Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des >nouveau romancier< Claude Simon [Reprint 2011 ed.] 9783110913835, 9783484550223

Die vorliegende Untersuchung behandelt die von 1945/46 bis 1962 erschienenen Romane Claude Simons (* 1913). Ihr liegt ei

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German Pages 542 [544] Year 1995

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Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des >nouveau romancier< Claude Simon [Reprint 2011 ed.]
 9783110913835, 9783484550223

Table of contents :
Prolog: Chronos und Thanatos
1. Die Welt der Uhren
2. Zeit und Roman
3. Der Augenblick des Thanatos
Einleitung: Der Existentialismus des nouveau romancier
1. Ein fiktiver Dialog
2. Methodologische Vorüberlegung
TEIL I: EXISTENTIALISMUS
0. Der Ekel oder die unerträgliche Ausweglosigkeit des Seins
1. Le Tricheur: «La nausée jusqu’au bout»
1.1 Ein Panoptikum von Spielverderbern und Falschspielern
1.2 «Corriger le hasard ...»
1.3 «Die Metaphysik Faulkners»
1.4 «Un nouveau roman de l’absurde»: Der literaturhistorische Ort von Le Tricheur
1.5 Exkurs: Vom acte gratuit zum Absurdismus
1.6 Simons «Nausée»
1.7 Die beschädigte Männlichkeit: Tiefenpsychologische und psychoanalytische Motive
1.8 Ein existentialistischer Held
2. La Corde raide: Portrait eines Autors als Seiltänzer
2.1 Der Seiltänzer über dem Abgrund
2.2 Das Absurde
2.3 Exkurs: Drei Felsen des Sisyphos
2.4 Die Ubiquität des Todes
2.5 «Ça pense»
2.6 Chronos und Thanatos in einer fetischisierten Welt
2.7 Viva la muerte
2.8 Die Kraft der Freiheit
2.9 Das Aufheben des Ekels in der Ästhetik
2.10 Logorrhöe und Autobiographie – Vorstoß an die Grenzen des Romans
3. Gulliver: Die betrogen Befreiung
3.1 Gulliver: eine Metapher des Absurden
3.2 Ein zweites Panoptikum von Falschspielern und Spielverderbern
3.3 «Non cogitant ergo sunt»: Das Problem der Intersubjektivität
3.4 Zeit und Einsamkeit
3.5 Die Zeit der Richter ist vorüber: zum historischen Ort von Gulliver
4. Le Sacre du printemps: «The time is out of joint» oder der unmögliche Ödipus
4.1 Hamlet aus Pappmachée
4.2 Die Entmythologisierung des Zufalls
4.3 Die bedrohliche Verlockung des Weibes
4.4 «To be or not to be ...»: Der Fötus als Metapher unvollendeten Seins
4.5 «Corriger le hasard ...»: Die Initiation des Zynikers
4.6 «The time is out of joint ...»: Les Gommes (1953) und Le Sacre du printemps (1954)
Teil II: NOUVEAU ROMAN
0. Der nouveau roman – eine literaturhistorische Notwendigkeit?
0.1 Der roman de situation
0.2 Der roman de situation und die unergründliche Tiefe der Seele
0.3 Nach Mitternacht
0.4 Die Zeit der Dinge
1. Le Vent: Die Tage eines Idioten
1.1 Nur ein Idiot
1.2 Wenn ein Heizkörper mit einem Automobil
1.3 Das von der Kontingenz hintergangene Absurde
1.4 Die Zeit des Photographen
1.5 Ein barocker Altar
1.6 Der nouveau roman als Emblem
1.7 Der essayistische Kommentar als Ausdruck des Mißtrauens am Erzählen
2. L’Herbe: ein Roman vis-à-vis de rien
2.1 Pandora erstellt das Inventar
2.2 Vergebliche Kosmogonie oder das Kreisen um das Nichts
2.3 Die Zeit in L’Herbe
2.4 Was bleibt, ist die Erinnerung
2.5 Das Besondere im Besonderen: Zum emblematischen Aufbau von L’Herbe
2.6 Das Umschlagen eines «besonderen Seins»
2.7 Das Gras oder die Destruktion des Artefaktischen
2.8 «Personne ne fait l’histoire»
2.9 Der Mythos als Grenzwert des Erinnerns
2.10 «Plus rien»
3. La Route des Flandres: Das nicht eingelöste Versprechen der Erinnerung
3.1 Auf den Spuren des Erinnerns
3.2 Labyrinthische Konstrukte
3.3 Zwischenbemerkungen zum Mythos in La Route des Flandres
3.4 Die De(-kon-)struktion des Labyrinths: der «barocke» Gedächtnisraum als Antizipation differentiellen Verfallens
3.5 Die verzweifelte Geste des Hauptmanns und das Rätsel, das seiner Lösung harrt
3.6 Geschichte machen, heißt: verschwinden
3.7 (Grenz-) Situation und Déjà-vu
3.8 Das Ausbleiben des metaphysischen Grundes
3.9 Chronos und Thanatos
3.10 Der barocke Eros: Pornographie als Stilmittel
3.11 Die wiedergefundene Zeit in La Route des Flandres
4. Le Palace: Es war einmal die Revolution
4.1 Inventar
4.2 Quien ha muerto?
4.3 Die Klebrigkeit der Erinnerung
4.4 Für einen Augenblick
4.5 Nicht sterben wollen, heißt: den Tod suchen
4.6 Vergebliches Déjà-vu
4.7 Der Mörder als Opfer des Zeno: die Geschichte des «Homme-Fusil»
4.8 Und wenn sie nicht gestorben sind
4.9 Inter faeces et urinam nascimur
4.10 Die unsichere Wirklichkeit des Vergangenen
Epilog: Cinque Notes sur Claude Simon
1. Wie soll man auf Sartre antworten?
2. Der linguistic turn
3. Écriture I: ein Ausweg?
4. Écriture II: der Differenz verfallen
5. Tradition et révolution: Die permanente Revolution der Tradition
Bibliographie
1. Schriften von Claude Simon
1.1 Buchveröffentlichungen
1.2 Kurze Prosatexte
1.3 Theater
1.2 Interviews, Vorträge und kurze theoretische Schriften
2. Schriften von Jean-Paul Sartre
3. Zum Vergleich herangezogene Texte
4. Weiterführende Literatur
Register

Citation preview

mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les litteratures romanes depuis la Renaissance

Herausgegeben von / Dirigees par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel

22

Till R. Kuhnle

Chronos und Thanatos Zum Existentialismus des «nouveau romancier» Claude Simon

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kuhnle, TillR.: Chronos und Thanatos : zum Existentialismus des «nouveau romancier» Claude Simon / Till R. Kuhnle. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Mimesis ; 22) NE: GT ISBN 3-484-55022-8

ISSN 0178-7489

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck und Einband: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Chronos und Thanatos 1. Die Welt der Uhren 2. Zeit und Roman 3. Der Augenblick des Thanatos

1 1 18 29

Einleitung: Der Existentialismus des nouveau romancier 1. Ein fiktiver Dialog 2. Methodologische Vorüberlegung

35 44

TEIL I: EXISTENTIALISMUS

55

0.

Der Ekel oder die unerträgliche Ausweglosigkeit des Seins

57

1.

Le Tricheur: «La nausee jusqu'au bout»

75

1.1 1.2 1.3 1.4

Ein Panoptikum von Spielverderbern und Falschspielern «Corriger le hasard ...» «Die Metaphysik Faulkners» «Un nouveau roman de Γabsurde»: Der literaturhistorische Ort von Le Tricheur Exkurs: Vom acte gratuit zum Absurdismus Simons «Nausee» Die beschädigte Männlichkeit: Tiefenpsychologische und psychoanalytische Motive Ein existential istischer Held

77 83 88

1.5 1.6 1.7 1.8 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10

La Corde raide: Portrait eines Autors als Seiltänzer Der Seiltänzer über dem Abgrund Das Absurde Exkurs: Drei Felsen des Sisyphos Die Ubiquität des Todes «Ca pense» Chronos und Thanatos in einer fetischisierten Welt Viva la muerte Die Kraft der Freiheit Das Aufheben des Ekels in der Ästhetik Logorrhöe und Autobiographie — Vorstoß an die Grenzen des Romans

96 103 110 114 122 126 127 129 130 134 136 138 143 148 154 157

V

3. 3.1 3.2

3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Gulliver: Die betrogen Befreiung Gulliver: eine Metapher des Absurden Ein zweites Panoptikum von Falschspielern und Spielverderbern . . . 3.2.1 Die Ausnahme wird zur Regel (Gerard Faure) 3.2.2 «Je suis un monstre» 3.2.3 Ein Opfer und sein Richter «Non cogitant ergo sunt»: Das Problem der InterSubjektivität Zeit und Einsamkeit Die Zeit der Richter ist vorüber: zum historischen Ort von Gulliver .

162 163 167 167 170 176 180 185 192

Le Sacre du printemps: «The time is out of joint» oder der unmögliche Ödipus 198 Hamlet aus Pappmachee 199 Die Entmythologisierung des Zufalls 205 Die bedrohliche Verlockung des Weibes 210 «To be or not to be...»: Der Fötus als Metapher unvollendeten Seins . 215 «Corriger le hasard...»: Die Initiation des Zynikers 218 «The time is out of joint...»: Les Gommes (1953) und Le Sacre du printemps (1954) 227

Teil II: NOUVEAU ROMAN

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0. 0.1 0.2 0.3 0.4

Der nouveau roman - eine literaturhistorische Notwendigkeit? 235 Der roman de situation 235 Der roman de situation und die unergründliche Tiefe der Seele . . . . 238 Nach Mitternacht 244 Die Zeit der Dinge 252

1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Le Vent: Die Tage eines Idioten Nur ein Idiot Wenn ein Heizkörper mit einem Automobil Das von der Kontingenz hintergangene Absurde Die Zeit des Photographen Ein barocker Altar Der nouveau roman als Emblem Der essayistische Kommentar als Ausdruck des Mißtrauens am Erzählen

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L 'Herbe: ein Roman vis-ä-vis de rien Pandora erstellt das Inventar Vergebliche Kosmogonie oder das Kreisen um das Nichts Die Zeit in L 'Herbe Was bleibt, ist die Erinnerung

295 297 301 305 313

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 VI

259 261 268 270 275 280 287

2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10

Das Besondere im Besonderen: Zum emblematischen Aufbau von L 'Herbe 320 Das Umschlagen eines «besonderen Seins» 322 Das Gras oder die Destruktion des Artefaktischen 327 «Personne ne fait l'histoire» 330 Der Mythos als Grenzwert des Erinnems 337 «Plus rien» 343 2.10.1 Poetologische Aspekte in L'Herbe: «un bloc indivisible» . . . . 343 2.10.2 «vis-ä-vis de rien» 346 2.10.3 La Siparation 348 2.10.4 Cendre 351 La Route des Flandres: Das nicht eingelöste Versprechen Erinnerung Auf den Spuren des Erinnerns Labyrinthische Konstrukte Zwischenbemerkungen zum Mythos in La Route des Flandres Die De(-kon-)struktion des Labyrinths: der «barocke» Gedächtnisraum als Antizipation differentiellen Verfallens Die verzweifelte Geste des Hauptmanns und das Rätsel, das seiner Lösung harrt Geschichte machen, heißt: verschwinden (Grenz ) Situation und Dijä-vu Das Ausbleiben des metaphysischen Grundes Chronos und Thanatos Der barocke Eros: Pornographie als Stilmittel Die wiedergefundene Zeit in La Route des Flandres 3.11.1 Der chthonische Kult Georges' 3.11.2 Die Zeit nimmt ihre Arbeit wieder auf Le Palace: Es war einmal die Revolution Inventar i,Quien ha muerto? Die Klebrigkeit der Erinnerung Für einen Augenblick Nicht sterben wollen, heißt: den Tod suchen Vergebliches Dijä-vu Der Mörder als Opfer des Zeno: die Geschichte des «Homme-Fusil» Und wenn sie nicht gestorben sind Inter faeces et urinam nascimur Die unsichere Wirklichkeit des Vergangenen 4.10.1 Von der Notwendigkeit der Wiederholung 4.10.2 Ein Roman und ein Cini-Roman

der 353 356 365 368 376 383 387 392 399 404 410 413 413 415 419 421 424 426 428 431 437 441 449 455 458 458 461 VII

Epilog: Cinque Notes sur Claude Simon 1. Wie soll man auf Sartre antworten? 2. Der linguistic turn 3. Ecriture I: ein Ausweg? 4. Ecriture II: der Differenz verfallen 5. Tradition et revolution: Die permanente Revolution der Tradition . . .

467 467 478 480 483 489

Bibliographie 1. Schriften von Claude Simon 1.1 Buchveröffentlichungen 1.2 Kurze Prosatexte 1.3 Theater 1.2 Interviews, Vorträge und kurze theoretische Schriften 2. Schriften von Jean-Paul Sartre 3. Zum Vergleich herangezogene Texte 4. Weiterführende Literatur

493 493 493 493 494 494 497 498 500

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VI»

Siglen

Für die am häufigsten zitierten Werke verwenden wir folgende Siglen: CORDE

EN FFM GUL HERBE

MEW Ν PALACE ROUTE SACRE

sz TRI VENT

Claude Simon, La Corde raide, Paris: Sagittaire 1947 Jean-Paul Sartre, L'Etre et le niant - Essai d'ontologie phenomenologique, Paris: Gallimard (Coli. Tel) s.d. [Erstv. 1943] Claude Simon, «La Fiction mot ä mot», in: Jean Ricardou (ed.), Nouveau roman: hier et aujourd'hui II, Paris: U.G.E (10/18) 1972 Claude Simon, Gulliver, Paris: Calman-L6vy 1952 Claude Simon, L'Herbe, Paris: Minuit 1958 Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Berlin Jean-Paul Sartre, La Nausie, in: idem, (Euvres romanesques, Paris: Gallimard (Bibliotheque de la Pleiade) 1981 [Erstv. 1938] Claude Simon, Le Palace, Paris: Minuit 1962 Claude Simon, La Route des Flandres, Paris: Minuit 1960 Claude Simon, Le Sacre du printemps, Paris: Calman-Levy 1954 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer l61986 [Erstv. 1927] Claude Simon, Le Tricheur, Paris: Sagittaire 1945/46 Claude Simon, Le Vent, tentative de restitution d'un retable baroque, Paris: Minuit 1957

Weitere Siglen, die von Autorennahmen abgeleitet wurden, sind in der Bibliographie unterhalb des jeweiligen Eintrags zu finden.

IX

Vienne la nuit sonne l'heure Les jours s'en vont je demeure (Apollinaire, Le Pont Mirabeau)

Prolog: Chronos und Thanatos

1. Die Welt der Uhren Zeit ist teilbar. Die Zeit als teilbares Maß des Bewußtseins. Der bestimmende Faktor aller räumlichen Abläufe. Der Chronometer-Chronograph von CHRONOSWISS: mechanische Perfektion und Präzision. Ganggenauigkeit durch Zertifikat eines offiziellen Schweizer Institutes für amtliche Chronometerprüfung bestätigt. Einzeln numeriert. Schon heute begehrte Sammlerobjekte.1

Die Uhr als das wichtigste Instrument des Alltags, in dem Werbespruch der Firma Chronoswiss als Sammelobjekt gepriesen und zum Fetisch verklärt, zeichnet den Bezugsrahmen für die Wahrnehmung der Welt durch den Menschen. Der Blick auf die Uhr geschieht in der Erwartung, Gewißheit über die eigene Stellung in der Welt zu erlangen. Paul Claudel hat dies in seinem Art poetique deutlich gemacht: D'un moment ä Γ autre, un homme redresse la töte, renifle, 6coute, considfcre, reconnait sa position: il pense, il soupire, et, tirant sa montre de la poche log6e contre sa cöte, regarde l'heure. Oü suis-je? et, Quelle heure est-il? teile est de nous au monde la question iräpuisable... 2

Der Blick auf die Uhr knüpft an das säkularisierte Ritual der Alten an, die den Himmel nach Zeichen für den geeigneten Zeitpunkt einer Schlacht absuchten. Im neuzeitlichen Denken sind Raum und Zeit als die beiden identitätsstiftenden Momente sowohl von Subjekt als auch Objekt unentbehrlich. Dennoch verspürt der Mensch ein Unbehagen an der Zeit, der er sich selbst unterwirft. Die Wiederholung des Blicks auf die Uhr verrät die brüchige Natur der Antwort, die der Zeitmesser auf die «question inepuisable» für uns bereithält. Untrennbar mit der Frage nach der Zeit ist die nach unserem Verhältnis zum Tod verbunden. Karl Jaspers erkennt im Tod das Vollenden — oder sollte es besser heißen: das Vollstrecken? — des individuellen Ganzseins, das vom Zeitdasein in die Transzendenz verbannt wird: [...] im Zeitdasein kommen Abfall und Aufstieg nicht zur endgültigen Entscheidung, sondern lösen sich ab. Ich werde kein Ganzes, alle scheinbare Vollendung scheitert. Über die unaufhebbare Grenze transzendiere ich nur zur Möglichkeit der Befreiung dorthin, wo ich ganz bin.

1

2

Werbeslogan der Firma Chronoswiss (DER SPIEGEL, Nr. 5 0 , 1 9 9 1 ) . Paul Claudel, «Art po&ique», in: idem, (Euvres complies V, Paris: Gallimard 1953, p. 7-127. Diese Passage von Paul Claudel wird von Maurice Merleau-Ponty im Kontext einer phänomenologischen Untersuchung der Zeit zitiert (MERLEAU-PONTY 64a, 140).

1

Während mein Leben in Schuld und Ruin gebrochene Ganzheit bleibt, soll mein Tod die Gebrochenheit aufheben zum Unbekannten. (JASPERS 32III, 90)

Die Zeit versagt dem Menschen seine Eigentlichkeit diesseits der Grenzerfahrung des Todes. Die Erfahrung einer depravierenden Zeit liegt in der Erkenntnis begründet, daß die Welt das Individuum überdauert und sich in unserer an quantitativen Maßstäben ausgerichteten Zivilisation, wie Blumenberg es formuliert, die «Schere zwischen Weltzeit und Lebenszeit» zunehmend öffnet: «Immer weniger Zeit für immer mehr Wünsche» (BLUMENBERG 86, 73). 3 Der Nexus von Tod und Zeit bei Jaspers erhebt das Scheitern zur differentia specifica menschlichen Daseins. Jaspers' Auffassung vom menschlichen Dasein erklärt dieses nur für erträglich, wenn durch den Tod das Leben zu einem sinnfälligen Ganzen gerinnt. Eine Philosophie, die den Tod in den Vordergrund rückt, ist ihrerseits Indiz für eine beschädigte Lebenswirklichkeit, und es gilt die lapidare Feststellung von Werner Krauss: «Wo die Gedanken des wirklichen Lebens ein Bewußtsein erfüllen, kann der Tod überhaupt keinen Spielraum der Reflexion mehr erfinden.»4 Mehrfach ist darauf hingewiesen worden, daß die Rede vom Tod als Konstituens «eigentlicher» Existenz in konkreten historischen Situationen Konjunktur hat. An Hegel anknüpfend, erhebt Heidegger den Tod zum principium individuationis in einer Zeit, die, vom Massensterben gezeichnet, das Individuelle dem barbarischen Allgemeinen opfert: «Der Tod ist die eigenste Möglichkeit des Daseins. Das Sein zu ihr erschließt dem Dasein sein eigenstes Seinkönnen, darin es um das Sein des Daseins schlechthin geht» (sz 263). In anderen Worten: Nur mit Blick auf meinen Tod, der mein Leben als Dasein zu einer Identität synthetisiert, erfahre ich mich als Individuum. Sloterdijk unterzieht dieses Philosophem, das Heidegger das Sein zum Tode genannt hat, einer präzisen historischen Ortsbestimmung: Kein Gedanke ist so in seine Zeit eingebettet wie der des Seins zum Tode; er ist das philosophische Schlüsselwort im Zeitalter der imperialistischen und faschistischen Weltkriege. Heideggers Theorie fallt in die Atemwende zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die erste und zweite Modernisierung des Massentodes. Sie steht auf halbem Weg zwischen dem ersten Dreigestim der Destruktionsindustrie: Flandern, Tannenberg, Verdun und dem zweiten: Stalingrad, Auschwitz und Hiroshima. (SLOTERDIJK, 381)

Die Moderne verzeichnet eine nicht enden wollende «Todesfuge», in deren Instrumentierung sich fast unbemerkt eine Veränderung eingeschlichen hat.5 Die west-

3

4 s

2

Die Psychoanalytikerin Marie Bonaparte beschreibt in ihrer Studie Chronos, Eros et Thematos die Situation des Menschen, der in den Zeiteinheiten und der damit verbundenen Beschränkung sein Lebensende aufscheinen sieht: «[...] I'id6e de l'infini du temps, extirieur ä lui, l'Scrase; il se sent, dans cette immensit6, rdduit ä etre moins [...]» (BONAPARTE 52, 14sq.). Werner Krauss, «Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag»,in: Sinn und Form 1950, p. 65-126, hier: p. 102. Eine systematisch aufgearbeitete Übersicht Uber die philosophische Thanatologie der Moderne bietet das Buch Todesmetaphern von Thomas M. Macho (MACHO), dem wir wichtige Anregungen verdanken. An dieser Stelle sei auch auf das Buch Todesbilder in der modernen Gesellschaft von Werner Fuchs (FUCHS) hingewiesen. Eine neue Instrumentierung der Todesthematik aus semiologischer Sicht besorgt Jean Baudrillards L'Echange symbolique de la Mort, Paris: Gallimard 1976.

europäischen Nachkriegsgesellschaften haben mit den Medien das Töten in den Wohnstubenalltag hineingetragen und seltsamerweise den Tod, «die Macht der stärksten Nicht-Utopie» (BLOCH V, 1297), als Thema in den Hintergrund gerückt; die Vision von der Apokalypse, die v.a. im Faschismus zelebrierte Aufhebung des individuellen Todes im kollektiven Sterben, scheint somit ihre tröstende Wirkung verloren zu haben.6 Stattdessen beschäftigen uns andere Ängste, die nichtsdestoweniger einen gemeinsamen Nenner haben. Rainer Zoll hat in einem Aufsatz über die Krise der Zeiterfahrung das Leben selbst als den angststiftenden Faktor in der modernen Gesellschaft ausgemacht: «Die Angst vor dem Tod hat sich in eine Angst vor dem Leben oder die Angst vor der Konkurrenz als der Bewegungsform der bürgerlichen Gesellschaft verkehrt.»7 Die Angst vor der Konkurrenz ist gleichbedeutend mit der Angst davor, in einer von der Devise «time is money» regierten Gesellschaft den Anschluß zu verlieren. Daß das Ableben von Stars der music-hall wie Serge Gainsbourgh und Yves Montand für kurze Zeit in Frankreich thanatophile Wogen schlägt, und der französische Präsident F. Mitterrand am Vorabend eines erklärtermaßen «klinischen» Krieges8 die Bevölkerung vergeblich auf schicksalsträchtiges Pathos einzustimmen versucht, widerspricht dem nicht; vielmehr indizieren der mediale Rummel um das Ableben der Identifikationsfiguren aus dem showbiz und der nicht minder mediale — durchaus im etymologischen Sinne des Wortes — Heroismus so etwas wie das symbolische Aufarbeiten des in der Gesellschaft nicht bewältigten philosophischen Problems Tod, mit dem sich im Augenblick der Krise eine diffuse Sehnsucht nach «Eigentlichkeit» jenseits des C O D E 3615 verbindet.9 Mit der Angst vor der Konkurrenz und dem Nicht-Mithalten-Können in einer Welt der Velozität richtet sich der Blick zwar mehr auf die Zeit als auf den Tod; jedoch Chronos bleibt ohne Thanatos undenkbar.

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7 8

9

Sloterdijk stellt eine Querverbindung zwischen Kulturindustrie (SLOTERDUK, 383) und Todesindustrie her: Er verteidigt allerdings in Heidegger den Philosophen gegen seine Kritiker — v.a. gegen Theodor W. Adorno (ADORNO 64). Heidegger habe das «zerstreute Man» als den «Modus unseres Existierens» erkannt. Ob diese Behauptung so gelten kann, oder ob nicht eher das Sein zum Tode als philosophisches Präludium für den totalen Krieg betrachtet werden muß, weil die von Sloterdijk in Heideggers Argumentationslogik zu Recht dem «Man» zugeordnete Verherrlichung der Kriegsmaschinerie zusammen mit dem Hinweis auf den Mut zur Angst den Krieg in seiner ganzen Potentialität wegideologisiert, sei hier dahingestellt. Philippe Arifcs hat im zweiten Teil seiner groß angelegten Studie über den Tod für die romanischen Länder ab 1914 einen Wandel in der Haltung zum Tod konstatiert (ARI£S II, 269sq.). Rainer Zoll, «Krise der Zeiterfahrung», in: idem (ed.), Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (ed) 1988, p. 9-33, hier: p. 26. Unter diesem Gesichtspunkt wurde die deutsche Übersetzung von Claude Simons L'Acacia, Paris: Minuit 1989, wegen der «Intensität und sinnlichen Unmittelbarkeit» der literarischen Aufarbeitung des Krieges gerühmt: Andreas Isenschmied, «Bagdad, Proust, Simon und der Krieg» [Rezension v. Simon, Die Akazie], in: DIE ZEIT, 21.6.1991. Philippe Ariös geht den Wurzeln des ambivalenten Verhältnisses gerade der französischen Gesellschaft nach, in welcher der Totenkult ein entscheidendes Moment nationaler Identität darstellt (ARIES II, 256sq.). Auf welche Weise der Verlust individueller Identitätsfindung durch die mediengestützte Schaffung von kulturellen und nationalen Projektionsräumen in der modernen französischen Gesellschaft kompensiert wird, zeigen gerade die Dokumentationen zum Tod von Stars, die zu Identifikationsfiguren ganzer Generationen erklärt werden.

3

Das schicksalhafte bzw. -erzeugende Wirken der Zeit, die Hegel — ohne den Zusammenhang von Selbst- und Zeitbewußtsein herzustellen10 — als abstrakte, ideale Projektion, als «Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist» 11 (HEGEL IX, 48), definiert hat, ist vor dem Horizont der Erfahrung einer erniedrigten Subjektivität zu sehen. Davon zeugt das Denken des jungen Lukäcs, der 1916 für den Roman, die «bürgerliche Epopöe», eine nicht unwidersprüchliche Bestimmung der Zeit vorgenommen hat: Die größte Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit ist die Zeit: der Ablauf der Zeit als Dauer. Das tiefste und erniedrigendste Sich-nicht-bewähren-Können der Subjektivität besteht weniger in dem vergeblichen Kampf gegen ideenlose Gebilde und deren menschliche Vertreter, als darin, daß sie dem träg-stetigen Ablauf nicht standhalten kann, daß sie von mühsam errungenen Gipfeln langsam aber unaufhaltsam herabgleiten muß, daß dieses unfaßbar, unsichtbarbewegliche Wesen ihr allen Besitz allmählich entwindet und ihr — unbemerkt — fremde Inhalte aufzwingt. Darum ist es, daß nur die Form der transzendentalen Heimatlosigkeit der Idee, der Roman, die wirkliche Zeit, Bergsons «dur6e», in die Reihe seiner konstitutiven Prinzipien aufnimmt. ( L U K Ä C S 1 6 , 1 0 7 )

Bei Lukäcs heißt es weiter, daß sich im Roman Sinn und Leben und damit das Wesenhafte und Zeitliche trennen, und man fast sagen könnte, «die ganze innere Handlung des Romans ist nichts als ein Kampf gegen die Macht der Zeit» (LUKÄCS 16, 109).12 Ein Sieg über diesen Gegensatz von Sinn und Leben, ein definitives Wiederherstellen der Lebensimmanenz des Sinns, bleibt jedoch verwehrt. Der Widerspruch in Lukäcs' Bestimmung der Zeit im Roman ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit von depravierender Zeit und Bergsons duree. Dieser ist nur dahingehend zu lösen, daß die durie als utopische Zielprojektion zu fassen ist. Unbeantwortet bleibt dabei allerdings die Frage nach einer möglichen Nahtstelle, an der sich die «wirkliche» von der depravierenden Zeit absetzt. An dem Hiat von Sinn und Leben eröffnet sich bei Bergson der Subjektivität die durie als die Totalität der Zeiterlebnisse, die sowohl der Zeit so etwas wie Substanz13 verleihen als auch der Macht einer verräumlicht gefaßten Zeit entgegentreten: La durie toute pure est la forme que prend la succession de nos 6tats de conscience quand notre moi se laisse vivre, quand il s'abstient d'ötablir une s6paration entre P6tat präsent et les Stats antdrieurs. (BERGSON 1889, 74sq.)

Bergson bestreitet Kants strikte Scheidung der Kategorien Raum und Zeit. Der französische Dichter-Philosoph macht bei Kant einen fundamentalen Widerspruch aus: Die Annahme einer homogenen, vom Raum geschiedenen Zeit liefe — so das

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12 13

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Manfred Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseinstheorie von Kant bis Sartre, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, p. 477. Das ontologische Mißverstehen der Zeit hat Emmanuel L6vinas hervorgehoben ( L £ V I N A S 9 2 , 7sq.). Cf. Walter Benjamin, «Der Erzähler», in: idem, Über Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Bibliothek) 1 9 6 9 , p. 3 3 - 6 1 , hier: p. 50sq. Gilles Deleuze beschreibt Bergsons durie als «un devenir qui dure, d'un changement qui est la substance m&ne» {Le Bergsonisme, Paris: P.U.F. 4 1 9 9 1 , p. 2 9 ) .

von Bergson aufgezeigte Paradox — dieser Scheidung zuwider; die Auffassung, daß die Zeit mathematisch erfaßt werden könne, bedeute, so Bergsons wichtigster Einwand gegen Kant, sie als eine mit dem Raum gleichgesetzte Größe zu bestimmen. Bergsons Irrationalismus dagegen geht davon aus, daß sich die duree, die er dieser Auffassung von einer «ver räumlich ten» Zeit entgegenhält, einer mathematischnaturwissenschaftlichen Annäherung entzieht (BERGSON 1889, 174sq.). Indem sich die (subjektive) durie als eine rational nicht erfaßbare Größe erweist, wendet sie sich von einer der ökonomischen Verwertung anheimfallenden (objektiven) Zeit ab und entwickelt ein utopisches Moment. Lukäcs greift diesen utopischen Zug der Bergsonschen duree auf und faßt den für den Roman konstitutiven Erfahrungshorizont als eine Zusammenschau von «Zeiterlebnisse[n], die zugleich Überwindungen der Zeit sind: ein Zusammensehen des Lebens als geronnene Einheit und sein zusammensehendes Erfassen » (LUKÄCS 16, 110). Mit dem Ausbleiben der diese Totalität realisierenden Erlebnisse tritt nach Lukäcs der Desillusionsroman in Erscheinung (LUKÄCS 16, 110). Was Lukäcs mit seiner einseitigen Ausrichtung auf das 19. Jahrhundert noch verborgen bleibt, sind die im modernen Roman problematisch gewordenen Kategorien der Subjektivität und Individualität, wodurch sich im Roman ein von der Selbstreflexion der Gattung begleiteter Wandel vollziehen wird.14 Deutlicher als der junge Lukäcs hebt Walter Benjamin das utopische Moment in Bergsons Konzeption der duree — und auch ihr drohendes Umschlagen ins Ideologische — hervor: «Es ist, wenn man Bergson glauben will, die Vergegenwärtigung der duree, die dem Menschen die Obsession der Zeit von der Seele nimmt» (BENJAMIN 74, 133). Die Subjektivität setzt der objektiven Zeit ihre eigene, subjektive Zeitlichkeit entgegen. Der Grund für das Verzagen an der Zeit ist die dichotomische Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen, die dann an den Tag tritt, wenn das Individuum seinen eigenen Lebensentwurf in die Welt mit der ihr eigenen Zeitlichkeit hineinträgt, die qua Konvention «vulgarisiert» wird. Die Obsession der Zeit gründet in der aus ihr erwachsenden Bedrohung der Identität des Ichs.15 Die Phänomenologie, die uns hier in ihrer französischen Variante interessiert,16 hat die Zeit als die Beziehung zwischen der Subjektivität und den

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Cf. Gerhart v. Graevenitz, Die Setzung des Subjekts. Untersuchungen zur Romantheorie, Tübingen: Niemeyer (Studien zur deutschen Literatur) 1972. Umberto Eco hat auf die Verbindung von subjektiver Zeit-Philosophie und der Frage nach dem «Ich» hingewiesen: «Tutte le filosofie della temporalis soggetiva, da Agostino a Bergson, legano strettamente il problema della permanenza dell'io ai problema della durata temporale» («Tempo, identitä e rappresentazione», in: Lucia Corrain (ed.), Le figure del tempo, Mailand: Mondadori s.d., p. 8. Als Standardwerk kann hier das Buch von Bernhard Waidenfels über die Phänomenologie in Frankreich (WALDENFELS), angesehen werden. Wesentlich weniger umfassend ist die Studie von Edo Pivcevic, Von Husserl zu Sartre. Auf den Spuren der Phänomenologie, München: List 1972. Die wenig exhaustive Einführung in die Phänomenologie von Fransois Lyotard verweist im Nachhinein auf eine Traditionslinie, in welcher der französische Postmodernismus steht (LYOTARD 86). Zu den interessantesten Beiträgen der Geschichte der Husserlrezeption gehört der Aufsatz Jacques Derridas über Emmanuel Livinas, «Violence et m6taphysique, Essai sur la pens6e d'Emmanuel Livinas» (DERRIDA 67a, 117-228).

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Dingen hervorgehoben. Im Kern weisen Husserls französische Schüler der ersten Stunde über ihren Lehrer hinaus, indem sie die phänomenologische Methode in Richtung eines Empirischen treiben, das sich dem in Weltgewißheit gründenden szientistischen Zugriff zu entwinden scheint, und Husserls Motto «Zur Sache selbst» zu ihrem Credo erheben.17 In seiner kleinen Schrift Une Idee fondamentale de Husserl hat Sartre die Formel ausgegeben, Husserls Intentionalität sei eine Befreiung von Proust und der «vie interieure» (SARTRE 39a, 42). Sartre wählt das Bild vom Hinausplatzen in die Welt und dem Sich-Losreißen aus einer trügerischen Geborgenheit — «s'arracher ä la moite intimite gastrique» —, um die Exteriorität, jenes «dehors, dans le monde» (SARTRE 39a, 39), in dem wir uns entdecken würden, plastisch darzustellen. Dies ist, vereinfachend gesprochen, die Position der französischen Phänomenologie in den 40er Jahren, aus der heraus Sartre seine Theorie des Engagements entwickelt hat.18 Die Grundannahme der phänomenologischen Methode, auf der u.a. Sartres Konzeption von Freiheit und Engagement gründet, geht aus einer Bemerkung in Heideggers Sein und Zeit hervor: «Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit» (sz 38). In seiner umfangreichen Untersuchung zur Phänomenologie der Wahrnehmung hat Merleau-Ponty neben Husserls Werk zum «inneren Zeitbewußtsein»19 auch Heideggers Sein und Zeit aufgearbeitet und den philosophischen Dialog mit Sartre aufgenommen. Merleau-Pontys Feststellung, die Zeit entspringe dem Bezug des «Ichs» zu den Dingen, resümiert die bereits angesprochene Problematik: «Le temps n'est done pas un processus reel, une succession effective que je me bornerais ä enregistrer. II nait de mon rapport avec les choses» (MERLEAU-PONTY 45, 471). Manfred Sommer faßt in einer unlängst erschienenen Studie, in der übrigens Merleau-Ponty unberücksichtigt bleibt, zusammen, was die phänomenologische Analyse von Zeit und Bewußtsein bei Husserl ergeben hat: Das Bewußtsein ist wesentlich Zeitbewußtsein; nicht allein Bewußtsein von Zeit, von äußerer, objektiver, mit Uhren meßbarer Zeit; sondern es hat zuvor schon selbst eine zeitliche Struktur. Und alles, was im Bewußtsein vorkommt, bewegt sich in der Zeit und ist dadurch in sich selbst

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Cf. Emmanuel Mounier, Malraux-Camus-Sartre-Bernanos. L'espoirdesdisespiris, Paris: Seuil (Coli. Points) s.d. [Erstv. 1953], p. 124; Emmanuel Livinas, «La Ruine de la representation», in: idem, En decouvrant ['existence avec Husserl et Heidegger, Paris: Vrin Ί973, p. 125-135, hier: p. 126sq. Es ist nach unserem Dafürhalten v.a. einer der von Theodor W. Adorno hevorgehobenen Antinomien des Husserlschen Ansatzes, der seine Rezeption in Frankreich begünstigte: «Durchweg will Husserl mit vernunftkritischen Mitteln bloß «gemachte» Begriffe, die ihre verdecken, zerschlagen, abbauen, Wirkliches unabhängig von der überwuchernden terminologischen Apparatur, enthüllen» (Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien zu Husserl und die phänomenologische Antinomien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (stw) 1990, p. 195). Daß die Phänomenologie bei Jean-Paul Sartre nach einer soziologischen Konkretisierung strebt, zeigen auch seine Ausführungen zur Psychologie, die der phänomenologischen Begründung bedürfe (Esquisse d'une theorie des imotions, Paris: Hermann 1963 [Erstv. 1939], p. 17). In diesem Kontext sei auch auf Theunissens Untersuchungen zur «Sozialontologie» hingewiesen (THEUNISSEN 7 7 ) .

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Edmund Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. 1893-1917 (=Husserliana: Gesammelte Werke X) [Herman L. van Breda, ed.], Den Haag: Nijhoff 1966.

zeitlich. Die formale Struktur dieser Erlebniszeit gliedert sich in Retention und Protention. (SOMMER 90)

Retention bezeichnet den Nachhall von Empfindungen («Abschattungen») durch die Schicht nachfolgender Empfindungen hindurch, die bei abnehmender Intensität die Bewußtseinsakte begleiten. Retentionen sind aber zu unterscheiden von dem bewußten «Wiedererinnern», dem Rückgriff auf vergangene Akte des wahrnehmenden Bewußtseins. Umgekehrt richtet sich das Bewußtsein fiktional antizipierend auf die Möglichkeiten des Fortführens von soeben Gewesenem; die Phänomenologie nennt dies Prätentionen (cf. MERLEAU-PONTY 45 , 476sq.; SOMMER 90, 157sq.). 20 Allgemein unterscheidet der Sprachgebrauch zwischen drei Zeitstufen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sind die Retentionen und Prätentionen eindeutig den Zeitstufen Vergangenheit und Zukunft zuzuweisen, so bleibt nichtsdestoweniger das Problem der Bestimmung von Zeit ungelöst, denn Protentionen und Retentionen bezeichnen nicht die jeweiligen, ihnen zugeordneten Zeitstufen, sondern die Beziehung des Bewußtseins zu diesen und zu seiner (Um- bzw. Lebens-) Welt.21 Begreift man die drei Zeitstufen als die Konstituenten der Zeit, so tritt die Problematik von Hegels — abstrakter — Bestimmung der Zeit als das «Sein, das, in dem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist» an den Tag. 22 In jeder Zeitstufe müßte demzufolge zu einem gegebenen Moment dieses Paradox auftreten. Hegel umgeht das Paradox, indem er einer dieser Dimensionen, nämlich dem Jetzt, «ein ungeheures Recht» (HEGEL IX, 50) einräumt. Aus dem Primat des Jetzt folgert Hegel: Im positiven Sinne der Zeit kann man daher sagen: nur die Gegenwart ist, das Vor und Nach ist nicht; aber die konkrete Gegenwart ist das Resultat der Vergangenheit und ist trächtig von Zukunft. Die wahre Gegenwart ist somit Ewigkeit. (HEGEL IX, 55)

Hegels Charakteristik ist zu entnehmen, daß — ungeachtet ihrer Abstraktheit — die Zeit zum «Sein» hinstrebt, das von zwei der drei Zeit-Dimensionen untergraben

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Sommer hat auf eine Besonderheit des Blicks auf die Uhr in seinem Exkurs «Die Zeit am Schlawittel gehalten?» (SOMMER 90, 167-170) aufmerksam gemacht: «Auf den Gang der wahrnehmbar bewegten Zeiger einer beliebigen Uhr zu sehen, verschafft insofern eine Zeitauffassung, als durch das Instrument der Zeitmessung selbst und ausschließlich die Konstitution des Zeitbewußtseins erlebbar gemacht wird. Der Rückgang von der Messung auf die Vorstellung wechselt nicht das ihrer Herkunft oder Konstruktion, erfordert also umgekehrt nicht, den Übergang vom qui s6pare les deux nunc en question, le vase cesse d'exister dans un hic et nunc, sans pour autant cesser d'etre non seulement «quelque chose>, mais encore un vase et m€me ce vase» (Le Concept, le temps et le discours. Introduction au systZme du savoir [Bernard Hesbois, ed. & intr.], Paris: Gallimard (Bibliothfcque de philosophie) 1990, p. 154sq.).

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wird. Hegels Verabsolutieren des Jetzt hat den Widerspruch Heideggers auf den Plan gerufen. In seiner Analyse des Daseins unterscheidet Heidegger zwischen der dem «vulgären Verständnis zugänglichen » (sz 329), der er den Zeitbegriff Hegels zuweist, und der «Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge» (sz 323). Das «existential-ontologische Phänomen» der Sorge, das «Sich-vorweg-sein-imschon-sein-in... — als Sein bei...» (sz 196), als das Heidegger das Sein des menschlichen Daseins charakterisiert hat, verweist auf die drei Zeitdimensionen. Jede der drei Dimensionen weise schon über sich hinaus, sei eine «Ekstase», d.h., sie ist nicht als eine in sich geschlossene Zeitmonade innerhalb einer linearen Reihe von /efzf-Punkten zu verstehen. Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des «Auf-sich-zu», des «Zunick auf», des «Begegnenlassens von». [...] Zeitlichkeit ist das ursprüngliche «Außer-sich» an und für sich selbst. Wir nennen daher die charakterisierten Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart die Ekstasen der Zeitlichkeit. Sie ist nicht vordem ein Seiendes, das erst aus sich heraustritt, sondern ihr Wesen ist Zeitigung in der Einheit der Ekstasen, (sz 329)"

Ein weiterer Schritt in Sein und Zeit ist die existenzial-ontologische Analyse des «Besorgens von Zeit». Mit dem Ausdruck «Besorgen» meint Heidegger den bestimmungsgemäßen Gebrauch der Dinge, deren Sein darin begründet sei, daß sie zu etwas dienlich seien. Claudels Blick auf die Uhr macht die existenzialontologische Annäherung an die Zeit, wie sie bei Heidegger gemeint ist, sinnfällig, denn «das auf die Uhr sehende Sichrichten nach der Zeit ist wesenhaft ein Jetzt-sagen» (sz 416).24 Das Besorgen von Zeit — frei zusammengefaßt: das Handeln mit Zeit — heißt bei Heidegger, daß das ausgesprochene Jetzt «von jedem gesagt in der Öffentlichkeit des Miteinander-in-der-Welt-seins», die «ausgelegte, ausgesprochene Zeit» also, «veröffentlicht» sei (sz 411). Für Heidegger bedeutet dies, daß die Zeit hier in Beziehung zu einer zu verrichtenden Tätigkeit steht. Mit dem Jetzt-Sagen orientieren wir uns in der Welt, werden in ihr heimisch. Sich nach der Zeit zu richten, sei so selbstverständlich, «daß wir es gar nicht beachten und noch weniger ausdrücklich darum wissen, daß hierbei Jetzi je schon in seinem vollen strukturalen Bestände der Datierbarke it, Gespanntheit, Öffentlichkeit und Weltlichkeit verstanden und ausgelegt ist» (sz 416). Heidegger zeigt aus der Sicht des Ontologen, wie sich der Wandel von der Beobachtung des Rhythmus von Tag und Nacht über das Erfassen des Sonnenstandes bis hin zum Einsatz komplexer Zeitmeßgeräte entwickelt hat. Die ersten Formen der Zeiterfahrung im Einklang mit der Natur geben das Jetzt als ein «Zeit zu...» — etwa mit dem Beginn des Tages — zu erkennen. Der Bezug zur menschlichen Tätigkeit ist evident. Dies gilt nicht minder für die Ausrichtung nach dem Sonnenstand. Gemein ist diesen Formen der Zeiterfahrung, daß die Zeitindikatoren für die ganze Kollektivität augenfällig präsent sind. Noch in den ersten Uhren — z.B. Kirchturmuhren — war dieser Bezug zu einem in gesellschaftliche Praxis eingebun-

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C f . MERLEAU-PONTY 4 5 , 4 7 9 s q .

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Cf. Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit [Hartmut Tietjen, ed.], Tübingen: Niemeyer 1989 (Vortrag von 1924).

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denen Tagwerk gegeben. Darin liegt auch die Notwendigkeit einer veröffentlichten Zeit begründet. Die fortschreitende Naturentdeckung gebe, so Heidegger, die Anweisung zur Entwicklung neuer Möglichkeiten der Zeitmessung. Für Heidegger ist somit auch ungeachtet der Abstraktion für die Uhrzeit noch gewährleistet, was er die «besorgte Zeit» nennt. Wenn mit der Entschlossenheit von Welt Zeit veröffentlicht und mit der zur Erschlossenheit von Welt gehörigen Entdecktheit des innerweltlichen Seienden immer auch schon besorgt ist, sofern das Dasein mit sich rechnend Zeit berechnet, dann Hegt das Verhalten, in dem «man» sich ausdrücklich nach der Zeit richtet, im Uhrgebrauch, (sz 420)

Heidegger unterscheidet eigentliche und uneigentliche Existenz in ihrem Verfügen über die Zeit. Der uneigentlich Existierende verliere immer seine Zeit, während die eigentliche Existenz immer Zeit habe bzw. sich Zeit nehme (sz 419). Das «vulgäre Zeitverständnis», versteht die Zeit als ein Fließen, «als eine Folge von ständig , zugleich vergehenden und ankommenden Jetzt» (sz 422). Die aufeinanderfolgenden Jetzt unterscheiden sich von denen der besorgten Zeitlichkeit darin, daß sie nicht in der ekstatischen Erstreckung erfaßt werden. Zu dieser Verschiebung komme es, weil der alltäglichen Zeitauslegung mit ihrem begrenzten Horizont die Strukturen der besorgten Zeit entgehen. Die gemessenen und gezählten Zeiteinheiten sind ebenso «da» wie jedes Seiende: «Die Jetzt sind daher auch in gewisser Weise mitvorhanden: das heißt, das Seiende begegnet und auch das Jetzt» (sz 423). Die vulgäre Auslegung nun sei eine Zeit, «in der» Seiendes vorkomme (sz 405), welches von ihr nivelliert werde (sz 425). Das Umschlagen des Zeitverständnisses kündigt sich in dem Gebrauch tragbarer Uhren an: Je weniger das zeitbesorgende Dasein Zeit zu verlieren hat, um so «kostbarer» wird sie, um so handlicher muß die Uhr sein. Nicht allein soll die Zeit «genauer» angegeben werden können, sondern das Mitbestimmen selbst soll möglichst wenig Zeit in Anspruch nehmen und doch zugleich mit den Zeitangaben der Anderen Ubereinstimmen (SZ 418).

Mit der tragbaren Uhr ist das völlige Loslösen der Zeitmessung von einem zu besorgenden Tagwerk zur evidenten Möglichkeit (nicht aber Notwendigkeit!) geworden.25 Was Heidegger als das «vulgäre Zeitverständnis» bezeichnet, gründet nicht in einer α priori abwertenden Intention; Heidegger will deutlich machen, «daß und wie der Zeitbegriff und das vulgäre Zeitverständnis aus der Zeitlichkeit entspringen» (sz 18).26 Welchen Sinn das Hineinziehen des Seienden in die (vulgäre) Zeit hat, erschließt erst die herrschende Auffassung von Zeit, die sich, so die Hypothese für die folgenden Ausführungen, mit dem «vulgären» Verständnis akkommodiert. Die Kernaussage der Heideggerschen Zeitanalyse, nämlich daß das Sein selber Zeit ist, und der damit verbundene metaphysische Fragehorizont wurden an

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Paul Ricceur hat diesen Wandel zusammengefaßt: «Tant que l'heure et l'horloge sont encore aperfues comme des d£rivations du jour qui articulent le souci sur la luraifere du monde, le dire maintenant garde sa signification existentiale; mais lorsque les machines ä mesurer le temps s'affranchissent de cette r6f6rence primaire ä la mesure naturelle, le dire maintenant se rend enticement tributaire de la reprdsentation abstraite du temps» (RICCEUR 80, 347). In diesem Kontext cf. sz 427.

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dieser Stelle ausgeblendet. Das Fokussieren auf das «vulgäre» Zeitverständnis erlaubt, die Heideggersche Zeitanalyse für eine Ideologiekritik zu instrumentalisieren, denn diese Annäherung an die Zeit ist untrennbar mit der Entfremdung verbunden. Dieser Nexus von Zeitverständnis und Entfremdungserfahrung wird in Levinas' Interpretation von Emst Blochs utopischem Prinzip Hoffnung deutlich, die in der von Heidegger abweichenden Feststellung gipfelt: «Le temps est pure esperance». Levinas gibt für diese Feststellung folgende Begründung: Le temps n'est alors ni projection de l'£tre vers sa fin, comme chez Heidegger, ni image mobile de l'6ternit6 immobile, comme chez Piaton. II est temps d'accomplissement, ddtermi nation complete qui est actualisation de toute puissance, de toute obscuritd du factuel oü se teint la subjectivit6 de l'homme ali6n6 dans son effectuation technique. II est actualisation de l'inachev6. (LEVINAS 9 2 , 1 1 0 )

Die Verbindung von ontologischer Interpretation einer Zeitauffassung und deren sozialem Ort erlaubt die Philosophie Jean-Paul Sartres.27 Ausgangspunkt für die Zeitanalyse bei Sartre ist seine aus der phänomenologischen Analyse der Bewußtseinsstrukturen hervorgegangene Unterscheidung zwischen den beiden Seinsformen Pour-soi und en-soi. Die Seinsform des en-soi meint Objekte für ein (fremdes) Bewußtsein, Objekte, die selbst ohne Bewußtsein sind. Das Pour-soi dagegen bezeichnet ein Sein, das sich selbst wahrnehmen kann, ohne aber en-soi zu sein, das per definitionem kein Bewußtsein hat. Mit dem Pour-soi gelangt das Nichts in unsere Vorstellung von der Welt («neantisation»). Sartre stellt nun für die Zeit fest, daß sie keinesfalls ohne weiteres dem zeitlosen en-soi zuzuordnen, mit dem Pour-soi aber auch nicht identisch sei, da sie diesem immer schon vorauslaufe. Die Seinsart des Pour-soi ist die des Zu-sein-Habens: «avoir ä etre». Mit seinem Konstrukt des Pour-soi als eines «avoir ä etre» befreit sich Sartre aus Hegels aporetischer Zeitbestimmung, indem er das ontologische Zeitverständnis (hier: «temporalit6») als den Bezug des Zu-sein-Habenden zum Sein definiert. Sartres Besetzung des bei Hegel entlehnten Begriffs Pour-soi gründet in einer ontologischen Heimatlosigkeit, für die Sartre die Metapher der diaspora wählt:28 Ainsi la Temporalis n'est pas un temps universel contenant tous les etres et en particulier les r6alit6s humaines. Elle n'est pas nonplus une loi de d6veloppement qui s'imposerait du dehors ä Γ etre. Elle n'est pas non plus l'£tre mais eile est l'intra-structure de l'&re qui est sa propre

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Emmanuel Livinas hat die Problematik, auf der Sartres Analyse letztlich gründet, treffend zusammengefaßt: «L'analyse du temps 6conomique, extdrieur au sujet, n'escamote-t-elle pas la structure essentielle du temps par laquelle le pr6sent n'est pas seulement indemnisd mais ressuscitö? L'avenir n'est-il pas avant tout une r£surrection du präsent?» (De iexistence ά l'existant, Paris: Fontaine 1947, p. 157). Bernhard Taureck hat die Suche nach einem authentischen Zeitverständnis als eines der herausragenden Merkmale der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts hervorgehoben: Französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Analysen, Texte, Kommentare, Hamburg: Rowohlt (rde) 1988, p. 104. «C'est ce mot qui nous servira pour ddsigner le mode d'etre du Pour-soi: il est diasporique. L'6tre-en- soi n'a qu'une dimension d'etre, mais l'apparition du n6ant comme ce qui est ete au cceur de Γ etre complique la structure existentielle en faisant apparaitre le mirage ontologique du Soi» (EN 176). Cf. dazu die erläuternden Ausführungen von Michael Theunissen (THEUNISSEN 91, 132sq.).

ndantisation, c'est-ä-dire le mode d'itre propre ä l'Stre-pour-soi. Le Pour-soi est l'etre qui a k etre son etre sous la forme diasporique de la Temporaliti. (EN 181sq.)

Von dem ontologischen Zeitverständnis Sartres aus — die Argumentation ä rebours sei verziehen — wird die von ihm unternommene «phenomenologie des trois dimensions temporelles» (cf.EN 145-168) verständlich. Mit dem Pour-soi tritt das Nichts in die Welt. Das Pour-soi ist seine eigene Nichtung, da es, von dem Seinstyp des en-soi, das es — nichtend — überzieht, getrennt ist: «[...] l'homme est toujours separe de ce qu'il est par toute la largeur de l'etre qu'il n'est pas» (EN 52). Die Zeit manifestiert sich in dem Immer-Davonlaufen-und-doch-nicht-einholen-Können des Pour-soi (THEUNISSEN 9 1 , 133sq.), woraus sich die drei Zeitdimensionen erklären: Die Vergangenheit besitzt ontologisch den Status des en-soi — «le passe c'est ce que je suis sans pouvoir le vivre» (EN 157). In der Gegenwart tritt die Aporie des Pour-soi auf, da ein Bestimmen der Gegenwart auch eine Selbstbestimmung des gegenwärtigen Pour-soi voraussetzen würde — «le present n'est pas, il se presentifie sous forme de fuite» (EN 162). Die Zukunft zeichnet sich als das Sein ab, nach dem das Pour-soi strebt, das per definitionem aber kein Sein (en-soi) sein kann — «Seul un etre qui a ä etre son etre au lieu simplement de l'etre peut avoir un avenir» (EN 166). Die Zukunft ist untrennbar mit dem Seinstyp des Pour-soi verknüpft: es ist ein Zu-Sein-Haben. Theunissen spricht von der «vierfachen Binnendimension der Zukunft» bei Sartre: «Die in YEtre et le neant thematische Zukunft fächert sich auf in (1) zukünftige Gegenwart, (2) gegenwärtige Zukunft, (3) Gegenwart der Zukunft und (4) Zukunft der Gegenwart» (THEUNISSEN 9 1 ,

162).

Die Aufteilung in «Binnendimensionen» durch Theunissen erhellt Sartres Bestimmung der Zukunft. Ein zukünftiges en-soi, für das Sartre das mit Minuskel (sie!) beginnende Wort «futur» gewählt hat, geht eine Projektion voraus. Das mit «le futur» umschriebene en-soi hat ontologisch gesprochen den Status eines futurum post rem, eines «futur passe d'un Pour-soi ou futur anterieur». Als Projektion ist dieses en-soi von dem der Vergangenheit darin verschieden, daß es immer auch nicht sein kann; es ist die Möglichkeit eines Zukünftigen («avenir»).29 Das «Futur» — mit Majuskel (sie!) — resultiert aus der Zusammenschau der Zeitdimensionen nach folgendem Schema: Le Futur est le point id6al oü la compression subite et infinie de la facticit6 (Pass6) du Pour-soi (Pr6sent) et de son possible (Avenir) ferait surgir enfin le Soi come existence en soi du «Poursoi». (EN 166)

Die Natur des Pour-soi läßt sich — in freier Übertragung des Ausdrucks «un creux toujours futur» (Sartre) — als eine sich immerfort erneuernde Leerstelle erfassen. Zwischen «le Futur» und dem Pour-soi steht immer das von diesem selbst nichtend

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Inwiefern Sartre sich hier von Bergson absetzt, verdeutlicht ein Blick auf Ernst Blochs Kritik an dem Lebensphilosophen: «Es gibt kein Mögliches bei Bergson, es ist reine Projektion, die von dem neu Entstehenden in die Vergangenheit hinein entworfen wird. Im Möglichen wird nach Bergson das soeben entspringende Novum nur als gedacht [...]» (BLOCH V ,

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in die Welt hineingetragene Nichts. Aus Sartres Futur resultiert die Freiheit, weil jedes Zukünftige eines Pour-soi nicht unaufhaltsam im Sinne einer physikalischen Gesetzmäßigkeit zum Schließen einer Lücke, zum Ausfüllen einer Leerstelle führt, sondern als bloße Möglichkeit unablässig in Frage steht; das Pour-soi stellt einen fortwährenden Mangel dar. 30 «Le Futur n'est pas, il se possibilise.» — oder anders ausgedrückt: «Le Futur ainsi decrit, ne correspond pas ä une suite homogene et chronologiquement ordonnee d'instants ä venir» (EN 168). Der Orientierung in Zeit und Raum durch den Gebrauch der Uhr, der Situierung hic et nunc und dem «Jetzt-Sagen» (Heidegger) geht nach Sartre ein fundamentales Μ iß Verständnis der Gegenwart («le Present») voraus. Das Jetzt auf der Uhr — z.B.: «Jetzt ist es 9h...» — bedeute nicht, daß es für das Pour-soi 9h sei, «mais le Poursoi peut etre present ä une aiguille pointee sur neuf heures» (EN 162). Das Pour-soi kann sich in Gegenwart («etre present ä») einer von Uhrzeiger und Zifferblatt gebildeten räumlichen Konstellation befinden. Dient der Blick auf die Uhr dem Menschen zur Orientierung in der Welt, dann betrachtet er sich als ein en-soi. Dies ist aber nur mittels des objektivierenden Blickes des Anderen (autrui) möglich. Das Leben nach der Uhr ist also eine Form, sich selbst als Ding zu erfahren, wobei die Uhr für den Anderen in absentia steht.31 Sartres ontologisch begründete Ableitung des Freiheitsbegriffs aus der Zukunft als Feld von Möglichkeiten zeigt einen weiteren Aspekt des von Heidegger an Hegel kritisierten «vulgären Zeitverständnisses» auf: es verschleiert die Natur der eigenen Freiheit. Hier führt die Argumentation wieder zu Claudels Blick auf die Uhr zurück: der Mensch trachtet danach, in der Welt seine ontologische Position zu finden, zu sein. Das «vulgäre Zeitverständnis» vom Fluß der Zeit als einer «Folge von ständig , zugleich vergehenden und ankommenden Jetzt» (sz 422) führt zu einem Mißverstehen des «Seins zum Tode». In einem quantitativen Raffen von Jetzt liegt der Versuch einer Flucht vor dem Tode vor: «Hier bekundet sich ein ZeitHaben im Sinne des Verlierenkönnens [...].» Nicht etwa eine Endlichkeit der Zeit sei darunter zu verstehen, «sondern umgekehrt, das Besorgen geht darauf aus, von

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An anderer Stelle faßt Jean-Paul Sartre die zeitliche «Struktur» des Pour-soi wie folgt zusammen: «Le pour-soi a ä Stre ce qu'il est. II est done manque. Ce manque s'exprime par les trois extases temporelles. Loin que le nous enferme dans la spontan6»6, il nous arrache ä nous-meme pour nous jeter dans la durde: il n'y a pas de conscience instantanfe. Une statique et une dynamique de la tempo raliti se fonderont sur la description iiflexive du cogito» («Conscience de soi et connaissance de soi» [Erstv. 1948], in: Manfred Frank (ed.), Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (stw) 1991, p. 367-411, hier: p. 368). Frank hat an anderer Stelle die Dialektik eines sich selbst als Mangel bestimmendes Bewußtseins, das sich zugleich als Entwurf begreifen muß, aufgezeigt (FRANK 90a, 79). Die Verbindung von Zeit und Raum in der «Raumwelt», in der uns nach Edmund Husserl der Andere begegnet (Cartesianische Meditationen. Pariser Vorträge (=Husserliana I), [Hermam L. van Breda, ed.], Den Haag: Nijhoff 1950, Kapitel V, hier p. 148sq.), hebt Michael Theunissen hervor: Bei Husserl werden «in der Verwandlung der primordinalen in die objektive Welt Zeit und Raum mitobjektiviert» (THEUNISSEN 91, 106). Frank erkennt in Sartres Ansatz den Ausweg aus der Aporie der transzendentalphilosophischen Annahme von «der Evidenz und präreflexiven Selbstvertrautheit des Bewußtseins» und von der Realität der Zeit, «weil im Zeitbewußtsein die Elemente en-soi und pour-soi dialektisch zusammenwirken» (FRANK 90a, 75).

der Zeit, die noch kommt und , möglichst viel zu erraffen.» Möglich wird dieses Raffen, weil diese «vulgäre Zeit» eine äußere, öffentliche sei, «die, nivelliert, jedermann und das heißt niemandem» (sz 425) gehöre. Unendlich ist diese öffentliche Zeit in zwei Richtungen: in ihrer Fortentwicklung wie auch in der Teilbarkeit durchmessener und zu durchmessender Einheiten. Dieses die Entfremdung festschreibende Zeitverständnis läßt scheinbar den — wie Herbert Marcuse es formuliert hat — «Tod als Telos des Lebens» (MARCUSE 79, 106) zu einer philosophischen Notwendigkeit geraten. Wenn auch die Zeit unendlich ist, so sagt dies nichts über ihre Verfügbarkeit für den einzelnen aus. 32 Die Zeit wird im Zeichen der Entfremdung zum Element der Herrschaft; die Verfügung über die Zeit oder die Verfügbarkeit der Zeit wird zur Machtfrage. 33 Revolten und Revolutionen manifestieren sich daher in Attacken gegen die Zeitsymbole. Walter Benjamin hat dies in seiner 15. These zur Geschichte mit dem Hinweis auf die Einführung eines neuen Kalenders durch die Französische Revolution verdeutlicht: Und es ist im Grunde genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt. Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren. (BENJAMIN 4 2 , 701sq.) Mit der Rückschau, dem Eingedenken, antwortet Benjamins Geschichtstheorie auf die bürgerliche bzw. vulgärmarxistische Apologie des Fortschritts. 34 Revolution kann demnach nur dann gelingen, wenn «das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu

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Wie sich die Zeit dem individuellen Zugriff entzieht, ja sich gegen den einzelnen zu richten droht, tritt im pathologischen Umgang mit der Zeit an den Tag. Der italienische Psychoanalytiker Elvio Fachinelli hat in La freccia ferma. Tre tentativi di annulare il tempo das Beispiel eines Zwangsneurotikers geschildert, dem das eleatische Paradox die Handlungsfähigkeit raubt: Das antizipierende Auflösen von Handlungsabläufen, für die eine bestimmte Zeitspanne vorgesehen ist, in unendliche Teilprozesse führt zur Orientierungslosigkeit des Patienten und zur Paralysierung seiner Kreativität. Er wähnt sich als Opfer der Zeit, über die er die Herrschaft verloren zu haben glaubt (FACHINELLI, 9sq.). Zur Bewertung der Zeit in der psychologischen bzw. psychoanalytischen Theorie cf. auch die Untersuchungen des Klassikers einer phänomenologisch geprägten Psychologie Eugene Minkowski, Le Temps vecue. Etudes phinominologiques et psychopathologiques, Paris: d'Artrey 1933, und die Sondernummer L'Epreuve du temps der Zeitschrift Nouvelle Revue de Psychanalyse 41, Frühjahr 1990. Cf. die von Rainer Zoll herausgegebene Aufsatzsammlung Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit. Eine psychoanalytische Studie zu der Verknüpfung von «Zeit» und «Tod» im Faschismus unternehmen A. Grenkowitz, H. Loest u. Rainer Zoll in einem Beitrag zur genannten Sammlung, wobei sie das Paradoxon der Angst des Zwangsneurotikers vor dem Tod aus Angst vor dem Leben als Nährboden für die Wirksamkeit des faschistischen Todeskultes ausmachen: «Auf der Erscheinungsebene äußert sich die paradoxe Angst auch als eine ungeheure Faszination, die der Tod für den Zwangsneurotiker hat. Das Faszinierende liegt in der Bedeutung, die der Tod für viele Menschen besitzt: der Tod ist für sie das Ende der Zeit, er ist über der Zeit, er realisiert den geheimen Wunsch des Zwangskranken, sich zum Herren der Zeit über die Zeit zu machen» («Die Zwanghaftigkeit von Zeitstruktur im Alltag, in der Zwangsneurose und im Faschismus», p. 426-453, hier: p. 445). Weiterführende Literatur hierzu cf. DUERR, 189sq. bzw. 526sq.; MARCUSE 87, 121.

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einer Konstellation zusammentritt» (BENJAMIN 83, 576 [ N 2a, 3]).35 Diese «Konstellation» geben die Festtage des Eingedenkens zu erkennen.36 Benjamin entging dabei, daß sich die Annahme eines Zyklus der «Tage des Eingedenkens» dazu eignet, den Kausalnexus von Macht und Zeit wegzuideologisieren.37 Der Kalender der Französischen Revolution38 hat es ungeachtet seiner Ikonen einer neuen Epoche nicht vermocht, das Wesen der Zeit als depravierendes Prinzip aufzuheben — im Gegenteil: Die Französische Revolution bedeutete gerade den Triumph derjenigen Klasse, in welcher die Zeit der Uhren zum Strukturprinzip des ökonomischen Lebens wurde. Ähnlich verhält es sich mit dem Schießen auf Turmuhren während der ersten Tage der Julirevolution (BENJAMIN 42, 701sq.), das statt als Ausdruck revolutionären Bewußtseins auch als bloße Revolte gedeutet werden kann. Eine solche Revolte mag bereits den Keim der Resignation in sich getragen und die Übermacht des Bestehenden affirmiert haben. Aus der Sicht der Heideggerschen Kritik an dem «ungeheuren Recht», das Hegel dem Jetzt zuspricht, wird die Problematik des Benjaminschen Ansatzes deutlich, wenn es bei diesem heißt: «Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit» (BENJAMIN 83, 578 [ N 3,1]). Benjamin überantwortet das dialektische Moment, das Fortschritt und Verfall suspendiert, an ein Jetzt\ er vermag diesen Widerspruch nur unter Rekurs auf eine messianisch gefaßte Dialektik aufzulösen, in welcher der hilflos erscheinende Engel der Geschichte (Angelus Novus) mit dem Rücken zu der Zukunft steht.39 Von einem Sturm, der vom Paradies her wehe, werde der Engel in diese Zukunft getrieben: «Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm» (BENJAMIN 42, 697sq.). Individuen scheitern, weil sie den Normen einer Gesellschaft nicht gewachsen sind, in welcher der Begriff «Zeit» — nach Norbert Elias — für die soziale Institution Zeit steht, deren Zwang gegen das Individuum durch Uhren, Kalender, Fahrpläne u.ä. repräsentiert wird (ELIAS, XVIII; XXXI). Von der Entwicklung einer

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Weiter heißt es: «Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf, sondern Bild, sprunghaft. — Nur dialektische Bilder sind echte (d.h. nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache» (BENJAMIN 83, 577 [N 2a, 3J). Zur Verdeutlichung sei hier Hans Georg Gadamers Charakteriserung des Festes zitiert: «Die Zeiterfahrung des Festes ist vielmehr die Begehung, eine Gegenwart sui generis» (GADAMER, 117). Dieser Einwand gilt auch für den Ethnologen Hans Peter Duerr, der ein Plaidoyer für die Unmittelbarkeit einer vom Zeitpunkt des Ereignisses abstrahierenden Erfahrung hält (DUERR, 189sq.). Zur Rolle des Festes in der revolutionären Umdeutung des Weltgeschehens cf. Henning Krauß, «Das Ende des Fortschritts. Zur Funktion der uchronistischen Dramen während der Französischen Revolution», in: RZL/CHR, 1979, p. 387-47, hier: p. 401sq. (Zur Geschichtsphilosophie der Französischen Revolution: idem, «Der Ursprung des geschichtlichen Weltbildes, die Herausbildung der opinion publique und die literarischen Uchronien», in: RZL/CHR, 1987, p. 337352); Mona Ouzouf, «La F6te sous la Rfivolution fransaise», in: Jacques LeGoff/P. Nora, Faire de l'Histoire — 3.Nouveaux Objets, Paris 1974, hier: p. 259. Benjamins «Messianismus» muß als Antwort auf die apokalyptischen Visionen faschistischer Provenienz gelesen werden.

«dieser Institution gemäßen Selbstzwangapparatur» (ELIAS, XVIII)40 hänge die Integration des Heranwachsenden in die Welt der Erwachsenen ab.41 Auch die orthodoxe Freud-Schülerin Marie Bonaparte wählt deutliche Worte, um diese Unterwerfung des Heranwachsenden vorzuführen: «Les horloges dans les maisons sont parmi les plus terribles educatrices de l'enfant» (BONAPARTE 52, 15). Noch heute ist die Uhr ein beliebtes Geschenk anläßlich von Konfirmation, Reife(sic!)-Prüfung oder ähnlichen Ereignissen, in denen archaische Initiationsriten fortwirken. Die Verankerung unseres Zeitverständnisses in der Tradition der westlichen Welt analysiert Herbert Marcuse. Er erkennt in der «Vergöttlichung der Zeit» die logische Konsequenz einer Serie falscher Deduktionen, in denen die Erbsünde alle Mißstände rechtfertige und eine repressive Sexualmoral herrsche (MARCUSE 87, 121). Diese Deduktionen gipfeln in der existenzphilosophischen Feststellung von Jaspers, daß «mein Leben in Schuld und Ruin gebliebene Ganzheit» (JASPERS 32III, 90) bleibe. Jaspers' Überlegung, die den Tod zum einzigen Ausweg erklärt, fügt sich nahtlos in die Reihe derjenigen Philosopheme, die nach H. Marcuse den Tod und die Zeit zu den Garanten einer repressiven Gesellschaft machen: «Da alles in unserer empirischen Welt vorübergeht, ist der Mensch seinem eigentlichen Wesen nach endlich und der Tod das eigentliche Wesen des Lebens» (MARCUSE 87, 121). Anders als der Zivilisationstheoretiker Elias mit seiner wissenssoziologischen Bestimmung der Zeit als soziale Institution verschiebt Erich Fromm in Haben oder Sein den Akzent auf die ökonomischen Ursachen (FROMM 87, 126). Für Fromm ist die Unterwerfung des Individuums unter die Zeit Kennzeichen für dessen Entfremdung bzw. Verdinglichung in der Industriegesellschaft. Er unterscheidet zwischen dem Respektieren der Zeit in der «Existenzweise des Seins» und dem Sich-Unterwerfen unter die Zeit in der «Existenzweise des Habens»: «In dieser Existenzweise sind nicht nur die Dinge , sondern alles Lebendige wird zum Ding» (FROMM 87, 126).42 Fromm, der den Zeitbegriff nicht präzisiert, unterliegt dabei dem Irrtum, das Problem wäre durch eine veränderte Haltung zur Zeit zu lösen, und scheint

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«Wenn Symbole im Laufe ihrer Entwicklung einen sehr hohen Grad von Realitätsangemessenheit gewonnen haben, dann ist es für den Menschen oft besonders schwer, zwischen Symbol und Realität zu unterscheiden» (ELIAS, XXXII). Das Überreichen der Uhr steht für die Integration in die diskursive Ordnung, die in der bürgerlichen Gesellschaft auf die potestas patris familias zentriert ist. Vaterfigur und Zeitlichkeit definiert Julia Kristeva als zwei über den «discours» vermittelte reziproke Prinzipien; sie konstatiert deren repressive Natur: «II n'y a pas de temps sans le discours. Done il n'y a pas de temps sans le p£re» (Les Chinoises, Paris: Editions des femmes s.d., p. 40). Diese Zeit ist die lineare Zeit, die sowohl der Sprache als auch der Geschichte eigen ist. Julia Kristeva entwirft dagegen ein Konzept der weiblichen Zeit, nicht ohne dabei — nunmehr semiologisch argumentierend — in die Topologie der «großen Mutter» zu verfallen (Women's Time, in: Toril Moi (ed.), The Kristeva Reader, Oxford: Blackwell 1886, p. 187-214). Für eine politisch-ökonomischen Deutung des herrschenden Zeitverständnisses sind auch die Ausführungen von Ernst Bloch in Experimentum mundi (BLOCH XV, 90sqq.) aufschlußreich. «Der Begriff der Uhrzeit, der metronomisch gleichförmigen, entstammt dem Tauschwertdenken, das alles qualitativ noch so Verschiedene in eine nur quantitativ kennzeichnende Preisreihe einebnet und so wiederum eine rein ideologische Denkweise und ihren Schalenanteil formal quantitativer Art in die je nach ihrem Inhalt so verschiedene Zeitart einmischt» (BLOCH XV, 93sq.).

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dabei zu übersehen, daß mit einer anderen, nicht durch die Entfremdung des Menschen geprägten Gesellschaft möglicherweise auch der Zeitbegriff eine neue Qualität erhalten muß. Albert Camus' Konzeption des Absurden und dessen luzider Annahme durch den Menschen in der Revolte, mit der er die Welt auf sich hin zentriert und ihr solipsistisch für sich allein einen Sinn aufdrückt (cf. CAMUS 42a), sieht einen Zeitbegriff vor, der dem einer Welt des «Habens» entspricht. Für Camus ist die Zeit ein depravierendes Prinzip: Es richtet sich gegen die Revolte, das Auskosten der Absurdität (cf. KRAUSS 70b). Einen solchen Zeitverlust setzt der frühe Camus mit entfremdeter Arbeit gleich; der Umkehrschluß muß zwangsläufig lauten: die Zeit ist eine käufliche Größe.43 Für das Verständnis von Absurdität und Revolte bei Camus ist dabei der vulgäre Zeitbegriff ausschlaggebend.44 So lehnt Meursault den Trost des Gefängnispfarrers ab: Alors, je lui ai οπέ: «Une vie oü je pourrais me souvenir de celle-ci», et aussitöt je lui ai dit que j'en ai assez. II voulait encore me parier de Dieu, mais je me suis avancd vers lui et j'ai tent6 de lui expliquer une demifcre fois qu'il me restait peu de temps. (CAMUS 42b, 1210)

Es gilt die zu durchmessende bzw. durchmessene Zeit auszuloten. Das revoltierende Individuum setzt sich selbst — so der mit Sartre zu formulierende Einwand — als «permanence chosiste qui n'est autre que la projection dans l'ecoulement du temps» (EN 94) — das Ideal der Identität — vor der Folie des ihm Gegenwärtigen. Camus sieht die Revolte in der Zeit, das Ausloten der Möglichkeiten, innerhalb einer bereits als geschlossen gedachten Zukunft. Der eigene Tod — cf. La Mort heureuse — wird zur conditio sine qua non seiner Philosophie der Revolte. Camus' Philosophie des Absurden affirmiert die Unterwerfung des Menschen unter eine fremdbestimmte Zeitlichkeit.45 Sein Denken fallt noch hinter Bergson zurück, der dieser objektiven Zeit die «duree» entgegenzusetzen vermochte. Mit Bergson verbindet ihn dagegen die Neigung, das Problem solipsistisch zu lösen, denn die Revolte ist nicht gleichzusetzen mit dem Aufheben der für die Entfremdung — und damit für die intransingente Herrschaft der objektiven Zeit — konstitutiven sozioökonomischen Bedingungen. Camus' «revolution permanente» (CAMUS 42a, 138), jene das absurde

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Die Verbindung von Ökonomie und Zeit wird besonders augenfällig in La Mort heureuse (CAMUS 71), wenn es dort heißt: «Avoir de Γ argent, c'est avoir du temps. Je ne sors pas de lä. Le temps s'achfcte. Etre ou devenir riche, c'est avoir du temps pour 6tre heureux quand on est digne de l'etre» (CAMUS 71, 76). «L'une des seules positions cohdrentes, c'est ainsi la r6volte. Elle est un confrontement perp6fuel de l'homme et de sa propre obscuritö. Elle est exigence d'une impossible transparence. Elle remet le monde en question ä chacune de ses secondes [...] la r6volte m6taphysique 6tend la conscience tout le long de l'expdrience. Elle est cette prdsence constante de l'homme ä lui-meme [...] Cette r6volte n'est que l'assurance d'un destin 6crasant, moins la r£signation qui devrait l ' a c c o m p a g n e r » (CAMUS 4 2 a , 138).

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Das von Camus angeführte Hamlet-Zitat «the time is out of joint» (CAMUS 42a, 124) artikuliert das Unbehagen an seiner Epoche, das auch den Raum für die Rezeption von Kierkegaard schuf (cf. Lion Chestov, Kierkegaard ou la philosophie existentielle, Paris: 1936). Camus' im Kern konservative Philosophie sucht eine Übereinstimmung mit der Welt, von deren Zeit er seinen Anteil fordert. Die Revolte heißt, Gesellschaft und Geschichte Zeit abzutrotzen.

Leben kennzeichnende Folge der gegen das Absurde gerichteten Revolten ist eine subjektive; es ist nicht die Revolution, die symbolisch die Uhren anhält, denn sie fordert aufgrund der quantitativen Bestimmung des Lebens ihre Rechtfertigung durch die Zeit. Wenn es bei Camus heißt, die Welt verschaffe zwei Menschen, welche dieselbe Anzahl von Jahren durchleben, immer dieselbe Summe von Erfahrungen (CAMUS 42a, 87), so bestätigt er die von Karl Marx analysierte Form der Zeitlichkeit eines der maschinellen Produktion unterworfenen Arbeiters: So muß es nicht mehr heißen, daß eine (Arbeits-) Stunde eines Menschen gleichkommt einer Stunde eines anderen Menschen, sondern daß vielmehr ein Mensch während einer Stunde so viel wert ist wie ein anderer während einer Stunde. Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit. Es handelt sich nicht mehr um die Qualität. Die Quantität allein entscheidet alles: Stunde gegen Stunde, Tag gegen Tag... (MEW 4, 85; cf. LUKÄCS 2 3 ,

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Die Zeiterfahrung als das unverändert gebliebene Erbe der Tradition und das Festhalten an der von Marcuse aufgezeigten «Vergöttlichung» der Zeit finden also sowohl in der Neuauflage von Tertullians credo quia absurdum als auch in der atheistischen Philosophie des Absurden eines Albert Camus mit ihrer quantitativen Bestimmung des Lebens («Don-Juanismus») ihre Fortführung. Der Blick auf die Uhr bedeutet das Einbinden des menschlichen Lebens in ein Beziehungsgeflecht, das seiner Deutung harrt. Die Uhr als Symbol in Literatur und Kunst ist hinsichtlich dieses Beziehungsgeflechts Frage und Antwort zugleich. Der alltägliche Gegenstand Uhr (frz. «la montre») enthüllt nach Baudrillard eine fundamentale Antinomik der Zeit: D'une part, eile [la montre] nous informe sur le temps objectif: or, ('exactitude chronom6trique est la dimension m&ne des contraintes pratiques, de l'ext6riorit6 sociale et de la mort. Mais en mgme temps qu'elle nous soumet ä une temporalitd irr6ductible, la montre en tant qu'objet nous aide ä nous approprier le temps. Comme la voiture «d6vore» les kilometres, l'objet-montre d6vore le temps. ( B A U D R I L L A R D 6 8 , 1 3 3 )

Die Zeit ist — wie die Uhr — ein Konsumgut. Die Zeit in Gestalt des Zeitmessers Uhr exteriorisiert die Praxis und überantwortet sie einer symbolischen Ordnung, die sie einzig in Beziehung zur Zeit setzt. Aus dem «besorgenden» (Heidegger) Gebrauch wird ein Verbrauchen von Zeit, da die individuelle Praxis nur noch über den quantitativen Begriff der Leistung und nicht als qualitative Veränderung von Welt sichtbar wird. Mit dem Chronophagos Uhr wähnt sich der Mensch nichtsdestoweniger selbst als Verbraucher von Zeit (BAUDRILLARD 68, 134).46 Der Blick auf die Uhr bestätigt den Menschen in seiner Illusion, Herr über jene Gesetzlichkeit zu sein, der er selbst unterliegt. Inzwischen aber ist der Mensch, der sich durch den Besitz von modernen Transport- und Kommunikationsmitteln als Herr über mehr Zeit wähnt, Opfer der Geschwindigkeit geworden; es entsteht die von Virilio ausgemach-

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Michel Picard fügt Baudrillards Ausführungen noch ein anschauliches Beipiel hinzu: «A l'6poque des restrictions imposöes par l'Occupation, Marcel Aym6 a, de manifcre logique, invent6 une sur le modöle des cartes d'alimentation» ( M . P I C A R D , 1 3 ) .

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te dromocratie, die Herrschaft der Geschwindigkeit über den Menschen des (post ) industriellen Zeitalters (cf. VIRILIO). Die dromocratie, das Ringen um Sekundenbruchteile im Durchmessen von Räumen führt nicht zu einem quantitativen Mehr an Jetzt, sondern macht durch das Setzen des Primats der Geschwindigkeit eine dialektisch gedachte Raum-Zeit-Konstellation bereits im Ansatz zunichte. Die Ze/i-Räume stehen nicht als FreZ-Räume zur Disposition: sie sind bestenfalls ihrerseits im Verschwinden begriffene Orte der Regeneration im Dienste des al lesbeherrschenden veloziferischen Chronos. Die dromocratie trägt somit nicht dazu bei, die Schere zwischen Weltzeit und Lebenszeit zu schließen. Den Kausalnexus von Zeit und Geld hebt die (post-) moderne Freizeitgesellschaft am deutlichsten hervor: Arbeitsleistungen werden mit zusätzlichen freien Tagen, also mit «Zeit» entlohnt, die es ihrerseits zu verbrauchen gilt. Am Ende steht die dromologische Apokalypse, der letzte Krieg, wie Virilio schreibt: «II faut nous rendre ä l'evidence, aujourd'hui, la vitesse, c'est la guerre, la derniere guerre» (VIRILIO, 136).

2. Zeit und Roman Die philosophische — oder genauer: metaphysische — Frage nach der Zeit trifft nach Auffassung der französischen Literaturkritikerin C.-E. Magny den Kern der Gattung Roman: «Le temps, dit quelque part Schelling, est la mauvaise conscience de toutes les m6taphysiques vides.» II ne serait sans doute pas arbitraire [...] de commencer une esthdtique du roman en disant que le Temps en est le personnage principal; [...]. (MAGNY 49, 142)

Die Behandlung der Zeitproblematik und die Suche nach der ihr entsprechenden literarischen Form führten zu den großen Experimenten des modernen Romans (Flaubert, Proust, Joyce, Dos Passos, Faulkner u.a.), 47 in deren Tradition der nouveau roman einzuordnen ist, und mit denen auch das Werk des Literaturnobel-

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Manfred Frank hat — sich auf Emil Staiger beziehend — in der Einleitung zu seinem Buch über Zeitbewußtsein und Zeitlichkeit in der deutschen Frühromantik auf die in der Forschung diskutierten möglichen Beziehungen zwischen den Werken von Joyce und Proust und der Phänomenologie bzw. dem Bergsonismus aufmerksam gemacht und dieses Interesse zu begründen versucht: «Das Interesse am Problem der Zeit erklärt sich aus den Erkenntnissen moderner philosophischer Richtungen, die Zeit als das nicht zu hinterfragende Sein der menschlichen Wirklichkeit zu verstehen. Demnach verrät sich in der Dichtung, in der sich Strukturen von Zeitlichkeit aufdecken lassen, etwas vom unvordenklichen Sein der menschlichen Wirklichkeit» (Das Problem «Zeit» in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, München: Winkler 1972, p. 16). Cf. dazu auch das Kapitel «Das Dilemma der Zeit» in: Robert W. Weber, Der moderne Roman: Proust, Joyce, Befyj, Woolf und Faulkner, Bonn: Bouvier 1981. Die Stellung der Zeitproblematik in der literaturtheoretischen bzw. -kritischen Diskussion im Frankreich der Nachkriegszeit und dem damit verbundenen Rekurs auf die experimentelle französische und angelsächsische Literatur, insbesondere während des «Entre-deux-Guerres», hat u.a. Claude-Edmonde Magny unterstrichen (MAGNY 50, 279-290).

Preisträgers Claude Simon in einem Atemzug genannt wird. In den zahlreichen Untersuchungen zur Funktion der Zeit in der Literatur und insbesondere der narrativen Prosa bleibt die Zeit ein weitgehend offenes Feld, das ihre Gleichsetzung mit der «Einbildungskraft des Dichters»48 ebenso umschließt wie die Annäherung zwischen literarischen Texten und philosophischen Diskursen, die sich einander in der jeweiligen Bestimmung eines «authentischen» Zeitverständnisses komplementär zu geben scheinen. Diese Komplementarität gilt übrigens mutatis mutandis nicht weniger für jene Studien und Essays, die sie in der Literatur freilegen.49 Wenn der Zeit jene metaphysische Bedeutung zufällt, die ihr — mit Schelling argumentierend — die französische Literaturkritikerin Claude-Edmonde Magny beimißt, dann muß immer nach der Zeit als dem gemeinsamen Nenner in der menschlichen Wirklichkeit und in der Literatur gefragt werden, vor dessen Folie ein direkt von den sozioökonomischen Voraussetzungen abhängiges instrumentales Zeitverständnis sich ebenso abhebt wie die subjektiven Begegnungen mit der Zeit. Für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung, die sich der Zeitproblematik annimmt, ergibt sich daraus nicht die Verpflichtung, diese metaphysische Frage zu beantworten — damit wäre sie heillos überfordert —, sondern ihrer eingedenk zu bleiben, um nicht in einen blinden Relativismus zu verfallen. Auf welches Problem die Frage nach der Zeit in der Literatur stößt, veranschaulicht Ernst Bloch. Er erkennt verschiedene Formen der Zeit bzw. «Zeiten» — so etwa in der Musik, in der Plastik, im Drama und im Roman; innerhalb der letzt-

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Cf. Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, Zürich 31963. Jean Pouillon hat in einem ausführlichen Essay die Funktion der Zeit im Roman untersucht: Temps et roman (POUILLON). Seine an Sartres Philosophie angelehnten Ausführungen v.a. zu William Faulkner verdienen unsere Aufmerksamkeit. Zusammen mit den von Pouillon herangezogenen Beispielen erlaubt dieser Essay, die Produktions- und Rezeptionsvoraussetzungen für den frühen nouveau roman literaturgeschichtlich zu präzisieren. Zum Kausalnexus zwischen der von den Romanen in der Epoche des «Entre-deux-guerres» geprägten Tradition experimenteller literarischer Formen und einem als Reaktion auf den 2. Weltkrieg zu deutenden Existenzbewufltsein cf. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts «A la recherche du temps perdu» (JAUSS 86); Michel Z6raffa, «Le Temps et ses formes dans le roman contemporain», in: Revue Esthetique 19, 1966, p. 43-65; Jean Onimus, «L'Expression du temps dans le roman contemporain», in: Revue de litterature comparie 28, 1954, p. 299-317. Als ein «Klassiker» mag die vierbändige Sammlung von Georges Poulet gelten, in der die Zeitthematik aus verschiedenen Perspektiven erörtert wird: Etudes sur le temps humain /, Paris: Presses Pocket 1989 [Erstv. 1952]; Etudes sur le temps humain II: La Distance intirieure, id., [Erstv. 1952]; Etudes sur le temps humain III: Le Point de dipart, id. [Erstv. 1964]; Etudes sur le temps humain IV: Mesure de l'instant, id. [Erstv. 1964], In diesem Zusammenhang verdient v.a. der zweite Band der dreibändigen Studie Temps et recit von Paul Ricoeur Beachtung: Temps et ricit I (RLCFEUR 83); Temps et recit II: La Configuration du temps dans le ricit de fiction (RICIEUR 84); Temps et recit III: Le Temps raconte (RICCEUR 85). Aus einem psychoanalytischen Kontext heraus argumentierend, arbeitet Michel Picard in seiner Schrift Lire le Temps verschiedenen Ansätze auch neuerer Theorien zur Problematik der Zeit auf (zu Zeit und Tod etwa cf. M.PICARD, 167). Daß eine heuristisch sinnvolle Bestimmung von Zeit ein Desiderat literaturwissenschaftlicher Untersuchungen insbesondere zur narrativen Prosa darstellt, zeigt auch das erste Kapitel in Cesare Segre, Structures and Time. Narration, Poetry, Models, Chicago u. London: University of Chicago Press 1979, p. 4. Abschließend sei an dieser Stelle noch auf Hans Meyerhof, Time in Literature, Berkeley: Univ. of California Press 1968, verwiesen.

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genannten Gattung macht er wiederum unterschiedliche, dem jeweiligen Romantyp entsprechende Zeitformen bzw. «Zeiten» aus: Kurz, die Zeit ist nirgends ein abstraktes Schema der Veränderung, sondern deren konkretelastisches Wegfeld, sich mit Art und dem Inhalt der Veränderung sich selber ändernd. Zuletzt und zumindest ist die Zeit die rahmenhafte Entfaltung eines sich Aufmachenden im Wegfeld. [...]. (BLOCH X V , 106)

Bachtin hat einen Begriff aus der Relativitätstheorie eingeführt, um die in der Literatur erfaßten Raum-Zeit-Beziehungen zu bezeichnen: Chronotopos. Dabei will er diesen Terminus ausdrücklich als eine aus Mathematik und Naturwissenschaften in die Literaturwissenschaft übertragene Metapher verstanden wissen, d.h. in einer von seiner speziellen Bestimmung in der Relativitätstheorie unabhängigen Bedeutung. Der russische Literaturtheoretiker definiert den künstlerischen Chronotopos als ein «Verschmelzen räumlicher und zeitlicher Merkmale», wodurch die Zeit sichtbar gemacht werde (BACHTIN, 8). Insbesonders in der Literatur falle dem Chronotopos die wichtige Funktion zu, das jeweilige Genre zu bestimmen. Der Chronotopos verankere den Roman in der Gesellschaft: «Als Form-lnhalt-Kategorie bestimmt der Chronotopos (in beträchtlichem Maße) auch das Bild vom Menschen in der Literatur; dieses Bild ist im Wesen immer chronotopisch» (BACHTIN, 8). Bergsons Einwand würde hier lauten, daß der Chronotopos lediglich den Versuch perpetuiere, die Zeit zu verräumlichen. Mit Kant betrachtet Bachtin in der Tat Zeit und Raum als notwendige Formen der Erkenntnis und argumentiert gerade auf jener Ebene, auf der Bergsons Kritik am Zeitverständnis Kants einsetzt; Bachtin faßt — anders als Kant — die Kategorien Zeit und Raum nicht transzendental, sondern als Formen der «realen Wirklichkeit selbst» (BACHTIN, 8). Chronotopisch ist demzufolge auch die Bestimmung von Identität und Individualität: Das Individuum manifestiert sich als solches in Raum-Zeit-Koordinaten, die auf ein singuläres Bezugssystem fixiert sind. In der Praxis der Textanalyse erweisen sich Bachtins Chronotopoi als ein Instrumentarium, das häufig die Grenzen zur herkömmlichen Motivforschung fließend gestaltet, wie dies das Beispiel vom Chronotopos des Weges zeigt (BACHTIN, 192sq.). Wenn aber Bachtin anhand von Flauberts Madame Bovary das Zusammenwirken von Raum und Zeit zu einem Chronotopos erläutert, dann rückt wieder die Frage nach der Qualität von Zeit ins Blickfeld: In Flauberts Roman unterscheidet Bachtin eine «ereignislose» Zeit von den «ereignisreichen und energiegeladenen Zeitreihen» (BACHTIN, 198), die sich von jener abheben. Den zwei Zeitformen bei Bachtin scheint hier vordergründig das Tempussystem des Französischen mit der Unterscheidung von «passe simple» und «imparfait» zu entsprechen. Weinrich spricht bei dem Gebrauch der beiden Vergangenheitsformen von einer Reliefgebung, die das Tempussystem erlaube (WEINRICH, 107-197); die Annahme, daß diese Vergangenheitsformen für qualitativ verschiedene Formen der Zeit stehen könnten, lehnt er daher zu Recht ab. Der Bachtinsche Ansatz könnte allerdings zu dem irrtümlichen Schluß führen, daß diese beiden Zeiten wesensmäßig voneinander getrennt sind. Dem ist die Vermutung entgegenzuhalten, daß möglicherweise bei den Chronotopoi, wie in der Sprache, zwar eine Reliefgebung vorliegt, diese aber über die «Natur» der beiden Zeitformen nichts aussagt. In der Tat muß beiden Ansätzen derselbe Zeitbe20

griff zugrunde liegen: In den Analysen von Weinrich und Bachtin dienen das Tempus und der Chronotopos zur Darstellung einer räumlichen Konstellation, in der sich die Zeit als eine Abfolge von «Jetzt» ausdrückt. Bachtin klammert die ontologische Problematik der Zeit aus. Das «Jetzt» hat nichts von seinem «ungeheuren Recht» (Hegel) eingebüßt, wenn es nunmehr innerhalb veränderter Bezugssysteme situiert wird. Die Annahme wechselnder Bezugssysteme liegt den Überlegungen Blochs zum «konkret-elastischen Wegfeld» genauso zugrunde wie den Chronotopoi des russischen Literaturtheoretikers. Heideggers Antwort auf Bachtin und Bloch würde auf das Konstatieren des «vulgären Zeitverständnisses» hinauslaufen. Daraus kann eine für die Romananalyse wichtige Hypothese abgeleitet werden: Ungeachtet des jeweiligen epistemologischen Standorts legen die Studien zur Zeit in der Literatur allgemein und im Roman im besonderen die Vermutung nahe, daß der «vulgäre Zeitbegriff» zu den eigentlichen Konstituenten für die Produktion und Rezeption von narrativer und dramatischer Dichtung gehört.50 Eine unlängst von Walter Biemel veröffentlichte «philosophische Analyse zur Deutung des modernen Romans» (BIEMEL 85) verdeutlicht nach unserem Dafürhalten malgri eile diese Hypothese. Für Walter Biemel ist das Erzählen «ein Zeitigen», das die Deutung des Romans eigens untersuchen und auf seinen Sinn hin befragen müsse (BIEMEL 85, 26). In seiner philosophischen Analyse der Romanstrukturen hebt Biemel auf die Unterscheidung von Bericht, dem «Festhalten von Vergangenem», und Erzählen, dem «Entwerfen», ab, wobei er sich auf die existenzphilosophischen Termini Heideggerscher Provenienz stützt: «Das Entwerfen ist ein Vorlaufen in die Zukunft, ein Zeitigen der Zukunft» (BIEMEL 85, 21).51 Für das Lesen bedeute dies, daß der Übergang von Fremdheit zu Vertrautheit ein wichtiger Prozeß sei. Dabei gelangt Biemel für das Konkretisieren der Zeit im Roman zu einem wichtigen Schluß: Der Leser des modernen Romans müsse dergestalt in diesen einbezogen werden, daß er auf der Grundlage des Romangeschehens ein «Zeitigen der Zukunft», ein Antizipieren des Kommenden — wobei vom Autor das Tempo dieses «Zeitigens» durch den Leser bestimmt werde — nachvollziehen könne.52 Den nouveau roman nicht eigens berücksichtigend, charakterisiert Biemel den modernen Roman durch eine gesteigerte Anforderung an den Leser:

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Die Bedeutung des Jetzt und damit des «vulgären Zeitverständnisses» in Roman und Romananalyse zeigt Boris A. Uspenskij, Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsformen (USPENSKIJ), wenn er über den Gebrauch des Präsens in der Erzählung schreibt, es handle sich um einen «synchronen Standpunk des Autors», während das Präteritum «jeweils die Übergänge zu jeder neuen Darstellung aus synchroner Position» markiere. Für die Erzählung heiße dies, daß sie sich in eine Reihe von Einzelsequenzen auflöse (USPENSKIJ, 85). Uspenskij vergleicht das Verhältnis zwischen synchroner Postionen und ihren Übergängen mit einer Diavorfiihrung. Während ein Bild eingeblendet ist, bleibe die Zeit stehen: «Mit anderen Worten: der ununterbrochene Zeitstrom stellt sich hier in Form diskreter Quanten dar, zwischen denen die Zeit aufs äußerste gerafft wird» (USPENSKIJ, 85). NB: Der Heidegger-Experte Walter Biemel ist auch Autor einer Einführung in Leben und Werk Sartres (BIEMEL 64). Multiperspektivismus ist für Biemel gleichbedeutend mit einer «Erweiterung der Dimension Gegenwart» (BIEMEL 85, 25). Biemel verweist dabei auf seine eigene Interpretation Faulkners.

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Gerade in den Erzählungen der Gegenwart wird dem Leser viel mehr an eigener Zeitigimg zugemutet als früher. Er muß oft lange Zeit Unbekanntheit aushalten, Sprünge vollziehen, von sich aus Vermutungen in einem höheren Maße formulieren, bereit sein, das scheinbar Feststehende wieder aufzuheben. Auf diese Weise wird er aktiver am Prozefl des Erzählens beteiligt. Der Erzähler appelliert an seine Fähigkeit des Zeitigens. (BIEMEL 85, 27)

Das Wesen der Zeit hat Heidegger als «Zeitigung in der Einheit der drei Ekstasen» (sz 329) bestimmt. Die Unterscheidung Heideggers von «vulgärem Zeitverständnis» und «Zeitigung» spricht Biemel nur kurz an. Den Menschen als Zeit-Bildenden fassen, heiße: von der traditionellen Vorstellung von der Zeit als Folge Abschied nehmen (BIEMEL 85, 18). Zeitigen in der Erzählung bedeutet für Biemel nicht, daß sie dem «uns gewohnten Strom der gelebten Jetzt-Folge gemäß abläuft» (BIEMEL 85, 25). Damit formuliert er eine klare Absage an das vulgäre Zeitverständnis. Die Frage ist dabei, ob die Literatur ein Zeitigen im Heideggerschen Sinn überhaupt ermöglicht. Sitzt Biemel hier nicht einem Mißverständnis auf? Seine Theorie geht offensichtlich von einem Erzählen aus, das am Ende eines vollbrachten «Zeitigens» es dem Rezipienten erlaubt, das Erzählte auf eine lineare Reihe zu verpflichten. Für den modernen Roman, der nach Adorno den Effekt einer «Guckkastenbühne» (ADORNO 81, 45) zerstört, hieße dies, daß der Akt des Lesens auf ein Wiederherstellen der epischen Distanz eingeengt würde.53 Daß der Leser nun durch das «erschwerte Zeitigen» hingehalten wird, ändert nichts daran, daß bei der Lektüre a rebours die epische Distanz wieder hergestellt wird, wenn es dem Leser gelungen ist, sein «Zeitigen» abzuschließen und aus dem modernen Roman einen Handlungsstrang diskursiv herauszuarbeiten. Was Biemel das «Zeitigen» nennt, meint also die Operation des Anordnens von erzählten Begebenheiten auf einer linearen Zeitachse. Gerade der erschwerte Zugang zur Literatur gibt einen «vulgären» Begriff der Zukunft «im Sinne der noch nicht angekommenen und erst ankommenden puren Jetzt» (sz 427) zu erkennen. Das Herausnehmen fiktionaler Einheiten aus dem Kontinuum des Erzählflusses durch den Leser ist gleichbedeutend damit, Zeitatome herauszusprengen und als Jetztpunkte in eine logisch-kausale Reihe einzufügen; mithin liegt hier keine «authentischere» Zeitform, sondern ein «Übersetzen» narrativer Texte in die Schemata des diskursiven Denkens vor. Dieses — vermeintliche — «Zeitigen» affirmiert das «vulgäre Zeitverständnis».54 Daß auch der moderne Roman zu keinem «authentischen» Zeitigen vordringt, darf nicht als ästhetisches Negativurteil aufgefaßt werden; der Roman — so unsere Hypothese — braucht, um überhaupt als Zeitkunst distingibel zu werden, die Modalität der Zeitwahrnehmung (cf. sz 427), für die das «vulgäre Zeitverständnis» konstitutiv ist. Um unseren Einwand zu verdeutlichen, sei hier auf einen Essay von Bernard v. Groethuysen verwiesen, den Biemel ebenfalls anführt (BIEMEL 85, 18sq.). Bernard v. Groethuysen teilt in De quelques Aspects du temps (GROETHUYSEN) die Zeit in

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Zur epischen Distanz allgemein cf. JAUSS 86, 21sqq. Cf. Peter V. Zima, «Indifferenz und verdinglichte Kausalität: Albert Camus1 . Zur Soziologie des Romantextes», in: GRM N.F. 30, 1980, p. 169-190.

drei α priori («savoir», «faire», «voir») ein, denen drei «temps essentiels» entsprechen und denen er jeweils eine bestimmte Funktion zuweist: der Vergangenheit das Wissen («savoir»), der Zukunft das Machen («faire») und der Gegenwart das Sehen («voir»).55 «Chacune de ces fonctions a son temps. Elle ne peut etre congue sans le temps auquel eile est essentiellement liee» (GROETHUYSEN, 170).56 Hinter den «trois α priori du temps» mit den korrespondierenden «temps essentiels» sind auch schon Heideggers Ek-stasen zu erkennen, zumal Groethuysen eine jede dieser essentiellen Zeiteinheiten als Aspekte der Totalität der Zeit betrachtet (GROETHUYSEN, 170sq.). Indes unterscheidet Groethuysen zwischen zwei Formen der Vergangenheit: «le passe du savoir» und «le passe du r6cit». Die Vergangenheit des Wissens beschränke sich darauf, die Tatsachen festzuhalten; in der Vergangenheit des Erzählens erfolge ein Zurücksetzen in eine aktiv zu gestaltende Zukunft: «[...] je recommence Taction, je la joue, ou je la raconte» (GROETHUYSEN, 151). Die Vergangenheit des Erzählens identifiziert er mit der Reproduktion eines «temps du faire», den er dem Fließen der Zeit, dem «temps fleuve», gegenüberstellt. Dem Zeitfluß schaue der Betrachter nur zu: «Dans tout ce qu'il vit se passer, il n'apper?oit que le temps.» Die Handelnden aber wissen, daß es auch noch einen «temps d'action» gibt (GROETHUYSEN, 154). Indem Groethuysen aber dem «passe du recit» die Fähigkeit zuspricht, sich in ein «futur du passe» zurückzuversetzen und mit der Konstruktion eines «temps ouvert dans le temps clos» (GROETHUYSEN, 183) die epische Distanz aufzuheben (JAUSS 86, 25), konzediert Groethuysen in bezug auf das Vergangene eine mögliche Gleichzeitigkeit von zwei verschiedenen Vergangenheitsformen. Dabei verdeckt die eine Zeitform lediglich die andere. Unschwer sind die «uneigentlichen» Zeitformen, die Groethuysen entwirft, mit dem «vulgären Zeitverständnis» in Verbindung zu bringen. Dessen Unhintergehbarkeit verrät Groethuysen selbst durch das Verknüpfen der jeweiligen Zeitform des Vergangenen mit der Position des nunc, das den Verlauf des Erzählens abschließt. Mit dieser Fixierung auf ein nunc begibt sich Groethuysen wieder auf die Ebene Hegelscher Argumentation, die das Jetzt zum eigentlichen Bezugspunkt der Zeit (-darstellung) erklärt. Der moderne (experimentelle) Roman, der die epische Distanz einzuziehen trachtet, entwirft demzufolge keine neue, «authentische» Zeitlichkeit, sondern bestenfalls Strategien, mit denen die vulgäre Zeit verdeckt oder ihre jeweilige gesellschaftlich determinierte Erscheinungsform camoufliert wird. Unser vorläufige Fazit lautet: Das «vulgäre Zeitverständnis» verliert auch im modernen, experimentellen Roman als Bezugspunkt nicht seine Gültigkeit. Jauß konstatiert für Marcel Proust ein Aufbrechen der Bergsonschen durie: Die Zeitlichkeit der itats successifs stellt sich als eine heterogene Folge von Zeitatomen dar, in der sich (im ausgesprochenen Gegensatz) zu Bergsons durie das Vergangene, Gegenwärtige und

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Zu der Funktion der jeweiligen Zeitdimension cf. Jacques Lacan, «Le Temps logique et Passertionde certitude anticip£e. Unnouveau sophisme», in: idem, Ecrits, Paris: Seuil 1966, p. 197213, hier: p. 209; DOSSE II, 543sq. Jauß hat aus Groethuysens Zeitanalyse den Ansatz für seine Interpretation von Marcel Proust abgeleitet (cf. JAUSS 86).

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Zukünftige nicht «interpenetrieren», weil jeder einzelne «6tat de conscience» nur von sich selbst erfüllt ist und mit seinem «Vorher» und «Nachher» nicht kommuniziert. (JAUSS 86, 132)

Und dennoch destruiert Proust den Gedanken der Chronologie nicht. Auf Jauß gestützt, präzisiert Kracauer das ambivalente Verhältnis Prousts zur Chronologie, hinter dem wir das Eingeständnis in die Unhintergehbarkeit des «vulgären Zeitverständnisses» vermuten: Und wenn Proust die Chronologie auch trübt, bemüht er sich, sie intakt zu halten. So sehr die Großaufnahmen und ihre zeitverwirrenden Muster auch dazu neigen, unser Bewußtsein vom Zeitfluß zunichte zu machen, weisen sie nicht nur auf die Situationen, die sie hervorrufen, sondern sind in eine Schilderung eingeblendet, die Marcels je folgendes Ich in chronologischer Ordnung.57

Der Ansatz Biemels, demzufolge der moderne Roman dem Leser mehr an eigener Zeitigung zumute bedeutet in die Terminologie Groethuysens übertragen: Dem «faire» wird Priorität vor dem «savoir» eingeräumt. Dies ist, wie H.R. Jauß mit Groethuysen argumentierend nachgewiesen hat, gleichzusetzen mit dem Abbau der epischen Distanz im Roman, die ein «temps clos» (Proust) ohne das «Signum der Unvorhersehbarkeit» darstelle. Der modernen Prosa mit ihrem «erschwerten Zeitigen» entspräche bei Groethuysen eine komplexere Ausgestaltung des «passe du recit». Sartre indes fordert in seinem Essay über Frangois Mauriac für den Roman die duree, d.h. eine möglichst der Realität adäquate Form der Zeiterfahrung, die es dem Leser erlaubt, sich in das Bewußtsein der Romanperson zu versetzen. Sartres Konzeption hält dem auktorialen Zeitgerüst traditioneller Romane das Postulat eines (neuen) Realismus der Zeit entgegen, der den Leser in die Unmittelbarkeit (s)einer «Lebenswelt» eintaucht: Si nous plongeons en effet, sans midiation, le lecteur dans une conscience, si nous lui refusons tous les moyens de la survoler, alors il faut lui imposer sans raccourcis le temps de cette conscience. Si je ramasse six mois en une page, le lecteur saute hors du livre. (SARTRE 47a, 371)

Sartre berührt hier das Problem der Dichotomie von Erzählzeit und erzählter Zeit. Die vermutliche Unmöglichkeit, dieses Problem zu lösen, eingestehend, konzediert er dem Autor ästhetische Verfahrensweisen, mit denen folgendes erreicht werde: «[...] construire des trompe-Poeil et, comme toujours en art, mentir pour etre vrai» (SARTRE 47a, 372) — Lügen um der Wahrheit willen. Worin liegt nun diese «Lüge» begründet, d.h. wie kann es überhaupt gelingen, diesen Hiat, der sich zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit manifestiert, zu kaschieren? Die Antwort ist auf der Ebene des Zeitverständnisses zu suchen. Hier nähern sich — vermutlich ungewollt — die Analysen von Biemel und Sartre einander, wenn dieser in seinem Essay über Mauriac für die Romanhelden ihre eigene duree fordert. Post rem ist kein Zeitigen mehr möglich, bzw. ist diese genauso Trug wie die durie bei Sartre oder das «futur

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Sigftied Kracauer, Geschichte — Vor den letzten Dingen (= Schriften IV), Frankfürt a.M.: Suhikamp 1971, p. 152sq. Wenn Kracauer davon spricht, der Roman folge einer «Reiseroute», so transponiert er die chronologische Betrachtung in eine topische. Eine solche Übertragung ist nur unter den Prämissen des «vulgären Zeitverständnisses» möglich.

du passe» in der Erzähltheorie Groethuysens. Bei Sartre führt die romanästhetische trompe-l '«//-Technik strikt genommen zu keinem neuen Zeitbegriff, da hier die durie immer nur auf der Ebene der erzählten Zeit vorliegt, diese daher aber schon immer eine in sich geschlossene ist. Das ΜißVerständnis erhellt Heidegger, der in einer Anmerkung zu Bergson geschrieben hat: «Soweit in der heutigen Zeitanalyse überhaupt über Aristoteles und Kant hinaus etwas Wesentliches gewonnen wird, betrifft es mehr die Zeiterfassung und das » (sz 433). Die Analyse des Verhältnisses von Erzählzeit und «erzählter Zeit» hat in bezug auf das dem jeweiligen Roman zugrundeliegende, ideologisch motivierte Zeitverständnis nur untergeordnete Bedeutung. Dies gilt sowohl für die Arbeiten der deutschen Erzähltheorie von Günther Müller58 als auch für den strukturalistischen Ansatz von Gerard Genette.59 Ricoeur weist auf die Gemeinsamkeiten in den Klassifizierungen von Müller und Genette hin. Ungeachtet der heuristisch vergleichbaren Resultate liegen den beiden Ansätzen grundverschiedene epistemologische Prämissen zugrunde (cf. RICCEUR 8 4 , MSsq.).60 Die Chronologie des Erzählten verweist immer auf die Ebene der «erzählten Zeit», besteht also unabhängig von der Konkretisation des Romans. Ist damit das Durchbrechen der Chronologie im Roman α priori sinnlos? Keineswegs, denn die moderne Erzählweise rückt einen wesentlichen Aspekt der Chronologie in den Vordergrund, den Pouillon — hierin Sartre durchaus weiterdenkend — in die Diskussion gebracht hat. Als eine intellektuelle Operation bedeutet die Chronologie auch ein Moment der Befreiung. Sie bannt das Vergangene auf seinen Status des en-soi und erlaubt, die Welt neu zu ordnen: «Elle [la Chronologie] nous assure que le passe est bien passe, qu'il n'est plus lä alors que nous l'avons au contraire senti lourdement peser sur notre present* (POUILLON, 2 4 8 ) . Experimentelle Prosa bringt mittels des Durchbrechens der Chronologie gerade diese Freiheit zur Gestaltung von Welt an den Tag. Die Crux, die dabei bleibt — und die innerhalb der Sartreschen Romantheorie uneingestandenermaßen das Spannungsfeld von roman de situation und litterature engagee definieren wird —, besteht darin, daß die (post-)

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Günther Müller, Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst, Bonn: Universitätsverlag 1947; idem. Morphologische Poetik, Tübingen: Mohr 1968. G6rard Genette setzt der Müllerschen Unterscheidung von «Erzählzeit» und «erzählter Zeit» folgende Terminologie entgegen: «[...] les rapports entre Vordre temporel de succession des 6v6nements dans la didgfese et l'ordre pseudo-temporel de leur disposition dans le r6cit» (Figures III, Paris: Seuil 1972, p. 78). Offensichtlich erkennt Genette nur in der «Erzählzeit», d.h. der Transposition der für unsere Zeitwahrnehmung konstitutiven «objektiven» linearen Zeit in die literarische Fiktion, so etwas wie eine «echte» Zeit. «La distinction entre Erzühlzeit et erzählte Zeit est eile aussi retenue par Genette, mais entifcrement renouvel6e. Ce remaniement rdsulte de la difference de nomenclature de Genette, l'univers di6g6tique et l'6nonciation ne d£signent rien d'ext6rieur au texte. Le rapport de Γέηοηεέ ä la chose racont6e est assimilable au rapport signifiant et signify dans la linguistique saussurienne. Ce que Günther Müller appelle la vie est done mis hors jeu. L'6nonciation, de son cöt6, proefede bien de la suir6f6rence du discours et renvoie k quelqu'un qui raconte; mais la narratologie s'efforce de n'enregistrer que les marques de la narration inscrits dans le texte» (RICCEUR 84, 15sq.). Das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit deutet Bachtin als das Aufeinandertreffen zweier verschiedener Chronotpoi (BACHTIN, 202sq.).

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moderne experimentelle Prosa sich in der Regel der Praxis verweigert und die Gestaltungsfreiheit in die Sphäre des Ästhetischen bannt. Die Darstellung von Zeit ist immer an eine räumliche Konzeption gebunden, hinter der die unablässige Frage — um nicht zu sagen: der Wunsch — nach einem Sein en-soi der Zeit steht. Das Wahrnehmen von Zeit erfolgt im Raum, in dem Veränderungen stattgefunden haben und weiter stattfinden (werden). Dieser Bewegung eignet aber ohne das zeitigende Dasein (Heidegger) oder das sich entwerfende Pour-soi (Sartre) Zeit-Losigkeit. Das Zerschlagen der Uhr, das häufig wiederkehrende Motiv in der modernen Literatur,61 bleibt eine Revolte, die sich ihrerseits lediglich in räumlichen Veränderungen ausdrücken kann. Mit dem Zerschlagen der Uhr wird keineswegs die Zeit bzw. ihr (vermeintliches) Wirken zerstört, sondern lediglich eine spezifische räumliche Konstellation, deren Bestandteil die Uhr ist. Die vergebliche Revolte oder auch der numinose Augenblick der Joyceschen Epiphany, die der Dichotomie von Subjekt und Objekt entspringt, verraten ihren einzigen Bezugspunkt: das Jetzt. Das von Heidegger herausgearbeitete «vulgäre» Zeitverständnis bleibt der Bezugspunkt des bürgerlichen Denkens, das sich aus seinen Antinomien (Lukäcs) nicht zu befreien vermochte. Für den Roman, die «Epopöe» der bürgerlichen Gesellschaft, folgt daraus, daß er in den «konventionellen» Formen des Goetheschen Bildungsromans, des Flaubertschen Desillusionsromans und des Abenteuerromans von Karl May ebenso präsent ist wie in den «polyhistorischen» Experimenten von Hermann Broch und James Joyce oder in Prousts Recherche. Nicht weniger gilt diese Hypothese — so unsere Annahme — für den nouveau roman. Lukäcs ist also dahingehend zu korrigieren, daß der Roman nicht allein die durie als Zeithorizont in die Reihe seiner konstitutiven Prinzipien aufgenommen hat, sondern das «vulgäre Zeitverständnis» in seiner Hegeischen Ausprägung, das immer zu dem nunc als seinem Ausgangspunkt zurückkehrt. Der Bezugspunkt für die «bürgerliche Epopöe» Roman bleibt die «Übersetzbarkeit» in die Zeit, nach der sich das gesellschaftliche Leben organisiert. Der junge Lukäcs diagnostiziert die Gestaltung der Zeit im Roman als eine Antwort darauf, daß das Leben die Immanenz des Sinnes verloren habe. In seinen Ausführungen beschreibt er präzise, was wenige Jahre später Heidegger als das «vulgäre Zeitverständnis» interpretieren wird: So wird die Zeit zum Träger der hohen epischen Poesie des Romans: sie ist unerbittlich existent geworden, und niemand vermag der eindeutigen Richtung ihres Stromes nunmehr entgegenzuschwimmen noch seinen unvorhersehbaren Lauf mit Dämmen und Aprioritäten regeln. (LUKÄCS 16,

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Über das «vulgäre Zeitverständnis» führt auch die moderne experimentelle Prosa nicht hinaus. Es ist denkbar — ja sogar wahrscheinlich — daß dieses «vulgäre Zeitverständnis» zu den Konstanten bürgerlichen Denkens gehört, von denen sich

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Theodore Ziolkowski schreibt in Strukturen des modernen Romans, über das Motiv der Uhr: «In der modernen Literatur existieren Uhren offenbar nur zu dem Zweck, ignoriert, hinuntergeworfen, zerschlagen, deformiert oder übertroffen zu werden» (ZIOLKOWSKI, 169).

auch die marxistischen Ansätze nicht lösen konnten. 6 2 Darin sehen wir uns durch die Ausführungen zum «Phänomen» Zeit von Marx und dem jungen, sich dem Marxismus zuwendenden Lukäcs bestätigt, die eine direkte Verbindung zwischen der dominierenden Erscheinungsform der Zeit und den ökonomischen

Bedingungen

analysiert haben, ohne einen eigenen Gegenentwurf zu setzen. D i e Trennung v o n subjektiver und räumlicher Zeit bei Bergson findet noch im Denken des Autors v o n Geschichte

und Klassenbewußtsein

ihr Äquivalent. Das Verräumlichen der Zeit führt

Lukäcs mit Marx auf die Mechanisierung des Arbeitsprozesses

und somit auf

ökonomische Determinanten zurück. Lukäcs spricht lediglich von der fließenden Zeit als dem Gegenstück zu dieser verräumlichten ( L U K Ä C S 2 3 , 179sq.); daß er dabei an die duree Bergsons denkt, die er als Verfasser der Theorie des Romans

als

die «wirkliche Zeit» erkannt hat, glauben wir ihm unterstellen zu dürfen. Das Nicht-Hinterfragen des «vulgären Zeitverständnisses» als dem Bezugspunkt jeder Analyse der Zeit in der Literatur schafft den Hintergrund für das proteushafte Erscheinen v o n Chronos innerhalb des jeweiligen Bezugssystems. D i e Zeit ist für uns ein nicht hintergehbarer Faktor eines jeden Weltentwurfs — «toute construction de l'univers» ( P I A G E T , 8 3 ) . 6 3 An dieser Einsicht ändert auch Jacques Derridas' Feststellung nichts, wonach das «vulgäre Zeitverständnis» und der von Heidegger erarbeitete Gegenentwurf unverbrüchlich

mit einer metaphysischen

Fragestellung

verkettet sind: II n'y a peut-etre pas de «concept vulgaire du temps». Le concept de temps appartient de part en part ä la mdtaphysique et il nomme la domination de la prdsence. II faut done en conclure que tout le systfcme des concepts mdtaphysiques, ä travers toute leur histoire, ddveloppe la dite «vulgaris» de ce concept (ce que Heidegger sans doute ne contesterait pas), mais aussi qu'on peut lui opposer un autre concept du temps, puisque le temps en gdndral appartient ä la concept u a l mdtaphysique. A vouloir produire cet autre concept, on s'appercevrait vite qu'on le construit avec d'autres prddicats mdtaphysiques ou onto-thdologiques. (DERRIDA 7 2 , 7 3 ) M Die Suche nach einer «authentischen» Zeitlichkeit bleibt auf der Seite des (positiven)

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Jean-Paul Sartre hebt — ohne den Heideggerschen Begriff zu gebrauchen — in Questions de mithode das Festhalten des Marxismus am «vulgären Zeitverständnis» hervor: «Faute de se ddvelopper dans des investigations rdelles, le marxisme use d'une dialectique arretde. II opdre, en effet, la totalisation des activitds humaines ä l'intdrieur d'un continuum homogene et infiniment divisible qui n'est autre que le temps du rationalisme cartdsien. Cette temporaliti-milieu n'est pas gdnante lorsqu'il s'agit d'examiner le processus du capital par ce que e'est justement cette temporalitd-lä que l'dconomie capitaliste engendre comme signification de la production, de la circulation mondtaire, de la rdpartition des biens, du erddit, des . [...] Le marxisme a pressenti la vraie tempo ralitd lorsqu'il a critiqud et ddtruit la notion bourgeoise de — qui implique que ndcessairement un milieu homogdne et des coordonndes permettant de situer le point de ddpart et le point d'arrivde. Mais — sans qu'il l'ait jamais dit — il a renoned ä ces recherches et prdfdrd reprendre le ä son compte» (SARTRE 57, 76sq.). Wir beziehen uns hier auf die Studie Le DMloppement de la notion du temps chez I'enfant von Jean Piaget, der die Zeit zu den vier grundlegenden Kategorien unseres Denkens rechnet: «Les quatre grandes catdgories de la pensde qui risultent de l'exercice des opdrations infralogiques ou spatiotemporelles constituent, en effet, un tout indissociable: l'objet (ou substance) et l'espace, la causalitd et le temps» (PIAGET, 83). Zur Erläuterung der Kritik Heideggers am Hegeischen Zeitverständnis cf. DERRIDA 7 2 , 5 9 . 27

Entwerfens im Prinzip ein vergebliches Unterfangen. Kann damit aber in Bausch und Bogen die Konzeption Sartres oder Merleau-Pontys verworfen werden? Mitnichten, denn — und hier greifen wir das Problem Bergsons wieder auf — die phänomenologischen und existenzphilosophischen Theorien dürfen nicht mit der fiktionalen — sprich: mimetischen — Gegenüberstellung von Ich und Welt verwechselt werden, die unweigerlich zu dem «vulgären» Ansatz zurückführt. Von daher kann für die heuristische Praxis die Frage nach der Richtigkeit von Derridas These unbeantwortet bleiben. Die Kritik an der jeweils vorherrschenden Zeitauffassung bleibt ungebrochen eine Herausforderung zum Engagement, zur intentionalen Veränderung der Welt (Sartre). Zeit, wie wir sie vorfinden, gibt sich als Teil eines unverrückbaren ontologischen Ortes aus. Doch gerade Hegels Bestimmung der Zeit läuft darauf hinaus, daß ein Seiendes über kein Sein verfügen kann, das die Zeit zu seinen Konstituenten zählt. Die Phänomenologie hat gezeigt, wie die jeweilige Zeiterfahrung und das Zeitbewußtsein sich aus dem Verhältnis von Subjekt und Objekt erklären. Wenn sich das zeitigende Dasein oder das sich verzeitlichende Pour-soi einer der öffentlichen, als Teil einer (vermeintlichen) realite en soi gefaßten Zeit gegenübergestellt wird, erfolgt deren kritischer Reflex. Doch um dieser Realität einen (positiven) Entwurf (Sartre: «projet») entgegenzusetzen, kommt man nicht um das Zeitverständnis herum, das Heidegger das «vulgäre» genannt hat; dieses Dilemma zeigt die Gattung Roman in aller Deutlichkeit. Indem der Mensch einen neuen Weltentwurf formuliert, hat sich lediglich die Ausdrucksform eben jenes Zeitverständnisses verändert, ohne jedoch in seinem Kern getroffen zu sein. Für den Roman heißt dies, daß die literarische Fiktion einen Teil eines solchen «projet» darstellt. Wir haben das «vulgäre Zeitverständnis» — entgegen Heideggers Auffassung — einseitig mit der UhrZeit65 gleichgesetzt und sind uns dessen bewußt, aus der Sicht sowohl von Metaphysik und Ontologie zu kurz gegriffen zu haben. Dennoch glauben wir, daß der Stand der Reflexion von Zeit den ökonomischen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft entspricht, innerhalb der sich zwar in materieller Hinsicht ein tiefgreifender Wandel vollzogen hat, die sich aber eigentümlicherweise sowohl in den ökonomischen Prinzipien wie in ihrem ideologischen Standort treu geblieben ist. Daß das vulgäre Zeitverständnis der unhintergehbare Bezugspunkt der jeweiligen Darstellungs- und Ausdrucksformen von Zeit bildet, wird bereits in der anthropologischen Perspektive der Encyclopedie deutlich, welche die Universalität des Augenblicks hervorhebt: «Les mesures du terns sont arbitrages & peuvent varier chez differents peuples; la seule qui soit universelle, c'est l'instant.»66 Welche Veränderung ist seit Entstehen der Encyclopedie, Richtungsweiser bürgerlich-emanzipatori-

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«Mais nous croyons et nous croirons toujours que ce qui se passe ici et maintenant fait un avec le simultanö; ce qui se passe ne serait pas pour nous tout ä fait r6el si nous ne savions ä quelle heure. L'heure n'est plus d'avance destinde ä l'dvdnement, mais l'6v6nement, quelle qu'elle soit, se l'approprie; il ne serait pas tout ä fait lui-meme si nous ne le placions dans rimmense simultan6it0 du monde et dans sa pouss^e indivise» (MERLEAU-PONTY 64, 141). Stichwort «tems» in: Denis Diderot (ed.), Ecyclopidie ou dictionnaire raisonni des sciences, des arts et des mitiers, 35 Vol., Paris/Neuchätel/Amsterdam: 1751-1780, hier: Vol. XVI, p. 96a.

sehen Denkens, in der Zeiterfahrung eingetreten? Es sei an dieser Stelle noch einmal auf den Theoretiker der «dromologischen» Epoche im Zeichen der «freien Fahrt für freie Bürger», Paul Virilio, verwiesen: Der Augenblick bleibt paradoxerweise als ontologische Fiktion der einzige Bezugspunkt, wenn sich die Geschwindigkeit anschickt, nach der Negation des Raumes, die Zeit selbst zu vernichten. Die dromocratie kennt keine Nische mehr, in welcher der Gedanke an ein Sein zum Tode seine Heimat findet, jeder Gedanke an ein «authentisches» Zeitigen wird mit der Vernichtung der («vulgären») Zeit in Abrede gestellt. Selbst die Devise «Augen zu und durch!» verliert ihre Gültigkeit, denn niemand vermag zu sagen, wo hindurch die Fahrt geht: Die Fiktion eines nunc als Ziel und Ausgangspunkt in einer kantianisch definierten Raum-Zeit-Konstellation verliert ihre Gültigkeit. Das «dem Gegener zuvorkommen» in der modernen Schlacht gerate, so Virilio mit Shakespeare, zu «La Mort tuant la mort» (VIRILIO, 31) — in anderen Worten: Der Tod kommt dem Sein zum Tode zuvor. In der dromocratie wird tradierte Zeiterfahrung lediglich ausgeklammert, die Vorstellung von «Zeit» jedoch nicht aufgehoben. Es sei eine Vermutung in den Raum gestellt: Die Zeit lebt weiter in der Nostalgie des Augenblicks. Daraus kann die nur scheinbar paradoxe Hypothese abgeleitet werden, daß über den Augenblick wieder ein — neuer? — Zugang zu den Phänomenen Zeit und Tod erfolgen wird.

3. Der Augenblick des Thanatos Während bei dem Marxisten Lukäcs die ökonomischen Grundlagen für die Verräumlichung der Zeit interessieren, untersucht der Lebensphilosoph Bergson das Verhältnis von subjektiver und objektiver (meßbarer) Zeit. Bergson setzt der verräumlichten Zeit («temps») die Introspektion der durie entgegen. Aus MerleauPontys phänomenologischer Zeitanalyse, die sich kritisch von Bergson absetzt, geht hervor, daß die Konzeption der duree von der einer verräumlich ten Zeit abhängig bleibt. Die Bergsonsche Zeitanalyse vermengt damit zwei grundverschiedene Ebenen dort, wo er ihre Berührung innerhalb einer — nach seiner Terminologie — räumlichen Zeitvorstellung hätte erkennen müssen. Heideggers kritische Anmerkung zu Bergson stellt darauf ab, daß die duree und der (verräumlichte) «temps» sich letztlich als zwei Erscheinungsweisen ein- und desselben Zeitverständnisses zu erkennen geben, das er das «vulgäre» genannt hat; damit verdeckt Bergsons durie die «Ungeheuerlichkeit des Jetzt».67 Die «Zweiteilung» der Zeit bei Bergson läßt einen weite-

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Cf. Heidegger zu Bergson (sz 18). «Mit Hegels These: Der Raum Zeit, kommt Bergsons Auffassung bei aller Verschiedenheit der Begründung im Resultat überein. Bergson sagt nur umgekehrt: Die Zeit (temps) ist Raum. [...] Die Zeit als Raum [...] ist quantitative Sukzession. Die Dauer wird als qualitative Sukzession beschrieben» (sz 433). Gaston Bachelard setzt der Bergsonschen duree den Primat des «instant» entgegen (cf. La Dialectique de la durie, Paris: P.U.F. 1936). Benjamin deutet die Folgen eines Fixiertseins auf die «durie», die den Tod verbirgt, an: «Die dur6e, aus der der Tod getilgt ist, hat die schlechte Unendlichkeit eines Ornaments. Sie schließt es aus, die Tradition in sie einzubringen» (BENJAMIN 74, 139).

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ren Aspekt des «vulgären Zeitverständnisses» hervortreten. Es konstituiert einen gemeinsamen Bezugspunkt von Subjekt und Objekt. Merleau-Pontys Phänomenologie zeigt dies, obwohl sie in diesem Zusammenhang auf das «vulgäre Zeitverständnis» nicht direkt eingeht, wenn es über die Analyse der Zeit heißt: [...] eile fait apparaitre le sujet et l'objet comme deux moments abstraits d'une structure unique qui est la presence. C'est par le temps qu'on pense I'etre, parce que c'est par les rapports du temps sujet et du temps objet que Ton peut comprendre ceux du sujet et du monde. (MERLEAUPONTY 45, 492)

Mit dem Tod endet dieser für den Leib und damit für das Dasein bzw. Pour-soi (hier: Subjekt) konstitutive Dualismus. Darüber hinaus weist lediglich eine «objektive» Zeit, welcher der nun nicht mehr als Leib mit der Welt intentional verbundene Körper ausgeliefert ist. Im Augenblick des Todes scheint sich das Jetzt dem Individuum ein für allemal in untingierter Form zu präsentieren. Das Subjekt ist mit dem «chosistisch» (Sartre) gefaßten /efzf-Punkt eins, d.h. mit sich selbst identisch geworden (cf. FRANK 86, p. 100); der Augenblick gewinnt sein utopisches Moment. Gleichzeitig nimmt das Jetzt dem Subjekt die Zeit endgültig aus den Händen. Mit der Todesvorstellung gekoppelt,68 weitet sich die Jetzt-Bezogenheit unserer Zeitwahrnehmung zur Obsession eines an quantitativen Maßstäben ausgerichteten Lebens.69 E.M. Cioran hat diese obsessionelle Erfahrung in seinem Essay La Chute dans le Temps ausgeführt: J'ai beau m'agripper aux instants, les instants se ddrobent: il n'en est aucun qui ne me soit hostile, qui ne me röcuse, et ne me signifie son refiis de se commettre avec moi. Tous inabordables, ils proclament Tun aprfes l'autre mon isolement et ma ddfaite.™

Die Angst, die mit dieser Anschauung vom Leben als einem ständigen Zeitverlust verbunden ist, begründet die idealistische Vorstellung, daß Kunst dem Vergänglichen entgegenträte. Gegen diese Auffassung sprechen gerade diejenigen KunstGattungen, die als Ze/i-Kunst bezeichnet werden, und zu deren Konstituenten daher die Zeit selbst zählt. In seiner Antwort auf die von Yves Buin gestellte Frage Que peut la Litterature? widerlegt Sartre die Annahme, Kunst wäre ein Kampf gegen die Zeit, und führt das Beispiel des Romans an: [...] l'art serait lutte contre le temps, c'est-ä-dire contre le flux des impressions subjectives, contre le cours des choses; par consöquent il perdrait le point de vue de la mort ou si vous voulez le point de vue de la mömoire. Car, comme on sait, la mdmoire n'est pas chronologique, eile ne donne pas les choses dans une succession, mais eile les donne comme elles viennent et selon qu'on les 6voque. La vue serait vue, par consiquent, dans le non-temps; et le temps lui-meme complement

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Einen Beleg dafür, daß das «vulgäre Zeitverständnis» vom Tod her bestimmt werden kann, zeigt eine Notiz von Eug&ne Ionesco, dem Dramatiker des Absurden: «C'est done bien la pens6e que ma m£re mourrait, pas aujourd'hui, mais un jour, un jour certain, qui m'a donnd l'id£e du temps» {Journalen miettes, Paris: Gallimard (Coli. Id6es) 1973 [Erstv. 1967], p. 31). Auch diese Obsession des Augenblicks hat die Firma Chronoswiss in einen ihrer Werbeslogans eingebracht: «Die Zeit ist fließend. / Die Zeit bestimmt den Fluß aller Dinge. / Der Augenblick als Insel im Raum des Geschehens» (DER SPIEGEL, Nr. 40, 1991). E.M. Cioran, La Chute dans le temps, Paris: Gallimard (Essais) 1964, p. 183.

limitf. Le lecteur entrerait dans la mort, c'est-ä-dire dans la dimension non-historique. (SARTRE 65, 114sq)

Greift man noch einmal auf Merleau-Pontys Phänomenologie zurück, so wird deutlich, warum eine solche, die Dimension der Zukunft negierende Literatur zwangsläufig dem Faszinosum des Todes erliegen muß: «Un present sans avenir ou un eternel present est exactement la definition de la mort, le present vivant est dechire entre un passe qu'il reprend et un avenir qu'il projette» (MERLEAU-PONTY 45, 384). Der Tod steht damit auch am Horizont des von Blumenberg skizzierten Teufelspaktes angesichts des Mißverhältnisses von verfügbarer Zeit und den geweckten Wünschen; einzig der Tod vermag der dromologischen Atomisierung ad infinitum des letztlich nicht hintergehbaren Jetzt und der damit verbundenen Vernichtung der Zeit, jenes Faktors also der die conditio sine qua non eben der geweckten Wünsche darstellt, Einhalt zu gebieten. Der Teufelspakt ist der Versuch, «mit Mitteln der Magie, der Gewalt oder der Illusion die Weltziele auf die Maße der Lebenszeit zu zwingen, die Lebensgrenze auf den Augenblick eingestandener Weltsättigung zu fixieren» (BLUMENBERG 86, 73), jener Weltsättigung, die Thanatos im numinosen Augenblick verheißt, jener Projektion, die Georges Bataille auf eine Formel gebracht hat: «Exister dans l'instant c'est mourir.»71 Dem Augenblick des Thanatos ist das Paradox eigen, daß hier ausgedrückt werden soll, was sich der Darstellung verweigert. Der ausgesprochene Thanatos erscheint immer auf dem Hintergrund der Zeit, nämlich als Ende; aber: «La fin n'est qu'un moment seulement de la mort [...]» (LfiviNAS 92, 17). Das Fazit mag lauten: Angesichts der «vulgären Zeitauffassung» bleibt Thanatos eine «vulgärer Tod». Die experimentelle Prosa von Joyces epiphany bis zum nouveau nouveau roman hat eine deutliche Hinwendung zum Augenblick vollzogen.72 Jean Ricardou spricht von einer «maladie chronique»:73 Die Zeit-Kunst Roman trachtet danach, die kognitiven Modalitäten der im Raum wirkenden Künste zu reproduzieren. Die Tendenz, Simultanität in die narrative Prosa umzusetzen, mag eine Annäherung an die Zeit indizieren, die quer zu den existenzphilosophischen Ansätzen steht, welche die «vulgäre Zeit» hinter dem mit und in der Zeit agierenden Dasein bzw. Pour-soi zurücktreten ließen, ohne sie aufzuheben. Die Obsession des Jetzt bzw. des Augenblicks — und damit der Simultanität — verrät eine andere Annäherung an das Phänomen der Zeit: weiß man ihr keine andere — faute de mieux nennen wir sie weiterhin «authentische» — Zeitlichkeit entgegenzusetzen, so suspendiert man (scheinbar) ihr Wirken durch das Fokussieren des Jetzt.1* Für die Literatur bleibt

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Georges Bataille, zitiert nach Peter Bürger, Die Tränen des Odysseus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, p. 96. Cf. die von Christian W. Thomson und Hans Holländer herausgegebene interdisziplinäre Aufsatzsammlung Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Dannstadt: wbg 1984. Jean Ricardou, Une maladie chronique, Paris: Les Impressions nouvelles 1991. Einen bemerkenswerten Versuch hat Jochen Mecke in seiner Untersuchung Roman-Zeit (MECKE) unternommen. Sein Zeitbegriff, den er seinen Interpretationen von Michel Butors Emploi du temps und Simons La Route des Flandres unterlegt hat, ist ein semiotischer. Ausge-

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die Zeit in ihrer «vulgären» Auslegung der unabdingbare Bezugspunkt. Sartre antwortet auf die These, die Literatur richte sich gegen den Lauf der Dinge, mit dem Hinweis auf die Literatur als Zeit-Kunst, die einzig in den Akten der Rezeption und der Produktion die Zeit vergessen lasse: Literatur ist damit Praxis, und sei es nur in bezug auf das zu schaffende ästhetische Objekt — Mais de toute facon il est bien 6vident que l'activitd qu'est la littdrature est une νέπtable activit6, soit pour l'auteur, soit pour le lecteur; qu'elle n'est ni notre etre ni notre mort, mais qu'elle est une activitd pratique qui a un but et qui erde des oeuvres. (SARTRE 65, 116)

Die Zukunft («avenir») in der Literatur bezieht sich bei Sartre auf die Konstituierung des literarischen Textes. Und einzig auf dieser Ebene entfaltet die Literatur ihre Wirkung als ein «faire», weil sich hier die Zeit-Analyse von der literarischen Fiktion entfernt. Daraus kann kein Widerspruch zu unserer Kritik an Biemel abgeleitet werden, da die Reflexion des Lesens und des Schreibens die Zeit wieder in der Gestalt auftreten läßt, die zu fliehen angeblich der Sinn (moderner) Romanprosa sein soll. Mit dem Verlassen der Fiktion nämlich kann diese Aktivität keineswegs als solche dargestellt werden, ohne wieder auf die herkömmliche Vorstellung von Zeit zu rekurrieren. In dieser wird das «faire» nur noch in seiner entfremdeten Bedeutung als «Gemachtes», abgekoppelt von dem Individuum in actu, erfaßt. Sowohl Heideggers Zeitigen als auch Sartres «temporalisation» finden weder auf der Ebene literarischer Fiktion noch auf der ihrer Konkretisierung eine diskursiv reproduzierbare Entsprechung. Sartre hat 1970 seinem Vorwort zu L'Inacheve von Andre Puig die Unmöglichkeit dieses Unterfangens hervorgehoben und die Romankunst mit «totaliser une temporal isation singuliere et fictive» (SARTRE 70, 281) bezeichnet. Die «temporalisation» bleibt das «Besondere» und jeder Versuch der Transposition mündet in die Entfremdung. Damit hat sich Sartre der Position Ernst Blochs angenähert, dessen Annahme unterschiedlicher «Zeiten» im Roman wir auf das «vulgäre» Zeitverständnis zurückgeführt haben. Der moderne Roman als Zeit-Kunst — der Bezug u.a. auf den nouveau roman ist evident — stellt bei Sartre ein Äquivalent Mallarmescher Poesie dar, jener Poesie also, die soweit an die Grenze der Sprache vorrücke, daß sie — «sans mots ou en naufrageant tous les mots» — eine indirekte Gegenwärtigung des Nichtrealisierbaren — in anderen Worten: des Unsagbaren — ermögliche. Sartre will damit den Roman als Genre erhalten wissen, denn die Behauptung der Vertreter eines «roman critique», eine Geschichte ließe sich nicht mehr erzählen, laufe auf die kategorische Trennung von Sein und Denken hinaus. Ein Leben weder in der Realität noch in der Imagination zu totalisieren, stellt nach Sartre die Folge dieses Sprachskeptizismus dar: S'il en est ainsi nul ne peut totaliser sa vie ni en v6rit6 ni meme — le discours s'y oppose par essence — en imagination: le romancier critique commence par nous montrer l'impossibilitd du

hend von Peirces Kategorie der thirdness faflt er Zeit als eine relationale Größe, die aus der Zusammenschau zweier Wandlungskontinua durch eine dritte, sozialanthropologisch definierte Instanz resultiert. Dies widerspricht jedoch nicht unserer These vom «vulgären» Zeitverständnis, das dem Roman zugrundeliegt, denn die Wandlungskontinua gründen ebenfalls in der Vorstellung von einem Zeitfluß, in dem seinerseits das Jetzt sein Recht zu behaupten vermag.

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roman. Toutefois, puisqu'il ne cesse pas pour autant de se dire romancier, il persiste ä vouloir totaliser des processus imaginaires. En ce sens ce qu'il ddnonce, c'est aussi les techniques contemporaines. (SARTRE 70, 281sq.)

Der radikale Anti-Roman — der tel quellen Ricardou etwa erhebt die experimentelle Form des Romans zu dessen Essenz75 — negiert die Techniken seiner Gattung und affirmiert so den Bestand des Romans. Die Konsequenz ist, daß der o-chronologische nouveau roman damit auch den Zeitbegriff des Romans bestätigt, hinter dem wir nichts anderes als das «vulgäre Zeitverständnis» erkannt haben. Sartres Fazit zum experimentellen Roman zeigt die Sackgasse auf, in den dieser sich begeben hat, indem er einzig auf das Ausbrechen aus einer als «uneigentlich» empfundenen Zeit fixiert blieb. Dem Scheitern kommt aber das Verdienst zu, die Persistenz eines Zeitverständnisses durch seine unterschiedlichen Instrumentierungen hindurch aufzuzeigen. Gegen den dromologischen Terror scheint die Erinnerung zu stehen, in welcher sich vom nunc ausgehend ein neuer Weg bahnt. Das «Jetzt» wird mit der unabänderlichen Vorherrschaft des «vulgären Zeitverständnisses» implizit zu jenem gemeinsamen Bezugspunkt zwischen der Beschleunigung und dem langsamen Fortschreiten der Anamnese — und damit von Schreiben und Lesen. Nach Frangois Lyotard bewegen sich die beiden Prozesse nicht entlang ein- und derselben Achse; und dennoch vermag er die Anamnese nur als «Zeitverlust» zu chrakterisieren — in anderen Worten: als Verlust an Augenblicken. Aller vite, c'est oublier vite, ne retenir que Γ information utile par la suite, comme dans la «lecture rapide». Mais 1 Venture et la lecture sont lentes qui s'avancent ä reculons dans la direction de la chose inconnue «ä l'intdrieur». On perd son temps ä rechercher le temps perdu. L'anamnfcse est l'antipode — mdme s'il n'y a pas d'axe commun —, l'autre, de I'acc616ration et de l'abrdviation.78

Die «vulgäre Zeit» ist aus der Destruktion und Restituierung des Prinzips Hoffnung nicht wegzudenken. In seinem Buch Experimentum mundi skizziert Bloch die mit dem «vulgären Zeitverständnis» verknüpfte Zeiterfahrung als den virtuellen Ausgangspunkt für den Entwurf einer Utopie, nicht jedoch als deren Telos: Solange noch ein Prozeß des Nicht-Gefundenhabens im Gang ist, so lange und eben deshalb gibt es Vergangenheit. Das Vorbei ist eine Erscheinung des Umsonst, das Vergangene als Nichtmehr-Zeit in der Zeit ist Zeitform ohne Zukunft, Gewordensein minus Gelungensein. (BLOCH XV, 104)

Die Überlegung liegt nicht fern, daß das Auffinden — und hier setzen wir uns mit Blick auf Sartre deutlich von Heidegger ab — vermeintlich authentischer Zeit letztlich mit dem Tod zusammenfallen muß. Die Annahme einer solchen «authentischen Zeit» führt zwangsläufig zu einer chosistische Zeitvorstellung zurück, denn von der Absicht getragen, sichtbar gemacht zu werden, findet sie sich auf der Ebene

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Jean Ricardou, Nouveaux Problimes du roman, Paris: Seuil (Coli. Podtiques) 1978, p. 12. Jean-Frangois Lyotard, L'Inhumain. Causeries sur le temps, Paris: Galilee 1988, p. 10sq.

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einer vergeblichen ontologischen Ortsbestimmung des Einzelnen wieder. Das Zerschlagen der Chronologie im Roman verhält sich zum «vulgären Zeitverständnis» wie das Zerschlagen von Uhren als Akt der Revolte gegen ein gesellschaftliches Instrument der Repression. Die zerstörte Chronologie des Romans greift jedoch weiter als jene vordergründige Revolte: Sie macht die Zeit als Herrschaftsinstrument77 fragwürdig und wird zum Feld der Ideologiekritik in einer Epoche, deren metaphysischer Rahmen allein durch die Zeit gesetzt scheint. Der Abfall des neuzeitlichen Menschen von Gott schildert Jean-Paul Sartre als den Fall in die Welt der «vulgären» Zeit, mit der die bürgerlich-vulgärmarxistische Idee des Fortschritts unverbrüchlich verbunden ist: Le grand changement historique: la mort de Dieu, remplacement de l'Eternel par l'infini tempore). Du temps de Dieu, l'homme 6tait inessentiel par rapport ä l'Eternel sans durie. Aujourd'hui Dieu est tombi dans le temps. Le temps, döcouvert comme s6rie infinie et vu dans sa totalisation qui comprend Ies moments du temps, est 1 äquivalent de l'Etemitö. Les mythes historiques modernes tendent ä faire consid6rer l'homme comme inessentiel par rapport ä la durde totale. Negations öquivalentes de la finitude. Idäe du progrös infini incluse dans le socialisme ou dans le communisme.78

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Am prägnantesten hat Elias Canetti die Funktion der Zeit als Herrschaftsinstrument hervorgehoben: «Die Ordnung der Zeit regelt alle gemeinsamen Aktivitäten der Menschen. Man könnte sagen, daß die Ordnung der Zeit das vornehmste Attribut aller Herrschaft sei. Eine neu entstandene Macht, die sich behaupten will, muß an eine Neuordnung der Zeit gehen. Es ist als beginne mit ihr die Zeit; wichtiger noch ist jeder neuen Macht, daß sie nicht vergeht» (Masse und Macht, Frankfurt a.M.: Fischer (Tb) 1990 [Erstv. 1960], p. 445). Die Zeit als Herrschaftsinstrument funktioniert dann, wenn die neue Macht den Schein erweckt, den Rahmen der Weltzeit abzustecken. Jean-Paul Sartre, Cahierspour une morale [Arlette Elkaüm-Sartre, ed.], Paris: Gallimard 1983, p. 90.

Einleitung: Der Existentialismus des nouveau romancier

1. Ein fiktiver Dialog II [Simon] a relu Matirialisme et revolution de Jean-Paul Sartre (1946), Qu'est-ce que la litterature (1947) et d'autres textes du meme («J'ai toute la collection des Temps Modernes ä la maison, depuis le premier num6ro.»), et il n'est pas du tout, mais pas du tout d'accord.1

Die ersten Romane des 1913 geborenen Claude Simon erschienen in einem literarischen Klima, das von den «directeurs de conscience» Sartre und Albert Camus beherrscht wurde. Simon hat sich dem Dialog mit der Literatur seiner Zeit nicht verweigert. Von Le Tricheur (1945/46) bis zu Le Sacre du printemps (1955) sind seine Bücher nachhaltig von dem «climat existentialiste» geprägt, jener Befindlichkeit, die im Frankreich der Nachkriegsjahre alle kulturellen Bereiche erfaßte. Mit der existentialistischen Literatur und Literaturkritik meldeten sich Zweifel daran zu Wort, ob der traditionelle Roman überhaupt noch der modernen Lebenswirklichkeit entspreche. Der engagierte Schriftsteller Sartre selbst versuchte eine neue, der amerikanischen Literatur entlehnte Form zu entwickeln, welche die Konfrontation des Subjekts mit einer unüberschaubar gewordenen historischen Situation adäquat wiedergeben sollte; seinen großangelegten Romanzyklus Les Chemins de la Liberie brach er aber nach dem dritten Band, La Mort dans l'äme, ab. Direkt aus einer existentialistischen Weltsicht heraus entwickelte sich in Frankreich eine Prosa, welche die Konfrontation von Subjekt und Welt soweit trieb, daß sie das Subjekt — und mit ihm das cartesianische cogito als sein irreduzibler Grund — bis zur Unkenntlichkeit in der Welt reduzierte und in letzter Instanz zum Verschwinden verurteilte. Nathalie Sarrautes Prosabändchen Tropismes (Erstveröffentlichung: 1938) zeigte Menschen als unpersönliche, auf einfachste vegetative Funktionen reduzierte Wesen. Mit ihrer Technik der «sous-conversation» erfaßt sie in den folgenden Romanen die Regionen unterhalb sprachlich vermittelter, zu Jargon und Allgemeinplätzen geordneter Welterfahrung. Nathalie Sarraute stellt über den Weg einer radikalen Introspektion das Subjekt als sichere Instanz in Frage. Der 1922 geborene Alain Robbe-Grillet exteriorisierte die Perspektive der Erzählung und postulierte den Primat der Dinge. Das Subjekt ist in seinen Romanen nur noch über Indizes zu erahnen und nicht mehr als autonomes Agens zu erkennen. Robbe-Grillet steht stellvertretend für eine Wende in der Romanproduktion, der man das Etikett nouveau roman angeheftet hat. Die Themen der Nachkriegsjahre verschwanden und experimentelle Prosaschriftsteller, die zuvor noch um den adäquaten Ausdruck für

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Madeleine Chapsal, «Le jeune Roman», in: L 'Express, 12.1.1961, über ein Gespräch mit Claude Simon und Alain Robbe-Grillet.

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die Befindlichkeit dieser Zeit gerungen hatten, rückten jetzt in ihrem Pakt mit dem Leser die Form in den Vordergrund. Seit dem Erscheinen von Le Vent bei (1957) den Editions de Minuit werden die Romane Simons in einem Atemzug mit denen von so unterschiedlichen Autoren wie Pinget, Sarraute, Robbe-Grillet, Butor oder auch Beckett genannt. Simons in den 60er und 70er Jahren erschienenen Romane werden, nicht zuletzt wegen seiner anfänglichen Nähe zu den Autoren der Zeitschrift Tel quel, mit den Theorieansätzen strukturalistischer und poststrukturalistischer Provenienz in Verbindung gebracht, die den nouveau nouveau roman programmatisch, ja dogmatisch, begleiteten. Dabei ist gerade das «Frühwerk» Simons (cf. ZELTNER 74, 115-149) mit seiner existentialistischen Ausprägung weitgehend aus dem Blick geraten. Im Ringen um eine neue Form, das sich anfangs noch einseitig an amerikanischen Vorbildern orientierte, bahnte er in den ersten Romanen den Weg zu seinen späteren nouveaux romans und nouveaux nouveaux romans.1 Vor allem der frühe Sartre artikulierte in seinem philosophischen und literarischen Werk eine Welterfahrung, die in den 30er und 40er Jahren den Boden für die Rezeption amerikanischer Autoren wie William Faulkner sowohl durch das Publikum als auch durch Schriftsteller bereitete, und zu Produktionen führte, die um eine eigenständige Ausdrucksform rangen. Autoren, welche dieselbe «Befindlichkeit» teilten, folgten jedoch nicht zwangsläufig Sartre auf dem bereits in La Nausee mit dem Anspruch des «faire honte» eingeschlagenen Weg zum politischen Engagement. Nicht anders verhält es sich mit dem Literaturkritiker Sartre, der mit seinen in Situations I gesammelten Essays zur Literatur und seiner phänomenologischen Schrift L'Imaginaire den Blick für neue Möglichkeiten der Literaturbetrachtung geöffnet hat, nichtsdestoweniger aber wegen seiner Forderung nach einer littirature engagee3 gerade von jungen avantgardistischen Autoren, die auf ihre Unabhängigkeit beharrten, heftig attackiert wurde. Die Folge war, daß in der Diskussion um die Funktionsbestimmung von Literatur Sartre gleichzeitig zum Schibboleth und zur Unperson geriet. Sartres Bedeutung für die literarischen Avantgarden im Frankreich der Nachkriegszeit drohte dabei aus dem Blickfeld zu geraten, obwohl er zu den Autoren gehörte, die dem Roman als herausragende Gattung eine eigene, authentische Gestalt geben wollten. Gaetan Picon hat im nouveau roman ein Wiederaufgreifen dieser Bestrebung gesehen: «[...] la tentative amorcee et abandonnee par Sartre d'une codification du roman, tenu pour genre majeur» (PICON, 174).4

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Jean-Claude Vareille hat die Kontinuität bei Simon hervorgehoben: «A propos de Claude Simon: Langage du cosmos, cosmos du langage», in: £tudes litteraires XVII, avril 1984, p. 13-44, hier: p. 39sq. Zu Theorie und Praxis der littirature engagie cf. die Sudien von H. Krauß (KRAUSS 70a) und Karl Kohut, Was ist Literatur? Die Theorie der «littirature engagie» bei Jean-Paul Sartre, Diss. Marburg 1965. Cf. Fabrice Thumerei, der in seiner Einführung zu einer Sondernummer der Zeitschrift Roman 20-50 zu La Nausee die Verbindung zwischen diesem Roman und dem nouveau roman hervorhebt («Situation actuelle de La Nausde», in: Roman 20-50, Juni 1988, p. 5-15, hier: p. 6).

Sartres Existentialismus, der sich in La Nausee primär noch als die literarische Transposition einer Erfahrung der Existenz in ihrer «obszönen» Unmittelbarkeit manifestiert, erstarrt nicht in der Konfrontation mit der alle Seinsauslegungen hintergehenden Einsicht in die krude Kontingenz; vielmehr geht sein Existentialismus kritisch das Seinsverständnis an, mit dem wir uns in dieser unserer Welt einrichten. Das Denken Sartres führt zu einer Distanz, die es ermöglicht, in die Welt gestaltend, «engagiert» einzugreifen; «survol» und «mediation» gehören daher zu den Termini, die diesen spezifischen Aspekt des Sartreschen Existentialismus kennzeichnen. Bildende Kunst und Musik sind für Sartre Formen, die unsere Realität auf die mit dem jeweiligen Material vorgegebene Art und Weise als Sein «erfahrbar» machen: «En peinture, en musique, l'etre affleure plus facilement» (SARTRE 64a). Diese Unmittelbarkeit des Seinsbezuges erlaubt die Literatur hingegen nicht. Ihr Material sind Zeichen; sie weisen über ihre eigene Materialität hinaus und verweigern daher dem Seienden die Komplizenschaft. Der in ihnen sich artikulierende Weltbezug ist ein vermittelter, ein ausgelegter; das Buch tritt hinter dem zurück, was es bezeichnet: En littdrature nous travaillons avec des signes, nous nous renvoyons ä des objets qui ne sont pas. Le livre n'a pas d'importance, c'est ce qui est d6sign6 qui est important. Alors, ä partir de lä, vous ne pouvez pas faire une «Evolution» qui supprime le signe, vous supprimerez le monde. Si vous intöriorisez le signe, vous faites des la poisie. (SARTRE 64a)

Durch die Vermittlung von Zeichen wird die Welt erst zur Welt, so daß eine gegen das Zeichen gerichtete (literarische oder politische) Avantgarde eine Revolte gegen die Welt (-erfahrung), gegen die Anschauung des Seins ist. Wird dagegen durch das sprachliche Gebilde das Zeichen in seinem Weltbezug neutralisiert, interiorisiert, und verweist es immer nur auf das von dem sprachlichen Gebilde selbst konstituierte Denotat, dann liegt Poesie vor. Der nouveau roman setzt nach Auffassung Sartres keinen neuen Objektbereich, sondern erschöpfe sich in einer formalen Ausgestaltung ein- und derselben Aussage. Dem nouveau roman eignet weder die Geschlossenheit des poetischen Textes noch die Unmittelbarkeit der Seinserfahrung, denn seine Konstituenten bleiben Zeichen mit dem ihnen inhärenten (vermittelnden) Weltbezug. Zu einer Quasi-Geschlossenheit im Sinne der Poesie kann der Roman nur dann gelangen, wenn er — hier führen wir den Gedanken Sartres fort — sich fortwährend demselben Gegenstand zuwendet. Als Beispiel für eine solche, immer auf dasselbe Objekt bezogene Literatur nannte Sartre den Roman Claude Simons: Prenons Claude Simon par exemple. II 6crit sur le temps, sur la m6moire. Au fond que montret-il de plus que Proust? Vous me direz, il y a de Γ arrangement different. Mais nous parlons de signes et l'arrangement ne change quelque chose tui-meme que si le contenu a chang6. Or, je ne vois pas qu'il y ait de contenu diffirent entre lui — Claude Simon — et Proust. Je dis done alors que je me trouve en prfisence de tentatives habiles, intdressantes, mais qui ne changent pas le contenu depuis Proust. (SARTOE 64a)

Sartres polemische Kritik an Simon zielt vordergründig auf die obsessionelle Wiederkehr immergleicher Themen und Motive in dessen Romanen; der Hauptvorwurf gegen die nouveaux romanciers, für die stellvertretend hier Simon steht, ist ihre Weigerung, sich mit ihrer Literatur zu engagieren. Sartres Erklärung, ein literari37

sches Werk habe noch kein Kind vor dem Verhungern gerettet (SARTRE 64b), führte zu einer scharfen Replik Simons. Der nouveau romancier weist in einer von Elend gezeichneten Welt Kunst und Literatur eine Funktion zu, die sich — vorsichtig formuliert — auf den Begriff «Kompensierung» bringen läßt. Sie ermöglichen «[...] ces ouvertures sur les espaces toujours libres et inalienables de l'imaginaire du merveilleux et du songe [...]».·5 Jean Amery brachte den Disput zwischen Sartre und Simon auf folgende Formel: «Bei dem engage Sartre wird die Revolution groß geschrieben, bei Claude Simon, der sich desengagiert hat, die Kunst.»6 Diese vereinfachende Reduzierung des Verhältnisses zwischen Sartre und Simon auf die Konfrontation von engagement und disengagement hat dazu geführt, daß zwar auf eine mögliche tiefere Beziehung zwischen den Romanen Simons und Sartres philosophischem und literarischem Werk hingewiesen wurde,7 diese aber unseres Wissens nie Gegenstand einer systematischen Untersuchung geworden ist. Dazu hat sicherlich beigetragen, daß Claude Simon noch in jüngster Zeit jegliche Beeinflussung seiner Romane durch Sartre kategorisch verneint hat.8 Anders Alain Robbe-Grillet, dessen Artikel in Le Monde zum Erscheinen der Pliiade-k\xsg&>e von Sartres — nunmehr definitiv zu Klassikern neutraliserten — Romanen provokativ mit «les heritiers de , c'est nous» (ROBBE-GRILLET 82) überschrieben wurde. Mit Le Miroir qui revient, dem ersten Band von Robbe-Grillets autobiographischem Zyklus setzte Robbe-Grillet sein «existentialistisches Outing» fort und bekannte, daß er in der Schuld von Camus' Etranger und Sartres La Nausee stehe (ROBBE-GRILLET 84, 167): Quant au personnage-philosophe de La nausie, c'est, de son propre aveu, la contingence agressive et posseuse des choses dont est fait l'univers extärieur, dfcs qu'ou leur arrache la mince couche d'ustensilitd (ou seulement de sens) qui nous protege nous-memes en meme temps qu'elle les dissimule, qui constitue 4 la fois l'origine de son malaise m6taphysico-visc6ral, l'objet de sa fascination passionnelle, ainsi qu l'incitation initiale ä tenir ddsormais und journal des «6v6nements» (autrement dit, de ses rapports au monde), done Ä produire du ricit. (ROBBEGRILLET 84, 164sq.)

Die vorliegende Studie zum «Existentialismus des nouveau romancier Claude Simon» konstruiert einen fiktiven philosophischen Dialog zwischen diesem und Jean-Paul Sartre. Während Sartre den existential istischen Literaten und Philosophen in einer Person bzw. einem CEuvre vertritt, erschließt sich der — so Maurice Merleau-Ponty über den nouveau romancier — «penseur» (cf. MERLEAU-PONTY 61) Claude Simon,

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«Claude Simon, Pour qui done 6crit Sartre»?, in: L'Express, 28.5.1964. Jean Am6ry, «Geist und Gesellschaft: Beispiel Frankreich» [Erstv. 1968], in: idem, Widersprüche, Stuttgart: Klett 1971, p. 101-120, hier: p. 112. Luden Dällenbach spricht von einer «origine (lointaine et profonde) de la pol£mique avec Sartre, maitre ä penser et dernier [...]» (DÄLLENBACH 88a 123). Cf. Alastair B. Duncan, «Simon and Sartre», in: The Review cf Contemporary Fiction, Frühjahr 1985, p. 9094; Claude Simon, »«The Novel as Textual Wandering: An Interview with Claude Simon» [Claud DuVerlie], in: Contemporary Literature, 28/1, 1987, p. 1-13. Claude Simon, «Reflections on the Novel: Claude Simon's Adress to the Colloquium on the New Novel, New York University, October 1982», in: The Review of Contemporary Fiction, Frühjahr 1985, p. 14-23, hier: p. 16.

der über sich selbst einmal gesagt hat, von Philosophie verstehe er nichts,9 erst qua Extrapolation aus seinen Romanen. Der fiktive Dialog führt weg von der dichotomischen Scheidung von engagierter und nichtengagierter Literatur, ohne jedoch einer Entpolitisierung des Philosophen Sartre das Wort zu reden. Die auf der abstrakten Ebene philosophischer Diskursivität gewonnenen Erkenntnisse sollen in eine ideologiekritische Interpretation der Romane Simons eingehen. Der fiktive Dialog zwischen Sartre und Claude Simon begründet die chronologische Gliederung nach dem Erscheinen der Bücher Claude Simons. Die Untersuchung Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des «nouveau romancier» Claude Simon ist in zwei Teile gegliedert. Diese entsprechen zwei Phasen, in die das Schaffen Simons von den 40er Jahren bis 1962 eingeteilt werden kann.10 Teil I (,Existentialismus): Unter dem Titel «Die unerträgliche Ausweglosigkeit des Seins» beginnt der erste Teil der Untersuchung mit einer Bestimmung des Begriffs Existentialismus, der den heuristischen Anforderungen der darauffolgenden Interpretationen gerecht zu werden sucht. Die Darstellung eines «existentialistischen Diskurses» bezieht sich fast ausschließlich auf Schriften aus der Anfangsphase des Existentialismus. Emmanuel Levinas' wenig beachteter Aufsatz De l'Evasion und die frühen, zum Teil posthum veröffentlichten Schriften Sartres zeigen, wie die Seinsauslegung des französischen Existentialismus zum einen die Befindlichkeit im Frankreich der 30er und 40er Jahre artikuliert, zum anderen sich explizit ideologiekritisch mit ihrem sozialen Ort auseinandersetzt. Auf einem Vergleich mit Sartres La Nausee baut die Interpretation von Simons Erstlingswerk Le Tricheur (1945/46: «La Nausee jusqu'au bout») auf. Der omnipräsente Zufall und ein geschärftes Bewußtsein des Protagonisten für eine als depravierend erfahrene Zeit werfen die Frage nach der Freiheit des Willens und des Handelns auf. Im Kapitel zu dem autobiographischen Buch La Corde raide (1947: «Portrait eines Schriftstellers als Seiltänzer»), das sich in mitunter heftiger Polemik mit seiner Zeit auseinandersetzt, wird weiter nach den ideologischen Implikationen des Existentialismus Simons gefragt. Das monologische Buch läßt die Vorstellungen von Zeit und Tod im Kontext des Strebens nach Eigentlichkeit in einer vom Fetischismus gezeichneten Welt trügerischer Seinsauslegung hervortreten. Gulliver (1952: «Die betrogene Befreiung») führt die existential istische Thematik vor dem Hintergund der Liberation fort. Seine Protagonisten situiert dieser Roman in einer Welt, in der sie einsam den Grenzerfahrungen ausgesetzt sind; die intersubjektiven Beziehungen lassen sich nicht mehr zu einer geschlossenen Seinsauslegung synthetisieren. Le Sacre du Printemps (1954: «Der unmögliche Ödipus») schließlich greift — ebenfalls in einer mitunter expliziten Auseinandersetzung mit den dem Existentialismus zugerechneten Autoren — das Ödipus/Hamlet-Thema auf. Hinter der Titelmetaphorik der Initiation («rites

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Claude Simon, «Instantan6», in: Les Nouvelles litteraires, 7.11.1957. Eine ähnliche Einteilung hat Simon selbst vorgenommen: «Reponses de Claude Simon ä quelques questions dcrites par Ludovic Janvier», in: Entretiens 31, 1972, p. 15-29, hier: p. 16sq.

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de passage») stehen die Probleme der Adoleszenz innerhalb einer in ihrer ontologisch verklärten Selbstgewißheit erschütterten Welt. Teil II (Nouveau roman): Dem zweiten Teil der Untersuchung ist unter dem provokativen Titel «Nouveau roman: Eine literaturhistorische Notwendigkeit?» eine Darstellung des nouveau roman aus der Sicht existential istischer Literaturtheorie vorangestellt; besondere Beachtung findet dabei die Rezeption amerikanischer Literatur in Frankreich. Ein eigenes Unterkapitel nimmt sich der Zeitauffassung des nouveau roman der «ecole du regard» an. Die Geschichte von Antoine Montes, dem Protagonisten von Le Vent (1957: «Die Tage eines Idioten»), mit der Simon bei den Editions de Minuit debütierte, zeigt, wie die in den ersten Romanen entwickelten Themen- und Motivkomplexe im nouveau roman weiterwirken. Der Außenseiter Montes greift als störender Faktor in das Leben einer südfranzösischen Kleinstadt ein. Zeit und Tod haben in der Gesellschaft der Stadt ihren festen Platz: Die Gesten des Alltags regelt ein fester Zeitplan und die Erbfolge garantiert die Kontinuität. Der Untertitel von Le Vent — «tentative de restitution d'un retable baroque» — erschließt sich erst bei oder nach der Lektüre: Er verweist auf den besonderen Bezug zum Leser, den der Roman über die Form herstellt. In L'Herbe (1958: «Ein Roman visά-vis de rien») finden die Themen Zeit und Tod ihre dichteste Ausgestaltung. Die zehn Tage dauernde Agonie einer alten Grundschullehrerin und ihr Verhältnis zu Louise, der jungen Frau ihres Neffen, lassen eine Erfahrung hervortreten, in der Zeit und Tod einem indifferenten Werden untergeordnet sind. Für eine Kollektivität ist dieses Werden gleichbedeutend mit dem Kontinuum der Konkretisierungen von Spuren des Vergangenen. L'Herbe verdeutlicht in einigen Schlüsselpassagen die poetologischen Prämissen des nouveau romancier Claude Simon. Die Liebesnacht, die der Protagonist Georges mit der jungen Witwe seines im Krieg auf den Straßen Nordfrankreichs bzw. Belgiens gefallenen Hauptmanns verbringt, strukturiert den Gedächtnis- bzw. Erinnerungsroman La Route des Flandres (1960: «Das nicht eingelöste Versprechen der Erinnerung»), Wie Louise in L'Herbe begibt sich Georges auf eine Spurensuche, von der er sich die metaphysische Erkenntnis erhofft, die Vergangenheit und Gegenwart zu einer sinnfälligen Totalität verknüpft. Mit einer besonderen Form des Erinnerns konfrontiert Claude Simon den Leser in Le Palace (1962: «Es war einmal die Revolution»): mit dem vergeblichen Versuch, durch ein nachgestelltes Dejä-vu ein Erlebnis zur Zeit des Spanischen Bürgerkrieges in seiner vergangenen Intensität zu wiederholen. Die Thematik von La Route des Flandres aufgreifend, hebt Le Palace die Zeit in ihrer «vulgären» Auslegung hervor: Die reflektierende Analyse von Zeit über ihr Segmentieren in «instants» entzieht sie der Praxis und mündet in die Paradoxa des Zeno von Elea. Ein Epilog über fünf Randnotizen Merleau-Pontys zu Claude Simons Romanen schließt die Untersuchung ab. Die Cinq Notes sur Claude Simon erhellen den Übergang von einer ontologischen bzw. phänomenologischen Fragestellung in der Philosophie hin zu einer sprachanalytischen; dieser Übergang wurde unter dem Etikett «linguistic turn» zu dem Paradigmenwechsel der Nachkriegsphilosophie gekürt. Den Berührungspunkt zwischen Literatur und Philosophie stellt dabei der von Barthes geprägte und von Derrida zum Schlüsselbegriff nachmetaphysischen Denkens erhobene Terminus

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ecriture dar. Dabei leitet die Hypothese, daß eine Poetik der ecriture sich vor derselben ideologischen Folie bewegt wie ein a-politische Existentialismus, die Untersuchung. Die Konfrontation mit der Zeit und dem Tod in den Schriften Simons steckt den Rahmen dieser Untersuchung ab. Als der allesverschlingende Chronos bildet die Zeit dasjenige Prinzip, gegen das sich der existentialistische Mensch auflehnt, dem er seine eigene Zeitlichkeit transzendierend gegenüberzustellen sucht. Vor dieser Folie wird der Tod zu einer ambivalenten Größe: Als Ende eines jeden Tranzendierens gerät er für das Bewußtsein zur Bedrohung; Verheißung wird er dagegen für das ohnmächtige Individuum in seiner ontologischen Diaspora (Sartre), da er Identität verspricht. Heideggers Sein zum Tode hat die beiden Aspekte des Todes zu einer trügerischen Synthesis vereint, da er allein durch den Tod die individuellen Entwürfe zu einem sinnfälligen Ganzen vereint sieht; der Tod wird damit zum principium individuationis. Der Augenblick des Todes entzieht sich aber individueller Bestimmung, so daß hier das principium individuationis Tod letztlich das Individuum nur als entfremdetes konstituiert. Simons Romanprotagonisten werden auf unterschiedliche Weise mit dem Tod konfrontiert, der auf der Ebene eines entfremdeten Daseins die Zeit zum engsten Verbündeten hat. Der Annahme einer mit dem Tod verbündete entfremdeten Zeit liegt ein Zeitverständnis zugrunde, das Heidegger das «vulgäre» genannt hat: das unendliche Fließen von qualitativ indifferenten Jetzt. Daraus leitet sich eine wichtige Arbeitshypothese für die vorliegende Untersuchung ab: In dieser Interdependenz von Zeit und Tod manifestiert sich das Drama Simonscher Protagonisten, die um einen Bezug zum Sein ringen, in dem diese Erfahrung der Entfremdung aufgehoben ist; ihr Scheitern liegt darin begründet, daß sie den Tod nicht als ein synthetisierendes, sie in ihrer Individualität bestätigendes Sein zum Tode erfahren. Bar dieser Synthesis vermögen sie auch keine eigene, auf den Tod hin ausgerichtete, vermeintlich «authentische» Zeitlichkeit herauszubilden. Das Verschwinden des Romanprotagonisten im nouveau roman,n der gemeinhin als der literarische Ausdruck der «postmodernen Toterklärung» (cf. FRANK 86) von Subjekt, Person und Individuum gesehen wird, erscheint somit untrennbar mit einem vom «vulgären Zeitverständnis» abhängigen Paradigma verknüpft. Für die Gattung Roman haben wir in dem mit «Chronos und Thanatos» überschriebenen Prolog die Vermutung ausgesprochen, daß das «vulgäre Zeitverständnis» zu den konstitutiven Faktoren dieser Zeitkunst gehört. Die vorliegende Untersuchung wäre damit überfordert, die Antwort auf die Frage zu

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Lucien Goldmann erkennt in der «dissolution du personnage» das Signum der Werke des frühen nouveau roman (GOLDMANN 73, 297sq.). Manfred Naumann behandelt in einem Aufsatz die frühen Romane von Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet und Michel Butor unter diesem Gesichtspunkt: «Frühe . Selbstaufhebung des bürgerlichen Romanhelden», in: idem, Studien zum Roman im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin (DDR): Akademie-Verlag 1978, p. 235-270. Erneut greift Helmut Scheffel dieses Thema unter dem Aspekt der PostmoderneDiskussion auf: «Auf der Suche nach dem Subjekt. Die Auflösung des Helden im » (SCHEFFEL).

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geben, ob eine solche «vulgäre Zeitauffassung» nicht überhaupt unhintergehbar ist und ob nicht die Überwindung einer repressiven, den Menschen seiner Tätigkeit entfremdenden Zeit durch eine veränderte Haltung zu dieser erreicht werden kann. Das Ungenügen an der phänomenologischen bzw. ontologischen Antwort führte, gestützt auf den philosophischen Diskurs in den 60er Jahren, zu einer Hinwendung der Literatur zu dem ihr ureigenen Material: Sprache in «geschriebener» Form und Sprache als Prozeß des Schreibens - icriture. Die icriture erlangt den Primat vor der parole und deren Rückbindung an den logos metaphysischen Denkens: icriture — jenseits von Subjekt-Objekt — ersetzt (Derrida: «suppleer ä...») den (Heidegger: eigentlichen) Weltbezug (Sartre: proiectum). Die Beschränkung von Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des «nouveau romancier» Claude Simon auf die Romanproduktion bis 1962 ist durch zwei Gründe gerechtfertigt: Mit den Romanen Histoire und La Bataille de Pharsale trat Simon in eine dritte Phase seines Schaffens, in der sich — wenn auch mehrfach gebrochen — eine direkte Rezeption «poststrukturalistischer» Theoreme in den Romanen selbst manifestiert; Le Palace stellt somit innerhalb des (Euvres von Simon den (vorläufigen) Abschluß des noveau roman der 50er Jahre dar. Der zweite Grund für eine Beschränkung des Untersuchungszeitraumes ist rein arbeitstechnischer Natur. Eine detaillierte Interpretation aller Bücher Simons unter den bereits angesprochenen methodologischen und philosophischen Voraussetzungen würde den Rahmen einer Untersuchung sprengen, die einem mehrschichtigen Erkenntnisinteresse folgt: 1. Das genuin literaturwissenschaftliche Anliegen, das hier verfolgt wird, ist die Interpretation der 1945/46 — 1962 erschienenen Romane Simons nach den Prämissen einer ideologiekritischen Hermeneutik. 2. Seit den 40er Jahren stehen in Frankreich Literatur, Literaturtheorie und Philosophie in einer besonders engen Beziehung zueinander. Diese soll anhand der zu interpretierenden Werke konkretisiert werden. Dabei gilt es, die jeweiligen Gesetzmäßigkeiten der verschiedenen Diskurse zu respektieren. Für die Literaturinterpretation heißt dies, daß sie mit der Philosophie auf der Ebene des hermeneutischen Vorgriffs in Verbindung gebracht und nicht zu einer bloßen Illustration der jeweiligen Theorie herabgewürdigt wird. 3. Schließlich versteht sich die Untersuchung als Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Methodologie. Sie will versuchen, Wege aufzuzeigen, wie unterschiedliche, ja konkurrierende Diskurse innerhalb eines Werkes oder einer Gruppe von Werken sinnvoll zu einer stringenten Interpretation zusammengeführt werden können. Der letztgenannte Punkt betrifft in erster Linie die sowohl in der existential istischen Literatur als auch im nouveau roman präsenten Anleihen aus Psychoanalyse und Tiefenpsychologie. Der anfängliche Arbeitstitel der vorliegenden Untersuchung, der auf die Entwicklung des Ödipusmotivs innerhalb der Romane Simons abstellte, lautete «Auf der Suche nach dem Vater». Am Beispiel des ödipalen Motivkomplexes läßt sich der Wandel von Subjektivität und Individualität in der französischen

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Nachkriegsliteratur aufzeigen.12 Geblieben ist ein an Freuds Metapsychologie orientierter Hintergrund der Interpretationen, der auf den historisch-soziologischen Ort der jeweiligen Werke verweist und sich nachdrücklich von einer «psychocritique» absetzt. Der hier vogetragene Ansatz widerspricht nicht kategorisch einer «postmodernen» Lektüre der Romane Simons, die dem dekonstruktivistischen Interpretationsparadigma der Differentialität folgt oder nach der Partikularität einer ecriture simonienne forscht.13 Die Möglichkeit einer solchen Lektüre ist bereits in nuce mit der dem französischen Poststrukturalismus und dem nouveau roman gemeinen Absetzung vom französischen Existentialismus angelegt. Peter Bürger vertritt die Auffasung, man könne den Poststrukturalismus auch als «Postexistentialismus» betrachten — «insofern die Auseinandersetzung zwischen Sartre und Levi-Strauss einen bedeutsamen Einschnitt in der Geschichte des französischen Denkens der Nachkriegszeit markiert».14 Eine postmoderne bzw. differentielle Annäherung an die Romane Simons soll daher aus der Kontinuität des (Euvres heraus vorbereitet werde. Als heuristisches «Leitmotiv» ist der Interpretation der vier nouveaux romans (1957-1962) ein Barockverständnis eingewoben, das in den 50er Jahren entstand und in der französischen Literatur rezipiert wurde. Simon bedient sich eines solchen «mißbrauchten» (Adorno) Barocks und verleiht seinen Romanen einen emblematischen Charakter. Eine «postmoderne» Heuristik findet in der manieristischen Ausgestaltung des Emblems ein Modell, das den «autoreferentiellen» Text und die «differentielle» Lektüre antizipiert. Im Emblem wird Bekanntes integriert und in der Anordnung der Elemente zu einem Rätsel verschlüsselt.

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Rainer Warning erkennt in Simons CEuvre eine der literarischen Realisierungen schlechthin des nunmehr veränderten Verständnisses von Individualität (Diskussionsbeitrag zu: Manfred Frank u. Anselm Haverkamp (edd.), Individualität Poetik und Hermeneutik XIII), München: Fink 1988, p. 642). Zum Stand der Forschung sei auf folgende Beiträge verwiesen: Stuart W. Sykes, «Parmi les Aveugles le borgne est roi. Α Personal Survey of Simon Criticism», in: Alastair B. Duncan (ed.), Claude Simon. New Directions, Edinburgh: Scottich Academic Press 1985, P. 140-155; Guy Neumann, «Etat des dtudes simoniennes (catalogue bibliographique des travaux publi6s depuis 1985)», in: idem (ed.), Claude Simon, Sondernummer der Revue des Sciences Humaines 220, 1990-4, p. 191-216; Till R. Kuhnle, «Claude Simon und der Nouveau Roman: Erträge und Desiderate der Forschung aus literatursoziologischer Sicht» (KUHNLE 91); idem, «Anthropologie und Literaturwissenschaft — Die Wiederbelebung eines Paradigmas? Überlegungen am Beispiel einiger Studien zu Claude Simon» (KUHNLE 93); Guy Neumann, «Claude Simon: 6tat des recherches 1989-1992», in: Ralph Sarkonak, Revue des lettres modernes (20th l'icosatheque): Claude Simon 1. A la recherche du referent perdu, Paris: Minard 1994, p. 121-145. Peter Bürger, «Die Literatur und der Tod: Maurice Blanchot», in: RZL/CHR 1992 1/2, p. 168182, hier: p. 68.

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2. Methodologische Vorüberlegung Unser Ansatz ist einer historisch-dialektischen Literaturwissenschaft verpflichtet, deren Annäherung an ihren Gegenstand sich mit einer «Passage» von Walter Benjamin am treffensten wiedergeben läßt: Die Gegenwart bestimmt an dem Gegenstand der Vergangenheit, wo seine Vor- und seine Nachgeschichte in ihm auseinandertreten, um seinen Keim zu erfassen. (BENJAMIN 83, 596 [Nil,5])

Der Interpret steht immer schon innerhalb eines bestimmten Kontextes, der die «Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet» (GADAMER, 277), 15 präjudiziert und der sich seiner «Befindlichkeit» sowie ihrer historischen und ökonomischen Determinanten eingedenk bleiben muß; 16 der Interpret steht nicht nur passiv an seinem historischen Ort, sondern nimmt durch die Wahl seines Sujets, die von ihm applizierte Methode und seine institutionelle Verankerung an Kritik oder Affirmation seines Standorts teil — kurz: er kann sich nicht aus seiner Verantwortung verabschieden (cf. KRAUSS/KRAUSS 8 7 ) . An dieser Stelle sei für den konkreten Umgang mit dem literarischen Text zunächst auf die von H.R. Jauß erarbeitete methodologische Leitlinie der Rezeptionsästhetik verwiesen, wonach Literaturgeschichte «den geschichtlichen Prozeß ästhetischer Rezeption und Produktion bis zur Gegenwart des Betrachters als Bedingung der Vermittlung aller formalen Gegensätze» (JAUSS 70, 192) voraussetzt. Kein literarisches Werk steht allein, sondern ist innerhalb einer Reihe als Antwort auf vorausgehende zu verstehen. Peter Bürger (BÜRGER 72, 8) und Henning Krauß (cf. KRAUSS 8 0 ) haben die Bedeutung dieses von der Rezeptionsästhetik aus dem russischen Formalismus heraus entwickelten Gedankens für eine historisch-dialektisch ausgerichtete Literatursoziologie unterstrichen. 17 In der Entwicklung von literarischen Reihen besteht eine Interdependenz zu anderen, außerliterarischen Reihen, die alle innerhalb der jeweiligen gesellschaftlich-kulturellen Totalität zu verorten sind. Dies setzt voraus, daß der Formalismus — und mehr noch eine falsch verstandene Formalismusrezeption — nicht der von Mukarovsky denunzierten Tendenz verfällt,

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Zur Entwicklung einer kritischen Hermeneutik cf. Erkenntnis und Interesse von Jürgen Habermas (HABERMAS 68). Die literarische Hermeneutik weiterentwickelt zuhaben, ist das Verdienst von Hans Robert Jauß, der mit seiner Schrift Literaturgeschichte als Provokation zu den Begründern der Rezeptionsästhetik zählt (JAUSS 70). Daß die Hermeneutik auch Bezugspunkt moderner strukturalistischer und poststrukturalistischer Texttheorie bleibt, hat Manfred Frank in seinem Buch Das individuelle Allgemeine (FRANK 85) aufgezeigt. Zur Diskussion unterschiedlichen Theorieansätzen in der Literaturwissenschaft in ihrem Verhältnis zur Hermeneutik sei an dieser Stelle auf die Schrift Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik von Jauß hingewiesen (JAUSS 82). Cf. Peter Bürgers richtungsweisender Aufsatz «Zur Methode. Notizen zu einer dialektischen Literaturwissenschaft» (BÜRGER 72, 18). In seinem Buch Der französische Surrealismus (BÜRGER 71), p. 190sq.) diskutiert Peter Bürger diese Frage auch mit Blick auf die Rezeptionsästhetik von Jauß (JAUSS 70). H. Krauß verweist auf das dialogische Paradigma des Formalismus im Kontext einer literatursoziologischen Interpretation, das eine präzisere historische Ortsbestimmung des jeweiligen Textes erlaubt.

die Reihe auf der Grundlage einer «Autonomie der Kunst im Hinblick auf die Phänomene anderer Entwicklungsreihen» zu betrachten.18 Im methodischen Erfassen dieser Interdependenzen divergieren jedoch die jeweiligen Ansätze. Peter Bürger operiert mit dem Begriff der Institution Kunst und meint damit «die epochale Funktionsbestimmung von Kunst in ihrer epochalen Bezogenheit» ( B Ü R G E R 77, 174). Als normatives Zentrum der Institution Kunst in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft hat Bürger die Autonomiedoktrin der idealistischen Ästhetik ausgemacht. Hier setzt H. Krauß mit seiner Kritik an Bürgers Institutionsbegriff ein, da [...] die bisherigen Definitionen der Institution Kunst wegen ihrer programmatischen Begrenztheit auf den Überbaubereich [...] literatursoziologisch noch nicht recht operationalisierbar scheinen. Die Institution Kunst bedarf, soll sie in ihren historischen Variablen distingibel werden, der Konkretisation durch die Erkenntnisse, die die empirische Untersuchung des jeweiligen kulturellen Feldes bereitzustellen vermag. (KRAUSS 80, 269)"

Der nouveau roman und mehr noch der nouveau nouveau roman, eine in einigem zeitlichen Abstand zu den historischen Avantgardebewegungen entstandene experimentelle Literatur, die in dieser Form hauptsächlich auf Frankreich beschränkt bleibt, belegen den Einwand von Krauß.20 Die Voraussetzungen dafür, daß literarische Manifestationen — Juri Tynjanow spricht von «literarischen Fakta» — oft auf einen bestimmten Raum beschränkt bleiben, oder daß Leerstellen innerhalb einer literarischen Reihe einen Rezeptionsraum schaffen, den Texte aus anderen Räumen ausfüllen, sind historisch. Literatur erfüllt innerhalb des nach ökonomischen, sozialen und historischen Gegebenheiten zu definierenden Raumes eine bestimmte Funktion, die keineswegs im pragmatischen Sinne des Begriffs zu verstehen ist: «Die Existenz eines Faktum als literarisches Faktum hängt von seiner Differenzqualität ab (das heißt von der Korrelation entweder zur literarischen oder zu einer außerliterarischen Reihe), mit anderen Worten — von seiner Funktion» ( T Y N J A N O W , 35). Das

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Jan Mukarowsky, Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (ed), 4. Aufl. 1982, p. 8.

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Den Begriff des Feldes hat H. Krauß von Pierre Bourdieu übernommen: Zur Soziologie der symbolischen Formen (BOURDIEU 74, 75sqq.). P. Bürger hat seinen Begriff der «Institution Kunst» aus den Vorgaben der idealistischen Ästhetik abgeleitet. Demgegenüber eignet sich der Ansatz Bourdieus zur Vermittlung zwischen den beiden Ebenen, wenn am Werk diejenigen Inhalte und ihr formales Äquivalent aufgezeigt werden können, durch die sich das Werk als teil und — strikt dialektisch argumentiert — konstitutiver Faktor des jeweiligen «literarischen Feldes» auszeichnet: «There is no other criterion of membership of a field than the objective fact of producing effects in it» (BOURDIEU 83, 323). Unter anderem auf die Einwände von Η. Krauß antwortend hat Peter Bürger seinen Ansatz in «Naturalismus und Ästhetizismus als rivalisierende Institutionalisierungen der Literatur» (BÜRGER 78) präzisiert. Um dem Mißverständnis zu entgehen, daß er mit seiner Konzeption der «Institution Kunst» eine allein an der bürgerlichen Gesellschaft ausgerichtete Kategorie auf andere Gesellschaftsformationen zu übertragen suche, betont Bürger, es gebe um die abstrakte Kategorie «Vorstellungen über die Kunst in ihrer sozialen Bedingtheit, die den Umgang mit Kunstwerken regeln» (BÜRGER 78, 13). Für diese Abstraktion hat Bürger den Begriff «Institutionalisierung» vorgeschlagen, um auch eine terminologische Abgrenzung von der «Institution Kunst» zu ermöglichen, welche er präzisierend als «herrschende [...] Institutionalisierung der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft» (BÜRGER 78, 13) faßt.

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noch offene Problem, wie diese als Differenzqualität definierte Funktion sichtbar gemacht werden kann, vermochte der Formalismus nicht zu lösen und bleibt die Crux einer jeden literatursoziologischen Untersuchung. Jauß weist auf die Feststellung Blumenbergs hin, daß es jenes Problem zu erfassen gelte, «das jedes Kunstwerk als Horizont der nach ihm möglichen stellt und hinterläßt.»21 Man mag Jauß nicht widersprechen, wenn er methodisch diesem Problem durch die Untersuchung der durch die «Interaktion von Werk und Rezipient (Publikum, Kritiker, neuer Produzent) wie von vergangenem Ereignis und sukzessiver Rezeption» (JAUSS 70, 192) gegebenen Vermittlung begegnen möchte und die Geschichtlichkeit der Literatur an den «Schnittpunkten von Diachronie und Synchronic» (JAUSS 70, 196) festmacht. Der Erwartungshorizont als das Zusammenwirken von Synchronic und Diachronie gefaßt, läßt aber das dialektische Salz stumpf werden, wenn einzig die «Vermittlung» auf eine einheitliche Erwartung in ihren individuellen Varianten reduziert wird. 22 Jauß läuft damit Gefahr, die nunmehr um den Erwartungshorizont erweiterte literarische Reihe zu verabsolutieren. Der Erwartungshorizont bleibt, ohne eine hinlängliche Konkretisierung der Schnittpunkte, zunächst eine eigentümlich leere Kategorie, die erst über einen dialektischen Vermittlungsbegriff 23 als Rezeptionsraum greifbar wird. Da sich die Literaturwissenschaft in erster Linie als Textwissenschaft versteht, erfolgt ihr Zugang zum außerliterarischen Bereich über die Sprache und ihre unterschiedliche Instrumentalisierung: «Das alltägliche Leben steht vor allem durch seine sprachliche Seite in Korrelation zur Literatur» (TYNJANOW 43). Diese scheinbar belanglose Feststellung führt zum Kern des Problems Vermittlung: Durch die Rückbindung an das «alltägliche Leben» über das gemeinsame Medium Sprache dringen die Konfliktkonstellationen aus jenem auch in denjenigen literarischen Text, der nicht explizit politisch-soziale Positionen vertritt. Literatur kann somit als «unbewußte Geschichtsschreibung» zum Gegenstand einer historisch-soziolgischen Interpretation erhoben werden. 24 Einen eigenen Weg ging, angeführt von den Arbeiten Julia Kristevas, die Formalismusrezeption der Tel Quel-Gruppe. Julia Kristeva schrieb 1967 an Bachtin anknüpfend: «[...] tout texte se construit comme mosaique de citations, tout texte est

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Hans Blumenberg in einem Diskussionsbeitrag zu Hans Robert Jauß (ed.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (= Poetik und Hermeneutik III), München: Fink 1966, p. 692. Wir folgen hier dem von Erich Köhler — vorsichtig — formulierten Einwand gegen die Rezeptionsästhetik (KÖHLER 73, 119sq). Zum Begriff der «Vermittlung» cf. Erich Köhlers «Thesen zur Literatursoziologie» (KÖHLER 74, 136sq). Cf. Peter Bürger, «Das Vermittlungsproblem in der Kunstsoziologie Adornos» (BÜRGER 7 9 , 7 9 92). Bürger bezieht sich hier u.a. auf eine Bemerkung aus Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie: «Gesellschaftliche Kämpfe, Klassenverhältnisse drücken in der Struktur von Kunstwerken sich ab; die politischen Positionen, die Kunstwerke von sich aus beziehen, sind demgegenüber Epiphänomene, meist zu Lasten der Durchbildung der Kunstwerke und damit am Ende auch ihres gesellschaftlichen Wahrheitsgehalts» (ADORNO 73, 344).

absorption et transformation d'un autre texte.»25 Daraus entwickelte Kristeva ihre Theorie der Intertextualität.26 Kristevas Theorie geht von der den poststrukturalistischen Ansätzen gemeinsamen Annahme eines offenen Textes aus, der nicht als ein geschlossenes Gebilde differentieller Bezüge begriffen wird, das über einen qua Interpretation zu erschließenden Zentralsinn verfügt. Manfred Frank erkennt im Textverständnis das Unterscheidungskriterium für strukturalistische und poststrukturalistische Ansätze. Der Poststrukturalismus stelle der Interpretation die plurale Lektüre gegenüber, «die nicht die Sinneinheit, sondern die semantische » verfolge (FRANK 84, 102). Bei Kristeva wird die Intertextualität quasi zur Essenz von Literatur im engeren Sinne (FRANK 85, 287). Die literarische Struktur («la structure litteraire») sei innerhalb eines gesellschaftlichen Ganzen, «considere comme un ensemble textuel», zu situieren. «Intertextualität» definiert Kristeva als das Zusammenwirken von Texten («interaction textuel le») innerhalb eines einzigen Textes (KRISTEVA 68, 311).27 Die distinktiven Merkmale der die Intertextualität konstituierenden Elemente der «interaction textuelle» bündelt sie — in Anlehnung an die linguistische Terminologie — zu «Ideologemen»: Nous appelons idiologäme la fonction commune qui rattache une structure concrete (disons le roman) aux autres structures (disons le discours de la science) dans un espace intertextuel. On ddfinira l'id6olog£me ä travers ses rapports avec les autres textes. (KRISTEVA 68, 312)

Was Jauß den Erwartungshorizont genannt hat, wird hier aufgesprengt, so daß der jeweilige Objekttext lediglich zum Kristallisationspunkt einer textuellen Interaktion gerät — eine Annahme, hinter der in letzter Konsequenz wiederum die von einer zur textuellen Reihe erweiterten literarische Reihe steht. Gegen Kristevas Ansatz ist ferner einzuwenden, daß sie ihn allein auf der Ebene des Überbaus festmacht. Ihre «Ideologeme» geben nicht die ökonomischen Determinanten der jeweiligen distinktiven Einheiten zu erkennen. Das Konstrukt «Ideologem» mündet nach unserem Dafürhalten in einen jegliche Dialektik zwischen historisch-sozialem Ort und «texte» nichtenden quasi-szientistischen Diskurs. Auch bleibt das Verhältnis von diskursiven zu literarischen Texten letztlich schwer greifbar. Fazit: Das Ideologem bildet ein eigentümlich fleischloses heuristisches Instrument und ist für eine (ideologie-) kritische Interpretation nur bedingt tauglich.28 Claude Simons 1969 erschienener Roman La Bataille de Pharsale, in dem die Montage von Zitaten besonders augenfällig wird, gilt in den Interpretationen als das Paradebeispiel für die Umsetzung eines poetologisch definierten Intertextualitäts-

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Julia Kristeva, «Bakhtin, le mot, le dialogue et le roman», in: Critique 23, 1967/1, p. 438-465, hier: p. 440sq. (repr. in: SemeiotiM). Zur «Intertextualität» allgemein cf. Richard Brütting, «Texte» und «icriture» in derfranzösischen Literaturwissenschaft nach dem Strukturalismus (BRÜTTING, 133). Hans Robert Jauß kritisiert die verkürzte Rezeption Bachtins durch Julia Kristeva (JAUSS 82, 684). Zum Begriff der «Intertextualität» cf. die Nummer 27 der Zeitschrift Poetique. Cf. Manfred Franks Kritik an Kristevas Texttheorie aus hermeneutischer Sicht (FRANK 85, 287sqq.). Peter V. Zima versucht dagegen Kristevas Ansatz mit den «Klassikern» der Ideologiekritik in Verbindung zu bringen: Textsoziologie: Eine kritische Einführung, Stuttgart: Metzler (Sammlung Metzler) 1980, p. 13sqq.

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begriffs in die narrative Praxis. Dies läßt folgenden Schluß zu: Entweder gerät dieser Intertextualitätsbegriff zu einem methodologischen Selbstläufer, der sich darauf beschränkt, die Theorie der «Intertextualität» am Objekttext begründen zu wollen29, oder man faßt den Begriff der «Intertextualität» als eine starre textanalytische Kategorie und beschränkt sich darauf, Anspielungen und Zitate zu inventarisieren. Julia Kristeva selbst hat bereits in La Revolution du langage poetique darauf hingewiesen, daß der Begriff der Intertextualität sich nur unscharf von dem der Textkritik unterscheiden läßt (KRISTEVA 74, 69). Der Produktivitätstheorie von Tel Quel zufolge, ist der Sinn kein Produkt eines schöpferischen Autors. Der Text hat — und hier versuchen wir stark vereinfachend die Theorie der Tel queliens auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen — ein Bedeutungspotential, das er allein auf der Ebene der Signifikanten entfaltet. Dieses Potential bezieht er aus den Elementen anderer Texte, wobei der jeweilige Objekttext, seinerseits wieder Signifikant, als «Intertext» definiert ist.30 Zur Realisierung des Bedeutungspotentials bzw. zur Sinnkonstituierung bedarf es des Lesers. Aufgrund der einseitigen Bezugnahme auf Ricardou und andere Tel queliens, weisen die Ergebnisse entsprechend ausgerichteter Forschungsarbeiten nicht weit über den von Tel Quel abgesteckten Rahmen hinaus (cf. KUHNLE 91, 230sqq.). Der heuristische Ansatz des 7e/-ßMe/-Formalismus erweist sich nicht als korrigierbar im Sinne eines hermeneutischen Vorgriffs und ist nur für eine bestimmte Textform applikabel; letztlich camoufliert er die im Text konkretisierten Vermittlungsebenen. Der Anspruch auf Interdependenz von theoretischem Diskurs und narrativer Praxis, den Tel Quel mit Vehemenz verteidigt, zeitigt ein ΜißVerständnis, das den eigentlich hermeneutischen Charakter der formalistischen Tradition verkennt. Der Formalismus — so Peter Bürger — verdanke «sich einem hermeneutischen Interesse an der Kunst der europäischen Avantgardebewegungen» (BÜRGER 79, 110).31 Damit widersetzt sich der Formalismus einer normativen Applikation. Wenn nun Versatzstücke des texttheoretischen Diskurses in Simons späteren Romanen auszumachen sind, so zeugen diese von der Kenntnis des Autors um die Kunstmittel, die ihm zur Verfügung stehen: «Intertextualität» wie im Beispiel von Simons La Bataille de Pharsale kann nun — versteht man die Kategorie des Kunstmittels als eine hermeneutische — der Interpretation zugänglich gemacht werden.

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Cf. z.B. Claudia Hoffer-Gosselin, «Voices of the Past in Claude Simon's . C'est la crainte non de la mort, non de ΓΕη-soi pur, non du ndant, mais d'un type d'etre particulier qui n'existe pas plus que 1 Έη-soi-Pour-soi et qui est seulement represente par le visqueux. Un 6tre id6al que je r6prouve de toutes mes forces et qui me hante comme la valeur me hante dans mon 6tre: un etre iddal oü Γ En-soi non fond6 a priorit6 sur le Pour-soi et que nous nommerons une Antivaleur (EN 673sq.).

Wenn Sartre von Anti-Wert spricht, dann meint er ein nicht minder ideales Konstrukt, in dem aber die Freiheit keinen Ort mehr hat; das en-soi hat den Primat vor dem Pour-soi. Emmanuel Mounier verknüpft mit dem Klebrig-Schleimigen in Sartres Philosophie unterschiedliche Vorstellungen: «Le visqueux s'appelle tantöt le passe, tantöt autrui, tantöt le monde.» Das Schleimige ist eine äußere Bedrohung: «Comme dans un univers paranoiaque» (MOUNIER III, 9 9 ) . Das Klebrig-Schleimige ist nicht zu verwechseln mit dem Sein, das den besoin d'evasion zeitigt; vielmehr macht es diesen besoin d'ävasion erfahrbar, weil es den (ideellen) Gegenpol zu der

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von Levinas jenseits teleologischer Überlegungen angesiedelten Konzeption der evasion bildet. Ekel und Scham sind Empfindungen, die auf die Erfahrung der eigenen Existenz hinweisen, sie sind als solche idiosynkratisch,15 d.h. sie weichen vom diskursiv erfaßbaren Allgemeinen ab. Adorno greift in seinem Versuch über Wagner eine Definition Benjamins auf, wonach der Ekel die Angst sei, «vom ekelhaften Objekt als dessengleichen erkannt zu werden» (cf. ADORNO 52, 20). Dies gilt ebenso für den Ekel des Antisemiten, auf den sich die Definition Benjamins bezieht, wie für die Formen des «alltäglichen» Ekels vor dem verwesenden Fleisch oder den Exkrementen. Der metaphysische Ekel ist Angst vor der Identifikation mit dem Seienden, die Begegnung mit der eigenen Faktizität, jenem Dualismus von eigener Dinglichkeit des Menschen und seiner Fähigkeit diese zu übersteigen. Das Gefühl des Ekels gründet in der hypothetischen Projektion, von den Dingen überschritten zu werden, die Überlegenheit Pour-soi gegen ein Unterlegensein einzutauschen. Die Angst, «que le temps ne devienne visqueux» setzt damit eine auf dem «vulgären Zeitverständnis» fußende chosistische Vorstellung von Zeit voraus. Daher sei mit Sartre folgende Schlußfolgerung gezogen: Die Konzeption des Ekels als säkularisierter «metaphysischer Schwindel» ist keine bloße Metapher, sondern weist zurück auf den physiologisch-pathologischen Befund im Kontakt mitbestimmten Dingen; «c'est [...] sur son fondement [sc.: ce terme de nausee] que se produisent toutes les nausees concretes et empiriques (naus6es devant la viande pourrie, le sang frais, les excrements, etc.) qui nous conduisent au vomissment» (EN 387). Die Grenzerfahrung des Ekels setzt die Abstraktion von allen gesellschaftlich vermittelten Erfahrungsmodalitäten voraus; hierin liegt der tiefere Sinn des Begriffs Askese bei Levinas und den Sartre-Exegeten begründet. Dem freiwilligen Asketismus entspricht das Ausgrenzen der Idiosynkrasie durch die menschliche Gemeinschaft, die darin ein ihre Grundfeste erschütterndes Skandalon ausmacht. Die Natur zeigt sich hier jenseits ihrer szientistischen Begrifflichkeit. Die moderne bürgerliche Zivilisation hat, wie Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung hervorheben, die Natur als den Gegensatz zum Natürlichen mit einem Anathema gebannt: Als natürlich gilt das Allgemeine, das, was sich in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfügt. Natur aber, die sich nicht durch die Kanäle der begrifflichen Ordnung zum Zweckvollen geläutert hat, [...] wirkt penetrant und fordert zwanghaften Abscheu heraus. Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht, erinnern an die Herkunft. Sie stellen Augenblicke der biologischen U r g e s c h i c h t e h e r . (HORKHEIMER/ADORNO,

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Kritik an Sartres Konzeption von Scham und «visqueux» blieb daher v.a. von bürgerlicher Seite nicht aus. So nennt Maier nachgerade mit dem Unterton der Entrüstung die Beschreibungen fragwürdig, die sich auf den Menschen in einer sadistisch-masochistischen Triebhaftigkeit beziehen, oder die deutlich machen wollen, daß das getrübte Bewußtsein nur noch das wahrnehmen kann, was

15

Haug hat die heuristische Bedeutung des Begriffs «Idiosynkrasie» hervorgehoben (HAUG, 162).

schließlich als Fleisch — und ganz allgemein als das Weiche, das Laue, das Fettige und vor allem das Schmierige (le visqueux) es vollends ganz zu verdunkeln droht [...]. 16

Maiers Einwand trifft die «literarische» Seite des Existentialismus und verkennt dabei den ontologischen Ansatz Sartres,17 der übrigens den Vorwurf des «Pansexualismus» an die Adresse seiner Philosophie hier entschieden zurückweisen würde. Antoine Roquentins «nausee» ist als Idiosynkrasie strenggenommen gar nicht mitteilbar, es sei denn als pathologisches Phänomen (cf. JOLIVET, 150). Da dennoch auf dem Wege der Mitteilung das Individuum dem diskursiven Denken huldigt, bedeutet dies die Transposition eines solchen Erlebnisses auf eine vermittelnde Ebene. Desgleichen gilt für die Erfahrung des Nicht-Festen und Doch-Beständigen, des Schleimigen und des Klebrigen,18 was Sartre nicht als bloße Metapher verstanden wissen will. Eine solche Seinsauslegung, die an die Grenzen rationaler Diskursivität stößt, sucht nach neuen Ausdrucksformen. Der literarische Existentialismus, der mit Sartres La Nausee einen ersten Höhepunkt erreicht hat, zeichnet vordergründig ein pessimistisches Weltbild, erschöpft sich aber nicht in einem solchen. Levinas versucht an anderer Stelle den Sartreschen Existentialismus zu definieren, indem er ihn von einem bürgerlichen wie auch (sozial-) kritischen Realismus abgrenzt: II est ivident, que ce jugement est grossier, d6jä d'un point de vue purement littöraire. Partout oü Zola demeure impassible t6moin de la nature et ne relöve son timoignage qu'en heurtant les Conventions bourgeoises et l'optimisme de la mystification idöaliste, Sartre ne se complait pas dans la clart6 d'une peinture sans illusions, mais apporte une inqui6tude et un vertige mdtaphysique. Le scatologique dans la literature existentialiste s'achöve en eschatologique. (LEVINAS 74, 99)

Termini wie «visqueux» und «tiede» artikulieren das Äquivoke. Der «metaphysische Schwindel» des Ahnherrn der Existenzphilosophie, Kierkegaard, wird von Sartre in die Dinge und — «en situation» — in die Welt hineingetragen; er findet im Ekel, jener Bedrohung «schwindelerregender» Freiheit durch das Seiende, das Grenzphänomen, das die existentialistische Philosophie von jedem platten Positivismus, die existentialistische Literatur von jeder Form eines ideologisch gebundenen

16 17

18

66

Willi Maier, Das Problem der Leiblichkeit bei Sartre und Merleau-Ponty, Tübingen: Niemeyer 1964, p. 17sq. «En particulier, nous ne devons plus postuler ä priori que l'attribution de la viscositi ä tel ou tel sentiment n'est qu'une image et non une connaissance — nous devons aussi refuser d'admettre, avant plus ample information, que c'est le psychique qui permet d'informer symboliquement la mattere physique et qu'il y a prioritd de notre expdrience de la bassesse humaine sur la saisie du comme signifiant» (EN 667). «La viscosit6 est hantie. La chute sera facile de lä dans le f6tichisme puis dans l'animisme, mais la nature n'est ni fdtichiste ni animiste. Les choses sont sorciferes mais tout simplement parce qu'elles sont in£puisablement humaines, elles recfclent des sens humains que nous pressentons sans les comprendre. II n'y a pas de bassesse cach6e dans la viscosit6 mais il y a seulement viscosit6-humaine, viscosit6-pour-l'homme, mfcre de toutes les bassesses. Une r6alit6 humaine visqueuse est ä l'horizon de cette viscositö de cette r6alit6 humaine que nous ne comprenons meme pas, c'est nous-memes. Nous-memes: engluement possible de nous-memes dans la viscosit6» (SARTRE 83, 186).

Realismus unterscheidet. Levinas nennt in diesem Zusammenhang die entscheidende Formel für die Bestimmung des «existentialistischen Diskurses», nämlich den von Sartre geprägten transitiven Gebrauch des Verbs «exister» (LSVINAS 74, 101). Mit dem «exister quelque chose» postulieren Sartre und Levinas implizit den Primat literarischer Ausdrucksformen vor philosophischer Diskursivität. «Exister quelque chose», heißt: über seinen Leib an einem Teil der amorphen Masse des Seienden bewußt teilhaben und — auf der Ebene der Reflexion! — seine Faktizität akzeptieren.19 Die Erlebnismodi der Existenz in ihrer pathetischen Ausprägung (Tod, Einsamkeit und Angst) oder die Erschütterung szientistischer Gewißheit, wenn die Dinge ihre gewohnte Bedeutung verlieren und in den säkularisierten «metaphysischen Schwindel» reißen, bedeuten ein Konkretisieren der Seinserfahrung, das Levinas «l'evenement meme par lequel certaines structures ontologiques se situent dans L'etre» (L6VINAS 74, 99) nennt. In seinen «Bemerkungen zu Sartres «L'Etre et le neant>» hebt Marcuse — kritisch — das Auflösen genuin philosophischer Diskursivität durch den Existentialismus als dessen Merkmal hervor und unterstreicht damit den Versuch der Transposition idiosynkratischer Erfahrung als Kennzeichen dessen, was wir im folgenden als den «existentialistischen Diskurs» in der Literatur bezeichnen wollen: Die ontologische Analyse schließt eine Reihe «amouröser Szenen» ein, und der existentialistische Roman trägt in Kursivschrift philosophische Thesen vor. Diese Auflösung des philosophischen Stils spiegelt den inneren Widerspruch aller Existenzphilosophie wieder: die konkrete menschliche Existenz kann mit den Begriffen der Philosophie nicht verbunden werden. (MARCUSE 6511, 80)

Der Asketismus und das Diktum von Levinas, der Existentialismus wandle die «Skatologie» in eine «Eschatologie» um, geben das dem «existentialistischen Diskurs» zugrundegelegte Anliegen vor: eine Sprache zu finden, die nicht mehr ver- oder enthüllt, was aus den «Zweckzusammenhängen der Gesellschaft» (Horkheimer und Adorno) heraus erklärbar ist, sondern die «ungeläuterte» Natur zu erkennen gibt. Existentialistische Literatur treibt den Menschen in den säkularisierten «metaphysischen Schwindel» und zwingt dazu, überkommene Vorstellungen in Frage zu stellen. Levinas erkennt 1936 in der zeitgenössischen Literatur eine radikale Verurteilung der «philosophie de l'etre» (LEVINAS 3 5 / 3 6 , 3 7 5 ) . Den einzigen Titel, den Levinas dabei nennt, ist Celines Voyage au bout de la nuit. Die Umwandlung des «Skatologischen» ins «Eschatologische», die Levinas nach dem zweiten Weltkrieg bei Sartre konstatiert, gewinnt mit Blick auf das Massenelend eine besondere Bedeutung: Das «Skatologische» drängt aus den ihm zugeordneten Bereichen, den Kriegsschauplätzen, Slums und Armenkrankenhäusern, hinaus und droht in die wohlgeordnete Bürgerwelt einzubrechen. Über die Helden eines solchen Romans darf es nicht

19

«J'existe mon corps: telle est sa premiere dimension d'etre. Mon corps est utilisd et connu par autrui: teile est sa seconde dimension» (EN 401). Georges Bataille faßt den Ansatz Sartres wie folgt zusammen: «Dans la mesure oü la philosophie de Γ existence oppose le pur sensible ä l'intelligible, sa philosophie procide dvidemment du sensible, mais par Invasion. L'existentialisme se Γένέΐε ä lui dans la nausee» («L'Existentialisme», in: idem, (Euvres competes XI, Paris: Gallimard 1988, p. 11-15, hier: p. 13; Erstv.: Critique, 41/oct. 1950, p. 83-86).

67

heißen, wie Sartre in La Nausie

schreibt: «[...] ils se sont laves du peche d'ex ister»

( n 209). Ein literarischer Vorläufer dieser Weltsicht war zweifelsohne Celines Voyage au bout de la nuit. Der weitere intellektuelle Werdegang des Armenarztes Celine hin zu einem widerwärtigen Antisemitismus gibt dagegen zu erkennen, daß er nicht zu der luziden Akzeptanz dieser Erfahrung gelangen konnte wie Levinas und Sartre. Das Bedrohliche, das vom Ekelhaften ausgeht, wird vom Antisemiten in eine gesellschaftliche Gruppe hineinprojiziert.

Hier tritt das

ideologiekritische

Potential der Überlegungen von Levinas, und später der Sartres, an den Tag: Die in der nausee Projektion.

erfahrene Nacktheit verweigert jede Form der Seinsgewißheit qua 20

Wie Sartre in seinem Roman La Nausie

richtet sich auch Levinas in seiner

Analyse der Existenz gegen die bürgerliche Ideologie. Rousseau und Byron als Kronzeugen anführend, schreibt Levinas über den bürgerlichen Begriff des Individuums, jene Vorstellung von einem sich selbst genügenden Ich: Le bourgeois n'avoue aucun d6chirement int6rieur et aurait honte de manquer de confiance en soi; mais il se soucie de la r£alit£ et de l'avenir car ils menacent de rompre l'6quilibre incontest6 du prdsent oü il poss&le. II est essentiellement conservateur, mais il existe un conservatisme inquiet. II se soucie d'affaires et de science comme d'une ddfense contre les choses imprdvisibles qu'elles recäent. Son instinct de possession est un instinct d'intSgration et son imp6rialisme est une recherche de s6curit6. Sur l'antagonisme qui l'oppose au monde il veut jeter le blanc manteau de sa . Son manque de scrupules est la forme honteuse de

20

68

In seiner antiexistentialistischen Streitschrift Existentialismus oder Marxismus? verweist Lukäcs auf den historisch-soziologischen Ort Heideggers und Cdlines. Dabei denunziert er den affirmativen Zug existenzphilosophischer Ansätze bzw. eines existentialistischen Diskurses dieseits soziologischer Konkretisierung: «Heideggers Denkweise als Bekenntnis eines Bürgers der zwanziger Jahre ist nicht uninteressant. Sein und Zeit ist eine zumindest ebenso interessante Lektüre wie der Roman Voyage au bout de la nuit von C61ine. Aber Heideggers Buch ist zugleich, wie auch das von C61ine, nur ein Zeitdokument über die Art des Denkens und des Fühlens einer Klasse und nicht eine Aufdeckung irgendeiner objektiven Wahrheit. Nur weil dieses Buch der Gefühlswelt der heutigen Intelligenz so angemessen ist, wird die Willkür der ableitenden Scheinargumentation nicht entlarvt» (LUKÄCS Sl, 48). Eben diese undialektische «Scheinargumantation» droht, einer pervertierenden Besetzung die Tore zu öffnen. Julia Kristeva spricht im Zusammenhang ihrer Interpretationen zu C6line u.a. die Möglichkeit an, daß Literatur der Niedertracht und Verworfenheit ein Ventil biete, wodurch die diskursive Ordnung wieder ins Lot gebracht werde: «D'occuper sa place, de se parer done du pouvoir sacr6 de l'horreur, la littirature est peut-etre aussi non pas une rösistance ultime mais un dövoilement de l'abject. Une 61aboration, une ddcharge et dvidement de l'abjection par la Crise du Verbe» (Pouvoirs de l'horreur. Essai sur l'abjection, Paris: Seuil (Coli. Points) 1983 [Erstv. 1980], p. 246; cf. op.cit., p. 211). Auf eine derartige Ventilfunktion reduziert, verliert die Literatur die ästhetische Qualität, die sie durch ihr Ausbrechen aus dem von den Rezipienten gesetzten Erwartungshorizont gewinnt. Dies gilt um so mehr, wenn ihr Opfer eine Minderheit — im Falle des Antisemiten Cilines der Jude — ist, der das Niederträchtig-Häßliche angeheftet wird. Antisemitische und andere rassistisch-xenophobe Literatur affirmiert die herrschende Ordnung bis in den hintersten Winkel einer veröffentlichten Intimität, die mit Rüschen und rosa Herzen das Unerhörte von den sanktionierten Empfindungen fernhält. Von daher schon hat eine solche Literatur nicht im geringsten Anspruch auf eine ästhetische Aufwertung. Cf. die Untersuchung von Henning Krauß zu Robert Brasillachs Berinice-Bearbeitung: «Faschismus klassizistisch — Überlegungen zum ästhetischen Wert von Robert Brasillachs », in: RZL/CHR 1984, p. 306-325.

sa tranquilit6 de conscience. Mais m6diocrement mat6rialiste, il priföre ä la jouissance la certitude du lendemain. Contre l'avenir qui introduit des inconnues dans les problfcmes rdsolus sur lesquels il vit, il demande des garanties au pr6sent. Ce qu'il possfcde devient un capital portant des int6rets ou une assurance contre les risques et son avenir ainsi apprivois6 s'int&gre dös lors ä son pass6. (L£VFNAS 35/36, 372sq.)

Bürgerliche Philosophie hält an dem Prinzip der Identität fest. Identität der Person und Individualität im Bürgertum sind Formen, dem Allerindividuellsten, dem Idiosynkratischen, zu begegnen. Der bürgerliche Identitätsbegriff versteht sich innerhalb der Ordnung eines ausgelegten Seins. Levinas stellt auch ansatzweise eine Verbindung zwischen der ideologisch motivierten ontologischen Ortsbestimmung des Bürgers und der politischen Ökonomie her. Den Gedanken greift Sartre in La Nausee wieder auf, wenn er das Seinsverständnis des Bürgers — «le salaud» — mit dem Besitz verknüpft. Durch Besitz und den Erwerb von Besitz errichtet der Bürger ein Bollwerk gegen die Existenzerfahrung. Vergangenheit — und damit Identität — wird zu einem «luxe de proprietaire», zu einer geschlossenen Schicht von «Sein» (Levinas: etre), das sich über die Nacktheit der Existenz legt. Zu diesem Sein (etre) gehört auch das «vulgäre» Auffassung von einer Zeit, die in ihrem alles nivellierenden Dahinfließen, sich entsprechend des jeweiligen sozio-ökonomischen Status nach Gesichtspunkten des Marktes besetzen läßt, ohne ihren trügerischen Anspruch auf universale Gültigkeit einzubüßen: «Stunde gegen Stunde, Tag gegen Tag» (MEW 4, 85). Psychoanalytisch gesprochen, gibt sich hier das herrschende Realitätsprinzip mit seiner Forderung nach Triebverzicht zu erkennen, und die ontologische Analyse führt direkt zu der Fragestellung einer kritischen Sozialpsychologie, wie sie etwa von Herbert Marcuse angemahnt wird (cf. MARCUSE 87). Hinter der Vorstellung von einem «Realitätsprinzip» verbirgt sich die Annahme, daß ohne ontologische Ortsbestimmung keine menschliche Gemeinschaft möglich ist. «Conservativisme» bzw. «essentiellement conservateur» ist in Levinas' ontologischer Analyse zu allererst im etymologischen Sinne, jenseits einer politischen Positionsbestimmung, zu verstehen. Durch seine Verknüpfung mit dem bürgerlichen Denken gewinnt der ontologisch besetzte Begriff «conservativisme» dann seine ideologiekritische Bedeutung. Als den historischen Ort, an dem der besoin d'ivasion erfahren wird, bestimmt Levinas das Entre-deux-Guerres. Das Sich-Mainfestieren des besoin d'evasion setzt die Konfrontation einer autonomen Persönlichkeit, die über das relational definierte, sich selbst genügende Ich hinausweist, mit einer als unerbittliches Räderwerk erfahrenen Lebenswirklichkeit voraus. Ce qui est pris dans l'engrenage incomprihensible de l'ordre universel, ce n'est plus l'individu qui ne s'appartient pas encore, mais une personne autonome qui, sur le terrain qu'elle a conquis, se sent dans tous le sens du terme, mobilisable. (L£VINAS 35/36, 375)

Diese autonome Persönlichkeit führt Levinas offensichtlich auf die Erfahrung der Irreduzibilität von Existenz in den Gräben vor Verdun zurück. Wenn er sich in den 30er Jahren von dem bürgerlichen Begriff des «Ichs» verabschiedet, so geschieht dies in der Absicht, die Antinomien im Weltbezug des Daseins vor dem Hintergrund

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der zurückliegenden Katastrophe hervortreten zu lassen. Diese Antinomien bezeichnen die Grundfragen existentialistischen Denkens. Die Welt hat für Levinas und Sartre nichts von ihrer opaken Erscheinungsweise verloren, und dennoch tritt ihr das gegen Ohnmacht aufbegehrende individuelle Dasein nunmehr als freies, d.h. nicht mehr durch eine starre Seinsauslegung determiniertes entgegen. Bei Heidegger erschließt — wir folgen hier der pointierten Darstellung von Habermas, dem kritischen Beobachter «nachmetaphysischen Denkens» — das Subjekt als Dasein die Welt durch Aktivität: Das individuelle Dasein behält trotz seiner existentiellen Verwurzelung in der Welt die Autorschaft für den souveränen Weltentwurf — die weltbildende Potenz ohne die zugehörige transmundane Stellung. (HABERMAS 88a, 49)

Die von Habermas vorgenommene Darstellung des Heideggerschen Denkens macht dieses zu einer subjektiv istischen Variante der Praxis. Für dieses «Seinlassen des Seienden» (Habermas über Heidegger) bzw. das «exister quelque chose» gebraucht Levinas den Begriff des Spiels. Der Begriff des Spiels meint übrigens eine Distanzierung in Richtung auf eine undialektische Subjekt-Objekt-Relation, die der PraxisVorstellung zuwiderläuft. Während das Kind, so Levinas, sich jederzeit aus dem Spiel verabschieden und den Dingen die Bedeutungslosigkeit zurückgeben könne, die sie als Spielzeug auszeichne, markiert die Ernsthaftigkeit («le serieux») das Erwachsenenalter. Diese Ernsthaftigkeit konstituiert unsere Seinserfahrung; in der Ernsthaftigkeit erschließt sich nicht etwa ein neuer Aspekt unserer Existenz, sondern die Unhintergehbarkeit unseres Daseins — Levinas spricht von «l'inamovibilite meme de notre presence» (LfiviNAS 35/36, 375). Für Levinas ist das Bewußtwerden des etre in der Ernsthaftigkeit — es sei an dieser Stelle noch einmal auf die Duplizität seines Seinsbegriffs hingewiesen — gleichbedeutend mit der Erfahrung der Revolte: Mais cette r6v61ation de l'fttre et de tout ce qu'il comporte de grave et, en quelque mantere, de ddfinitif, est en meme temps l'expdrience d'une rdvolte. Celle-ci n'a plus rien de commun avec celle qui opposait le moi et le non-moi; Γ etre du non-moi heurtait notre libert£, mais en soulignait par la meme l'exercice. L'&re du moi que la guerre et Faprfcs-guerre nous ont permis de connaitre ne nous laisse plus aucun jeu. Le besoin d'en avoir raison ne peut etre qu'un besoin d'6vasion. (LEVINAS 35/36, 375)

Daß dieser besoin d'evasion nicht als Revolte in actu erkannt wird, begründet ein häufig wiederkehrendes, fundamentales Mißverstehen existentialistischer Weltsicht. Gaston Bachelard etwa beschränkt in La Terre et les reveries de la volonte das «Seinlassen des Seienden» auf die tätige Hand des Arbeitenden — «La nausee dans la main!» (BACHELARD 47a, 114). Zum Sinn der Arbeit erklärt Bachelard den formenden Umgang mit der Materie, wodurch das Klebrig-Schleimige überwunden werde. Dieser aktiven Begegnung mit dem Seienden setzt Bachelard die «experience existentialiste» als regressives Moment entgegen: «au contact du visqueux, la main peut alors suivre des regressions, connaitre le masochisme des ventouses, des vertiges, l'aneantissement» (BACHELARD 47a, 117). Arbeit wird zu einem abstrakten Prinzip, das letztlich jenes starre Seinsverständnis verdeckt, das Levinas kritisiert

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hat. Bachelard klammert damit die Problematik der ontologischen Differenz ebenso aus, wie er jeder ontologischen Interpretation die ideologiekritische Spitze nimmt. Indem er dem Seienden nur ein abstraktes, sich in actu konkretisierendes Sein — das sich als solches nicht zu erkennen gibt! — gegenüberstellt, reproduziert er das Prinzip entfremdeter Arbeit. Aus der hier aufgezeigten Problemkonstellation heraus entstand der «literarische Diskurs des Existentialismus». Von einem solchen können wir dann sprechen, wenn insbesondere narrative und dramatische Literatur die Extrapolation philosophischer Theorien der in Frankreich rezipierten bzw. formulierten Existenzphilosophie erlauben. Ohne uns vertieft auf die müßige Diskussion über begriffliche Urheberrechte einzulassen, wollen wir in Sartre, wegen der nachhaltigen Wirkung seines Romans La Nausee sowohl in der direkten Rezeption als auch in seiner Funktion als Interpretationsparameter21, so etwas wie einen «Diskursivitätsbegründer» (Foucault) sehen. Gerade La Nausie erfüllt die von Foucault genannte Voraussetzung für eine Funktion, die er dem Roman bzw. seinem Autor nicht zubilligen will: «la possibilite et la regle de formation d'autres textes». Mit dem Roman La Nausee, dessen Entstehen und Wirken untrennbar mit dem philosophischen Werk seines Verfassers verbunden ist, situieren wir uns auf der Ebene eines explizit ideologiekritischen Diskurses, der seiner soziologischen Ortsbestimmung Rechnung trägt. Sartre selbst hat den Existentialismus 1947 als das Zerfallsprodukt der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt: «L'existentialisme, sous sa forme contemporaine, apparait sur la decomposition de la bourgeoisie et son origine est bourgeoise» ( S A R T R E 47a, 373). Die traumatischen Erfahrungen von Okkupation, Faschismus und Massensterben bildeten nichtsdestoweniger den Hintergrund für eine breite Rezeption des Existentialismus. Existential istische Literatur zeichnet sich dadurch aus, daß sie den allerindividuellsten — idiosynkratischen — Erfahrungen ihren Ausdruck zu geben sucht. Nicht von ungefähr thematisiert also diese Literatur Extremsituationen, in denen Menschen ihre evasion zu konkretisieren suchen — und intramundan scheitern, wenn sie sich nicht mehr bewußt mit dem etre einlassen wollen. Diese Literatur, die zeitlich mit der Ausformulierung existential istischer Philosophie zusammenfällt, bezeichnen wir innerhalb des «existentialistischen Diskurses» als existentialistische Literatur im engeren Sinne oder den «historischen Existentialismus». Zu letzterem rechnen wir die Schriften von Sartre, dem jungen Camus, Paul Nizan, dem jungen Raymond Queneau, Andre Malreaux, dem jungen Claude Simon u.a. ebenso wie die ihrer «Vorläufer» Celine und Blaise Cendrars. Der «existentialistische Diskurs» wirkt über die existentialistische Literatur im engeren Sinne hinaus bis weit in den nouveau roman hinein; und die Frage sei hier ohne weitere Begründung in den Raum gestellt,

21

Cf. Peter V. Zima, der Sartre mit Hermann Brochs Schlafwandlern in Verbindung bringt (ZIMA 87, 125sqq,). Für Zima wird das Ekelgefühl in den Schlafwandlern «von der Karnevalisierung der Wirklichkeit durch die Marktgesetze, durch den Tauschwert ausgelöst» (ZIMA 87, 128sq.). Zima benennt hier den sozio-ökonomischen Grund der Erfahrung des Ekels. Der bei Bachtin entlehnte Terminus der «Karnevalisierung» führt hier aber nicht weit, da ihm in Verbindung mit dem Verdinglichungsparadigma das dialektische Potential des Entfremdungsbegriffs fehlt, der zwischen historischer Situation und subjektiver Erfahrung vermittelt.

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ob seine Rückbindung an das bürgerliche Denken und dessen Krisen ihm nicht auch eine kritische Virtualität in unserem postmodernen Alltag beschert.22 Daß der Existentialismus bzw. die existential istische Literatur sich nach 1945 in unterschiedliche Richtungen weiterentwickeln konnte, liegt in einer theoretischen Schwachstelle begründet, die nach Habermas bereits bei Husserl und Heidegger angelegt sei: Sobald nämlich das Bewußtsein überhaupt in den Pluralismus einzelner weltstiftender Monaden zerfällt, stellt sich das Problem, wie aus deren Sicht jeweils eine intersubjektive Welt konstituiert werden kann, in der die Subjektivität der anderen nicht nur als objektive Gegenmacht begegnen könnte. Dieses Problem der Intersubjektivität wird jedoch unter den angenommenen Prämissen eines Daseins, das sich nur in Einsamkeit authentisch auf seine Möglichkeit hin entwerfen kann, unlösbar. (HABERMAS 88a, 50)

Habermas verkennt dabei gerade im Fall Sartres den Umstand, daß dieser, sich der Problematik durchaus bewußt, mit dem diskursiven Allgemeinen agiert, in welches das «einsame» Individuum keineswegs allein destruierend, mit einer ausschließlich negativen Diskurskritik eingreift, die sich auf die undialektische Dichotomie von Subjekt und Objekt kapriziert. Sartres Protagonist hat am Ende von La Nausie das Programm für die Handlung seines zu schreibenden Romans genannt: «II faudrait qu'elle soit belle et dure comme l'acier et qu'elle fasse honte aux gens de leur existence* (Ν 210). Hart wie Stahl wird das (imaginäre) Kunstwerk bruchloser Teil der Praxis·. Es bleibt nicht lediglich auf den Status einer Station innerhalb durch Kontinuität definierten Reihe beschränkt, sondern es erweist sich als Korrelat von (weltstiftender) Praxis. Auf das idiosynkratische engagement premier folgt in der Reflexion die mediation, oder auch jenes für die litterature engagee konstitutive engagement, in dem der Mensch en situation, d.h. als Faktizität und Transzendenz erkannt wird; zugleich erfährt er sich — durch den nämlichen Dualismus von Faktizität und Transzendenz gebrochen — auch als Teil des etre. Die Ernsthaftigkeit jenseits falscher Seinsauslegung bedarf der Angst als mittelbarmachender Faktor: «L'angoisse est done la saisie reflexive de la libert6 par elle-meme, en ce sens eile est mediation [...]» (EN 75). Was Levinas als die Ernsthaftigkeit des etre bezeichnet hat, bedeutet die Entäußerung des Daseins an die Objekte, den Gipfelpunkt der Entfremdung, die in der Angst das Sein in seiner unerträglichen Ausweglosigkeit erfahrbar macht. Der Ausgangspunkt für die Angst — «la saisie reflexive de notre liberte» — ist die Einsicht, daß itre sowohl das immanente Telos des Begehrens (Sartre: «desir») des

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Wir vermeiden den Plural «literarische Diskurse», um die Kontinuität innerhalb der französischen Literaturgeschichte von den Anfangen eines «historischen Existentialismus» bis zu der Nachkriegsavantgarde des nouveau roman aufzuzeigen. Die Entwicklung von einer genuin «existentialistischen» zu einer «avantgardistischen» Literatur vollzog sich nicht selten innerhalb eines CEuvres. Als Beispiel seien hier neben Claude Simon Raymond Queneau und Henri Thomas (cf. Friedrich Wolfzettel, «Henri Thomas: Zwischen Existentialismus und Nouveau Roman» (Helene Harth/Volker Roloff (edd.), Literarische Diskurse des Existentialismus, p. 173-190) genannt. Cf. Edith Kern, Existential Thought and Fictional Technique. Kierkegaard, Sartre, Beckett, New Haven: Yale Univ. Press 1970.

Pour-soi markiert als auch das von diesem, da seiner Freiheit entgegengesetzt, zu Transzendierende: Dans le s6rieux, je me d6 finis ä partir de l'objet, en laissant de cöt6 α priori comme impossible toutes les entreprises que je ne suis pas en train d'entreprendre et en saisissant comme venant du monde et constitutif de mes obligations et de mon 6tre le sens que ma libert6 a donn6 au monde. (EN 75)

Auf den Status der Objekte — des etre (Levinas) bzw. en-soi (Sartre) — können wir, wie Sartre gezeigt hat, nur durch den Anderen (autrui) verwiesen werden. Er ist in dem oben gezeigten Dualismus von Faktizität und Transzendenz der notwendige Vermittler (EN 265sqq.). Sartres «Transzendentalismus» ist ohne diese mediation, die das Individuum aus seiner Einsamkeit reißt und — über die diskursive Ordnung — als Korrelat einer intersubjektiven Relation zu erkennen gibt, undenkbar. Die midiation führt zum entwerfenden Aufhellen der Situation bei, von der man im ursprünglichen engagement premier kein Wissen haben kann.23 Von daher erhält das Konstrukt der Grenzsituation («situation-limite») eine neue Bedeutung. Es ist Vergleichsparameter zur dramatischen Gestaltung der Freiheit in der totalen Verantwortung: La situation est un appel; eile nous cerne; eile nous propose des solutions, ä nous de d6cider. Et pour que la ddcision soit profond6ment humaine, pour qu'elle mette en jeu la totalit6 de l'homme, ä chaque fois il faut parier sur sc&ne des situations-limites, c'est-ä-dire qui prösentent des alternatives dont la mort est Tun des termes.24

Einen anderen Weg begeht die Literatur mit dem Beckettschen Absurdismus,25 der sich in der idiosynkratischen Welterfahrung erschöpft und die Ausweglosigkeit nicht des etre, sondern des ex ister ohne sein direktes Objekt zu seiner Weltsicht erklärt — in anderen Worten: sich der Regression (Bachelard) hingibt. Das Subjekt verweigert letztlich die Sinnfrage, da es sich nicht mehr als sinnsetzende Instanz betrachtet. Bezeichnend dabei ist, daß der literarische Absurdismus auf der Bühne seine größten Erfolge feiert, wo sich Sprachlosigkeit bzw. die Inkongruenz von Sprache und Welt ästhetisch adäquat umsetzen läßt. Die narrative Prosa dagegen, die den Weg zum engagement nicht nachvollzieht, sucht ihr Heil in der literarischen Transposition einer Seinserfahrung, die nicht mehr hinterfragt wird. Der Störfaktor Subjektivität wird in dieser Welt kurzerhand eskamotiert; der «Realismus» des nouveau roman entsteht. Eine «ontologische» Rückbesinnung führt lediglich auf das für die Erfah-

23

«Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich schon immer in einer Situation vor, deren Erhellung die nie zu vollendende Aufgabe ist»

24

Jean-Paul Sartre, «Pour un thSatre de situations», in: idem, Pour un ttäätre de situations (Michel Contat und Michel Rybalka, ed.), Paris: Gallimard (coll. folio essais), nouv. 6d. 1992,

(GADAMER, 2 8 5 ) .

p. 1 9 - 2 1 , hier: p. 2 0 .

25

Cf. Henning Krauß, «Vom Entweder-Oder zum Weder-Noch. Existenzialismus und absurde Literatur» (KRAUSS 82a), und das in der Darstellung philosophischer Bezüge nicht immer überzeugende Standardwerk von Martin Esslin: Das Theater des Absurden, Hamburg: Rowohlt (rde) 1975.

73

rung des etre konstitutive Material, nämlich die Sprache, zurück. Für diesen Wandel hat die Philosophie den Begriff des linguistic turn geprägt. Daß die beiden auf den ersten Blick so verschiedenen literarischen Richtungen nouveau roman und Absurdismus einen gemeinsamen Nenner haben,26 zeigt schon das Beispiel Beckett. Vereinfacht gesprochen sind die beiden Richtungen der französischen Nachkriegsavantgarde zwei literarische Antworten auf eine Erfahrung der Ohnmacht, die in die Toterklärung des Subjekts durch die Postmoderne mündet.27

26 27

74

Es fehlt in der Forschungs-Literatur nicht an Hinweisen darauf; z.B. Julius Wilhelm, Nouveau Roman und Anti-Thiätre. Eine Einführung, Stuttgart: Kohlhammer 1972. Cf. Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (stw) 1985, p. 70sqq.

1. Le Tricheur. «La nausee jusqu'au bout»

Pour moi il y a continuiti depuis le Tricheur, mon premier roman.1

Der Protagonist in Simons Romanerstling Le Tricheur, Louis, brennt mit der minderjährigen Belle durch. Eigentlich möchte er seine Freundin, die sich ihm anfangs verweigert, schon bald verlassen. Als Belle auf der Reise in einem Wäldchen einschläft, macht sich Louis allein auf den Weg. Nach kurzer Zeit beschließt er jedoch, zu ihr zurückzukehren. In einer Stadt beziehen sie zusammen ein Hotelzimmer. Während Louis als Installateur arbeitet, bleibt Belle meistens auf dem Zimmer. Armand, ein Arbeitskollege von Louis, der sich mit kleinen Gaunereien ein Zubrot verdient, möchte diesen mit seiner Schwester Lydie verkuppeln und arrangiert ein Treffen in der Wohnung seiner Familie. Lydie gelingt es fast, Louis zu verführen. Dieser läßt aber von ihr ab, weil er von einem Vorhaben besessen ist: In einem Pfarrhaus, in dem er Arbeiten zu verrichten hatte, traf er einen Priester, der ihn in längere Gespräche verwickelte. Louis beschloß — ohne ersichtlichen Grund — den Priester zu ermorden. Von Armand besorgt er sich, nachdem er von Lydie abgelassen hat, einen Revolver und geht zu dem Priester ins Haus, wo er in weitere Gespräche verwickelt wird. Eine erste Gelegenheit, seine Tat auszuführen, läßt er verstreichen und geht im Streit mit seinem Gesprächspartner aus dem Haus. Kurz darauf kehrt er um und trifft den Priester auf der Straße. Er stammelt einige Worte der Entschuldigung. Dann ergreift er einen herumliegenden Ziegelstein und erschlägt ihn. Nach seiner Rückkehr ins Hotel denkt er an Selbstmord, läßt aber von diesem Vorhaben ab. Der Roman setzt mit Louis und Belle auf der Flucht ein und endet mit der Mordnacht. Simon erzählt jedoch die Geschichte nicht linear, wie oben wiedergegeben, sondern hat um sie weitere Handlungsstränge gruppiert und sie mit diesen zu einem komplexen multiperspektivischen Gefüge verwoben: Episoden aus der Vergangenheit der beiden Protagonisten und ihrer Familien indizieren eine pathologische Befindlichkeit. Gegen den Widerstand ihrer großbürgerlichen Familie heiratete Catherine, Beiles Mutter, den angesehenen Maler Gauthier, Beiles Vater. Gauthier wurde im Ersten Weltkrieg lebensgefahrlich verwundet. Von den traumatischen Kriegserlebnissen geprägt, gelang es ihm nicht mehr, an seine beruflichen Erfolge anzuknüpfen. Jetzt verbringt er seine Zeit damit, zu zechen und zu spielen, wodurch er seine Familie in Schulden stürzt. Die Angehörigen Catherines brüskiert er mit Bekenntnissen zum Kommunismus und der Teilnahme an Demonstrationen. Auf einer seiner nächtlichen Touren, die ausführlich geschildert wird, diskutiert er mit seinen Zech-

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Claude Simon, «Entretien: Rendre la perception confuse, multiple et simultande du monde», in: Le Monde, 26.4.1967 (cf. ZELTNER 74, 117).

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kumpanen über Philosophie und Politik, fabuliert von einer großen Tat, mit der er es allen zeigen würde, und ergeht sich in Reflexionen über Existenz und Tod. Ungeachtet der Exzesse ihres Mannes und der erdrückenden Schuldenlast kann Catherine sich nicht dazu entschließen, ihn zu verlassen. Während des Krieges hat sie dem Drängen eines jungen Mannes nachgegeben und ist jetzt von Schuldgefühlen geplagt. Gauthier mutmaßt in seinen Phantastereien, daß seine Kinder möglicherweise nicht von ihm stammen. Ungeklärt bleibt, ob eine sexuelle Nötigung Belies durch ihren Vater tatsächlich stattgefunden hat oder das Produkt ihrer Phantasie ist. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen dem betrunkenen Gauthier und der Familie seiner Frau, in deren Verlauf er von Jacques, dem der Spielleidenschaft verfallenen Bruder Catherines, hinausgeworfen wird. Der Vater von Louis war im ersten Weltkrieg gefallen. Seine Mutter mußte Louis allein erziehen und starb, als er noch klein war, nach langer Agonie an Krebs. Louis erinnert sich an verschiedene Episoden aus seiner Kindheit: Ausflüge mit der Mutter, die Suche nach dem Grab seines vermieten Vaters, eine Wallfahrt nach Lourdes, den Tod der Mutter, erste sexuelle Erfahrungen — Erinnerungen, die sich in manchen Passagen des Romans zu Bewußtseinsströmen verdichten, Erinnerungen, die auch die Mordtat begleiten. Auch Belle erinnert sich an Episoden aus ihrer Kindheit, von denen viele erotisch konnotiert sind. In der Mordnacht bemerkt sie im Halbschlaf die Rückkehr von Louis. Eine der interessantesten Nebenfiguren ist der jüdische Uhrenverkäufer und Stendhal-Leser Ephraim Rosenblaum, der in demselben Hotel wie das junge Paar wohnt. Er versucht, sich Belle zu nähern, die ihn aber an der Nase herumführt. In der Mordnacht überkommt ihn das beklemmende Gefühl, daß etwas geschehen müsse. Es ist eine schwüle Nacht und er sieht am Fenster des jungen Paares Louis, wie er eine Zigarette raucht. Louis ist gerade vom Tatort zurückgekehrt. Le Tricheur entstand nach Simons eigener Aussage zur Hälfte vor dem Zweiten Weltkrieg und wurde nach der Flucht aus dem Gefangenenlager in Perpignan vollendet. Im Winter 1945/46 erschien er bei Sagittaire. Obzwar Claude Simon diesen an manchen Stellen autobiographisch gefärbten Roman im Kontext seines Gesamtwerkes nicht verleugnet, lehnt er eine Neuauflage seines längst vergriffenen Erstlings ab: Je ne vois pas l'intdret de livrer au public des tätonnements de ddbutant.2

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Claude Simon, «Sur la Route du Nobel», in: Libäration 10.12.1985. In demselben Interview erinnert sich Claude Simon: «Mon premier souvenir d'enfance c'est d'accompagner ma mfcre dans les cimetiferes du Front dans l'espoir de trouver la tombe de mon p£re [...] Mon pöre avait έίέ tu6 le 27 aoüt 1914, du cöt6 de Verdun. Ma m£re cherchait partout dans les cimetteres le nom de son man. On n'a rien retrouvd. J'6tais avec eile, oui, elle m'avait enmend. J'avais cinq ans». Das Motiv der Suche nach dem Grab des verstorbenen Vaters hat Simon in seinem Roman L'Accacia, Paris: Minuit 1989, wieder aufgegriffen.

1.1 Ein Panoptikum von Spielverderbern und Falschspielern Louis schaut kurz vor der Ausführung seiner Mordtat Kindern beim Räuber-undGendarm-Spiel zu. Im Streit um die Regeln ihres Spiels zerstören sie die von ihnen aufgebaute Illusion: J'ai remarqud qu'ils ne cherchaient qu'ä tricher, dupes de la fiction par eux imagin6e, source d'äpres et v6h6mentes discussions, s'ing6niant inconsciemment ä ddtruire le jeu. C'est un tu6 qui a pris la barricade en la tournant par derrifere. Je l'ai vu aprfes une longue dispute, faire aussitöt semblant de se dfisinteresser, s'61oigner d'un air d6tachd et sournois, puis se faufiler derrifere les cabinets et tomber sur le dos des dffenseurs du tas de sable. Iis ont tous cri6 ä la fois [...], et puis il y a eu une sorte de calme embarrass6 oü les vainqueurs foulant aux pieds le tas de sable conquis semblaient un instant d6sempar6s, conime s'ils percevaient confusdment la vaine inutility de leur victoire, cherchant dans ce sol gagn6 trop facilement ... (TRI 237)

Die kurze Passage greift die Titelmetapher des Tricheur auf: Die Kinder beginnen zu schummeln («tricher»). Unbewußt werden sie dabei zu Spielverderbern, denn sie zerstören das Regelwerk, das die Scheinwelt («fiction») ihres Spiels konstituiert. Huizinga unterscheidet in seinem kulturanthropologischen Buch Homo ludens den Falschspieler vom Spielverderber. Während der Falschspieler die Regeln des Spiels für seine Zwecke ausnutzt und sie somit in ihrer Gültigkeit affirmiert, zerstört der Spielverderber das Spiel, setzt seine Regeln außer Kraft: Der Spielverderber ist etwas ganz anderes aJs der Falschspieler. Dieser stellt sich so, als spiele er das Spiel, und erkennt dem Schein nach den Zauberkreis des Spiels immer noch an. Ihm vergibt die Spielgemeinschaft seine Sünde leichter als dem Spielverderber, denn dieser zertrümmert ihre Welt selbst. Dadurch, daß er sich dem Spiel entzieht, enthüllt er die Relativität und die Sprödigkeit der Spielwelt, in der er sich mit den anderen für einige Zeit eingeschlossen hatte. Er nimmt dem Spiel die Illusion, die illusio [...]. (HUIZINGA 18sq.)

Bei Gadamer tritt die Haltung des Spielers im Spannungsverhältnis von Welt und Spiel hervor. Gadamer erkennt im Spiel eine Handlungsform, in welcher der Emst einer vom «Ernst der Zwecke» bestimmten Welt selbst gemeint bleibt, also eine Handlungsform, die nicht in radikaler Opposition zur Welt steht. Daraus leitet er eine in ihrer philosophischen Stringenz über Huizinga hinausweisende Charakterisierung des Spielverderbers ab: Nicht der aus dem Spiel herausweisende Bezug auf den Ernst beim Spiel läßt das Spiel ganz Spiel sein. Wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber. Die Seinsweise des Spiels läßt nicht zu, daß sich der Spielende zum Spiel wie zu einem Gegenstand verhält. Der Spielende weiß wohl, was Spiel ist, und daß, was er tut, nur Spiel ist, aber er weiß nicht, was er da «weiß». (GADAMER, 108sq.)

Wenn im Spiel der Ernst des Weltbezuges erhalten bleibt, so ist vor der Folie einer existenzphilosophischen Auslegung von Welt das Spiel möglicherweise als Modell einer jeden Konstituierung von Welt und derem ontologischen Mißverstehen als Sein zu sehen. Um diese Gedanken als heuristische Vorgabe für die Lektüre des Romanerstlings von Claude Simon fruchtbar werden zu lassen, wollen wir uns zunächst mit einer Frage befassen: Wie fügen sich die Protagonisten von Le Tricheur in die Typologien von Huzinga und Gadamer? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick 77

auf den Kontext der Literatur und Literaturkritik um 1940 nötig. Den Falschspielern und Spielverderbern in der Literatur nehmen sich die 1945 unter dem Titel Les Sandales d'Empidocle erschienenen Essays von C.-E. Magny an. In diesen Essays führt sie den heuristischen Terminus der tricherie zur Darstellung der Philosophie Sartres im Zusammenhang der Interpretation von La Nausie und seinen Novellen ein. Sie entwickelt ihr heuristisches Instrumentarium primär anhand von inhaltlichen Kriterien, die den literarischen Texten Sartres entstammen. Von den Sartreschen Protagonisten ausgehend definiert sie die tricherie: Iis ont cboisi ce que nous appellerons, d'un terme qui n'est que provisoirement p£joratif, la «tricherie»; cet abandon ä certaines impressions, cette fagon de se laisser couler ä pic dans la Naus6e ou la folie, ne va pas en effet sans quelque complaisance, au moins au d6but; ne fut-ce que parce que ces impressions font tellement violence ä nos habitudes sociales qu'un consentement de notre νοίοηίέ est indispensable pour que nous puissions nous y abandonner. A cause de tout ce que ce choix initial comporte de dilib6r6, de voulu, et par lä de suspect, presque d'inqui6tant, nous dirons que les personnages de Sartre «trichent» (MAGNY 45, 99).

C.-E. Magnys Essay zeigt auf, wo in den Texten Sartres die Scheidelinie von literarischer Fiktion und philosophischer Diskursivität verläuft. Sartres Protagonist Antoine Roquentin wird darin als ein tricheur bezeichnet. Der Terminus umfaßt zunächst die anomische Seite seines Verhaltens. Er ist ein tricheur, weil er die trügerische Sicherheit der Bürger von Bouville, «les salauds», nicht teilt. Roquentin, der Intellektuelle, geht in der Bibliothek von Bouville seinen Forschungsarbeiten über den Marquis de Rollebon nach, die er aber abbricht, um einen Roman zu schreiben. Er scheint nur wenig mit dem Gelegenheitsarbeiter Louis aus Claude Simons Le Tricheur gemein zu haben. Doch beide Protagonisten sind Außenseiter. Louis und Roquentin führen kein kleinbürgerliches oder gar bourgeoises Leben; beide wohnen in Hotels und sind mehr oder weniger besitzlos. Antoine lebt allein; seine Freundin Anny, die von einem mit Erlebnissen angefüllten Leben phantasiert, kommt lediglich einmal zu einem unglücklichen Besuch. Louis wohnt mit Belle zusammen, die kleinbürgerlichen Träumen nachgeht, und zu der er keine richtige Beziehung findet. Eine eigentümliche Duplizität umgibt die Kindfrau Belle, die zwar über die numinose Kraft des weiblichen Prinzips in seiner primordialen Ausprägung verfügt, 3 sich aber mit ihren Wünschen und Projektionen bereits dem Wunschbild eines bürgerlichen Frauenideals verschrieben hat. La Nausie und Le Tricheur führen, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird, ihre Protagonisten in die für die existential istische Literatur im engeren Sinne typische situation-limite (Levinas). Die Idiosynkrasie und ihre Annahme durch die Sartreschen Protagonisten, die Magny als tricherie bezeichnet, stößt auf die herrschende, soziologisch konkretisierbare Seinsauslegung. Das Verlangen nach rationalen Erklärungen charakterisiert bei Sartre den inauthentischen Bürger.4 Gegen diese vorausgelegte Welt revoltiert der Sartresche

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«[...] eile avec ses robes ä donner le vertige, ses seins aigus et droits, et son air de chienne amoureuse, innocemment perverse» (TRI 170). «Les gens n'aiment pas qu'on ddrange leur petit confort et leur s6curit6 apprise, parce qu'alors ils seraient en pr6sence de leur n6ant, et n'est-ce pas, il vaut mieux ne pas penser» (TRI 96). Louis meditiert in Worten der Vorahnung über das Leben hinter den Fassaden und entlarvt die

tricheur, indem er sich bewußt außerhalb bürgerlicher Vorstellungen bewegt, das «Unerhörte» tut, wie etwa der — aus bürgerlicher Sicht — intellektuelle Tagedieb Roquentin. Bei Claude Simon ist es der Mörder Louis. Der Bürger baut auf ein festes Koordinatensystem, das — wir verweisen hier sowohl auf Sartre als auch auf Levinas — die Natur mit der vertrauten Natürlichkeit eines mißverstandenen Seins überzieht. Innerhalb dieses Koordinatensystems erhält das Individuum seinen festen Platz, seine Identität. Das Mißverständnis bürgerlichen oder eines anderen, sich an festen Kategorien klammernden, Denkens liegt darin begründet, daß es sich seines ontologischen Ortes sicher wähnt. Als Garant einer solchen Seinsauslegung tritt das, was Heidegger das «Gerede» genannt hat, auf: jene «Möglichkeit, alles zu verstehen ohne vorgängige Zueignung der Sache» (sz 169). Das «Unerhörte» gibt sich auch — und nicht zuletzt — in der Begegnung mit dem Tod zu erkennen, von dessen Ungeheuerlichkeit Heidegger noch in seinem Konstrukt «Sein zum Tode» ablenkt. Wie sehr das Unbegreifbare gerade der Todeserfahrung die Sicherheit der bürgerlichen Umwelt bedroht, zeigt der ritualisierte Umgang mit dem Leichnam, der den «sozialen Körper» (MACHO, 327sqq.) zu infiszieren droht. Diese Angst vor der Begegnung mit der Leiche schildert Simon in Le Tricheur «Mais d'habitude on enfermait les morts pour qu'ils ne s'evadent pas» (TRI 92). Der Begriff tricheur erfährt bei Magny eine durchaus mehrdeutige Auslegung. In bezug auf das herrschende Seinsverständnis bezeichnet er sowohl den Falschspieler als auch den Spielverderber (frz. «trouble-jeu»), der dieses Seinsverständnis erschüttert; auf einer anderen Ebene meint er den Selbstbetrug, mit dem das Individuum die unerträgliche Ausweglosigkeit des Seins vor sich selbst verbirgt. Letzteren wollen wir einen mauvais tricheur nennen. Mit dem ambivalent gefaßten heuristischen Terminus tricherie bzw. tricheur umschreibt C.-E. Magny den Versuch aus jener Haltung, die Sartre in seiner 1943 erschienenen «phänomenologischen Ontologie» als mauvaise foi — mit «Unaufrichtigkeit» oder «Unwahrhaftigkeit» nur unzulänglich übersetzt — genannt hat. Eine Handlung ist dann de mauvaise foi, wenn sie sich an einem festen Rollenmuster orientiert. Die Analyse dieser mauvaise foi mündet jedoch auch in ein Paradox, wenn sie sich als notwendige «Unaufrichtigkeit» für unsere Orientierung in der Welt erweist. Die tricherie erhält damit eine Duplizität, die in einem ideellen Streben nach intramundaner (Seins-) Gewißheit und der Destruktion von Gewißheit gründet.5 Sartes Analyse der mauvaise foi knüpft an

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bürgerliche Sicherheit als einen immerfort bedrohten Schein (TRI 108). Nicht weniger hart als Sartre geht Simon mit den Bourgeois ins Gericht: «Contraste de courageuse abndgation et d'inconsciente saloperie, qui seul leur pennet de vivre. C'est comme une sorte de jeu de cachecache que rdclame la pudeur h6r6ditaire de la nature de l'homme, la part du mal. Incapables de se dörober ä leurs obligations, s'en cr6ant m£me, mais forc6s d'ob6ir ä ce besoin impörieux de dissimilier l'6mouvante nuditä de leur vie sous un orgueilleux d6guisement» (TRI 215sq.). «La tricherie [...], c'est qu'elle est räcessairement, quoique provisoirement, mauvaise foi. Du fait qu'il soit divisd entre le plan de Γ existence et celui de la valeur (ou de la r6alit£), l'Etre apparalt comme caractdrisS par une duplicitd fondamentale: il est tout entier tendu vers la valeur, aspirant ä eile — mais c'est pr6cisiment que la valeur lui manque. Toute sa signification est de se hausser vers quelque chose que par hypothdse il ne poss£de pas: bien souvent il semblera ainsi pretendre le poss6der» (MAGNY 45, 145sq.).

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Heideggers «Verfallen des Daseins»6 an, das jener wie folgt umschreibt: «[...] constituer la realite humaine comme un etre qui est ce qu'il n'est pas et qui n'est pas ce qu'il est [...]» (EN 99). Die Einsicht in die Unaufrichtigkeit, jenem — notwendigen! — Selbstbetrug, mit dem wir uns in der Alltäglichkeit orientieren, läßt die menschliche Freiheit erkennen, die Freiheit, die Vereinfachung sei gestattet, die Regeln des Spiels, als das sich die Wirklichkeit präsentiert, neu zu ordnen. Dies ist nicht mit der Haltung des Zynikers zu verwechseln, dem idealen Lügner, «affirmant en soi la verite, la niant dans ses paroles et niant pour lui-meme cette negation» (EN 83), dessen Lüge aber das Element des Selbstbetruges in bezug auf das sich in seiner Objekthaftigkeit ihm unterbreitende Seinsgefüge ( = Regelwerk eines «Spiels») fehlt. Es sei an dieser Stelle an das Beispiel aus L'Etre et le Niant erinnert, an dem Sartre sein Konstrukt der mauvaise foi erläutert. Ein Kellner wiederholt unablässig die Gesten seines Berufs, wobei er nicht zuletzt outriert. Die Selbstverständlichkeit seiner Berufsausübung wirkt dadurch wie ein Spiel, eine imitatio, wobei die Bewegungen den Eindruck eines präzisen Mechanismus erwecken sollen: Der Kellner ist nicht qua Essenz Kellner, sondern er spielt das Sein, das er nicht ist — «il joue a itre gargon de cafe».7 Der Begriff tricherie hat allerdings in der ontologischen Terminologie Sartres keinen Platz gefunden. 8 Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß Sartre in früheren Entwürfen zu seinen philosophischen Schriften oder in mündlichen Äußerungen den Terminus tricherie gebraucht hat. Magny gibt an, bei der Niederschrift ihrer Essays über Skripte von L'Etre et le neant verfügt zu haben. Es erscheint uns in diesem Zusammenhang die heuristische Vereinfachung zulässig, den Begriff tricherie sowohl dem Heideggerschen «Verfallen des Daseins» (mauvaise tricherie) als auch jenem «intellektuellen Experiment» existentialistischer Protagonisten (tricheurs) anzunähern, die sich dem Aufbrechen der (diskursiven) Ordnung in der Idiosynkrasie stellen. Für die Philosophie Sartres ist das weiterreichende Kon-

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«Gerede, Neugier und Zweideutigkeit charakterisieren die Weise, in der das Dasein alltäglich sein , die Entschlossenheit des In-der-Welt-seins ist. Diese Charaktere sind als existenziale Bestimmtheiten am Dasein nicht vorhanden, sie machen dessen Sein mit aus. In ihnen und in ihrem seinsmäßigen Zusammenhang enthüllt sich eine Grundart des Seins der Alltäglichkeit, die wir das Verfallen des Daseins nennen» (sz 175). «Mais ä quoi done joue-t-il? II ne faut pas l'observer longtemps pour s'en rendre compte: il joue ä itre gargon de caf6. II n'a rien lä qui puisse nous surprendre: le jeu est une sorte de repdrage et d'investigation. L'enfant joue avec son corps pour l'explorer, pour en dresser I'inventaire: le gargon de caf6 joue avec sa condition pour la rialiser» (EN 95). C.-E. Magny ergänzt: «[...] la prtoccupation de jouer un personnage nous empgche d'etre ce personnage» (MAGNY 45, 147). Wir denken in diesem Zusammenhang auch an ein Gleichnis, das Helmut Plessner in trefflicher Weise in seiner Analyse des Spiels aufgegriffen hat: «Der Zwang zur Verkörperung macht den Fechter in Kleists Erzählung d'une voix mouillde [...]. La f6minit6, la sexualiti, c'est un jardin pourri» (GEORGES, 427). Zima schreibt dazu: «In La Nausie gehören und der semantischen Isotopie «existence» an, die der rationalistische Erzähldiskurs durchgehend mit negativen Konnotationen versieht» (ZIMA 87, 173). Das weibliche Prinzip als das die Freiheit richtende wirkt in Sartres Novelle L 'Erostrate der Aktion (Praxis) entgegen. Zu den psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Untersuchungen zu Camus cf. John Fletcher, «Interpreting (SARTRE 45, 13). Die Verantwortung, die dem um die Temps Modernes gruppierten Teil der schreibenden Zunft mit der Okkupationszeit bewußt geworden ist, führt auch zur Aufwertung journalistischer Arbeit zu einem gleichbe-

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So schreibt Sartre in Reflexions sur la question juive über den Juden: «II s'est laiss6 persuader en somme par les antis6mites, il est la premiöre victime de leur propagande. II admet avec eux que, ί 'il y a un Juif, il doit avoir les caractfcres que la malveillance populaire lui pröte et son effort est pour se constituer en martyr, au sens propre du terme, c'est-ä-dire pour prouver par sa personne, qu'il n'y a pas de Juif» (SARTRE 54, 114sq). In L'Etre et le neartt ist zu lesen: «C'est seulement en reconnaissant la liberti (quel que soit Γ usage qu'ils en font) des antisömites et en assumant cet itre-juif que je suis pour eux» (EN 584). Jean Cassou, Centenaire de la 2nde Ripublique 1848-1948, Toulouse: 1948; idem, Le Quarante-huitard, Paris: Gallimard 1948. Cf. Peter Weyland, Sartre — Aktualität und literarische Form. Zwei Studien zu Huis Clos und l'Engrenage, München: Vögel (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg) 1979, p. 106sq.

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rechtigten literarischen Genre (SARTRE 45, 30).29 Von der historischen Situation beflügelt, tritt Bert wie ein Richter auf und erhebt Anklage gegen ein Opfer der jüngsten Vergangenheit. Das Opfer, der Jude Herzog, sieht sich von Richtern umgeben. Seine eigene Religion wird zur Metapher einer «negativen» Anthropologie des Juden, mit welcher der herrschende Diskurs die Diaspora zur trüben ontologischen Bestimmung verklärt — im Gegensatz zu Sartre, der diesen Begriff zur Charakterisierung des Pour-soi letztlich positiv besetzt und zum Signum der Freiheit erhebt —, wenn der oberste Richter ihn nicht erhört. Der Blicke der Richter dringen nicht zu seiner conditio vor, und sie verurteilen ihn zu jener Einsamkeit, die das Korrelat zu der ihn ausschließenden Kollektivität bildet: Toujours agenouilie, les deux bras ouverts dans un geste d'invocation vers les nu6es sinaiques oü tröne le Juge dans son infaillible 6quit6, Herzog fit entendre de nouveau le hennissement chevalin, protestation v6h6mente, h6riss6e, douloureuse. On eüt dit que la voix se d6doublait, d6tachait une partie d'elle-meme sur ce registre oriental, aigu et moduld, fait pour percer les couches cilestes d'indiffdrence, forcer les Juges ä abaisser leurs yeux et döcouvrir, sur la surface de la terre oublifie et tragique, les lieux — temples, abattoirs ou prisons — d'oü montent les lamentations, (GUL 69)

Herzogs Sprechen verkümmert zu unverständlichen Lauten, womit ihm, dem Intellektuellen, das wichtigste Instrument des Handelns, die Sprache, geraubt ist. Er erfährt sich als ein von der Teilnahme am Diskurs Ausgeschlossener. Der Richter verkörpert den Anderen (Sartre: autruf). Ohnmächtig, zum Objekt reduziert, ist Herzog ihm ausgeliefert. Der Blick der Richter, durch den hindurch Herzog sich selbst sucht, degradiert ihn zu einer bloßen Marionette, einem im Spiel der Intersubjektivität nicht gleichrangig gesetzten Partner.30 Herzog beraubt sich durch die Hinnahme seiner Opfer-Existenz selbst der Fähigkeit zur Objektivierung, weshalb sein Sprechen von den Richtern nicht mehr als Sprache wahrgenommen wird. In der Objektivierung durch das «Gerede» findet sich Herzog in der Situation eines an Aphasie Erkrankten wieder, der — wie Sartre es in Qu'est-ce que la litterature? ausführt — die Fähigkeit verloren hat, zu handeln und die Situationen zu verstehen: «La parole est un certain moment particulier de Taction et ne se comprend pas en dehors d'elle» (SARTRE 47a, 27). Allein im

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Simons schießt mit seiner Spitze gegen Sartre in Gestalt Berts über das Ziel hinaus, wenn er dem Theoretiker einer littirature engagie Literaturfeindlichkeit unterstellen will. Sartres Konzeption geht von einer Literatur aus, die in intentionaler Verflechtung mit der Welt Welt darstellen und auslegen soll, indem sie diese Verflochtenheit lebt. Litterature engagee ist eine «littdrature intentionnelle». Deshalb ist es Aufgabe der Literatur, nicht nur den Menschen zu befreien, sie soll seine Freiheit am konkreten Objekt herausfordern. Sartre will keinesfalls die Literatur «austrocknen»: «Je rappeile, en effet, que dans la l'engagement ne doit, en aucun cas, faire oublier la literature (...]» (SARTRE 45, 30). Zur «litt6rature intentionnelle» cf. Ernst W. Orth, «Gibt es einen phänomenologischen Zugang zur Literatur? — In memoriam Jean-Paul Sartre», in: Was ist Literatur? (= Phänomenologische Forschungen Bd. 11), Freiburg/München: 1981, p. 7-17. NB: Die Unterwerfung Herzogs unter den Blick Berts reproduziert eines der Essentials des faschistischen Diskurses: die Annahme des faktischen Unwerts einer menschlichen Gruppe (cf. Henning Kraul), «Faschismus klassizistisch — Überlegungen zum ästhetischen Wert von Robert Brassillachs », in: RZL/CHR, 1984, p. 323).

Ertönen seiner Stimme manifestiert sich Herzogs conditio als Ausgeschlossener. Die Metapher von den Richtern zeigt, daß sich die Gesellschaft weigert, den jüdischen Professor, der seine Vorlesungen nicht wieder aufnehmen will, unter ihrem Blick als einen der Ihren zu erkennen. Berts sich kritisch wähnender «Realismus» treibt den Stachel in Herzogs Fleisch. Er schildert dem Juden kraß die Möglichkeit, daß seine Tochter in ein deutsches Soldatenbordell verschleppt worden sein könnte: «Ca vous ne suffit pas encore de savoir que votre Tille ecarte ses cuisse dans un bordel ä soldats?» (GUL 70). Mit dem Blick des Sadisten, der seiner Befriedigung harrt, zerschmettert er das Bild von Herzogs bürgerlich-liberaler Gesellschaftssauffassung: «Votre bazar de Republiques en carton-päte...» (GUL 70). Der Stachel sitzt tief, da Bert verhöhnt, was Herzog ihm entgegnen könnte. Dies fallt ihm um so leichter, da der jüdische Gelehrte seine alten Ideale selbst destruiert. Herzog wird zu einer Objektexistenz erniedrigt, in der er sich de mauvaise foi selbst erkennt. Bert — durch seine Verbindung zur Resistance sich unantastbar wähnend — schwingt sich zum Richter auf, weil er sich innerhalb des herrschenden Diskurses bewegt. Es sei daran erinnert, daß Sloterdijk Heideggers existenzialontologisch definierten Terminus «Gerede» mit «discours» gleichgesetzt hat. Der Journalist drängt sein Opfer zur Akzeptanz seiner eigenen Dinglichkeit. Die Sprache dient nunmehr einer einseitigen Daseinsauslegung,31 weil Herzog sich nicht mehr ihres Instrumentariums im Sinne einer Partizipation am Diskurs bedienen kann. Was bei Heidegger existenzialontologisch als «Gerede» verbrämt wurde, erweist sich als ein perfides Instrumentarium der Machtausübung durch den selbsternannten Richter,32 der mit dem Opfer des Holocausts eben jene Mechanismen intersubjektiver Alterität aufdrängt, mit denen Sartre den Antisemitismus charakterisiert hat. Herzog, der vor dem Ofen, den er schürt, kniet, bietet ein Bild der Erbärmlichkeit vor dem Bild Rousseaus, das an der Wand hängt. Rousseau steht hier stellvertretend für die Ideale, die, wie Marx und Engels es im Manifest der Kommunistischen Partei formulieren, die Bourgeoisie «im eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt» (MEW 4, 464sq.) hat.33 Die Desillusionierung des Juden Herzog entlarvt die Ideale der Bourgeoisie als Trug.34 Simon hat diese in Berechnung

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Es sei hier auf Sartre verwiesen: «C'est qu'en effet, par le surgissement de l'Autre apparaissent certaines ddterminations que je suis sans les avoir choisies. Me voici, en effet, Juif ou Aryen, beau ou laid, manchot, etc. Tout cela, je le suis pour l'autre, sans espoir d'apprdhender ce sens que j'ai dehors ni ä plus forte raison de le modifier. Le langage seul m'apprendra ce que je suis; [...]» (EN 581). Ein vergleichbares Beispiel in der Gegenwart finden wir im bundes-republikanischen Jargon wieder, der gnadenlos mit der Superiorität eines richterlichen Urteilsspruches in das diskursive Vakuum stößt, das nach dem Zusammenbruch des Modells von einem sozialistischen Deutschland entstanden ist. Im Frankreich der Liberation herrscht nunmehr die unumschränkte Handelsfreiheit — «Γίηένίtable loi qui veut qu'il y ait toujours un plus riche et un plus pauvre [...]» (GUL 14). Die Männer haben darauf verzichtet, ihre eigene Situation reflektierend zu durchdringen: «C'6taient des hommes d'aspect paisible et prospöre, parvenus ä cet ige oü la vie, quand eile n'est pas arriv6e ä d6truire un individu, c'est-ä-dire s'il s'est τένέΐέ suffisamment coriace, suffisamment insensible, lui a laissd en guise d'attestation, de certificat, ce mdlange de resignation, de roublardise et d'dgoisme aggressif qu'il est commun6ment convenu d'appeler

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aufgehende Gesellschaft der Nachkriegszeit herausgestellt und ihren Zynismus in Gulliver mit den ökonomischen Bedingungen verknüpft. Herzog ist das Opfer einer unerbittlichen Regel, mit der sich Bert konfrontiert sieht, als er eine sinnlose Taxifahrt an den Ort der nächtlichen Schießerei unternimmt: [...] il [Bert] 6prouva comme un choc, la frtmissante angoisse du joueur engag6 dans une partie aux d6s truqu6s ού la seule chance de vaincre Γ adverse fourberie r6side dans l'emploi dangereux d'une 6gale et si possible sup6rieure d61oyaut6. (GUL 351)

Der «Richter» Bert muß die selbstgerechte Position mit ihrem Absolutheitsanspruch als eine relative erfahren. Das Spiel mit den gezinkten Würfeln ist eben jenes, das Herzog affirmiert, indem er darauf verzichtet, selbst falsch zu spielen. Das «Falschspielen», das Sartre ontologisch als die mauvaise foi erkannt hat, bleibt hier auf die Einsicht in die Relativität der jeweiligen Seinsauslegung beschränkt, weil sich — nach wie vor ganz de mauvaise foi — die Protagonisten der Einsicht in ihre eigene Freiheit verweigern.

3.3 «Non cogitant ergo sunt»: Das Problem der Intersubjektivität Emile Henriot deutet in seiner Rezension des Romans das Verhältnis von Eliane und Max mit den Termini Sartres: «II [Max] serait presque heureux d'echapper aussi ä lui-meme, de se reconnaitre soumis (par une supreme demission) au pouvoir d'autrui» (HENRIOT 52). Für eine Interpretation aus Sartres ontologisch fundierter Intersubjektivitätstheorie, nach der für den Menschen anstelle einer essential istische Bestimmung seines Seins nach der Seinsform des en-soi die Alterität von Pour-soi und pour-autrui tritt, spricht das Epigraph von zu Gulliver: «Non cogitant ergo sunt» (Lichtenberg). Das Lichtenbergsche Apercu verweist direkt auf den philosophischen Diskurs seiner Zeit. Die Interpretation von Simons Gulliver führt uns auch hier wieder zur Philosophie Jean-Paul Sartres. Fokussiert man das Gulliver-Motiv auf Max Verdier, so gerät die Gestalt dieses Protagonisten zu einer Allegorie des Individuums als transzendierendes, in die ontologische Diaspora verbanntes Pour-soi.35 Max kehrt in die Kleinstadt zurück, um dort sein Leben zu führen, sich — vielleicht in einem bürgerlichen Dasein mit seiner beruhigenden Uneigentlichkeit? — zu «begraben».36 Diesem bleibt er indes mit «la bände de Max» wieder fremd. Das Epigraph zu Gulliver verweist mit einiger Sicherheit auf eine Auseinandersetzung

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expörience ou sagesse. De toute 6vidence, dans la mesure oü ils avaient rdussi ä s'accommoder de leurs d6sillusions, ils 6taient contents de leur sort, assez du moins pour redouter et haür tout changement risquant de d£ranger un confort, peut-etre relatif, mais dont ils connaissaient maintenant la pr&aritd, la fragile assurance» (GUL 11). C.-E. Magny über das Beharren auf die eigene Erfahrung : «(...] Tun de ces mythes inventds par les hommes sociaux pour se dispenser de rien admettre de nouveau [...]» ( M A G N Y 4 5 , 1 0 7 ) . Es sei daran erinnert, daß Jean-Paul Sartre mit dem Begriff «diaspora» das Pour-soi charakterisiert hat. Cf. Elianes Frage an Verdier: «[...] pourquoi est-tu venu t'enterr.. t'ins taller ici? Dis? Au milieu de ces brutes.» (GUL 293).

des Literaten Simon mit der Philosophie Jean-Paul Sartres, 37 für dessen Existentialismus das cartesianische Ego seinen Absolutheitsanspruch nicht eingebüßt hat. 38 «Substantialität und Absolutheit» (ADORNO 81, 290) des Einzelnen bilden den gemeinsamen Nenner existenzphilosophischer bzw. existential istischer Ansätze. Dem entspricht nichts Ontisches, aus dem das Subjekt ableitbar wäre; es gilt einzig die Dialektik der Alterität: 39 En un mot, ce ä quoi se rdföre raon apprdhension d'autrui dans le monde comme etant probablement un homme, c'est ä ma possibilitö permanente d'dtre-vu-par-lui, c'est-ä-dire ä la possibiliti permanente pour un sujet qui me voit de se substituer ä pour un sujet qui me voit de se substituer ä l'objet vu par moi. L'«etre-vu-par-autrui» c'est la νέηίέ du «voir-autrui». (EN 303) Adorno verweist auf die Historizität der Kategorie des Einzelnen und leitet daraus eine Kritik am Existentialismus ab (ADORNO 81, 290). Bei Sartre geht dieses Argument jedoch ins Leere, da seine Philosophie sich ausdrücklich innerhalb des bürgerlichen Denkens situiert, das er aus seinen immanenten Widersprüchen heraus kritisiert. Sartre bleibt des historischen und soziologischen Ortes stets eingedenk, so daß Adornos Schelte einzig die «regressive» Ausformung des Existentialismus trifft. Habermas hält Sartre entgegen, die Annahme eines «in den Pluralismus einzelner weltstiftender Monaden» zerfallenden Bewußtseins bei Husserl und Heidegger fortzuschreiben. Der Einwand Habermas' geht aber an einem zentralen Punkt Sar-

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Dällenbach hebt die Vielschichtigkeit des Epigraphen hinsichtlich der von Simon rezipierten Autoren hervor: «Non cogitant ergo sunt, dit Γ exergue de Gulliver empruntfi ä Lichtenberg. Teile est Porigine (lointaine et profonde) de la poldmique avec Sartre, maitre ä penser et dernier ; teile est 6galement la raison de l'admiration infinie qu'il porte ä Faulkner...» (DÄLLENBACH 88a, 1 2 3 ) . Dällenbach deutet hier zwar die tieferliegenden Gründe für die Polemik zwischen Simon und Sartre an, verzichtet aber darauf, dies zu konkretisieren. Bei Faulkner erkennt er diejenigen Protagonisten, über die Wolfgang Iser schrieb, sie seien «reduzierte Formen der Subjektivität» (ISER 72, 235), als das mit dem Lichtenberg-Epigraph ausgedrückte Menschenbild. «II ne peut pas y avoir de v6rit6 autre, au point de d6part, que celle-ci: je pense done je suis, c'est lä la v6rit6 absolue de la conscience s'atteignant elle-meme. Toute th6orie qui prend l'homme en dehors de ce moment oü il s'atteint lui-meme est d'abord une thiorie qui supprime la v6rit6, car, en dehors du cogito cartdsien, tous les objets sont seulement probables, et une doctrine de probabilitds, qui n'est pas suspendue ä une νέπιέ, s'effondre dans le n6ant: pour dfifinir le probable il faut possdder le vrai. Done, pour qu'il y ait une v6rit6 quelconque, il faut une v6rit6 absolue; et celle-ci est simple, facile ä atteindre, eile est ä la portie de tout le monde; eile consiste ä se saisir sans interm6diaire» (SARTRE 46a, 64sq.). Sartre postuliert hier aber nicht das Prinzip der Identität. In seiner posthum erschienenen Schrift νέηίέ et existence nimmt er dazu deutlicher Stellung: «Pour me servir d'une image, la liberty n'est nullement li6e au principe d'identitd: eile ne prdsuppose pas qu'un 6tre ne puisse 6tre en meme temps et sous le meme rapport lui-m6me et autre chose que lui-meme [...] mais seulement que si un dtre tel est dans le monde, eile dispose α priori du pouvoir d'inventer des anticipations qui permettront de le voir dans sa rdalitd non-identique» (SARTRE 89, 43). cf. Sartre in L'Etre et le ηέαηί («troisiime partie») — «Le Pour autrui» (EN 265-486; cf. THEUNISSEN 77, 176sqq.). Eine Zusammenfassung zur Stellung des Anderen: Klaus Hartmann, «Grundzüge der Ontotogie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik», in: idem, Die Philosophie J.-P. Sartres. Zwei Untersuchungen zu «L'Etre et le ηέαηί» und zur «Critique de la raison dialectique», Berlin: De Gruyter 1983, p. 98-112. Den «Blick des Anderen» stellt Walter Biemel in seiner Sartre-Monographie ausführlich dar (BIEMEL 64, 43-51). 181

treschen Denkens ebenso vorbei wie Adorno. Sartre trägt der jeweiligen Seinsauslegung Rechnung, und darin ist seine Philosophie ebenso historisch wie dialektisch. Jeder Entwurf («projet») bedeutet immer schon ein Mittelbar-Machen («mediation»), die Konstituierung einer Ebene, auf der die intersubjektive Aktion artikuliert werden kann (HABERMAS 88a, 50). Allein für einen Existentialismus, der sich auf die Reproduktion der Existenzerfahrung beschränkt und das Bild eines sich in der Entfremdung philosophisch einrichtenden Menschen zeichnet, finden die von Seiten der Frankfurter Schule gegen Sartre erhobenen Einwände ihre Berechtigung. Habermas' gegen die Philosophie Sartres vorgebrachter Einwand erhellt damit einen Aspekt, durch den sich die Protagonisten Simons von Sartreschen Charakteren unterscheiden. Sie stellen die Grundposition Sartres, die der res cogitans Wahrheit zubilligt und daraus Freiheit und weltstiftende Potenz ableitet, in Frage. Die Menschen in Gulliver erfahren sich primär als Objektexistenzen, und wenn sie selbst den objektivierenden Blick auf andere richten, so geschieht dies immer am adäquaten Objekt, d.h. an Subjektivitäten, die nicht die Kraft aufbringen, ihnen ihrerseits objektivierend zu begegnen, sie sind «Richter». Die Dialektik der Alterität scheint in der Welt der irgendwo in Zentralfrankreich liegenden Kleinstadt suspendiert. Ein Beispiel hierfür ist der Journalist Bert, der den Juden Herzog nachgerade sadistisch verfolgt. Menschen der Ausnahme, «authentische» Individuen, wären diejenigen, die ihre eigene Objektexistenz unter dem Blick des Anderen zu transzendieren vermögen, damit aber zugleich ihrer ontologischen Heimatlosigkeit gewahr werden. Die Einsicht in die eigene ontologische Heimatlosigkeit angesichts der Omnipräsenz von Sein bleibt bei Simon als eine Ausnahme — die Erfahrung der Levinasschen «situation-limite» — den Protagonisten Faure und Verdier vorbehalten; die von ihnen vollzogene Bewegung ist indes nicht die eines Transzendierens «hin zu etwas». In Gulliver klingt eine Auseinandersetzung mit einer Auslegung des Sartreschen Freiheitsbegiffs an, die den «Asketismus» hervorhebt.40 Montigny schrieb über Sartres «Asketismus», daß er die Trennung von den Dingen vollziehe (MONTIGNY, 50sq.). Eben diese «Askese» macht Max Verdier zum tricheur, da er sich selbst in seiner Dinglichkeit ohne den Blick des Anderen erkennt. Darin gründet seine Freiheit, die aber der eines zum Hofnarren gemachten Krüppels gleicht, da er diese Freiheit nicht in ein Geflecht intersubjektiver Weltkonstituierungen einbringen kann.41 Gerard Faure, der als Jugendlicher Priester werden wollte, verläßt sein

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Haug spricht kritisch von einer «moralisch-repressiven» Auslegung der Freiheit bei Sartre (HAUG, 175).

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Der Asketismus Verdiers spricht für eine solche Rezeption Sartres in Gulliver. In diesem Verzicht wird er zugleich zum «monstre»: «Parfois pendant ces ann6es au cours desquelles il avait v6cu dans un 6tat de chastet6 complete, son corps, la nuit, profitait du sommeil pour affirmer ses droits imprescriptibles, se rivolter contre l'impitoyable contrainte qu'il faisait peser sur lui. Et pas seulement son corps. Car l'esprit aussi s'insurge, proclame insolemment son ind6pendance, sa süperbe et capricieuse infid61it6. II n'essayait pas alors de lutter, d'empecher cette alliance perfide, cette perfide trahison d'une facultd par quoi l'homme se flatte d'asservir la mattere et que la mattere s'asservit, force aux plus basses complaisances. C'6tait en quelque sorte comme s'il assistait du dehors au ddchalnement furieux, exasp6r6, qui s'61evait en lui, attendant que fiireur et d61ire s'fpuisassent d'eux-mfimes dans les soubresauts de leur rage

Elternhaus, um in den maquis zu gehen. Sein Leben ist der Reinheit des resistant gewidmet, dennoch fehlt ihm das Signum der Freiheit, da Faure seine Position aus der, an ein historisches Moment geknüpften, Autorität eines Offiziers der Risistance bezieht. Max Verdier lebt infolge eines traumatischen Erlebnisses für einige Jahre in Keuschheit. Die Protagonisten in Gulliver durchleben Momente der Erkenntnis: Faure während seiner Fahrt in der Nacht zum Attentat, Max Verdier während seiner nächtlichen Wanderung, Bert, als er in der Nacht vor dem Fenster Elianes steht. Allen diesen Momenten ist jedoch eines gemeinsam: die Unaussprechlichkeit der Erfahrung, ihr idiosynkratischer Gehalt. Am weitesten geht noch die Beschreibung bei Max Verdier, jenem Individuum, das die Möglichkeiten des Lebens bis zum Ende ausgekostet zu haben glaubt. Seine Eskapaden mit dem Flugzeug, sein Eintreten in die Armee unter falschem Namen — alle seine Handlungen tragen das Gepräge (moralischer) Indifferenz. In den waghalsigen Flugmanövern etwa erkennen wir die spanischen Anarchisten von La Corde raide wieder. Die Indifferenz gleicht aber ebenso einer Maske wie die Sicherheit verheißende Seinsauslegung.42 Hinter diesen Masken wirkt in Gulliver wie in anderen Romanen Simons eine Kraft, die libidinös konnotiert ist. Tiefenpsychologische Symbolik artikuliert, argumentiert man topisch, das Wirken solcher Kräfte an verschiedenen Orten. Die «libidinöse» Kraft, «le desir» verbindet — in die ontologische Terminologie Sartres übertragen — das Individuum auf eine Weise mit der amorphen Masse des en-soi, die den Dualismus von Faktizität und Transzendenz verdeckt; sie stellen eine dem Bewußtsein entzogene Größe dar, die sich aber nicht — wie bei Sartre — als den Weltbezug des transzendierenden Pour-soi, sondern ebenfalls als en-soi zu erkennen gibt. Daraus ist zu folgern, daß hier das Individuum den Objekten gleichgestellt wird und letztlich der «desir» als Seiendes «unter» Seiendem zu begreifen ist. Was wir hier als «desir» bezeichnen wollen, meint nicht das menschliche Bewußtsein in seinem Dualismus von Faktizität und Transzendenz, sondern ein objektiviert («chosistisch») gefaßtes

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impuissante. Comme s'il avait d6tach6 cette partie de lui, la regardant se tordre et frapper dans le vide, avec une sorte de satisfaction perverse, de curiosit6 malsaine, lui octroyant cette licence insolente et sans frein, un privilege, la mdprisante impunit£ conf6r6e ä ces monstres grima^ants, ddbiles et difformes promus au röle de bouffons, moquös, sollicitds et hals, dans les cours corrompues de royautds corrompues» (GUL 286). Max Verdier führt ein Leben außerhalb des kommunikativen Rahmens der Gesellschaft, die sich an dem Gerede aufrichtet. Die Worte erscheinen als sinnentleerte Hülsen: «Mais peut-etre ne s'en apercevait-on pas, peut-£tre ceux qui les appelaient ä leur secours gardaient-ils malgr6 tout au fond d'eux-mfcmes comme une vague superstition, les essayaient-ils ä tout hasard par un reste de vieilles croyances dans la puissance occulte du verbe. Et pas plus que ces symboles les vieux mythes de d6faite ou de victoire n'avaient un sens. Encore moins pour les conqu6rants qui voyaient fuir devant eux, maudissantes, ext6nu6es et geignardes, les foules ä leur propre image, eux dont le combat m&ne 6tait lächetd et fuite, la seule issue ä quelque sombre disespoir, la seule 6chappatoire ä quelque rtve triste, funfcbre et sans lumifere. Simplement le monde arriv6 ä une de ses 6ch6ances s'an6antissant lui-möme, avec cette rage sans pardon de l'auto-d6struction, parce qu'il portait en lui meurtre et violence, comme une charogne voit naltre de ses propres entrailles l'aveugle et vorace grouillement qui s'achfcvera de faire disparaitre jusqu'ä L'apparence qu'avait respect6 la mort» (GUL 280sq.).

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Prinzip. Die Ambivalenz dieses objektivierten «desir» zeigt die Passage in Gulliver, in der Bobby mit einer Prostituierten in flagranti erwischt wird: D6sordre confus dans quoi l'oeil noy6 isolait des pans de chair, cuisses masculines et velues, broussailles, buisson spongieux et roux d'oü s'6rigeait, un instant entrevu, congestion^, le b61ier au front cyclopden et aveugle. (GUL 171)

Das Eindringen von Bobbys Glied in das Geschlechtsteil einer Frau evoziert Regression und Kastration (JANVIER, 93). Die Regression wäre in Bachelards Symbolwelt die «existentialistische» Hingabe an die anti-valeur (Sartre); die Kastration ließe sich nach einer an Sartre orientierten theoretischen Vorgabe als die Aufgabe der Fähigkeit des Pour-soi zur Nichtung deuten. Die Passage, in welcher der Phallus als ein Bock/Widder bezeichnet wird, fügt sich in eine Traditionsreihe von Symbolen, die C.G. Jung inventarisiert hat: «Die Symbolik des Instrumentes des Koitus war ein unerschöpflicher Stoff für die antike Phantasie» (JUNG 12, 41). Das Bild des einäugigen Zyklopen, Symbol atavistischer Existenz, ist hier gleichbedeutend mit dem Streben, sich unbewußten Gesetzmäßigkeiten zu überlassen. Die Passage mit Bobby führt in jene Schichten der Seele, in denen «ausgesprochene Züge archaischer Geistesartung auftreten, die unter Umständen bis zur Wiederbelebung einmal manifest gewesener archaischer Geistesprodukte gehen könnten» (JUNG 12, 44) — in anderen Worten: Die dem Unbewußten entstammenden «Produkte» geben ihre Verwandschaft mit dem Mythischen zu erkennen. Das blinde Auge des Phallus ist unfähig zur Objektivierung und das «Auge» weiblicher Genitalorgane markiert den verschlingenden Schlund. In der existentialistischen Terminologie Sartres heißt dies: der Triumph des en-soi. Auf die Intersubjektivität bezogen, verweist die im Roman gebrauchte tiefenpsychologische Metaphorik auf ein Stadium jenseits der Alterität von Pour-soi und pour autrui (Sartre). Das weibliche Prinzip manifestiert sich hier in seiner ganzen Ambivalenz, wie es sowohl die in der komplexen Psychologie inventarisierten Bilder — so das Bild der Terra mater — als auch Sartres existential istische «Metaphorik» zeichnen. Die Beschreibung Elianes mag hier stellvertretend stehen: «[...] la fragile boule d'os, la friable coquille oü naissent, habitent et meurent les divinites» (GUL 114); unter den Händen (sie!) ihres Liebhabers Verdier erscheint sie als «[...] cette nudite ä la fois dure et vulnerable, le doux et decevant Symbole de toute fertilite, de toute paix, avec sa blessure secrete, l'etroite bouche de la terre» (GUL 290). Das Frauenbild, wie es Eliane verkörpert, vermittelt das Bild von Passivität angesichts intersubjektiver Alterität, zugleich bedeutet sie eine Machtentfaltung auf der Ebene einer dem Bewußtsein nicht zugänglichen Gesetzmäßigkeit. In dieser Ambivalenz symbolisiert sie den Ort jenseits der intersubjektiven Alterität. In Gulliver finden wir zwei Formen des Denkens vor, die sich in Anlehnung an die von C.G. Jung getroffene Unterscheidung zwischen «gerichtetem Denken» — das ist das rationale diskursive Denken — und dem «Träumen oder Phantasieren» verdeutlichen lassen: «Ersteres arbeitet für die Mitteilung, mit sprachlichen Elementen, ist mühsam und erschöpfend, letzteres arbeitet mühelos, sozusagen spontan mit

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den Remineszenzen» ( J U N G 12, 3 2 ) . Die Unmittelbarkeit des Denkens und Handelns fasziniert Max Verdier an den Brüdern Chavannes, mit denen er sich immer umgibt. Ihnen bereitet die veränderte historische Situation keine Schwierigkeiten. Die passive Hingabe an die um assoziative Verknüpfungen bereicherten Erinnerungen war auch der Erfahrungsmodus des Erzählers in der Schlußpassage von La Corde raide. Das rationale diskursive Denken hat in der historischen Extremsituation versagt, nichtsdestoweniger klammert man sich an das Gerede, in dem rationale Welterfahrung fortlebt.43 Simon antwortet darauf mit dem Irrationalismus, für den die Denker Nietzsche — der «unmittelbare Vorläufer moderner Lebensphilosophie» ( L E R S C H , 8 9 ) — und Bachelard, der seine «epistemologie» auf lebensphilosophischen Ansätzen aufbaut, stehen.44 Die ins Unbewußte abgedrängte primordiale Erfahrung allein, welche die Trennung von Subjekt und Objekt nicht kennt, stößt zur Wahrheit vor. Diese Erfahrung aber steht jenseits unserer veröffentlichten Zeit, welche sich nur auf die an der Oberfläche angesiedelte Bestimmung eines Lebens als die qualitativ indifferente Zusammenschau von Einheiten innerhalb des Zeitflusses beschränkt: Απϊνέ ä cet instant de sa vie oü, les oreilles encore bourdonnantes des anräes pass6es, il d6couvrait dans la Stagnation neutre du temps le grouillement obstini de ce qui n'avait pas cess6 d'exister, ne cesserait jamais, sans doute crut-il pouvoir se laisser assimiler par cette vie ardente, animate et sommaire qui ne connaissait ni rdvolte ni soumission. (GUL 271)

Das Addieren von Zeiteinheiten zu einer Zusammenschau gibt dem Leben ein Sein (Levinas: etre), das fest mit einem Seienden (etant) verknüpft scheint. Jenseits der Zeit aber dekuvriert sich das Seiende als dem etre, dessen Bestimmung von der Zeit abgeleitet ist, enthoben.45 Was beim Suspendieren der Zeit sichtbar wird, ist jenes amorphe Seiende, dem über die Zeit ein Sein abgetrotzt werden soll — «ce qui n'avait pas cess6 d'exister, ne cesserait jamais». Das Sein des Lebens weist daher ein ähnliches Paradox auf wie die Hegeische Bestimmung der Zeit.

3.4 Zeit und Einsamkeit Das Stagnieren der Zeit, das die Persistenz des Vergangenen als im Gegenwärtigen noch immer Existierendes bedeutet, weist wieder auf ein Zeitverständnis hin, das die Interdependenz von Subjekt und Objekt — «comme deux moments abstraits d'une structure unique qu'est la prisence» ( M E R L E A U - P O N T Y 4 5 , 4 9 2 ) — beiseite schiebt

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«Puis ä travers les nouveaux mots (c'6taient les memes tout aussi fatigu6s, tout aussi vides, mais refourbis), les nouvelles voix — car il semble que jamais rien ne puisse arriver ni se produire sans 1'accompagnement de cette dlliquescence verbale faute de quoi probablement rhumanit6 resterait ä jamais frapp6e d'aboulie, tournant en rond dans le d6sert, implorante et braillante, k la recherche d'un introuvable Sinai — la vie reprit» (GUL 281sq.). Zur Bedeutung des Denkens von Gaston Bachelard cf. Centre Culture! de Cirisy-la-Salle (ed.), Bachelard. Colloque de Cirisy, Paris: U.G.E. (Coli. 10/18) 1974. NB: Dies ist nicht zu verwechseln mit einem Seinsbegriff, wie er etwa Theunissens Untersuchungen (THEUNISSEN 77, 306) zugrundeliegt.

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und allein auf das Objekt ausgerichtet ist. Die Beziehungen zwischen «temps objet» und «temps sujet» (MERLEAU-PONTY 4 5 , 4 9 2 ) weichen unterschiedlichen zeitlichen Bezügen im Objektbereich. Ein solches Zeitverständnis tritt in einer Passage aus Simons Gulliver deutlich hervor: De Γ6tage arrivaient les riso nances feutr&s d'un piano. Les sons multiples se r6pandaient en nappes de temps capt6, palpable, amassant silence et espace qui se gonflaient, s'enroulaient sur eux-m6mes en dilicates spirales pour se difaire ensuite, la matifere accumulie et soudain d6sagi£gde s'igrenant, les dcluses invisibles d61ivrant les myriades de particules composantes de la durde, pr6cieuses, tenues, ftdmissantes. Brusquement, tout cessa, comme une radcanique d6traqude qui se coince sans prdavis, et l'on put entendre, pdtrifid, ce qui n'6tait ni espace, ni silence: seulement n6ant. Puis cela reprit, recommenga plutöt, comme si, quelque part, disponible, pr6t ä ressurgir ä la fagon de ces balles qui apparaissent entre les doigts des prestidigitateurs, existait quelque ordre magique de mesure et d'harmonie. (GUL 132)

Die Klänge des Klaviers breiten sich aus wie eine Schicht von gefangener, greifbarer Zeit. Mit dem Unterbrechen der Musik tritt «Nichts» als Abwesenheit von Klängen in Erscheinung. Das Klavierspiel wird fortgesetzt und in diesem Fortführen offenbart sich ein über das bloß Seiende hinausweisendes Sein — «quelque ordre magique d'harmonie et de mesure». Mit der Musik erhält die Zeit ihr Sein (etre), wird zum «temps capte». Die Passage aus Gulliver führt vordergründig zu der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem. Doch bleibt dieser Nachhall der ontologischen Differenz eigentümlich schal — «quelque ordre magique», denn sie gibt sich nicht in ihrer eigentlichen Bestimmung zu erkennen, die Habermas als die Differenz «zwischen dem Weltentwurf, der den Horizont für mögliche Begegnungen in der Welt öffnet, und dem, was darin faktisch begegnet» (HABERMAS 88a, 49) zusammenfaßt, was mutadis mutandis in der Terminologie Sartres heißt: das Pour-soi en situation. Nach Heidegger ist die Zeit in einer Art und Weise mit dem Sein verschränkt, mit der dieses selbst zur Differenz wird. Zeit kann somit nach den existenzial-ontologischen Vorstellungen über kein Sein verfügen. Bei Simon aber erscheint hier eine für Darstellung von Zeit geradezu typische Metaphorik, die das von Hegel artikulierte Paradox von einem «Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist» artikuliert: die Musik. Zeit erhält Quasi-Materialität und Sein, das von der Dauer (nicht zu verwechseln mit Bergsons dureel) der Musik konstituiert wird. Im Unterbrechen der Musik erscheint das Nichts zwar als die Negation von diesem Sein, aber diesem gleichgestellt. Simon thematisiert hier das unauflösliche Paradox, daß der Gegensatz Sein und Nichts nur dann erfahren wird, wenn Seiendes in einer Größe aufgehoben wird, die ihrerseits neben das Seiende tritt: die Zeit. Der Beobachter/der Zuhörer wird in bezug auf die Zeit nicht in dem Dualismus von Faktizität und Transzendenz erkannt; er ist — der Sprung in Sartres Terminologie sei gestattet — nicht en situation, weil die Veränderungen, die den Gegensatz von Sein und Zeit zu erkennen geben, für den Beobachter allein im Objektbereich ablaufen. Die unabhängig von einem Dasein auf den Objektbereich festgelegte Zeit ist die Zeit der Entfremdung oder — in der Terminologie Heideggers — die ihrer «vulgären» Auslegung.

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Diese Autonomie des Objektbereichs und «seiner» Zeit mit ihren ontologischen Implikationen demonstriert eine andere Passage in Gulliver. Sur r6paisseur de la nuit la fenetre du premier Stage plaqua soudain un rectangle citron päle, devint le centre d'un monde insoup^onn6 aux fibres multiples se ramifiant en un rdseau de branches mel6es, encore mouilldes et luisantes. Puis, tout rentra dans l'ordre et les choses un moment bousculdes par la nappe laiteuse se mirent d'accord, organisfcrent un nouveau mystfere, un nouveau silence, (GUL 209)

Das Licht legt sich wie die durch die Musik materialisierte Zeit als Schicht über die Dinge. In dem Lichtschein eines beleuchteten Fensters wird für einen Augenblick sichtbar, was bisher der Wahrnehmung entzogen war, um sogleich wieder in «Ordnung» zu kommen. «Ordnung» ist hier gleichbedeutend mit einer dem erkennenden Subjekt entzogenen Organisation der Welt der Objekte. Die von Simon mit der Musik- und Licht-Metaphorik zum Ausdruck gebrachte Zeitauffassung bedeutet keineswegs, daß das Subjekt hier gänzlich aus dem Blickfeld gerät; es bleibt als Korrelat der Objekte distingibel. Was sich aber an Sein in der Welt bzw. als Welt auftut, geschieht unabhängig von diesem Subjekt, das nur noch mit seinen subjektividiosynkratischen Erlebnissen, aber nicht mehr durch innerweltliche Praxis «reagiert». Die Dichotomie von Subjekt und Objekt wird auf diese Weise als eine unumstößliche festgeschrieben. Licht («la nappe laiteuse») und Zeit («les nappes de temps») legen sich über das Seiende, das aus der Sicht rationalen diskursiven Denkens seiner Ausbildung zum Sein harrt. Das Freilegen eines verzweigten Geflechts aus dieser amorphen Masse des Seienden liest sich wie eine Abwandlung der Definition des Komischen bei Bergson: «Du mecanique plaque sur du vivant» (BERGSON 40, 29). Dem «Mechanischen» entspräche das Sein (Levinas: etre) und dem «Lebenden», das von jenem unabhängige Seiende. Die Musik macht ein Sein (etre) erfahrbar, das an ihre Dauer gebunden ist, der Lichtschein erhellt in der Welt des Seienden und läßt in ihm Sein (etre) entstehen, um dann mit seinem Erlöschen das Seiende wieder in Geheimnis und Stille zu hüllen. Beide Erscheinungsformen von Sein führen zum Parodox des Hegeischen Zeitverständnisses, des «vulgären», zurück. Das Licht, aber auch die Musik, sind beunruhigend, weil sie Fragen an die Welt aufwerfen, die ohne ihr Wirken nicht gestellt worden wären. Das «vulgäre Zeitverständnis» tritt auch an einer anderen Stelle in Simons Gulliver deutlich hervor. Der Journalist Bert, der das Haus der de Chavannes beobachtet, hört die Uhr eines Kirchturms schlagen. In der Dunkelheit aber fehlt dem Schlagen der Turmuhr der Bezugspunkt, der die Welt mit der Zeitmessung verbindet: Une demie, ou un quart, enfin un quelconque rep&re dans l'6paisseur d'un temps fig6 lui aussi s'£grena d'un clocher. II avan^a le poignet dans la lumtere et relevant sa manche essaya de distinguer la position des aiguilles sur le cadran de sa montre. (GUL 213)

Die Zeit steht still, sie ist undifferenziert wie die Masse des en-soi. Das Schlagen der Kirchturmuhr löst aus dem Kontinuum ein Stück heraus, macht die Zeit also 187

erfahrbar, jedoch ohne manifesten Bezug zu dem Bert umgebenden Raum. Die Zeit benötigt, um dem im Raum wahrnehmbaren Seienden zugeordnet werden zu können, die Konkretisierung durch ein Meßgerät; es bedarf also des Blicks auf die Uhr. In der dunklen Nacht erfahrt Bert die Zeit als ein Sein (etre), das jenseits des durch die Uhr räumlich Konkretisierbaren besteht. Dieses Sein steht seinerseits in einer — vom Subjekt bzw. Dasein unabhängigen! — Differenzbeziehung zum Seienden. Kurz: das hier geschilderte Zeiterlebnis basiert auf dem «vulgären Zeitverständnis», d.h., an die Zeit wird dieselbe Erwartungshaltung herangetragen wie an die Dinge.46 In der Kälte der Nacht begegnet Bert die Opakheit des Seienden. Die aufsteigende Kälte identifiziert ihn mit zeitlos-amorphem en-soi. Nach einer Weile verzichtet er darauf, auf die Uhr zu blicken. Die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung kündigt sich an, oder aber, um in die Terminologie Sartres überzuwechseln, das Eintauchen in die krude Positivität des en-sor. Une fois encore, un peu plus tard, il regarda l'heure. Aprös quoi il ne fit plus aucun mouvement, sentant le froid monter lentement, prendre possession de lui peu ä peu, enfoncer des coins de fer dans ses pieds, se muer en une force matdrielle qui semblait l'enserrer m6thodiquement, encercler ses membres, son front, cisailler autour de lui les lambeaux d'un univers inepte dont l'immensitd se dissolvait dans le ndant au centre duquel ne subsistait plus, reli6e par quelque 6trange sortilege ä un rectangle de lumiöre, qu'un pieu fulgurant dans quelques lambeaux de chair, (GUL 213sq.)

Es ist die Einsamkeit des existential istischen Menschen, wie er in Sartres Les Mouches, jener während der Okkupation uraufgeführten Parabel der Freiheit, auftritt. Jupiter schleudert in Les Mouches Oreste das von Kierkegaard geprägte Gleichnis vom Pfahl im Fleisch entgegen: «Tu n'es pas chez toi, intrus; tu es dans le monde comme l'echarde dans la chair, comme le braconnier dans la foret seigneuriale [...]». 47 Die Einsamkeit rührt daher, daß in der Welt kein Weg vorgezeichnet ist, kein vorfindliches Sein im Sinne essential istischen Denkens. Der freie Mensch ist bei Sartre ein Pfahl/ein Splitter im Fleisch, da er den falschen Schein eines Seins, der sich über das Seiende gelegt hat, durchbricht. In Sartres phänomenologischer Ontologie schreitet nun die weltentwerfende Potenz in Gestalt des Pour-

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Die Zeit scheint in der Nacht stillzustehen und zugleich greifbar zu sein. Zu einer Sartre widersprechenden Metapher der Zeit wird die Passage mit dem erleuchteten Fenster, wenn man ihr folgenden Auszug aus L 'Etre et le neant unterlegt: «La cohdsion du Temps est un pur fantöme, reflet objectif du projet ek-statique du Pour-soi vers soi-mfeme et de la cohösion en mouvement de la R6alit6 humaine. Mais cette cohesion n'a aucune raison d'itre si l'on considöre le Temps par lui-m6me, eile s'effondre aussitöt en une multiplicit£ absolue d'instants qui, consid6r6s s£par£ment, perdent toute nature temporelle et se rfduisent purement et simplement ä la totale a-temporalitd du ceci. Ainsi le Temps est pur n6ant en-soi qui ne peut sembler avoir un itre que par l'acte mime dans lequel le Pour-soi le fianchit pour l'utiliser. Encore cet etre est-il celui d'une forme singulare qui s'enlfcve sur fond indiff£renci£ de temps et que nous appellerons le laps de temps» (EN 257). Sartre thematisiert hier das «vulgäre Zeitverständnis», wenn er vor der Folie ihres Zerfallens in Jetzt, die Zeit als ein reines «Nichts an sich» bezeichnet und von einem «fond indiff0renci£ de temps» spricht. Jean-Paul Sartre, Les Mouches, in: idem, Huis clos (suivi de) Les Mouches, Paris: Gallimard (Coll. folio) 1982 [Erstv. 1943], p. 95-245, hier: p. 231.

soi mit seiner Fähigkeit zur Nichtung ein. Simon — das Epigraph zu Gulliver zeugt davon — drückt seine Skepsis an dieser weltentwerfenden Potenz aus. In Simons Weltbild bleibt, trägt man die philosophische Terminologien Heideggers und Sartres an sein Werk heran, das Seiende die opake Masse des en-soi, von dem der Mensch schon immer bedroht wird. Das jeweils entworfene Sein wird dem Seienden untergeordnet, wodurch die Transzendenz — in der Sartreschen Bedeutung — geleugnet wird. Das dieser Sicht inhärente Moment der Bedrohung erscheint bei Simon als eine Strukturierung des Seienden, die sich dem Zugriff durch das Rationale diskursiven Denkens entzieht und u.a. in Bildern wahrgenommen wird, welche die komplexe Psychologie inventarisiert hat, so z.B. der Bildbereich des Gynaikomorphen.48 Dem entgegnet Simon aber nicht mit dem auf der Gewißheit des cartesianischen Cogito gründenden Sartreschen Pour-soi. In seinem Weltbild lebt vielmehr gerade jener schale Nachhall der ontologischen Differenz weiter, den wir im Vergleich von den «nappes de temps» und der «nappe de lumiere» gesehen haben. Es ist hier ein Wechselspiel im Bereich des vom Subjekt Unabhängigen zu sehen. Die Wahrnehmung von Zeit, wofür die Spaltung von Subjekt und Objekt Voraussetzung ist, kann als das «angeschaute Werden» (Hegel) bzw. Vergehen in Erscheinung treten. Simons Annäherung an den «temps fige» ist ein Stück lebensphilosophischer Irrationalismus. Der Mensch als «pieu fulgurant dans quelques lambeaux de chair» verfügt über einen Leib und ist damit ein Teil dieses Seienden, das seiner Ausbildung zum Sein harrt. Mit diesem Leib ist er — hierin liegt die Abweichung von Sartre begründet — an obskure Mächte, die dem Zugriff diskursiven Denkens entzogene Gesetze diktieren, gebunden. Hinter dem, was wir den (schalen) Nachhall der ontologischen Differenz genannt haben, steht in Simons Roman die libidinös konnotierte Kraft des «desir», der die jeweiligen Differenzbezüge unabhängig vom Subjekt beschreibt.49 Die Abende in dem Sportheim der zentralfranzösischen Kleinstadt mit ihrem «Erlebniswert» demonstrieren die eigentliche Qualität der als Sukzession gefaßten Zeit: «[...] tic tac d'innombrables mecanismes desaccordes ä la traine d'un temps lent, inexorable, porteur en surimpressions factices sur les retines d'images violentes, romanesques, accumulees pour la semaine sur les terrains de sports et dans les salles de cinema» (GUL 118). Die Zeit der Uhren erscheint — ganz wie bei Faulkner — als das Prinzip, das die Dimension Zukunft raubt. In der abstrakt-linearen Zeit begrenzt der Mensch seine Möglichkeiten, er erfahrt sie lediglich als zu verlierende Zeit, als die Einheiten, welche die Spanne bis zum Tod quantitativ erfassen. Solchermaßen als Quantitäten begriffen, müssen Erlebnisinhalte «aufgespeichert» werden.

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Auch die Wasser- und Schlammetaphorik in Gulliver deutet auf ein tiefenpsychologisches Unterlegen der Romanhandlung hin. Cf. dazu Sartres Kritik an der Vorstellung von einer «Libido» bzw. eines «Willens zur Macht», wodurch übrigens die enge Verbindung Jung'scher Tiefenpsychologie zur Lebensphilosophie deutlich wird: «La libido ou la volonte de puissance constituent, en effet, un risidu psychobiologique qui n'est pas clair par lui-meme, et qui ne nous apparait pas comme devant itre le terme irrdductible de la recherche» (EN 631).

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Mit der Befreiung von der Uhrzeit — wie z.B. im Augenblick sexueller Klimax — erhält der Mensch scheinbar die Dimension Zukunft zurück, eine Zukunft mit schalem Beigeschmack. Das Feld der Möglichkeiten läßt sich nur ex negativo als das Wegfallen der Angst50 vor dem ontologischen Trug eines Seins bestimmen. Dieser Trug wird zwar als solcher erkannt, nicht aber im Bewußtsein der eigenen Freiheit transzendiert, weil das Denken auf das «vulgäre Zeitverständnis« mit seiner Annahme eines unerbittlichen, jedes Menschenwerk zerstörenden Flusses gebunden bleibt. Der Augenblick erhält utopische Qualität, weil er das Erlebnis verheißt, in dem das zerstörerische Wirken des Flusses suspendiert erscheint. Der Lichtstrahl, der Bert in der Nacht überrascht, bedeutet ein räumliches Herausschneiden aus dem Kontinuum, um sogleich wieder in dieses hinabzutauchen. Dieses Kontinuum entzieht sich der Bestimmung innerhalb von Raum-Zeit-Koordinaten. Das Beleuchten steht für das (wahrnehmende) Bewußtsein, das dieses Kontinuum durchbricht. Diese Wahrnehmung ihrerseits aber findet wieder ihren Platz in diesem Kontinuum. Der Literat Simon faßt hier das Verhältnis von Subjektivität und Zeit nicht dialektisch wie Sartre.51 Das «vulgäre Zeitverständnis« gibt sich noch deutlicher in einer Passage zu erkennen, die eine alte Uhr schildert. Diese steht neben einer Flasche mit einem Etikett, auf dem der Name einer Essigmarke von einer sternförmigen Zeichnung umgeben ist, die zersplitterndes Glas evoziert. [...J la pendulette rococo de bronze dor6 rel6gu6e sur la chemin6e derrifcre une bouteille de vinaigre aux trois quarts vide avec son etiquette au dessin tapageur oü vert olive et lilas se rdpartissaient suivant des lignes en dents de scie ä la fa^on des dclats d'une vitre bris6e au centre de laquelle le nom rlclame — synthase criarde, commerciale et bon march6 d'öclats de mots — s'6talait en surimpression comme le Symbole m&ne du produit synthdtique, bon march6 et corrosif, contenu dans la bouteille, quelque chose 61abor6 en rempla^ant le temps par des th£oriques 6quivalents soi-disant tels: d6fi niais fortuitement 6chou6 sur ce marbre de cheminfie ä c0t6 du cadran chiffrö, serti de bronze rocailleux, et dorn le m6canisme qu'aucune main ne remontait plus devait se rouiller lentement, corrod6 ä son tour par ce temps qu'il avait pr6tendu grignoter, inutile, seulement lä pour mömoire peut-dtre, pour illustrer, avec l'itiquette colorde, les deux tentatives saugrenues faites en vue de mesurer et de nier la m£me chose. (GUL 321)

Das Zeitmeßgerät ist selbst der zerstörenden Kraft der Zeit ausgesetzt — wie das menschliche Leben, das von der Zeit angegriffen wird. Die zerstörende Kraft der Zeit annehmen heißt, dieser die Fähigkeit zur Negation beizumessen. Ein solches Zeitverständnis geht vom Seiendem «in der Zeit» aus (sz 405); die Rokokouhr «ist» also in der Zeit. Die Negation der Zeit selbst besteht daher im Festhalten des Augenblicks, der ein Sein (etre) verheißt, aber nur ungeschiedenes Seiendes hervortreten läßt. Der Gedanke, Zeit anzuhalten, impliziert das Verabsolutieren einer

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«Puis il n'y eut plus rien, au seuil d'un temps ind6fini oü, de nouveau, toutes les aiguilles de toutes les montres de toutes les horloges s'arrStörent de tourner, oü tout parut possible, oü s'effa^a meme l'amdre connaissance de la mort, du doute: seulement l'espoir de quelque chose qui ne serait pas mal6diction et tönfcbres, solitude et peur» (GUL 332sq.). «La temporalit6 η 'est pas. Seul un 6tre d'une certaine structure d'ötre peut Stre temporel dans l'unitd de son etre. L'avant et l'aprfcs ne sont intelligibles, nous l'avons not6, que comme relation interne» (EN 175).

abstrakt-linearen Zeit, die so zum Wesen der Zeit erklärt wird (MACHO, 386). Das Messenwollen der Zeit, worin ihre Affirmation besteht, und das gleichzeitige Bestreben, sie zu negieren, ihren Lauf anzuhalten, reflektieren das Hegeische Diktum vom «Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist». Die Zeit soll die Härte von Materie bekommen, zum Sein (etre) erstarren. In der Nacht, in der Max Verdier über den gefrorenen Boden schreitet, zeigt sich das Akzeptieren der Einsamkeit durch das Individuum. Max Verdier ist aus dieser Perspektive «authentischer» als Bert, der sich von der Kälte ummanteln läßt. Dennoch taucht am Ende Verdier wieder in die Dunkelheit ein. Ist die «vulgäre Zeitauslegung» etwa eine tragfahige Metapher für die «uneigentliche» Auslegung von Existenz? Hegels paradoxe Bestimmung der Zeit formuliert trefflich eine Grundfrage der conditio humana. Hinter dem Individuellen lauert bereits das Allgemeine. Zwischen diesen beiden Polen eingeklammert steht das «Ich». Um seine Individualität zu behaupten, ja zu authentischem Sein zu gelangen, versucht es, aus dem Allgemeinen auszubrechen, die Zeit anzuhalten, bzw. zu negieren. Mit dieser Negation jedoch zerstört es seinen Bezugspunkt: das Individuelle bedarf des Allgemeinen. Diese Paradoxa der Zeit und der conditio humana führen zurück zu dem Lichtenbergschen Apercu im Epigraph von Gulliver: «Non cogitant ergo sunt.» Anders als bei Sartre bleibt das Sein opak, denn Simon billigt der Subjektivität nicht die Fähigkeit zur Nichtung (Sartre) zu. Es wird vielmehr Negation von Sein erfahren. Die Negation ist eine Seite des angestrebten Seins (etre) selbst. Das Nichts oder das Sein sind dergestalt miteinander verklammert, daß der Subjektivität nunmehr ein passiver Part zukommt. Alain Robbe-Grillet wird wenige Jahre später schreiben: «Le monde n'est ni signifiant, ni absurde: il est». Die «objektive» Seite des Subjekts erfährt sich, so der Umkehrschluß, als etwas in der Welt Vorkommendes, und, der Zeit beraubt, auf der gleichen Stufe eines amorphen Seienden. Dieses Reduzieren der ontologischen Differenz auf den Objektbereich ist gleichbedeutend mit dem Negieren eines jeden Gedankens von authentischer Zeitlichkeit. Für die Betrachtung der Zeit bedeutet dies, daß allein das «vulgäre Zeitverständnis» Gültigkeit besitzt, mit dem die von Hegel skizzierte paradoxe Seinsbestimmung entsteht. Als «Seiendes» unter «Seiendem» erfahrt — vor der Folie dieses Zeitverständnisses — der Mensch, daß er selbst jenem vermeintlich minderwertigen Sein angehört, das die Dirne in La Corde raide vorüberziehen sieht. Der Mensch ist — wie die Metapher des Rugby-Spiels in Gulliver zeigt — α priori von dem bedroht, was Sartre die anti-valeur genannt hat, und hier mit der Wendung «nicht mehr» gefaßt werden kann: [...] l'incompr6bensible pers6v6rance avec laquelle joueurs, arbitre, et foule continuaient ä composer le meme inchangeable tableau avec son accompagnement sonore de cris, irrtvocablement fix6 dans une 6ternit6 ruisselante, attendant avec r6signation maintenant leur fin dernifcre qui surviendrait sans doute par une liqu6faction g£n6rale, la dissolution sous la pluie corrosive et pourrissante entrainant tribunes, joueurs et le paysage tout entier dans un anfeantissement humide et paisible oü plus rien ne subsisterait que le bruit des gouttes multiples, (GUL 44)

Simons Distanzierung von seinem Roman Gulliver rührt sicherlich auch daher, daß 191

das Paradox, mit dem der Autor sich offensichtlich vom französischen Existentialismus Sartrescher Prägung abzusetzen suchte, nicht ästhetisch bewältigt wurde. Sein Ausdrucksmittel war der Roman seiner Zeit — deshalb auch die Qualifizierung von Gulliver als «roman de situation» durch die Kritik. Gulliver erhält dagegen allegorische Qualitäten, indem der Roman — offensichtlich gestützt durch einen zumindest im Ansatz symmetrischen Romanaufbau — die jeweilige Austauschbarkeit der dargestellten Typen zu unterstreichen suchte. Tatsächlich fällt häufig die Identifikation der Protagonisten durch den Leser schwer. Gulliver ist kein Roman der Intersubjektivität. Die Protagonisten agieren jeweils unabhängig voneinander, ihr Zusammentreffen läßt sich allein auf den Zufall zurückführen. Sie erkennen sich nicht durch den Anderen oder in dem Anderen.52

3.5 Die Zeit der Richter ist vorüber: zum historischen Ort von Gulliver Die Interpretationen von Le Tricheur und La Corde raide haben ergeben, daß die beiden Erstlingswerke von Claude Simon der existentialistischen Literatur zuzuordnen sind. Sein drittes Buch, Gulliver, läßt ebenfalls den Dialog mit der Literatur seiner Zeit nicht abreißen. Der «Existentialismus» Simons aber nimmt eine Richtung, der ungeachtet der weiterhin möglichen Extrapolation Sartreschen Denkens einen eigenen Weg beschreitet, der erst unter Berücksichtigung des historischen Ortes von Gulliver in ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung hin zum nouveau roman Simons hervortritt. Der Roman beginnt mit einer Kartenrunde — «A l'heure de Γ aperitif, le lundi soir, dans un petit cafe [...]». Die Bürger der Kleinstadt, die auch während der vier Kriegsjahre gut über die Runden kamen, plaudern beim Kartenspiel über das Alltägliche. Ihre Geschäfte und Angelegenheiten sind der Maßstab, vor dem die Welt zu bestehen hat.53 Der vom Autor gewählte Hintergrund der Epuration54 und das Jahr der Veröffentlichung von Gulliver geben wichtige Ansatzpunkte für die Interpretation. Waren Niederlage und Okkupation mehr oder weniger ein historischer Ausnahmezustand, als, aus der Retrospektive gesehen, Heldentum das Gebot der Stunde und die «grandes circonstances» die Normalität zu bedeuten schienen (cf. BLOCH-MICHEL, 49), findet das gesellschaftliche Leben Frankreichs nach der Liberation schnell in die Normalität des Alltags zurück. Der Bruch mit dem hehren

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Der Literaturkritiker Henriot hat über Max Verdier geschrieben, daß er die Rettung durch den Anderen herbeisehne. In Gulliver bildet sich aber kein intersubjektives Geflecht heraus, das es seinen Protagonisten erlaubt, in einem «Sein» Zuflucht zu finden (HENRIOT 52). «De toute 6vidence, dans la mesure ou ils avaient rfeussi ä s'accommoder de leur disillusions, ils £taient contents de leur sort, assez du moins pour redouter et haür tout changement risquant de d6ranger un confort, peut-etre relatif, mais dont ils connaissaient maintenat la pr6carit6, la fragile assurance» (GUL 11). Joseph Jurt, «Historischer Überblick», in: Karl Kohut (ed.), Literatur der Resistance und Kollaboration II, Wiesbaden/Tübingen: Athenäum/Narr 1982, p. 15-29.

Moralismus der Resistance fallt um so deutlicher aus, als sie zwischen Ausnahmezustand und Dezisionismus keine positive politische Utopie zu entwickeln vermochte." So war es nicht erstaunlich, daß in dem ideologischen Vakuum, das die Liberation hinterließ, die Tagespolitik zu den ideologischen Konfrontationen der Vorkriegszeit zurückfand. Der Roman endet mit der Beschimpfung Herzogs durch seine Reinemachefrau («sale juif») — kein Zufall, wenn man bedenkt, daß das Erscheinen von Gulliver mit einem Wiedererstarken eines «Neo-Vichysmus» (Rousso, 55) zusammenfällt. Der Historiker Rousso hat für die Libiration den Freudschen Begriff «souvenir ecran» (Rousso, 29sqq.) — «Deckerinnerung» — geprägt: «La Liberation represente done une etape intermediate entre l'Occupation et la memoire de l'evenement» (Rousso, 41). Der von Rousso gebrauchte psychoanalytische Terminus bezeichnet treffend den Effekt der Libiration für das französische Bewußtsein. Die Erinnerung «verdeckt» die Erfahrungen während der für das französische Selbstverständnis so problematischen Periode. In ihrer Erscheinungsform als Deckerinnerung bietet sich das historische Ereignis der Libiration dafür an, es in eine Allegorie von anthropologischer Gültigkeit umzudeuten und damit das Spannungsverhältnis zwischen den tatsächlich finsteren Jahren der Okkupation und dem episch-heroischen Kampf um die Befreiung zu entkräften. Eine solche Tendenz hin zum Allegorischen weist auch Simons Gulliver auf, wenn er die beiden Brüder schildert, die während der Besatzung auf verschiedenen Seiten standen. Marcuse sah in der Rückkehr zum status quo ante eine historische Absurdität, die in der existentialistischen Konzeption lebe (MARCUSE 651, 51). Marcuse leitet den Absurdismus aus der Erfahrung gescheiterter Hoffnung nach dem Zusammenbruch der Niederlage des Faschismus ab. Seine Analyse gerät allerdings zu einseitig, wenn damit der Existentialismus als solcher erklärt werden soll. Die wichtigsten der dem französischen Existentialismus zugeordneten literarischen Werke, welche die Absurdität thematisieren, wurden doch schon in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht oder zumindest konzipiert. Richtig dagegen ist, daß das Festhalten an der Absurdität, die in der existentialistischen Konzeption lebt und in jenen Absurdismus mündet, der bei Beckett, Ionesco u.a. seine literarische Ausgestaltung gefunden hat, eine direkte Folge dieser historischen Erfahrung ist. Drängte der französische Existentialismus — zumindest der Sartrescher Prägung — vor dem Krieg nach seiner politisch-sozialen Ausfüllung,56 so führte die Erfahrung der historischen Katastrophe, die auf die Politik und Gesellschaft mit dem Blick zurück in die Vorkriegszeit antwortete, dazu, daß sich das existentialistische Erbe in zunächst zwei großen literarischen Hauptrichtungen weiterentwickelte: die Philosophie des Absurden und ihr eher konservativ zu nennendes Arrangement mit dem status quo, für das stellver-

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Dies zeigt z.B. Jean Meckerts Roman Nous avons tous les Mains rouges besonders deutlich. Cf. Frank, «Archäologie des Individuums». In dieselbe Richtung geht eine Bemerkung Marcuses, die dieser in einem Anhang zu seinem Sartre-Aufsatz für die Buchausgabe angefugt hat: «In der politisch gewordenen Philosophie wird die existentialistische Grundkonzeption gerettet durch das Bewußtsein, das dieser Realität den Kampf ansagt — in dem Wissen, daß die Realität Sieger bleibt» (MARCUSE 651, 84).

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tretend der Name Camus steht, und die Hinwendung zum politischen Engagement, für das Sartres litterature engagee zum Schibboleth wurde.57 Welche Bedeutung das nach der Befreiung immer deutlicher werdende politische Unvermögen der Resistance für die weitere Entwicklung des Existentialismus hatte, zeigt Domenachs zusammenfassende Gegenüberstellung des Denkens von Camus und Sartre zu jener Zeit: A Paris, sous le soleil brülant de la Libdration, une «terrible et merveilleuse joie» seruble dissoudre la fataliti du malheur: aux yeux d'Albert Camus, l'innocence, un instant se r6concilie avec la justice, et le sang des hommes coule pour une cause vraie; la Evolution 6clipse la r6volte. De son cöt6, Sartre entrevoit les libertfes s'ajustant entre elles dans Γ insurrection populaire. Brfeve rencontre. Les dvdnements avaient d6jä pris un autre cours, et l'union des Rdsistants s'effondrait. (DOMENACH, 214sq.)

Domenach hebt hervor, wie mit dem Ende der Resistance dem historischen Existentialismus in seinen zwei Hauptrichtungen gewissermaßen der Boden entzogen wurde. Eine Konsequenz der veränderten historischen Situation manifestiert sich in den Werken der literarischen Nachkriegsavantgarde des Absurden Theaters und in den Romanen Becketts. H. Krauß hat diese Entwicklung, der das Hervortreten des regressiven Moments im Existentialismus bedeutet, auf die Formel «Vom EntwederOder zum Weder-Noch» (KRAUSS 82a) gebracht.58 Die Literatur begann in der zweiten Hälfte der 40er Jahre ein ambivalenteres Bild der Resistance zu zeichnen: Die hehren Ideale verlieren im Kontakt mit der politischen Realität ihren Glanz, die egoistischen Interessen der neuen Machthaber, ihre Sucht, um jeden Preis an der Macht bleiben zu wollen, sind für die Exzesse bei der ipuration ebenso verantwortlich wie für seine von Entscheidungen, die quer zu den ursprünglichen Absichten stehen. Der Zeitpunkt der Desillusionierung mag jeweils ein anderer sein, das Faktum als solches wird nahezu allgemein festgestellt [...]. (KRAUSS 8 2 b , 2 2 3 ) 5 '

Mit der neuen Beurteilung von Risistance und Kollaboration ist der zunehmende Rekurs auf die Werte und Ordnungsprinzipien der französischen Gesellschaft vor den politischen Veränderungen der Volksfrontzeit und den dunklen Jahren von Niederlage und Okkupation verbunden. Hinzu kommt — wohl nicht zuletzt durch die moralische Desavouierung der Risistance — zu einem Widererstarken eine petainistisch orientierten Rechten. Gulliver fällt in eine Zeit, in der das Thema Risistance in Werken des sogenannten literarischen Höhenkamms zunehmend in den Hintergrund geriet (KRAUSS 82b, 225sq.). Henriot nimmt in seiner kritischen Rezension zu Gulliver eine über

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Ein Überblick ist bei Christel und Henning Krauß zu finden: «Theorien des Engagements», in: Karl Kohut (ed.), Literatur der Risistance und Kollaboration in Frankreich II, p. 231-244. Die Verarbeitung der Erfahrung des Absurden läßt sich grosso modo in drei Richtungen weiterverfolgen: Die ethisch-moralistische eines Albert Camus, die ohnmächtige Hinnahme des Absurden mit regressiver Tendenz bei Beckett und schließlich das Absurde als Einsicht in die Unbedingtheit und damit Verantwortlichkeit des Menschen bei Sartre. Einen interessanten Beleg dafür bietet Bloch-Michels Buch Les grandes Circonstances.

die reine Resistance-Thematik hinausweisende Intention an.60 Es sei auch darauf hingewiesen, daß Gulliver keinesfalls als ein Buch über die Liberation lanciert wurde.61 Im Klappentext von La Corde raide findet sich der Titel Les Juges angekündigt. Uns sind keine Äußerungen Simons zu diesem Titel bekannt. Ob damit tatsächlich Gulliver als Ganzes gemeint ist oder aber ein fallengelassenes Romanprojekt Simons, entzieht sich unserer Kenntnis. Die wahrscheinlichste Hypothese dürfte aber sein, daß zumindest Teile des angekündigten Romanprojekts — v.a. die Resistance-Sequenz — in Gulliver Eingang gefunden haben. Dafür spricht sowohl die im Titel Les Juges anklingende Thematik der Frage nach dem ethischen Grund des Handelns als auch die Geschichte des resistants Faure in Gulliver. Das Zusammenbrechen der «union des resistants» (KRAUSS 82b, 225) liegt in der unterschiedlichen Beantwortung dieser Frage begründet. Im übrigen ist die Problematisierung eines abstrakten Gerechtigkeitsbegriffs und die Frage nach der ethischen Fundierung der Mittel politischer Aktion («fin-moyen»), die untrennbar mit der Resistance verknüpft ist, ein wichtiges Thema in der französischen Literatur der 40er Jahre, wie der literarische «Dialog» belegt, den Camus und Sartre mit ihren Stücken Les Justes bzw. Les Mains sales geführt haben (cf. KRAUSS 79, 275sq.; KRAUSS 82a). Zynisch äußerst sich Verdier zur Epoche der Libiration: Je pense que c'est une excellente ipoque pour jouer au moraliste justicier. Les gens n'ont jamais tant eu besoin qu'on leur parle de vertu et de guillotine. Ce qu'ils demandent, au fond, c'est de s'empiffrer au march6 noir et se repaitre de pens6es 61ev6es. (GUL 124)

Ist der historische Hintergrund tatsächlich nur Staffage oder liegt es nicht etwa in der Intention des Autors, gerade seine Antwort auf die dargestellte historische Situation zu finden, eine Antwort, die von den an die Libiration geknüpften Hoffnungen abweicht? Der geschichtliche Ablauf erhebt austauschbare Figuren zu ihren Protagonisten (die Brüder de Chavannes) oder bindet ihre Helden so an ihren historischen Kontext, daß ihr vermeintliches Sein (etre), in dem sie sich de mauvaise foi eingerichtet haben, der gewandelten historischen Situation nicht mehr entspricht:

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«Le maquis, la libiration, les histoires de justice sommaire, c'est la facade de l'ipoque pour Μ. Simon. II veut voir au-delä: les hommes fr6n6tiquement melds ä ces choses, et les passions qui les habitent, que le dranie de ce temps sanglant n'a pas suspendues, qui y ont m6me trouvd un plus libre cours, tout 6tant devenu possible dans le d6sordre g6n6ral» (HENRIOT 52). So heißt es im Bulletin de lancement (1952) des Verlags Calman-L6vy: «Ce titre emprunti ä Swift indique clairement que, dans cet oeuvre il s'agit de voyages de l'homme ä la recherche de ses semblables, dont lui apparait surtout la dissemblence. De lä un malaise en prdsence de ceux qui se montrent ä lui suivant ses 6tats d'esprit successifs et l'optique de l'instant, sous l'aspect de giants ou des pygmies aux moeurs ddroutantes et habitent des terres dtrangferes. Ce roman devient aussi un voyage pour le lecteur, un voyages au bout du crdpuscule, d'autant que tout y apparait sous un iclairage inhabituel, bizarre et fuligineux, oü les moindres objets, paroles, faits ou gestes prennet des reliefs pour le moins singuliers». In einer Rezension aus dem Erscheinungsjahr von Gulliver wird bedauert, daß der resistant nur eine Randfigur sei (KEMP). Demnach entsprach die Thematik durchaus noch dem damaligen Erwartungshorizont. John Fletcher verweist auf den Titel Les Juges (FLETCHER 81a, 242) und bindet ihn in eine anthropologisch ausgerichtete Interpretation ein, ohne den Kontext Risistance zu erörtern. L. S. Roudiez hat Gulliver mit Uranus von Marcel Aymi verglichen: French Fiction Today. A New Direction. New Brunswick/New Jersey: Rurgers University Press 1972, p. 154.

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der Resistancekämpfer wird an den Rand des (individuellen) Abgrundes getrieben. Für Max Verdier — und hier besteht die Verbindungslinie zwischen den beiden Protagonisten — ist seine Zeit gekommen: «les jeux sont faits». Gerard und Max begegnen sich in ihrem Amoralismus, der zur Triebfeder ihres Handelns wird: Faure als (vermeintlich) moralisch Handelnder — und sein Handeln als Dezisionismus erkennender — sowie mitunter an die Gideschen «disponibilite» heranreichende Max Verdier.62 Die Zeit des Widerstandskämpfers ist ebenso gekommen wie die Max Verdiers, dessen amoralische Indifferenz zu einem Komplement des moralischen Rigorismus eines G6rard Faure gerät. Beide erfahren sich vis-a-vis der Gesellschaft als Ausgestoßene, beide haben eine Phase des Asketismus durchlebt. Gerard verliert seine Autorität über die kämpfende Truppe, Max begeht Selbstmord als durch die nächtlichen Ereignisse die von seiner änigmatischen Erscheinung zusammengehaltene «bände» auseinanderbricht; beide sind auf ihre Weise in bestimmten Augenblicken ihres Lebens «monstres» im Dostojewskijschen Sinne, und beide flüchten vor einer aufrechten Haltung angesichts ihrer eignen Ungeheuerlichkeit. Die Augenblicke dieser Ungeheuerlichen erschließen sich im Roman nur indirekt — bei Gerard Faure vermutlich in seinem Gespräch mit einem Priester, bei Max in seinem Gespräch mit Eliane. Die Erfahrung seiner selbst als «monstre» verweist auf die den besoin d'ivasion zeitigende «situation-limite» (Levinas). Non cogitant ergo sunt heißt der einzige Ausweg, denn eine jede «prise de conscience» führt an den Rand eines Abgrundes. Gulliver wird zu einem Roman, in dem jede menschliche Aktion als von keiner übergeordneten Notwendigkeit bestimmte erfahren wird. Sartres Antoine Roquentin hat dieses Fehlen von Notwendigkeit im Sinne eines essential istischen Seinsverständnisses als die «contingence» erfahren. Der Mensch — bei Sartre ist es der bürgerliche «salaud» — sucht diese Konsequenz zu verschleiern, indem er seinen historischen und sozialen Ort mit einer falschen Ontologie überzieht. In Wirklichkeit ist dieser Ort nur ein relationaler, das Produkt der intersubjektiven Alterität. Dies illustrieren Simons Gulliver indirekt auch durch die Komplementaritäten, die unter den Protagonisten bestehen: Faure, der maquisard und gescheiterte Richter, und Bert, der als Richter wieder in die Gesellschaft zurückfindet; Herzog, das Opfer und der Angeklagte, und Bert, sein Richter; die Brüder de Chavannes usw. Vor allem die beiden letzteren untergraben den manichäistischen Zug jeder uneigentlichen Seinsauslegung. Der Antagonismus von aufrechtem Kämpfer und Kollaborateur wird durch die Kumpanei der Brüder Chavannes zu einer oberflächlichen Erscheinung herabgewürdigt, die heroischen Brüderpaare wie Pyrrhus et Cineas oder Eteokles und Polyneikes nachträglich ihrer Tragik beraubt. Und gerade die als animalisch geschilderten, allein durch ihre physische Kraft faszinierenden Brüder de Chavannes lassen diese anthropologische Konstante hervortreten. Sie sind diejenigen Wesen, die

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Nicht weniger schlecht kommt bei Simon das politische Engagement weg. Der einzige politisch Engagierte ist die lächerliche Figur Bert: Buchhandel und Risistance, Journalismus und Beförderung der Menschheit. Ihm stehen die «hommes d'action» entgegen: der Maquisard, der Immoralist, die Brüder Chavannes.

nur sind.63 Der Titel des Romans Gulliver Simons Erstling Le Tricheur.

eignet dieselbe Ambivalenz wie der von

«Gulliver», die nicht ausschließlich an einem Protago-

nisten festgemachte Titelmetapher, meint sowohl den «voyageur», 64 den «disponible», 65 ja den asketischen Mensch, als auch den «salaud», der nach Sartre sich im falschen Sein einrichtet. 66 Anders als in Sartres Romanen tritt in diesem Spannungsverhältnis die Freiheit nicht als das Bestreben nach intentionaler Veränderung von Welt in Erscheinung; sie bleibt eigentümlich leer. Simons Protagonisten reagieren, anstatt luzide zu agieren. Simon gibt den historischen Ort der Schlüsselerfahrung an: Es ist die Niederlage im Juni 1940, als der große Exodus einsetzt und die darauffolgende Rückkehr zur Normalität, die sich als eine Normalität des Geredes erweist (cf. GUL 281sq.).

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Wie dieser Topos ideologisch hinsichtlich einer Entpolitisierung des Konflikts von Kollaboration und Risistance nach der Liberation ausgeschlachtet wurde, zeigt Robert Brasillachs Les Frires ennemis (cf. Henning Krauß, «Collaboration als Voraussetzung der Risistance — Zu Brasillachs in » (BACHELARD 47a, 69). H. Krauß hat dies in seinem Beitrag «Zur Struktur des » (KRAUSS 70b) exemplifiziert. «A notre avis [...], Watson avait en vue, quand il parlait de comportement, ce que d'autres ont appel6 Γ existence, et la notion nouvelle ne pouvait recevoir son Statut philosophique que si Γοη abandonnait la pensäe causale ou m6canique pour la pens6e dialectique» (Maurice MerleauPonty, La Structure du comportement, Paris: P.U.F. 1942, p. VIII, Anm.). Zum kritischen Vergleich zwischen Behaviorismus und Psychoanalyse cf. FROMM 86. Hart geht Arthur Koestler,

seinem konkreten gesellschaftlichen und historischen Ort heraus definiert und den Anspruch erhebt, diesen kritisch zu hinterfragen, antizipieren der Behaviorismus und — wie noch zu zeigen sein wird — die komplexe Psychologie den historischen Agnostizismus des Strukturalismus. Behaviorismus und die Archetypenlehre von C.G. Jung hintergehen die historische Situation, indem sie nach Invariablen des menschlichen Verhaltens forschen. So stellt etwa Gilbert Durand eine Verbindung zwischen dem strukturalistischen Homologiebegriff und archetypischen Konstellationen her. 16 Archetypen «repräsentieren gewisse instinktive Gegebenheiten der primitiven dunklen Psyche, der eigentlichen, aber unsichtbaren Wurzeln des Bewußtseins» ( J A C O B I , 4 9 ) . Der Kern der Archetypen, «une sine d'images resumant l'exp6rience ancestrale de l'homme devant une situation typique»," entzieht sich dem diskursiven Denken. C.G. Jung veranschaulicht dies an einem Vergleich: Was immer wir vom Archetypus aussagen, sind Veranschaulichungen und Konkretisierungen, die dem Bewußtsein angehören. [...] Man muß sich stets bewuBt bleiben, daß das, was wir mit «Archetypus» meinen, an sich unanschaulich ist, aber Wirkungen hat, welche Veranschaulichungen, nämlich die archetypischen Vorstellungen, ermöglichen. Einer ganz ähnlichen Situation begegnen wir in der Physik, es gibt dort kleinste Teile, die an sich unanschaulich sind, aber Effekte haben, aus deren Natur man ein gewisses Modell ableiten kann. Einer derartigen Konstruktion entspricht die archetypische Vorstellung, das sogenannte Motiv oder Mythologem.18 Bachelards Untersuchung zu den «images du repos» — mit «Bildern des Ruhens» nur unzureichend übersetzt — zeigt am Beispiel regressiver Bewegung auf, in welcher Weise archetypische Bilder untereinander verbunden sind: Malgr6 des vari6t6s trfes nombreuses, malgrd de trfcs importantes differences d'aspect et de formes, nous reconnaitrons que toutes ces images sont, sinon isomorphes, du moins isotropes, c'est-ä-dire qu'elles nous conseillent toutes un mdme mouvement vers les sources du repos. La maison, le ventre, la caverne, par exemple, portent la mfime grande marque du retour ä la mfcre. (BACHELARD 47a, 5sq.)

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77ie Cost in the Machine, London: Hutchinson (The Danube Edition) 1976 [Erstv. 1967], p. 5sqq., mit dem Behaviorismus ins Gericht. Es fehlt auch in der Psychologie nicht an Versuchen, die analytische Psychologie C.G. Jungs mit den behavioristischen Ansätzen in Einklang zu bringen bzw. ihre Komplementarität zu postulieren: «La psychologie analytique, avec sa notion d'inconscient, r6pond au meme desideratum que le behaviorisme, avec sa notion de comportement. Cet έποηοέ dtonnera d'abord, et l'on est plutöt tent6, au premier regard, d'opposer absolument ces deux mouvements, puisque Tun recherche ä travers les nuances les plus fugitives de la pensäe et du räve, les intimes secrets de l'esprit, tandis que l'autre pritend se borner ä la stricte observation ext6rieur de la conduite» (Charles Baudouin, L'Ame et Vaction, Genf 1971, p. 26). «L'homologie est 1'equivalence morphologique, ou mieux structurale, plutöt qu'fequivalence fonctionnelle. [...] Nous verrons que les symboles constellent parce qu'ils sont des diveloppements d'un m6me thömes archetypal, parce qu'ils sont des variations sur un archetype» (Gilbert Durand, Les Structures anthropologiques de l'imaginaire. L'Introduction ä l'archätypologie ginerale, Paris: P.U.F. 1960, p. 33sq.). Robert Desoilles, zitiert nach BACHELARD 47a, 211. C.G. Jung, Die Dynamik des Unbewußten (= Gesammelte Werke VIII), Zürich/Stuttgart: Rascher: 1967, p. 245.

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Gegen ein Fruchtbarmachen Jungscher Archetypenlehre in einer dialektischen Literaturwissenschaft, wie dies Erich Köhler vorgeschlagen hat, sind nach unserem Dafürhalten einige Bedenken anzumelden (KÖHLER 7 4 , 1 4 1 ) . Zum einen mangelt es dem Jungschen Ansatz an der methodischen Stringenz, die erforderlich ist, die Bilder auf eine heuristisch operational is ierbare Grundthese zurückzuführen.19 Zum anderen folgen in der Literatur die Motive, welche die Tiefenpsychologie inventarisiert hat, in erster Linie den Gesetzmäßigkeiten des jeweiligen Werkes. Dabei ist hervorzuheben, daß in der modernen Literatur tiefenpsychologische Motive in eins mit ihrem Jungschen Deutungspotential in die narrative, dramatische oder poetische Strategie des Autors einbezogen sind.20 Gerade der moderne Roman, und insbesondere der nouveau roman, rezipiert tiefenpsychologische Ansätze, um die numinosen Determinanten darzustellen, denen sich der Mensch ohnmächtig ausgeliefert sieht.21 Das Individuum wird innerhalb einer Übergeordneten Kollektivität zu quantite nigligeable. Diese Kollektivität wird in ihren Umrissen nicht distingibel, so daß sie es dem Menschen nicht erlaubt in ihr und durch sie seine Identität zu bestimmen.22 In diesem Punkt finden Strukturalismus (und später der Poststrukturalismus) und Tiefenpsychologie zusammen.23 Legte man einseitig die von Jung bereitgestellten Interpretationsmuster an literarische Texte an, so verfiele man in eine jegliche kritische Hermeneutik nichtende Illustration eines tiefenpsychologischen Ansatzes. Nicht anders verhält es sich — vorbehaltlich einiger Ausnahmen — auf der Ebene sozialpsychologischer Argumentation, wenn die Interpretation den historischen Ort ausklammert und sich auf das Inventarisieren vermeintlich transhistorischer Invariablen beschränkt. Oftberdarf es postfestum der Rückbindung eines psychologischen Ansatzes an seinen historischen

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Cf. dazu den polemischen Essay von Manfred Schneider: SCHNEIDER, 202sqq. Den universalen Anspruch einer psychoanalytischen bzw. tiefenpsychologischen «Bildersprache» bestreitet übrigens auch Sartre im Namen seiner «psychanalyse existentielle» und damit auch einer existenzialen Hermeneutik: «Si l'etre est une totaliti, il n'est pas concevable en effet qu'il puisse exister des rapports 6l6mentaires de symbolisation [...], qui gardent une signification constante en chaque cas, c'est-ä-dire qui demeurent inalt6r6s lorsqu'on passe d'un ensemble signifiant ä un autre ensemble» (EN 633). Zur existenzialen Hermeneutik cf. FRANK 85, 13-86. Mythen stellen für Alain Robbe-Grillet einen festen Bestandteil der Welt dar. Sie lassen sich in den Alltag übertragen («Hors-texte» zu Projet pour une revolution ä New York, Paris: Minuit 1970) bzw. werden von diesem um neue Mythologien bereichert. Diese neuen Mythologien determinieren das Verhalten der Menschen in eben diesem im Alltag (cf. Roland Barthes, Mythologies, Paris: Seuil (Coli. Points) 1970 fErstv. 1957], Die ersten beiden von Roger-Michel Allemand herausgegebenen Nummern der Revue des lettres modernes (20th l 'icosathique) zum Nouveau Roman sind dem Problemkomplex Archetypen gewidmet: Le Nouveau Roman en questions 1. «Nouveau Roman» et archetypes / , Paris: Minard 1992; Le Nouveau Roman en questions 2. «Nouveau Roman» et archetypes 2, Paris: Minard 1993. Friedrich Wolfzettel hat den Begriff des «Kollektivromans» eingeführt, ohne in aber hinreichend soziologisch zu motivieren (WOLFZETTEL). Ernst Bloch zieht ideologiekritisch eine Paralle zwischen Strukturalismus und Tiefenpsychologie: «Der archaisierende Rückgriff auf unveränderlich sich durchhaltende Grundstrukturen, auf dauernde Urtypen, die historisch bloß verkleidet würden, kommt nicht nur im Strukturalismus vor, sondern schon früher, ebenso die Archaik vergötzend, bei C.G. Jung, dem diluvialen Restaurator des Archetyps, den er in die Steinzeit einsperrte, in die doppelt lichtlos gemachte Regression zu ihr und in nichts sonst» (BLOCH XV, 158).

und sozialen Ort. So hat z.B. Habermas über das Konstrukt der «allgemeinen Interpretation» den Freudschen Ansatz für eine historisch-kritische Sozialpsychologie fruchtbar gemacht.24 Der Anglist Robert Weimann korrigiert seine materialistisch ausgerichtete Kritik am tiefenpsychologischen Ansatz der Mytheninterpretation dahingehend, der Geschichte das Urteil über die jeweiligen Motive zu überlassen; er erstellt dafür aber keine verbindlichen Kriterien.25 In den Temps Modernes erklärt Nathalie Sarraute das Zeitalter des Mißtrauens, Mißtrauen gegen den traditionellen Roman, mit seinen psychologisch durchstrukturierten Protagonisten. Einen Terminus Sartres verwendet Maurice Blanchot, wenn er — ebenfalls in den Temps Modernes —, dem Roman Unaufrichtigkeit (mauvaise foi) vorwirft: Le roman est une oeuvre de mauvaise foi, mauvaise foi de la part du romancier qui croit en ses personnages et cependant se voit derrifcre eux, qui Ies ignore, les r6alise comme inconnus et trouve dans les mots dont il est maitre le moyen de disposer d'eux sans cesser de croire qu'ils lui ichappent. Mauvaise foi du lecteur qui joue avec l'imaginaire, qui joue ä etre ce h£ros qu'il n'est pas, qui joue ä prendre pour r6el ce qui est fiction et finalement s'y laisse prendre et, dans cet enchantement qui tient l'existence 6cart6e, retrouve une possibility de vivre le sens de cette e x i s t e n c e . (BLANCHOT 4 6 / 4 7 , 1316) 2 6

Das hier zum Ausdruck gelangende Unbehagen am Roman — ein Unbehagen, das zwar bei Maurice Blanchot in dieselbe anthropologische Aporie mündet wie Sartres existenzialontologische Analyse der mauvaise foi, dem jener aber mit einer rein ästhetischen Antwort begegnet — gibt zu erkennen, daß die Gattung nicht weniger um ihre authentische Escheinungsform ringt wie der en existentialiste gestimmte Mensch der Nachkriegsjahre. Literarische Experimente, die in Richtung nouveau roman deuten, finden den Beifall Sartres, so etwa Nathalie Sarrautes Portrait d'un Inconnu und die noch vor dem Krieg erschienenen Tropismes. Sartre spricht in seiner «Preface» zu Portrait d'un inconnu von einem «antiroman» (SARTRE 48, 10; cf. PICON, 178sqq.).27 Die von Sartre gegründete Temps Modernes bildeten ein erstes Forum für die Diskussion um eine neue Romanform, die sich als wegweisend

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Eine solche Annäherung an die Tiefenpsychologie wäre allenfalls möglich, wenn es gelänge, Elemente Jungscher Lehre in den Rang von echten Kategorien zu erheben (cf. BLOCH XV, 158) oder die Genese der jeweiligen Bildlichkeit in einer kritischen Hermeneutik historisch zu verankern. «Dabei wäre aber zu prüfen, inwieweit die kollektive Phantasie nach der Epoche des bürgerlichen Individualismus als ein das Kunstschaffen bereicherndes Element wirksam bleibt» (Robert Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie. Methodologische und historische Studien, Franfurt a. M.: Suhrkamp (stw) 1977, p. 342). Die mauvaise foi wird zu einem wichtigen Begriff des Literaturkritikers und -theoretikers Roland Barthes: Le Degre zero de l'ecriture — suivi de Nouveaux essais critiques, Paris: Seuil (Coli. Points) 1972 (Erstv. 1953/72), p. 16 und idem, «Drame, pofeme, roman», in: Tel Quel (ed.), Thiorie d'ensemble, p. 27-42, hier: p. 31. In eine ähnliche Richtung weist Nathalie Sarrautes Essay «L'Ere du soup?on» [Erstv. in: Le Temps Modernes, 1950], in: idem, L'Ere du soupfon, p. 57-99. Eine ausführliche Untersuchung zur Stellung der Temps Modernes in der intellektuellen «Szene» hat Anna Boschetti vorgelegt: Sartre et «Les Temps Modernes». Une entreprise intellectuelle, Paris: Minuit 1985. Cf. Claude Simon, «Le jeune Roman», in: L'Express, 12.1.1961.

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für die Herausbildung von Theorie und Praxis eines nouveau roman erweisen sollte. Die Faszination, die von den amerikanischen Autoren ausgeht, wirkt in zweierlei Richtung. Der innovative Impuls der amerikanischen Literatur bietet der Erfahrungswelt ihr literarisches Korrelat. In den eigentlich behavioristisch zu nennenden Kriminalromanen eines Dashiell Hammet und anderer Autoren des roman noir mag man bereits Robbe-Grillets Anspruch auf «Objektivität» erkennen. Faulkners «Metaphysik», deren Konstituens die abfließende Zeit ist, fügt sich nicht sogleich nahtlos in diese Reihe; es sei denn in dem Verzicht auf eine kritischen Reflexion des eigenen historischen Ortes. In diesem Abfließen der Zeit äußert sich eine zutiefst geschichtsfeindliche Haltung, denn Geschichte enthält immer schon die Dimension Zukunft, die Faulkners Protagonisten fehlt. Dos Passos, dessen Querschnitt durch die Kontinente sich zu einem Netz vielseitiger Beziehungen ausweitet, bietet sich am ehesten zum Vorbild einer sich engagiert verstehenden Literatur in einer vom totalen Krieg gezeichneten Welt an. C.-E. Magny beschreibt die Zeiterfahrung in den Romanen von John DosPassos konsequenterweise als die Substitution der duree vicue durch den «rythme objectif, mecanique des faits sociaux» und damit als das Einbinden der Individuuen in den Lauf der sozialen und verräumlichten Zeit. Sie verkennt dabei, daß den beiden Zeiterfahrungen ein und dasselbe Zeitverständnis als Vergleichsparameter eignet — das «vulgäre» — und ihnen keinesfalls wesensmäßig verschiedene Zeiten entsprechen. Bei Sartre, der die Technik von John Dos Passos in Le Sursis aufgreift, steht die Frage nach der Verantwortlichkeit des einzelnen in einer historischen Situation, die ihn zu übersteigen scheint und in die er dennoch «weltbildend» eingreift, im Vordergrund. Sartre bricht das Projekt der Chemins de la liberie nach dem dritten Band, La Morl dans l'äme, ab.

0.3 Nach Mitternacht In die Zeit nach 1945 fallt in Frankreich das Aufkommen des durch seinen historischen Agnostizismus gekennzeichneten Strukturalismus. Dieser Tendenz korrespondiert, wie H. Krauß aufgezeigt hat, auch die Entwicklung des französischen Romans in der Nachkriegszeit: Die gleiche Perspektive bestimmt den nouveau roman eines Alain Robbe-Grillet, der den primär durch Dezisionismus und Akt charakterisierten Helden der Widerstandsliteratur zum numero de matricule werden läßt, der nichts, aber auch gar nichts, gegen die übermächtigen Strukturen vermag, in die er eingepaßt ist und die indirekt gerechtfertigt werden. Ahnlich verfährt das absurde Theater, das die Entmachtung des oft siechen, amputierten Individuums in einer Welt zeigt, die nicht mehr auf den Menschen zentriert ist, in der die Dinge wuchern, in der der einzelne ohne Kontaktmöglichkeiten zum andern Spielball anonymer, mit numinoser Aura begabter Mächte wird. (KRAUSS 82b, 224sq.) 28

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Zur Verbindung von nouveau roman und Strukturalismus cf. das Kapitel: «La symbiose nouvelle critique/nouveau roman» in Dosses groß angelegtem historischen Uberblick zum Strukturalismus (DOSSE II, 255sqq.). Bei Lucien Goldmann heißt es über die gesellschaftlichen Determinanten

Den Bogen, den Krauß von der Bewertung der Resistance in Literatur und Gesellschaft im Nachkriegsfrankreich, die in eine Entwertung heroischer Aktion mündet, zum nouveau roman Robbe-Grillets mit seinem Bild von einem in der verwalteten Gesellschaft zur «Eindimensionalität»29 verkümmerten Menschen schlägt, rechtfertigt Romanerstling des nouveau romancier. Un Regicide. Der vom Protagonisten als Akt der Selbstdefiniton intendierte Königsmord wird sorgfaltig vorbereitet und ausgeführt. Nach der Tat aber lebt der König noch. Ein Netz anonymer Mächte hat die Tat regelrecht negiert und am Ende bleibt offen, ob der Protagonist sie überhaupt ausgeführt hat.30 Indirekt weist Robbe-Grillets Romanerstling auf die «Befindlichkeit» der Jahre, die auf die Liberation folgten. Claude Simon unternimmt mit Gulliver im Ansatz eine allegorische Bestandsaufnahme einer historischen Erfahrung der Enttäuschung, der mit Gleichgültigkeit begegnet wird — so eine mögliche Lesart des Lichtenberg-Zitats «non cogitant ergo sunt». Das Scheitern von Robbe-Grillets Regicide führt jede Hoffnung auf kollektive Erlösung durch eine politisch revolutionäre Tat ad absurdum. Unschwer können beide Romane auf die gescheiterten Hoffnungen bezogen werden, die auf die Liberation folgten. Wobei sicherlich die Position des aus einer Collabo-Familie stammenden Robbe-Grillet als die zynischere zu bewerten ist. In einem Interview aus dem Jahr 1961 hat auch Simon das Engagement Sartres und Camus' für eine politisch-moralische Erneuerung Frankreichs nach dem Krieg mit Spott bedacht: En 1945, la guerre finissait, il y avait une 6norme majoritd de gauche au Parlement. Bon. Sartre et Camus se mettent alors ä 6crire sur leurs significations, pour etre «utiles» ä la classe ouvrifcre, et quinze ans aprfcs qu'est-ce qu'on retrouve? Un pouvoir qui tourne ä la dictature, des guerres coloniales, un rögime presque de rdgression sociale...31

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bei Alain Robbe-Grillet: «La grande transformation sociale et humaine issue de Fapparition de ces deux ph6nom£nes nouveaux et d'importance capitale qui sont la mise en place des autoregulations mecaniques de la vie sociale et la passivite croissante, le caractfcre de que les individus prennent progressivement dans la soci6t6» («Les deux Avantgardes», in: Mediation 4, 1961/62, p. 63-83, hier: p. 74). Cf. Jacques Leenhardt, Lecture politique du Roman. La Jalousie d'Alain Robbe-Grillet, Paris: Minuit 1973, p. 33. Zu den Gemeinsamkeiten von nouveau roman und absurdem Theater cf. J. WILHELM. Der Begriff stammt von Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand (Sammlung Luchterhand) 14. Aufl. 1979. An anderer Stelle scheibt Herbert Marcuse: «In der Gesellschaftsstruktur wird das Individuum zum bewußten und unbewußten Verwaltungsobjekt und erlangt Freiheit und Befriedigung in seiner Rolle als ein solches Objekt; in den psychischen Strukturen schrumpft das Ich dermaßen, daß es nicht mehr imstande scheint, sich als Selbst, unterschieden von Es und Über-Ich, zu erhalten» (MARCUSE 6511, 89). Alain Robbe-Grillet, Un Rigicide, Paris: Minuit 1978. Claude Simon, L'Express, 19.1.1961. Daß Simon in der Geschichte nach der vollendeten Tathandlung forscht, belegt seine Bewertung der Französischen Revolution: «Pour nous en tenir ä la R6volution frangaise, celle de 1789, il me parait que, en d6pit de ses excfcs, eile reste la seule vöritable Evolution de l'histoire, rupture en profondeur avec l'ancien 6tat de choses et qui a permis Pessor du monde moderne. [...] couper la tete d'un roi, d'un monarque de droit divin, c'6tait Facte transgressif absolu, d6cisif. Imaginez le courage intellectuel qu'il a fallu pour en prendre la ddcision» («Claude Simon ouvre », in: Le Monde, 4.9.1981). Cf. Simons Romanerstling Le Tricheur (TRI 68).

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Der nouveau roman — so eine erste Hypothese — reflektiert die historische Entwicklung in den eineinhalb Jahrzehnten nach der Liberation und die gesellschaftliche «Befindlichkeit» angesichts der enttäuschten politischen Erwartungen. Damit ist aber noch nicht der nouveau roman als solcher hinreichend bestimmt. «Qu'est-ce que le nouveau romanl» — so lautet die Frage, die hinter jeder der zahlreichen Untersuchungen zu Alain Robbe-Grillet, Robert Pinget, Nathalie Sarraute, Claude Simon u.a. steht und immer vor dem Hintergrund einer historisch-soziologischen Fragestellung zu sehen ist. Im Februar 1942 gab Jean Bruller mit Hilfe von Pierre de Lescure unter dem Pseudonym Vercors seine Erzählung Le Silence de la mer im Selbstverlag heraus; es wurde das Geburtsjahr der Editions de Minuit.32 1947, als es dem kleinen Verlag wirtschaftlich schlecht ging, stieß Jerome Lindon zu den Editions de Minuit·, er sollte bald Direktor des in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Verlages werden. Zum Verleger der literarischen Avantgarde avancierte Lindon — Vercors hatte seinen Verlag inzwischen verlassen —, als ihm das Manuskript von Becketts Molloy in die Hände fiel. 33 Lindon, der seine Wunschautoren Faulkner, Kafka und Proust schon bei anderen Häusern untergebracht sah, ging das verlegerische Risiko ein und veröffentlichte die Romane des Iren. Es folgten bald weitere Autoren:34 J'ai vu venir ä moi Robbe-Grillet, Pinget, Butor, Claude Simon. Une maison d'6dition, cela se fait avec des auteurs, et s'il y n'y en a pas, on ne peut pas les inventer. J'ai eu de la chance. Mais je publie trfes peu de manuscrits, je n'6dite que ce qu j'aime. 35

Aus der subjektiven Auswahl Lindons entstand ein Verlagsprogramm, welches das Gepräge einer literarischen Schule erhalten sollte. Die bis heute unverändert gebliebenen nüchternen weißen Paperbacks mit den in blauen Lettern gedruckten Buchtiteln und dem fünfzackigen Stern im Logo wurden zum Markenzeichen dieser «Schule», des nouveau roman. 1957 veröffentlichte Claude Simon mit Le Vent seinen ersten Roman bei den Editions de Minuit, an die inzwischen auch die Rechte seiner beiden ersten, bei Sagittaire erschienenen Bücher gegangen waren.36

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Die Geschichte der Editions de Minuit als Verlag der Resistance erzählt Vercors selbst im dritten Teil («La Nuit s'ouvre») seines Erinnerungsbandes La Bataille du silence. Souvenirs de minuit, Paris: Presses de la Citfe 1967 [repr. 1992 — Editions de Minuit]. Zum 50jährigen Jubiläum des Verlages cf. Antoine de Gaudemar, «L'Etoile de Vercors. », in: Etudes litteraires 9/1, April 1976, p. 161-187; Pierre Caminade, «Le Mouvement mitaphorique dans », in: Entretiens 1964, p. 1 Π Ι 19; Alastair B. Duncan, «Lire 'L'Herbe»», in: Claude Simon, L'Herbe, Paris: Minuit («double»), p. 185-202; Karen Gould, «The Faces of Language in », in: Rani Birn/Karen Gould (edd.), Orion blinded, 72-86; Laure Hesbois, «Qui a dit ga? Identification des voix narratives dans . Beyond Sound and Fury» (LEONARD); Dieter Wellershoff, «Die Verneinung der Kategorie des Werdens» (WELLERSHOFF 73, 55-76). Rezensionen: Charles Camproux, «Claude Simon: de Claude Simon», in: Tribune des Nations, 7.11.1958; Marianne Kesting, «Von der zermalmenden Kraft der Zeit. Claude Simon, » (KESTING 72, 130-134; Claude Mauriac, «Claude Simon, stdnographe de la r6alit0» (MAURIAC 58); Maurice Nadeau, «L'Herbe», in: L'Observateur, Oktober 1958; Claude Ollier, «Claude Simon, einer Identifikation von Tod und Endlichkeit versuche nur diesen Schrecken zu minimieren» (MACHO, 114). Cf. ADORNO 64, l l l s q . Celia Britton leitet ihre Interpretation aus Lacans Analyse des Spiegelstadiums ab: «This loss of outline, of self as a delimited entity, gradually invades the whole text; and at the same time, it shifts between past and present become far more frequent and confused. Thus as the novel proceeds the distance established between the two images begins to be eroded and the clear differentiation breaks down. [...] This leads up to the eventionnal suicide, almost as though the very existence of a subject had depended on a stable and a distanced version of the mirror image» (BRITTON 87, 70). Letztlich vermag sich der Student nur noch als Summe der Personen zu definieren, welche die Ereignisse miterlebt haben (PALACE 20,156,157). Cf. Kirpalani: «[...] Fexpulsiond'un foetus — dernier Stade de rögression de la [...]» (KIRPALANI, 69). In diesem Zusammenhang ist auch das Thema der Abtreibung in Le Sacre du printemps zu sehen.

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einem Revenant gleich das Palasthotel bzw. die Bank aufsucht, wo sein Leben sein «symbolisches» Ende gefunden hat. Simon bedient sich hier wieder einer ähnlichen Technik wie in L'Herbe: die erinnerten Bilder werden aus der personalen Erzählsituation geschildert, sie sind virtuelle Gedächtnisinhalte. Die «Inhalte» der Erinnerungen des itudiant-voyageur eilen — abweichend von der phänomenologischen Bestimmung — einem virtuell erinnernden Bewußtseins voraus, das der Aktualisierung der Erinnerungsbilder harrt wie der Filmschauspieler, der — bereit zur Aufnahme — auf das Signal des Regisseurs wartet und dann die Szene betritt; oder es läßt sich der Vergleich mit den unzähligen Wiederholungen ein und derselben Szene an x-beliebigen Orten durch den Filmvorführer anstellen (PALACE 20sq.). Diese wiederholende Aktualisierung der Erinnerungsbilder findet durch den Tod des erinnernden Bewußtseins ein Ende. Daher erfolgt am Ende des Romans ein Wechsel im Tempus: das Konditional indiziert die letzte Aktualisierung des Erinnerungsbildes in Erwartung des einzig möglichen Stifters von Identität: Thanatos. Nachdem der Schuß gefallen ist, erfolgt die Beschreibung der Umgebung im Präsens (PALACE 227) — es ist die Rückkehr an den Ort des einstigen nunc existentiel. Simon verfügt damit über eine Technik, das unerhörte Ereignis darzustellen, indem die Wiederholung der im ersten Kapitel inventarisierten Bilder endgültig aufgehoben wird und der Erzähler vom Bereich der (imaginären) Erinnerungsbilder in die vergangene (fiktive) Realität springt. Die «Geschichte» und der Suizid des itudiant-voyageur sind in ihrer Ausgestaltung daher dem Quentin Compsons in The Sound and the Fury nicht unähnlich. Sartre hat das erzähltechnische Geschick Faulkners hervorgehoben: Mais qui done se souvient, puisque les dernifcrs pens6es du hiros coincident ä peu pits avec l'dclatement de sa m6moire et son anfantissement? II faut röpondre que l'habilitd du romancier consiste dans le choix du pr6sent ä partir duquel il raconte le passd. Et Faulkner a choisi ici comme pr6sent l'instant infinitdsimal de la mort [...]. Ainsi, quand la m6moire de Quentin commence ä döfiler ses souvenirs [...], il est dejä mort. (SARTRE 39c, 95)

In der verrückten Autofahrt in das revolutionäre Barcelona antizipiert der etudiant das revenanthafte Fortsetzen der Bewegung auch noch nach einem tödlichen Unfall, der zu einer realen Möglichkeit geworden ist. Bereits mit seiner Fahrt in die Stadt gerät der etudiant in eine Atmosphäre der Antizipation des eigenen Todes. So wird der Fahrer des Wagens zu Charon, dem Fährmann auf dem Totenfluß Lethe. Der Zeitpunkt des physischen Todes von dem itudiant-voyageur steht am Ende des Romans. Der voyageur besucht Barcelona und trinkt in einer Bar ein Bier, worauf es ihm schlecht wird; dann — hier verliert die erzählte Rahmenhandlung an Eindeutigkeit — begibt er sich in eine öffentliche Bedürfnisanstalt und begeht Selbstmord. Simon greift dabei erzähltechnisch zu einem Kniff, um das Ableben des (itudiant-)voyageur mit dem «eclatement de sa memoire» (Sartre über Quentin Compson) überzeugend darzustellen: Am Ende des Romans wechselt das Tempus.27 Das «il» ist bereits ein vergangenes, das auf sein früheres zurückblickt.

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Die — imaginär/reale Rückkehr des itudiant-voyageur bedeutet eine Rückkehr zu jenem Punkt, von dem das eigene Leben nur noch als tote Materie abfließt.

Damit stellt es seinerseits wieder einen virtuellen Gedächtnisinhalt vor, der mit den übrigen Erinnerungsbildern sein definitives Ende findet. In Le Palace ist der Tempuswechsel entscheidend: Das Wirken der Funktion «Gedächtnis» und das Eingedenken der Vergangenheit werden in der grammatischen Vergangenheitsform dargestellt, d.h. die Wahrnehmung des voyageur muß erst zum Gedächtnisinhalt irrealisiert werden, bevor es — auf derselben Ebene — mit der Vergangenheit des itudiant verglichen werden kann. Die der Rückschau durch die Erinnerung vorauseilenden «Inhalte» werden erst durch den Tod eingeholt, mit dem allerdings auch das Gedächtnis ausgelöscht wird. An dieser Stelle sei auf Sartres Bestimmung der Erinnerung in L'Imaginaire verwiesen, welche die Schere zwichen Erinnerungsakt und vergangener Gegebenheit phänomenologisch präzisiert: Si je me rappelle un 6v6nement de ma vie pass6e, je ne l'imagine pas, je m'en souviens. C'estä-dire que je ne le pose pas comme donne-absent, mais comme donni-prisent au passe. La poignde de main que m'a donnde Pierre hier soir en me quittant, n'a point subi en coulant dans le pass6 de modification d'irr6alit6: eile a subi simplement une mise ä la retraite; eile est toujours rielle mais passies. Elle existe passie, ce qui est un mode d'existence rdelle parmi d'autres. (SARTRE 40, 348)

Entsprechend dieser Argumentation ist die Erinnerung in Le Palace konsequent in der Vergangenheitsform beschrieben — so auch die Befragung des Kellners durch den Reisenden, denn dieser befindet sich zwangsläufig im Existenz-«Modus» der Vergangenheit (cf. auch den Gebrauch der infiniten Form): erst nach dem Selbstmord wechselt der «mode d'existence». In Le Palace findet ein ständiges Quidproquo von Vorstellung und Erinnerung statt, weil das «donne present au passe» nicht mit dieser Gewißheit gesetzt werden kann wie in Sartres Beispiel. Die imaginäre Welt kann nur um den Preis ihrer eigenen Nichtung28 «realisiert» werden. Deshalb erlangen kurz vor dem — vermuteten — Selbstmord die Erinnerungsstränge eine besondere Intensität. Der etudiant-voyageur ist noch immer auf der Suche nach dem Mörder des Amerikaners. Sein Verdacht konzentriert sich offensichtlich auf den Italiener. Als der itudiant-voyageur sich der Antwort nahe wähnt, fällt ein Schuß.29 Nun gibt es verschiedene zeitliche Korrelate innerhalb des Imaginären: Ce qu'il y a de commun entre Pierre en image et le centaure en image c'est qu'ils dont deux aspects du N6ant. Et c'est encore ce qui distingue l'avenir v6cu de l'avenir imaging. II y a en effet deux sortes de futurs: Tun n'est que le fond temporel sur lequel se d6veloppe ma perception prdsente, l'autre est pos6 pour soi mais comme ce qui n'est pas encore. (SARTRE 49, 349)

Denkt man diese Unterscheidung weiter, dann gilt für die sprachliche Analyse der

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«L'apprthension de Tun coincide avec l'aniantissement de l'autre» (SARTRE 40, 252). Deguy, der sich in seiner Interpretation von Le Palace auf Sartres L 'Imaginaire stützt, schreibt dazu: «Le spectacle comme imaginaire est aussi bien anticipi que rem6mor6, spectacle d'une fin qui ne cesse d'arriver, sans etre jamais la fin, puisque seule vraie fin, r6elle et non imaginaire, diffirente du n6ant de la reprSsentation et pourtant an6antissement proprement dit, sera la mort, qui coupera la parole, et qui, en attendant, dou6 de parole cet £tre pour la mort, cet homme qui ne fait qu'assister ä ces prdmices de mort, ä la r6p£tition de sa mort, i 1'image de la mort qui se monnaie par avance en toute image» (DEGUY, 1021).

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Sequenz im Roman, in welcher der Schuß fällt, folgende Feststellung: Ist die Zukunft in bezug auf die Beobachtung angelegt, dann entspricht ihr das grammatische Futur.30 Bleibt sie jedoch Hypothese bezüglich der Vergangenheit, so entspricht ihr grammatisch das Konditional. So steht eine längere Passage vor dem Tempuswechsel von den Vergangenheitsformen zum Präsens in Palace im Konditional (ihr geht wiederum eine lange Passage im Partizip Präsens voran), bevor der tiudiant in die Bedürfnisanstalt hinabsteigt — «seul maintenant: alors il entrerait, il monterait les trois etages» (PALACE 226). Nach den Ausführungen des Grammatikers Grevisse kann die Konditionalform in ihrer temporalen Verwendung wie folgt gedeutet werden:31 Das Konditional markiert hier das «ce n'est pas encore»; dem Geschilderten fehlt in der Realität der offensichtliche Bezugspunkt für das Futur wie in dem von Sartre genannten Beispiel eines Tennisballs, dessen Flugbahn für einen Beobachter vorausbestimmbar ist, oder der Dämmerung am Ende des Tages — «ce n'est pas encore le crepuscule, mais bientöt» (PALACE 229). Das Konditional verweist in seiner Funktion als Futur du passe auf das eigentliche Ende des Romans: Der voyageur steigt in die Bedürfnisanstalt hinab, um — vermutlich — Selbstmord zu begehen. Als Irrealis dagegen verweist es auf den nicht gelingenden Abschluß der Suche des itudiant-voyageur. Sartre unterscheidet die duree reelle von der duree ireelle (imaginaire). Das «Zusammenfallen» von duree reelle und duree ireelle kennzeichnet den Schluß von Palace: Auf den Abstieg des voyageur in die Bedürfnisanstalt folgt der Aufstieg des etudiant, der die Treppe zum Büro hinaufgeht. Mit seinem imaginären Aufstieg — gleichsam das Zurückdrehen des Rades der individuellen Geschichte — verhilft er der Dimension Zukunft wieder zu ihrem Recht, allerdings in der Form eines Futur du passe. Des Wechsels in die Konditionalform in ihrer Dualität von Futurum und Irrealis hat sich Marcel Proust am Ende seiner Recherche bedient (PROUST III, 1043sqq.). Paul Ricceur bezeichnet diesen Wechsel als «cloture narrative»; die Erzählung der Recherche sei dann zu Ende, wenn der Schriftsteller mit seiner Arbeit anfange (RICCEUR 84, 285). Nun kennt die recherche simonienne keine «cloture narrative», sondern nur die Negation des Erinnerungsprozesses. Das Futur du passe indiziert den beschränkten Horizont. Die «anticipation», jenes Überschreiten hin auf ein «projet» — Grundprinzip des Dualismus von «fin» und «moyen» (cf. SARTRE 89, 94-97) —, gerinnt hier zu einer trügerischen Zukunft en-soi. Das Ende des tranzendierenden Pour-soi markiert den «Umschlag eines Seienden aus der Seinsart des Daseins.» (sz 238, 240). Nur der Augenblick des Todes setzt das Individuum der drohenden absoluten Dinglichkeit des en-soi aus, macht die Zukunft zu einem

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Etwas weiter heißt es bei Sartre: «Toute existence r6elle se donne avec des structures pr6sentes, passöes et futures, done le passd et l'avenir en tant que structures essentiels du r6el sont 6galement r6els, c'est-ä-dire corrdaltifs ä une thfese r6alisante» (SARTRE 49, 350). Maurice Grevisse, Le bon Usage. Grammaire frangaise avec des Remarques sur la langue frangaise d'aujourd'hui, Paris-Gembloux: Duculot "1980, p. 713, N°1430. Zu Unterscheiden ist dieses Futur du passe von Groethuysens Futur dans le passi: Bei letzterem wird so getan als ob die Zukunft offen wäre. Am ehesten ist dies der grammatikalische Ausdruck für das Futur passe, das Sartre in Faulkners Sound and Fury ausgemacht hat.

abgeschlossenen Horizont. Was wir als die artefaktische Erscheinungsform der Setzung von Identität bezeichnen wollen, die Konstruktion eines illusorischen en-soi qua «Besitz» in ihrer Fragilität, zeigt wiederum der Schluß der Proustschen Recherche: «[...] il ne me semblait pas que j'aurais encore la force de maintenir longtemps attache ä moi ce passe qui descendait dejä si loin» (PROUST III, 1048). Der Kunstgriff Simons, der den Leser vor die verwirrende Frage stellt, wer eigentlich wen getötet hat, besteht darin, daß der Seinsumschlag einzig aus der Perspektive der Erinnerungsbilder dargestellt wird. Der Leser wird danach in die (fiktive) Realität Barcelonas zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs entlassen, die nicht mehr bzw. noch nicht von den Erinnerungssequenzen überlagert ist. Die Interpretationen, die von einem Selbstmord des itudiant-voyageur ausgehen, liegen somit auch auf der Linie einer stringenten existentialontologischen Argumentation. Simon destruiert hier die Rede von der Grenzsituation wie auch von den Sartreschen «situations extremes»/«grandes circonstances», in denen der historische Ort der Erfahrung präsent ist. Die Historizität der Ereignisse — wir erinnern uns: Sartre hat die Schnittstelle von metaphysischer Absolutheit und historischer Situation in Qu'est-ce que la Litterature? unterstrichen — weicht hinter der metaphysischen Fragestellung zugunsten der Antwort des Agnostikers, ignoramus ignorabimus, zurück. Es ist das Wissen um die Geschichte, aber auch das «Wissen» eines Marcel Proust, das in der letzten und metaphysischen Anstrengung negiert wird. Dem voyageur gelingt es nicht, die Wissenslücke des itudiant mit Blick auf eine Wahrheit zu schließen. Die «Revolution» vom itudiant zum voyageur durchläuft die Phasen der Wiederholung, in denen die immergleiche, aber in der Erinnerung jeweils anders konkretisierte Zukunft enthalten ist (cf. das Bild von der Spirale), die allein von der einzigen und letzten Wahrheit des Todes zu einer Wahrheit überhaupt vorstoßen kann.

4.6 Vergebliches Dejä-vu Michel Deguy nennt den Erzähler in Le Palace «un perpetuel paramnesique» (DEGUY, 1014). Das Dejä-vu instrumentiert dieser Auffassung zufolge den Roman. Die Reise des voyageur zurück nach Barcelona gleicht in der Tat einer Pilgerfahrt, welche die Erinnerung wachzurufen sucht.32 Maurice Halbwachs hat sich in seiner

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«On dirait que le site d'oü il parle en voyant est ce point de sdparation dont parlait Bergson: tout est ddjä au passd, tout est comme d6jA vu» (DEGUY, 1014). Problematisch ist dabei, daß Deguy hier vom Erzähler als einem an Paramnesie leidenden spricht. Die hier entworfenen Bilder sind allenfalls Symptome. Auch thamatisiert er nicht hinreichend den utopisch-metaphysischen Aspekt des Dejä-vu. Deguy bezieht sich auf Bergson (Le Souvenir du present), ohne sich aber kritisch mit diesem auch im Hinblick auf Sartres L 'Imaginaire, auf das er sich gleichfalls stützt, auseinanderzusetzen: «Bergson comparait la conscience ä un jet d'eau dont les faisceau se scinderait par le haut en un flux protensif, qui s'incline vers l'imminent futur, et un flux ritensif qui retombe sur le pass6; que celui-lä vienne 4 tarir et voici la conscience portde par la seule courbe r6tensive, autrement dit n'atteignant le pr6sent que comme le passe, c'est-ä-dire comme pass6, comme du dejä-vecu; ainsi expliquait-il la » (EN 143). In «Le Langage indirect et les voix du silence» schreibt Merleau-Ponty dagegen: «Nos analyses de la pens6e font comme, avant d'avoir trouvö ses mots, eile fait d6jä une sorte de texte id6al que nos phrases chercheraient ä traduire. Mais l'auteur lui-meme n'a aucun texte qu'il puisse confronter avec son dcrit, aucun langage avant le langage. Si sa parole le satisfait, c'est par un dquilibre dont eile se ddfinit elle-raöme les conditions, par une perfection sans module. Beaucoup plus qu'un moyen, le langage est quelque chose, comme un €tre et c'est pourquoi il peut si bien nous rendre präsent quelqu'un [...]. Le sens est le mouvement totale de la parole et c'est pourquoi notre pens6e traine dans le langage» (MERLEAU-PONTY 60, 53sq.). Emmanuel L6vinas unterscheidet — ausgehend von Heideggers Bestimmung des Daseins — zwischen «Sinngebung» (deutsch im Original!) durch die «parole» und die diese übersteigende «signification» durch die Sprache («langage»): «Le langage est le ddpassement incessant de la Sinngebung par la signification» (Totaliti et infini. Essai sur l'extiriorite, Paris: Le Livre de Poche (biblio/essais)/ Kluwer Academic 1990 [Erstv. 1961], p. 330).

wärtige («le präsent»), das Sichtbare für uns nur daher einen absoluten Rang, weil es ein unendliches Potential («immense contenu latent») von Vergangenheit und Zukunft in sich bewahre, ein Potential, das es sowohl nach außen kehre als auch verberge (MERLEAU-PONTY 64, 153). Die Sprache nun schiebe sich wie ein deckender Schirm — «comme un ecran», wie Merleau-Ponty in Anlehnung an Freuds «Deckerinnerung» formuliert — zwischen uns auf der einen Seite und die Vergangenheit und die Dinge auf der anderen (MERLEAU-PONTY 64, 166): 25 Der Phänomenologe Merleau-Ponty vollzieht hier seinen linguistic turn. Explizit bezieht Merleau-Ponty sich auf Lacan, wenn er schreibt, unser Denken sei wie eine Spache strukturiert: Mais, parce qu'ayant 6prouv6 en lui-möme le besoin de parier, la naissance de la parole comme une bulle au fond de son expörience muette, le philosophe sait mieux que personne que le vöcu est du v6cu-parl6, que, ηό ä cette profondeur, le langage n'est pas un masque sur l'Etre, mais, si l'on sait le ressaisir avec toutes ses racines et toute sa frondaison, le plus valable t6moin de l'Etre, qu'il n'interrompt pas une immödiation sans lui parfaite, que la vision mSme, la pensde mSme sont, a-t-on dit, «structures comme un langage» [Lacan] sont I'articulation avant la lettre, apparition de quelque chose lä ού il n'y avait rien ou autre chose. (MERLEAU-PONTY 64, 167sq.)26 Der Sprachgebrauch zweier nouveaux romanciers gibt für Merleau-Ponty die Fragwürdigkeit der Vorstellung vom Subjekt zu erkennen; die Identität der Personen sei nicht mehr zweifelsfrei auszumachen. Dennoch rüttelt Merleau-Ponty nicht an der Perspektive des sprechenden Subjekts. Daraus resultiert die Annahme einer «intermediären» Person: Le Langage de Claude Simon, Butor (le participe prdsent, les phrases interrompues, le vocatif de la Modification) signifie un certain rapport ä soi. On ne lit plus Je ou il II nait des personnes intermidiaires, une 16re-2äne personne des modes intermddiaires (participe prdsent a valeur de «simultan6it6»)27 Der Gebrauch der infiniten Verbform des Partizip Präsens hebt die Identität von

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In diesem Kontext cf. den Aufsatz über Sprache und Psychoanalyse von Emile Benveniste aus dem Jahr 1956: «Remarques sur la fonction du langage dans la d6couverte freudienne», in: idem, Probltmes de linguistique generale I, Paris: Seuil (Coli. Tel) s.d., p. 75-87, hier: p. 77. Lacan hat das Unbewußte als den Diskurs des Anderen (Neutrum!) definiert: «l'inconscient, c'est le discours de l'Autre» (Ecrits, Paris: Seuil 1966, S.379; cf. dazu das dritte Kapitel in LANG). NB: Der Begriff «L'Autre» bei Lacan ist nicht mit dem «autrui», das für die intersubjektive Alterität konstitutive Komplement des Pour-soi bei Sartre zu verwechseln. Er ersetzt vielmehr das, was Heidegger das «Sein» und Merleau-Ponty — mutadis mutandis — das «Unsichtbare» nennen (cf. FRANK 84, 281). Frank hat die Psychoanalyse Lacans auf ihre Stellung zur Existenzialhermeneutik bei Sartre untersucht: «Das Subjekt und sein Doppel, Jacques Lacans Hermeneutik» (FRANK 90b, 334-361). Zu diesem Komplex sei auch auf die Ausführungen von Francois Dosse verwiesen (DOSSE II, 272sqq.). Eine eigene Besetzung des Begriffs «L'Autre» hat Emmanuel Levinas vorgenommen {Le Temps et l'Autre, Paris: Arthaud 1948). Simone de Beauvoir rückt den Levinasschen Begriff «L'Autre» in die Nähe von Sartres Antivaleur (BEAUVOIR 49, 15). Merleau-Ponty, Notiz vom Oktober 1 9 6 0 (MERLEAU-PONTY 6 1 / 6 2 ) . Zum Stellenwert des Begriffs «intermddiaire» bei Merleau-Ponty cf. WALDENFELS, 199. 475

Personen auf und unterstreicht die Gleichzeitigkeit der Visionen, der unterschiedlichen Schichten von «ecrans». Simons Roman ist die Gegenwart dieser Bilder. An anderer Stelle zitiert Merleau-Ponty Husserl: «[...] das historisch Erste ist immer unsere Gegenwart.»28 Wie sich diese Gegenwart gestaltet, gibt ein Gedächtnisprotokoll wieder, das Merleau-Ponty nach einem Gespräch mit Claude Simon angefertigt hat: Claude Simon hier soir, — quand je lui dis que lui parlant et lui 6crivant ne sont pas le mdme, celui qui parle est celui qui a des opinions, des jugements etc. celui qui dcrit est celui qui sent et vit. II ajoute: et puis, ilfaut le riveiller, ou l'exiter, ou l'appeler (je ne sais plus quel mot il a employέ). Done celui qui sent et vit n'est pas immödiatement donni. II se döveloppe par le travail. Sentir, vivre, la vie sensorielle est comme un tr£sor, mais qui ne vaut encore rien tant qu'il n'y a pas eu de travail. Le travail ne consiste pas seulement d'ailleurs, ä «convertir en mots» le v6cu; il s'agit de faire parier ce qui est sentit

Der Romancier bezeichnet sein Schreiben als Arbeit, als die Transformation des Erlebten, des Gefühlten. An die Stelle des «rapport du pour-soi avec le possible qu'il est» (EN 141), der bei Sartre den Zirkel der Selbstheit («circuit d'ipseite») definiert, und die Welt, jene Totalität des Seins, das der Zirkel durchschneidet, treten die parole und die langue. Die Auseinandersetzung mit dem Rohmaterial des Schriftstellers weist in Richtung einer Fetisch is ierung qua Sprache: Umwandlung des Erlebten in Worte heißt zugleich, ihm den Status eines «fetiche» zu geben. Erstaunlicherweise erlangt hier der Fetischismusbegriff in der Tradition von Marx wieder seine Relevanz. Der Schriftsteller fetischisiert sein eigenes Erleben; sein eigener sprachlicher Ausdruck führt das numinose Eigenleben der Ware. Merleau-Ponty und Claude Simon dichotomisieren den Menschen über seine Sprache: Während das gesprochene Wort offensichtlich untrennbar mit der Sprechsituation verbunden ist und damit als Teil des Sprechers gesehen wird, stellt sich das geschriebene Wort — hier der narrativen Praxis — als ein dem Sprecher Äußerliches — wir präzisieren: Entfremdetes — dar. Merleau-Ponty weist in seiner Fragment gebliebenen Schrift La Prose du monde zunächst einer «existentiellen» Deutung der Sprache den Weg, die dem Sein wie das Futter eines Mantels anhafte: «[...] le langage en tout cas ressemble aux choses et aux idees qu'il exprime, il est la doublure de l'etre, et l'on ne congoit pas de chose ou d'idees qui viennent au monde sans mots» (MERLEAU-PONTY 69, 10). La Prose du monde ist nach Merleau-Pontys eigener Aussage als eine direkte Replik auf Sartres Schrift Qu'est-ce que la Litterature? konzpiert, in der die dichotomische Scheidung von Poesie und Prosa festgeschrieben wird. In der Poesie reflektiere sich die Sprache selbst und ihr Produkte bleibe in sich geschlossen, glatt wie ein Kieselstein. Die Sprache der Prosa dagegen versteht Sartre ausschließlich als ein Instrument: «La prose est utilitaire par essence [...]» (SARTRE 47a, 26). Der Prosa zu ih-

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Zitiert nach Maurice Merleau-Ponty, Resumi des Cours. Collige de France 1952-60, Paris: Gallimard (Coli. Tel) s.d., p. 160. Die betreffende Aufzeichnung Merleau-Pontys stammt von 1959/60. Merleau-Ponty, Notiz vom 19.12.1960 (MERLEAU-PONTY 61/62).

rem Recht zu verhelfen und dem Totalitätsanspruch der ebenfalls phänomenologisch begründeten Literaturtheorie Sartres einen eigenen Entwurf entgegen zu halten, ist das Anliegen, das Merleau-Ponty mit La Prose du Monde verfolgt: «II faut que je fasse une sorte de Qu'est-ce que la littiraturel, avec une partie plus longue sur la prose [,..].»30 Merleau-Pontys ergeiziges Projekt ist leider Fragment geblieben. An welchem Punkt er mit seiner Kritik an Sartre einsetzt, zeigt seine 1955 erschienene Schrift Les Aventures de la dialectique. Sartre betrachtet das sprachliche Zeichen in seiner an der Prosa ausgerichteten Theorie der Literatur primär als Instrument. In Les Aventures de la dialectique problematisiert Merleau-Ponty einen solche instrumentellen Zugriff auf das in die literarische Praxis eingebundene sprachliche Zeichen; er hebt die unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten von Politik und Kultur unter dem Aspekt jeweils eigenständiger Kodifizierungen von Symbolen hervor: Politique et culture se rejoignent, non qu'elles soient imm6diatement superposables et qu'elles collent toutes deux ä l'ivdnement mais parce que les symboles de chaque ordre ont dans Γ autre des 6chos, des correspondances, des effets d'induction. Reconnaitre la littörature et la politique comme des activitds distinctes, c'est peut-£tre enfin la seule fagon d'etre fiddle ä Taction comme ä la littörature [...). Pour en juger autrement, il faut vivre dans un univers oü tout est signification, la politique comme la littdrature, il faut etre dcrivain. La littörature et la politique sont Ü6es entre elles et avec l'6v6nement, mais d'une autre fa9on, comme deux couches d'une seule vie symbolique ou histoire. Et si les conditions du temps sont telles que cette vie symbolique est dissocide, qu'on ne peut ä la fois £tre libre dcrivain et communiste, ou communiste et opposant, on ne remplacera pas la dialectique marxiste qui unissait ces contraires par un dpuisant va-etvient entre eux, on ne les rdconciliera pas de force.31

Merleau-Ponty argumentiert hier vor der Folie von Sartres Konzeption einer litterature totale, die er hier kritisch gegen ihren Urheber wendet. Die Kritik MerleauPontys kann wie folgt weitergedacht werden: Nur in einer klassenlosen Gesellschaft die zugleich ein semiologisch kohärentes Universum bildet, können politisches und schriftstellerisches «Handeln» zu einer Einheit der Praxis finden. Was MerleauPonty unter Praxis versteht, hat er in den Fragmenten von La Prose du Monde am Beispiel der Wahrnehmung — «car la perception est action» — exemplifiziert: «L'action [...] devientpraxis, c'est-ä-dire qu'elle se refuse aux abstractions de l'utile et n'entend pas sacrifier les moyens Ä la fin, l'apparence ä la realite» (MERLEAUPONTY 69, 90). Schriftstellerisches «Handeln» bleibt immer der historischen Praxis entfremdet, verweigert sich also dem Telos einer proletarischen Partei. Die Wende hin zu einer neuen Annäherung an die Sartresche Frage Qu 'est-ce que la littirature? vollzieht Maurice Merleau-Ponty über einen sprachphilosophischen Ansatz. Die neue Analyse der Sprache bei Merleau-Ponty gründet in der Rezeption der Linguistik von Saussure. Er reduziert Sprache nicht mehr auf ein

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Maurice Merleau-Ponty, zitiert nach Claude Lefort «Avertissement» zu La Prose du monde (MERLEAU-PONTY 69, VII), Cf. dazu die zusammenfassende Darstellung von Bernard Pingaud, «La Littdrature, ou Sartre revu par Merleau-Ponty» [Erstv. 1971], in: idem, Les Anneaux du manage, ßcriture et littirature, Paris: Gallimard (Coll. folio) 1992, p. 116-133. Maurice Merleau-Ponty, Les Aventures de la dialectique, Paris: Gallimard (Coli, iddes) 1977 [Erstv. 1955], p. 294sq.

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bloßes Instrument, sondern erkennt als ihr «Wesen» Zeichen:

die Differentialität ihrer

Avant que le langage porte des significations qui nous masquent son operation autant qu'elles r6vdlent, et qui une fois n6es paraitront simplement coordonnöes ä des signes inertes, il laut qu'il sdcrfete par son arrangement interne un certain sens originaire sur lequel les significations seront pr61ev6es; il faut qu'il y ait une 6tude qui se place au-dessous du langage constitud et consid&re les modulations de la parole, la chaine verbale comme expressives par elles-mfrnes, et mette en ividence en de?ä de toute nomenclature 6tablie, la «valeur linguistique» immanente au acte de la parole. On approche de cette couche primordiale du langage en d6finissant avec Saussure les signes, non pas comme les repr6sentants de certaines significations, mais comme des moyens de diff£renciation de la chaine verbale et de la parole, comme des «entit6s oppositives, relatives et nögatives» [Saussure]. (MERLEAU-PONTY 69, 44sq.)

2. Der linguistic turn Die letzten Schriften Merleau-Pontys, in deren Zusammenhang die Cinq Notes sur Claude Simon zu sehen sind, fallen mit einer Entwicklung in der jüngeren Philosophiegeschichte zusammen, der das Etikett linguistic turn/tournant linguistique angeheftet wurde. 32 Nach Manfred Frank besteht der linguistic turn in einem Überführen des philosophischen Paradigmas des Bewußtseins und — wir ergänzen — der Lebenswelt in dasjenige des Zeichens: Nicht mehr das Bewußtsein ist der transzendentale Ort der «Bedingimg der Möglichkeit» von Sinn, Bedeutung und Referenz, sondern das Zeichen. Transzendentalphilosophie geht über oder geht auf in Semiologie, d.h. in Zeichentheorie. Wir wissen warum: Um in seiner Identität gegen andere Gedanken sich profilieren zu können, muß der Gedanke (auch der Gedanke von mir selbst als Subjekt) artikuliert sein, d.h. er muß durch den » [Charles Haroche], in: L'Humaniti, 26.10.1981 «Correspondence avec Jacques Henric», in: Art Press 53, November 1981, p. 47 «Claude Simon: la guerre, la terre, l'Scriture et la menuiserie» [C. Gallaz], in: Le Matin Tribune, 22.11.1981 «Avec Claude Simon sur des sables mouvants» [entretiens avec A. Poirson], in: Rivolution 99, 22.28.1.1982 «Roman, description et action: The Feeling for Nature and the landscape of Man», in: Hellberg, Paul (ed.) Proceedings of the 45th Nobel Symposium, 1980, p. 79-89; repr. in: Studi di letteratura francese 8, 1982, p. 12-27 «Claude Simon: » [Claire Paulhan], in: Les Nouvelles, 15.-21.3.1984 «Interview with Claude Simon» [Alastair Duncan], in: Alastair, Duncan, Claude Simon. New Directions, Edinburgh: Scottish Academic Press 1985, p. 12-18 «Interview with Claude Simon: Autobiography, the Novel, Politics», in: The Review of Contemporary Fiction, spring 1985, p. 4-13 «Reflections on the novel: Claude Simon's Address to the Colloquium on the New Novel», New York University, October 1982, in: The Review of Contemporary Fiction, spring 1985, p. 14-23 «Le mitier de romancier. Une lettre inSdite», in: Le Monde, 19.10.1985 «Claude Simon sur la route de Stockholm», in: Le Nouvel Observateur, 6.12.1985, p. 72-73

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«La Route du Nobel» [Interview], in: Libiration, 10.12.1985 «Claude Simon [Petit du 31e Dragons] - Lettre ä A.C. Pugh du 6 juillet 1984», in: Higgings, Ian (ed.) The Second World War in Literature. Eight Essays, Edinburgh/London: Scottish Academic Press [Reprinted and corrected with additional texts from Forum for Modern Language Studies, Vol XXI, No 1] 1986, p. 125-127 «Claude Simon ä la question», in: Ricardou, Jean (ed.), Colloque de Cirisy: Lire Claude Simon, Paris: Les Impression Nouvelles 1986, p. 403-431 «The Novel as Textual Wandering: An Interview with Claude Simon» [Conducted by Claude DuVerlie], in: Contemporary Literature 28/1, 1987, p. 1-13 «Lettres», in: Dällenbach, Lucien, Claude Simon, Paris: Seuil 1988, p. 162-169 «Attaques et stimuli» [entretien inddit], in: Dällenbach, Lucien, Claude Simon, Paris: Seuil 1988, p. 170-181 «Et ä quoi bon inventer?» [propos recueillis ä Salses par Marianne Alphant], in: Libiration, 31.8.1989 «Je ne crois pas 6crire des choses compliqudes» [Jean-Claude Lamy], in: France soir, 26.9.1989 «La Ddroute des Flandres» [P. Bois], Le Figaro, 13.7.1990 «Roman et mdmoire. Extrait d'une conference inddite», in: Revue des Sciences humaines 220, 1990/4, p. 191sq. «La Guerre est toujours lä», in: L'lZvinement du jeudi, 31.8.-6.9.1989, p. 86sq «Le Pass6 recomposd» [Arlette Ärmel], in: Magazine littiraire, No. 275 (1990), p. 96-103 «...peuvent et doivent s'arrtter d'6crire», L6vy, Bernard-Henri, Les aventures de la liberti, Paris: Grasset 1991, p. 12-21 «Plan de montage de », in: Mireille Calle (ed.), Claude Simon. Chemins de la memoire. Textes, entretiens, manuscrits, Sainte-Foy (Quöbec) 1993, p. 185-201. «L'inlassable Γέ/e/ancrage duv6cu» [Interview], in: Mireille Calle (ed.), Claude Simon. Chemins de la memoire, p. 3-25.

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