Café Europa. Vorträge und Debatten zur Identität Europas [2, 1. ed.] 9783835352513, 9783835349179

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Café Europa. Vorträge und Debatten zur Identität Europas [2, 1. ed.]
 9783835352513, 9783835349179

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Norbert Abels: Es waren schöne glänzende Zeiten … Europa und die Oper – verstreute Mutmaßungen. Ein Vortrag
Mitschrift der Debatte mit Moritz Eggert
Wolfgang Bunzel: Am Nullpunkt der Geschichte. Novalis’ ›Die Christenheit oder Europa‹ und Friedrich Schlegels Zeitschrift ›Europa‹ als komplementäre Gründungsdokumente des romantischen Europa-Diskurses
Paul Michael Lützeler: Die Romantiker und Europa. Zu englischen, französischen und italienischen Beiträgen
Mitschrift der Debatte mit Michael Hohmann
Gerhard Poppenberg: Europa als Überlieferungsraum. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter
Frank Rexroth: »Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter« – Ein Buch über weitgestreckte literarische Kommunikationen
Mitschrift der Debatte
Mamadou Diawara: Der Blick Afrikas auf Europa
Richard Kuba: Afrikas Blick auf Europa
Mitschrift der Debatte
Nicolas Detering: Europas Kartographie seit dem Mittelalter
Christoph Mauntel: Europa in der Weltordnung des Mittelalters
Mitschrift der Debatte
Johannes Pahlitzsch: Byzanz und der lateinische Westen zwischen Kreuzzügen und Schisma
Panagiotis A. Agapitos: Literarische Kontakte zwischen Byzanz und dem Westen am Beispiel der fiktionalen Erzählung
Mitschrift der Debatte
Die Autoren

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Café Europa Band 2

Café Europa Band 2 Herausgegeben von Michael Hohmann & Pierre Monnet

Wallstein Verlag

Die Herausgeber bedanken sich beim Kulturfonds Frankfurt RheinMain, dem Land Hessen, der Stadt Frankfurt und dem Institut franco-allemand IFRA für die Förderung der Reihe Café Europa.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond Umschlaggestaltung: Michael Lenz (Frankfurt) ISBN (Print) 978-3-8353-5251-3 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4917-9

Inhalt

Norbert Abels Es waren schöne glänzende Zeiten … Europa und die Oper – verstreute Mutmaßungen. Ein Vortrag . . . . . .

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Mitschrift der Debatte mit Moritz Eggert . . . . .

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Wolfgang Bunzel Am Nullpunkt der Geschichte. Novalis’ Die Christenheit oder Europa und Friedrich Schlegels Zeitschrift Europa als komplementäre Gründungsdokumente des romantischen Europa-Diskurses . . . . . . .

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Paul Michael Lützeler Die Romantiker und Europa. Zu englischen, französischen und italienischen Beiträgen . . . . . . . . . . . . . . .

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Mitschrift der Debatte mit Michael Hohmann . .

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Gerhard Poppenberg Europa als Überlieferungsraum. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter 119 Frank Rexroth »Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter« – Ein Buch über weitgestreckte literarische Kommunikationen . . . . . . . . . . .

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Mitschrift der Debatte . . . . . . . . . . . . . . .

147

Mamadou Diawara Der Blick Afrikas auf Europa . . . . . . . . . . .

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Richard Kuba Afrikas Blick auf Europa . . . . . . . . . . . . . .

173

Mitschrift der Debatte . . . . . . . . . . . . . . .

178

Nicolas Detering Europas Kartographie seit dem Mittelalter . . . .

191

Christoph Mauntel Europa in der Weltordnung des Mittelalters . . .

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Mitschrift der Debatte . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Pahlitzsch Byzanz und der lateinische Westen zwischen Kreuzzügen und Schisma . . . . . . . .

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Panagiotis A. Agapitos Literarische Kontakte zwischen Byzanz und dem Westen am Beispiel der fiktionalen Erzählung . . . . . . . . . . . . .

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Mitschrift der Debatte . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Norbert Abels

Es waren schöne glänzende Zeiten … Europa und die Oper – verstreute Mutmaßungen. Ein Vortrag

Diese Verknüpfung (von Wort und Ton) ist denn auch einem Zugeständnisse an das Publikum entsprungen, das sich in seiner Trägheit am liebsten eine Kunst von der zweiten kommentieren lassen möchte. Rainer Maria Rilke Die neuen deutschen Opernhäuser sehen zwar sehr modern aus – von außen; innen sind sie äußerst altmodisch geblieben. […] Man sollte ruhig eine ganze Menge Rotgardisten importieren! Vergessen Sie nicht, die Französische Revolution hat auch sehr viel kaputtgemacht, und das war sehr gesund. Wenn man zu viel Blutdruck hat, gibt es nur eines: weg mit dem Blut. Pierre Boulez

I. Freiheit »Freiheit ist nur in dem Reich der Träume / Und das Schöne lebt nur im Gesang.« Das schrieb Schiller zum Antritt des neuen Jahrhunderts. Manchmal gelingt es den Träumen, die Brücke zur Wirklichkeit zu überschreiten. So wie es Orpheus, mit dessen mythischer Gestalt die Geschichte des neuzeitlichen Gesangstheaters beginnt, gelang, das Tor zur Unterwelt zu durchschreiten. 9

Am 25. Dezember 1989 veränderte Leonard Bernstein in einem Schauspielhaus Beethovens »Ode an die Freude«. Er ließ das Wort »Freude« jedes Mal durch »Freiheit« ersetzen. Gespielt wurde die Musik von einem internationalen Ensemble. Musizierende aus vielen Teilen Europas, auch einige aus der Welt jenseits des atlantischen Ozeans. Er sei sicher, dass Beethoven dazu seinen Segen gegeben hätte, sagte der Dirigent. Mit Sicherheit hatte er recht. Im Februar 2017 stimmten im britischen Unterhaus während der Stimmauszählung zum Brexit schottische Abgeordnete die Ode an. Es ging um Europa. Es ging um Freiheit. Als Kuss der ganzen Welt bezeichnete Richard Wagner diese Musik. Transkulturalität war, als die Opernkunst ihren mehr als vierhundert Jahre währenden Aufstieg begann, im Grunde der Normalzustand. Die gerade durch die meta- beziehungsweise aterminologische Eigenart der Tonkunst begründete Expansionsdynamik, ihre damit konvergierende ästhetische, heute gar erdumspannende Omnipräsenz, trug zu den von Italien ausgehenden Grenzüberschreitungen entschieden bei. Mehr noch: Sie vermischte sich beizeiten mit jener Herausbildung europäischer Identität, die dem vorausgegangenen, frühneuzeitlichen Bewusstsein eines christlichen Universums nun ein neues, ungleich säkulareres Konzept folgen ließ. Spätestens zu Zeiten einer neu ermittelten Weltkartographie, all der entdeckten Räume jenseits der okzitanischen und gesamtabendländischen Breiten im ausklingenden 15.  Jahrhundert wurde Europa immer mehr für sich wahrgenommen. Das solcherart neuverortete Europa galt nunmehr als autonomes politisches wie auch kulturelles Gesamtgebilde. Ein Territorium, das jetzt auch das außerhalb von ihm Liegende als das fremde Andere ansah. Eine so merkwürdige wie signifikante Überschneidung zeichnete sich dabei ab, die eine eigene Untersuchung wert 10

wäre: Der Aufstieg des europäischen Musiktheaters und der Aufstieg des ubiquitären Kolonialismus, der späterhin das Antlitz des Imperialismus annahm, vollzog sich in stupender Simultaneität. Hinzu trat noch eine weitere epochale Verwerfung. Die im Wort Orientierung bereits signifikante Ausrichtung auf die Episteme morgenländischer Provenienz wechselte ihre Paradigmen. Die über Jahrhunderte hinweg wie immer auch unterbrochene kulturelle Symbiose der abrahamitischen Gemeinschaften erodierte. Sie wendete nach der Reconquista und zeitgleich mit dem militärischen Aufstieg der imperial auf den Plan tretenden und kollektiv abzuwehrenden osmanischen Dynastie den Blick auf eine eigene Identität, die eine transnationale, sozial und ökonomisch miteinander verflochtene Kommunikationsstruktur unabdingbar machte. Unabdingbar trotz aller im europäischen Territorium unablässig geführter Binnenkriege. Die Musik, vor allem auch das Musiktheater, präsentierte sich in solchem Epochenwandel gleichsam als Allegorie eines am Horizont auftauchenden noch utopischen Einklangs. Die großen Aufklärer Leibniz, Rousseau, Diderot und Herder sahen die Tonkunst als Spiegel einer Einheit in der Mannigfaltigkeit, mit Leibniz zu sprechen: »Harmonia autem est in multitudine«. Solches gleichsam olympische Interaktionspotenzial offenbarte sich nachdrücklich in der neuzeitlichen Geschichte des musikalischen Theaters. Es war eine Geschichte nicht zuletzt auch des fortwährenden Streits um angemessene Formen. Bisweilen sprach man deshalb von einer permanenten Opernkrise. Die berühmte Querelle des Bouffons um den Primat der französischen oder der italienischen Oper, der ewige Zank um das Wort-Ton-Verhältnis, die im 19.  Jahrhundert anhebenden, teils chauvinistisch ausgetragenen Bemühungen um jeweilige Nationalstile und 11

noch die so oft destruktiv ausgetragenen Auseinandersetzungen etwa zwischen atonaler und tonaler Tonkunst, die den Komponisten Pierre Boulez Mitte der sechziger Jahre behaupten ließ, dass die Oper mit einem muffigen Schrank zu vergleichen sei und dass – er meinte wohl Alban Bergs Lulu  – seit dem Jahre 1935 keine diskutable Oper mehr komponiert worden sein: All das vermochte das übernationale, sagen wir, »klassische Musiktheater«, nicht zum Untergang bestimmen. Zumal nicht in einer doch stets noch am Divertissement interessierten, offenkundig soeben dahinschwindenden bürgerlichen Bildungswelt, die inzwischen dem inszenatorischen Umgang mit den vergangenen Werken mehr Aufmerksamkeit zuwendet als deren ästhetischer Unaustauschbarkeit. Welche zukunftsweisenden, transkulturellen Strategien die aufs sogenannte Analoge wohl immer noch festgelegte Kunstform des musikalischen Theaters vor dem Horizont der Transformation ins algorithmische Zeitalter bemühen wird, ist abzuwarten. Ein avant la lettre dafür vermag ich nicht zu erkennen. Die immer aufwendiger geratenden Bühnenbilder kompensieren einen inneren Mangel an Vertiefung in das eigentliche theatrale Anliegen, das Meyerhold einst als Achse der Tragödie, als »Stellung des Menschen im Universum« ausgewiesen hat. Fast wirken sie erbarmungswürdig, jene am Ende doch wohl defizitären Versuche der großen Opernhäuser, dem digitalen Kosmos der virtuellen Simulakrenwelt mit all seinem illusionistischen Instrumentarium Paroli zu bieten.

II . Europeras

Europa und das Musiktheater: Schon am Ende des 17. Jahrhunderts wurde Europa als eine Art von games without 12

frontier oder Wettstreit der Nationen erstmals zum thematischen Zentrum einer Oper. Eine sich von den beherrschenden Tragédies en musique absetzende neue Form präsentierte sich mit internationalem Gepräge. Es war dies das Opéra-ballet mit dem Titel L’Europe galante. Ein durchaus unterhaltsamer Versuch, die Einheit des Getrennten darzulegen. Discordia, die Göttin der Zwietracht, ist am Ende die Verliererin in diesem Stück des wie Lully aus Italien stammenden Komponisten André Campra. Liselotte von der Pfalz berichtete ihrer Halbschwester von der Uraufführung: »Daß, so man jetzt spillt, ist zwar nur ein balet, aber recht artig. Es heißt L’Europe galante. Man erweist drin, wie die Frantzoßen, Spanier ittalliener undt turquen amour machen; der nationen humor ist aber so perfect drin observirt, daß es recht possirlich ist.« (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart – Bände 88-89 –, 1867, S."96 – Online version: Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, OC oLC , 874715984) Das zur gleichen Zeit entstandene, im munteren D-Dur einsetzende und mehrfach von Marc-Antoine Charpentier modifizierte Te Deum laudamus wurde 1954 auserkoren als Fanfare der Europäischen Rundfunkunion, später auch des Eurovision Song Contests und ebenso von der so beliebten Fernsehschau Spiel ohne Grenzen. Ähnliches hatte Rossini im Sinn, als er 1825 zum Amtsantritt des letzten königlichen Bourbonen die Opera buffa Il viaggio a Reims, ossia L’albergo del giglio d’oro (Die Reise nach Reims oder Das Hotel zur goldenen Lilie) fertigstellte. Darin erklangen programmatisch geradezu europäische Nationalmelodien, Hymnen und Stilformen  – ein von gut betuchten Badegästen ausströmendes internationales Flair, nochmals also eine Art europäischen Nationalitäten-Wettstreits. 13

Lange bevor nach der Jahrtausendwende am Frankfurter Willy-Brandt-Platz, vormals Theaterplatz, im Zuge der Währungseinführung als Symbol eines gemeinsamen Europa die 50 Tonnen schwere Euro-Skulptur installiert wurde und in der Silvesternacht erstmals ihre Leuchtdioden zum Pläsier der Schaulustigen aktivierte  – lange vorher also ging am 12. November 1987 das Bühnenhaus der Oper der Städtischen Bühnen durch einen nächtlichen Großbrand in Flammen auf. Unter den Betrachtern dieser vermaledeiten Havarie befand sich in den frühen Morgenstunden auch ein Amerikaner in Frankfurt, der im Overall erschienene Komponist John Cage. Wir waren damals mit der inszenatorischen Arbeit an seinem Werk Europeras 1!&!2, einer dem Zufallsprinzip anheimgestellten MusiktheaterCollage, beschäftigt. Cage wohnte in einem Appartement des Schauspiels. Dem Eisernen Vorhang allein war es zu verdanken, dass das Feuer nicht auf den Großen Saal übergriff. »Wie bei einer Lötlampe züngelten aber links und rechts die Flammen an dem rotglühenden Vorhang vorbei« (Focus, Montag, 18.#11.#2013) und erinnerten irgendwie an das Schlussbild der nicht lange zuvor nochmals wiederaufgenommenen Götterdämmerunginszenierung der Regisseurin Ruth Berghaus. Tags darauf entfachten noch glühende Requisiten im Farbenlager einen Folgebrand. Dabei wurde auch das Bühnenbild zu Glucks beiden IphigenieReformopern vernichtet, Werken, übrigens, die wie seine Azione teatrale per musica Orfeo ed Euridice die Opernwelt Europas einmal nachhaltig verändert hatten. Auf 100 Millionen Mark, später gut 50 Millionen Euro, belief sich der Schaden. »Ich bin fertig mit der Welt« erklärte der durch den ganz anderen Eisernen Vorhang der DDR geflüchtete, arbeitslos umherstreifende 26-jährige Brandstifter, der sich nach seiner Tat selbst bei der Polizei meldete und eine siebenjährige Gefängnishaft antreten musste. Er 14

wurde aber bereits 1992 entlassen und soll sich vergeblich als Bühnenarbeiter an der Theater-Doppelanlage beworben haben. Ich bewahre immer noch die Uraufführungskarte auf, auf der noch der Opernhaussaal-Platz angegeben war. Cages Idee war so revolutionär wie verzwickt. Heinz-Klaus Metzger, der von mir so verehrte Produktionsdramaturg, beschrieb die Unternehmung so: Cage habe zwei Opern intendiert, »in denen sich das Wesen der europäischsten aller traditionellen Theaterformen zur totalen Collage ihrer Quintessenz konstelliert und zugleich kritisch aufhebt«. (Heinz-Klaus Metzger, Europas Oper, Programm der Oper Frankfurt 1987, S."24$/25) Es war ein an jedem Aufführungsabend divergierendes Experiment mit unvorhersehbarem Ausgang, orientiert damals schon an dem Algorithmen-Muster computergestützter Zufallsoperationen. Gespielt wurde ohne musikalische Leitung. Jeder einzelne Instrumentalist hatte zur Orientierung seine eigene Uhr, seine eigene Zeit. Subjektiv empfundene Zeit und physikalisch objektive Zeit benötigten keine Gleichschaltung mehr. Die Arien wurden von den Solisten und Solistinnen jeweils frei gewählt und vermischten sich. Cages aleatorischer Zugriff war auch hier Voraussetzung, die Grundidee nämlich, dass jedes Ding autonom es selber ist, dass seine Relationen zu anderen Dingen sich vollständig natürlich ergeben, ohne jede aufoktroyierte Abstraktion vonseiten eines bestimmenden Künstlers. Niemals zuvor, niemals danach habe ich ob solch ungewohnter Freiheit ein nervöseres Ensemble in den Garderoben zu beruhigen versucht. Ein Gespenst ging herum in Europeras – es war das Gespenst der Freiheit.

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III . Sinneinheit

Noch bevor ich einige Aspekte der europäischsten aller Kunstgenres rhapsodisch und vielleicht selbst dem Zufallsprinzip unterworfen behandele, seien einige höchst unterschiedliche, vor allem kulturkritische Bewertungen des von uns Europa geheißenen Raums angeführt. Europa war dem großen, den Gedanken der Konservativen Revolution aber immer noch verpflichteten Literaturwissenschaftler Ernst Robert Curtius in seinem epochalen, 1948 erstmals erschienenen Buch Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter eine lang währende Sinneinheit eigenen Gepräges. Eine auf der Idee einer geistigen Internationale ruhenden Sinneinheit, die in der Moderne zur Disposition gestellt worden sei. Nicht zuletzt durch den Nationalismus, jene »törichte, verbrecherische Romantik«. (Ernst Robert Curtius, Die geistige Internationale, in: Die Böttcherstrasse, Bremen 1928, S."1) Auf ganz anderem Wege kam der im Jahre 1933 durch ein Nazi-Attentat in Marienbad ums Leben gekommene Theodor Lessing zu einer Sicht des modernen Europas. Sein Buch Europa und Asien – es sollte seiner hellsichtigen Prognosen wegen gerade heute wieder gelesen werden – unterstellte diesem Europa einen nur noch utilitaristischen, sinnentleerten, entwertenden Wesenszug: »Die Seele des Abendlandes – […] wo ist sie geblieben?« Lessing betrachtet die neuere europäische Geschichte als Zerfallsgeschichte, als fortschreitende Entsinnlichung, Vernüchterung und Entseelung. Was in Europa heute einzig zähle, sei »Sache, Ware, Werk und Wert«. Vergessen sei, »dass Homer und Aischylos gesungen haben, ehe Dampfmaschinen ratterten; dass Heraklit und Plato die Welträtsel lösten, ehe Eisenbahnzüge durch baumlose Menschenwüsten brausten; dass Shakespeares Hamlet und Goethes Faust, Beethovens Eroica und Mozarts 16

flöte erklungen sind, ehe drahtlose Telegraphie alle Märkte der Erde miteinander verband; dass Rembrandts Hundertguldenblatt und Leonardos Abendmahl gemalt wurden, lange bevor Rotationspressen Europas Kurse und Handelsbilanzen über die Völker spien« (Theodor Lessing, Europa und Asien oder Der Mensch und das Unwandelbare, Hannover 1923, S."23). Vorbei ist hier längst der Traum jenes Geistesraums, dessen utopisches Ziel als Erster Victor Hugo 1849 artikulierte, als er die Bezeichnung Vereinigte Staaten von Europa erfand. Aufschlussreich ist es, dem Europa-Begriff in den sich ablösenden Kultur-Codes, in den epochal geprägten Denkmustern in ihren verräterischen Mutationen nachzugehen. Im Brockhaus Conversations-Lexikon von 1809, der napoleonischen Ausgabe, wird lakonisch verkündet: »Europa, der kleinste, aber wichtigste Theil der Erde.« Das wird im gleichen Grundtenor auch in der Auflage von 1911 beibehalten, wobei aber nunmehr ein Gran eurozentristischer Kulturhybris sich eingeschlichen hat: »Europa, kleinster, aber durch Lage und Kultur wichtigster Erdteil der Alten Welt.« Überboten wurde dergleichen Hybris in Herders Conversations-Lexikon von 1854. Darin firmiert Europa als »der mächtigste und reichste Erdtheil, den andern zusammengenommen überlegen, u. die Zeit scheint bereits angebrochen zu sein, daß der ganze Erdball durch die Europäer einer höheren Bestimmung entgegengeführt werden soll«. Und eineinhalb Jahrhunderte später bilanzierte lakonisch der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf, Verfasser der viel gelesenen Betrachtungen über die Revolution in Europa und Mitglied der Europäischen Kommission: »Europa ist eine Kopfgeburt und die Regionen sprechen das Herz an.« 17

IV . Scheinbild

Genau wie das Musiktheater, dessen Entstehung aber von Anfang an ein europäisches Phänomen war. Die Oper ist eine Kunstform, die sich in der Neuzeit, insbesondere in der Moderne, über ganz Europa ausgebreitet hat. Und weit mehr noch. Inzwischen finden wir diese europäische Erfindung in allen Erdteilen dieses Planeten. Die Anchorage Opera in Alaska etwa wartet mit einem anspruchsvollen Programm und gutem Orchester, Chor und Ensemble auf. Mitten im brasilianischen Regenurwald, einst nur mit dem Schiff erreichbar, entstand mit dem Geld der Kautschukbarone die marmorne Oper von Manaus, die man zu Silvester 1896 bei 30 Grad Abendtemperatur mit der Uraufführung des melodramma in quattro atti La Gioconda von Amilcare Ponchielli eröffnete. Christoph Schlingensief, der auch von einem Opernhaus im afrikanischen Burkina Faso, ganz anders als das auf dem fränkischen Hügel, träumte, inszenierte 2007 in Manaus Richard Wagners Der Fliegende Holländer. Oder bzw. wiederum ganz anders Omans steinreicher Sultan Qabus ibn Said al Said – er schenkte für geschätzte zwei Milliarden seinen Untertanen ein Luxusopernhaus inmitten der Wüste, ein Solitär auf der arabischen Halbinsel. Europas originäre Kunstform ist längst so global geworden wie die traurigen Gründe, die mit den globalen Ausbrüchen von Pandemiewellen wiederholt zur Schließung nahezu aller Häuser führten. Gespannt dürfen wir die erste Traviata-Inszenierung erwarten, deren Figuren mit freilich durchlässigem Mundschutz die Bühne betreten. Bleiben wir auf unserem zur Zeit extrem disparaten Subkontinent. Dass die Oper ihrem Wesen und ihrer Intention nach nicht als Spiegel des Realen zu sehen sei, vielmehr dem 18

Überwirklichen, wenn nicht gar  – im sublimen Sinne  – dem Unsinnigen zuzurechnen sei, ist ein alter und zäher Gemeinplatz. Busonis Wort, wonach Musik nicht sichtbare Vorkommnisse beschreiben solle, sondern »menschliche Erregungen aus der Tiefe hebt«, um »sie den Sinnen zuzuführen«, fußt hierauf. Besagter Gemeinplatz hat auch durch die sogenannte Historische Oper, sodann den veristisch-naturalistischen Zugriff und noch die sogenannte Zeitoper etwa des vorigen Jahrhunderts vom Schlage Kurt Weills oder Ernst Kreneks oder die politische Oper von John Adams jene topologische Dignität nicht eingebüßt. Die idealistische Metaphysik des Schönen, die das Ästhetische als »das sinnliche Scheinen der Idee« und das übersinnliche »Innere der Dinge der Dinge« zentriert, wirkt noch nach in Theodor W. Adornos Wort aus dem musiksoziologischen Kapitel seiner Klangfiguren, wonach »alle Oper Orpheus sei«. Gemeint war damit die Herrschaft des Scheins, die ihren Tribut von allen in ihr versammelten Einzelkünsten einfordert und dies auch da noch, wenn der Stoff sich gleichsam neu-sachlich dem sozialen Dasein der Menschen zuwendet. Nehmen wir als Beispiel dafür Il Tabarro von Puccini, Bergs Wozzeck, Brittens Peter Grimes, Porgy and Bess von Gershwin, Die griechische Passion von Martinu oder noch die 2015 uraufgeführte, gegen Rassismus sich wendende Oper The Ice Break von Michael Tippett. Auch die noch am radikalsten sich präsentierende, jeglichem Verklärungsantrieb widerstehende, aufs pure Sachliche sich ausrichtende Intentionalität entgeht, sobald sie durch Klang und Ton zum Ausdruck gebracht werden soll, dem transzendierenden Illusionismus nicht. Der Oper hat das bereits im rationalistischen Zeitalter den Vorwurf des theatralischen Unfugs eingebracht. Und noch Edgar Degas spitzte das zu, als er behauptete, in der Oper sei ausnahmslos alles falsch: »Das Licht, die De19 https://doi.org/10.5771/9783835349179

korationen, die Frisuren der Balletteusen, ihre Büsten und ihr Lächeln.« Wahr seien da am Ende »nur die Wirkungen, die davon ausgehen«. Derlei notwendig wirkungsästhetische Ausrichtung reflektiert sich notwendig auch in der Wahrnehmung der hörend Zuschauenden. Franz Liszt formulierte nicht ohne arrogante Grundierung: »Die Menge liebt nur ein Scheinbild der Gefahr zu schauen, ein Scheinbild der Leidenschaft, ihr genügt ein Scheinbild des Leides, sie giebt sich auch mit einem Scheinbild der Freude zufrieden.« (Franz Liszt, Gesammelte Schriften, Bd."3, Leipzig 1881-99, S."7) Freilich auch einem Scheinbild der realen Not, die sich im Kunsthusten der Violettas und Mimis erhöht wiederfindet. Jene von Thomas Mann am Beispiel der Schlussszene von Verdis Aida im Zauberberg betrachtete »fliegende Idealität der Musik«, ihre hohe und »unwiderlegliche Beschönigung, die sie der gemeinen Grässlichkeit der wirklichen Dinge angedeihen« (Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt 1966, S."592) lässt. Hierauf eben hat auf dem Höhepunkt der Frühromantik zum selben Zeitpunkt, da der Opernenthusiast Novalis schrieb, dass der Künstler auf dem Menschen stehe wie die Statue auf dem Piedestal, bereits der Poet und Musikästhetiker Wilhelm Heinrich Wackenroder aufmerksam gemacht: »dass tausend Wesen erbarmungswürdig um Hülfe schreien! – – Und mitten in diesem Getümmel bleib’ ich ruhig sitzen, wie ein Kind auf seinem Kinderstuhle, und blase Tonstücke wie Seifenblasen in die Luft« (Wilhelm Wackenroder: Phantasien über die Kunst, Kapitel 18, in: Werke und Briefe. Heidelberg 1967, S."231). Oskar Bie, dessen Standardwerk Die Oper, erschienen im letzten Jahr vor dem 1. Weltkrieg, unverzichtbar auch noch heute zum produktiven Streit auffordernde 20

tigkeit besitzt und nicht zuletzt dadurch brilliert, dass es die ganze Vielfalt europäischen Opernschaffens in der Gegenüberstellung der je nationalen Eigentümlichkeiten betrachtet, ist das berühmte Wort von der Oper als unmöglichem Kunstwerk zu verdanken. Die Genealogie dieser Kunstform erblickte er in dem gleichsam produktiven Missverständnis einer beabsichtigten Nachahmung der antiken Tragödie. Die daraus entstehende Aporie ist zuvor von Richard Wagner in der Schrift Oper und Drama als »Irrtum« festgehalten worden: der Irrtum nämlich, dass in der Oper »ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war«. Bei Bie gerät diese Einsicht zur Erklärung eben der Stärke einer Kunst, deren seltsames Mischwesen in der »Paradoxie« einer Vereinigung verschiedener Einzelkünste gerade ihre unverwechselbare Größe gewinnt. Als exponiertes Beispiel solcher paradoxer Gelungenheit führt Bie den ältesten Diskurs an, der die Operngeschichte flankiert. Prima la musica dopo le parole oder prima le parole dopo la musica – oder ganz demokratisch: l’equilibrio dei poteri, das Gleichgewicht der Kräfte. Ein Diskurs, der sich von Claudio Monteverdi bis zu Olga Neuwirth perpetuiert hat und dessen äußerst aufschlussreiche Verlaufsdramaturgie  – mit dem Blick auf die großen Librettisten Rinuccini, Metastasio, Da Ponte, Wagner, Boito, Hofmannsthal, W.#H.##Auden, Ingeborg Bachmann oder Hans-Ulrich Treichel und Händl Klaus – den Rahmen dieses Vortrages entschieden sprengen würde. Nochmals zum Begriff der unmöglichen Kunstform: Die operndramaturgische Unabdingbarkeit, dass zwischen musikalischer Dauer und Geschwindigkeit einerseits und dem Zeitmaß des szenischen Geschehens eine wie immer auch konzessionsbestimmte Relation hergestellt werden muss, dass das dramatische Zeitmaß nicht kongruent mit 21

dem in der Partitur vorgegebenen Zeitmaß korreliert, dass eine damit durchaus vergleichbare Inkongruenz zwischen gesprochenem und gesungenem Wort besteht, ebenso die Differenz von Handlungsgestik und Musikakzent  – diese Unabdingbarkeit also verweist per se die Opernästhetik in den Bereich des Illusionistischen. Bruno Walter führt als Beispiel solcher Inkongruenzen Verdis Trovatore an, »wo wohl noch niemand je dagegen protestiert hat, dass Manrico erst eine Stretta singen, ja gelegentlich sogar wiederholen muß, bevor er davon eilt, um seine Mutter vor der wütenden Menge zu retten, die sie zum flammenden Holzstoß schleppt« (Bruno Walter, Von der Musik und vom Musizieren, Frankfurt 1986, S."190).

V. Sprache Festzuhalten an Oskar Bies breit entfalteten Betrachtungen ist für unser Thema sein Verweis auf die durchaus fruchtbare Durchdringung von spezifisch linguanationalem Ausdruck und grenzüberschreitender Tonmacht. Die Musik, so Bie, sei international, die Sprache national. Wie vertrage sich das? »Die Sprache«, so Bie, »trennt die Völker mehr als ihre Rasse, die Musik vereinigt sie mehr als alle Verkehrsmittel. Das Musikdrama ist in einer bestimmten Sprache geschrieben, deren allgemeine Verständlichkeit nicht über die Grenzen des Landes hinausreicht, deren Atmosphäre und Klima dem Lande eigen ist, deren Verhältnis zur Musik im Gesange ein verschiedenes wird sein müssen.« (Oskar Bie, Die Oper, München 1988, S."32) Der Musik aber, so lautet das verbreitete emphatische Unisono auch hier, gelingt der Ausgleich des Heterogenen, jener Einklang aus Goethes Faust, der »aus dem Busen dringt, / Und in sein Herz die Welt zurücke schlingt«. 22

Vielleicht aber lauert hinter solchem transitorischuniversalistischen Einklang auch eine nachgerade infernalische Macht der puren Töne zur Nivellierung jeglichen Weltethos. Eine Macht, die Thomas Mann mit der Formel »Die Musik ist dämonisches Gebiet« intendierte und damit auch jene Kollektivmacht der Amoralität, die Slavoj Žižek aufs Äußerste umriss: »Wir können uns also ohne Weiteres eine fiktive Aufführung von Beethovens Ode an die Freude vorstellen, bei der von Hitler bis Stalin, von Bush bis Saddam alle eingeschworenen Widersacher ihre Feindschaft vergessen und an demselben magischen Augenblick ekstatischer Brüderlichkeit teilhaben.« (Slavoj Žižek, Auf verlorenem Posten, Berlin 2012, S."###) Solchem dunklen Unterton der Verderbtheit indessen kontrastiert die Aufgeschlossenheit so vieler Tonkünstler und Tonkünstlerinnen. Kaum ist, was den europäischen, kosmopolitischen Aspekt betrifft, verwunderlich, dass seit der europäischen Expansion des in Norditalien entstandenen Genres der Kosmopolitismus so vieler seiner Repräsentanten auf den Plan tritt. Darunter berühmte Namen. Georg Friedrich Händel, Christoph Willibald Gluck, Wolfgang Amadeus Mozart, Carl Maria von Weber, Giuseppe Verdi: Sie waren allesamt solche Weltbürger. Delius’, Varèses oder Strawinskys transitorische Künstlerexistenzen geraten nach 1900 in den Sinn. Ganz zu schweigen von den politischen Hintergründen zum Wechsel der Schaffensräume, die Notwendigkeit, öfter die Länder als die Schuhe zu wechseln, so wie bei Milhaud, Eisler oder Hindemith. In Zeiten der hyperkulturellen globalen Erosion von Grenzen und Umzäunungen finden wir unablässig vagierende Weltbürgerinnen und Weltbürger wie – um nur einige zu nennen – Hans Werner Henze, Adriana Hölszky, Luciano Berio oder in unserer Gegenwart Vivienne Olive, Matthias Pintscher, Meredith Monk, Georg 23

Friedrich Haas, Judith Weir, Olga Neuwirth und Moritz Eggert. Wir sehen gerade vor dem Horizont des so bewegten 20.  Jahrhunderts vielfach den Wandel von chauvinistischen zu weltbürgerlichen Gesinnungen und Wertmustern. Ein Beispiel hierfür ist der Hauptvertreter der ausgerufenen Emanzipation der Dissonanz, Arnold Schönberg selbst. In einem Brief an Alma Mahler aus dem Sommer 1914 lesen wir: »ich konnte nie etwas anfangen mit aller ausländischen Musik. Mir kam sie immer schal, leer, widerlich süßlich, verlogen und ungekonnt vor … Ich wunderte mich, dass nicht alle so empfinden wie ich. Diese Musik war längst eine Kriegserklärung, ein Überfall auf Deutschland … Aber jetzt kommt die Abrechnung! Sie sollen den deutschen Geist verehren und den deutschen Gott anbeten lernen.« (Brief an Alma Mahler, 28.#8.#1914, Schönberg Center) Derselbe Komponist schreibt Jahre später über seinen Freund George Gershwin: »George Gershwin was one of these rare kind of musicians to whom music is not a matter of more or less ability. Music, to him, was the air he breathed, the food which nourished him, the drink that refreshed him. Music was what made him feel and music was the feeling he expressed. Directness of this kind is given only to great men. And there is no doubt that he was a great composer. What he has achieved was not only to the benefit of a national American music but also a contribution to the music of the whole world.« (Schönberg Center  – Deutsche Übs.: »George Gershwin war einer jener seltenen Musiker, für die Musik nicht ein Produkt mehr oder weniger großer Geschicklichkeit ist. Musik war für ihn die Luft, die er atmete, die Speise, die ihn nährte, der Trank, der ihn erfrischte. Musik war das, was sein Gefühl erweckte, und Musik war das Gefühl, das er ausdrückte. 24

Unmittelbarkeit dieser Art ist nur großen Männern zu eigen, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er ein großer Komponist war. Was er vollbrachte, kam nicht nur der amerikanischen Musik zugute, sondern es war ein Beitrag zur Musik der ganzen Welt.«)

VI . Kunstreligion

Noch kurz vor Anbruch des 19.  Jahrhunderts verfasste Novalis seine Fragment gebliebene Schrift Die Christenheit oder Europa. Sie begann mit den berühmt gewordenen Worten: »Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.« (Novalis, Werke und Briefe, München 1968, S."389#ff.) Die politischen Zeichen der Zeit, in der die alte und neue Welt im Kampf begriffen sei, stellen sich für Novalis günstig dar, wobei er auch des historischen Zwecks des Krieges als assistierendes Mittel der Veränderung begreift. Bezeichnenderweise ist es die Macht der Musik, die das neue Vergangene, wohl im Sinne einer restaurativen Utopie, zu revitalisieren vermag: »Es wird so lange Blut über Europa strömen bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen, und ein großes Liebesmahl, als Friedensfest, auf den rauchenden Wahlstätten mit heißen Thränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installiren.« (Ebd.) 25

Acht Jahrzehnte später, zur Zeit seiner Arbeit am Parsifal, dessen in den nördlichen Gebirgen des gotischen Spanien gelegener Schauplatz die Trennungslinie von christlichem Norden und arabischem Süden bezeichnet, eröffnete Richard Wagner in der Villa Angri auf dem Posilippo in Neapel seine Regenerationsschrift Religion und Kunst mit jenen berühmt gewordenen Worten, die gleichfalls der Musik die revitalisierende Transformation zuweisen: »Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche sie im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen. (….) Als alles sagende, tönende Seele der christlichen Religion, hinterließ uns die christliche Kirche als edelstes Erbe die Musik, die der erlösungsbedürftigen Menschheit eine neue Sprache lehrte, in der das Schrankenloseste sich nun mit unmissverständlichster Bestimmtheit aussprechen konnte.« (Richard Wagner, Religion und Kunst, Neue Text-Ausgabe, NTA , in 12 Bänden, Bd."11, Frankfurt$/$Halle 2013, S."205#ff.) Kunstreligion als Ablösung einer als Abschluss der europäischen Verfallsgeschichte begriffenen Erlösungsinstanz? Nur zwei Jahre später bereits wird dieses urromantische Projekt infrage gestellt durch die Adaption obskurer biologistischer Theorien, die den Komponisten sogar dazu bewogen, dem Mythos von einem arischen Jesus Glauben zu schenken. Wenn die »Prophezeiung, dass in zehn Jahren Europa von asiatischen Horden überschwemmt und unsere ganze Zivilisation nebst Kultur zerstört werden möchte in Erfüllung gehen«, dann – so Wagner nunmehr – würde er mit keinem Auge zucken, da er »annehmen dürfte, dass dabei vor allen Dingen auch unser Musiktreiben zu 26

de gehen würde«. (Richard Wagner, Offenes Schreiben an Herrn Friedrich Schön in Worms, 16.#6.#1882, Neue TextAusgabe, NTA , in 12 Bänden, Bd."11, Frankfurt$/$Halle 2013, S."306#ff.) Der romantische Traum von einem neuen alten Europa, dem Wagner einst in der Revolutionszeit Ausdruck verliehen hatte – »Wie ein ungeheurer Vulkan erscheint uns Europa, aus dessen Innerem ein beständig wachsendes, beängstigendes Gebrause ertönt […] Eine übernatürliche Kraft scheint unsern Welttheil erfassen« (Richard Wagner, Die Revolution, Neue Text-Ausgabe, NTA , in 12  Bänden, Bd."4, Frankfurt$/$Halle 2013, S."336#ff.) – scheint hier ausgeträumt. Ebenso das einstmals den griechischen Ursprung noch betonende Bild von der Geburt der Musik aus dem Geiste der griechischen Tragödie, das sein nunmehriger Gegner Nietzsche nicht zuletzt als Analogie zu einer tiefgreifenden ästhetischen Neubesinnung in der Gegenwart konzipiert hatte. Wir können, so auch Wagners einstige Überzeugung, »bei einigem Nachdenken in unserer Kunst keinen Schritt thun, ohne auf den Zusammenhang derselben mit der Kunst der Griechen zu treffen. In Wahrheit ist unsere moderne Kunst nur ein Glied in der Kette der Kunstentwickelung des gesammten Europa, und diese nimmt ihren Ausgang von den Griechen.« (Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, 1849, Neue TextAusgabe, NTA , in 12 Bänden, Bd."4, Frankfurt$/$Halle 2013, S."345#ff.)

VI . Gesamtkunstwerk

Die Oper: Über keine in Europa geborene Kunstform ist ärger gestritten worden. Der Grund dafür liegt schlicht in 27

ihrer Eigenschaft als jene Zusammenwirkung der Einzelkünste, die man dann gerne unter den Begriff des Gesamtkunstwerkes rückte; ein Ausdruck, der dann vor allem auf Richard Wagners Ästhetik angewandt wurde, obgleich der Komponist selbst ihn nur wenige Male und keineswegs an exponierter Stelle gebrauchte. Das musikdramatische Gesamtkunstwerk als die Autonomie der einzelnen Künste absorbierender Moloch. Gnädiger formuliert: als artifizielles Pendant zu den geschlossenen philosophischen Identitätssystemen einer Epoche der europäischen Turbulenzen und seiner radikalen Neuordnungen der Staaten. Die philosophische Epistemologie des Jahrhunderts verbindet beständig Europa mit seiner griechischen Herkunft. Schelling erwartete »eine vollständige Versöhnung aller europäischen Völker und wieder eine gemeinschaftliche Beziehung auf den Orient« als Aufgabe des – nicht nur ein Hegel’scher Begriff  – »Weltgeistes« (Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling an Karl Joseph Hieronymus Windischmann, 1.#12.#1806, zit. n. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling; Gustav Leopold Plitt Aus Schellings Leben in Briefen, Leipzig 1869, Nachdruck Hildesheim$/$New York 2003, S."108). Hegel, der auch Nordafrika bis zum Ende der Sandwüste und ganz Vorderasien dem Charakter nach »als Europa gehörig« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden mit Registerband, Bd."10, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Frankfurt 1986, S."85) war überzeugt vom Phänomen der europäischen Zivilisation als griechische Erfindung, ein gemeinsames kulturelles Erbe, entstanden aus dem Geist der Polis. Zuletzt ist wohl auch Marx hinzuzurechnen mitsamt seinem in Europa umhergehenden Gespenst. Friedrich Nietzsche war zunächst Anhänger, dann – in seiner Analytik der ästhetischen decadence bekanntlich ein scharfsinniger Gegner des Komponisten. Als dessen 28

»ironische Antithese«, als »Gegensatz zum Polypen in der Musik« führte er nunmehr die bewunderte Musik Georges Bizets ins Feld: sie »ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht« –

VII . Verfallsgeschichte

In Nietzsches nicht zuletzt unter dem Eindruck Wagners verfasster, diesem gewidmeter und vom Komponisten selbst bewunderter Frühschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) diagnostizierte der Philosoph  – die Analogie zur eigenen Gegenwart nicht verhehlend  – eine Verfallsgeschichte. Die Verfallsgeschichte des archaischen Tragischen. Die vom sokratischen Geist der Theorie und ihrer theatralen Entsprechung im Werk des Euripides heimgesuchte Tragödie, gleichsam durch die Blässe des Gedankens um die Kraft ihres ursprünglichen dionysischen Urprinzips gebracht, darunter die »erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und die unvergleichliche Welt der Harmonie«, gilt es neu zu erringen. Dies sei nur möglich durch eine Wiedergeburt jener Kraft, die die Tragödie allererst zu erzeugen vermochte. Die »heraklesmäßige Kraft der Musik: als welche, in der Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpretieren weiß« (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik oder Griechentum und Pessimismus, Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, Bd."1, München 1966, S."63). Den schärfsten Ausdruck des Verfalls des Dionysischen, in einer sokratisch, sinnesfremd, alexandrinisch gewordenen Kultur erblickte Nietzsche in der Oper, genauer: dem von der Florentiner camerata zu Beginn des Barockzeitalters geborenen dramma per musica mit seinem stilo 29

vo und dem Rezitativ. Nietzsche fragt: »Ist es glaublich, daß diese gänzlich veräußerlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleichsam als die Wiedergeburt aller wahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaussprechbar erhabene und heilige Musik Palestrinas erhoben hatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige Üppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende Lust an der Oper verantwortlich machen? Daß in derselben Zeit, ja in demselben Volke neben dem Gewölbebau Palestrinascher Harmonien, an dem das gesamte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusikalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer im Wesen des Rezitativs mitwirkenden außerkünstlerischen Tendenz zu erklären.« (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik oder Griechentum und Pessimismus, Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, Bd."1, München 1966, S."103) Dagegen sei der neue Opernstil mit seiner kruden Vermischung des epischen und des lyrischen Vortrags ein falscher Weg, das verlorene Mythische mit seinem musikalischen Protagonisten Orpheus wiederauferstehen zu lassen. Fazit: »Die Oper ist die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Künstlers: eine der befremdlichsten Tatsachen in der Geschichte aller Künste.« Wer die Tonmalerei als Magd des Wortes in solcher parasitären, degenerierten Form von ihrer eigentlichen Bestimmung, wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, entfremde, sei der »kunstohnmächtige«, der »unkünstlerische Mensch« an sich. (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik oder Griechentum und Pessimismus, Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, Bd."1, München 1966, S."105) 30

Hier, an der die gesamte Geschichte des europäischen Musiktheaters flankierenden Aporetik des Verhältnisses von Wort und Ton, knüpft Nietzsche an, um eine programmatische Ästhetik des Neuanfangs aus dem ursprünglichen Geist der Tragödie zu entwerfen. Seinem Idol Wagner und dessen eigenen Ideen einer deutschen Tonkunst korrespondierend, formuliert der nach dem Abfall von diesem Idol sich zum Europäer und Apologeten eines theatrum mundi wandelnde Philosoph sein Desiderat: »Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Übermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben […] Und wann brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr als jetzt, wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erleben und in Gefahr sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu können, wohin sie will?«

VII . Ursprung

Der Ursprung des okzitanischen Musiktheaters  – hier stimmen Wagner und Nietzsche zu Recht überein – ist in Hellas zu suchen. So auch die ursprüngliche, vom Chor bewerkstelligte Verbindung von Rhythmus, prosodischer Sprache, Melos und Tanz. Musik war unabdingbar der Sprache verbunden, besaß – ganz anders als in der späteren abendländischen Auffassung – keine ästhetische Autonomie, eine Sicht, die erst mit Aristoteles’ Auflösung dieser 31

Verbindung ihr Ende fand. Mit den Worten Thrasybulos Georgiades’, dessen nach wie vor unübertroffene Studien zum Ursprung der europäischen Musik diese nachdrücklich als Erzeugnis von einem Totalen des menschlichen Sprachvermögens auswies. »Musik als umfassende […] Erscheinung« ist nichts anderes als »eine Seite« des Sprachvermögens. (Vgl. Thrasybulos Georgiades, Musik und Rhythmus bei den Griechen: Zum Ursprung der abendländischen Musik. Hamburg 1958, S 7) Nach Platon entstand das Singen, um Zwist und Aggression durch Harmonie zu beschwichtigen, den Zusammenhalt einer Gemeinschaft des harmonischen Ausgleichs zu befördern. Ganz ähnlich die pythagoreische, noch von Arnold Schönberg neu reflektierte Imagination eines Einklangs der Himmelkörper, in welchen eine ideale Struktur der Beziehung der Töne untereinander eine Sphärenharmonie generiert, deren für uns Sterbliche freilich unhörbare Musik die Ordnung des Kosmos verbürgt. Eine schöne Idee, erinnernd an jene moderne sozialphilosophische Debatte um eine ideale Diskurs- und Kommunikationsgemeinschaft. Leider kann ein solches Ideal kaum appliziert werden auf den bisweilen recht neurasthenischen Betriebscharakter der aus verschiedenen Einzelkünsten zusammengefügten, durchaus heterogenen Wirklichkeit der Oper, jener abendländischen Allkunstform, die freilich den Gesang, den der Einzelstimme so gut wie den des Chores, zum Zentrum erhoben hat. Die Compositeurs und Librettistes haben genau dies beizeiten erkannt und als lustigen Stoff gestaltet. Mozarts Schauspieldirektor etwa machte jenen fortwährenden Divenstreit mitsamt der Gagenüberbietungshysterie zum Thema, der die Geschichte der Gesangsbühne bis zum heutigen Tag begleitet. Faustina Bordoni und Francesca Cuzzoni bekämpften sich 1727 32

sogar auf der offenen Bühne während einer Aufführung von Giovanni Battista Bononcinis Astianatte am Londoner King’s Theatre. Und Georg Friedrich Händel soll  – gänzlich aufgebracht – die Cuzzoni, die sich weigerte, die für eine andere Sopranistin gedachte Arie zu singen, an der Taille zum Fenster herausgehalten und dabei ausgerufen habe: Er wisse sehr wohl, dass sie den Geist eines Teufels in sich trage. Aber er gedenke ihr schon zu zeigen, dass er höchstselbst der Beelzebub, der König der Teufel sei. Die bis zu Handgreiflichkeiten führenden Attacken der beiden ränkesüchtigen Primadonnen Anna de Serre und Giuseppina Ronzi di Begnis in der Fotheringhay-Szene von Donizettis Maria Stuarda und noch der furios ausgetragene Scala-Streit Maria Callas contra Renata Tebaldi mögen dafür als Beispiele angeführt sein. Ganz zu schweigen von jener allerorts anzutreffenden Mixtur aus Eitelkeit, Größenwahn und Menschenverachtung, wie sie so oft im Intendantenwesen anzutreffen ist, worin die einstige Adelswillkür mutiert ist zur bourgeoisen Selbstherrlichkeit. Richard Wagner, der gängigen Intrigen- und Verleumdungspraxis selbst nicht eben fernstehend, war gegen Ende seines Lebens nachgerade degoutiert vom Rampendasein: »Ach, es graut mir vor allem Kostüm- und Schminkwesen – und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden! […] – Und das unhörbare Orchester« (Cosima Wagner: Die Tagebücher, Gesamtausgabe in zwei Bänden. Band II . 1878-1883, München$/ Zürich 1977, S."181). Beim Nachdenken über die Entstehung der italienischen, bald aber europäischen Oper zu Beginn des Barockzeitalters, fallen sofort die nicht selten gravierenden Unterschiede zu anderen theatralen Welten ins Auge. Weit abgelegene, aber damals schon keineswegs mehr gänzlich unbekannte Welten. Darunter traditionsreiche, teils weit 33

über ein Jahrtausend zuvor entstandene Formen performativen Musiktheaters. Man denke an das erst im 20. Jahrhundert von der europäischen Oper, auch vom europäischen Film entdeckte und fruchtbar anverwandelte ostasiatische Theater, die höchst artifiziellen Kabuki- und Nō-Spiele, die bis in die Tang-Dynastie zurückzudatierende Chinesische Oper, das sehr unterhaltsame indonesische Wayang Kulit und Wayang Golek Schatten- und Stabpuppenspiel und nicht zuletzt das indische Sanskrit- und Tempeltheater Kutiyattam. Die europäische Oper übernahm  – ein kulturimperialistisches Syndrom  – bis zur beginnenden Moderne davon nichts. Sie berief sich von Anfang an auf das griechische Erbe, die griechische Tragödie, die ihr als Modell wesenhafter Kohärenz aller Darstellungsformen galt. Auch hierzu sei ein Wort Wagners angeführt: »Nicht in den üppigen Tropenländern, nicht in dem wohllüstigen Blumenlande Indien ward daher die wahre Kunst geboren, sondern an den nackten, meerumspülten Felsengestaden von Hellas, auf dem steinigen Boden und unter dem dürftigen Schatten des Ölbaumes von Attika stand ihre Wiege: – denn hier litt und kämpfte unter Entbehrungen Herakles – hier ward der wahre Mensch erst geboren.« (Richard Wagner, Kunst und Klima, Neue Text-Ausgabe, NTA , in 12 Bänden, Bd."5, Frankfurt$/$Halle 2013, S."162) Eine sehr kühne, gar eurozentrische Behauptung! In Urzeiten der Menschwerdung gab es jedenfalls die erwähnte ästhetische Diversität des Spielens noch nicht. Der »wahre Mensch«  – und damit ist nur der Sapiens gemeint – ging einen langen Weg durch die Evolutionsgeschichte, bis er an die Gestade Hellas gelangte. Die vox humana bildete sich beim homo erectus, als parallel zum Anwachsen des Gehirnvolumens durch den aufrechten Gang der Kehlkopf mit seinem aus den beiden Stimmbändern bestehenden Stimmorgan vor allem das Zungenbein sich 34

senkte und eine komplexe Vokalisationbreite sich herausbildete. Ebenso das harmonische Austarieren, die Balance von rechts und links beim Gehen auf zwei Beinen, dazu wohl auch der hierbei wahrgenommene Rhythmus sowie die Wahrnehmung der damit verbundenen Temposchwankungen. Allesamt musikalische Parameter. Sprechen und Singen haben eine gemeinsame Wurzel. Jean-Jacques Rousseau, Philosoph und Opernkomponist, vertrat die Theorie, dass am Anfang der menschlichen Sprache Naturlaute und emotive Interjektionen stehen. Auch Johann Gottfried Herders 1771 fertiggestellte stupende Spekulationen über die Fortentwicklung unseres Lautvermögens aus der onomatopoetischen Intention, die tönende, handelnde, sich regende Außenwelt zunächst in der Artikulation der Interjektionen nachzuahmen, gingen vom gemeinsamen biogenetischen Ursprung einer »Natursprache aller Geschöpfe« und »innerhalb der natürlichen Tonleiter der menschlichen Stimme!« aus. (J.#G.##Herder, Werke in 5 Bänden, Über den Ursprung der Sprache, Bd."2, Berlin$/$Weimar 1982, S."132#ff.) Die erste Sprache des menschlichen Geschlechts sei ein Gesang gewesen, der sich freilich bald befreit habe vom bloßen Mimetischen. »War also die erste Menschensprache Gesang, so wars Gesang, der ihm so natürlich, seinen Organen und Naturtrieben so angemessen war als der Nachtigallengesang ihr selbst, die gleichsam eine schwebende Lunge ist, und das war – eben unsre tönende Sprache.« Vom göttlichen Ursprung, vom Wort als Anfang aller Dinge, diesem »versteckten, feinen Unsinn!«, war hier nicht mehr die Rede. Und Herder griff, um dies humoristisch zu flankieren, zum Paradigma des damals schon oft belächelten Opernbetriebes: »Führet keinen Merkur und Apollo als Opernmaschinen von den Wolken herunter  – die ganze vieltönige, göttliche Natur ist Sprachlehrerin und Muse!« Eine Muse, die in der 35

lutionsgeschichte unser eigenes darin angewachsenes Gehirn generiert hat: »: Der Mensch erfand sich selbst Sprache! – aus Tönen lebender Natur! – zu Merkmalen seines herrschenden Verstandes! – Und das ist, was ich beweise.« (J.#G.##Herder, Werke in 5 Bänden, Über den Ursprung der Sprache, Bd."2, Berlin$/$Weimar 1982, S."128#ff.) Neuronale Forschungen, Paläolinguistik, verschiedene Naturlaut- und Nachahmungstheorien gehen – auch wenn sie sich in der monogenetischen oder polygenetischen Ausrichtung unterscheiden, in ihren Annahmen von einer die Objektwelt sich im Laut anverwandelnden Sprachausdrucksimpuls aus. Oft ist inzwischen von einer in Afrika verorteten Proto-Sapiens-Sprache, vor gut 50#000 Jahren entstanden, die Rede. Dass die neuronalen Grundlagen von Musik und Sprache kaum divergent sich verhalten, ist erst in jüngster Zeit zustimmend erörtert worden. Die Vorstellung einer Diversität unterschiedlicher Ursprachen schließt ja den onomatopoetischen Entstehungszusammenhang von Sprache keineswegs aus. Herder erblickte in solcher Nachahmung überhaupt die Basis auch aller Künste des Menschengeschlechts. Er konnte sich auf Platons Idee aus dem Kratylos berufen, wonach die Sprache tonmalerisch-imitatorischen Ursprungs ist. Sprache, jenes die Dinge mit einem Laut okkupierende und genuin kommunikativ wirkende Verfahren, offenbart von Anfang an das Mal des Mimetischen und verbindet sich mit und über das Mimetische mit dem Spiel, unzweifelhaft einer Grundkategorie menschlichen Verhaltens. Ob es sich bei menschlicher Protosprache um Gesänge handelte, ob  – so Herder  – zu vermuten sei, wie sehr Poesie und Musik von solchen uralten »Naturtönen […] belebet« wurden. Demgemäß folgte bald schon die Vorstellung einer Entstehungskoinzidenz von Wort und Ton, Sprache und Musik. Die gegenwärtige Neuropsychologie unterstreicht diesen 36

Zusammenhang bis in die Affinität von Hirn-Areal-Reaktionen und verweist auf die Übereinstimmung von musikalischer und sprachlicher Melosbildung als kleinstem gemeinsamen evolutionsgeschichtlichen Nenner. Holistische Sprachgenesetheorien gewinnen überhaupt immer mehr an Überzeugungskraft. Dass eine sich aus verschiedenen Lautäußerungen mit jeweils komplexer Bedeutung zusammengesetzte Ursprache einen originär musikalischen Ausdruck aufgewiesen hat, dass Sprache und Musik als primäre Kommunikationsformen einem gemeinsamen Ausgangssystem folgen, hat in der brillanten Studie The singing Neanderthals unlängst Steve Mithen zu verifizieren beabsichtigt. –

VIII . Mythos

Liebeskummer, eine wohl archaische Erbschaft, begleitet als stoff- und motivgeschichtliches Interesse die Fabulistik vom Ursprung der Tonkunst. Die mythologischen Berichte darüber sind allesamt europäischen Ursprungs. Das wissen noch die, die das lange vor der Heraufkunft des analytischen Logos herrschende und uralt Mythische Millenien später neu entdeckten. »Ihr die ihr höret, wie mancher Sturmwind wehet, durch Seufzen ohne Zahl in meinen Reimen«. Solche kummervollen Worte vernehmen wir  – ein Beispiel nur  – aus Petrarcas Herzeleidpoesie, all seinen tränendurchtränkten Klagesonetten über Laura. Ununterbrochene Lamenti amorosi, die uns von Orlando di Lassos Canzon, se l’esser meco bis zu Wilhelm Killmayers Perch’ al viso d’Amor gleichsam als cantus firmus der abendländischen storia della musica begleiten. Noch Schuberts Liedzykluspoet, der Hofrat Wilhelm Müller, gerne auch schlicht nur der Griechen-Müller genannt, griff in der 37

Winterreise die uralte äolische Metaphorik auf, beraunte den mit dem Herzen spielenden Wind, beklagte die durch die heiteren Lüfte ziehende trübe Wolke. »Mich schüttelt der Liebesgott wie im Gebirge der Wind« – so steht es, den noch viel älteren Topos erinnernd, bei der den äolischen Dialekt kultivierenden Dichterin Sappho. Sie floh am Ende ihres Lebens von einer europäischen Außengrenze zu einer anderen, von Lesbos, von wo wir heute aus Moria die grausamsten Berichte erhalten, nach dem sizilianischen Syrákusai, dort also, wohin gleichfalls heute, zu Beginn der zwanziger Jahre, eine Migrationsroute zur Erreichung der Festung Europa führt. Von der gleichsam äolischen Geburt der Musik besitzen wir die mythopoetische Darstellung aus den Metamorphosen des Publius Ovidius Naso, einer nur mit der Ilias oder der Aeneis zu vergleichenden europäischen Weltdichtung. Der griechische Gott Pan, ein göttliches Mischwesen aus Mensch und Widder, erfindet die Panflöte aus unerfülltem Liebessehnen, dem Erotikos kaimós (ερωτικός καημός), oder der aegritudo amoris. Er gebiert den Kosmos der Töne. In Benjamin Brittens erstem Stück seiner Sechs Metamorphosen nach Ovid für Solo-Oboe wird nicht ohne ironischen Unterton Pans Spiel auf der Rohrpfeife ausgedacht. Und die von Debussy so unvergleichlich in Flötenklängen umherwandelnde treulose Najade Syrinx fürchtet sich beim Anblick des halb anthropomorphen gehörnten Bockwesens. Sie flüchtet zum Ufer des peloponnesischen Ladon, dem Wohnort des Flussgottes Ladon, des – so legen es einige Quellen nahe – Vaters jener jungfräulichen Nymphe Daphne, mit der dann, 1598 im florentinischen Palazzo Corsi-Tornabuoni mit viel Flöten- und Sackpfeifenklängen die erste Oper Europas aufgeführt wurde. Ein Jammer, dass sich von Jacopo Peris favola drammatica davon kaum etwas erhalten hat und auch die Musik der ersten 38

gen Oper, Heinrich Schützens Trauerspiel und musikalisches Drama vereinigende pastorale Dafne, eine durchweg gesungene, mit hohem Rezitativanteil ausstaffierte Komposition, als verschollen gelten muss und darüber gestritten werden mag, ob Richard Strauss’ 1938 an der Semperoper uraufgeführte, einaktige Bukolische Tragödie als Ausgleich für diese so traurigen Verluste angesehen werden kann. Die Geschichte von Pan und der Erfindung der Musik, wie sie uns Ovid berichtet, zeigt, wie aus Leid Kunst destilliert wurde. Pans Haschen nach dem Nymphenleib, ebenso vergeblich wie Alberichs Haschen nach den Rheintöchtern, wird ganz unbiblisch zum überraschend erfolgreichen Haschen nach dem Wind. »Panaque cum prensam sibi iam Syringa putaret  …« Wie der bekränzte Hirtengott also, kundig »der Halme flötendem Spiel«, die schöne Syrinx schon meinte gefangen zu haben, statt eines Nymphenleibes freilich nur Schilf in Händen gehalten, wird berichtet. Und weiter: »Wie dann der Wind, indes der Gott dort seufzte, das Röhricht streichend, einen Ton von zartem, klagendem Klange erzeugt, und wie der Gott, berückt von der neuen Kunst und der Stimme Süße, gerufen: ›Dieses Gespräch mit dir wird mir bleiben!‹« Musik ist hier Sprache, Sprache Musik, Wortbildung Klangbildung und vice versa. Die Metapher des ersten Instruments, angefertigt aus Schilfrohren verschiedener Länge und geschickt mit Wachs zusammengefügt, trägt die Vorstellung der Geburt der Tonkunst als Resultat mimetischen Genies. Wie einstmals die Außenwelt mit ihren Pflanzen und Tieren mimetisch im Inneren der Höhle zum Abbild geriet, ein Akt der Verinnerlichung, ja nachgerade der objektivierenden Einverleibung, wird der Ton der Panflöte zum Pendant der Seele ihres Musikanten. Und Pan gab seine Kunst weiter. Er lehrte sie seinem durch Aphrodites erotische Strategien geblendeten Geliebten Daphnis. 39

Griechisch und europäisch war dies, trug sich das Geschehen doch auf jener so mythologisierten wie geschichtsträchtigen Halbinsel im Süden des griechischen Festlands zu. Nicht zu vergessen dabei ist gleichwohl, dass den Griechen Europa zunächst als jener Ort galt, den Herodot in seinen Historien beschreibt. Für ihn lag Europa außerhalb des griechischen Einflussgebietes zunächst im thrakischen Westen, dort, wo die Barbaren hausten, etwa da, wo heute Bulgarien liegt. Im Osten und Süden dagegen reichte Asien vom Reich der Perser bis zum Nil, von dem aus bis hin zum marokkanischen Atlasgebirge der Raum als Lybien, als Afrika, galt. Für Herodot gab es nur drei Erdteile, Libyen, Europa und Asien. Nach seiner Vorstellung konnte man noch tapfer ausschreitend von Europa nach Asien und nach Afrika auf Schusters Rappen marschieren, und das ganz ohne maritime Gefährdungen, verband doch Erde jene Territorien, die allesamt nach Frauennamen apostrophiert waren. Die Heimat Europas sah er im außereuropäischen Osten. »Offenbar war diese Europa ja aus Asien«, schreibt er über die vom griechischen Göttervater so heiß begehrte Frau. Seitdem hat sich viel verändert. Nach dem deutschfranzösischen Krieg vor mehr als 150 Jahren und nach der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses apostrophierte der noch glühende Wagner-Enthusiast dies zu einem weltgeschichtlichen Moment. »Was mag Alexander der Grosse in jenem Augenblicke gesehen haben, als er Asien und Europa aus Einem Mischkrug trinken liess?« (Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, Bd."1. Unzeitgemäße Betrachtungen, 4. Stück, München 1966, S."370) Wir wissen es auch nicht. Aber in Wagners rüdem, an Aristophanes orientiertem Lustspiel in antiker Manier Eine 40

Kapitulation – es entstand im Kriegsjahr – finden sich die weniger weltgeschichtlichen Worte: »Bürger! Ich schlage eine deutlichere Sprache vor! Wir sollten doch bedenken, daß ganz Europa auf uns sieht: und da wir doch einmal immer Theater spielen, wäre besonders das deutsche Publikum zu beachten, dem wir’s recht verständlich machen müssen, wie’s hier hergeht …« (Richard Wagner, Eine Kapitulation, Neue Text-Ausgabe, NTA , in 12 Bänden, Bd."9, Frankfurt$/$Halle 2013, S."265#ff.).

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Mitschrift der Debatte mit Moritz Eggert

Moritz Eggert (So, lieber Norbert, ich sag jetzt auch mal stellvertretend für das Publikum, zu dem ich mich auch gerade zählte, vielen, vielen Dank für diesen sehr, sehr beseelten und leidenschaftlichen und poetischen und wunderschönen Vortrag, der mir sehr gefallen hat. Also das fand ich ganz großartig. Ich habe jetzt die undankbare Aufgabe, all das zu ersetzen, was du jetzt nicht vorgelesen hast, was sicherlich genauso toll gewesen wäre. Ich habe mir ein paar Notizen gemacht. Das ist eine leidenschaftliche Darstellung der europäischen Musikgeschichte gewesen und der Bedeutung der Oper darin, der ich vollen Herzens zustimme. Ich kann dir in keiner Weise widersprechen. Ich werde jetzt auch hier gar kein Streitgespräch anfangen. Norbert Abels (Hier spricht ein Opernkomponist. Moritz Eggert (Was mich aber natürlich als Opernkomponist, wie du richtig sagst, jetzt interessiert, ist der Blick in die Zukunft und da wollte ich jetzt mal so ein bisschen ausholen, was die europäische Perspektive angeht, die du ja angesprochen hast. Mich hat so ein bisschen verstört, auch was Michael Hohmann geschrieben hat, als er dieses Gespräch, diesen Vortrag angekündigt hat, diese schnelle Abfertigung der Pekingoper, der chinesischen Oper. Ich bin jetzt auch kein spezieller Kenner oder Fan der chinesischen Oper, aber da ist natürlich so ein bisschen was drin, was der Thematik inhärent ist, dass 42

wir immer so diesen europäischen Blick haben. Wir haben immer den Blick: Das geht alles von Europa aus, in Europa kam vieles zusammen, es geht so aus und es verbreitet sich so und das andere ist unwichtig. Historisch gesehen wäre die Pekingoper vielleicht ein wesentlich lebendigeres Genre, wenn es keine Kulturrevolution gegeben hätte. Die wurde ja wirklich dadurch zerstört. Leute, die diese Kunst ausgeübt haben, wurden gefoltert, sie wurden umgebracht, es wurde einfach abgeschnitten. Und vielleicht, wenn es diese Kulturrevolution so, wie sie historisch geschah, nicht gegeben hätte, oder die chinesische Geschichte ein wenig anders verlaufen wäre, vielleicht hätte sich die chinesische Oper in eine sehr zeitgenössische, sehr interessante Form weiterentwickelt. Historische Umstände haben also dafür gesorgt, dass wir die Pekingoper eher als eine Art Touristenattraktion sehen, aber wäre die Weltgeschichte anders verlaufen, wäre vielleicht die europäische Oper die Touristenattraktion und die Pekingoper das lebendige Genre. Es hat auch mit Geographie zu tun, wie die Geschichte verlaufen ist. Ich habe neulich mal wieder die Weltkarte angeschaut, Sie tun das auch alle sicherlich häufig im Moment, weil das immer in den Nachrichten kommt. Und mir ist aufgefallen, wenn man jetzt Außerirdischer wäre und auf der Erde landen würde, dann würde man wahrscheinlich in Europa landen. Und zwar einfach, weil das geographisch irgendwie so aussieht, als ob es da interessant ist. Also alle anderen Kontinente haben so klare große Formen und Europa ist so nickelig klein, da kommt irgendwo dieser Stiefel und Norwegen und es ist sieht so aus, als ob es dort viele Konflikte geben würde und die gab es ja auch. Und ich bin ja auch, genau wie du, ein überzeugter Europäer. Und zwar deswegen, weil wir so viel Schlimmes erleben mussten, weil wir so viele Probleme erleben mussten. Und irgendwie hat die Oper das auch verhandelt, auf eine ganz 43

schöne Weise eben. Wie du richtig sagst, dass sich einfach durch die Musik auch so eine Form von europäischen Gedanken manifestiert hat, ist etwas Schönes. Aber natürlich ist der europäische Gedanke auch ein sehr aggressiver Gedanke gewesen, der quasi von Europa aus nach außen gestrahlt hat. Und wir diskutieren hier im Moment ja auch viel, auch wegen der Pandemie, diskutieren wir viel über Globalisierung usw. Wir haben die Globalität gewollt, jetzt müssen wir sie auch aushalten. Also wir haben sie quasi erzeugt. Wir sind überall hin und haben gesagt: Hier schaut mal, Tonalität, so muss es sein, so funktioniert Musik. Und das ist so eine Sache, die mich auch immer so ein bisschen ärgert, wenn ich manchmal mit Leuten spreche – gerade beim Thema neue Musik –, die dann immer sagen: Ja, Musik muss so sein, das ist einfach so göttlich gewollt, das muss tonal sein, Obertonreihe und so was. Und es gibt so viele spannende Musikkulturen, die einfach auf der Strecke geblieben sind auf die eine oder andere Weise, weil sie isoliert waren, weil sie vielleicht nicht den richtigen Anschluss gefunden haben, weil sie nicht in diesem spannenden Gebiet waren, das ich gerade beschrieben habe. Mein Freund Sandeep Bhagwati ist ein Komponist und er ist halb Inder und so deswegen schon von vornherein vertraut mit mehr als einer Kultur. Und er hat jetzt gerade eine musikalische Arbeit gemacht über eine indigene Kultur, bei der Musik eine vollkommen andere gesellschaftliche Rolle spielt als bei uns. Und zwar singen die ganz viele Gesänge, die haben ein Repertoire an Chorälen und so weiter. Die sind aber dafür da, z.#B. eine Tätigkeit zu vollführen. Also man singt dann ein Lied, weil man ein Haus baut, und in diesem Lied sind dann die Informationen enthalten, die man braucht, um ein Haus zu bauen. Das heißt, die Musik hat tatsächlich eine Funktion, also eine gesellschaftliche Relevanz, was ja auch im Moment immer so ein Thema ist 44

in dieser Zeit. Und ich meine, es wäre doch verrückt, wenn jetzt z.#B. diese Kultur in Europa entstanden wäre, dann wäre das quasi der Status quo der Musik. Wir würden dann keine Opern hören, sondern gesungene Beschreibungen, wie man seine Steuererklärung ausfüllt. Lass uns doch mal, sodass wir jetzt ein bisschen ins Gespräch kommen, über diese europäische Idee sprechen, lass uns mal über die Zukunft sprechen. Was mir auffällt im Moment, ist – und das kam auch in deinem Vortrag sehr zum Vorschein und ich verstehe das auch total – diese Liebe zur Oper. Du hast so viele tolle Opern genannt. Wenn ich heute ins Feuilleton schaue, zu diesen Coronazeiten, ich sehe plötzlich Bühnenbildner, die sehen aus wie von 1910 oder so oder sogar früher. Also es fällt so richtig auf. Es werden plötzlich Inszenierungen hoch gelobt, die sind eigentlich schon acht Jahre alt, gute Inszenierungen wie die von Christof Nel in Salzburg. Plötzlich heißt es: Das ist so toll, das war das tollste Erlebnis überhaupt. Und es ist ein Erlebnis, das vor allem von Nostalgie geprägt ist, weil wir alle in einer schwierigen Zeit sind. Das ist ja keine Frage. Und plötzlich hat eigentlich das Neue – so fühle ich als Komponist – überhaupt gar keine Chance, weil sich ja auch keiner dafür interessiert, sondern es muss quasi dieses hehre und wunderbare Schöne der Oper hochgehalten werden. Und wir alle sehnen uns auch danach, ich auch. Aber ich frage mich dann immer: Wo bleibt das Neue? Wo siehst du jetzt im Moment z.#B. eine Chance für das Neue? Das ist eine schwierige Frage.

Norbert Abels (Ja, du hast am Anfang deiner sehr interessanten Ausführungen eigentlich schon so eine Art von Antwort gegeben, Moritz. Wenn wir mal zurückschauen und uns an Komponisten wie etwa Debussy erinnern, der anlässlich der großen Pariser Weltausstellung die balinesi45 https://doi.org/10.5771/9783835349179

sche Gamelanmusik kennengelernt und versucht hat, diese Musik sich anzuverwandeln. Wenn wir sehen, wie später die gleiche Musik etwa in den großen Kirchenparabeln Brittens eine Rolle spielt. Aber du hast andere Dinge erwähnt. Die Pekingoper ist eine relativ neue Angelegenheit, aber die eigentliche chinesische Oper, die religiöse chinesische Oper, geht weit, weit über 1500 Jahre zurück. Genau wie auch die indischen Tempelspielopern, die dem Tanz eine ganz primäre Bedeutung eingeräumt haben, und die schon ewig existieren. Und wie ebenso der nordindische Raga ganz andere rhythmische Möglichkeiten, auch melodische Horizonte eröffnet. Horizonte, die wir etwas zaghaft seit einiger Zeit durch Innovationen wie Mikrotonalität einzuholen versuchen, die die arabische und klassische persische Musik schon immer aufweist. Aber – und das ist jetzt der Punkt, Moritz – es gab eigentlich von der europäischen Seite keine wirkliche Achtung der Originalität dieser Musik, sondern es war von Anfang an der Versuch der Amalgamierung, ich würde sagen, der Versuch der Integration dieser anderen Musik ins europäische musikalische Konzept hinein. Das mag manchmal wunderbar sein, wenn ich daran denke, wie Yehudi Menuhin und Ravi Shankar in den 60er Jahren gemeinsam musiziert haben, wobei der Aspekt der Improvisation dann ja auch noch mal was ganz Neues ist. Aber zu deiner Frage, ja, ich könnte mir vorstellen, durch eine übereuropäische Perspektive, durch eine tatsächlich mondiale Perspektive könnte man versuchen, andere Formen des Musiktheaters, die es auf dieser Welt schon immer gegeben hat, zunächst einmal hier überhaupt bekannt zu machen und dann daraus zu lernen. Und zwar nicht, indem man sie sich anverwandelt, sondern indem man sich ihr anverwandelt. Ich muss sagen, wenn ich das ganz kurz noch hinzufügen kann, ich war eine Zeit lang mit dem Kabukitheater Tokyo beschäftigt. Und ich 46

weiß, wie später die Kabuki- und auch die Nō-Ästhetik auf die Filmgeschichte eingewirkt haben, auf Eisenstein etwa, ebenso auf Paul Claudel oder Ezra Pound. Benjamin Britten hat sich sehr intensiv damit beschäftigt. Gerade bei den Proben habe ich gesehen, welche spirituelle Achtung man dem Spielen, der Musik entgegenbringt. Das vollzieht sich mit extrem wenig bühnentechnischen Elementen. Und genau das könnte eine fruchtbare Innovation für unser europäisches Musiktheater sein. Wir könnten, so denke ich als Dramaturg, nicht zuletzt szenisch daraus erlernen, wie dort doch wieder der Körper, die Bewegung, der Mimus seine große Bedeutung besitzt. Ich beobachte seit Langem, wie in gegenwärtigen Operninszenierungen die szenische Arbeit am Ausdruck, an der Gestaltung des seelischen Augenblicks erodiert, um durch Globalkonzeptionen in beständig monumentaleren Bühnenbildern ersetzt zu werden. Ich befürchte, dass das wirkliche Spielen bei uns dabei ist, verloren zu gehen.

Moritz Eggert (Ich stimme dir total zu. Das Problem, was sich natürlich immer für Komponisten wie jetzt Olga Neuwirth und mich zum Beispiel stellt, ist, dass wir einfach immer mit einem Repertoire, mit einer Maschine zu tun haben, die speziell auf eine ganz spezifische Opernepoche auch hin stilisiert wurde, nämlich das neunzehnte Jahrhundert. Man muss es einfach aussprechen. Wenn du von den Anfängen der Oper sprichst, wenn du von der Florentiner Camerata sprichst, wenn du von Monteverdi sprichst, dann haben wir ja ein experimentelles Musiktheater, wie man es heute so nennen würde. Man hat quasi Aufführungen gemacht mit Leuten, die gerade verfügbar waren. Es waren offene Partituren, mal hat das die Oboe gespielt, mal eine Geige. Es war halt so, wie es am Abend war. Man hat zeitgenössische Themen, trotz des 47

antiken Überbaus, den man irgendwie als Basis benutzte, um irgendwie eine Erdung zu haben – so verstehe ich das eigentlich – und auch das alltägliche Leben auf die Bühne gebracht. Wir kennen Bühnenbildner, wo man tatsächlich »calcio storico« dargestellt hat, eine Vorform von Fußball. Es gab schon Fußballballette in der Renaissance. Und das sind alles Sachen, wenn ich die so lese und als jemand, der Monteverdi vor allem auch sehr liebt, da denke ich mir immer so: Ach, ich würde mich so sehnen, nach dieser Zeit, wo man einfach Musiktheater erfunden hat und das einfach komplett frei war, was man da machte. Die haben ja experimentiert wie verrückt. Und noch heute ist es für uns wahnsinnig schwierig, Monteverdi aufzuführen, weil wir gar nicht richtig wissen, in welcher Reihenfolge die Arien kommen, gab es da Zwischenspiele, wer trat wann wo auf? Aber es ist trotzdem immer toll, wenn man das aufführt, weil die Musik so wunderbar ist. Und das atmet einen Geist der Freiheit  – der von dir schon genannten Freiheit – und der Abenteuerlust, den ich einfach so vermisse heute. Ich versuche, das mal zu beschreiben, weil Sie alle vielleicht jetzt keine Opernkomponisten sind – aber es ist ungefähr so, wie wenn Sie sehr umweltbewusst sind und Sie denken sich: Ach, das ist doch toll, dass es heute so Autos gibt mit Elektromotor, wir verpesten nicht mehr so die Umwelt. Aber es kommt immer wieder jemand, der sagt: Nein, Sie dürfen nicht mit diesem Auto fahren. Sie müssen mit diesem alten, zwar sehr hübschen, aber unglaublich stinkenden, energieineffizienten Oldtimer fahren. Sie müssen einfach. Auch obwohl es schon längst modernere Technologien gibt. Ich meine damit jetzt nicht, dass wir uns nicht missverstehen, dass Oper oder Kunst überhaupt irgendwie besser wird über die Jahre. Nein, sie verändert sich. Sie ist immer irgendwie Chronist der Gefühle, würde ich sagen. Aber wir sind gezwungen, quasi immer wieder 48

die Ideen, die wir haben, auf einen sehr starren Apparat anzuwenden, der im Grunde perfekt für Traviata funktioniert oder für Wagner oder so. Und das ist schön, ich mag das auch. Es ist nicht so, dass ich Traviata hasse, ich liebe Traviata, aber es ist ganz schwierig, da auszubrechen und genau das zu machen, was du ja gerade beschreibst. Eben z.#B. offene Formen auszuprobieren. Und ich meine diesen denkwürdigen Moment, den wir als Frankfurter alle kennen, den Opernhausbrand  … Du hast ja auch richtig gesagt, dass das von Cage auch eine Form von Abgesang war. Er hat das von außen schon als Nichteuropäer im Grunde auch als einen Abgesang auf die Oper inszeniert. Es hat sich so selbst zerstört irgendwie, die Oper da drin. Es war ja quasi auch nichts mehr zu erkennen. Es ging alles durcheinander. Jeder spielte im eigenen Tempo, irgendein Sänger trat auf, sang irgendwie Beckmesser oder Hans Sachs oder so. Es ging alles durcheinander. Und man könnte jetzt eigentlich gerade wieder so einen Neubeginn wagen, aber der geht gar nicht, weil jetzt gerade in dieser Krisenzeit alle sich wieder noch mehr auf dieses 19. Jahrhundert aus einem nostalgischen Überschwang und aus einer Sehnsucht nach Geborgenheit hineinbegeben. Das ist ein Problem. Ich versuche, das auf meine Weise immer wieder neu zu lösen, aber es ist schwierig. Verstehst du das?

Norbert Abels (Ja, das verstehe ich gut und empfinde es auch so. Die Gewöhnung an den perfekt anmutenden Illusionismus der virtuellen Raumwelten ist ja längst zum Wahrnehmungsmodus mutiert. Dass das Erzeugen, das Hervorbringen noch als integrales Teil des Theatererlebnisses aufgenommen wurde wie in der Mozartzeit, sollte auch später, etwa im Konzept des epischen und dann auch des sogenannten postdramatischen Theaters wiederum eine Rolle spielen. Beim großen bildungsbürgerlichen 49

kum schlugen dergleichen Spielerfahrungsoptionen nicht an. Dergleichen Transparenz im Erlebnis des theatralen Herstellungsvorgangs ist durch das unsichtbare Orchester spätestens 1876 bei der Eröffnung von Bayreuth plötzlich verschwunden. Das sakrosankte Theater entstand. Schon bald darauf durfte man noch nicht einmal klatschen beim Parsifal. Und unsere alten Opernhäuser, unsere in abgedunkelte Sitzreihen und in bengalisch illuminierte Bühnen getrennten Räume eignen sich eigentlich kaum für so etwas wie Europeras. Heiner Goebbels versuchte mit großem Geschick in seiner Landschaft aus Bildern und Tönen Europeras 1!&!2 von Cage im offenen Raum der Jahrhunderthalle der Ruhrtriennale solcher Zweiteilung Paroli zu bieten. Und was die autonome Verfügungsoption des Publikums betrifft: Ich habe ihr Scheitern erlebt bei der Arbeit mit Robert Wilson an Philip Glass’ Oper Einstein on the Beach hier in Frankfurt. Dabei war die Idee ein über 5, 6 Stunden hinweg dauerndes Musiktheater, wobei man entscheiden konnte, wann man den Raum verließ und wann man ihn wiederum betrat. Solche Freiheit wurde keineswegs goutiert.

Moritz Eggert (Wie es ja früher auch war. Norbert Abels (Wie es früher war. Aber man hat gemerkt, dass das keineswegs die Authentizität hatte, die es mal gehabt hat. Moritz Eggert (Aber das wäre total mein Traum. Und das versuchen ja manche Opernhäuser auch immer mehr, dass sie wieder nicht nur am Abend, sondern den ganzen Tag über Zentrum einer Stadt sind. Das ist ja ein wahnsinnig schöner Gedanke, finde ich, dass man so ein Theater oder so ein Opernhaus ist, so ein Ort der Begegnung, wie 50

du richtig beschrieben hast. Barockopern, die auch sechs sieben Stunden dauerten zum Teil, hat sich keine Sau an einem Abend damals angeschaut. Die sind hingegangen, dann haben sie irgendwie ein Geschäftsessen  – was man damals vielleicht nicht so nannte, aber es war halt ein Geschäftsessen – gemacht und dann hat man gleich mal den zweiten Akt angeschaut, da war eine schöne Arie drin und so. Und man ist eigentlich jeden Abend  – das ist ja Wahnsinn  – in die Oper gegangen und irgendwann hatten die nach zwei, drei Wochen – so wie bei einer Netflixserie – die neue Oper gesehen. Ja, so wie wir heute auch. Wir machen unseren Computer an, dann schauen wir mal 20 Minuten von der Serie und dann vielleicht mal 40 Minuten oder so. Das war eigentlich genauso, aber es war Teil des Lebens, Teil der Stadt. Man ist sich begegnet. Also für einen Mozart: Wie wichtig waren ihm menschliche Begegnungen, also auch Spiele. Das ist so eine Sache, die ich mir herbeisehne in unserer vereinsamten Gesellschaft. Das könnte doch die Oper wieder sein. Da wäre doch ein Stück wie »Einstein on the beach«, das ich sehr mag, eigentlich hervorragendes Material.

Norbert Abels (Ja, und deshalb meine Frage jetzt an dich. Du hast mir die Frage gestellt, mir als Dramaturg, jetzt stelle ich dir die gleiche Frage als Komponist, der es momentan auch nicht so besonders leicht hat, oder? Moritz Eggert (Na ja, ich will nicht jammern, es jammern so viele Kollegen im Moment. Ich höre immer nur jammernde Intendanten, die Dramaturgen jammern Gott sei Dank nicht, weil sie endlich mal Ruhe haben. Diese Larmoyanz, die im Moment herrscht, die nervt mich sehr, aber gleichzeitig verstehe ich natürlich, dass es für alle, für uns alle, für Sie auch, eine schwierige Zeit ist, auch für 51

Komponisten. Aber warum ist jetzt mein Leid größer als das von einem Barbesitzer oder jemandem, der auf dem Oktoberfest ein Riesenrad hat?

Norbert Abels (Und dein Blick auf die Zukunft der Oper? Moritz Eggert (Für mich ist die Schwierigkeit: Als Komponist interessiere ich mich natürlich sehr dafür, wie die Musik der Zukunft klingen kann, so banal das jetzt auch klingt. Ich interessiere mich einfach für neue ästhetische Ideen, einen neuen Sound oder wie auch immer neue Ausdrucksformen und da habe ich im Moment einfach die Schwierigkeit, dass ich nicht weiß, wen das gerade interessiert. Ist das jetzt der richtige Moment? Es war auch nicht mitten in der Pest der richtige Moment für die Florentiner Camerata, sondern erst danach. Insofern denke ich im Moment einfach sehr viel nach und ich denke über eine Ultraoper nach, die 16 Stunden dauern könnte. Das ist tatsächlich so ein Plan, den ich gerade habe. Norbert Abels (Du planst so was? Vielen Dank! Moritz Eggert (Aber die muss man sich auch nicht ganz anhören, also nur, wenn man ganz hart drauf ist. Norbert Abels (Na ja, so wie die Orestie ungefähr oder Faust 1 und 2. Moritz Eggert (Genau. Da war eine Sache, die ich noch ansprechen wollte, weil du das so schon beschrieben hast, diese seltsame Todessehnsucht der Oper, die sie ja irgendwie hat. Du hast von dem Opernbrand gesprochen in Frankfurt. Das ist ja nicht der einzige Opernbrand. La 52

nice in Venedig, wie oft ist sie abgebrannt, 7 mal, 8 mal. Die ganze Musikgeschichte ist voll von Opernbränden. Aber nicht nur das, sondern auch in den Opern geht es eigentlich immer nur um Tod, Untergang. Also das Klischeebild der Oper, das so Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher – wenn man diese schrecklichen Worte verwendet – haben von der Oper, ist: Am Ende stirbt jemand und singt ganz lang oder auch mal nicht so lange wie in Tosca, das ist immer so schön, wenn die dann gleich da runterspringt.

Norbert Abels (Oder eben auch nicht mittlerweile. Moritz Eggert (Aber es dauert immer so lange. Es geht immer um Tod und Untergang. Boulez, den du auch genannt hast, wurde angeblich sogar verhaftet, weil er rein verbal immer die Opernhäuser in die Luft sprengen wollte, man hielt ihn dann für einen Terroristen. Norbert Abels (Der hat übrigens auch gesagt, man sollte die Rotgardisten nach Deutschland transferieren, um mit den Opernhäusern gehörig umzugehen. Das war während der Zeit der Kulturrevolution. Moritz Eggert (Dieser Todesgedanke wurde auf eine ganz seltsame Weise von der Avantgarde auch aufgenommen. Du hast ja die Namen schon genannt, wir können von Nono sprechen usw., die alle Gegenentwürfe hatten für die Oper, die auch spannend waren, die interessant waren, die aber gleichzeitig auf dieses Bourgeoise der Oper geschimpft haben, dass sie quasi ihre eigene Neuerung unmöglich gemacht haben, weil sie Formen benutzt haben, die so extrem dagegengingen, dass es gar nicht mehr möglich war, sie permanent zu installieren. Beispiel Lachenmann: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Das ist 53

türlich ein wunderbares Stück, aber es geht gegen das, was normalerweise Oper macht und ist dadurch sehr schwierig aufzuführen. Da ist so ein bisschen der Knackpunkt. Diese Todessehnsucht der Oper, die mich aber auch anzieht als Komponist. Also diese Unmöglichkeit der Oper das blödeste Genre, das man sich vorstellen kann, das aufwendigste, schwierigste, unmöglichste überhaupt, also unmöglicher als Film sogar und der ist schon ziemlich unmöglich. Jeder, der Film dreht, weiß, von was ich spreche. Aber das ist das, was mich anzieht, und das wäre so mein persönlicher philosophischer Ausblick, dass das vielleicht eine Möglichkeit wäre, diese Unmöglichkeit wieder möglich werden zu lassen. Also in der Unmöglichkeit die Möglichkeit zu finden. Und dafür gibt im Moment vielleicht die Zeit am meisten Potenzial, aber es ist noch nicht so weit. Es gärt so, aber das wäre meine Hoffnung.

Norbert Abels (Ich glaube, das ist ein ganz gutes Resümee, was du da ausgesprochen hast. Während wir hier sitzen, wird gerade eben in der Oper Frankfurt I puritani gespielt mit einem ganz kleinen Orchester, mit einer ganz kurzen Fassung. Die Oper ist wohl von allen Kunstformen, die es gibt momentan, die bedrohteste und am stärksten gebeutelte. Die Aereosole, die bei unseren Bläsern herausquillen, sind bedrohlich. Ich denke an die Kolleginnen und Kollegen im Chor, die doch irgendwie proben müssen, eng beieinander stehen, das jetzt nicht tun können und natürlich auch an das, was da oben auf der Szene passiert. Große Probleme, sehr große Probleme und natürlich nicht nur im Haus, sondern auch außerhalb der Häuser. Alle Zulieferungsbetriebe  – und da gibt es jetzt mehr als jemals zuvor, weil der technische Aufwand sich so maximiert hat – stehen vor dem Ende, stehen vor dem Ruin. Es wird einem momentan schon ein bisschen bange, aber 54

wann: Phönix wird sich aus der Asche wieder erheben, da bin ich ganz sicher.

Moritz Eggert (Ja, oder man macht es wie Strawinsky mit der Geschichte vom Soldaten und zieht einfach mit seinem Wagen und fünf Musikern durch Europa. Norbert Abels (Ja, Moritz. Das hat Sir William, mein großes Idol, gemacht. Wenn der Schwarze Tod, wenn die Pest im Sommer nach London gekommen ist, hat man den Karren in Bewegung gesetzt und ist über Land gezogen. Moritz Eggert (Norbert, wäre nicht jetzt  – du bist ja aus dem Geschäft, du weißt ja, wovon ich spreche  –, wäre nicht jetzt eigentlich eher ein Grund, genau solche Projekte durch Opernhäuser in Auftrag zu geben, junge Komponistinnen und Komponisten zu beauftragen, solche Stücke zu machen, die jetzt mit den jetzigen Möglichkeiten funktionieren, anstatt groß auf Spektakel angelegte Opern in eigentlich unzufriedenstellenden Formen Norbert Abels (Ein großartiger Vorschlag. Moritz Eggert (Das Perverse ist ja – das liegt an unserem großartigen deutschen Kulturförderungssystem, habe ich raunen hören, – du kannst mich jetzt gerne korrigieren, dass die Budgets der Opernhäuser zumindest im nächsten Jahr größer als je zuvor sind. Norbert Abels (Die der großen Opernhäuser. Wir sprechen jetzt nicht von Chemnitz. Moritz Eggert (Genau, wir reden nicht von kleinen Off-Theatern, die ja auch durchaus künstlerisch wertvolle 55

Arbeit leisten. Aber bei den großen: Es werden keine Bühnenbilder gebraucht, Anna Netrebko muss nicht im Viersternehotel unterkommen und mit der Concorde – gibt’s nicht mehr – anfliegen. Man spart im Moment perverserweise Geld. Die Musiker sind auf Kurzarbeit, das heißt, auch da spart man Geld, und es ist nur nächstes Jahr ein Überbudget, weil die Budgets für 2021 schon längst entschieden wurden  – vor Corona. Das heißt, eigentlich ist nächstes Jahr ganz viel möglich. Man könnte klotzen, man könnte gerade in solchen schwierigen Zeiten ein Zeichen setzen und sagen: Jetzt lass’ uns mal was versuchen, was wirklich wieder ein Anfang ist.

Norbert Abels (Dein Wort in Gottes Ohr. Dankeschön! Publikum (Die Perspektive, die ihr eben entdeckt habt, dass man andere, kleinere Formen, die vielleicht mobiler sind, einsetzt, eröffnet eine Perspektive. Ich sehe aber noch eine andere Haltung: Ein großartiger Romanist, insbesondere Italianist, Kurt Ringger, war begeisterter Veronagänger, hat gerne Anekdoten von seinen Erfahrungen in Verona erzählt. So jene, als ein schlechter Sänger ausgebuht wurde, der obendrein mit Sitzkissen beworfen wurde und mit dem Ruf »fouri« (raus!) von der Bühne vertrieben wurde. Das ist ein anderes Opernleben, als wir es in Deutschland zumindest kennen, was für mich vieles hat von einem katholischen Hochamt, was gefeiert wird, was sakrosankt ist. Ein Zwischenapplaus wird nicht geduldet, ein Fauxpas wird weggeschluckt, das ist doch nicht natürlich. Ist es nicht eine Aufgabe auch für Opernmacher, egal, aus welchem Regiment sie stammen, dass das Publikum auch wieder leibhaftiger im Wortsinne dabei sein kann, außer in dieser hündischen Haltung. 56

Moritz Eggert (Also, da muss man nur eine Premiere einer zeitgenössischen Oper machen, dann ist wieder was los. Publikum (Aber vielleicht müssten auch Formen gefunden werden, die dieses sakrosankte, dieses hochgefeierte 19. Jahrhundert mit den Riesenorchestern durchbricht. Norbert Abels (Ja, man scheut sich vielleicht auch ein bisschen. Ich kann mich erinnern an eine Arbeit am Châtelet in Paris. Das war mit dem verstorbenen, aber großartigen Regisseur Herbert Wernicke gewesen. Wir haben dort – Christoph von Dohnányi hat dirigiert – Moses und Aron herausgebracht und während Schönbergs Opernfragment lief, sind sehr viele Leute, nicht schreiend, nicht protestierend ob der Dissonanzen, sondern ganz langsam, vorsichtig, sich entschuldigend und flüsternd rausgegangen. Und da habe ich mir zum ersten Mal gedacht: Ach, da wäre es mir lieber – wie das, was du eben gesagt hast, lieber Michael –, man hätte geballert, man hätte »Aufhören« geschrien und dergleichen. Bei diesem wunderbaren Werk natürlich eine schreckliche Vorstellung auf der anderen Seite. Man hat diese Bravheit ganz stark internalisiert. Sie ist, glaube ich, in der Opern-DNA mittlerweile fest verankert. Ich weiß nicht, wie man das attackieren könnte, wie man die Leute provozieren könnte, wieder lautstark sich einzumischen. Vielleicht wäre es auch gar keine so gute Idee. Publikum (In Frankfurt wird demnächst ein Opernhaus neu gebaut. Da wäre es doch schön, wenn die Idee, wie Oper sein könnte in der Zukunft, in die Architekturplanung mit einfließen könnte, sonst wird daraus nichts, weil Räume und Inhalte einander bedingen. Mischen Sie sich bitte ein! 57

Moritz Eggert (Das ist ein Riesenthema, und zwar nicht nur bei Opernhäusern, sondern auch bei Konzertsälen generell. Wir haben ja ständig die Diskussion, auch in München jetzt wieder mit unseren Konzertsälen, und letztlich geht es dann immer wieder auf so ein klassisches Design hinaus und es wäre natürlich eigentlich schön, wenn man da flexibler wäre. Es werden Millionen ausgegeben, dass irgendwie gute Akustik, die dann doch wieder nicht funktioniert, gemacht wird, anstatt dass man einen Raum hat, der wirklich auf ganz verschiedene Weisen genutzt werden kann. Im Grunde ist ja – jeder weiß das, der einmal in einer venezianischen Kirche war  – Akustik auch gar nicht so schwierig. Es hängt von den Materialien ab. Wie z.#B. der Regentenbau in Bad Kissingen, der einfach gut klingt, aber architektonisch jetzt gar nicht spektakulär ist. Norbert Abels (Und wichtig wäre natürlich ein Haus mit Möglichkeiten, mit mehreren Spielräumen eventuell. Vielleicht ein Haus, in dem z.#B. die Probebühne wie an den anderen großen Opernhäusern in Europa – wir denken vielleicht an Oslo, wir denken als Stockholm, an Lyon, an viele, viele, an Paris – integraler Bestandteil des Hauses ist und nicht kilometerweit irgendwo in irgendwelchen Industriegebieten liegt. Unter ganz unmöglichen Umständen werden diese Werke oft eingeprobt. Das merkt man Gott sei Dank dann, wenn sie auf der Bühne erscheinen, nicht mehr. An vieles muss gedacht werden. Es sind ganz einfach auch soziale Dinge, die man sich überlegen muss. Wie viele Menschen arbeiten in einem solchen Haus? Warum ist es nicht möglich bspw. einen Kindergarten, eine Kita gleich auch mit Musikunterricht und Weitergehendem, Produktivem zu installieren, wenn man schon sowieso ein neues Haus bauen will? Da sollte man auf diese ganzen Parameter vielleicht mal ein wenig Rücksicht nehmen. 58

Publikum (Ich würde gerne ein bisschen auf die Bremse treten. Und zwar habe ich Oper kennengelernt in der großen Zeit von Abels und Gehlen und diese Zeit, diese Art mit Oper umzugehen, hat für mich etwas damals geschaffen, was ich gerne heute weiter hätte. Da sind unsere Wurzeln, unsere großen Traditionen neu gelesen worden. Und wenn man jetzt den Körper wieder in die Oper reinholen will, dann sollte man doch ins Rave gehen oder auf ein Soulkonzert. Also wir werden im Moment von den vielfältigsten Formen und Ausprägungen der Künste verwöhnt – andere sagen überschwemmt. Wir werden vielleicht auch von der Globalisierung verwöhnt und überschwemmt. Und vielleicht ist das, was ihr in den 70er und 80er Jahren im Frankfurter Opernhaus gemacht habt, das, was unser großer Schatz ist. Wir konnten uns an das erinnern, wo wir herkommen und konnten das aber nicht nostalgisch reaktionär. Jetzt haben wir es nicht nachgespielt, sondern wir haben etwas Neues daraus gelernt. Wenn die Oper das weiter bleibt, dann kann man sie Hochamt nennen, dann kann man sie nennen, wie man will. Bitte bleibt dabei und macht das weiter. Und noch eine Bemerkung zur Pekingoper: Ihr habt sie jetzt unter sozusagen einer Kunstform aus der globalen Welt zitiert. Die Pekingoper war eine Ausdrucksform in einer Zeit des großen Terrors der chinesischen Kulturrevolution. Das war Terror. Das war in China das, was der Faschismus hier war. Ich finde, man kann diese Formen nicht loslösen von dem, wofür sie gestanden haben. Moritz Eggert (Darüber haben wir aber nicht geredet. Wir haben über die alte Form der chinesischen Oper geredet. Publikum (Ja, ihr seid dann schon weitergegangen. Aber für mich kann man nicht einfach die Formen nehmen und 59

sagen, das gehört ja auch noch zur globalen Welt, das gehört auch noch zu unseren Einflüssen – dazu bitte mitbedenken: die Pekingoper ist die Oper des Terrors.

Moritz Eggert (Einigem stimme ich nicht zu, muss ich ganz ehrlich sagen, aber ich versuche, es mal ernst zu nehmen. Die Geschichte ist die: Ich bin ja genauso ein Fan wie Sie von dieser Zeit mit Gehlen und Abels. Ich bin ja auch hier aufgewachsen und das waren große Tage des sogenannten Regietheaters. Das heißt eben, es ging genau darum, es ging darum, die Tradition wahrzunehmen, ernst zu nehmen, neu zu interpretieren usw. Und da ist auch Großartiges gelungen, an das wir uns alle gerne erinnern. Ich sage jetzt mal was, was Norbert auch verstehen kann, weil er auch zeitgenössische Musik liebt, weil er auch weiß, was uns Komponisten angeht: Es geht in Richtung einer lebendigen Kunst nicht allein mit der ständigen Neuinterpretation des Alten. Das kann nicht der einzige Weg sein. Ich stimme aber zu in einem Punkt, dass das Alte als Tradition auch präsent sein muss. Da bin ich voll bei Ihnen. Ich denke inzwischen fast ein bisschen radikaler da in diese Richtung und da kriege ich oft eins auf den Deckel, gerade wenn ich mit Theaterleuten spreche. Die Grundkonzeption des Regietheaters ist für mich ein bisschen an einem Ende, und zwar an einem großartigen Ende. Es hat Großartiges geleistet, aber irgendwann kann ich dann Aida nicht mehr noch auf dem Mars oder im KZ oder im Coronaauffanglager spielen lassen  … Es ist einfach irgendwie alles durch. Und da würde ich mir fast im Moment, ehrlich gesagt, einfach nur, um die Ohren freizukriegen, um sich auch wieder zu besinnen auf die Kraft der Oper, ich würde mir fast tatsächlich mal wieder einige klassische Opern wünschen, die durchaus wieder mal so gespielt werden könnten wie ursprünglich intendiert. Ich bin total dafür, 60

dass man Aida spielt und dass man Traviata spielt, aber dass man diese Stücke vielleicht wieder eher mal – und das ist vielleicht auch nur eine momentane Bestandsaufnahme  – in einer historischen Weise spielt, dass man wieder ein bisschen versteht, wie waren diese Stücke mal gemeint, wie klangen die eigentlich wirklich, wie klang eine Mozartoper wirklich, wurde die wirklich in einem Belcanto-Stil des 19. Jahrhunderts gesungen oder wurde sie in dem Stil des 18. Jahrhunderts gesungen, der ganz anders klang und auch toll klang? Das heißt: Diese Tradition muss lebendig sein, muss auch irgendwie da sein, was nicht heißt, dass man das jetzt irgendwie im Großvaterstil inszenieren muss, das meine ich damit nicht. Aber man sollte sich wieder auf diese Sachen besinnen, dann ist nämlich auch Platz für das Neue und für das ganz andere. Diese beiden Dinge, das wäre mein persönlicher Wunsch: 50#% Tradition, 50#% Neues. Das wäre ein ausgewogenes, lebendiges, kommunikatives Verhältnis.

Norbert Abels (Dem kann ich nur zustimmen. Moritz Eggert (Irgendwann wird auch wieder die Zeit dafür sein. Also es ist nicht so, dass das jetzt eine radikale Absage ans Regietheater ist, überhaupt nicht. Es kann auch sein, dass mal wieder der Punkt kommt, wo man genau das wieder braucht. In der Kunst gibt es für mich keine Absolutheiten. Norbert Abels (Es sollte mehr Leute geben, die dieses Handwerk beherrschen. Da könnte man jetzt viel darüber erzählen. Wenn ich an so eine Gestalt vielleicht wie Christoph Marthaler denke. Wir erarbeiteten die Oper Pelléas et Mélisande und die Gruppe kommt zusammen, man lernt sich kennen, wir haben insgesamt sechs Wochen Zeit und 61

wir sitzen zwei Wochen mehr oder weniger auf dem Fußboden der Probebühne und unterhalten uns über alle möglichen Dinge, kommen immer stärker an das Stück ran, es bildet sich langsam ein Geist und dann plötzlich stehen die Solisten auf, die Regie steht auf, wir fangen an zu proben, es ist ein Akt der Vorbereitung vorausgegangen und dann entwickeln sich die Figuren auf einmal wie von selbst. Und dann gibt es manchmal während der Proben Momente, die sind unglaublich. Oft lassen sie sich dann während der Vorstellung später nicht wieder reproduzieren, aber das sind unglaubliche Momente. Diese Momente gehen ein wenig verloren jetzt in der Übertechnologie, in der Überkonzeption und dergleichen, dass die Dinge an den unglaublichsten Schauplätzen spielen müssen, wie du das auch gesagt hast. Dass das Dekor usw., der Kontext viel wichtiger wird als der parabolische Kern, als der Inhalt, als das, worum es in den Stücken wirklich geht. Ja, das Spielen – deswegen habe ich vorhin Meyerhold auch zitiert  –, das am Menschen dran sein, das kann eben halt nicht jeder. Da gibt es nur wenige, die das Handwerk wirklich noch meisterhaft beherrschen. Es ist ein bisschen verloren gegangen. Das müsste wieder eingeholt werden.

Publikum (Ich würde gerne noch mal auf das Thema Europa zurückkommen, und zwar im Zusammenhang mit dem Bau von Opern und Konzertsälen. Ich war irgendwann in Island und habe in diesem klitzekleinen Land mit 300#000 Einwohnern einen der unglaublichsten Opernund Konzertsäle gesehen, die es überhaupt gibt. Warum greift man im alten Europa diesen alten europäischen Gedanken, auch was das Konzept von Häusern anbetrifft, nicht wieder auf und schaut sich um, was man übernehmen kann. Das ist so, als ob Island eine Exotik ist, aber Island ist Europa. Ich weiß nicht, wer von Ihnen das mal erlebt 62

hat, das ist so gigantisch, was man da hinbekommen hat an Klangqualitäten, an Möglichkeiten, auf ganz unterschiedliche Musikrichtungen einzugehen, dass man Säle so gestaltet, dass man ein Kammerkonzert anders gestaltet als ein Jazzkonzert, eine Oper wieder anders. Das ist alles möglich, und zwar finanzierbar möglich. Die hatten ja nun auch ihre große Finanzkrise. Der Rest von Europa, den interessiert überhaupt nicht, was möglich ist, sondern man bleibt in diesen alten, konventionellen … es geht jetzt hier in Frankfurt um Hunderte von Millionen und verschwendet noch nicht mal einen Gedanken daran, was in Europa eigentlich passiert.

Moritz Eggert (Ja, es ist interessant. Gerade das Beispiel Island, aber auch Skandinavien etwa. Sowohl in Finnland als auch in Schweden und Norwegen gibt es eine sehr lebendige Opernszene, in denen auch zeitgenössische Stücke eine viel größere Rolle spielen. Diese haben es natürlich auch zum Teil deswegen etwas leichter, weil die Operntradition in diesen jeweiligen Ländern viel jünger ist und es damit einfach auch mehr Platz gibt. Die Konzentration auf das, was wir alle lieben, auf diese Operntradition, die hat natürlich auch was Belastendes. Und insofern ist so ein Opernhaus in Island vielleicht tatsächlich einfach auch freier, mit dem Raum zu experimentieren. Es ist auch ganz seltsam: Wo sind eigentlich die Opernkomponistinnen? Also wen gibt es? Wir haben Olga Neuwirth genannt. Es gibt natürlich noch viele andere. Aber es gibt doch nicht so viele und warum ist das so? Und wenn ich mir jetzt anschaue als Lehrer, wie viele Kompositionsstudentinnen – und ich sage jetzt ganz bewusst aus Deutschland – bewerben sich an den deutschen Hochschulen? Es sind fast keine – gerade aus Deutschland. Also wir halten uns ja immer für ein sehr emanzipiertes Land, große Frauengleichberechtigung. Ist 63

natürlich nicht so. Da haben wir auch noch ein Stückchen vor uns. Aber es ist interessant: Gerade weil Deutschland seine starke Operntradition hat, bremst es sich mit dieser männerdominierten Operngeschichte auch selbst aus. Und ich habe das mehrmals erlebt, ich habe mit Schulklassen Workshops gemacht, ich habe dann immer auch besonders die jungen Mädchen angesprochen, die sich für Musik interessieren: Könnt ihr euch vorstellen, Komponistin zu werden? Nein? Wieso denn? »Also das sind doch immer so bärtige Typen, das sind immer so Büsten an den Opernhäusern und so.« Und das ist ja wirklich so. Man geht irgendwo in Wien oder in München ins Staatstheater und da sind ja diese ganzen Büsten: Verdi, Meyerbeer, Wagner, Mozart – das sind alles Männer. Und das kriegen diese ganzen jungen Mädchen auch irgendwie so immer vorgeführt. Das ist das, was sie im Musikunterricht auch gelehrt bekommen. Der Lehrer oder die Lehrerin wird natürlich diese ganzen Namen nennen und dann kommt irgendwann im Nebensatz: Es gab auch mal Clara Schumann. Vielleicht, wenn sie Glück haben, kommt noch Hildegard von Bingen einmal kurz vor, das war’s. Und das ist im Ausland nicht so. Die einzigen Studentinnen, die ich hatte bisher – und wir nehmen wirklich jede Studentin auf, die sich bewirbt für Komposition, wir sind total froh, wenn sich Frauen bewerben, also da gibt es gar keine Widerstände  –, die kommen alle aus Mexiko, aus Russland, aus der Ukraine. Da habe ich tolle Studentinnen. Weil auch da die Musikgeschichte jeweils jünger ist und es dafür auch mehr Platz gibt. Deswegen gibt es eben auch eine Sofia Gubaidulina und eine Ustwolskaja. Ich sage das deswegen, weil es letztlich dasselbe Thema ist wie mit den Opernhäusern. Die Last der Geschichte kann auch etwas Bedrückendes sein. Wir müssen uns davon auch immer wieder befreien. Wir müssen immer wieder diesen Gedanken, diesen 64

schen Gedanken weiterträumen und auch verstehen, dass der nicht allein uns gehört, sondern Europa jetzt auch das ist, was wieder zu uns zurückkommt. Also was haben wir ausgesendet und was kommt jetzt in veränderter, vielleicht sogar frischerer Form als John Cage oder sonst irgendwie auch wieder zu uns zurück? Und das ist ein ganz spannendes Thema. Gerade das fehlt mir auch manchmal im Moment, dass wir wirklich schauen: Wie ist es woanders? Wie ist es in anderen Ländern? Was spielt Oper dort für eine Rolle? Und das machen wir zu wenig. Und es gibt so viele interessante Modelle, die ganz anders funktionieren.

Norbert Abels (Wenn ich das noch ganz kurz abrunden kann, Moritz. Ich unterrichte im Fach Theater- und Orchestermanagement hier an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Wir haben einen Leiter, Thomas Schmidt, der für mich der interessanteste Theaterkenner der deutschen Theaterlandschaft überhaupt und zugleich der mutigste Kritiker eines immer autokratischer und selbstherrlicher geratenden Intendantenwesens ist. Bei uns sind etwa 90#% der Studierenden Frauen. Es ist da momentan etwas am Kommen. Endlich sind die Orchester ausgeglichen, endlich erleben wir Dirigentinnen, endlich Intendantinnen und endlich auch Opernkomponistinnen. Moritz Eggert (Da hat sich viel getan in letzter Zeit, das wäre ja unvorstellbar gewesen. Also ich weiß noch vor 30  Jahren im Frankfurter Opernhausorchester, wenn da eine Dirigentin auftauchte, hieß es: Da kann ich nicht hingucken, da gucke ich immer nur auf den Busen und so. Das waren die Sprüche der Orchestermusiker. Das ist wirklich wahr, ja. Also das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, ein Chauvinismus ohnegleichen. Ich habe noch bei einem Kompositionslehrer  – das war nicht Wilhelm 65

Killmayer – Unterricht gehabt, der behauptet hat, Frauen könnten nicht komponieren, weil ihnen bestimmte Synapsen im Gehirn fehlen würden. Es ist wirklich unglaublich. Ich nenne den Namen nicht.

Publikum (Aber Fanny Hensel hat schon vor langer Zeit komponiert, vor 200 Jahren. Ich habe ein anderes Problem. Sie, Herr Abels, haben angefangen von den Anfängen der Oper damals, zeitgenössische Musik, das war Monteverdi, Cavallo und all die anderen in Mantua, Venedig, Florenz, die etwas angestoßen haben, was heute noch in mir ganz wichtige Schwingungen produziert. Dann 200 Jahre, 300 Jahre, 100 Jahre davor immer noch. Und nun zu Ihnen, Herr Eggert, als zeitgenössischer Komponist. Die Musik höre ich auch, aber das ist Arbeit, das sind Dissonanzen, das sind Verletzungen, ich übertreibe es mal. Moritz Eggert (Von welcher zeitgenössischen Musik sprechen Sie? Da gibt es so viele Arten. Publikum (Ja, gut, natürlich habe ich auch König David von Honegger im Chor mitgesungen, natürlich auch Benjamin Britten, Leonard Bernstein. Moritz Eggert (Das ist doch mitreißende, tolle Musik, alles, was Sie genannt haben, ist doch super. Publikum (Ja, aber das ist nicht zeitgenössisch, das ist gewesen. Moritz Eggert (Das ist auch zeitgenössisch. Kennen Sie Michel van der Aa z.#B., ein holländischer Komponist, der ganz extrem emotionale, sehr, sehr melodiöse, sehr schön klingende Musik schreibt oder Louis Andriessen? Kennen 66

Sie meine Musik, haben Sie mal eine Oper von mir gehört? Keine Angst, ich will mich nicht über Sie lustig machen, überhaupt nicht. Ich verstehe diese Ängste sehr gut, aber angstfrei ins Leben ist auch ganz gut.

Mitschrift: Toumi Hamadi

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Wolfgang Bunzel

Am Nullpunkt der Geschichte Novalis’ Die Christenheit oder Europa und Friedrich Schlegels Zeitschrift Europa als komplementäre Gründungsdokumente des romantischen Europa-Diskurses

Das Nachdenken über Europa gehört zu jenen thematischen Diskursfeldern, die die Romantik besonders nachhaltig geprägt, wenn nicht gar begründet hat. Während für das 18. Jahrhundert die Bezeichnung ›Europa‹ kaum mehr war als »ein geographischer Begriff«, verband sich ab der Wende zum 19. Jahrhundert damit die »Idee eines kulturellen Raumes«.* Diese anhaltende und folgenreiche Akzentverschiebung geht in erster Linie auf Autoren der Romantik zurück. Mehr noch: Im Rückblick zeigt sich, »daß sich zwischen 1799 und 1829 ein eigenständiger, romantisch zu nennender Europa-Diskurs«** herausgebildet hat. Auslöser und im weiteren Verlauf beständiger Katalysator dieses Diskurses war die territoriale Arrondierungs- und später *

Achim Seifert: Die Entdeckung Europas durch die deutsche Romantik – Zur Europaidee bei Novalis und Friedrich Schlegel. In: Walter Pauly$/$Klaus Ries (Hg.): Staat, Nation und Europa in der politischen Romantik. Baden-Baden 2015 (= Staatsverständnisse 83), S."267-289, hier: S."267. ** Uwe Japp: Die diskursive ›Imagination‹ Europas bei August Wilhelm und Friedrich Schlegel. In: Die Topographie Europas in der romantischen Imagination. Hg. von Florence Pennone. Freiburg (Schweiz) 2009 (= Colloquium Helveticum 39), S."101-118, hier: S."102; Digitalisat: http://www.goethezeitpor tal.de/db/wiss/schlegel/japp_europa.pdf.

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die aggressive Hegemonialpolitik Napoleons. Die schrittweise Auflösung der bisherigen politischen Ordnung des Kontinents erzwang eine grundsätzliche Selbstvergewisserung darüber, was ›Europa‹ als Ganzes überhaupt ist bzw. sein könnte, und regte an zu klären, wie das Verhältnis der einzelnen, nur zum Teil als Nationalstaaten organisierten Territorien zueinander eigentlich gedacht werden soll. Dies galt vor allem für die deutschsprachigen Länder, weil hier keine nationalstaatliche Verfasstheit gegeben war und der Gedanke einer nationalen Einigung die weitere Frage nach dem Verhältnis der einzelnen Staaten zueinander aufwarf. Zugleich schuf die in Gang gekommene Verschiebung der geopolitischen Koordinaten und die damit verbundene Infragestellung der vertrauten Kräftekonstellationen Raum für die Entwicklung von Wunschträumen, die unbelastet von Fragen der Umsetzbarkeit und jenseits konkreter Handlungsempfehlungen Visionen von Europa skizzierten. Diese spekulative Offenheit des Denkens, oder besser der Imaginationskraft, gab es freilich nur in der Anfangsphase des romantischen Europa-Diskurses. Schon nach kurzer Zeit verengte sich der Vorstellungshorizont wieder, und die immer stärker spürbar werdende, faktenschaffende Macht napoleonischer Realpolitik entzog den Autoren die Grundlage für poetische Möglichkeitsentwürfe und zwang sie zu zunehmend eindeutigeren politischen Stellungnahmen, die sehr bald von aggressiven Tönen durchzogen wurden und nationalistischen Selbstbehauptungsphantasien Platz machten. Überhaupt fällt auf, dass die Stellungnahmen der Romantiker zu Europa allesamt in hohem Maß situationsabhängig sind und daher im Kontext ihres Entstehungsanlasses bzw. ihres Veröffentlichungszeitpunkts betrachtet werden müssen. Zugleich bleiben sie stark zukunftsbezogen und weisen daher über ihr jeweiliges Abfassungsdatum hinaus, sodass die Texte in mehr 70

oder minder starkem Maß durch eine Spannung zwischen zeitgeschichtlicher Gegenwartszentrierung und visionärer Überzeitlichkeit gekennzeichnet sind.

Zwischen Vision und Phantasma: Novalis’ Rede Die Christenheit oder Europa Dies zeigt sich besonders deutlich bei der diskursbegründenden Auftaktschrift Die Christenheit oder Europa. Novalis hat sie »zwischen Anfang Oktober und dem 9. November«* 1799 abgefasst. Kurz darauf trug der 27-Jährige seinen Text in Jena vor, und zwar während des berühmt gewordenen Romantikertreffens, bei dem vom 11. bis zum 14.$/15. November die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel sowie ihre Lebensgefährtinnen Caroline Schlegel und Dorothea Veit mit Ludwig Tieck und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zusammentrafen. Die damalige politische Lage ist rasch skizziert: Bereits 1791 hatten sich Österreich und Preußen in der Pillnitzer Deklaration zu einem gemeinsamen Bündnis gegen das revolutionäre Frankreich zusammengeschlossen. Dieser Koalition schlossen sich wenig später weitere europäische Länder an, darunter Großbritannien und Spanien. Frankreich reagierte darauf am 20. April 1792 mit einer Kriegserklärung, die den Ersten Koalitionskrieg einleitete, bei dem die französische Armee erste Territorien erobern konnte. Dies führte 1799 zum Ausbruch des Zweiten Koalitionskrieges, der von einer Allianz aus Österreich, Großbri*

Philipp W. Hildmann: Die Christenheit oder Europa oder Von Novalis lernen? Zur Relevanz eines romantischen Referenztextes im aktuellen Europadiskurs. In: Stimmen der Zeit 5 (2006), S."334-343; Digitalisat: http://www.goethezeitportal.de/filead min/PDF/db/wiss/novalis/christenheit_hildmann.pdf.

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tannien, Russland, Portugal, Neapel, dem Osmanischen Reich und dem Kirchenstaat geführt wurde. In diesem Jahr errang General Napoleon Bonaparte die Führung des französischen Staates. Historisch betrachtet war Europa also im Herbst 1799 seit mehr als sieben Jahren »von den Revolutionskriegen erschüttert und zerrissen«.* Die damit gegebene politische Situation war aber noch kein hinreichender Grund für die Abfassung einer Europa-Schrift. Es musste vielmehr ein konkretes Ereignis hinzukommen, das in seiner symbolischen Wirkung so einschneidend war, dass es als ultimatives Krisensignal gedeutet werden konnte. Eine solche Situation nun war zum Zeitpunkt der Abfassung von Novalis’ Schrift gegeben. Im Februar 1798 war der Kirchenstaat in eine Republik umgewandelt, Papst Pius VI . abgesetzt, auf französisches Territorium gebracht und in der Festung Valence inhaftiert worden, wo er am 29. August 1799 schwer krank starb. Und da nach seinem Tod staatlicherseits das Verbot ausgesprochen wurde, einen Nachfolger zu wählen, endete im Spätsommer dieses Jahres die Institution des Papsttums und damit die bisherige Verfasstheit der katholischen Kirche. In Die Christenheit oder Europa heißt es diesbezüglich an einer Stelle: »das alte Pabstthum liegt im Grabe, und Rom ist zum zweytenmal eine Ruine geworden« (NS III , S."524).** Nun *

Achim Seifert: Die Entdeckung Europas durch die deutsche Romantik – Zur Europaidee bei Novalis und Friedrich Schlegel, S."270. ** Die Sigle »NS III « steht für: Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd."3: Das philosophische Werk II . Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. 3., von den Hg. durchgesehene und revidierte Auflage. Stuttgart$/$Berlin$/$Köln$/$Mainz 1983; Nachweise erfolgen mittels Angabe der Seitenzahl direkt im Text.

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war ein nachgerade katastrophischer Nullpunkt erreicht, der auch für einen Protestanten, der aus einem pietistisch geprägten Elternhaus stammt, eine grundlegende Reflexion über Bedeutung, Funktion und Sinn der Religion in Europa nötig zu machen schien. Die Hoffnung richtete sich umso stärker auf die Religion als friedensstiftende Kraft, als der nach dem Vertrag von Campo Formio (17. Oktober 1797) zwischenzeitlich bestehende Friedenszustand durch Frankreichs Kriegserklärung an Österreich (12. März 1799) bereits wieder beendet und der Zweite Koalitionskrieg in vollem Gange war. Novalis nun amalgamiert die Hoffnung auf einen künftigen Frieden mit der Vorstellung einer »neuen, dauerhafteren Kirche« (NS III , S."524), die die konfessionelle Spaltung überwunden hat. Vorstellbar wäre dann, dass »ein Staat der Staaten« (NS III , S."522) entsteht. Doch auf rein politischer Ebene sei ein solcher »Staatenverein« nicht dauerhaft zu begründen, denn »aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand« (NS III , S."522). Glücklicherweise bestehe die Aussicht, dass »mit dem Frieden ein neues höheres religiöses Leben […] zu pulsiren« (NS III , S."518#f.) beginne. Denn: »Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installiren.« (NS III , S."523) Novalis geht es also um die Etablierung und kulturelle Absicherung einer dauerhaften Friedensordnung, die allererst »Europas […] Auferstehung« (NS III , S."524) bewirken könne. Um eine solche zu erreichen, müsse der Glaube der entscheidende Reformmotor sein. Es fällt auf, dass Novalis bei der Skizzierung seiner Auferstehungsvision »Christenheit« und »Christentum« wohlweislich unterscheidet. Prima vista scheinen beide Termini Synonyme zu sein. Dieser Eindruck aber täuscht. Während 73

»Christentum« der Name einer Weltreligion ist, fungiert die Bezeichnung »Christenheit« als Sammelbegriff für die Gesamtheit der christlich Getauften. Einmal haben wir es mit einem Abstraktum zu tun, das andere Mal mit einem Kollektivsingular. Die dadurch gegebene Bedeutungsdifferenz ist gewaltig und modifiziert den Sinn von Novalis’ Text in entscheidender Weise. Zeigen lässt sich dies etwa an folgender Aussage: »Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden, und sich wieder ein[e] sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgränzen bilden, die alle nach dem Ueberirdischen durstige Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird.« (NS III , S."524) In einer vergröberten Lesart propagiert Novalis damit einen Universalkatholizismus mit einem Papst als oberster Gewalt wie im Mittelalter. Liest man aber genau, dann wird hier vielmehr ein supranationaler Zusammenschluss der Christen selbst gefordert, also eine Art Graswurzelbewegung, die den geforderten spirituellen Erneuerungsprozess in eigener Regie vorantreibt und sich kirchliche Institutionen gewissermaßen auf basisdemokratischem Weg ganz neu schafft. Deshalb ist Novalis’ Text auch weder ein »Aufsatz über Katholicismus«* noch ein »Aufsatz über Christenthum«,** wie Friedrich Schlegel vereinfachend formuliert. In der Forderung, dass »die *

Friedrich Schlegel an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, 10.#10.#1799; Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Begründet und hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, fortgeführt von Andreas Arndt. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bd."25: Höhepunkt und Zerfall der romantischen Schule (1799-1802). Mit Einleitung und Kommentar hg. von Hermann Patsch. Paderborn$/$München$/$Wien$/$Zürich 2009, S."10. ** Friedrich Schlegel an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, 15.#11.#1799; ebd., S."23.

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Christenheit […] wieder lebendig […] werden« müsse, klingt im Übrigen deutlich die Definition der »progressiven Universalpoesie« an, deren »Bestimmung« es ja ist, »die Poesie lebendig […] [zu] machen«.* Überhaupt zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass viele Formulierungen, die Novalis gebraucht, bewusst mehrdeutig sind. »Nach dem Ueberirdischen durstig« zu sein – das charakterisiert christliche Gläubige ebenso wie idealistische Transzendentalphilosophen oder romantische Poeten. Ins Auge sticht aber vor allem die Ambiguität des Adjektivs ›geistlich‹, das natürlich im kirchlichen Kontext der eigentliche Gegenbegriff zu ›weltlich‹ ist, aber eben auch als Umschreibung für ›geistig‹-spirituell verstanden werden kann. Durch solch bewusst unscharfen Sprachgebrauch kann Novalis sich christlich-religiöser Terminologie bedienen, diese aber zugleich nicht nur philosophisch anschlussfähig halten, sondern sie auch universalpoetisch entgrenzen. Doch nicht nur in seiner Wortwahl bleibt Novalis’ Text mehrdeutig, charakteristisch für ihn ist auch seine Unbestimmtheit in temporaler und topographischer Hinsicht. Eine eindeutig bestimmbare  – und sowohl räumlich als auch historisch klar verortbare – Person wie Galileo Galilei beispielsweise wird nicht namentlich genannt, und der Name des Reformators Martin Luther wird lediglich indirekt durch das Adjektiv »Lutherisch« (NS III , S."518) angedeutet. Damit nicht genug: Das Wirken der Jesuiten wird ausführlich geschildert, die Bezeichnung des Ordens aber *

Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Begründet und hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Erste Abteilung. Kritische Neuausgabe. Bd."2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. Paderborn$/$München$/$Wien$/$Zürich 1967, S."182.

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konsequent unterschlagen. Selbst die längst eingeführte und mittlerweile gängige Epochenbezeichnung ›Mittelalter‹ (medium aevum) begegnet nicht in Die Christenheit oder Europa. Ebenso wenig geht Novalis auf die räumliche Ausdehnung Europas ein, die ja zumindest im Osten reichlich unklar ist, weil es sich um einen Halbkontinent handelt. Mithin wird ein Kulturraum beschworen, dessen geographische Extension nicht festgelegt ist. Diese gezielte Entkonkretisierung überführt Novalis’ Geschichtserzählung in eine mythische Narration. Obwohl der Leser ausdrücklich »an die Geschichte« verwiesen und ihr »belehrender Zusammenhang« (NS III , S."518) beschworen wird, suspendiert Novalis doch die historische Empirie und die mit ihr einhergehende Macht des Faktischen zugunsten eines Geschichtskonstrukts, das in seinen Grundzügen seltsam entstellt wirkt. Es wird zwar beständig auf wichtige Ereignisse der letzten 500 Jahre angespielt, dadurch dass aber exakte zeitliche Koordinaten nicht gegeben werden und die konkreten Akteure nur erahnbar sind, verbleibt die gesamte Narration im Modus der Andeutung. Die damit einhergehende Entwirklichung lässt sich mit Stefan Matuschek als Akt der »Mythologisierung« beschreiben. Allerdings benötigt auch der Mythos Personennamen.* Novalis selbst empfiehlt in diesem Zusammenhang, mit aller Entschiedenheit »den Zauberstab der Analogie [zu] gebrauchen« (NS III , S."518). Kommt dieses Instrument zum Einsatz, können konkrete Sachverhalte durch andere, vergleichbar erscheinende ersetzt und auf dem Wege einer Ähnlichkeitsrelation so verwandelt werden, dass *

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Matuschek selbst verweist darauf, wie bewusst an einer Stelle auf Sisyphos Bezug genommen wird; siehe Stefan Matuschek: Mythologisieren als modernes Darstellungsverfahren. In: Philologische Mythosforschung. Hg. von Peter Tepe und Tanja Semlow. Würzburg 2016 (= Mythos 4), S."114-130, hier: S."124.

man sie kaum wiederzuerkennen vermag. Die Wirkung des »Analogie«-»Zauberstabs« entspricht im Wesentlichen dem Verfahren, das Novalis als Form des Romantisierens umschrieben hat: »Romantisiren ist nichts als eine qualit. [ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. […] Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisire ich es. – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt – es bekommt einen geläufigen Ausdruck. […] Wechselerhöhung und Erniedrigung.«* Wie das Verfahren des Romantisierens konkret funktioniert, hat Novalis in seinem etwa zeitgleich zur EuropaRede verfassten Text Glauben und Liebe oder Der König und die Königin vorgeführt. Dort werden – projiziert auf den preußischen Herrscher Friedrich Wilhelm III . und seine Frau Luise – Idealbilder königlicher Regentschaft entworfen, die praktisch nicht einlösbar sind und hinter denen die konkreten Personen hoffnungslos zurückbleiben müssen. Und auch hier ist Novalis kein Verfechter eines realitätsblinden Royalismus, sondern ein gewiefter Autor, der den Glauben an eine höhere weltliche Instanz als freiwillig getroffene Übereinkunft von Bürgern versteht, die damit ihre eigene staatspolitische Meliorisierung betreiben. Das utopisch anmutende Ziel dieses Veredelungsprozesses *

Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd."2: Das philosophische Werk I. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Revidiert von Richard Samuel und Hans-Joachim Mähl. Stuttgart$/$Berlin$/$Köln$/$Mainz 1981, S."545.

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lautet in Kurzform: »Alle Menschen sollen thronfähig werden.«* Das in Glauben und Liebe zur Anwendung kommende Verfahren der Schaffung einer – von vornherein als solche durchschauten  – Fiktion, deren Sinn darin besteht, eine bewusste Distanz zum beklagenswerten Ist-Zustand herzustellen, um eine Vision zu formulieren, welche die Kraft hat, die Gegenwart utopisch zu transformieren, findet in ähnlicher Weise Anwendung in Die Christenheit oder Europa. Hier dient die gezielte Verklärung der Vergangenheit dazu, den Zukunftsentwurf eines europäischen Friedenszustandes skizzieren zu können, der die historischen Unzulänglichkeiten überwindet und einen einheitlichen Kultur-Raum Europa begründen hilft, den es in dieser Form bislang noch nicht gegeben hat. Novalis verherrlicht also weder die christliche Religion noch die zufälligen Gestalten, in denen sich diese bislang manifestiert hat, sondern beschwört vielmehr den Geist des Christentums,** um die »heilige Zeit des ewigen Friedens« (NS III , S."524) vorstellbar zu machen. Radikal an diesem Entwurf ist, dass Novalis die Menschen nicht mehr auf ein Leben nach dem Tod vertröstet, sondern sie dazu anleiten möchte, »den Himmel auf Erden zu erblicken« (NS III , S."524). Wenn ihnen das gelingt, dann werden sie automatisch »Mitbürger des Himmelreichs« (NS III , S."524), wie es bewusst doppeldeutig heißt. Der Terminus »Himmelreich« ruft natürlich die Vorstellung einer jenseitig-transzendenten Welt auf, für die das Christentum wie kaum eine andere Religion steht, er ist aber eben auch im konkreten Sinn eines * Ebd., S."489. ** Es entbehrt nicht der Ironie, dass François-Auguste Chateaubriand seine Apologie des Katholizismus dann Génie du christianisme (1802) betitelt hat.

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›himmlichen Reichs‹ zu verstehen, das bereits im Irdischen verwirklicht werden kann und soll. Auch der Begriff ›Reich‹ bezeichnet ja sowohl ein politisches Territorium als auch – im übertragenen Sinn – eine himmlische Seinssphäre. Vor diesem Hintergrund gesehen verbirgt sich hinter der Idee einer spirituellen Einheit Europas der Versuch einer Repoetisierung der Geschichte. Es geht Novalis um »Religionserweckung« (NS III , S."524). Novalis ist freilich nur insofern ein »gegenrevolutionärer Denker«,* als er das geschichtliche Ereignis der Französischen Revolution als Endpunkt einer Kette von Zusammenhang zerstörenden Faktoren sieht. Zugleich ist er davon überzeugt, dass sich in der Entwicklung der Wissenschaften und Künste »schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt« (NS   III , S."519) zeigen. »Wissenschaften und Künste« (NS   III , S."519) erweisen sich damit als einheitsstiftende Elemente, die die politische Zerrissenheit zu kompensieren sich anschicken. Die aktuellen Umwälzungen in Philosophie (Fichte) und Ästhetik (romantisches Kunstprogramm) holen nun nach, was die Französische Revolution nicht vermochte. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass Die Christenheit oder Europa nicht als expositorischer Text gelesen werden darf. Novalis’ Vision  – in einer etwa zur gleichen Zeit entstandenen Notiz weist der Verfasser extra auf die Bedeutung des »Visions Sinns« (NS III , S."601) hin  – ist eben kein Europa-Essay im direkten Sinn des Wortes, sondern ein hochgradig ästhetisches Gebilde, bei dem unklar ist, wer eigentlich spricht, dessen Adres*

Achim Seifert: Die Entdeckung Europas durch die deutsche Romantik – Zur Europaidee bei Novalis und Friedrich Schlegel, S."276.

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saten schwer zu bestimmen sind und der generisch zwischen unterschiedlichen Ausdrucksmustern hin und her oszilliert. Ähnlich wie der Autor die Mehrfachbedeutung von Begriffen nutzt, um mit den Mitteln der Suggestion einen Assoziationsraum zu schaffen, belässt er auch den Gattungscharakter seines Textes im Ungefähren. Schon der Basisstatus ist unklar: Handelt es sich nun um eine Rede oder um eine Schrift? Bekannt ist, dass Novalis »die Europa«* auf dem Romantikertreffen in Jena vorgetragen hat. Angesichts der durchgearbeiteten Sprachgestalt kann aber ausgeschlossen werden, dass es eine freie Rede war, der Autor muss sie vorgelesen haben. Mithin lag seinem Vortrag ein Manuskripttext, also eine schriftliche Vorlage zugrunde, die dann lesend zum Leben erweckt wurde. Doch mit dem Auseinandertreten von Schriftgestalt und Situationsperformanz wurde Die Christenheit oder Europa schon bei ihrer ›Uraufführung‹ als Rollenrede erkennbar. Novalis ist zwar der Autor, doch er hat sein Textgebilde so angelegt, dass es über eine Art von implizitem Sprecher-Ich verfügt. Vor allem die rhetorischen Fragen, die an einer Stelle begegnende Exklamation »O!« (NS III , S."518) und die direkten Hörer- bzw. Leseranreden entwerfen eine fingierte Redeinstanz und mit ihr ein ebenso fingiertes Publikum. Denn zu den »Genossen meines Glaubens« (NS III , S."524), die im letzten Satz erwähnt werden, kann das tatsächlich vorhandene Auditorium im Wohnhaus der Schlegels nur mit größten Vorbehalten gerechnet werden. Allein das Faktum, das Schelling während des Treffens seine satirische Gegenschrift Epikurisch Glaubensbekenntniß zum Besten gab, zeigt, dass die reale Hörerschaft nicht mit dem vom Text avisierten Publikum *

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Novalis an Friedrich Schlegel, 31.#1.#1800; Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, Bd."25, S."54.

verwechselt werden darf. Als Rollenrede mit nicht markierter Sprecherinstanz, die situativ an unterschiedlichste Gattungstraditionen anknüpft, aber entzieht sich der Text der Greifbarkeit. Wie weit er tatsächlich meint, was er sagt, bleibt letztlich unbestimmbar, ist aber auch nicht relevant, solange man daraus keine konkreten Handlungsempfehlungen ableitet. Indem Novalis den Text »in Form einer fingierten ›Rede‹« gestaltet, bemüht er sich auch, ihn »programmatischen Zugriffen«* zu entziehen  – was faktisch freilich gescheitert ist, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt. Weil Die Christenheit oder Europa »ebensogut zu den Dichtungen wie zum philosophischen Werk gestellt werden« (NS III , S."506) kann, nimmt sie eine Sonderstellung in Novalis’ Œuvre ein. Richard Samuel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Rede »in ihrer Struktur und stilistischen Ausdrucksweise einzigartig in seinem Werk« (NS   III ,  S."497) ist. »Als schön formulierter poetischer Traum von der neuen Christenheit, als Parteinahme für den Frieden und gegen den Krieg, als […] Kritik an den politischen Gegebenheiten der Zeit, an der Habsucht des Bürgertums, an Verflachungserscheinungen der Aufklärungsphilosophie, an der protestantischen Überschätzung der Philologie auf Kosten der Geschichte und als Attacke auf die generelle Poesielosigkeit seiner Gegenwart«** amalgamiert Novalis’ Schrift unterschiedlichste Diskursfragmente und Argumentationsfiguren zu einem gewagten ästhetischen Konstrukt, in dem »die historische ReligiWilfried Malsch: Europa. Poetische Rede des Novalis. Deutung der Französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte. Stuttgart 1965, S."V. ** Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München$/$Zürich 1992 (= Serie Piper 1418), S."42.

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on, das Christentum, poetisiert oder, wenn man so will, romantisiert«* wird.

Komparative Kulturdiagnostik: Friedrich Schlegels Zeitschrift Europa Einem gänzlich anderen Impuls als Novalis’ rhetorisch in sich verspiegelte Vision folgt Friedrich Schlegels Zeitschrift Europa. Zunächst fällt auf, dass die »Vorrede« äußerst knapp gehalten ist und das zentrale Losungswort unerwähnt lässt, aber auch sonst fehlt ein Text, den man mit Fug und Recht als programmatisch ansehen könnte und der den mit dem Titel markierten Anspruch ausfalten würde. In der Europa geht es Friedrich Schlegel erkennbar weder darum, eine utopische Vorstellung zu entwerfen, wie Novalis das in seiner Rede Die Christenheit oder Europa getan hat, noch darum, ein gedankliches Konzept von ›Europa‹ auszuformulieren. Ja, der Herausgeber unterläuft die mit der Wahl des Titels gegebene Erwartung an eine programmatisch-konzise Gegenstandsbestimmung nachgerade ostentativ. Mehr noch: In den allermeisten Texten bleibt die Zentralformel komplett ausgespart, lediglich in einigen wenigen Beiträgen taucht der Begriff überhaupt auf. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Europa im Gegensatz zum Athenaeum »für einen allgemeineren Kreiß« von Adressaten »berechnet«** war. Erkennbar wird *

Herbert Uerlings: Das Europa der Romantik. Novalis, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Manzoni. In: Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne. Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte. Hg. von Silvio Vietta, Dirk Kemper, Eugenio Spedicato. Berlin 2005 (= Reihe der Villa Vigoni 17), S."39-72, hier: S."49. ** Friedrich Schlegel an Charlotte Ernst, 10.#4.#1804; Kritische

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dies nicht nur an der thematischen Vielfalt der Beiträge – sie reicht von Theaterkritiken, Ausstellungsberichten, Reflexionen über den aktuellen Stand von Literatur und Philosophie über Gesellschaftsnachrichten sowie vermischte Ansichten und Miscellen bis hin zu Informationen Ueber die Resultate der Expedition nach Egypten und einer Uebersicht der neuesten Fortschritte der Physik  –, sondern auch am fasslichen Gestus der Texte. Allein im ersten Heft sind nicht weniger als drei Beiträge in Briefform abgefasst: Friedrich Schlegels Einleitungstext Reise nach Frankreich ist als eine Art briefliche Mitteilung an einen abwesenden deutschen Freund angelegt (hinter dem Ludwig Tieck vermutet worden ist),* seine Nachricht von den Gemählden in Paris richtet sich »An einen Freund in Dresden«, und in den Ansichten und Miscellen finden sich Auszüge Aus dem Briefe einer Deutschen, der am »9ten Messidor l’an X« (E I$/1, S."159)**  – also am 28.  Juni 1802  – aus Paris an eine Freundin in Berlin geschrieben wurde. Zu dieser kommunikativ-lebensweltlichen Ausrichtung passt auch der Umstand, dass einige Texte in Dialogform gehalten sind; dazu zählen Dorothea Schlegels Gespräch über die Friedrich Schlegel-Ausgabe. […] Dritte Abteilung. Bd."26$/1: Pariser und Kölner Lebensjahre (1802-1808). Erster Teil (Juni 1802-Dezember 1805). Text. Hg. von Hans Dierkes unter Mitarbeit von Almuth Dierkes. Paderborn 2018, S."184. * Vgl. Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. […] Erste Abteilung. Kritische Neuausgabe. Bd."7: Studien zur Geschichte und Politik. Eingeleitet und hg. von Ernst Behler. München$/$Paderborn$/$Wien$/$Zürich 1966, S."XL. ** Die Sigle »E« steht für: Europa. Eine Zeitschrift. Hg. von Friedrich Schlegel. 2 Bände zu je zwei Heften. Frankfurt a.#M. 1803$/05 (Fotomechanischer Nachdruck. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Ernst Behler. Darmstadt 1963); Nachweise erfolgen mittels Angabe von Band- und Heftnummer sowie Seitenzahl direkt im Text.

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neuesten Romane der Französinnen, Achim von Arnims Erzählungen von Schauspielen oder Helmina von Chézys Gespräch über Tiecks Poesie. Im Kern ging es dem Herausgeber darum, sein vorwiegend deutsches Publikum mit aktuellen Aspekten der Kultur in Paris bekannt zu machen. Eines der Hauptziele der Zeitschrift war es, die Leser »auf eine unterhaltende Weise lebhaft nach dem Schauplatz zu versetzen, der jetzt so viel Merkwürdiges vereinigt« (E I$/1, S."158). Insofern könnte die Zeitschrift Europa treffender ›Berichte aus Paris‹ heißen. Wie die Titel einzelner Beiträge zeigen, richtete sich der Fokus auf das gegenwärtige Frankreich, aber auch auf die französische Kultur früherer Zeiten (Nachricht von provenzalischen Manuscripten) und die Kultur einiger Nachbarländer (Ueber das spanische Theater). Übertragungen sind dagegen selten; Ausnahmen bilden lediglich die von Friedrich Schlegel stammende Probe einer metrischen Uebersetzung des Racine und Gottfried Hagemanns aus dem Persischen übertragene Geschichte des Bachram Gur. Es ist also durchaus nicht so, dass die Perspektive eine dezidiert europäische wäre, vielmehr konzentriert sich die Berichterstattung auf die beiden Nachbarnationen links und rechts des Rheins, und nur gelegentlich wird der Fokus über Paris hinaus auf die (West-)Romania erweitert. Durch ihre Rolle als »capitale de l’Univers« (E I$/1, S."30) kommt der französischen Hauptstadt die Funktion eines Brennspiegels zu, der es erlaubt, für die kulturelle Entwicklung der Gegenwart relevante Faktoren in den Blick zu nehmen. Die einzelnen Berichte über das, was in der französischen Hauptstadt derzeit literarisch, künstlerisch und wissenschaftlich geschieht, werden denn auch immer wieder perspektiviert durch komparative Beiträge, die Ausblicke auf den Stand der Kultur in Europa bieten. Diese sind aber durchaus nicht darauf fokussiert, dezidiert 84

über ›Europa‹ als Entität nachzudenken. Mehr noch: Ohne den Titel der Zeitschrift wäre dieser Aspekt kaum erkennbar. Im Gegensatz zu Novalis also, der ›Europa‹ zum Fahnenwort einer religiösen Utopie und zur Kennformel eines hochambitionierten kulturellen Erneuerungsprogramms macht, bleiben die Umrisse des im Titel von Schlegels Zeitschrift angedeuteten ›Europa‹ unbestimmt. Der Herausgeber verweigert geradezu die Konturierung des Begriffs und beschränkt sich bewusst auf vage Andeutungen. Am ehesten leistet eine solche Perspektivierung der Auftakttext Reise nach Frankreich, doch auch hier geschieht sie eher unauffällig. Pointiert gesagt: Reflexionen über Europa verstecken sich in einem Beitrag, der dies erst einmal nicht vermuten lässt. Ähnlich wie Novalis’ Die Christenheit oder Europa ist auch Friedrich Schlegels Text Reise nach Frankreich kein »Europa-Essay« im engeren Sinn. Gattungstypologisch bietet er sich dar als »ein Reisebild, das zwischen intimem Brief […], Reisebericht und Essay changiert«.* »Um dem zeitdiagnostischen Gebot dieser von Napoleon dominierten Jahre zu entsprechen, wählt Schlegel das Genre des Reiseberichts«.** Die an ein ungenanntes Gegenüber gerichtete Schilderung des Reiseverlaufs ist dabei topographisch zwischen den beiden Koordinaten Dresden und Paris aufgespannt. Dazwischen werden einzelne hochsymbolische Orte und Regionen als Stationen hervorgehoben: Leipzig, Weimar, die Wartburg, der Rhein auf deutscher Seite, das annektierte Mainz und *

Ulrich Breuer: Friedrich Schlegel. In: Romantik. Epoche – Autoren – Werke. Hg. von Wolfgang Bunzel. Darmstadt 2010, S."60-75, hier: S."70. ** Matthias Schöning: Die Reise nach Frankreich und zwei Vorlesungen zur Geschichte. In: Johannes Endres (Hg.): Friedrich Schlegel Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, S."246-251, hier: S."247.

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Metz auf französischer. Die von der Landschaft geweckte Erinnerung an die »großen Zeiten« der deutschen Vergangenheit trifft dabei auf die Wahrnehmung der »gegenwärtigen Armseligkeit« (E I$/1, S."11). Paris ist das Ziel der Reise, und da die französische Hauptstadt »recht eigentlich in der Mitte […] von Europa« liegt, lädt dieser Ort »zu den allgemeinsten Reflexionen« (E I$/1, S."30) ein. Und natürlich eignet sich die Konstellation des kritisch beobachtenden Deutschen im napoleonischen Frankreich dazu, komparative Kulturvergleiche anzustellen und über den Stellenwert von Europa nachzudenken. Deshalb ist Schlegels Text auch »als Doppelporträt deutscher und französischer Landschaft und Kultur angelegt«.* Frankreich kommt dabei freilich nicht sonderlich gut weg. Schlegel weist nicht nur darauf hin, wie sehr »der entschiedene Materialismus einiger französischen Philosophen« dem Idealismus der Deutschen entgehenstehe, er betont auch, dass in Frankreich »Wissenschaften, schöne Literatur und Gelehrsamkeit […] ganz isolirt neben einander« (E I$/1, S."60) existieren würden. Letztlich sei in Frankreich eine rein oberflächliche Kultur zu beobachten, hinter der sich geistfeindliche Tendenzen verbergen. »Egoismus« (E I$/1, S."26 und 27) und »Absichtlichkeit auch in den kleinsten Dingen« (E I$/1, S."26) seien Indikatoren für Zweckrationalität und durchgehende Kommerzialisierung. Schlegel beklagt deshalb vor allem, »daß man nichts ohne Geld haben kann« (E I$/1, S."27). Die zur »Monotonie« führende und unbestimmt bleibende »Universalität« (E I$/1, S."22) der Franzosen stehe dabei in krassem Gegensatz zur »ganz individuellen Bildung der Deutschen« (E I$/1, S."21), die insbesondere in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erfahren habe. In Deutschland – und nur dort – *

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Ebd.

sei eine »rastlose Thätigkeit und universelle Wechselwirkung […] der Künste und Wissenschaften« (I$/1, S."41) zu beobachten. Vor allem Fichte und Schelling, August Wilhelm Schlegel und Tieck, aber auch Goethe hätten hier Philosophie und Poesie zu neuer Blüte gebracht. Der in Paris überall spürbare »Mangel an Phantasie« (E I$/1, S."26) allerdings sei »die Folge einer gewaltsamen oder zufälligen Ertödtung« und »kann nur dem Zeitalter, nicht der Nation als ein ursprünglicher Charakter zugeschrieben werden« (E I$/1, S."27). Eine »enorme Masse von Plattheit« und die Dominanz von »Gewinn und Wucher« (E I$/1, S."28) prägen demnach die europäischen Nationen insgesamt. Das traurige Ergebnis ist: »Gegen diese Europäische Gleichheit verschwindet in der That jeder Nationalunterschied« (E I$/1, S."28#f.). Frankreich sei lediglich der Ort, an dem sich die »allgemeine Europäische Verderbtheit unsers Zeitalters« (E I$/1, S."27) besonders krass zeige. Auf den ersten Blick ähnelt Schlegels Diagnose der von Novalis. Wie dieser ist auch Schlegel von einer »Verachtung gegen sein Zeitalter« (E I$/1, S."36) durchdrungen und davon überzeugt, dass Europa »moralisch und politisch genommen, schon völlig zerstört und untergegangen« sei: »Tiefer kann der Mensch nun nicht sinken; das ist nicht möglich.« (E I$/1, S."35) »Seit dem Studium-Aufsatz ist die Grundfigur Schlegelscher Zeitdiagnose und Geschichtsphilosophie geläufig: die Gegenwart ist End- und Tiefpunkt einer katastrophalen Entwicklung; sie gibt Grund und Anlass, den Blick zurück in die Vergangenheit zugunsten einer neu zu entwerfenden Zukunft zu richten mit der Absicht, die Gegenwart zu tilgen. Diese Grundfigur wird in der Reise nach Frankreich auf den neuesten Stand der Zeit und Theorie gebracht.«* *

Günter Oesterle: Friedrich Schlegel in Paris oder die romantische Gegenrevolution. In: Les Romantiques allemands et la

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Gleichwohl hält Schlegel sich mit Prophetien auffällig zurück, denn: »Daraus aber, daß es so weit gekommen ist, folgt mit nichten, daß es nun bald besser werden müsse. Ferne sey es von uns, so eilfertig zu schließen.« (E I$/1, S."36) Während Novalis also ein mit dem Ende des Papsttums gegebenes historisches Krisendatum zum Anlass nimmt, um einen Wendepunkt der Geschichte zu konstruieren, sieht Schlegel – zumindest in den deutschsprachigen Ländern – längst Anzeichen des Aufschwungs, ohne damit freilich die Erwartung einer baldigen kulturellen Regeneration Europas zu verbinden. An die Stelle von Novalis’ temporalem Konstrukt – sein Text liefert ja einen als Prozess kontinuierlichen Niedergangs entworfenen Geschichtsabriss der jüngeren Zeit  – setzt Schlegel ein vornehmlich räumlich akzentuiertes Modell. Auch in seinen literaturgeschichtlichen Studien ersetzt er die anfängliche Chronologie nach und nach durch ein »topographisches Ordnungsprinzip«.* Osten und Westen sind dabei die Basiskoordinaten, die makrogeographisch als Dichotomie zwischen Orient und Okzident und auf die Topographie Europas bezogen als Gegensatz von Deutschland und Frankreich erkennbar werden. Dieses horizontal entworfene Konzept wird dann durch das Hinzutreten der vertikalen Parameter Nord und Süd zu einer mehrdimensionalen Kräftekonstellation, die einen komplexen Symbol-

*

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Révolution française.$/$Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Colloque International organisé par le Centre de Recherches »Images de l’Étranger«. Actes du colloque éd. par Gonthier-Louis Fink. Straßburg 1989 (= Collection Recherches Germaniques 3), S."163-179, hier: S."173; Digitalisat: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/schlegel_fr/oester le_revolution.pdf. Matthias Schöning: Die Reise nach Frankreich und zwei Vorlesungen zur Geschichte, S."137.

raum aufspannt. Erst in einem weiteren Schritt wird dieses topographische Konstrukt temporalisiert. Schlegel ist davon überzeugt, dass Europa die Kräfte für eine fundamentale Reorganisation nicht selbst generieren kann, sondern dass eine »Einwirkung von außen« (E I$/1, S."36) erfolgen müsse. Angewiesen sei der Kontinent dabei auf die geistigen Ressourcen »des Orients und des Nordens«, »die sichtbaren Pole des guten Princips« (E  I$/1, S."39). Als Erdteil, der zwischen diesen beiden Sphären liegt, kann Europa immerhin künftig zu einer kulturellen Kontaktzone werden, die nötig ist, um »beide zu verbinden« (E I$/1, S."39). Europa ist demnach aktuell eine nicht (mehr) vorhandene Größe. Es hat zwar einmal existiert, ob es aber ein neues geben wird, ist zumindest ungewiss, denn die Bedingungen der Möglichkeit dafür liegen nicht in seinem Verfügungsbereich, sondern sind europaextern. Deshalb bleibt nur, die Hoffnung auf Verwirklichung in die Zukunft zu verlegen: »in diesem Sinn könnte man wohl sagen: das eigentliche Europa muß erst noch entstehen« (E  I$/1, S."39). Rasch wird freilich deutlich, dass dies nur eine ferne Zukunft sein kann. Für Schlegel steht fest, »daß wir die Fortschritte und Annäherungen zu diesem Ziele nicht nach Jahrhunderten, sondern nach Jahrtausenden zu zählen haben« (E I$/1, S."40). Auch wenn es zur Umsetzung des Einsatzes vieler Generationen bedarf, muss an diesem utopischen Projekt aber weiterhin mit vereinten Kräften gearbeitet werden. Und so ruft Schlegel dazu auf: »Wir sollen der Entwicklung […] nicht […] unthätig zusehen, sondern selbst den thätigsten Antheil daran nehmen, wir selbst sollen mitwirken, die tellurischen Kräfte in Einheit und Harmonie zu bringen, wir sollen die Eisenkraft des Nordens, und die Lichtgluth des Orients in mächtigen Strömen überall um uns her verbreiten« (E I$/1, S."39#f.). Wie dies geschehen könnte, bleibt indes völlig offen. Schle89 https://doi.org/10.5771/9783835349179

gels Text oszilliert demnach zwischen einer Absage an den Eurozentrismus und der vagen Hoffnung auf eine wundersame einstige Neubegründung des Konzepts ›Europa‹. Gegenwärtig bietet sich Europa aber eher als Leerstelle dar. Sie wird freilich nicht wie bei Novalis mit einer groß angelegten Vision, sondern mit kulturkontrastiven Beobachtungen gefüllt. Wie der Blick auf die beiden Gründungsdokumente des romantischen Europa-Diskurses zeigt, stehen beide in einem komplementären Verhältnis zueinander. Was sie miteinander verbindet, ist einzig der Umstand, dass hier wie dort Zeitdiagnostik und Kulturreflexion ineinandergreifen. Das Reden über ›Europa‹ hat damit den Charakter eines Schibboleths: Indem über ›Europa‹ nachgedacht wird, wird immer auch über den Charakter der Moderne und den Stand der Gegenwart reflektiert. Ja, dieses Reden hat in mancherlei Hinsicht auch eine Stellvertreterfunktion, weil dabei meist auch andere Kämpfe mit ausgefochten werden. Insofern ist ›Europa‹ seit der Romantik eine Art Diskursjoker, der es gestattet, aktuelle Problemstellungen zum Thema zu machen, ohne diese offen aussprechen bzw. vereindeutigen zu müssen, und der zugleich Relevanz garantiert und Aufmerksamkeit verheißt. In diesem Sinne funktioniert die Europa-Idee immer auch als Interdiskurs, der die Funktion hat, partikularisierte Diskurse zusammenzuführen bzw. bestehende Diskursregeln zu unterlaufen. Sie entspricht daher in besonderem Maß dem romantischen Projekt der Entdifferenzierung. Weil das Denken hier die ihm auferlegten systemischen und disziplinären Regeln überschreitet bzw. vergisst und zu einer ungezügelten, wilden Imagination wird, erscheinen die Begriffe – bewusst – unscharf und die Gattungsstrukturen sind aufgeweicht. Hier werden die von der Aufklärung etablierten 90

onsmuster missachtet und die von der zünftigen Philosophie angewandten Kategorien verflüssigt. Insofern ist der romantische Europa-Diskurs per se ein performativer Akt der eigenen Selbstschöpfung und -legitimierung.

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Paul Michael Lützeler

Die Romantiker und Europa Zu englischen, französischen und italienischen Beiträgen

»Am Anfang war Napoleon.« Dieser Ausspruch Thomas Nipperdays zu Beginn seiner Deutschen Geschichte 18001866 gilt nicht für den Europa-Diskurs. »Im Zentrum steht Napoleon« wäre dagegen eine angemessene Umschreibung seiner Situierung in der geschichtlichen Entwicklung hin zu einem einigen Europa, wie ich in meinem Buch Die Schriftsteller und Europa zu zeigen versucht habe. Der Kaiser der Franzosen ist sowohl zeitlich wie positionsmäßig etwa gleich weit entfernt von der frühneuzeitlichen Vision eines Herzogs von Sully wie von der Praxis der heutigen Europäischen Union. Napoleon ist nicht zu verstehen ohne die großen Pläne zu einer europäischen Con-Föderation wie sie zwischen dem frühen 17. und dem späten 18. Jahrhundert entwickelt wurden: Man denke an die Vorschläge des Herzogs von Sully, des Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseaus. Zudem sind die Erfahrungen mit Napoleons Imperium in unsere kollektiven Erinnerungen und Zukunftsvorstellungen von einem geeinten Europa eingegangen. Hier werfen wir zunächst einen Blick auf Napoleons europäische Ziele, wie sie aus den Perspektiven zweier romantischer Schriftsteller aus England wahrgenommen wurden. Da sind Samuel Taylor Coleridge und William Wordsworth zu nennen. Beide vertraten den für Großbritannien typischen Standpunkt des europäischen 92

Gleichgewichts. Coleridge erinnerte 1802 in seinem Essay »Frankreich und das Rom der Cäsaren« an den Kunstraub Napoleons in Italien. Der gebe einen Vorgeschmack von der künftigen Ausbeutung des Kontinents. Coleridge war sicher, dass Napoleon die Unterwerfung der europäischen Nachbarländer fortsetzen werde. Schon jetzt seien die »schönsten Stätten Europas« durch französische Heere »geplündert worden, um Paris in ein neues Rom« (119) zu verwandeln. Coleridge sagte aber voraus, dass »Frankreich seinen ehrgeizigen Traum« von der »universalen Herrschaft unmöglich verwirklichen« könne. Napoleon überschätze die Kräfte seines Landes. Solange »in Europa vier solche Mächte existieren wie Rußland, Preußen, Österreich und Großbritannien« (135) war es Coleridge nicht bange um die balance of power. Vor allem »Großbritannien«, so ermahnte er seine Landsleute, müsse »immer wachsam und ständig auf dem Posten« (118) sein. Zu einem französischen »Département Themse« (129) werde England jedenfalls nicht mutieren. Coleridge entlarvte 1802 Napoleons Konsularverfassung als diktatorisch. Er spottete über den »Eifer der französischen Regierung, ihr Land als eine neue römische Republik darzustellen« (109). Wenn das Frankreich unter dem Ersten Konsul »überhaupt irgendeiner Epoche gleiche«, müsse es »diejenige sein, in der Rom aufhörte, eine Republik zu sein und die Regierung sich« unter Julius Cäsar »in eine maskierte Militärdiktatur« verwandelte. Diese Übergangszeit sei gekennzeichnet durch den »Beginn der allgemeinen Versklavung«. »Die heutige französische Verfassung«, hielt Coleridge fest, gleiche »derjenigen des römischen Reiches unter den Cäsaren aufs Haar« (114). Und er stellte fest, dass »Frankreichs Republik« faktisch bereits »in ein Kaiserreich umgewandelt« (113) worden sei. Das war mehr als zwei Jahre bevor Napoleon sich zum Kaiser der Franzosen erklärte. Ohne 93

Zweifel, so führte Coleridge weiter aus, handle es sich bei Napoleons Regime um eine »cäsaristische Diktatur« (128), die mit der römischen Republik nichts gemein habe. Coleridge sprach von der »totalen Auslöschung der Freiheit des Volkes« in »Frankreich« (132) unter der Herrschaft des Ersten Konsuls. Im anti-napoleonischen Engagement seinem Freund Coleridge verwandt, griff William Wordsworth 1809 in die politische Diskussion ein mit dem Beitrag »Der Vertrag von Sintra« (181-224). Im August 1808 hatte der englische General Dalrymple im Namen der britisch-portugiesischen Streitkräfte mit Napoleons General Junot in Sintra bei Lissabon einen Vertrag geschlossen, der es den geschlagenen Franzosen erlaubte, unbehelligt aus Portugal abzuziehen. London war über diesen Vertrag aufgebracht; es empfand ihn als Verrat an dem sich gerade auf der Iberischen Halbinsel entwickelnden Widerstand gegen die despotische Fremdherrschaft der Franzosen. Dalrympels Entlassung folgte auf dem Fuße. 1809 wurde Wellington von der britischen Regierung beauftragt, die englischen Truppen in Portugal und Spanien zur Befreiung der beiden Länder zu führen. Das gelang Wellington in den folgenden Jahren. Wordsworth dokumentierte in seinem umfangreichen Pamphlet sowohl den Widerstandswillen der Portugiesen und Spanier als auch die Unterdrückungspolitik der französischen Besatzungsmacht. Er argumentierte mit menschen- und völkerrechtlichen Bedenken gegen diesen Vertrag, den abzuschließen der englischen Generalität nicht erlaubt gewesen sei. Wordsworths Abhandlung ist ein Zeugnis vom Kampf der angelsächsischen Romantiker gegen die Napoleonische Politik. Was Coleridge 1802 prophezeit hatte, nämlich die Unterwerfung der meisten europäischen Völker unter das Diktat des Korsen, war inzwischen Wirklichkeit geworden. Gleichzeitig bedeuteten 94

die Jahre 1808$/1809 aber auch eine Wende. Nun wuchs der Widerstand gegen die Napoleonische Herrschaft, die allerdings erst einige Jahre später in den Befreiungskriegen gebrochen wurde. An diesem Ergebnis war Großbritannien mit Wellington entscheidend beteiligt. Aber auch in Frankreich selbst wuchs die Résistance gegen Napoleon. Wegen der rigiden Zensur konnte sie jedoch nicht viel erreichen. Man denke an François-René de Chateaubriand und Anne Louise Germaine de Staël-Holstein, besser unter dem Namen Madame de Staël bekannt. Chateaubriand war der eigentliche Vater der französischen Romantik mit seinem mehrbändigen, 1802 erschienenen Werk »Der Geist des Christentums«. Es enthielt auch seine Kurzromane »Atala« und »René«, die zu Kultbüchern der europäischen Romantik wurden. Für Victor Hugo und andere Autoren gaben sie Vorbilder ab. Anfänglich lag Chateaubriand viel daran, die Napoleonische Politik zu unterstützen. Schon bald nach seinem Staatsstreich im November 1799 hatte Bonaparte die während der Revolutionsregierungen ins Ausland geflohenen Adligen dazu aufgerufen, in ihr Heimatland zurückzukehren. Chateaubriand hatte sich da nicht lange bitten lassen. Er wusste, dass der erste Konsul das Land im Innern befrieden wollte, kannte auch dessen Bemühungen um einen Ausgleich mit der katholischen Kirche, die während der Revolution bekämpft worden war. Chateaubriands »Geist des Christentums« unterstützte diese Ziele. Der Autor versuchte hier, den Aufklärern, die als ideologische Wegbereiter der Revolution galten, den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er die Bildungsfunktion der Kirche herausstrich. Er betonte die Leistungen des Papsttums in den Wissenschaften und Künsten, ihre Beerbung der griechischen wie römischen Antike. Ja, die Rettung der klassischen Literatur, Philosophie, Architektur und Kunst verdanke man 95

vor allem der Kirche. Er hielt fest: »Diejenigen, welche das Christenthum beschuldigen, es halte die Aufklärung feindselig auf und wirke ihr entgegen, widersprechen augenscheinlich allen historischen Zeugnissen und Thatsachen« (83). Er fuhr fort: »[…] die Kirche [beschützte] seit fünfzehnhundert Jahren Künste und Wissenschaften. Ihr Eifer erschlaffte in keiner einzigen Epoche« (87). Das päpstliche Rom als »ewige Stadt« (88) sei das geistige Zentrum Europas. Chateaubriands Grundthese lautete: »Das christliche Rom war für die neuere Welt gerade das, was das heidnische Rom für die alte Welt war, – nämlich ein allgemeines Band der Nationen« (88). Europa verdanke »dem heiligen Stuhle seine Civilisation, einen Theil seiner besten Gesetze, und fast alle seine Künste und Wissenschaften« (90). »Der Geist des Christentums« wurde ein europäischer Bestseller. Napoleon hätte den Autor wohl mit Ehren überhäuft, hätte sich Chateaubriand nicht 1804 von ihm in aller Form öffentlich distanziert. Der Justizmord an dem Herzog von Enghien, einem bourbonischen Prinzen, war für den Autor Ausdruck diktatorischer Gewaltherrschaft, mit der er nichts zu tun haben wollte. Zehn Jahre später: Noch war Napoleon nicht geschlagen, schrieb Chateaubriand schon eine Schimpfrede auf den Tyrannen mit dem Titel »Von Buonaparte und den Bourbonen« (67). Hier forderte er die Restauration des alten Königtums, die Rückkehr der Bourbonen, und er überschüttete den künftigen König Ludwig XVIII . mit Lob. Die Schrift erschien sofort bei Napoleons Sturz 1814. Von ihm, so hieß es dort, seien nichts als immer absurdere und kriminellere Dekrete zu erwarten. Es fehlte auch nicht der bei fast allen Napoleon-Feinden parate Vergleich mit Nero und Attila. Napoleon habe ganz Europa gegen Frankreich aufgebracht, und das Resultat sei das militärische Einströmen feindlicher Mächte in Frankreich. »Die Russen stehen vor Paris«, hieß es voller 96

setzen. Unter den Bourbonen, die seit Jahrhunderten die legitimen Herrscher Frankreichs gewesen seien, wäre so etwas nie vorgekommen. Chateaubriands Pamphlet war im Paris von 1814, d.#h. beim Übergang in die Restaurationsepoche, eines der bemerkenswertesten und wirksamsten Dokumente. Schon seit dem Staatsstreich Bonapartes von 1799 stand Madame de Staël in Opposition zum Ersten Konsul, und Ende 1802 wurde ihr der Aufenthalt in Paris verboten. Während ihrer Reisen 1803 hielt sie sich auch länger in Deutschland auf (in Weimar und Berlin). Sie war beeindruckt von den literarischen, philosophischen und künstlerischen Entwicklungen im Nachbarland. 1810 veröffentlichte sie ihr Buch »Über Deutschland«, das damals jedoch nicht in Frankreich erscheinen konnte. Germaine de Staël versuchte mit ihrer Studie zum Abbau von nationalen Vorurteilen gegenüber Deutschland beizutragen. Robert Minder hat zutreffend die kulturpolitische Dimension des Buches herausgestellt: »Es war eine moralische Tat, die Absage des Geistes gegen die Gewalt, die spontane Konstituierung einer klassisch-romantischen, europäischen Front gegen die Militärdiktatur Napoleons«. Stellen, die als Affront gegen das polizeistaatliche Frankreich gemeint waren, wurden vom Zensor beanstandet. Eine davon lautete »Denn dahin, will ich hoffen, ist es bei uns nicht gekommen, daß man um das literarische Frankreich die große Mauer von China ziehen wolle, um allen Ideen von außen den Eingang zu verwehren« (I,$5). Dass eine Französin die Sterilität der epigonalen Gegenwartsliteratur ihres Heimatlandes beklagte, galt als unpatriotische Tat. Den Ehrentitel einer »von Natur literarischen und philosophischen […] Nation« (I,$15) verlieh die Autorin den Deutschen. Ihre Denker und Dichter bezeichnete sie als »die gelehrtesten Männer […] Europa’s«, deren Werken »einige 97

Aufmerksamkeit« (I,$5) zu schenken sich verlohne. »Die Deutschen«, so fuhr sie fort, der Nachbarnation ihren Respekt zu zollen, »bilden gleichsam den Vortrab der Armee des menschlichen Geistes« (II ,$9). Chateaubriands Stellungnahme »Über Buonaparte und die Bourbonen« war 1814 auf eine unmittelbare Wirkung abgestellt gewesen. Einen Zukunftsplan für Europa, der nur auf lange Sicht mit einer Verwirklichung rechnen konnte, publizierten im gleichen historischen Augenblick nach der Entmachtung Napoleons der philosophische Schriftsteller Claude Henri de Saint-Simon und sein Mitarbeiter, der Historiker Augustin Thierry. Das Dokument trug den Titel »Von dem Wiederaufbau der europäischen Staaten-Gesellschaft«. In ihren Grundzügen  – parlamentarische Verfassung, zentrale Koordinationsregierung und einheitliche Wirtschaft  – ist die Arbeit auch heute noch nicht überholt. Saint-Simons Kritik an den Friedensbemühungen des Wiener Kongresses war so scharf wie zutreffend: »Von allen Seiten wird das Privat-Interesse als Maßstab des allgemeinen Interesses angegeben. […] Alles, was ihr thun werdet, wird blos dazu dienen, den Krieg herbeyzuführen« (30, 31). Im Gegensatz zu Chateaubriand betrachtete Saint-Simon eine Beseitigung des Ancien régime und die Einführung parlamentarischer Systeme in die europäischen Einzelstaaten als Voraussetzung einer neuen kontinentalen Friedenspolitik. Die nationalen Parlamente sollen dann in einem europäischen Gesamtparlament zusammenkommen, das »über das gemeinschaftliche Interesse der europäischen Gesellschaft entscheide« (49). Das Europaparlament müsse mit der Macht ausgestattet werden, die Streitigkeiten der Einzelländer zu schlichten (50). Voraussetzung für die Tragfähigkeit eines europäischen Parlaments sei die Entwicklung eines »europäischen Patriotism« (51). Die Realisierung ihrer Vision sahen die beiden 98

Denker noch in weiter Zukunft; sie rechneten mit etwa 200 Jahren. Das war nicht schlecht geschätzt, aber immer noch etwas zu optimistisch, wie wir heute wissen. Gegen das Metternich’sche Restaurations-Europa nahm auch der italienische Autor Giuseppe Mazzini Stellung. Er war in seiner Jugend Mitglied der Karbonari-Vereinigung gewesen, die sich die Abschaffung der Fremdherrschaft, die Vereinigung Italiens und die Einführung der konstitutionellen Monarchie zum Ziel gesetzt hatte. Mazzini wurde zum Gegner der Monarchie und wünschte ein republikanisches Italien und ein republikanisches Europa herbei. Er glaubte an ein »Drittes Rom«: Auf das Rom der Cäsaren und das Rom der Päpste sollte das republikanische Rom als Hauptstadt Italiens und als kulturelles Zentrum eines erneuerten Europas folgen. 1834 gründete Mazzini mit dieser doppelten, d.#h. nationalen und kontinentalen, Zielrichtung das »Junge Europa« mit Sektionen in einigen europäischen Ländern. Gegen die Heilige Allianz der Monarchen sollte die Heilige Allianz der Völker gegründet werden. Als Gruppe brachte das Junge Europa nicht viel zustande. Mazzini war ein brillanter Formulierer, erprobter Visionär, aber als Politiker unflexibel und in seiner Führung uneffektiv. Er selbst musste nach England fliehen, um sein Leben vor den Häschern Metternichs zu retten. Der Schriftsteller und Übersetzer Mazzini stand für Republikanismus, nationale Souveränität und solidarische Kooperation europäischer Republiken; Metternich vertrat die Legitimität, den Absolutismus der Dynastien und das politische Gleichgewicht. Metternich war ein Pragmatiker vergangener Gegenwart, Mazzini ein Prophet gegenwärtiger Zukunft. Man könnte vermuten, dass der in den 1830er Jahren mit der denkbar größten politischen Macht des Hauses Habsburg ausgestattete Staatskanzler Metternich den politisch erfolglosen Intellektuellen Mazzini nicht 99

ernst genommen habe. Das wäre ein Irrtum. In seinen Erinnerungen schrieb Metternich: Ich hatte gegen den größten Feldherrn zu kämpfen, es gelang mir, Kaiser, Könige, einen Zaren, einen Sultan, einen Papst zu einigen. Aber niemand auf Erden hat mir größere Schwierigkeiten bereitet, als ein Schuft von einem Italiener; mager, blaß, zerlumpt, aber beredt wie der Sturm, glühend wie ein Apostel, abgefeimt wie ein Dieb, frech wie ein Komödiant, unermüdlich wie ein Verliebter, und der hieß Giuseppe Mazzini. (Zitiert nach Hans Gustav Keller.) Zu erwähnen ist schließlich wiederum ein französischer Romantiker: Victor Hugo. Hugo machte sich Napoleon III . zum Feind, weil er dagegen protestierte, dass erneut die republikanisch-demokratische Verfassung außer Kraft gesetzt wurde. Hugos Ehrgeiz bestand darin, Nachfolger Chateaubriands als romantischer Dichter und EuropaStratege zu werden. Das gelang ihm, denn als man den älteren Kollegen 1848 zu Grabe trug, hatte ihn Hugo, was den Dichterruhm betraf, bereits überflügelt. 1831 war sein Weltbestseller »Notre Dame de Paris« (»Der Glöckner von Notre Dame«) erschienen und danach feierte Alphonse de Lamartine den Autor als »Shakespeare des Romans«. Damals war Hugo erst 29 Jahre alt. Zwar hat er kein kulturhistorisches Europa-Buch wie den »Geist des Christentums« geschrieben, aber 1849 hielt er in Paris beim Zweiten Internationalen Friedenskongress als gefeierter Eröffnungsredner eine Jahrhundertrede. Sie nimmt in den Annalen des literarischen Europa-Diskurses einen Sonderstatus ein. Auf keine Europa-Stellungnahme hat man sich in der Folge so häufig und so zustimmend bezogen wie auf sie. Hugo sprach hier vom »gemeinsamen europäischen 100

Haus«. Das war eine Metapher, die ihre Wirkung auf die Vorstellung von einem vereinten Europa nicht verfehlte. Sogar der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow zitierte sie im November 1989 zustimmend in einer Adresse vor dem Europarat in Straßburg. Das Kernstück von Hugos Ansprache vor dem Friedenskongress von 1849 in Paris lautete: Wir sagen zu Frankreich, zu England, zu Preußen, zu Oesterreich, zu Spanien, zu Italien, zu Rußland: Es wird ein Tag kommen, wo auch euren Händen die Waffen entsinken werden! Es wird ein Tag kommen, wo der Krieg zwischen Paris und London, zwischen St. Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin ebenso thöricht erscheinen und ebenso unmöglich sein wird, als er zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia unmöglich wäre und thöricht erscheinen würde. Es wird ein Tag kommen, wo du Frankreich, du Rußland, du Italien, du England, du Deutschland, wo ihr Nationen des Kontinents alle, ohne eure besonderen Eigenschaften und eure ruhmreiche Individualität einzubüßen, euch innig in eine höhere Einheit verschmelzen und die europäsche Brüderlichkeit bilden werdet, absolut so wie die Normandie, die Bretagne, Burgund, Lothringen, das Elsaß, alle unsere Provinzen, sich zu Frankreich verschmolzen haben. (173) Mit diesem verpflichtenden Zitat will ich meinen kleinen Ausflug in den romantischen Europa-Diskurs beenden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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Literatur 1. Primärliteratur Chateaubriand, François-Auguste. Génie du Christianism ou beautés de la religion chrétienne. Tome Premier. Paris: Migneret, 1802. Deutsch: Franz August Chateaubriand. Genius des Christentums oder Schönheiten der christlichen Religion, übersetzt von Carl Venturini. Münster: Peter Waldeck, 1803. Chateaubriand, François René. »De Buonaparte et des Bourbons«. Œuvres complètes, Bd."26: Mélanges politiques, Bd."1. Paris: Pourrat, 1837, S."11-58. Deutsch: Buonaparte und die Bourbons. Berlin: Hayn, 1814. Coleridge, Samuel Taylor. »Comparison of the Present State of France with that of Rome under Julius and Augustus Caesar«. The Collected Works of Samuel Taylor Coleridge, Bd."1, hg. von David V. Erdman. London: Routledge Kegan Paul, 1978, S."311-339. Auf Deutsch: »Frankreich und das Rom der Cäsaren«, übersetzt von Ursula Fischer. Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a.#M.: Insel, 1982, S."107-136. Hugo, Victor. »Discours inaugural du Congrès de la paix, pronouncé à Paris, le 21 août 1849«. Ders. Oeuvres completes, Actes et Paroles. Paris: Hetzel, 1882. Deutsch: »Friedenskongreß zu Paris. 1849. 1. Rede bei der Eröffnung, 21. August 1849«. Ders. Thaten und Worte. Gesammelte Reden. Bd."1. Stuttgart: Auerbach, 1976, S."317-326. Lützeler, Paul Michael (Hg.). Europa. Analysen und Visionen der Romantiker. Frankfurt a.#M.: Insel, 1982. Mazzini, Giuseppe. »Verbrüderung der Völker« (1832). Die Idee Europa 1300-1946, hg. von Rolf Hellmut Foerster. München: dtv, 1963, S."196-200. 102

Saint-Simon, le Comte de et A. Thierry, son élève. De la réorganisation de la société européenne ou de la nécessité et des moyens de rassembler les peuples de l’Europe en un seul corps politique, en conservant a chacun son indépendence nationale. Paris: Adrien Égron, 1814. Deutsch: Claude Henry de Saint-Simon$/$Augustin Thierry. »Von dem Wiederaufbau der europäischen Staaten-Gesellschaft«. Aus dem Französischen von F. Bernhard. Europäische Annalen I$/$I I (1815). Staël Holstein, Mme la Baronne de. De l’Allemagne. Tome Premier. Paris: H. Nicolle, 1814. Deutsch: Anne Germaine Baronin von Staël-Holstein. Deutschland. 1. Band, Berlin: Hitzig, 1814. Sully, Duc de (Maximilien de Béthune). Le ›Grand Dessein‹ d’Henri IV. Paris: Michaud et Poujoulat, 1837. Auf Deutsch: Memoiren Sullys und der große Plan Heinrichs IV. Übersetzt von Moriz Ritter. München: Verlag der Akademie, 1871. Wordsworth, William. »Concerning the Relations of Great Britain, Spain, and Portugal, to Each Other, and to the Common Enemy, at this Crisis; and Specifically as Affected by the Convention of Cintra«. The Prose Works of William Wordsworth, Bd."1, hg. von J.#B.##Owen und Jane Worthington Smyser. Oxford: Oxford University Presse, Clarendon, 1974, S."224-240. Deutsch: »Der Vertrag von Cintra«, übersetzt von Ursula Fischer. Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, a.#a.#O., S."181-224.

2. Sekundärliteratur Keller, Hans Gustav. »Mazzini«. Ders. Das ›Junge Europa‹ 1834-36. Eine Studie zur Geschichte der 103

idee und des nationalen Gedankens. Zürich und Leipzig: Niehaus, 1938, S."40-48, hier S."44. Lützeler, Paul Michael. Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. München: Piper, 1992. Minder, Robert. »Madame de Staël entdeckt Deutschland«. Ders. Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays. Frankfurt  a.#M.: Insel, 1962, S."94-105, hier S."94. Nipperdey, Thomas. Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München: Beck, 1983, S."11.

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Mitschrift der Debatte mit Michael Hohmann

Michael Hohmann (Vielen Dank, lieber Paul Michael Lützeler. Wir haben Ihrem Vortrag sehr aufmerksam gelauscht und ich kann mir vorstellen, dass bei allen Zuhörern Ihres Vortrages doch einige Fragen aufgekommen sind. So möchte ich zunächst einmal Wolfgang Bunzel bitten, auf Ihren Vortrag zu antworten, woraufhin Sie vielleicht die Gelegenheit haben, auf seinen Vortrag zu reagieren. Wolfgang Bunzel (Ich glaube, unsere Ausführungen haben sich sehr gut ergänzt. Es ist ja wirklich nicht einfach, die Komplexität dieser Debatte zur Gänze zu erfassen, deshalb war es klug, zunächst mal auf die deutsche Situation zu schauen und dann die europäische Dimension aufzufächern, wie Sie, Herr Lützeler, es sehr plastisch getan haben. Für mich ist immer wieder interessant zu sehen, wie sehr der eine Diskursstrang zeitlich unmittelbar an den anderen anschließt. Mit Chateaubriand – Sie haben ja darauf hingewiesen – gibt es schon 1802 eine mächtige und sehr markante Stellungnahme aus dem nichtdeutschen Sprachraum. Im Grunde beginnt damit das europäische Konzert, das natürlich an einigen Stellen durchaus kakofone Töne aufweist, aber eben doch ein Konzert ist in dem Sinn, dass es um Vielstimmigkeit geht. Und das ist das für mich Faszinierende, schließlich sind die Voraussetzungen, aus denen die Autoren der einzelnen Länder schreiben und argumentieren, sehr unterschiedlich. Die einzelnen Stimmen finden aber doch in einem mindestens gemeinsamen Anliegen und teilweise auch in gemeinsamen Formeln zu105 https://doi.org/10.5771/9783835349179

einander – und dies, obwohl die politischen Positionen ja durchaus nicht auf einer Linie liegen. Für mich stellt das eine der Besonderheiten dieser Debatte dar: Einerseits die Vielstimmigkeit der Meinungen, durch die andererseits immer wieder gewisse Dominanten und Akkorde hindurchklingen.

Paul Michael Lützeler (Das ist ein wunderbarer Vortrag gewesen, der mir auch deswegen gefällt, weil Sie die historischen Hintergründe profiliert haben und ich bei Ihrem Vortrag etwas Neues gelernt habe. Ich habe zwei Fragen, eine, die Novalis betrifft und eine die mit Friedrich Schlegel zu tun hat. Vielleicht könnte man, da Sie das Historische so gut rekonstruiert haben, auch die geistesgeschichtliche Situation im romantischen Kreis, zu dem auch Schleiermacher gehörte, berücksichtigen. Schleiermacher brachte 1799, also im Jahr des Novalis-Essays, den weit in die Zukunft wirkenden Text Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern heraus, und er war Novalis bekannt. Was ich so interessant finde, ist, dass im Grunde hier bei Schleiermacher eine protestantische These vorliegt, denn er treibt den Individualismus der religiösen Erfahrungen noch weiter, als das durch Luther erlaubt wurde und im Protestantismus dann auch Schule gemacht hat. Bei Novalis sehe ich eine andere Position. Vielleicht ist die visionäre Schrift des Novalis, was die religiöse Seite betrifft, gegen Schleiermacher geschrieben worden, weil er doch hier von einem künftigen Christentum spricht, das noch nicht existiert. Er spekuliert sozusagen auf etwas, was es weder im Mittelalter gegeben hat noch in der Gegenwart gibt. Er spricht von einer neuen Religion, wiederholt also nicht einfach Thesen von Schleiermacher, sondern hat eine neue Perspektive von einer Religion, über die nichts im Einzelnen ausgeführt wird, aber die doch deutlich 106

triert, dass hier etwas im Werden begriffen ist: dass die Gegenwart voller Möglichkeiten steckt, die es erlauben, eine zweite Reformation zu imaginieren, die hinausgeht über das, was Luther meinte, und die dann eine – das haben Sie ja betont – vereinigende Kraft für die bestehenden christlichen Religionen haben könnte. Dass es eine neue Einheit auch in den christlichen Kirchen wieder geben kann – das ist das Eine. Zum anderen – das nur ergänzend – spricht sich Novalis, was die politische Einheit betrifft, expressis verbis gegen das alte Modell des Gleichgewichtsdenkens in Europa aus, so wie es seit dem 16. Jahrhundert praktiziert wurde und weit bis ins 19. Jahrhundert dominierte. Er vergleicht den Vertreter des Gleichgewichts, des balance of power-Denkens, mit Sisyphos: Kaum hat er das Gleichgewicht erreicht, schon rollt der Stein wieder herunter. Und das ist kein Positivum wie später bei Camus, sondern das ist negativ gemeint. Das sei ein Versuch, eine Friedenssituation in Europa herzustellen, die nicht wirkt, denn sobald der Friede erreicht ist, kommt sofort wieder der neue Krieg. Und das ist bezeichnend, glaube ich, für das ganze Konzept von Novalis: diese Stiche gegen die Aufklärungszeit, die sind auf der politischen Ebene der Versuch, eine Alternative zu bieten – wegzukommen vom mechanischen Gleichgewichtsdenken, hin zu einer neuen Auffassung des Europäischen, die religiös begründet ist.

Wolfgang Bunzel (Also ich denke, der Hinweis ist ganz wichtig, und bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie auf Schleiermacher und auf seine Reden über die Religion hingewiesen haben. Das ist in der Tat der Text, der eine entscheidende Voraussetzung für die Entstehung von Novalis’ Die Christenheit oder Europa war. Die NovalisForschung konnte sogar nachweisen, dass Novalis sich – ich glaube im September 1799 – ein Exemplar der Reden 107

per Expressboten bringen lässt, weil er die Gedankengänge ja aus dem Gesprächszusammenhang des Jenaer Kreises kennt. Deshalb will er auch diese Schrift ganz frisch haben und reagiert dann darauf  – und zwar in mehrfacher Hinsicht: inhaltlich, aber eben auch in der Form. Denn Novalis’ Schrift – die mancher einfach als Textdokument ansieht – war zunächst konzipiert als Rede. Es war auch nicht die bloße Vorlesung eines schriftlichen Textes vor dem Jenaer Zirkel, denn der Redegestus wohnt der Schrift inne. Das ist ja nun auch eine Besonderheit, die bei den Romantikern immer wieder begegnet: die künstlich simulierte Form von Mündlichkeit, die anders funktioniert als ein rein schriftlich fixierter Text. Es handelt sich um Mündlichkeit, die ihren Redencharakter beibehält, aber irgendwann nachlesbar ist und gewissermaßen in Schriftlichkeit übergeht. Das ist natürlich auch eine besonders interessante Parallele zwischen Novalis und Schleiermacher. Wie verschiedene Notizhefte zeigen, hatte Novalis vor, im Anschluss an Die Christenheit oder Europa weitere Reden zu schreiben. Also ist das gewissermaßen für ihn ein Genre, in dem er sich ausprobieren möchte und dem er viel hätte anvertrauen wollen. Wir wissen natürlich, dass es dazu nicht gekommen ist, dennoch finde ich die Tatsache selbst sehr spannend. Ich denke, dass wir hier gewissermaßen zwei Protestanten vor uns haben, die in einen Dialog eintreten und einen Diskurs beginnen über Religion, aber natürlich immer auch über – sagen wir mal – Vorstellungselemente des Katholizismus. Dabei mischen sich Vertrautheit und Fremdheit – das darf man nicht aus den Augen verlieren. Insofern ist immer auch die eigene Sprecherposition ganz wichtig, was bedeutet, dass man bei Novalis nicht einfach von Krypto-Katholizismus sprechen kann. Das geht einfach an der Sache vorbei. Aber mir scheint  – und diesen Gedanken sollte man auch weiterdenken  –, dass Novalis 108

und Schleiermacher hier in eine Auseinandersetzung treten. Ja, man kann geradezu sehen, wie eine Art Werkdialog begonnen wird. Die beiden sind ja nun nicht mehr räumlich zusammen, aber mithilfe solcher Texte können weiterhin Positionen ausgetauscht werden. Das ist sehr faszinierend.

Michael Hohmann (Herr Lützeler, Sie hatten noch eine Frage zu Schlegel. Paul Michael Lützeler (Ja, ich hatte noch eine Frage zum Gleichgewichtsdenken, das Novalis versucht auszuhebeln. Aber, ich meine, wir müssen nicht darauf eingehen. Wolfgang Bunzel (Also da würde ich Ihnen einfach auf ganzer Linie recht geben. Das markiert ja eigentlich den zentralen Differenzpunkt zu den Debatten des 18.  Jahrhunderts. Im Grunde ist Gleichgewichtspolitik keine Kategorie mehr, in der gedacht wird; man ist insofern sogar über Kant und seine Schrift vom ewigen Frieden hinaus. Das ist, glaube ich, ganz entscheidend. Wir sehen den Versuch, die Debatte noch mal einen entscheidenden Punkt weiterzubringen, ihr noch mal einen anderen Dreh und eine zusätzliche Wendung zu verleihen. Interessant dabei ist der spannungsreiche Umgang mit der Reformation, die eben auf der einen Seite wirklich auch anerkannt wird in ihrem historischen Recht und gewissermaßen immer eingeklagt wird – ein einfaches Dahinter-zurück kann es nicht mehr geben. Sie war also notwendig, um die moderne Form des Subjektivismus, das Insistieren auf dem Individuum, darauf aufzubauen. Aber natürlich gibt es kein feststehendes Rezept, wie das künftig aufrechterhalten werden kann, deswegen begegnen dann Formeln wie die 109

einer erneuerten Reformation  – und die sind halt immer paradox. Eine zweite Reformation macht die alte ein Stück weit rückgängig, setzt sie auf der anderen Seite aber fort. Wir haben es also mit paradoxen Wechselbezüglichkeiten zu tun, die den Diskurs so spannend machen.

Paul Michael Lützeler (Bei Friedrich Schlegel sehe ich zum einen eine Abwendung von Schleiermacher, zum anderen eine Gegenthese zu Novalis. Friedrich Schlegel spricht in der Reise nach Frankreich von der Unfähigkeit zur Religion in der europäischen Gegenwart. Das ist ein Affront gegenüber Schleiermacher, weil der mit seinen Reden Über die Religion ihre aufgeklärten Verächter für sie gewinnen will, das heißt mit seiner neuen Theorie von Religion. Friedrich Schlegel bezweifelt grundsätzlich, dass man in Europa eine neue religiös fundierte kulturelle Einheit erreichen kann. Novalis hat von der kulturellen Einheit nur hypothetisch gesprochen, und zwar im Rückblick auf das Mittelalter: Es gab einmal eine Zeit, so überlegt er, wo eine Fusion von Religion und Politik funktioniert hat. Friedrich Schlegel aber meint, dass es die eigentlich nie gegeben habe, denn die Gegenwart sei so zerrissen, weil sie kein wirkliches Fundament der Religion besitze. Und er wendet sich dann nach Asien und fragt: Ist nicht aus dem Orient noch jede Religion zu uns gekommen? Er begeistert sich an der Idee, dass wir asiatisches Gedankengut – besonders indisches  – kennenlernen müssen, um überhaupt eine Vorstellung von kultureller Einheit zu haben. Also das heißt: Friedrich Schlegel tut keinen Blick in die europäische Vergangenheit, er liefert kein Bild von einer im Mittelalter – bei Kaiser und Papst – einmal existierenden kulturellen Einheit. Die könne man nicht durch die Beschäftigung mit dem europäischen Mittelalter, sondern nur durch das Studium Asiens kennenlernen. Das bedeutet 110

eine entschiedene Abwendung von dem, was Novalis als eigenständige europäische Entwicklung verstand.

Wolfgang Bunzel (Wahrscheinlich wird man das so prägnant sagen müssen, wie Sie es jetzt getan haben. In dem Punkt, glaube ich, sind Schlegel und Novalis tatsächlich weit auseinander. Da würde ich Ihnen ganz zustimmen. Es gibt natürlich Argumentationsfiguren, die beide auch wieder recht nahe beieinander zeigen. Man sieht daran, dass Diskursfragmente auch übernommen oder aus ähnlichen Quellen bezogen werden, die dann jeweils eine individuelle Akzentuierung erfahren. Der Hinweis auf Asien, speziell auf Indien, bei Schlegel verdeutlicht, welches die kulturelle und religiöse Bezugssphäre für ihn darstellt. Ähnliches lässt sich bei Novalis nicht nachweisen. Wir erkennen hier die individuellen Handschriften der beiden Autoren, sehen aber natürlich auch den unterschiedlichen zeitlichen Index, zu dem diese Diskursfragmente integriert werden. Das passiert natürlich gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem Friedrich Schlegel seine Indien- und Sanskritstudien betreibt und intensiviert  – solche Reflexe fallen sofort ins Auge. Damit weitet sich der Fokus auf das Thema noch einmal deutlich. Paul Michael Lützeler (Ja, Sie haben recht. Es ist eine passagere Erscheinung bei Friedrich Schlegel, denn einige Jahre später wird er zum Anhänger eines an Chateaubriand erinnernden katholischen Verständnisses der römischen Kirche. Er wird zu deren Verteidiger, weil Europa ihr eigentlich erst Kultur verdanke. Das heißt, er spinnt weder seine eigenen Ideen aus der Reise nach Frankreich weiter fort (dass in Asien die Rettung liege), noch baut er die Idee des Novalis (von einer zweiten Reformation) aus. Er bekennt sich zur christlichen Geschichte des Kontinents und 111

entdeckt wie Chateaubriand den »Geist des Christentums« (Génie du Christianisme).

Michael Hohmann(Ich könnte mich jetzt als Publikumsstimme mal kurz melden, denn mir drängt sich eine Sache auf, die mich von Beginn an beschäftigt hat. Wenn sich die Frühromantiker unter unterschiedlichen Aspekten um Europa gekümmert haben, lag das doch aus meiner Sicht deswegen in der Luft, weil es in Frankreich eine große Revolution gab. Sie, Wolfgang Bunzel, haben gesagt, zuvor gab es nur einen geographischen Begriff von Europa, aber kein kulturelles Verständnis von Europa. Inwiefern hat denn diese Revolution einen neuen Diskurs oder ein neues Verständnis von Europa aus Ihrer beider Sicht, Herr Lützeler und Herr Bunzel, überhaupt erst ermöglicht und hervorgebracht? Einige Aspekte waren kaleidoskopartig schon genannt, aber vielleicht könnten Sie das bündig noch einmal erklären. Paul Michael Lützeler(Die Frühromantiker um 1800 waren sehr junge Leute. Friedrich Schlegel wurde auch beeinflusst durch Fichte, der selbst in seiner Jugend die Französische Revolution verteidigt hatte. Es gibt diese Stellungnahmen der Frühromantiker zur Französischen Revolution, aber sie fallen in eine Phase, in der die Jugend noch mit spätaufklärerischen Vorstellungen aufwächst. Sobald Napoleon an der Macht ist, wird deutlich, dass die Zeit der Revolution zu Ende ist. Seine Macht hat er nur mit dem Versprechen stabilisieren können, dass mit Revolution und Revolutionsregierung Schluss ist. Bonapartes Staatsstreich vom November 1799 ist das entscheidende historische Ereignis, und in diese Zeit fällt die Frühromantik. Danach beginnt aber auch bald die Kritik an Napoleon innerhalb der deutschen und der europäischen Romantik, ohne dass man zu dem zurückwill, was die Französische Revolution 112

boten hat. Die hat durch den historischen Verlauf, durch den Terrorismus, der sich aus ihr heraus entwickelte, in den Augen auch dieser jungen Leute versagt. Das war in den frühen Jahren nach der französischen Revolution noch anders gewesen. Mit dem November 1799 meldet sich eine neue Generation zu Wort, die jetzt erwachsen ist und sich von den Jugendschwärmereien über die Revolution entfernt hat.

Wolfgang Bunzel (Ich kann das nur unterstreichen und sehe es genauso. Dennoch bleibt immer eine Art Doppelbezug, weil die Französische Revolution als das auslösende Ereignis natürlich auch die historische Ermöglichungsbedingung für Napoleon war. Das kettet die folgende geschichtliche Phase an das Ursprungsereignis. Dadurch wird die Sache insgesamt auch so intrikat, sodass man das eine gar nicht vom anderen ablösen kann. Die Haltung zur aktuellen Situation in Frankreich ist auf indirekte Weise eben immer auch eine Haltung zur Revolution bzw. zu den Folgen der Revolution. Michael Hohmann (Die Idee Europas, das war meine Urfrage im Grunde genommen, ist doch lebendig geworden durch die Ereignisse der Französischen Revolution, entweder dass Napoleon ganz Europa mit einem Krieg überzogen hat, und ganz Europa in Opposition zu oder verbündet gegen Napoleon auftrat, bis hin zu einem Wiener Kongress, der Europa neu geregelt hat in einem restaurativen Moment der Entwicklung. So war doch diese Revolution ein Auslöser für die Europa-Debatte bei Hegel, bei Saint-Simon vielleicht auch, bei Victor Hugo auf einer ganz anderen Ebene verspäteter, bei Mazzini mit der Idee einer transnationalen parlamentarischen Demokratie. Das ist doch alles ohne die Revolution nicht zu denken, also hat doch die Revolution dafür gesorgt, dass man über Europa gesprochen hat. 113

Paul Michael Lützeler (Ja, da haben sie recht. Nur darf man nicht vergessen, dass die Französische Revolution als solche eigentlich kein Denken über Europa in Gang gesetzt hat, sondern eines über die Nation. Die Franzosen sind als neue, aufgeklärte Nation, die sich von der Monarchie brutal verabschiedet, gesehen worden. Das Versprechen der Französischen Revolution war ja auch, dass sich andere Nationen ebenfalls auf republikanische Art und Weise entwickeln würden. Dass daraus irgendwo und irgendwann einmal vielleicht ein einheitliches Europa resultieren könnte, war kein Thema. Da muss man weiter zurückgehen. In den und nach den großen Kriegen, also besonders im Dreißigjährigen Krieg und dann nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, werden Entwürfe für ein pazifiziertes Gesamt-Europa vorgelegt. Da gibt es zwei monumentale Werke, bezeichnenderweise von Franzosen geschrieben, die die institutionalistische Idee Europas, nicht die kulturrevolutionäre Idee, propagieren: Das ist der Herzog von Sully mitten im Dreißigjährigen Krieg und dann, 1714, der Abbé de Saint-Pierre, der ja Berater der französischen Abteilung bei den Friedensverhandlungen in Utrecht gewesen war. Das sind Schriften, die in Frankreich jeder Politiker kannte. Mit ihrem Gleichgewichtsdenken waren sie gegen einen Universalismus habsburgischer Art gerichtet. Da wurde klar gesagt: Wir bilden einen Europarat. Sogar das uns heute so vertraute Unifikations-Vokabular ist in diesen Dokumenten schon zum Teil vorhanden. Und wir versprechen eine Friedenssituation, indem wir den vielen einzelnen europäischen Nationen die Möglichkeit geben, ihre Interessen zu vertreten. Wir machen ein Schiedsgericht in einer europäischen Stadt, wo alle politischen zwischennationalen Probleme, die wir haben, gelöst werden können. Das sind die Anfänge dessen, was man europäische Zusammenarbeit nennt. Und das ging sehr weit, denn sowohl der Herzog 114

von Sully wie auch Saint-Pierre sagen: Es muss über das Politische hinaus geplant werden, wir müssen auch juristisch und wirtschaftlich kooperieren. Und drittens müssen wir ein gemeinsames militärisches Bündnis bauen, einerseits gegen das Osmanische Reich, andererseits gegen Russland. Das sind die beiden Mächte, die potenziell dieses zerklüftete Europa überfallen werden und Teile davon als Beute an sich ziehen, was durch das Osmanische Reich mit Ungarn und Griechenland sowie anderen Ländern geschehen war. Das alles ist nicht durch die Französische Revolution vermittelt worden. Und auch Rousseau, lange vor der Französischen Revolution, schrieb nochmals den Abbé de Saint-Pierre neu. Die Bücher des Abbé de Saint-Pierre ergaben ein unhandliches, mehrbändiges Werk, das nur politisch versierte Köpfe lesen konnten. Rousseau mit seiner Idee der Volkstümlichkeit hat das Ganze vereinfacht und aktualisiert, aber noch vor der Französischen Revolution publiziert. Mit anderen Worten: Die europäische Idee wurde nicht zu einem Bezugspunkt in der Französischen Revolution.

Wolfgang Bunzel (Hier kann man sehr schön den Differenzpunkt zum frühromantischen Europa-Diskurs erkennen. Bei den von Ihnen genannten Denkern ist es ja tatsächlich so, dass sie sehr konkret argumentieren. Es geht um die Ausbildung und die Schaffung von Institutionen, also um jene Elemente, die wir aus heutiger Perspektive mit Europa verbinden und die uns deshalb nachvollziehbarer erscheinen. Davon unterscheidet sich der sehr viel stärker spekulative Ansatz der Frühromantiker; er bringt eine ganz neue Richtung in die Debatte. Der spekulative Ansatz ist uns heute allerdings ziemlich fremd geworden. Wir haben uns ja das Spekulieren fast ein bisschen abgewöhnt. Vor allem haben wir uns abtrainiert, Ideale und Visionen zu haben. Und ich glaube, das ist ein Punkt, der 115

für uns interessant sein könnte. Einfach anzunehmen, hier könnten wir von den Romantikern lernen, wäre naiv, dazu sind die Voraussetzungen viel zu unterschiedlich. Wir können nicht einfach am Europa-Diskurs der Romantik anknüpfen oder ihn fortführen. Aber die romantischen Denker lehren uns, glaube ich, eines: dass das Vorstellen und Denken und dann das Ausformulieren von Visionen ein wichtiges Element darstellt und dass es gewissermaßen einen Fermentcharakter hat. Zukunftsbezogenheit ist wichtig  – die geht mir heute zu stark verloren. Wir haben uns gewissermaßen abtrainiert, Zukunftsvisionen zu entwickeln, weil wir gebrannte Kinder sind, die wissen, welche negativen Erscheinungen die Übertragung solcher Visionen in die reale Geschichte haben kann. Aber dadurch haben sich Zukunftsvisionen nicht ein für alle Mal erledigt. Wir beschäftigen uns ja mit dem Thema Europa immer auch mit dem Blick auf die Gegenwart, um zu sehen, wo sind im Grunde heute Defizite, die wir sehen können, wenn wir uns die historischen Debatten noch mal vor Augen führen. Und das wäre für mich das Erkenntnisstiftende daran: Wir können klarer sehen, wo unsere Defizite liegen. Und die liegen, glaube ich, nicht im realpolitischen Ausbuchstabieren von Institutionen, die wir brauchen und ohne die es nicht geht – ich bitte, mich nicht falsch zu verstehen, aber die Institutionen haben wir mittlerweile, und wir haben auch das gesamte komplizierte Procedere, wie der europäische Prozess weiterzuentwickeln wäre. Aber eigentlich traut sich keiner mehr, eine Vorstellung, die darüber hinausgeht oder wesentlich darüber hinausgeht, zu entwickeln. Und es werden immer die großen, berühmten Europäer des 20. Jahrhunderts beschworen, aber es gibt in der Gegenwart keine mehr – oder zumindest hat es diesen Anschein. Das, finde ich, ist die traurige Situation, die wir haben. 116

Michael Hohmann (Die ist wirklich traurig. Aber das finde ich einen schönen Ansatz von Wolfgang Bunzel. Lieber Herr Lützeler, Sie haben, in den USA lebend, eine gewisse geographische Distanz zu Europa: Sehen Sie eine Möglichkeit, Europa zu poetisieren? Paul Michael Lützeler (Europa zu poetisieren im Sinne der Romantiker wohl nicht. Aber das, was, Sie Herr Bunzel, angesprochen haben, habe ich auch einmal untersucht. Es ist wirklich so, dass es einen französischen Europa-Diskurs gibt, der institutionalistisch-pragmatisch ist, und einen deutschen Europa-Diskurs, der philosophisch und geschichtsphilosophisch ausgerichtet ist. Das Interessante für mich ist, dass es da auch Zwischenfiguren gibt. Und solche Zwischenfiguren waren schon sehr früh da. Joseph Görres zum Beispiel. Er stammte aus Koblenz und schaute sowohl nach Frankreich wie nach Deutschland. 1821 schrieb er im Schweizer Exil das Buch Europa und die Revolution. Da bringt er einerseits Dinge, die viel mit Institutionen zu tun haben. Man denke an seine genauen Analysen dessen, was die handfesten Stärken der verschiedenen europäischen Länder sind, was sie politisch, wirtschaftlich und militärisch beitragen zu einem Gesamteuropa. Andererseits aber gibt er sich auch philosophischen Spekulationen hin, die sozusagen an Novalis anschließen. Vergleichbar sind die Europa-Reflexionen später auch bei Ludwig Börne und seinem Zeitgenossen Heinrich Heine. Die beiden trafen sich in Paris. Auch sie waren stark an dem politisch Konkreten orientiert  – bezogen andererseits aber geschichtsphilosophische Dinge mit ein, die in der deutschen Denktradition standen. Und wenn Sie bis in die Gegenwart gehen: Eines der klügsten Bücher von einem deutschsprachigen Schriftsteller ist Adolf Muschgs Was ist europäisch?. Hier werden zum einen konkret die Vorteile und Defizite der 117

Europäischen Union angesprochen, zum anderen kommt eine philosophische Reflexion ins Spiel, die bis in die Antike zurückreicht. Hier wird nicht so getan, als könnte man erst beim Europa-Diskurs der Romantiker einsetzen. Vielmehr wird betont, wie stark die kulturellen wie politischen Institutionen Athens (Theater und Agora) den Kontinent geprägt haben. Also das ist ganz spannend. Die Franzosen sind sich dann über Saint-Simon und Victor Hugo bis heute darin treu geblieben, dass sie immer wieder das sehr Pragmatische ins Feld führen. Und was auch festgehalten werden sollte: dass es Richard Coudenhove-Kalergi gab, der 1922 das Buch Paneuropa schrieb und auch die Paneuropa-Bewegung gründete. Er führte den französischen Diskurs ganz entscheidend weiter. Er war von Haus aus Philosoph, aber er hat verstanden, dass eine Unifikation des Kontinents, eine europäische Föderation, vor allem mithilfe von politischen Institutionen geschaffen werden muss. Er hat darauf bestanden, dass die Integration des Kontinents nach dem Ersten Weltkrieg – die große Katastrophe für Europa – von pragmatisch denkenden Politikern angestrebt werden sollte. Er hat im Grunde das Vokabular für die europäischen Institutionen geschaffen, ein Begriffs-Repertoire, das nach einem weiteren Weltkrieg die Gründungsväter von Montan-Union und EWG aufgriffen.

Michael Hohmann (Ich glaube, Herr Lützeler, Sie haben die passenden Worte zum Schluss unserer Veranstaltung gefunden: Es war ein Blick zurück, um vielleicht etwas besser nach vorne zu schauen.

Mitschrift: Toumi Hamadi

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Gerhard Poppenberg

Europa als Überlieferungsraum Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter

Die Fortschritte der Naturerkenntnis sind verifizierbar. Über die Periodik der chemischen Elemente gibt es keine Meinungsverschiedenheiten. Der Fortschritt des geschichtlichen Erkennens dagegen kann nur freiwillig mitvollzogen werden. Er hat keinen ökonomischen und keinen berechenbaren sozialen Nutzeffekt. Er stößt also auf Gleichgültigkeit oder gar auf den Widerstand des in Machtgebilden verkörperten Interessenegoismus. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter

Vor einigen Jahren hat Giorgio Agamben in Libération an einen Text von Alexandre Kojève erinnert, der 1945 die Bildung eines Empire latin, eines lateinischen Reichs vorgeschlagen hatte. Das war ein erster Gedanke zur Gründung einer europäischen Union. Darin sollten »die drei großen lateinischen Nationen (also Frankreich, Spanien und Italien) wirtschaftlich und politisch« vereint sein: »und dies im Einvernehmen mit der katholischen Kirche, deren Traditionen es übernehmen würde«. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Agamben das ausgeführt und modifiziert. Die Europäische Union ist nicht nur ökonomisch zu begründen, es müssen auch »unsere spirituellen und kulturellen, politischen und rechtlichen Wurzeln« als integraler Bestandteil Europas verstanden 119

werden. Im Mittelalter war das Christentum »das einigende Band«; heute soll »diese Legitimation in Europas Geschichte und seinen kulturellen Traditionen« liegen, denn »die Europäer begegnen ihrer Wahrheit immer im Dialog mit ihrer Vergangenheit«, die »nicht nur Kulturgut und Tradition, sondern eine anthropologische Grundbedingung« ist. »Wir können zur Gegenwart nur archäologisch vordringen, indem wir mit unserer Geschichte ins Reine kommen. So wurde die Vergangenheit für uns eine Art Lebensform.« Europa ist seine Geschichte, und die Zukunft, »das Überleben Europas«, hängt am angemessenen Verhältnis zu diesem Überlieferungsraum. Dessen Form nennt er den »Dialog mit der eigenen Geschichte«; aus ihm soll »neues Leben« entstehen. Ein bestimmtes Verhältnis zur Geschichte ist ein Beitrag Europas zur Weltkultur. Die Forderung nach einer Rückbindung an die Überlieferung der europäischen Geschichte wird verstehbar angesichts der epochalen Zäsur, als die das Jahr 1945 gedeutet wurde. Für Kojève war sie nur aus dem Geist des katholischen Christentums denkbar. Agamben setzt an die Stelle der Religion als »einigendes Band« die Rückbindung an die Geschichte von Religion und Kultur, Politik und Recht. Ähnliche Überlegungen waren nach 1945 auch anderwärts angestellt worden. Drei der »großen Romanisten« (Gumbrecht) haben in den Nachkriegsjahren elementare Beiträge zu einer solchen Rückbindung an die europäische Geschichte geleistet. 1946 erschien Erich Auerbachs Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 1948 publizierte Ernst Robert Curtius Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Und 1963 erschien aus dem Nachlass von Leo Spitzer die ähnlich groß konzeptualisierte und in Aufsätzen der 1940er Jahre vorbereitete Studie Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to 120

an Interpretation of the Word »Stimmung«. Die jeweils ganz unterschiedlichen Bücher versuchen doch jedes auf seine Weise das Ganze der europäischen Geschichte an ausgewählten Beispielen darzustellen. Auerbach behandelt die »abendländische Literatur« unter dem Aspekt der Mimesis, der Darstellung der Wirklichkeit. Er verfolgt das Konzept der mimetischen Darstellung von Homer und der alttestamentlichen Abrahamserzählung durch die Jahrhunderte bis in die damalige Gegenwart von Virginia Woolf. Curtius stellt den europäischen Überlieferungsraum am Beispiel der literarischen Topoi dar. Darauf gehe ich gleich ausführlicher ein. Und Spitzer hat zu der Zeit an einem ähnlichen Buchprojekt gearbeitet, zu dem er einige vorbereitende Aufsätze publiziert hat, das aber erst 1963 aus dem Nachlass als nicht vollendetes Buch veröffentlicht wurde. Darin stellt er den Gedanken der Weltharmonie von der Antike über das Christentum ebenfalls bis in die Gegenwart dar, um so ebenfalls einen Überlieferungszusammenhang aufzuzeigen. Das Thema ist bis zur Unheimlichkeit befremdlich. Der österreichisch-deutsche Jude, der vor der Judenverfolgung und der Shoa ins türkische und US -amerikanische Exil geflohen ist, schreibt ein Buch über den Gedanken der Weltharmonie. Der vierte der »großen Romanisten«, Karl Vossler, war eine halbe Generation älter als die drei; aber auch er hat sein wissenschaftliches Leben der Erforschung der europäischen Tradition gewidmet und zum Beispiel höchst erhellende Beiträge zum Übergang von der Antike zum Christentum geliefert. Alle vier waren bekennende Europäer. Auerbach wurde im Exil in Istanbul, wo er 1935 die Nachfolge von Leo Spitzer, der bereits 1933 ins Exil gehen musste, angetreten hatte, von den Kollegen spöttisch der »Europäologe« genannt. Der Begründer der modernen Türkei, Kemal 121

Atatürk, hatte auch das Universitätssystem erneuert und namhafte Gelehrte und Wissenschaftler aus aller Welt in die Türkei berufen. Deshalb konnten nach 1933 viele deutsche Juden und andere Verfolgte dorthin ins Exil gehen. Das Konzept von Europa, das die vier Romanisten mit vielen anderen Intellektuellen damals teilten, lässt sich mit einem Wort von Hugo von Hofmannsthal charakterisieren: Europa als »geistiger Raum«. Die drei erwähnten Bücher sind Archen im Angesicht der historischen Katastrophe. Sie retten nicht, wie Noah auf Gottes Gebot »die Wesen aus Fleisch« (Gen 6,19), um das natürliche Leben nach der Katastrophe fortsetzen zu können, vielmehr retten sie aus eigenem Antrieb die Wesen des Geistes, um nach dem Zivilisationsbruch das geistige Leben weiterführen zu können. *** Mit Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter begründete Curtius ein Verhältnis zur literarischen Geschichte Europas, das er »historische Topik« nannte. Sein Motiv, so schreibt er im Vorwort zur zweiten Auflage, war »die Sorge für die Bewahrung der westlichen Kultur«; es gründete in der Annahme der »Einheit dieser Tradition in Raum und Zeit« und sollte »dem Verständnis der abendländischen Tradition dienen«. Das Unternehmen wurde ausgiebig diskutiert und als Methode der Traditionswahrung verteidigt oder als restaurative Ideologie angegriffen. Fraglich ist heute, ob die »historische Topik« für den Dialog mit der Geschichte Europas zu retten ist und was sie dazu beitragen kann. Zunächst war Curtius ein Moderner. In den Zwanzigerjahren hatte er sich als Kenner der Literatur der Moderne und der Gegenwart profiliert und war einer der führenden Literaturkritiker der Zwischenkriegszeit, der in den 122

bedeutendsten Zeitungen und Zeitschriften publizierte. Er verkehrte in den Salons und literarischen Zirkeln der europäischen Hauptstädte und spann sich als Mitglied der »Internationale der gentlemen« (Graf Keyserling) ein Netz von Freundschafts- und Korrespondenzbeziehungen in Deutschland und im europäischen Ausland. Er war mit André Gide, Thomas Stearns Eliot, José Ortega y Gasset und vielen anderen europäischen Intellektuellen befreundet. In zwei Büchern stellte er die damals neueste französische Literatur vor; unmittelbar nach dem Krieg und dem Versailler Vertrag die französische Kultur positiv darzustellen, gehörte zu seinem Programm. Eine fast buchlange, zuvor in verschiedenen Zeitschriftenartikeln vorbereitete, Studie über Proust publizierte er noch vor dem Erscheinen des letzten Bands der Recherche. Eliots The Waste Land (1922) übersetzte er und schrieb dazu einen erläuternden Kommentar. Der Essay James Joyce und sein Ulysses erschien ebenfalls noch in den Zwanzigerjahren. Die Urteilssicherheit in der Auswahl der behandelten Autoren ist frappierend. Die Essays sind mit einem tiefen Verständnis und einer großen Urteilskraft geschrieben und erschließen ihre Gegenstände auf eine bis heute erkenntnisfördernde Weise. Die Literatur der Avantgarden – Expressionismus und Futurismus, Dadaismus und Surrealismus  – interessierte ihn weniger, aber er hat zum Beispiel 1926 den Surrealismus mit einem ausführlichen Referat des ersten Manifests und einem langen Zitat daraus vorgestellt. Der »radikale Begriff von Freiheit«, den Walter Benjamin drei Jahre später im Surrealismus akzentuierte, war für Curtius nicht attraktiv; aber beide verbindet eine große Faszination durch Louis Aragon. Die Diagnose, eine »alle Wertabstufungen negierende« Literatur könne »sich selbst nicht mehr als 123

Wert setzen«, zeigt, dass Curtius schon Mitte der Zwanzigerjahre die aporetischen Konsequenzen der Avantgarden verstanden hatte. Deshalb kommt er nach und nach zu der Einsicht, dass die Avantgarden und die gesamte moderne Literatur sich erschöpft hatten und in eine Sackgasse geraten waren. Deshalb beginnt er, sich in die Vergangenheit zu wenden, um zu verstehen, was die Literatur früher gewesen und wie es zur Moderne gekommen ist. Aus dieser Rückwendung in die Vergangenheit entsteht dann in den folgenden fünfzehn Jahren, vorbereitet durch zahlreiche Einzelstudien, das Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Das Buch war bis in die Sechzigerjahre weltweit berühmt und ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Im Zuge des Paradigmenwechsels, den Strukturalismus und Poststrukturalismus in den Geisteswissenschaften bewirkten, geriet es weitgehend in Vergessenheit und bekam den Status eines Nachschlagewerks. Die gewaltige Textmenge  – in heute gängigen Buchformaten wären es weit über tausend Seiten – ist mit einem ausführlichen Sach- und Namensregister ausgestattet, sodass die Massen von Quellenmaterial, die in dem Buch vorgestellt werden, in der Tat leicht zu erschließen sind. Im Zuge der Arbeit an einem Buch über die vier Romanisten – als Gumbrechts Buch seinerzeit mit dem Titel Vom Leben und Sterben der großen Romanisten erschien, war mein Gedanke, man sollte auch eines über das Denken und Schreiben des philologischen Quartetts erarbeiten – habe ich die Studie von Curtius wirklich gelesen und mich schnell überzeugen lassen, dass es sich bei dem Buch keineswegs um ein Nachschlagewerk handelt, sondern um ein wirkliches Werk mit einer Struktur und vor allem auch mit einem konzeptuellen Gehalt. Das erschließt sich nicht leicht, denn das Buch besteht aus achtzehn Kapiteln, zu denen es nicht nur fünfundzwanzig Exkurse, sondern auch 124

an die anderthalbtausend Fußnoten gibt. Es besteht also aus drei Abteilungen: den Hauptkapiteln, den Exkursen und den Fußnoten. In diesem Wimmeln und Wuchern von Wissen erkennt man zunächst keine Struktur. Aber wenn man das Buch genauer studiert, stellt man fest, dass sein konzeptueller Gehalt in dem Kapitel über den Manierismus liegt und dass dieses Kapitel genau die arithmetische Mitte des Buchs bildet; das kompositorische Zentrum ist auch das konzeptuelle Zentrum des Buchs. *** Die Topik, an die Curtius mit seiner Konzeption einer »historischen Topik« anschließt, ist eine Abteilung der antiken Rhetorik, der Lehre vom Aufbau einer Rede, aber auch der Dialektik, der Lehre von den logischen Schlüssen. Rhetorische Topoi sind Motive und Figuren, die wiederkehrend sind. Der Odysseus von Homer und der Ulysses von Joyce sind nicht dieselben Figuren, aber der Protagonist des modernen Romans ist ohne die Kenntnis des Odysseus aus dem antiken Epos nur unterkomplex zu verstehen, denn der Jedermann aus dem modernen Dublin ist eine Neukonfiguration des antiken Helden aus Ithaka. Dazwischen gibt es eine Serie von anderen Versionen der Figur des Odysseus, der von Homer unter verschiedenen Aspekten dargestellt wurde. Diese Aspekte wurden im Laufe der Überlieferung verschieden akzentuiert, sodass die Figur zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gedeutet wurde. Odysseus ist der Listenreiche, der zum Beispiel durch einen ingeniösen Trick den Polyphem in seiner Höhle überlistet und so sich und seine Gefährten befreit. Er hat auch die List mit dem Trojanischen Pferd ersonnen, das den Griechen den Sieg über Troja brachte. In der Gegenwart ist ein Trojaner – das englische Trojan, die 125

Kurzform von Trojan Horse, ist als Trojaner ins Deutsche übersetzt worden  – ein unter dem Anschein des Nützlichen eingeschleustes schädliches Computer-Programm. Der Topos vom Trojanischen Pferd wurde in der Sprache der Computer-Programmierer mit einer neuen Bedeutung versehen. Odysseus ist außerdem der Abenteurer, der Krieger, der Seefahrer und der Unterweltfahrer, der unter diesen verschiedenen Aspekten immer wieder als Topos aufgerufen werden kann. Und schließlich ist Odysseus der Held, der auf allen seinen Irrfahrten die Sehnsucht verspürt, nach Hause zurückzukehren. In dieser Hinsicht ist er als Heimkehrer eine topische Gegenfigur zum alttestamentlichen Abraham, der aufbricht, in die Fremde zieht und nicht heimkehrt. Ein anderer Topos ist die Rede vom Schiff, die für die Staatskonzeption von Bedeutung ist. Der Staat ist ein Schiff, auf dem der Kapitän dem Staatsoberhaupt, die Offiziere den Ministern und die Matrosen dem Volk entsprechen. Das Schiff des Staats wird dann durch die Stürme des Kriegs in den Hafen des Friedens geführt  – oder es geht unter in der Krise. Auch die Kirche ist ein Schiff – schon die Architektur der Kirchen nimmt den Topos auf –, auf dem die Gläubigen durch die Stürme der Welt in den Hafen des Heils gelangen. Ein letztes Beispiel ist der Topos von der Welt als Theater, in dem die Menschen auf der Bühne der Welt eine Rolle im Drama des Lebens spielen. Dieser Topos des Welttheaters ist bis ins 20.  Jahrhundert etwa bei Hugo von Hofmannsthal immer wieder aufgegriffen worden und wird auch zum Beispiel in der Soziologie der Rollen reaktiviert. Solche Topoi stellt Curtius in seinem Buch dar und zeigt, wie sie im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende immer wieder realisiert und dabei auch variiert wurden. Damit wird auch der Europa-Gedanke deutlich, der in 126

dem Buch von Curtius Profil erhält. An den Topoi zeigt sich die exemplarische Rolle der Literatur für die Geschichte Europas; sie sind eine Form, in der sich Europa als Überlieferungsraum ausgebildet hat. Der Titel des Buchs deutet bereits an, dass die europäische Literatur nur dann angemessen zu verstehen ist, wenn berücksichtigt wird, wie die antiken Topoi im Laufe der langen Jahrhunderte des lateinischen Mittelalters überliefert wurden. Das bedeutet umgekehrt – unter der Voraussetzung, dass Europa seine Geschichte ist –, dass die Literatur eine Dimension des europäischen Überlieferungsraums bildet und als ein wesentliches Moment der Geschichte Europas zu verstehen ist. *** Die Pointe der literarischen Topoi wird erkennbar, wenn man sie im Unterschied zu den dialektischen Topoi betrachtet. Die logischen Schlussfiguren – wenn A gleich B und B gleich C ist, dann ist auch A gleich C – sind Gestalten einer rationalen Wahrheit, die ein für alle Male feststeht. Die Griechen haben diese logischen Figuren nicht erfunden, sondern gefunden. Die rhetorischen und literarischen Topoi sind im Unterschied dazu nicht feststehende Wahrheiten, sondern historische Bildungen. Die mathematischen und logischen Wahrheiten sind überzeitlich und unveränderbar; der soeben angeführte logische Schluss oder der Satz des Pythagoras ist in China ebenso wahr wie in Australien; sie haben keine Geschichte, werden lediglich im Laufe der Geschichte unverändert überliefert. Im Unterschied dazu sind Topoi kulturelle und künstlerische Wahrheiten, die in der Geschichte entstanden sind und im Laufe der Entwicklung der Geschichte variiert werden; sie implizieren Geschichte als Veränderung. Curtius verbindet diese Konzeption der literarischen 127

poi mit einer bedeutenden Beobachtung. Für die Griechen waren die Epen Homers, also literarische Texte, die zivilisatorischen Referenztexte, an denen sie ihren Bildungsgang orientiert haben. Es gibt beispielsweise kaum einen Dialog Platons ohne mindestens ein Homer-Zitat. Entscheidend für diese Beobachtung ist, dass diese Referenztexte von menschlichen Autoren verfasste Texte mit einem historischen Ursprung sind. Im Unterschied dazu sind in religiös orientierten Gesellschaften Offenbarungstexte die Referenztexte, die nicht originär von Menschen geschrieben, sondern als göttliche Offenbarungen von den Menschen nur aufgeschrieben worden sind. Das ist der Unterschied zwischen Athen und Jerusalem in der Antike. Athen ist die Form von Zivilisation, in der Dichtung und Philosophie das Konfigurationsmedium der Gesellschaft ist, Jerusalem ist die Form von Zivilisation, in der Religion und Offenbarung das Konfigurationsmedium der Gesellschaft sind. Die Topoi in der Konzeption von Curtius sind Medien der Überlieferung. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter ist neben dem Philologen Gustav Gröber dem Kunsthistoriker Aby Warburg gewidmet. Curtius hatte ihn 1929 in Rom im Zusammenhang eines Vortrags von Warburg kennengelernt. Die Begegnung war prägend für die intellektuelle Entwicklung von Curtius. Warburg hat die Konzeption der Pathosformel entwickelt. Künstlerische Darstellungen sind Gestalten von Pathos. Eine Pathosformel, so kann man die Konzeption knapp zusammenfassen, ist die körperliche Konfiguration eines energetischen Zustands, die Ausdrucksform für ein Gefühl. Wenn einer wütend, traurig, erfreut ist, verlangt die Wut, Trauer, Freude nach Ausdruck. Solche Ausdrucksformen werden im Alltag durch Nachahmung erlernt, aber auch in der Kunst gestaltet; beides sind Formen der Überlieferung. Entsprechend hat Curtius die Topoi verstanden; sie sind 128

figuren: literarische Konfigurationen von emotionalen und mentalen Befindlichkeiten und Zuständen. Das ist nicht ein einzelnes Gefühl, sondern eine Konstellation von Gefühlen. Ödipus ist nicht nur die Gestalt eines Gefühls, er ist derjenige, der seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet. Er ist die Figur des Hasses auf den Vater und der Liebe zur Mutter. Die Gegenfigur aus der griechischen Dramatik ist Orest, der seine Mutter hasst und sie tötet, seinen Vater verehrt und idolisch liebt. Das ergibt sozusagen zwei Formen von Familienaufstellung. Vom Ödipus im Drama des Sophokles bis zum Ödipuskomplex der Psychoanalyse gibt es nun wiederum eine lange Überlieferungsgeschichte dieser Gestalt, in der sie jeweils unter verschiedenen Aspekten gedeutet und so umgestaltet wurde. In Spanien im 17. Jahrhundert ist Ödipus nicht derjenige, der mit seiner Mutter schläft, sondern derjenige, der das Rätsel der Sphinx löst: der Scharfsinnige. Das ist eine andere Gestaltung des Topos, aber sie gehört zur Geschichte des Topos, denn das Rätsellösen gehört wesentlich zur Gestalt des Ödipus. Die Einsicht in diese Verfassung der Topoi führt zu einer nachgerade erkenntnistheoretischen Pointe. Ein Topos ist nicht ein selbstidentisches Etwas. In der logischen Argumentation – wenn A gleich B und B gleich C ist, dann ist auch A gleich C – werden Identitätsaussagen gemacht; sie ist eine Dimension der Ideologie des Identischen. Ideologisch ist sie, weil es in der Wirklichkeit so gut wie nichts Identisches gibt. Es gibt keine zwei identischen Dinge, sondern nur Unterschiede. Von Leibniz ist die Anekdote überliefert, er habe bisweilen, da zu seinen Aufgaben bei Hofe in Hannover auch gehörte, die Hofgesellschaft zu verlustieren, die Herren und Damen aufgefordert, im Park zwei identische Blätter zu suchen und sie so zu der empirischen Einsicht geführt, dass es trotz bisweilen großer Ähnlichkeit unter den einzelnen Blättern doch immer auch 129

Unterschiede gibt. Die Anekdote zeigt, dass der Begriff des Blattes in der materiellen Wirklichkeit der Wälder und Parks keinen Referenten hat. Der Begriff sieht ab von der individuellen Differenz der Dinge, also davon, dass es keine identischen Dinge gibt. Er fasst die verschiedenen Blätter – von Eichen, Buchen, Tannen, aber auch die einzelnen Buchenblätter – unter dem einheitlichen Begriff des Blattes zusammen. Im Unterschied dazu ist der Topos kein Begriff. Ein Begriff definiert ein Ding. Ein Blatt ist der Auswuchs an den Zweigen einer Pflanze, der chlorophyllhaltig ist, Photosynthese bewirkt und den Wasserhaushalt der Pflanze reguliert. Ein Topos ist nicht in diesem Sinn definiert. Definition – vom lateinischen finis – bedeutet, das ein Ding dergestalt bestimmt wird, dass es in bestimmte Grenzen eingeschlossen wird und so von anderen Dingen unterscheidbar ist. Ein Topos hat keine feste Grenze. Er ist ein Ort ohne eine feste Umgrenzung. Das bedeutet nicht, dass er beliebig wäre. Er hat nämlich sehr wohl etwas Selbiges, aber ohne fest im Sinne der begrifflichen Bestimmung definiert zu sein. Ein Topos ist dann eher ein Spielraum, ein mobiles Dispositiv. Er ist eine allgemeine Konfiguration, die für einen jeweils individuellen Fall modifizierbar ist; er ist zugleich individuell und allgemein. Wie es keine zwei identischen Blätter gibt, so gibt es auch keine zwei identischen Fälle, keine zwei identischen emotionalen und mentalen Konfigurationen. Der Topos trägt dieser Tatsache Rechnung, dass es keine zwei identischen Menschen und keine zwei identischen Situationen gibt. Es gibt das Gefühl der Trauer, aber jeder Mensch trauert in einer jeweils unterschiedlichen Situation auf verschiedene Weise und kann seine eigene und persönliche Trauer in Gestalt des allgemeinen, aber individuell modifizierten Topos zum Ausdruck bringen. Der Topos ist eine Allgemeinheitsfigur, die zugleich individuell ausgestaltet werden 130

kann. Der Topos ermöglicht, einen individuellen Komplex in einer allgemeinen Form zum Ausdruck zu bringen, ohne dass dabei das Individuelle beschnitten würde. Das ist der Unterschied zum Begriff. Das Individuelle des Blattes wird durch die eingrenzende Definition beschnitten; es wird durch die Definition so zugeschnitten, dass sein Besonderes abgeschnitten wird und es unter den Begriff passt. Weil der Topos nicht definiert ist und keine feste Grenze hat, kann er das Individuelle des Einzelfalls aufnehmen und jeweils besonders gestalten. Die Geschichte der Topoi, die Curtius als historische Topologie schreibt, ist dann die Darstellung der verschiedenen Variationen eines Topos. Wenn die Topoi die Gestalten von emotionalen und mentalen Komplexen sind, wird ihre Geschichte zur Darstellung der emotionalen und mentalen Wandlungen der Menschen. Die historische Topik ist dann eine Darstellung der europäischen Mentalitäts- und Geistesgeschichte. *** Europa ist seine Geschichte als ein kultureller Überlieferungszusammenhang, und diese Geschichte hat selbst einen historischen Anfang bei den Griechen der Antike. Auch die Offenbarungstexte der religiös konfigurierten Gesellschaften werden historisch überliefert, aber die Texte selbst haben einen überhistorischen Ursprung. Der Überlieferungszusammenhang, den Curtius darstellt, hat dagegen einen historischen Ursprung. Und weil er über zweieinhalbtausend Jahre in unterschiedlichen Modifikationen andauert, kann er möglicherweise auch eine weitere Zukunft in wiederum modifizierter Form haben. Topoi sind wie Pathosformeln Speichermedien für mentale Komplexe, Möglichkeitsspielräume zur 131

lung. Betrachten wir noch einmal einen der angeführten Topoi: den des Schiffs. In der modernen Literatur seit etwa dem 17. Jahrhundert taucht verstärkt die Figur des Schiffsbruchs auf und wird vor allem im 19. Jahrhundert zu einer topischen Figur. In Frankreich sind die Schlüsselwerke der Moderne Schiffbruchtexte. Baudelaires Gedichtband Les fleurs du mal – Die Blumen des Bösen endet mit dem Gedicht Le voyage; die Reise endet im Schiffbruch. Rimbauds Le bateau ivre  – Das trunkene Schiff handelt von einem Schiffsuntergang. Mallarmés Un coup de dés jamais n’abolira le hasar – Ein Würfelwurf wird niemals den Zufall abschaffen ist ein Gedicht vom Schiffbruch. Das ließe sich für andere Literaturen entsprechend zeigen. Der Schiffbruch scheint ein moderner Topos zu sein. Das Schiff steuert nicht durch die Stürme des Lebens zum Hafen des Glücks, sondern es geht unter. Fraglich ist, was diese Konfiguration für den Topos des Schiffs und der Seefahrt bedeutet. Eine weiterführende Frage ist dann, was es für die Moderne bedeutet, dass sie sich nicht in der gelungenen, sondern der scheiternden Seefahrt konfiguriert. Ein vorläufig letztes großes Schiffbruchgedicht ist Der Untergang der Titanic (1981) von Hans Magnus Enzensberger. Für das 20. Jahrhundert war die Titanic noch einmal das mythische Schiff, das vorgeblich nicht sinken konnte, schon bei der Jungfernfahrt unterging und so den Topos des Schiffbruchs auf katastrophale Weise in der Wirklichkeit realisierte. Fraglich ist nun, ob der Schiffbruch noch eine Variante des seit der Antike überlieferten Topos der Seefahrt ist oder ob er ein neuer Topos ist, der aber, als Schiffbruch, doch auch aus der überlieferten Topik der Schifffahrt hervorgeht. Fraglich ist, wie weit die Varianten und Mutanten eines Topos noch Modifikationen von ihm sind. Die historische Topik im Sinne von Curtius ist eine Form, den Überlieferungsraum von Europa darzustellen 132

und selbst zu überliefern. Sie umfasst das antike Europa und seine Weiterentwicklung im christlichen Europa mit Ausblicken in die nachchristliche Zeit. Das ist für Curtius und fast alle Intellektuellen der Zeit ein Konzept von Europa im kontinentalen Sinn. Die Tatsache, dass Europa sich ab 1492 ins Globale ausgeweitet hat und der gesamte amerikanische Kontinent  – aber auch die anderen Kontinente  – unter anderem auch und wohl vor allem europäisch konfiguriert ist, gehört nicht zu ihrem Wahrnehmungshorizont. Der Überlieferungsraum Europas ist also nicht nur kontinental, sondern auch global zu verstehen. Die Romanistik und Anglistik der Nachkriegszeit hat diese Ausweitung der Welt nach und nach in ihren Themenkanon integriert, sodass heute die Lateinamerikanistik und Amerikanistik eigenständige Forschungsfelder sind. Die Überlieferungsgeschichte Europas vollzieht sich durch verschiedene epochale Zäsuren: Antike, Christentum, Moderne, kontinentales Europa und (post-)koloniale globale Welt. Die Epochenzäsuren sind aber offenbar keine absoluten Schnitte, sondern durch den Bruch hindurch bleibt etwas in verwandelter Form erhalten. Das zeigt sich an der Geschichte der Topoi, die sich jeweils neu konfigurieren, aber doch einen gewissen semantischen Gehalt bewahren. Ein zweiter Aspekt dieser Konzeption von Geschichte durch die epochalen Brüche und Wandlungen hindurch ist, dass die Geschichte offenbar nicht teleologisch verfasst, auf ein Ziel ausgerichtet ist. Und sie ist erst recht nicht etwas, das als eine feste Vergangenheit zu bewahren ist. Vergangenheit ist ein Möglichkeitsspielraum für den Entwurf möglicher Zukünfte. Die historische Topologie zeigt, wie Zukunft aus der Vergangenheit hervorgehen kann. Geschichte wird als Prozess eines unaufhörlichen Neuwerdens durch die Brüche hindurch erkennbar. Der Überlieferungsraum von Europa ist dann auf eine offene 133

Zukunft hin zu entwerfen: aus dem Geist der Geschichte im Sinn der historischen Topologie. Das ist das Abenteuer der Geschichte. Das Wort ist aus dem lateinischen advenire – ankommen hervorgegangen. Der Abenteurer ist einer, der sich auf etwas einlässt, das auf ihn zukommt, von dem er aber nicht weiß, was es ist. In dem Sinn ist Geschichte Abenteuer  – oder Advent, die andere Weiterbildung von advenire. Europa als Überlieferungsraum bedeutet eine wesentliche Offenheit auf die Zukunft aus dem Geist der Geschichte.

Literatur Giorgio Agamben: »Que l’Empire latin contre-attaque!«, in: Libération 24.#3.#2013. Giorgo Agamben: »Die endlose Krise ist ein Machtinstrument«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.#5.#2013. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern, Francke, 1946 (112015). Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, Francke, 1948 (111993). Hans Ulrich Gumbrecht: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten, München, Hanser, 2002. Gerhard Poppenberg: Geist, Geschichte, Wirklichkeit. Grundfragen der Philologie in der deutschen Romanistik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Heidelberg, Winter Verlag, 2022. Leo Spitzer: Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word »Stimmung«, Baltimore, Johns Hopkins UP , 1963. 134

Frank Rexroth

»Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter« – Ein Buch über weitgestreckte literarische Kommunikationen

I. Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (im Folgenden: ELLMA) ist ein Werk, das seit seinem Erscheinen 1948 nicht nur überaus stark beachtet wurde, sondern das auch auf unterschiedliche Weise verortet wurde. So hat man zum einen versucht, das Buch aus dem Gesamtschaffen seines Autors Ernst Robert Curtius (1886-1956) heraus zu verstehen, insbesondere aus dessen überraschender Hinwendung zur mittellateinischen Literatur, die nach der Veröffentlichung von Deutscher Geist in Gefahr im Jahr 1932 einsetzte und andere Projekte überlagerte.* Curtius selbst hat hierzu Hinweise gegeben, indem er schilderte, dass diese Neuausrichtung seines Interesses zunächst eine Fluchtbewegung aus der Gegenwart heraus gewesen *

Zum Folgenden vgl. Frank Rexroth, »Abendland-SubstanzLiteratur«? Über Ernst Robert Curtius, sein größtes Werk und die Mittelalterbilder des 20. Jahrhunderts, in: Thomas Schilp$/ Caroline Horch (Hg.), Memoria – Erinnerungskultur – Historismus. Zum Gedenken an Otto Gerhard Oexle. (Memoria and Rememberance Practices, Bd."2) Turnhout 2019, 249-265; Frank Rexroth, Rezension zu Ernst Robert Curtius, Elemente der Bildung, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 272, 2018, 144-157.

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sei, ausgelöst durch eine gravierende psychische Krise im Jahr 1932. Aus dieser Flucht sei allmählich die beglückende Erkenntnis gereift, mit diesem Projekt etwas kulturell Hochrelevantes zu leisten, eine Wiederentdeckung der europäischen Kultur als einer »Sinneinheit«. Vornehmlich Romanisten und Latinisten haben ELLMA darüber hinaus aus seinem disziplinären Kontext verstehen gelehrt, also als ein Werk der zeitgenössischen deutschsprachigen Romanistik und in der Nachbarschaft des Schaffens eines Erich Auerbach oder eines Leo Spitzer. Die dritte Lesart, die nach einer historischen Sichtung verlangt, ist die Kontextualisierung im Rahmen des »Europa«-Schrifttums der unmittelbaren Nachkriegszeit – präziser müsste man sagen: etwa in dem Jahrzehnt von 1945 bis 1955. Tut man dies, dann steht dabei unweigerlich eine provozierende Formulierung Hans Ulrich Gumbrechts von 1989 im Raum. Das Werk, so der Romanist zu ELLMA, sei im »Horizont der Abendland-Substanz-Literatur« beheimatet, »der den deutschen Buchmarkt zwischen 1945 und 1950  – und darüber hinaus  – beherrschte«.* Diese Qualifizierung wähle ich als Ausgangspunkt für einige Bemerkungen, die aus der Perspektive des Historikers zu ELLMA anzubringen wären. Zielpunkt soll dabei die Charakterisierung des Werks sein. Leitende Fragestellung hierfür ist, ob – und wenn ja, inwieweit – das Gumbrecht’sche Verdikt gerechtfertigt ist. Das setzt eine Kontextualisierung jener Texte voraus, die mit dem Etikett einer »AbendlandSubstanz-Literatur« behaftet werden könnten, und sodann die Frage, wie sich ELLMA zu diesen verhält. Damit ist unweigerlich die Frage nach der Offenheit des Ansatzes verbunden, dem Curtius – jenseits aller Zeitgebundenheit – in seinem großen Buch folgte. *

Zit. mit Nachweis bei Rexroth, Abendland 2019, S."251.

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II .

Aus der Luft gegriffen war die Gumbrecht’sche Etikettierung des Werks auf keinen Fall. Bücher, die Aufschlüsse über die »Substanz« des Europäischen verhießen, waren um 1948 in der Tat alles andere als selten. Genau genommen setzte ihre Publikation auch nicht mit dem Ausgang des Krieges ein, sondern bereits etwa drei Jahre früher, mit dem Russlandfeldzug und insbesondere mit »Stalingrad«. Es war mit Victor Klemperer ein weiterer Romanist, der diese Wiederzuwendung von NS -Deutschland zu »Europa« genau notiert hat, der auch gezeigt hat, wie sich die Europa-Vorstellung mit der Goebbels’schen Propaganda verschob: weg von der kulturellen Größe »Europa«, die überall dort wirkte, wo man sich auf die Traditionen von Jerusalem, Athen und Rom berief (also durchaus im gegenwärtigen Moskau oder im Jerusalemer »Café Europe«, in dem sich die Emigranten versammelten).* Das Europa der Nationalsozialisten, so hat Klemperer in LTI scharfsinnig beobachtet, wurde ab ca. 1942 vorrangig als ein Raum verstanden. Es war die vermeintliche »Festung Europa«, die von der deutschen »Ordnungsmacht« und ihren Organen wie der SS (jetzt als »Kampfgruppe für Europa« tituliert!) geschützt werden musste  – geschützt vor dem Bolschewismus, vor der Gefahr der »Versteppung«, vor dem »Ansturm der Steppe«. Mit der deutschen Niederlage brach diese Rede von Europa keineswegs ab, doch waren die jüngeren Stimmen bemüht darum, dieser rein räumlichen Vorstellung wieder eine historisch-kulturelle Tiefendimension zu geben. Ein Hauptort dieser Tendenz war bekanntlich die katholisch *

Victor Klemperer, LTI . Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1991, S."169-176.

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intonierte »Abendland«-Rhetorik, die gerade das Mittelalter in einer Tradition, die bis zu Novalis führt (Die Christenheit oder Europa, 1799), durch seine vermeintliche Einheitlichkeit im Glauben und seinen antirevolutionären, in Ständedenken stabilisierten Grundzug bestimmen wollte. Wer ab 1945 so dachte, konnte an Positionen anknüpfen, die auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs populär gewesen waren: Das Heil der abendländischen Gesellschaft bestand in seiner Einheit, einer Einheit im Glauben und in stabilisierenden Gesellschaftsmodellen, die durch die Unglücke der Reformation, der Revolutionen und aller möglichen Modernisierungsprozesse zerrieben worden waren.* Eine aktuell-politische Note erhält dieses Schrifttum durch seine Tendenz, eine zweifache Abwehrhaltung gegenüber vermeintlich feindlichen kulturellen Tendenzen der unmittelbaren Gegenwart in den Vordergrund zu rücken – gegenüber dem sowjetischen Expansionismus und zugleich gegenüber der Amerikanisierung Europas, die für »Demokratismus«, »Massengesellschaft« und kulturelle Banalisierung stand. Auf diese Weise brach die »Abendland-Substanz-Literatur« (der Gumbrecht’sche Terminus sei hier zustimmend aufgenommen) mit der NS -Tradition. Sie polte die offensive, an deutschem Hegemoniebestreben orientierte Rede von Europa um zu einer defensiven Lesart der Gegenwart. Europa wurde wieder als eine in Ansätzen räumliche, vor allem aber als eine historisch-kulturelle Größe begriffen. Dies ist auch, was Curtius meinte, als er in seiner Einlei-

*

Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre. (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd."4). München 1999.

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tung schrieb, er verstehe »Europa nicht im räumlichen, sondern im geschichtlichen Sinne« (S."19). Als Beispiel mag hier eine Schrift von Wilhelm Josef Revers dienen, die den Sound jenes Kulturpessimismus gut einfängt. Wie so oft in diesem Schrifttum geht es in der folgenden Textstelle um den Aufschwung der sogenannten »Massen« – das war einer der Grundbegriffe des kulturkritischen und politischen Denkens im 20. Jh., der auch für Curtius essentiell ist. Revers beleuchtet die Hintergründe dieses Aufschwungs:*  Die Forderung nach Gleichheit ist die Folge der Identifikation der Massenglieder untereinander in der Schwäche: Das Anrecht auf Schwächlichkeit, auf Halbleistungen: Eine sozialhistorische [sic!] Hysterie: Weil man in seiner Schwächlichkeit und Durchschnittlichkeit nichts Besonderes leisten kann, wird diese Verfassung zum Idealzustand erklärt. Wer aus der ›Gleichheit‹ sich erhebt, und etwas anderes tut, als was alle tun, ist ›unsozial‹, ›unanständig‹, ›unsittlich‹. Denn seine Leistung beleuchtet das Unrecht der Menge, die Krankheit als Krankheit. Das den amorphen Haufen leitende Gesetz ist der Zufall: Sobald die Möglichkeit vorliegt, daß mehrere einzelne sich eins fühlen mit der Bedürftigkeit, dem Begehren, der Sucht, der gerade zufällig versammelten Mehrzahl, so ist die Mehrzahl Masse. In diesem Stil führt Revers seine Schrift weiter fort. Die »drei Schritte«, die zum »amorphen Haufen« führen, bestehen für ihren Autor in der Entgöttlichung, der Entper*

Wilhelm Josef Revers, Persönlichkeit und Vermassung. Eine psychologische und kulturanthropologische Studie. Würzburg 1947, die Zitate S."93 u. 99.

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sönlichung und der Auflösung der Familie: »Die an ihrer Statt eingesetzte Aktiengesellschaft für Sexualgenuß« sei »die Brutstätte des Asozialen«. Nun kann man mit Recht sagen, dass sich ELLMA unendlich weit über derartigen schnell dahingeschriebenen Blättern bewegt. Trotzdem erkennt man – bei aller Würdigung dieses Abstands im Reflexionsniveau  – Brücken vom einen zum anderen, vor allem die Reserve gegenüber der »Masse« (von der man nur Gutes zu gewärtigen hat, wenn sie von einer kulturellen Elite angeleitet wird) sowie die Selbstverortung in der politischen Situation der Nachkriegsjahre. Denn wir verstehen den Blick dieser Autoren (und unter diesem Blickwinkel gehört Curtius zu ihnen hinzu) falsch, wenn wir ihnen unterstellen, dass sie so wie wir den 8. Mai 1945 als eine gültige Zäsur angesehen hätten. Diese Sichtweise gibt es zwar, aber von größerer Bedeutung ist für die Produzenten jener Schriften die Wahrnehmung, nach der Europa seit dem Ende des Ersten Weltkriegs von der Existenz zweier hegemonialer Regimes diktiert worden ist, nämlich des sowjetischen seit 1917 und des nationalsozialistischen deutschen seit 1933. Das eine, so war man überzeugt, sei jüngst verschwunden, das andere aber sei noch da. Und selbst Nichtnationalsozialisten saßen der Anschauung auf, dass der Niedergang des Dritten Reichs eine ungeheuer gefährliche Flanke öffnete, nämlich die Ausdehnung der Sowjetunion und ihrer Trabantenstaaten Richtung Westen. So dachte auch Curtius. Aus Colpach schrieb er Mitte Dezember 1945 an seinen Freund Jean de Menasce: »Im Sommer [1944] habe ich die ersten Kapitel eines Buchs verfaßt, das meine Studien auf eine neue Grundlage stellen und sie mit einigen allgemeinen Ideen zur literarischen Überlieferung dieses Europa ausschmücken soll, von dem 140

ich glaube, daß es den Schrecken eines neuen Krieges ausgesetzt sein wird, den Rußland vom Zaun bricht. Weder England noch Frankreich werden diesen überleben.«* In diesem Geist werden zahlreiche Europa- und Abendlands-Schriften seit 1945 verfasst. Der Niedergang der NS -Herrschaft wurde nicht als Widerlegung der kulturkritischen, insbesondere der modernitätskritischen Töne seit den 1920er Jahren angesehen, sondern eher als deren Bestätigung. Die Ideengeschichte der Nachkriegszeit ist eine Geschichte der Kontinuitäten seit 1920 und darüber hinaus. Auf diese Weise ist auch deutsche Schuld thematisierbar, aber diese Schuld besteht keineswegs im Überfall auf die europäische Staatenwelt und schon gar nicht auf die Sowjetunion, um von der Shoah ganz zu schweigen. Die deutsche Schuld, von der hier die Rede ist, besteht vielmehr im Abfall vom abendländischen Universalismus der Vormoderne, in der europaweiten Hinwendung zum Nationalismus sowie in der zunehmenden Areligiosität, der Auflösung der Familie, dem Schwund des Respekts, den die Jüngeren den Älteren schuldig sind, der Nivellierung des Geschmacks auf das Niveau der »Masse«. Freilich muss man verschiedene Ausprägungen dieses Schrifttums unterscheiden. Zum einen gibt es Schriften wie die gerade zitierte von Revers, die sich lesen, als hätte sich ein Autor mit heißer Feder seine Sorgen in einer einzigen schlaflosen Nacht von der Seele geschrieben. Dann gibt es Bücher, die dem Vorsatz folgen, das Bildungsgut der angenommenen europäischen Tradition zu retten, also Kompilationen bis hin zu handbuchartigen Präsentations*

Ernst Robert Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert. Eine Auswahl, hg. von Frank-Rutger Hausmann (Saecula spiritalia, Bd."49). Baden-Baden 2015, S."461 im Kommentar zu Brief 253.

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formen. Der Würzburger Philosoph Hans Meyer etwa schrieb binnen kürzester Zeit eine Geschichte der abendländischen Weltanschauung in fünf Bänden. Dabei handelt es sich im Grunde um ein Handbuch, hinter dem die klassische Überzeugung des Antiquars zu stehen scheint: Wenn er dieses Wissen nicht in der Schrift festhält, wird es wohl unwiederbringlich verloren gehen. Gefährdet ist es, wie Meyer dem Leser verrät, vom »Ungeist des Materialismus und Intellektualismus« an den Hochschulen seiner Zeit sowie vom schwindenden »Glauben an eine jenseitige Welt«.* Und drittens gibt es auch genuin forschungsbasierte Arbeiten, die vom Ehrgeiz beseelt waren, Europa in seinen inneren Zusammenhängen überhaupt erst einmal sichtbar zu machen (was mithin die Gegenthese zu jener antiquarischen Gestimmtheit eines Hans Meyer ist), indem sie das Europa der Vormoderne in Orientierung an einem leitenden Paradigma zu rekonstruieren versuchen. Dazu gehört fraglos an erster Stelle ELLMA, aber auch Arbeiten wie Paul Koschakers Europa und das römische Recht (1947), das allerdings viel weniger originell und eine stark disziplinär gebundene römischrechtliche Studie war. Hinzu gehören überdies Hans Sedlmayrs kunsthistorische Untersuchung unter dem Titel Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit (1948), Romano Guardinis Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung (1950) sowie das schon 1935 verfasste, aber erst seit seiner deutschen Ausgabe von 1950 breit wahrgenommene Buch Christopher Dawsons über Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abendländischen Einheit. *

Nachweise bei Rexroth, Abendland 2019, S."254#f. mit Anm. 1618.

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III .

Diesem ideengeschichtlichen Kontext muss man ELLMA zurechnen, und insofern Gumbrecht das tut, hat er mit seiner Etikettierung des Werks als »Abendland-SubstanzLiteratur« recht. Doch geht er mit seinem Urteil letztlich in die Irre, da er mit ihm den entscheidenden Unterschied zwischen diesem Buch und den anderen genannten ausblendet. Fast sämtliche dieser Arbeiten versuchen das mittelalterliche Europa tatsächlich unter Rückgriff auf eine »Substanz« zu greifen, das heißt durch die Benennung kultureller Größen, die essenzialisierend für Europa selbst stehen sollen – den Glauben, die Ständeordnung, das Lehnswesen, die Kommune, die Rezeption des römischen Rechts, das sich selbst verwaltende Bürgertum. All dies sind von den Autoren eingeführte Größen, die es gestatten sollen, zwischen Europa und Nicht-Europa zu unterscheiden. Gerade unter diesem Blickwinkel aber ist ELLMA völlig anders. Denn durch die zentrale Stellung der literarischen Topik ist das Europa dieses großen Buchs kein durch derartige Essenzialismen konstituierter Raum, sondern ein Raum offener literarischer Kommunikationen  – weit gestreckter, zerdehnter Austauschprozesse, die von Homer über Vergil bis zu Dante und dann über diesen hinaus bis zu Joyce, Proust und T.#S.##Eliot reichen. Dieses Europa ist a limine unabgeschlossen und unabschließbar. Es reicht bis zum Jerusalemer »Café Europe« und über dieses hinaus, eben überall hin, wo Kommunikation zu Anschlusskommunikation führt.

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IV .

Zwei Beobachtungen und ein Gedankenexperiment sollen diese Feststellung abschließend belegen. Die erste Beobachtung macht jeder auch nur flüchtige Leser von ELLMA: Der Literaturkanon, der diesem Werk zugrunde liegt, ist weder abgeschlossen noch abschließbar. Wer das kurze Teilkapitel 18$/3 über »Geist und Form« liest (wo es doch wie überhaupt um das Mittelalter gehen soll), findet mehr antike und spätantike (vier) als mittelalterliche (zwei) Autoren namentlich genannt, überdies aber fünf moderne (Edmund Spenser, Gerard Manley Hopkins, Walt Whitman, Paul Valéry, T.#S.##Eliot). Das ist typisch für seinen Stil, und ein Moment von Assoziation und Vielwisserei ist dabei freilich am Wirken; doch evident ist damit vor allem, dass Curtius keineswegs von einem abschließbaren Corpus mittelalterlicher Referenztexte ausgeht. Dieses Buch über das »Lateinische Mittelalter« ist programmatisch unabgeschlossen, es haftet an keiner vermeintlichen »Substanz«. Die zweite Beobachtung steht mit der ersten in Verbindung, insofern sie Curtius als Leser in der Vorbereitung von ELLMA betrifft. Im Sommer 1944 arbeitete der Romanist intensiv an den ersten Kapiteln, dann war er gezwungen, Bonn für einige Zeit zu verlassen und auf dem Land Zuflucht zu suchen. In Gedanken war er bei seinem Projekt; doch was nahm er zum Lesen mit? Bernhard von Clairvaux etwa oder andere Autoren, die er zu verarbeiten gedachte? Er verrät es in einem Brief an Aline Mayrisch: »Vous ai-je dit que j’ai relu Proust en entier pendant l’angoissant hiver de 44$/45?« Bernhard las er durchaus auch  – doch erst, als das ELLMA-Manuskript abgeschlossen war, im Januar 1948, als nur noch die Fahnenkorrekturen und die Erstellung der Register zu erledigen waren: »Grade hatte ich mich mit Entzücken in die Predigten des hl. Bernhard 144

über das Hohelied vertieft, mit Entdeckerfreude einen vergessenen Teil der Christologie die Lehre von den nomina Christi durch ein Jahrtausend verfolgt […]«.* So ist das überhaupt mit seiner Lektüre. Sie folgt keinem erkennbaren Plan, sondern unterwirft sich dem Appetit einer unstillbar gefräßigen Maschine, von deren Leistungskraft er seit Jahrzehnten ohne jede Beimischung von Zweifel überzeugt ist: seinem Denken. Denn er weiß, dass auch die Wiederlektüre des ›ganzen Proust‹ (oder ein andermal: Shakespeares oder des »ganzen Hofmannsthal«**) dazu dient, sich »geistig in bekömmlichem Klima zu halten« und sein Wissen um die zerdehnte Kommunikation, in die sich Dichter gestellt haben, zu bereichern und zu verfeinern. Zum Abschluss das angekündigte Gedankenexperiment: Wie wäre es weitergegangen mit dem Projekt ELLMA, wenn Curtius auf der vorgegebenen Linie weitergemacht hätte? Wäre seine »europäische Literatur« ein besser definierter Raum geworden? Ich glaube es nicht. Vielmehr vermute ich, dass er an seinem Weg der Rekonstruktion von vergangenen Kommunikationen festgehalten hätte. Hören wir ihm nur zu: »Als ich Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter schrieb«, so erinnert er sich in seinem Büchertagebuch, »stieß ich wiederholt auf das Problem: Hat die griechische Rhetorik auf die arabische Literatur gewirkt? Manches aus Tausendundeiner Nacht, manches aus der hispano-arabischen und der spanischen Dichtung schien mir darauf zu deuten. […] Das ist aber nur ein Ausschnitt aus dem weiten Gebiet, das ›Wanderwege des Hellenismus in den Orient‹ zu benennen wäre und das darum so wenig erforscht ist, weil wenige Orientalisten * Curtius, Briefe 2015, S."461 u. 510. ** Ernst Robert Curtius$/$Max Rychner, Briefe, hg. von Claudia Mertz-Rychner. Bern$/$Stuttgart$/$Wien 1969, S."28.

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hellenistisches und kaiserzeitliches Griechisch lesen und wenige Gräcisten Arabisch. Man müßte das transversale Lesen mehrerer Literaturen zu einer Technik entwickeln können. Oft hellt Entferntestes sich gegenseitig auf.« * Autoren, die er von Anbeginn verschmäht hatte,** wären auch in diesem Folgeband mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vorgekommen. Aber wäre er durch die Pariser Universitätswissenschaft des Mittelalters auf den arabischen Philosophen al-Fārābī aufmerksam geworden, auf die Rolle des jüdischen Zwischenübersetzers Abraham Ibn-Daūd und ihre Verarbeitung durch den Spanier Domingo Gunsalvi, und wäre ihm darüber aufgegangen, wie sehr der Aristotelismus an der Pariser Philosophie durch diese Rezeptionen überhaupt erst konstituiert wurde, dann hätte es für ihn kein Halten mehr gegeben. Der wahrscheinliche Weg dieses hungrigen Lesers und Philologen wäre der zur Weltliteratur gewesen – keiner völlig entgrenzten Weltliteratur freilich, denn vor dieser hätte ihn seine Methode bewahrt. Sein Weg wäre es gewesen, den globalen literarischen Kommunikationen auf eben jenem Weg zu folgen, den er mit ELLMA eingeschlagen hatte.

*

Ernst Robert Curtius, Büchertagebuch. Mit einem Nachwort von Max Rychner. Bern 1960, S."6#f. ** Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr. Stuttgart, Berlin 1932, S."18.

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Mitschrift der Debatte

Ende des Vortrags von Gerhard Poppenberg. Frank Rexroth stellt Rückfragen an Gerhard Poppenberg:

Frank Rexroth (Darf ich die Gelegenheit ergreifen, Sie noch ein wenig zu interviewen? Vielleicht fange ich gleich mit einem heiklen Punkt an: Was die Planung der Struktur von ELLMA (Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter) anbelangt, so haben Sie mich noch nicht so ganz überzeugt. Dass das Manierismuskapitel genau in der Mitte beginnt, ist sicher eine valide Beobachtung, so etwas kommt nie von ungefähr. Aber ich glaube, dass man sich die Entstehung des Werkes nicht so vorstellen kann, als ob da jemand eine Planzeichnung gemacht hätte, einen Masterplan dafür, wie er das Buch vor sich sehen will, um anschließend diesen Plan abzuarbeiten. Dazu wirkt zu vieles an ELLMA zu kompilatorisch und aus dem Augenblick heraus geschrieben. Bücher beginnen oft mit einem Motto, bei Curtius sind es aber zehn – um Himmels willen, wer macht so etwas? Achtzehn Kapitel, die nicht zu größeren Blöcken zusammengefasst sind, und anschließend sage und schreibe fünfundzwanzig Exkurse! Man stellt sich dann doch die Frage nach der Arbeitsweise, die hinter diesem Riesenprojekt steht, an dem er immerhin fünfzehn Jahre intensiv gearbeitet hat. Würden Sie an Ihrer Meinung, dass das Buch eine zuvor bedachte Struktur hat, festhalten? Gerhard Poppenberg (Da halte ich dran fest bis zum Erweis des Gegenteils. Und ich kann das noch etwas 147

führen, dass ich darauf hingewiesen habe, dass das Manierismuskapitel das Zentrum ist. Es zieht sich durch das Buch, das habe ich jetzt ganz beiseitegelassen, weil das sonst ja alles viel zu viel geworden wäre: eine Diskussion über das Verhältnis von Klassik und Barock, und auch das gehört zum Überlieferungszusammenhang der europäischen Geschichte. Schon in der Antike gab es die Differenzierung zwischen dem sogenannten Asianismus und dem Attizismus. Die Attizisten sind die Klassiker und die Asianisten sind die Barocken, oder in der Philosophie ist das die Unterscheidung zwischen den ordentlichen Platonikern und den Sophisten. Das ist also eine Opposition, die Curtius durch die gesamte europäische Geschichte verfolgt und die einen Wechsel, eine Dialektik von Klassik und Barock – so könnte man sagen – impliziert. Das hat er im Grunde genommen von dem Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin. Den zitiert er nur ein einziges Mal in dem Buch, obwohl der diese These ganz zentral Anfang des Jahrhunderts aufgestellt hatte: Es gibt nicht nur ein Barock und eine Klassik, sondern es gibt unaufhörliche Klassiken und die kann man formal voneinander unterscheiden. Das Barocke ist nicht ein nicht gekonntes Klassisches, sondern es ist eine andere Form der künstlerischen Gestaltungsform. Das ist offenbar ein Fall von Einflussangst bei Curtius gewesen, sodass er verschweigen muss, dass er den Grundgedanken von Wölfflin hat, aber er arbeitet den ja auch ganz anders aus. Der Grundgedanke ist: Die klassischen Epochen sind solche, in denen ordentlich geformt dargestellt wird und in denen das Erreichte gestaltet und überliefert wird. Und die barocken – er nennt sie eben manieristische – Epochen sind die, in denen die festen Formen wieder korrodieren und die Möglichkeit zu Neuem bieten. Also das, was ich an der Dialektik des Topos deutlich gemacht hatte – er ist eine feste Form, die gleichzeitig die Möglichkeit zur Variante 148

bietet und damit immer neu konfiguriert werden kann  – das ist auf der höheren Ebene der Epochenkonzeption von Curtius die Dialektik von Klassik und Barock. Und deshalb steht im Zentrum des Buches das Manierismuskapitel, also das Kapitel zum Barock, weil es ihm um die Erneuerung geht. Der Manierismus ist sozusagen die entscheidende mentalitätsgeschichtliche und stilgeschichtliche Darstellungsform, in der das Neue zum Tragen kommt. Und deshalb muss der Manierismus, das Manierismuskapitel im Zentrum stehen. Und das Manierismuskapitel endet in einer Darstellung des großen Buchs des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián, der ein Buch geschrieben hat über das, was man im 16. und 17. Jahrhundert das concetto, den concettismo oder den conceptismo genannt hat. Das ist sozusagen die Quintessenz der barocken Mentalität: das Ingeniöse. Und das Ingeniöse ist eine Form des nicht geregelten Denkens, sozusagen der Produktion von Überraschungen, von Neuigkeiten. Und Baltasar Gracián hat dazu eine Art Theorie geschrieben. Und Curtius lässt dieses Buch, in dem das Zentrum der Manierismus ist, dieses Manierismuskapitel in Baltasar Gracián münden. Und sagt – das ist, glaube ich, die Pointe dieser ganzen Konstruktion –, wir müssen ins 17. Jahrhundert zurückgehen, um zu verstehen, was die Moderne gewesen ist. Das ist der Urknall der Moderne, der barocke Konzeptismus, wo es darum geht, originell zu sein. Das Originalgenie des 18.  Jahrhunderts hat sozusagen seine Tiefenstruktur im barocken Konzeptismus und deshalb müssen wir dahin zurück. Und das müssen wir zurückverfolgen bis zum antiken Asianismus.

Frank Rexroth (Man muss sich klarmachen, dass das Konzept dieses Buches aus einer persönlichen Krisenerfahrung heraus generiert wurde. Sie haben ja darauf hingewiesen, dass Curtius ganz anders zu publizieren anfängt 149

als andere, das heißt auf eine für ihn typische Weise. Am Anfang seiner Karriere ist er ein völlig unversorgter Privatdozent – andere Leute würden sich Sorgen machen um ihre Zukunft in der unmittelbaren Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Doch er hält seine erste Vorlesung über französische Gegenwartsliteratur! Das bedeutete, ein enormes Karriererisiko einzugehen, denn dies war ein Sujet, das in der deutschen Romanistik keinen akzeptierten Platz besäße. Dann aber wird das Buch, das aus dieser Vorlesung erwächst, ein großer Erfolg, und er gewinnt die romanistische Zunft für sich, weil man in dieser merkt, dass das Buch der eigenen Fachwissenschaft viel Aufmerksamkeit beschert. Ein anglistischer Kollege sagt in Dresden in Victor Klemperers Gegenwart, er wünsche sich, es gebe auch ein anglistisches Buch wie diese Literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich von Curtius. Klemperer ist einigermaßen verdutzt, weil er damit lernt, dass ein Buch wie die Wegbereiter nicht nur akzeptiert, sondern geschätzt wird. Anschließend geht Curtius aber seiner Neigung zum schnellen, pointierten Schreiben nach, und daraus entsteht 1932 Deutscher Geist in Gefahr, ein Buch, mit dem er sich positionieren will als informierter Kritiker der zeitgenössischen Soziologie. Als er merkt, dass er mit der Rezeption dieser Schrift in die unwillkommene Rolle des public intellectual geraten ist, versucht er das wettzumachen, indem er gleich ein zweites Buch hinterherschiebt, in dem er sich stärker konservativ profiliert: Elemente der Bildung soll es heißen, aber dieses Projekt lässt er fallen. Er durchlebt eine depressive Phase, von der er im Rückblick sagt, dass er sich durch die Beschäftigung mit der lateinischen mittelalterlichen Überlieferung befreit habe. Es dauert eine ganze Weile, jedenfalls über die 1930er Jahre hinweg, bis er begreift, was für ein phantastisches Thema er damit aufgenommen hat. Ein Projekt, das als eskapistische Strategie 150

begann, hat ihn zu etwas geführt, das er so wahrscheinlich nicht gesucht hat: Die europäische Literatur kann man begreifen als »ein System von Kommunikationen«, für die die Topoi tragende Bedeutung besitzen. In schwieriger Zeit folgte er einer Intuition und fand darüber etwas Bahnbrechendes.

Gerhard Poppenberg (Ja, das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Aspekt. Das findet man bei den anderen auch. Das geht auch auf Diskussionen der Philologen des 19.  Jahrhunderts zurück: Die Frage der Intuition  – also was ist eigentlich philologische Methode? Und da sagt Curtius in dem hochnäsigen Gestus, der ihm eigen war: Methode ist was für Schüler. Das braucht man, um studentische Hausarbeiten zu schreiben. Frank Rexroth (Das hat auch eine Tradition. Theodor Mommsen sagt so etwas auch. Gerhard Poppenberg (Ja, genau. Das gehört in die Zunft der Historiker des 19. Jahrhunderts hinein. Und nun ist aber genau die Frage: Wie verhält sich das, was diese Leute Intuition nennen oder bei Schleiermacher schon der »Keimentschluss« heißt. Das sind so ganz vage Figuren, die aber darauf hinweisen: Methode ist nicht alles. Ohne Methode ist alles nichts, aber Methode ist nicht alles. Und es gibt sozusagen am Anfang etwas, was ein Einfall, eine Idee, eine Beobachtung – wird Auerbach dann sagen – ist, wo man sagt, das ist interessant, da will ich doch mal gucken, wie es dahin gekommen ist, wie das zu verstehen ist. Und dann fängt man an zu lesen und zu lesen und sieht: Aha, diese Intuition trägt, die entwickelt sich, setzt sozusagen Ringe an. Und es sammelt sich zunehmend etwas an und man hat dann eine Mappe, in die man immer wieder 151

was Neues reinwirft. Ich habe auch solche Mappen, die sind so dick, wo ich denke, das werde ich nie bearbeiten. Da braucht man eben zehn Jahre, um das dann in Form zu bringen. Und ich glaube aber, so arbeiten diese Leute. Und ich glaube auch, man kann nur so arbeiten. Man kann auch systematisch arbeiten, aber das ist dann meistens sehr untriftig, was dabei herauskommt.

Frank Rexroth (Es gibt ja diese schöne kleine Arbeit von Niklas Luhmann, die Kommunikation mit Zettelkästen heißt. Dort beschreibt Luhmann, wie die eigenen Aufzeichnungen zum Ideengeber und Generator von Erkenntnis werden. Das Allererste, was mir als Leser zu Curtius einfallen würde, ist der Bezügereichtum seiner Arbeiten, die Bedeutung von Assoziationen, die anhand von Topoi (aber nicht nur von Topoi) Gegenstände auf überraschende Weise miteinander verknüpfen. Wissen Sie, wie er gearbeitet hat? Gibt es einen Curtius’schen Zettelkasten, mit dem man die Fabrikation dieser Assoziationen erklären könnte? Gerhard Poppenberg (Also soweit ich weiß, gibt es den nicht, also zumindest nicht in diesem starken Sinne wie Luhmann oder Blumenberg einen Zettelkasten geführt haben, wo sie systematisch Einträge gemacht haben und auch dann Verweisstrukturen innerhalb des Zettelkastens entwickelt haben. So hat der Curtius nicht gearbeitet. So haben die alle wohl nicht gearbeitet. Die haben wohl sozusagen einen mentalen Zettelkasten gehabt, in dem sie die Dinge abgelegt haben. Und dieses etwas auf der Oberflächenebene Wahllose, dieses Gewimmel und Gewusel von Wissen, was dieses Buch ansammelt, das hat ja auch etwas von diesem Sammeln. Das ist wie ein barockes Kuriositätenkabinett aufgebaut. Es hat aber eben auch eine Ordnung. Ich will überhaupt nicht bestreiten, dass das auf 152

einer bestimmten Ebene ein chaotisches Buch ist. Aber – und das wäre vielleicht das, was er von Joyce gelernt hat – das Chaos ist auch ein Kosmos, der »chaosmos« von Joyce. Das Buch ist auch ein »chaosmos«. Und viel von der Konstruktionsweise von Ulysses, die er ja an Ulysses beschrieben hat, ist eingegangen in die Konstruktionsweise von Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter  – das ist sozusagen ein philologischer Ulysses. Ein philologischer Roman ist das eher als ein wirklich wissenschaftliches Werk.

Frank Rexroth (Es gibt im Buch selbst Aussagen, die stark erinnern an seinen Ulysses-Essay, wo er ein Gewebe von wiederkehrenden Motiven spinnt – man wirft irgendwo ein Zettelchen in die Liffey [irischer Fluss], und irgendwo anders taucht es wieder auf, und lesend begegnet man ihm im Lauf der Handlung wieder. So ähnlich geht es dem Leser von ELLMA auch. Ende der Zwischendiskussion.

Zweite Diskussion:

Gerhard Poppenberg (Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Zumal eben er ja wirklich ein historischer Denker war oder ein historischer Philologe. Und diese Fortsetzung von ELLMA in die arabische Welt wäre vermutlich daran gescheitert, dass er als Sechzigjähriger nicht mehr Arabisch gelernt hätte. Frank Rexroth (Aber er kokettiert immerhin mit dem Gedanken. Er schreibt einmal sinngemäß: Ich hätte große Lust, Arabisch und Persisch zu lernen. 153

Gerhard Poppenberg (Ja und dann hätte sich ihm tatsächlich eine ganz neue Welt erschlossen, die aber in genauso einem Traditionszusammenhang mit der griechischen Welt gestanden hat. Das war uns ja allen bekannt, dass die Scholastik von den arabischen Übersetzungen ins Lateinische des Aristoteles gezehrt hat zu einem guten Teil. Also ein großer Teil des antiken Wissens ist ja über die arabische Welt über Spanien nach Mitteleuropa gekommen und lange Zeit hat man eben nur die lateinischen Übersetzungen gelesen. Das hat ja erst in meiner Generation oder in der Generation vor meiner Generation angefangen, dass Philosophiehistoriker angefangen haben, Arabisch zu lernen, um Averroes mal im Original lesen zu können und zu gucken, was gab es da sonst noch und so müssten das die Philologen genauso machen. Also das wäre die eine Möglichkeit, es fortzusetzen: den europäischen Kulturraum ins Orientalisch-Maghrebinische auszudehnen. Und die andere, die ich vorhin angedeutet habe, ist eben die ins Globale. Also die Weiterführung der europäischen Kultur in Gestalt der Kolonien, wo sie sich auf bestimmte Weise ja auch weiterentwickelt hat und wo sie neue Konfigurationen entwickelt hat – im Austausch mit den indigenen Kulturen, im Austausch mit anderen Migrationskulturen, die dort ansässig geworden sind. Und die ja auch die Sprachen zum Teil verändert haben. Also so gesehen sind wir jetzt in einer Phase, die analog zu der der Spätantike ist, wo das Lateinische über das Vulgärlateinische sich langsam in die romanischen Sprachen ausdifferenziert, die dann so ab dem 6. oder 8. Jahrhundert anfangen, wahrnehmbar zu werden. Und das Lateinische der Globalisierung war lange Zeit das Spanische oder das Englische. Das Spanische gilt heute in der Hispanistik auch als eine polyzentrische Sprache. Es gibt Akademien der Sprache in Buenos Aires, in Mexiko, wo eine eigene Sprachkultur gepflegt wird  – noch kann 154

man die Sprachen spanisch nennen, aber sie sind dabei, sich auszudifferenzieren und in weiteren dreihundert Jahren könnte es sein, dass sich dort eigenständige Sprachen entwickelt haben. So wie auch das Englische in Indien, das Englische in Australien, das Englische in Südafrika, das Englische in den USA und das Englische in England vermutlich irgendwann sich weiter auseinanderdifferenzieren werden und sodann eigene neue Kulturräume entwickeln werden, die aber dann aus einer zukünftigen, tausend Jahre in der Zukunft rückblickenden Kulturgeschichtsschreibung ihrerseits wiederum als Weiterentwicklungen bestimmter Gestaltungsformen betrachtet werden, die dann einen Viertausend-Jahre-Kulturraum überschaubar werden lassen …

Frank Rexroth (… und vielleicht gar nicht wissen, dass sie noch am selben Bildervorrat Teil haben, den selben Topoi, den selben Pathosformeln. Gerhard Poppenberg (Genau, dann wird in irgendeiner Tonne Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter entdeckt und dann denkt einer: Oh meine Güte, das ist ja interessant. So wie man irgendwann den Macrobius entdeckt hat, wo das Kompendium des antiken Wissens drin überliefert worden ist und der das ganze Mittelalter über als Nachschlagewerk genutzt worden ist. Also das würde ich auch denken. Wenn Curtius nicht Curtius gewesen wäre, der ja dann doch auf seine alten Tage sich mehr und mehr in sich eingekapselt hat und dann doch zum Teil ein etwas sonderbar wertkonservativer Mensch geworden ist, der Dinge geäußert hat in seinen Briefen oder auch in seinen Artikeln, die gegen den Geist, den er in ELLMA entwickelt hat, ein bisschen arbeiten. Aber wer ist dagegen gefeit, im Alter ein bisschen sonderbar zu werden. 155

Frank Rexroth (Man altert ja nicht kontinuierlich und stetig, sondern es gibt auch da Sprünge. Bei Curtius gewinnt man den Eindruck, dass das Erscheinen von ELLMA ihn nicht wenig verändert. In der Fülle des Erfolgs, den er damit hat, wird er unleidlicher, stellt sogar Freundschaften aufs Spiel. Ein fast lebenslanger Freund ist José Ortega y Gasset, und als ELLMA erschienen ist, fängt er an, Ortega zu kritisieren. Er schreibt dann in Publikationen und Briefen Dinge wie: Ortega hat ja nie eine große Synthese zustande bekommen, er sollte jetzt auch einmal ein großes Buch schreiben. Und Ortega ist bestürzt. Und um das Maß vollzumachen, schwärmt Curtius öffentlich von Toynbee und signalisiert, dass er sein Vorbild gewechselt hat, von Ortega zu Toynbee weitergezogen ist. Ortega muss gemerkt haben (und sollte wohl merken), dass er als primärer Referent im Denken dieses Freunds abgelöst wurde von einem englischen Historiker, der einen monumentalen Entwurf vorgelegt hat. Der Toynbee-Essay, den er in dieser Phase verfasst, ist praktisch eine Absage an Ortega. Man könnte sich auch ansehen, wie er mit Karl Jaspers umgeht, wie er einen Streit mit dem Philosophen vom Zaun bricht. Ich glaube, er ist tatsächlich der Auffassung, dass er jetzt die höchste Stufe dessen erreicht hat, die man als Wissenschaftler erreichen kann, und er bewertet sogar seine Freundschaften im Lichte dessen, wo er jetzt steht, noch einmal neu. Gerhard Poppenberg (Er bricht ja auch mit Thomas Mann, den er in den 30er Jahren hofiert hat wie kaum jemanden. Wenn man die Korrespondenz liest … er hat ihn da zu seinem Geburtstag besucht und ist angetan bis zum geht nicht mehr. Es ist fast idolatrisch, wie er früher den Thomas Mann beschreibt. Und dann trifft er ihn in Zürich und stellt fest, Thomas Mann ist reserviert gegen ihn, weil 156

er nicht ins Exil gegangen ist. Und das ist bei Jaspers ja das Gleiche. Man hält ihn fast für einen Kollaborateur. Also das ist sozusagen dieses hoch verminte Feld der Nachkriegsjahre, in denen die Exilanten, die daheim Gebliebenen mit skeptischen Augen betrachten. Und Curtius fühlt sich da gemeint und zu Unrecht gemeint. Das müsste man  – die Curtiusbiographie ist ja noch nicht geschrieben – noch mal genauer recherchieren. Aber so, wie ich das aus den Briefen entnommen habe, ist er, glaube ich, nicht der Kollaboration verdächtig. Er war im starken Sinne das, was man einen inneren Emigranten nannte und das Mittelalter war eben seine Gegend der inneren Emigration. So könnte man das sagen. Das ist ein bisschen eskapistisch. Das ist ja auch schon so bei Deutscher Geist in Gefahr. Als ich diesen Titel gesehen habe, habe ich gedacht: Oh, da möchte ich lieber gar nicht reingucken – 1932, das kann nur schiefgehen. Und wenn man das dann liest, stellt man fest: Das ist gerade gegen den nationalen, nationalistischen Geist, das Geistwuchern konzipiert. Er sagt ja: Der deutsche Geist ist in Gefahr, wenn man ihn nicht europäisch konzipiert, wenn man nur denkt, der deutsche Geist ist nur deutsch. Gerade das Mittelalter kann man nur verstehen, wenn man versteht, wie viel aus Frankreich gekommen ist usw. Das ist ja genau die Gegenkonzeption, und so ist ELLMA insgesamt ja auch eine Gegenkonzeption – so wie Sie das eben gesagt haben: Gegen das geographische Europa setzt er ein Europa als geistigen Raum und Überlieferungsraum. Das ist ja wirklich ein Gegenkonzept. Und das unterscheidet ihn, glaube ich. Auch wenn wir noch mal auf diese gumbrechtsche Formel von der Abendland-Substanz-Literatur zu sprechen kommen …; das unterscheidet ihn ja auch von Sedlmayr – Verlust der Mitte. Also ich habe mir das heute als Reiselektüre mit in den Zug genommen und ich hatte das Buch noch nie gelesen, mir hat der Titel gereicht. Das 157

ist ja so ein bisschen verrufen, das Buch. Es ist schon interessant, das zu lesen, aber das ist ja von einem Horror geprägt, das Buch der reinen Verlustangst – die Moderne ist eine reine Verlustgeschichte und deshalb insistiere ich auch darauf, dass das Manierismuskapitel bei Curtius das konzeptuelle Zentrum bildet. Das ist sozusagen aus der Tiefe der historischen Regenerationsfähigkeit gedacht, das Buch: Geschichte ist Überlieferung als Veränderung. Und natürlich, wo es Verlust gibt, gibt es auch Gewinn. Es gibt Kollateralschäden und Kollateralgewinne. Und Curtius ist ganz klar ein Denker der Möglichkeitsräume, die neue Zukünfte eröffnen, und der Sedlmayr scheint mir eher so ein Panikmacher gewesen zu sein. Wenn man die in Konstellation setzt, dann merkt man, was der Zeitgeist damals auf der einen Seite getrieben hat und auf der anderen Seite getrieben hat. Und da würde ich Curtius doch eher auf die Nicht-Substanz-Literatur-Seite schlagen.

Frank Rexroth (Ja, unbedingt. Von denen, die ich genannt habe, ist es das Werk, das man noch empfehlen kann, Koschaker sicher nicht. Vielleicht noch eine Bemerkung zu Thomas Mann: Die Ehepaare Mann und Curtius treffen sich einmal, trinken Kaffee am Zürichsee miteinander. Nun kann es nicht anders sein, als dass Thomas Mann auf ein Wort des Bedauerns, vielleicht der Entschuldigung wegen der Aberkennung seiner Ehrendoktorwürde an der Bonner Universität gewartet hat: Da sitzt ihm bei Kaffee und Kuchen einer der prominentesten Bonner Ordinarien gegenüber, der das ja auch 1936, im Jahr der Aberkennung, schon gewesen ist. Und Curtius war ja 1936 schon ein Star unter den Bonner Professoren! Die beiden gehen missmutig auseinander und jeder schreibt, dass er doch ziemlich enttäuscht war vom anderen – der eine in sein Tagebuch und der andere in seine Briefe. 158

Publikum (Was ist für Sie Europa, Herr Rexroth? Was ist für Sie Europa, Herr Poppenberg? Frank Rexroth (Es wäre sicher unterkomplex zu sagen: »Europa«, das ist lediglich eine diskursive Formation, die sich vor unseren Augen allmählich aus dem politischen Diskurs verabschiedet. Aber so leicht will ich es mir dann doch nicht machen. Ich sympathisiere stark mit diesem Curtius’schen Modus, »Europa« über Kommunikation statt über Essenzialismen wie den christlichen Glauben, das Lehnswesen oder die Geltung des Römischen Rechts zu definieren. In meiner Fachwissenschaft hat mein akademischer Lehrer Michael Borgolte in den 1990er Jahren überhaupt erst einmal angefangen, das griechische und das lateinische Europa zusammenzudenken und dann darauf einzugehen, dass es auch eine jüdische und eine arabische Tradition innerhalb Europas gibt. Die Geschichte des mittelalterlichen Europa hat Borgolte ganz neu geschrieben als ein Aufeinandertreffen dreier monotheistischer Religionen. Das ist sicher nicht das letzte Wort gewesen, eine Engführung, die sicher irgendwann auch einmal überholt werden wird, aber es war ein Gang in die richtige Richtung, würde ich sagen, und es ist kein Zufall, dass Borgolte sich anschließend globalhistorischen Themen zugewandt hat. Gerhard Poppenberg (Ja, das denke ich auch. Ich habe dieses Projekt auch deshalb angefangen, um selber zu verstehen zu beginnen, was eventuell Europa für die Zukunft sein könnte. Die Methode, die dem Ganzen zugrunde liegt, ist: Ich gehe sozusagen zwei Schritte in die Vergangenheit zurück und rekonstruiere, was bei diesen vier eminenten Romanisten der europäische Gedanke gewesen ist, die Konzeption von Europa als eines geistigen Raumes, um 159

dann vielleicht drei Schritte nach vorn gehen zu können und zu sagen: Was können wir von diesen vier Konzeptionen des Überlieferungszusammenhanges für das 21. Jahrhundert noch lernen. Vielleicht können wir daraus etwas lernen. Und ich glaube – deshalb habe ich das am Ende mit dem Abenteuer angeführt, das Abenteuer der Zukunft –, Europa ist dabei, sich ganz neu zu konfigurieren. Und es kann sein, dass das in die Brüche geht. Aber es kann eben auch sein, dass sich irgendwann aus dem, was sich da im Augenblick ganz neu zusammenballt, etwas Neues entsteht. Und wie es mit den Migrationsströmen noch weitergeht, das wissen wir ja gar nicht. Die antike Welt ist auch durch gewaltige Migrationsströme ins Trudeln geraten und hat sich dann neu konfiguriert. Die Zuversicht, die diese vier Köpfe gehabt haben, dass sozusagen Europa stark genug ist, um die Zukunft zu gestalten, diese Zuversicht würde ich gerne erst mal für mich selber so übernehmen und dann weiterreichen. Das wäre ein Beitrag zu dem Café Europa, das in der Tat eben da ist, wo so gedacht wird.

Mitschrift: Toumi Hamadi

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Mamadou Diawara

Der Blick Afrikas auf Europa*

Im Rahmen des Café Europa wurde der alte Kontinent aus der Warte Chinas beleuchtet, aus dem Blickwinkel der orthodoxen Welt im Osten, oder des alten islamischen Spaniens von al-Andalus. Diese kleine Ausführung thematisiert nun den Blick Afrikas auf Europa. Die Organisatoren haben zu Recht daran gedacht, die afrikanische Perspektive zu berücksichtigen. Die afrikanische Perspektive ist ein Ausdruck, den sie schnell auf kluge Weise relativieren. Darauf komme ich noch zurück, indem ich ihre Argumente aufgreife und bei Bedarf ergänze. Die Existenz oder Nichtexistenz eines spezifisch afrikanischen bzw. sub-saharischen Blicks auf Europa ist abhängig von den Paradigmen unserer gemeinsamen Geschichte. Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, wirft zwei Fragen auf. Die erste ist: Worum handelt es sich denn bei diesem Afrika, das auf Europa blickt? Die zweite lautet: Worum handelt es sich, wenn man von Europa spricht? Fangen wir mit der ersten Frage an. Umfasst Afrika insge*

Die Forschung zu diesem Thema wurde im Rahmen des Exzellenzclusters Die Herausbildung normativer Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt durchgeführt. Für die finanzielle und wissenschaftliche Unterstützung bedanke ich mich ganz herzlich. Für die deutsche Fassung bedanke ich mich ganz herzlich bei Dr. Gabriel Klaeger, Dr. Richard Kuba und Frau Sandra Hüfner.

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samt 55 Staaten mit fast 1,4 Milliarden Einwohnern? Subsahara-Afrika umfasst 49 Staaten mit über 1,1 Milliarden Menschen. Selbst wenn wir uns nur auf das sub-saharische Afrika beschränken, haben wir es mit einem Gebiet zu tun, das so groß ist wie die USA , Kanada und die Europäische Union zusammen. Von welchem Afrika sprechen wir? Wie wir wissen, ist Afrika eine recht neue Konstruktion. Die Werke von V.#Y.##Mudimbe (The Invention of Africa, 1988) oder Elísio S. Macamo (Was ist Afrika? 1999: 27) belegen dies ausführlich. Der Kontinent wird als gesellschaftliche Wirklichkeit mit der Kolonialisierung konstruiert. Die Europäer erforschen den Kontinent, um ihn besser kontrollieren zu können. Die Afrikaner waren nicht mehr die Einzigen, die ihre soziale Wirklichkeit, ihre Zukunft bestimmen, so müssen sie selbst Fragen über den begrifflichen Status Afrikas stellen. Es ist von der afrikanischen Perspektive die Rede. Geht es um die Afrikanische Union? Das wären 55 Länder, aufgeteilt auf fünf Regionen (Ost, West, Nord, Süd und Zentrum). Da fehlt noch etwas, die sechste Region, die afrikanische Diaspora (Amerika und jenseits). Angenommen, wir beziehen uns auf das sub-saharische Afrika, von was sprechen wir da? Von Staaten oder Personen? Von der Regierung von Lesotho oder der Bäuerin in Madagaskar? Den Eliten aus Wirtschaft und Politik oder den normalen Leuten? Den Frauen oder den Männern, den Jungen oder den Älteren? Wer interessiert sich für unsere Fragen, das könnte man sich genauso gut in Bamako wie auf der Zeil in Frankfurt fragen. Wenden wir uns der zweiten Frage zu, nämlich Europa. Von welchem Europa spricht man? Von Brest bis zum Ural? Von Brest bis zur Oder-Neiße-Linie? Was ist mit dem Eisernen Vorhang? Handelt es sich um das, was 162

Michail Gorbatschow als »Gemeinsames Haus Europa« bezeichnete? Spricht man von der Europäischen Union? Von der Union aus wie viel Ländern – 27? Ohne oder mit der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn)? So viele Fragen, die mich quälen, die uns quälen. Wie auch immer! Der Rahmen ist nun gesteckt und bevor wir uns mit anderen Details befassen, möchte ich drei kurze Geschichten wiedergeben, die beispielhaft sind für den Blick von Afrika auf Europa.

Seexene, mein Cousin Es war in Bamako. Ich führte ein lockeres Gespräch mit Seexene, meinem älteren Cousin. Leider weilt er nicht mehr unter uns, um mir in Erinnerung zu rufen, um welches Jahr es sich handelte. Vielleicht 1994? Als junger Mann wanderte er in den 1970er Jahren nach Kongo-Brazzaville aus, anschließend nach Kongo-Kinshasa, nach Nigeria und schließlich nach Gabun. Nachdem wir uns das erste Mal seit Jahrzehnten wiedertrafen, tauschten wir uns aus, was in unseren Leben passiert war, bis wir auf meine Neffen zu sprechen kamen. Seexene, der ein großer Kenner Äquatorialafrikas war und nach Mekka gepilgert war, fragte sich, wo ich die ganze Zeit geblieben war. »Man hat mir oft erzählt, dass du in Deutschland wärst.« Als ich dies bejahte, erklärte er mir: »Mamadou, du bist zu weit weg. Deine Reisen entfernen dich zu sehr von deinem Land. Deutschland!!« »Deutschland« sagte er mit solchem Nachdruck, als ob er betonen wollte, wie groß die Entfernung war, die mich von meiner Familie trennte. Es zeigte, wie es praktisch unmöglich war, ein einfaches Einreise-Visum zur erhalten. Daraufhin fragte ich ihn, wo sich sein ältester Sohn 163

Hamme aufhielt. Und Seexene antworte ruhig: »in Bangkok«. Diesmal war ich erstaunt. Seexene ließ mir kaum Zeit, mich zu äußern: »Weißt du, Mamadou, Bangkok ist in dieser Richtung«, wie um zu sagen, gleich in der Nähe von Mali. »Deutschland ist sehr weit weg.« (Seexene Diawara, Bamako 1994) Was sagt uns diese einfache Unterhaltung? Dass seine Geographiekenntnisse andere waren als meine? Was hat es mit der Geographie eines Mannes auf sich, der zwischen Dakar und dem Kap zu Hause ist? Neben seiner Muttersprache Soninke sprach er sechs weitere Sprachen, darunter Englisch, Französisch, Bamana, Maurisch, Hausa und Lingala. Dieser unglaubliche Sprachenreichtum erinnert stark an das, was Peter Koehn und James Rosenau (2002: 109) als transnationale analytische Fähigkeiten der Migranten bezeichnen. Nina Glick Schiller (2015: 2-3) nannte diese Kenntnisse basierend auf Vertovec (2019: 5, 9) Werkzeugkasten (toolkit) des Migranten. Ich möchte eine zweite Geschichte erzählen, es geht um das deutsche Städtchen Idar-Oberstein: »Früher waren wir zahlreiche Afrikanerinnen und Afrikaner in IdarOberstein«, erzählte mir ein Händler aus Westafrika, den ich während meiner Forschungsreise im Rahmen des Exzellenzclusters Die Herausbildung normativer Ordnungen in einer südostasiatischen Metropole getroffen habe. Er erläuterte weiter: »Heute sind wir sehr wenige. Ich fliege nicht mehr hin aus einem einfachen Grund. Ich bringe meine Edelsteine und Halbedelsteine hin. Dafür brauche ich ein Visum, das immer schwieriger zu bekommen ist. Dazu kommt, dass in Idar die Kunden hohe Qualität für wenig Geld wollen. Wer kann das als Händler akzeptieren? Ich fliege lieber regelmäßig nach Thailand, China, Singapur und Hongkong. Man beantragt transparent ein Visum und erhält es ganz normal. Auf den dortigen 164

ten verkaufe ich meine Ware einfach und erziele wesentlich mehr Gewinn. Wozu nach Idar? So habe ich mein Geschäft von Deutschland nach Südostasien transferiert.« (Interview, Dezember 2013)

Der Sprung in die heiße Glut (2011-2015) Ich hielt mich in einer Metropole in Südostasien auf. Ich habe mich einem aus Mali stammenden Mann, der zunächst misstrauisch war, als Migrant vorgestellt. Nach ein paar Tagen ließ er sich mit seinen Leuten dazu herab, mit mir zu diskutieren, während wir grünen Tee tranken, den sie mir großzügig anboten. »Ja, mein großer Bruder, wir sind alle Migranten, aber man muss unterscheiden … Wir sind etwas anderes als du. Ich kam hier unter bestimmten Bedingungen an.« Es folgt ein bedrückender Bericht: »Ich habe so viele Gefährten auf dem Weg zurückgelassen. […] Ich habe so viele verlorene Lastwagen in der Wüste gesehen, von denen nur noch Kadaver und menschliche Skelette übrig waren […] Am Rande eines Dorfes rettete uns ein Gärtner, indem er uns Wassermelonen anbot und uns verbot, Wasser zu trinken, das uns töten könnte […] Von hier aus gingen wir ins Dorf, um Migranten zu finden, die uns zeigten, wo wir die anderen finden und arbeiten konnten. Da ich lesen konnte, wurde ich von italienischen Öltechnikern eingestellt. Ich diente ihnen als Koch. Ich hatte ein gutes Einkommen. Doch Libyen erlaubte uns nicht, Geld ins »Ausland«, d.#h. nach Hause, zu schicken. Wir mussten dafür einen Weg finden, und wir haben ihn gefunden […] Wir waren viele, sehr viele [bis zu den aufeinanderfolgenden Vertreibungswellen ab 2007]. (Interview, Dezember 2013) Der Mann aus dem Sahel (was »Ufer« – der Sahara 165

deutet), ein Mittvierziger, erzählt die einfache Geschichte von einem Menschen, der auf der Suche nach Arbeit ist. Er schildert die lokale Facette einer Geschichte, die dramatische internationale Ausmaße angenommen hat. Sie gibt ihm das gewöhnliche Gesicht des Migranten, das sich von demjenigen unterscheidet, das die internationalen Medien vermitteln, seitdem der Westen sich dafür zu interessieren begonnen hat. Seine Durchquerung der Wüste, der Sahara, hat ihn für immer geprägt. Da waren die von der Sonne getrockneten Leichen, Autowracks, verlorene Freunde. Er war überzeugt, dass er in heiße Glut sprang. Für denjenigen, der ins Feuer springt, gibt es immer einen weiteren Versuch. Anders verhält es sich bei einem Brunnen, sagt ein Peul-Sprichwort. Für denjenigen, der aufbricht, ist jeder von Schwierigkeiten geprägte Schritt vergleichbar mit diesem Sprung in die Glut. Die Pflicht gebietet es, den nächsten Schritt zu machen, um dann einen Ort zu erreichen, der zum eigenen Land gemacht werden kann. Die Rückkehr in das Heimatland ist dabei unabdingbar, um gemeinsam mit seinen Leuten das neue Land zur Sprache bringen zu können. Schwierigkeiten zu trotzen ist die Norm. Sie zu überwinden bleibt das unumstößliche Ziel. Komme, was wolle, um Libyen zu erreichen, mit oder ohne Visum. Das zerstörte Libyen haben alle, die es konnten, rechtzeitig verlassen. Die Ersten waren die Westler, an Bord von Flugzeugen, die manchmal von ihren Ländern gechartert wurden. Die anderen mussten anders vorgehen, manchmal mit Waffengewalt. Der Wirtschaftskreislauf, der von den Frauen und Männern, die die Sahara durchquert haben, angetrieben wird, lebt trotz aller Widrigkeiten weiter. Jean Ziegler schreibt im März 2008 in Le Monde Diplomatique Folgendes: »Die Nacht war dunkel, ohne Mond […] Wie durch ein unerwartetes Wunder warf der 166

Sturm das Boot auf ein Riff am Strand von El Medano, einer kleinen Insel des kanarischen Archipels. Auf dem Grund des Bootes […] die Leichen von drei Jugendlichen und einer Frau, gestorben an Hunger und Durst. In derselben Nacht lief wenige Kilometer weiter am Strand von El Hierro ein anderes Boot auf Grund: An Bord waren 60 Männer, 17 Kinder und sieben Frauen, taumelnde Gespenster am Rande des Todes.« Ein Schiffbruch vom 18.  April 2015 vor der Küste Siziliens kostete 200 Senegalesen und ebenso viele Malier das Leben. Am Donnerstag, den 3.  Oktober 2013, kenterte im Morgengrauen ein Boot vor der Küste der Kaninchen-Insel, nicht weit von Lampedusa entfernt. Zwischen 400 und 500 Menschen ertranken. Dann kam die Nacht von Samstag 18. auf Sonntag 19. April 2015. Damals sind 700 Menschen umgekommen. Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation IMO schätzt, dass seit 2000 etwa 22#000 Migranten bei dem Versuch, Europa zu erreichen, ums Leben gekommen sind. Die meisten von ihnen verschwanden im Mittelmeer, durchschnittlich 1500 pro Jahr. Frontex, die europäische Agentur, die für den Schutz der Grenzen im Mittelmeerraum zuständig ist, hat bisher kein Mandat, um den Menschen in Gefahr zu helfen. Kehren wir zurück in den Sahel und die Sahara im Jahr 2011. Im März tobte der Kampf in Libyen. Gaddafis Regime war in den Grundfesten erschüttert und sah sich Islamisten und anderen verbündeten Kräften im Osten des Landes gegenüber, die von den Golfmonarchien und Saudi-Arabien unterstützt wurden. Am 10.  März 2011 lancierte Nicolas Sarkozy seinen umstrittenen Vorschlag, gezielte Luftangriffe gegen die libysche Armee zu fliegen. Der Widerstand der europäischen Partner war eindeutig. Das Büro des niederländischen Ministerpräsidenten spricht von Wahnsinn. Das Bundeskanzleramt spricht sich 167

am 25.  März 2011 vehement gegen diesen Vorschlag aus. Doch ohne Folgen. Die Ereignisse beschleunigten sich. Am 20. Oktober 2011 starb der Tyrann von Tripolis. Die Totenglocke des Diktators löste das Debakel in der Sahara und im Sahel aus. Wie ist es dazu gekommen? Französische und britische Kampfjets haben libysche Truppen im Osten und Norden unter Beschuss genommen. Die südlichen Streitkräfte, die größtenteils aus afrikanischen Söldnern bestanden, wurden im Rahmen eines stillschweigenden Nichtangriffspakts verschont. Gaddafis schwer ausgerüstete Armee im Süden drang in die Sahelzone und in den Norden Malis und Nigers ein. Die Invasion in Mali begann im Oktober 2012. Was folgt, ist bekannt: der Sturz zweier demokratisch gewählter Regierungen, zwei Putsche in neun Monaten, die Invasion des Nordens des Landes durch Dschihadisten, die die Nationale Bewegung zur Befreiung von Azawad (MNLA ), lokale Verbündete der französischen Armee, hinwegfegten. Letztere hat sie nach monatelangen Militäroperationen in Kidal wieder in den Sattel gehoben. Mit finanzieller Unterstützung der UN und der EU ließ sich die französische Armee dauerhaft im Norden Malis nieder, den sie nach der Unabhängigkeit im Januar 1961 verlassen musste. Nach dem Putsch in Bamako im August 2020 und insbesondere nach der Entscheidung, die US -Armee im April 2021 aus Afghanistan abzuziehen, beschloss Frankreich am 10. Juni 2021, seine Truppen aus den Dschihadisten-Hochburgen im Norden Malis abzuziehen. Die Stützpunkte Kidal, Timbuktu und Tessalit wurden bereits verlassen. Von Libyen bleiben drei Länder und zwei Regierungen übrig. Vom Arabischen Frühling ist man zum Frühling der Schmuggler übergegangen. Der Süden Libyens ist zu einem Zufluchtsort für Dschihadisten und Waffenhändler aller Art geworden. Gleichzeitig expandieren dieselben 168

dschihadistischen Kräfte in der Levante, insbesondere im Irak und in Syrien. Das Mittelmeer steht mehr denn je in Flammen. Was ein großer Teil der westlichen Presse in Mali als einen Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden ansah, sogar als ethnischen Konflikt, in den französische Dschihadisten eingriffen, entpuppt sich als eine weniger folkloristische Krise. Waffen und Drogen zirkulieren zwischen den verschiedenen Fronten, ebenso wie die Kämpfer. Die libysche Plattform läuft auf Hochtouren. Wenn das Manna der von den westlichen Ländern großzügig gezahlten Lösegelder versiegt ist, sind die Finanziers der illegalen Aktivitäten verschwenderischer denn je. Die Vulgata der »gezielten Angriffe« auf Libyen hat ihr wahres Gesicht gezeigt. Die gefährdeten Bevölkerungsgruppen setzen wie immer auf das vielversprechendste Ufer der gemeinsamen Gewässer. Nie ist das Mittelmeer seinem Namen mehr gerecht geworden. Man bricht zum anderen Ufer auf, nach Bako in der Bamana-Sprache. Wie lange kreisen wir schon um das »Hochzeitsbett des Ostens und des Westens« (Michel Chevalier 1832 [2006] Système de la Méditerranée)? Auch hier zeigt sich wieder, dass die Meinungen über diese Männer und Frauen, die an den europäischen Küsten angeschwemmt werden, weit auseinandergehen. In der französischen Presse werden sie fast einhellig als Migranten bezeichnet. Es ist sogar die Rede von der »Migrantenkrise«. Die deutsche Presse hingegen nennt sie »Flüchtlinge«. Zwischen diesen beiden Begriffen liegen Welten. Der Mythos der gezielten Angriffe ist zusammengebrochen und mit ihm der Mythos der glanzvollen Isolation Europas, das glaubte, die Globalisierung gegenüber den Anrainerstaaten allein in der Hand zu haben. Zwei Lektionen kann man aus diesen Geschichten lernen: 169

1. Europa ist weder die einzige Destination, noch das Eldorado per se. 2. Das Visum ist das Dokument par excellence, das die Reise ins Ausland, auch eventuell ein besseres Leben, sichert. Es funktioniert, wie Paolo Gaibazzi (2014 »Undocumented Sorrows«) schreibt, als ein »ökonomischer, politischer und kultureller Filter«, der die Jüngsten, Unausgebildeten und Armen ausschließt. Ein Visum kann ohne Grund verweigert werden. Zwischen 2008 und 2011 war Westafrika mit 29,6#% die Region der Welt, aus der die meisten Anträge für ein Schengen-Visum abgelehnt wurden. Für die Betroffenen wird Europa langsam eine »gated community«. Das Vorgehen Ungarns, Stacheldraht vor den Flüchtlingen zu errichten, hat für Aufruhr gesorgt. Über die Taten von Frontex in Marokko, Spanien und im Mittelmeer wird nicht so laut berichtet.

Europa aus der Perspektive der Afrikanischen Union (AU) Afrika bleibt Schauplatz der Politik, der ›Teile-undHerrsche‹-Strategie der ehemaligen europäischen Kolonialmächte. Nun mit der neuen geopolitischen Lage (China, Asien-Pazifik-Länder, USA , Russland, Brasilien), wagt es der Kontinent, die Spielregeln zu ändern. Die AU befürwortet zunehmend Partnerschaftsverhandlungen en bloc, von Kontinent zu Kontinent, mit der EU und anderen Global Players. Verschiedene Interessen sind immer noch vertreten, und zwar unter der strengen Ägide der ehemaligen kolonialen Mächte. Sie sind die echten Herrscher, wenn es um Afrika in der EU oder in der UNO geht. Das gilt ganz besonders für ehemalige französische Kolonien. Das »Mutterland« 170

bleibt der Gatekeeper, wenn es darum geht, mit der EU zu verhandeln. Wegen zahlreicher Faktoren ändert sich allmählich die Situation: 1. Die geopolitische Transformation der Welt mit dem immer wichtig werdenden China und der BRIC s 2. Die neue Einstellung des ehemaligen britischen Empires gegenüber der EU und der Welt. In der Tat wollen Afrikaner ihre Partnerschaft mit der EU (ohne GB ) neu verhandeln. 3. Neue Einsichten der geschrumpften EU , die etwa einen neuen EU -Afrika-Beschäftigungspakt vorschlägt. Mit der bisherigen Rollenverteilung von Afrika als Rohstofflieferant und Europa als Lieferant von Technologie und Konsumgütern ist dies nicht vereinbar. (Kohnert 2021: 7; »Dunkle Wolken über dem EU -Afrika Gipfel 2021 angesichts von Brexit und Corona«: https://nbnresolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-71885-7) 4. Der Aktivismus der Kontrahenten einer französischen Politik des Pré-carré und das Lobbying für die Repatriierung von materieller Kultur aus den Museen Die EU ist der größte Handels- und Investitionspartner Afrikas, aber Europas Bedeutung auf dem Kontinent sinkt seit Längerem. Es gibt vier Hauptgründe für den Wandel der Beziehungen zwischen Afrika und Europa: China, 15  Jahre Wirtschaftswachstum, Migration$/$Krisen, zahlreiche neue afrikanische Initiativen, wie der Plan 2063 der Afrikanischen Union oder die Afrikanische Kontinentale Freihandelszone (A fCFTA ) [African Continental Free Trade Area]. Europa ist aufgerufen, den großen Wandel auf dem afrikanischen Kontinent zu antizipieren. Gelingt dies, würde sich das europäische Engagement auch klar vom 171

gischen Handeln der USA , Chinas, Russlands und anderer Schwellenländer unterscheiden (Kohnert, D. 2021). In der Zwischenzeit organisieren sich die Akteure des Kontinents und werden mehr denn je aktiv. Die Unternehmer reisen weiter, mit oder ohne Visum, und trotzen dem Tod. Der Edel- und Halbedelstein-Händler hat nicht lange gezögert, sich nach reiflicher Überlegung gegen den langjährigen Kunden und für den besseren Partner zu entscheiden. Die Geographie der Welt organisiert sich wie immer neu, um uns zu lehren, wie relativ Kilometer sind, wenn es darum geht, Entfernungen zu schätzen. Für meinen Cousin erschien Deutschland weit weg, vielleicht gilt dies bald für ganz Europa.

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Richard Kuba

Afrikas Blick auf Europa

Der Blick von außen kann überraschen. Manchmal ist er schmerzhaft, wenn liebevoll gepflegte Selbstbilder damit nicht zusammenpassen. Bei aller Desillusionierung, ist die Fremdwahrnehmung aber instruktiv und nützlich um Illusion und Realität einander anzunähern. Das gilt für uns alle als Individuen, aber auch für Gesellschaften und warum nicht auch für Kontinente auf der Suche nach einer gemeinsamen Identität. Gewiss schärfen sich Identitäten in bewusster Abgrenzung zueinander, aber kann man als Europäer überhaupt sinnvoll darüber sprechen, welches Bild »Afrika« von »Europa« hat? Beides sind hochgradig konstruierte Begriffe und die »Erfindung Afrikas«, besonders in europäischen Reiseberichten der vergangenen Jahrhunderte, ist gut untersucht. Umgekehrt ist die Überlieferung dünner, auch wenn es immer wieder Afrikaner in Europa gab, wie etwa Anton Wilhelm Amo, der im 18. Jahrhundert als vermutlich erster Philosoph afrikanischer Herkunft in Deutschland an den Universitäten Wittenberg, Halle und Jena lehrte. Amo schrieb allerdings nicht für ein afrikanisches Publikum und so waren es die oftmals wenig erfreulichen Begegnungen mit Europäern an den Küsten des Kontinents, die sich in das kollektive Gedächtnis einbrannten. Leider haben sich nur wenig Schriften versklavter Afrikaner erhalten, die uns darüber unterrichten können, wer als die 173

eigentlichen Kannibalen angesehen wurden. Nämlich jene, die an den Stränden ihre menschliche Fracht auf Nimmerwiedersehen in die Bäuche ihrer Schiffe verfrachteten. Schon früh waren aber auch europäische Produkte und Erfindungen gefragt, insbesondere Metalle und Feuerwaffen. Bronzeplatten, die den Palast des Oba von Benin ab dem späten 15.  Jahrhundert schmückten, bevor sie 1897 von einem britischen Expeditionsheer geraubt und später an europäische Museen versteigert wurden, zeigen Darstellungen von Europäern, zumeist Portugiesen, mit hohen Hüten und Armbrüsten oder Büchsen in den Händen. Heute sollen diese Bronzen zurück nach Benin City, nicht zuletzt, um dort ein frühes Kapitel euro-afrikanischer Begegnung auf Augenhöhe zu bezeugen. So sehr die größte Wüste der Erde einen geographischen Riegel zwischen dem subsaharischen Afrika und Europa schiebt, so durchlässig war sie gleichzeitig für Waren, Ideen und Innovationen, und zwar in beide Richtungen. Als der deutsche Forschungsreisende Heinrich Barth als einer der ersten Europäer in den 1850er Jahren die Sahara durchquerte, um die Reiche und Gesellschaften südlich der Wüsten zu studieren, fand er bei der politischen Elite der Sahel-Länder ein profundes Wissen über das Ränke- und Mächtespiel der europäischen Politik vor. In dieser Zeit wusste man im Inneren Afrikas jedenfalls mehr über Europa als umgekehrt. Während die afrikanischen Herrscher aber noch an profitable Handelsverbindungen glaubten, begann man in Europa damit, »das große Spiel« zu spielen und geographische Interessensphären auf dem rohstoffreichen Nachbarkontinent abzustecken. Mit ausgeglichenen Beziehungen war es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst mal vorbei. Rechtfertigen ließ sich die imperiale Einverleibung, indem man den Europäer auf einen Podest stellte. 174

weise ist das erhebende Bewusstsein, kolonisiert zu haben, ein bis heute unterschätzter Faktor für die Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Identität. Wie verbindend ist eigentlich der Phantomschmerz über verlorene Weltreiche und -geltung? Im Gegenzug galt es, den Menschen südlich der Sahara alle Kultur abzusprechen, um sich dort vorderhand auf »zivilisierende« Mission begeben zu können. Der erste Weltkrieg zerstörte diese Fiktion gründlich. Schon vorher hatte es an allen Ecken des Kontinents gebrannt. Von offener Rebellion bis zu passivem Widerstand hatten sich Afrikaner zäh und kreativ gegen die neuen Herren gewehrt, ein Widerstand, der zu Unrecht vergessen ist und heute wieder stärker ins Blickfeld rückt. Die Selbstzerfleischung der vermeintlich so zivilisierten europäischen Mächte, insbesondere aber die Heimkehr von rund zwei Dritteln der ursprünglich etwa 700#000 afrikanischen Soldaten, die als Überlebende der Knochenmühle nun als Veteranen bzw. »anciens combattants« in die Heimat zurückkehrten, tat ein Übriges, den Nimbus angeblicher europäischer Überlegenheit zu zerstören. Der von den Nazis ins Exil getriebene deutsche Ethnologe Julius Lips hat sich 1937 mit seinem Werk The Savage hits Back, or the White Man Through Native Eyes als einer der Ersten an eine Blickumkehrung gemacht und vor allem die subversive Kraft des afrikanischen Humors hervorgehoben. Wie bitter aber der afrikanische Blick auf die Kolonialzeit ausfällt, bezeugt nicht zuletzt die literarische Aufarbeitung: Zahllose Romane von großartigen afrikanischen Schriftstellern wie Ahmadou Kourouma, Yambo Ouologuem oder Chinua Achebe, um nur einige wenige zu nennen, sprechen eine deutliche Sprache, welche Wunden im kollektiven Gedächtnis geschlagen wurden. Gleichzeitig konnte durch die gemeinsame Erfahrung 175

und in der Abgrenzung zum europäischen Machtanspruch überhaupt erst so etwas wie eine »afrikanische Identität« in Form von emanzipatorischen panafrikanischen Bewegungen entstehen. Das Alltagsleben in der europäischen Diaspora, in der Afrikaner permanent die gleichen Stereotypen vorgehalten werden, schafft drüber hinaus einen gemeinsamen identitätsstiftenden Erfahrungshorizont. Léopold Sédar Senghors noch kompromissorientierte »Négritude« war nur ein erster fast zaghafter Schritt, gefolgt von weit radikaleren Entwürfen des Afrozentrismus oder wie Wole Soyinka, der erste nigerianische Literaturnobelpreisträger es ausdrückte: »A tiger doesn’t proclaim his tigritude, he pounces.« Besonders in Zeiten verstärkter Identitätspolitik und woke culture ist es schwierig, als Nichtafrikaner über den »Blick Afrikas auf Europa« zu sprechen. Immerhin kann ich von meiner nigerianischen Schwiegerfamilie oder von langjährigen Freunden und Kollegen in Westafrika berichten. Meistens Intellektuelle, gut ausgebildete Experten oder Geschäftsleute. Viele verstehen sich als wahre Global Citizens mit Familienmitgliedern auf drei Kontinenten, hochmobil und vielsprachig, die sich eher in die USA als nach Old Europe orientieren. Das hilft, die Perspektiven zurechtzurücken. Ein paar Schlaglichter kommen mir in den Sinn: Die Verwunderung darüber, dass man in Europa (bis vor Kurzem) nicht ohne weiteres Geld von Handy zu Handy schicken kann – ist Europa vielleicht technologisch rückständiger als Afrika? Die boomende Kreativindustrie in Nigeria, mit Nollywood-Blockbustern auf Netflix und Musik, die zunehmend zum coolen Mainstream wird  – P-Square und Burna Boy lassen grüßen. Ghanaische Eltern, die ihre Kinder, die in den Schulen des Vereinigten Königreichs abzurutschen drohen, in private Elite-Internate in die Heimat schicken, damit ihnen eine anständige 176

Schulbildung zuteilwird. Überhaupt, ein in Europa fast altmodisch erscheinendes Bildungsideal, für das Familien bereit sind, (fast) alles zu opfern, und die die permissive Attitude europäischer Bildungseinrichtungen zunehmend kritisch sehen. Die massive Urbanisierung: Was ist Berlin, ja sogar Paris im Vergleich zu Lagos, mit seinen schon heute rund 28 Millionen Einwohnern, die sich bis zur Mitte des Jahrhunderts verdoppeln dürften? Hier verschieben sich allenthalben Gewichte und es wird Zeit, dass sich Europa auf ein neues afrikanisches Selbstbewusstsein einstellt. Ohnehin wird Europa nicht als »ehrlicher Makler« wahrgenommen, sondern ganz realpolitisch als ein Kontinent, der massiv seine eigenen Interessen vertritt. Der mit seiner Marktmacht unfaire Terms of Trade durchdrückt. Dessen Entwicklungshilfe oftmals als nur mühsam kaschierte europäische Wirtschaftsförderung verstanden wird. Dessen »Friedenstruppen« lediglich das außenpolitische Kalkül der Entsenderländer repräsentieren. Dessen millionenschwere EU -gesponserte Anti-Migrations-Propaganda niemand ernst nimmt. Dessen teilweise korrupte Visapolitik ehrliche Geschäftsleute benachteiligt, während geschickte Kriminelle durchkommen. Illusionen gibt es längst keine mehr, Afrika ist erwachsen geworden.

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Mitschrift der Debatte

Publikum (Meine Frage betrifft die Dialektik oder die Klammer: Europa, das waren die Kolonisatoren, und Afrika wurde durch Europa kolonisiert. Sie, Herr Diawara, haben gerade erzählt, dass um 1850 ein Deutscher eine eigenständige afrikanische Geschichtsschreibung entdeckt hat. Wie steht es nun um die Rolle des Selbstbildes von Afrika? Wie steht es um die Rolle des historischen Bewusstseins in Afrika, um seine Geschichte, bevor die Europäer kamen? Gibt es da zusammenhängende Erkenntnisse über die Nationen hinweg, Gemeinsamkeiten? Gibt es dort ein Forschungsinteresse, eine Forschung, die vielleicht panafrikanisch organisiert ist? Denn ein solches voreuropäisches Bewusstsein wäre doch ein wichtiger Baustein für das afrikanische Selbstverständnis. Mamadou Diawara (Da fängt die Schwierigkeit an. Also was ist Afrika in diesem Zusammenhang? In der Tat, wenn man sich verschiedene Ecken des Kontinentes ansieht, ist dieses Bewusstsein da. Sei es mündlich oder schriftlich. Und was es da schriftlich gibt, ist sehr oft mit anderen Schriften wieder niedergeschrieben worden. Also egal, ob es Arabisch ist oder in Sprachen wie z.#B. Ge’ez in Äthiopien oder Arabisch im ganzen Sahel und in Nordafrika sowieso. Diese lokale Geschichte ist auch später in europäischen Sprachen niedergeschrieben geworden. Aber am meisten floriert es in der mündlichen Überlieferung, die sowohl in Westafrika als auch in Zentralafrika und überall verbreitet ist. Nun gibt es diese mündlichen 178

rungen nicht überall und in allen Gesellschaftsschichten. Die größte Verbreitung dieser Überlieferung, ihre elaborierteste Ausprägung, finden wir in den höchsten Gesellschaftsschichten, in Strukturen wie den Königreichen von Westafrika. Das ist ziemlich gut recherchiert und bekannt. Und es gibt diese mündlichen Überlieferungen auch in den Seegebieten, im heutigen Ruanda, Burundi, und auch im Waldgebiet, also im Kongo usw. Und in Westafrika gibt es die berühmten Griots, mündlich überliefert, sie lernen diese Geschichten in Schulen, und im Rahmen dieser Schulen werden sie weitertradiert. In den heutigen Schulen ist die Tradition durch Verstädterung und Migration beeinträchtigt. Diese Form der Tradierung verändert sich also, wird transformiert, und manchmal existieren diese Schulen auch nicht mehr, aber die Überlieferung des oralen Materials ist in einigen Gegenden im Sahel noch sehr entwickelt.

Richard Kuba (Ich habe gerade gestern einen Artikel von unserem Archäologen-Kollegen Nick Gestrich gelesen, der in Mali, nördlich von Ségou, die älteste Kolanuss gefunden hat. Ich weiß nicht, ob Sie die Kolanuss kennen. Das ist eine Nuss, die in südlichen Waldgebieten wächst und die eine anregende Wirkung hat  – wunderbar, besser als jeder Kaffee, kann ich nur empfehlen, sie ist ein bisschen bitter. Und das war ein Exportprodukt aus dem Waldgebiet im Süden bis in die Sahelzone nach Mali. Diese Nuss stammt aus dem 11. Jahrhundert, und es ist eine ganz schöne Strecke von dort, wo sie wächst, bis zum Fundort. Dann gibt es natürlich auch Perlen und andere Importgüter, die man als Archäologe immer wieder finden kann. Das heißt, Afrika war nie isoliert, war immer von Handelsstraßen durchzogen, auch schon sehr früh. Und wir haben in Afrika schon im 10.  Jahrhundert unglaublich komplexe Bronzegüsse, die technologisch in Europa erst Jahrhun179 https://doi.org/10.5771/9783835349179

derte später möglich waren. Also auch technologisch war Afrika ziemlich weit entwickelt, und es gibt Leute, die sich fragen, was da passiert ist. Im 16. Jahrhundert war Afrika mindestens so weit wie Europa und dann kippte das und die technologische Überlegenheit Europas wurde so stark, dass die Eroberung dieses Kontinents mit überlegenen Waffen nicht mehr so ein großes Problem war. Die Rückeroberung der afrikanischen Geschichte von den europäischen Historikern im Zuge des Afrozentrismus – durch Cheikh Anta Diop und ähnliche Leute – war natürlich ein Akt der Emanzipation. Also nicht unbedingt im Sinne von »Jesus was a black man«, aber zumindest Ägypten war eine afrikanische, genuin afrikanische Zivilisation und in gewisser Weise dann auch – wenn wir mit Martin Bernal sprechen  – Griechenland, das ganz viele zivilisatorische Aspekte aus Ägypten übernahm. Insofern kann man die Geschichte ein bisschen umdrehen, die Hegemonie der Geschichtsschreibung durch Europäer aufbrechen und die Rolle Afrikas in der Globalgeschichte sichtbarer machen. Der Afrozentrismus hat definitiv viele blind spots und biases der europäischen Geschichtsschreibung über Afrika aufgedeckt.

Publikum (Ich möchte als Mitveranstalter dieser Vortragsreihe und als Mediävist reagieren. Es ist für uns interessant, wie von einem Vortrag zum anderen manche Themen in Resonanz aufklingen. In einer vorigen Diskussion hatten wir das Thema der Kartographie Europas ausgewählt: Wie kann man dieses komplexe historische Objekt Europa in Karten darstellen? In dieser Hinsicht kennen wir mittelalterliche Karten von Europa, sogenannte T-Karten, in Form einer runden Welt. Die eine Hälfte wird von Asien bedeckt und auf der anderen Hälfte stehen Europa und Afrika. Afrika ist also da, präsent, sichtbar. 180

Aber andererseits ist Afrika im Mittelalter für die Historiker Europas ein schwarzes Loch, wenn es darum geht die Grenzen, die Räume zu nennen oder einfach die Form dieses Kontinents zu skizzieren. Aber ein solches Rätsel betrifft auch Europa selbst, wenn man bedenkt, dass Europa sein Zentrum ortet und beschreibt, das sich aber nicht in seinem eigenen Zentrum befindet, sondern außerhalb, an seiner Peripherie, und zwar im mittleren mediterranen Osten, in Jerusalem. Schritt für Schritt ging dieses Zentrum verloren, es war nicht mehr zurückzuerobern, trotz mehrerer »Kreuzzüge«. Daher meine Frage: Wenn Europa sich ein bisschen nach außerhalb projizieren will, sagen wir zwischen 500 und 1500, tut es das, indem die europäischen Denker nach Osten schauen, in Erinnerung an das alte Römische Reich, das teils afrikanisch war. Oder man tut es, indem man den Blick in den fernen Orient richtet, nach Asien mit Marco Polo und bis hin zu den Fahrten der Karavellen am Ende des 15.  Jahrhunderts, mit denen man China über eine westliche Route erreichen wollte und dabei Amerika »entdeckt« hatte. In all diesen Projektionen der Europäer bleibt Afrika ein Rätsel: Denn geographisch gesehen steht Afrika für Europa vor der Haustür, und ausgerechnet dieser direkte Nachbar wurde erst im 19. Jahrhundert kolonisiert, d.#h. erst dann, als Europa nicht mehr zum fernöstlichen Mittelmeer oder nach Amerika schaute, sondern endlich direkt vor sich, kaum 30 Kilometer vor Gibraltar. So entstand eine chronologische und auch eine kulturelle oder geographische décalage [Diskrepanz]. Und nun endlich zur Frage: Welche Rolle spielt dieses dunkle Loch »Afrika« in der europäischen Wahrnehmung seiner Außenwelt noch heute, und zwar auf das langfristige Verhältnis zwischen Afrika und Europa? Anders gesagt, wirkt diese décalage immer noch, oder ist es nur alte, tote Geschichte? 181

Mamadou Diawara (Da spricht ein Historiker! Das ist eine sehr interessante Frage und, ich glaube, wenn wir uns diese Fragen auch von den beiden Seiten des Mittelmeers stellen und daran arbeiten würden, dann hätten unsere Unis etwas zu tun, was sie heute nicht tun und was sie längst hätten tun müssen. Das sind ja kritische Fragen, die hier gestellt worden sind. Das sind aber auch erst mal Fragen nach der Technologie. Also man konnte ja unweit von Europa nicht sowohl in Qarṭāğ als auch auf der anderen Seite in Alexandria usw. präsent sein. Die Navigation war noch nicht so weit gediehen, deswegen konnte man noch nicht weiter fahren. Was du gesagt hast über Jerusalem, stimmt ganz und gar. Aber damals hat man über Afrika fantasiert. Man hat damals vom Reich des Priesterkönigs Johannes gesprochen. Das war Äthiopien. Die Fantasie ging in diese Richtung, aber das war immer ein Pendant zu Jerusalem. Und weshalb nicht weiter? Wegen der mangelnden Technologie, weil die Schiffe ganz einfach nicht weiter konnten. Es musste erst mal auf Bartolomé de las Casas gewartet werden und auf diese ganzen Helden der Navigation, also die Entwicklung des Kompasses usw. Damit wurde Afrika das erste Mal umrundet und dann erst Amerika entdeckt. Aber in einer Sache hast du recht: Man hat eben in Amerika angefangen, Minen abzubauen und Plantagen anzulegen und Territorien zu kolonisieren, in situ, in Amerika, also lange vor Afrika. Ich würde darauf antworten, indem ich einfach sage: Das ist, wo man zum ersten Mal so massiv präsent war, und man hat auch gesehen, dass man eben Plantagen organisieren kann. Gleichzeitig in Afrika und in Amerika sein, das konnte sich Europa nicht leisten. Aber Europa hat ein paar Jahrzehnte versucht, dort diese Plantagen anzulegen und man und woman power zu mobilisieren. Und das hat nicht funktioniert. Die Einheimischen wurden fast ausgerottet und dann kam Afrika als Reserve für diese 182

beitskraft ins Spiel und 20 Millionen Afrikaner wurden Richtung Amerika verschleppt. Afrika wurde ausgebeutet, nicht als Territorium direkt, sondern die Menschen. Es geht um 20 Millionen Menschen, die verschleppt worden und gestorben sind in Kriegen, die organisiert wurden, um die Sklaven nach Amerika zu verschiffen. Wenn man das zusammenrechnet, kommt man bestimmt auf 40 Millionen Tote. Das Territorium selbst wurde nicht ausgebeutet, aber die Menschen. Und welches Territorium hat man erobert? Das war Amerika. Und ab dem 19. Jahrhundert, Ende des 18., Anfang des 19.  Jahrhunderts, war dieser Dreieckshandel zunehmend schwieriger und ökonomisch uninteressanter geworden. Es war rein ökonomisch nicht mehr interessant, Afrikaner zu verschleppen und nach Amerika zu bringen, dort etwas zu produzieren, nach Europa zu verkaufen und den Rest dann nach Afrika. Rein ökonomisch funktionierte das nicht mehr. Und was machte man stattdessen, statt diese Afrikanerinnen und Afrikaner nach Amerika zu verschleppen? Man machte es direkt. Das war dieses 19. Jahrhundert, in dem die wirtschaftliche Situation Europas sich besserte. Man betrieb dann die Ausbeutung sowohl in Amerika als auch direkt in Afrika.

Richard Kuba (Du hast jetzt genau die Erklärung geliefert, wo ich vorhin aufgehört habe. Bis ins 16. Jahrhundert waren beide sozusagen auf gleichem Niveau  – technologisch, wirtschaftlich usw. Und dann ist dieser grauenhafte Aderlass passiert, der den Kontinent, wie du richtig sagst, nicht nur die 20 Millionen Menschen gekostet hat, die verschifft worden sind, sondern bestimmt noch mal so viel, die in diesen ganzen Sklavenkriegen, Sklavenjagden usw. umgekommen sind. Also das war eine riesige Katastrophe und hat diesen Kontinent, man kann sagen, um Jahrhunderte zurückgeworfen. Aber, um jetzt noch mal auf die 183

Frage mit den Karten einzugehen. Ich finde Karten sind ein wunderbares Bild, um so einen Kontinent mal en bloc zu sehen. Das Bild, was man von dem Kontinent hatte, diese T-Karten, auf denen Afrika dann so ein Anhängsel ist, basieren ja letztlich auf dem Modell des Ptolemäus aus dem 2.  Jahrhundert. Das war das Modell, das bis zu den katalanischen Karten im 14. Jahrhundert dominierte. Und da finden sich immer diese Mondberge, in denen der Nil entspringt, und das war natürlich komplette Spekulation. Niemand wusste wirklich, dass es da irgendwelche Berge gibt. Und es entspricht ja in vielerlei Hinsicht auch gar nicht den geographischen Realitäten. Dann kommen die Araber mit ihren Karten, die natürlich auch nicht so viel davon wissen, was südlich der Sahara passiert und die haben ihre eigenen kosmologischen Spekulationen, die sie in ihre Karten einbauen, und deswegen enthalten sie spannende Informationen, sind aber teilweise auch sehr schematisch: Da wurden etwa in Analogie zum Nil alle Städte an den Flüssen verortet, weil man glaubte, die können gar nicht anders existieren, weil es ja dort ganz furchtbar heiß und trocken ist. Ähnlich spekulative Vorstellungen finden sich auch in den europäischen Karten des 19.  Jahrhunderts, beispielsweise die berühmten Berge von Kong: Gigantische Gebirge, die sich quer durch Westafrika ziehen, also vom Senegal bis nach Nigeria. In Wirklichkeit findet sich dort nichts Derartiges. Mehr als 100 Jahre tauchen sie dennoch auf allen Karten auf, bis sie um 1910 irgendwann in der Schublade verschwinden. Wenn man auf historische Karten schaut, gibt es Ideen, die sich über die Jahrhunderte ziehen und die einfach auf Phantasmen und Spekulationen beruhen, die sich dort sedimentieren und die letztlich nur sagen: Wir haben eigentlich gar keine Ahnung über die wirklichen Verhältnisse. Solche Ideen sind äußerst zäh. Ich bin vor einigen Jahren in den USA mal auf eine 184

kakarte gestoßen, da stand The real Africa drüber und das war die Stammeskarte von George Murdoch. Da sind alle »Stämme« Afrikas eingezeichnet mit schönen, klaren Linien. Als Historiker wissen wir, dass es für die Kolonialverwaltung extrem schwierig war, Menschen zu verwalten, die sich je nach Kontext unterschiedlicher Identitäten bedienten und multilingual waren. Um das verwaltungstechnisch irgendwie in den Griff zu bekommen, hat man schon relativ früh versucht, Ethnien auf bestimmten Gebieten zu kartieren, in dem man relativ willkürliche Linien zog, die vermeintliche »Stammesgebiete« sauber voneinander abgrenzten. So wurde das »Afrika der Stämme« erst konstruiert. Und das ist in unseren Köpfen noch immer drin. Dabei kann man ganz gut nachzeichnen, wie solche Konzepte zustande kamen, nämlich durch die Verwaltungspraxis. Es war der Versuch, Herrschaft über Menschen auszuüben, die extrem mobil waren und extrem komplizierte Identitäten hatten. Man musste sie irgendwie festmachen, eben auch mithilfe einer Karte. Karten sind ein super spannendes Thema; gerade in Bezug darauf, wie Europa seinen Nachbarkontinent wahrnimmt.

Publikum (Ich bin jemand, der eigentlich wenig Ahnung hatte bisher von Afrika. Ich habe aus persönlichen Gründen angefangen ein bisschen zu recherchieren. Und da bin ich auf einen Punkt gestoßen, wenn ich mit Leuten darüber rede, die sind alle begeistert, wenn sie mal in Afrika waren. Was wir so als Exotik bezeichnen, also diese andere Welt mit den Tieren und der anderen Kultur, das fasziniert. Das ist übrigens ein interessantes Thema: Wie kriegt man Nähe zu etwas, was einem bisher fremd ist, wo sehr viele Vorurteile im Spiel sind. Es gibt ja auch nicht die eine afrikanische Kultur. Ich habe mir ein paar Schriftsteller angesehen und dann gesehen, wie unterschiedlich das in 185

den einzelnen Ländern ist. Meine Frage also, mein Anliegen ist: Wie können wir in Europa das Interesse für Afrika verstärken? Sie haben völlig zu Recht die geopolitischen Geschichten angesprochen. Das war ein Schlachtfeld. Das war der kalte Krieg. Jetzt ist es eben hier die multipolare Welt, die multilaterale Welt, und jetzt muss Europa sehen, was für Erfolge oder was für Chancen es in Afrika hat. Nach meinen Informationen, wird China im Moment eher mit Skepsis betrachtet. In den politischen Eliten sieht man, dass auch die Chinesen nicht so ganz altruistisch sind. Ich würde gerne wissen von Ihnen: Wie können wir hier in Deutschland und in Europa, vor allem aber in Deutschland, das Wissen, den Kontakt, das Interesse, die Neugier auf Afrika stärken und Möglichkeiten des Austausches schaffen? Es soll ja nicht nur eine Elitentheorie, eine Elitenangelegenheit sein. Das zweite, was mir wichtig wäre: Wie kann man einen solchen Austausch auf Augenhöhe organisieren? Und mein letzter Punkt ist: Wie sehen Sie die Demokratieentwicklung in den Ländern? Das ist ja ein großes Thema, das aus europäischer Sicht mit dem Hintergrund der Aufklärung und eines Wertegerüsts stark betont wird. Denn Demokratie, Menschenrechte, Menschenwürde sind für uns zentrale Kategorien. Und da muss man aufpassen, dass sie nicht in den Machtinteressen, in der Machtpolitik nur als Show dargestellt werden oder missbraucht werden.

Richard Kuba (Ja, große Fragen. Vielleicht kannst du tatsächlich mehr dazu sagen. Warum ich gerne nach Afrika fahre, das kann ich schon sagen. Ich finde, es gibt nirgends auf der Welt so fantastische Beziehungskünstler. Die meisten Afrikaner, die ich kennengelernt habe, sind tolle Beziehungsmenschen. In einer Art und Weise, die mich immer noch begeistert. Das ist etwas, was wir in der 186

Form in Europa einfach nicht so häufig finden. Eine andere Sache: Wie kann man die Beziehungen befördern? Ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist. Ich habe da keine Statistik, aber mir schien es so, dass nach der Black Lives Matter-Bewegung plötzlich schwarze Deutsche vermehrt in deutschen Medien auftauchen, sei es im Tatort oder in der Werbung. Da tut sich etwas, plötzlich sind schwarze Deutsche sichtbarer denn je. Die gibt es ja schon ganz lange, aber irgendwie waren sie unsichtbar. Mit einem Mal ändert sich da etwas, und das ist schon mal eine extrem spannende Entwicklung. Ich hoffe, dass das keine Eintagsfliege, also eine vorübergehende Modeerscheinung ist. Natürlich gibt es nach wie vor gigantische Klischees. Die gibt es übrigens auf beiden Seiten. Wir reden hier ja eigentlich vom Bild Europas in Afrika. Es gibt gigantische Klischees über Europa. Jenseits der intellektuellen und Wirtschaftselite gibt es natürlich viele Leute auf dem Land, die immer noch sagen: Ja, da gehst du hin und dann wirst du reich, da hast du einen Baum hinten im Garten, an dem brauchst du nur die Dollars runterzupflücken. Dieses Image besteht weiterhin. Wie immer kann man solche Klischees am besten durch die direkte Erfahrung, durch den direkten Kontakt auflösen. Man muss sich persönlich begegnen, muss sich persönlich kennenlernen und dann zerbröseln diese ganzen Klischees. Ich fürchte, anders geht es nicht. Nun die letzte Frage: Demokratie – total schwierig. Ich glaube, viele Freunde oder Bekannte in Afrika würden sagen: Eine schöne Entwicklungsdiktatur, die einfach nicht korrupt ist, würde weiterhelfen. Wir müssen nicht immer auf dem großen missionierenden Ross sitzen und sagen: Ihr müsst jetzt eine perfekte Westminsterdemokratie haben. Ich glaube, da gibt es auch andere kulturelle Modelle, die nicht unbedingt per se schlecht sein müssen. 187

Mamadou Diawara (Fangen wir mit dem Vergleich Europa – Afrika an. Ich betrachte die Dimension der Geschichte. Man hat den Eindruck, wenn man in Europa ist, dann sind wir Europäer oder Europäerinnen und wir haben es geschafft. Und ihr solltet es so tun, wie wir es gemacht haben. Ein deutscher Freund erzählte mir, dass seine Tante in den sechziger Jahren noch Sachen auf ihrem Kopf getragen hat wie in Guinea. Er kennt Guinea sehr gut. Aber wenn ich mit meinen Studierenden darüber spreche, können die sich das überhaupt nicht vorstellen. Die sind da und die leben hier und heute, hic et nunc, ici et maintenant. Es gibt nämlich kein Bewusstsein über diesen Prozess, aus dem Europa entstanden ist. Man sieht das Heute, Punkt. Gestern gibt es nicht, vorgestern … vergessen wir das. Es gibt hier einen sehr akuten Präsentismus. Das ist ein sehr großes Problem. Und deswegen ist für mich das Problem erst einmal hier zu lösen, indem man einfach versucht, gegen seinen eigenen Obskurantismus anzugehen oder seine eigene selektive Vergessenheit oder selektive Amnesie zu bekämpfen. Da sollte Geschichte eine Rolle spielen. Also einfach zur Schule gehen und besser verstehen, was ich selbst bin, dann verstehe ich, dass derjenige, dessen Tante in den sechziger Jahren so schwere Sachen auf dem Kopf transportiert hat, deutsch ist, aus Heidelberg stammt, was gar nicht so weit entfernt ist. Und nicht meinen: Ja, okay, ich bin aus Heidelberg 2021 und höre von einer Afrikanerin, die im Kongo viel auf dem Kopf trägt. Und das hat mit mir nichts zu tun und ist mir völlig fremd. Also, wenn etwas zu klären ist, dann wäre das hier, nicht in Afrika – erstens. Zweitens: Es ist die gleiche Dimension, wenn man von Demokratie spricht. Wenn man einige Europäerinnen oder Europäer hört, die von dieser Demokratie sprechen, könnte man denken, das ist ein Ausleseprozess. Wir haben das 188

schon, wir sind Demokraten, wir haben es geschafft. Ihr solltet es so tun, wie wir es geschafft haben, wie wir es gemacht haben. Und dann wird vergessen, welchen Prozess diese Demokratie durchlaufen hat. Viele konsumieren ja diese Demokratie. Es ist etwas, was ich konsumiere. Es ist nicht das Produkt einer Geschichte, die ich sowohl hier als auch woanders sehen kann. Man redet ständig von Griechenland als das Ursprungsland, dort kommt sie her. Aber man vergisst, was in Griechenland zur Zeit der Obristen, der Militärdiktatur passiert ist. Es ist wie ein Jo-Jo. Wenn man das versteht, versteht man, dass es woanders auch anders sein kann. Und das, was man heute hier erreicht hat, ist eben so. Es ist gut, aber es ist ein Produkt, das Produkt der Geschichte. Und diese Geschichtlichkeit muss auch in den Köpfen hier verstanden und auch in Betracht gezogen werden. Der letzte Punkt ist: Wie kann man das lernen? Es wäre wichtig, dass in den Schulen so etwas gelehrt wird. Aber das wird ja nicht gelehrt. Ich will gar nicht, dass über Afrika gesprochen wird. Aber es muss einfach über das eigene Land etwas gelehrt werden, was es einem erlaubt, dieses Land zu verstehen. Wenn man das eigene Land gut verstanden hat, versteht man die anderen. Dann versteht man Franzosen, versteht vielleicht die Polen usw. Nur so geht es und nicht einfach sagen: Es ist so weit weg und sie stehen zwangsläufig auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe. Das ist schwierig. Das Wissen über die eigene Geschichte ist eine Etappe, die ignoriert wird, und diese Etappe kann nicht ignoriert werden. Solange man nicht die eigene historische Dimension verstanden hat, gelernt hat – auch hier –, ist das Verständnis für andere sehr schwierig zu erreichen.

Mitschrift: Toumi Hamadi 189

Nicolas Detering

Europas Kartographie seit dem Mittelalter

Jeder kartographischen Darstellung liegen bestimmte Darstellungskonventionen, bestimmte Annahmen und Entscheidungen zugrunde, die kontingent, also historisch wandelbar sind. Bekanntlich gilt das auch für heutige Weltkarten, die in der Regel noch der sogenannten MercatorProjektion folgen. Sie sind genordet – Norden ist oben, Süden unten – und auf den Atlantik zentriert, sodass Europa in die Mitte des Blickfelds rückt. Zudem vergrößern sie die Pole und verkleinern die äquatornahen Gebiete. Grönland erscheint in der Projektion fast so groß wie der mehr als zehnmal größere afrikanische Kontinent. Diese kartographische Konvention, die freilich gute wissenschaftliche Gründe hat,* stammt aus dem 16.  Jahrhundert. Der flandrische Kosmograph Gerhard Mercator begründete sie 1569, auch unter dem Eindruck präziserer Seefahrtskarten, wie sie im Kontext niederländischer Handelsexpeditionen entstanden waren. Wohl aus diesem Grund ist seine Karte auf den Atlantik ausgerichtet und zertrennt den Pazifik, der an die Ränder verbannt wird. Der Historiker Michael Wintle hat darauf hingewiesen, dass Europa in den frühen *

Siehe zur Debatte um alternative Projektionen und die wissenschaftliche Gültigkeit der Mercator-Projektion die aufschlussreiche Darstellung bei Mark Monmonier: Rhumb Lines and Map Wars. A Social History of the Mercator Projection. Chicago 2004.

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Mercator-Karten exakt an die Position rückt, wo in Kreuzigungsszenen, dem beliebtesten Sujet der christlichen Renaissancemalerei, das Haupt Christi thronen würde, nämlich in der oberen Bildmitte.* Wie stark der kartographische Eurozentrismus, der im sogenannten ersten Globalisierungszeitalter, dem 16. und 17. Jahrhundert, entstand, noch heute unser Bild der Erde prägt, erweist sich, wenn man sich andere Weltkartenmodelle ansieht. So fällt es uns schwer, uns auf gesüdwesteten Europakarten rasch zu orientieren, wie sie in der Renaissance nicht ungewöhnlich waren. Beispielsweise erstellte der humanistische Kartograph Martin Waldseemüller um 1520 eine Europakarte, die er Kaiser Karl V. widmete (Abb."1). Wohl auch deshalb stellt sie das habsburgische Heilige Römische Reich in das Zentrum und rückt das Königreich Spanien, ebenfalls unter habsburgischer Herrschaft, in die günstige Position am oberen Bildrand. Wie zu zeigen sein wird, entstanden im frühen 16. Jahrhundert besonders viele solcher Europadarstellungen als Propagandamaterial für den Anspruch des Kaisers, eine europäische Universalmonarchie zu errichten. Mit Mercators Weltkarte und Waldseemüllers Europakarte sind zwei Quellen benannt, die auf die zentralen historischen Wendepunkte in der Geschichte des Euro*

Michael Wintle: The Image of Europe. Visualizing Europe in Cartography and Iconography throughout the Ages. Cambridge 2009, S."60-63. Vgl. zu den Folgen der Mercator-Projektion neuerdings: Michael Wintle: Eurocentrism. History, Identity, White Man’s Burden. London$/$New York 2021, S."109-152. – Zur ›Erfindung‹ Europas in der Kartographie und zum Einfluss der Kartographie auf die literarischen Imaginationen Europas in der Renaissance siehe die wichtige Arbeit von Katharina Piechocki: Cartographic Humanism. The Making of Early Modern Europe. Chicago 2019.

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Abb. 1: Carta itineraria europae. Karte von Martin Waldseemüller, 1520. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck (Historische Sammlungen, Inv. Nr. K 9 /39)

padiskurses hinweisen, nämlich auf den Beginn des kolonialen Zeitalters mit der ›Entdeckung Amerikas‹ und auf die medial befeuerten Herrschaftsstreitigkeiten der Frühen Neuzeit, sei es die Rivalität zwischen dem Reich und Frankreich, seien es die Konfessionskriege oder (viel später, aber sehr einflussreich) der Dreißigjährige Krieg. Man könnte sagen, dass die Kartographie beides produktiv begleitet hat, Europas Blick nach außen, auf die Welt, und den Blick nach innen, auf die zerstrittenen Länder und Territorien. In gewisser Weise beeinflussen die frühneuzeitlichen Deutungskämpfe um Europa daher auch unser heutiges kartographisches Bild des Kontinents und seiner Rolle in der Welt. Ich möchte im Folgenden sehr knapp die historischen 193

Entwicklungen skizzieren, die im 16. und 17. Jahrhundert zur Formierung eines neuen Europadiskurses beigetragen haben, zur Rede darüber, was Europas Identität ist und wie der Erdteil organisiert sein sollte. Zweitens möchte ich mich auf eine kartographische Darstellung konzentrieren, die sich als besonders wirkmächtig erweisen sollte, nämlich die Imagination der europäischen Länder als Königin, auch als Königin der Welt. Dabei wird sich zeigen, dass sich in der Frühen Neuzeit mit der europäischen Idee keineswegs nur ein gleichsam interessenloses, politisch neutrales Friedensprojekt verband. Europa-Imaginationen, so meine These, sind historisch erstaunlich oft aus politischen Machtansprüchen und ›Interessen‹ hervorgegangen. Das delegitimiert sie nicht notwendig; aber der Bezug auf Europa ist eben auch nicht per se schon legitim.

1. Die Forschung konnte bislang vor allem drei Faktoren benennen, die zur Ausbildung des frühneuzeitlichen Europadiskurses beigetragen haben:* Der erste Faktor ist die ›Ent*

Die drei Faktoren lassen sich mit Jean-Baptiste Duroselle auf die Formel »L’Europe face aux Turcs«, »L’Europe face à l’Amérique« und »L’Europe face à elle-même« bringen, vgl. Jean-Baptiste Duroselle: L’idée d’Europe dans l’histoire. Mit einem Vorwort von Jean Monnet. Paris 1965, S."75-103. In meiner Dissertation (Verf.: Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur. Köln$/$Wien$/$Weimar 2017) habe ich diese alte Forschungsmeinung insofern zu erneuern versucht, als ich dem Nachrichtenwesen um 1600 und der poetischen Literatur des 17. und 18.  Jahrhunderts entscheidendes Gewicht beimesse. Durch die Presserevolution und die medialen Kämpfe des Dreißigjährigen Kriegs, so meine These, verbreitete sich der Europabegriff als chronotopische Klammer

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deckung‹ und Kolonialisierung Amerikas. Seit etwa 1500 erschütterte sie das metaphysisch aufgeladene trikontinentale Weltschema und stellte die seit der Spätantike etablierte Genealogie der Söhne Noahs infrage. Ihr zufolge hätten die Nachkommen Japhets Europa, die Nachkommen Sems Asien und diejenigen Chams Afrika besiedelt. Die topische Vorstellung, man lebe in Europa auf dem zwar kleinsten, aber klimatisch angenehmsten, landschaftlich schönsten und überhaupt besten Erdteil, gewann indes durch die militärische und ökonomische Expansion nach Asien und Amerika eher an Plausibilität: Wie sonst ließ sich der exploratorische Erfolg der Europäer erklären, wie sonst ihre Fähigkeit, andere Kontinente zu kolonialisieren, wie sonst das göttliche Privileg der christlichen Offenbarung, das den ›Wilden‹ in Amerika versagt geblieben war? So schrieb ein spanischer Rechtsgelehrter 1513, Gott hätte den amerikanischen Ureinwohnern sicher früher christliche Missionare geschickt, wenn sie ein würdigeres Volk gewesen wären; schließlich habe er auch Augustinus (von Canterbury) nach England gesandt.* Zum Sinnbild einer unheimlichen Alterität erhob man den Kannibalismus der ›Wilden‹, der den zivilisatorischen Primat der Europäer zweifelsfrei zu belegen schien und zum festen Bestandteil der europäischen Amerika-Imagination wurde. Wahlweise

*

für miteinander korrelierende Ereignisse an disparaten Orten. Dadurch zunächst negativ besetzt, ›kulturalisierte‹ sich das Konzept mit dem Perspektivismus fiktionaler Reiseromane um 1700 und avancierte geschichtsphilosophisch zum räumlichen Analogon von Zivilisation und Moderne. Meiner Auffassung nach erklärt sich die Entstehung des aufklärerischen Eurozentrismus daher aus der Temporalisierung des Europakonzepts in den frühneuzeitlichen Nachrichtenmedien. Anthony Pagden: European Encounters with the New World. From Renaissance to Romanticism. New Haven und London 1993, S."7#f.

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konnte man sich gegenüber den vermeintlichen Kannibalen Brasiliens als Vertreter von Zivilisation und Fortschritt fühlen oder die europäische Kultur mit Blick auf den ›edlen Wilden‹ als degeneriert und unnatürlich kritisieren, wie es Montaigne und andere gegen Ende des 16. Jahrhunderts taten.* Zweitens führte der Fall Konstantinopels und das Vordringen des Osmanischen Reichs im 15. und 16. Jahrhundert zu einem kollektiven Bedrohungsgefühl bei den Zeitgenossen.** Seit einer berühmten Rede des Humanisten Aeneas Silvius Piccolomini und späteren Papstes Pius  II ., in der er Europa als ›Vaterland‹ bezeichnet, das es künftig zu verteidigen gelte, begleitete der Gemeinplatz der ›Türkengefahr‹ die abendländische Literatur. In seiner Rede über den Untergang Konstantinopels, gehalten in Frankfurt 1453, ruft Aeneas Silvius die europäischen Völker auf, gemeinsam gegen die Türken vorzugehen. Früher sei das Christentum nur in Asien und Afrika bedrängt worden, nun aber sei man »in Europa, das heißt im Vaterland, im eigenen Haus, in unserem Sitz erschüttert und getötet worden«.*** Besonders Ungarn sei in Gefahr. Wenn *

Zur Wahrnehmung der Ureinwohner in den frühneuzeitlichen Amerika-Reiseberichten und ihrer Rezeption vgl. unter anderem Christian Kiening: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der neuen Welt. Göttingen 2006, und Kirsten Mahlke: Offenbarung im Westen. Frühe Berichte aus der Neuen Welt. Frankfurt a.#M. 2005. ** Vgl. die Beiträge in: Europa und die Türken in der Renaissance. Hg. von Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann. Tübingen 2000, sowie nun Isabella Walser-Bürgler: Europe and Europeanness in Early Modern Latin Literature. Fuitne Europa tunc unita? Leiden 2021, S."38-56, dort weitere Hinweise zur neueren Forschung. *** Zit. n. Detering: Krise und Kontinent, S."60; dort auch weitere Forschung.

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Deutschland den Nachbarn in dieser Zeit nicht beistehe, so mahnt Piccolomini, werde Frankreich auch den Deutschen nicht zur Hilfe eilen, werde wiederum Spanien die Franzosen nicht unterstützen, wenn die Türken angreifen. Somit scheint Piccolomini an eine Verteidigungsgemeinschaft europäischer Nationen zu appellieren, die einander beistehen, wenn ein Mitglied oder das gesamte ›Vaterland‹ in Gefahr ist. Gerade nach der Reformation entstand eine ganze Reihe von humanistischen Türkenschriften, die sich für die Überwindung europäischer Zwietracht angesichts des externen Feindes aussprechen. Wenn jedes Gemeinschaftsgefühl der Konstruktion eines ›Anderen‹ bedarf, von dem man sich abgrenzen kann, sei es in freundlicher oder feindlicher Absicht, so fungierten die amerikanischen ›Wilden‹ und die bedrohlichen Türken seit der reformatorischen Krise der Christenheit als das ›Andere‹ einer europäischen Identität. Denn drittens konnte man eben nach der Konfessionalisierung seine Hoffnungen nicht mehr unbeschwert auf die Einheit der Christenheit richten. Deshalb stand der neutralere, weil überkonfessionelle, vormals weitgehend geographische Terminus ›Europa‹ in der Frühen Neuzeit hoch im Kurs. Einerseits diente er als begriffliches Säkularisat der Christianitas, der Christenheit. Andererseits blieb er von den Konfessionskämpfen auch nicht unberührt. Im Zuge der medialen Aufrüstung mit reformatorischen Flugblättern und Flugschriften entstanden auch die frühesten literarischen und bildlichen Personifikationen des europäischen Kontinents. Natürlich gab es den Mythos der Entführung Europas bereits in der Antike. Schon in Horaz’ Oden und an vielen anderen Stellen imaginierte man die Jungfrau Europa als bedroht und klagend. Aber die politische Gegenwart des Kontinents wurde in diesen Mythenbearbeitungen nicht 197

expliziert. Es ist sogar unklar, wie geläufig die Assoziation der mythischen Prinzessin mit dem Erdteil überhaupt war. Wenn man den Europa-Mythos im Mittelalter ausdeutete, so stets moralisch, als Beispiel für standhafte Tugend oder Verführungskraft. Erst im Humanismus übertrug man ihn auf die Zeitgeschichte des Kontinents.* Einen drastischen Akzent setzte der Basler Künstler Conrad Schnitt in den frühen 1520er Jahren mit einem Holzschnitt, der die Vergewaltigung Europas vorstellt (Abb."2). Links sieht man hier die mythische Entführung der phönizischen Prinzessin, der auf der rechten Seite eine brutale Misshandlungsszene entspricht: Der Papst und mehrere katholische Geistliche vergehen sich an der barbusigen Europa. Sie entreißen ihr die Kleider, während der Papst ihre Krone stiehlt und sie würgt. Die Distichen, die wahrscheinlich von Erasmus von Rotterdam stammen, erklären das Bild in einem Dialog zwischen dem Ich und Europa: Jupiter täuschte die phönizische Europa als Stier, die Mönche hingegen den politischen Kontinent mit dem Bild des frommen Lammes. Die Herde der katholischen Geistlichen hätten ihr, so klagt Europa, alle Würde genommen. Der Schreiber der Verse sexualisiert den Verfall des Kontinents, indem er ihn in die Metaphorik moralischen Verfalls fasst – von der keuschen Jungfrau zur ›säuischen Hure der Priester‹, wie es heißt, vom beschenkten Objekt göttlicher zum misshandelten Opfer mönchischer Begierde.** Flugbilder wie diese erregten Empörung, sollten Schutzinstinkte wecken und Verteidigungsbereitschaft mobilisieren. Zugleich aber waren sie *

Vgl. dazu Detering: Krise und Kontinent, S."53-91; zu Schnitts Holzschnitt s. ebd., S."71-73. ** Vgl. ebd., S."72, sowie Bodo Guthmüller: Europa – Kontinent und antiker Mythos. In: Der Europa-Gedanke. Hg. von August Buck. Tübingen 1992, S."5-44.

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Abb. 2: »Jupiter Europam, vera est si fabula […]«. Holzschnitt von Conrad Schnitt, um 1520. Distichen von Desiderius Erasmus [?]. In: Frank Hieronymus: Basler Buchillustration 1500-1545: UB Basel, 31. März-30. Juni 1984. Basel 1984 (Oberrheinische Buchillustration 2), S. 642

Instrumente einer öffentlichen Krisenkommunikation, wie sie sich in dieser Ära des medialen Umbruchs ausbreitete.

2. Etwa zu dieser Zeit entstanden auch die vermenschlichten Europakarten, d.#h. Darstellungen des Kontinents in der Form einer Königin oder Jungfrau. Das Modell für diese spätere Konvention bildete ein Holzschnitt von 1534, der von Johann Putsch stammt (Abb."3). Putsch, bei den Humanisten unter seinem lateinischen Herkunftsnamen Bucius Aenicola bekannt, stammte aus Innsbruck und fungierte als Berater des Erzherzogs von Österreich, des Bru199

ders und späteren Nachfolgers von Kaiser Karl V. Portugal wird hier als Krone vorgestellt, Spanien als Kopf, Italien als rechter, Skandinavien als linker Arm. Sizilien gibt den Reichsapfel, Frankreich die Brust und Deutschland den Leib. Irland ist ausgelassen, Großbritannien als klobiger Fels dargestellt, der auf der Schulter Europas lastet, wohl eine Anspielung auf die spanisch-englischen Spannungen der 1530er Jahre sowie den Beginn der englischen Reformation zur gleichen Zeit. Verschiedene Wappen markieren die Nationes, die Länder Europas. Die Karte kennt keine klaren Binnengrenzen und nennt lediglich die Namen verschiedener Regionen und Länder.* Erst vor Kurzem wurde eine frühe Fassung dieser Karte in einem Museum in Niederösterreich gefunden. Der bekannte Schriftsteller Robert Menasse, der sich immer wieder zu politischen Fragen der europäischen Einigung geäußert hat, gab darauf in einem Interview zu Protokoll, seiner Meinung nach handle es sich um »eine Allegorie für eine europäische Idee, die jetzt seit 60 Jahren erst europaweit politisch verwirklicht wird«.** Aus historischer Sicht ist diese Interpretation nicht haltbar. Es handelt sich vielmehr um einen Versuch, die Idee der habsburgischen Universalmonarchie zu lancieren, d.#h. die Vereinigung aller europäischen Länder unter der Krone Habsburgs. Insbesondere *

Zu Putschs Karte und seinen Nachfolgern siehe Karl Jax: Johannes Putschius. Ein Tiroler Heimatdichter (1516-1542). In: Veröffentlichungen des Museums Ferdinandeum 18 (1938), S."334-347, und vor allem den wichtigen Beitrag von Peter Meurer: Europa Regina: 16th Century Maps of Europe in the Form of a Queen. In: Belgeo 3$/4 (2008), (zuletzt 20. November 2021). ** Siehe den Bericht im Radio Niederösterreich des ORF : (zuletzt 20. November 2021).

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Abb. 3: [Europa regina]. Holzschnitt von Johann Putsch [zweite Fassung, Paris 1537]. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck (Historische Sammlungen, Inv. Nr. K V /84)

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sollte Frankreich, unter Franz I. die rivalisierende Macht, dadurch delegitimiert werden. Die Tendenz beginnt schon bei dem Umstand, dass die Karte ungewöhnlicherweise gewestet ist, dass also das habsburgische Spanien das Haupt, das habsburgische Reich den zentralen Teil des Körpers bildet; das Königreich Böhmen, das Ferdinand erst kurz zuvor geerbt hatte, wird von Bergen umringt und als Herz vorgestellt. Die ganze Haltung und Gestik der Königin Europa erinnert an zeitgenössische Hochzeitsbilder, sodass Europa geradezu als ›Braut‹ der Habsburger erscheint.* Diese Deutung wird durch ein lateinisches Gedicht plausibilisiert, das Johann Putsch als Beigabe zu seiner Karte verfasste. Die Forschung hat es lange missachtet.** Es trägt den Titel Europa Lamentans, Die klagende Europa, und ist an Kaiser Karl V. und seinen Bruder Ferdinand gerichtet. Es legt der in Versen sprechenden Europa einen Appell an die beiden Habsburger in den Mund: Nur sie könnten die Bedrohungen der Bürgerkriege und der nahenden Osmanen abwenden, nur das Heilige Römische Reich deutscher Nation stehe tapfer als Bollwerk. Putsch adressiert seine Fürsten gar als »Semidei«,*** als Halbgötter, *

So Elke Anna Werner: Triumphierende Europa – Klagende Europa. Zur visuellen Konstruktion europäischer Selbstbilder in der Frühen Neuzeit. In: Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund. Hg. von Almut-Barbara Renger und Roland Alexander Ißler. Göttingen 2009, S."241-261, hier S."244#f. ** Siehe nun Verf. und Dennis Pulina: Rivalry of Lament: Early Personifications of Europe in Neo-Latin Panegyrics for Charles V and Francis I (1537$/38). In: Contesting Europe: Comparative Perspectives on Early Modern Discourses of Europe (15th-18th Century). Hg. von N.#D., Clementina Marsico und Isabella Walser. Leiden 2019, S."13-38, zuvor aber bereits Meurer: Europa Regina. *** Zit. n. Detering und Pulina, Rivalry of Lament, S."31.

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die allein dem Kontinent den ersehnten Frieden bringen könnten. Diese einseitige Europavision konnte von französischer Seite nicht lange unbeantwortet bleiben. Daher verfasste ein französischer Gelehrter kurz darauf eine Gegenrede, in der er wie Putsch Europa als verzweifelt darstellt und sie in Hexametern klagen lässt. Nur ist es nun Franz I., der, wie es heißt, als ›Einziger‹ Europa retten könne, und zwar insbesondere gegen die Reformation, die im Reich ausgebrochen war.* Damit entwickelte sich zwischen Putsch und seinem französischen Gegner eine Art poetisches Streitgespräch, auf das bald weitere Gelehrte reagierten. Putschs Holzschnitt und die Antworten darauf bezeugen also weniger die Idee einer friedlichen Einigung der europäischen Länder auf Augenhöhe, sondern dokumentieren vielmehr die konkurrierenden Herrschaftsansprüche über den Kontinent, habsburgische wie französische, die zu legitimieren der Gelehrtenrepublik oblag. Trotz seiner propagandistischen Ursprünge fand Putschs Konzept über viele Jahrzehnte sehr verschiedene Nachfolger. Durch die klare Figurierung eignete es sich besonders gut für topographische Lehrbücher. Es legte genau fest, welche Territorien zu Europa gehörten – und welche nicht. Daher fand das Bild Eingang in die Kosmographien und Reisebeschreibungen des späten 16. Jahrhunderts, unter anderem in eine späte Auflage von Sebastian Münsters Cosmographey und in ein Itinerarium des protestantischen Pfarrers Heinrich Bünting.** Die Abbildung von Europa in Gestalt einer Jungfrau dient nun ausdrücklich mnemo*

Vgl. ebd., S."21-23 sowie das Gedicht mit Übersetzung ebd., S."34-36. ** Vgl. Detering: Krise und Kontinent, S."83-87, sowie Meurer: Europa Regina, passim.

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technischen Zwecken. Durch die Analogie von Ländern und menschlichen Körperteilen könne man sich, schreibt Bünting, »fein einbilden  / die gelegenheit der gantzen Europæ«.* Man merkte sich also die europäische Topographie leichter, um dadurch die Reiserouten der Patriarchen, Propheten und Apostel besser zu verstehen. Und auf die kam es Bünting in seinem Itinerar schließlich an, denn »[k]eine historien der gantzen heiligen Schrifft  / können ohne gewisse beschreibung der stedt vnd örter  / recht gründlich verstanden werden«.** So erscheint es nur folgerichtig, wenn Bünting für die Erde als Ganzes wie auch für Asien ebenfalls jeweils ein Bild wählte, nämlich das Kleeblatt und den Pegasus. Wo verlaufen in diesen Karten die Grenzen des europäischen Kontinents? Im Osten markiert das Schwarze Meer und oben der Tanais in Sarmatien, also der Don-Fluss, das Ende Europas.*** Scharf voneinander abgehoben sind Spanien und Mauretanien, das als »Africae pars« bezeichnet wird. Norwegen und Schweden verschwimmen in ihren nördlichen Gebieten und sind überraschend deutlich vom Kontinent abgetrennt, ebenso wie Großbritannien und Irland. Der Bosporus trennt Asia minor von Europa. Nur Konstantinopel, obschon zur Zeit der Veröffentlichung seit rund 130 Jahren in osmanischer, also muslimischer Hand, befindet sich auf der europäischen Seite, wenn es auch bei genauer Betrachtung mit einem christlichen Kreuz auf einem Kirchturm versehen ist. Auch in einer »Kurtze[n] erklerung dieser Tafeln« nennt Bünting die »Türckey« *

Heinrich Bünting: Itinerarivm sacræ scriptvræ, Das ist / Ein Reisebuch / Vber die gantze heilige Schrifft / in zwey Bücher geteilet. […]. Magdeburg 21589, S."14. ** Ebd., S."2. *** Zu der Frage vgl. auch Piechocki: Cartographic Humanism, S."4-11.

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ebenso ausdrücklich als Teil von Europa wie »das land Reussen«.* Auf anderen vermenschlichten Europakarten der Zeit, zum Beispiel bei Sebastian Münster, wird der europäische Teil des osmanischen Reichs und wird insbesondere Konstantinopel ebenfalls zu Europa gezählt, oft auch ohne ein Kreuzessymbol. Die Verwendung der Imago bei Bünting und anderen illustriert den Versuch einer rein geographischen Europaauffassung, die weniger politisch und religiös aufgeladen war als der Putsch-Schnitt. Bild und Dichtung dienten didaktischen Zwecken, sie sollten der Leserschaft helfen, sich die Lage der Länder einzuprägen. Das war durchaus effektiv, noch Jahrhunderte später. So erinnert sich Clemens Brentano noch 1812: »In frühster Jugend sah ich in einem alten Buche Europa als eine wohlgekleidete, mit allen Herrscherinsignien ausgerüstete Jungfrau abgebildet, und vor kurzem ist mir dasselbe Bild zu meiner Freude in einer alten böhmischen Uebersetzung von Buntings Reisebuch über die heilige Schrift wieder begegnet. Der Rhein liegt über ihrer Brust, wie eine Ehrenkette, an welcher Frankfurth, meine Vaterstadt, wie ein Schloß hängt, von diesem herab aber schwebt Böhmen, als ein von Edelsteinen umfaßtes Geschmeid.«** Damit komme ich zu einem Aspekt der Europa regina, der sogenannten Putsch-Tradition, der gar nicht selbstverständlich ist: die Verkörperung Europas als Frau.*** * **

Bünting: Itinerarivm, S."14. Clemens Brentano: Die Gründung Prags. In: Ders. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd."14: Dramen III . Hg. von Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders. Stuttgart u.#a. 1980, S."523#f. *** Dazu siehe Wolfgang Schmale: Europa – die weibliche Form. In: L’Homme: Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 11 (2000), S."211-233, und Claudia Bruns: Anthropomorphe Europakarten im Übergang zur Frühen

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Natürlich war sie naheliegend, denn mit dem Mythos von Jupiters ›Raub der Europa‹ stand ein Bezugsrahmen bereit, der hohen Wiedererkennungswert hatte und eine klar definierte Reihe bildlicher Bestandteile vorgab. Das unterschied Europa von allen anderen Stadt-, Land- oder Erdteilallegorien, die nicht in antiken Mythen wurzelten und daher auch nicht in eine jahrhundertealte Überlieferung eingebunden waren. Manche Darstellungen referieren direkt auf den Mythos, so Michael von Aitzings Buch von der Topographie und Geschichte der auf einem Stier sitzenden Jungfrau Europa (1588, Abb."4). Das Frontispiz folgt einer etwas anderen ikonographischen Tradition als derjenigen Putschs und stammt von dem Kupferstecher Franz Hogenberg. Die beiden Europas, das mythische und das physische, habe man bislang, so Aitzing in der Vorrede, selten zusammengeführt, obgleich der Leser die physische Topographie und Geschichte Europas durch das »poetische Bild« mit mehr Vergnügen, aber nicht weniger Nutzen lernen könne: Denn der Leser könne so zwischen den 88 Detailtafeln Europas, die Aitzing in seinem Band bietet, und der ›ganzen Jungfrau‹ hin und her blättern. Die frivole Neugier an der ›Gelegenheit‹ einzelner Länder auf dem Körper der Jungfrau ermögliche es, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden.* Aitzing hatte recht. So selbstverständlich war die Assoziation zwischen dem Kontinent und der phönizischen Prinzessin gar nicht, trotz der Namensgleichheit. Öfter hatte man ihn mit Japhet, dem Sohn Noahs, assoziiert. Es

*

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Neuzeit. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 21$/1-2 (2017). Sonderheft: Der Körper des Kollektivs, S."9-43. Michael Aitzing: De Evropæ virginis, tavro insidentis, topographica atqve historica descriptione, liber, qvator orbis partibvs distinctvs […]. Köln 1588. Zit. n. Detering: Krise und Kontinent, S."86.

Abb. 4: Kupferstich, 1588. In: Michael von Aitzing: De Europæ virginis, tavro insidentis, topographica atqve historica descriptione, liber, qvator orbis partibvs distinctvs […]. Köln 1588, Frontispiz

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Abb. 5: Evropa. Kupferstich von Philipp Galle, um 1580. Distichon von Cornelis Kiliaan. In: Philipp Galle und Cornelis Kiliaan: Prosopographia, sive virtvtvm, animi, corporis, bonorvm externorvm, vitiorvm, et affectvvm variorvm delineatio. [Antwerpen, 1580– 1589?], Tafel 40

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gab im 16. und 17. Jahrhundert sogar Versuche, als Benennung für den Erdteil ›Japetia‹ oder ›Jafetia‹ vorzuschlagen.* Die weibliche Form, die man seit dem Humanismus für Europa wählte, hat wohl eher damit zu tun, dass man einige geläufige Genderstereotype politisch einsetzen konnte: etwa die angeblich ›weibliche‹ Schwäche, um die Schutzbedürftigkeit des Kontinents zu betonen und Unterstützung zu mobilisieren, oder das Virginitätsideal, um die Angriffe auf die klagende Europa als Vergewaltigungsversuche zu verbildlichen. Neben der verletzten und verletzbaren Europa gibt es allerdings noch eine andere ikonographische Tradition, die sich ebenfalls mit einem Geschlechterklischee verbindet, nämlich die triumphierende Europa, die sich herausgeputzt hat, die reich geschmückt, prächtig und stolz erscheint, später auch erotisch und verführerisch. In der Frühen Neuzeit tritt dieser Typus vor allem im kontinentalen Vergleich als lasziv entblößte, zugleich herrschaftliche Figur auf, wie in einem Allegorienbuch von Philipp Galle, in dem auch die anderen Erdteile personifiziert werden (Abb."5). »Das Zepter trägt Europa, der beste Teil der Welt. Und fröhlich trägt sie den Wein, dein Geschenk, Bacchus!«, lautet die Übersetzung des lateinischen Distichons, das die Abbildung erklärt.** Zepter und Wein symbolisieren Kultur und Natur – und in beiden Gebieten soll sich Europa vor allen anderen Kontinenten auszeichnen. Der ›beste Teil der Welt‹, das war ganz wörtlich gemeint. Eine weitere Darstellung beispielsweise zeigt Europa als selbstbewusste Königin, die auf einem Globus thront * Vgl. Detering: Krise und Kontinent, S."277. ** Philipp Galle und Cornelis Kiliaan: Prosopographia, sive virtvtvm, animi, corporis, bonorvm externorvm, vitiorvm, et affectvvm variorvm delineatio. [Antwerpen, 1580-1589?]. Zit. n. Detering: Krise und Kontinent, S."80#f.

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(Abb."6). Die Hand hat sie als Herrschaftsgeste in die Hüfte gestützt, während ein Engel ihr mit der Tuba und dem Hermesstab zufliegt, Symbole ihres Ruhms und ihrer Handelsmacht. Fast abschätzig schaut sie zu den Personifikationen Amerikas, Afrikas und Asiens herab, die mit Tiersymbolen gekennzeichnet sind und durch ihre Nacktheit als unzivilisiert herabgewürdigt werden. Ein zweiter Engel zu Europas Rechten hält ein Buch, in dem zu lesen ist, woraus sich die Herrschaft des europäischen Erdteils über die anderen rechtfertigt: Religio christiana, ist dort zu lesen, der christliche Glaube.

3. Es ist ein altes Phänomen, dass Kollektive als Körper metaphorisiert werden. Eine der Urszenen dieser symbolischen Selbstdefinition ist die von Livius überlieferte Parabel vom Aufstand der Glieder gegen den Magen. Weil sie den Magen für faul hielten, so wird berichtet, hätten die Hände, der Mund und die Zähne aufgehört, ihn mit Speise zu versorgen. Erst als sie Erschöpfung verspürten, sahen die Abtrünnigen ein, dass auch der scheinbar nichtsnutzige Magen zum Funktionieren des Gesamtkörpers beiträgt. Mit diesem Gleichnis habe der Politiker Menenius Agrippa die aufständischen Plebejer zur Umkehr gebracht. Schon in der Antike zeigte sich folglich die Wirksamkeit der Sozialmetapher des Körpers, dessen Gliedmaßen die interdependenten Elemente eines arbeitsteiligen Organismus bedeuten sollen. Alle Gesellschaftsteile gehören demnach natürlicherweise zusammen und können sich voneinander nicht ohne Verluste lösen.* *

Siehe dazu Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas

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Abb. 6: Kupferstich von Joachim Sandrart, 1646. In: Pierre d’Avity: Newe Archontologia Cosmica, Das ist/ Beschreibung aller Käyserthumben/ Königreichen und Republicken der gantzen Welt/ die keinen Höhern erkennen. Aus dem Franz. von Johann Ludwig Gottfried. Frankfurt a. M. 1646, Frontispiz

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Ähnlich suggestiv ist auch die Verkörperung Europas, wie die Renaissance sie erfand. Die Vergemeinschaftung kontinentaler Gruppen wie die der Europäer ist gewissermaßen besonders begründungsbedürftig, ist auf Sozialmetaphern besonders angewiesen. Schließlich springt der instabile Konstruktionscharakter der ›europäischen Identität‹ schon deshalb ins Auge, weil Europas geographische Grenzen umstritten sind, weil es sich um eines der größten Konglomerate von Menschen handelt, dem man je eine gemeinsame Identität unterstellt hat, und weil diese Menschen sich zudem über Jahrhunderte fast durchgehend im Krieg miteinander befanden. Die kartographische Verkörperung leistet hier Abhilfe, in mehrfacher Hinsicht: Erstens definiert sie die Gestalt des Kontinents mit wünschenswert präzisen Konturen und zeitigt daher mnemotechnische Vorteile. Man kann sich die ›Gelegenheit‹ der europäischen Länder, die ja so klar gar nicht ist, auf diese Weise besser merken. Sie suggeriert zweitens die Zusammengehörigkeit der Teile, indem sie Binnengrenzen überspielt. Drittens appelliert sie durch die Feminisierung an männliche Mitleids- und Schutzimpulse und unterstreicht mit der Sexualisierung – Jungfräulichkeit und Vergewaltigung – die Bedrohungslage. Viertens schließlich unterscheidet sie Europa nach außen, wertet andere Kontinente ab und erhebt den eigenen Erdteil zur Mutter der Zivilisation und der Christenheit. Daher bilden die frühFrank und Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt a.#M. 2007, S."15-55. – Zur Überlieferung der Fabel in der Antike und zu ihrem weiten Deutungsspielraum im Mittelalter und in der Neuzeit siehe Dietmar Peil: Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Überlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt a.#M., Bern$/$New York 1985.

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neuzeitlichen Personifikationen ein europäisches Gemeinschaftsgefühl nicht schlicht ab (zumindest: nicht nur), sondern stellen es mit symbolischen Mitteln überhaupt erst her. Wenn die kartographische Ikonologie sich somit als wesentlicher Faktor der Vergemeinschaftung der Europäer erwies, so ist sie zugleich stets Ausdruck bestimmter Interessen und Mächteverhältnisse geblieben – seien es diejenigen des Hauses Habsburg, der antipäpstlichen Fraktion der Lutheraner, der atlantischen Handelsgesellschaften oder anderer Repräsentanten des europäischen Frühkolonialismus mit seinem globalen Herrschaftsanspruch. Sie prägt die politische Diskussion über Macht und Ohnmacht in Europa bis heute. Die Schriftstellerin Nora Bossong hat in einem Beitrag im Tagesspiegel im Mai 2021 vor einer »westlichen Dominanz und […] Arroganz« gewarnt, die in der EU gegenüber den östlichen Mitgliedsstaaten herrsche.* Darin sei ein Grund dafür zu sehen, weshalb Ungarn und Polen »keine so begeisterten EU -Europäer sind«. Bossongs Beitrag ist mit einer Karikatur versehen, die ein königliches Nordeuropa vorstellt, wobei Haupt und Oberkörper gar nicht klar zugeordnet sind (Abb."7). Die Königin hat das Zepter fallen gelassen, schaut betrübt, vielleicht aber auch herablassend auf das eigene zerrissene Kleid, das im Westen noch intakt scheint, mitten durch Deutschland und vor allem gen Osten aber zerreißt. Der Beitrag, der sich ausdrücklich auf die Europa regina des Johannes Putsch bezieht, demonstriert, wie fest sich die seit der Frühen Neuzeit zirkulierende Körperkartographie in der europäischen Imagination verankern konnte. *

Nora Bossong: Ist Europa heute eine einsame Frau in zerrissenem Kleid? In: Tagesspiegel, 17. Mai 2021, (zuletzt am 20. November 2021).

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Abb. 7: Die Europa im zerrissenen Kleid – die Fliehkräfte in der EU sind groß. Illustration von Martha von Maydell. In: Tagesspiegel. 17. Mai 2021, (zuletzt am 20. November 2021)

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Christoph Mauntel

Europa in der Weltordnung des Mittelalters

Europa im Mittelalter – was das eigentlich ist, ist zumindest aus geographischer Perspektive relativ klar definierbar: Europa, so lässt sich in zahlreichen mittelalterlichen Enzyklopädien und Traktaten nachlesen, war einer von drei bekannten Erdteilen. Neben Europa kannte man Afrika und Asien. Dieses Wissen, darauf verweisen wiederum viele Autoren explizit, stammte von den ›Älteren‹, d.#h. von antiken römischen Autoren. Auch die Grenzen Europas waren für mittelalterliche Gelehrte unumstritten: Im Süden trennte das Mittelmeer Europa von Afrika, im Osten bildete der Don die Grenze zu Asien, und im Norden und Westen umrahmte der Ozean das europäische Festland. Wichtig waren zudem die Größenverhältnisse der Erdteile: Asien war doppelt so groß wie die grob gleich großen Teile Afrika und Europa. Das geographische Grundlagenwissen des Mittelalters über Europa kann also klar und einfach umrissen werden. Welche Bedeutung aber hatte dies für mittelalterliche Vorstellungen von der Welt und welchen Platz nahm Europa in diesen ein? Um diese Fragen soll es im folgenden Essay gehen, und zwar in drei Schritten: Zunächst sollen verschiedene Modelle vorgestellt werden, mit denen man die Welt ordnete und gliederte; zweitens soll genauer auf die Stellung Europas in diesen Weltordnungsmodellen eingegangen werden; und drittens soll thematisiert werden, wie 215

europäisch-christliche Autoren den Platz ›ihres‹ Erdteils in der Welt hervorzuheben suchten. Es geht mithin also nicht nur um geographisches Wissen, sondern um dessen kulturelle Bedeutung bzw. Bedeutungszuschreibung. Der Zeitraum, denn wir nach wie vor etwas hilflos ›Mittelalter‹ nennen, das heißt eine Epoche zwischen zwei vermeintlich zentraleren, umfasst nach traditioneller Auffassung 1000 Jahre – es ist mir daher wichtig, kurz darauf hinzuweisen, dass dieses Jahrtausend von ca. 500 bis ca. 1500 sehr viel bunter und vielschichtiger ist, als die nun folgenden, zwangsläufig holzschnittartigen Ausführungen es schildern können. Es soll also Komplexität reduziert werden; wer deren Entfaltung sucht, sei auf das Buch von Klaus Oschema (Bilder von Europa im Mittelalter) sowie mein eigenes (Die Erdteile in der Weltordnung des Mittelalters) verwiesen.

1 Die Ordnung der Welt im Mittelalter Wenn es ein Medium gibt, das – damals wie heute – komprimiert und übersichtlich ein Bild der Welt vermittelt, dann sind dies Karten. Gleichzeitig ist die Wortprägung ›Weltbild‹ etwas irreführend, denn Karten bieten nicht ein (Ab-)Bild der Welt, wie sie ist, sondern sie sind ein durchdachtes Konstrukt, das spezifischen Prämissen folgt. Wenn wir uns eine aktuelle Weltkarte vorstellen, so ist diese genordet und zeigt Europa und Afrika mittig; Wasser ist blau dargestellt und zumeist werden in den Landmassen Nationalstaaten farbig voneinander getrennt. Es gäbe und gibt unzählige andere Möglichkeiten, die Erde darzustellen, aber dies ist unsere Ordnung der Welt – nicht nur ein Bild der Welt, sondern ein Abbild unserer gedanklichen Ordnungssysteme, mit denen wir die Welt erfassen und 216

Abb. 1: Die Ebstorfer Weltkarte (ca. 1300, Rekonstruktion)

dern. Auch das Mittelalter hatte selbstverständlich solche Ordnungssysteme – nur andere. Beispielhaft können diese Ordnungsvorstellungen an der wohl bekanntesten Weltkarte des europäischen Mittelalters aufgezeigt werden  – der Ebstorfer Weltkarte (Abb."1). Der Name verweist auf den Ursprungsort der Karte, das Kloster Ebstorf in der Lüneburger Heide, wo die Karte vermutlich um 1300 entstand. Sie besteht aus 30 aneinandergeklebte Pergamentstücke und hat einen Durchmesser von sagenhaften 3,5 Metern. Eine komprimierte Darstellung wie die Abbildung hier kann die tatsächliche Größe der Karte also nicht annähernd wiederge217

Abb. 2: Die Erdteile und Jerusalem auf der Ebstorfer Weltkarte (Hervorhebungen: CM )

ben. Das Original der Karte ist leider heute verloren – es verbrannte 1943 bei einem Bombenangriff auf Hannover. Da die Karte zuvor aber detailliert abfotografiert wurde, stehen uns heute noch gut brauchbare Rekonstruktionen zur Verfügung. An der Ebstorfer Weltkarte können exemplarisch einige Merkmale der mittelalterlichen Weltordnung aufgezeigt werden. Zunächst zur Ausrichtung: Die Karte ist  – anders als unsere heutigen Karten  – geostet. Asien liegt also oben, Europa befindet sich links unten. Der Verweis auf Asien und Europa zeigt, dass die Erdteile ein zentrales Gliede218

Abb. 3: TO -Diagramm, das geostet die drei Erdteile zeigt (Mitte 10. Jhd., London, British Library, Cotton Ms Domitian A.I, fol. 37r)

rungselement mittelalterlicher Karten waren  – die Ebstorfer Weltkarte benennt sie in großen Lettern. Der geographischen Tradition zufolge werden die Erdteile durch Gewässer getrennt, das Mittelmeer, der Don sowie der Nil (Abb."2). Hebt man diese Gewässer hervor, erkennt man eine strukturelle Grundform, die wir aus Hunderten kleinen Diagrammen aus dem Mittelalter kennen, dem sogenannten TO -Diagramm (Abb."3) Der Name verweist auf die Form des Diagramms: Ein O zeigt den die Welt umgebenden Ozean, das T teilt die Erde in drei Sektoren. Das Diagramm ist ebenfalls nach Osten ausgerichtet und stellt die drei dem Mittelalter bekannten Erdteile dar: Asien nimmt als größter Erdteil die östliche Hälfte der Welt ein, der Westen wird zu je einem Viertel von Europa und Afrika 219

gebildet. Die kleine, simple Zeichnung zeigt eindrucksvoll die Bedeutung, die den Erdteilen in der mittelalterlichen Weltordnung zukam – denn das Diagramm zeigt letztlich nichts anderes, als die Trias der Erdteile, die zusammengehörend die Welt bilden. Der Blick auf die Gewässerstruktur auf der Ebstorfer Weltkarte (Abb."2) lässt uns diese Ordnung nun auch auf dieser Karte erkennen, auch wenn sie aufgrund der zahllosen Details nicht sofort ins Auge fällt. Die Welt der Ebstorfer Karte ist eine christlich geprägte. Dies zeigt sich schon an der Ausrichtung nach Osten – bedingt ist dies durch die besondere Bedeutung, die dem Osten im Christentum zukommt: Im Osten geht die Sonne auf, die vor allem im frühen Christentum als Symbol Christi gedeutet wurde; im äußersten Osten liegt nach biblischer Überlieferung zudem das Paradies, das auch auf der Ebstorfer Karte ebendort prominent dargestellt ist. Während moderne Karten wegen des magnetischen Pols nach Norden ausgerichtet sind, wurden mittelalterliche Karten aus religiösen Gründen zumeist nach Osten ausgerichtet  – eine ferne Erinnerung an diese Weltordnung steckt heute noch im Wort ›Orientierung‹ (von lat. oriens = Osten). Zudem wird die Ebstorfer Karte von einer Christus-Figur gehalten bzw. gerahmt: Der Kopf ist im äußersten Osten zu sehen, die Füße im Westen, die Hände jeweils im Norden und Süden. Die Erde ist nach christlicher Vorstellung die Schöpfung Gottes und wird als solche von Christus gerahmt bzw. getragen. Im Zentrum der Karte – in der Mitte der Welt – liegt Jerusalem, die Stadt, in der wiederum nach biblischer Überlieferung Jesus gestorben ist und begraben wurde. Jerusalem war und ist für das Christentum die bedeutendste Stadt und war seit der Spätantike ein zentrales Ziel für Pilgerreisen. Diese Bedeutung der Stadt zeigt sich in der Karte durch die Zentrierung. 220

Die Ebstorfer Karte bietet unzählige weitere Darstellungen und Texte – sie umfasst ungefähr 1500 Inschriften und funktioniert letztlich wie eine Enzyklopädie: Sie zeigt und benennt zahllose Städte, berichtet über fremde Völker und ihre Gewohnheiten, sie zeigt Tiere und deren Besonderheiten, und sie stellt neben aktuellen Orten biblische Schauplätze (wie etwa den Turm von Babel oder die Arche Noah) ebenso dar, wie historische (wie die Orte, die Alexander der Große auf seinen Kriegszügen erreichte). Die Ebstorfer Weltkarte ist also weitaus mehr als eine Karte – sie zeigt nicht bloß geographische Details, sondern bildet Religion und (Heils-)Geschichte ab. Die Ordnung der Welt, welche die Ebstorfer Karte zeigt, ist grundverschieden von unserem Blick auf die Welt. Es ginge jedoch fehl, die Karte bloß als Sinnbild einer glaubensgefangenen Epoche zu sehen, die keine andere Perspektive als die der Religion besaß. Ebenso wäre es irreführend, die Karte als geographisch ungenau abzutun, nur weil sie unseren Ansprüchen an geographische Präzision nicht genügt. Während unsere modernen Karten auf die exakte Wiedergabe von Küstenlinien und Entfernungen zielen, haben Karten wie die Ebstorfer andere Intentionen: Sie stellen die Erde als Gesamtheit von Geographie, Geschichte und Religion dar; sie dienen als Wissensspeicher und laden zur Reflexion über die christliche Heilsgeschichte ein. Dass die Menschen um 1300 durchaus in der Lage waren, die Welt auch anders darzustellen, zeigt eine andere Karte, die grob aus derselben Zeit wie die Ebstorfer Weltkarte stammt. Es handelt sich dabei um eine Karte des Mittelmeerraums, die unseren Sehgewohnheiten viel nähersteht (Abb."4): Sie zeigt relativ präzise die Küstenlinien Europas und Nordafrikas und listet die dort liegenden Städte auf. 221

Abb. 4: Pisaner Portolankarte (ca. 1290, Paris, Bibliothèque nationale de France, Cartes et Plans Res. Ge B1118)

Solche Seekarten (›Portolane‹) kommen im späten 13. Jahrhundert auf und stellen die Welt auf eine ganz andere Art und Weise dar, weil sie Küstenverläufe und wichtige Hafenstädte in den Mittelpunkt rücken. Hier geht es nicht mehr um Religion und Heilsgeschichte, sondern eher um Orientierung im Raum (wobei die uns überlieferten Portolane keinerlei Gebrauchsspuren aufweisen). Vor diesem 222

Hintergrund ist die Anlage der Ebstorfer Weltkarte als eine bewusste Entscheidung zu sehen und nicht durch die Unfähigkeit begründet, die Welt geographisch präzise darzustellen. Ganz offenkundig war geographische Genauigkeit nicht das oberste Ziel mittelalterlicher Weltkarten.

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2 Der Platz Europas in der Welt Die Gliederung der Welt in Teile  – Kontinente  – ist für uns selbstverständlich. Zwar gehört es heute zum Allgemeinwissen, dass die Erde verschiedene Kontinente hat – aber was ist eigentlich ein Kontinent? Letztlich werden Kontinente als große Landmassen definiert, die von Wasser umgeben sind. Amerika, Australien, Afrika  – ganz augenscheinlich trifft die Definition hier zu. Aber Europa? Rein geographisch gesehen ist Europa ein kleines Anhängsel einer viel größeren Landmasse, weswegen Asien und Europa mitunter als Eurasien zusammengefasst werden. Und dennoch würde niemand bezweifeln, dass Europa ein eigenständiger Kontinent ist. Dies hat letztlich historische Gründe, keine geographischen. Die Idee, die Erde in mehrere große Teile zu gliedern entstammt der griechischen Antike und ist zuerst um ca. 500 v.#Chr. fassbar. Über römische Autoren wie Plinius, Pomponius Mela oder Sallust wurde diese Vorstellung an das Mittelalter überliefert, von Gelehrten adaptiert und schließlich auch kartographisch umgesetzt. Dies scheint uns selbstverständlich, ist es aber nicht. Es ist eine kulturelle Eigenart, die Erde in Teile zu gliedern. Insofern verwundert es nicht, dass arabisch-islamische Karten des Mittelalters die Erdteile nicht benennen, von chinesischen bzw. buddhistischen Karten ganz zu schweigen. Das ›Wissen‹, dass die Erde in Teile gegliedert ist, wurde erst durch christliche Missionare und Gelehrte in der Welt verbreitet und – mitunter zögerlich – aufgenommen: Wieso auch sollte sich ein Chinese in ›Asien‹ verorten? Mit dem hier bewusst in Anführungszeichen gesetzten Begriff des ›Wissens‹ ist ein wichtiges Merkmal angesprochen: Während antike Gelehrte noch über die Erdteilgliederung stritten (Herodot zum Beispiel war die ganze Idee suspekt, zumal 224

niemand wisse, wer diese Einteilung vorgenommen und die Teile nach drei Frauenfiguren benannt habe, so Herodot), wurden die überlieferten Informationen im Hochmittelalter zum gesicherten Wissen: Man schrieb nicht mehr, dass die Erde traditionell in drei Teile geteilt werde (und dass dies also ein menschengemachtes Modell war), sondern dass die Erde drei Teile habe (tres sunt partes mundi). Die lateinische Fügung partes mundi (›Teile der Erde‹) macht einen weiteren wichtigen Unterschied zu unserer heutigen Vorstellung deutlich: Während unsere Kontinente als voneinander getrennte Landmassen definiert werden, gehören die mittelalterlichen Erdteile zusammen: Als Trias bilden sie die bekannte Welt, und es ist vor allem ihre Zusammengehörigkeit, die von der Ebstorfer Weltkarte und den TO -Diagrammen eindrucksvoll dargestellt wird. Wenn es im folgenden zweiten Teil des Essays also um die Frage gehen soll, welchen Platz Europa in der Weltordnung des Mittelalters einnimmt, können wir das ganz wörtlich nehmen: Der Blick geht nun also konkret auf Europa als einen der drei dem Mittelalter bekannten Erdteile. Schon ein oberflächlicher Blick auf mittelalterliche Karten und Diagramme macht deutlich, dass Europa keineswegs eine herausragende Stellung einnahm, eher im Gegenteil. Asien war zweifellos größer  – und, da dort das Paradies und das Heilige Land verortet wurden, war es auch aus religiöser Sicht bedeutsamer. Entsprechend entwickelten christliche Autoren bereits im 5.  Jahrhundert eine feststehende Reihenfolge, in der die drei Erdteile genannt wurden: An erster Stelle stand immer Asien, dann folgte Europa und an letzter Stelle stand Afrika. Die Reihenfolge der Nennung war gleichzeitig eine Rangfolge: Asien galt als der größte, der wichtigste und der reichste Erdteil, Europa musste sich mit dem zweiten Rang begnügen, vor Afrika, das als von Wüsten und Hitze geprägt galt. 225

Dies ist tatsächlich bemerkenswert: Ethnologische Studien zeigen uns, dass die meisten Kulturen dazu neigen, sich selbst in der Mitte der Welt zu verorten, als Zentrum. Die Selbstsicht Chinas als ›Reich der Mitte‹ (Zhōngguó, 中國 / 中国) dürfte hier das bekannteste Beispiel sein: China dachte sich als im Zentrum der Welt liegend, womit gleichzeitig eine Verortung aller Kultur und Zivilisation in China einherging. Je weiter man an die Ränder der Welt kam, desto wilder und barbarischer ging es dort zu – dies war im Übrigen ein Grund, wieso es aus chinesischer Sicht gar nicht lohnte, dorthin zu expandieren. Auch die eingangs angesprochenen modernen Weltkarten zeigen, dass wir uns in Europa zumindest kartographisch in die Mitte der Welt stellen. Wenn wir diese Sicht nun auf die geographische Weltordnung des lateinisch-christlichen Mittelalters übertragen, so fällt die Selbstverortung Europas umso mehr auf: Europa lag nicht im Zentrum der Welt, sondern vielmehr am Rand, als ein Viertel der Welt. Bedingt war dies durch die Übernahme des jüdisch-christlichen Modells, das Jerusalem als Mittelpunkt der Welt sah. Die erfolgreiche Expansion des Christentums über den Nahen Osten hinaus bedingte also für die Christen im Norden eine periphere Stellung im eigenen Weltbild. Wie prägend diese Sicht war, kann an einer tatsächlich einzigartigen Karte gezeigt werden – einer Karte Europas, die der nordfranzösische Mönch Lambert von St. Omer um 1120 zeichnete (Abb."5). Die erste Besonderheit dieser Karte ist, dass sie nur Europa zeigt. Dies ist in der Tat hochgradig ungewöhnlich, denn wir kennen aus dem Mittelalter – immerhin eine Zeitspanne von 1000 Jahren – nur drei Karten, die nur Europa zeigen. Der Fokus mittelalterlicher Karten lag kaum je auf Europa, sondern vielmehr auf der gesamten Welt oder aber, wenn einzelne Regionen 226

Abb. 5: Die Europakarte Lamberts von St. Omer (ca. 1120, Gent, Universiteitsbibliotheek, Ms 92, fol. 241v)

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hervorgehoben wurden, auf dem Heiligen Land. Europa selbst wurde kaum je als einer eigenen Karte würdig befunden. Die zweite Besonderheit von Lamberts Karte ist die Form: Europa ist als ein Viertel eines Kreises dargestellt – hierauf weist auch die Überschrift der Karte hin: »Europa, der vierte Teil der Welt« (Europa mundi pars quarta). Lamberts Karte ist letztlich ein vergrößerter Ausschnitt aus den bereits besprochenen Weltkarten mit TO -Struktur. Es zeigt sich deutlich, dass Europa, selbst wenn es gesondert dargestellt wurde, letztlich nur als Teil der größeren Welt gedacht werden konnte. Auch der Europa-Karte Lamberts geht es nicht um geographische Präzision, sondern um den Schemacharakter Europas als Viertel der Welt. Weiten wir den Fokus von Karten auf Texte, ergibt sich ein komplexes Bild von zahllosen Autoren, die sich zwar einerseits durchaus mit Europa identifizierten (und etwa von »unserem Europa« sprachen), die aber gleichzeitig die periphere Lage und die geringe Größe Europas bemerkten. Dies kann an einem spezifischen Beispiel gezeigt werden, und zwar an einem Auszug aus der Chronik des englischen Geschichtsschreibers Wilhelm von Malmesbury, der zwischen 1120 und 1140 eine »Geschichte der englischen Könige« schrieb. Das Interesse Wilhelms aber ging über England hinaus, so interessierte er sich etwa für die Kreuzzüge im Heiligen Land und gab auch die Rede wieder, die Papst Urban II . 1095 in Clermont gehalten haben soll und die den Ersten Kreuzzug auslöste. Der Papst beklagte Wilhelm zufolge, dass sowohl Asien als auch Afrika früher christlich geprägt gewesen seien, nun aber (d.#h. 1095) von Muslimen erobert worden seien. Nach Asien und Afrika kommt er auf den letzten Erdteil, Europa, zu sprechen: »Es bleibt Europa, der dritte Teil der Erde – und was ist es doch für ein kleiner Teil, in dem wir Christen leben! […] 228

Dieser kleine Teil unserer Welt wird nunmehr von Türken und Sarazenen mit Krieg bedroht!« Es sind wohlgemerkt Wilhelms Worte, die er dem Papst in den Mund legt – nach allem, was wir wissen, hat Urban diese Worte 1095 nicht gesagt. Für unser Interesse an Europa ist diese Stelle – und sei sie auch eine Erfindung des englischen Chronisten – jedoch interessant: Europa wird als kleiner Teil der Welt (im lateinischen Original steht das hübsche Wort portiuncula) beschrieben, als letzter Hort der Christenheit. Dies ist keineswegs ein positives Bild, sondern ein äußerst prekäres: Asien und Afrika sind dem Christentum schon verloren gegangen, es bleibt nur noch das kleine Europa, das nun ebenfalls bedroht wird. Die bewusste Verzwergung Europas als portiuncula, als winziger Teil, hat hier einen propagandistischen Hintergrund, denn der Chronist möchte für weitere Kreuzzüge werben, das heißt für bewaffnete Kriegszüge nach Jerusalem. Aus seiner Perspektive waren diese legitime Rückeroberungen, da Asien und Afrika seiner Darstellung nach ja ehemals christliche Regionen waren. Europa wird also nicht im positiven Sinn als besonders christlicher Erdteil hervorgehoben, sondern das christliche Europa ist das Ergebnis einer dramatischen Verlustgeschichte, das nun durch Aggression nach außen korrigiert werden soll. Dass Europa bzw. das Christentum von außen bedroht wurde, behaupteten tatsächlich zahlreiche Quellen in verschiedenen Kontexten: Als in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Mongolen von Asien aus bis nach Ungarn und Polen vorstießen, befürchtete man ebenso eine Eroberung Europas wie im 15. Jahrhundert, als die Osmanen mehrere Male die Hauptstadt des byzantinischen Reichs, Konstantinopel (das heutige Istanbul), belagerten und die Stadt 1453 sogar einnahmen. Der damalige Papst, Pius II ., beklagte in langen Reden wortreich den Verlust dieser Stadt und die 229

damit einhergehende Bedrohung Europas, denn Konstantinopel liegt bekanntlich am Bosporus, der traditionellen Grenze Asiens zu Europa. Der rhetorisch gebildete Papst verband alarmistische Formeln (Europa als »Winkel« der Welt) geschickt mit identifikatorischen Motiven (Europa als patria, bzw. als »eigenes Haus« der Christen). Zur gefühlten Bedrohung Europas von außen kam noch ein zweiter, wichtiger Punkt: Ausgelöst durch das plötzliche Auftreten und ebenso schnelle Verschwinden der Mongolen, reisten seit Mitte des 13. Jahrhunderts zahlreiche Mönche und Händler nach Asien – um entweder die Chancen für eine christliche Missionierung auszuloten, oder aber um Handel zu treiben. Der Venezianer Marco Polo ist wohl der bekannteste dieser Reisenden: Er verbrachte zwischen 1271 und 1291 insgesamt 20 Jahre im chinesischen Reich der Yuan-Dynastie. Der Bericht seiner Erlebnisse wurde schon im Mittelalter zum Bestseller – die Menschen waren fasziniert von seinen Beschreibungen ferner Länder, begegneten diesen aber mitunter auch mit Unglauben. Zu wundersam, zu überwältigend schien ihnen das, was Marco Polo zu berichten hatte: Das mongolische Post- und Botensystem etwa, das es Reitern ermöglichte, alle paar Kilometer ihre Pferde zu wechseln, oder die seltsame Angewohnheit der Chinesen, mit Papiergeld zu bezahlen. Auch die scheinbar grenzenlose Macht des mongolischen Khans wurde wortreich beschrieben. Besonders aber erstaunte die Beobachter die Größe der chinesischen Städte, deren dichte Besiedlung ebenso hervorgehoben wurde wie die zu diesem Zeitpunkt in Europa nur aus der Antike bekannten Steinbrücken. Mittelalterliche Handschriften des Werks von Marco Polo widmen diesen Phänomenen eigene Bilder und heben sie damit besonders hervor. Die Berichte Marco Polos und anderer Reisender machten deutlich, dass im äußersten Osten der Welt ein 230

Abb. 6: Die Weltkarte Fra Mauros (1459, Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, Inv. 106173) (Hervorhebungen: CM )

Reich lag, das den Reichen und Städten Europas in vielen Belangen schlicht überlegen, ja, das zivilisierter war. Niederschlag fand dieses Wissen auf einer Weltkarte aus dem Jahr 1460, die der venezianische Mönch und Kartograph Fra Mauro anfertigte. Diese Karte ist (bedingt durch arabischen Einfluss) gesüdet, Afrika befindet sich also rechts oben und Europa rechts unten (Abb."6). Wenn man nun versucht, die klassische TO -Struktur mittelalterlicher Weltkarten auf diese Karte zu übertragen, erkennt man schnell, dass Europas Anteil an der Welt geschrumpft ist zugunsten 231

Afrikas und Asiens. In China finden sich einige architektonisch beeindruckende Stadtdarstellungen, in denen sogar die Steinbrücken erkennbar sind, die Marco Polo so fasziniert hatten. In einer Legende auf der Karte erklärte Fra Mauro ausdrücklich, dass er diese Darstellungsart gewählt habe, um die »Größe und Würde« der chinesischen Städte deutlich zu machen. Falsch lag er damit nicht: Man schätzt, dass die chinesische Stadt Hangzhou  (bei Marco Polo Quinsai) um 1400 ca.  1,5 Millionen Einwohner hatte  – und damit die größte Stadt der Welt war. Die größten europäischen Städte zu dieser Zeit waren Mailand und Paris und kamen auf etwa 100#000 Einwohner; in Deutschland war Köln mit ca. 40#000 Bewohnern die größte Stadt. Kein Wunder also, dass die europäischen Besucher Chinas staunten …

3 Behauptungsstrategien Europas in einer größer werdenden Welt Was aber war mit Europa? Die angesprochene festgelegte Reihen- und Rangfolge, in der die Erdteile im Mittelalter genannt wurden (Asien, Europa, Afrika) machte deutlich, dass Asien klar der Vorrang zustand: In Größe, (religiöser) Bedeutung und Reichtum, seit dem 13.  Jahrhundert auch in Macht und Zivilisation war Asien Europa und Afrika voraus. Auf der einen Seite war man in Europa von Asien fasziniert, auf der anderen Seite schüchterte dessen Größe und die tatsächliche wie imaginierte Machtfülle dortiger Herrscher jedoch auch ein. Und für christliche Beobachter noch gravierender: Man hatte lernen müssen, dass nur ein kleiner Teil der Menschheit Christen waren. Angesichts dieser deprimierenden Perspektive regten 232

sich im Spätmittelalter einzelne Stimmen, die versuchten, die Stellung Europas explizit positiv hervorzuheben – man wollte sich auf globaler Ebene behaupten. Nur wie? Da man in vielen Bereichen offenkundig nicht mit Asien konkurrieren konnte, suchte man sich – mehr oder weniger gezielt – andere Vergleichsmomente, bei denen Europa besser abschnitt. Es stand außer Zweifel, dass die chinesischen Städte insgesamt größer waren als jede europäische Siedlung – aber im Vergleich ganz Asiens, das ja auch die mongolischen Steppen umfasste, mit Europa betonten mehrere Beobachter, dass Asien zwar größer, Europa aber dichter besiedelt war – und dies war ausdrücklich positiv gemeint. Der venezianische Kartograph Fra Mauro etwa thematisierte dies auf seiner Karte (Abb."6) mit Blick auf die Stadt Jerusalem: Diese galt traditionell als der Mittelpunkt der Welt, war auf seiner Karte jedoch aufgrund der Größe Asiens aus dem Zentrum nach Westen gerückt. Dazu schrieb Fra Mauro, dass Jerusalem nach wie vor die Mitte der Welt bilde, allerdings nicht geographisch, sehr wohl aber, wenn man die Bevölkerungsverteilung zugrunde lege. Weil Europa viel dichter besiedelt sei als Asien, bilde das auf seiner Karte nach Westen gerückte Jerusalem die Mitte der Menschheit. Ganz ähnlich fasste dies einige Jahrzehnte zuvor Johannes von Cori, der 1377 zum Bischof von Sultaniya im heutigen Iran ernannt wurde. Er schrieb: »Wenn es aber um den Raum geht, stelle ich wahrhaftig fest, dass man [in Asien] teils 30 Tage unterwegs sein kann, ohne eine Stadt zu sehen. Man muss dort also für mehrere Tage Proviant mitnehmen […]. Anders aber ist es bei den Christen in Europa, das so bevölkert ist, dass man täglich eine neue Stadt findet, wo man sich versorgen kann.« Die Dichte der Besiedlung wurde also zum positiven 233

Merkmal Europas – ebenso wie die Schönheit. Diese betonte etwa um 1330 der Dominikaner Jordanus Catalanus de Severac, der in den Jahren zuvor Indien bereist hatte. Er notierte, er habe »ein für alle Mal beschlossen, dass es kein besseres Land, kein schöneres, tüchtigeres Volk, kein besseres Essen und keine weiseren, angenehmeren und tugendhafteren Menschen gibt, als hier in unserer Christenheit«. Ein letztes Beispiel für dieses Argumentationsmuster mag genügen. Es stammt aus der Feder des englischen Gelehrten Bartholomäus Anglicus, der um 1235 eine Enzyklopädie verfasste. Mit Blick auf Europa notierte er: »Dieser Teil – wenn auch kleiner als Asien –, ist doch dichter bevölkert und die Menschen […] haben einen besseren Körperbau, sind stärker und von tapferer Mentalität und überhaupt schöner, als die in Asien und Afrika.« Um Europa gegenüber dem größeren, reicheren und bedeutsameren Asien zu behaupten, wichen lateinischchristliche Autoren also auf Kriterien aus, bei denen sie Europa vorn sahen. Diese Stimmen legen Zeugnis davon ab, dass ›Europa‹ zu einer Kategorie geworden war, die nicht nur einen geographisch abstrakten Raum benannte, sondern einen Erdteil, in dem man sich selbst verortete, den man als den ›eigenen‹ in Anspruch nahm und den man auf globaler Ebene nicht auf einem abgeschlagenen zweiten Platz wissen wollte.

4 Fazit, oder: wieso das Mittelalter nicht eurozentrisch war In der Weltordnung des Mittelalters war Europa nur ein kleiner Teil der Welt, zudem am wenig vorteilhaften nordwestlichen Rand gelegen. In der Rangordnung der drei bekannten Erdteile musste Europa sich Asien geschlagen 234

geben, das größer, religiös bedeutsamer, reicher und in vielen Fällen auch zivilisatorisch überlegen war – und dies ist nicht die Analyse eines Historikers aus dem 21. Jahrhundert, sondern die von zahlreichen mittelalterlichen Beobachtern und Reisenden. Sie selbst verorteten ›ihr Europa‹ am Rand der Welt, fernab des Zentrums. Tatsächlich war Europa als einer der Erdteile ein zentraler Begriff zur Ordnung der Welt, aber die Menschen haben sich zu jener Zeit noch kaum als ›Europäer‹ gefühlt  – dieser Begriff ist im Mittelalter so gut wie unbekannt. Als Identifikationsmodell überwog die Großkategorie des Christentums. Dennoch wollte man vor allem ab der Mitte des 13. Jahrhunderts ›Europa‹ als geographischen Raum hervorheben und seinen Status gegenüber der Übermacht Asiens behaupten. Man wich dafür auf Kategorien aus, in denen man Europa überlegen glaubte: Es war dichter besiedelt und schöner, und überhaupt seien die Menschen Europas stärker, tapferer und ansehnlicher – so einige Stimmen. Trotz dieser Stimmen wusste man im Mittelalter um Europas nachrangigen Platz in der Welt – ein Eurozentrismus, also eine Sicht, die vor allem auf Europa blickt und dessen Maßstäbe absolut setzt, ist nicht zu erkennen, obwohl man sich zu behaupten suchte. Die Stellung Europas, vor allem auch die des Christentums in Europa, wurde vielmehr als prekär angesehen. Karten, die nur Europa zeigen und ins Zentrum setzen, gibt es kaum. Ein Bruch dieser Weltordnung ist erst nach 1500 erkennbar, als mit Amerika ein neuer Erdteil die alte Trias sprengte. Ein kolorierter Holzschnitt von Heinrich Bünting aus dem Jahr 1581 kann diese Umbruchssituation illustrieren (Abb."7): Zur Trias der drei bekannten Erdteile (mit Jerusalem als Zentrum) gesellt sich nun, noch ganz am Rand »America. Die neue Welt«. Während man im Mittelalter zuerst Asien und dann Europa und Afrika als Erdteile 235

Abb. 7: Die Welt als Kleeblatt (Heinrichs Bünting, 1581)

listete, nutzten europäische Autoren im 16.  Jahrhundert den Umbruch zur Viererordnung für eine signifikante Änderung: Von nun an wurde Europa an erster Stelle genannt.

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Mitschrift der Debatte

Diskussion nach Nicolas Deterings Vortrag

Christoph Mauntel (Herzlichen Dank für den Vortrag. Mir kommen sofort zahlreiche Assoziationen, wie Mittelalter und Neuzeit hier verbunden werden können. Ich möchte aber mit einem einfachen Eindruck dessen beginnen, was du uns vorgeführt hast: Europa soll eine Einheit sein; sei es als Körper, der nicht zerrissen werden kann oder der zusammengehört, weil er sonst nicht funktioniert (das ist ja auch eine ganz alte Metapher); sei es als Herrschaftsbereich (was dann die Aufgabe der Habsburger wäre); sei es als religiöser Raum, der sozusagen einheitlich christlich ist und ebenfalls nicht zerrissen werden darf. Daraus ergibt sich die einfache Frage, ob mein Eindruck, dass es hier ganz stark um Europa als Einheit geht, richtig ist und ob das auch in Texten explizit gemacht wird? Formulieren die Zeitgenossen eine drohende Spaltung Europas, eine Zersplitterung der Herrschaft, die aber auf keinen Fall wünschenswert ist? Nicolas Detering (Ja, das würde ich so sagen. Das Argument lautet immer: Europa ist zerstritten, müsste aber eine Einheit bilden. Und literarische Texte sowie kartographische Imaginationen sollen einen Beitrag zur Einheitsstiftung leisten, dieser Appell ist immer da. Es wird nur später, im 17. Jahrhundert, wenn es an die konkretere Ausgestaltung geht, zur Frage: Was heißt denn jetzt eigentlich Einheit? Ist das eine Einheit unter einer 237

chie? Das lehnt man im 17.  Jahrhundert fast unisono ab. Und auch im literarischen Diskurs erteilt man diesem Gedanken eine Absage. Oder soll Europa eine Konföderation bilden? Und welche Modelle gibt es dafür? Und diese Frage ist auch wieder politisch gefärbt. Es ist natürlich im Interesse eines habsburgischen Kaisers, Frieden und Einheit zu stiften, aber eben unter Wahrung oder Erweiterung seines Herrschaftsbereichs.

Christoph Mauntel (Dies finde ich vor allem insofern spannend, als dass es im Mittelalter die Vorstellung gibt, dass man den einen Herrscher über Europa – wie es dann sozusagen in der Neuzeit beinahe der Fall ist  – auf keinen Fall möchte. Eine einheitliche Beherrschung Europas ist das Schreckensbild, das man den Osmanen als Ziel zuschreibt: Sie wollten Europa erobern und der Sultan wolle sich zum imperator europae aufschwingen  – und das will man auf keinen Fall. Und man hält dieser Einpersonenherrschaft die Vielfalt europäischer Reiche entgegen, die dann zu einem Definitionskriterium wird: Europa ist kein einheitlicher Herrschaftsbereich, sondern besteht aus der Vielfalt der Reiche. Mein Eindruck ist, dass dies in der Neuzeit mit dem Riesenreich der Habsburger bricht, da womöglich die Habsburger aufgrund ihrer Macht auch ihren Herrschaftsanspruch erhöhen. Daraus ergibt sich für mich die Frage, ob die Habsburger den Europa-Begriff für sich nutzen? Es gibt ja die bekannte Wendung des Reichs, in dem die Sonne nicht untergeht  – aber dies hat ja eine größere, ja globale Reichweite. Ist der Europa-Begriff für die Habsburger wichtig? Nicolas Detering (Ja, das ist er. Vermittler wie Putsch, der direkten Kontakt zu Ferdinand pflegt, nutzen das Europa-Bild, um für die Habsburger zu werben. Für die 238

Habsburger ist der Europa-Bezug eine wesentliche Herrschaftskategorie. Was die Vielfalt betrifft, gibt es verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten, zum Beispiel die Völkertafeln. Dort greift man auf einen Klischeehaushalt zurück, um die verschiedenen europäischen Völker voneinander zu unterscheiden. Die Spanier seien hitzköpfig, die Deutschen versoffen und so weiter. Und damit versucht man, so etwas wie Pluralität zu evozieren, und zwar der Völker, nicht nur der Herrschaften. Zugleich diagnostiziert man stets, dass die Streitigkeiten, die dann losbrechen – mal religiöse, mal politische –, ein massives Problem darstellen.

Christoph Mauntel (Zu diesem berühmten Holzschnitt von Putsch, der »Königin Europa«, hätte ich eine weitere Frage. Mir schwebt da immer ein klein wenig eine Schulbuchdeutung vor Augen, die besagt, Europa erhebe sich hier als Königin über die Welt, obwohl diese natürlich auf dem Holzschnitt gar nicht dargestellt ist. Nun gibt es sozusagen einen Wiedergänger dieser Darstellung aus dem Jahr 2021. Dieses Bildmotiv scheint eine enorme Faszination auszuüben und uns gar nicht mehr loszulassen. Das Motiv war schon in seiner Zeit enorm erfolgreich und es strahlt bis heute. Und es bekommt ganz unterschiedliche Bedeutungen. Woran liegt das eigentlich? Und ist es vielleicht ein später Misserfolg von Putsch selbst, dass er sich mit seiner Deutung nicht durchgesetzt hat oder gar nicht so sehr gehört wurde, weil man das erklärende Gedicht womöglich weggelassen hat und sich das Bild damit verselbstständigt hat. Woran liegt das, dass dieses Motiv so einschlägt, schon in seiner Zeit und dann aber auch bis heute? Und vielleicht mit der Seitenfrage: War die Deutung des Motivs im 16.  Jahrhundert einheitlicher, sodass man Europa als einheitlichen Herrschaftsraum im Sinne der Habsburger oder aber Frankreichs sah? 239

Nicolas Detering (Ich würde eine eher subjektive Antwort darauf geben, weshalb das Bild von Europa als weiblicher Körper über so viele Jahrhunderte erfolgreich war: Meines Erachtens hat das Bild eine gewisse Evidenz. Man kann sich Europa gut so vorstellen. In der Frühen Neuzeit scheinen jedenfalls die Topographen, Kosmographen und so weiter für sich das Gefühl gehabt zu haben, dass es didaktisch geeignet sei. Auf der anderen Seite gibt es alternative Personifikationen, die sich nicht durchgesetzt haben, darunter diejenige von Asien als Kleeblatt. Bei Europa kommt aber die weibliche Gestalt hinzu. Über sie kann man den Mythos und den Kontinent in eins setzen und findet eine Identifikationsfigur, an die man allerlei Geschlechtsklischees binden kann, Verführung, Schutzbedürftigkeit usw. Aber letztlich ist nicht ganz klar, woher die Faszinationskraft über so viele Jahrhunderte rührt. Brentano sieht das Bild irgendwo als Kind, vielleicht in einem Schulbuch, und hat es später noch vor Augen. Publikum (Was mich bei Ihrer beider Vorträge fasziniert hat, ist genau die Nahtstelle zwischen Ihren Vorträgen. Mir war überhaupt nicht so klar, obwohl ich einige der frühen mittelalterlichen Karten auch kannte, dass die frühesten Karten Europas nicht europazentriert waren. Sondern geradezu unterstrichen haben, dass Europa der kleinste Teil der bekannten Erdteile ist und dass an der Schnittstelle aller Erdteile Jerusalem liegt und dass dann erstaunlicherweise mit dem Reich der nie untergehenden Sonne, was ja eigentlich christlich mitgedacht war  – plötzlich das Zentrum total verrutscht ist. Wo ich mich frage: Wie kann das sein, wenn ein allerchristlichster Herrscher, Karl  V., das Zentrum der Christenheit verlegt hat in die Nähe seines Madrids. Was ist da passiert? Ein Verlust des Geschichtsbewusstseins? Ein Verlust der religiösen Verortung? Die 240

Selbsterhebung zum allerchristlichsten quasi Potentaten und damit Jerusalem verschattet? Also, eigentlich ein Verrat an der allerchristlichsten Tradition, in der er sich aber erhaben sieht.

Christoph Mauntel (Ich denke, diese Beobachtung ist richtig. Womöglich steht auch ein visueller Trick dahinter, weil in dem Moment, in dem man den Ausschnitt, den man kartographiert auf einen bestimmten Raum schrumpft, bildet man Jerusalem gar nicht mehr ab – und das schafft Platz für ein neues Zentrum. Wenn Sie Karl  V. gefragt hätten, hätte dieser wahrscheinlich niemals bestritten, dass Jerusalem die religiös bedeutendste Stadt ist. Das ist die Rhetorik der Kreuzzüge, auch noch um das Jahr 1500. Jede praktische Rückeroberung dieser Stadt hat man aber aufgegeben. Die Fokusverschiebung auf Europa macht es nun möglich, neue geographische Deutungen und Zentren zu finden, es werden nun Orte wichtig. Das eigentlich Spannende ist ja, dass in dem Moment, wo Spanien bzw. das Habsburgerreich christlich aufgeladen werden, auch die Stellung Roms als Sitz des Papstes ein bisschen geschmälert wird, ebenso wie die Stellung Jerusalems. Immerhin wird Rom aber noch abgebildet, während Jerusalem aus dem Kartenbild fällt und man sich so einer Aussage dazu enthalten kann. Publikum (Was meinen Sie, Herr Detering, zu dieser Problematik. Denn es geschehen ja zeitgleich zwei Dinge: Es tritt die Reformation auf den Plan – hat die ihren Beitrag dazu geleistet, dass Jerusalem an den Rand geschoben wird? Oder war es die Entdeckung Amerikas? Nicolas Detering (Die Reformation hat sicher dazu geführt, dass die Frage der Einheit der Christenheit wieder sehr dringlich wurde. In den Reformationskriegen muss 241

man sich zunächst einmal auf Europa konzentrieren, weil das der Brennpunkt war. In diesen Medienkämpfen rückt gewisserweise Jerusalem aus dem Blickfeld. Und man könnte Karl V. und seine Europa-Politik schon so verstehen, dass er die Rettung des Christentums als Einheit im Blick hatte – gegen die Reformation, als Überwindung der Spaltung. Zugleich bedeutet die Reformation eine Medienrevolution, die es ermöglicht, auch die neuen Europa-Bilder zu reproduzieren. Allein von dem Putschschnitt gibt es verschiedene Drucke, und über gedruckte Bücher wie die Kosmographie Münsters konnte sich das Bild sehr stark reproduzieren.

Publikum (Mich hat sehr beeindruckt, dass die mittelalterlichen Karten sehr bunt sind. Was Sie wenigstens für die Zeit nach 1500 gezeigt haben, ist nicht mehr so farbig. Und das ist vielleicht nicht nur ein Detail, sondern auch das Zeichen einer gewissen Entwicklung. Ich denke zum Beispiel an die Reiseberichte insbesondere nach Jerusalem und zurück, so an die von Breydenbach oder Felix Fabri. Was also sagen die, wenn sie zurück aus Jerusalem kommen oder aus dem Heiligen Land? Die sagen: Europa ist ein buntes Land, eine Mischung aus verschiedenen Klimarichtungen, manchmal ist es grau, plötzlich ist es blau. Es ist so eine Mischung aus allem. Also eine erste Bemerkung zur Farbe, vielleicht können Sie dazu beide ergänzend etwas sagen. Auch mich lässt die Frage nach einer Zivilisation nicht los, die sagt: Mein Zentrum ist nicht hier, sondern da, in Jerusalem. Ein Zentrum, das geographisch gesehen kein Zentrum ist, zudem die meiste Zeit weder jüdisch noch christlich, sondern eher arabisch ist. Das führt dazu, dass man permanent in dieses außerhalb von mir stehende Zentrum reisen muss. Man muss permanent zwischen außen und innen unterscheiden, und wenn ein Zentrum in 242

der Peripherie ist, gibt es ein Problem zwischen Peripherie und Zentrum. Gewissermaßen stehen wir wie vor 1000 Jahren vor der gleichen Frage: Gehören Russland und die Türkei zu Europa oder nicht. Im 16. Jahrhundert findet man keinen Text, glaube ich, der in seinem Titel – Amerika oder Afrika – das Wort Entdeckung oder découverte oder inventio trägt. Man spricht vielmehr von Kosmographie, von Reisebericht oder was weiß ich noch. Welche kartographischen Konsequenzen hat dann dieses Phänomen, das von Europa die Welt enthüllt oder entdeckt wird? Kann man das kartographisch irgendwie situieren und irgendwie eruieren? Zuletzt noch etwas zur dreiteiligen Darstellung der Welt. Diese Dreiteiligkeit kommt ja nicht allein, danach kamen die drei Könige, auch durch Farben (schwarz, weiß, gelb) unterschieden, die drei Alter der Welt, die drei Temperamente usw. Und jedes Mal ist Europa nicht in der Peripherie verortet, sondern in der Mitte. Diese Mittelmäßigkeit ist vielleicht letzten Endes eine der Kerndefinitionen und vielleicht ist diese Mittelmäßigkeit der Grund dafür, dass man sich bedroht fühlt und dieses letzten Endes das Motiv für die Eroberung der Welt war. Dieser Erdteil fühlt sich permanent bedroht und erobert dann in drei, vier Jahrhunderten die ganze Welt. Dieses Paradox ist also kartographisch schon dargestellt und somit stoßen wir auf eine der unangenehmen Kerndefinitionen von Europa.

Nicolas Detering (Ich kann gar nicht alle Ihre Aspekte aufgreifen. Aber vielleicht kurz zur Farbe der Abbildungen. Das fällt jetzt natürlich besonders in der Gegenüberstellung auf. Die Kolorierung von Handschriften und Drucken war teuer, sodass Farbe in der Frühen Neuzeit immer auch Exklusivität bedeutet. Vielleicht lässt die Farblosigkeit meiner Abbildungen darauf schließen, dass 243

sich die Leserschaft im 16. und 17. Jahrhundert bereits erweitert hat, weil auch günstigere Drucke zu Europa verbreitet waren. Die Humanisten lesen sehr breit, übersetzen die geographischen Texte und bringen damit auch die kartographischen Abbildungen in Umlauf. Durch die günstigeren Schwarz-Weiß-Abbildungen wird es leichter, ein Wissen über Europa zu popularisieren, bis es europaweit zirkuliert.

Christoph Mauntel (Was die Farbigkeit von Karten angeht, ist die Möglichkeit, Karten zu drucken ein entscheidender Moment: Man druckt schwarz-weiß. Zwar kann man Karten händisch nachkolorieren, aber das ist dann aufwendig und teurer. Im Gegensatz dazu muss man sich klar vor Augen führen, dass jede Karte vor dem Druckzeitalter handgemacht und damit ein Unikat ist. Natürlich hätte ich Ihnen heute Abend auch eine Auswahl eher grob dahingekritzelter, schiefer und krummer Kartenskizzen zeigen können  – und vielleicht wäre es einmal gut und sinnvoll, diese Karten mehr zu beachten. Aber der Reiz der Ästhetik ist ja da und hat womöglich auch meine Quellenauswahl gelenkt. Im Mittelalter findet man also beides, einfache Varianten, die nüchtern daherkommen, und Prachtexemplare, die natürlich in den Abbildungen präsenter sind, weil sie ästhetischer, schöner sind. Nicolas Detering (Es ist ein interessanter Gedanke, dass der Eurozentrismus eigentlich eine Implikation der Mittelmäßigkeit hat, wenn man so will. Die Mittelstellung bedeutet dann auch, dass alles andere exotisch erscheint – das völlig Außergewöhnliche, das ganz Seltsame und so weiter. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, würden Sie sagen, daraus folgt dann immer ein Wechsel aus 244

hungsgefühl und Aggression. Das leuchtet mir ein, zumindest für diese Zeit.

Christoph Mauntel (Die Frage der ›Entdeckung‹ wurde ja breit diskutiert. Natürlich wollte Kolumbus gar nichts entdecken, er wollte ja nach China bzw. Indien, wo er dann allerdings nicht ankommt, weil da noch eine Landmasse im Weg liegt. Meine Studierenden in Tübingen haben mich in diesem Semester, als wir auch das Bordbuch von Christoph Kolumbus gelesen haben, auf eine wichtige Stelle aufmerksam gemacht: An einer Stelle, ganz am Anfang, schreibt er, dass ihm als von der Königin ernannten Admiral und Vizekönig alle Gebiete gehören sollen, die er entdeckt und erkundet. Ganz offen gesagt: Ich verstehe diese Stelle noch nicht ganz. Erobern kann er Gebiete in Asien natürlich, aber das Entdecken ist womöglich dann ein anderer Begriff als der, den wir vor Augen haben. Es geht vielleicht weniger um weiße Flecken auf der Landkarte, die es aus mittelalterlicher Sicht ja gar nicht gibt, sondern schlicht um eine Einnahme, eine Eroberung von Inseln, die vielleicht schon jemandem gehören. Aber diese Idee, Land in Besitz zu nehmen, wenn man das so übersetzen kann, scheint mir die entscheidende zu sein. Kolumbus folgt ja eigentlich nicht dem Impuls des Entdeckens. Die Frage, wie man ›Entdeckungen‹ dann kartographiert, ist tatsächlich äußerst spannend. Der genuesische Kartograph Battista Agnese stellte im 16. Jahrhundert eine Weltkarte her, auf der die Route der ersten Weltumsegelung eingetragen ist. Das scheint mir das zu sein, was diese Karte eigentlich zeigen will: Hier wird Entdeckung visualisiert, weil eine nennenswerte nautische Leistung vollbracht wurde, die nun ihre Würdigung in der Kartographie findet. Das scheint mir nicht nur eine geographische Information zu sein, sondern diese Karte ist eigentlich nur eine Folie dafür, 245

eine spezifische Leistung zu zeigen: dass man die Möglichkeit hat, die Welt tatsächlich in einem Zug zu umrunden. Wie das Mittelalter Entdeckungen visualisiert hat, ist eine Frage, über die ich länger nachdenken müsste, das scheint mir nicht leicht beantwortbar.

Zwischendiskussion nach Mauntel-Vortrag

Nicolas Detering (Herzlichen Dank, Christoph, für den Vortrag. Auch in meinem Teil werde ich auf die Genese des Eurozentrismus eingehen, die du im Ausblick angedeutet hast. Du hast uns gezeigt, dass es im Mittelalter eigentlich keine eurozentrische Kartographie gibt, sondern das Zentrum ist die christianitas. Es handelt sich also um eine Art von Christozentrismus. Daher wäre meine Frage: Wie geht man im Mittelalter damit um, dass der größte Teil der Welt nicht christlich ist? Das ist ja auch eine Fremdheit, aber nicht unbedingt die Fremdheit der Wilden oder der ›Barbaren‹, sondern eben der Nichtchristen, die auch Teile Europas kennzeichnet. Christoph Mauntel(Das ist tatsächlich eine spannende Frage, die einen wichtigen Punkt trifft. Es gibt zahlreiche Karten, die ich im Vortrag außen vor gelassen habe, die für dieses Thema aber spannend wären. Da wäre z.#B. Andreas Walsperger, der 1448 auf seiner Karte Städte mit schwarzen und roten Punkten markiert und in einer Legende erklärt, rote Punkte würden christliche Städte zeigen, und schwarze Punkte nichtchristliche. Schaut man sich die Verteilung dieser Markierungen an, erkennt man, dass ›Europa‹ als einheitlich christlich gedacht wird, dass Walsperger aber auch sehr wohl weiß, dass es in Indien Christen gibt – wo eben rote Städte-Punkte zu finden sind. Der Rest der Welt aber 246

ist durch schwarze Punkte als nichtchristlich markiert. Die Weltkarte von Walsperger ist tatsächlich eine der wenigen Karten, die Religionszugehörigkeiten so eindrücklich kartographiert. Der allgemeine Eindruck ist der, dass die Nichtchristen auf der Welt natürlich überwiegen. Ein Deutungsangebot hierfür bietet die Karte selbst allerdings nicht an. Hier ergibt sich dann die (unlösbare) Frage, ob Walsperger implizit einen Auftrag sah, diese Religionsverteilung zu ändern. Ich persönlich würde einen solchen nicht sehen, weil dafür ein begleitender Rahmen fehlt, den ganz viele andere Texte und Karten aufweisen, indem sie etwa explizit für Kreuzzüge oder für verstärkte Christianisierungsbemühungen werben. Das tut diese Karte nicht. Andere Karten lassen im Spätmittelalter »wilde Völker«, die als Menschenfresser dargestellt sind oder generell seltsame Sitten und Gewohnheiten haben, sehr nah an die Grenzen Europas heranrücken. Dies wird allgemein tatsächlich als eine kartographische Umsetzung einer Bedrohungslage Europas gesehen, die aber nicht offensiv religiös markiert ist. Dies wäre dann eher kulturelle Fremdheit, nicht religiöse Alterität.

Nicolas Detering (In der Renaissance und danach begründet man die Vorrangstellung Europas oft mit dem Christentum. Ich hatte den Eindruck, dass es im Mittelalter umgekehrt sein könnte. Dass Europa nicht der beste Teil der Erde ist, wird damit begründet, dass das Christentum woanders, außerhalb Europas, entstanden ist. Wo siehst du die Gründe für diese nichteurozentrische Hierarchie? Christoph Mauntel (Wenn man es plakativ sagen möchte, ist diese Perspektive in biblisch-historischem Wissen verankert. Man weiß schlicht, dass das Christentum seine Ursprünge nicht in Europa hat. Zwar gehört es auch zum mittelalterlichen Wissenshorizont, Rom als bedeutendste 247

Stadt Europas und Sitz des Papsttums zu kennen, aber es gibt zahlreiche Texte, die eben sehr genau festhalten, dass die Wiege des Christentums in Asien  – und dieses Wort taucht dann tatsächlich auf – liegt und dass Europa in frühchristlicher Zeit von Asien aus missioniert wurde. Man ist sich dieses Umstands bewusst und akzeptiert ihn. Dazu kommt das eher geographische Wissen darum, dass Asien doppelt so groß wie Europa (oder Afrika) ist und zudem im Osten der Welt liegt – beides zementiert den Vorrang Asiens in der Ordnung der Welt. Mein Eindruck ist, dass sich das erst im 15. Jahrhundert dreht. Wichtig ist hier die gefühlte Bedrohung durch die Osmanen bzw. die Einnahme von Konstantinopel 1453, womit heftiges Werben für eine christliche Gegenreaktion einsetzt. Zwar sind diese Versuche (zumindest auf politischer Ebene) erfolglos, aber rhetorisch eben sehr gewandt und stilbildend. Papst Pius II . sprach etwa vom »Haus Europa« und wollte damit die christlichen Fürsten zu einer Reaktion veranlassen, Konstantinopel zurückzuerobern. In dieser Rhetorik wird die christliche Stellung Europas, die ja eigentlich eine prekäre ist, zu einem positiven Auftrag: Vom christlichen Europa aus soll oder muss eine Erneuerung ausgehen. Mit Blick auf die Neuzeit bin ich als Mediävist zurückhaltend, aber mein Eindruck ist, dass dies eine Linie ist, die dann zu einer besonderen, besseren Stellung Europas in der Weltordnung der Neuzeit führt. Ein zweiter wichtiger Punkt ist zweifellos die ›Entdeckung Amerikas‹, dessen Diskussion im 16. Jahrhundert die alte Weltordnung des Mittelalters ins Wanken bringt.

Nicolas Detering (Seit der Antike gibt es den Topos: Europa ist der kleinste, aber beste Teil der Erde. So sagt man meines Wissens schon in der antiken Geographie. Wie bekannt ist das im Mittelalter? Geht das verloren? Oder 248

versucht man den Topos, wie du angedeutet hast, auf die Besiedlungsdichte zu transferieren?

Christoph Mauntel (Das ist wiederum ein ganz spannender Punkt, weil letztlich bis ins 13.  Jahrhundert der Großteil des geographischen Wissens des Mittelalters aus antiken Quellen stammt. Plinius schrieb tatsächlich im ersten Jahrhundert n.#Chr., dass Europa ein besonders schöner Erdteil sei. Soweit ich weiß, wurde das im Mittelalter aber nicht allzu stark rezipiert, obwohl das ja eine gute Vorlage gewesen wäre, Europa hervorzuheben. Man suchte sich offenbar tatsächlich neue Bereiche des Vergleichs, so etwa die Bevölkerungsdichte, die in der Antike als Argument nicht auftaucht. Kurzum: Man geht kreativ mit dem überlieferten Wissen um und entwickelt dies nach den eigenen Bedürfnissen weiter. Nicolas Detering (Es war mir neu, dass man mit der Besiedlungsdichte, also im Grunde demographisch argumentiert. Da würde mich interessieren: Woher kommt dieses Wissen? Besiedlungsdichte ist doch kein Erfahrungswert, würde ich glauben, sondern ein Gegenstand der Statistik. Wie generiert man dieses Wissen für Europa? Für einzelne Städte kann man das ja machen, aber für ganz Europa? Christoph Mauntel (›Europa‹ ist in solchen Fällen ein Kofferbegriff, der für das große Ganze steht und regionale Unterschiede abstrahiert. Entlegene Gebiete in Spanien oder im Baltikum werden hier letztlich ignoriert. Über Skandinavien ist das Wissen ohnehin eher vage. Was man umso mehr betont, sind tatsächlich die dicht besiedelten, urbanisierten Gebiete Europas. Der englische Gelehrte Bartholomäus Anglicus schreibt etwa explizit, dass Brabant und Thüringen dicht besiedelt seien, Apulien und Flandern noch dichter, und Schwaben sogar »zu bevölkert«. Das ist 249

sozusagen die Klimax: Es gibt einfach zu viele Schwaben. Als Tübinger liest man das natürlich mit einem Schmunzeln. Ich habe den Eindruck, dass das zum Teil durchaus Erfahrungswissen ist. Man kennt diese Gebiete, klammert auf der anderen Seite aber weniger dicht besiedelte Gebiete schlicht aus, wenn man proklamiert, Europa als Ganzes sei dicht bevölkert. Gerade Reiseberichte thematisieren sehr genau, wie weit die eine Stadt von der nächsten entfernt ist  – man denkt den Raum als von Städten geprägt und misst die Entfernungen zwischen ihnen (übrigens in Reisezeit, nicht in räumlicher Entfernung). So betrachtet, erreicht das demographische Denken im Europa des 13. Jahrhunderts klar einen Höhepunkt, kommt als gesonderte Wissenssparte überhaupt erst auf, wie Peter Biller gezeigt hat. Man erkennt das sowohl in Reiseberichten, die Europa beschreiben, als eben solche über Asien. Und hier bemerkt man den Unterschied: Die ersten Reisenden Richtung China betonen, sie seien wochenlang nur durch Wüsten geritten, wo es kaum Verpflegung gegeben habe, wo es kalt war, wo sie kein ordentliches Lager gefunden haben. Diese Erfahrung wird als ebenso entsetzlich wie aus Europa unbekannt beschrieben. Als man dann Ostasien, oder konkret China, erreichte, war der Schock dann umso größer, denn nun stand man vor den gigantischen Städten Chinas, die das, was man aus Europa kannte, bei Weitem übertrafen. Aus diesen beiden Erfahrungen speist sich die geglaubte Gewissheit, Europa sei zwar kleiner, aber eben dichter besiedelt als Asien.

Nicolas Detering (Würdest du so weit gehen, zu sagen, dieses Besiedelungsargument ist vielleicht sogar eine kulturelle Kategorie von Europa? Insofern man eben die Lebensformen der Menschen betont, auch im Vergleich mit anderen Erdteilen. Oder ist das zu modern gedacht? 250

Christoph Mauntel (Hier zögere ich etwas mit einer Antwort, weil in den Quellen aus der Konstatierung einer dichten Besiedelung Europas keine wirklichen Schlussfolgerungen gezogen werden, außer dass impliziert wird, dass dies gut ist. Dies ist also ganz generell ein positives Merkmal; es ist auch ein Merkmal, das für Europa in Anspruch genommen wird, aber was das nun eigentlich für Europa heißt, bleibt offen. In der Neuzeit kennt man ja die Argumentation, dass viele Untertanen einen starken Staat ausmachen würden und daher gut und wichtig seien. Ähnliche Argumentationen kennt man im Mittelalter aber nicht: Die dichte Besiedlung Europas wird konstatiert und positiv bewertet, mehr aber nicht. Es ist durchaus vorstellbar, dass man aus dieser Beobachtung ein kulturelles Argument für Europa machen könnte – und vielleicht kommt das in späteren Jahrhunderten auch vor. Im Mittelalter aber, und das ist ganz typisch, fungiert Europa eher als Abrufbegriff. Klaus Oschema hat in einem umfangreichen Werk über den Europa-Begriff im Mittelalter gezeigt, dass dieser Begriff selbst sehr häufig vorkommt, aber per se keine politischen, kulturellen oder religiösen Implikationen hat. Er kann zwar religiös oder politisch aufgeladen werden, aber dies braucht eben individuelle Autoren, die einen solchen Entwurf vorlegen. Mit Blick auf kulturelle Besonderheiten ist ›Europa‹ für das Mittelalter dagegen kaum ein zentraler Begriff. Nicolas Detering (Vielleicht bedarf es für die Kulturalisierung Europas auch bestimmter allegorischer Verfahren, auf die ich in meinem Vortrag zu sprechen kommen möchte.

Mitschrift: Toumi Hamadi 251

Johannes Pahlitzsch

Byzanz und der lateinische Westen zwischen Kreuzzügen und Schisma

Der folgende kurze Beitrag soll einen Einblick in die kirchlichen Beziehungen zwischen Byzanz und dem westlichen Europa ab dem 11.  Jahrhundert geben, die einerseits von starken Spannungen im Bereich der Kirche und durch die Kreuzzüge mit allen ihren Folgen geprägt sind, andererseits aber auch durch einen zunehmend engen kulturellen Austausch, über den der Beitrag von Panagiotis Agapitos in diesem Band vor allem hinsichtlich der Literatur Auskunft gibt. Die lateinische Westkirche und die griechische Ostkirche gehörten nach ihrem eigenen Verständnis grundsätzlich einer einheitlichen umfassenden Kirche an. In der heutigen allgemein verbreiteten Wahrnehmung ist diese Einheit durch den Streit von 1054 zerstört worden, sodass 1054 oft als der Beginn des Schismas zwischen Ostund Westkirche bezeichnet wird. Diese Ansicht trifft in dieser Form in zweifacher Hinsicht nicht zu. Einerseits stellte der Streit von 1054 keineswegs ein singuläres disruptives Ereignis in der Geschichte beider Kirchen dar. Schismen zwischen der lateinischen, d.#h. westlichen römischen, und der griechischen Kirche hat es immer wieder gegeben. Hier lag nämlich ein strukturelles Problem von der Frühzeit an vor: Die christliche Kirche hatte schon vor der Hinwendung Konstantins zum Christentum eine das ganze Reich umspannende Organisation geschaffen. Konstantin erkannte dann das Potenzial 252

dieser Organisation für die Stabilisierung des Reiches. Daher sorgte er dafür, dass auf dem Konzil von Nikäa von 325, dem ersten ökumenischen, d.#h. allgemeinen, für die ganze Christenheit gültigen Konzil, die kirchliche Struktur, die im Wesentlichen der Provinzialverfassung des Reiches folgte, verbindlich festgeschrieben wurde. Flächendeckend bildete sich so bis zu den Grenzen des Imperiums die für Jahrhunderte prägende Kirchenorganisation heraus mit Gemeinden, Bischöfen, Metropoliten und als oberste Instanzen den zunächst nur drei Patriarchaten Rom, Alexandria und Antiochia. Aufgrund der Bedeutung Konstantinopels als Hauptstadt des oströmischen Reiches beanspruchte auch dessen Bischof den Rang eines Patriarchen. So wurden Konstantinopel 381 als »Neues Rom« und 451 auf dem Konzil von Chalkedon schließlich auch Jerusalem aufgrund seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung zu Patriarchaten erhoben, womit die Ausbildung der Kirchenverfassung zum Abschluss kam. Ein Grundproblem dieser Kirchenordnung war der Antagonismus zwischen Rom und Konstantinopel, der sich durch die sich verfestigende Teilung des Reiches verstärkte. Während das Papsttum danach strebte, seinen universalen Primatsanspruch – zunächst nur als Ehrenvorrang – durchzusetzen, ging es den Patriarchen von Konstantinopel darum, als mit Rom gleichrangig anerkannt zu werden und sich die drei östlichen Patriarchate Antiochia, Alexandria und Jerusalem, die zum byzantinischen Reich gehörten, unterzuordnen. Mit der arabischen Eroberung verloren diese drei Patriarchate ihre Bedeutung für die Gesamtkirche, sodass sie immer mehr in Abhängigkeit von Konstantinopel gerieten. Verschiedene immer wieder aufbrechende Auseinandersetzungen stellten Stationen auf dem Weg einer allmählichen, sich über Jahrhunderte entwickelnden Entfremdung 253

dar. Zunächst begann dieser Prozess mit der sprachlichen Trennung. Ab dem 5. Jahrhundert waren auf beiden Seiten kaum noch Theologen zu finden, die die Sprache der anderen beherrschten. Augustinus wurde etwa erst im 14. Jahrhundert in Byzanz rezipiert. Auch in der Glaubenspraxis entwickelte man sich auseinander. So entstanden unterschiedliche Bräuche und Riten, sei es in der Frage, wann gefastet wurde, oder ob gesäuertes oder ungesäuertes Brot, die sogenannten Azymen, zur Eucharistie verwandt wurde. Die politische Entwicklung trug ebenfalls dazu bei. Nach dem Ende des weströmischen Reiches 476 wurde die besondere Stellung der oströmischen Kaiser zwar für einige Zeit auch von den Päpsten anerkannt. So waren es die Kaiser, die zu den ökumenischen Konzilen einluden und sie gegebenenfalls auch leiteten. Mit der Krönung Karls des Großen zum westlichen Kaiser im Jahr 800 durch den Papst endete jedoch diese Epoche. In dem Moment, wo zwei rivalisierende Kaiser, ein lateinischer und ein griechischer, existierten, gab es keine von beiden Seiten anerkannte Institution mehr, die zumindest in der Theorie der gesamten Christenheit vorstand und für ihr Wohl verantwortlich war. Ein gewichtiger Streitpunkt, der bis auf den heutigen Tag eine Rolle spielt, ist die Hinzufügung der filioqueFormel zum Glaubensbekenntnis. Während es in der ursprünglichen Fassung des Glaubensbekenntnisses heißt, der Heilige Geist gehe vom Vater aus, wurde schon im 5. Jahrhundert im Bereich der lateinischen Kirche die Floskel »und vom Sohne«, filioque, ergänzt. Auch wenn diese Ergänzung erst Anfang des 11. Jahrhunderts vom Papsttum in der lateinischen Kirche als allgemein gültig eingeführt wurde, war sie doch vorher schon mehrfach der Anlass für Auseinandersetzungen gewesen, die aber immer wieder beigelegt werden konnten. Darüber hinaus entstand auch 254

ein Konflikt über die Christianisierung der Bulgaren im 9. und 10.  Jahrhundert, wobei es darum ging, ob diese dem Patriarchen von Konstantinopel oder dem römischen Papst unterstellt werden sollten. Solche Streitigkeiten um die Grenzen des jeweiligen Geltungsbereichs der Jurisdiktion der beiden Kirchen waren ohne Frage ein weiterer wichtiger Faktor in der Entwicklung des Schismas, ging es dabei doch auch um Geld, also an wen letztlich die kirchlichen Abgaben aus den jeweiligen Gebieten zu entrichten waren. Zwar kam es auch im Fall der Bulgaren zu einer Einigung zwischen Konstantinopel und dem Papsttum. Dennoch bildeten die im Laufe dieser Streitigkeiten verfassten, zum Teil sehr scharfen Angriffe auf die Lehren der jeweils anderen Kirche etwa von dem großen byzantinischen Gelehrten Photios (gest. 893) die theologische Grundlage, auf die man bei späteren Kontroversen zurückgreifen konnte. Während der Streit von 1054 also einerseits kein singuläres Ereignis war, sondern in einer langen Reihe von ähnlichen Konflikten stand, so stellte er andererseits keineswegs den endgültigen Bruch zwischen Ost- und Westkirche dar. Auch der Streit von 1054 beruhte auf einem Konflikt über die Jurisdiktion: Die Päpste versuchten nämlich in der Mitte des 11.  Jahrhunderts, das bisher byzantinische Süditalien unter ihre kirchliche Jurisdiktion und weltliche Herrschaft zu bringen. Diese Politik richtete sich sowohl gegen den byzantinischen Kaiser als auch das Patriarchat von Konstantinopel – und zunächst auch gegen die Normannen, die dort als Eroberer ihr eigenes Herrschaftsgebiet ausbauten –, sodass Kaiser und Patriarch gemeinsam dagegen Widerspruch erhoben. Zur Klärung dieser kirchlichen aber eben auch machtpolitischen Streitfragen wurde im Jahr 1054 Kardinal Humbert von Silva Candida als päpstlicher Gesandter nach 255

Konstantinopel geschickt. Da Humbert von vornherein wenig kompromissbereit und auch der Patriarch von Konstantinopel Michael Kerularios nicht an einer friedlichen Einigung interessiert war, eskalierte der Streit. Humbert legte schließlich eine Bulle mit der Exkommunikation des Patriarchen von Konstantinopel auf den Altar der Hagia Sophia, worauf Kerularios seinerseits Humbert exkommunizierte. Diese gegenseitige Exkommunikation bezog sich aber nur auf die jeweiligen Personen, die eigentliche Kircheneinheit war davon nicht betroffen. Auch wenn es beim Streit von 1054 im Kern um die Jurisdiktion in Süditalien ging, stand in der öffentlich geführten Kontroverse, d.#h. in den zahlreichen Streitschriften und Pamphleten der Zeit, der Streit um die Azymen im Vordergrund. Dieses rein rituelle Problem fand offenbar gerade in Süditalien eine gesteigerte Beachtung und kam wohl deswegen zur Sprache. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich in der mittelalterlichen Welt der Glaube vor allem in der liturgischen Feier ausdrückte und das Ritual zum Wesensmerkmal der religiösen Gemeinschaft wurde. Es lag also nahe, dass sich in Süditalien, wo lateinische und orthodoxe Christen in größeren Gruppen zusammenlebten, der Streit zunächst an den äußeren Merkmalen festmachte. Ob im lateinischen Gottesdienst das filioque im Glaubensbekenntnis gesprochen wurde, war für die Griechen dagegen kaum wahrnehmbar. Die Bedeutung der Ereignisse des Jahres 1054 lag somit vor allem darin, dass das Repertoire der gegenseitigen Vorwürfe erweitert wurde, indem nun auch Fragen des Ritus in den Rang von heilsnotwendigen Glaubenssätzen erhoben wurden. Da gerade diese Themen der breiten Bevölkerung leichter zugänglich waren als komplizierte theologische Fragen, trug der Streit sicher wesentlich zur Verschlechterung der allgemeinen Stimmung den Lateinern gegenüber bei. 256

Dass 1054 nicht von einem endgültigen allgemeinen Schisma und einem Abbruch der Beziehungen die Rede sein kann, zeigt sich auch darin, dass sich schon in den nächsten Jahren wieder Kontakte nachweisen lassen. Von den byzantinischen Zeitgenossen scheint dementsprechend der Streit zwischen Humbert und Kerularios nur am Rande bemerkt worden zu sein. Im Westen erregten die gegenseitigen Exkommunikationen dagegen sehr viel mehr Aufsehen, da das Verhalten der orthodoxen Kirche dem neuen umfassenden Universalitätsanspruch des sich zu dieser Zeit entwickelnden gregorianischen Reformpapsttums widersprach. Für die Orthodoxie, die den in dieser Form neuen Anspruch Roms auf alleinige Führung der Kirche noch nicht vollständig realisiert hatte, reihte sich das Jahr 1054 dagegen nahtlos in die wechselhafte Folge der gegenseitigen Beziehungen ein. Dass man Ende des 11. Jahrhunderts auf beiden Seiten noch davon ausging, in grundsätzlicher Glaubenseinheit der einen Kirche anzugehören, zeigen besonders die Bemühungen von Papst Urban II . (1088-1099), die Beziehungen wieder vollständig zu normalisieren. Auf Anfrage Urbans stellte man auch auf byzantinischer Seite fest, dass es eigentlich gar keinen Grund gebe, warum des Papstes nicht mehr regelmäßig in der Liturgie gedacht werde, worin das äußere Zeichen der Kircheneinheit bestand. Byzanz hatte also zu dieser Zeit ebenfalls Interesse an guten Beziehungen zum Papsttum. Das byzantinische Reich hatte nämlich in den ersten Regierungsjahren von Alexios I. Komnenos (reg. 1081-1118), der die Herrschaft durch einen Putsch übernommen hatte, eine schwere Krise durchlebt, wurde das Reich doch von drei Seiten zugleich angegriffen, von den italienischen Normannen aus dem Westen, dem Reitervolk der Petschenegen vom Norden über die Donau und durch die Seldschuken in Kleinasien 257

aus dem Osten. Nachdem es Alexios gelungen war, die Normannen mit Unterstützung Venedigs, dem dafür große wirtschaftliche Zugeständnisse gemacht wurden, zurückzuschlagen und 1091 auch die Petschenegen zu besiegen, war das byzantinische Reich zunächst einmal gesichert. Alexios wandte sich nun der Rückgewinnung Kleinasiens von den Seldschuken zu. Aber dazu fehlten ihm auch hier auf sich allein gestellt die militärischen Mittel. Deswegen beabsichtigte Alexios, wie es durchaus üblich war in Byzanz, im westlichen Europa Hilfstruppen anzuwerben. Zu diesem Zweck wandte er sich 1095 mit der Bitte um Vermittlung an Urban II . Alexios ging es wohl nur um eine kleine Truppe von vielleicht einigen Hundert Rittern. Urban jedoch wurde offenbar durch diese Bitte des byzantinischen Kaisers um Unterstützung zu einer eigenen groß angelegten Initiative angeregt. Nach allem was man über die Motive des Papstes weiß, ging es ihm dabei vor allem darum, ein eigenständiges Heer unter päpstlicher Leitung nach Byzanz zu entsenden, um zunächst die Seldschuken aus Kleinasien zurückzudrängen. Inwieweit die Rückeroberung Jerusalems tatsächlich von Anfang an ein Ziel Urbans war, ist unklar. Sicher ist, dass sich das Unternehmen nach seiner Vorstellung nicht gegen Byzanz und die orthodoxe Kirche richtete und weder auf die Etablierung lateinischer Herrschaften noch einer lateinischen Kirche im Osten abzielte. In Rom ging man eben trotz aller kulturellen Unterschiede und der Streitigkeiten von 1054 noch immer davon aus, einer gemeinsamen Kirche anzugehören. Gleichzeitig sollte dieser große päpstliche Feldzug die universale Rolle des Papstes als Oberhaupt der Christenheit verdeutlichen. Ende des Jahres 1095 rief Urban auf der Kirchensynode von Clermont-Ferrand in einer Rede die versammelte Ritterschaft dazu auf, sich an dem Kriegszug zur Befreiung 258

der ecclesia orientalis, der östlichen Kirche, zu beteiligen. Ob Urban tatsächlich in Clermont schon Jerusalem als Ziel des Kreuzzugs angab, lässt sich nicht nachweisen, manches spricht dagegen. Dennoch wurde dieses Ziel Jerusalem anstelle einer Hilfe für Byzanz gegen die Seldschuken offenbar immer stärker in den Vordergrund gerückt, verbunden mit der Idee der Befreiung der Heiligen Stätten, an denen Christus selbst gewirkt hatte. Dies führte dazu, dass binnen weniger Monate die Menschen in solch einem Maße begeistert wurden, dass man geradezu von der Entstehung einer Massenbewegung sprechen kann. Tatsächlich war der große Erfolg des Kreuzzugsaufrufs Urbans sicher auch für den Papst eine Überraschung. Statt eines reinen Ritterheers machten sich nun Menschen aller Stände, Frauen und Kinder auf in den Orient. Die Verbindung von einer Wallfahrt nach Jerusalem und einem Kriegszug ist dabei das eigentlich Neue des Kreuzzugsgedankens. Sich selbst bezeichneten die Kreuzfahrer daher als peregrini, Pilger. Die besondere Attraktivität dieses Unternehmens bestand darin, dass sich der Einzelne hier Vorteile sowohl in spiritueller wie in materieller Hinsicht verschaffte. Dies war bei Weitem volkstümlicher als der Gedanke der Befreiung der östlichen Kirche. Ganz auf sich selbst bezogen wurden die Kreuzfahrer entweder durch den Wunsch nach Vergebung der Sünden oder durch die Aussicht auf die Errichtung einer eigenen Herrschaft zur Teilnahme am Kreuzzug motiviert.

Die Gründung der Kreuzfahrerstaaten Schon auf dem Zug der Kreuzfahrer durch das byzantinische Reich verschärften sich die Konflikte zwischen Byzantinern und den auch als Lateiner bezeichneten 259

Westeuropäern. Der Hauptgrund dafür waren zunächst kulturelle Unterschiede sowie die gegensätzlichen politischen Interessen der Kreuzfahrerfürsten, die eigene Herrschaften gründen wollten, und des byzantinischen Kaisers, der Hilfstruppen erwartet hatte, die das eroberte Land ihm überlassen sollten. Mit der Einnahme Antiochias durch die Kreuzfahrer im Jahr 1098 und der folgenden Gründung des Kreuzfahrerfürstentums Antiochia war dann aber klar, dass sich die Erwartungen des Kaisers, mithilfe der Kreuzfahrer verlorene Gebiete zurückzuerobern, nicht erfüllten. Ebenso verfuhren die Kreuzfahrer nach der Eroberung Jerusalems 1099, indem sie Gottfried von Bouillon zu ihrem Herrscher ernannten. Während Gottfried noch ablehnte, den Titel eines Königs zu führen, ließ sich schon sein Nachfolger Balduin I. (reg. 1100-1118) zum König von Jerusalem krönen. So wie die Kreuzfahrer ohne Berücksichtigung byzantinischer Ansprüche und Interessen unabhängige Herrschaften gründeten, verfuhren sie auch im kirchlichen Bereich. Eine Unterstellung unter die geistliche Führung eines griechischen Patriarchen, der im 11. Jahrhundert in Jerusalem residierte, kam für sie als Eroberer und neue Landesherren nicht infrage. Die orthodoxen Patriarchen von Antiochia und Jerusalem mussten ihre Amtssitze verlassen und gingen nach Konstantinopel ins Exil, ebenso wie die meisten ihrer Bischöfe. Im Heiligen Land wurde stattdessen eine lateinische Hierarchie eingerichtet, der sich auch die verbliebenen orthodoxen Geistlichen und Gemeindemitglieder zumindest theoretisch unterzuordnen hatten. Die parallele Beibehaltung der höheren orthodoxen Hierarchie stand nicht zur Debatte, da die Lateiner eben weiterhin von einer Kircheneinheit mit den Orthodoxen ausgingen, sodass es an einem Ort nicht zwei Bischöfe, einen lateinischen neben einem orthodoxen, geben konnte. Die Hauptfunktion 260

der orthodoxen Patriarchen im Exil bestand dagegen in der Aufrechterhaltung des Anspruchs der orthodoxen Kirche auf die Patriarchate Jerusalem und Antiochia. Für die Lateiner veränderte die Errichtung der lateinischen Patriarchate von Antiochia und Jerusalem ihr Verhältnis zur Kirche des Ostens nachhaltig. Hatte Urban  II . noch zur Befreiung der ecclesia orientalis aufgerufen, so fing man im Westen nach dem ersten Kreuzzug an, unter der orientalischen Kirche die eigene lateinische Hierarchie in Syrien und Palästina zu verstehen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass im Jahr 1112 Papst Paschalis II . (1009-1118) den Vorschlag machte, ein ökumenisches Konzil der fünf Patriarchate Alexandria, Antiochia, Rom, Konstantinopel und Jerusalem zur Klärung der Streitigkeiten zwischen Ost- und Westkirche einzuberufen. Offenbar ging Paschalis davon aus, dass die lateinischen Patriarchen von Jerusalem und Antiochia die einzigen rechtmäßigen Amtsinhaber waren. Somit hätte die lateinische Kirche die Mehrheit im Kollegium der fünf ökumenischen Patriarchate repräsentiert. Vor diesem Hintergrund ist es sicher kein Zufall, dass im Rahmen der Kirchengespräche von 1112 in Konstantinopel erstmals dem neuen, durch die gregorianische Reform geprägten römischen Primatsanspruch von orthodoxer Seite durch den orthodoxen Gelehrten Niketas Seides mit theologischen Argumenten widersprochen wurde. Die Verdrängung der orthodoxen Patriarchen von Antiochia und Jerusalem und die Forderung nach Unterwerfung des verbliebenen Klerus unter die Autorität der lateinischen Bischöfe hatten den Orthodoxen klargemacht, was unter diesem römischen Primatsanspruch zu verstehen war.

261

Der Vierte Kreuzzug und seine Folge Ende des 12.  Jahrhunderts befand sich die Welt des östlichen Mittelmeers im Umbruch. Durch die Kreuzzüge waren die westeuropäischen Mächte in die Levante vorgestoßen. Auch der Einfluss des Papsttums hatte sich durch Gründung einer lateinischen orientalischen Kirche nach Osten ausgedehnt. Zudem wurde als Folge des Dritten Kreuzzugs Zypern besetzt und dort ein eigenständiges fränkisches Königreich unter der Dynastie der Lusignans gegründet. Dem stand eine neue islamische Großmacht gegenüber, das von Saladin (reg. 1174-1193) begründete Reich der Ayyubiden mit Kairo als Hauptstadt und Alexandria als dem wichtigsten Umschlagplatz für den Gewürzhandel. Byzanz befand sich dagegen im Niedergang. Nachdem 1180 Kaiser Manuel I. Komnenos (reg. 1143-1180) nur einen minderjährigen Thronerben hinterließ, kam es zum Streit um seine Nachfolge und mehreren Umstürzen. Außerdem wurde der Zusammenhalt des Reiches durch Autonomiebestrebungen in den Provinzen stark geschwächt. Angriffe von außen konnten so kaum noch abgewehrt werden, wie die normannische Plünderung Thessalonikis, der zweitgrößten Stadt des Reiches, von 1185 zeigte. Als schließlich der Vierte Kreuzzug von Venedig instrumentalisiert wurde, um statt gegen die Muslime gegen die inzwischen als Schismatiker eingestuften Griechen zu kämpfen, konnte sich Byzanz nicht mehr zur Wehr setzen. Die Motive Venedigs waren dabei rein wirtschaftlicher Natur, versprach man sich doch davon eine weitgehende Kontrolle über den Handel im östlichen Mittelmeer. 1204 wurde Konstantinopel dann von den Kreuzfahrern eingenommen, zum ersten Mal in seiner Geschichte. Von den dreitägigen Plünderungen und Zerstörungen hat sich die 262

Stadt nicht mehr erholt. Reliquien, antike Statuen und Schätze aller Art wurden geraubt und in den Westen gebracht. Als Beispiele seien nur die Pferde von San Marco in Venedig oder die in Limburg an der Lahn aufbewahrte Staurothek, ein kostbares Kreuzreliquiar, genannt. Die Eroberung von Konstantinopel bedeutete – zumindest vorübergehend  – das Ende des byzantinischen Reiches in seiner bisherigen Form. Konstantinopel war stets das Zentrum des Reiches gewesen, nur wer Konstantinopel besaß, wurde als Kaiser anerkannt. Das Gebiet des Reiches wurde nun zum Großteil unter den Siegern aufgeteilt. Neben dem lateinischen Kaiserreich von Konstantinopel wurde noch ein Königreich Thessaloniki und das Fürstentum Achaia auf der Peloponnes gegründet. Venedig sicherte sich die Oberherrschaft über Euböa, die Kykladen und vor allem Kreta. Auf diese Weise verfügten die Venezianer über ein das ganze östliche Mittelmeer erschließendes Netz von Kolonien. Es bildeten sich aber auch unabhängige griechische Herrschaften in Nordwestgriechenland, in Trapezunt und in Nikäa in Kleinasien. Was die kirchlichen Beziehungen zum Westen betraf, so wurde die Verdrängung der Orthodoxie durch die lateinisch-römische Papstkirche, die 1099 mit der Errichtung des lateinischen Patriarchats Jerusalem begonnen hatte, 1204 durch die gewaltsame Beseitigung der politischen Verkörperung der Orthodoxie, des byzantinischen Kaisertums, und durch die Gründung einer lateinischen Kirche von Konstantinopel vollendet. Jetzt stellten die Lateiner in ihrer Vorstellung endgültig selbst die ecclesia orientalis dar. So sah es auch Papst Innozenz III . (1198-1216). Für ihn war mit dem anfangs von ihm noch kritisierten Vierten Kreuzzug die Union zwischen West- und Ostkirche vollzogen. Der griechische Klerus musste nur schwören, dem Papst und der übergeordneten lateinischen Hierarchie, also 263

dem Patriarchen von Konstantinopel bzw. den jeweiligen lateinischen Bischöfen, gehorsam zu sein. Dies ließ sich natürlich nicht durchsetzen und blieb nur ein theoretischer Anspruch. Die Herrscher von Nikäa, die den byzantinischen Kaisertitel führten, nahmen den orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel, das Oberhaupt der orthodoxen Kirche, auf, sodass in diesem Nachfolgereich wieder Kaiser und Patriarch vereint waren. Begünstigt durch die Schwäche der lateinischen Staaten auf dem Gebiet des byzantinischen Reiches gelang schließlich 1261 Michael VIII . Palaiologos (reg. 1259-1282) die Rückeroberung Konstantinopels. Mit ihm begann die Herrschaft der letzten Dynastie des byzantinischen Reiches, der Palaiologen. Unter diesen Herrschern sollte das wiedererstandene byzantinische Reich zum Ende des 13. Jahrhunderts noch einmal einen politischen und kulturellen Aufschwung erleben. Allerdings reichten die Ressourcen nicht aus, Byzanz dauerhaft als Großmacht im östlichen Mittelmeerraum zu etablieren. Im kirchlichen Bereich zeigte sich Michael VIII ., wie so viele byzantinische Kaiser, sehr pragmatisch. Trotz der traumatischen Erlebnisse nach dem Vierten Kreuzzug stimmte er aus politischen Gründen auf dem Konzil von Lyon 1274 einer Union mit der römischen Kirche und damit einer Unterstellung der orthodoxen Kirche unter den Papst zu, um sich vor einem Angriff Karls von Anjou zu schützen. Diese rein politisch begründete Kirchenunion wurde entschieden von der byzantinischen Kirche und wohl auch der Bevölkerung abgelehnt und nach Michaels Tod 1280 sogleich rückgängig gemacht. Eine ähnliche Reaktion erfolgte im 15. Jahrhundert, als auf dem Konzil von Ferrara$/$Florenz 1448 aufgrund der Bedrohung durch die Osmanen noch einmal eine Kirchenunion vereinbart wurde. Wie sehr die Lateinerherrschaft infolge des Vierten 264

Kreuzzugs aber im Bewusstsein der Byzantiner nachwirkte, zeigte sich bei der Belagerung Konstantinopels durch die Osmanen 1453, als Lukas Notaras, zu dieser Zeit der ranghöchste byzantinische Hofbeamte, dem Historiker Dukas zufolge gesagt haben soll, es sei besser in Konstantinopel einen türkischen Turban herrschen zu sehen als eine lateinische Kaiserkrone.

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Panagiotis A. Agapitos

Literarische Kontakte zwischen Byzanz und dem Westen am Beispiel der fiktionalen Erzählung

Wie für sehr viele Bereiche der Kunst und der Wissenschaft, war das 19. Jh. mit seinen besonderen politischen, ideologischen und kulturellen Entwicklungen auch für die Entstehung der Byzantinistik als einem anerkannten Universitätsfach maßgebend. Das junge Fach erbte einen großen Teil der Forschungsmethoden, die sich seit der Mitte des Jahrhunderts etabliert hatten, mit all deren Errungenschaften aber auch Denkschablonen und Vorurteilen. Was insbesondere das Studium der Texte aus einer vergleichenden Perspektive betrifft – jenes Gebiet der Philologie welches heute als Komparatistik bezeichnet wird –, hatte die Mediävistik im Allgemeinen diesen Vergleich zwischen Texten verschiedener Sprachen und Kulturen als »Nachahmungsuntersuchung« betrieben. Das Konzept der Nachahmung stand in enger Beziehung mit den damaligen Vorstellungen von höheren und niedrigeren Völkern, Blüte und Dekadenz eines Staates, vollendeter und primitiver Kunst. Dies ist der Rahmen einer sozio-politischen Entwicklung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, die zur Ideologie der Nationenbildung führte mit der Forderung eine neue Politik zur Formung moderner Staaten zu erschaffen. In diesem Sinne, zum Beispiel, untersuchten die französischen Philologen die »Nachahmung« der altfranzösichen Epen und Romane von anderen europäischen »Nationen« im Mittelalter, vor allem von den »Deutschen«: 266

Pfaffe Konrads Rolandslied (ca. 1170), Wolframs Parzival (ca.  1200-1210) und Gottfrieds Tristan (abgebrochen ca. 1210) wurden als Nachahmungen des altfranzösischen Chanson de Roland (ca. 1100) und der Romane Perceval (ca. 1185-1191) von Chrétien de Troyes und Tristan von Thomas d’Angleterre (ca. 1170) angesehen. Es ging nämlich darum zu zeigen, dass die französische Kultur als nationales Erbgut schon im Mittelalter eine dominierende Rolle in Europa spielte und dies gerade zu der Zeit als Frankreich von den deutschen Teilstaaten 1871 besiegt und das preußische Kaiserreich gegründet wurde. Im selben ideologischen Rahmen werden diese Gedichte als »Volksliteratur« verstanden ungeachtet der Tatsache, dass viele dieser Erzählungen von gelehrten Dichtern und Dichterinnen für aristokratische Mäzene und Mäzeninnen verfasst wurden. Es war nämlich wichtig, dass die ins Mittelalter zurückprojizierte Nationenbildung von einer entsprechenden Bildung von Nationalsprachen begleitet wurde, und dies in einer bewussten Gegenüberstellung von dem Latein der Kirche und den gesprochenen, aber nicht geschriebenen regionalen Sprachen und ihren vielen Dialekten – eine zum großen Teil erfundene Kluft zwischen den litterae und den linguae vulgares. Diese falsch verstandene sprachliche Situation im Westen wurde aber fast automatisch auch für Byzanz postuliert, um so eine ähnliche Gegenüberstellung zwischen einem »Kunstgriechisch« und einem »Vulgärgriechisch« zu konstruieren. Das Letztere wurde noch vor der Mitte des 19. Jhs. zur Sprache des Volkes der »Neueren Griechen« hochstilisiert, kurz nachdem die Griechen einen Freiheitskrieg gegen das Osmanische Reich führten und die Großmächte die Gründung des Königreichs Griechenland unterstützten. Vor diesem politischen und ideologischen Hintergrund definierte für eine sehr lange Zeit die Methode der Nachahmung die Art 267

und Weise wie byzantinische Texte mit entsprechenden Texten des westlichen Mittelalters verglichen wurden. Mit anderen Worten, die minderwertige byzantinische Literatur musste von außen durch überlegene Literaturen kolonisiert werden, um im Sinne einer Nationenbildung zu »blühen« anzufangen. Es ist offensichtlich, dass eine solche Perspektive weder das Verständnis der byzantinischen Literatur noch eine produktive Komparatistik förderte. In den letzten drei Jahrzehnten hat die Byzantinistik eine Reihe von Methoden, zum Teil im Dialog mit der Mediävistik, entwickelt, um die Analyse der griechischen fiktionalen Erzählliteratur systematischer, transparenter und den historischen Begebenheiten ihrer Produktion entsprechend durchführen zu können. Immer stärker wird die Forderung, auf kreative Weise byzantinische und westliche (aber auch östliche) Erzähltexte miteinander zu vergleichen. Um einen solchen Vergleich zu unterstützen ist eine neue Methode der Textanalyse notwendig. Für das Folgende sind drei Aspekte einer solchen Methode von Bedeutung. Im Gegensatz zur Praxis der älteren Philologie ist es wichtig, eine detaillierte Untersuchung (i) des historischen Kontextes der Entstehung eines Werkes, (ii) seiner erhaltenen Handschriften und (iii)  der verschiedenen Versionen, die uns durch eben diese Handschriften überliefert werden, durchzuführen. Denn die meisten der fiktionalen Erzähltexte sind Gebrauchsliteratur, die für jeweils neue Auftraggeber oder performative Veranstaltungen bearbeitet wurden. In diesem Sinne müssen wir von dem Konzept des Originals (im romantischen Verständnis des Begriffs) Abstand nehmen, da der Text als ein Prozess von Bearbeitungen entsteht. Es handelt sich nicht um das Festlegen eines hypothetischen autoritativen Originals, sondern um das Begreifen, dass die Entstehung des Textes ein »workin-progress« darstellt, dessen dynamische Rezeption wir 268

über Zeit und Raum verfolgen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die verschiedenen Weisen der Textkomposition im Mittelalter zu verstehen und klar zu differenzieren: (i)  in einer primären und$/$oder sekundären Mündlichkeit wird ein Text mündlich komponiert und dann niedergeschrieben bzw. aus einem mündlich niedergeschriebenen Text entsteht eine weitere Bearbeitung, die sehr viele Elemente der Mündlichkeit beibehält; (ii)  in einer fingierten Mündlichkeit wird der Text schriftlich verfasst, aber so dargestellt, als ob er mündlich komponiert wäre; (iii) in einer typischen Schriftlichkeit, die aber eine performative Situation voraussetzt und somit das Mündliche als Mittel des rhetorischen Vortrags einbezieht. Letztlich ist es wichtig, von dem Konzept der volkssprachlichen Literatur als Ausdruck des »Geistes« eines Volkes im romantischen bzw. nationalistischen Sinne Abstand zu nehmen, um die verschiedenen Niveaus der Bildung und die gesellschaftlichen Netzwerke der jeweiligen Dichter und$/$oder Bearbeiter dieser Erzähltexte und deren ebenfalls verschiedenartiges Publikum zu erkennen. Das Erzählen (ob in Vers oder Prosa) ist ein performativer Akt, der mündlich oder schriftlich entstehen kann. Geschichten werden in allen möglichen Zusammenhängen ausgetauscht, im Handel (auf Märkten verschiedenster Art, auf dem Schiff oder in einer Karawane), in einem religiösen Kontext (auf Pilgerfahrten oder in Klöstern, bei Predigten in den Kirchen), im Militär und am Hof, aber auch im Dorf oder in der Nachbarschaft einer Stadt. Es gibt Typen von Erzähltexten, die für komparatistische Studien sehr geeignet sind, z.#B. fantastische Geschichten und Märchen aller Art, Heldentaten, Liebesabenteuer, Heiligengeschichten und erbauliche Erzählungen, das Leben der Könige. Eben wegen ihres performativen Charakters und ihrer Länge weisen diese Erzählungen oft eine starke strukturelle Typologie 269

auf, sodass sie von der älteren Philologie als konventionell empfunden und entsprechend abgewertet wurden. Wenn wir uns also dem Thema Byzanz und der Westen in der Literatur annähern wollen, finden wir drei Gruppen narrativer Texte, die sich sehr gut für Vergleiche eignen – eine romanhafte, eine historiographische und eine epische. Ich benütze bewusst den neutraleren Terminus »Gruppe« statt »Gattung«, weil Letzterer für unsere Zwecke wenig nützlich ist, da er uns in den problematischen Bereich der literaturgeschichtlichen Taxonomie führen würde. Es gibt seit dem 19. Jh. eine umfassende Diskussion über die Anfänge der fiktionalen Erzählung in den linguae vulgares des westlichen Mittelalters und, wie ich schon anfangs erwähnte, ist in diesen Diskussionen die Stellung der altfranzösischen Literatur zentral, da die ersten solcher Texte, die uns erhalten sind, eben in dieser Sprache niedergeschrieben wurden. Aber die Verwendung der altfranzösischen Sprache bedeutet nicht, dass alle diese Texte im Königreich Frankreich verfasst wurden, denn Französisch war eine Art von lingua franca in mehreren Gebieten von Westeuropa, die nicht der französischen Krone unterstanden, so z.#B. England, Aquitanien, die Niederlande und Nordwestitalien. Wichtig für uns ist, dass ab dem frühen 12. Jh. Erzähltexte verfasst werden, die oft mit verschiedenen fürstlichen Höfen in Verbindung standen, sei es den Königen Englands oder den Herzögen und Herzoginnen Frankreichs. Mehrere dieser Verstexte sind anonym überliefert, einige haben Verfassernamen, wobei man von diesen Verfassern praktisch nichts weiß, außer was sie über sich selbst in ihren Texten sagen, und das ist sehr wenig. Die Zahl der auf Altfranzösisch zwischen 1080 und 1250 produzierten Texte ist tatsächlich sehr hoch und sie wird noch höher, wenn man – wie ich schon andeutete – die verschiedenen Versionen eines Textes als separate Einheiten 270

betrachtet. Was aus dieser Produktion ersichtlich wird, ist, dass alle drei Textgruppen sich mit Geschichte befassen, sei es die mythologische Antike (Aeneasroman), das frühe Christentum (Legende vom Heiligen Alexios), das Zeitalter der Kriege gegen die Sarazenen (Rolandslied), die Abenteuer eines Ritters zur Zeit der merowingischen und bretonischen Könige (Partonopeusroman) oder die Geschichte nach dem Ende des Römischen Reiches im Westen (Wace’ Brutusroman). Dieses Interesse aber führt eher zu einer dichterischen Fiktionalisierung der Geschichte als zu einem in unserem Sinne exakten Verständnis der historischen Vergangenheit. Fiktionale Erzähltexte erscheinen auch in Byzanz seit dem Anfang des 12.  Jahrhunderts und wir finden hier ebenfalls die schon erwähnten drei Gruppen. Wir sehen allerdings, dass die Dichter verschiedene Sprachniveaus verwendeten, z.#B. eine antikisierende Sprache bei den Liebesromanen (Makrembolites’ Drama von Hysmine und Hysminias), eine künstlich erzeugte Alltagssprache bei den epenhaften Erzählungen (Die Erzählung von Digenis Akritis in der Escorial Redaktion) und eine nur wenig antikisierende Sprache bei den historiographischen Texten (Manasses’ Historischer Abriss). Auch in Byzanz stellen wir fest, dass die drei Textgruppen verschiedene »historische« Kontexte wählen, in denen sie ihre Handlung spielen lassen, z.#B. die griechische Antike, die Kriege gegen die Araber und die alte Geschichte des römischen Reichs. In diesem Sinne, bemerken wir, dass die byzantinischen Autoren ebenfalls dieselbe Art der dichterischen Fiktionalisierung der Geschichte anwenden, um ihre Erzählungen an ihrem Publikum zu präsentieren. In dem Moment, wo die Produktion antikisierender Romane sowohl im Westen wie auch in Byzanz zu Ende geht, erscheint eine neue Art der Liebeserzählung, worin 271

die Gegenwart eine viel prominentere Rolle spielt und wo die Schicksale der Hauptpersonen viel persönlicher dargestellt werden, während die Form des Textes ebenfalls neue strukturelle Merkmale aufweist. Diese neue Art der Liebeserzählung finden wir in Byzanz seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, während sie im Westen schon im späten 12.  Jahrhundert erscheint. Aus dieser neuen Gruppe von »modernen« Romanen habe ich zwei ausgewählt, um einen Vergleich durchzuführen, der uns eine innovative Perspektive auf das Verhältnis von Byzanz zum Westen und umgekehrt eröffnen wird. Fangen wir mit der byzantinischen Liebeserzählung an. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzritter 1204 versuchen drei griechische Kleinstaaten – Trapezunt, Nikäa und Epeiros  – das zerstörte Weltbild des ökumenischen Kaisertums wieder auferstehen zu lassen. Insbesondere in Nikäa, unter der Herrschaft der Laskariden (1206-1258), treffen wir eine rege politische und geistige Aktivität, deren Ziel es ist, die erhaltenen Bruchstücke zu retten und sie in ein einheitliches Bild, dem Namen nach alt, aber in Wirklichkeit neu, zusammenzufügen. Hier wird eine höfische Kultur wiedererrichtet und das Schulwesen zur Formung einer neuen Klasse von zivilen und kirchlichen Würdenträgern wieder aufgebaut. Und hier verfasst ein für uns anonymer, aber offensichtlich gebildeter Dichter den längsten und kompliziertesten unter den spätbyzantinischen Liebesromanen: Die Erzählung von Livistros und Rodamni. Der Roman spielt in einem geographisch fließenden östlichen Mittelmeer und ohne das geringste Auftreten von byzantinischen Charakteren. Auf Befehl des Kaisers Eros verliebt sich der junge lateinische (d.#h. französische) König Livistros in die Prinzessin Rodamni, Tochter des lateinischen Kaisers der Silberburg. Rodamni, nach einem 272

ren Eingriff des Eros, hatte sich auch in Livistros verliebt. Nach verschiedenen Prüfungen und einer langen Werbung durch Briefe und Lieder gewinnt Livistros in einem Ritterturnier gegen den Kaiser von Ägypten Verderichos die Hand von Rodamni, er heiratet sie und wird Mitkaiser ihres Vaters. Verderichos aber, vermummt als persischer Händler und mit der Hilfe einer sarazenischen Hexe, gelingt es, Rodamni zu entführen. Zum Schluss schafft es Livistros mit der Hilfe seines Freundes, des Prinzen Klitovon, Neffe des Königs von Armenien, Rodamni in Ägypten wiederzufinden; zusammen kehren die drei zur Silberburg zurück. Nach einiger Zeit begibt sich Klitovon nach Armenien zu seiner ersten Liebe, Prinzessin Myrtani. Klitovon erzählt die ganze Geschichte dem Hof der neuen Königin von Armenien, die eben Myrtani ist. Durch diesen Kunstgriff, der den Erzähler zur zentralen Person der Handlung macht, erscheint der gesamte Roman als eine Reihe von in sich verschachtelten Geschichten. Diese Erzähltechnik ist aus der arabisch-persischen Literatur bekannt. Es ist aber evident, dass die starke Anwesenheit von Lateinern in Livistros und Rodamni, aber auch das Erscheinen von verschiedenen lateinischen Elementen, wie zum Beispiel die westliche Kleidung der Protagonisten, dem Roman einen ganz anderen Farbton als den der antikisierenden Werke des 12. Jahrhunderts verleihen. Dieser lateinische Farbton wurde von den älteren Forschern als ein starkes Indiz der »Latinität« des Textes betrachtet; deswegen wurde auch als Ort seiner Abfassung ein spätes, lateinisch beherrschtes Milieu vorgeschlagen, wie zum Beispiel die Inseln Zypern oder Rhodos im 15.  Jahrhundert. Die neuere Forschung hat jedoch anhand des handschriftlichen Materials gezeigt, dass der Text auf keinen Fall nach dem Ende des 13.  Jahrhunderts geschrieben worden ist, während der ideologische Rahmen des Romans äußerst by273 https://doi.org/10.5771/9783835349179

zantinisch geprägt ist und ziemlich genau der Ideologie des Nizänischen Kaiserreichs entspricht. In dem Moment, als die Produktion der altfranzösischen antikisierenden Romane um 1160 zu Ende geht, tritt Chrétien de Troyes auf, eine zentrale Figur der mittelalterlichen französischen Literatur. Chrétien verfasst in der Zeitspanne von 1165 bis 1191 fünf Versromane: Erec et Enide, Cligès, Le Chevalier de la Charrette (oder Lancelot), Le Chevalier au Lion (oder Yvain), Le Conte du Graal (oder Perceval). Alle fünf Erzählungen sind mit den Sagen um König Artus verbunden. Chrétien nutzte die künstlerischen Leistungen der älteren Dichtergeneration und verband die Heldenlieder mit den antikisierenden Romanen, um aus dieser Mischung die literarische Welt eines idealen höfisch-christlichen Rittertums zu entwerfen. Schauen wir uns Chrétiens Cligès an. Ein junger Ritter  – es ist Alexandre, Sohn des gleichnamigen byzantinischen Kaisers und seiner Frau Tantalis – begibt sich an den Hof von König Artus, wo er sich in Soredamors, die Hofdame der Königin Guinevere verliebt. Die zwei jungen Leute heiraten, kehren nach Byzanz zurück, sterben jedoch beide kurz nach der Geburt ihres Sohnes, des Prinzen Cligès. Den Thron hat in der Zwischenzeit Alis bestiegen, jüngerer Bruder von Alexandre. Alis hatte seinem Bruder geschworen, dass er nicht heiraten würde, um die Nachfolge von Cligès zu sichern. Der junge Prinz besucht ebenfalls den Hof von Artus. Er kehrt aber nach Byzanz zurück, als er erfährt, dass sein Onkel plant, die junge deutsche Prinzessin Fenice zu heiraten, in die er aber selbst verliebt ist. Inmitten von fantastischen Intrigen, gelingt es den zwei Liebenden, Alis davon abzubringen, seinen Heiratsplan durchzuführen. Thessala, Amme von Fenice und Zauberin, überzeugt den Kaiser, dass Fenice gestorben ist, und das Liebespaar zieht sich in einen 274

terirdischen Palast zurück, wo Cligès ungestört Fenice besuchen kann. Die zwei Liebenden werden dennoch entdeckt, flüchten aber an Artus’ Hof. Alis stirbt vor Kummer, das Paar kehrt zurück und besteigt den Thron von Byzanz. Die fiktive Szenerie von Cligès mit seinen byzantinischen Protagonisten und seinen anderen byzantinischen Elementen, wie zum Beispiel die Rituale am Kaiserhof oder die Anwesenheit von Eunuchen, erscheint als »griechischbyzantinisch«, obwohl es klar ist, dass die herrschende Ideologie und die Handlungsstruktur »lateinisch« sind. Im Falle Chrétiens freilich kam kein Mediävist auf den Gedanken, die byzantinischen Elemente von Cligès als Indiz einer »Byzantinität« zu interpretieren. Abgesehen von der Fiktionalisierung der Geschichte, die als eine Konvergenz erscheint, die auf ähnlichen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Vorgängen fußt, können wir eine weitere Tendenz erkennen  – die eines »positiven Exotismus«. Im Cligès wird mit spielerischer Ironie und zum ersten Mal in der westlichen europäischen Literatur ein positiver Orientalismus konstruiert. Die fließende Geographie des Romans, welche das England von König Artus mit Konstantinopel verbindet, bekräftigt den westlichen Blick auf Byzanz. Diese Perspektive, bei der die bestehende Ideologie des gesellschaftlichen Milieus des Künstlers eine exotische Szenerie ausfüllt, steht in direktem Bezug zu den Erfolgen der Kreuzritter in Palästina und dem wachsenden Wunsch der westlichen Fürsten nach einer umfassenderen Kontrolle des Ostens. Die aristokratischen Mäzene Chrétiens definieren mithilfe der Liebeserzählungen das ideelle Bild ihrer eigenen Welt durch das Bild eines anderen, des faszinierenden, aber auch kontrollierbaren Byzanz, wobei das »exotische« Byzanz im Cligès auf keinen Fall eine Aneignung byzantinischer Ideologien 275

seitens der Umwelt der Rezipienten des Romans widerspiegelt. Meiner Meinung nach zeigt der anonyme Dichter von Livistros und Rodamni dieselbe Haltung. 1204 war sicherlich ein gravierender Einschnitt, aber der Wiederaufbau der byzantinischen Herrschaft in Nikäa war schnell und erfolgreich, sodass Kaiser Johannes Vatatzes (1222-1254) sich als ein mächtiger Herrscher mit internationaler Ausstrahlung inszenieren konnte. Das geistige Milieu von Nikäa, das ich schon erwähnt habe, wie auch die militärischen Erfolge gegen die lateinischen Herrschaften von Konstantinopel und Thessaloniki, aber auch gegen das seldschukische Sultanat von Konya, in Verbindung mit einer Politik breiter diplomatischer Beziehungen, wie zum Beispiel mit dem kleinarmenischen Königtum, stärkten das Selbstvertrauen des Laskaridenhofs erheblich. Genau diese Situation spiegelt der Roman wider. Der Dichter konstruiert das ideale Bild der Welt seiner aristokratischen Mäzene – einer Welt, die sich in der Kaiserideologie des Romans kristallisiert – durch das Bild der faszinierenden, aber kontrollierbaren Alterität der lateinischen Königtümer des östlichen Mittelmeeres. Die fließende Geographie des Romans mit dem Königreich Armenien als seinen räumlichen Bezugspunkt einerseits und andererseits die einmalige Verwendung der »orientalischen« Schachtelerzählung bekräftigen den östlichen Blick nach Westen. Somit ist Livistros und Rodamni das erste und einzige Beispiel eines positiven »Okzidentalismus« in der byzantinischen Literatur. Innerhalb dieses Exotismus werden allerdings manche Themen teilweise anders behandelt, so zum Beispiel die Darstellung der Liebe und der Sexualität. In Livistros und Rodamni verliebt sich anfangs das Protagonistenpaar durch den Eingriff des Kaisers Eros, aber die beiden müssen danach in der fiktiven Realität der menschlichen 276

gen durch den Tausch von Briefen und Liedern ihre Liebe bekennen und ihr Zusammentreffen erkämpfen. Ähnlich geht es in Cligès den Eltern des Protagonisten, die sich ineinander verlieben und in einer Reihe von emotionalen inneren Monologen ihre Liebe sich selbst und zueinander gestehen. Aber in Livistros und Rodamni führt das Treffen des Liebespaares am Rande eines Waldes nicht zur sexuellen Erfüllung, während der griechische Prinz und die deutsche Prinzessin in Cligès sehr wohl sich in geheime und ehebrecherische sexuelle Aktivitäten einlassen. Die hochkultivierte Sprache der beiden Autoren (z.#B. die Erwähnung der antiken Mythologie und der Gebrauch eines durchdachten gepflegten rhetorischen Stils in ihrer Dichtung), zeigt die schöpferische Kraft einer gemeinsamen griechisch-römischen Schulbildung. Gleichzeitig finden sich eindeutige Hinweise auf »Altes« als eine Autorität erzeugende Instanz, wie das alte Buch in der Kirche des Klosters von Beauvais wo Chrétien die Geschichte von Cligès gefunden haben soll, oder die in einen byzantinischen basileus (Kaiser) umgeformte Figur des hellenischen erotideus (Amor) als höchste Macht im Reich der Liebe. Der Transfer dieser Hinweise in die Gegenwart der beiden Dichter erzeugt eine künstlerische »Modernität«, die man in älteren Werken der fiktionalen Liebeserzählung nicht findet. Aus der gemeinsamen Tradition der griechisch-römischen Erziehung entsteht in Livistros und Cligès ein bedeutendes Thema, welches die Poetik des Mittelalters bis hin zur Frühen Neuzeit stark beschäftigt. Es ist die Stellung des Künstlers in seiner Gesellschaft bzw. das Bild, welches ein Autor von sich selbst und seinem literarischen Werk im Text zeichnet. Es beindruckt die Leser beider Romane zu sehen, wie deren Dichter sich selbst, ihre Arbeit und ihr Werk in ähnlicher Weise darstellen. Sie erscheinen näm277 https://doi.org/10.5771/9783835349179

lich nicht als Meister des Wortes, sondern als Kunsthandwerker, die erstaunliche Gemälde, Statuen, Gebäude und sogar die Charaktere der Handlung als Kunstobjekte den Lesern$/$Hörern als Betrachtern darstellen. Auf diese Art werden die bildenden Künste und die wundersame Schönheit einer exotisch-fiktionalen Kunst zu einer wichtigen Metapher für die ästhetische Wahrnehmung der Dichtung als Kunstwerk und nicht als Werkzeug des Wissens. Abschließend möchte ich betonen, dass in mancher Hinsicht die Konvergenzen zwischen Ost und West sehr stark sind, aber eben ganz anders beschaffen, als das vereinfachen de und ahistorische Bild der Nachahmungsuntersuchung sie uns zeigte. Somit wird man wohl Goethe recht geben müssen, wenn er in seinem West-östlichen Divan schreibt: Wer sich selbst und andre kennt Wird auch hier erkennen: Orient und Occident Sind nicht mehr zu trennen.

Bibliographischer Anhang Der Text des Essays entspricht dem Vortrag wie er am 21.#9.#2021 im Café Europa gehalten wurde. Um den mündlichen Charakter zu bewahren, werden keine Anmerkungen hinzugefügt. Was die methodischen Fragen betrifft, die im ersten Teil des Essays kurz diskutiert werden, können sich die interessierten Leser in den folgenden zwei Aufsätzen des Verfassers informieren: P.#A.##Agapitos, Karl Krumbacher and the History of Byzantine Literature, Byzantinische Zeitschrift 108 (2015) 1-52 und Idem, Dangerous Literary Liaisons: Byzantium and Modern Hellenism, Byzantina 35 (2017) 33-126. Ein breites Panorama der 278

duktion von fiktionalen Erzählungen im östlichen Mittelmeer bietet der Sammelband von C. Cupane – B. Krönung (eds.), Fictional Storytelling in the Medieval Eastern Mediterranean and Beyond [Brill’s Companions to the Byzantine World 1], Leiden–Boston 2016. Der Originaltext der Erzählung von Livistros und Rodamni wurde kritisch herausgegeben von P.#A.##Agapitos, Ἀφήγησις Λιβίστρου καὶ Ροδάμνης. Κριτικὴ ἔκδοση τῆς διασκευῆς »ἄλφα« [Βυζαντινὴ καὶ Νεοελληνικὴ Βιβλιοθήκη 9], Athen 2006; für eine englische Übersetzung siehe Idem, The Tale of Livistros and Rodamne: A Byzantine Love Romance of the 13th Century. Translated with an Introduction [Translated Texts for Byzantinists 10], Liverpool 2021 (die Einleitung, ebd. S."1-53, ist eine breitangelegte Einführung zum Werk und seiner Stellung innerhalb der byzantinischen Romane). Kürzere Überblicke über die byzantinischen Romane wurden jüngst von P.#A.##Agapitos, The Bookseller’s Parrot: A Fictional Afterword, in: A. Goldwyn – I. Nilsson (Hg.), A Critical Guide to Medieval Greek Romance, Cambridge 2019, pp. 321-339 und C. Cupane, L’arte del romanzo a Bisanzio, Le forme e la storia n.#s. 13.#2 (2020) 71-104 veröffentlicht. Zur Problematik der Fiktionalität in Byzanz, dem Westen und dem (Nahen) Osten siehe die detaillierte Studie von P.#A.##Agapitos, In Rhomaian, Frankish and Persian Lands: Fiction and Fictionality in Byzantium and Beyond, in: P.#A.##Agapitos – L.#B.##Mortensen (Hg.), Medieval Narratives between History and Fiction: From the Center to the Periphery of Europe (c. 1100-1400), Copenhagen 2012, pp. 235-367. Zum »Orientalismus« als Ideologie und Praxis des Kolonialismus im 18. und 19. Jh. siehe das immer noch bedeutende Buch von Edward Said, Orientalism, New York 1978 (deutsche Übersetzung, Frankfurt 2009). Eine jüngste Veröffentlichung zum Thema ist der Sammelband von N.#G.##Chrissi  – A. Kolia-Dermitzaki  – A. 279

Papageorgiou (Hg.), Byzantium and the West: Perception and Reality (11th-15th c.), London – New York 2019, wo leider ein Kapitel zu den Romanen fehlt. Von der massiven Bibliographie zum altfranzösischen Roman und zu Chrétien insbesondere sei hier der noch ausgezeichnete Überblick von J. Frappier – R.#R.##Grimm (Hg.), Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Tome 1: Partie historique. Tome 2: Partie documentaire [Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters IV .1-2], Heidelberg 1978-1984 erwähnt. Nützlich ist auch der Sammelband von R.#L.##Krueger (Hg.), The Cambridge Companion to Medieval Romance, Cambridge 2000, wo aber die byzantinischen Romane nicht behandelt werden. Zwei ausgezeichnete neuere Ausgaben von Cligès sind die von Ch. Méla – O. Collet, Chrétien de Troyes: Cligès. Édition critique du manuscript B.!N. fr. 12!560. Édition avec traduction, notes et introduction [Lettres gothiques 4541], Paris, 1994 und S. Gregory – C. Luttrell, Chrétien de Troyes: Cligés [Arthurian Studies 24], Cambridge 1993. Die englische Prosaübersetzung von W.#W.##Kibler – C.#W.##Carroll, Chrétien de Troyes: Arthurian Romances [Penguin Classics], Harmondsworth 1991 ist sehr genau und gut lesbar. Wichtig ist die deutsche Übersetzung mit Kommentar von Ingrid Kasten, Chrétien de Troyes: Cligès. Auf der Grundlage des Textes von Wendelin Foerster übersetzt und kommentiert, Berlin  – New York 2006. Zu Cligès und sein Byzanzbild siehe Sh. Kinoshita, The Poetics of translatio: French-Byzantine Relations in Chrétien de Troyes’s Cligès, Exemplaria 8 (1996) 315-354. Goethes Vierzeiler gehört den sich im Nachlass gefundenen Gedichten zur zweiten Ausgabe des West-östlichen Divans, geschrieben im März 1826; zitiert nach J.#W.##Goethe, West-östlicher Divan. Studienausgabe, herausgegeben von M. Knaupp, Stuttgart 1999, S."521. 280

Mitschrift der Debatte

Johannes Pahlitzsch (Das war sehr spannend für mich. Ich bin ja kein Literaturfachmann, insofern habe ich vieles gehört, was mir so nicht bekannt war. Interessant fand ich, dass der französische Roman byzantinische Motive benutzt und der byzantinische Roman wiederum französische. Kann man durch literaturwissenschaftliche Methoden feststellen, ob es jeweils eine byzantinische oder eine französische Vorlage gab, auch wenn diese offenbar nicht bekannt sind? Panagiotis A. Agapitos (Ich habe genau diese zwei Texte ausgesucht, weil die Forschung in den vorigen einhundertzwanzig Jahren erfolglos versucht hat, Vorlagen zu finden. Das sind Texte, die nicht genealogisch auf irgendwelche Vorlagen zurückgehen, sondern sie beruhen auf dem Erzählmaterial, das durch den Handel, die Pilgerfahrten, das Militär transportiert wurde. Das Kaiserreich von Nikäa z.#B. hatte lateinische, französische und deutsche Söldner. Die brachten mit sich ihre Familien und allerlei Erzählungen, von denen die Byzantiner sehr viel erfuhren. Umgekehrt erfuhren die Kreuzzugsritter selbst sehr viel über den Orient. Diese Art von Verbindungen erlaubt den Dichtern dann eine Erzählung zu produzieren, zu schreiben, die nicht auf Vorlagen basiert. Es gibt andere Geschichten, die tatsächlich auf Vorlagen basieren. Die sehen aber auch ganz anders aus, als die erwähnten Beispiele, wobei auch die Vorlagen schon bearbeitet wurden. Das Interessante für mich ist, dass man hier klar sagen kann, dass 281

die zwei Texte nicht miteinander verbunden sind und sich doch gleichzeitig sehr stark in ihrem dichterischen, künstlerischen und erzähltechnischen Konzept ähneln. Und das, finde ich, ist kreativer, als der Versuch zu definieren, woher diese Romane stammen. Eine ähnliche Situation findet man übrigens auch im arabisch-persischen Bereich. Es gibt persische Romane des 11. und 12. Jahrhunderts, die ebenfalls genau dieselben Techniken wie die byzantinischen und die französischen Romane benutzen, von denen wir wissen, dass sie auch entsprechendes Material durch Kulturtransfer verwenden, ohne dass tatsächlich eine eigentliche Vorlage identifiziert werden kann. Dazu muss ich sagen, dass sowohl Chrétien als auch der persische Dichter Fakhr-odDīn Gorgānī (11. Jahrhundert) sich in den Prologen ihrer Romane Cligès und Vis und Ramin auf ein Buch beziehen, das sie als Vorlage benutzt haben. Aber dieses Buch existierte nicht. Es ist ein erfundenes Werk, das der fiktiven Geschichte Autorität bei Lesern oder Hörern verleiht. Der byzantinische Dichter hat so etwas überhaupt nicht benutzt, er geht direkt in die Geschichte hinein. Offensichtlich war solche Art der freien Erfindung kein Problem in Byzanz. Entsprechend finden wir keine Diskussionen über Fiktion, während wir im Westen eine sehr starke Diskussion finden, ob das Fiktive erlaubt ist, weil das Fiktive theoretisch eine Lüge ist. Es gibt eine ganze Diskussion darüber und ähnliche Debatten finden sich im persischen Raum. Das Problem wird dadurch überwunden, dass die Fiktion als ein Vertrag zwischen Publikum und Dichter verstanden wird, um dem »Als-ob« der Fiktion Legitimität zu verleihen.

Publikum (Ich habe eine ganz kurze sachliche Frage: Mir ist der Name des byzantinischen Autors nicht mehr im Gedächtnis. 282

Panagiotis A. Agapitos (Livistros und Rodamni ist anonym überliefert, was nicht bedeutet, dass der Autor in seiner Zeit nicht bekannt war. Publikum (Wann ist dieser Roman entstanden? Panagiotis A. Agapitos (Mitte des 13. Jahrhunderts, ungefähr 70 Jahre nach Chrétiens Cligès. Publikum (Was ich interessant finde, ist, dass Chrétien als Ziel des Romans, der geschrieben wurde in der Zeit, als das Schisma sich verstärkend entwickelte, Konstantinopel auserkor. In dieser Zeit spielt Konstantinopel dann offensichtlich für das lateinische Europa doch eine so positive, attraktive Rolle, dass man dort einen Roman enden lässt – im Glück gewissermaßen. Panagiotis A. Agapitos (Ja, es gibt auch einen anderen Roman, wo dasselbe passiert. Es handelt sich um den anonymen Partonopeus de Blois, verfasst um 1180. Das ist ein komplizierter Text von über 15#000 Versen, der großen Erfolg hatte und in mehrere europäische Sprachen übersetzt wurde. Partonopeus ist ein junger Fürst, der nach Konstantinopel fährt und sich in die Tochter des byzantinischen Kaisers verliebt, die eine Zauberin ist. Zwischen den beiden entsteht eine leidenschaftliche Liebesaffäre. Alles Mögliche passiert in der Handlung. Und zum Schluss verlässt Partonopeus sein Land und er geht nach Konstantinopel zurück, um mit Meliur dort zu leben! Johannes Pahlitzsch (Konstantinopel war in früherer Zeit natürlich noch viel mehr der Sehnsuchtsort, das kulturelle Zentrum und Vorbild für das westliche Europa und natürlich auch das östliche Europa. Und 283

nopel ist im 12. Jahrhundert – in anderer Weise – immer noch ein besonderer Ort. Die Lateiner hatten inzwischen viel aufgeholt, hatten ihr eigenes Selbstbewusstsein, was ihre Kultur angeht. Aber Konstantinopel war immer noch die einzige sozusagen antike Großstadt, die es im europäischen Bereich, im euro-mediterranen Raum gab. Und es waren im 12. Jahrhundert viel mehr Lateiner als früher in Konstantinopel.

Publikum (Anschließend daran vielleicht eine kurze Reihe von Bemerkungen. Was uns interessiert hat, ist die Funktion, die Byzanz im Hinblick auf Europa, auf das westliche, lateinische Europa hatte. Und da will ich einen Kontrast betonen, zu dem, was sie vorgetragen haben. Was stört an Byzanz in der westeuropäischen Kultur? Also, ich würde schon mit dem Namen anfangen. Es ist eine Stadt, die aber drei verschiedene Namen trägt: Byzanz, dann Konstantinopel, dann Istanbul  – das stört natürlich ein bisschen die sehr stabile Toponymie der westlichen Städte. Rom bleibt Rom, Paris bleibt Paris, London bleibt London. Damit will ich sagen, dass damit schon plakativ ein erstes Bild der Westeuropäer vom Orient entsteht: Orient ist unstabil, ist labil. Das fängt schon bei den Namen an. Wobei man verkennt, dass z.#B. Istanbul ein Derivat des Griechischen ist: eis tēn pólin. Also, da ist überhaupt nichts osomanisch daran. Was auch stört daran ist, dass Konstantinopel, dann Byzanz, dann Istanbul immer eine Hauptstadt war und eine Hauptstadt eines Imperiums und als Kontrast zu den westlichen politischen Konstruktionen. Das stört ein bisschen, weil: Wo ist die Hauptstadt des Imperiums in Westeuropa? Rom zum Teil, aber nicht nur. Das zeigt, dass dieses westliche Europa immer ein Problem mit seinem Zentrum hatte. Und wenn man versucht, ein Zentrum zu definieren oder zu positionieren, dann 284

lem, aber völlig peripherisch oder eventuell als Alternative dann Konstantinopel, also als Figur des Verlusts, des nicht Eroberungsfähigen. Nur dadurch, dass man 1204 Istanbul total zerstört hat … Ich glaube, dass 1204 die Kreuzzüge der Stadt mehr Schaden angerichtet haben als die Osmanen 1453. Was stört da noch? Diese Fusion zwischen Kirche und Staat. Der Kaiser als Oberhaupt einer Kirche, das störte die Könige und Kaiser in Westeuropa weniger als den Papst. Das konnte der Papst natürlich nicht akzeptieren. Und daher natürlich die Trennung. Was störte noch an Byzanz? Die bildliche Kultur: Imago als heiliges Mittel. Da sind die Heiligen praktisch im Bild selbst und das ist überhaupt nicht die traditionelle bildliche, wenn man so will, oder kunstgeschichtliche Tradition Westeuropas, die viel freier ist. Ich möchte Byzanz eher als Kontrastmittel betonen. Was wurde zu bestimmten Zeiten in Westeuropa benutzt, um sich zu definieren oder etwas zu instrumentalisieren? Z.#B. haben die Kreuzzüge sowohl Jerusalem als auch Konstantinopel getroffen. Aber letzten Endes war der Kreuzzug immer mehr eine interne Waffe der Kirche im Besonderen gegen Westeuropa selbst, also gegen die Häretiker, gegen Ungarn, Böhmen usw. Und der beste Beweis dafür ist, dass man diesen Fall von Konstantinopel datentechnisch so heroisiert  – 1453 als eine Zäsur in unserer Geschichte. Aber was hat Konstantinopel damals, gegen Mitte des 15. Jahrhunderts, für Westeuropa gewogen? Das war, würde ich sagen, fast nichts mehr oder sehr wenig. Und plötzlich kommt dieser Fall und das wird so hoch gehoben, wo man davor immer von Trennung, von Separation, von Abstoßung gesprochen hat. Und plötzlich ist da wieder Konstantinopel interessant, nach 1453, weil es wie bei Jerusalem um Verlust geht.

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Johannes Pahlitzsch (Ich finde, das sind sehr wichtige Bemerkungen. Wir haben auch in unserem Mainzer Forschungsprogramm verschiedene Formen  – den Leibniz-Wissenschafts-Campus Mainz$/$Frankfurt »Byzanz zwischen Orient und Okzident« und andere Formate  –, wo es eigentlich darum geht, die Bedeutung von Byzanz für Europa der Öffentlichkeit stärker bewusst zu machen. Man spricht immer von der europäischen Idee usw. Und in der Regel sind dann die Orthodoxie und die osteuropäischen Länder, die orthodox geprägt sind, fast schon Fremdkörper  – man denke nur an Huntingtons Vorstellung von verschiedenen Kulturkreisen. Uns geht vielmehr darum, die Bedeutung von Byzanz für Europa, für Gesamteuropa deutlich zu machen. Es gibt dabei diese Tendenz, Byzanz als das große Vorbild im Westen, dem alle nacheifern, darzustellen, als Brücke zwischen Orient und Okzident. Aber dazu gehört eben auch die Abgrenzung. Byzanz ist auch dadurch einflussreich, indem man sich davon abgrenzt. Die Kreuzzüge sind auch in dieser Hinsicht eine ganz entscheidende Epoche. Man sagt ja auch, dass die Kreuzzüge zur Bildung der westeuropäischen Identität und zur Bildung nationaler Identitäten mitbeigetragen haben, weil dann eben Deutsche plötzlich mit Franzosen zusammen im Heer waren und sich nicht vertragen haben. Gleichzeitig hat man sich von den Byzantinern abgegrenzt, weil die nicht dieselbe Sprache gesprochen haben, weil sie sich komisch angezogen haben, weil sie ihnen die Vorräte auf dem Durchzug zu teuer verkauft oder Kalk in das Mehl gemischt haben. Der berühmte Byzantinist Steven Runciman hat gesagt: Man solle nicht denken, dass dadurch, dass sich die Völker begegnen, es unweigerlich zur großen Völkerverständigung käme, ganz im Gegenteil. Genauso kann die verstärkte Begegnung zu einer zunehmenden Abgrenzung führen. In gewisser Weise ist das ein ganz wichtiger 286

Beitrag der Kreuzzüge. Aber es gibt eben beides. Es gibt diese Abgrenzung, gerade im kirchlichen Bereich, wo dann die Priester sich darüber beschweren, wie die anderen sich anziehen. Im Westen tragen die Bischöfe Prunkgewänder, die so kein griechischer Patriarch tragen würde. Und andersrum wundert man sich auch über die griechischen Bräuche. Aber gleichzeitig hat der byzantinische Kaiser im 12. Jahrhundert viele westliche Gelehrte an den Hof geholt, die Texte aus dem Lateinischen ins Griechische übersetzt haben. Zu dieser Zeit im 12. Jahrhundert fand insofern auch ein starker kultureller Austausch statt. So gibt es byzantinische Berichte darüber, dass der byzantinische Kaiser, als er mit seinem Heer vor Antiochia liegt, erwartet, dass der Fürst von Antiochia aus der Stadt kommt und seine Oberhoheit anerkennt. Als dieser das dann auch macht, da ihm nichts anderes übrig bleibt, wird vor den Toren von Antiochia ein Ritterturnier veranstaltet. In Byzanz gab es keine Ritterturniere. Man hat also hier eine westliche ritterliche Tradition übernommen. Und natürlich ist Kaiser Manuel auch der beste Ritter in der byzantinischen Quelle. Die Beziehungen lassen sich eben nicht nur in Schwarz und Weiß darstellen. Es gibt ganz verschiedene Entwicklungen, die gleichzeitig passieren.

Panagiotis A. Agapitos (Es ist tatsächlich so. Es gibt verschiedene Ebenen der Bildkonstruktionen. Z.#B., eine führende politische oder kirchliche Elite kreiert ganz andere Bilder, als in den mittleren oder niedrigen Stufen der Gesellschaft zu finden sind. Das ist der Grund, warum Geschichten zirkulieren. Man hört sich die Geschichten an, weil sie nicht unbedingt für die politische Elite eine Form der Selbstidentifizierung sind. Der Austausch findet leichter auf einer privaten, persönlichen Ebene statt. Nur ist diese private, persönliche Ebene ziemlich breit angelegt, 287

weil es viele Händler, Soldaten und Leute im Kloster gibt, die solche Geschichten hören. Und deswegen sind die Bilder der Elite oft auch dazu gedacht, die Selbstdefinition zu stärken, und das gilt auch für die Byzantiner. Ich meine, wenn man groß angelegte rhetorische Werke des 12. oder 13. Jahrhunderts liest, wo der Kaiser von einem bedeutenden Lehrer der Rhetorik gelobt wird, da sehen die Lateiner sehr schlecht aus, weil das ein Teil eines spezifischen politischen Bildes ist. Am nächsten Tag bei den eigentlichen Verhandlungen beim Abendessen sieht das ganz anders aus.

Publikum (Interessant ist auch, dass ab dem 13. Jahrhundert die westlichen fürstlichen und königlichen Dynastien keine byzantinischen Prinzessinnen mehr heiraten. Das ist auch eine Abtrennung. Vorher gab es eine Tradition. Die deutschen Kaiser oder die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches haben relativ oft aus Byzanz die eine oder die andere Prinzessin geholt. Das gilt auch für andere Dynastien. Dann ist da ein Stopp. Wie erklärt sich das? Johannes Pahlitzsch (Byzanz ist ja nach dem Vierten Kreuzzug 1204 im Grunde ein Kleinstaat. Besonders ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, als Byzanz sich in Bürgerkriege verstrickt, kann man teilweise sogar von einem Stadtstaat sprechen. Publikum (Ich hätte eine Frage an Herrn Agapitos. Herr Pahlitzsch hat ja in seinem Vortrag sehr deutlich gemacht, dass Religion zum einen eben Ost und West vereint und zum anderen immer wieder auch Anlass für Spaltungen bietet. Welche Rolle spielt denn der christliche Glaube in den Geschichten, die sie vorgestellt haben? 288

Panagiotis A. Agapitos (Es hängt von dem Typ der Geschichte ab. Schauen wir uns die Leben der Heiligen an. Da sieht man, dass das Material, aus dem das Leben der Heiligen entsteht, sehr viel Gemeinsames hat über die ganze Breite des eurasischen geographisch-politischen Raumes, sodass man sehr ähnliche Darstellungen von Heiligen im byzantinisch-orthodoxen, im katholisch-lateinischen und dann im französischen, deutschen, italienischen Sprachbereich hat, aber auch im arabisch-persischen Sprachbereich, wo natürlich die Heiligen Muslime sind. Und das ist sehr interessant. In diesem Sinne, stellt die Religion keine Grenze für die Verwendung des Erzählmaterials und der Erzähltechniken. Publikum (Ich meine jetzt speziell die zwei Geschichten, die sie vorgestellt haben, weil da ja auch so viel antike Mythologie rezipiert wird. Spielt da der christliche Glaube überhaupt eine Rolle? Panagiotis A. Agapitos (Gar keine. Das Christentum erscheint eher dekorativ, z.#B., wenn in Livistros und Rodamni die lateinische Prinzessin dem lateinischen König sagt: »Wenn du wirklich ein Christ bist, dann solltest du mit größerer Liebe mit mir umgehen.« Das ist ein kleines Moment. Der Kaiser von Ägypten ist natürlich ein Moslem, aber er erscheint nirgendwo als solcher. Entsprechend ist die Situation in Chrétiens Cligès. Da gibt es auch keine Diskussion, ob die Griechen Schismatiker sind und die junge bretonische Aristokratin den byzantinischen Prinzen heiraten soll oder nicht; vielmehr noch später in der Geschichte als die deutsche Kaisertochter in Köln sich in den byzantinischen Kaisersohn verliebt. Die Konfession der Protagonisten wird überhaupt nicht thematisiert. 289

Publikum(Ich finde es interessant, dass das mal zum Thema gemacht wird. Gerade Konstantinopel ist ja auch eine sehr kultivierte Stadt gewesen im Mittelalter. Man muss bedenken, was für wirtschaftliche Erfolge sie damals erzielt haben. Und ich denke für die Region war vielleicht das Eindringen des Christentums langfristig nicht unbedingt gerade positiv, denn sie waren ja früher eine sehr große und bedeutende Wirtschaftsmacht. Wenn ich noch einmal an meine Schulbildung denke, an Konstantinopel, so verbinde ich damit Gewürze, Bildung, Kultur, ganz viele Sachen, die sehr kultiviert sind. Und das war in der Zeit des Mittelalters in der westlichen Region, glaube ich, nicht ganz so. Da waren, glaube ich, einfach die kulturellen Zusammenhänge doch ein bisschen unterschiedlich. Das ist es, was mir jetzt auch auffällt in der Diskussion. Publikum (Dass nun Byzanz verschwunden ist auch durch die Errichtung des osmanischen Reiches, aber doch klammheimlich irgendwie weitergelebt hat, das ist mit Sicherheit zum einen der Religion zu verdanken. Auf der anderen Seite frage ich mich aber: Ist diese Trennung zwischen einem lateinischen und einem griechisch geprägten Europa die einzige Erklärung dafür, dass wir im Westen im lateinischen Europa so wenig wissen? Z.#B. dass natürlich der Kaiser von Byzanz auch die Wissenschaften gefördert hat usw. Das sind alles Dinge, die hier nahezu unbekannt sind. Wie war es zum Beispiel im Vergleich zu der Entwicklung des Aufbaues lateinischer Universitäten? Gab es so etwas Vergleichbares in Byzanz? Johannes Pahlitzsch (Da fällt mir ein Buch von meinem alten Lehrer, Paul Speck, ein zur sogenannten »Kaiserlichen Universität von Konstantinopel«. Nein, in der Form wie im lateinischen Europa gab es das in Byzanz nicht. 290

Das ist ein westliches Phänomen. Tatsächlich hat auch ein anderer Forscher, George Makdisi, mal versucht, den Ursprung der westlichen Universitäten auf islamische Lehreinrichtungen zurückzuführen, die man durch die Kreuzzüge kennengelernt habe, was aber in der Form sicherlich nicht haltbar ist. Grundsätzlich haben Sie aber recht. Ich würde das auch sagen, dass das byzantinische Reich bzw. die byzantinische Kultur zum Großteil in der orthodoxen Kirche weiterlebte. Byzanz wird im Westen dagegen einerseits vergessen, aber andererseits gibt es auch Phasen wie in der frühen Neuzeit z.#B. in Frankreich unter Ludwig XIV ., als man sehr interessiert an Byzanz war. Zu dieser Zeit wurden die ersten Grundlagen für die moderne Byzantinistik mitgelegt, weil dieses Bild des absoluten Herrschers den französischen König interessiert hat. In der Aufklärung ist Byzanz dagegen sehr schlecht weggekommen und vielleicht kann man da Edward Gibbon (gest. 1794) mit seinem Buch über den Fall des Römischen Reiches eine Mitschuld geben. Dies ist ein sehr einflussreiches Buch, gerade im englischsprachigen Raum, das im zweiten Jahrhundert in der römischen Kaiserzeit anfängt und dann über mehrere Tausend Seiten den Fall des Römischen Reiches bis 1453 beschreibt. Im Grunde wird also eine 1200-jährige Dekadenz beschrieben. Und dabei sagt Gibbon, könnte er jetzt noch fünf Bände füllen, aber das sei doch immer dasselbe, dieselbe Geschichte der Intrigen, der Dekadenz, der Korruption, die sich in Byzanz abspielt. Dieses ganz negative Bild vom byzantinischen Reich hat sich dann im 19. Jahrhundert, das ja ein prägendes Jahrhundert war, wie Herr Agapitos gesagt hat, durchgesetzt. So gibt es zum Beispiel diesen Begriff des Byzantinismus. Im Englischen findet man diesen Begriff, der eben arkane, korrupte Strukturen beschreiben soll, immer wieder noch heute etwa in Zeitungsartikeln. Aus unserem deutschen Sprachschatz ist 291

dieser Ausdruck dagegen ganz verschwunden. Die Leerstelle Byzanz ist bei uns schon so groß, dass wir nicht mal mehr das Wort Byzantinismus kennen.

Mitschrift: Toumi Hamadi

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Die Autoren

Norbert Abels Norbert Abels, Dramaturg, Publizist, Dozent, Musiker. Er ist seit 1985 an internationalen Bühnen (u.#a. Paris, London, Wien, Essen, Tel Aviv, Berlin, Hamburg, Brüssel, Lyon, Amsterdam, Oslo, Bayreuth, Salzburg, Athen) tätig. Als Professor für Musiktheaterdramaturgie und Theatergeschichte unterrichtet er seit 2005 an der Folkwang Universität der Künste, seit 1980 als Dozent für Weltliteratur am mediacampus frankfurt, als stellvertretender Studienleiter für Kultur- und Theatergeschichte (Theater- und Orchestermanagement – Master of Arts) an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main sowie als Dozent an der dortigen Johann Wolfgang Goethe-Universität; Zusammenarbeit mit dem Kabuki-Theater Tokio. Seit 2006 Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Von Spielzeit 1997$/98 bis Spielzeit 2019$/20 war er Chefdramaturg der Oper Frankfurt, von 2003 bis 2011 Produktionsdramaturg der Bayreuther Festspiele. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. Philosophische, kulturkritische, motivgeschichtliche und allgemeine literaturwissenschaftliche Essays zur Literatur- und Musikgeschichte. Verschiedene Veröffentlichungen zu Judentum und jüdischer Identität. Bibliografie (Auswahl): Sicherheit ist nirgends – Judentum und Aufklärung. Königstein 1981; Literatur und Film Erläuterungen. Bad-Homburg 1984; Franz Werfel mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei 293

burg 1990; Richard Wagner – Rund um den Ring (Hg.) Frankfurt 1994; Vom Expressionismus bis zur Exilliteratur – Deutsche Literatur im Überblick. Frankfurt 1990; Theater. Die wichtigsten Schauspiele von der Antike bis heute, Hildesheim 2002; Vivat Verdi (Hg.), Der Komponist und seine Aufführungsgeschichte, Frankfurt 2003; Der Komponist Matthias Pintscher – von Norbert Abels, Hans Klaus Jungheinrich u.#a., Mainz 2004; Benjamin Britten, Eine Monografie mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 2008; Ohrentheater – Szenen einer Operngeschichte, Frankfurt 2009; Mit Gott kann man nicht diskutieren: Widerworte – Skepsis und Revolte jüdischer Autoren, Frankfurt 2010; »… schafft Neues!« Richard Wagner in Frankfurt (mit Bernd Loebe), Frankfurt 2013; Welterlösung – Richard Wagners Parsifal, Frankfurt, 2014; Hans Werner Henze und seine Zeit (mit Elisabeth Schmierer). Laaber 2012; Notenlese – Die Sprachen der Oper. Frankfurt 2016; Georg Büchner: Die Ästhetik des Pathologischen, Frankfurt 2012$/2013; Verdi##& Wagner, Essen$/$Frankfurt 2014; Fadenzähler. Miniaturen zu literarischen Welten, 2020; Schlummernde Töne sind die Augen des Tages. Der literarische Expressionismus  – eine Einführung, Frankfurt 2021.

Panagiotis A. Agapitos Panagiotis A. Agapitos ist Gutenberg Research Fellow an der Universität Mainz und Professor für Byzantinische Literatur an der Universität von Zypern. Seine Forschungsinteressen konzentrieren sich auf Text- und Literaturkritik mit Schwerpunkt auf byzantinischer Rhetorik, Poetik, erotischer Fiktion und der Darstellung des Todes in der byzantinischen Literatur. 294

In den letzten dreißig Jahren hat er etwa achtzig wissenschaftliche Arbeiten, drei Monografien, die erste kritische Ausgabe des Versromans Livistros und Rhodamne aus dem 13.  Jahrhundert und in jüngerer Zeit den Band Medieval narratives between historey and fiction: from the centre to the periphery of Europe, 1100-1400 (Copenhagen) verfasst und herausgegeben. Eine englische Übersetzung von Livistros und Rodamne ist im Juni 2021 erschienen (Liverpool University Press), während er seit einigen Jahren an einer Geschichte der byzantinischen Literatur arbeitet. Als Gastprofessor hat er in Berlin, Paris, Rom und Stanford unterrichtet. In seiner freien Zeit veröffentlicht er historische Krimiromane, die sich in Byzanz abspielen.

Wolfgang Bunzel Prof. Dr. Wolfgang Bunzel leitet die Abteilung für Romantik-Forschung im Freien Deutschen Hochstift$/$Frankfurter Goethe-Museum und koordiniert in dieser Funktion die historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Werke und Briefe Clemens Brentanos. Er hat außerdem das Forschungsprojekt »Chronotopos Romantik« (2017-20) geleitet und gehört zum Kuratorenteam des Deutschen Romantik-Museums. Daneben ist er einer der beiden Geschäftsführer der Trägergesellschaft Brentano-Haus (Oestrich-Winkel). Er lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.#M., gibt seit 1998 das Internationale Jahrbuchs der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft mit heraus, war Vorstandsmitglied der Eichendorff-Gesellschaft und gehört dem Beirat der Stiftung »Wege wagen mit Novalis« an. Von ihm stammen zahlreiche Editionen sowie Buch- und Aufsatzpublikationen zur romantischen Literatur; darunter: 295

Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 3: Politische Schriften. Hg. von Wolfgang Bunzel, Ulrike Landfester, Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt a.#M. 1995; Schnittpunkt Romantik. Text- und Quellenstudien zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Festschrift für Sibylle von Steinsdorff. Hg. von Wolfgang Bunzel, Konrad Feilchenfeldt und Walter Schmitz. Tübingen 1997; Wolfgang Bunzel$/$Peter Stein$/$Florian Vaßen (Hg.): Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2003, ²2007; Wolfgang Bunzel$/$Hans Schultheiß (Hg.): Dichtung und Geschichte in Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter. Waiblingen 2007; Die Welt umwälzen. Bettine von Arnim geb. Brentano (1785-1859). Frankfurt a.#M. 2009; Romantik. Epoche – Autoren  – Werke. Hg. von Wolfgang Bunzel. Darmstadt 2010; Wolfgang Bunzel$/$Michael Hohmann$/$Hans Sarkowicz (Hg.): Romantik an Rhein und Main. Eine Topografie. Darmstadt 2014; Die Brentanos – eine romantische Familie? Hg. von Bernd Heidenreich, Evelyn Brockhoff, Anne Bohnenkamp-Renken und Wolfgang Bunzel. Frankfurt a.#M. 2016; Schatzhäuser der Romantik. Ein Wegweiser zu Museen, Wohnhäusern und Gedenkstätten. Hg. von Anne Bohnenkamp, Wolfgang Bunzel und Cornelia Ilbrig. Ditzingen 2021.

Nicolas Detering Nicolas Detering ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Bern. Er hat Studien zur europäischen Literatur der Frühen Neuzeit, zum Verhältnis von Religion und Literatur im 19. Jahrhunderts, zur Erzähltheorie und zur Lyrik des 296

Ersten Weltkriegs publiziert. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit. Humanismus – Barock – Frühaufklärung. Tübingen 2019 (gemeinsam mit Achim Aurnhammer) sowie Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europaliteratur in der Frühen Neuzeit. Köln$/$Weimar$/$Wien 2017.

Mamadou Diawara Mamadou Diawara ist stellvertretender Direktor des Frobenius-Instituts und Professor am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Point Sud Forschungszentrums für lokales Wissen in Bamako (Mali). Er studierte an der École Normale Supérieure, Bamako, und an der École des hautes études en sciences sociales, Paris, wo er 1985 im Fach Anthropologie und Geschichte promoviert wurde. 1998 folgte die Habilitation an der Universität Bayreuth, 2004 der Ruf an die Goethe-Universität. 1998 gründete er mit Moussa Sissoko das Point Sud Forschungszentrum für lokales Wissen. Er engagiert sich in Programmen zur Kooperations-Förderung zwischen afrikanischen und nichtafrikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Letzte Publikationen: Mamadou Diawara, Ute Röschenthaler (dir.), Normes étatiques et pratiques locales en Afrique subsaharienne: entre affrontement et accommodement, Paris, Éditions Manucius, 2019; Jean-Bernard Ouédraogo, Mamadou Diawara, Elísio S. Macamo (éds.), Translation revisited: contesting the sense of African social realities, Cambridge, Cambridge Scholars Publishing, 2019; Ute Röschenthaler, Mamadou Diawara (éds.), Copyright Africa: How intellectual property, media and markets transform immaterial 297

cultural goods, Wantage, Sean Kingston, 2018; Mamadou Diawara, Ute Röschenthaler (éds.), Competing norms. State regulations and local praxis in sub-Saharan Africa, Frankfurt, Campus Verlag, 2016.

Moritz Eggert Moritz Eggert wurde 1965 in Heidelberg geboren und ist einer der vielseitigsten und innovativsten Künstler der Neuen Musik-Szene. Als Komponist setzt er sich gerne zwischen alle Stühle, experimentiert mit unterschiedlichen Musikstilen und engagiert sich für ein Umdenken über den Zugang zu und den Umgang mit zeitgenössischer Musik. Durch in den Medien viel diskutierte Projekte wie »Ich akzeptiere die Nutzungsbedingungen« (Auftragswerk zum 100-jährigen Jubiläum der Goethe-Universität Frankfurt 2014) versucht er das gängige Bild der Neuen Musik als Angelegenheit alleine für ein Expertenpublikum aufzulösen. Neben seinem Schwerpunkt im Bereich Musiktheater, für das Eggert bisher 17 Opern schrieb, pflegt er gerne die kammermusikalischeren Zwischentöne, zum Beispiel in seinem Liederzyklus »Neue Dichter Lieben“ oder seinem Klavierzyklus »Hämmerklavier«. Zu seinen aktuellen Projekten gehören neue Opern für Bonn und Wien, mehrere neue Instrumentalkonzerte mit Orchester und die musiktheatralische Eröffnung des Beethovenfests 2022. Eggert tritt regelmäßig als Pianist, Sänger, Dirigent oder Performer auf und setzt sich nicht nur für das zeitgenössische sondern auch für das klassische Repertoire ein. Für die Neue Musikzeitung betreibt er den »Bad Blog of Musick«, den meistgelesenen Blog zum Thema zeitgenössische Musik in Deutschland. Er lebt zusammen mit seiner 298

Frau, der Schriftstellerin Andrea Heuser, sowie Sohn Milo und Tochter Siri in München. Mehr Infos unter www.moritzeggert.de

Richard Kuba Nach seinem Studium der Ethnologie und afrikanischen Geschichte in München und Paris wurde Richard Kuba in Bayreuth über die vorkoloniale Geschichte Westafrikas promoviert. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter zweier Sonderforschungsbereiche mit Afrika-Bezug in Bayreuth und Frankfurt am Main unternahm er längere Feldforschungen in Nigeria, Benin und Burkina Faso und war anschließend Assistent an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2005 ist er am Frobenius-Institut für das ethnologische Bildarchiv, das Felsbildarchiv und das Nachlassarchiv verantwortlich. Seit 2014 leitet er das deutsch-französische Projekt »Histoire croisée de l’ethnologie« (seit 2020 als DFG $/$A NR -Projekt) mit. Unter seinen neuesten Veröffentlichungen: Jean-Louis Georget, Richard Kuba, Egídia Souto (éds.), África mitos de origem. Africana Studia 35, Porto, Centro de Estudios Africanos Universidade Porto, 2022; JeanLouis Georget, Christine Hämmerling, Richard Kuba, Bernhard Tschofen (Hg.), Wissensmedien des Raums, Zürich, Chronos-Verlag, 2020; Jean-Louis Georget, Hélène Ivanoff, Richard Kuba (dir.), Construire l’ethnologie en Afrique coloniale: politiques, médiations et collections, Paris, Presses Sorbonne Nouvelle, 2020.

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Paul Michael Lützeler Lützeler, Paul Michael, geb. 1943, Rosa May Distinguished University Professor emeritus in the Humanities an der Washington University in St. Louis; dort Gruendungsdirektor des European Studies Program und sein Leiter von 1982 bis 2002. Korrespondierendes Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie der Academia Europaea; Forschungsschwerpunkte: literarischer Europadiskurs, deutschsprachige Exilliteratur 1933-1945 (mit Schwerpunkt auf Hermann Broch) und die deutschsprachige Gegenwartsliteratur; Publikationen: u.#a. die Monografien Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart (1992); Europäische Identität und Multikultur (1997); Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller (2007); Die Editionen Europa. Analysen und Visionen der Romantiker (1982); Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger (1994) sowie der Sammelbände Europe after Maastricht: American and European Perspectives (1994) und (mit Michael Gehler) Die Europäische Union zwischen Konfusion und Vision. Interdisziplinaere Fragestellungen (2022).

Christoph Mauntel Nach einem Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Osteuropäischen Geschichte und Slavistik an den Universitäten Göttingen und Heidelberg, promovierte Christoph Mauntel 2013 zum Thema Gewalt in Wort und Tat. Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich (veröffentlicht 2014 in Ostfildern bei Thorbecke). 300

Nach Forschungsstipendien und -aufenthalten 2014-2017 in Heidelberg, Paris, London und Moskau, wo er zu den Forschungsprojekten »Asia and Europe in a Global Context« und »Weltordnungen in Transkultureller Perspektive« beitrug, erhielt er eine 2015-2019 eine Postdocstelle am Graduiertenkolleg »Religiöses Wissen im vormodernen Europa« an der Universität Tübingen, wo er seit Oktober 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Mittelalterliche Geschichte (mit einem Forschungsvorhaben über »Die Vermessung der Welt. Religiöse Deutung und empirische Quantifizierung im mittelalterlichen Europa«) tätig ist. Sein neues Buch Asien – Europa – Afrika. Die Erdteile in der Weltordnung des Mittelalters ist gerade im Druck (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart). Letzte Publikationen: Christoph Mauntel, Geography and Religious Knowledge in the Medieval World, Berlin$/$Boston, De Gruyter, 2021; Christoph Mauntel, Volker Leppin (Hg.), Transformationen Roms in der Vormoderne, Basel$/$Stuttgart, Schwabe Verlag, 2019; Chris Jones, Christoph Mauntel, Klaus Oschema (eds.), A World of Empires. Claiming and Assigning Imperial Authority in the Middle Ages, Journal of the Medieval History Society, 22 (2017), Los Angeles.

Johannes Pahlitzsch Johannes Pahlitzsch ist seit 2009 Professor für Byzantinistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den Beziehungen von Byzanz zur islamischen Welt und im Besonderen der Geschichte der orthodoxen Kirche in Syrien und Ägypten im Mittelalter. Er hat eine Monographie zur Geschichte des 301

griechisch-orthodoxen Patriarchats von Jerusalem in der Zeit der Kreuzzüge verfasst, ist Mitherausgeber von Christian-Muslim Relations. A Historical Bibliography und hat die arabische Übersetzung des byzantinischen Rechtsbuchs Procheiros Nomos herausgegeben und kommentiert. Seit 2018 ist er der Sprecher des Graduiertenkollegs 2304 »Byzanz und die euromediterranen Kriegskulturen« und stellvertretender Sprecher des Leibniz-WissenschaftsCampus Mainz$/$Frankfurt »Byzanz zwischen Orient und Okzident«. Publikationen: Der arabische Procheiros Nomos. Untersuchung und Edition der arabischen Übersetzung eines byzantinischen Rechtstextes (Forschungen zur Byzantinischen Rechtsgeschichte 31), Frankfurt a.#M. 2014; Graeci und Suriani im Palästina der Kreuzfahrerzeit. Beiträge und Quellen zur Geschichte des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Jerusalem (Berliner Historische Studien 33, Ordensstudien 15), Berlin 2001; Ambassadors, Artists, Theologians. Byzantine Relations with the Near East from the Ninth to the Thirteenth Centuries (Byzanz zwischen Orient und Okzident 12), hg. von Zachary Chitwood und Johannes Pahlitzsch, Mainz 2019; Christian-Muslim Relations. A Bibliographical History (The History of Christian-Muslim Relations 11, 14, 15, 17, 20), hg. von David Thomas, Johannes Pahlitzsch et al., Bde."1-5, Leiden 2009-2013; »Byzantine Monasticism and the Holy Land: Palestine in Byzantine Hagiography of the 11th and 12th Centuries«, in: Heirs of the Apostles. Studies on Arabic Christianity in Honor of Sidney H. Griffith (Arabic Christianity 1), hg. von D. Bertaina, et al., Leiden 2019, S."231-255; »The Melkites in Fatimid Egypt and Syria (1021 to 1171)«, in: Medieval Encounters 21 (2015), S. 485-515; »Christian Pious Foundations as an Element of Continuity Between 302

Late Antiquity and Islam«, in: Charity and Giving in Monotheistic Religions (Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients 22), hg. von Miriam Frenkel und Yaacov Lev, Berlin$/$New York 2009, S."125-151.

Frank Rexroth Frank Rexroth, geboren 1960, ist Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Er forscht dort zur Kultur der Gelehrten, Experten und Intellektuellen des mittelalterlichen Europa, zur vergleichenden Sozialgeschichte und zur mittelalterlichen Erzählpraxis. Außerdem arbeitet er zur Theorie und Geschichte der historischen Wissenschaften – Letzteres umfasste auch Arbeiten zu Ernst Robert Curtius. Rexroth ist Ordentliches Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften, Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica sowie des Kuratoriums des Historischen Kollegs (München) und Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift. Er war Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg und dem Institute for Advanced Studies, Princeton (N.#J.).

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