erzählung aufs Eindrücklichste, dass der kreative Mensch zunächst auf göttliche Eingebung angewiesen ist, die ihn erst zum Dichten und Singen – in der eigenen Sprache – berechtigt. Ähnlich ist es auch bei den Evangelisten im Heliand-Prolog, die wie Caedmon Hilfe vom Himmel bekommen, von dem aus ihnen exklusives Schöpfungswissen eingegeben wird. Das schöpferische Potenzial von Dichtung wird so zwar erkannt, aber es wird behutsam mit dieser Erkenntnis umgegangen: Es muss noch ausgelotet werden, wer in den Besitz des Wortes kommen kann und darf. So ist die in jedem Text verhandelte Frage danach, wer das Wort denn nun hat – der Hirte, der Scop, das Ich, die Evangelisten, ausschließlich Gott selbst – die vorrangige. Diese Einigkeit zwischen den Texten, die sich im Hinblick auf die Klärung der Frage nach den Voraussetzungen des Wort-Führens sowie die Herausstellung des Potenzials des Wortes, ausmachen lässt, muss nun nicht als Ausdruck gegenseitiger Anregung oder des direkten Kontakts zwischen ihnen gewertet werden. Sie verweist aber auf ein gemeinsames Bewusstsein dafür, dass am Beginn des volkssprachlichen Sprechens von Dingen, in die eigentlich nur das Göttliche Einsicht haben kann, zu klären ist, wer eigentlich von diesen Dingen erzählen und darüber schöpferisch tätig werden kann und darf. Die untersuchten Texte sind damit Zeugen einer literarischen Landschaft, die zusammengehalten wird durch ein gemeinsames Problembewusstsein, das auf poetologischer Ebene verhandelt wird: Wer ist Wort-Teilhaber bzw. wer wird zum Wort-Teilhaber, und was kann das Wort, das nun auch volkssprachlich ist, bewirken? Diese Fragen gilt es zu beantworten, wobei das literarische Sprechen über den Anfang geeignet scheint und genutzt wird, um über den Anfang des literarischen, also schöpferischen Sprechens überhaupt nachzudenken. Im Zuge der Darstellung des Anfangs wird gleichzeitig geklärt, wer es ist, der vom Anfang erzählt bzw. Die Schöpfung und ihre Träger | 191

(das gilt für Otfrid) am Anfang erzählt. Die Darstellung von Schöpfung und die damit verbundene Darstellung des schöpferischen Potenzials von Dichtung wird am Beginn der Schriftlichkeit in der Volkssprache so zum Raum für einen regional übergreifenden Diskurs über das Erzählen bzw. die Voraussetzungen und das Potenzial des Erzählens.

192 | Auswertung und Schlussbetrachtungen

Literaturverzeichnis Die nachstehend verwendeten Abkürzungen entsprechen denen der zweiten Auflage des Verfasserlexikons (2VL 1 [1978], S. XI–XXIII und 9 [1995], S. X f.).

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208 | Literaturverzeichnis

Darstellungen von Anfang und Schöpfung in der frühesten volkssprachlichen Literatur

Zusammenfassung Das Fragen nach dem Anfang der Welt und des Menschen gehört zum Menschsein dazu. Eine Vielzahl von Texten, die den unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen und Denktraditionen, den unterschiedlichsten historischen Zeiträumen und Gegebenheiten entstammen, überliefern kosmogonische Theorien. Die Untersuchung wendet sich fünf Schöpfungsdarstellungen in Texten zu, die als frühe und früheste überlieferte Zeugnisse europäischer volkssprachlicher Literatur gelten und zu Beginn und im Verlauf der Christianisierung im heutigen europäischen Raum entstanden sind. Über die Feststellung hinaus, dass Textschaffende des frühen Mittelalters für sich die Entscheidung getroffen haben, die Schöpfung in der Volkssprache zu behandeln, wird zum einen geprüft, ob und inwieweit die jeweiligen konkreten Gestaltungen des Themas übereinstimmen. Zum anderen wird gefragt, was es ist, das die Darstellung von Schöpfung verlangt und wie Schöpfung funktionalisiert wird. Eine gemeinsame Geschichte vom Anfang erzählen die Texte nicht. Vielmehr wird mit dem Erzählen, oder auch nur mit dem Anerzählen einer Schöpfungsgeschichte eine Frage geklärt,die viel vorrangiger ist als die Frage nach der Schöpfung selbst. Nämlich: Wer ist es eigentlich, der von der Schöpfung erzählt? Es wird in diesen frühen Texten in der Volkssprache geklärt, wer in den Besitz des Wortes kommen kann und darf. Es geht um die Frage nach den Grundvoraussetzungen des menschlichen Sprechens von heiligen Inhalten.



Lebenslauf Alisa Heinemann

25.08.1988

geboren in Darmstadt

8/1999 - 6/2008

Besuch der Georg-Büchner-Schule Darmstadt

6/2008

Abitur

10/2008 - 9/2011

Studium der Germanistik und Philosophie (B.A.) an der JGU Mainz

9/2011

Abschluss des B.A.-Studiums

10/2011 - 9/2014

Studium der Germanistik mit Schwerpunkt Literaturwissenschaft (M.A.) an der JGU Mainz

9/2014

Abschluss des M.A.-Studiums

seit 10/2014

Promotionsstudentin im Fach Ältere Deutsche Literatur

07/2020

Abschluss des Promotionsstudiums

10/2014 - 4/2020

wiss. Mitarbeiterin am Deutschen Institut der JGU Mainz

seit 4/2020

wiss. Mitarbeiterin am Germanistischen Seminar der CAU zu Kiel