Daidalische Diskurse: Antike-Rezeption im Zeitalter der High Techne 9783050084671, 9783050041407

Wandlungen im Charakter der literarischen Antike-Rezeption bezeugen ebenso wie die Bestandsaufnahme und Problematisierun

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Daidalische Diskurse: Antike-Rezeption im Zeitalter der High Techne
 9783050084671, 9783050041407

Table of contents :
Einleitung
STATUEN
1. Monument und Performance
2. Michel Serres und die »Urszene« der Statue
3. Piatons Gyges und das historische Lydien
4. Kroisos und Theseus
5. Antike Schamkultur
6. Gyges und der Immoralismus: Die Wiederkehr des Gyges-Problems in der Moral theorie
GRABUNGEN
7. Von der New Archaeology zur Contextual Archaeology: Ian Hodder und die Peirce-Rezeption in der Archäologie
8. Charles Peirce und Heinrich Schliemann: Historische Voraussetzungen der Peirce-Rezeption in der Archäologie
9. Mommsens Block
FIGUREN
10. Personalfigur oder Selbst ohne Eigenschaften? Zur Rezeption antiker Personalitätsmodelle in der Gegenwart
11. »Aber was will mein liebes Herz das alles erwägen?« Homer im Widerstreit zwischen archäologischer Inszenierung und indizieller Lektüre
TECHNAI
12. Sextus Empiricus: Unterweisung in den Künsten
13. Techne und Technik
14. Die Reintegration der Techne in die Kultur
15. Techne-Diskurse von John Stuart Mill bis Randolph Rutsky
ZEICHEN
16. Peirce’ »Zeichenkunst« und die hellenistische Semiotik
17. Zeichen und Phantasia
ANHANG
Literaturverzeichnis
Namenverzeichnis

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Michael Franz

DAIDALISCHE DISKURSE

LITERATURFORSCHUNG

Herausgegeben für das Zentrum für Literaturforschung von Eberhard Lämmert und Sigrid Weigel

Michael Franz

DAIDALISCHE DISKURSE Antike-Rezeption im Zeitalter der High Techne

Akademie Verlag

Titelabbildung: Adolf Brütt, Mommsen-Denkmal, 1909. Marmor. Berlin, Humboldt-Universität Foto: Klaus B o j a h r

ISBN 3-05-004140-4

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übertragung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einband- und Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: MB Medienhaus Berlin G m b H Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Einleitung

VII

STATUEN 1. Monument und Performance 2. Michel Serres und die »Urszene« der Statue

3 18

3. 4. 5. 6.

28 43 55

Piatons Gyges und das historische Lydien Kroisos und Theseus Antike Schamkultur Gyges und der Immoralismus: Die Wiederkehr des Gyges-Problems in der Moraltheorie

70

GRABUNGEN 7. Von der New Archaeology zur Contextual Archaeology: Ian Hodder und die Peirce-Rezeption in der Archäologie 8. Charles Peirce und Heinrich Schliemann: Historische Voraussetzungen der Peirce-Rezeption in der Archäologie 9. Mommsens Block

87 108 127

FIGUREN 10. Personalfigur oder Selbst ohne Eigenschaften? Zur Rezeption antiker Personalitätsmodelle in der Gegenwart 11. »Aber was will mein liebes Herz das alles erwägen?« Homer im Widerstreit zwischen archäologischer Inszenierung und indizieller Lektüre

149

167

TECHNAI 12. 13. 14. 15.

Sextus Empiricus: Unterweisung in den Künsten Techne und Technik Die Reintegration der Techne in die Kultur Techne-Diskurse von John Stuart Mill bis Randolph Rutsky

199 211 228 235

VI

INHALT

ZEICHEN 16. Peirce'»Zeichenkunst« und die hellenistische Semiotik 17. Zeichen und Phantasia

265 277

ANHANG Literaturverzeichnis Namenverzeichnis

295 308

Einleitung

Wandlungen im Charakter der literarischen Antike-Rezeption (Übersetzung des Mythos ins Alltägliche, feministische Re-Lektüre der Mythen, historische Bilanzen, Infragestellung imperialer Strukturen von Zentrum und Peripherie) bezeugen ebenso wie die Bestandsaufnahme und Problematisierung der philosophischen Tradition, archäologische und kulturwissenschaftliche Neuansätze, daß die Antike auch im gegenwärtigen Stadium der Selbstrevision der Moderne eine gewichtige Rolle spielt - als historischer Referenzpunkt der Neuorientierung angesichts der Herausforderungen der Gegenwart. Zugleich ist die Antike-Rezeption (in okzidentaler Tradition) selbst problematisiert und nach ihrer jeweiligen Funktion in der Geschichte befragt worden; entsprechend hat die wissenshistorische Forschung die Archäologie eingeholt und den Begriff von Archäologie und archäologischem Denken erweitert. Die auffällige Renaissance und zentrale Bedeutung der Antike steht nicht im Zeichen einer Reetablierung der Tradition, sondern einer an Bruchstellen orientierten Genealogie von Problematisierungsweisen und einer Vielzahl von neuen Fragen, die an die Antike gerichtet werden. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho hat von einem noch im Entstehen begriffenen »neuen Bild der Antike« gesprochen, das sich sowohl einer in ihrem kulturwissenschaftlichen Ansatz und ihrem Methodenarsenal erweiterten und neu fundierten Archäologie verdanke als auch dem Aufschwung transdisziplinärer Forschung: »Neue Erkenntnisse über die Antike verdanken wir der Stadt- und Agrargeschichte, der Technik- und Wissenschaftsgeschichte, der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, vor allem aber auch der Schrift- und Mediengeschichte.«1 Doch es geht nicht nur um neue Funde und Interpretationen, um den auf vielen Schauplätzen entbrannten Streit der erklärenden Hypothesen, sondern auch darum, in welcher Hinsicht und auf welchen Feldern Antike für die heute lebenden Generationen etwas Unabgegoltenes, heuristisch Produktives und Unruhestiftendes hat; und dies hängt wie jedes Bild der Antike mit den heutigen Problemlagen, Ungewißheiten und Projektionen des sozialen Imaginären zusammen.

1

Thomas Macho: »Als Abschiedscocktail einen Cicero light. Ein neues Bild der Antike entsteht aber keiner schaut hin«, in: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen, Heft 10, Okt. 2001, S.27.

EINLEITUNG Das Interesse an antiker Technik- und Mediengeschichte ist im Problemhorizont der Gegenwart zu bewerten, in dem sich auf die Frage aufdrängt: Welchen Platz und welche Ansatzpunkte findet Antike-Rezeption in der hoch technisierten und medialisierten Welt der modernen westlichen Gesellschaften? Als Daidalische Diskurse werden im vorliegenden Buch zeitgenössische Debatten über das Verhältnis von Technik, Wissenschaft und Kunst, über die Grenzen von Kunst und Nichtkunst, über die »Zwei Kulturen« und über die Möglichkeitsbedingungen für eine »Dritte Kultur« verhandelt, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, daß sie sich vielfach mit einer erneuten Befragung des griechischen Techne-Begriffs verbinden. Dieser wird neu bewertet: nicht als Ungeschiedenheit des noch nicht Ausdifferenzierten, sondern als Modell eines kulturellen Feldes, in dem Differenzierungsprozesse nicht notwendig zu Dichotomien und Ausschlüssen führen müssen. Das Spektrum des Daidalischen ist bereits genealogisch so differenziert und umfassend wie es die Aktionsfelder des kunstvollen Fertigens sind (ausgehend von der Grundbedeutung des Behauens und Spaltens). Daidalos ist erst durch Individualisierung der Kunstfertigkeit zum Eigennamen geworden. Zugleich signalisiert der Name die Zuweisung der primär dem göttlichen Hephaistos zukommenden Kunstfertigkeit an einen Sterblichen. Als Erfinder des Labyrinths (als Bauwerk und/oder Labyrinthtanz) und Konstrukteur des ersten Fluggeräts antizipiert Daidalos den Weg vom protos heuretes zum Ingenieur, gerühmt als polymetis und ausgezeichnet durch polymechania. In der fortgesetzten Arbeit am Mythos wird auch die mit Hephaistos verbundene erste Utopie des beweglichen und selbsttätigen Werkzeugs vor allem mit dem Namen Daidalos verknüpft. Die goldenen Jungfrauen des Hephaistos bewegen sich nicht bloß, sie gehen ihrem Erfinder zur Hand und verrichten Arbeiten und Dienste. In diesem Sinne hat Aristoteles die Legende von den daidalischen Figuren aufgefaßt und als technische Utopie zur Lösung der Sklavenfrage zur Sprache gebracht. Darin unterschied er sich von den frühen Kunsttheoretikern des 5. Jahrhunderts v. Chr. Diese haben die daidalischen Figuren auf die ersten Ansätze zur Bewegungsdarstellung in der Plastik zurückgeführt und die Hypothese von der historischen Existenz eines großen archaischen Bildhauers namens Daidalos aufgestellt. Mit der Entdeckung früharchaischer Skulpturen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hat man ernsthaft damit begonnen, nach einem historischen Bildhauer Daidalos zu fahnden, wirksam in Kreta, das als ein Kunstzentrum des 7. Jahrhunderts v. Chr. erkannt wurde. Es hat sich eingebürgert, den neuen Stil, der sich zu dieser Zeit herausbildete, als daidalisch zu bezeichnen. Selbst wiederum in Früh-, Reife- und Spätphase differenzierbar, umfaßt der daidalische Stil den Zeitraum von 6 8 0 - 6 2 0 v. Chr. Möglicherweise wurden die relevanten Gestaltungszüge aus dem Nahen Osten in die Ägäis übertragen. Mit dieser Problematik hat sich jüngst die Archäologin Sarah Morris in ihrem viel beachteten Buch Daidalos and the Origins of Greek Art (1992) befaßt. Indem sie Fragen und Anregungen von Edward Said und Martin Bernal aufgriff, hat Morris das Problem und die Genealogie der daidalischen Kunst in ein neues Aufmerksamkeitsfeld gerückt.

EINLEITUNG

Von Piaton bis Seneca ist Daidalos eine paradigmatische Referenzfigur in den antiken Diskursen über Differenzierungen im Begriff der Techne, der sich zunächst weitgehend mit dem griechischen Kulturbegriff deckte; die verschiedenen Technai im antiken Griechenland umfaßten die Kultur insgesamt. Insbesondere Aristoteles hat versucht, die Techne als Aktivitätsstruktur zu spezifizieren; Techne wird einerseits von Erfahrung, andererseits von Wissenschaft abgegrenzt. Aristoteles unterschied die Techne-Künste und die aus operativ-praktischen Gebrauchszusammenhängen herausgelösten theoretischen Wissensformen nach dem Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Techne löst den Widerspruch zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen nicht durch Subsumtion oder Deduktion, sondern durch einen Habitus des Herstellens, der einen produktiven Umgang mit dem Zufälligen einschließt. Der Bereich des Kontingenten, in dem Veränderungen und Umformungen möglich sind, ist die Domäne der Techne. Die Betonung des Zufalls unterstreicht sowohl den Trial-and-Error-Hintergrund der Regelgenerierung als auch die notwendige Flexibilität der Regeln und ihrer Anwendung und verweist auf die Unverzichtbarkeit der Abschätzung und geschulten Aisthesis sowie jener glücklichen Mutmaßung, die Piaton als ein Defizit der Technai im Vergleich zu den Wissenschaften vermerkt hat. Daidalische Diskurse gestalten sich in der griechisch-römischen Antike als Debatten über Wert und Kriterien der Techne, über das Verhältnis von Techne und Tyche, über Methode und Inspiration, über Nützlichkeit und Mißbrauch, über das Verhältnis von leitenden und ausführenden Künsten, über die Anordnung der Künste in einer Hierarchie der Zwecke, über Telosbestimmungen und Funktionslust der Gestaltung, über Differenz und Verbindung zwischen technologischen und ästhetischen Gestaltungsweisen. Da das kunstvolle Fertigen auch die gestaltwirksame Formgebung einschließt, ist dem Daidalischen eine ästhetische Komponente immanent. Auch von dieser Seite her betrachtet verwundert es nicht, daß Techne, wie Heidegger formuliert, »nicht nur der Name für das handwerkliche Tun und Können, sondern auch für die hohe Kunst und die schönen Künste« 2 ist. Eine wirkungsmächtige Figur des Daidalischen ist die Wegbereitung der Automatopoietike, die sich als Arbeit an der realen Kinetisierung der Statue darstellt. Die »mechanischen Kunstwerke« der alexandrinischen Ingenieure im 3.Jahrhundert v.Chr. markieren eine historische Zäsur: den Übergang von den handwerklichen zu den mechanischen Künsten. Die hellenistischen Ingenieure überwanden traditionelle Grenzen zwischen Handwerk, Bildhauerkunst und Wissenschaft. Sie schufen die daidalische Kunst der Automatopoietike und beschrieben sie in ihren Handbüchern zur Mechanik. Ihre Statuen mit mechanisch beweglichen Teilen und ihre Automatentheater, deren Figuren sich nicht nur fortbewegen, sondern beispielsweise auch hämmern und Schiffe ausbessern konnten, sprengten den Rahmen der tradierten Kunstformen und gewannen ein Eigenleben zwischen wissenschaftlicher Demonstration, experimentellem Spiel und ästhetischem Objekt, das Lust an der Gestaltung selbst erregte. Die Automaten dienten ebenso dem Genuß der Kenner (vorwiegend im Kontext von Sym-

2

Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1990, S. 16.

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EINLEITUNG

posien und privaten Festen) wie der Volksbelustigung und der Propaganda für das Herrscherhaus. Es ist symptomatisch für den gesamtkulturellen Kontext heutiger Antike-Rezeption, daß diese Automatopoioi seitens der klassischen Archäologie und der Kunstgeschichte erneut betonte Beachtung finden (Henner von Heesberg, Horst Bredekamp u. a.). Die an der Automatopoietike orientierte, auch im Mittelalter nicht vergessene daidalische Tradition (das belegen Automatenlegenden) wurde in der Renaissance auf neue Grundlagen gestellt. Mitte des 17. Jahrhunderts rühmte der englische Mathematiker John Wilkins Daidalos »to be one of the first and most famous among the ancients, for his skill in making automata or self-moving engines«.3 Im Manierismus kamen zugleich andere Seiten der mythischen Figur des Daidalos zur Geltung, die in der Automatentradition eher vernachlässigt wurden: die Obsession für Labyrinthe, die Mischung von Klarheit und Enigmatik, das Ineinanderübergehen von methodischem Entwerfen und Bricolage. Gustav Rene Hocke hat Figuren und Techniken des Daidalischen im Manierismus in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts untersucht und deren Rezeptions- und Aneignungsgeschichte als eine spezifische daidalische Traditionslinie beschrieben. Die daidalische Kunst der Automatopoietike bzw. der kinetischen Statue läßt sich über die Automatenfiguren des 18. Jahrhunderts bis zum Bruch mit dem anthropomorphen Mimetismus der Automatenkunst verfolgen, den die kinetische Plastik der Avantgarde vollzogen hat. Im 20. Jahrhundert hat sich die Automatopoietike zur Robotik und darüber hinaus zu KI- und KL-Forschung und -Technologie entwickelt; ohne den Kontakt zu dieser Entwicklung zu verlieren, hat die ästhetische Kinetik eigene Wege gesucht, die von der Elektrifizierung der Kunst zur Kybernetisierung und zur techno-kulturellen Performance gefuhrt haben. Im Unterschied zur »pygmalionischen Ästhetik« des 18. Jahrhunderts (Inka Mülder-Bach) betont die daidalische Ästhetik die »Kunst als Verfahren« und betreibt die Reintegration der Techne in die Kultur. Die daidalische Ästhetik beginnt im 20. Jahrhundert mit den Künstler-Konstrukteuren der Avantgarde; doch es gibt nicht nur einen Typ daidalischer Ästhetik. Mit Stephen Dedalus betritt ein daidalischer Künstler die Bühne, der weder einem technologischen Optimismus verfällt, noch einer Spielart des Funktionalismus zuzurechnen ist. In Joyce' Chaosmos figuriert das Daidalische auf doppelter Ebene: als Romanfigur und als Autor, der in spannungsvollen Beziehungen zwischen mythischen und operationalen Elementen, Logik und Imagination, einen neuen Sinn für Konstruktion demonstriert. Symptomatisch für die Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Modellen einer daidalischen Ästhetik im 20. Jahrhundert ist die Tatsache, daß Moholy-Nagy am New Bauhaus in Chicago bereits Anfang der 40er Jahre mit den Studenten Joyce' Ulysses und Finnegans Wake gelesen und diskutiert hat.

3 John Wilkins: Mathematical Magic: or, the Wonders that may be performed by Mechanical Geometry in two Books (1648), zit. nach: The Mathematical and Philosophical Works of the Right Rev. John Wilkins, 2 Bde., London 1802 (Reprint London 1970), Bd. II, Vorwort ο. P. (vor S. 93).

EINLEITUNG

Daidalische Diskurse sind Techne-Diskurse, die die ästhetische Dimension von Gestaltung nicht aus dem Blick verlieren. Im 18. Jahrhundert fanden sie ihren Theoretiker in James Harris, der ein umfassendes Feld technischer und sozialer Künste konzipiert hat, in das die schönen Künste in funktioneller Differenziertheit und ästhetischer Eigenwertigkeit integriert waren. Nach Maßgabe der radikalen Trennung von schönen und mechanischen Künsten wurde jedes wie immer modifizierte bzw. neu begründete Festhalten an der Weite und Komplexität des griechischen Techne-Begriffs allerdings als vormodern abgestempelt. Doch der Ausschließlichkeitsanspruch des autonomieästhetischen Kunstbegriffs wurde keineswegs ausnahmslos akzeptiert. Ebensowenig wurde darauf verzichtet, dem universellen Anspruch der Wissenschaft die selbständige Aktivitätsform der Techne-Künste gegenüberzustellen und dieser eine eigene Domäne zu sichern. Der durch Harris neu gefaßte Techne-BegrifF bildete vor allem eine angelsächsische Tradition, die über Mill, Peirce und Dewey bis zu Herbert Simon und Peter Galison fuhrt. Letzterer hat auch im Bereich der Forschung von der »reinen Theorie« verschiedene Techne-Künste unterschieden, die er als experimental arts und arts of instrument making bezeichnet. In wissenschaftsgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Sicht wächst heute das Interesse am Eigenleben des Experiments außerhalb der Aufgabe, Daten zu liefern, um spezifische Theorien zu bestätigen oder zu widerlegen. Ebenso konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf das Hinausgreifen der arts of instrument making über die Grenzen des Labors; indem neue Muster des Gebrauchs generiert werden, vermitteln die Instrumente zwischen verschiedenen Bereichen der Praxis. Auch in sich erweiternden Nutzungsmöglichkeiten erweist sich das Eigenleben der arts of instrument making, die zugleich auf den Bereich der fine arts übergreifen. Gerade dies läßt sich am Computer zeigen, der, wie Ian Hacking bemerkt, auf beiden Seiten der Experiment-Theorie-Wasserscheide arbeitet und zugleich eine faszinierende Mischung der Wissenschaften mit einigen Künsten ermöglicht. Nimmt man Wissenschaft nicht nur als Theorie, dann muß die wechselseitige Abgrenzung von Kunst und Wissenschaft ohnehin problematisiert werden. Der durch die Autonomieästhetik hindurchgegangene Kunstbegriff tritt in eine engere Verbindung zu den wissenschaftlichen Subkulturen der experimental arts und der arts of instrument making, ohne die Selbständigkeit beider Aktivitäts- und Operationsformen in einem übergreifenden Feld moderner Techne-Künste in Frage zu stellen. Auf der anderen Seite gewinnen praktische, technische und architektonische Gestaltungsweisen auf der Grundlage neuer Technologien, Materialien und Funktionen eine eigene ästhetische Dignität und Wertigkeit, die nach autonomieästhetischen Kunstmaßstäben überhaupt nicht zu erfassen ist. In den daidalischen Diskursen, in denen Antike-Rezeption und Kulturdiagnostik eine produktive Verbindung eingehen, finden sich auch Problematisierungen des Daidalischen; in der Literatur (ζ. B. in Olivier Pys L'Exaltation du Labyrinthe, dt. Die Feier des Labyrinths, 2000) und in der Ästhetik ebenso wie in der Philosophie der Wissenschaften. Gewiß sind Sprung und Selbstüberhebung als trotzige Abnabelung vom Vater wichtige Gesten der ästhetischen Moderne; der Sturz kann zum Sturzflug umgewertet werden. Es ist jedoch ebenso einseitig, das »ikarische Prinzip« als Symbol der internationalen Avantgarden zu reklamieren wie es falsch ist, das Daidalische als Ana-

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EINLEITUNG

logisierung von Sinngarantie und Lebenswille abzuwerten. Dies bleibt innerhalb eines bestimmten Traditionszusammenhangs, der seinerseits nicht problematisiert wird: das Ikarische als Alternative zur Vereinnahmung des Daidalischen für jeglichen Positivismus des Bestehenden (vom goldenen Mittelweg bis zum juste milieu).4 Nach Auffassung des französischen Genforschers Francois Jacob hat der rebellische Selbsthelfer Prometheus (»die aktive Sünde ist die eigentliche prometheische Tugend«, Nietzsche) dem Ingenieur Daidalos das Feld überlassen, dessen Kunst es seinen Auftraggebern ermöglicht, sich ihrer Hybris zu widmen, während er selber die Auseinandersetzung scheut und sich erst recht nicht zur Auflehnung versteigt: ein Übel unserer Zeit, wie Jacob formuliert.5 Ein anderes Daidalosbild zeichnet Bruno Latour: Daidalos wird zum »Eponym« eines alternativen Technikverständnisses, das die Dichotomie Gesellschaft als Subjekt / Natur als Objekt aufbricht; Latour plädiert für ein kooperatives Verhältnis zwischen menschlichen Akteuren und nichtmenschlichen Aktanten, Daidalos und Daidalia bilden ein Kollektiv: die bisher ausgeschlossenen und zum bloßen Objekt degradierten Mittler werden als Pseudoobjekte bzw. Pseudosubjekte rehabilitiert und aufgenommen.6 Die ganze Spannweite des Daidalischen in der Komplexität und Widersprüchlichkeit seiner kulturellen Techniken und Figuren zeigt die 1958 gegründete wissenschaftliche Zeitschrift Daedalus. Journal of the American Academy of Art and Sciences. Die Themenhefte und Bucheditionen reichen von Myth and Mythmaking (1958), The Visual Arts Today (1960), Science and Technology in Contemporary Society (1962) über The Future of the Humanities (1969), Science and Culture (1970), The Historian in the World of the 20th Century (1971) bis zu Books, Bricks, and Bytes (1996), Bioethics and Beyond (1998), On Intellectual Property (2002). Einen besonderen Höhepunkt markierte die Edition The Artificial Intelligence Debate (1989, deutsch als Band IX der Reihe Computerkultur des Springer Verlags, Wien - New York erschienen), in der Geschichte und Probleme der KI-Forschung in ihren computerwissenschaftlichen, wissenschaftspolitischen, ökonomischen, philosophischen und ästhetischen Aspekten erörtert wurden. In den späten 80er Jahren wurde die Zeitschrift Daidalos. Architektur, Kunst, Kultur gegründet, die sich dadurch auszeichnet, daß in kaum einem Heft ein relevanter Antike-Bezug fehlt. Themenhefte wie Wahrheit und Lüge in der Architektur, Balanceakte und Flugträume, Körper und Bauwerk, Monumente, Memoria, Extreme Topographien und Rhetorik verweisen auf die Weite des Daidalischen, das auch in der Antike-Rezeption der Jahrtausendwende neu vermessen wird.

4 Vgl. Christian Dawidowski: »Nietzsche und das vielbeschworene Seilläufertum. Das Prinzip des Ikarischen als Denkbild der Epochenschwelle«, in: Weimarer Beiträge, Heft 4/2002. 5 Francois Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch. Uber die moderne Genforschung, München

2000, S. 8 8 - 9 4 . 6 Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit von Wissenschaft, Frankfurt/M. 2000.

STATUEN

Michelangelo Pistoletto: Lumpenvenus. Zementguß mit Glimmer, Lumpen. Installation Galleria G. E. Sperone, Turin 1968 nach: Reto Krüger, Nach der Antike, Essen 2004 (Schriftenreihe des Instituts für Kunst- und Designwissenschaften der Universität Essen-Duisburg, Bd. 9), Abb. 10

1. Monument und Performance

Schmarsows Begriff des Monuments als gemeinsamer Ausgangspunkt von Architektur und Plastik Die Statue gilt in der europäischen Tradition als ein Paradigma der bildnerischen Kunst der Griechen. So bei Hegel und auch noch bei Heine, aber schon nicht mehr bei Baudelaire, der auf karibische Idole/Fetische zurückgeht: Vorläufer des Primitivismus als avancierter Kunstrichtung der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts. Schon Heine hat den Widerstreit von Form und Fleisch, Marmor und Tanz, Statue und Musik in vielfältigen Brechungen und wechselseitigen Spiegelungen motivisch verarbeitet.1 Michel Serres hat das Thema erneut aufgegriffen und obsessiv besetzt, allerdings bezieht er sich nicht auf Heine, sondern auf Balzac.2 Heute ist vielfach vom Tod der Statue, von ihrer Auflösung in die Performance-Kunst die Rede. Stirbt mit dem Tod der Plastik auch die Antike? Oder wird eine andere Antike konstruiert, ohne die Statue? Auf der anderen Seite gehört die »skulpturale Architektur« zu den Tendenzen der Zeit, und das Verhältnis von Architektur und Skulptur ist ein vieldiskutiertes Thema, wie jüngst auch die große Baseler Ausstellung Archiskulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute belegt. Kehren in solchen und anderen Tendenzen und Neuansätzen Plastik und Architektur an ihren gemeinsamen Ausgangspunkt zurück - das Monument? Die Frage läßt die auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt von Plastik und Architektur bezogene Hypothese August Schmarsows wieder aktuell werden, fordert zu neuerlicher Diskussion heraus. August Schmarsow hat die kultur- und siedlungsgeschichtliche Bedeutung der frühgesellschaftlichen Setzung eines freistehenden Mals (Stele, Obelisk usw.) nachgezeichnet, das in einem widerstandsfähigen, dauerhaften Material zum unverrückbaren Monument wird. Schmarsow hat die Genealogie des Monuments aus dem frühgesellschaftlichen Weltverhalten des Anthropismus abgeleitet; darunter verstand er die menschliche Raumorientierung in Analogie zur eigenen 1

Vgl. Jürgen Fohrmann: »Heines Marmor«, in: Christian Liedtke (Hrsg.), Heinrich Heine. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2000. 2 Vgl. Michel Serres: Der Hermaphrodit, Frankfurt/M. 1989.

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STATUEN

körperlichen Organisation. Die aufrechte Vertikalachse des Mals, als Analogmodell zur eigenen hochragenden Gestalt des Menschen, bezeichnet zugleich die Stelle, wo die Wege der beiden »monumentalsten Künste« 3 - Architektur und Plastik - auseinandergehen. Die Monumentalität der Plastik zeichnet sich nach Schmarsow durch eine spezifische Spannung aus: »Von unserer eigenen Organisation ausgehend, faßt sie auch andere ähnlich organisierte Geschöpfe [...] auf, während die monumentale Tektonik den kristallinischen Körpern der anorganischen Natur nachstrebt.«4 Die Plastik etabliere sich als »Körperbildnerin«, die Architektur als »Raumbildnerin«. Schmarsow demonstriert dies am Obelisken, von dem ein Weg zum plastischen Gebilde fuhrt, der andere zur Pyramide: »Die Pyramide schon unterscheidet sich vom Obelisken; denn sie ist nicht allein kompakte Körpermasse, sondern beherbergt ein oder mehrere Hohlräume, gehört also schon deshalb notwendig zur Architektur. Mag die Grabkammer für die Mumie des Königs auch noch so klein, das Wohngemach für den abgeschiedenen Geist noch so bescheiden sein im Vergleich zu dem Umfang und der Masse des Ganzen: die Bedeutung der Person steigert auch den Wert des Raumgebildes, das sie umschließt. Der Obelisk dagegen ist ein massiver Körper, ohne Innenraum darin, mag er als Wahrzeichen auch hinreichende Kraft besitzen. [...] Er stellt sozusagen den Auszug aus der aufrechten Menschengestalt dar, mit Abstreifung aller organischen Gliederung und Rundung der Formen, gibt deren wesentlichen Inhalt, unter das Gesetz kristallinischer Regelmäßigkeit gebracht.«5 Anders als der Obelisk bleibt die Plastik dem anthropistischen Ausgangspunkt, der Organisation des menschlichen Körpers, treu, indem sie ihn zum Thema der Darstellung macht. Doch die Darstellung des organischen Geschöpfs scheint in einen »unvereinbaren Widerspruch« zur plastisch angestrebten Tektonik kristalliner Körper zu geraten. »Schon die Gestalt des organischen Gewächses [...] verrät in allen Gliedern die Bedingtheit des Wachsens und Verwelkens [...] Wie weit ist das lebendige Individuum entfernt von der absoluten Geschlossenheit der regelmäßigen Körper, des Zylinders, des Prismas, des Würfels!«6 Dieser Widerspruch wird auf dem Weg zur Plastik durch gewaltsame Fassung organischer in kubische Formen gelöst und neu gesetzt: der Widerspruch bleibt wirksam, wenn die Gesetze des tektonischen Mals auf das menschlichen Individuum übertragen werden. Allerdings treffen sich beide weiterhin in der vertikalen Dominante: beiden gemeinsam sind die Begrenzungen nach allen Seiten: sie ermöglichen die dreidimensionale Körpereinheit: »Das kubische Körpervolumen ist zunächst nach allen Richtungen außer der Höhe gleichwertig; es gibt kein Vorn, kein Hinten, keine rechte Seite, die vor der linken einen Vorrang hätte. Erst die Übertragung der Menschengestalt mit ausgemachter Vorderseite bringt diesen Unterschied hinein [...].« 7 Schmarsow wendet sich nachdrücklich gegen Riegls These, »die antike Kunst müßte die Existenz der

3 4 5 6 7

August Schmarsow: Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Berlin 1998 (1905), S. 175. Ebd., S. 233. Ebd., S. 172. Ebd., S. 234. Ebd., S. 235.

1. MONUMENT UND PERFORMANCE

dritten Dimension - der Tiefe - von Anbeginn grundsätzlich verleugnet haben«.8 Sie mag noch gar nicht darauf verfallen sein, die Raumtiefe als solche darstellen zu wollen. Aber sie braucht trotz alledem die Tiefendimension an ihren Körpergebilden nicht unterdrückt zu haben, wie Schmarsow betont. Wie Obelisk und Pyramide würden auch die altägyptischen Statuen (»trotz aller Zutaten täuschender Wirklichkeitsnachahmung«) immer zunächst als konstitutive Faktoren wirken, »die sich als Körper im Raum behaupten und sich haarscharf von diesem Luftmedium scheiden, wie stereometrische Figuren«.9 Schmarsow nennt die beiden Kolossalstatuen des Amenophis III (Memnon) »unten am Fuß der Berge im freien Tal«. Er verweist auf die bekannten Figuren des Schreibers und des sogenannten Dorfschulzen. »Wer durch die Ausladung der Extremitäten bei Sitzfiguren oder durch die Bewegung der Schreitenden gestört wird, den ästhetischen Raum dieser Statuen zu erfassen, der betrachte nur einmal einen Torso, ein einzelnes abgebrochenes Glied oder gar den Kopf allein, um sich das systematische Verfahren rings um die Mittelachse klarzumachen.«10 Nicht eine Ebene gebe die statuarische Kunst, sondern einen Komplex von krummen Flächen, am allerwenigsten aber gebe sie die Sehebene, sondern so und soviel Tastgrenzen des Körpers. Der Widerspruch zwischen der Tektonik kristalliner Körper und der zoomorphen Bedingtheit des Wachsens und Verwelkens konnte die Plastik nicht anders lösen als dadurch, daß sie die Unbewegtheit ihrer statischen Gebilde durch ein Bewegungsmotiv aufbrach. Lebendigen Ausdruck gewann der tektonisch transformierte organische Körper erst durch ein einheitliches Bewegungsmotiv, solange dieses nicht nur pathognomische Zutat blieb, sondern sich in die gesamte Form einschrieb. Damit hatte Schmarsow einen Begriff des Monuments gewonnen, für den primär nicht eine sakrale oder eine sepulkrale Funktion maßgeblich ist. Schmarsow sprach sich dagegen aus, die monumentale Bedeutung in der sakralen Funktion zu suchen und mit dem Begriff der Monumentalität ohne weiteres einen religiösen Sinn zu verbinden. Wenn in der antiken Welt jeder sakralen Funktion eine monumentale Bedeutung zukam (Alois Riegl), so dürfe dieses Verhältnis doch nicht umgekehrt werden. Das Monumentale haftet nach Schmarsow an fünf Hauptmerkmalen: (1) materielle Gegenständlichkeit bzw. Festkörperlichkeit; (2) dominante Vertikalachse; (3) Dauerhaftigkeit; (4) Unverrückbarkeit; (5) Anthropismus der Raumbezüge. Diese Kriterien des Monuments hat Schmarsow für die Plastik modifiziert: (1) Ganzheitlichkeit als Geschlossenheit; (2) Thematisierung des organischen Körpers, insbesondere des menschlichen Körpers als Darstellungsgegenstand; (3) Widerstreit zwischen der Tektonik kristalliner Körper und zoomorpher Bedingtheit des Wachsens und Verwelkens; (4) einheitlicher Bewegungszug; (5) Transformation des »Gestaltraums« in »Gesichtsraum« als Grenzwert des Plastischen. Die Plastik hat Schmarsow primär als ganzheitlich-geschlossenes Gestaltsystem gefaßt, das in reiner Form nur von der Rundplastik erfüllt wird. Durch ein ausgreifendes Raummaß plastischer Gestaltung wie im Hellenismus wird Ganzheit in Frage 8 9 10

Ebd., S. 236. Ebd., S. 238. Ebd.

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STATUEN

gestellt. Zur Herausforderung wird daher die Gruppenplastik: »Die Plastik sucht ihr Wesen als Körperbildnerin auch bei der Behandlung einer Mehrzahl wenigstens dadurch zu befriedigen, daß sie diese Einzelkörper unter das gemeinsame Gesetz eines Koordinatensystems bringt und einen sie alle zusammenfassenden dreidimensionalen Komplex aus ihnen herstellt. Aber da sie Ebenbilder organischer Geschöpfe, Menschengestalten, zusammenordnet, die diese stereometrische Form eines regelmäßigen Körpers nicht massiv ausfüllen, sondern nur innerlich gliedern und durchsetzen, so bleibt einmal die Körpereinheit, die erreicht wird, eine ideelle, nur in der Vorstellung hervorgebrachte [...], und es entsteht nicht selten gerade dort, wo wir den Schwerpunkt des umschriebenen Körpers suchen würden, ein Raumvolumen oder ein hier und da verteilter Schattenraum zwischen den Gestalten.« 11 Damit tritt ein optischer Faktor neben den körperlich tastbaren. Wo immer der plastische Block und gar ein in sich geschlossenes Gestaltsystem aufgesprengt werden, diagnostiziert Schmarsow die tendenzielle Verwandlung des Gestaltungsraums in einen Anschauungsraum: Plastik als offenes Raumgerüst ist mit Schmarsows Grundbegriffen unvereinbar.

Von Masse zu Bewegung: Läszlo Moholy-Nagy Die von Moholy-Nagy unterschiedenen Formationen plastischer Gestaltung wären nach Schmarsows Kriterien lediglich als Stadien der Auflösung haptischer in offene Formwerte, und damit der Auflösung der Plastik zu bewerten. Moholy faßte die historische Richtung der plastischen Formationen als Tendenz von Masse zu Bewegung zusammen. Er unterschied fünf Stadien: (1) die blockhafte; (2) die modellierte (ausgehöhlte); (3) die perforierte (durchlöcherte); (4) die schwebende; (5) die kinetische (bewegliche) Plastik. Hierbei handelt es sich nach Moholy um einen Zyklus, dessen Stadien - wenn auch nicht in vollem Umfang - sich in jedem Kulturkreis wiederholen können. Darüber hinaus ging es jedoch um plastische Gestaltungsmöglichkeiten, die miteinander konkurrieren können, wenn sie erst einmal entdeckt sind: keineswegs bringen die späteren Stadien alle früheren zum Verschwinden. Moholy schreibt: »ein jeder in sich geschlossene kulturkreis (ägyptisch, griechisch) zeigt im anfang seiner kulturentwicklung den kaum modellierten block und als weiterführung den minder oder mehr sorgfältig modellierten, mit weniger oder mehr tiefgehenden einschnitten. die völlige perforation scheint eine spätgriechische entdeckung zu sein, doch findet sie sich außer in europa auch bei einigen primitiv-genannten Völkern (neger, südsee), wo das skulpturschaffen auf uralte tradition zurückgeht und der übliche Werkstoff - holz, lehm - nicht schwer zu bearbeiten ist.« 12 Moholy hat den Gegensatz zwischen Plastik als Körperbildnerin und Architektur als Raumbildnerin entschieden relativiert. Gleichwohl hat er Plastik als Volumengestaltung begriffen, anders als Schmarsow hat er aber zwei Arten von Volumina unterschieden:

11

E b d . , S. 2 6 1 .

12

Läszlo M o h o l y - N a g y : Von Material

zu Architektur.

Faksimile der 1 9 2 9 erschienenen Erstaus-

gabe, hrsg. von H a n s M . W i n g l e r , M a i n z - Berlin 1 9 6 8 , S. 130.

1. MONUMENT UND PERFORMANCE »1. den im gewicht meßbaren u n d durch die drei dimensionsrichtungen abtastbaren massenumfang. 2. den nur visuell erlebbaren, durch bewegung entstehenden virtuellen umfang, der - obwohl körperlos - doch in dreidimensionaler ausdehnung erkennbar, ausgesprochen plastisches gestaltungselement ist.« 13 D e r Weg führt von der »plastik = material + massenbeziehungen« zur aufgelockerten Form: »plastik = volumenbeziehungen«. 1 4 O d e r wie Moholy formuliert: Es ist der Weg zur Sublimierung des Materials, der Weg vom Material-Volumen zum virtuellen Volumen. Die Differenz zwischen Plastik u n d Architektur als Volumen- u n d R a u m gestaltung äußert sich auf verschiedene Weise: »[...] d e m im sehen ungeübten können plastiken einer gewissen periode als verkleinerte architektur u n d architekturen als vergrößerte plastik erscheinen [...] plastik ist immer gestaltung von volumen [...] die streng umrissenen blockhafien materialmassen werden - wenn noch so aufgelockert (eiffelturm) - als grundform immer ablesbar bleiben, plastik ist immer geschlossen (selbst bei den virtuellen volumen der kinetischen plastik).« 15 Plastik bleibt Volumengestaltung auch in Form virtueller Volumen, die durch Vibration oder Rotation skulpturaler Konstruktionselemente erzeugt werden. Aber auch im Zusammenspiel mit äußeren Lichtquellen; Lichtspiele kinetisieren die Plastik auch ohne Motorisierung; darum hat Moholy auch die unmittelbar statischen Gebilde aus Plexiglas, zu denen er in seiner Spätzeit übergegangen ist, als Raummodulatoren bezeichnet. Schmarsows Kriterien des M o n u m e n t s u n d insbesondere der Plastik haben der Eroberung neuer architektonischer u n d bildnerischer Gestaltungsweisen nicht standgehalten. Eine Ausnahme bildet die d o m i n a n t e Vertikalachse. Daran dürfte sich, abgesehen vom Spezialfall der liegenden Figuren, nichts geändert haben - bis auf einen für die Plastik wesentlichen Punkt: Sie wurde durch die ästhetische M o d e r n e v o m Sockel geholt u n d auf niedrige Plinthen oder gänzlich auf eine Ebene gestellt, die sie mit den Betrachtern teilte.

Ende der Gegenständlichkeit? Die Plastik ist heute nicht zuletzt deshalb kulturdiagnostisch so interessant, weil ihre ungeklärte Z u k u n f t die Krise der Gegenständlichkeit insgesamt anzeigt: die Marginalisierung der Festkörper, die Ephemerisierung der Masse, die Perforation makrophysikalischer Kompaktheit. Allerdings findet das Ende der gegenständlichen Welt vor allem in kulturwissenschaftlichen Diskursen statt. Die soziale Lebenspraxis kann auf praktische, technische u n d architektonische Gegenstände nicht verzichten: Was sich ändert, sind Formen der Gegenständlichkeit. W i r w o h n e n jedoch nach wie vor in Häusern, fahren in Autos, waschen mit der Waschmaschine u n d werden den eigenen

13 14 15

Ebd., S. 167. Ebd., S. 155. Ebd., S. 200.

7

8

STATUEN schweren und trägen Körper nicht los. Haben wir noch das Bedürfnis, Statuen als Monumente zu setzen? Seit das plastische Volumen mit Beginn der ästhetischen Moderne immer stärker danach drängt, sich dem Raum zu öffnen, wird in der Geschichte der modernen Plastik immer radikaler gefragt: »An welchem Punkt der Entwicklung >stülpt< sich der Körper in Raum um?«16 Eine wechselseitige Angleichung greift Platz, die Paul Westheim mit Blick auf die Architektur schon 1923 als »Architektonik des Plastischen« bezeichnet hat: Darunter verstand er die innere Tendenz der Architektur, »die nicht Masse gegen den Raum stellt, sondern in den Raum hineinstrebt, versucht, ihre Körperlichkeit in den Luftraum zu modellieren und damit in eigentlichem Sinne auch plastischer Organismus zu werden«.17 Allerdings mündeten alle Bemühungen um die »gewichtslose Form« in der Architektur zuletzt immer wieder in die Problematik, das »Ineinanderhaken des materiellen Körpers und des sphärischen Luftraums« konkret zu bewerkstelligen. Es ist ein produktiver Widerstreit von Tendenz und Gegentendenz, wie ihn Klaus Jan Philipp beschrieben hat: »Gegenüber der >Gestaltung des leeren Raumes< und der Einbeziehung der gewichtslosen Form< in Skulptur und Architektur seit dem frühen 20. Jahrhunderts war und blieb die Entwicklung des Volumens, der Masse, der Oberfläche oder der Bewegung eines Objektes das Hauptthema der Skulptur wie der Architektur. Nicht der gestaltete >Luftraumaus der Sicht des Computers< hinter den gekurvten >freien Formern ein ebenso rationales, mathemati-

16

Markus Brüderlin: Einführung. »ArchiSkulptur«, in: ders. (Hrsg.), ArchiSkulptur.

schen Architektur

und Plastik vom 18. Jahrhundert

Dialoge zwi-

bis heute, Ausstellungskatalog Fondation Beyeler,

Basel 2004, S. 19. 17

Paul Westheim: »Hinweis auf Arthur Korn«, in: Das Kunstblatt

Klaus Jan Philipp: ArchitekturSkulptur.

7/1923, S. 234 f. Zit. nach

Die Geschichte eine fruchtbaren Beziehung, Stuttgart - M ü n -

chen 2002, S. 83. Vgl. auch Paul Westheim: Architektonik

des Plastischen, Berlin 1923.

18

Klaus Jan Philipp: ArchitekturSkulptur,

19

Markus Brüderlin: ArchiSkulptur,

20

Blob ist ein Wort aus der Computersprache u n d bezeichnet in der Architektur »eine beliebig

a. a. O., S. 97.

a. a. O., S. 19.

verformte Gestalt mit isomorphen Vielfachoberflächen« (Philip Ursprung).

1. M O N U M E N T UND P E R F O R M A N C E

sches System steht, wie hinter dem rechten Winkel«.21 Den Gegensatz zum Blob bildet die Box, deren ästhetische Möglichkeiten insbesondere der Minimalismus ausgereizt hat. Die Box ist ebenso ein Schlüsselthema von Michel Serres, der, von der Blackbox der Kybernetik ausgehend, die Menschenfigur als eine Zwiebelpuppe aus Boxes beschreibt, wie für Frank Castorfs Bühnenbildner Bert Neumann, der im Container die Leitmetapher für eine Welt der Nichtorte gefunden hat: Raumzonen und -formen der Serialität und des Transits, die die bewohnbaren, gemeinschaftsbildenden Orte dominieren. Auch wenn sich Plastik und Architektur am gemeinsamen Ausgangspunkt des Monuments treffen sollten, wäre es absurd, die Grenzen zwischen Architektur und Plastik einebnen zu wollen. Schließlich führte erst die verlorengegangene Einheit der beiden »Schwesternkünste« in der »Kunst am Bau« wie für die Architektur so auch für die Skulptur zur Autonomie, zu selbstbewußter und eigenständiger Formensprache, wie Maus Jan Philipp zu Recht betont: »Diese wechselseitige Emanzipation, Separation und Integration waren Grundlagen für die Entwicklung der modernen Architektur wie für die Entwicklung der modernen Skulptur.«22 Folgenden Satz des Wiener Kunsthistorikers Rainer Metzger versieht Philipp daher mit einem dicken Fragezeichen: »Das modernistische Problem, ob ein Entwurf praktikabel oder utopisch, funktional oder fiktional sei, ist der Unentschiedenheit, der Ununterscheidbarkeit von Architektur und Kunst gewichen.«23 Gehrys Museum in Bilbao und das Castel del Monte in Apulien (um 1240) sind beide »thermische Hüllen und erfüllen somit die grundlegende Aufgabe von Architektur, Schutz vor den Unbilden des Wetters zu gewähren. Beide Bauten haben eine praktische Funktion, indem sie verschiedene Räume für verschiedene Anforderungen des jeweiligen Raumprogramms bereitstellen.«24 Solche praktischen Funktionen werden von architektonischer Plastik nicht erfüllt und auch nicht angestrebt. Auch eine andere Differenz ist nur bedingt aufhebbar, die architektonische Leitunterscheidung von Außen und Innen (Dirk Baecker).25 »Architektur bleibt an die Differenz von Innen und Außen unlösbar gebunden, während die Kunst jede Unterscheidung zur Disposition stellen kann.« 26

21

Markus Brüderlin: ArchiSkulptur, a. a. O., S. 18. Klaus Jan Philipp: ArchitekturSkulptur, a. a. O., S. 11. 23 Zit. nach Klaus Jan Philipp: ArchitekturSkulptur, a. a. O., S. 10. 24 Ebd., S. 13. 25 »Wie auch immer Architektur entworfen, dargestellt, benutzt und bewohnt werden mag, man weiß nur, daß es sich um Architektur handelt, wenn man hineingehen und wieder herauskommen kann, und wenn sich bei diesem Hineingehen- und Wieder-Herauskommen-Können die Verhältnisse ändern, d. h. drinnen anderes geschieht und erwartet werden kann als draußen.« Dirk Baecker: »Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Architektur«, in: Niklas Luhmann (Hrsg.), Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 83. 22

26

Klaus Jan Philipp: ArchitekturSkulptur, a. a. O., S. 15.

9

STATUEN

Die Relativität der Dauer Gegen den Anspruch auf Dauerhaftigkeit und Unverrückbarkeit standen im 19. Jahrhundert beispielsweise ephemere und transportable Monumente (wie Sir Joseph Paxtons Crystal Palace in London), hinzu kommt die Ephemerisierung des Materials, die Joseph August Lux als Tendenz zur fortschreitenden Entmaterialisierung bezeichnet und deren Prinzip er darin erblickt hat, »die größten effektiven Wirkungen an Raumüberspannungen durch ein Mindestmaß von Mitteln zu erreichen«. 27 Dies bezog sich insbesondere auf die Ingenieur-Architektur, ist von Moholy-Nagy aber auch für die Geschichte der modernen Plastik nachgewiesen worden. »Ephemere Monumente« werden heute teilweise in extremer Einseitigkeit als Auflösung des Monuments in ein inszeniertes Provisorium, in ein performatives Ereignis verstanden, an dem nur noch die Ereignishaftigkeit interessierte. Tatsächlich müssen zwei Formen der Ephemerisierung unterschieden werden: (a) Die Sublimierung und »Entmaterialisierung« des Materials, die Buckminster Fuller 1938 erstmals als »Ephemerisierung« bezeichnet hat: »Die Technologie schritt fort von Draht zu drahtlos, von Schiene zu schienenlos, von Leitungsrohr zu leitungsrohrlos und von der sichtbaren Struktur der Muskelkraft zur unsichtbaren Wirkung der chemischen Elemente in Metallegierungen und im Elektromagnetismus.« 28 Diese Linie der Ephemerisierung führt zur High Technology. (b) Ephemerisierung im zeitlichen Sinne des Transitorischen, das Baudelaire als ein Kennzeichen der ästhetischen Moderne hervorgehoben hat: »Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.«29 Daran knüpfen Definitionen des Ephemeren wie von Josef Fürnkäs an, in denen das Transitorische metaphysisch ausgelegt wird als »räumlich das zerstreute Zufällige, zeitlich das kurzlebig Vergängliche, kausal das absurd Zwecklose, ästhetisch das frivol Banale, das auf Verführung aus ist«.30 Dem Ephemeren entspricht nach Fürnkäs »ein Kontingenzbewußtsein, das in aufmerksamer Zerstreuung auf nichts Dauerndes, sondern auf Zufall, Zerfall, Schock, Plötzlichkeit, alogische Häufung und serielle Wiederholung ausgerichtet ist«.31 Hier wird auf etwas rekurriert, das in der Tat noch das ephemerste Monument zum Monument macht: die Momente genuiner Indexikalität. Darin zeigt sich zugleich, daß sich mate-

27

Joseph August Lux: Ingenieur-Aesthetik, München 1910, S. 23. R. Buckminster Fuller: Bedienungsanleitungfür das Raumschiff Erde und andere Schriften, hrsg. von Joachim Krausse, Dresden 1998, S.32. 29 Charles Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857-1850, München-Wien 1989, S.226. 30 Josef Fürnkäs: »Das Ephemere der Geschichte. Louis Aragon und Walter Benjamin«, in: Katalog Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte: Walter Benjamin, Theoretiker der Moderne, WerkbundArchiv 1990/1991, Gießen 1990, S. 122, zit. nach Michael Diers: »Ewig und drei Tage. Erkundungen des Ephemeren — zur Einführung«, in: ders. (Hrsg.), Mo(nu)mente. Formen und Funktionen ephemerer Denkmäler, Berlin 1993, S. 1. 31 Ebd. 28

1. MONUMENT UND PERFORMANCE

rialorientierte und zeitliche Aspekte der Ephemerisierung nicht wechselseitig isolieren lassen. Zeitlich ephemere Monumente sind erst durch masse-ephemeres Material Eisen und Glas - möglich geworden; so ist auch Paxtons Crystal Palace ein ephemeres Monument, das fur eine zeitlich befristete Dauer errichtet und für Demontage, Transport und Neuerrichtung an anderer Stelle vorgesehen war. Das Ephemere und die Dauer sind aufeinander bezogen. Peter Springer hat die »Paradoxie des Ephemeren« untersucht und kommt zum Ergebnis: »Das Ephemere ist [...] qua Umstand, Anspruch und Funktion stets durch die Relativität der Kürze seines zeitlichen Bestandes charakterisiert. Ganz Entsprechendes gilt indes auch für die Kategorie der Dauer [...]. Charakteristisch ist auch hier, bedingt durch Materialverfall und Wandel des Umfeldes, die Relativität der Dauer. Vereinfachend ließe sich also sagen, daß das Charakteristikum ihrer Relativität die Kürze des Ephemeren und die Länge der Dauer miteinander verbindet. Beiden gemeinsam ist zudem ihre eminent zeitliche Dimension.« 32 Die Einbuße an memorialer Funktion kann nach Springer durch die Nachhaltigkeit der gestaltwirksamen Eigen- und Ausdruckswerte des Monuments wettgemacht werden. Der Gestaltwert von Monumenten ist nicht an Masse gebunden. Male können auch sehr filigran sein, wie die Signale von Takis. Als eine Form des ephemeren Monuments läßt sich auch die kinetische Plastik des 20. Jahrhunderts auffassen. Avancierte Experimentalkünstler haben im frühen 20. Jahrhundert die Herausforderungen des Maschinenbaus und des Elektromotors angenommen, um die kinetische Plastik zu schaffen, die sich nicht mit Bewegungsdarstellungen im Standbild begnügt, sondern die Statue real in Bewegung versetzt. Irgendwann verlor die Statue den Wettstreit mit Shannons Labyrinth-Maus und mit der Entwicklung der Robotik. Als dieser Punkt erreicht war, wichen viele Kinetiker in die PerformanceKunst aus oder es wurde mit Cyberformen experimentiert, wie von dem aus dem griechischen Zypern stammenden australischen Ingenieur Stelarc. Aber haben die neuesten Wege der Kinetik nicht auch die Selbstaufhebung der Statue als Monument befördert? Ist damit der Tod der Plastik als »Standbild« endgültig besiegelt? Verena Kuni hat die Paradoxie der Kunstgeschichte der Performance analysiert, die sich, der naturgegebenen Vergänglichkeit ihres »Primärmaterials« entsprechend, zu einem wesentlichen Teil aus Sekundärquellen rekrutiert. Photographien gelten als »authentische Dokumentation« eines ursprünglich zeitbasierten Prozesses, der die Realpräsenz des Künstlers und eines Publikums voraussetzt. Kuni untersucht berühmte Beispiele: Yves Kleins Sprung in die Leere (1960) und Joseph Beuys' spektakulären Auftritt auf einer Fluxus-Veranstaltung 1964 mit blutender, von einem Schlag verletzter Nase und einem zum »Kistenteufelchen« umfunktionierten Kruzifix sowie das bekannte Ganzkörper-Porträtphoto von Beuys unter dem Titel La rivoluzione siamo Noi (1971). Kleins Kopfsprung aus dem Fenster mit ausgebreiteten Armen ist sorgfältig (mit später wegretuschiertem Sprungtuch) für die photographische Aufnahme geplant und ausgeführt worden. Und auch Beuys' Photo mit blutender Nase war kaum der »einen

32

Peter Springer: »Paradoxie des Ephemeren. Ephemere Komponenten in zeitgenössischen Monumenten«, in: Michael Diers (Hrsg.), Mo(nu)mente, a. a. O., S. 257.

STATUEN Kairos bannende Schnappschuss, als welchen es seine Rezeptionsgeschichte führt«. 33 Beuys selber hat den Anspruch artikuliert, »Medien durch Monumente [zu] ersetzen«.34 Das ist in diesem Falle buchstäblich zu nehmen: »Im >Starschnitt< wird das Bild des Künstlers selbst zum Monument.« 35 Das von Giancarlo Pancaldi anläßlich von Beuys' erster Ausstellung bei Lucio Amelio in Neapel im Innenhof der Galerie aufgenommene Ganzkörper-Porträtphoto verweist, wie Barbara Lange ermittelt hat, »in seiner Bildgestaltung auf das berühmte Gemälde >11 quarto stato< von Guiseppe Pelizza da Volpedo (1901), das im Rahmen der gesellschaftlichen Aufbruchbewegungen Ende der sechziger Jahre, Anfang der siebziger Jahre zu einer Politikone stilisiert worden war«.36

Unverrückbarkeit, örtliche Gebundenheit Gegen eine solche hypothetische Invariante des Monuments sprechen die kinetischen Plastiken des 20. Jahrhunderts. Es hätte gut sein können, daß sich die meisten Bildhauer auf die kinetische Plastik geworfen hätten und daß Plastik endgültig in die Periode der Kinetik eingetreten wäre. Sie hätten den statischen Block so lange ausgehöhlt, perforiert und vom Sockel gelöst, bis sie endlich den Block insgesamt hinter sich gelassen hätten. Dem war nicht so. Und man kann nicht sagen, diejenigen, die am Block festhielten oder ihn wiederentdeckten, ihn in städtische Räume und Landschaften stellten, seien Konservative gewesen. Die Kinetik hat aktiv dazu beigetragen, die Ausdrucksmöglichkeiten der Plastik radikal zu erweitern. Doch nachdem die erweiterten Möglichkeiten ins Spektrum plastischer Volumengestaltung aufgenommen waren, wandten sich viele Bildhauer auch wieder anderen und >älteren< Möglichkeiten zu. Komplementär zu den Vorkämpfern der Kinetik haben andere Bildhauer der Moderne einfach gefragt: Muß sich die Plastik überhaupt bewegen? Schon die Antike kennt die Tradition der kinetischen Statue, die freilich nie als eine Gattung der Bildhauerkunst anerkannt, sondern von den hellenistischen Ingenieuren als mechanisches Kunstwerk kreiert wurde. Ungeachtet der frühen Einbeziehung der Plastik in performative Aktivitäten (Kulte, Umzüge usw.) war der andere Pol ihrer Wirksamkeit - gerade auch in Relation zur Bewegungsdarstellung - ihre materielle Unbeweglichkeit als Mal und Monument. Die Bildhauerkunst beschäftigte sich seit ihren Anfängen mit dem Phänomen des Lebendigen, das Aristoteles als ein Phänomen der Selbstbewegung gefaßt hat. Die Darstellbarkeit des Lebendigen wurde gerade vor dem Hintergrund der Unbeweglichkeit der Statue zur Herausforderung; diese Polarität war konstitutiv fur die Plastik. In der Konsequenz des Lebendigen wurde zugleich die Auflösung der organischen Substanz zur Herausforderung, wie dies Michel Serres in seinem Buch 33

Verena Kuni: »Vom Standbild zum Starschnitt. Überlegungen zur Performanz eines Mediensprung«, in: Christian Janecke (Hrsg.), Performance und Bild. Performance als Bild, Berlin 2004, S. 234 f. 34 Zit. nach Verena Kuni, ebd., S. 237. 35 Ebd. 36 Zit. nach Verena Kuni, ebd., S. 239.

1. MONUMENT UND PERFORMANCE

Statues erörtert hat. Solche Spannungen können durch reale Kinetisierung auch verlorengehen. Gegen die örtliche Gebundenheit spricht die Herauslösung der Plastik aus angestammten Funktionszusammenhängen, die Tendenz zum autonomen Monument, das sich gleichwohl räumlich zu binden sucht. Plastiken als autonome Monumente haben in besonderer Weise an genuiner Indexikalität teil, indem sie zum wiederholten Male als Störfall wirken, Irritationen auslösen und Aggressionen auf sich ziehen, die von Kunsthistorikern als Vandalismus von oben bzw. von unten bezeichnet werden. Ein exemplarischer Fall ist Richard Serras' für den öffentlichen Raum vorgesehene Skulptur Tilted Are (1981). Serras' 36 Meter lange und 3,6 Meter hohe gekrümmte rostige Eisenwand, die den Federal Place in New York durchschnitt, wurde von Behördenvertretern nicht nur als Schutzwand gegen Drogendealer und urinierende Stadtstreicher, sondern auch gegen potentielle bombenwerfende Terroristen denunziert, um die Wiederherstellung des Federal Place als einer öffentlichen Oase aus Licht, Luft und Raum zu fordern, in der nichts an eiserne Vorhänge erinnern dürfe. Nach Benjamin Buchloh war es vor allem der von Serras' autonomer Skulptur geltend gemachte Absolutheitsanspruch auf direkte und unmittelbar erfahrbare Präsenz, der solche »paranoide Projektionen« ausgelöst habe. Tilted Are wurde im März 1989 entfernt.37 Das autonome Monument wirkt als »Usurpator«, als Störer inmitten gewohnter räumlicher Kontexte, als »Fetisch der Polarisierung«, was Walter Grasskamp so begründet: »Als radikalster Versuch einer strikt künstlerischen Raumdefinition ist die abstrakte Skulptur im Außenraum ein verirrtes Monument fur eine typisch moderne Internalisierung der Formfrage, deren fortgeschrittenste Lösungen einem nicht spezialisierten Publikum als Gesten der Willkür und Beliebigkeit erscheinen müssen.«38 Das autonome Monument stört aber auch durch ein Angebot an flexiblen und offenen Verweisungen, die sich nicht apodiktisch aufdrängen, sondern den Betrachter zur Mitarbeit herausfordern. Die Rezeption gewinnt einen weiten Spielraum, in dem angebotene Deutungsaspekte auch abgebaut und neue Verweisungsaspekte entdeckt werden können. Als genuines Indiz ist das autonome Moment durch nachträgliche Semiotisierung gekennzeichnet: das Signal provoziert Bedeutungszuweisungen in den veränderlichen Kontexten des Gebrauchs und der Aneignung.

Anthropismus der Raumbezüge Der weitestgehende Vorstoß der Avantgarde im Bereich der Plastik und Architektur im frühen 20. Jahrhundert richtete sich auf die Aufhebung der hierarchischen Raumbezüge von Bauwerken und Gegenständen. Der strukturelle Anthropismus des

37 Benjamin H. D. Buchloh: »Vandalismus von oben. Richard Serras's Tilted Arc in New York«, in: Walter Grasskamp (Hrsg.), Unerwünschte Monumente. Moderne Kunst im Stadtraum, 3., erweiterte Aufl., München 2000. 38 Walter Grasskamp: »Invasion aus dem Atelier. Kunst als Störfall«, in: ders. (Hrsg.), Unerwünschte Monumente, a. a. O., S. 151.

STATUEN Monuments wurde radikal in Frage gestellt. In moderner Gestaltung wurde das anthropomorphe tektonische Prinzip ausgesetzt, wie Lothar Kühne gezeigt hat: »Der eigentliche Kern der modernen Gestaltauffassung ist die Neubestimmung der Flächenund Raumwerte des Gegenstandes in einer nicht mehr einseitig geozentrischen, sondern in einer kosmisch relationierten Tektonik.«39 Dies äußert sich in der Aufhebung der Axialität, der Vorder-, Seiten- und Hinteransicht, der Beziehungen von Unten und Oben. »Die Bauwerke und Gegenstände werden unabgeschlossen, raumoffen, sind mit dem Umraum verzahnt und von ihm durchsetzt.«40

Darstellungsverhältnis von Statue und menschlicher Figur Was die Plastik betrifft, so war die Erweiterung ihres Aktionsbereichs und ihrer Formpotentiale mit einem entscheidenden Traditionsbruch verbunden: der Entkopplung von Statue und menschlicher Figur. Bis in die Gegenwart hinein wurde die Statue (lateinisch statua: Standbild, Bildsäule) verstanden als »die in irgendeiner Masse künstlich ausgearbeitete volle, und in der Regel frei stehende, Gestalt, insbesondere aber eine nur in harten Massen gehauene oder gegossene Figur, unter welchen die des Menschen den geistigsten Ausdruck gestattet«.41 »Statua« ist die lateinische Entsprechung zum altgriechischen »Andrias«, als Bezeichnung einer zumeist in Bronze (chalkos) gegossenen Statue, die zugleich als Bild eines Mannes (andreios: männlich) figuriert. Sokrates nennt sich bei Xenophon einen andriantopoios, Piaton bezeichnet den Bildhauer als agalmatopoios (von agalma: Götterbild, Bildsäule, Standbild).42 Altere griechische Bezeichnungen waren lithos, Stein, zugleich die in Stein gehauene Grabsäule. Ein lithourgos war ein auch in Marmor (marmaros) arbeitender Steinbildhauer. Das Marmorbild hatte zugleich eigene Bezeichnungen (marmaron eikon, marmarinon agalma), ebenso die Marmorsäule (marmarine stele). Gemessen an der durch »Statue« (griechisch: andrias) bezeichneten Tradition, emanzipierte sich die avantgardistische Statue von der Personalfigur; doch der Traditionsdruck der Gleichsetzung von Statue und menschlicher Figur lastete erheblich, so daß der Begriff der Statue außerhalb anthropomorpher Gefüge allmählich aus dem Gebrauch kam; als Allgemeinbegriff bürgerte sich der Ausdruck »Skulptur« ein, der seit der Antike die Grundbedeutung des Eingrabens mit dem Grabstichel verloren hatte. Als übergreifende Bezeichnung hat sich auch »Plastik« durchgesetzt und erhalten. »Plasma« war in seiner ursprünglichen Bedeutung das Formen in Ton bzw. das in Ton Geformte (von plasso: aus weicher Masse bilden). Bereits in der Antike wurde plastike zur allgemeinen Bezeichnung der Bildhauerkunst und ihrer Hervorbringungen. In der Avantgarde wurde »Plastik« und

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Lothar Kühne: Gegenstand und Raum, Dresden 1981, S. 151. Ebd., S. 151 f. 41 Wilhelm Hebenstreit: Wissenschaftlich-literarische Encyclopädie der Aesthetik. Ein ethymologischkritisches Wörterbuch der aesthetischen Kunstsprache, Wien 1843, S. 736. 42 Grundbedeutung: Schmuck, Zierde, Kleinod; agalmai: staunen, gleichermaßen sich wundern wie bewundern, aber auch beneiden, mißgönnen. 40

1. M O N U M E N T U N D P E R F O R M A N C E

»Skulptur« vielfach durch »Objekt« abgelöst, seit die Entkopplung von Statue und menschlicher Figur zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, wird auch der Terminus »Statue« im nichtanthropomorphen Sinne gebraucht. Gerade die Entkopplung von Statue und menschlicher Figur hat deutlich werden lassen, daß diese niemals nur zentraler Darstellungsgegenstand der Plastik, sondern vor allem ein Sprachproblem war; die Bildhauer haben über einem anthropomorphen Formbestand operiert, der selber ziemlich komplex war. Die elementaren Einheiten zählten nicht als anatomischer Fakt, sondern als Konstruktionselemente eines Formgefüges, und ihr syntaktischer Beziehungswert änderte sich mit der jeweiligen Gestaltordnung. Mit der Entkopplung von Statue und menschlicher Figur haben Kubismus, Futurismus und Konstruktivismus begonnen — sie schufen damit eine wesentliche Voraussetzung für die kinetische Plastik, die im Dadaismus jedoch eine zweite Wurzel hat. Der Abschied vom anthropomorphen Formenkanon hat die Plastik keineswegs ihrer »Sprache« beraubt. Die Konstruktivisten haben den überkommenen formsprachlichen Bestand radikal in stereometrische und biotechnische Konstruktionselemente zerlegt, um ein anderes Formenrepertoire zu gewinnen und neue Weisen der »Beziehungsschaltung« zu erproben. Dies machte es zugleich auch möglich, sich frei von den Zwängen der Tradition erneut der menschlichen Figur zuzuwenden; hierbei konnte der anatomische Formbestand des Menschen gänzlich umproportioniert und metaphorisiert werden. Heute ist die menschliche Figur kein Schlüsselthema mehr, sondern Bestandteil übergreifender Bemühungen, neue Gegenständlichkeiten zu erfinden, Mikrostrukturen offenzulegen, Gestaltzeichen zu setzen, offene Verweisungsbeziehungen zu knüpfen, aus dem kulturellen Bildgedächtnis des kollektiven Imaginären zu schöpfen - eingebunden in die experimentelle Erkundung neuer Wechselbeziehungen von Volumen und Raum, Statik und Dynamik, Masse und Energie. Auch in der Plastik wurde das Werkmodell des in sich geschlossenen geistigen Organismus aufgesprengt, vollzog sich ein Übergang zum offenen Gestaltsystem, zum Raumgerüst, zur Installation.

Plastik der Gegenwart und die Antike Trotz aller Nachrufe auf die skulpturale Tradition der Antike ist die antike Skulptur - nicht als Identifikationsfigur, sondern als Ausgangspunkt neuer Experimente — nicht einfach nur wirksam geblieben, sondern zu neuer Wirksamkeit gelangt. Reto Krüger hat dies im Hinblick auf die Arte Povera und andere avancierte Strömungen des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts untersucht. 43 In dieser »neuen Antike-Rezeption« innerhalb der bildenden Kunst seit 1967 hat die Antike nicht nur für die künstlerische Arbeit am kulturellen Gedächtnis und die Mythen-Rezeption einen hohen Stellenwert behalten, sondern als historischer Referenzpunkt für künstlerische Selbst-

43

Reto Krüger: Nach der Antike. Studien zur Antikenrezeption in der bildenden Kunst seit 1967, Essen 2004.

STATUEN Verständigungsprozesse auch eine neue Funktion gewonnen. 44 Krüger charakterisiert die neue Antike-Rezeption als eine »Zitatkunst« in der Nachfolge der Pop Art, die die Hauptwerke der Kunstgeschichte als Teil einer kulturellen Hierarchie in ihren Werken zitiert; die neue Antike-Rezeption umfaßt aber auch »die klassizistische Tradition eines Wettstreits mit der Antike und darüber hinaus Appropriationen antiker Objekte in Form von Reproduktionen, vornehmlich in Gips, bis hin zum Rückgriff auf die Antike in zeitgenössischer Ruinen- oder Landschaftsmalerei«.45 Krüger hat versucht, die dieser zitatförmigen Appropriationskunst zugehörige Plastik, für die das Operieren mit Abgüssen, zum Teil in modernen Materialien wie Beton, konstitutiv ist, mit Hilfe der Theorie des Kontakts von Georges Didi-Huberman in ihrer Eigenart zu erfassen.46 L'empreinte, die Abformung, der Abguß, manchmal der Eindruck oder die Prägung, wird von Didi-Huberman als Signatur dessen betrachtet, was in einer geheimen, unsichtbaren Prozedur, einem Kontakt zwischen einem Referenten und eben der Abformung sich ergibt. An die Beschreibung und Problematisierung dieser Prozedur knüpft Krüger an: »Der Abbildungsvorgang ζ. B. beim Gipsabguss besteht in der Erstellung eines Moule, einer Form, mittels derer der eigentliche Abguss hergestellt werden kann. Bei einfachen Formen wie der berühmten Fußspur im Sand ist Abformung die Form selbst. [...] so funktioniert die Abformung über die Nähe und die Berührung (>theorie du contactarmen KunstKönigsstraße< nach Syrien/Mesopotamien profitieren, die seit Gyges' Initiative bestand. Die Geschichtsschreibung hat nicht immer darauf geachtet, dass der bemerkenswerte Aufstieg Ioniens zur kulturellen Vormacht der Griechen erst in der Gyges-Zeit einsetzt. Das Königreich der Lyder war offenbar eine Art Bindeglied zwischen griechischer und assyrischer Welt.« 2 Die Verbindung von Gold und Macht war schon für die Zeitgenossen sprichwörtlich, wie Archilochos' Rede vom goldreichen Gyges zeigt: »Um Gyges' goldnen Reichtum kümmre ich mich nicht, da wandelt mich kein Neid an, was die Götter tun regt mich nicht auf, Tyrannenmacht begehr ich nicht, weil ich das alles nie mit Augen sehen muß - « 3 Von Archilochos wird Goldreichtum problematisiert: er ermöglicht nicht nur Tyrannenmacht, sondern ist oft auch übel erworben. Was das Gold betrifft, hätte Gyges tatsächlich glauben können, das Glück gepachtet zu haben; das glaubte allerdings erst sein Nachfahr Kroisos: daß der Fluß Paktolos, an dessen Ufern Sardes liegt, Gold führte, das früh schon ausgewaschen wurde, war eine natürliche Ressource; in einer Volkserzählung, die sich um den phrygischen König Midas rankt, ist dies das Werk des Dionysos. Als lydische Bauern den alten Silenos, einstigen Erzieher des Dionysos, im betrunkenen Zustand auffanden, fesselten sie ihn mit Blumenketten und brachten ihn vor ihren König. Midas erkannte Silen, befreite ihn und schickte ihn zu Dionysos zurück. Der Gott stellte dem König daraufhin einen Wunsch frei, und dieser ging gleichsam aufs Ganze: alles, was er berührte, sollte zu Gold werden. Der Mythos zeigt die radikale Konsequenz der Auflösung aller Gebrauchswerte ins Goldäquivalent. Als

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Walter Burkert: Die Griechen und der Orient, München 2004, S. 16. Nach Aristoteles (Rhetorik 1418b) fuhrt Archilochos hier einen anderen als Sprecher ein, um seinen Gegner zu verspotten: es ist die Figurenrede des Baumeisters Charon. Nach Fraenkel könnte folgendes Fragment den Anschluß bilden: »>- aber wenn ich den Soundso in dem Prunk und der Macht/ seines übel erworbenen Reichtums an mir vorübergehen sehe, dann/ allerdings bekomme ich Lust, ihm meine Axt an der Kopf zu/ werfen.< So sprach Charon, ein Zimmermann aus Thasos.« Zit. nach der Übersetzung von Hermann Frankel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums (1962), München 1993, S. 153 f. Horaz' Epode 2 könnte nach dem gleichen Muster gebaut sein. 3

STATUEN sich selbst seine Nahrung in Gold verwandelte, widerrief Midas seinen unbedachten Wunsch und flehte um Rücknahme der lebensbedrohlichen Wunscherfüllung. Dionysos forderte ihn auf, sich im Paktolos zu waschen; seither sei der Fluß reich an Goldstaub, bis die Lyder entdeckten, daß sich das Gold auswaschen und wiedergewinnen ließ. Gyges hat das Gold insbesondere zu einem Zweck genutzt, den Archilochos nicht einmal für erwähnenswert hielt. In die Zeit des Gyges und seines Sohnes Ardys fällt eine finanzpolitische Innovation, mit der Lydien eine wegweisende Ökonomie- und zivilisationsgeschichtliche Leistung vollbracht hat. Die Lyder »sind die ersten Menschen, von denen wir wissen, daß sie Münzen aus Gold und Silber geprägt und verwendet haben« (Herodot, Historien I, 94).4 Bei Ausgrabungen in Sardes stieß man im Bereich der Tempelanlagen auch auf Sachzeugen der Goldverarbeitung. Bei dem gewonnenen Paktolos-Waschgold handelt es sich allerdings um ein Metall mit einem natürlichen Silberanteil von 17-24%. Nach einer metallurgischen Untersuchung an frühen Münzen aus Sardes war eine hohe Reinheit der Goldmünzen gar nicht angestrebt. Statt dessen wurde dem vorliegenden Metall weiteres Silber zugesetzt, um die im natürlichen Paktolos-Gold vorhandenen Schwankungen des Goldgehaltes a b z u gleichen. Am Ende lag eine gleichförmige Legierung vor. Die Münzen bestanden im Durchschnitt aus etwa 5 0 % Gold, 45 % Silber und hatten geringe Anteile von Kupfer, Eisen und Blei.5 Auch wenn das Geld nach der Münzprägung vielfach ein Mittel der Schatzbildung blieb, so erfüllte das gemünzte Geld doch eine genuine Funktion als allgemeines Äquivalent im Warentausch und trug somit maßgeblich zur Ausbreitung der Ware-Geld-Beziehungen bei. Insofern markiert die Münzprägung den Funktionswechsel vom Schatzgeld zum Zirkulationsmittel. Es ist schwer zu erklären, warum gerade in Lydien die Münzprägung »erfunden« wurde. Es wäre leichter zu erklären, wenn dies in Milet geschehen wäre. Moses Finley verbaut sich den Weg zu einer

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Griechische Münzfunde lassen keine Vorformen erkennen, sondern weisen nur fertig ausgebildete Münzen auf; das ist ein Indiz dafür, daß die Griechen die Münzprägung nicht selber erfunden, sondern von den Lydern übernommen haben, zuerst in Aigina (um 570 v. Chr.), gefolgt von Athen, Korinth und anderen Poleis. 5

Die systematische Ausgrabung der primären und sekundären Lagerstätten in und um Sardes legen die Vermutung nahe, daß schon an der Wende vom 7. zum 6. Jahrhundert kaum noch größere Mengen Gold gewonnen wurden. Die durch Legierung gewonnenen Münzen (Elektron-Münzen) wurden als Statere bezeichnet und wogen zwischen 14 und 16,5 Gramm. Der Phanes-Stater (die letzten Jahrzehnte des 7. Jahrhunderts v. Chr.) zeigt auf der einen Seite einen äsenden Hirsch mit der griechischen Legende »Ich bin das Zeichen (sema) des Phanes«. Das Hirschmotiv verweist auf das Artemision, Phanes war der Münzpräger. In ältesten Bauschichten von Ephesos wurde ein Schatz mit Schmuckstücken entdeckt, darüber hinaus fand man beprägte Rohlinge, die mit Bildmotiven versehen waren: Vorläufer der ersten Münzen. Kroisos führte das bi-metallische System ein: reine Goldund reine Silbermünzen. Der Kroiseios-Stater war eine Goldmünze (8,1g) mit Löwen- und Stierprotomen und entsprach 20 silbernen Sigloi. Das lydische Währungssystem wurde auch nach Kyros bis um 515 v. Chr. beibehalten. Prägungen lassen sich in Milet, Phokaia, Smyrna und Mytilene auf Lesbos nachweisen; hier handelt es sich um Elektron-Münzen. Unter Dareios I. wurde eine neue Goldmünze eingeführt, der Dareikos. Erst um 325 v. Chr. lösten die Geldstatere Alexanders den Dareikon ab.

3. PLATONS GYGES UND DAS HISTORISCHE LYDIEN Erklärung, wenn er es ablehnt, die vorderasiatischen Kulturen in die Erörterung der antiken Wirtschaft mit einzubeziehen. Daher vernachlässigt er die ökonomischen Beziehungen zwischen Lydern und Griechen, auch wenn er selber betont, daß gerade Lydien nicht in das schematische Bild der altorientalischen Tempel- und Palastwirtschaften paßt. Sicher mag eines der Motive der Münzprägung auch die Absicht gewesen sein, die regelmäßige Auszahlung von Söldnertruppen zu vereinfachen und effektiver zu gestalten. Die lydischen Könige unterhielten ein Heer aus griechischen und karischen Söldnern. Aber Lydien war auch in Handelsbeziehungen involviert - ein Argument, das im übrigen auch Herodot aufgreift, wenn er die Lyder als die ersten Kaufleute bezeichnet. Antike Wirtschaft ist nicht daran festzumachen, ob bestimmte Effekte intendiert waren. Ökonomische Dynamik gewinnt ihre Schubkraft hinter dem Rücken der Akteure und muß auch unabhängig von adäquaten Intentionen als genuin ökonomischer Vorgang berücksichtigt werden. In dieser Blickrichtung gelesen ist dem Gyges-Modell eine weiterführende transintentionale Auskunft abzugewinnen: Mit der der Münzprägung produziert Gyges — ohne es zu wissen - einen Schleier der Unsichtbarkeit, hinter dem er - aber nicht nur er allein - agieren kann, um seine partikulären Zwecke zu verfolgen. Die lydische Erfindung des gemünzten Geldes dürfte Piaton bekannt gewesen sein und als eine Konnotation des mirakulösen Goldfundes im freigelegten Grab mitgespielt haben. Wieweit sich eine Verweisungsbeziehung zur Unsichtbarkeit der Wertäquivalenz im sichtbaren Händewechsel des Geldes auf dem Markt herstellen läßt, läßt sich nicht entscheiden. Michel Serres hat eine solche Verbindung spekulativ hergestellt, und zwar in seinem Buch Der Hermaphrodit, das im gleichen Jahr wie das Buch Statues erschienen ist (1987). Der Hermaphrodit hat in der französischen Originalausgabe den Untertitel Sarrasine Sculpteur und ist als Parallel- bzw. Komplementärband zu dem Buch Statues zu lesen. Serres kommentiert und analysiert Balzacs Erzählung Sarrasine, die um die spannungsvollen Beziehungen von Musik und Bildhauerei, Geschlechterkonventionen und Kastrationseffekt, Kunst und Leben, Liebe und Tod, Statue und Geld kreist. Die Statue tritt in zweifacher Gestalt auf: zum einen als Artefakt des Bildhauers Sarrasine, der »verrückt ist nach der Musik« und nach dem Hermaphroditen Zambinella, den er in seiner Verliebtheit als Frau wahrnimmt und als Statue modelliert; zum anderen als der zum lebenden Leichnam erstarrte Greisenkörper des nämlichen Hermaphroditen, der im Laufe der Jahrzehnte zu unermeßlichem Reichtum gelangt ist. Dies gibt Serres die Gelegenheit, nicht nur sein Statuenmodell abermals darzulegen und zu variieren, sondern das Problem der Statue auch mit dem Motiv des Geldes und des Tauschwerts zu verknüpfen; hierbei bringt er eine Dimension seiner Gyges-Adaption zur Sprache, die bisher nicht die entsprechende Beachtung gefunden hat. So führt Serres die Motive zusammen: »Wie es scheint, wurde das Geld in Lydien, an den Ufern des Paktolos, erfunden. Der Hirte Gyges, der Begründer der lydischen Dynastie, fand im Innern einer Höhle einen nackten Leichnam, der an der Hand einen Ring trug. Mit dem gestohlenen Ring konnte sich Gyges plötzlich völlig unsichtbar machen. Mit seiner Hilfe tötete er den König, verführte die Königin, wurde reich und mächtig. Aus dem Unterirdischen hervorgegangen, erfindet er die Macht

STATUEN und den Wert, die unsichtbare Hand, die sie begründet. Er beseitigt den eigenen Körper im Hinblick auf die neue Erfindung oder löscht ihn aus: neutral, der König Gyges. Gesucht wird das Weiße, das Neutrale, der polyvalente Dominostein, das Transparente, das Abstrakte [...] Gehen Sie also wie Gyges los und suchen Sie unter der Erde ein Grab; entdecken Sie die hohle Statue im Kenotaph; erblicken Sie in der Statue eine Leiche; und finden Sie den Wert auf dem Tod, letzten Endes. Darin liegt das Geheimnis des Vermögens der Lanty. Im Schattenmund ein Idol und unter dem Fetisch ein leichenhafter Greis; da, an seinem Finger der Ring.« 6 Anders als das Goldmaterial ist die Funktionalität des Geldes als allgemeines Äquivalent, das sich in der Zirkulation realisiert, nicht sichtbar. Die Erfindung der Münzprägung in der GygesZeit ist das missing link, das Serres ermutigt, den Unsichtbarkeitseffekt des goldenen Rings mit dem Geld als Kristallisation des abstrakten Wertes zu verbinden; aus dem Tod wird nicht nur die Statue hergeleitet, sondern auch der Wert, der alle qualitativen Differenzen auslöscht. Serres geht sogar so weit, auf Adam Smith' Ersetzung der unsichtbaren Hand Jupiters durch die unsichtbare Hand des Marktes anzuspielen. Im Hinblick auf die frühen Ansätze der Ware-Geld-Beziehung in Kleinasien erscheint diese Verbindung allerdings als ebenso gewaltsam wie Gyges' Griff nach dem Gold. Vor ahistorischer Modernisierung der Antike muß freilich gewarnt werden: natürlich waren die lydischen Könige von Gyges bis Kroisos auch Schatzbildner, aber das Entscheidende ist (auch für Herodot), daß die Lyder Kaufleute waren. Herodot sagt nicht Emporoi (Außen- und Fernhändler, insbesondere Großhändler im Seehandel), sondern Kapeloi (Kleinhändler). Doch die frühen Münzwerte waren viel zu groß, um bevorzugt im Kleinhandel zur Geltung zu kommen, während sie im Groß- und Fernhandel eine wichtige Funktion hatten: die Abrechnung konnte wesentlich vereinfacht werden. 7 Die Lyder prägten zuerst Geld, schreibt Xenophanes lange vor Herodot. Der Ionier Xenophanes ist in Kolophon, der ersten und einzigen Griechenstadt, die Gyges unmittelbar in seinen Herrschaftsbereich zu integrieren vermochte, geboren worden und aufgewachsen. Für ihn war der Kauf mit gemünztem Geld schon selbstverständlich. Er war etwa 25 Jahre alt, als Kyros Kroisos ausmanövrierte, das lydische Reich

Michel Serres: Der Hermaphrodit, Frankfurt/M. 1989, S.81 und 97. »Um die Zahlungsgeschäfte beim gegenseitigen Austausch der Waren wesentlich zu vereinfachen und zu erleichtern, benötigte man ein Äquivalent, das sich den Erfordernissen des Marktes anzupassen in der Lage ist — ein Äquivalent, das man beliebig teilen kann, das lange haltbar und gleichzeitig wertbeständig ist, das man nicht mehr zu wiegen, sondern nur noch vorzuzählen braucht und das vor allem bei relativ kleinem Volumen einen relativ hohen Wert repräsentiert. Das Äquivalent, das all diese Eigenschaften in sich vereinigte, ist die Münze als ein leicht zu handhabendes Metallstück mit festem Gewicht und Feingehalt, für deren konstante Qualität der Prägeherr durch das aufgeprägte Bild (und Schrift) die Garantie übernahm. Sie wird zum dominierenden Äquivalent, verdrängt jedoch den reinen Produktenaustausch nie ganz vom Markt. Zu unterscheiden ist ihre Rolle als Wertmaß, d. h. als Rechnungsgrundlage für den Preis einer Ware, und als tatsächliches Zahlungsmittel in der Zirkulation.« Hans Radandt, Peter Musiolek et al. (Hrsg.): Handbuch Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1981, S. 401. 6 7

3. PLATONS GYGES UND DAS HISTORISCHE LYDIEN zerschlug und den griechischen Städten Kleinasiens das Regime seiner Satrapen aufzwang. Xenophanes emigrierte und führte ein Wanderleben als Rhapsode. Daß er schließlich in Elea, der ionischen Siedlung in Unteritalien ein neues Zuhause gefunden haben soll, ist vermutlich eine antike Erfindung, um ihn mit Parmenides in Verbindung bringen zu können. Im Rückblick wertete er das an lydischer Mode ausgerichtete Auftreten der Bürger von Kolophon in der Volksversammlung als Indiz fehlender Widerstandskraft. Lydien war nichts weniger als ein Modellfall der altorientalischen Tempel- und Palastwirtschaft, auch wenn es über große Landgüter verfügte, die von Sklaven bewirtschaftet wurden (Getreide, Mohn, Oliven, Feigen). So führt Herodot den Lyder Pythias als reichsten Mann an, den die Perser kennenlernten; er wollte Xerxes' Kriegszug gegen die Festlandgriechen finanzieren (Herodot, Historien VII, 28-30). Der lydische Reiteradel beschäftigte sich mit Pferdezucht. Monumentalbauten wurden auch mit Hilfe von Steuern errichtet, die von Teilen der Bevölkerung erhoben worden. So war das den Pyramiden vergleichbare Grabmal des Alyattes, des Vaters von Kroisos, von Markthändlern, Handwerkern und Prostituierten

finanziert.

Oben auf dem Grabmal standen fünf Tafeln, auf denen die Anteile der einzelnen Gruppen verzeichnet waren (Herodot, Historien I, 93). Wenn Herodot die Lyder als Händler bezeichnet, so ist das gerade nicht nur auf Kleinhändler, sondern auch auf Großkaufleute zu beziehen, die sich auf das verarbeitende Gewerbe stützen konnten. Mit hoher handwerklicher Kunst wurden Produkte aus Wolle, Leder, Gold und Elfenbein gefertigt, die im Fernhandel - vor allem von Griechen - stark nachgefragt waren. Bunte Textilien und lydische Schuhe erfreuten sich eines weit verbreiteten Rufes. Gehandelt wurde auch mit Marmor und Hölzern aus Bergwäldern. Als Vormacht in ganz Westanatolien dominierten die Lyder auch im vormals phrygischen Territorium, ausgenommen das gebirgige Lykien im Südwesten. Durch Gewalt oder auf dem Verhandlungswege hatten die Lyder schließlich die gesamte griechische Küste unter ihre Kontrolle gebracht; nicht jedoch die küstennahen Inseln, die sich gleichwohl lydischem Einfluß kaum entziehen konnten. Boardman spricht von einer kulturellen Symbiose von Griechen und Lydern und beschreibt diese als »beträchtliche Infiltration« des nahen lydischen Territoriums durch griechische Bräuche und griechisches Handwerk und umgekehrt. Als Kyros die vormals lydische Vormachtstellung übernahm, setzt er seine Satrapen als regionale Herrscher ein und formte mit ihrer Hilfe ein zentral gesteuertes Imperium. Die Bestrebungen der griechischen Städte, ihren tributpflichtigen autonomen Status unter Lydien beibehalten zu dürfen, lehnte Kyros ab. Nur Milet wurde ein Sonderstatus zugestanden, um die griechische Loyalität zu spalten. »Wir wissen nicht genau, ob Kyros mehr vom Westen sah als den Palast, die Tempel und die Stadt des Kroisos.« 8 Doch die von ihm zurückgelassenen Generäle und Hofleute dürften die lydisch-griechische Kultur auch in ihren griechischen Momenten durch unmittelbare Anschauung kennengelernt haben. »Wir sollten mehr darüber wissen, wie sehr Kroisos' Sardis an eine ionische Stadt erinnert haben könnte.« 9 Unter der nicht erwiesenen Voraussetzung, daß Herodots Mit8 9

John Boardman: Die Perser und der Westen, Mainz am Rhein 2003, S. 21. Ebd., S. 22.

STATUEN teilungen einen historischen Kern haben und Kroisos tatsächlich überlebt hat, könnte der lydische Einfluß auf Kyros noch stärker gewesen sein. Immerhin war Lydien »das erste wirklich ausländische Reich, das ihm in die Hände fiel und beeindruckte ihn vermutlich deshalb stark. Zugleich versorgte es ihn mit einer Vorstellung von Imperialkünsten, die Medien/Persien nicht eigen waren.«10 Und selbst wenn Kroisos nicht überlebt hätte, »wäre Kyros nicht ohne einige potentiell einflußreiche, wenn auch nicht unbedingt königliche Lyder in seiner Begleitung in den Osten zurückgekehrt, und im übrigen konnten im Altertum gefangengenommene Kunsthandwerker als genauso wertvolle Beute erscheinen wie Mitglieder des Königshauses oder materielle Reichtümer«.11 Sardes ließ bei Ausgrabungen im 20. Jahrhundert Strukturen erkennen, »die mit denen Mesopotamiens grob vergleichbar sind, nämlich Terrassen und Verteidigungsanlagen, seltener von Elementen aus Grabbauten, deren großartigste und früheste unsichtbar waren«.12 In Sardes haben schon im frühen 20. Jahrhundert die Amerikaner gegraben; nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Grabungsprojekte fortgeführt. George Hanfmann hat die begleitende Dokumentation in der Publikationsreihe Sardis initiiert und organisiert.13 Im großen Friedhof Bin Tepe außerhalb von Sardes wurde der größte auffindbare Tumulus als Grab des Alyattes (gest. um 560 v. Chr.) identifiziert, des Vaters von Kroisos; gestützt auf Herodot und Keramikfunde, die letztlich keine letztgültige Vergewisserung zulassen. Monumental ist das gewaltige Mauerwerk der Grabkammer. 14 Man glaubte auch schon, das Grab des Gyges gefunden zu haben: den Tumulus Karniyarik Tepe. Keramik und Mauerwerk legen jedoch eine spätere Datierung nahe (Zeit des Alyattes-Grabes).15 10 Ebd. " Ebd., S. 23. 12 Ebd., S. 41. 13 Vgl. auch Christopher Ratte: »Lydian Contributions to Archaic East Greek Architecture.« In: Les grands ateliers d\architecture dans le monde egeen du Vie siicle av. J.-C. (eds.): J. des Courtils/J.-C. Moretti, 1993; R. Gusmani: Neue epichorische Schrifizeugnisse aus Sardis (1958—1971), Cambridge 1975; G. M. A. Hanfmann and J. C. Waldbaum: A Survey of Sardis, 1975; A. Ramage: Lydian Houses and Architectural Terracottas. Sardis Monograph 5, 1978. Einen detaillierten Uberblick über den neuesten Forschungsstand gibt John Boardman: Die Perser und der Westen, a. a. O. 14

»Die Ansichtsflächen der Blöcke sind - ohne vollständig geglättet worden zu sein - großteils sorgfältig rau zugehackt und haben, wenn auch nicht überall, regelmäßigen Randschlag. Man versah sie mit Schwalbenschwanzklammern, mit Bleiverguß und Eisenbolzen; keine Spuren des Zahneisens.« John Boardman: Die Perser und der Westen, a. a. O., S. 43. 15

»In der Stützmauer des Tumulus befinden sich Quader mit sorgfältigem Randschlag und sehr ordentlich rau zugehackten Schauseiten, geschrägten Horizontal- und Vertikalkanten und Anathyrose an den Seitenflächen. Die Technik dieser sorgfältig rau zugehackten Sichtflächen bei Quadern mit Randschlag ist überall, wo sie vorkommt, sehr ausgefeilt und sicherlich eine bewußte Entscheidung und nicht Resultat des zufälligen Abbruchs der Arbeit kurz vor der endgültigen Glättung.« (Ebd., S. 44.) Viel diskutiert ist das sogenannte Pyramidengrab, das Christopher Ratte am vollständigsten untersucht hat. Boardman datiert es in die Mitte der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Viele lydische Gräber lagen in Tumuli. Das Kyros-Grab in Pasargadae weist Parallelen zum Pyramidengrab auf: »Somit scheinen wir den Typus eines persischen Königsgrabes vor uns zu haben, der in Lydien erfunden und für einen, vielleicht auch zwei persische Könige in Persien übernommen, mit im wesentlichen nicht östlichen, sondern lydo-ionischen Techniken ausgeführt und mit Einzelzügen der griechisch-ionischen Architektur versehen wurde.« (Ebd., S. 75.)

3. PLATONS G Y G E S UND DAS HISTORISCHE LYDIEN

Vor allem unter Kroisos intensivierten sich die Beziehungen zwischen Lydern und Griechen. Kroisos' Stiftungen in Delphi lagen vor aller Augen. Für Ephesos hat er die Mehrzahl der Säulen und die goldenen Rinder gespendet. Von Säulen haben sich Basenfragmente mit Inschriften erhalten, die den König nennen. »Seine Beziehungen zu anderen ionischen Städten legen die Vermutung nahe, daß er andernorts genauso großzügig gewesen sein könnte und daß die großartigen ionischen Bauvorhaben so manches dem lydischen Gold und vielleicht auch dem Einsatz seiner Arbeitskräfte, einschließlich deren besonderer Kenntnisse im Mauerwerkbau verdankt.« 16 Boardman hält es auch im Falle der Übertragung von Voluten und pflanzlichen Formen auf die Monumentalarchitektur für möglich, daß diese ursprünglich syrischen Formen über eine lydische Zwischenstufe von den Griechen adaptiert und selbständig weiterentwickelt wurden. In der sardischen Palastarchitektur wirkten offenbar hethitische Traditionen weiter; hierbei ging ein anfänglich »phrygischer« Stil mit den Veränderungen der politischen Machtverhältnisse in einen »lydischen« über, der im 7. Jahrhundert v. Chr. durch blockähnliche Figuren ohne anatomische Angleichungen sowie durch schwere Köpfe mit großen Augen und aufgedunsenen Zügen charakterisiert ist.17 Die lydischen Statuetten in Ephesos dagegen lassen ab Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. ionischen Einfluß erkennen. Paradigmatisch hierfür sind die Darstellungen der Göttin Kybele in der Steinskulptur. Kybele wurde in Kroisos' Sardes verehrt und der Artemis von Ephesos gleichgesetzt, möglicherweise war sie sogar eine ihrer Vorgängerinnen. Wir finden die lydischen Kybele-Statuen im allgemeinen stehend oder sitzend in architektonischen Zusammenhängen (einer Nische oder einem Schrein). Die engen kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Griechen und Lydern sind in der ionischen Lyrik des 6.Jahrhunderts v.Chr. vielfach bezeugt. Alkaios gedenkt der lydischen Unterstützung in seinem Kampf gegen den ehemaligen Verbündeten Pittakos, der seine führende Stellung gegen die alten Aristokratengeschlechter behauptet. 18 Sappho bedauert, ihrer Tochter keine farbig schimmernde Mitra aus Sardes schenken zu können und rühmt die farbigen Riemenschuhe, die die Füße so behutsam umschließen, »vortreffliche lydische Arbeit«. Wie sehr sie ihre Tochter Kleis liebt, unterstreicht Sappho durch einen charakteristischen Vergleich: »Nicht ganz Lydien,/ nicht das reizende Lesbos/ wollt ich gewinnen/ an ihrer Statt.«19 Die eigene Sehnsucht projiziert sie auf die imaginierten Gedanken, Bewegungen und Rufe einer Freundin, die jetzt in Sardes lebt: »Unter Lydiens Frauen erglänzt sie jetzt,/ wie nach Scheiden des Helios/ rosenfingrig der klare Mond die Sterne// sämtlich hell überstrahlt und sein Leuchten weit/ auf die salzige See ergießt/ und die blumenbestandenen Erdenflu-

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Ebd., S. 47. Vgl. John Boardman: Die Perser und der Westen, a. a. O., S. 49, Abb. 2. 18. 18 »Vater Zeus, die Lyder spendeten einstmals/ uns aus Mitgefühl mit der Not zweitausend/ Taler: sollten wir doch die heilige Festung/ einnehmen können - // niemals hatten Vorteile sie erhalten,/ kannten uns nicht einmal! Doch hoffte der schlaue/ Fuchs auf leichten Sieg und wähnte, im Stillen/ sich zu behaupten.« Flöte und Harfe, göttlicher Widerhall. Frühe griechische Lyrik, hrsg. von Viktor Jarchow, übertragen von Dietrich Ebener, Leipzig 1985, S. 116. 19 Flöte und Harfe, göttlicher Widerhall, a. a. O., S. 144. 17

STATUEN ren.«20 Lydien ist allgegenwärtig, so auch in Sapphos wohl berühmtesten Gedicht »Das Schönste«: »Der behauptet: Reiter, ein anderer: Fußvolk,/ dieser: Schiffe seien das Schönste auf der/ dunklen Erde. Aber ich selber sage:/ Das, was man lieb hat.// Dies läßt sich für jeden verständlich machen/ ohne Mühe: Helena, weitaus schönste/ Frau der Welt, erkor sich zu ihrem Mann den/ tüchtigsten Helden,// der das stolze Troja von Grund auf tilgte./ Nicht der Tochter, nicht der geliebten Eltern/ dachte sie, nein, Kypris verführte sie durch/ innige Liebe.// Frauenherzen werden gebrochen nämlich,/ unbeständig wechseln sie ihre Neigung;/ hin zu Anaktoria, in die Ferne,/ leitet mich Kypris.// Meines Mädchens reizendes Schreiten, ihre/ klaren Augen möchte ich lieber sehen/ als der Lyder Streitwagen und vor Waffen/ starrendes Fußvolk.«21 Lydien hat die Phantasie der Griechen beschäftigt; es ist schwierig, jeweils den harten historisch-sachlichen Kern zu ermitteln, der häufig imaginativ besetzt und überformt ist. Doch unbestreitbar wären nicht so viele Geschichten erzählt worden, ohne daß die Griechen - insbesondere die Bewohner der ionischen Küstenstädte und der Inseln, Lesbos etwa - reale Erfahrungen mit ihren kleinasiatischen Nachbarn gemacht hätten. Archilochos verbindet Lydien mit Goldreichtum und Tyrannis, Xenophanes mit Münzprägung und purpurfarbenen Luxusgewändern; Alkaios mit 2.000 Talern, mit denen sein Kampf gegen Pittakos unterstützt wurde; Sappho mit schimmernder Mitra und fußumschließenden Riemenschuhen, aber auch mit abschreckender Streitmacht; Anakreon mit den Saiten der lyrischen Harfe; Herodot mit Münzprägung und Handel; Piaton mit Ursurpation hinter dem goldenen Schleier der Unsichtbarkeit. Im Gyges-Modell hat Piaton auch einen Wechsel der Lebensform thematisiert. Der Goldfund mit dem Wirkungsvermögen, unsichtbar zu machen (paradox: das Glänzendste macht unsichtbar, der Glanz blendet, Unsichtbarkeit auch als Verblendungszusammenhang), ermöglicht den Ubergang vom Hirtendasein zur Begründung einer historisch faßbaren und wirksamen Dynastie und Staatlichkeit. Das muß in Piatons Geschichtsdenken eingeordnet werden: ein Urzustand (der im Rahmen des Zyklenmodells immer nur relativ ist) der einfachen Reproduktion, in der nichts Angemessenes fehlt, abgesehen von Gold und Silber, »denn dessen bedienten sie sich niemals in irgendwelcher Art«, wie es im vergleichbaren Zusammenhang im Kritias heißt (112b). Daraus folgt aber: Es geht hier nicht nur um individuelle Lebensführung und ethische Verhaltensregulierung, sondern um geschichtliche Daseinsweisen und -Ordnungen. Das Gyges-Modell ist auch ein Modell des Zivilisationsprozesses. In allen Platonschen Dialogen, in denen das Geld thematisiert wird, wird es hauptsächlich unter dem Aspekt bzw. in der Funktion der Schatzbildung erörtert. Piaton attackiert die Thesaurierung, läßt das Geld als Zirkulationsmittel im Warenverkehr aber gelten. Er weiß, daß Tausch in einem arbeitsteilig strukturierten Gemeinwesen ein allgemeines Äquivalent verlangt, jedenfalls unter Voraussetzung des Privateigentums, das Piaton aber nur als zweitbeste Eigentumsform (nach dem nicht durchsetzbaren Gemeineigentum) einschätzt. Auf dem Markt darf niemand übervor-

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Ebd., S. 134. Ebd., S. 134 f.

3. PLATONS GYGES UND DAS HISTORISCHE LYDIEN teilt werden. Piaton befürwortet so etwas wie eine erweiterte Subsistenzwirtschaft, die es dem Gemeinwesen auch ermöglicht, Wächter (und Philosophen) zu unterhalten. Die antike Oikonomia war eine Ökonomie der Selbstversorgung, die in der Hausgemeinschaft: ihren Kern hatte. Aber dieser subsistenzwirtschaftliche Rahmen wurde durch die Ausbreitung der Ware-Geld-Beziehung, die durch die Münzprägung entscheidend erleichtert und gefördert wurde, im Endeffekt gesprengt. Die techne chrematistike stand in keinem hohen Ansehen, aber das war eine prinzipielle Frage, eine Frage der obersten Wertsetzungen. De facto jedoch beginnen die Grenzen zwischen Oikonomia und Chrematistike zu verschwimmen. Gewiß hat Moses Finley recht, wenn er auf das Fehlen wesentlicher Voraussetzungen für ökonomische Dynamik verweist, doch seine Ausgrenzung des westlichen Kleinasiens mit Ausnahme der ionischen Küstenstädte muß relativiert werden. Die sogenannte orientalische Produktionsweise der Tempel- und Herrscherwirtschaften war nicht so monolithisch, wie oft behauptet. Abgesehen von der häufig vernachlässigten Differenz zwischen Tempelund Herrscherwirtschaften, konnte sich gerade letztere auf urbaner Grundlage auch mit der Ausbreitung von Ware-Geld-Beziehungen verbinden. Ebenso wie die Tempelund Palastwirtschaften auf technischen Erfindungen beruhten (Bewässerungsanlagen und Kanalsystem), ermöglichten sie in einem bestimmten Rahmen und bis zu einer bestimmten Grenze auch technologische Innovationen, und zwar nicht nur in der Militärtechnik (Belagerungsmaschinen), sondern hiervon ausgehend auch beim Aufbau einer Infrastruktur (Transportmittel, Straßenbau), die dem Handel zugute kamen. Gyges war einer der Initiatoren und Förderer der Königstraße von Sardes bis Susa, die auch im assyrischen Interesse lag. Piaton verurteilt die Chrematistike als ein durch gebrauchswertorientierte Bedürfnisse nicht begrenztes Gewinnstreben: Gewinn kann er noch nicht als Verwertung einer Kapitalanlage auffassen, sondern lediglich als Handelsspanne und Spekulationsgewinn, zumeist aber als Thesaurierung des zunehmend angehäuften Reichtums. Das Gewinnstreben, das nicht in Investition und Reinvestition produktiv wird (dergleichen kennt die Antike noch nicht), hat für Piaton keine ökonomische Funktion mehr, sondern führt aus der Wirtschaft hinaus, ist letztlich unwirtschaftlich. Die Voraussetzung dafür, daß sich Gyges in den Besitz des Ringes bringt, von dem er später profitiert, ist sein Mangel an Pietät und die Blendkraft des Goldfundes. Ihm fehlt die »Sitteneinfalt« der Hirten des Goldenen Zeitalters bzw. des platonischen Urzustandes. Er ist Hirt in einer Welt, die von orientalischen Despotien beherrscht wird, einer Welt, in der Gold viel zählt. Und wozu nutzt er den Schleier der Unsichtbarkeit? Er reiht sich ein in die Galerie vorderasiatischer Usurpatoren, die sich der Ächtung entziehen, indem sie ihr Unrechttun post festum legitimieren. Sie staffieren sich mit allen Herrscherattributen aus, einschließlich der Ausstellung ihres Reichtums. Was sie wirklich tun bzw. getan haben, wird dadurch unkenntlich. Wer die Kraft hat, einen Schein zu erzeugten, hinter dem er Gegenteiliges tun und sein kann, ohne daß dies durchschaut wird, agiert hinter dem Schleier der Unsichtbarkeit. Das scheinstiftende Moment ist das Gold, das als Schatz einen Glanz verbreitet, der blendet. Es ist aber auch das zirkulierende geprägte Geld, das Güter und Dienstleistungen in Bewegung hält und das seine Funktion erfüllt, wenn es von Hand zu Hand geht. Im Hände-

STATUEN Wechsel verliert der Initialtäter seine Identität. Thesaurierung kann aber auch für die Zirkulation wichtig sein - als Schaffung von Reserven, die es gestatten, Vorräte anzulegen. Die Zirkulation schließt Daseinsvorsorge ein; Vorratswirtschaft ist bereits ein zentraler Aspekt der Oikonomike. Ohne Mehrprodukt, ohne Uberschuß keine Vorsorge, keine Vorräte an Waren und Geld. So diskutiert Xenophon den Zusammenhang von Überschuß, Hortung, Zirkulation und Investition im Zusammenhang des attischen Silberbergbaus. Edelmetalle entgrenzen das Begehren: sie verwesen und oxidieren nicht. Ihr Besitz ist für den Lebenden, was die Statue für den Toten. Sie widerstehen, während sie sich in der Zirkulation, in der Mobilität zerstreuen und durch alle Hände gehen. So symbolisiert der Thesauros auch den Widerstand gegen die Auflösung, der aber jede Produktivität einbüßt. Mittels der Statue wird dem Tod etwas Dauerhaftes, Widerständiges abgetrotzt und beigesellt. Die Statue bleibt dem Tod in doppelter Hinsicht verbunden: sie erinnert an ihn, hält das Bewußtsein des Todes wach. Sie kann das Lebendige, das sie ummantelt, dem sie einen Schutzraum bietet, als dessen widerständige externe Objektivation sie aufragt, aber auch zur Erstarrung bringen. So kann auch das Gold — als Schatz und Geldreserve — den Lebenden erstarren lassen. Auch das Schatzhaus, der Thesauros, ist ein Monument, in dem Statue und Architektur vereinigt sind. Gyges ist ein Hirte, kein ausgewiesener Ungerechter, er wird durch die Möglichkeit, hinter dem Schleier der Unsichtbarkeit zu agieren, zum Unrechttun verführt. Dadurch springt er vom gesellschaftlichen Naturzustand in die üppige Stadt, die einfache Stadtwirtschaft wird übersprungen. Mit dem Hirten wird mithin ein Experiment angestellt. Hinter dem Gyges-Modell verbirgt sich eine Genealogie der Zivilisation und eine Bilanz der Polis-Entwicklung vom gesellschaftlichen Naturzustand über die elementare Polis zur üppigen Polis, eine Reflexion der Poliskrise, aus der, wie Piaton glaubte, eine radikale Reform und Erneuerung der Polis hinausführen könnte. Daß er mit Märchenmotiven arbeitet (goldener Ring der Unsichtbarkeit), gibt der Geschichte eine besondere Faszinationskraft und Triftigkeit. Er hält sich, nicht ohne ironische Distanz und abweichende Zitatförmigkeit, an Herodot, der auf Anekdotisches ebenfalls nicht verzichtet. Und Piaton bringt damit etwas von den imaginären Besetzungen ins Spiel, die das Gold nicht zuletzt als Medium der Münzprägung ausgelöst hat. Paradox: in der Zeit der strukturellen Poliskrise, als die weithin ausgeschöpften Möglichkeiten dieser Staatsform effiziente panhellenische Lösungen verhindern, wie die Staatenbünde und Bundesgenossenkriege zeigen, bleibt Piaton mit seinen Entwürfen im engen Rahmen der Polis. Marx hat Piatons ideale Polis als Idealisierung der Arbeitsteilung in Anlehnung ans altägyptische Kastenwesen bezeichnet. Aber die Arbeitsteilung ist ein dynamischer Prozeß und kann daher nicht auf einem bestimmten historischen Entwicklungsstand normativ angehalten werden. Die Arbeitsteilung drängte längst über den Polis-Rahmen hinaus. Die strukturelle Geschlossenheit der Polis hat dies behindert. Die Arbeitsteilung führte zu einem Professionalisierungs- und Spezialisierungsschub, zur Bildung von Berufsgenossenschaften und Verbänden, die panhellenischen Charakter hatten. Piaton konzipiert Polisgerechtigkeit als ausgewogenen Funktionszusammenhang der Polisbürger, indem jeder davon profi-

3. PLATONS GYGES UND DAS HISTORISCHE LYDIEN tiert, daß er das Seine tut - auf der Grundlage einer arbeitsteiligen Struktur. Diese Struktur soll durch eine entsprechende politische Ethik befestigt werden. Die Bauern, Handwerker und Kaufleute sollen von jeder politischen Mitbestimmung ausgeschlossen werden. Was bei Piaton auffällt: Differenzen der Mentalität und Sitte fallen bei ihm nicht ins Gewicht. Es spielt keine Rolle, ob Gyges ein lydischer Hirte oder ein attischer Bauer ist, ob er in Sardes oder in Athen hinter dem Schleier der Unsichtbarkeit agiert, ob er sich in einem »barbarischen« oder hellenischen Kontext des sozialen Verkehrs bewegt: die Verführung scheint im Endeffekt gleich groß. Natürlich könnte er in Athen keinen König töten oder stürzen, aber auch der Unterschied der Regierungsform scheint eine geringe Rolle zu spielen. Aus der Demokratie kann unter Umständen schnell eine Oligarchie oder eine Tyrannis werden. Piaton will also nicht sagen: so etwas kann nur den Barbaren passieren. Niemand ist dagegen gefeit, ungerecht zu werden, wenn er keine Strafe zu gegenwärtigen hat.

Myson: Bauchamphora, 500/490 v. Chr. Paris, Louvre. Kroisos auf dem Scheiterhaufen u n d sein Diener Euthemos Von der Gegenseite: Theseus entführt die Amazone Antiope; rechts sein Freund Peirithoos nach: Eric David Francis, Image and Idea in the Fifth-century Abb. 2 7 und 29

Greece, London - N e w York 1990,

4. Kroisos und Theseus

Statuen, die nicht geschaffen wurden, um gesehen zu werden, die nicht auf einen subjektiven Betrachterstandpunkt zugeschnitten sind, sind allein schon dadurch Artefakte, die Piatons radikalem Objektivismus entgegenkommen, fernab von allen Zugeständnissen an den Schein, an die Schmeichelkunst der Augenlust, die Skiagraphia. Der Zusammenhang von Statue und Tod wird gelöst, wenn die Statue auch eine Lust eigener Art bereitet, Genuß an der Gestaltung selbst, wie Gorgias formuliert. Piatons Höhle hat also auch die Dimension des Todes, des Umgangs mit den Toten, verweist auf Grabanlagen und Bestattungsriten: in diesen Bereich dringt Gyges ein, und er holt das Gold ans Licht. Er trägt die Magie des Grabes ins Leben und bringt Verführung und Tod. Er respektiert die alten Satzungen nicht, weil er sie nicht kennt. Er weiß es nicht, aber er tut es; für Piaton der exemplarische Fall menschlichen Fehlverhaltens. »Sie wissen es nicht, aber sie tun es.« 1 Doch Gyges löst den Grabschatz nicht auf, um ihn erneut zu thesaurieren. Als König bricht Gyges mit der Tradition der Thesaurierung. Das Grab ist der erste Thesauros, der Thesauros ist ein Grab. Wer aus dem Thesauros lebt, lebt von den Toten. Gyges aber stellt mit dem Gold etwas an: er läßt Münzen prägen. Das Gold zirkuliert als gemünztes Geld und läßt Güter verschiedener Art zirkulieren. Während die Zirkulation immer weitere Kreise zieht, bauen sie dem Alyattes ein monumentales Grab, das zerstört werden wird. Mit der Auflösung der Differenzqualitäten in den Tauschwert mag der Tod konnotiert werden, aber die Zirkulation, die Metamorphose von Ware in Geld und Geld in Ware ist ein Vollzug des Lebens, der einfachen Reproduktion des Gemeinwesens in seinem ökonomischen Daseinsprozeß. Der goldreiche Gyges ist bereits ein Topos, als Piaton die Politeia schreibt. Aber er gibt dem Topos eine neue Wendung: Gyges' Gold wird mit dem Ring der Unsichtbarkeit zusammengedacht, dieser entstammt dem märchenhaften Motivkreis, in den auch der Helm des Hades gehört. Gegenüber der literarischen Tradition, die durch Bakchylides, Herodot und die frühe Tragödie gebildet wird (die Datierung der nur in einem Fragment überlieferten (Tj/gw-Tragödie ist allgemein umstritten, die Existenz einer Kroisos-Tragödie kann mit guten Gründen vermutet werden), nimmt Piaton eine

1

Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 88.

STATUEN moralische Wertung der Gyges-Figur vor. Warum geht er nicht auf das tragische Dilemma ein, in das sich Gyges in zwei unterschiedlich gelagerten Entscheidungssituationen verstrickt? Während die Frau des Kandaules in der ersten Situation das Objekt der Schaustellung ist, wird sie in der zweiten Situation zur Akteurin: aus ihrer Verletzung und Bloßstellung heraus, für die sie Kandaules verantwortlich macht, stellt sie Gyges vor die Wahl, sie zu rächen oder an Stelle des schamverletzenden Anstifters zum Frevel selbst getötet zu werden. Piatons Erfindung verblüfft auch unter einem anderen Aspekt: bei Herodot wird die Katastrophe dadurch ausgelöst, daß Gyges trotz der Vorkehrungen des Kandaules und der dadurch beeinträchtigten Sichtverhältnisse gesehen und erkannt wird; dies läßt ihn im Endeffekt zum Usurpator werden. Piaton streicht diesen Teil der Geschichte. Mit dem Ring der Unsichtbarkeit wäre Gyges unentdeckt geblieben. Daher eröffnet ihm bei Piaton auch erst der Ring die Möglichkeit, ungesehen und sanktionsfrei »in die Häuser zu gehen und beizuwohnen, wem er wollte« (Piaton, Politeia 360c). Er ist der Verführer, der Kandaules' Frau »zum Ehebruch verleitet«. Die in einem traditionellen Scham Verständnis befangene und in ihrer Würde verletzte Frau spielt keine Rolle. Das Motiv, das sie zum Handeln bringt, wird als nebensächlich vernachlässigt. Herodot dagegen erzählt die Kandaules-Gyges-Geschichte, um einen zentralen Punkt seines historischen Ansatzes zu unterstreichen: die kulturelle Relativität von Sitten und Wertvorstellungen und ihre absolute Geltung innerhalb des Rahmens einer Tradition. Es geht insbesondere um die in weiblicher Sicht wahrgenommenen Aporien antiker Schamkultur und um die Mißachtung weiblicher Sensibilität in der Dynamik der Geschlechterspannungen. Das ist freilich nicht Piatons Thema. Herodots Geschichte, der ein Gyges-Drama vorausging oder folgte, ist eine fabulatorische Erklärung der Usurpation, der sich der historische Gyges tatsächlich schuldig gemacht hat. Angesichts einer Rebellion gegen den Usurpator erklärte sich Gyges zu Verhandlungen mit den Rebellen bereit. Man einigte sich darauf, das Orakel zu Delphi zu befragen (Herodot, Historien I, 13), das Gyges als neuen König bestätigte. So wurden die Herakliden abgelöst und die neue Dynastie konnte begründet werden.2

Nach Sir John Myres hat sich die Usurpation folgendermaßen abgespielt: »Gyges, der Sohn des Daskylos aus dem Geschlecht der Mermnaden, Herr von Tyrrha im oberen Hermosbecken, der in Phrygien Zuflucht gefunden hatte, stürzte Kandaules, den letzten Heraklidenkönig, der auch Myrsilos genannt wurde, was übrigens ein alter hettitischer Name ist. Dabei fand Gyges die Hilfe der 2

Königin Tudo von Mysien und des Kommandanten der Leibwache, Arselis von Mylasa in Karien. Dieser vielfach geförderten Aufstandsbewegung (ca. 679 v. Chr.) deckte sowohl Ephesos wie auch Delphi den Rücken, wobei letzteres reichen Lohn aus den Goldfeldern von Sardes erhielt. Das von Herodot überlieferte Datum 712 v.Chr. dünkt zu früh, es sei denn, daß es sich nicht auf dieses Königtum, sondern eine enger begrenzte Herrschaftsausübung bezieht. Obgleich Gyges große Teile des westlichen Küstenlandes von der phrygischen Herrschaft befreite, die seit 670 durch die Einfalle der Kimmerier wesentlich geschwächt war, wurde seine Hauptstadt selbst durch die Kimmerier und dann im Jahre 630 v. Chr. durch Sadyattes genommen, der so die Eindringlinge wieder vertrieb, von denen nur ein Rest in Sinope sich ansässig machte.« John L. Myres: »Kleinasien«, in: Historia mundi. Ein Handbuch der Weltgeschichte in zehn Bänden, begründet von Fritz Kern, hrsg. von Fritz Valjavec, Bd. 2: Grundlagen und Entfaltung der ältesten Hochkulturen, München 1953, S.479f.

4. KROISOS UND THESEUS Piaton gibt eine andere Erklärung für die Usurpation, wie wir wissen. W i e hat Gyges, der Usurpator, seine Herrschaft zu legitimieren gesucht? Entscheidend war natürlich die Anerkennung durch Delphi, die allerdings einen Haken hatte: sie sollte nur bis ins fünfte Glied gelten. Aber Gyges mußte sich nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch legitimieren, um sich zwischen den nomadisierenden und angriffslustigen Kimmeriern und der assyrischen Großmacht zu etablieren. Walter Burkert ist dieser Frage nachgegangen. Sein Ausgangspunkt ist die lydische Königsliste wie Herodot sie aufstellt, um eine Chronologie zu bekommen. 3 Im Falle der ägyptischen und der persischen Königsliste konnten Herodots Angaben (Namen, Anzahl der Jahre, Sequenz) anhand unabhängiger Quellen kontrolliert und korrigiert werden. Doch es gibt keine authentische lydische Tradition, die unabhängige Kontrolle ermöglicht. Seit Auffindung der Annalen von Assurbanipal ( 6 6 8 - 6 2 7 v. Chr.), die Gyges als Zeitgenossen des Assyrerkönigs erweisen, ist Herodot falsifiziert: nach seiner Liste ist Gyges ungefähr 25 Jahre zu früh angesetzt. Als das Uberraschende an Herodots lydischer Königsliste erörtert Burkert jedoch die Verweise auf Ninos und Belos. Sie stellen eine Abhängigkeit von Ninive und dem Gott von Ninive her, der bei seinem in Assyrien gebräuchlichen Titel Belu, »Herr«, genannt wird. Wenn das einen Sinn ergeben soll, kann dieser nach Burkert nur in Wechselbeziehungen zwischen Lydern und Assyrern entdeckt werden. Burkert zieht hierfür die Gyges betreffende Inschrift heran. Der Assyrerkönig empfängt eine Gesandtschaft von Guggu, König von Luddi, einem »fernen Land« wie Assurbanipal registriert, »von dem meine Väter nichts wußten«. Assur, »der Gott, der mich erhalten hat«, so fährt Assurbanipal fort, habe Guggu den verehrten Namen seiner Majestät im Traum enthüllt, und zwar mit den Worten, Guggu möge die Füße ihrer Hoheit Assurbanipal küssen. Am Tag nach dem Traum habe Guggu Gesandte losgeschickt, um friedvolle Beziehungen aufzunehmen, was vom »König der Könige« als freiwillig offeriertes Vasallentum interpretiert wurde, wie Burkert betont. »Gyges, der neue König, Mörder seines Vorgängers, ist ängstlich besorgt, Anerkennung durch die östliche Supermacht zu erlangen, indem er sich der von Ninive erwarteten diplomatischen Formen bedient, einschließlich der Erzählung von des Königs Traum.« 4 Eine Genealogie, die das lydische Königtum bis zu den frühesten Zeiten von Ninive zurückführt hat, so das Argument von Burkert, hat im gegebenen Kontext evidentermaßen Sinn gemacht. »Lydiens Königtum leitet sich von Ninive her, auch

3 »Die Herrschaft der Herakliden kam so an das Geschlecht des Kroisos, die sogenannten Mermnaden: Kandaules, den die Griechen Myrsilos nennen, war Tyrann von Sardes. Er stammte von Alkaios ab, dem Sohn des Herakles. Der erste König aus dem Heraklidenhaus in Sardes war Agron, der Sohn des Ninos, Enkel des Belos, Urenkel des Alkaios. Kandaules, der Sohn des Myrsos, war der letzte. Die Könige dieses Landes vor Agron waren Nachkommen des Lydos, des Sohnes des Atys, nachdem das jetzige ganze Volk Lyder heißt, die man vordem Meier bezeichnete. Diese übergaben den Herakliden die Herrschaft nach einem Götterspruch. Sie stammten von Herakles und einer Sklavin des Iardanos und herrschten 22 Menschenalter hindurch, 505 Jahre, und immer folgte der Sohn dem Vater auf den Thron bis zu Kandaules, dem Sohn des Myrsos.« (Herodot, Historien I, 7.) 4 Walter Burkert: »Lydier between East and West or How to Date the Troyan War. A Study in Herodotos«, in: ders., Kleine Schriflen I. Homerica, hrsg. von Christoph Riedweg, Göttingen 2001, S. 229.

STATUEN wenn dies von nachfolgenden Generationen längst vergessen worden ist; der neue König erneuert diese Abhängigkeit, er kommt, mm Assurbanipal die Füße zu küssen< und erlangt auf diese Weise die Legitimation für seine Usurpation.« 5 Damit ist aber die zweite Überraschung noch nicht erklärt, die die lydische Königsliste nach Herodot bereithält. Belos, von Gott zu einem Menschen gewandelt, figuriert als Sohn des Alkaios und Enkel von Herakles: eine merkwürdige lydisch-assyrisch-griechische Verbindung. Burkert vermutet dahinter den Versuch, der mermnadischen Dynastie, ungeachtet ihres Gründungsvergehens, der gewaltsamen Ablösung der lydischen Herakliden durch Gyges, einen gleichwertigen Status im Verhältnis zu anderen Heraklidendynastien zu erreichen. Deren prominenteste aber herrschte in Sparta. Burkert denkt natürlich an Kroisos, der Beziehungen zum Westen, zu Griechenland gesucht und mit Sparta einen Bündnisvertrag geschlossen hat. »Einmal mehr finden wir eine erfundene Tradition, die klarerweise Herodot zeitlich vorausgeht und nur vor dem Fall von Sardes Sinn macht.« 6 Was hat die Griechen des 5.Jahrhunderts v.Chr. mit Sardes verbunden? Wie haben sie die Stadt gesehen, was haben sie von ihr erzählt (oder gewußt), welchen Platz nahm die Stadt im kulturellen Gedächtnis der Griechen ein? Sie wußten, daß Sardes nach dem Verlust der lydischen Unabhängigkeit ein Zentrum im Perserreich geworden war, in dem auch der athenische Tyrann Hippias Zuflucht gefunden hat; es war ihm gelungen, den lydischen Satrapen Artaphrenes für sich zu gewinnen, und es mußte zum damaligen Zeitpunkt befürchtet werden, der Tyrann könne mit lydischer oder persischer Macht nach Athen zurückkehren. Das war auch der Anlaß gewesen, in Kleinasien zu intervenieren, als sich die ionischen Städte unter Führung des milesischen Tyrannen Aristagoras erhoben, um die persische Vormundschaft abzuschütteln. Aber mit Sardes war auch ein Sakrileg verbunden, das die Athener begangen hatten, als sie, die zur Unterstützung der Ionier 20 Schiffe geschickt hatten, nach der Landung gegen den Sitz des lydischen Satrapen gezogen waren. Nachdem ein Athener Soldat (nach Herodot auf eigene Faust) ein schnell um sich greifendes Feuer gelegt hatte, wurde die Bedrängnis der Verteidiger genutzt, um Sardes niederzubrennen ohne Schonung des alten Tempels der Kybele/Artemis. Dieses Sakrileg lieferte den historischen Präzedenzfall, der auch den Persern die Scheu nahm, griechische Heiligtümer in Trümmer zu legen. Bekanntlich wurde die ionische Erhebung niedergeschlagen. Die Athener zogen sich zurück, als sich die Niederlage abzeichnete. Phrynichos' Tragödie Die Einnahme von Milet rührte die Athener zu Tränen; weil er die Athener an ihr eigenes Unglück erinnert habe, verurteilten sie den Dichter jedoch zu 1.000 Drachmen Strafe und ordneten an, dieses Drama dürfe niemand mehr zu Gesicht bekommen. Bemerkenswert ist ein Bildzeugnis der zeitgenössischen Verarbeitung der Niederlage in Ionien, in dem nicht unmittelbar auf das Ereignis reagiert wird: vielmehr wird es in der Bezugnahme auf den lydischen König Kroisos, der ein

5 Ebd., S. 230. Ebd., S.231.

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4. KROISOS UND THESEUS halbes Jahrhundert früher von den Persern besiegt worden war, verarbeitet: an die Stelle von Milet trat das von Kyros eingenommene Sardes. Es handelt sich um die dem Maler Myson zugeschriebene Bauchamphora (Paris, Musee de Louvre, G197), die um 500/499 v.Chr. datiert wird. Die Seite Α zeigt einen Vorgang, den 25Jahre später (468 v.Chr.) der Chorlyriker Bakchylides in der III. Ode für einen olympischen Sieg des Hieron von Syrakus (im Wagenrennen) übernommen und sprachlich ausgeformt hat: »Denn einstmals beschützte Apollon,/ der Träger des goldenen Schwertes,/ den Herrscher der rossetummelnden Lyder auch,/ den König Kroisos, als der Kronide/ dem Schicksal gemäß die Entscheidung traf/ und Sardes vom Heer der Perser genommen ward.// Im Angesicht des niemals erwarteten Tages/ gedachte Kroisos nicht zu harren/ der Tränen erregenden Knechtschaft, sondern errichtete/ sich einen Scheiterhaufen vor dem ehern ummauerten Schloßhof. Ihn bestieg er/ mit seiner getreuen Gattin und seinen von Locken/ umwallten Töchtern, die bitterlich weinten./ Die Hände streckte er aus zum hohen Himmel/ und rief >Du übermächtige Gottheit,/ wo bleibt der Dank der Unsterblichen?/ Wo weilt der Gebieter, der Sproß der Leto?/ Zugrunde geht der Palast des Alyattes/ [...]/ rot färbt sich vom Blut der golden strömende Paktolos, rücksichtslos werden die Frauen/ gezerrt aus den trefflich gepflegten Wohnungen.// Das einstmals Verhaßte gilt als willkommen;/ Erlösung bringt den Tod.< So rief er und befahl dem/ behutsam schreitenden Diener, den Holzstoß anzuzünden.« 7 Die dramatische Selbstopferung und Verbrennung nimmt bei Bakchylides eine Wendung in die unerwartete Versöhnung und Läuterung: »Doch während die glühende Wut der schrecklichen Flamme/ den Scheiterhaufen verzehrend durchdrang,/ rief Zeus ein düstres Gewölk herauf/ und löschte das gelbrote Feuer.« Kroisos wird gerettet, um »seiner Frömmigkeit willen: Es hatte Kroisos/ von sämtlichen Menschen am reichsten der heiligen Pytho gespendet«. »Leicht beschwingte Hoffnung verwirrt das Denken/ der Eintagsgeschöpfe«, schreibt Bakchylides, und führt den Gedanken als einen an Kroisos gerichteten Ratschlag Apolls näher aus. Apoll rät zu zweifacher Erwägung: »Daß nur am morgigen Tage noch einmal/ den Glanz der Sonne du schaust,/ und daß du noch fünfzig Jahre hindurch/ ein Leben in üppigem Reichtum führst./ Such Freude im rechten Handeln,/ das bringt den höchsten Gewinn!« Auf Mysons Vasenbild findet sich nicht der geringste Hinweis auf die Wendung des Geschehens in Errettung und Belehrung. Was den Maler Myson interessiert hat, ist die gefaßte Haltung des Königs angesichts des Todes. Er steht nicht einfach auf dem hoch aufgeschichteten Scheiterhaufen; auf diesen ist vielmehr sein Thron gestellt, auf dem Kroisos Platz genommen hat, bärtig, in einen Chiton und einen Mantel gehüllt, in der Linken ein Zepter, in der Rechten eine Schale, aus der sich ein voller Strahl ergießt; zur Opferspende ist Kroisos mit Lorbeer bekränzt, vor ihm bückt sich ein betrübter Diener, der mit Fackeln den Scheiterhaufen anzündet. Zeigt die Seite A einen Vorgang, der einen historischen Kern hat, so wird auf der Seite Β ein mythi7 Bakchylides: »Lied für Hieron von Syrakus, der bei den Olympischen Spielen den Sieg im Wagenrennen errang«, in: Griechische Lyrik. Aus dem Griechischen übertragen von Dietrich Ebener, Berl i n - W e i m a r 1980, S. 264 f.

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STATUEN scher Frauenraub vor Augen gestellt, der auf den ersten Blick mit der Seite Α nicht das Geringste zu schaffen hat: in voller Rüstung mit Schild, Speer und Kurzschwert, gedeckt von seinem Freund Peirithoos, der, den Kopf gegen die Laufrichtung zum rechten Bildrand hin gewendet, über den Schildrand hinweg auf mögliche Verfolger zurückblickt, trägt der junge Theseus in vollem Lauf die sich sträubende Amazone Antiope davon, die er kraftvoll mit beiden Armen umklammert; sie ist in die Hosentracht eines skythischen Bogenschützen gekleidet, die in der Linken gehaltene Streitaxt nützt ihr nichts, hilfesuchend streckt sie die Rechte nach ihren (nicht dargestellten) Gefährtinnen aus, die Peirithoos abzuwehren bereit ist: eine kunstvoll ineinandergefügte Dreiergruppe mit gegenstrebigen Bewegungsimpulsen. Auf das Bild wird zurückzukommen sein. Herodot gibt eine auf recherchierte Fakten, Anekdoten und Legenden gestützte historisch-biographische Darstellung des Kroisos, in der möglicherweise auch Motive des nicht erhaltenen Kroisos-Dramas verarbeitet sind. Nach Herodot hat auch eine Begegnung zwischen dem großen Athener Reformer Solon u n d dem Lyderkönig Kroisos stattgefunden; gegen die Möglichkeit einer solchen Begegnung sprechen allerdings die historischen Daten. Dennoch ist es eine aufschlußreiche Konfiguration, die in anderer Weise auf das Interesse aneinander verweist, das Athener und Lyder verbunden hat. Kroisos ist in Herodots Novelle der Verblendete, der durch Leiden lernt und nach griechischen Maßstäben zum Weisen wird. Nach der mühevollen Durchsetzung seiner staats-, eigentums- und schuldrechtlichen Reformen ging Solon bekanntlich auf Reisen, Horizonterweiterung mit Handelsgeschäften verbindend. Nach einem Aufenthalt am Nil reiste er auch in die lydische Hauptstadt Sardes. Er wollte den M a n n kennenlernen, der sich in einem schier unerschöpflichen Goldreichtum sonnte. Kroisos war ebenso begierig, dem attischen Weisen die Frage zu stellen, die ihn am meisten beschäftigte: Gibt es jemanden, den Solon als den glücklichsten Menschen auf Erden bezeichnen würde? Solons Antwort verblüfft ihn. Solon nennt einen Athener Bürger, Telos, dieser lebte in einer aufblühenden Stadt, hatte zulängliche Söhne und gesunde Enkel. »In einer Schlacht zwischen Athenern u n d ihren Nachbarn in Eleusis brachte er durch sein Eingreifen die Feinde zum Weichen und starb den Heldentod. Die Athener begruben ihn auf Staatskosten an der Stelle, wo er gefallen war, und ehrten ihn sehr.« (Herodot, Historien I, 30) Nach dem Zweitglücklichsten gefragt, nannte Solon das Brüderpaar Kleobis und Biton, die gleichzeitig in Wettkämpfen siegten und an Stelle der ausbleibenden Ochsen selber unter das Joch traten, um bei einem Hera-Fest in Argos über eine Wegstrecke von 45 Stadien ihre Mutter in einem Fahrzeug zum Tempel zu transportieren. Die Brüder starben an Entkräftung; dafür, daß sie ihre Mutter so hoch in Ehren gehalten hatten, ließen die Argeier Standbilder von ihnen machen »und stellten sie in Delphi auf als Bilder edler und wackerer Männer« (Herodot, Historien I, 31). Offenbar ist Kroisos nicht gewohnt zu philosophieren, d. h. zu problematisieren, aber er kann den verblüffenden Distinktionen Solons durchaus folgen: von der erforderlichen Begriffsanalyse (Was wollen wir unter Glück verstehen?) bis zum Hinweis auf die Kontingenz des Einzeldaseins. »Daß [...] alles das, was zur Glückseligkeit gehört, bei einem Menschen zusammentrifft, ist unmöglich [...] So erfüllt auch der Mensch als Einzelwesen sich nicht selbst. Das eine

4. KROISOS UND THESEUS

hat er, etwas anderes entbehrt er [...] Überall muß man auf das Ende und den Ausgang sehen.« (Herodot, Historien I, 32) Dennoch war Kroisos nicht belehrt. Er verlegte sich darauf, mit unterschiedlichen Orakelstätten zu handeln, um Entscheidungshilfe zu erlangen. Er wollte Gold gegen Gewißheit tauschen. Kroisos stellte das Orakel von Delphi auf die Probe und suchte es mit seinen Schätzen zu korrumpieren. Doch der Herr zu Delphi gibt keine Gewißheit: er deutet an. Lektüreweise und Interpretation hat der Fragende selber zu verantworten. Als sich Kroisos nach der Niederlage gegen die Perser beim Orakel zu Delphi beschwerte, erhielt er den Bescheid, er habe schließlich versäumt zu fragen, welches große Reich er zerstören würde, wenn er den Halys überschreitet. Anders als bei Bakchylides und Myson ist es bei Herodot der Perserkönig Kyros, der Kroisos auf den Scheiterhaufen stellt und diesen anzünden läßt: Ein dem Kroisos geneigter Gott würde ihm helfen. Kroisos ruft immer wieder: Solon, oh Solon! Neugierig geworden, ließ Kyros ihn über Dolmetscher fragen, wen er da rufe. Von weiteren Fragen bedrängt, erzählte Kroisos schließlich von seiner Begegnung mit Solon: »[...] schon brannte der Außenrand des entzündeten Scheiterhaufens. Als Kyros von den Dolmetschern hörte, was Kroisos gesagt hatte, besann er sich und überlegte, daß er ja auch nur ein Mensch sei und einen andern, der ihm einstmals an Glück nicht nachgestanden hatte, lebend dem Feuer überantworten wollte. Außerdem fürchtete er die Vergeltung und sagte sich, daß nichts im Menschenleben sicheren Bestand habe.« (Herodot, Historien I, 86) Kyros wollte das Feuer löschen lassen, was nicht gelang. Da ergoß sich aus dem plötzlich verdunkelten Himmel ein kräftiger Regen. Es bedurfte der Niederlage, daß Kroisos endlich begriff, was ihm Solon begreiflich machen wollte: daß es in menschlichen Dingen keine Gewißheit gibt und Gold nicht Glück verbürgt, daß nichts entschieden sei, solange man lebt. Kroisos hatte nicht nur den Orakelspruch voreilig zu seinen Gunsten ausgelegt, er hatte auch wenig Verständnis für ökonomisch fundierte Unterschiede in der Lebensweise erkennen lassen, als er sich für einen Präventivkrieg gegen die zur Gefahr gewordenen Perser entschloß und die Warnung seines Beraters Sandanis in den Wind schlug: »>König, du rüstet einen Zug gegen Männer, die lederne Hosen tragen und auch andere Kleidungsstücke aus Leder, gegen Leute, die nicht essen, wieviel sie wollen, sondern wieviel sie besitzen, weil sie ein rauhes Land bewohnen. Sie haben keinen Wein, sondern trinken Wasser, sie knabbern nicht einmal Feigen, geschweige denn andere Leckerbissen. Was kannst du ihnen also nehmen, wenn du sie besiegst? Sie haben ja selbst nichts. Andererseits mache dir klar, was du für Güter verlierst, wenn du besiegt wirst.« (Herodot, Historien I, 71) Tatsächlich besaßen die Perser, kommentiert Herodot, bevor sie die Lyder unterwarfen, keine feine Lebensart und keinen Reichtum. Nach der Niederlage gegen die Perser allerdings suchte Kroisos bei Kyros einen ökonomischen Sinn zu wecken. Er machte ihm klar, daß er nur sein neu erworbenes Eigentum schmälere, wenn er Sardes zur Plünderung freigebe. In diesem Falle vermochte Kroisos den Perserkönig zu überzeugen, doch von einem Verständnis für ökonomische Prinzipien war Kyros weit entfernt. Das zeigt seine Reaktion auf eine griechische Warnung vor persischen Übergriffen auf die ionischen Städte. Er hat zunächst nur Verachtung für die Polisbürger übrig: »>Ich habe noch nie vor Männern Angst gehabt, die in der Mitte ihrer

STATUEN Städte Plätze angelegt haben, auf denen sie sich versammeln, um Eide zu schwören und sich dabei zu belügen [...].Was denn anlegen?< antwortete sie: >Das, weswegen man mich eine Frau nennt.Auge in Auge< zu ebener Erde konfrontiert war«. 9 Die Archäologin verweist auf Giebelskulpturen des Parthenon (ζ. B. die fliegende Götterbotin Iris). Die Rundung des Bauches hebt sich auch bei der sogenannten Aphrodite Urania unter dem Chiton ab. Bei der Nike des Paionios kommen erstmals Schoß und Pubes un-

8 Wiltrud Neumer-Pfau: Studien zu Ikonographie Aphrodite-Statuen, Bonn 1982, S. 101. 9 Ebd.

und gesellschaftlichen

Funktion

hellenistischer

5 . ANTIKE SCHAMKULTUR

ter dem dünnen Peplos, der eng an den leicht geöffneten Beinen haftet, zum Vorschein. Allerdings wird bei dieser annähernd nackten weiblichen Gestalt durch das Motiv des Schwebens der kontrapostische Aufbau verunklärt. Dagegen bringt die sogenannte Venus genetrix durch die Verschiebung des Beckens den Kontrapost zur Entfaltung; erstmals wird »die beim nackten männlichen Körper schon lange übliche Ponderation mit der des weiblichen vergleichbar«.10 Hinzu kommt, daß die Entblößung sehr wahrscheinlich aus größerer Nähe wahrnehmbar war. Die Aphrodite von Epidauros ließ die Vorderseite des Körpers unter dem dünnen Gewand fast unbehindert durchscheinen. Mit der bis auf die Hüften enthüllten Aphrodite von Arles verbindet sich die bis heute ungeklärte Frage, ob sie auf ein Werk des Praxiteles zurückgeht; als Vorarbeit zur knidischen Aphrodite hätte sie vermutlich im gleichen Kontext Erwähnung gefunden. Auffällig bleibt der Unterschied bei der Bildung des männlichen und des weiblichen Geschlechtsteils. Praxiteles beschränkt sich bei seiner Aphrodite auf eine schematische Dreiecksform: »Wiedergegeben wird [...] lediglich die Wölbung des Schambeins, die von zwei jeweils über der Oberschenkelmitte einsetzenden, schräg nach unten aufeinander zulaufenden Einkerbungen in der Leistenbeuge vom Beinansatz abgegrenzt wird. Beide treffen etwa rechtwinklig in der Vertiefung zwischen den Oberschenkeln zusammen. Die Abgrenzung zum Bauchansatz verläuft in einer etwa horizontalen Vertiefung oberhalb des Schambeins [...].«" In Anbetracht der minutiösen und sorgfältigen Behandlung des Geschlechtsteils bei nackten männlichen Statuen empfindet Wiltrud Neumer-Pfau »die summarische Behandlung der Vulva umso erstaunlicher«. Diese Darstellungsdifferenz wird in der griechischen Plastik auch künftig nicht angetastet. Andrew Stewart hat die Frage aufgeworfen: »[...] wie konnte Praxiteles die Epiphanie der Liebesgöttin in ihrem überwältigenden Glanz und ihrer Macht körperlich herausstellen, wenn dies adäquaterweise einschloß, sie nackt zu zeigen?« Die von Praxiteles gefundene Lösung bezeichnet Stewart als revolutionär.12 Daß auch die Zeitgenossen einen solchen Eindruck hatten, bezeugen die vielen Epigramme, die auf die knidische Aphrodite verfaßt worden sind. Eines davon wird sogar Piaton zugeschrieben: »Über den Wogenschwall zog Aphrodite nach Knidos und wollte ansehen dort sich das Werk, das ihr ein Künstler geweiht. Im überdachten Räume beschaute genau sie das Standbild, rief dann: >Wo sähest du mich, Meister Praxiteles, nackt?< Freilich, Praxiteles sah sie nicht, scheute den Frevel - wie Ares sich Aphrodite gewünscht, hat sie der Meißel geformt.« 13

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Andrew Stewart: Art, Desire, and the Body in Ancient Greece, Cambridge 1997, S. 100. 13 Die Griechische Anthologie in drei Bänden, hrsg. und übertragen von Dietrich Ebener, Bd. 3, Buch XVI, 160, Berlin - Weimar 1981, S.303. Piaton ist 347 v. Chr. gestorben; es hängt von der Datierung der knidischen Aphrodite ab, ob er diese noch gesehen haben kann oder nicht. Werner Fuchs datiert sie auf 340 v. Chr., Andrew Stewart auf 350 v. Chr.

STATUEN Die Göttin nackt gesehen zu haben, wird noch als Frevel apostrophiert; statt dessen wird die vollkommene Nacktheit auf das vollkommene Wunschbild zurückgeführt. Andrew Stewart sieht das Revolutionäre an der praxitelischen Lösung des mit einem Götterbild der Aphrodite verbundenen Darstellungs- und Gestaltungsproblems in Folgendem: »Seine Aphrodite hatte gleichzeitig die Protokolle der weiblichen Mäßigkeit anzuerkennen, die durch das öffentliche Auge angefertigt wurden; den erotisierten Blick mit ihrer unwiderstehlichen Sexualität zu überwältigen und doch die Distanz und Dignität der Göttin zu behaupten.« 14 Diese Anforderungen schienen schlechthin unvereinbar. Insofern sei der Bildhauer herausgefordert gewesen, das Nichtdarstellbare darzustellen. Die knidische Aphrodite »problematisierte die gesamte griechische Auffassung von Frauen als geringeren und unvollendeten Männern, gekennzeichnet durch eine beständige Mixtur von Mangel und Exzeß. Sie verkörperte eine radikalere Version, in der Frauen den Ort des Inkommensurablen und Unbegrenzten bilden, eine allgegenwärtige Bedrohung der Grenzen einer zentrierten, rationalen, dominanten männlichen Subjektivität«. 15 Frühe Bilder machtvoller weiblicher Nacktheit findet Stewart vor allem in den Statuetten und Statuen vom Typ der nahöstlichen »nackten Göttin« oder der Astarte, die aus dem 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. stammen und im südlichen Griechenland, auf den ägäischen Inseln, auf Kreta und in den Küstenstädten Kleinasiens gefunden wurden; sie verkörpern eine Vielzahl von Gottheiten einschließlich Aphrodite, Hera, Artemis, Eileithyia und sogar Athene. »Nackt bis auf Juwelen und Kopfschmuck begegnen sie dem Beobachter direkt, kerzengrade aufrecht stehend, eine oder beide Brüste mit den Händen darbietend und auf ihren Schoß hinweisend. Sie ignorieren dadurch absolut und kategorisch alle griechischen Verhaltensnormen des Aidos für sterbliche Nacktheit finden wir griechiFrauen.« 16 Unter den frühen Bildzeugnissen männlicher sche Wagenlenker und Krieger in Statuetten aus Bronze oder Terrakotta; sie sind oft nackt bis auf den Gürtel. Ebenso zeigen Vasenbilder der geometrischen Kunst nackte Trauernde. Dies läßt aber keine Rückschlüsse auf Nacktheit im wirklichen Leben zu, wie Winckelmann und Hegel noch angenommen hatten. Auch ägyptische Einflüsse wurden erwogen. Doch in Ägypten wurden in Reliefplastiken, auf Bildern und in Statuetten insbesondere Fischer, Handwerker und andere Arbeiter nackt gezeigt, was vielfach mit ihrer Beschäftigung und ihren Arbeitsbedingungen zusammenhängt. Tote oder gefangene Feinde und Verbrecher sollten nackt zum Gegenstand des Spotts werden. Sogenannte Fruchtbarkeitsfiguren fanden sich in Gräbern, vielleicht um den Toten ein bescheidenes Sexualleben im Jenseits in Aussicht zu stellen, wie Stewart vermutet. Andere Hypothesen, die das Vorkommen männlicher Nacktheit zu erklären suchen, sprechen von Traditionen ritueller Nacktheit in Begräbnisriten; von symbolischen Erklärungsmöglichkeiten (der re-formierte männliche Körper als gleichsam >gereinigtes< Männerbild); von Anspruchsbekundungen kultureller Einzigartigkeit und Überlegenheit (Nacktheit als körperlicher Ausdruck griechischer Arete). Waren in der

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Andrew Stewart: Art, Desire, and the Body in Ancient Greece, a. a. Ο., S. 101.

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griechischen Kunst zunächst nur Angehörige unterer Statusgruppen nackt, ließen sich die Griechen von ihren eigenen Initiationsriten und nackten Athleten (die nicht vor 720 v. Chr. in Erscheinung traten) inspirieren, den Bereich darstellbarer Nacktheit auszuweiten; wir betreten den von Nikolaus Himmelmann untersuchten Bereich »heroischer Nacktheit«. Himmelmann unterscheidet zwischen »scheinbarer« und dargestellter Nacktheit (Trauernde auf einer attischen Grabvase des mittleren 8. Jahrhunderts v. Chr. haben ausdruckswertige Körperformen, die keinen Raum für bedeckende Kleidung lassen); ferner zwischen poetisch-heraufstufender und prosaisch-herabstufender Nacktheit (schwitzende Handwerker). Idealisierende Nacktheit charakterisiert die archaischen Kouroi, die sich auf Gräbern und in Heiligtümern finden. »Durch literarische Uberlieferungen sind sie als athletische Siegerstatuen bezeugt, durch Inschriften und andere Hinweise außerdem als Darstellungen von bürgerlichen Stiftern, von Heroen und Göttern [...] Bei den Grabstatuen ist ganz sicher, daß es sich um echte Darstellungen des Toten, um >Porträts< handelt.«17 Einen gemeinsamen Nenner fur diese Vielfalt von Bedeutungsmöglichkeiten erblickt Himmelmann im programmatischen Ansatz, in bildlichen Verkörperungen männlicher Nacktheit den ethisch relevanten Ausdruckswerten Jugend und Schönheit zu intensiver Gestaltwirksamkeit zu verhelfen. In dem Maße allerdings, wie nackte Darstellung bei Göttern eine idealisierende Bedeutung erhielt, mußte sie nach Himmelmann im menschlichen Bereich problematisch werden: »Das naive Selbstgefühl, mit dem archaische Stifter sich als nackte Statuen hingestellt hatten, geht verloren. Eine Ausnahme macht lediglich die Figur des Athleten, der nach der bekannten griechischen Sitte auch in der Wirklichkeit nackt auftreten konnte.«18 Olympische Siege waren für ehrgeizige Aristokratengeschlechter auch darum wichtig, weil sie einen der ihren durch die nackte Statue eines Athleten ehren konnten, was ihnen ansonsten durch Gesetz untersagt war. Auch der Sepulkralbereich ermöglichte nackte Kriegerdarstellungen. Weibliche Nacktheit erwies ihre übermenschliche Macht in der Figur der »nackten Göttin«. Eine öffentliche Funktion hatte weibliche Nacktheit in kretischen und spartanischen Initiationsritualen. Schlafraum und Symposion waren die erlaubten Zonen privater Nacktheit; der eine Bereich gehörte den Ehefrauen, der andere den Hetairai und den Pornai, den Prostituierten. Im bildnerischen Bereich signalisiert die Darstellung weiblicher Nacktheit in mythologischen Stoffen oftmals auch Verletzbarkeit und Hilflosigkeit. Anthropologen und Historiker haben Arnold van Genneps Theorie der Ubergangsriten, in denen Nacktheit und Transvestismus eine spezifische Rolle spielen, aufgegriffen, um kretische Riten zu untersuchen und das spartanische Fest der »nackten Spiele«, der Gymnopaidiai, besser zu begreifen. Junge verheiratete Männer zogen sich aus, um zu kämpfen und zu tanzen; unverheiratete spartanische Mädchen oder Parthenoi agierten bei anderen Festen sportlich-spielerisch-tänzerisch ebenfalls nackt und nahmen auch unbekleidet an einer Prozession teil - alles in Gegenwart jun17 Nikolaus Himmelmann: Minima archaeologica. Rhein 1996, S.31. 18 Ebd., S. 95.

Utopie und Wirklichkeit der Antike, Mainz am

STATUEN

ger männlicher Zuschauer; diese Riten hatten sowohl eine erotische als auch eine eugenische Funktion. Die vier großen panhellenischen Spiele - Olympia, Pythia, Isthmia, Nemeia - sind von Karl Meuli, Walter Burkert und Gregory Nagy in ihren Anfängen auf Ubergangsriten zurückgeführt worden, die etabliert wurden, um jeweils einen lokalen Heroen für seinen Tod zu entschädigen. Mädchen hatten ihr eigenes olympisches Festival; das Fest (Heraia) war zu Ehren der Heirat von Hera und Pelops gestiftet worden und konnte plausibel als ein anderer vorehelicher Ritus verstanden werden. Die Teilnehmerinnen trugen einen Chiton, der die rechte Brust freiließ, dieses Kleidungsstück glich der männlichen Exomis, die zur Kategorie Chiton heteromaschalos zu rechnen ist; das Gewand war so geschnitten, daß es nur auf einer Schulter befestigt zu werden brauchte. Vermutlich handelt es sich hier um einen transvestistischen Kleiderwechsel, der im Umkreis von Initiationsriten vorkam. Insgesamt war öffentliche Nacktheit von Frauen jedoch nur wenig verbreitet. Während unverheiratete Mädchen oder Parthenoi zu eigenen Wettkämpfen zugelassen waren, war es verheirateten Frauen unter Androhung der Todesstrafe verboten, als Zuschauerinnen bei den Olympischen Spielen zugegen zu sein. Was die Geschichte der bildkünstlerischen Darstellung weiblicher Nacktheit betrifft, so sind minoische Göttinnen im Kontext von Vegetationsriten manchmal vollständig nackt in Erscheinung getreten. Fresken, Statuetten und Siegel zeigen sowohl Göttinnen als auch Menschen in Kultszenen mit absichtlich unbekleideten Brüsten und in langen fallenden Röcken. Lange nach der Zerstörung von Knossos um 1370 v. Chr., doch weit vor 800 v. Chr., tauchen nackte Figuren mit androgynen Körpern auf, bei denen die Geschlechtsmerkmale nur zusätzlich angebrachte Marken waren; auf eine ganzkörperliche geschlechtsspezifische Differenzierung wurde verzichtet. Als sich dies in der Mitte der geometrischen Periode zu ändern begann, wurde ein Trend gesetzt. Innerhalb einer Generation wurden in Athen alle Frauen bekleidet dargestellt, und dies dominierte fortan in der griechischen Kunst und im griechischen Selbstverständnis. Seit dem Ende des 8. Jahrhunderts sind Männer nackt, Frauen bekleidet. Andrew Stewart hat vorgeschlagen, den Verweisungsgehalt dargestellter Nacktheit im Hinblick auf die Zeit vor der Bekleidungskonvention für Frauenbildnisse und die Zeit danach zu differenzieren. Nach der neuen Darstellungskonvention ist der nackte Mann als M a n n in seinem natürlichen Zustand, der frei in der Welt agiert, der wirkliche Mann, während die Frau zuerst und vor allem ein Produkt der Kultur ist oder richtiger »eine gegensätzliche Einheit disparater Aspekte, an der die Opposition des Artifiziellen und des Animalischen zerbricht« (Nicole Loraux). Stewart schreibt: »Während der natürliche Zustand< des Mannes Nacktheit ist, m u ß eine Frau bekleidet sein. Bekleidetsein ist der Index der sozialisierten, kultivierten Frau, die Frau bedarf der Kontrolle, die >normale< oder zuletzt >normalisierte< Frau. Dies kompensiert ihren grundlegenden Mangel. Die Ideologie der männlichen Suprematie ist angstbesetzt. Ein weiblicher Körper m u ß in Kleider gehüllt, durch einen Gürtel eingeengt, durch einen Schleier geschützt, durch einen Mann kontrolliert werden - und ist eben dadurch noch gefährlicher. So wie der teilweise oder völlig bekleidete M a n n in der griechischen Kunst die Frage herausfordert, warum ihn der Künstler so dargestellt hat, so provoziert eine teilweise unbekleidete oder völlig nackte Frau die gleiche Frage.

Statuettenförmige Plakette einer nackten Göttin aus Khania auf Kreta, ca. 650 v. Chr. Terrakotta. Heraklion, Archäologisches Museum Aphrodite von Knidos. Marmorkopie nach dem Original des Praxiteles, um 340 v. Chr. Vatikanisches Museum nach: Andrew Stewart, Art, Desire, and the Body in Ancient Greece, Cambridge 1997, Abb. 60 und 57

STATUEN Im griechischen Leben markiert diese Art von halb Bekleidetsein oder fehlender Kleidung das liminale Weibliche, das der Akkulturation ermangelt oder beraubt ist das spartanische Mädchen, das vor der Heirat steht, das Opfer einer Vergewaltigung, die Prostituierte u. a. m.« 19 Herodots Geschichte spielt im privatesten Raum und läßt zugleich jede Andeutung von Intimität zwischen Kandaules und seiner Frau vermissen, die bei Herodot keinen Namen trägt. Sonst wäre der Vertrauensbruch nicht denkbar; Kandaules trennt die körperliche Schönheit seiner Frau von ihrer Gesamtperson ab, als würde diese überhaupt nicht tangiert werden. Kandaules wird vom Phantasma der Thesaurierung heimgesucht und verführt; dieses Phantasma verbindet die alte mit der neuen Dynastie, vor allem in der Person ihres letzten Vertreters, Kroisos. Das Schlafzimmer als Thesauros des königlichen Ehemanns; die Schönheit der Frau ist der Schatz, dessen Besitz nicht genossen werden kann ohne Zurschaustellung und öffentliche Anerkennung. Hier zählt aber vor allem die Anerkennung durch einen anderen Mann, der den Schatz abschätzen soll, ohne sich an ihm zu vergreifen. Es ist eine gänzlich enterotisierte Situation, die Kandaules herbeiführt: ihn interessiert nur Gyges' fachmännisches Urteil am Morgen danach; diesen nur, unbehelligt, das heißt unentdeckt aus der Sache wieder herauszukommen. Dennoch ist er in einem solchen Maße irritiert und abgelenkt, daß er es an der notwendigen Achtsamkeit fehlen läßt; vielleicht ist dies die eigentliche Bestätigung der Schönheit der Königin. Was Kandaules nicht bedacht hat: die Situation ist zweideutig. Indem Kandaules seine Frau mit den Augen des versteckten, aber anwesenden Dritten sieht, wird er in einer Situation, die für ihn kein Geheimnis mehr birgt, zum Voyeur; er stellt das Geheimnis wieder her, indem er es mit Gyges teilt. Damit rückt die Vertrautheit zwischen den beiden Männern in den Mittelpunkt der Situation. Der Unschuld der Frau, die nichts davon weiß, daß ihr Mann sie den Augen seines Vertrauten präsentiert, steht die Mitwisserschaft der beiden Voyeure gegenüber, die auch dazu führen kann, daß der Mitwisser mehr begehrt. Dieses Risiko muß Kandaules eingehen. Daß er es eingeht, ist nicht nur ein Vertrauensbeweis, sondern auch eine Machtdemonstration; der König glaubt, alles jederzeit unter Kontrolle zu haben. Der ethische Anspruch und normative Wert des aidos, seine Verletzung und deren Ahndung standen im Mittelpunkt der Tragödie Gyges, von der leider nur ein kurzes Fragment überliefert ist.20 Bruchstücke eines Chorlieds und einen Monolog der Köni-

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Andrew Stewart: Art, Desire, and the Body in Ancient Greece, a. a. Ο., S. 41. »Mit nahezu den gleichen Argumenten (streng gebaute Verse, muta cum liquida positionsbildend 21/ 22/ 26, teils aischyleische 17/ 18/ 23/ 25, teils für die Tragödie neue Formulierungen 2 1 - 2 3 / 28-30, historischer Stoff«) kommt die Forschung zu entgegengesetzten Ergebnissen. Die eine Seite meint, der Autor gehört in aischyleische Zeit, vielleicht sei er Phrynichos selbst. Dieser Dichter habe das tragische Vorbild geschaffen, nach dem Herodot seine Novelle geformt habe. Die andere Seite hält den Autor für einen hellenistischen Dichter, möglicherweise für ein Mitglied der tragischen Pleias [...], der in archaisierendem Stil die herodoteische Novelle tragisch behandelt habe.« Musa Tragica. Die griechische Tragödie von Thespis bis Ezechiel. Ausgewählte Zeugnisse und Fragmente. Griechisch und Deutsch, unter Mitwirkung von Richard Kannicht, bearbeitet von einer Ar20

5. ANTIKE SCHAMKULTUR gin, die im Begriff steht, am Morgen nach dem Frevel den herbeigerufenen Gyges zu empfangen, haben sich erhalten: »Denn als ich ihn erblickte, Gyges selbst, kein Trugbild, ergriff mich Furcht, es sei im Haus ein mörderischer Hinterhalt: Von dieser Art ist ja der Lohn der Herrscher. Doch da noch wachend ich Kandaules sah, erkannte ich die Tat und welcher Mann der Täter. Wie wenn ich nichts bemerkt, hielt ich, im Herzen aufgewühlt, gleichwohl in Schweigen nieder ... den Schrei der Scham. Und auf dem Bett mich in Gedanken wälzend war endlos mir die Nacht, weil ohne Schlaf ich war. Doch als emporstieg allscheinend der Morgenstern, des ersten Tageslichtes Vorbote, hieß ihn vom Bett ich aufstehen und schickte ihn mir aus dem Haus, den Leuten Recht zu sprechen. Als Wort der Überredung war mir nämlich dies zur Hand ... zu schlafen als Herrscher die ganze Nacht ... den Gyges aber holen Herolde mir jetzt herbei«11 Mit wenigen Worten wird eine Atmosphäre der Beklemmung, des zurückgehaltenen Affekts, der listigen Vorkehrungen, der auf Überredung abzielenden Kommunikation erzeugt. Zunächst hat die Königin, als sie Gyges bemerkte, dies für ausgeschlossen gehalten und an die Möglichkeit eines Eidolon gedacht, die in der griechischen Mythologie eine so wichtige Rolle spielten. Dann ergriff sie Furcht vor einem mörderischen Hinterhalt; einen solchen hielt sie für möglich, es wäre Herrscherart in Lydien und dem nichtgriechischen Kleinasien - griechische Attribute für die Machtausübung unter den Barbaren. Ihren Mann nimmt die Königin als Herrscher wahr, was nicht für ein herzliches Einvernehmen unter den Eheleuten spricht; sie rechnet mit allem. Erst als sie entdeckte, daß der König nicht schlief, überschaute sie die Konstellation; aber sie reagierte nicht im Affekt, sondern zügelte sich und dachte eine Nachtlang nach. Dann schickte sie ihren Mann unter einem Vorwand aus dem Haus; sie legte ihm ans Herz, seinen Amtsgeschäften nachzugehen und die ihm auferlegte Rechtsprechung auszuüben. Sie rühmt sich ihrer Überredungskunst, denn als geeigneten Richter kann sie den Frevler wider die Scham nicht ansehen. Das war für die Griechen im 5.Jahrhundert v.Chr. und auch später immer noch ein Stoff und eine Daseinsproblematik, die Interesse zu wecken vermochten. Herodot hat zwar die kulturelle Relativität der Sitte erkannt, aber er hat ihrer Geltungskraft innerhalb einer konkreten Tradition und Kultur nicht den Respekt versagt. Er hat sie nicht grundsätzlich problematisiert. Dennoch zeichnet sich in seinen Historien be-

beitsgruppe des Philologischen Seminars der Universität Tübingen und hrsg. von Bardo Gauly, Lutz Happel, Rainer Klimek-Winter, Helmut Krasser, Karl-Heinz Stanzel und Volker Uhrmeister, Göttingen 1991, S. 261. 21 Musa Tragica, a. a. O., S. 262 f.

STATUEN reits das Auseinandertreten von Sitte (als kultureller Form von Verhaltensgewohnheiten und Standards) und Moralität (dem Bereich »für sich frei werdender Innerlichkeit«, Hegel) ab, wenn wir etwa Kroisos' argen Weg zur Erkenntnis in Betracht ziehen, der mit dem Besuch Solons begann. Auch Kandaules ist kein bewußter Frevler und Übeltäter, sondern jemand, der eine lediglich auf Alter und Gewohnheit gestützte Macht der Sitte nicht mehr anerkennt; sie schreckt und bindet ihn nicht mehr. »Indem Sitte und Gewohnheit die Form ist, in welcher das Rechte gewollt und getan wird«, konnte sich, wie Hegel schreibt, in der vorsokratischen Antike »die Moralität im eigentlichen Sinne, die Innerlichkeit der Überzeugung und Absicht«, noch nicht emanzipieren. Im Kapitel »Der Peloponnesische Krieg« seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erklärt Hegel: »Wir haben nun das Verderben der griechischen Welt in seiner tieferen Bedeutung aufzufassen und das Prinzip derselben auszusprechen als die flir sich frei werdende Innerlichkeit.«.21 Hegel läßt den Bruch zwischen Sitte und Moralität mit Sokrates eintreten: »In Sokrates ist es dann, daß zu Anfang des Peloponnesischen Krieges das Prinzip der Innerlichkeit, der absoluten Unabhängigkeit des Gedankens in sich, zum freien Aussprechen gelangt ist. [...] Sokrates ist als moralischer Lehrer berühmt, vielmehr ist er aber der Erfinder der Moral.« 23 Durch die aufgehende Welt der Subjektivität sei der Bruch in der Wirklichkeit eingetreten, schreibt Hegel: »Viele Bürger schieden jetzt vom praktischen Leben, von Staatsgeschäften ab, um in der idealen Welt zu leben. Das Prinzip des Sokrates erweist sich als revolutionär gegen den athenischen Staat; denn das Eigentümliche dieses Staates ist, daß die Sitte die Form ist, worin er besteht, nämlich die Untrennbarkeit des Gedankens von dem wirklichen Leben.«24 Doch Hegel behandelt das Auseinanderfallen von Sitte und Moralität nicht als Philosopheneinfall und -willkür, sondern als Effekt eines historischen Vorganges, in dem die »unbefangene Sittlichkeit« verlorengeht. Natürlich ist Sokrates nicht der Erfinder der Moral. Moral beginnt nicht erst mit der Abspaltung eines Moralbewußtseins von der praktizierten Ethik der Verhaltensweisen und ihrer kulturellen Formen und Traditionen, den Sitten. Ethik beginnt mit der Kritik der Sitten, doch diese wird geübt, seit Menschen und Gemeinschaften in Situationen gerieten, in denen tradierte Verhaltensmodelle nicht mehr lebbar waren und neue Weisen der Verhaltensregulation gesucht und erprobt werden mußten. Kritik der Sitten beginnt lange vor der philosophischen Moraltheorie: im Epos (Hesiod), in der philosophisch durchdrungenen Elegie (Xenophanes), in der individuell akzentuierten Lyrik (Archilochos). Das Auseinandertreten von Sitte und Moralität dürfte einer der Gründe gewesen sein, daß Piaton die von Herodot in den Mittelpunkt gestellte Schamproblematik nicht mehr aufgegriffen hat; Schamverletzung und Sittenverstoß waren nicht mehr sein entscheidendes Problem, weil solches Fehlverhalten nicht aus dem Bereich der

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1842 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt/M. 1986 (1970), S. 326. 23 24

Ebd., S. 328 f. Ebd., S. 329.

5. ANTIKE SCHAMKULTUR

äußeren Verhaltensweisen hinausführt und daher abgeleiteter Natur ist. Piaton ging es darum, den Weg zur Moralität zu erkunden, der zur Überschreitung aller Nutzenkalküle und zur Anerkennung der ethischen Werte um ihrer selbst willen führt. Im Gyges-Modell geht es nicht nur um die Differenz von Schein und Sein. Gerechtsein wird nicht anerkannt, wenn es nicht den Schein für sich hat. Ungerechtsein bleibt ungesehen, wenn es den Schleier der Gerechtigkeit wahrt bzw. hervorruft. Der Schein macht unsichtbar, wenn er das Anderssein dissimuliert. Aber im Grund geht es nicht ohne den Schein - er eröffnet den Bereich des Performativen, der als Simulation denunziert wird, wenn der Schein im Verhältnis zum Sein schlechthin pejorativ besetzt wird. Der Gerechte muß aber auftreten, Position beziehen, sich in Szene setzen, in Actor-Spectator-Beziehungen eintreten, wenn er unter Menschen lebt, wenn er sich nicht isolieren will oder beleidigt als Misanthrop zurückzieht. Wenn er sich einmischt, wenn er wirken will, wenn er anderen helfen oder sich selber im sozialen Verkehr behaupten will, bedarf er der Anerkennung, auch wenn er diese nicht begehrt. Er muß an den sozialen Verkehrsformen partizipieren, auch und gerade dann, wenn er sie problematisiert. Wenn er in dieser Weise auch auf den Schein Wert legen muß: warum sollte dies von vornherein im Gegensatz zum Sein stehen? Gerecht wird man nur im Verkehr, sagt Aristoteles; die Performativität ist mehr als (Selbst-) Darstellung, sie ist die Gesamtheit der Vollzüge, soweit diese ausdrucksfähig sind und schließt daher auch die kulturellen Formen der Vollzüge ein - die Rituale, Normen, Sitten. Der Gerechte muß sich der Sichtbarkeit stellen und gleichwohl bleibt etwas Unsichtbares: einen Zugang zu seiner eigenen, selbständig gewordenen Innerlichkeit hat kein anderer. Es ist kein Wunder, daß das Gyges-Modell in der Gegenwart grundsätzliche Beachtung gefunden hat. Dies liegt nahe in einer Zeit, die den alten Dualismus von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Moralität und Sitte, Autonomie und Anerkennung zu überwinden sucht. Da kann auch die Differenz von Schein und Sein nicht mehr in platonischer Weise verrechnet werden. Andererseits wird man auf neue Weise auf die Dilemmata und Aporien aufmerksam, die im Gyges-Modell stecken. Wenn der Gerechte unter Beweispflicht gesetzt wird, kann er sich mit der Selbstgenugtuung nicht mehr zufriedengeben. Doch wie und wem kann er beweisen, daß er gerecht ist, ohne sich auf den Schein einzulassen?

6. Gyges und der Immoralismus: Die Wiederkehr des Gyges-Problems in der Moraltheorie

Platon hat in der Politeia den goldenen Ring der Unsichtbarkeit, den Gyges dem Leichnam vom Finger zog, als Modell für die Immoralismus-Falle sanktionsfreien Handelns eingeführt und damit Herodots Novelle über den Aufstieg des historischen Lyderkönigs Gyges mit mythischen Elementen angereichert, um ihr eine spezifische Wendung zu geben: die historischen, ökonomischen, politischen und archäologischen Bezüge dieser Umarbeitung haben wir bereits expliziert. Das »Gyges-Modell« ist in jüngster Zeit zu einer vielfach aufgegriffenen Problemstellung geworden, so daß man nachgerade von einem »Gyges-Problem« in der zeitgenössischen Moraltheorie sprechen kann (Kurt Bayertz, Philippa Foot, Otfried Höffe, Wolfgang Kersting, Wolfgang Wieland, Bernard Williams, Eckart Schütrumpf). Kurt Bayertz mißt der Verführung zum Amoralismus in der Gegenwart eine solche Brisanz zu, daß er der Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« ein ganzes Buch gewidmet hat. Im Kontext dieser Fragestellung beinhaltet das Gyges-Problem die Herausforderung einer jeden ethischen Trittbrettfahrer-Position, die Bayertz als Amoralismus vom Immoralismus unterscheidet: »Der Amoralist steht zwar außerhalb der Moral, hat aber kein prinzipielles Verhältnis zu ihr, auch kein prinzipiell feindliches (wie der Immoralist). Dass er die Verbindlichkeit der moralischen Normen bestreitet, wird ihn nicht daran hindern, in Ubereinstimmung mit diesen Normen zu handeln, wenn ihm dies nützt. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt: Wenn es ihn nützlich erscheint, wird er nicht zögern, sich über alle moralischen Normen hinwegzusetzen. Mit einem Wort: Sein Verhältnis zur Moral ist opportunistisch.« 1 Bayertz hat keinen einheitlichen Begriff von Moral. Er unterscheidet zwischen eine Moral im weiteren Sinne, verstanden als ein »Komplex von Werten, Normen oder Idealen, der jedem Individuum einen allgemeinen Leitfaden für die Gestaltung seines Lebens bereitstellt f...]«, 2 und einer Moral im engeren Sinne, die im eudaimonistischen Verständnis der Antike auf das gute Leben des einzelnen abzielt und an Kriterien des Gelingens orientiert ist. Bayertz greift Thrasymachos' Definition der Gerechtigkeit als Vorteil des anderen auf, um sie im solidarischen Sinn des fremdnützigen Handelns zu reformulieren. Bayertz sucht eine funktionale

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Kurt Bayertz: Warum überhaupt moralisch sein?, München 2004, S. 26. Ebd., S. 34.

6. DIE WIEDERKEHR D E S GYGES-PROBLEMS IN DER MORALTHEORIE und materiale Bestimmung der Moral, die er nur aus der Vogelperspektive als eine soziale Institution zur Minimierung anthropogener Übel zu beschreiben vermag. Daraus erwächst eine Minimalmoral, in der das eigene gute Leben mit dem Uberleben anderer normativ verbunden wird. Der Moral wird die Funktion zugeschrieben, Schutz vor Schädigungen durch andere zu bieten und zugleich Kooperation zu ermöglichen. Dies erfordert auf der anderen Seite — und das ist die zweite Funktion der Moral - jedem Individuum bestimmte Handlungsbeschränkungen aufzuerlegen. Dies bildet den Hintergrund für kontraktualistische Modelle, von denen Glaukon zunächst ausgeht, wenn er das Gyges-Modell ins Gespräch bringt, die ihn letztlich aber nicht zufriedenstellen. Bayertz' Ausgangspunkt ist eine Voraussetzung des Gyges-Modells: nämlich die empirisch bekräftigte Feststellung, daß Amoralisten kein Interesse daran haben, sich als Amoralisten zu erkennen zu geben. Aber sie müssen nach den Prämissen von Bayertz ein Interesse daran haben, die Existenz der Moral nicht zu unterminieren. Ein vollständiger oder partieller Zusammenbruch des Systems der Kooperation würde auch all ihre Bemühungen vereiteln. Bayertz hält es nicht für zufällig, daß in Piatons Gyges-Parabel nur ein Zauberring zur Verfügung steht: »Tausende solcher Ringe hätten die Sache anders aussehen lassen.«3 Wenn nämlich der Anteil der Trittbrettfahrer in einer bestimmten Population hoch genug ist, wird eine »Defektionsspirale« in Gang gesetzt, »da mit der Zeit auch die moralisch motivierten Individuen zur nicht-kooperativen Strategie übergehen, wenn sie wiederholt schlechte Erfahrungen machen«. 4 Reale Kooperationssysteme umfassen sehr viele Akteure, die wechselseitig anonym bleiben. »Bei komplexeren Kooperationssystemen, wie sie für moderne Gesellschaften charakteristisch sind, kommt hinzu, dass die einzelnen Handlungen zeitversetzt aufeinander bezogen und durch mehrere Zwischeninstanzen miteinander verbunden sind. Realistischerweise wird man nicht annehmen können, dass unter diesen Voraussetzungen Defekteure immer erkannt werden.« 5 Aus diesem Grunde müßten auch Amoralisten bereit sein, sich moralisch zu verhalten — denn sie können nicht auf die Institution der Moral selbst verzichten, die ihnen erst ihre Strategie erlaubt. Sollte sich ein Amoralist auch hiervon nicht überzeugen lassen, müßte man ihm schlicht erklären: »Du sollst moralisch sein, weil du sonst mit Sanktionen rechnen musst.« 6 Nun wurde bereits in der Politeia anhand des Gyges-Modells klargestellt, daß Sanktionen nicht automatisch greifen, sondern nur unter den Bedingungen sozialer Verkehrsformen, in denen die Akteure einander beobachten und bewerten, anerkennen oder mißbilligen. Es ist gerade diese Actor-Spectator-Struktur der sozialen Beziehungen, 7 in der es um Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit geht: mit dieser

Ebd., S. 166. Ebd. 5 Ebd., S.l 64. 6 Ebd., S. 259. 7 Vgl. Eleonore Kaiisch: »Leben in einer Gesellschaft von Zuschauern. Die Actor-Spectator-Beziehung im Denken von Adam Smith«, in: Joachim Fiebach/Wolfgang Mühl-Benninghaus (Hrsg.), Spektakel der Moderne. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Medien und des darstellenden Verhaltens, Berlin 1997 (Berliner Theaterwissenschaft, Bd. 2). 3

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STATUEN Struktur spielen die Amoralisten als Virtuosen der Camouflage und der Dissimulation. Auch Bayertz räumt ein: »Der Akteur lernt, dass zu den Tatsachen dieser Welt nicht nur gehört, dass er handelt und dass sein Handeln bestimmte Konsequenzen hat; er lernt darüber hinaus die Tatsache kennen, dass sein Handeln und dessen Folgen sich aus dem Blickwinkel der anderen auf eine bestimmte Weise darstellen.«8 Wolfgang Wieland hat bereits 1962 das Gyges-Problem als Gedankenexperiment analysiert: »Es fingiert Bedingungen, unter denen der Handelnde nicht mehr unter einem äußeren Druck steht, der ihn veranlaßt, sein Handeln auch dann gegebenen Normen gemäß auszurichten, wenn dies seinen eigentlichen Intentionen zuwiderläuft.«9 Das Gyges-Modell entfalte seine Erklärungskraft, wenn der Staat und seine Bürger so strukturiert bzw. disponiert sind, »daß individueller und allgemeiner Nutzen nicht mehr konvergieren können«. Insofern gebe das Gyges-Modell nicht eine simple Fehldeutung des Handelns im Sinne einer falschen und korrekturbedürftigen Theorie, sondern » - und zwar auf korrekte Weise — eine bestimmte Selbstdeutung des Handelnden, die zwar objektiv inadäquat ist, aber als solche eben doch das Handeln in einer bestimmten Weise reguliert«.10 Diese Selbstdeutung des Handelnden ist nach Wieland sogar unaufhebbar, solange die Randbedingungen bestehen, unter denen sie möglich geworden ist. Darum suchte Piaton Bedingungen zu modellieren, unter denen individuelle und allgemeine Nutzer in ein produktives Wechselverhältnis gebracht werden können und Gerechtigkeit ohne Schielen auf äußere Konsequenzen und äußeren Anschein möglich wird. Darum ist es nur konsequent, wenn Sokrates im 10. Buch der Politeia nochmals auf das Gyges-Problem zurückkommt: »Wer wirkliche Gerechtigkeit praktiziert, würde auch dann nicht anders handeln als sonst, wenn er sich durch den Ringzauber unsichtbar machen und sich damit den Konsequenzen seines Handelns entziehen könnte.«11 Damit rücken Differenzierungen in den Mittelpunkt, die die Dialogfigur Glaukon in die Agathologie eingeführt hat: (a) Güter, die um ihrer selbst willen und nicht der Folgen willen begehrt werden; (b) Güter, die um ihrer selbst willen und der Folgen willen gewünscht werden; (c) Güter, die selber beschwerlich sind, aber um ihrer Folgen willen angestrebt werden. Die meisten Menschen rechnen nach Glaukons Erfahrung (und Sokrates widerspricht ihm hierin nicht) die Gerechtigkeit den Gütern der mühseligen Art zu, um die man sich nur der Folgen willen bemüht; als Folgen werden der Lohn und die Meinung der Leute verstanden. Daraus resultiert nach Glaukon auch die vertragstheoretische Erklärung der Gerechtigkeit: als Vereinbarung, einander kein Unrecht zuzufügen, um keines zu erleiden. Gerechtigkeit sei daher das im Vergleich zum großen Übel des Unrechtleidens kleinere Übel und das lediglich Zweitbeste im Vergleich zu den Vorzügen des Unrechttuns. Glaukon erwartet von Sokrates die argumentative Begründung der Behauptung, die Gerechtigkeit gehöre zu dem, was sowohl um seiner selbst willen als auch um der Folgen willen von jedem geliebt

8 9 10 11

Kurt Bayertz: Warum überhaupt moralisch sein?, a. a. O., S. 226. Wolfgang Wieland: Piaton und die Formen des Wissens, Göttingen 1982, S. 170. Ebd., S. 171. Ebd.

6. DIE WIEDERKEHR DES GVGES-PROBLEMS IN DER MORALTHEORIE werden müsse, um glücklich zu werden. Glaukon läßt auch keinen Zweifel daran, wo nach seinen Erfahrungen die auch von Thrasymachos geltend gemachten natürlichen Präferenzen liegen; daher möchte er von Sokrates wissen, ob sich ohne Zwang gebildete übergreifende Präferenzen entdecken lassen, die uns in die Lage versetzen, die natürlichen Präferenzen zu steuern. Wie Eckart Schütrumpf hervorhebt: »Er stellt höhere Anforderungen an einen Gerechtigkeitsbegriff, da Gerechtigkeit nicht lediglich als Erfordernis der Realität begründet sein darf, in der man Unrecht nicht straflos begehen kann, wie es die Grundlage der Vertragstheorie war; er fordert vielmehr eine Begründung, die jemanden, der Gyges' Ring besitzt, dazu bringen sollte, ihn wegzuwerfen.« 12 Auch in Wolfgang Kerstings Sicht dient Glaukons Herleitung von Gerechtigkeitskonventionen aus dem Unrechtsvermeidungsmotiv, und das heißt vor allem Leidvermeidungsmotiv, nicht nur als Ouvertüre, sondern auch als Hintergrund zur GygesParabel: »Beide, kontraktualistische Kurzgeschichte und Gyges-Parabel, sollten die These illustrieren, daß Gerechtigkeit eine Erfindung der Opfer ist, die nicht stark genug sind, Täter zu sein. [...] Und eben dies soll die Gyges-Parabel zeigen: sobald die Verhältnisse es erlauben, sich ohne Risiko, von der sozialen Kontrolle unerreichbar und straffrei, über alle Regeln des Rechts, der Sitte und des Anstands hinwegzusetzen, wird der Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten schwinden: jeder würde >wie ein Gott< unter den Menschen sein und sich alles erlauben (360c).« 13 Gerechtigkeit als Resultat einer strategischen Anpassung: »unsichtbar geworden, gleicht sich der Schwache dem Starken an, kann jener endlich das auch, was sich dieser aufgrund seiner Stärke vor aller Augen herausnimmt«. 14 Kersting entdeckt in der Gyges-Parabel eine rationalitäts- und spieltheoretische Musterargumentation avant la lettre·. Gyges als eine spieltheoretische Ikone. Daher konnte die neuzeitliche politische Philosophie in der Gyges-Parabel auch die Umrisse ihres grundlegenden Problems wiedererkennen. Hobbes und alle politischen Institutionalisten rechneten mit dem »Gyges in jedem von uns« und ersannen Gyges-feste Ordnungen. Ebenso habe Glaukon gleichsam um die Erlösung vom Gyges in uns gebeten, habe er den Sieg der Gerechtigkeit über Gyges erhofft. Denn aus moralphilosophischer Perspektive betrachtet, erklärt Kersting das Gyges-Problem für weitaus gefährlicher als aus institutionstheoretischem Blickwinkel wahrnehmbar: »Wenn es nicht gelingt, den Gyges in uns zu überwinden, wird die Gyges-Parabel zu einer Parabel von der Unmöglichkeit der Moralphilosophie [...].« 15 Gesucht werde die »interne, ungemein anspruchsvollere und radikalere, moralische Lösung einer Gyges-freien Seele«. Moral und Politik strebten unterschiedliche Lösungen an. Der Leviathan dulde kein »gygessches Biotop«. Glaukon dagegen suche das zwingende moralische Argument mit dem wundersamen Effekt,

12

Eckart Schütrumpf: »Konventionelle Vorstellungen über Gerechtigkeit. Die Perspektive des Thrasymachos und die Erwartungen an eine philosophische Entgegnung«, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Piaton. Politeia, Berlin 1997 (Klassiker Auslegen, Bd. 7), S. 50 f. 13 14 15

Wolfgang Kersting: Piatons >StaatSeinige< tut, tut er das für sich

16 17 18

Ebd., S. 62. Ebd., S. 63 f. Ebd., S. 74.

6. DIE WIEDERKEHR DES GYGES-PROBLEMS IN DER MORALTHEORIE

und das Gemeinwesen >RichtigeWie würdest du leben, wenn du nach deinem Willen unsichtbar sein könntest?< und >Was ist für dich der Wert der Gerechtigkeit so wie die Dinge wirklich liegen?< ? Der Versuch, die zweite Frage mit Hilfe einer Antwort auf die erste zu beantworten, so wie Glaukon es mit der Einführung von Gyges' Ring vorführt, läuft darauf hinaus, die Realität mit der Phantasie zu vergleichen, und dies scheint schwerlich ein

21

Wolfgang Kersting: Piatons >Staatmögliche WeltStaatEs ist das Mittel zum VergnügenZentaur< ist ein Wort, das auf ein von diesem Wort verschiedenes Sein verweist, das mit Wörtern >definiert< werden kann (wodurch es einem Pseudo-Begriff ähnlich wird) oder bildlich darstellbar ist (wodurch es einer Pseudo-Wahrnehmung ähnlich wird). Aber schon dieser einfache und oberflächliche Fall (der imaginäre Zentaur ist ja nur eine Montage aus Stücken realer Wesen) wird von solchen Überlegungen nicht ausreichend erfaßt. Denn für die Kultur, in der die Zentauren als mythische Wirklichkeit erlebt wurden, war deren Sein etwas ganz anderes als die Beschreibung, die man in Wort und Bild von ihnen geben kann.« 44

41

Charles Sanders Peirce: »Neue Elemente«. MS 517, 1904, in: ders., Naturordnung

und Zei-

chenprozeß, a. a. O., S. 348. 42

Charles Sanders Peirce: Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus, in: ders., Semiotische

Schriften, Bd. 3, a. a. O., S. 154. 4 3 Charles Sanders Peirce: »Logischer Traktat Nr. 2: Uber existentielle Graphen, Eulers Diagramme und logische Algebra«. MS 492, 1903, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 2, a. a.O., S. 113. 44

Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/M. 1990, S . 2 4 3 f .

100

GRABUNGEN Aus der formalen Auffassung der Ikonizität folgt auch der hohe Stellenwert der Syntaktik; dies ist die Voraussetzung dafür, daß sich ikonische Zeichensysteme bilden können. Das schließt die Frage nach einem Repertoire von Basiselementen ein, über dem jeweils operiert wird: (a) die Art und Weise der Repertoirebildung (Segmentation, Elementarisierung, Geometrisierung, Detaillierung) ist historisch und kulturell unterschiedlich und veränderlich und weist in Abhängigkeit von unterschiedlichen Funktionszusammenhängen mehr oder weniger akzentuierte individuelle Besonderheiten auf; (b) die Regeln der Struktur und Musterbildung unterliegen in ikonischen Zeichensystemen anders als die Syntaktik der natürlichen Sprache einer außerordentlichen historischen Dynamik. Peirce hat die Theorie der Ikonizität am weitesten auf zwei Gebieten vorangetrieben: (a) als Theorie der diagrammatischen Ikonizität in der Logik der Relative und in seiner Theorie der existentiellen Graphen; (b) in der logischen Analyse der natürlichen Sprache; hierbei setzt er die Einheit von Sprach- und Bilddenken voraus, wenn er die Prädikation als ikonische Zeichenoperation auffaßt. »Viele Wörter sind, obwohl sie streng symbolisch sind, soweit ikonisch, daß sie geeignet sind, ikonische Interpretanten zu bestimmen bzw., wie wir sagen, lebendige Bilder hervorzurufen.«45 In diesem Sinne enthält nach Peirce jede Aussage ein Ikon oder eine Menge von Ikons, oder sonstige Zeichen, deren Bedeutung nur durch Ikons explizierbar ist.46 Oder semiotisch pointiert: »Eine Proposition ist die Bedeutung eines Zeichen, das darstellt, dass ein Ikon auf das anwendbar ist, was ein Index indiziert.«47 Ungeachtet der über die Musterbildung und -erkennung hergestellten Verankerung des Ikons in der außersemiotischen Serialität der Signale bilden sie für Peirce dennoch nicht die Zeichenart, die für die Fundierung der Semiose in der brute forceRealität entscheidend ist. Diese Funktion erfüllen die Indizes, die in zwei Grundformen wirksam sind, als genuine und als abgeleitete Indizes. Heidegger hatte vom Phänomen die Erscheinung abgegrenzt: »Erscheinung als Erscheinung >von etwas< besagt demnach gerade nicht: sich selbst zeigen, sondern das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich zeigt.«48 Der indizielle Charakter des Erscheinens ist offenkundig. Heidegger betont, Erscheinen sei nur möglich auf dem Grunde eines sich Zeigens von etwas. Was Heidegger in die Gegensätze von Phänomen und Erscheinung auseinanderreißt, liegt in der Ambivalenz des Phänomens beschlossen. Anaxagoras hat dies ausgesprochen. Heidegger wollte im Phänomen das sich an sich selbst Zeigen als ausgezeichnete Begebnisart von etwas festhalten und nicht gleich in der Verweisung aufgehen lassen. Doch diese wechselseitige Isolierung ist nicht auf-

45

Charles Sanders Peirce: »Neue Elemente«, a. a. O., S. »Die in einer Aussage enthaltene Menge von Ikons zeichnet (signifies) die Idee, die das Prädikat der Aussage Peirce: »Über die Einheit hypothetischer und kategorischer Semiotische Schriften, Bd. 1, a. a. O., S. 250. 46

350. (oder das Äquivalent einer solchen) begenannt werden kann.« Charles Sanders Präpositionen«. MS 787, 1897, in: ders.,

47 Charles Sanders Peirce: »Regeln des richtigen Räsonierens«. MS 694 und 599, 1902, in: ders., Semiotische Schriften, B d . l , a. a. O., S. 414. 48 Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 29.

7. VON DER NEW ARCHAEOLOGY ZUR CONTEXTUAL ARCHAEOLOGY

rechtzuerhalten; es läßt sich gar nicht verhindern, daß das Phänomen in Erscheinung übergeht. Heidegger schreibt: »Erscheinung [...] meint einen seienden Verweisungsbezug im Seienden selbst, so zwar, daß das Verweisende [...] seiner möglichen Funktion nur genügen kann, wenn es sich an ihm selbst zeigt, >Phänomen< ist. Erscheinung und Schein sind selbst in verschiedener Weise im Phänomen fundiert.« 49 An dieser Dialektik hat die hellenistische Indiziensemiotik angesetzt, um die Theorie der indiziellen aufweisenden Zeichenschlüsse zu begründen. Bei Peirce wird das Indiz nicht erst in indiziellen Zeichenschlüssen relevant. Er geht auf die Indexikalität der sensomotorischen Reiz-Reaktions-Beziehung zurück; hier knüpft er an die hellenistische Theorie der Widerfahrnisse an, die durch ein Element des Zwanges charakterisiert sind. »Weil Zwang etwas ist, das wesentlich hic et nunc besteht, kann der Anlaß des Zwangs für den Hörer nur dadurch dargestellt werden, daß man ihn eine Erfahrung desselben Anlasses zu machen nötigt. Folglich ist es erforderlich, daß es ein Zeichen gibt, das dynamisch auf die Aufmerksamkeit des Hörers einwirkt und ihn zu einem besonderen Objekt oder Anlaß hinführt. Ein solches Zeichen nenne ich einen Index.«50 Indizes stoßen uns mit der Nase auf die Realität; sie zeigen diese als eine harte Realität von brute forces an, deren Härte sich in ihrer Widerständigkeit erweist. Das genuine Indiz ist als ein Zeichen definiert, das durch eine existentielle, nicht nur durch eine referentielle Beziehung mit seinem dynamischen Objekt verknüpft ist. Das dynamische Objekt, so haben wir gesagt, ist primär nicht Gegenstand der Repräsentation, sondern ein Anlaß des Zwanges, den das genuine Indiz weitergibt. Das genuine Indiz ist in bestimmter Hinsicht Teil des dynamischen Objekts, oder das dynamische Objekt ist Teil des Index. Das Indiz wirkt in der Verbindung mit seinem dynamischen Objekt und zwingt den Interpreten, seine Aufmerksamkeit auf das indizierte Objekt zu richten. Am Gegenpol indizieller Wirkungsbestimmtheit konstituiert sich die Kultur, die voller abgeleiteter Indizien ist. Er wäre mißverstanden, hat Peirce betont, ließe man sich zu der Annahme verleiten, daß Indizes sich ausschließlich auf Objekte der Erfahrung bezögen.51 Peirce läßt jedoch auch »eine abgeleitete Form der Beobachtung [zu], die auf die Schöpfungen unseres eigenen Geistes gerichtet ist - das Wort Beobachtung verwende ich dabei im vollen Sinne, insofern es einen Grad an Beständigkeit und Quasi-Realität des Gegenstandes impliziert, mit dem sie übereinzustimmen strebt«. Es wäre schwierig, wenn nicht gar unmöglich, wollte man irgendein Zeichen finden, dem die indexikalische Eigenschaft völlig fehlte. 52 Peirce trifft eine wichtige Unterscheidung zwischen einem monstrativen und einem informativen Indiz. Das informative Indiz unterhält nicht nur eine mehrfach be-

49

Ebd., S. 31. Charles Sanders Peirce: »Über die Einheit hypothetischer und kategorischer Propositionen«, a. a.O., S. 244. 51 Charles Sanders Peirce: »Grundbegriffe der Semiotik und formalen Logik (1898-1902)«, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 2, a. a. O., S. 350. 52 In diesem Kontext wäre auch die symptomatische Methode der Kulturwissenschaft als Spezifizierung und Weiterentwicklung der Indiziensemiotik zu verstehen. 50

101

102

GRABUNGEN stimmte Wirkungsbeziehung zu seinem dynamischen Objekt, sondern ist zugleich mit einem Ikon des indizierten Objekts verbunden. Peirce gibt ein Beispiel: »[...] die bloße Erscheinung des Teleskopbildes eines Doppelsterns erhebt für sich nicht dem Anspruch, dem Stern selbst zu ähneln. Nur weil wir den Refraktor so eingerichtet haben, daß das Feld physikalisch notwendig das Bild jenes Sterns enthalten muß, und auf Grund ähnlicher Vorkehrungen wissen wir, daß das Bild ein Ikon des Sterns sein muß und Information vermittelt.«53 Das monstrative Indiz ist selber das Mittelpunktsobjekt, auf das es die Aufmerksamkeit lenkt, und das dynamische Objekt löst sich in Referenzpunkte auf, die auf Urheber und Kontext des sich selbst indizierenden Objekts verweisen: es liefert keine Information, aber es erlaubt und nötigt dazu, Informationen abzuleiten. Nach Peirce ist jeder »reine Markstein, an dem etwas Partikuläres erkannt werden kann, weil er als eine Tatsache damit verbunden ist«, ein monstrativer Index.54 »Horatio Greenough, der das Bunker Hill Monument entwarf, sagt in seinem Buch, daß er beabsichtige, es solle einfach >hier!< sagen. Es steht auf diesem Boden und ist einfach nicht bewegbar. Wenn wir nach dem Schlachtfeld Ausschau halten, sagt es uns, wohin wir unsere Schritte lenken sollen.«55 Primär ist das Monument ein monstrativer Index, ein »Zeichen der energeia« (Aristoteles), das selber Energeia ausstrahlt. Wenn das Monument aber zugleich mit dem Ikon eines dynamischen Objekts verbunden ist wie die Statue des Kentauren, dann ist es nicht nur ein monstrativer, sondern auch ein informativer Index, unabhängig davon, ob das dynamische Objekt durch das Ikon selber gesetzt wird. Als Indicium ist das Monument auch ein obsistentes Zeichen: »In diesem Falle handelt es sich um ein Zeichen, das sein Objekt darum zu bezeichnen vermag, weil es unabhängig vom Interpretanten in einer genuinen Relation zu diesem Objekt steht.«56 Erst in einem sekundären Sinne ist das Monument ein Zeichen im vollen Sinne der semiotischen Triade: »Das Kapitol in Washington überragend, oberhalb des Doms, und oberhalb seines Kuppeldachs, steht eine gigantische Bronzestatue. Sie ist ein Zeichen, denn sie ist eine Statue, und jede Statue stellt etwas dar, was von ihr selbst verschieden ist. Sie ist eine Statue, die eine Indianerin darstellt. Wie wissen wir das? Weil sie Adlerfedern auf dem Kopf trägt usw.«57 Gerade durch die Unterscheidung zwischen monstrativen und informativen Indizes trägt Peirce der Tatsache Rechnung, daß materielle Kultur keineswegs immer und überall als Zeichen funktionieren muß, wie Ian Hodder zu Recht hervorgehoben hat. Wenn sich aus einem monstrativen Index Informationen ableiten lassen, dann vollzieht sich dies weniger über Objekt-Indizien, die voraussetzen, daß das Monument eine ikonische Seite hat. Informationen lassen sich vielmehr über Subjekt-Indizien, Struktur-In-

53

Charles Sanders Peirce: »Dritte Vorlesung über den Pragmatismus. Die Verteidigung der Kategorien«. MS 308, 1903, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 3, a. a. O., S. 448f. 54 Charles Sanders Peirce: Vorlesungen über Pragmatismus, Hamburg 1991, S.49. 55 Ebd. 56 Charles Sanders Peirce: Minutiöse Logik (1901), in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, a. a. O., S. 391. 57 Charles Sanders Peirce: »Essays über Bedeutung. Von einem alten Studenten dieser Wissenschaft«. MS 640, 1909, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 3, a. a. O., S. 384f.

7. VON DER NEW ARCHAEOLOGY ZUR CONTEXTUAL ARCHAEOLOGY

dizien und Kontext-Indizien ableiten. Subjekt-Indizien verweisen auf Urheberschaft, auf Agency; Struktur-Indizien auf Formaufbau und Gestaltungsweisen (stilistische Indizien). Über Kontext-Indizien kann versucht werden, Artefakt-Assemblagen und Gebrauchszusammenhänge zu erschließen. In archäologischer Hinsicht kommen auch cund n-Transformationsindizien wie Zerscherbungsgrad und Spuren des Gebrauchs in Betracht. Eine kontextuelle Archäologie bedarf der Indiziensemiotik, insbesondere der Theorie der hypothesenbildenden indiziellen Zeichenschlüsse. Sie kann nichts anderes sein als die methodisch vorgehende Erkundung von Verweisungszusammenhängen. Es verwundert, daß Hodder in diesem Fall nicht auf Heideggers Begriff der Verweisung und des Verweisungszusammenhangs zurückgegriffen hat, während ihm das In-der-WeltSein des menschlichen Daseins gleichsam zum nicht mehr hinterfragten Topos geronnen ist. Die Differenzierung der Kontexte ist eine konzentrische Erkundung von Verweisungszusammenhängen. Recht hat Hodder mit der Behauptung, eine archäologische Semantik der Gegenstände ließe sich ohne Berücksichtigung der Kontexte, d. h. der Verweisungszusammenhänge nicht aufbauen. Um so befremdlicher ist Hodders Favorisierung einer verstehenden Archäologie als Alternative zu einer erklärenden Archäologie. Können Artefakte Auskunft geben über Habitusformen, Kategorisierungen, Wertorientierungen frühgriechischer Menschen? So berechtigt eine solche Frage ist, unter Rückgriff auf eine geistesgeschichtliche oder auch eine daseinsanalytische Hermeneutik kann sie nicht gelöst werden. Gleichwohl sind gerade Heidegger wichtige Anregungen für eine Semantik der Gegenstände zu entnehmen. Bausteine hierfür liefert Hodder selber mit seiner Differenzierung verschiedener Arten von Bedeutung. Doch es ist wenig erfolgversprechend, in der Kritik des Funktionalismus hinter Castoriadis zurückzufallen: nicht auf einen starren Gegensatz von explanatorischem Funktionalismus und Habitusanalyse oder Imaginationsforschung kommt es an, sondern auf das Hinausgehen über die vom explanatorischen Funktionalismus gezogenen Grenzen. Die Semantik der Gegenstände entspringt keiner vorausgesetzten Zeichenrelation mit fester Bedeutungszuordnung. Sie umfaßt vielmehr ein dichtes Netz von Verweisungen, die operativ praktische und weiter ausgreifende Verweisungszusammenhänge aufzeigen und mit konstituieren. Den Begriff des Verweisungszusammenhangs hat Heidegger in die zeichenthematische Erörterung von Gebrauchsgegenständen und Werkzeugen eingeführt; ein wichtiger Begriff, der keine daseinshermeneutische Lesart verlangt, die sein unabgegoltenes Potential eher verbirgt. (1) Die Verweisung charakterisiert bei Heidegger den Übergang des Phänomens in die Erscheinung; jene Differenz und Spannung, die Anaxagoras in dem Satz Opsis ton adelon ta phainomena in eins gefaßt hat. Die Verweisung wird von Heidegger in der Analyse des Besorgens des Zeugs und der Zuhandenheit eingeführt. Zeug ist zuhanden in den verschiedenen Weisen des »Um-zu« wie Nützlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit: »In der Struktur >Um-zu< liegt eine Verweisung von etwas auf etwas.«58 58

Martin Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., S. 68.

103

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GRABUNGEN (2) Verweisung differenziert sich in verschiedene Richtungen. Unterschiedliche Verweisungshinsichten sind die Verweisung auf den »Träger« und auf den »Benutzer«. (3) Die Verweisungscharaktere des Zuhandenen verschwinden gleichsam in der Selbstverständlichkeit der routinierten Vollzüge. Erst in der »Störung der Verweisung« wird die Verweisung ausdrücklich. Beim Fehlen eines Zuhandenen entsteht »ein Bruch der in der Umsicht entdeckten Verweisungszusammenhänge«.59 In den Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit kommt am Zuhandenen der Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein. (4) Heidegger beschreibt im wesentlichen funktional geschlossene Verweisungszusammenhänge, die aber in der konzentrischen Erweiterung innerweltlicher Kontexte offen sind. Der Einbruch der Vorhandenheit, Störungen, Fehlanzeigen, Widerstände führen zu Brüchen in den vertrauten Verweisungszusammenhängen. (5) Die Verweisung ist ein spezifischer Fall der Beziehung, das Zeigen ein spezifischer Fall der Verweisung. Dies führt auch zu einer Abgrenzung von Verweisung und Zeichen, denn Zeichen sind in Sein und Zeit nur in deiktischer Funktion wirksam. »Zeichen sind [...] zunächst selbst Zeuge, deren spezifischer Zeugcharakter im Zeigen besteht.«60 Zu den zeigenden Zeichen rechnet Heidegger auch Anzeichen, Vor- und Rückzeichen, Merkzeichen, Kennzeichen, »deren Zeigung jeweils verschieden ist«.61 Zeichen entstehen, indem Zeigzeug hergestellt wird, aber auch im Zum-ZeichenNehmen eines schon Zuhandenen. 62 Als Beispiel für ein spezifisches Zeigzeug nimmt Heidegger den Winker eines Kraftwagens. »Dieses Zeichen ist innerweltlich zuhanden im Ganzen des Zeugzusammenhangs von Verkehrsmitteln und Verkehrsregelungen.«63 Zeichen in diesem eingeschränkten Sinn »lassen Zuhandenes begegnen, genauer, einen Zusammenhang desselben so zugänglich werden, daß der besorgende Umgang sich eine Orientierung gibt und sichert«.64 Grundlage des Zeichens ist die Verweisung, auch wenn diese mehr umfaßt als zeigende Zeichen. Von zeigenden Zeichen grenzt Heidegger »Spur, Uberrest, Denkmal, Dokument, Zeugnis, Symbol, Ausdruck« ab. Die Beziehung zwischen Zeichen und

59

Ebd., S. 75. Ebd., S. 77. 61 »Im Anzeichen und Vorzeichen >zeigt sichwas kommtwas kommt< ist solches, darauf wir uns gefaßt machen, bzw. >nicht gefaßt warenworan< man jeweils ist. Die Zeichen zeigen primär immer das, >worin< man lebt, wobei das Besorgen sich aufhält, welche Bewandtnis es damit hat.« Martin Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., S. 80. 62 »Wenn zum Beispiel in der Landbestellung der Südwind als Zeichen für Regen gilt, dann ist diese >Geltung< oder der an diesem Seienden >haftende Wert< nicht eine Dreingabe zu einem an sich schon Vorhandenen, der Luftströmung und einer bestimmten geographischen Richtung. Als dieses nur noch Vorkommende, als welches er meteorologisch zugänglich sein mag, ist der Südwind nie zunächst vorhanden, um dann gelegentlich die Funktion eines Vorzeichens zu übernehmen. Vielmehr entdeckt die Umsicht der Landbestellung in der Weise des Rechnungtragens gerade erst den Südwind in seinem Sein.« Ebd., S. 80. 60

63 64

Ebd., S. 78. Ebd., S. 79.

7. VON DER NEW ARCHAEOLOGY ZUR CONTEXTUAL ARCHAEOLOGY Verweisung wird dreifach bestimmt: »Erstens. Das Zeichen ist als mögliche Konkretion des Wozu einer Dienlichkeit in der Zeugstruktur überhaupt, im Um-zu (Verweisung) fundiert. Zweitens. Das Zeigen des Zeichens gehört als Zeugcharakter eines Zuhandenen zu einer Zeugganzheit, zu einem Verweisungszusammenhang. Drittens. Das Zeichen ist nicht nur zuhanden mit anderem Zeug, sondern in seiner Zuhandenheit wird die Umwelt je für die Umsicht ausdrücklich zugänglich.«65 Zusammenfassend schreibt Heidegger: »Zeichen ist ein ontisch Zuhandenes, das als dieses bestimmte Zeug zugleich als etwas fiingiert, was die ontologische Struktur der Zuhandenheit, Verweisungsganzheit und Weltlichkeit anzeigt,«66 Was macht eine Beziehung zu einer Verweisung? Nach Heidegger genügt nicht das Vorhandensein eines kognitionsfähigen Systems, sondern die Existenz innerweltlich engagierter, operationsfähiger Akteure. Wenn man bestimmte Beschränkungen aufhebt und die bei Heidegger angelegten Differenzierungen konsequent weiterführt, kann die Zeichenfunktion generell als Verweisungsfunktion verstanden werden. »Was Zeichen zu Zeichen macht, ist die Tatsache, daß sie über ihre materielle Gestalt hinaus auf etwas anderes verweisen. Die Zeichenfunktion ist darum im wesentlichen als Verweisungsfunktion zu begreifen.«67 Quelle für das Verständnis der Zeichenfunktion als Verweisungsfunktion ist die antike Indiziensemiotik in der empirischen Medizin, in der Geschichtsschreibung, in der epikureischen Theorie der endeiktischen, aufweisenden Zeichenschlüsse. Von den Anfängen semiotischer Unterscheidungen an ist der Terminus semeion mit indiziellen Verweisungen verbunden. Verweisen kommt von Zeigen (deixis); doch erst im endeiktischen Zeichen ist die Grundbedeutung von semeion voll entfaltet. Es sollte lange dauern, bis der Begriff des Zeichens (semeion) auf Wörter angewandt wurde.68 Im Hellenismus standen die endeiktischen Zeichen im Mittelpunkt. In diesen zeichentheoretischen Debatten ging es um die Möglichkeit erkenntniserweiternder Zeichenschlüsse, die über das in den Prämissen Enthaltene hinausführen. Schlüsselfrage war hierbei, worin der Zeichenschluß vom Evidenten aufs Nonevidente fundiert ist.69 Beim Verweisungsbegriff wird vom Zeichen in seiner eigentümlichen Beschaffenheit und Materialität ausgegangen; beim klassischen Repräsentationsmodell dagegen von Ideen, Vorstellungen, Abbildern usw., die durch Zeichen repräsentiert werden. Im klassischen Repräsentationsmodell interessiert das Zeichen allein in seiner codifizierten Repräsentationsfunktion; andere Verweisungsbeziehungen interessieren nicht. Der Verweisungsbegriff ist dem aliquid statpro aliquo weit überlegen. Gemäß der Eigenart der unbegrenzten Semiose ist das Verweisen ein prinzipiell unabgeschlossenes Weiterverweisen; insofern ist die Semiose insgesamt indizieller Natur, wie Derrida in der Kritik an Husserl nachgewiesen hat.70 Das Verständnis der Zeichenfunktion als 65

Ebd., S. 82.

66

Ebd.

67

Michael Franz: »Designsemantik«, in: Form und Zweck, Heft 4/1980, S. 27.

68

Das hat etwas mit der Dialektik von Sagen und Zeigen zu tun, mit der Einsicht in die abstrakte

Zeigebasis des Sagens, vgl. hierzu Michael Franz: Von Gorgias bis Lukrez. Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie, Berlin 1999 (LiteraturForschung), S. 2 7 9 - 3 0 1 . 69

Vgl. hierzu das 16. Kapitel: »Peirce' >Zeichenkunst< und die hellenistische Semiotik«.

70

Vgl. Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/M. 1979.

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GRABUNGEN Verweisungsfunktion erfordert einige entscheidende Differenzierungen. So sind vor allem Verweisungsarten, Verweisungshinsichten, Verweisungsebenen und Verweisungszusammenhänge zu unterscheiden. Verweisungsarten lassen sich nach Fundierungszusammenhängen (motiviert/arbiträr), nach dominierenden Funktionsmerkmalen, nach modi generandi et operandi unterscheiden, um nur einige wesentliche Punkte zu nennen. Ikonische, indizielle und symbolische Zeichen können als verschiedene Verweisungsmodi betrachtet werden, die sich nach dem zeichentypologischen Ansatz von Peirce als gleitende Verweisungsmodi charakterisieren lassen. Verweisungshinsichten lassen sich in Gegenstandsbezug, Autorenbezug und Interpretenbezug differenzieren, wobei es hier genaugenommen um Autoren- und Interpretenposition im Gefiige der Zeichensituation geht: Autor heißt hier nicht Autor eines Textes, sondern Autor einer Zeichensituation.71 Verweisungsebenen sind schwieriger zu erfassen. »Was auf einer Ebene Ausdruck ist, kann auf einer anderen Ebene Darstellung sein.«72 Um ein Beispiel zu geben: Adornos Kunstwerkkonzept liefert ein dreistufiges Modell für den Unterschied der Verweisungsebenen: (1) Die Spannungen werden nicht abgebildet, sondern formieren die Sache; (2) die objektiven Widersprüche durchfurchen das Subjekt; (3) die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Daher gewinnen die immanenten Probleme der Form einen transintentionalen soziokulturellen Verweisungsgehalt, der in den Antagonismen der Realität sein Interpretationsfeld hat. Verweisungszusammenhänge bezeichnen die auch von Peirce hervorgehobene Kontextgebundenheit der Semiose. Heidegger beschränkte sich auf funktional geschlossene Verweisungszusammenhänge, die aber in der konzentrischen Erweiterung der Kontexte des innerweltlich Seienden offen sind. Verweisungszusammenhänge müssen jedoch nicht a priori geschlossen sein. Von der Geschlossenheit kommt man nie zur Dynamik des weiterverweisenden Verweisens. Auch im Hinblick auf eine archäologische Semantik der Gegenstände sind Verweisungsarten, -hinsichten, -ebenen und -zusammenhänge (Kontexte) zu berücksichtigen. Für eine Semantik der Gegenstände hat Lothar Kühne Gesichtspunkte des Seins, des Werdens und des Gebrauchs vorgeschlagen: (1) Selbstausdruck oder Ausdruck des Seins, differenziert in den Ausdruck des direkten Seins oder den operativen Sinn des Gegenstandes und den Ausdruck des indirekten Seins (Alter, Anzahl); (2) Ausdruck

71

Maßgeblich für den Gegenstandsbezug ist die Differenzierung zwischen Denotation und Referenz. »Wir wollen sagen, daß das Lexem Kuh die Klasse aller Kühe (die jetzt existieren, existiert haben und künftig existieren) denotiert, und daß seine Denotation ein Teil dessen ist, was mit Recht als seine Bedeutung angesehen wird. Ausdrücke wie dieselbe Kuh, flinf Kühe-, diese Kuhherde, Kühe usw. enthalten das Lexem Kuh (in der grammatisch und semantisch angemessenen Form). Kraft ihrer Denotation und der Bedeutung der anderen Komponenten, mit denen sie kombiniert sind, haben sie einen bestimmten Referenzbereich bzw. ein Referenzpotential. Worauf sie sich aber tatsächlich beziehen, wenn sie als referierende Ausdrücke verwendet werden, wird vom Kontext bestimmt.« John Lyons: »Bedeutungstheorien«, in: Arnim von Stechow/Dieter Wunderlich (Hrsg.), Semantik. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung, Berlin-New York 1991, S. 11. Daher spielen indexikalische Ausdrücke in der natürlichen Sprache eine unverzichtbare Rolle für die Referenz. 72

Michael Franz: »Designsemantik«, a. a. O., S. 27.

7. VON DER NEW ARCHAEOLOGY ZUR CONTEXTUAL ARCHAEOLOGY

des Werdens, bezogen auf technische Herstellungsweise, soziale Bedingungen der Herstellung, personalen Aspekt der Herstellung, Qualität und Quantität der aufgewandten Arbeiten; (3) Ausdruck des Gebrauchs, bezogen auf gegenständlichen Inhalt, Finalität der Anwendung, Personalität des Gebrauchs, Intensität, technische Modalität und Dauer des Gebrauchs; (4) Ausdruck des Eigentums, bezogen auf die Eigentumsgeschichte des Gegenstands und die aktuelle eigentümliche Bestimmtheit; (5) zu ergänzen ist der Eigenwert der Formcharaktere des Gegenstands, deren Ausdruckswerte in den Kontexten der Gestaltung und des Gebrauchs generiert werden (ästhetische Wertigkeit des Gegenstands). 73 Im Hinblick auf den Ausdruck des Gebrauchs des Gegenstands muß ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden, den Kühne vernachlässigt hat: die Generierung neuer Muster des Gebrauchs, wie sie Peter Galison in Überlegungen zu einer Semantik der Instrumente skizziert hat: »Die Bedeutung von Instrumenten sollte nicht nur einschließen, was diese über sich selber sagen, sondern auch die oft unausgesprochenen Muster ihrer funktionalen Lokalisierung im Verhältnis zu anderen Maschinen, Muster des Austauschs, des Gebrauchs und der Koordination. Wie theoretische Konzepte erwerben auch wissensproduzierende Maschinen Bedeutung durch ihre Benutzung innerhalb des physikalischen Labors und, in komplexer Weise, durch ihre materiellen Verbindungen zu Maschinen, die weitab von der Physik ihren Ort haben.« 74 Experimentatoren lieben es, solche ausgreifenden wechselseitigen Aneignungsbewegungen als Kannibalisierung von Geräten zu bezeichnen. In archäologischer Hinsicht ist der Ausdruck der n- und c-Transformationen maßgeblich, die sich in den Spuren des Gebrauchs, einschließlich der Mehrfachnutzung, und des Wegwerfverhaltens sowie im Fragmentationsindex äußern.

73 74

S. 51.

Lothar Kühne: Gegenstand und Raum, Dresden 1981, S. 63-69. Peter Galison: Image and Logic. Α Material Culture ofMicrophysics, Chicago - London 1997,

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8. Charles Peirce und Heinrich Schliemann: Historische Voraussetzungen der Peirce-Rezeption in der Archäologie

»Lesen Sie den Logiktraktat von Philodem!« Am 4. September 1870 passierte Peirce im Dampfer Neptun den Hellespont. Schliemann begann am 9. April 1870 auf dem Ruinenhügel Hissarlik zu graben, ohne Genehmigung, mit vier Arbeitern, zehn Tage lang, bis er von den Landbesitzern vertrieben wurde. D a war Peirce noch in Cambridge Massachusetts. Erst im Juli segelten Charles und sein Bruder James Mills nach Europa. Ihre europäische Tour führte sie über London, Berlin, Dresden, Prag, Wien, München, Venedig, Florenz, Rom, Neapel, Sizilien, Südspanien nach Griechenland und Thessalien. Nach anderen Angaben führte sie über London, Rotterdam, Berlin, Dresden, Prag, Budapest, Donau, Schwarzes Meer nach Konstantinopel. Im Reisegepäck hatte Peirce seine Abhandlung über eine Notation für die Logik der Relative unter Anwendung von Booles Kalkül der Logik. In London suchte er den Logiker Augustus D. Morgan auf und überreichte ihm ebenso wie W. Stanley Jevons eine Kopie seiner Abhandlung. Anfang September, als Peirce die Dardanellen durchquerte, war Schliemann mit seiner griechischen Frau noch in Paris. Die Sonnenfinsternis, für deren Beobachtung Peirce als Assistent für Schwerkraftmessungen am American Coast and Geodetic Survey Vorbereitungen zu treffen hatte, hat Schliemann nicht interessiert. Peirce unterbrach seine Vorbereitungen, um kurz noch einmal nach England zurückzureisen; er hatte die Ehre, daß seine Logik der Relative in eine Diskussion über Booles Laws of Thought einbezogen wurde, die von der British Association for the Advancement

of Sciences bei ihrem Jahrestreffen

in Liverpool veranstaltet wurde. Peirce erfuhr viel Zustimmung und reiste in gehobener Stimmung ans Mittelmeer zurück. Die Vorüberfahrt an der Troas hat Peirce nachhaltig beeindruckt - die Nähe zu Städten wie Lampsakos, wo Epikur jahrelang gelebt und gelehrt hat, Skepsis, wo Strabo zufolge Manuskripte des Aristoteles anderthalb Jahrhunderte lang in einem unterirdischen Versteck gelagert waren, und das »schön gebaute Arisbe«, wie es in der Ilias heißt, das, geführt von Asios, zu Trojas Bündnispartnern gehörte; der von Diomedes getötete Axylos war geliebt von den Menschen, »weil er sie alle lieb beherbergte wohnend am Heerweg« {II. VI, 12-15). Als Peirce 1884 seine befristete Anstellung als Logik-Dozent an der Johns Hopkins University für immer verloren hatte und fünf Jahre später der endgültige Hinauswurf aus der Coast Survey durch inkompetente Vorgesetzte erfolgt war, kaufte sich Peirce von

8. H I S T O R I S C H E V O R A U S S E T Z U N G E N DER P E I R C E - R E Z E P T I O N

letzten Erbschaftsersparnissen ein Farmhaus im Milford Pennsylvania, zwei Bahnstationen von New York entfernt. Er baute es um und nannte das Haus »Arisbe«; vermutlich auch in Gedanken daran, daß Arisbe eine Kolonie von Milet war, der Heimat der ionischen Naturphilosophen, denn Peirce plante eine private Sommerschule für Philosophie, Logik und Semiotik: ein Plan, der wie viele andere aus Finanzierungsgründen scheiterte. Doch 1870 hatte er solche brute force, Ausgangspunkt seines Begriffs von Indexikalität, noch nicht erfahren. Hätten sich Peirce' und Schliemanns Wege zu diesem Zeitpunkt zufällig gekreuzt und wären sie ins Gespräch gekommen, dann hätte Schliemann vermutlich bald Vertrauen zu dem vielseitig interessierten und aufgeschlossenen jungen Mann gefaßt. Hätte er ihm dann vielleicht von seinem geplanten Grabungsprojekt bei Hissarlik erzählt, dann hätte Peirce zumindest den starken Wunsch verspürt, dieses auf eine vage Hypothese gestützte, ebenso riskante wie obsessive Experiment mitzuverfolgen; allerdings hätte er sich dies bei seinen vielfältigen Abhängigkeiten von Vater, Ehefrau und Coast Survey nicht leisten können. Als befristeter Lehrbeauftragter für Logik an der neugegründeten Johns Hopkins Universität hat Peirce 1882 ein aufsehenerregendes Kurskonzept vorgelegt: »Wir leben in einem Zeitalter der Methode. Sogar Mathematik und Astronomie haben ein neues Gesicht angenommen. Chemie und Physik sind auf völlig neuen Wegen. Linguistik, Geschichte, Mythologie, Soziologie, Biologie, sie alle werden auf neue Weise betrieben.«1 Peirce eröffnete den Methodendiskurs unter Hinweis auf den hellenistischen Philosophen Philodem und seinen Kampf für die Erneuerung der Forschungsmethoden in der Antike: »Lesen Sie den Logiktraktat von Philodem; sehen Sie, wie hartnäckig er nachzuweisen sucht, daß induktives Schließen nicht gänzlich ohne Wert ist, und Sie werden finden, wo der Fehler lag. Wenn ein so elementarer Punkt wie dieser so ernsthafte Argumentation erfordert, wird klar, daß es eines wissenschaftlichen Methodenbewußtseins fast gänzlich ermangelte.«2 Peirce bezog sich auf die in Herculaneum aufgefundene und 1865 durch Theodor Gomperz edierte Schrift Uber Zeichen und Zeichenschlüsse des Epikureer Philodem (Pert semeion kai semeioseon). Gomperz hatte seiner Edition den Titel gegeben Uber Induktionsschlüsse. Peirce hat Philodems Abhandlung in den frühen 80er Jahren zusammen mit Allan Marquand, der für den von Peirce herausgegebenen Sammelband Studies in Logic by Members of the Johns Hopkins University (1883) einen Beitrag über Philodem verfaßt hat, im Original studiert. Peirce' Begriff der Semiosis geht auf Philodem zurück. Zum Zeitpunkt seines ersten LogikKurses hat Peirce Philodem vor allem als antike Referenzfigur der Induktionslogik betrachtet. Erst später hat er erkannt, daß der epikureische Ansatz der Bildung explanatorischer Hypothesen durch indizielle Zeichenschlüsse nicht auf Induktionsschlüsse (auch nicht im Sinne von qualitativer Induktion) reduziert werden kann.

1 Charles Sanders Peirce: »Indroductory Lecture on the Study of Logic«, in: The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, vol. 1: 1867-1893, ed. by Nathan Houser and Christian Kloesel, Bloomington — Indianapolis 1991, S.211. 2 Ebd.

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GRABUNGEN Früh stellte sich Peirce der Tendenz zur wechselseitigen Isolierung von Natur- und Geisteswissenschaften entgegen. Statt die höchsten Ehren dem isolierten wissenschaftlichen Spezialistentum vorzubehalten, plädierte Peirce dafür, denen, die Methoden einer Wissenschaft für den Gebrauch in einer anderen adaptieren, den Rücken zu stärken. Peirce führt den Gedanken näher aus: »Darwin adaptierte fur die Biologie die Methoden von Malthus und den Ökonomen, Maxwell adaptierte für die Theorie der Gase die Logik des Zufalls und für die Elektrizität die Methoden der Hydrodynamik. Wundt adaptierte für die Psychologie die Methoden der Physiologie; Galton adaptierte für das gleiche Studium die Theorie der Meßfehler; Morgan adaptierte für die Geschichte Methoden der Biologie; Cournot adaptierte fiir die Politische Ökonomie den Kalkül der Variationen. Die Philologen haben für ihre Wissenschaft die Methoden der Entzifferer von Depeschen, Meldungen, (Kriegs-)Berichten adaptiert (decipherers of dispatches). « 3 Wenn Peirce unter dem genannten Aspekt in diesem Sinne von einer Erneuerung der Philologie sprach, dann dachte er in erster Linie an die Entzifferung der Keilschriften, die er zeitlebens mit größtem Interesse verfolgt hat.

Annäherung an die Archäologie Die Archäologie wird hier nicht erwähnt, aber gerade sie gehört zu den Themen, die Peirce nicht nur in verschiedenen Essays, sondern auch in den wichtigsten seiner unvollendeten Bücher abgehandelt hat. So in seinen Studien zur Geschichte der Wissenschaften (A History of Science), insbesondere in dem großen Kapitel »The Logic of Drawing History from Ancient Documents, especially from Testimonies« (1901); so in der Minutiösen Logik (1902), insbesondere im Kapitel »On Science and Natural Classes«; so im »Syllabus of certain Topics of Logic«, den Lowell-Vorlesungen von 1903, insbesondere in der 4. und in der 8. Vorlesung. Peirce behandelte archäologische Probleme unter direkter Bezugnahme auf zwei der exemplarischen Erneuerer der Archäologie - der eine umstritten, von der Zunft beargwöhnt, aus dem Mainstream ausscherend, der andere eine anerkannte Fachgröße von jungen Jahren an. Der eine eine exemplarische Personalfigur der Gründerjahre, ein Selfmademan und Adventurer-Merchant von wahrhaft Peer Gyntschem Format, der andere ein gut ausgebildeter, methodisch geschulter, akademisch sozialisierter Gelehrter mit profunden Kenntnissen: neben Heinrich Schliemann tritt William Flinders Petrie. 1904 bezeichnete Peirce die Archäologie als »deskriptive Untersuchung von individuellen Monumenten«, zu jung, um bereits »klassifikatorische Disziplinen entwickelt zu haben«, aber mit deutlichen Tendenzen in dieser Richtung. Unter klassifizierenden Tendenzen verstand Peirce insbesondere komparatistische, typologische und genealogische Zugangsweisen und Methoden, wie er dies im bereits erwähnten Kapitel seiner Minutiösen Logik oder Physiologie der Formen in Auseinandersetzung mit dem Begriff der natürlichen Klassen erörtert hat. Als Peirce sich über den Stand der Archäologie

3

Ebd., S. 212.

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äußerte, operierte die Feld- und Spatenarchäologie bereits mit vielfach untergliederten zeitlichen Gliederungssystemen wie dem Drei-Perioden-System Stein, Bronze, Eisen; parallel hierzu hat Lewis Morgan das soziokulturelle Gliederungssystem von Wildheit, Barbarei und Zivilisation entwickelt. Schliemann und Petrie haben auf je eigene Weise durch praktische Erprobungs- und Lernprozesse dazu beigetragen, die Prinzipien der Stratigraphie zu etablieren: das Lagerungsgesetz (Schicht folgt auf Schicht), die Ablagerung in der Horizontalen, die Verbindung und Abgrenzung zwischen den Schichten, insbesondere die Berücksichtigung sogenannter Zerstörungshorizonte, d. h. Zerstörungsschichten, die auf Brandkatastrophen, Erdbeben oder Eroberung hinweisen; das Gesetz der stratigraphischen Abfolge (die Position in einer stratigraphischen Sequenz wird in bezug auf die älteste Schicht unterhalb und die jüngste Schicht oberhalb bestimmt); das Prinzip der Fundvergesellschaftung; das Prinzip der großen Zahl; Fundtopographien und zonale Gliederungen; die sogenannte archäologisch-historische Methode als absolute Datierung nach dokumentarisch überlieferten Fixierungsvorgaben wie assyrische und babylonische EponymenQahresbeamten)- und Herrscherlisten, ägyptische Zeitrechnung in ihrer Orientierung an zyklischen astronomischen Erscheinungen, ägyptische Königslisten, griechische und römische Zeitrechnung wie die Olympiadenrechnung.

Peirce und William Flinders Petrie In dem Kapitel der Minutiösen Logik »Über Methodenprobleme der Klassifikation« ging Peirce gezielt auf Flinders Petrie ein, den Begründer der prähistorischen Archäologie Altägyptens, der mit seinem System der Sequenzdatierung entscheidende Ansätze zu einer quantitativen Archäologie geliefert hat. Aus einem reichhaltigen altägyptischen Gräbermaterial hat Petrie »eine Art keramischer Genealogie« ermittelt. Er erkundete keramische Typenbildungen nach formalgestalterischen Merkmalen und weiter gefaßten Kriterien und gruppierte die Gräber nach Ähnlichkeit und Häufigkeit der in ihnen enthaltenen Tongefäße. Unter dem übergreifenden Aspekt der Neu- und Rückbildung keramischer Formen fragte er ebenso nach der Differenzierung von Typen wie er deren Laufzeit einzugrenzen suchte. Petrie verglich das Typenaufkommen in den Gräbern und notierte die Ergebnisse in Tabellen, um (unter Berücksichtigung von Uberlagerungen und Lücken) eine Reihe zu konstruieren. »Gräber, in denen die gleichen Typen auftauchten, wurden als zeitgleich, wo sie fehlten, als älter bzw. jünger eingestuft.« 4 Auf 900 Pappstreifen, die leider nicht erhalten sind, trug Petrie ein System von Sequenzdaten für die vordynastische Keramik ein, beginnend mit der Ziffer 30, da nicht auszuschließen war, daß noch älteres Material gefunden wird, und hinaufreichend bis zur Ziffer 80, die die Schwelle zur dynastischen Zeit markierte. Diese Sequenzdatierung war das erste der verschiedenen Verfahren der Seriation, die sich später entwickelt haben.

4

Franziska Lang: Klassische Archäologie, Tübingen - Basel 2002, S. 139.

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GRABUNGEN Petrie war auch ein Pionier der vergleichenden Archäologie. Nachdem er in Gurob und Kahun nichtägyptische Töpferware entdeckt hatte, die er mit sicherem Gestaltblick als ägäisch bzw. protogriechisch bestimmte, ohne daß aus dem ägäischen Raum selbst damals schon Funde derartiger Töpferware bekannt waren, reiste er nach Mykene, um sich komparatistisch zu vergewissern. In Mykene stieß er auf Einflüsse und Objekte ägyptischer Herkunft, die er der Zeit der XVIII. Dynastie zuordnen konnte. Die in Kahun gefundene protogriechische Töpferware war mit Objekten aus Ägyptens XII. Dynastie vergesellschaftet. Daraus folgerte er nicht nur die Zeitgleichheit protogriechischer Ware mit der XII. Dynastie, sondern auch die Gleichzeitigkeit der Objekte aus Mykene mit der XVIII. Dynastie. Auf Grund dieser Zeitvergleiche datierte er die ägäische Kultur auf eine Entstehungszeit etwa um 2500 v. Chr., während er die mykenische Kultur zwischen 1500 und 1000 v. Chr. ansetzte: »ein außerordentlich bemerkenswertes Beispiel einer Differentialdatierung - das erste seiner Art im Bereich der vergleichenden Archäologie«. 5 Schliemann wiederum hat die von Petrie in Ägypten gefundene mykenische Keramik »als Leitmuschel für die Chronologie der oberen Trümmerschichten in Troja benutzt«.

Spatenarchäologie als wissenschaftliche Revolution Wenn Peirce die Archäologie als deskriptive Untersuchung individueller Monumente mit klassifizierenden (komparatistischen, typologischen, genealogischen) Tendenzen bezeichnet hat, dann war ihm die erste Bestimmung — deskriptive Untersuchung individueller Monumente - gleichermaßen unabdingbar. Denn nur das individuelle Monument ist ein existentielles Indiz. Die Indexikalität der Überraschung, der Unterbrechung, der Diskontinuität gibt es in kulturellen Abstufungen: vom Ereignis, das im Hinblick auf Erwartungssysteme überraschend ist, bis zum bildnerischen oder skripturalen Monument, das in unerwarteter Weise gefunden oder ausgegraben wird und jedem Entzifferungs- oder Deutungsversuch Widerstand entgegensetzt. Jedes Monument ist ein genuines Indiz, das in eine symbolische Triade eingeführt wird. Doch die Indexikalität läßt sich nicht vollständig in Symbolizität auflösen. Das Monument wahrt seine widerständige und eigenwertig geformte Materialität auch im prinzipiell unabgeschlossenen Rezeptionsprozeß. Es verbleibt in der Spannung zwischen seinem irreduzibel historischen Charakter und der durch Traditionslinien und -brüche gekennzeichneten Rezeptionsgeschichte. 1896 hat Peirce erstmals Schliemann als Protagonisten eines Radikalismus, der Experimente unternimmt, explizit gewürdigt. Er teilte Schliemanns Abneigung gegen die Tendenz der textimmanenten Kritik, eine wachsende Vielzahl von Testimonien zu verwerfen. Eine Abneigung, die der englische Sprachforscher und Archäologe Archibald Henry Sayce in seinem Vorwort zu Schliemanns Troja-Buch von 1884 artikuliert hat: »Wolff und seine Anhänger haben den Körper Homers in Stücke zerrissen; Nie-

5

Glyn Daniel: Geschichte der Archäologie, Bergisch Gladbach 1982, S. 141 f.

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buhrs Schule hat die Legenden des prähistorischen Hellas so lange kritisiert, bis keine derselben übrigblieb [...] Der älteste Teil von Grotes >Geschichte von Griechenland< bezeichnet das Ende und den Abriß dieser Periode zerstörender Kritik.«6 Ein Urteil, das mehr Proklamation als Bestandsaufnahme war und insgesamt weit übers Ziel hinausschoß. »Richtig ist vielmehr«, sagt Justus Cobet, »daß die Quellenkritik mit George Grote im Rahmen der Rekonstruktionsversuche einer griechischen Frühzeit erst richtig Fuß faßte [,..].« 7 Peirce schrieb: »Dr. Schliemanns Entdeckungen waren die erste Sturmflut (socdolager), welche die >höhere Kritik< erreicht hat. Viele sind seither gefolgt [,..].« 8 Zwei Jahre später, 1898, spricht Peirce öffentlich davon, daß die »moderne Methode interner Kritik« in der »noch moderneren archäologischen Methode« ihr Korrektiv gefunden habe.9 In seiner Logic of History behauptete Peirce: »Wenn Wahrscheinlichkeit (probability) den Grad bezeichnen soll, in dem sich eine Hypothese über Vorgänge im alten Griechenland einem Professor in einer deutschen Universitätsstadt empfiehlt, dann ist hier keine mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie im Spiel. Eine Wahrscheinlichkeit im gemeinten Sinne ist nichts als der Grad, in dem eine Hypothese den vorgefaßten Begriffen eines Forschers entspricht.« 10 Der Gebrauch, den wir von der griechischen Geschichte zu machen wünschten, sollte nach Peirce sein, aus ihrem Studium zu lernen, nicht aber unsere vorgefaßten Begriffe hineinzutragen. Die Methode, Wahrscheinlichkeiten abzuwägen, setze nicht nur voraus, daß die Testimonien unabhängig voneinander sind; jede von ihnen müßte auch von der vorausgesetzten Wahrscheinlichkeit der erzählten Geschichte unabhängig sein. Sobald sich eine Hypothese als anderen vorzuziehen empfohlen hat, sollte damit begonnen werden, die extremsten und unwahrscheinlichsten Voraussagen abzuleiten, sofern sie dem Test eines Experiments unterworfen werden können. Im Ergebnis werde eine Hypothese entweder gänzlich verworfen werden müssen, oder es werden Korrekturen angebracht sein, die vom Experiment gefordert werden. Letztlich steht und fällt die Hypothese nach Peirce mit dem Resultat solcher Experimente. Was für eine einzelne Hypothese richtig ist, sollte sich auch bewähren, wenn es zur Methode gehört, viele Hypothesen zu entwerfen. »Nun wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Vorgehensweise der Historian Critics viele Male dem Test der archäologischen Ausgrabung unterzogen; und was war das Resultat? Ich verfüge nicht selber über das notwendige Fachwissen, um dies in einer professionellen Form zu bilanzieren; doch nach allem, was ich gehört habe, entnehme ich den Berichten über die ägyptische Feldarchäologie

6

Heinrich Schliemann: Troja: Results of the Latest Researches and Discoveries, London 1884, Pre-

face. 7 Justus Cobet/Barbara Patzek (Hrsg.): Archäologie und historische Erinnerung. Nach 100Jahren Heinrich Schliemann, Essen 1992, S. 133. 8 Ebd., S. 53. 9 Charles S. Peirce: Das Denken und die Logik des Universums. Die Vorlesungen der Cambridge Conferences von 1898, hrsg. von Kenneth Laine Ketner, Frankfurt/M. 2002, S. 260. 10 Charles Sanders Peirce: On the Logic of Drawing History from Ancient Documents, especially from Testimonies (1901), in: ders., Collected Papers, Bd. 7, S. 101.

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GRABUNGEN in ihrem Verhältnis zu den früheren Gelehrtenmeinungen über Manetho und sogar über Herodot, über die Ausgrabungen in der Troas und in Mykene und an anderen Orten, - es habe sich, aufs Ganze gesehen, herausgestellt, daß die Gelehrten in fast jedem Fall mehr oder weniger fundamental falsch lagen; insbesondere sei ihre Gepflogenheit, die gesamte positive Evidenz [der Monumente und Testimonien, M. F.] zugunsten ihrer Begriffe von Wahrscheinlichkeit über Bord zu werfen, durch diese Tests verdammt worden. Wenn dem so ist, ist dies keine geringfügige Modifikation, sondern eine vollständige Revolution ihrer Logik oder was sie dafür halten. Denn in Ansehung ihrer großen Geschultheit und Kompetenz und des absoluten Vertrauens, das sie in ihre Konklusionen als perfekt unabweisbar gesetzt haben, gibt es keinen mittleren Weg zwischen der Bezichtigung dieser Leute, eine Gruppe von Scharlatanen zu sein, und dem nüchternen Schluß, daß ihre Methode im Prinzip falsch war.« 11 Angesichts der Tatsache, daß die wahre Hypothese nur eine unter unzählbar vielen möglicherweise falschen ist, und angesichts des enormen Aufwands an Geld, Zeit, Energie und Intelligenz, der für experimentelle Tests erforderlich ist, kann Peirce nicht davon absehen, daß im Gesamtprozeß der Hypothesenbildung auch die Ökonomie ins Gewicht fällt. Darunter begreift Peirce erstens die Kosten, zweitens den Wert der Sache, um die es geht, drittens die Auswirkung auf andere Projekte. Gerade darum hielt Peirce es für unerläßlich, »zwischen verschiedenen Quantitäten scharf zu unterscheiden, die unter dem Namen Wahrscheinlichkeit gewöhnlich miteinander vermengt werden. Eine von ihnen, die ich >Vermutbarkeit< nenne, ist die trügerischste Sache der Welt, da es nichts anderes ist als der Grad der Ubereinstimmung einer Proposition mit einer vorgefaßten Idee. Wenn dies mit dem Namen der Wahrscheinlichkeit ausgezeichnet wird, als handelte es sich um etwas, wofür große Versicherungsgesellschaften Hunderte von Millionen riskieren könnten, dann richtet das mehr Schaden an, als es das Gelbfieber jemals getan hat.« 12 Wahrscheinlichkeitstheoretische Überlegungen können auf die antiken Testimonien auch darum nicht angewendet werden, weil sich Nachrichten über ein fragliches Ereignis nur in seltensten Fällen mehrfach vorfinden. Außerdem sind in jedem Falle Ausgangswahrscheinlichkeiten und Erwartungshaltungen zu berücksichtigen, die sich nur in extrem kontextfreier Idealisierung formalisieren und berechnen lassen. Ein Konflikt zwischen Testimonien dürfte nach Peirce in der übergroßen Mehrzahl der Fälle prinzipiell kein bloßes Zufallsprodukt sein; umgekehrt hat die Übereinstimmung von Testimonien gewöhnlicherweise einen anderen Grund als die bloße Tendenz zur Wahrheit. Die Methode der Abwägung von Wahrscheinlichkeiten setzt zweierlei voraus: (1) müssen die Testimonien voneinander unabhängig sein; (2) müssen sie auch davon unabhängig sein, wie die antiken Autoren die Wahrscheinlichkeit der von ihnen erzählten Geschichte jeweils eingeschätzt haben. Denn viele Geschichten wurden vor allem deshalb mitgeteilt, weil die Verfasser glaubten, etwas Wundersames berichten zu können. Ironisch

Ebd., S. 106f. Charles Sanders Peirce: Semiotische Schriften, und Helmut Pape, Frankfurt/M. 1986, S.398. 11

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Bd. 1, hrsg. und übersetzt von Christian Kloesel

8. HISTORISCHE VORAUSSETZUNGEN DER PEIRCE-REZEPTION formuliert Peirce in paradoxer Zuspitzung, man könne fast sagen, antike Geschichte sei einfach die Erzählung aller unwahrscheinlichen Ereignisse, die während der verflossenen Jahrhunderte geschehen seien. Wir können nicht ermitteln, wie viele Male ein Zeuge ein und denselben Fakt korrekt berichten würde, da er diesen Fakt nur einmal berichtet. Wenn er die Sache verfehlt, kann nicht auf das Zusammenwirken von Myriaden von Fällen zurückgegriffen werden, um sich zu vergewissern. Peirce folgt keinem naiven Glauben an die »positive Evidenz der Testimonien« - auch die Testimonien werden daraufhin befragt, wieweit sie Erklärungen für Auffälligkeiten und Anomalien liefern. Aber er verwahrt sich dagegen, die mutmaßliche Evidenz der Testimonien nach subjektiven Wahrscheinlichkeiten zu beurteilen. 13 Peirce begriff die Durchsetzung der Spatenarchäologie als eine wissenschaftliche Revolution. Auch er selber berief sich auf den Spaten des Archäologen. Eigene Hypothesen über historische Fakten hätten die Probe des archäologischen Experiments bestanden, die ableitbaren Vorhersagen seien durch entsprechende Funde erfüllt worden. Bei der Arbeit an der »Geschichte der Wissenschaften« war Peirce dahin gelangt, den legendären König Menes und andere Fakten als historisch zu betrachten, die von den Ägyptologen, auch von Flinders Petrie, für mythisch gehalten wurden. Noch bevor Peirce sein Buch beenden konnte, wurden von Petrie in Abydos dynastische und prädynastische Königsgräber gefunden, einschließlich eines Grabkomplexes, der Menes zugeschrieben wurde.

Monumentale Geschichte und Geschichte aus Dokumenten Schliemann, wie Peirce ihn sah, brachte das Kunststück fertig, zwischen der Skylla einer sogenannten zirkulären Theorie und der Charybdis eines positivistischen Verifikationsdogmatismus hindurchsteuern. Die zirkuläre Theorie bevorzugt eine Begrifflichkeit, die Peirce mit Horaz' Worten beschreibt: »Stark, in sich abgeschlossen, abge-

13 Das ist für ihn kein Kriterium. Und mit mathematischer Wahrscheinlichkeit ist hier nicht zu operieren. Peirce hat Regeln der Hypothesenaufstellung vorgeschlagen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: (1) Hypothesen sollten alle relevanten Fakten erklären. Es reicht nicht aus, von einem Testimonium zu sagen, es sei nicht wahr; es müsse auch erklärt werden, wie es komme, daß es so ist wie es ist. (2) Die erste Hypothese soll in der Annahme bestehen, die hauptsächlichen Testimonien seien wahr; und diese Hypothese sollte nicht aufgegeben werden, bevor sie nicht schlüssig widerlegt

ist. (3) Strikt objektive und überdies sehr große Wahrscheinlichkeiten sollten, auch wenn sie niemals Gewißheit geben können, unsere Präferenz für eine bestimmte Hypothese beeinflussen dürfen. (4) Wir sollten eine Hypothese in so viele Items wie möglich aufspalten, um jede einzeln zu testen. (5) Sollten wir im Zweifel sein, welche von zwei Hypothesen den Vorzug verdient, so sollten wir ausprobieren, ob nicht durch Erweiterung des Feldes der zu erklärenden Fakten ein guter Grund gefunden werden könne, der die Entscheidung erleichtert. (6) Sollte die Überprüfung einer speziellen Hypothese in der Hauptsache oder zu einem großen Teil in einem bestimmten Fall die zusätzliche Überprüfung einer anderen Hypothese erfordern, so sollte unter diesen Umständen bei sonst gleichen Gegebenheiten diejenige Hypothese den Vorzug erhalten, die geringe oder gar keine Extrakosten bereitet. (7) Ist eine Hypothese auf Probe angenommen, so sollten mögliche Konsequenzen der Hypothese überprüft werden, soweit sie einer direkten Überprüfung zugänglich sind.

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GRABUNGEN rundet und vollkommen.« Sie setze sich selbst voraus und kehre zu sich selbst zurück »die aristokratische Theorie, die sich abseits von vulgären Fakten hält [...] Das andere Extrem bildet Auguste Comte, der jede Theorie verdammt, die nicht >verifizierbar< ist.«14 Bezogen auf diese Alternativen ging Peirce in der 8. Lowell-Vorlesung von 1903 ausführlich auf Schliemann ein: »Als Schliemann die Hypothese aufstellte, daß es die Stadt Troja und den Trojanischen Krieg wirklich gegeben habe, so bedeutete das für ihn u.a.: wenn er dazu kommen sollte, Ausgrabungen bei Hissarlik zu machen, so würde er vermutlich auf die Überreste einer Stadt mit den Spuren einer Zivilisation stoßen, die den Beschreibungen der Ilias mehr oder weniger entsprechen und mit anderen zu erwartenden Funden in Mykene, Ithaka und anderswo übereinstimmen würden.«15 Was Peirce vergaß: Erst die auf Umwegen zustande gekommene Entscheidung für den Ort Hissarlik machte Schliemanns Grundannahme zu einer Hypothese, die mit dem Spaten getestet werden konnte. Schliemann war beim Graben von allen möglichen Erwartungen, Meinungen, Arbeitshypothesen, Gewohnheiten geleitet, aber diese lassen sich kaum als theoretische Annahmen qualifizieren. Doch gerade Peirce hat begründet dargelegt, wie begrenzt und restriktiv es wäre, als Hypothesen nur Theorieentwürfe gelten zu lassen. Wie immer zustande gekommen - Schliemann hatte eine Rahmenhypothese, die eine Fragerichtung vorzeichnete. Innerhalb der Fragerichtung suchte er Prüfindizien für seine Hypothese. Alles andere schob er beiseite. Schliemann ist in vielen Punkten früh kritisiert worden. Was für ihn keinen Indizienwert hatte, zerstörte er oft, andererseits überschätzte er beispielsweise den Indizienwert seines Schatzfundes, den er irrtümlicherweise als Schatz der Priamos interpretierte. In der neueren Schliemann-Forschung (Traill, Calder III) führte der Nachweis fabulatorischer Züge in Schliemanns Autobiographie sogar zum Verdacht, er habe auch den Schatz der Priamos inszeniert, habe Fundstücke hinzugekauft.16 In bestimmter Hinsicht war Schliemanns Vorgehen exemplarisch für die »Archäologie als Eroberungswissenschaft«.17 Was zweierlei heißt: einmal Aufgraben, Aufbrechen der Erde und Scherben, Schutte und Schichten als gewaltsame Auseinandersetzung mit dem widerständigen Material: Ausgrabung bedeutet fast immer Zerstörung des Vorhandenen, wie Franziska Lang betont, da, mit den Worten des Archäologen Theodor Wiegand, während der Grabung »nur einmal beobachtet werden kann, dann ist der Tatbestand verändert«. Gerade darum ist eine sorgfältige und umfassende Dokumentation so wichtig. Das hieß in Schliemanns Fall: »Wenn man an Orten gräbt, die über mehrere Perioden besiedelt waren, und das Eigeninteresse auf eine ältere und

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Charles Sanders Peirce, »(Uber Theoriebildung)«, in: ders., Naturordnung und Zeichenprozeß. Schriften über Semiotik und Naturphilosophie mit einem Vorwort von Ilya Prigogine, hrsg. und eingeleitet von Helmut Pape, übersetzt von Bertram Kienzle, Frankfurt/M. 1991, S.424. 15

Ebd., S.424 f. Vgl. William M. Calder III/David A. Traill: Myth, Scandal, and History, Detroit 1986; Justus Cobet: Heinrich Schliemann. Archäologe und Abenteurer, München 1997. 17 Franz Georg Maier: Von Winckelmann zu Schliemann. Archäologie als Eroberungswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Opladen 1992. 16

8. HISTORISCHE VORAUSSETZUNGEN DER PEIRCE-REZEPTION damit tieferliegende Phase gerichtet ist, [...]«werden die Archäologen »immer wieder vor die Entscheidung gestellt, welche der jüngeren Schichten abgegraben - und das bedeutet zerstört - werden sollen, um die ältere Phase zu erreichen.« 18 Zum anderen bedeutet Archäologie als Eroberungswissenschaft auch Grabungsexpeditionen und -Unternehmungen als Element imperialistischer Politik. Auch wenn bei Schliemann selber die »enge Verbindung von Außenpolitik, Nachrichtendienst und archäologischer Feldarbeit« nicht die entscheidende Rolle spielt, ist die Kooperation von Archäologie und Nachrichtendienst, häufig in Personalunion, vielfach belegbar, wenn auch dadurch erschwert, daß zahlreiche Geheimdienstdokumente aus dem Ersten Weltkrieg bis heute unter Verschluß blieben. 19 Am Charakter der Archäologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Eroberungswissenschaft dürften auch die von Petrie aufgestellten methodologischen Grundsätze wenig geändert haben: Schonung der Monumente, um die der Spatenarchäologie immanente Zerstörungsgefahr zu minimieren; minutiöses Vorgehen nicht nur beim Graben, sondern auch beim Bergen und Registrieren der Funde; präzise Vermessung und Kartierung sämtlicher Monumente und Grabungen; kein langes Zurückhalten der Resultate, sondern zügige und vollständige Publikation. Erst nach dem Gewaltschnitt lernte Schliemann methodisch vorzugehen und stratigraphisch zu graben. Hierfür hat er einen Architekten mit Grabungserfahrungen hinzugezogen (Wilhelm Dörpfeld). Schließlich drängte sich ihm mehr und mehr die Notwendigkeit interdisziplinärer Arbeit auf, wie seine enge Kooperation mit Virchow beweist. Das Experiment gewann ein Eigenleben: das zeigt sich nicht nur in der Entwicklung von Schliemanns Aufzeichnungen vom narrativen Reise- zum registrierenden Grabungsbericht, sondern auch in einer hellsichtigen Notiz, die die Unabhängigkeit des Grabungserfolgs von der Identifizierung des homerischen Troja festhält: »Wenn mir nun dies nicht gelingen sollte, dann würde ich doch überaus zufrieden sein, wenn es mir nur gelänge, durch meine Arbeiten bis in das tiefste Dunkel der vorhistorischen Zeit vorzudringen [...].« 2 0 Obwohl er sich bei der Identifikation der archäologischen Schicht des homerischen Troja irrte, wurde Schliemann zum Begründer der Vorgeschichtsarchäologie Griechenlands »ohne Orientierungshilfe durch die Uberreste großer Bauwerke, wie sie ζ. B. in Babylon und in Ninive die Aufgaben so sehr erleichterten« (Sir John Myres). Bei allem Insistieren auf Testimplikationen grenzte sich Peirce von Comtes engem und restriktivem Verständnis von Verifikation ab: »[...] Comtes eigene Vorstellung von einer verifizierbaren

Hypothese ging dahin, daß sie nichts voraussetzen dürfe, was

man nicht direkt beobachten könnte.« Danach wäre Schliemann zwar die Annahme zuzugestehen, daß er bei Hissarlik Waffen und Geräte finden könnte, aber es wäre ihm verboten anzunehmen, daß diese Waffen und Geräte von konkreten menschlichen Wesen hergestellt oder gebraucht worden seien - die Urheber der Artefakte waren keiner direkten Beobachtung zugänglich. Daraus würde folgen, daß die »monu-

18

Franziska Lang: Klassische Archäologie, Tübingen - Basel 2002, S. 86.

19

Franz Georg Maier: Von Winkelmann

zu Schliemann, a. a. O., S. 28.

Heinrich Schliemann: Bericht über die Ausgrabungen in Troja in den Jahren 1871—1873, Düsseldorf- Zürich 2000, S. 50. 20

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GRABUNGEN mentale Geschichte« (Peirce) als Wissenschaft nicht möglich ist, da sie stets spekulativ bleiben würde. Peirce hat die Geschichte entsprechend der Natur ihrer Daten untergliedert. Er unterschied (1) monumentale Geschichte-, dies deckte sich mit dem Begriff der Prähistorie als einer Zeit ohne schriftliche Dokumente. Monumentale Geschichte forderte sowohl eine Ethnologie der Technik als auch eine Ethnologie der sozialen Entwicklung (Sitten, Gesetze, Religion, Tradition und Folklore); in gewissen Grenzen, d.h. nicht ohne Unterstützung jeglicher Monumente, war die monumentale Geschichte auch der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte zugänglich. (2) Alte Geschichte und alle andere Geschichte, »die sich auf wenige und allgemeine Zeugnisse beruft«; Peirce erachtet die Grenzen zwischen monumentaler und alter Geschichte als fließend. (3) »Geschichte, die aus einer Fülle von Dokumenten gewonnen wird wie die moderne Geschichte generell«. Hätte Peirce jemals eine Archäologie der jüngeren bis jüngsten Vergangenheit in Betracht gezogen, so hätte diese an den Monumenten der Technikgeschichte und der sozialen Ethnologie anzusetzen gehabt. Daß die ausgegrabenen Uberreste einer Stadt mit den Spuren einer Zivilisation, darunter Waffen und Geräte, Probleme aufwerfen würden, lag auf der Hand; wie so oft in solchen Fällen hat Virchow die Aufgabe scharf umrissen: »[...] aus der Reihe der aufeinanderfolgenden Erdschichten wie aus einem geologischen Aufschlüsse den Gang der Geschichte abzulesen, nicht wie er aufgezeichnet worden ist, sondern wie er sich uns körperlich darstellt in der Hinterlassenschaft der Vorzeit, in den Dingen selbst, welche die früheren Menschen gebraucht haben.«21 Vorauszusetzen waren daher als Hersteller und Nutzer von Waffen und Geräten nicht Menschen schlechthin, sondern Menschen von einem bestimmten Zivilisationsstand; was allerdings nicht ohne weiteres gefolgert werden kann, ist die historische Existenz von Priamos, Paris, Hektor usw. Ohne Texte sei die Archäologie machtlos, schrieb 1992 der Archäologe Donald F. Easton, bestimmte historische Fragen zu beantworten: »Die Archäologie kann den troischen Krieg nicht nachweisen, wenn wir nicht sicher sind, daß dieser Ort Troja war. [...] Es gibt keine spätbronzezeitlichen schriftlichen Zeugnisse, keine Keilschrift- oder Linear-B-Täfelchen, keine Inschriftensteine mit Hieroglyphen, nichts, das uns tatsächlich erzählen würde: >Hier liegt Trojagerecht< gewogen wird«.24 Für 144 Gewichte ermittelte Petrie eine Maßeinheit von einem Zehntel des Kornmaßes. Hierzu muß gewußt werden, daß in der altägyptischen Mathematik additives Verfahren und Stammbruchrechnung dominierten. Die aus mathematischen Papyri rekonstruierbare altägyptische Mathematik beruhte auf einem Dezimalsystem mit besonderen Zeichen für jede höhere dezimale Einheit. Dirk J. Struik faßt die Eigenart dieses Systems in seinem Abriß der Geschichte der Mathematik folgendermaßen zusammen: »Auf der Grundlage dieses System entwickelten die Ägypter eine Arithmetik von vorwiegend additivem Charakter, womit gemeint ist, daß die Haupttendenz darin bestand, alle Multiplikationen auf wiederholte Addition zurückzuführen. [...] Der hervorstechendste Zug der ägyptischen Arithmetik war [jedoch] ihre Bruchrechnung. Alle Brüche wurden auf Summen von sogenannten Stammbrüchen, d.h. Brüchen mit dem Zähler Eins zurückgeführt [...].« 2 5 James Ritter hat die Verfahrensweise und ihre Probleme beschrieben: »Die Halbierung eines Stammbruchs war noch verhältnismäßig einfach, da es genügt, den >Nenner< mit 2 zu multiplizieren. Dagegen kann die Verdopplung eines Bruchs Probleme bereiten, weil der kürzeste Weg - der darin besteht, den >Nenner< durch 2 zu teilen - nur beschritten werden kann, wenn dieser gerade. [...] Zweimal 2/3 lassen sich ohne weiteres als 1 1/3 ausdrücken. Ebenso ist zweimal 1/6 einfach 1/3. Aber zweimal 1/9? Wie wäre das Ergebnis in der für einen Ägypter einzig annehmbaren Form, nämlich als Stammbruch, zu schreiben? Die in Ägypten [...] gewählte Lösung besteht darin, für alle delikaten Teile der Mathematik Tabellen aufzustellen, anders gesagt: bestimmte Arten von Resultaten zur leichteren Auffindung tabellarisch anzuordnen. Der Papyrus Rhind besitzt [...] eine solche Tabelle, die praktisch seine ganze Vorderseite einnimmt und die

24 Walter Friedrich Reineke: »Ägyptische Geschichte, Weltanschauung, Mathematik, Astronomie, Medizin, Gesellschaftswissenschaftliche Verhältnisse«, in: Fritz Jürß (Hrsg.), Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im Altertum, Berlin 1982, S. 136. 25 Dirk J. Struik: Abriß der Geschichte der Mathematik, Berlin 1963, S. 15 f.

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GRABUNGEN das Doppelte >ungerader< Stammbrüche von 1/5 bis 1/101 angibt.«26 Allerdings mußten solche Tabellen erst einmal angefertigt werden; es ist nach wie vor strittig, wie diese Tabellen aufgestellt wurden. Auch das Kornmaß (Scheffel) wurde in Stammbrüche von 1/2 bis 1/64 aufgeteilt. Die Teile wurden als selbständige Maßeinheiten behandelt, ursprünglich entstanden durch fortlaufende Halbierung der zugrunde gelegten Getreidemenge. Die Gewichtstücke waren klein und wurden offenbar zum Wiegen kostspieliger und preziöser Dinge verwendet. Sie waren aus Basalt und Syenit, das Material war so widerständig, daß nur geringfügige Korrekturen nötig waren, um die Gewichte auf ihre originalen Werte zu bringen. Peirce nahm an, die Mehrzahl der Gewichte ließe sich auf einige wenige Standards zurückführen, von denen sie Kopien waren, und suchte die Abweichungen mit Hilfe seiner Theorie der Meßfehler zu ermitteln, die er bei seinen Pendelversuchen zur Schwerkraftmessung entwickelt hatte.

Archäologie der Aristoteles-Manuskripte Zu den Monumenten zählte Peirce jedoch nicht nur Bildwerke, Waffen und Geräte, Teile von Stadtanlagen und altägyptische Gewichte, sondern auch vergrabene Aristoteles-Manuskripte oder die in Herculaneum ausgegrabenen Manuskripte, darunter Philodems Abhandlung Uber Zeichen und Zeichenschlüsse. In der Logic of History schreibt Peirce: »Im Falle der alten Geschichte haben die zu erklärenden Fakten teilweise die Natur von Monumenten, wozu auch Manuskripte zu rechnen sind; doch zum größten Teil sind die Fakten dokumentarischer Art; d. h., sie liefern Behauptungen oder virtuelle Behauptungen, die wir entweder in den Manuskripten oder auf Inschriften lesen.«27 Manuskripte sind nicht a priori Dokumente, ζ. B. wenn sie niemand entziffert hat. Peirce ging von der Materialität von Zeichen aus, der Tatsache, daß Zeichen vor allen Bedeutungen eine eigene materiale Beschaffenheit haben. Sie sind gespeichert, gelagert, verschüttet, werden ausgegraben, aufgefunden, restauriert, müssen archiviert, ediert und entziffert werden, bevor sie als Dokumente verfügbar sind. Wenn Manuskripte und Inschriften durch Archivierung, Entzifferung und Lektüre zu Dokumenten werden, denen Behauptungen über Sachverhalte abzugewinnen sind, dann kann deren Interpretation in günstigen Fällen durch indirekte Evidenz der Monumente unterstützt oder zurückgewiesen werden. Da Peirce von der skripturalen Materialität der Dokumente in spezifischen Speicherformen und Zirkulationsprozessen ausging, hat er das Verhältnis von Dokument und Monument in der Sache als ein intermediales Verhältnis gefaßt. Peirce selber behandelte aristotelische Lehrschriften als Dokumente und als Monumente. Er zog Daten aus der materiellen Uberlieferungsgeschichte her-

26 James Ritter: »Jedem seine Wahrheit: Die Mathematiken in Ägypten und Mesopotamien«, in: Michel Serres (Hrsg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt/M. 1995, S. 89. 27 Charles Sanders Peirce: The Logic of Drawing History from Ancient Documents, a. a. O., S. 146.

8. HISTORISCHE V O R A U S S E T Z U N G E N DER PEIRCE-REZEPTION

an, um Anomalien im Text zu erklären: allerdings haben Peirce' Beanstandungen seine eigene Aristoteles-Interpretation zum Maßstab. Die materielle Überlieferungsgeschichte entnahm er antiken Quellen, deren Zuverlässigkeit in der Forschung umstritten war. Peirce zog in erster Linie Strabos Geographie heran. In Buch XIV, in dem Kleinasien behandelt wird, geht Strabo auch auf die Stadt Skepsis ein. Neleus, Schüler von Aristoteles und Theophrast, habe auch die Bibliothek des letzteren geerbt, in der sich unveröffentlichte Lehrschriften des Aristoteles befanden. Als die Attaliden auch in Skepsis, das ihnen unterstand, Bücher für die vorgesehene Bibliothek in Pergamon suchten, versteckten die Erben des Neleus die ihnen hinterlassenen Bücher in einer Art Graben in der Erde. 150 Jahre später, als die Bücher längst durch Feuchtigkeit und Insekten beschädigt waren, wurden sie von Neleus' Nachkommen gegen einen großen Geldbetrag an den mitunter räuberischen Büchersammler Apellikon von Theos verkauft. Dieser war, wie Athenaios berichtet, ein Helfer des Athenion, eines anderen Peripatetikers, der in Athen eine Tyrannis errichtet und sich Mithridates' Kampf gegen die aufstrebende Weltmacht Roms angeschlossen hatte. Um die beschädigten Teile der Aristoteles-Papyri zu restaurieren, machte Apellikon Abschriften. Dabei ergänzte er Lücken inkorrekt, wie Strabo betont, und edierte die Bücher voller Fehler. 87 v.Chr. eroberte und verwüstete Sulla die Stadt Athen, nicht ohne vorher die Bücher und Kunstschätze zu sichern, die er als Kriegsbeute nach Rom brachte; darunter die Bibliothek des Apellikon. In Rom bekam der peripatetische Grammatiker Tyrannion die Bücher in die Hand, anderen Quellen zufolge hat Sulla selbst Tyrannion mit der Sichtung und Ordnung der Manuskripte beauftragt. Doch erst dessen Schüler Andronikos von Rhodos hat, wenn nicht schon in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts, dann zwischen 40 und 20 v. Chr. eine Gesamtausgabe der Lehrschriften des Aristoteles veranstaltet, die als Corpus aristotelicum die Grundlage für die die Rezeptionsgeschichte begleitende, nicht abreißende Kommentatorentätigkeit gebildet hat. Nicht aufgenommen hat Andronikos die Dialoge bzw. die bereits publizierten Schriften, die den Grundbestand des von Diogenes Laertius mitgeteilten Verzeichnisses der aristotelischen Schriften bilden. Die bittere Pointe ist: gerade die exoterischen, literarisch ausformulierten und durchgefeilten Schriften, die Aristoteles in den erhaltenen Werken vielfach als Referenzschriften zugrunde legt, sind nicht überliefert. Peirce teilte die erhaltenen Schriften des Aristoteles in fünf Gruppen ein: (1) unvollendete Werke, die zur Publikation vorgesehen waren, (2) Lektürenotizen oder Forschungsunterlagen, (3) kurze Abrisse von Theorien für das Studium, (4) Faktensammlungen zu Gegenständen, über die Aristoteles noch keine Theorie entwickelt oder kein Buch geschrieben hatte, (5) Ideenskizzen {hypomnemata). Nach der von Peirce aufgestellten Hypothese müssen die aristotelischen Lehrschrifiten vielfach Eingriffe nacharistotelischer Redaktoren erkennen lassen, insbesondere solche des Apellikon von Theos, der weder hinreichend kompetent noch gewissenhaft genug war. Dies müsse sich vor allem an Stellen zeigen, die sich am äußeren Ende der eingerollten Papyri befanden; hier müßten Feuchtigkeit und Insekten den größten Schaden angerichtet haben. Dort müßten am ehesten unleserliche oder gelöschte Stellen aufgetre-

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GRABUNGEN ten sein, die Apellikon nachzubessern bzw. zu ergänzen versucht haben dürfte. Wenn diese Annahme plausibel ist, müßte es zuweilen genügen, ein einzelnes Wort auszutauschen, um die Schlüssigkeit, die Peirce an der einen oder anderen Stelle vermißt, wiederherzustellen. Peirce nahm Stichproben aus der Ersten Analytik. Er konzentrierte sich auf die Schlußweise der Apagoge, die er durch den lateinischen Terminus Abductio (engl, abduction) wiedergab. In Kapitel 25 des 2. Buchs der Ersten Analytik heißt es: Wenn ein erster Term evidentermaßen einem Mittelterm zugeschrieben werden kann, so bedarf es bei der Abduktion nur weniger Vermittlungen, um den Mittelterm auch dem letzten Term zuzuschreiben. Neben einem moralphilosophischen gibt Aristoteles auch ein mathematisches Beispiel: »Zum Beispiel, wenn D stünde für >in ein Viereck umwandeln^ Ε für >aus Geraden bestehende F für >Kreiskleinen Monde< mit einer aus Geraden bestehenden Flächenform gleichgemacht werden könnte, so wäre man nahe am Wissen.« (Aristoteles, Erste Analytik, 2. Buch, Kap. 25, 69a) Peirce zufolge fehlt die Frage, auf die eine Antwort gegeben wird. Die Frage müßte lauten: Gibt es ein Konstruktionsverfahren, mit dessen Hilfe der Kreis einer aus Geraden bestehenden Flächenform gleichgemacht werden kann? Ein Quadrierungsverfahren bieten die sogenannten »kleinen Monde« des Sophisten und Mathematikers Hippokrates von Chios (um 440 v. Chr.). Diese Methode muß bekannt sein, um die Hypothese aufstellen zu können, auch der Kreis ließe sich mit Hilfe der kleinen Monde quadrieren. Darum schlägt Peirce vor, den Ausdruck »in ein Viereck umwandeln« gegen den Ausdruck »den kleinen Monden gleich sein« auszutauschen. Es geht um nichts anderes als um die Quadratur des Kreises-, dies war neben der Trisektion des Winkels (kann man einen gegebenen Winkel in drei gleiche Teile teilen?) und der Verdopplung des Würfels (die Seite eines Würfels zu finden, dessen Volumen zweimal so groß ist wie das eines gegebenen Würfels) eines der (drei) berühmten mathematischen Probleme des Altertums. Diese zeichnen sich mit den Worten von Dirk Struik dadurch aus, »daß sie durch die Konstruktion einer endlichen Anzahl von geraden Linien und Kreisen nicht exakt gelöst werden können, sondern höchstens näherungsweise, und daß sie deshalb als ein Hilfsmittel zum Eindringen in neue Bereiche der Mathematik dienten. Sie führten zur Entdeckung der Kegelschnitte, einiger kubischer Kurven, Kurven vierter Ordnung und einer transzendenten Kurve, der Quadratrix. Die anekdotenhafte Form, in der die Probleme gelegentlich überliefert werden (Delphisches Orakel usw.), darf uns nicht dazu verleiten, ihre fundamentale Bedeutung zu übersehen.«28 Die Quadratur des Kreises läuft auf das Problem hinaus: läßt sich ein Quadrat mit einem Flächeninhalt finden, der dem Inhalt einer gegebenen Kreisfläche gleichkommt? Auf diese Frage suchte Hippokrates von Chios eine Antwort. Er verglich den Flächeninhalt zweier Arten von Flächenformen: solcher, die von geradlinigen Strecken, und solcher, die von Kreisbögen begrenzt sind. Nach dem antiken Bericht des Eudemos lehrte Hippokrates von Chios, »daß die ähnlichen Segmente der Kreise dasselbe Verhältnis zueinander haben wie ihre Grundlinien in der

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Dirk J. Struik: Abrißder Geschichte der Mathematik, Berlin 1963, S. 36 f.

8. H I S T O R I S C H E V O R A U S S E T Z U N G E N DER P E I R C E - R E Z E P T I O N

zweiten Potenz«. Seine kleinen Monde imeniskoi) konstruierte er, »indem er um ein sowohl rechtwinkliges als auch gleichschenkliges Dreieck einen Halbkreis beschrieb und über der Basis ein Kreissegment, ähnlich denen, die von den Seiten abgeschnitten werden.

Wenn aber das Segment über der Basis gleich den beiden über den andern ist und beiderseits der Teil des Dreiecks, der jenseits des über der Basis beschriebenen Segmentes liegt, hinzugefügt ist, so wird das Möndchen gleich dem Dreiecke sein. Ist nun bewiesen, daß das Möndchen gleich dem Dreiecke ist, so dürfte es wohl quadriert werden.« 29 Da Hippokrates von Chios zwei oder drei spezielle Möndchen oder Meniskoi quadriert habe, so Peirce, habe Aristoteles möglicherweise die Hoffnung geschöpft, auch der Kreis ließe sich mit Hilfe der Möndchenmethode quadrieren. Peirce' These lautet nun: Um diese Hypothese als Zwischenschritt zur Konklusion überhaupt bilden zu können, müßten die kleinen Monde bereits im ersten Term ausgewiesen sein. Das muß aber nicht sein. Das wäre nur dann erforderlich, wenn es bei der Abduktion lediglich um eine Auswahl aus verfügbaren Hypothesen ginge, nicht aber um die Suche nach einer erklärenden Hypothese, die erst gefunden bzw. aufgestellt werden muß. Offenbar kannte Aristoteles die kleinen Möndchen als eine bereits vorhandene Methode; die Hypothese, auf die man kommen mußte, war die Idee, die Möndchenmethode könne auch für den Versuch genutzt werden, den Kreis zu quadrieren. Auch Peirce hat Emendationen vorgenommen und Konjekturen eingefügt; das ist bis heute ein unverzichtbarer Bestandteil philologischer Arbeit, insbesondere in altphilologischer Textkritik, die Papyri zugrunde legt. So ist der Titel von Philodems Schrift von Gomperz als Peri semeion kai semeioseon entziffert worden, was inzwischen in Peri phainomenon kai semeioseon korrigiert wurde; das hat natürlich auch inhaltliche Konsequenzen. Und das ist nur eine als Titel herausgehobene Textstelle von vielen Stellen in den außen teilweise verkohlten Papyri aus Herculaneum. Peirce ist es gelungen, die in der Rezeptions- und Forschungsgeschichte weitestgehend ignorierte Schlußform der Abduktion klar von der Induktion zu unterscheiden und in ihrer Eigenart und ihrem heuristischen Potential herauszuarbeiten. Abduktion ist ein gehalterweiternder Schluß, bei dem, ausgehend von einer evidenten Majorprämisse eine Minorprämisse als Brücke dient oder - und das ist der interessan-

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»Der Bericht des Eudemos über die Quadratur der Möndchen durch Hippokrates von Chios«, zit. nach Oskar Becker: Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Frankfurt/M. 1975, S. 69 f.

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GRABUNGEN tere Fall - als zusätzliche Prämisse eine vorgefundene oder neu aufgestellte Hypothese zwischengeschaltet wird, um die Konklusion plausibler, wenn auch nicht zwingend zu machen. Peirce faßt die Abduktion als eine Folgerungsweise, die ausgehend von wenigstens einer sicheren Teilprämisse Hypothesen bildet, um zu einer gestützten Konklusion zu gelangen. In seiner elaborierten Theorie der Hypothesenbildung, -erprobung und -korrektur hat Peirce später die aristotelische Schlußweise der Apagoge (Abduktion) mit Philodems Indiziensemiotik kombiniert, um sie in Richtung der endeiktischen, aufweisenden Zeichenschlüsse weiter auszubauen.

Archäologie und Semiotik Peirce' Interesse an der Spatenarchäologie, an monumentaler Geschichte, an der Auffindung altägyptischer Gewichte, an der materiellen Uberlieferungsgeschichte der aristotelischen Lehrschriften, an der Historizität der prädynastischen ägyptischen Könige, an der Entzifferung der Keilschriften etc. lassen Grundzüge des ArchäologieKonzepts von Peirce erkennen. (1) Seine Vorliebe gehörte nicht der philologischen Schule in der Archäologie, er stellt sich vielmehr im wesentlichen auf die Seite von Schliemann und Sayce. (2) Peirce' Interesse an der Archäologie war ein dezidiert historisches Wissensinteresse. Dies wird dokumentiert durch seine große Arbeit über die Logik der Geschichtsermittlung aus antiken Dokumenten und im Zusammenspiel mit M o n u m e n ten (The Logic of Drawing History from Ancient Documents, 1901). (3) Peirce war nicht ausschließlich und nicht vorrangig an klassischer Archäologie interessiert, sondern vor allem an der prähistorischen Archäologie Griechenlands und Kleinasiens. In besonderer Weise zog ihn die von Flinders Petrie beeinflußte ägyptische Archäologie an, Äußerungen zur amerikanischen Archäologie finden sich nicht, abgesehen von einem Hinweis auf Lewis Morgan, den Verfasser des in Europa vor allem durch Friedrich Engels bekanntgewordenen Werks Ancient Society. (4) Archäologie war für ihn weder ausschließlich noch primär Kunstgeschichte der Antike, sondern erstreckte sich auf die gesamte materielle Kultur. Archäologie interessierte ihn vor allem im Hinblick auf die »Ethnologie der sozialen Entwicklung« (Sitten, Gesetze, Religion, Tradition und Folklore) und als »Ethnologie der Technik«. (5) Sein Begriff von Interpretation war nicht hermeneutisch im Sinne des geisteswissenschaftlichen Begriffsgebrauchs. Bei Peirce ergibt sich die Interpretation aus dem durch materielle Zeichenereignisse gesetzten Zwang, auf Zeichen zu reagieren, ihren Verweisungsrichtungen zu folgen, Zeichen zu verketten u n d im Hinblick auf Konsequenzen inferentiell weiterzuentwickeln. (6) Peirce' Semiotik ist nichtrepräsentationalistisch, da Referenz nicht durch ein ideales Signifikat gegeben ist, sondern nicht anders als indexikalisch hergestellt werden kann. Das hat Dewey gegenüber Morris' Peirce-Lektüre richtiggestellt. Peirce' Semiotik ist inferentialistisch, denn: »Jeder Schluß ist die Interpretation eines Zeichens und jede Interpretation eines Zeichens ist mit einer Schlußfolgerung zumindest ver-

8. HISTORISCHE VORAUSSETZUNGEN DER PEIRCE-REZEPTION bunden.« 30 Alle Folgerungsprozesse werden in Zeichenoperationen vollzogen. Die Eigenart der inferentialistischen Semiotik von Peirce liegt (a) in der Fundierung der Semiosis in der Secondness, dem Lebensgrund des Realen, das durch brute force- Indizien signalisiert wird, (b) in der Weite seines Inferenzbegriffs, der ausdrücklich nicht auf Deduktionen beschränkt wird, sondern Induktionen einbezieht und vor allem der Hypothesen bildenden Abduktion großen Spielraum gibt. (7) In ihren Grundlagen war Peirce' Semiotik material. Fundierend war die Materialität der Zeichen, die im Falle der Indizes eine besondere Widerständigkeit und zwingende Wirksamkeit erlangt. Daraus ergibt sich ein spezifisches semiotisches Interesse an Monumenten: das Monument als genuiner Index des Realen. Dies ist auch der Fokus der archäologischen Peirce-Rezeption in der Gegenwart.

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Charles Sanders Peirce: »Essays über Bedeutung. Von einem alten Studenten dieser Wissenschaft. Vorwort«. MS 640, 1909, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 3: 1906-1913, hrsg. und übers, von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt/M. 1993, S. 380.

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Adolf Brütt: M o m m s e n - D e n k m a l , 1909. Marmor. Berlin, Humboldt-Universität Foto: Klaus Bojahr

9. Mommsens Block

Die in der Andeutung einer Pose erstarrte Momentaufnahme zeigt den greisen gebrechlichen Gelehrten, dargestellt von einem Bildhauer, der ihm auch die Totenmaske abgenommen hat; Adolf Brütt dürften auch ausreichend viele Fotos zur Verfügung gestanden haben, nach denen er sichtlich gearbeitet hat: Mommsen als Sitzfigur, von schlaffer Haltung, entrückten Blicks, in einen weiten Mantel gehüllt, auf dem linken Knie und von der Sessellehne gehalten ein großformatiges aufgeschlagenes Buch, auf das der Sitzende mit der aufgestützten Hand gleichsam hinweisend pocht, während die Rechte über die Armlehne des breiten festen Sitzmöbels spannungslos herunterhängt. Der sich ein Arbeitsleben lang im Steinbruch der römischen Geschichte abgemüht, ist in den thronartigen steinernen Sessel, der seinen hinfällig gewordenen Körper zusammenzuhalten scheint, zurückgesunken, als kapituliere er vor dem Alter, vor der Anstrengung der Lektüre, vor dem Schwächerwerden der Augen. Der quaderförmige Sessel ist auf den Kubus des Sockels getürmt; in diesem blockhaften Gefüge nimmt sich die Mommsen-Figur wie ein Geist oder ein Gespenst aus. Die weichen zerfließenden Linien des Faltenwurfs seines Gewandes, in dem der Körper Gewicht und Konturen zu verlieren scheint, zeigen eine malerische Behandlungsweise der Figur. Das Denkmal ist frontal auf den Betrachter ausgerichtet, Seiten- und Schrägansichten lassen Mommsen in seinem Sitzblock verschwinden; von hinten ist er überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Nichts an der Mommsen-Figur ist blockhaft, kernbezogen, durchgebildet und plastisch ausgeformt. So durchstilisiert und straff gebunden Sockel und Sitzblock, der die Figur einfaßt, so viel läßt die Figur an plastisch herausgearbeiteter dichter Körperlichkeit vermissen: alles Charakteristische ist nicht aus der Struktur herausgeholt, sondern aufgetragen. Die zeitgenössische Rezeption wirkt daher befremdlich, wenn im Jahre 1908 bei Gelegenheit eines vorweg ausgestellten Gipsabgusses der in Marmor auszuführenden Denkmalsfigur in der Vossischen Zeitung zu lesen war: »Auf einem hohen Sessel, der in der Einfachheit seiner Form an einen Thron erinnert. Mommsen ist bekleidet mit einem langen, fließenden [...] Mantel, und das gibt der Erscheinung etwas Abbehaftes, wie auch der Kopf mit der charakteristischen Herausprägung der Nase an Franz Liszt denken läßt. Die linke Hand des Gelehrten hält ein Buch, das auf seinem Schöße ruht. Er scheint über den Inhalt des Gelesenen nachzudenken und richtet sein Auge sinnend in die Weite. Das monumentale Werk ist durch die Geschlossenheit sei-

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GRABUNGEN nes Aufbaus und die strenge Herbheit seiner Durchbildung ein würdiges Denkmal des großen Historikers, von dessen sachlichem Ernst etwas in diese Statue übergegangen zu sein scheint.« 1 Die »Geschlossenheit des Aufbaus« des monumentalen Werks und die »strenge Herbheit« seiner Durchbildung erfaßt jedoch in keiner Weise die Figur; erstaunlich, daß sich dennoch in der Wahrnehmung der ersten Rezipienten ein solcher Eindruck ergab. Offenbar übertrugen oder projizierten sie das blockhafte Gefüge von Sockel und Thron auch auf die Figur, die es einfaßt. An dem 1906 ausgeschriebenen Wettbewerb, zu dem sieben Bildhauer eingeladen waren, hat auch Hugo Lederer teilgenommen, ein Hauptprotagonist der monumentalisierenden Richtung im Jugendstil, dessen Figuren nun in der Tat blockhaft sind. Im gleichen Jahr 1906 schuf Lederer sein Hamburger Bismarck-Denkmal; wahrscheinlich wollte man Mommsen auch postum nicht zumuten, daß der Meister der monumental stilisierten Steinskulptur seines Intimfeindes auch den Zuschlag für ein Mommsen-Denkmal erhielt obwohl, die Konfrontation wäre möglicherweise interessant gewesen. Als Einfassung der Figur kann der Block in Heiner Müllers Großgedicht auch zur Metapher der Blockade werden, der »Schreibhemmung« Mommsens, sobald es um die römische Kaisergeschichte ging. Die Figur muß sich gegen den Block, der sie einschließt, behaupten: Mommsen sitzt im Block.2 Heiner Müller betrachtet das Denkmal mit dem Historiker, der vor sich ein Buch aufgeschlagen zu liegen hat, aber nicht liest: Was sollte er noch lesen? (Er hat in seinen letzten Lebensjahren obsessiv moderne Romane gelesen, die ihm seine Tochter aus der Leihbibliothek holen mußte.) »Und ich wollte Sie könnten Kafka lesen Professor/ In Ihrer Marmorgruft auf Ihrem Sockel« (V. 140 f.). Mommsen Marmorgruft: die auf den Sockel getürmte kubische Sesselkonstruktion läßt Müller offenbar an einen auf den Kopf gestellten römischen Sarkophag denken, der die Sitzfigur umschließt. Mommsen sitzt fest - wie in einem Grab: der Doppelsinn der Statue in ihrer sepulkralen Herkunft. Das Denkmal als Marmorgruft, als Schutzraum, als unverweslicher Substitut des Leichnams, als Wiedergänger, als Gespenst. »WHERE THE DEAD ONES WAIT/ FOR THE EARTHQUAKES TO COME/ Wie Ezra Pound vielleicht sagen würde der andre Vergil/ Der auf den falschen Cäsar gesetzt hat gescheitert auch er/ Nämlich die Gespenster schlafen nicht/ Ihre bevorzugte Nahrung sind unsere Träume« (V. 170-175). In der Statue ins Dauerhafte geborgen zu sein, heißt auch, abgeschnitten zu sein von den Lebenden, die mit den Toten kein Kult mehr verbindet. Die Marmorgruft impliziert daher auch ein dem Vergessen Anheimgegebensein, und auch die Wiederaufstellung an prominenter Stelle hat Mommsen dem Vergessen nicht wirklich entrückt. Daß es eine Frage des Standorts ist, ob ein Denkmal beachtet und

1 Zit. nach Wolfgang Ernst: »Der Kontext und das Monument. Theodor Mommsens Römische Kaisergeschichte, das Berliner Mommsen Denkmal und Heiner Müller Mommsens Block«, in: ders. (Hrsg.), Die Unschreibbarkeit von Imperien. Theodor Mommsens Römische Kaisergeschichte und Heiner Müllers Echo, Weimar 1995, S.28f. 2 Heiner Müller: »MOMMSENS BLOCK«, in: Drucksache 1, hrsg. vom Berliner Ensemble, Berlin 1993, S. 1—9; auch in: ders., Werke, hrsg. von Frank Hörnigk, Bd. 1: Die Gedichte, Frankfurt/M. 1998, S. 257-263.

9. MOMMSENS BLOCK

des Dargestellten gedacht wird, ist so absolut nicht zu entscheiden, wie mit dem Standortwechsel des Mommsen-Denkmals von der Vorgartenfläche des Westflügels der Humboldt-Universität an den angestammten Platz im Vorhof des Haupteingangs behauptet worden ist. Mommsens Block ist in der Universitätsstraße unter den Fenstern des Winckelmann-Instituts und in der Nähe des Eingangs zum Studentenkeller keineswegs unbeachtet geblieben. Jetzt dagegen verschwindet der seitlich piazierte Mommsen hinter dem zentral aufgestellten Helmholtz-Denkmal aus dem Aufmerksamkeitsfeld. Man muß schon speziell interessiert sein, um sich Mommsen zu nähern. Das Mommsen-Denkmal geriet nach dem Einigungsanschluß der D D R in den Bilderkrieg hinein, wie er in den frühen 90er Jahren heftig geführt wurde. 3 »[...] Verschont/ Wurde nicht Ihre Akademie der Wissenschaften/ Vom Sturz der asiatischen Despotie Produkt/ Einer falschen Lektüre und fälschlich genannt/ Sozialismus nach dem großen Historiker/ Des Kapitals Den Sie nicht wahrgenommen haben/ Arbeiter in einem andern Steinbruch/ Bevor sein Denkmal auf Ihren Sockel stand/ Einen Staat lang Der Sockel ist wieder Ihr Standort« (V. 143-151). Abgesehen davon, daß nie eine Marx-Statue vor der Humboldt-Universität gestanden hat (lediglich eine Marx-Büste im Foyer wurde entfernt), war die Auswechselung bzw. der Sturz von Denkmälern (Relikt einer frühgeschichtlichen Bildmagie) lediglich ein Surrogat fur eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in der es nicht um ideologische Etikettierungen, sondern um Inhalte gehen müßte: im Schatten der Bilderkämpfe der Gegenwart führt Müller eine solche, von vielen beargwöhnte oder nicht gewollte, Auseinandersetzung (die immer auch eine Selbstauseinandersetzung der jeweiligen Seite einschließt). Zu den Bilderkämpfen kam die fragwürdige »Abwicklung« von Instituten der Humboldt-Universität: »Entschuldigen Sie Professor den bitteren Tonfall/ Die Universität benannt nach Humboldt/ Vor der Sie wieder auf Ihrem Sockel stehn/ Lange nach Ihrem Tod wird freigeschaufelt/ Gerade jetzt vom vermuteten Unrat des neuen/ Köhlerglaubens nicht für Grafen und Barone« (V. 176181). Die Entfernung der Marx-Büste aus dem Foyer und die Neuaufstellung des Mommsen-Denkmals an seinem angestammten Platz bedeutet keine Ersetzung von Marx durch Mommsen, wie Müller deutlich werden läßt: beide sind Arbeiter in einem jeweils anderen Steinbruch der Geschichte. Müller behandelt Marx nicht als Programmatiker und Sozialutopist, sondern als »Historiker des Kapitals«. Beide standen vor dem Problem der Beschreib- und Erklärbarkeit historischer Prozesse und sozialer

3 Selbst der Mommsen-Forscher und -Biograph Stefan Rebenich versagt es sich nicht, der neuen Sprachregelung zu folgen: »1935 musste das Denkmal der Umgestaltung des Ehrenhofes weichen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die SED die Linden-Universität regierte, berief man sich auf das Erbe der Gebrüder Humboldt und änderte den Namen der Hochschule. Nach Mommsen fragte niemand. Von dem Müllhaufen hinter der Humboldt-Universität wurde das Denkmal erst nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten geholt. Am 23. Mai 1991 kehrte es an seinen alten Platz zurück. Am selben Tag veranstaltete die Mommsen-Gesellschaft, der /Verband der deutschen Forscher auf dem Gebiete des griechisch-römischen AltertumsRömischen Geschichte< darzustellen, sie lassen sich allenfalls ad libitum als Ersatz für diesen betrachten. Mommsens testamentarisches Verbot, seine Kollegs zu publizieren, kann uns ebensowenig binden wie der letzte Wille Jacob Burckhardts, sein Nachlaß - einschließlich der Weltgeschichtlichen Betrachtungen - sei einzustampfen. Glücklicherweise hat sich schon Augustus nicht an das Testament Vergils gehalten: iusserat haec rapidis aboleri carmina flammis.«5 Als editorischer Grundsatz galt, »einerseits den überlieferten Wortlaut

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Theodor Mommsen: Römische Kaisergeschichte.

Nach den Vorlesungs-Mitschriften von Seba-

stian und Paul Hensel 1882/86 hrsg. von Barbara und Alexander Demandt, München 1992, S. 28. 5

Ebd., S. 46.

9. MOMMSENS BLOCK

möglichst wenig zu verändern, andererseits eine lesbare Darstellung zu schaffen. Da die Vorlage kein von Mommsen autorisierter Text ist, sondern von anderen teils im Hörsaal aufgezeichnet, teils am Schreibtisch ausgearbeitet wurde, sind die Herausgeber von der Pflicht einer wortgetreuen Wiedergabe entbunden. Nicht die Edition des von Hensel Geschriebenen, sondern die Rekonstruktion des von Mommsen Gesagten war das Ziel. Falls der Text Hensels hinreichendes Interesse findet, mag ihn ein Philologe später verbatim mit apparatus criticus edieren. Wir wünschen der Kaisergeschichte zunächst einmal Leser und suchten darum eine Form, die Mommsens Kritik ex Elysio nicht zu scheuen braucht«. 6 Diese Edition hat die Diskussion über Mommsens »Schreib-Hemmung« in Sachen römische Kaisergeschichte neu entfacht. Erschüttert oder zumindest außer Kraft gesetzt erscheint die Annahme, Mommsen habe die Kaisergeschichte nicht schreiben wollen oder abgebrochen; der Gegenstand habe seinem »liberal demokratischen Fühlen« zu fern gelegen, oder die Kaiserzeit habe »keinen Platz im Herzen des Republikaners gehabt«, oder er habe »an der quälenden politischen Neurose gelitten, die Gegenwart erlebe eine neue Spätantike, und darum habe er den Zeitgenossen diese fiirchterregende Grabinschrift ersparen wollen«. 7 Demandt räumt ein, daß auch solche Motive mehr oder weniger gewirkt haben, sieht aber Mommsens Verhältnis zur Kaisergeschichte weniger durch Abneigung als durch eine »taciteische Haßliebe« geprägt, »die emotionale Aversion mit intellektueller Zuwendung verbindet«.8 Die andere Annahme ist, er habe die Kaisergeschichte nicht schreiben können, weil das Imperium in seinen strukturellen Besonderheiten nicht erzählbar, sondern nur über die Inschriften zu erklären und darstellbar war. Müller kann die »objektiven« und die »subjektiven« Gründe nicht schematisch trennen. Er nennt den »Mangel an Inschriften«. »Wer mit dem Meißel schreibt/ Hat keine Handschrift Die Steine lügen nicht/ Kein Verlaß auf die Literatur [...]« (V. 8-10). Müller betont aber auch die Aversion gegen die »Cäsaren der Spätzeit«, »ihre Müdigkeit« und »ihre Laster«. »Schon CASARS TOD ZU SCHILDERN hatte er/ Wenn er gefragt wurde nach dem ausstehenden/ Vierten Band NICHT MEHR DIE LEIDENSCHAFT/ Und DIE FAULENDEN JAHRHUNDERTE nach ihm/ GRAU IN GRAU SCHWARZ AUF SCHWARZ Für wen/ Die Grabschrift [...]«(V. 21-26). Auch dieser Grund zählt - die Enttäuschung über Bismarck: »Daß der Geburtshelfer Bismarck/ Zugleich der Totengräber des Reiches war/ Der Nachgeburt einer falschen Depesche/ Konnte geschlossen werden aus dem dritten Band« (V. 26-29). Entscheidend ist für Müller angesichts der geschichtlichen Katastrophe aller Versuche, eine gesellschaftspolitische Alternative zum Kapitalismus zu etablieren, die Frage: »[...] Warum/ Zerbricht ein Weltreich Die Trümmer antworten nicht/ Das Schweigen der Statuen vergoldet den Untergang/ WAS WIR VERSTEHN SIND DIE INSTITUTIONEN« (V. 36-39). Mommsens Opus magnum war Das Römische Staatsrecht (1871-1888), das der selbstgestellten Aufgabe gerecht werden sollte, »aus jenem ungeheuren Material das 6

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GRABUNGEN Geschichtliche ganz auszuscheiden, das praktische Zivilrecht aber in ein systematisches Rechtsgebäude zusammenzufassen, so daß jede einzelne Institution sowohl in ihrer durch historische Studien erforschten Individualität als im Einklänge mit dem ganzen Rechtssystem erscheint und dieses Rechtssystem also zugleich die Quintessenz der historischen Rechtsforschung und der methodische Ausdruck der gegenwärtigen Rechtsbegriffe sein wird«.9 Die Funktionsweise der Institutionen läßt sich nur anhand der Inschriften erklären; und genau hier liegt die Bruchstelle zwischen der Genealogie der Administration und der Geschichte. Mommsen hat es ja nicht abgelehnt, Vorlesungen über die römische Kaisergeschichte zu halten; sein Desinteresse, wenn nicht Widerwille bezog sich auf die Geschichtsschreibung als literarische Form, die im Unterschied zu der in diesem Fall von Mommsen bevorzugten Rechtsgeschichte auch den historischen Akteuren Raum geben muß. So sagt er in der Vorlesung, deren vollständigste Nachschrift Demandt publiziert hat, über das 3. Jahrhundert: »Je massenhafter die Quellen für die Administration fließen, desto ärmlicher sind sie für die Geschichte vorhanden. Und das ist nicht zu verwundern: Gemacht wird die Geschichte im Kabinett, und was dort geschieht, kommt authentisch nicht zur Kunde der Zeitgenossen. Was wir an Berichten besitzen, geht von Außenstehenden aus, die eigentlich nichts wissen. Auch über die früheren Kaiser sind wir zwar im ganzen nicht viel besser unterrichtet, doch gab der Rapport zum Senat, wenn es auch mit der Mitregierung durch diesen gerade in den wichtigsten Sachen nicht sehr weit her war, Anlaß zu gewissen Mitteilungen an die Öffentlichkeit. Jetzt trifft das nicht mehr zu, es existierte kein Bedürfnis mehr, sich vor dem Publikum zu rechtfertigen.«10 Anders dagegen Cäsars »plebiszitäre Diktatur«; sie war für Mommsen die unter den historischen Bedingungen bestmögliche Alternative zur Herrschaft der korrupten Oligarchie. In den Augen Mommsen war Cäsars Monarchie »so wenig mit der Demokratie im Widerspruch, daß vielmehr diese erst durch jene zur Vollendung und Erfüllung gelangte. Denn diese Monarchie war nicht die orientalische Despotie von Gottes Gnaden, sondern die Monarchie, wie Gaius Gracchus sie gründen wollte, wie Perikles und Cromwell sie gründeten: die Vertretung der Nation durch ihren höchsten und unumschränkten Vertrauensmann«.11 Der »Demokratenkönig« gestand der Volksgemeinde »wenigstens einen formellen Anteil an der Souveränität« zu.12 Diese Charakterisierung Cäsars hatten, wie Stefan Rebenich schreibt, nicht wenige Zeitgenossen auf Louis Bonaparte bezogen. Zwei Jahre vor dessen auf ein Plebiszit gestützten Proklamation zum Kaiser hatte Auguste Romieu in seinem Buch L'ere des Cisars (1851 ins Deutsche übersetzt) den Begriff Caesarismus geprägt. Rebenich schreibt: »Für die konservativen Autoren war der napoleonische Caesarismus die richtige Antwort auf die Herausforderung des Sozialismus. Karl Marx replizierte in seinem ebenso brillanten wie provozierenden Traktat über den >18.Brumaire des Louis Bonaparte< von

Zit. nach Stefan Rebenich: Theodor Mommsen, a. a. O., S. 108. Theodor Mommsen: Römische Kaisergeschichte, a. a. O., S. 468. 11 Theodor Mommsen: Römische Geschichte. Vollständige Ausgabe in 8 Bänden, Bd. 5 (2. Teil des III. Bandes), München 1976, S. 142. 12 Ebd., S. 153. 9

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9. MOMMSENS BLOCK 1852.« 1 3 Mommsen hat sich allerdings von der Inanspruchnahme des Caesarismus durch Napoleon III distanziert. Er verwahrte sich »gegen die der Einfalt und der Perfidie gemeinschaftliche Sitte, geschichtliches Lob und geschichtlichen Tadel, von den gegebenen Verhältnissen abgelöst, als allgemeingültige Phrase zu verbrauchen, in diesem Fall das Urteil über Caesar in ein Urteil über den sogenannten Caesarismus umzudeuten«. Freilich sollte die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte die Lehrmeisterin des laufenden sein, »aber nicht in dem gemeinen Sinne, als könne man die Konjunkturen der Gegenwart in den Berichten über die Vergangenheit nur einfach wiederaufblättern und aus denselben der politischen Diagnose und Rezeptierkunst die Symptome und Spezifika zusammenlesen [...]«. Dagegen wollte Mommsen die Geschichte Caesars und des römischen Caesarentums als eine schärfere Kritik der modernen Autokratie verstanden wissen, als eines Menschen Hand sie zu schreiben vermag. »Nach dem gleichen Naturgesetz, weshalb der geringste Organismus unendlich mehr ist als die kunstvollste Maschine, ist auch jede noch so mangelhafte Verfassung, die der freien Selbstbestimmung einer Mehrzahl von Bürgern Spielraum läßt, unendlich mehr als der genialste und humanste Absolutismus; denn jene ist der Entwicklung fähig, also lebendig, dieser ist was er ist, also tot.« 1 4 Nach der Vorlesungsnachschrift zu urteilen, war Mommsens Vorlesung über römische Kaisergeschichte mit Bemerkungen gespickt, die seine Aversion ausdrückten: »Die Geschichte der Kaiserzeit verläuft, gleich der der republikanischen Periode, in ungestört selbständiger Entwicklung, ohne durch Eingreifen fremder Nationen oder übermächtige Erscheinungen gestört zu werden. Dies kann in neuerer Zeit nur von Nordamerika gesagt werden.« 1 5 Dieser Hinweis müßte ja nachgerade dazu herausfordern, sich dem Gegenstand zu nähern, aber: »In der Kaiserzeit sehen wir die Römer ohne Streben, ohne Hoffnung, ohne eigentlich politische Ziele, man beschränkt sich auf die Konservierung der Grenzen [ . . . ] Die ganze Epoche, so lang sie auch ist, bleibt eine Epoche des status quo.« 1 6 Der Principat habe die festesten Bande der republikanischen Verfassung durchbrochen, die Bande der Annuität, der Kollegialität und der Spezialität. Die Summe der im Princeps vereinigten legalen Gewalten habe an Totalität gegrenzt. »Man tut nicht gut, den römischen Principat als eine einfache Monarchie anzusehen. Im Gegenteil, der Princeps ist in seiner besten Bedeutung nichts weiter als ein Verwaltungsbeamter, allerdings an oberster Stelle und mit ausschließlicher Gewalt.« 1 7 Mommsen gibt in den Vorlesungen eine distanzierte, kritische Sicht der Kaisergeschichte, die in keiner Weise dem Bismarck-Reich zuarbeitet. Interessant sind Institutionen, Infrastruktur, Finanzen: das kann berichtet werden, in Zahlen und Fakten können Mechanismen und Fehlkonstruktionen erklärt werden, ebenso der Umschlag von begrenzter Funktionalität in Dysfunktionalität. Aber die Akteure wecken keine Begeisterung: »Von Vespasian bis Diocletian haben wir nur außerordentlich we-

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Stefan Rebenich: Theodor Mommsen, a. a. O., S. 94. Theodor Mommsen: Römische Geschichte, Bd. 5, a. a. O., S. 142f. Theodor Mommsen: Römische Kaisergeschichte, a. a. O., S. 67. Ebd. Ebd., S. 406.

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GRABUNGEN nig bedeutende Männer zu verzeichnen, mit Ausnahme vielleicht von Hadrian und Aurelian, von welchem letzteren wir aber sehr wenig wissen. Sonst sind alle Kaiser tatenlos und furchtbar untergeordnet, von dem allergeringsten persönlichen Einfluß auf den Gang der Geschichte. Wenn man die Schändlichkeiten eines Commodus oder Caracalla miteinander vertauscht, so kann man wohl sagen, daß nichtsdestoweniger die Entwicklung genau dieselbe geblieben wäre. Es ist lebhaft zu bedauern, daß es sowohl in alter wie in neuer Zeit viele Historiker gegeben hat, welche es als ihre wissenschaftliche Aufgabe erblickten, sich wie Schmeißfliegen auf derart unsaubere Stoffe zu setzen. Von diesem Urteil wären höchstens noch Trajan und Pius auszunehmen, von denen der erstere sehr tapfer und der andere sehr gut war. Aber da sie auch nichts als eben sehr tapfer und sehr gut waren, blieben auch sie ohne tieferen Einfluß auf den Gang der Ereignisse. Dagegen bieten die inneren Verhältnisse gerade in dieser Zeit ein sehr großes Interesse dar, da fast alle von Augustus getroffenen Einrichtungen in dieser Periode sehr wichtige Veränderungen erfahren.« 18 Mit Vers 120 wechselt der Gestus in Müllers Großgedicht. Bis dahin dominierte ein erzählendes, zitierendes, kommentierendes Ich, dessen kontrastreich pointierte Collage mit oft überraschenden Brüchen und Sprüngen den Leser zur Mitarbeit auffordert: Ein lyrisches Ich kann sich nur in der Lektüre herstellen. Bis Vers 120 hat Müller das Objekt seiner hochmotivierten Annäherung und vergleichenden Problematisierung auf Distanz gehalten, um nicht Betroffenheit zu zeigen und demonstrativ die eigenen Wunden zu lecken. Jetzt tritt das Autoren-Ich aus der Deckung hervor und spricht das Gegenüber direkt an: Es ist der Gestus des Totengesprächs. »Gestatten Sie daß ich von mir rede Mommsen Professor/ Größter Historiker nach Gibbon laut Toynbee/ (Oder sagte er neben Die ewig nagende Furcht/ Der Gepriesnen daß die Meßlatte lügt)/ Im Leben wohnhaft Charlottenburg Machstraße acht/ Zwei drei Seiten lang Für wen sonst schreiben wir / Als für dieToten [...]« (V. 120—125). Auch dieses Gedicht ist für einen Toten, Mommsen, geschrieben; die Happy Few unter den Lebenden mögen partizipieren. Müller kommuniziert über die Zeiten hinweg: Ein historisch-sozialer Selbstverständigungsprozeß, der nicht auf den Tag berechnet ist; er vollzieht sich durch Lektüre und Schrift. Das aber ist das eine Schlüsselthema, das Schreiben: seine Gegenstände, sein Medium, seine Adressierung, seine Verantwortung, »zögernd vor der Vollendung/ Weil sie den Abgrund verschweigt«; eine Paraphrase des adornesken Gedankens, daß selbst jede formale Kohärenz einen Sinnzusammenhang vortäuscht, den die Realität niemals hergibt. Die Schreibhemmung und ihre möglichen Gründe: der Vorteil der Monumente in ihrer Stummheit. Doch auch die Statuen lügen, wenn sie den Untergang vergolden. Das andere Schlüsselthema ist der Niedergang: Nicht nur das Ende der kurzen Epoche des mißlungenen Sozialismus, sondern des Niedergangs als neue, unabsehbar lange, aber nicht ewig währende Epoche des Status quo des globalen Kapitalismus und der Verteidigung des Limes. Parallel zur Arbeit an M O M M S E N S B L O C K hat

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Müller das Buch von Jean-Christophe Rufin Das Reich und die neuen Barbaren (Berlin 1993) gelesen, das ihn in vielfacher Hinsicht interessiert hat; einmal wegen der Fokussierung auf die Völker der Dritten Welt, zum anderen aber auch wegen des von Rufin allerdings aktivistisch gewendeten klassischen Niedergangstopos: Rom nach der Zerstörung Karthagos ohne geschichtlich relevante Gegenkraft. Warum zerbricht ein Weltreich? Es könnte auch umgekehrt gefragt werden: Warum sollte ein Weltreich Bestand haben? Der späte Müller hat sich Ovids Metamorphosen angenähert. 19 Der Fall der Imperien kann auch ein Trost sein: so wie es ist, bleibt es nicht. »Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend,/ schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen,/ und in der Weite der Welt geht nichts das glaubt mir - verloren;/ Wechsel und Tausch ist nur in der Form [...]// Eher verginge der Tag und tauchte die keuchenden Rosse/ Sol in die Tiefe des Meers, bis alles ich faßte in Worte,/ was sich begibt in neue Gestalt. So sehen wir Zeiten/ wechseln und sehn, wie Macht dies Volk und Stärke gewinnet,/ jenes verfällt [...]/ Wie war Sparta berühmt! Wie blühte die große Mycenae!/ Sparta ist dürftiger Grund; Fall traf die hohe Mycenae!« (Ovid, Metamorphosen XV, V. 252-255, 418-427) Gewiß ist die Rede des Pythagoras in den Metamorphosen Figurenrede, hier spricht nicht Ovid. Aber, wie Niklas Holzberg die Diskussionen um die Pythagoras-Rede zusammenfaßt, »auch wenn es nicht philosophisch fundiert ist, was in den Metamorphosen über die Weltgeschichte als einen permanenten Wandlungsprozeß erzählt wird, so vermittelt das Werk dennoch so etwas wie ein Geschichtsbild. Und das tut es im Rom des Augustus, dessen Prinzipatsideologie u. a. auf der Auffassung fußte, daß die Geschichte des Stadtstaates mit der Regierungszeit des Kaisers einen unveränderlichen Zustand erreicht habe: den der ewigen Weltherrschaft Roms«.20 - Aber warum ist das internationalistische Projekt der marxistischen Bewegung, das von Marx her gesehen einer Globalisierungskonzeption entsprach, zu einem »sowjetischen Imperium« verkommen? Mommsen deutet in seiner Kaiserzeit-Vorlesung die Widersprüche in Marc Aurel an: Während dieser von einer stoischen Kosmopolis träumte, hatte er ein »verendendes Imperium« zu sichern. »Es ist Marcus nun als höchstes Verdienst auszusprechen, daß er in unverdrossener Pflichterfüllung tapfer und beharrlich bei dieser ihm durchaus nicht kongenialen Aufgabe aushielt.«21 Es geht in MOMMSENS BLOCK jedoch kei-

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Alexander Kluge berichtet von einem Projekt Heiner Müllers, das er nach Germania III aufgreifen wollte: »Er hatte während der Rekonvaleszenz in Kalifornien für 500 Dollar in einem Antiquitätenladen eine englische Ubersetzung von Ovids Metamorphosen gekauft. Sie war in Versen geschrieben und stammte aus dem Jahr 1603. Uber 2000Jahre hinweg gab ihm der Autorenkollege Ovid offensichtlich Trost. Ist ein Schicksal unerträglich, so wandeln sich Menschen. Wir werden Tiere, Pflanzen, Stein. Die Wege der Rache verlaufen über solche Metamorphosen. Und das wenige, was es an Glücksmomenten gibt, ebenfalls. In der Form von Tableaux plante Heiner Müller eine dramatische Adaption von Ovids Metamorphosen, wobei er aber die antiken Mythen vermutlich nur zur Navigation verwendet hätte, um tatsächlich Wandlungsprozesse in unserer Zeit zu beschreiben.« Alexander Kluge/Heiner Müller: Ich bin ein Landvermesser. Gespräche. Neue Folge, Hamburg 1996, S.9. 20 21

Niklas Holzberg: Ovid. Dichter und Werk, München 1998, S. 153. Theodor Mommsen: Römische Kaisergeschichte, a. a. O., S. 368.

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GRABUNGEN neswegs nur um Imperien. Es sind ja nicht nur Imperien, die nicht mehr erzählbar sind. Müller erinnert an den »Historiker des Kapitals«; aber wie hat Marx die Genealogie des Kapitals beschrieben? In Daten und Fakten zur ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, zur Teilung der Arbeit und Manufaktur, zur Entwicklung der Maschinerie und großen Industrie, zur Fabrikgesetzgebung, zur Größe des Arbeitstags etc. Auch der Markt ist nicht erzählbar. Marx beschrieb behind the actors back-Effekte und analysierte ökonomische Charaktermasken, in denen die sozialen Akteure auf dem Markt agierten. Müller hat zur Niedergangsgeschichte der sozialistischen Revolution ein anderes Verhältnis als Mommsen zur römischen Kaisergeschichte. Müller litt unter dem Scheitern des gerade nach Marx' Prämissen paradoxen Versuchs, eine sozialistische Formation ohne avancierte Produktivkraftentwicklung und ohne funktionsfähige ökonomische Basis aufzubauen. U n d er litt darunter, daß die Sache der Revolution in die Hände von »roten Cäsaren« fiel, die jeden Ansatz zu einer sozialistischen Demokratie erstickten. Der Dramatiker Müller ist auch ein Chronist des Scheiterns; er hat in seinem ganzen Werk die Widersprüche freigelegt, an deren Unterdrückung und Verdrängung das System scheitern mußte. Die »roten Cäsaren« — ein nicht ohne ironischen Unterton gebrauchter Ausdruck - indizieren bei Müller keine naive Analogie, sie lassen vielmehr an die von Marx beschriebene Funktion »weltgeschichtlicher Totenbeschwörungen« in allen bisherigen Revolutionen denken, in denen die Akteure in geborgten Kostümen, mit geborgten Namen, in geborgter Sprache die »Aufgabe ihrer Zeit« vollbrachten. »So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789 bis 1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte nichts besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793 bis 1795 zu parodieren.« 22 Unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es in der Französischen Revolution des von Griechen und Römern geborgten Heroismus bedurft, um die neue Gesellschaft in die Welt zu setzen. Auch die Bolschewiki adaptierten (und parodierten) im »Großen Oktober« die Französische Revolution, und Stalins Anfänge wurden unter dem Aspekt einer bonapartistischen Phase der Revolution diskutiert. Hatte Marx nicht eine gänzlich andere Hypothese aufgestellt? »Die früheren Revolutionen«, so Marx, »bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts m u ß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen.« 2 3 Genau diese Marxsche Prognose wurde durch die »roten Cäsaren« Lügen gestraft. Sigrid Weigel hat die gesamte Argumentation im Licht des von Marx avisierten Ankommens beim eigenen Inhalt gelesen, der die weltgeschichtlichen Rückerinnerungen nicht mehr nötig habe. Weigel hat daraus insgesamt die strenge Trennung von Geschichte u n d Erinnerung bei Marx abgeleitet: »Darüber hinaus situiert er mit der Rede vom Alp, von der Totenerweckung und den Gespenstern der Revolution die Bilder des Vergan-

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Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, Berlin 1960, S. 115.

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genen auf der Nachtseite der Vernunft. Und er entwirft auch explizit einen gänzlich zukunftsbezogenen Geschichtsbegriff, in dem alle Erinnerung an Gewesenes negativ bewertet wird und jeder Herkunftsbezug dem Vergessen anheim gegeben werden muß ebenso wie die Toten. Erinnerung wird dabei mit Betäubung gleichgesetzt [.. .].« 24 Eine differenziertere Lesart hat Derrida erprobt. Nach Derrida beerbt Marx selber die Hegeische Bemerkung über die Wiederholung in der Geschichte, »ob es sich nun um die großen Ereignisse handelt, die Revolutionen oder die Heroen (man weiß es wohl: zuerst die Tragödie, dann die Farce) [...] Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte schließt daraus, daß die Menschen nur unter der Bedingung der Erhschafi ihre eigene Geschichte machen. Die Aneignung im allgemeinen, würden wir sagen, steht unter der Bedingung des anderen, und zwar des toten anderen, mehr als eines Toten, eines Geschlechts von Toten. Und was für die Aneignung gilt, gilt auch für die Freiheit [,..].« 2 5 Derrida bezieht sich hier auf die folgende Marx-Passage: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.«26 Derrida erkennt in den Figuren der Anleihe die Geste einer positiven Beschwörung, eine Geste, die schwört, um herbeizurufen, und nicht, um zu verdrängen, aber auch diese Geste ist nicht angstfrei: »Die Beschwörung ist Angst von dem Augenblick an, wo sie den Toten herbeiruft, um den Lebenden zu erfinden und das Neue ins Leben zu rufen, um noch nicht Dagewesenes in die Präsenz zu bringen.«27 Sollte diese Überlegung nicht anschlußfähig sein für Benjamins Beschreibung von Robespierres Bild des antiken Rom als einer »mit Jetztzeit aufgeladenen Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte« als Aufgreifen einer Erinnerung, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt?28 Preis für das Herbeirufen der Toten ist, daß sie auf dem lebendigen Hirn der Lebenden lasten, was Derrida im ganzen Bedeutungsspektrum von Belasten, Besteuern, Auferlegen, Verschulden, Anklagen, gerichtlich Belangen und Anbefehlen interpretiert. Um so mehr müsse der Lebende für den Toten einstehen. »Mit der Heimsuchung übereinstimmen und sich mit ihr auseinandersetzen, ohne jede Sicherheit oder

24 Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt/M. 1997, S. 228.

Jacques Derrida: Marx' Gespenster, Frankfurt/M. 1995, S. 173. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a. a. O., S. 115. 27 Jacques Derrida: Marx' Gespenster, a. a. O., S. 174 f. 28 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt/M. 1980ff„ Bd. 1.2, S. 701 und 695. 25

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GRABUNGEN Symmetrie. Es gibt nichts Ernsteres, nichts Wahreres und nichts Gerechteres als diese Phantasmagorie.« 29 Wenn Leben Aneignung ist, dann besteht der historische Prozeß in der Aneignung des Angeeigneten. Nichts Neues entspringt reiner Unmittelbarkeit. Derrida spitzt das paradox zu: »Je mehr das Neue in die revolutionäre Krise einbricht, je tiefer die Epoche in der Krise steckt, je mehr sie wut ofjoint< ist, desto nötiger ist es, das Alte anzurufen, bei ihm zu >borgenThymosNoos< ist Organ und Funktion des vorwiegend Rationalen [...] Auch >Noos< und >Thymos< sind noch nicht deutlich voneinander abgegrenzt; es sind vielmehr in der spontanen Sprach- und Denkentwicklung entstandene Begriffe, deren Geltungsbereich noch nicht eindeutig festgelegt ist, über die noch keine Reflexionen angestellt werden, weil der Erkenntnisprozeß noch nicht Erkenntnisgegenstand ist.« Ebd., S. 290. 25

Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes, a. a. O., S. 28. Frankels Rede von der »Person als Kraftfeld« ist dagegen eine Metapher, die die Dialektik von Gestaltwirksamkeit und Gestaltauflösung eher verunklärt als präzisiert. Vgl. Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 1993 (1962), S. 601; vgl. auch Klaus Heinrich: anthropomorphe. Zum Problem des Anthropomorphismus in der Religionsphilosophie (Dahlemer Vorlesungen, Bd. 2), hrsg. von Wolfgang Albrecht, Rüdiger Hentschel, Hans-Albrecht Kücken, Peter Lux, Ursula Panhans-Bühler, Jürgen Strutz und Irene Tobben, Frankfurt/M. 1986. 26

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FIGUREN den bereits physiologisch relevante Erfahrungen gemacht u n d verarbeitet. Die homerischen Helden stärken sich rechtzeitig vor d e m Kampf, damit sie später keinen H u n geranfall erleiden, sie schwitzen u n d dürsten u n d sorgen für ausreichend Schlaf. H o mer sieht u n d beschreibt seine Helden mit den Augen des Wundarztes: er hat eher ein anatomisches als ein physiologisches Körpermodell. D a m i t er sich - ungeachtet der tradierten Wiederholungsmuster u n d Handlungsschemata der oral poetry - bei den vielen Kampfszenen nicht beständig wiederholt, m u ß H o m e r nicht nur Angriffszüge u n d Verteidigungstechniken variieren, sondern gleichermaßen auch die zugefügten Verletzungen u n d den jeweiligen Todeskampf. Das kann er aber nur, wenn er in der Anatomie (gemessen am damaligen Kenntnisstand) bewandert ist. Ausführlich wird die Art u n d Schwere der Verwundung beschrieben, die nur selten rechtzeitig versorgt u n d mit Heilkräutern behandelt werden kann; zwei Arzte für eine Armee sind zu wenig, zumal einer von ihnen selber - wenn auch nicht tödlich - verwundet wird. Innere Erkrankungen k o m m e n nicht vor. Großer Wert wird auf die D e c k u n g der Kämpfenden gelegt: welche Körperteile sind besonders gefährdet, wie sind sie zu schützen, wo liegen die kritischen Stellen der Rüstung usw. Die K a m p f h a n d l u n g e n werden als gefahrvolle körperliche Arbeit, als »Werke des Krieges« beschrieben. Die selbstbewegten, gestaltwirksamen, handlungsmächtigen homerischen Körper entfalten ihr Beziehungsspiel in klar umrissenen Konfigurationen. »Iliadische Szenen sind groß durch die gestalthafte, metopenartige Gegeneinanderstellung zweier oder weniger Figuren, profiliert im M e d i u m antithetischer Reden.« 27 Das gilt auch für die homerischen »Gestaltgötter«. Homerische Helden sind Personenakteure, soweit sie nicht nur Taten vollbringen, sondern auch fähig sind, Rat zu geben u n d auf Rat zu hören. Bei allem, was sie t u n u n d sagen, achten sie darauf, nicht ihr Gesicht zu verlieren. Sie agieren u n d reagieren in sozialen Beziehungen, die sich über die Rückkopplung zwischen schambetonten Verhaltensweisen u n d entsprechender A n e r k e n n u n g bzw. Mißbilligung regulieren; insofern sind die homerischen Sozialbeziehungen in einer spezifischen Weise durch eine wechselseitige Actor-Spectator-Beziehung charakterisiert. Das gibt d e m Auftreten der homerischen Menschen etwas Demonstratives. Das Gesicht ist keineswegs nur Mittel der Simulation u n d Dissimulation, wie Achill bitter beklagt: es ist vor allem Mittel des an gesellschaftlichen Standards u n d am eigenen Status ausgerichteten Selbstausdrucks, der im Feld des vielseitigen Gesehenwerdens zur Selbstdarstellung wird: diese aber ist kein Epiphänomen, sondern ein Konstitutionsfaktor sozialer Selbstbehauptung. Das Gesicht ist aber auch das Ausdrucksmittel

27 Uvo Hölscher: Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988, S. 189. Harald Patzer definiert die homerischen Szenen als »wechselnde Erzählabschnitte mit konstanter Gruppierung von mit- und gegeneinander Handelnden und/oder redenden Personen« {Die Formgesetze des homerischen Epos, Stuttgart 1996, S. 97). Solche »Konstellationseinheiten« (Walter Nicolai: Kleine und große Darstellungseinheiten in der Ilias, Heidelberg 1973) werden markiert durch das Auf- und Abtreten von Personen, Schauplatzwechsel, das »Auslaufen einer Ereigniskette in ein >gleichförmig fortschreitendes« (Zielinski), also ereignisloses Dauergeschehen, von dem sich die darauf neu einsetzende Szene betont abhebt«. Harald Patzer: Die Formgesetze des homerischen Epos, Stuttgart 1996, S. 99.

11. HOMER IM WIDERSTREIT ZWISCHEN INSZENIERUNG UND LEKTÜRE des schwer kontrollierbaren Affektsturms, der jede Rücksicht darauf, wie einer gesehen werden will, zunichte machen kann. Am Gesicht wird die Differenz zwischen dem Inneren und dem Äußeren zuerst bemerkbar und sichtbar: eben dies wird für Achill zum Anlaß einer mehr affektiv wertenden als bewußt problematisierenden Reflexion. Achill kann nicht einlenken, als Agamemnons Bittgesandte (darunter Freunde des Achill) ihn ersuchen, sich mit dem Atriden auszusöhnen; er fühlt sich außerstande, etwas zu bekunden, das im Gegensatz zu dem steht, was ihn tatsächlich bewegt und was er denkt. Achill kann dies nicht, selbst wenn eine Reihe von Gründen dafür spricht, sich umstimmen zu lassen. Nichts anderes zu zeigen als er im Sinn hat, ist für Achill eine Frage der Selbstachtung. Doch es bleibt offen, ob er nicht mehr und anderes zu erkennen gibt als er vordergründig zeigt: seiner Rede eignet durchaus eine mehrschichtige Semantik, deren Aufschlüsselung umstritten ist.28 Die Ilias-Helden sind in ein restriktives Wertegefüge eingespannt, das ihnen wenig Reflexionsspielraum läßt. Die Furcht, dem Schamgebot nicht zu genügen und die Anerkennung zu verlieren, ist enorm; die Personenakteure können in Widersprüche geraten, aber es liegt außerhalb ihres Horizonts, geltende Werte in Frage zu stellen. Sie können deren jeweilige Situationsangemessenheit prüfen, ζ. B. sich fragen, wann es sittlich erlaubt ist, einen Rückzug anzutreten, ohne als Feigling dazustehen. In solchen Situationen bevorzugt Homer deliberative Monologe, die als homerisches Modell praktischen Schließens in der angelsächsischen Homer-Debatte eine große Rolle spielen. 29 Es handelt sich um die vier Monologe des Odysseus {II. 11, 403-410), Menelaos (II. 17, 90-105), Agenor {IL 21, 552-570), Hektor {IL 22, 98-130). 28

Ein solches Problem kennt die Tragödie nicht. Das Theater schiebt die Maske vor das Gesicht, reduziert die Möglichkeit individuellen Gesichtsausdrucks auf wenige pathognomische Formeln. Das enthebt den Hypokriten der Notwendigkeit, Affektbewegungen im Gesichtsausdruck zu individualisieren. Das Innere kann in der Maske nicht unmittelbar nach außen treten, darauf ist auch der Bewegungsausdruck der Gesten und Vollzüge abgestimmt. Wenn die Maske die mimisch vorzeigbare Ausdrucksdynamik einer Figur einschränkt, so erzeugt sie doch auf der anderen Seite eine Reflexionsdifferenz bei den Zuschauern in der Betrachtung des vorgeführten Geschehens. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: auch in Achills Überlegungen ging es nicht um individuellen Gesichtsausdruck in seiner ganzen Nuanciertheit und Eigentümlichkeit, sondern um standardisierte Ausdruckshaltungen, die der individuellen Gesamthaltung des Akteurs in einer bestimmten Situation angemessen sind. 29

Das praktische Schließen läßt sich als logische Struktur der bouleuses (Beratschlagung) rekonstruieren. Die deliberativen Monologe enthalten nicht einfach Gründe zum Handeln, sondern folgerndes Denken (entweder nach dem Mittel-Ziel-Schema oder nach dem Regel-Fall-Schema). Die Sprecher spielen wahrscheinliche Folgen einer vollziehbaren Handlungsweise durch und bewerten diese im Licht der explizit gegebenen oder implizierten Ziele. Die homerischen Personenakteure kennen durchaus den Zwiespalt. Mehrfach ist die Rede vom hin und her Sinnen (mermerizein), oft in Verbindung mit diandicha (zweifach), vom Schwanken zwischen zwei Entschlüssen; so heißt es von Diomedes, der zwischen den Alternativen zögert, sich Hektor zum Kampf zu stellen oder sich zurückzuziehen: »[...] der Thydide bedachte in schwankend wägendem Zwiespalt (Tydeides de diandicha mermerizen)« {II. 8, 167). Wesentlich ist der Zeitsinn (als Fähigkeit, die Vorteile künftiger Handlungsweisen abzuschätzen und die Verpflichtungen gegenüber der eigenen Vergangenheit zu beherzigen). Längst hat sich Finleys Auffassung als nicht haltbar erwiesen: »Der heroische Code war vollständig und unzweideutig [...], die grundlegenden Werte der Gesellschaft waren gegeben, vorbestimmt, und so waren auch eines Mannes Platz in der Gesellschaft und die Privilegien und Verpflich-

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FIGUREN Odysseus isoliert sich im Kampfgetümmel von griechischen M i t k ä m p f e r n u n d gerät in ein Dilemma: »Weh mir, was wird mir geschehen: groß Übel, wofern ich die Menge/ Angstlich fliehe, doch gar noch grausiger, wenn sie mich fangen,/ Ganz verlassen [...]« {IL 11, 4 0 4 - 4 0 6 ) . Beide O p t i o n e n sind von Übel. Odysseus gelangt zu einer Entscheidung, indem er sich an Wertmaßstäben orientiert: Was t u n Feiglinge (Hektor verdarb das Volk im Vertrauen auf eigene Stärke!freien< Bildung von allem Professionellen und Utilitaristischen zu tun. Durch ein Ubermaß an Vertiefung verliert die Bildung auch in >freien Künsten< ihr wesentliches Merkmal: die grundsätzliche Scheidung vom >BanausischenBildsäulenmacher< Polyklet im Kanon betont hatte - was die > Verwandtschaft von >Kunst und Technik< betont, die lange geachtet worden ist. Philon ist sogar noch weiter gegangen und hat ausdrücklich auch die im Ästhetischen befriedigende Lösung bei technischen Konstruktionen gefordert — der erste Fall einer Reflexion über die >Schönheit der TechnikerrichtenherstellenerschaffenDinge, die sich so und anders verhalten könnenwie etwas, was sowohl sein als nicht sein kann, und dessen Prinzip im Herstellenden, nicht im Hergestellten liegt, zustande kommen mag*. Außerhalb ihres Bereichs bleibt alles, >was aus Notwendigkeit ist oder wird< sowie >das, was von Natur da ist oder entsteht, da derartiges das bewegende Prinzip in sich selber hatUberhaupt sucht unsere Kunst (tecbne) teils zu bewirken, was die Natur (physis) nicht zustandebringen kann, teils ahmt sie die Natur nachdas Prinzip des Seins oder Zustandekommens im Herstellenden, nicht im Hergestellten liegtEntbergungwas die Natur nicht zustandebringen kannabsolute Schöpfungenahmt< nicht das Zentralnervensystem nach, sondern ist nach anderen Prinzipien konstruiert [...] Die Herstellung eines technischen Gegenstandes ist nicht bloß eine Veränderung des bisherigen Zustandes der Natur - das geschieht bereits mit einer Handbewegung. Sie bedeutet vielmehr die Konstitution eines allgemeinen Typus, die Setzung eines eidos, das fortan unabhängig von seinen empirischen Exemplaren >istdas aufgeschlagene Buch der menschlichen WesenskräfteFormteilhabendas Schöne< mit sich identisch, aber die Identität würde im Deutschen ausgedrückt werden mit: >das Schöne ist das Schöne«, nicht mit >das Schöne ist schön/etwas SchönesAsthetikmehrstelligen Ästhetik. Philosophische Ästhetik in der >Weimarer Beiträgem, in: Weimarer Beiträge 1/2005, S. 65-95. 60

257

258

TECHNAI

geschlossener generativer Prozeß betrachtet, der permanent Elemente aus seinen vorherigen Kontexten herausbricht und sie auf verschiedene Weise rekombiniert. In dieser Blickrichtung beginnen das Technische und das Ästhetische ineinander überzugehen. »Und obwohl dieses Zusammenkommen von Technik und (autonomer) Kunst sehr verschieden sein mag, was Heidegger mit dem Begriff der Techne im Sinne hatte, scheint es angebracht zu sein, Techne als High Techne zu rekonzeptualisieren.«62 Rutsky ist sich im klaren darüber, daß die Rede von einer modernistischen Ästhetik in den Kategorien von Instrumentalität und Funktionalität zu kurz greift. Daher bemüht er sich um Differenzierungen. Der Versuch, »die Kunst zu technologisieren {to technologize art)« wird auf den Wunsch zurückgeführt, die Kunst praktikabel zu machen, funktional auszurichten. Ingenieurkonstruktion und Serienproduktion wurden als Modelle für eine erneuerte künstlerische Produktion betrachtet, die sich von bürgerlicher Ästhetisierung zugunsten eines verstärkten technologischen und demokratischen Zugangs abwandte. Zeitgenössischer Einschätzung und ihrem Selbstverständnis nach entmythologisierte oder zerstörte die ästhetische Moderne die magische oder rituelle Wertigkeit, die der ästhetischen Sphäre in bestimmter Hinsicht verblieben war; dies war vor allem das Verdienst der historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Doch der Glaube an eine »funktionale Form«, an eine »Maschinenästhetik« verrät nach Rutsky, in welchem Ausmaß der Modernismus seinen eigenen ästhetischen Gebrauch der Technik mißverstanden hat. Rutsky spricht vom »Mythos der funktionalen Form« und denunziert die Maschinenästhetik der Gestaltung als das, was sie seiner Ansicht nach immer war: eine Simulation rationalisierter, standardisierter Formen unter Absehung von irgendeinem funktionalen oder instrumentalen Kontext. Die maschinenästhetische Simulation oder Reproduktion des »technologischen Stils« ermöglichte, die technische Form von ihrer Funktion zu trennen. Auf dieser Grundlage werden das Ästhetische und das Technologische konfundiert. Während die Technik einem aesthetic turn unterworfen wurde, durchlief das Ästhetische einen technological turn, der sich in Rutskys Augen auf die Adaption der entfunktionalisierten Form beschränkt hat. Diese These dürfte gerade im Hinblick auf die Architektur und die industrielle Formgestaltung im Funktionalismus nicht aufrechtzuerhalten sein und wird weder dem Ansatz eines Moholy-Nagy noch den Innovationen eines Mies van der Rohe gerecht. Rutskys Bild der klassischen Moderne dient letztlich auch nur als Folie, um die Umrisse der High Tech-Ästhetik zu zeichnen. Die Avantgarde hätte niemals den Einwand akzeptiert, ihre Ästhetisierung des technologischen Stils beruhe auf der Trennung von Form und Funktion; dagegen mache die High Tech-Ästhetik aus der entfunktionalisierten formalen Adaption des Funktionalen kein Geheimnis. Die High Tech-Ästhetik sei nicht einfach eine Sache der Reproduktion und konsequenten »Ästhetisierung« technischer Formprinzipien. Sie eröffne vielmehr einen sehr viel allgemeineren Prozeß der technischen Reproduzierbarkeit, der keine kulturelle Form, kein kulturelles Element davor bewahrt, abstrahiert, dekontextualisiert, digitalisiert,

62

R. L. Rutsky: High Techne, a. a. O., S. 8.

15. TECHNE-DISKURSE VON J O H N STUART MILL BIS RANDOLPH RUTSKY

zitiert, verändert und neu zusammengestellt zu werden. Dies ist nach Rutsky ein ubiquitärer Prozeß, der vielfältige Differenzierungen und Varianten zuläßt - vom strengen minimalistischen Design bis zum komplexen Schaltkreis der Mikroprozessoren. Minimalismus und Komplexität begreift Rutsky als die beiden grundlegenden aufeinander bezogenen Aspekte der High Tech-Ästhetik. Die Tendenz zum minimalistischen Design ist ein Erbe der ästhetischen Moderne, insbesondere der Versuche zur Elementarisierung, um einfache und kontrollierbare Formen zu gewinnen. Eben diese Tendenz habe in zunehmendem Maße zur technischen Reproduktion und Digitalisierung der Welt geführt. Die hieraus folgende Proliferation der Daten bedinge jedoch einen Komplexitätszuwachs. So habe der minimalistische Versuch, Komplexität zu reduzieren, paradoxerweise den Effekt, Komplexität immer weiter zu steigern. Bereits in der Avantgarde-Techne hat Rutsky zufolge das Verständnis der Technik als instrumental, als funktionale Applikation der Wissenschaften einer Konzeption weichen müssen, in der Techne als Sache der Form und der Darstellung gesehen wurde. So habe sich bereits in der Avantgarde der Ubergang von einer instrumental orientierten zu einer techno-allegorischen Konzeption der Technik angebahnt, die allerdings nicht von allen erkannt (und anerkannt) wurde. Heidegger sei nicht in der Lage gewesen, das »noninstrumentale« Potential in der technischen Reproduzierbarkeit wahrzunehmen, wenn er beispielsweise von seinen Zeitgenossen sagte: »Aber wir hören noch nicht, wir, denen unter der Herrschaft der Technik Hören und Sehen durch Funk und Film vergeht.«63 Statt dessen habe Heidegger zur Besinnung auf den griechischen Techne-Begriff gerufen, in dem eine der künstlerischen Produktion näher stehende Konzeption von Technik vorzufinden war. Doch Heidegger ist, wie Rutsky ausdrücklich betont, nicht einfach in das moderne Gegensatzverhältnis des Technischen und des Ästhetischen zurückgefallen. Für ihn war die künstlerische oder poetische Produktion nicht nur »nontechnologisch«, sondern auch »nonästhetisch«: sie stellte weder die Welt in Kategorien des Instrumentalen, noch kategorisierte sie ihre »Objekte« als ästhetisch (in einstellungsästhetischen Sinne). Was Heidegger nach Rutsky nicht zu sehen vermochte, war die Gegentendenz, die der technischen Reproduzierbarkeit innewohnte; nämlich die Tendenz, nicht anders als die dominant ästhetischen Gestaltungsweisen eine Weise der Poiesis zu werden: ein unabgeschlossener Prozeß der Hervorbringung und Darstellung, der in beiderlei Hinsicht auf einem Entbergen in die Unsicherheit beruht und fortwährend seine eigenen Darstellungen »ent-sichert«. »Hier begannen, was Heidegger für die griechische Techne in Anspruch genommen hat - Technik und Kunst ineinander überzugehen - nicht in der Form der lebendig gewordenen oder ästhetisierten Technik, die im ästhetischen Modernismus herumspukte, und auch nicht in der Form der durchgängig funktionalen, technologischen Ästhetik, die die Avantgarde imaginiert hat, sondern in einem deregulierten, autonomen Prozeß der technischen Reproduzierbarkeit.« 64

63

Martin Heidegger: »Die Kehre«, in: ders., Die Technik und die Kehre, Stuttgart 1996 (1962),

S.46. 64

R. L. Rutsky: High Techne, a. a. O., S. 106.

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260

TECHNAI Daß sowohl handwerkliche als auch schöne Künste einbezogen waren, besagt noch nichts über die Einheit von Schönheit und Nützlichkeit im griechischen TechneBegriff. Gleichwohl hatten die Artefakte der Techne eine ästhetische Wertigkeit, die weitgehend noch in ontologischen, nicht in ästhetischen Kategorien reflektiert wurde. Insofern kann man nicht einen modernen Begriff der Ästhetik auf den griechischen Techne-Begriff projizieren; das tut Heidegger auch nicht, während Rutsky die Differenz weniger scharf herausarbeitet. Das dürfte daran liegten, daß Rutsky in bestimmter Hinsicht in der modernen Einstellungsästhetik befangen ist, von der sich Heidegger schon in der Nietzsche-Vorlesung distanziert hatte: »Die Besinnung auf das Schöne der Kunst rückt jetzt in einer betonten ausschließlichen Weise in den Bezug auf den Gefühlszustand des Menschen, die Aisthesis. Kein Wunder, daß in den neuzeitlichen Jahrhunderten die Ästhetik als solche bewußt betrieben und gegründet wurde.«65 Wenn Rutsky die High Tech in ihrer ästhetischen Wertigkeit zu einer Sache der entfunktionalisierten Form und der Darstellung erklärt, dann ist das Ästhetische nicht wirklich in der Dimension der technischen Gestaltung gefaßt, sondern eine subjektive Zutat, die dem technischen Funktionieren äußerlich bleibt. Der Prozeß der ständig wachsenden technischen Komplexität wird von Rutsky als eine Art kultureller Mutation bezeichnet. Dem Anschein nach und vielleicht auch tatsächlich beginne dieser Prozeß autonom zu werden und jenseits menschlich-gesellschaftlicher Wissens- und Kontrollkapazitäten zu expandieren. Hinter dem Rücken der sozialen Akteure scheint sich eine unerfaßbare techno-kulturelle Komplexität auszubreiten, die zur größten Herausforderung wird. Ohne den Aufbau eines technischen Gedächtnisses - eines random access memory kultureller Daten und Stile - sei keine Ubersicht mehr zu gewinnen. In diesem Gedächtnisraum könne Technik nicht mehr als Maschinerie, als Hardware erfaßt werden. Vielmehr werde sie zu einer Sache technisch reproduzierter Information. »Das ist das Paradoxon der High Tech-Ästhetik: während die [gegenständlich-gestaltwirksame, M. F.] Form der Technik in die >Unsichtbarkeit< (invisibility) entschwindet, wird die Technik zunehmend in der Form von Daten oder Medien wahrgenommen.«66 Technik werde Techno-Kultur und produziere ein techno-kulturelles Gedächtnis. Ergänzend wäre in diesem Zusammenhang auf das ungelöste Problem eines longtime storage hinzuweisen: Je länger die Arbeit an der computertechnologischen Entwicklung von Langzeitspeichern vernachlässigt wird, um so mehr wird das techno-kulturelle Gedächtnis »schrumpfen«. Dieses Versäumnis ist jedoch kein Indiz dafür, daß sich das screening des techno-kulturellen Gedächtnisses jenseits menschlicher Instrumentalität und Kontrolle vollzieht: es ist vielmehr ein Indiz dafür, daß die Wirtschaft aus Marktgründen an der Entwicklung von longtime storages bisher nicht interessiert war und daher auch nicht in die erforderliche Forschung investiert hat. Rutsky beschränkt sich auf die Feststellung, daß sich technisches Leben (technological life) oder technische Akteurswirksamkeit (technological

65 66

Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 99. R. L. Rutsky: High Techne, a. a. O., S. 15.

15. TECHNE-DISKURSE VON JOHN STUART MILL BIS RANDOLPH RUTSKY agency) behind the human actor's back ausbreiten und entfalten. Er konstatiert und bewertet die Wiederkehr des Magischen oder des Spirituellen in literarischen oder filmischen Darstellungen des technological life nicht als lediglich monströs oder bedrohlich, sondern diagnostiziert sie als Erscheinungsformen und Varianten eines Techno-Paganismus oder Cyber-Schamanismus. Techno-Heiden kultivieren eine magische Weltwahrnehmung, sie interagieren mit der Technik nicht einfach als mit einem Instrument oder Werkzeug, sondern als mit einem allgegenwärtigen autonomen Akteur, der nicht ihrer Kontrolle unterliegt, und sie bemühen sich um Kooperation, empfinden Respekt. 67 Ein solcher Techno-Paganismus läßt sich allerdings kaum einer Ästhetik der High Techne zurechnen, auch nicht, wenn diese auf eine transformierte Einstellungsästhetik reduziert wird; entweder ist Techno-Paganismus eine neue Form von Ästhetizismus oder er entschwindet aus dem Bereich des Ästhetischen in den des Quasi-Mythischen. Wohl aber gehört der zugrundeliegende Vorgang in den Bereich der High Techne-Diskurse: der verunsicherte Akteurstatus des Menschen fordert zu neuen Problematisierungsweisen heraus. Zu fragen ist, ob Rutskys Verständnis der Avantgarde-Ästhetik als Grundlage des Entwurfs einer High Techne-Ästhetik geeignet ist. Die These, die Avantgarde habe die Form von der Funktion getrennt, um die entfunktionalisierte technische Gestalt zu adaptieren, geht fehl. (1) Übernommen wurden Formen der Ingenieurarchitektur und Ingenieurästhetik wie sie Lux beschrieben hat; diese wurden nur dann entfunktionalisiert, wenn sie in der Malerei oder in der Bildhauerei adaptiert wurden. (2) Soweit die Avantgarde-Ästhetik sich in der Architektur oder im Industrial Design ausgeformt hat, kann von Entfunktionalisierung schon gar nicht die Rede sein. (3) Viele Gestaltcharaktere des Technischen und Architektonischen wurden in der abstrakten Malerei und sujetfreien Statue »erfunden« und erprobt. Bei Rutsky erscheint die Sache so, als sei eine funktionalistische Ästhetik nicht anders möglich, denn als Simulation der von der Funktion getrennten technischen Form. Im Sinne einer zu sich selbst gekommenen und nunmehr rasend gewordenen Simulation und Reproduktionsästhetik, die aus der Trennung von Form und Funktion nicht länger ein Geheimnis, sondern ihr Konstruktionsprinzip gemacht hat, kann die Ästhetik der High Techne wohl kaum gefaßt werden; sie kann nur auf einer Verschränkung des Instrumentalen und des Noninstrumentalen in neuartigen Gestaltcharakteren oder Gestaltsystemen beruhen. High Techne kann auch nicht auf die Technik im engeren Sinne, d. h. auf die technischen Künste in einem speziellen Sinne begrenzt werden.

67

Beispiele hierfür entnimmt Rutsky den Romanen von William Gibson.

261

ZEICHEN

16. Peirce' »Zeichenkunst« und die hellenistische Semiotik 1

Semiotik als universal art of rhetoric Auch Peirce verwendet den Terminus Kunst, Künste im weiten und komplexen Sinne des Techne-Begriffs, also keinesfalls eingeschränkt auf die schönen Künste und auch nicht auf das Handwerk, das fälschlicherweise am häufigsten verwendete semantische Äquivalent in deutschen Ubersetzungen des Originalterminus art. Peirce' Modellfälle von arts sind einem weiten Bereich entnommen: Medizin, Rhetorik, Pädagogik, Logik u. a. m. Je weniger einfach das Leben der Menschen und je häufiger sie ihre Unternehmungen in ungewohnte Situationen hineinführen, um so mehr bedarf es nach Peirce der theoretischen Vergewisserung. Peirce unterteilt die Wissenschaften in drei Grundformen, entdeckende, überprüfende und praktische Wissenschaft. Was unterscheidet letztere von den Künsten? Praktische Wissenschaft ist nach Peirce die Theorie der Künste {arts); »sie ist jene Wissenschaft, die fur das Praktizieren einer Technik {art) auswählt, anordnet und weiter in den Einzelheiten untersucht«. 2 Praktische Wissenschaft darf nach Peirce nicht mit normativer Wissenschaft verwechselt werden, »die jede Art von Vortrefflichkeit untersucht und bestrebt ist, die Bedingungen zu formulieren, unter denen ein Objekt diese Vortrefflichkeit besitzen würde, ohne daß sie versucht zu klären, ob irgendein gegebenes Objekt jene Vortrefflichkeit besitzt oder nicht«. 3 Peirce gibt ein Beispiel: Nehmen wir an, es sei kein anderer als der allgemeine Zweck gesetzt, Häuser so zu bauen, daß sie im Winter warm sind; für diesen Zweck genügt eine Fertigkeit, die sich nach und nach entwickelt. Sind jedoch die erforderlichen Handlungen kompliziert und zieht die Zwecksetzung zusätzliche Erwä-

1

Vgl. Max Fisch: »Peirce's Arisbe. The Greek Influence in His Later Philosophy«, in: ders.,

Peirce, Semiotic, and Pragmatism.

Essays, ed. by Kenneth Laine Ketner and Christian J.W. Kloesel,

Bloomington 1986. Zur Rezeption der hellenistischen Semiotik vgl. insbesondere David Sedlay: »On Signs« und Myles F. Burnyeat: »The origins of non-deductive inference«, beide in: Jonathan Barnes, Jacques Brunschwig, Myles Burnyeat, Malcolm Schofield, Science and Speculation, Cambridge 1982. 2

Charles Sanders Peirce: »Das Gewissen der Vernunft. Eine praktische Untersuchung der Theo-

rie der Entdeckung, in welcher die Logik als Semiotik aufgefaßt wird«. M S 693, 1904, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 2: 1903-1906, 1990, S. 193. 3

Ebd., S. 193.

hrsg. von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt/M.

266

ZEICHEN gungen nach sich, die sich kontextabhängig auch verändern können, dann ergeben sich weitere Anforderungen. Nunmehr schließt die Fertigkeit, den gesetzten Zweck zu verwirklichen, ein erhebliches M a ß an spezieller Information ein und wird daher Kunst {art) genannt. Diese bedarf mit zunehmender Kompliziertheit der Zwecksetzung und ihrer Realisationsbedingungen auch einer allgemeinen theoretischen Anleitung; diese Theorie einer Kunst ist eine praktische

Wissenschaft. Peirce zieht auch eine

praktische Wissenschaft des Entdeckens in Betracht und läßt dabei offen, ob Entdecken nur eine Sache der Wissenschaft oder auch eine Sache der Kunst ist. Eine Theorie des Entdeckens wäre eine Heuristik. Eine Kunst vollendet sich folglich in dem Maße, wie eine anspruchsvolle theoretische Anleitung als Fähigkeit zur Selbstanleitung in die Ausübung der Kunst integriert wird. Die theoretische Anleitung »muß auf einer ausgedehnten Kenntnis aller tatsächlich zur Verfügung stehenden Mittel für das Verwirklichen der verschiedenen Teile des feststehenden Zweckes aufgebaut werden, und hat mehr als genug damit zu tun, alle Umstände der existierenden Situationen zu berücksichtigen«. 4 Während die praktische Wissenschaft Erfüllungsbedingungen der Zwecksetzung klärt, die wie bei Mill die Domäne der Künste ist, befaßt sich die normative Wissenschaft mit der Zwecksetzung, indem sie untersucht, was der Zweck sein sollte. »Es gibt nur drei normative Wissenschaften; es sind dies Ästhetik, Ethik und Logik. Ästhetik ist die Wissenschaft der allgemeinen Bedingungen, unter denen eine Form schön ist. Sie m u ß damit beginnen, daß sie klärt, was die vertraute oder schwer faßbare Idee des Schönen wirklich bedeutet.« 5 Ethik hat nach Peirce Bedingungen und Kriterien der Moralität zu klären, an denen sich moralisches Verhalten als eine Weise selbstkontrollierten Verhaltens auszurichten vermag. Im Hinblick auf die Suche nach einem geeigneten Lebensziel tritt die Ethik jedoch in eine engere Beziehung zu den Künsten oder vielmehr zu den Theorien der Künste, die Peirce als die konkretesten unter allen theoretischen Wissenschaften bezeichnet; demgegenüber nennt er die Philosophie die abstrakteste aller real sciences.6 In bestimmter Hinsicht kann normative Wissenschaft daher auch als eine Theorie der Künste - der ästhetisch relevanten Gestaltungskunst, der ethisch relevanten Verhaltenskunst, der logisch relevanten Kunst des in Zeichenoperationen vollzogenen Folgerns - aufgefaßt werden, die Normen und Kriterien des Gelingens von Handlungen und Vollzügen klärt, ohne empirisch verbindliche Feststellungen zu treffen. Semiotik wäre in diesem Sinne eine Theorie der »Zeichenkunst« (Lambert) einschließlich einer »Verbindungskunst der Zeichen«. Über Logik notiert Peirce an anderer Stelle: »Logic is the art o f reasoning.« 7 Frühere Zeiten hätten endlose Debatten über die Frage ausgetragen, ob Logik eine Kunst (art) oder eine Wissenschaft (science) sei. Wollte man das Folgern als eine Kunst perfektionieren, so müßte man

4

Ebd., S. 201.

5

Ebd.

6

Charles Sanders Peirce: »Philosophy and the Contact of Life«. MS 437, in: The Essential Peirce.

Selected Philosophical Writings, Bd. 2 (1893-1913), ed. by the Peirce Edition Project, Bloomington, Indianapolis 1998, S. 36. 7

Charles Sanders Peirce: »Of Reasoning in General«, in: The Essential Peirce, a.a.O., S. 11.

16. P E I R C E ' » Z E I C H E N K U N S T « U N D DIE H E L L E N I S T I S C H E S E M I O T I K

solche Formen des Denkens untersuchen, die seine konkrete Vernünftigkeit am effizientesten fördern könnten. Die Logiker hätten sich damit kaum befaßt. Es ist wohl auch nicht ihr Gegenstand. Doch Peirce kann auf unsystematische Explorationen auf diesem Gebiet in Vergangenheit und Gegenwart verweisen, an die angeknüpft werden kann. 8 Peirce wirft folgendes Problem auf: Wenn man beispielsweise den Weg der medizinischen Kunst vom alten Ägypten bis zur modernen Physiologie verfolgt, kann man dann noch dem Schluß ausweichen, daß die Entwicklung einer reinen Wissenschaft das große Endresultat der Künste ist? Natürlich nicht für den individuellen Menschen, der auf die Künste angewiesen bleibt; er blickt dann beispielsweise aus dem Blickwinkel seines erkrankten Magens auf die Künste. Dies berührt jedoch nicht die historische Tendenz der Entwicklung der Künste. Insgesamt postuliert Peirce für die Geschichte der Wissenschaften die Tendenz zu immer stärkerer Abstraktheit und Formalisierung. Jede Wissenschaft gehe in eine Wissenschaft von höherem Abstraktionsgrad über: so seien die deskriptiven Wissenschaften in klassifizierende und die klassifizierenden in nomologische Wissenschaften übergegangen. Die Einseitigkeit dieses an der Mathematik, der mathematischen Logik, der theoretischen Physik, der Kosmologie orientierten nomologischen Trends hat Peirce in anderen Texten wiederum relativiert und korrigiert; so in der langen Abhandlung On the Logic of Drawing History from Ancient Documents, Especially from Testimonies (1901). 1903 schrieb Peirce: »Gerade so, wie es eine chemische Theorie der Färbung gibt, die nicht das gleiche ist wie die Kunst des Färbens, und eine Theorie der Thermodynamik, die ganz verschieden ist von der Kunst, Wärmemaschinen zu konstruieren, so ist die Methodeutik (bzw. Methodologie), die das Endziel aller logischen Studien ist, die Theorie des avancierten Wissenszuwachses auf allen Gebieten.« 9 In solcher Weise strebte Peirce auch die Begründung und Förderung einer universal art of rhetoric an, als Kunst, Zeichen jeglicher Art effizient zu machen. Das Zeichen hat bei Peirce ebenso eine epistemische wie eine operationale Funktion; Zeichenkunst ist ebenso eine Kunst, aus (indiziellen) Zeichen zu folgern, wie sie eine Kunst ist, Zeichen in funktioneller Vielfalt effektiv zu gebrauchen. Unabhängig davon, ob es eine solche Zeichenkunst schon gibt oder nicht, erläuterte Peirce sein Vorhaben, es sollte eine spekulative, d. h. theoretische Rhetorik entwickelt werden als Wissenschaft von den unverzichtbaren Bedingungen, unter denen ein Zeichen ein interpretierendes Zeichen seiner seihst und seines Referenzobjekts hervorruft bzw. einen physischen Effekt auslöst. In dieser Blickrichtung ist die Semiotik die Theorie einer Zeichenkunst, die sich untergliedert in die Kunst, Zeichensituationen herzustellen {universal art of rhetoric), eine »Verbindungskunst der Zeichen« {speculative grammar) und eine Kunst der Bezugnahme auf unabhängig vom Zeichen und ih-

8

Beiläufig schließt sich Peirce auch einmal dem Sprachgebrauch an, Kunst als angewandte Wissenschaft zu bezeichnen; dies schmälert aber nicht das Potential des eigenen Konzepts. Vgl. The Essential Peirce, Bd. 2, a. a. O., S. 37. 9 Charles Sanders Peirce: »What Makes a Reasoning Sound?«, in: The Essential Peirce, Bd. 2, a. a. O., S. 256.

267

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ZEICHEN rer zeichengebundenen Repräsentation existierende Objekte {speculative critic).10 Mit solchen Überlegungen knüpft Peirce an die hellenistische Semiotik-Debatte an, die neben Philodem am ausführlichsten Sextus Empiricus referiert und kommentiert hat. Auch in der gegenwärtigen Rezeption der hellenistischen Semiotik nimmt Sextus daher eine Schlüsselstellung ein. 11

Gibt es aufschließende Zeichen? Sextus Empiricus knüpft die positive Beantwortbarkeit dieser Frage an zwei Voraussetzungen: (1) Wenn es Zeichen gibt, müssen sich diese erfassen lassen. (2) Es müßte eine empirische bzw. naturwüchsige, nichtkonventionelle Basis der angenommenen aufschließenden Kraft indizieller Zeichen aufgezeigt werden. Nach den beiden Alternativen der Erfaßbarkeit müssen Zeichen entweder wahrnehmbare Phänomene oder intelligible Wesenheiten sein. Diese beiden Alternativen werden von Sextus durchgespielt, um die Gleichwertigkeit von Argumenten und Gegenargumenten zu erweisen. Der Skeptiker stellt ebenso den epistemischen Anspruch der epikureischen Indiziensemiotik in Frage, wie er dem Zeichen in der stoischen, von der Empirie >gereinigten< aussagenlogischen Fassung die aufschließende Kraft abspricht. Im Folgenden wird Sextus' Aporetik der Zeichen Schritt für Schritt durchgegangen. Wenn Sextus Empiricus eine Diskussion über die Frage entfacht »Gibt es ein Zeichen?«, dann handelt es sich hier nicht um sprachliche Zeichen oder nichtsprachliche Formen symbolischer Zeichen, sondern um die Existenz indizieller Zeichen und die Berechtigung endeiktischer, d. h. aufweisender Zeichenschlüsse vom Evidenten auf Nonevidentes. Sextus geht von der im Hellenismus üblichen Einteilung der indiziellen Zeichen in hypomnestische und endeiktische aus. Hypomnestische Zeichen stützen sich auf im Gedächtnis gespeichertes Erfahrungswissen, das bei Gelegenheit abgerufen werden kann. Endeiktische Zeichen zeigen etwas an, was in ihren Prämissen nicht schon enthalten ist. Sextus beginnt damit, daß er den Bereich des Nonevidenten differenziert: schlechthin/ von Natur/ gelegentlich verborgene Dinge. Evidente Sachverhalte erfordern keine Zeichen, gelegentlich verborgene durchaus; hierfür reichen nach Sextus hypomnestische Zeichen völlig aus. Den eigentlichen Streitgegenstand bilden von Natur verborgene Dinge; können sie mit Hilfe von Zeichen zugänglich gemacht werden? Hier setzt Sextus' aporetische Methode an, um die isostheneia, die »Gleichkräftigkeit« des Pro und Contra zu erweisen. Sextus zielt niemals auf die Beweisbarkeit einer Position, sondern auf die Unentscheidbarkeit einer Frage ab. Zeichen werden stets in Korrelation mit dem Bezeichneten gedacht, darüber besteht Konsens. Doch wie läßt sich diese Korrelation näher bestimmen, fragt Sextus,

10

Vgl. Charles Sanders Peirce: »Ideas, Stray or Stolen, about Scientific Writing«, in: The Essen-

tial Peirce, Bd. 2, a. a. Ο., S. 327. 11

Vgl. A n m . 1.

1 6 . PEIRCE'i'ZEICHENKUNST« UND DIE HELLENISTISCHE SEMIOTIK

und er will natürlich zeigen, daß sie sich nicht bestimmen läßt. Nimmt man eine Kopräsenz von Zeichen und Bezeichnetem an, so wäre dies Sextus zufolge ein Argument gegen die Existenz von Zeichen; denn Kopräsenz würde Koevidenz einschließen, und das würde das Zeichen gegenstandslos machen. Das Bezeichnete könne zeitlich ebensowenig vor dem Zeichen erfaßt werden wie das Zeichen vor dem Bezeichneten; denn das Zeichen ist ja als Relation definiert. Daraus folgert Sextus, daß Erscheinendes niemals auf Verdecktes hinweisen kann: in diesem Falle müßte das Zeichen nämlich vor dem Bezeichneten erfaßt werden. Wenn es (indizielle) Zeichen gibt, müssen sie erfaßbar sein: Gehört das Zeichen nun aber zu den wahrnehmbaren oder zu den begreifbaren Sachen? (Sextus Empiricus, Adv. dogm. 2 = Adv. math. 8, 176) Die Sache ist umstritten und daher ohne Beweis nicht zu entscheiden. Beweis und Gegenbeweis kommen aber nicht ohne Zeichen aus: also liefe jeder Beweis auf das Vorhaben hinaus, das zur Diskussion Stehende mit Hilfe des Infragegestellten klären zu wollen. Hierbei ist klar, daß auch Sextus ein Beweisverfahren anwendet, wenn er vermeintliche Beweise zu widerlegen und bestimmte Schlüsse als Fehlschlüsse zu erweisen sucht. Doch daraus macht er kein Geheimnis; das ist der Vorbehalt, unter dem auch seine eigene Argumentation steht. Er hat es lediglich auf die Pattsituation der isostheneia abgesehen. Sextus verhandelt die beiden Grundpositionen in der zur Diskussion gestellten Frage: nach der einen Position ist das Zeichen als Wahrnehmbares, nach der anderen nur als etwas Intelligibles zu erfassen. Gesetzt, das Zeichen sei wahrnehmbar. Dann müßte es alle, die sich in der gleichen Verfassung befinden, auf gleiche Weise affizieren. Wenn das Zeichen als Wahrnehmbares alle in gleicher Weise affiziert, müßte auch das Nonevidente von allen erfaßt werden. Daß alle, die Zeichen wahrnehmen, in der gleichen Verfassung sind, kann Sextus als Normalfall nicht gelten lassen: daher eröffnet das Zeichen verschiedene Sachen. Sextus vergleicht dies mit dem Wirkungsvermögen des Feuers, das bei verschiedenen Dingen Verschiedenes bewirkt. Er setzt das Verweisungspotential des Zeichens mit einem dinglichen Wirkungsvermögen gleich, wenn er konträre Referenzen als Argument gegen die Zeichenrelation betrachtet. Auch hypomnestische, erinnernde Zeichen deuten auf Mehrfaches: Feuerzeichen signalisieren Freunden etwas anderes als Feinden. Daraus leitet Sextus die Notwendigkeit der Standardisierung, Konventionalisierung, Codifizierung der Zeichen ab, damit sie jeweils nach Referenz und Bedeutung zweifelsfrei identifiziert werden können. Genau diese Möglichkeiten müssen jedoch im Falle indizieller Zeichen ausgeschlossen werden; für diese wird bekanntlich beansprucht, daß sie das Bezeichnete von Natur aus anzeigen. Also sind auch indizielle Zeichen letztlich konventionalisierte Zeichen. Sextus führt ein weiteres Argument gegen die Erfaßbarkeit des Zeichens durch Wahrnehmung an: »Das Zeichen als Zeichen wird unter vielen, wie sie sagen, Mühen gelehrt, wie das in der Steuermannskunst, das auf Winde hindeutet und auf Stürme oder Windstille. Ebenso auch bei denen, welche sich mit den Himmelskörpern beschäftigen, wie bei Arat und Alexander von Aitolia, ebenso auch bei den empirisch vorgehenden Ärzten, ζ. B. die Röte, die Schwellung der Adern, der Durst und das andere, das der Nichtunterrichtete nicht als Zeichen erfaßt.« (Sextus Empiricus, Adv.

269

270

ZEICHEN

dogm. 2 = Adv. math. 8, 203 f.) Hier wird gesagt, daß die Erkennung bzw. Interpretation indizieller Zeichen Teil verschiedener Technai ist; dies impliziert zugleich, daß es eine Kunst ist, Zeichen angemessen zu interpretieren. In dieser Blickrichtung wird die Indiziensemiotik als eine Kunst betrachtet, während Sextus zeigen will, daß es eine selbständige Zeichenkunst nicht geben kann. Zuletzt referiert Sextus die Argumentation des skeptischen Akademikers Ainesidemos gegen die Berechtigung von Zeichenschlüssen, mit Hilfe einer Ergänzung zu Ainesidemos sucht er die Behauptung, aus der Wahrnehmbarkeit der Zeichen müßte das gleichartige Erfassen des Nonevidenten folgen, als Fehlschluß zu erweisen. Danach wendet sich Sextus der zweiten Position zu, der zufolge das Zeichen nur als etwas Intelligibles erfaßt werden könne. Hier setzt er sich insbesondere mit der stoischen Zeichendefinition auseinander. Danach ist der Zeichenschluß ein Spezialfall der Implikation: das Zeichen liege in jener Implikation vor, die mit Wahrem anfängt und mit Wahrem aufhört. Die Existenz der Zeichen ist als Bedingung gesetzt: folglich muß auch das Bezeichnete zusammen mit dem Zeichen existieren. Einfachstes Beispiel: »Wenn es Tag ist, ist es Licht.« Im Verein hiermit wurde behauptet, das Zeichen könne sich als ein Gegenwärtiges nur auf Gegenwärtiges beziehen. Dies gilt für den Status des Ausgesagten im Verhältnis zur Aussage, nicht aber für das zeitliche Verhältnis des Sprechenden zum Gegenstand seiner Rede. Sextus bringt die Eigenart des Indizierens gegen die Intelligibilität des Zeichens in Stellung: Unkörperliches wirke nicht; Indizien müßten aber zugleich immer etwas bewirken. Die Intelligibilitätshypothese wird von Sextus auch an ihren praktischen Konsequenzen gemessen. Nach dieser Hypothese dürften Zeichenschlüsse nur den in den dialektischen Künsten Bewanderten möglich sein. Dies sei aber nicht der Fall. »Denn Steuerleute, welche oft Analphabeten sind, und Bauern, welche mit den dialektischen Theoremen oft nicht vertraut sind, deuten Zeichen vollkommen, die einen auf dem Meer Wind und Windstille, Stürme und ruhige See, die anderen im Ackerbau, ζ. B. reiche Ernten und Unfruchtbarkeit, Dürren und schwere Regenfälle.« (Sextus Empiricus, Adv. dogm. 2 = Adv. math. 8, 270) Darüber hinaus verweist Sextus auf die Biosemiotik. Nach dem Schnuppern an zwei Wegen entscheidet sich der im Jagen begriffene Hund ohne zu schnuppern für den dritten Weg. Nach stoischer Auffassung hätte der Hund hierbei folgenden Schluß zu vollziehen: entweder nahm es (das Wild) diesen Weg oder jenen Weg oder einen dritten Weg; es nahm nicht diesen Weg, es nahm nicht jenen Weg; also nahm es den dritten Weg. Für Sextus ist es äußerst zweifelhaft, daß der Hund einen solchen formalen Schluß vollzieht. Sextus läßt aber auch das Argument nicht gelten, die Existenz von Zeichen folge aus der Beschaffenheit des Menschen: nach diesem Argument unterscheidet sich der Mensch »nicht durch die geäußerte Rede von den unvernünftigen Lebewesen [...] (denn auch Krähen, Papageien und Eichelhäher äußern artikulierte Laute), sondern durch die innere, und nicht durch die nur einfache Vorstellung (denn auch jene stellen vor), sondern durch die rückschließende und verknüpfende. Deshalb verfügt er über den Begriff der Folgebeziehung und bildet wegen der Folgebeziehung sogleich auch den Begriff des Zeichens. Denn das Zeichen ist eben folgende Art: >Wenn dieses, jenes.«< (Sextus Empiricus, Adv. dogm. 2 = Adv. math. 8, 275 f.) Für Sextus hat sich diese Behauptung schon dadurch erledigt,

16. PEIRCE'»ZEICHENKUNST« UND DIE HELLENISTISCHE SEMIOTIK daß sie umstritten ist. Bisweilen erweist sich Sextus' Methode, etwas, das Streitgegenstand ist, als unentscheidbar zu bezeichnen, auch als eine andere Form der Problemabweisung. Aber Sextus bringt auch ein Argument: »Selbst wenn wir zugeben, der Mensch unterscheide sich von den anderen Lebewesen durch die Rede, die rückschließende Vorstellung und durch den Begriff der Folgebeziehung, räumen wir doch gewiß nicht ein, daß er für das Verborgene und die Gegenstände des unbeurteilten Widerstreits so beschaffen ist, sondern nur, daß er für die Erscheinungen aus der Beobachtung eine Art von Folgebeziehung kennt, derzufolge er sich erinnert, was womit gesehen worden ist und was wovor und was wonach, und aufgrund der Begegnung des Früheren das übrige vergegenwärtigt.« (Sextus Empiricus, Adv. dogm. 2 = Adv. math. 8, 288) Hier bringt Sextus nicht nur die Differenz zwischen physischer und logischer Folgebeziehung zur Sprache, er beanstandet auch zurecht den stillschweigend vollzogenen Ebenenwechsel von indiziellen zu symbolischen Zeichen(schlüssen).

Antike Problematisierung der zweiwertigen Logik Die stoische Semiotik war ein Teil der stoischen Logik und ist nur in deren Zusammenhang kritisch zu würdigen. Die Rehabilitation und Erkenntnis der Eigenart der stoischen Logik verdanken wir dem polnischen Logiker und Philosophen Jan Lukasiewicz. Lukasiewicz hat bereits 1910 eine kritische Abhandlung »Uber den Satz des Widerspruchs bei Aristoteles« vorgelegt und gilt als ein Vorläufer der sogenannten parakonsistenten Logiken (Graham Priest). In den 20er Jahren hat er eine mehrwertige Logik eingeführt. Zur Begründung des Prinzips der Dreiwertigkeit (wahr/falsch/möglich) hat Lukasiewicz auch die Geschichte des Zweiwertigkeitssatzes, einschließlich seiner Problematisierung bereits in der Antike, aufgearbeitet. 12 Er ging zurück auf die von Aristoteles im 9. Kapitel seiner Schrift Peri hermeneias (De interpretatione) ausgelöste Diskussion über die Aussage: »Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden.« (Aristoteles, Peri hermeneias 9, 19a) »Somit ist es zwar für alles notwendig, daß es (entweder) ist oder nicht ist, und auch, daß es (entweder) sein oder nicht sein wird; nicht aber ist eines von beiden, wenn man es getrennt (vom anderen) behauptet, notwendig. Ich meine damit, daß es beispielsweise zwar notwendig ist, daß morgen eine Seeschlacht entweder stattfinden oder nicht stattfinden wird, daß es aber nicht notwendig ist, daß morgen eine Seeschlacht (naumachia) stattfindet, und auch nicht notwendig, daß morgen keine Seeschlacht stattfindet. Daß jedoch morgen eine Seeschlacht (entweder) stattfindet oder nicht stattfindet, ist notwendig [...] Dies ist nun bei denjenigen Dingen der Fall, die nicht immer (so und so) sind oder nicht immer nicht (so und so) sind. Denn bei diesen muß zwar notwendigerweise eines der beiden

12 Hermann Weidemann hebt hervor: »Durch die Überlegungen die Ar. in De int. 9 anstellt, hat sich Lukasiewicz bekanntlich zum Entwurf eines dreiwertigen aussagenlogischen Systems anregen lassen, das neben wahren und falschen Aussagen auch solche zuläßt, die einen von Wahrheit und Falschheit verschiedenen dritten Wahrheitswert besitzen [...].« Aristoteles: Peri hermeneias, übersetzt und erläutert von Hermann Weidemann, Berlin 1994, S. 317.

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Kontradiktionsglieder wahr sein bzw. falsch, aber nicht (so, daß es) dieses oder jenes (bestimmte wäre), sondern (so, daß es) je nachdem, wie es sich gerade trifft (das eine oder das andere ist), oder auch (so, daß) die eine (der beiden kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen) zwar eher wahr (oder eher falsch ist als die andere), aber dennoch nicht schon (jetzt) wahr oder falsch. Es ist daher offensichtlich, daß nicht notwendigerweise für jede bejahende und die ihr (kontradiktorisch) entgegengesetzte verneinende Aussage gilt, daß die eine von ihnen wahr und die andere falsch ist. Denn so wie bei dem, was ist, verhält es sich (mit den Aussagen) nicht auch bei dem, was nicht ist, aber (in Zukunft) sein oder nicht sein kann, sondern (hier verhält es sich mit ihnen so), wie es (von uns) dargelegt wurde.« (Aristoteles, Peri hermeneias 9, 19 a) Diskutiert wird bis heute, was Aristoteles eigentlich sagen wollte bzw. gesagt hat: Besitzt jede der beiden Aussagen bereits vor dem Zeitpunkt, auf den sie sich bezieht, einen unbestimmten (d. h. ihnen nicht notwendigerweise zukommenden) Wahrheitswert? Dies bejaht die sogenannte non-standard interpretation. Oder wird gesagt, daß es vor dem fraglichen Zeitpunkt noch unbestimmt ist, welchen Wahrheitswert die eine von ihnen und welchen die andere zum besagten Zeitpunkt besitzen wird? Dies behauptet die sogenannte standard interpretation. Nach Lukasiewicz erschüttert der Gedankengang des Aristoteles ein fundamentales Prinzip der gesamten Logik, das von ihm zuerst formuliert wurde, nämlich das Prinzip, nach dem jeder Satz wahr oder falsch - genauer gesagt >eine jede Aussage entweder wahr oder falsch< ist, d. h. jeder Satz muß genau einen Wahrheitswert haben: Wahrheit oder Falschheit. Jan Lukasiewicz nennt dieses Prinzip, das er vom tertium non datur unterscheidet, das Bivalenzprinzip. Lukasiewicz schreibt: »Aristoteles glaubt, daß der Zweiwertigkeitssatz den Determinismus als notwendige Folge nach sich zieht und diese Folge mag er nicht anerkennen. Deshalb muß er den Zweiwertigkeitssatz einschränken. Doch tut er es nicht genug entschieden, und daher ist seine Ausdrucksweise nicht ganz klar.«13 Während die Stoiker Aristoteles beschuldigt haben, den Zweiwertigkeitssatz zu leugnen, haben die Epikureer den gedanklichen Ansatz des Aristoteles aufgegriffen und ihrerseits den Zweiwertigkeitssatz attackiert. Die entscheidende Quelle ist Cicero De fato 37: »(1) Denn notwendig ist bei zwei gegensätzlichen Sachen (als >Gegensätze< bezeichne ich an dieser Stelle Aussagenpaare, von denen die eine Aussage eben das behauptet, was die andere bestreitet), - es ist also bei solchen Aussagen notwendig die eine wahr und die andere falsch, auch wenn Epikur das nicht will; beispielsweise war die Aussage >Philoktet wird verwundet werden< schon während aller vorangehenden Jahrhunderte wahr und die Aussage >Er wird nicht verwundet werden< falsch - (2) es sei denn, wir wollten der Auffassung der Epikureer folgen, die behaupten, derartige Aussagen seien weder wahr noch falsch, (3) oder die, wenn sie sich dessen schämen, gleichwohl etwas behaupten, was noch schamloser ist, daß nämlich die aus gegensätzlichen Aussagen gebildeten Disjunktionen wahr seien, daß aber keine der in ihnen enthaltenen zwei Teilaussagen wahr sei.« Lukasiewicz schreibt zu diesem antiken 13 Jan Lukasiewicz: »Philosophische Bemerkungen zu mehrwertigen Systemen des Aussagenkalküls«, in: David Pearce/Jan Woleiiski (Hrsg.), Logischer Rationalismus. Philosophische Schriften der Lemberg-WarschauerSchule, Frankfurt/M. 1988, S. 115.

16. PEIRCE'»ZEICHENKl)NST« UND DIE HELLENISTISCHE SEMIOTIK Streit: »Der Zweiwertigkeitssatz ist die tiefste, jedoch schon im Altertum heftig umstrittene Grundlage unserer gesamten Logik. Von Aristoteles gekannt, aber für Aussagen, die auf zukünftige zufällige Ereignisse sich beziehen, bestritten, von den Epikuräern entschieden geleugnet, tritt der Zweiwertigkeitssatz in seiner vollen Schärfe erst bei Chrysippos und den Stoikern auf, und zwar als Prinzip ihrer Dialektik, die den antiken Aussagenkalkül repräsentiert. Der Streit um den Zweiwertigkeitssatz hat einen metaphysischen Hintergrund: die Anhänger dieses Satzes sind entschiedene Deterministen, während die Widersacher des Satzes zur indeterministischen Weltanschauung hinneigen.« 14 Cicero bestätigt dies {Defato 21-25): »Chrysipp konzentriert [...] alle Kräfte darauf, überzeugend nachzuweisen, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist. Denn genau wie Epikur fürchtet, er müsse, wenn er diese These zugesteht, einräumen, daß alles, was geschieht, durch das Fatum geschieht - wenn nämlich eine der beiden Alternativen von Ewigkeit her wahr sei, dann sei sie auch gewiß, und wenn gewiß, dann auch notwendig; und das reiche, so glaubt er, schon aus, um sowohl die Notwendigkeit als auch das Fatum zu beweisen - , so befürchtet Chrysipp, er könne, wenn er nicht daran festhalte, daß jede Aussage wahr oder falsch ist, nicht die These halten, alles geschehe durch das Fatum und aufgrund ewiger Ursachen. (2) Epikur glaubt aber, die Notwendigkeit werde durch eine Bahnabweichung der Atome vermieden.«

Die Aussagenlogik als Grundlage der stoischen Semiotik Lukasiewicz hat die aristotelische Logik als eine Logic of Terms charakterisiert (Klassenlogik, Kurt von Fritz; Prädikatenlogik, Georg Klaus u.a.). Dieser Logic of Terms hat er die stoische Logik als Prepositional Logic (Aussagenlogik) gegenübergestellt (Zur Geschichte der Aussagenlogik, 1935). Als einen entscheidenden Unterschied hebt Lukasiewicz hervor, die Variablen in den aristotelischen Syllogismen seien Namenvariable, in den stoischen Aussagenverbindungen dagegen Aussagenvariable. Beispiele: (a) Wenn P, so spielt Lore Theater; P: Aussagenvariable (b) X spielt Theater; X: Individuenvariable Die aristotelische Termlogik operiert (1) mit Individuenvariablen, (2) mit Prädikatoren (Prädikat + Copula = Zuordnung einer Beschaffenheit); (3) mit Quantifikatoren (Feststellung des Umfangs einer Zuordnung: alle, einige); (4) mit klassenlogischen Beziehungen wie Elementsein, Enthaltensein usw. Die stoische Aussagenlogik operiert (1) mit Aussagenvariablen; (2) mit aussagenlogischen Funktoren wie Negation, Implikation, Konjunktion, Disjunktion (»oder« im nicht-ausschließenden Sinn), Äquivalenz (nur wahr, wenn beide den gleichen Wahrheitswert haben, »genau dann, wenn

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Ebd., S. 108.

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ZEICHEN ... so«), Kontravalenz (ausschließende Disjunktion; »entweder - oder« als kontradiktorische Opposition); (3) mit Schlußformeln, »die den Sinn von Schlußregeln haben, und Schlußregel ist eine Vorschrift, die den Schließenden ermächtigt, aufgrund von anerkannten Aussagen neue Aussagen abzuleiten«.15 In den stoischen Schlußschemata werden die Wörter »das Erste«, »das Zweite« (in abgeleiteter Form auch »das Dritte«) als Variable eingeführt; diese werden nicht mit Buchstaben, sondern mit Ordnungszahlen bezeichnet. I Wenn das Erste, so das Zweite; Das Erste; also das Zweite. »Wenn Piaton lebt, atmet Piaton; nun gilt das Erste, also gilt auch das Zweite.« (DL VII, 77) II Wenn das Erste, so das Zweite; nicht das Zweite; also nicht das Erste. »Wenn Piaton lebt, so atmet er. Nun atmet Piaton aber nicht. Also ist er nicht am Leben.« III Nicht zugleich das Erste und das Zweite; das Erste; also nicht das Zweite. »Es ist nicht wahr, daß Piaton tot ist und daß Piaton lebt. Nun ist Piaton tot. Also lebt Piaton nicht.« (DL VII, 80) IV Das Erste oder das Zweite; das Erste; also nicht das Zweite. (Entweder/oder im ausschließenden Sinne). »Entweder es ist Tag oder es ist Nacht. Nun ist es Tag, also ist es nicht Nacht.« »Entweder Piaton ist tot oder Piaton lebt. Nun ist er aber tot. Also ist er nicht am Leben.« V Das Erste oder das Zweite; nicht das Zweite; also das Erste. »Entweder ist Tag oder Nacht; nun ist nicht Nacht, also ist Tag.« (DL VII, 81) Das gilt nur bei exklusiver Disjunktion. Daher gilt nicht immer: »Entweder ist Tag oder Nacht. Nun ist nicht Nacht. Also ist Tag.« (DL VII, 81) Es kann nämlich auch Dämmerung sein. Oder auch; »Der Mensch ist ein Lebewesen, oder das Pferd ist ein Stein. Nun ist aber das Pferd kein Stein. Also ist der Mensch ein Lebewesen.«

15 Jan Lukasiewicz: »Zur Geschichte der Aussagenlogik«, in: David Pearce/Jan Wolenski (Hrsg.), Logischer Rationalismus, a. a. O., S. 78.

16. PEIRCE'»ZEICHENKUNST« UND DIE HELLENISTISCHE SEMIOTIK

Ainesidems Argument gegen die Indiziensemiotik Mit Hilfe der stoischen Schlußschemata wurde auch das von Sextus Empiricus referierte Argument des Ainesidemos gegen den nicht durch Wahrnehmung erfaßbaren Charakter des Zeichens formuliert: »Wenn Erscheinungen allen (jenen), welche ähnlich disponiert sind, als ähnlich erscheinen, und die Zeichen Erscheinungen sind, dann erscheinen die Zeichen allen (jenen), welche ähnlich disponiert sind, als ähnlich; nun aber erscheinen die Zeichen nicht allen (jenen) als ähnlich, welche ähnlich disponiert sind; die Erscheinungen aber erscheinen als ähnlich allen (jenen), welche ähnlich disponiert sind; also sind Zeichen nicht Erscheinungen.« (Sextus Empiricus, Adv. dogm. 2 = Adv. math. 8, 215) Hier wird das Schlußschema herangezogen: Wenn beide, das Erste und das Zweite, dann das Dritte; nicht das Dritte; das Erste; also, nicht das Zweite. Dies läßt sich auf die Basisschlüsse II und III zurückführen: (a) Wenn beide, das Erste und das Zweite, so das Dritte; nicht das Dritte; also nicht beide, das Erste und das Zweite; (b) nicht beide, das Erste und das Zweite; das Erste; also nicht das Zweite. Das ist korrekt gefolgert; allerdings wird die Wahrheit der ersten Prämisse »Erscheinungen erscheinen allen (jenen), welche ähnlich disponiert sind, als ähnlich« vorausgesetzt. Die Wahrheit dieser Prämisse hängt aber u. a. davon ab, wie weit oder eng der Begriff Disponiertheit/Disposition gefaßt wird: als Differenz zwischen angeborenen Prädispositionen und dem erworbenen Habitus; als Differenz zwischen affektiven Dispositionen und vorübergehenden seelischen Zuständen; als Einfluß der Situation und der Umstände. 16 Zum anderen wäre zu fragen: Was heißt »als ähnlich erscheinen?«17 Keine Rolle spielt im Zeichenargument die von Diogenes von Seleukeia in seiner Musiktheorie eingeführte Differenz zwischen autophyes aisthesis und

epistemonike

aisthesis, d. h. zwischen natürlicher und kulturell entwickelter, geschulter Wahrnehmung. Oder ist der gleiche sinnesphysiologische Mechanismus gemeint? Also das Widerfahrnis, und nicht der Wahrnehmungsinhalt? Was könnte es für das Zeichen heißen, allen (jenen), welche ähnlich disponiert sind, als ähnlich zu erscheinen? Das

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Diakeimai hat die Bedeutungen: 1. (a) in der Lage (oder in einer Stimmung oder einem Zustande) sich befinden, gestimmt, gesinnt, beschaffen sein, sich verhalten, in einem Verhältnis stehen; (b) daliegen, gelegen sein; 2. (a) in einen Zustand versetzt, in eine Lage gebracht sein; (b) bestimmt oder festgesetzt, angeordnet sein. (Epi diakeimenois·. unter festgesetzten Bedingungen). 17

Paraplesios bedeutet: 1. nahekommend, ziemlich gleichkommend, beinahe gleich, ähnlich; 2. ziemlich ebensoviel, beinahe gleichgroß, fast ebenso weit; 3. adv. paraplesios, -ton, -ta: auf ähnliche oder gleiche Weise, mit gleichem Kriegsglück, fast ebenso, nahe, fast bis. Phaino hat eine Vielzahl von Bedeutungen, von denen die wichtigsten hervorgehoben werden sollen: I aktiv 1. transitiv: leuchten lassen, ans Tageslicht bringen, sichtbar machen, sehen lassen, erscheinen lassen, aber auch zeigen, zur Schau stellen. Dies schließt auch einen überraschenden Sinnaspekt ein: ein Kind geboren werden lassen. Das Erscheinenlassen erstreckt sich auch auf die akustisch-auditive Dimension: hörbar machen, ertönen lassen, und hat auch allgemeinere Bedeutung: anzeigen, verkünden, kundtun, vortragen, entdecken. Weiterfuhrende Sinnaspekte sind: bewahrheiten, offenbaren, andeuten, in Aussicht stellen, verheißen. II passiv 1. leuchten, glänzen, hervorstechen, sich auszeichnen; 2. gesehen werden, zum Vorschein kommen, gezeigt werden, sich zeigen, sichtbar werden.

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ZEICHEN müßte sich ja primär auf die geformte Zeichenmaterie, auf die sinnlich faßbare Zeichengestalt beziehen. Nun geht es in dieser Diskussion aber nicht um sprachliche Zeichen, sondern um endeiktische (und natürlich auch hypomnestische) Zeichen, d. h. um naturwüchsige (in der Konsequenz aber auch um artifizielle) Phänomene, die in dem Sinne als Zeichen aufgefaßt werden, daß sie eine metabasis vom Evidenten zum Nonevidenten, Unbekannten, aber auch längst Vergangenen ermöglichen. 18 Als materielles Zeichenereignis mag das Zeichen all jenen, die ähnlich disponiert sind, ähnlich erscheinen; wenn hierbei die Differenz zwischen autophyes aisthesis und epistemonike aisthesis zum Tragen kommt, so ist dies generell bei der Wahrnehmung von Phänomenen der Fall. Aber das Zeichen wird nicht von all jenen, die ähnlich disponiert sind, auch ähnlich interpretiert; dies erfolgt jeweils nach bestimmten Erwartungsschemata oder im Rahmen erklärender Hypothesen, die oft erst gebildet werden müssen; geht also weit über die Wahrnehmung hinaus, auch wenn es an weiterer Beobachtung kontrolliert wird. Was also unter Umständen für das materielle Zeichenereignis gilt, soweit es als Phänomen wahrnehmbar ist, kann nicht für den endeiktischen Zeichenschluß gelten, der ja seinem methodologischen Anspruch nach über das Wahrnehmbare gerade hinausführt. Insofern bilden die beiden einander gegenüberstehenden Positionen - das Zeichen als etwas Wahrnehmbares und das Zeichen als etwas Intelligibles - kein kontradiktorisches Gegensatzverhältnis. Auch für die Epikureer gilt: Das Phänomen (als genuines Indiz) muß in einen Aussagesatz übersetzt werden, um als Prämisse (oder Prämissenpaar) für einen aufweisenden (endeiktischen) Zeichenschluß fungieren zu können. Hierbei kann allerdings die Frage nach der Wahrheit der Prämissen nicht umgangen werden. Um diese Frage kommen aber auch die Stoiker nicht herum, die das endeiktische Zeichen als Prämisse in einem gültigen Konditional auffassen, die auf demonstrativem (beweisendem) Wege ermöglicht, etwas Neues aufzudecken.

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Metabasis:

(a) Übergang, (b) Veränderung, Wendung, Wandlung.

17. Zeichen und Phantasia

Wenn Sextus suggeriert, das Enargische bzw. Evidente bedürfe per se keines Zeichens, um erfaßt zu werden, so ist dies ein persuasiver Kunstgriff, denn in Adversus dogmaticus 1 (= Adversus mathematicus 7) hat er die Problematisierung des Enargischen durch die skeptischen Akademiker Arkesilaos und Karneades in ihrer Auseinandersetzung mit der Stoa nachgezeichnet. Hier muß zunächst umrissen werden, was die Stoiker unter Phantasia verstanden haben. Bei Zenon ist die Phantasia gleichbedeutend mit der Sinnesvorstellung, die als Einprägung (typosis) in der Seele gilt; hierbei wird Seele als etwas Körperliches verstanden, aus feinstem Feuerstoff gebildet. Kleanthes entwickelt das Bild von der Einprägung zur Metapher vom Siegelring in Wachs weiter. Chrysipp faßt typosis dagegen als qualitative Umsetzung, eine heteroiosis (Veränderung, Verwandlung) in der Seele; genauer, wie spätere Stoiker korrigieren, eine Veränderung im Verstand (dianoia), d.h. im Leitenden (begemonikon); und zwar eine Veränderung »nach Art eines Erleidens« {to kata peisin) und nicht nach »Art einer Tätigkeit« (meto kata energeiari). »[...] in der Definition der Vorstellung werde auf jeden Fall mitgemeint, daß das Erleiden entweder durch eine äußere Anlegung oder durch Widerfahrnisse in uns geschieht, weil die Vorstellung entweder von den äußeren (Gegenständen) oder von den Widerfahrnissen in uns herrührt (was bei ihnen angemessener >leerer Reiz< heißt).« (Sextus Empiricus, Adv. dogrn. 1 = Adv. math. 7, 241) Die Stoa hat ihre Konzeption der Phantasia primär am Modell der visuellen Wahrnehmung ausgerichtet und zwei Arten von Phantasiai unterschieden: (a) die phantasia kataleptike (von katalepsis, Erfassung), d.h. die der Zustimmung (synkatathesis) bedürftige, den Gegenstand erfassende Sinnesvorstellung, (b) das phantasma psyche (die Vorstellung ohne zugrunde liegenden Gegenstand). Von der phantasia kataleptike wird folgende Definition gegeben: »Erfassend ist die (Vorstellung, die) von Existierendem (herrührt) und in Ubereinstimmung mit dem Existierenden selbst eingeknetet und eingedrückt ist, wie sie von Nichtexistierendem nicht ausgehen kann.« (Sextus Empiricus, Adv. dogm. 1 = Adv. math. 7, 248) Gegen das die Zustimmung einschließende Konzept der Katalepsis wandte der skeptische Akademiker Arkesilaos ein, daß »die Zustimmung nicht relativ zu einer Vorstellung entsteht, sondern relativ zur Sprache (denn die Zustimmungen sind Zustimmungen zu Aussagen), zweitens, weil man keine

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ZEICHEN wahre Vorstellung findet, die nicht falsch werden kann, wie sich aus vielen verschiedenartigen Gründen aufzeigen läßt« (Sextus Empiricus, Adv. dogm. 1 = Adv. math. 7, 154). Wie Cicero referiert, hat Arkesilaos Zenon gefragt, ob er seine Definition der kataleptischen Sinnesvorstellung auch aufrechterhalten wollte, »wenn die wahre Phantasia {visum) von der gleichen Art sei wie eine falsche«. An diesem Punkt habe Zenon scharfsinnig erkannt, »daß es überhaupt keine Erscheinung {visum) gebe, die erfaßt werden könne, wenn sie in dergleichen Weise von einem Gegenstand stamme der ist, wie sie auch von einem Gegenstand stammen könne, der nicht ist« (Cicero, Lucullus 77). Zur Verteidigung der kataleptischen Vorstellung wurde ein gegenüber Epikur reformuliertes Evidenzkriterium eingeführt. 1 Kataleptische Vorstellungen sollten sich von allen anderen Phantasiai dadurch unterscheiden, daß sie sich selbst und das sie Bewirkende anzeigten. Karneades konnte Evidenz als Kriterium nicht akzeptieren, weil »keine Vorstellung so wahr ist, daß sie nicht falsch werden kann, sondern sich für jede, die wahr zu sein scheint, eine finden läßt, die ununterscheidbar falsch ist« (Sextus Empiricus, Adv. dogm. 1 = Adv. math. 7, 164). Daher beruhe das stoische Evidenzkriterium letztlich »auf einer gemeinsamen Vorstellung von Wahrem und Falschem zusammen«: »[...] denn es gehen wie vom Existierenden auch vom Nichtexistierenden Vorstellungen aus. Und Anzeichen ihrer UnUnterscheidbarkeit ist, daß sich diese gleichermaßen als evident und eindrücklich zeigen, und Anzeichen dafür, daß sie gleichermaßen eindrücklich und evident sind, ist, daß sie sich mit anschließenden Handlungen verbinden.« (Sextus Empiricus, Adv. dogm. 1 = Adv. math. 7, 403) Dennoch gab Karneades das Evidenzkriterium nicht preis, sondern suchte es durch Einschränkungsbedingungen zu präzisieren. Die zusätzlichen Unterscheidungen der Stoiker im Hinblick auf Phantasiai, die Sextus Empiricus mitteilt, lassen vermuten, daß wenigstens einige Stoiker die Kritik des Arkesilaos beherzigt haben, wonach wir Vorstellungen dadurch zustimmen, »daß wir ihren entsprechenden lekta oder Aussagen zustimmen, welche die eigentlichen Gegenstände der Zustimmung sind«.2 Das zeigen nicht nur die ausgewählten Beispiele, sondern auch die an dieser Stelle gegebene Definition der wahren Sinnesvorstellung: »Wahr sind diejenigen, von denen man eine wahre Aussage machen kann, ζ. B. jetzt von >Es ist Tag< oder von >Es ist LichtDieses da ist ein Mensch.Mensch< wird sofort in Form der Prolepse auch sein Typos gedacht, sofern entsprechende Wahrnehmungen vorausgegangen sind. D a ß jedem Wort erstrangig Zugeordnete ist evident. Auch können wir ein Problem gar nicht untersuchen, wenn wir den Gegenstand des Problems nicht zuvor kennen-

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In der Ubersetzung von Georgios Manolidis zitiert: Die Rolle der Physiologie in der Philosophie

Epikurs, a.a.O., S. 91. 17

Anaxagoras' Spruch korrespondiert auch Epikurs Wendung von den Phänomenen, die man als

Zeichen ansehen muß (DL X, 97). 18

Fritz Jürß: Die epikureische Erkenntnistheorie,

Berlin 1991, S. 89.

1 7 . ZEICHEN UND PHANTASIA

gelernt hätten; ζ. B. um die Frage >Ist das da in der Ferne ein Pferd oder eine Kuh?< zu entscheiden, müssen wir früher die Gestalt eines Pferdes oder einer Kuh in Form der Prolepse kennengelernt haben. Und wir können auch nichts benennen, wenn wir seinen Typos nicht zuvor in Form einer Prolepse gelernt haben. Denn die Prolepsen sind evident.« (DL X, 33) Alles was Diogenes anführt, legt einen Gedanken nahe: Prolepsen sind nicht einfach gegeben, sondern sie werden gebildet. Sie durchlaufen auf sinnesphysiologischer Grundlage einen Bildungs-, Verarbeitungs-, Artikulations- und Speicherungsprozeß, bevor sie in aller Klarheit und Deutlichkeit verfügbar sind; dann können sie als das erstrangig Zugeordnete eines jeden Wortes abgerufen werden. Können auch Prolepsen aus einer Metabasis aus evidenten Wahrnehmungen hervorgehen? Mit anderen Worten: Gibt es Prolepsen, die infolge von Ähnlichkeit, Kombination oder Analogie zustande kommen? Dann müßten gleichsam abgeleitete Prolepsen zugelassen werden, aber widerspricht nicht bereits der Gedanke der Ableitung dem Konzept der Prolepse als eines Nichtabgeleiteten? Daran müßte die Frage angeschlossen werden: Gibt es von allen Entitäten Prolepsen, ζ. B. von Artefakten und anderen kulturellen Hervorbringungen, die ja erst von Menschen geschaffen werden? Die Epikureer kennen ja nicht nur Prolepsen, Vorbegriffe, sie kennen auch Begriffe (iepinoiai), die entweder aus dem direkten Wahrnehmungskontakt oder aus einer Metabasis hervorgehen. Es kann daher angenommen werden, daß Prolepsen einen Folgerungsprozeß durchlaufen, in dem gleichsam Prolepsen zweiter Ordnung entstehen. In welchem Verhältnis stehen Prolepsen zu den Eidola? Prolepsen entstehen infolge einer sensorischen Prototypenbildung auf der Grundlage des Eidolafluxus: die Prolepsen werden im Gedächtnis gespeichert und sind als Muster abrufbar, um Wahrnehmungsgegenstände identifizieren bzw. erkennen zu können. Prolepsen werden in sprachlichen Zeichen artikuliert und bilden als das »erstrangig Zugeordnete« deren Grundbedeutung, die in Semiosen zirkulieren, sich verzweigen und neue Sinnaspekte eröffnen. Als Vorbegriffe sind Prolepsen evident: doch ihr Verweisungspotential muß erst entfaltet und zur Deutlichkeit herausgearbeitet werden; so werden aus Vorbegriffen Begriffe. Komplementär zum Konzept der Prolepse haben die Epikureer den Begriff der Hypolepsis eingeführt. Der Terminus hat zwei Grundbedeutungen: (1) das Aufnehmen (insbesondere der Rede eines anderen), das sich in einer Entgegnung äußert, (2) die Annahme: »a) Mutmaßung, Meinung, Vermutung; b) ein aufgestellter Satz, Grundsatz, insbesondere (im Gegensatz zu Prolepsis) eine Annahme, die nicht auf direkter Wahrnehmung, sondern auf Folgerungen beruht, die aus Eindrücken abgeleitet sind; c) sp. der Argwohn«.19 Es wird bisweilen der Eindruck erweckt, als sei der Terminus Hypolepsis bei den Epikureern von vornherein pejorativ besetzt. Die epikureische Polemik gilt jedoch nur den falschen Hypolepseis. Wäre Hypolepsis von vorn-

19 Benselers Griechisch-Deutsches Wörterbuch, bearbeitet von Adolf Kaegi, Leipzig 1990, S. 815Das Verb hypolambano umfaßt das ganze Spektrum des Aufnehmens: auf den Rücken nehmen, gastliches oder feindliches Aufnehmen, (als Beschwerdepunkt) aufgreifen (um zu klagen); eine Rede, einen

Vorschlag aufnehmen und darauf entgegnen. Weitere Bedeutungen sind annehmen, wegnehmen und ergreifen.

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herein pejorativ besetzt, machte der Ausdruck »hypolepseis pseudes« überhaupt keinen Sinn. Tatsächlich hat die Hypolepsis in der epikureischen Epistemologie eine eminent wichtige Funktion. Während die Prolepsis das Produkt einer Prototypenbildung ist und allen Folgerungsprozessen vorangeht, ist die Hypolepsis das Produkt eines Folgerungsprozesses, in dem eine Hypothese aufgestellt wird. Hypolepsen nähern sich den Prolepsen an, wenn sie bezeugt und nicht gegenbezeugt sind. Vielfach täuschen wir uns aber, wenn wir ohne Prüfverfahren annehmen, wir hätten die Prolepsis einer Sache, dabei haben wir nur eine Hypolepsis. Das heißt aber nicht, daß sich alle Hypolepsen, sofern sie sich als wahr erweisen, zu Prolepsen klären; als wahre Meinungen haben sie einen proleptischen Kern, sind aber (sprachlich gebundene) Gedankenformen neben den Prolepseis. Zur Deutlichkeit herausgearbeitet, hören Prolepsen auf, Vorbegriffe zu sein und werden klare und deutliche Begriffe; diese sind nur insofern noch Prolepsen, als sie keine durch Invariantenbildung entstandene Abstraktionsklassen, sondern inhaltlich angereicherte, zu Verweisungsnetzen weiterentwickelte Prototypen bezeichnen. Selbstverständlich werden Prolepsen sprachlich artikuliert: sie sind also auch als sprachliche Bedeutungen verfügbar, selbst wenn Epikur den stoischen Begriff des Lektons abgelehnt hat. Prolepsen werden in sprachlichen Ausdrucksformen nicht nur artikuliert, sondern auch ausgeformt; sie werden erst in sprachlicher Form zur Deutlichkeit gebracht und in sprachgebundenen Logismoi weiterentwickelt.20 Von der Hypothesenbildung bei den Epikureern redet zumindest Diogenes Laertius explizit: »Die Doxa (Meinung, Urteil) bezeichnen sie auch als Hypolepsis (Annahme); diese sei wahr oder falsch; wahr, wenn sie bestätigt oder nicht widerlegt wird, falsch, wenn sie nicht bestätigt oder (wenn sie) widerlegt wird. Deshalb wurde der Begriff >Das Erwartende< (prosmenon) eingeführt.« (DL X, 334) 21 Die schlechte Reputation der Hypolepsis unter den Epikureern rührt von ihrer Uberzeugung her, die Hypolepseis der großen Masse seien allzu oft falsch. Heute werden die Epikureer auch als Begründer explanatorischer Hypothesen wertgeschätzt. In diesen Kontext gehört erstens das Konzept des Prosmenon als Aufschub von Gewißheit, was bei Epikur immer heißt, Aufschub von Falsifikation; die Berufung auf Nichtwiderlegung ist niemals endgültig. Dem entspricht zweitens die pluralistische Methode (pleonachos tropos), die in einzelwissenschaftlichen Fragen jeweils verschiedene Erklärungen zuläßt: unter der Minimalbedingung, mit den Phänomenen vereinbar zu sein. Der kühnste Vorstoß

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Daß die Epikureer sich ablehnend zum stoischen Lekton-Begriff verhielten, dürfte weniger damit zusammenhängen, daß sie ein zweigliedriges Modell der Zeichenrelation (Zeichen - Referenzobjekt) gehabt hätten (was der Sache nach nicht der Fall ist) als vielmehr damit, daß sie eine andere Auffassung vom Zeichen hatten. Während für die Stoiker das Zeichen erst als sprachlicher Ausdruck bzw. als Prämisse in einer Konditionalaussage einen Zeichenstatus hatte, hielten die Epikureer daran fest, daß bereits das Phänomen in seinen Verweisungsbezügen ein Zeichen ist. Die Epikureer versuchten dem Doppelcharakter des Zeichens Rechnung zu tragen, auf der einen Seite materielles Phänomen, auf der anderen Seite eine propositionale Prämisse zu sein. Das entspricht der Doppelnatur der Indizes: auf der einen Seite (überraschender) Einbruch des Realen, auf der anderen Seite — unter Einschluß einer ikonisch-deskriptiven Seite — informatives Zeichen zu sein. 21 Bei Aristoteles ist die Hypolepsis oft ein Synonym für Doxa.

17. ZEICHEN UND PHANTASIA

war jedoch drittens die Einführung einer Art von Praxiskriterium, das Epikur als »Kontaktpunkt des Handelns« bezeichnet hat: »Alle Urteile aber, die sich nicht auf Handlungen beziehen - ich spreche von den nichtempirischen Urteilen - , sondern zum theoretischen Teil (der Erkenntnis) gehören, werden auf die gleiche Weise (d. h. durch den Augenschein) des Irrtums überführt werden; außerdem führt das Schlußverfahren (selbst) beständig mit auf Fehlerhaftes, wenn nämlich entweder in diesen Urteilen etwas anderes Theoretisches behauptet wird, das nicht wahr ist, oder wenn sie (d. h. diejenigen, die Irriges behaupten) von irgendeinem entlegenen Ansatz her zu einem Kontaktpunkt der Handlung gelangen und eine ungeeignete Handlung auslösen. Wenn hingegen nichts von alledem der Fall ist, wird man leicht erkennen, daß die Urteile nicht falsch sind (Epikur, De natura XXYIII, fr. 16 Arrighetti = Griech. Atomisten, S. 265 f.).

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ANHANG

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