Buchgestützte Subjektivität: Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne 9783110928938, 9783484630369

Discourse-analytic, media-historical, and genre-theoretical approaches are combined here to cast new light on the pre-hi

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Buchgestützte Subjektivität: Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne
 9783110928938, 9783484630369

Table of contents :
EINLEITUNG: LEKTÜREPRAKTIKEN UND LITERARISCHE SELBSTKONSTITUTION
1. Das Buch als Spiegel
2. Applikation und Selbsttechnik
VOM SOKRATISCHEN DIALOG ZUM SELBSTGESPRÄCH DES LESERS: ANTIKE VORGESCHICHTE DER BUCHGESTÜTZTEN SELBSTKONSTITUTION
I. Selbsterkenntnis und Selbstsorge
1. Das Ideal der ungegenständlichen Wissensform
2. Ein Goldenes Zeitalter der Selbstkultur? Michel Foucaults Interpretation der antiken Ethik
3. Die verschleierte Gegenständlichkeit des Wissens
II. Dialektische Strategien der Selbstsorge: Platons Alkibiades I
1. Der platonische Alkibiades – ein Musterfall praktischer Selbstsorge?
2. Der sokratische elenchos
3. Die Erfahrung des Nicht-Wissens: Der elenchos als Instrument der Selbsterkenntnis
4. Akribische Begriffsanalysen: Die Diärese als Instrument der Selbsterkenntnis
5. Der Spiegel der Sprache: Das Paradeigma als Instrument der Selbsterkenntnis
III. Platons Konzeption der Lektüre: Dialogform und mimetische Aneignung des Geschriebenen
1. Das Paradeigma und die Technik des visuellen Lesens
2. Dialogform und Schriftkritik
3. Lektüre als mimetische Einübung in philosophisches Verhalten: Die Vorrede zum Theaitetos-Dialog
IV. Der Freund als Spiegel: Zur Problematik von Selbsterkenntnis und praktischer Übung in der aristotelischen Ethik
1. Aufwertung der ethischen Übung
2. Übung und die Aneignung sittlichen Wissens
3. Das glückliche Leben – ergon oder energeia?
4. Der Freund – Spiegel des Selbst auf der Schwelle zwischen energeia und ergon
5. Eine neue Form von Übung: Musikalische Charakterbildung
V. Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung: Von der Deklamation zur Lektüre- und Schreibübung
1. Isokrates und die Sophisten
2. Die Funktion der rhetorischen Lektüreübung – Quintilians Institutio oratoria
3. Die Rede – ein dissimuliertes Schreiben: Quintilians Konzeption der Schreibübung
4. Die Lektüreübung im Grenzbereich von rhetorischer institutio und philosophischer Charakterbildung: Ciceros De oratore
VI. Verinnerlichung der dialektischen Struktur: Schrift als Instrument der Selbstdisziplinierung in der kaiserzeitlichen Philosophie
1. Der neue Abstand zum Lehrer: Epiktets Kritik an der sokratischen Methode
2. Der neue Abstand zum Selbst: Plutarch und die Kunst des Hörens
3. Der neue Abstand zum Freund: Der Brief als pädagogisches Instrument in Senecas Epistulae morales
6. Ein Selbstgespräch in schriftlicher Form: Marc Aurels TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ
VOM PHILOSOPHISCHEN SELBSTGESPRÄCH ZUR HERMENEUTIK DES GEFALLENEN WILLENS: LITERARISCHE FORMEN DES UMGANGS MIT DEM SELBST BEI AURELIUS AUGUSTINUS
VII. Das Scheitern der Dialektik: Augustins philosophisches Frühwerk
1. Die Unordnung des Gesprächs: Zufälle und Einfälle in Augustins Dialogschrift De ordine
2. Das Soliloquium: Verbalisierung des Denkens, Verschriftlichung der inneren Rede
VIII. Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen: Augustins karitative Hermeneutik der Mit-Teilung
1. Der hermeneutische Schlüssel der caritas: De catechizandis rudibus
2. Aneignung durch Weggabe: De doctrina christiana
IX. Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik
1. Die strukturelle Offenheit der Confessiones
2. Schwierigkeiten mit dem Anfang
3. Mütterlicher Sprachunterricht: Paradigma für das Wirken der Vorsehung (Buch I und II)
4. Traumbotschaften und philosophische Bücher: Erste Schritte auf dem Weg zum ›richtigen‹ Lesen (Buch III und IV)
5. Stumme Lektüre und spirituelle Schau: Das gefährliche Beispiel des Ambrosius (Buch V–VII)
6. Rehabilitation der Erzählung: Die narrative Dimension des Bekehrungsgeschehens (Buch VIII)
7. Das Konversionsszenario im Mailänder Garten: Aufdeckung der Paradoxien augustinischer Selbsthermeneutik
8. Bekenntnis als Dialog, Exegese als Bekenntnis: Die karitative Öffnung des autobiographischen Textes
VON DER HERMENEUTIK DES WILLENS ZUR ÄSTHETISIERUNG DER SELBSTERKENNTNIS: FRANCESCO PETRARCA IM SPANNUNGSFELD VON ANTIKER SELBSTTECHNOLOGIE UND AUGUSTINISCHER SÜNDENANALYSE
X. Lesen als Gespräch mit dem Autor: Petrarcas humanistische Konzeption der Lektüre
1. Lektüre – eine Quelle der experientia
2. Lesen und Schreiben als Selbsterprobung: Petrarcas Revision der stoischen Lektürepraktiken
3. Gespräche mit Ruinen: Der Brief als Paradigma des humanistischen Lektüreverfahrens
XI. Petrarcas Secretum: Selbsthermeneutik im Geiste der Selbstästhetisierung
1. Christlicher Humanismus: Petrarcas Verhältnis zu Augustinus
2. Das literarische Supplement der Wahrheit: Die Schrift als ästhetischer Erfahrungsraum
XII. Der Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux: Petrarcas Allegorie des Lesens
1. Sehen vs. Lesen
2. Der Berg als Metapher des Selbst
3. Schreiben als Selbstbetäubung
Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Wörterbücher und Hilfsmittel
3. Forschungsliteratur
Namensverzeichnis

Citation preview

C O M M U N I C A T E

)

Band 36

Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Christian Moser

Buchgestützte Subjektivität Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Piaton bis Montaigne

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006

Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-63036-9 ISBN-10: 3-484-63036-1

ISSN 0941-1704

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Linsen mit Spektrum, Mössingen Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Vorbemerkung

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer Arbeit, die im Sommersemester 2003 unter dem Titel Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution: Zur Vorgeschichte der neuzeitlichen Selbstdarstellung voη der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Habilitationsschrift zur Erlangung der venia legendi für das Fach Vergleichende Literaturwissenschaft angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dolf Oehler für langjährige Unterstützung und Förderung. Prof. Dr. Franz-Josef Albersmeier, Prof. Dr. Jürgen Fohrmann, Prof. Dr. Helmut J. Schneider und Prof. Dr. Sabine Sielke danke ich für ihre gutachterlichen Stellungnahmen und für konstruktive Kritik. Dank gebührt auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Habilitandenstipendiums sowie der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung für die Gewährung einer großzügigen Druckkostenbeihilfe. Schließlich danke ich Prof. Dr. Fritz Nies und Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp für die Aufnahme des Buches in die Reihe »Communicatio«. Das Buch ist meiner Frau Alexandra Haberkamp gewidmet, ohne deren unermüdliche und tatkräftige Unterstützung das Projekt nie zu einem Abschluß gelangt wäre.

Technischer Hinweis Griechische Texte werden in dieser Untersuchung in deutscher Übersetzung zitiert; wichtige Begriffe und Passagen werden dabei parenthetisch im griechischen Original angeführt. Lateinische Texte werden im Original zitiert; die deutschen Ubersetzungen dazu finden sich in den Fußnoten. Lateinisch ν für u wird aus Gründen leichterer Lesbarkeit stillschweigend zu u korrigiert. Es wird in der Regel auf einschlägige neuere Ubersetzungen zurückgegriffen. Gelegentliche Modifikationen werden als solche kenntlich gemacht. Alle in den neueren Sprachen abgefaßten Texte werden im fremdsprachlichen Original zitiert. Hervorhebungen entstammen, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, dem Original.

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG: LEKTÜREPRAKTIKEN UND LITERARISCHE SELBSTKONSTITUTION 1.

Das Buch als Spiegel Buch des Selbst und Buch der Welt (1) Selbstlektüre — Selbstformung — Selbstverschriftlichung (5) - Selbstverschriftlichung und Autobiographie (8)

2.

Applikation und Selbsttechnik Zur Geschichte des Begriffs der Applikation (12) - Gadamers Konzept der Applikation (17) - Applikation als Selbsttechnik? (22) - Antike Schau vs. christliche Lektüre? (25)

1

12

V O M SOKRATISCHEN DIALOG ZUM SELBSTGESPRÄCH DES LESERS: ANTIKE VORGESCHICHTE DER BUCHGESTÜTZTEN SELBSTKONSTITUTION I.

Selbsterkenntnis und Selbstsorge

31

1.

Das Ideal der ungegenständlichen Wissensform Verflechtung von Selbst- und Weltwissen ( 3 1 ) - Mündliche vs. schriftliche Unterweisung (41)

31

2.

Ein Goldenes Zeitalter der Selbstkultur? Michel Foucaults Interpretation der antiken Ethik 49 Gibt es ein antikes Selbst? (49) - Genealogie des Subjekts vs. Ästhetik der Existenz (52) — Foucaults Abwertung der Selbsterkenntnis (57) - Aufspaltung der Einheit von Wissens- und Subjektkonstitution (59) - Rhetorische Aufrüstung der Wahrheit; Artifizialität des Selbst (66)

3.

Die verschleierte Gegenständlichkeit des Wissens Ethopoetisches Schreiben (69) - Mneme und hypomnesis (72) - Inszenierung der Schrift (74)

69

VIII

Inhaltsverzeichnis

II. Dialektische Strategien der Selbstsorge: Piatons Alkibiades 1

79

1.

Der platonische Alkibiades — ein Musterfall praktischer Selbstsorge?. . Neuere Deutungen des Alkibiades (80) - Die Rolle der Dialektik (84)

79

2.

Der sokratische elenchos Wissensprüfung als Lebensprüfung (87) - Elenktisches vs. rhetorisches Beweisverfahren (89)

87

3.

Die Erfahrung des Nicht-Wissens: Der elenchos als Instrument der Selbsterkenntnis Elenktische Prüfung des Alkibiades (96) - Scheitern des elenchos und Königsrede (99)

96

4.

Akribische Begriffsanalysen: Die Diärese als Instrument der Selbsterkenntnis 104 Das Schneideinstrument der Sprache (104) - Definition des Selbst (107)

5.

Der Spiegel der Sprache: Das Paradeigma als Instrument der Selbsterkenntnis 110 Paradeigma und Metapher (112) - Spiegelungsfunktion und Sehstrahltheorie (114) - Sokrates als Paradeigma (120)

III.

Piatons Konzeption der Lektüre: Dialogform und mimetische Aneignung des Geschriebenen

125

1.

Das Paradeigma und die Technik des visuellen Lesens 125 Das Paradeigma als Lesehilfe (128) - Paradeigma und Dialogform (134)

2.

Dialogform und Schriftkritik 135 Der geschriebene Dialog als Gedächtnisstütze (Szlezak) (138) - Der geschriebene Dialog als Auslöser eines hermeneutischen Gesprächs zwischen Text und Leser (Schleiermacher) (144)

3.

Lektüre als mimetische Einübung in philosophisches Verhalten: Die Vorrede zum Theattetos-Dia\og 149 Diegesis — hypomnesis — mimesis: Die Abfassung der Dialogschrift (150) — Die mimetische Aktivität des Lesers (153)

IV.

Der Freund als Spiegel: Zur Problematik von Selbsterkenntnis und praktischer Übung in der aristotelischen Ethik

159

Aufwertung der ethischen Übung

159

1.

Inhaltsverzeichnis

IX

2.

Übung und die Aneignung sittlichen Wissens 163 Ethischer Diskurs und moralische Praxis (163) - Gesetz und Gewöhnung (168)

3.

Das glückliche Leben - ergon oder energeia? 173 Die Problematik der moralischen Wertschätzung (173) — Glück und Lebensgeschichte: Das Beispiel des Priamos (177)

4.

Der Freund - Spiegel des Selbst auf der Schwelle zwischen energeia und ergon 183 Typen der Freundesliebe (184) — Die spekuläre Funktion der Tugendfreundschaft (188) - Selbstbespiegelung im Freund vs. Selbstbespiegelung in der Schrift (192)

5.

Eine neue Form von Übung: Musikalische Charakterbildung 195 Charakterbildung durch das Hören von Musik (196) — Charakterbildung durch das Spielen von Musik (199)

V.

Die melete im Kontext der rhetorischen Ausbildung: Von der Deklamation zur Lektüre- und Schreibübung

203

1.

Isokrates und die Sophisten 203 Aufwertung der Urteilskraft (203) - Muster einer sophistischen Redeübung (211)

2.

Die Funktion der rhetorischen Lektüreübung — Quintilians Institutio oratoria Copia und iudicium (216) - Lektüreübung und imitatio (218)

214

3.

Die Rede - ein dissimuliertes Schreiben: Quintilians Konzeption der Schreibübung 225 Das schützende Gehäuse der Schrift (226) - Schreibübung und Improvisation (229) - Schrift als Instrument rhetorischer Askese (234)

4.

Die Lektüreübung im Grenzbereich von rhetorischer institutio und philosophischer Charakterbildung: Ciceros De oratore 237 Ciceros Konzept von Übung und imitatio (240) - Rhetorische Übung als philosophisches Therapeutikum (247)

VI.

Verinnerlichung der dialektischen Struktur: Schrift als Instrument der Selbstdisziplinierung in der kaiserzeitlichen Philosophie

1.

255

Der neue Abstand zum Lehrer: Epiktets Kritik an der sokratischen Methode 259 Epiktets elenktisches Experiment (259) - Hören und Schweigen (262)

χ

Inhaltsverzeichnis

2.

Der neue Abstand zum Selbst: Plutarch und die Kunst des Hörens 266 Hören als Selbstprüfung (266) — Der Freund: Anstoß zur Selbstprüfung (271)

3.

Der neue Abstand zum Freund: Der Brief als pädagogisches Instrument in Senecas Epistulae morales 277 Briefliche Unterweisung vs. contubernium (279) - Propädeutik des Lesens (283) — Stoische Praktiken des Lesens und Schreibens: Ep. 33 (285) - Kein Lesen ohne Schreiben (289) — Epistolare Selbstgespräche: Der Brief als Medium der Introspektion (293)

6.

Ein Selbstgespräch in schriftlicher Form: Marc Aurels TA ΕΙΣ ΕΑΥΤΟΝ 300 Die Aufzeichnungen Marc Aurels: Hypomnemata oder Selbstgespräch? (301) — Selbstreform durch Selbstverschriftlichung: Die Funktion des Lebensrückblicks in den Aufzeichnungen Marc Aurels (307)

V O M PHILOSOPHISCHEN SELBSTGESPRÄCH ZUR HERMENEUTIK DES GEFALLENEN WLLLENS: LITERARISCHE FORMEN DES UMGANGS MIT DEM SELBST BEI AURELIUS AUGUSTINUS VII. Das Scheitern der Dialektik: Augustins philosophisches Frühwerk . . . 325 1.

Die Unordnung des Gesprächs: Zufälle und Einfälle in Augustins Dialogschrift De ordine 325 Ordo rerum und ordo studiorum (325) - Gestörte Ordnungen (330) - Das Schreiben: Eine ordnungspolitische Maßnahme (334) - Gespräch unter Abwesenden (340) - Die Desintegration des Gesprächs: Soliloquium und narratio als Alternativen (344)

2.

Das Soliloquium·. Verbalisierung des Denkens, Verschriftlichung der inneren Rede 352 Das Soliloquium und seine Vorläufer (352) - Die augustinische Sprachund Zeichentheorie (355) - Verbalisierung, Dialogisierung und Verschriftlichung der inneren Rede (360) - Dialektische Methode vs. disruptive Illumination (364) - Innere Spaltung des Subjekts (373) Alternativen zur Dialektik: Hermeneutisches Erraten und diegetischer Bericht (379)

Inhaltsverzeichnis

VIII. Sich selbst verstehen im Verstehen des anderen: Augustins karitative Hermeneutik der Mit-Teilung

XI

387

1.

Der hermeneutische Schlüssel der Caritas·. De catechizandis rudibus 391 Denken und Sprechen (391) - Selbstlektüre im anderen; liebendes Entgegenkommen durch Erzählen (400)

2.

Aneignung durch Weggabe: De doctrina christiana 407 Kritik an der charismatischen Schriftauslegung (407) - Verfertigung der Gedanken beim Schreiben (413)

IX.

Die Confessiones als Paradigma der christlichen Selbsthermeneutik. . 421

1.

Die strukturelle Offenheit der Confessiones 421 Die Confessiones in der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung (422) - Konversion als Deutungsschema und als deutungsbedürftiges Ereignis (427)

2.

Schwierigkeiten mit dem Anfang 431 Der unsichere Grund der Bekenntnisrede: Das Prooemium zu Buch I (432) - Der fremde Beginn des eigenen Lebens: Darstellung der infantia (437)

3.

Mütterlicher Sprachunterricht: Paradigma für das Wirken der Vorsehung (Buch I und II) 443 Ein alternativer Anfang:pueritia vs. infantia (443) - Muttersprache und pueriles Verlangen (449) - Ambivalenz des Spracherwerbs: Sündenfall und Gnadenerweis (455)

4.

Traumbotschaften und philosophische Bücher: Erste Schritte auf dem Weg zum >richtigen< Lesen (Buch III und IV) 463 Erziehung zum Lesen; Erziehung durch Lesen (463) - Die Lektüre des ciceronianischen Hortensius: Ein frühes Konversionserlebnis? (466) - Cicero als Leselehrer: Die Technik des >Uberlesens< (473) - Mütterlicher Unterricht im close reading (478)

5.

Stumme Lektüre und spirituelle Schau: Das gefährliche Beispiel des Ambrosius (Buch V-VII) 481 Ambrosius — eine >väterliche< oder eine >mütterliche< Lehrerfigur? (481) - Der jungfräuliche Körper des stummen Lesers (488) - Die Lektüre der Platonicorum libri: Spiritueller Aufstieg nach ambrosianischem Muster (497) - Das Scheitern des spirituellen Aufstiegs: Einsicht in den Scheincharakter der ambrosianischen integritas (502)

XII 6.

Inhaltsverzeichnis Rehabilitation der Erzählung: Die narrative Dimension des Bekehrungsgeschehens (Buch V I I I )

510

Die Geschichte des Victorinus: Die mitreißende Kraft des Bekenntnisses (512) - Die perverse Ö k o n o m i e des Erzählens (519) - Die Erzählung Ponticians: Der Codex als Verkörperung der Vorsehung (527) - Das hagiographische Modell der narratio und sein augustinisches Gegenmodell (529) - Willenskonflikt und Konversionsschema (537) 7.

Das Konversionsszenario im Mailänder Garten: Aufdeckung der Paradoxien augustinischer Selbsthermeneutik

541

Das tolle, lege: Eine direkte Ansprache des Sünders? (541) - Scham und Schuld: Die potenzierte Mittelbarkeit der Selbsterkenntnis ( 5 4 9 ) — Selbsterkenntnis als hermeneutischer Raub (556) 8.

Bekenntnis als Dialog, Exegese als Bekenntnis: Die karitative Öffnung des autobiographischen Textes

563

Die dialogische Einfassung der bekenntnishaften narratio (563) - Das Beispiel des Birnendiebstahls (566) - Der offene Raum der Schrift (570) - Verharren in der Mittelbarkeit der Schrift: Die Psalmenlektüre von Cassiciacum (577) - Buch X I - X I I I : Die neue Form des Lektürebekenntnisses (581) — Coda: Die verhinderte Rückkehr zum Vater (586) V O N DER HERMENEUTIK DES W I L L E N S ZUR ÄSTHETISIERUNG DER SELBSTERKENNTNIS: FRANCESCO PETRARCA IM SPANNUNGSFELD VON ANTIKER SELBSTTECHNOLOGIE UND AUGUSTINISCHER SÜNDENANALYSE X.

Lesen als Gespräch mit dem Autor: Petrarcas humanistische Konzeption der Lektüre

1.

Lektüre — eine Quelle der experientia

597 597

Philosophie als ars vitae (597) - Erfahrungsbedürftigkeit und Erfahrungsverlust (602) - Wiederbelebung des Vergangenen durch Kritik

(608) 2.

Lesen und Schreiben als Selbsterprobung: Petrarcas Revision der stoischen Lektürepraktiken

612

Erfahrung der Zeit (613) - Lektüre der Zeit ( 6 1 7 ) - Experimente mit der Zeit ( 6 2 1 ) 3.

Gespräche mit Ruinen: Der Brief als Paradigma des humanistischen Lektüreverfahrens Identifikation durch Nicht-Übereinstimmung ( 6 2 6 ) - Der Text als Ruine (634) - Epistolartheorie und Lektürekonzeption (640)

626

Inhaltsverzeichnis

XI.

1.

XIII

Petrarcas Secretum·. Selbsthermeneutik im Geiste der Selbstästhetisierung

647

Christlicher Humanismus: Petrarcas Verhältnis zu Augustinus

647

Augustinus als Symbolgestalt des christlichen H u m a n i s m u s (650) - Das Lektüre-Gespräch: Flucht in die Träumerei oder Konfrontation mit der Wahrheit? (654) — Das Secretum: Eine meditative Lektüre der Confessiones (659) 2.

Das literarische Supplement der Wahrheit: Die Schrift als ästhetischer Erfahrungsraum

667

Der Wille zur Selbsttäuschung (667) - Der großzügige Inquisitor (675) - Die Asthetisierung des Selbstverhältnisses (679) XII. Der Bericht über die Besteigung des M o n t Ventoux: Petrarcas Allegorie des Lesens

687

1.

Sehen vs. Lesen

687

2.

Der Berg als Metapher des Selbst

693

Der Bergsteiger als Philologe (693) — Asthetisierender Lebensrückblick (705) 3.

Schreiben als Selbstbetäubung 710 Flucht in die Literatur (710) - Verweigerung der karitativen Mit-Teilung (719)

Schlußbetrachtung 727 Resümee (727) — Ausblick: Michel de Montaignes essayistische Selbstenteignung (734) Literaturverzeichnis

743

1.

Quellen

743

2.

Wörterbücher u n d Hilfsmittel

747

3.

Forschungsliteratur

747

Namensverzeichnis

761

Einleitung: Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution

1. Das Buch als Spiegel Buch des Selbst u n d Buch der Welt Bis weit in die Neuzeit hinein ist die Problematik der Selbsterkenntnis an die Tätigkeit des Lesens gekoppelt. Das Individuum, das die Wahrheit seines Selbst ergründen will, wendet sich diesem nicht direkt zu, sondern rekurriert auf das Hilfsmittel des Buches. Die Einsicht in sein eigenes Inneres wird ihm durch die Lektüre autoritativer Schriften vermittelt. Der Kirchenvater Aurelius Augustinus bringt die enge Verbindung zwischen Selbsterkenntnis und Lektüre dadurch zum Ausdruck, daß er die Bibel mit einem klaren Spiegel vergleicht: »[S]unt tamquam sincerissimum speculum proposita hominibus oracula caelestium paginarum, ut ibi quisque videat quodlibet peccatum quantum sit, quod forte magnum est ex male viventium caeco more contemnitur.« 1 Der Spiegel der Schrift führt dem Leser vor Augen, wie seine Seele eigentlich beschaffen sein sollte; er zeigt ihm aber zugleich auch auf, wie es tatsächlich um sie bestellt ist. Die heilsame Selbsterkenntnis, die dem Sünder durch Lektüre zuteil wird, beruht auf der Einsicht in diese Diskrepanz zwischen dem Soll- und dem Ist-Zustand seiner Seele. Der Spiegel der Schrift enthüllt dem Leser die sündhafte Verderbnis seines Tuns, die ihm in der gewöhnlichen Lebenspraxis und in der unmittelbaren Selbstwahrnehmung verborgen bleibt. Die Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Lektüre, auf die Augustinus verweist, hat im Okzident für mehr als ein Jahrtausend Bestand. Ein Indiz für ihre Persistenz ist die weite Verbreitung der Metapher vom Buch als Spiegel der Seele, die bis ins 17. Jahrhundert hinein immer wieder dann Verwendung findet, wenn

1

Aurelius Augustinus: Contra epistolam Parmeniani libri tres. In:CEuvres de Saint Augustin. Vol. 28: Traites anti-donatistes I. Textes de R. Anastasi, M. Petschenig et G. Bouissou, introduction et notes par Y. Congar, traduction de G. Finaert. Bruges et Paris 1963 (Bibliotheque Augustinienne). S. 410 (III.2.9). (»Die Orakelsprüche der himmlischen Bücher sind den Menschen wie ein sehr klarer Spiegel vor Augen gestellt, damit dort ein jeder sehe, wie groß seine Sünde ist — eine Sünde, deren gewaltige Schwere gerade von denen, die schlecht leben, aus blinder Gewohnheit unterschätzt wird.« [Ubersetzung von mir, Ch. M.]).

2

Einleitung

es darum geht, das Individuum zur Erkenntnis seiner selbst zu führen, 2 Der Weg nach innen, in die verborgenen Tiefen des Ichs, führt zumeist über Bücher - über die Heilige Schrift vor allem, aber auch über die Autoritäten der antiken und der patristischen Tradition. Tatsächlich ist der Ehrentitel eines speculum animi keineswegs nur dem Buch der Bücher vorbehalten. Der Gedanke, daß Selbsterkenntnis nur durch Lektüre zu erlangen sei, dient schließlich auch denen zur Rechtfertigung ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, die über keine literarische Bildung verfügen. Der puritanische Kesselflicker John Bunyan etwa beschließt die in Versform gehaltene Vorrede zu seiner allegorischen Erzählung The Pilgrim's Progress (1678) mit der folgenden Apostrophe seines Lesers: Would'st read thy self, and read thou know'st not what And yet know whether thou art blest or not,

2

Zur Geschichte der Metapher vom Buch als Spiegel in der Antike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vgl. den knappen Überblick, den Ernst Robert Curtius im Kontext seiner Ausführungen über »Das Buch als Symbol« bietet: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen und Basel "1993. S. 3 0 6 - 3 5 2 , hier: S. 340f. Der Status, den diese Metapher in der protestantischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts besitzt, ist sehr viel besser erforscht als ihre frühe Geschichte. Vgl. etwa Winfried Schleiner: T h e Imagery of John Donne's Sermons. Providence 1970. S. 149f., S. 235; John R. Knott Jr.: T h e Sword of the Spirit. Puritan Responses to the Bible. Chicago and London 1980. S. 52; Barbara A. Johnson: Reading Piers Plowman and The Pilgrim's Progress. Reception and the Protestant Reader. Carbondale and Edwardsville 1992. S. 184—196. — Hans Blumenberg weist in seiner großen Studie über die Metaphorik des Buches zwar auf die weite Verbreitung des Spiegelvergleichs hin, schließt ihn aber ausdrücklich aus seiner Betrachtung aus. »Der Piatonismus von Bild und Spiegel«, so lautet seine Begründung, »nimmt der Metaphorik des Buches ihre spezifische Besonderheit.« (H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M . 4 1 9 9 9 . S. 51.) Es ist zu fragen, ob sich Blumenberg mit dieser Entscheidung nicht der Möglichkeit beraubt, eine der zentralen Figurationen für das Welt- und Selbstverhältnis des vormodernen Menschen zu analysieren. Bezeichnenderweise ist der Terminus speculum im Mittelalter ein außerordentlich beliebter Buchtitel. Bücher sind nach mittelalterlichem Verständnis Spiegel - Spiegel der Welt und Spiegel des Selbst. Literarische specula treten in zwei verschiedenen Varianten auf: Auf der einen Seite gibt es specula, die eine enzyklopädische Form besitzen. In ihnen ist das verfügbare Wissen über die O r d n u n g der Welt versammelt; sie zeigen auf, welche Stellung dem Menschen innerhalb dieser O r d n u n g zukommt. Ein Beispiel für diesen Typus des literarischen Spiegels bietet das Speculum Maius des Vincent de Beauvais aus dem 13. Jahrhundert. Auf der anderen Seite gibt es specula, die Rechts- und Moralvorschriften oder Beispiele tugendhaften Verhaltens enthalten. Sie präsentieren ein (mal stärker, mal weniger stark kodifiziertes) Idealbild der virtus, das den Leser zum Vergleich mit seinem eigenen Verhalten herausfordert. Der Sachsenspiegel des Eike von Repgow etwa ist nicht nur ein Gesetzbuch, sondern auch ein Tugendspiegel. Wie die Beichtspiegel des 14. und 15. Jahrhunderts hat er die Funktion, dem Individuum zur Selbsterkenntnis, zur Einsicht in die Defizienz oder Angemessenheit seines Verhaltens, zu verhelfen. Einar Mär Jonsson zeigt auf, daß der mittelalterliche Buchtitel speculum sich von der antiken Verwendung der Spiegelmetapher für die Selbsterkenntnis herleitet. Vgl. Ε. M. Jonsson: Le miroir. Naissance d'un genre litteraire. Paris 1995. S. 125-154. Michel Beaujour legt dar, daß zwischen den beiden unterschiedlichen Varianten des literarischen speculum enge thematische und strukturelle Beziehungen bestehen: Selbsterkenntnis ist im Mittelalter an Welterkenntnis gebunden - an die Einsicht in die Position, die dem Menschen innerhalb der von Gott geschaffenen O r d n u n g zugewiesen ist. Vgl. M. Beaujour: Miroirs d'encre. Rhetorique de l'autoportrait. Paris 1980. S. 29^41.

Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution

3

By reading the same lines? Ο then come hither, And lay my Book, thy Head and Heart together. 3

Bunyan preist sein Werk als ein nützliches Instrument der Selbsterkenntnis an. Die Einsicht, die der nonkonformistische Prediger dabei im Sinn hat, ist zwar von anderer Art als diejenige, die dem katholischen Kirchenvater Augustinus vorschwebt: Bunyan verheißt seinem Leser die Möglichkeit, durch die Lektüre seines Buches Aufschluß über die Frage zu gewinnen, ob er zu den Erwählten gehört oder nicht. Der Grundgedanke hat sich jedoch nicht verändert. Was das Selbst seinem Wesen nach ausmacht und wie sein aktueller Zustand konkret beschaffen ist, kann das Individuum nicht durch unmittelbare Introspektion, sondern allein durch das Lesen von Texten in Erfahrung bringen. Selbsterkenntnis ist ein Produkt der Lektüre - diese Annahme gilt gleichermaßen für den frühchristlichen Kirchenlehrer, den mittelalterlichen Mönch, den humanistischen Gelehrten und den puritanischen Prediger. Wie stark diese Annahme im europäischen Denken verwurzelt ist, wie selbstverständlich sie lange Zeit als eine fundamentale Kulturtechnik gehandhabt wird, zeigt sich vor allem dort, wo der Versuch unternommen wird, sie zu entkräften. In seinem großen Essay über die Kindererziehung (»De l'institution des enfans«, 1.26) vertritt Michel de Montaigne die Auffassung, daß der Heranwachsende Selbst- und Menschenkenntnis nicht durch das Medium des Buches, sondern nur durch die direkte Konfrontation mit der Welt — mit anderen Menschen, unterschiedlichen Meinungen und Verhaltensweisen, fremden Sitten und Gebräuchen — erlangen könne: »Ce grand monde [...], c'est le miroüer oil il nous faut regarder pour nous connoistre de bon biais. Somme, je veux que ce soit le livre de mon escholier.«4 Um das Eigene begreifen und richtig einschätzen zu können, muß sich das Individuum der Erfahrung des Fremden aussetzen - aber eben einer unmittelbaren Erfahrung, nicht einer durch Bücher vermittelten: »Tant d'humeurs, de sectes, de jugemens, d'opinions, de loix et de coustumes nous apprennent ä juger sainement des nostres, et apprennent nostre jugement ä reconnoistre son imperfection et sa naturelle foiblesse: qui η est pas un legier apprentissage.«5 Doch signifikanterweise kann Montaigne seine neue Konzeption der Selbsterkenntnis nur in der alten Sprache der Buchmetaphorik zum Ausdruck bringen. Das Individuum, das durch die Erfahrung der Fremde zur Selbsteinsicht geführt werden soll, läßt die Bücher nicht etwa hinter sich, ihm wird vielmehr ein anderes Buch in die Hand gegeben — das

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John Bunyan: T h e Pilgrim's Progress. Edited with an introduction by Ν. H. Keeble. Oxford and New York 1984. S. 7. Michel de Montaigne: Essais. In: ders.: CEuvres completes. Textes etablis par Albert Thibaudet et Maurice Rat, introduction et notes par Maurice Rat. Paris 1962 (Bibliotheque de la Pleiade). S. 157. Ebd.

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Einleitung

Buch der Welt. 6 Montaigne denkt den Vorgang der Selbsterkenntnis im Grunde immer noch als Lektüre. 7 Tatsächlich entspringen seine Essais, die er zum Zweck der Selbsterkundung verfaßt, 8 gerade nicht einer unmittelbar gewonnenen Welterfahrung. Der Essayist schult sein jugement nicht in der direkten Konfrontation mit fremden Menschen und Kulturen, sondern im Umgang mit fremden Texten. Das Buch der Welt erschließt sich ihm in Gestalt von Büchern - vermittelt durch die antike Literatur, die Montaigne in ihrer ganzen, auch unkanonische Randerscheinungen umfassenden Bandbreite zur Kenntnis nimmt, vermittelt aber auch durch neue Textformen, etwa durch die Reiseberichte der frühen Entdecker und Kolonisatoren. 9 Der Schritt von der buchgestützten zur unmittelbaren Selbsterkenntnis, den Montaigne in den Essais programmatisch in Aussicht stellt, wird erst ein halbes Jahrhundert später ernsthaft in Angriff genommen - durch Rene Descartes, der in seinem Discours de la methode (1637) das Projekt des Essayisten aufgreift und zu überbieten sucht. Descartes berichtet, daß er das Studium der Bücher, das ihm keinen befriedigenden Aufschluß über die Welt und sein Selbst zu geben vermochte, bereits in jungen Jahren aufgab, um statt dessen auf Reisen zu gehen und im großen Buch der Welt (»dans le grand livre du monde«) zu lesen.10 Auch der Verfasser des Discours macht also zunächst noch von der Buchmetaphorik Gebrauch und bezeugt somit die Zählebigkeit der Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Lektüre. Doch anders als Montaigne, auf dessen Essay 1.26 er an dieser Stelle deutlich Bezug nimmt, sieht Descartes auch in der Welterfahrung kein geeignetes Instrument der Selbsterkenntnis. Das Lesen im Buch der Welt hat für ihn nur eine propädeutische Funktion; es m u ß schließlich einer direkteren Form des Selbststudiums weichen: »Mais, apres que j'eus employe quelques annees ä etudier ainsi dans le livre du monde, et ä tacher d'acquerir quelque experience, je pris un jour la resolution d'etudier aussi en moi-meme«. 11 Weder das Lesen der Bücher noch die Erfahrung der Welt gilt Descartes als ein gangbarer Weg zur Selbsterkenntnis. Die Wahrheit seines Seins erschließt sich dem Subjekt vielmehr allein im Selbstbezug des cogito - im unmit-

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Montaigne kombiniert in der zitierten Passage zwei hergebrachte Buchmetaphern — die Metapher vom Buch der Welt und die Metapher vom Buch als Spiegel. Zur Metapher des Buchs der Welt vgl. H . Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (passim). Zu Montaignes Umgang mit der Welt-Buch-Metapher siehe ebd. S. 6 5 - 6 7 . Vgl. M. de Montaigne: Essais. S. 1652: »[...] je me deschiffre moy-mesme« (III.5, Zusatz von 1588). Vgl. ebd. S. 1050: »Je m'estudie plus qu'autre subject. C'est ma metaphisique, c'est ma phisique.« (III. 13). Zu Montaignes Antike-Rezeption vgl. Hugo Friedrich: Montaigne. Tübingen und Basel 3 1993. S. 36—90. Zu seinem Interesse an neuerer Reiseliteratur vgl. ebd. S. 192—195. Κεηέ Descartes: Discours de la methode pour bien conduire sa raison et chercher la verite dans les sciences. In: CEuvres et lettres de Descartes. Textes presentes par Andre Bridoux. Paris 1953 (Bibliotheque de la Pleiade). S. 125-179, hier: S. 131. Ebd. S. 132.

Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution

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telbaren Denken des Selbst, das zugleich ein autonomes Selberdenken ist. Descartes stilisiert sich im Discours zu einer Gründergestalt, die einen radikalen Bruch mit der Uberlieferung vollzieht. Er gibt vor, der erste zu sein, der mit dem Versuch Ernst macht, das Erkenntnissubjekt aus seiner Bindung an das Buch und an die Welt zu lösen, um es ganz auf sich selbst zu stellen.12 Die subjektkonstitutive Funktion der Lektüre wird somit nachhaltig in Zweifel gezogen.13 Selbstlektiire - Selbstformung - Selbstverschriftlichung Denn daß die Lektüre für das Selbst des Lesers in gewisser Weise konstitutiv ist, gehört zu den Grundannahmen des vor-cartesianischen Denkens. Durch Lektüre gewinnt das Individuum Zugang zur Wahrheit seiner selbst. Die Lektüre stellt aber zudem einen privilegierten Modus der Selbstbearbeitung, der moralischen Formung der eigenen Persönlichkeit dar. Das Individuum liest nicht bloß, um intellektuelle Einsicht in sein eigenes Wesen zu gewinnen. Es liest auch, um dieser Einsicht zu praktischer Wirkung zu verhelfen. Das Selbst soll durch die Lektüre verändert werden. Daher fordert John Bunyan den Leser seines Werkes dazu auf, »my Book, thy Head and Heart« zusammenzuführen: Es gilt, den Leser nicht allein in seinem Verstand, sondern in seiner ganzen Persönlichkeit zu treffen und umzugestalten. Wie Augustinus die Erkenntnisfunktion des Buches in das prägnante Bild des speculum animi gefaßt hat, so hält er in seinen Confessiones auch reiches Anschauungsmaterial für die praktische und transformative Wirkung des Lesens bereit. Ein Beispiel, das unmittelbar in die Augen springt, ist die berühmte Darstellung seiner Bekehrung, die im achten Buch des Bekenntniswerks präsentiert wird. Denn anders als der Apostel Paulus, der vor Damaskus eine visionäre Erleuchtung erfuhr und daraufhin zum christlichen Glauben konvertierte,14 wird Augustinus durch ein Lektüreerlebnis dazu bewegt, mit seinem alten Leben zu brechen. Das Buchorakel, das er im Garten

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Hans Blumenberg weist zu Recht d a r a u f h i n , daß die Selbstbegründung des Erkenntnissubjekts bei Descartes den Charakter einer Inszenierung besitzt: »Die Heroisierung des Descartes zur Gründerfigur der Neuzeit hat in seiner Selbststilisierung, in der das Geschichtliche z u m Hypothetischen wird, ihr Fundament.« (Die Legitimität der Neuzeit. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a. M . 1996. S. 208.) Ein wesentlicher Aspekt dieser Selbststilisierung besteht darin, d a ß Descartes systematisch all das verschweigt, was er d e m S t u d i u m der Bücher zu verdanken hat. Das cogito-Argument beispielsweise findet sich in ähnlicher Form bereits bei Augustinus, mit dessen Schriften Descartes bestens vertraut war (vgl. Etienne Gilson: Rene Descartes. Discours de la methode. Texte et commentaire. Paris 1930. S. 295f.). Der Gedanke der unmittelbaren Selbsteinkehr ist durch die Augustinus-Lektüre vermittelt. Tatsächlich löst Descartes die Verbindung zwischen Selbsterkenntnis und Lektüre also nicht einfach auf, vielmehr entwickelt er Strategien, um sie zu verschleiern. Die Schwierigkeiten, auf die er bei seinem Versuch stößt, ein unmittelbares Selbstverhältnis zu etablieren, attestieren einmal mehr die Persistenz dieser Verbindung.

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Zu diesem Befund gelangt Brian Stock: Reading, Writing, a n d the Self: Petrarch a n d His Forerunners. In: N L H 2 6 (1995). S. 7 1 7 - 7 3 0 , hier: S. 718f. Apg. 9 . 1 - 9 .

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Einleitung

seiner Mailänder Wohnung auf Veranlassung des vom Nachbarhaus her erschallenden Rufes »tolle, lege« durchführt, bildet den Höhepunkt dieser umwälzenden Lektüreerfahrung. 15 Sie umfaßt jedoch mehr als die erschütternde Begegnung des Sünders mit einem Schriftwort, das ihm die Haltlosigkeit seines bisherigen Lebens offenbart. Der Protagonist der Confessiones kann den Ruf nur deshalb überhaupt als Anweisung zur Durchführung eines Buchorakels verstehen, weil er kurz zuvor eine Reihe von exemplarischen, kunstvoll ineinander verschachtelten Konversionsgeschichten rezipiert hat, die er im entscheidenden Moment nachahmt: die Geschichte der zwei kaiserlichen Beamten, die in einem Kloster vor den Toren Triers auf ein Exemplar der Vita Antonii gestoßen und durch die Lektüre dieses Buches bekehrt worden waren, sowie die in dieser Vita enthaltene Geschichte von der Konversion des heiligen Antonius, der ein zufällig vernommenes Schriftwort als unmittelbar an ihn adressierten Befehl zur Nachfolge Christi aufgefaßt hatte. Diese Erzählungen, so berichtet Augustinus, machten ihm den korrupten Zustand seiner Seele bewußt und entzündeten in ihm das Verlangen, den beispielhaften Gestalten nachzueifern. 16 Indem Augustinus den Ruf und das Buchorakel als göttliche Aufforderung zur Umkehr deutet, imitiert er die narrativen Exempel und setzt das Gelesene praktisch um. Er wird zu dem, wovon er las. Mehr noch: Dadurch, daß Augustinus sein eigenes Bekehrungserlebnis zur Grundlage seiner Lebensgeschichte macht und in Gestalt der Confessiones niederschreibt, unterzieht er die exemplarischen Erzählungen einer doppelten, sowohl praktischen als auch literarischen imitatio. Seine Konversion markiert die Umsetzung von Text in Leben; dieses Leben wird dann seinerseits wieder in einen Text verwandelt, der anderen als Spiegel und als Anreiz zur Umkehr dienen soll. Augustins Bekehrung, die sein neues Selbst begründet, ist der Effekt einer bestimmten Form von Lektüre. Sie ist darüber hinaus an eine spezifische, nämlich narrative Form der Selbstverschriftlichung gekoppelt. Die durch das Lesen ausgelöste Konversion ist jedoch nicht das einzige Beispiel für die konstitutive Funktion der Lektüre, das die Confessiones bereit halten. Nur der erste Teil des Bekenntniswerks hat die Form der Erzählung. In den Büchern XI bis XIII dagegen erzählt Augustinus keine Geschichten, vielmehr betätigt er sich als Leser und Exeget der Heiligen Schrift. Genauer: Er begibt sich daran, über das göttliche Gesetz zu meditieren (»meditari in lege tua«). 17 Auch dabei handelt es sich um ein Lektüreverfahren, das den Leser zur Selbsterkenntnis führen und ihn zugleich in seinem moralischen Sein bestimmen soll. Mit seiner Schriftmeditation greift Augustinus auf eine alte Lektüretechnik zurück, deren Wurzeln zum einen in der jüdischen Tradition der Thora-Exegese,

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Aurelius Augustinus: Confessionum libri XIII. Hg. von Luc Verheijen. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. I. Turnhout 1981 (Corpus Christianorum. Series Latina. Bd. 27). VIII. 1 2 . 2 8 - 3 0 . Ebd.VIII.7.16. Ebd. XI.2.2.

Lektürepraktiken

und literarische

Selbstkonstitution

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zum anderen im Bereich der heidnisch-antiken Philosophie und Rhetorik liegen. 18 Die Gesetzesmeditation ist eine spezielle Variante dieser Technik. Der apokryphe Jakobusbrief stellt sie folgendermaßen dar: Estote autem factores verbi et non auditores tantum fallentes vosmetipsos. Quia si quis auditor est verbi et non factor, hie comparabitur viro consideranti vultum nativitatis suae in speculo; consideravit enim se et abiit, et statim oblitus est qualis fuerit. Qui autem perspexerit in lege perfecta libertatis et permanserit, non auditor obliviosus factus sed factor operis, hic beatus in facto suo erit." Der Jakobusbrief vergleicht die Meditation über das Gesetz mit dem Blick in den Spiegel. Der Spiegel der Schrift präsentiert dem Leser das Bild seines wahren Selbst. Der gesetzestreue Leser nimmt dieses Bild nicht bloß flüchtig wahr, sondern er versenkt sich darin, er studiert es, er prägt es seinem Gedächtnis ein und erhebt es somit zum Prinzip seines Handelns. Auch hier geht es darum, daß der Leser sich nicht damit begnügt, den Sinn des Textes zu erfassen, daß er nicht nur erkennt, worin das richtige Handeln besteht und wie seine Seele beschaffen sein sollte, sondern daß er das Gelesene auch praktisch umsetzt, ja mit ihm eins wird, sich nach seinem Bilde umformt und es inkorporiert. Um den Vorgang der meditativen Inkorporation der Schrift zu beschreiben, rekurriert Augustinus auf die Bildlichkeit der Ingestion und des Wiederkäuens - eine Bildlichkeit, die gleichermaßen in der jüdischen wie auch in der heidnisch-antiken Praxis der meditatio

beheimatet ist: 20

Zu den jüdischen Ursprüngen der christlichen meditatio vgl. Jacques Rousse / Hermann Josef Sieben / Andre Boland: Lectio divina et lecture spirituelle. In: Dictionnaire de spiritualite ascetique et mystique. Doctrine et histoire. Publie sous la direction de Marcel Viller. Paris 1932ff. Bd. 9. Sp. 470-510, hier: Sp. 470f.; Emmanuel von Severus: Das Wort >meditari< im Sprachgebrauch der Heiligen Schrift. In: Geist und Leben 26 (1953). S. 365-375. Zur meditatio im Kontext der antiken Philosophie vgl. Paul Rabbow: Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike. München 1954; Pierre Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique. Paris 2 1987. S. 18-33 und passim. " Jak. 1.22-25 (zitiert nach: Nova Vulgata Bibliorum Sacrorum Editio. Rom 1979). (»Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach; sonst betrügt ihr euch selbst. Wer das Wort nur hört, aber nicht danach handelt, ist wie ein Mensch, der sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet: Er betrachtet sich, geht weg, und schon hat er vergessen, wie er aussah. Wer sich aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit vertieft und an ihm festhält, wer es nicht nur hört, um es wieder zu vergessen, sondern danach handelt, der wird durch sein Tun selig sein.« [Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung nach dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe deutsch hg. von Alfons Deissler und Anton Vögtle in Verbindung mit Johannes M. Nützel. Freiburg im Breisgau, Basel, Wien 1985.]). 20 Zu den alt-hebräischen Wurzeln dieser Bildlichkeit und zu der entsprechenden Textpraxis vgl. Jean Leclercq: Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters Aus dem Französischen von Johannes und Nicole Stöber. Düsseldorf 1963. S. 25f.; Marcel Jousse: La manducation de la parole. Paris 1975; Fidelis Ruppert: Meditatio - Ruminatio. Zu einem Grundbegriff christlicher Meditation. In: Erbe und Auftrag 53 (1977). S. 83-93. Zu ihrem Stellenwert in der heidnisch-antiken und humanistischen Tradition vgl. Günter Butzer: Pac-man und seine Freunde. Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie. In: Medien des Gedächtnisses. DVjs Sonderheft 1998. Hg. von Aleida Assmann, Manfred Weinberg und Martin Windisch. Stuttgart und Weimar 1998. S. 228-244. 18

Einleitung

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Quando [...] audis, aut quando legis, manducas; quando inde cogitas, ruminas, ut sis animal mundum, non immundum. Quod significat etiam sapientia per Salomonem dicens: Thesaurus desiderabilis requiescit in ore sapientis; vir autem stultus glutit ilium. Qui enim glutit, ut non in illo appareat quod voruit, oblitus est quod audivit. Qui autem non est oblitus, cogitat, et cogitando ruminat, ruminando delectatur.21

Das Bild der ruminatio verweist auf eine besonders intensive Form der Lektüre, bei der der Leser den Text zum Gegenstand eines - durchaus wörtlich zu verstehenden — Nach-Denkens erhebt. Dieses Nachdenken zielt zunächst auf die gründliche Erfassung des Textsinns ab. Der Leser reflektiert auf das Gelesene, um in verborgene Bedeutungsschichten einzudringen und sich den spirituellen Gehalt des Textes bewußt zu machen. Die ruminatio bezeichnet aber zugleich einen Akt der Aneignung: Wie das Tier die aufgenommene Nahrung durch die Tätigkeiten des Wiederkäuens und der Digestion in körpereigene Substanz verwandelt, so soll der Leser den Gehalt der Schrift durch Meditation in seine Seele überführen, um die nötige Kraft zu gesetzestreuem Verhalten zu erlangen. Wie die Lektürekonversion ist das Lektüreverfahren der Meditation an spezifische Schreibverfahren gekoppelt. Die meditatio stellt nicht nur die Verbindung zwischen dem Text und der moralischen Praxis des Lesers her; sie impliziert zudem eine bestimmte literarische Praxis. In den Confessiones verleiht Augustinus seiner Gesetzesmeditation die Form des exegetischen Kommentars. Die meditative Lektüre schlägt sich unmittelbar in der Produktion eines neuen Textes nieder. In seinem Kommentar extrahiert und erläutert Augustinus die heilsamen Wahrheiten, die in der Schrift enthalten sind, und erleichtert somit sich selbst wie auch seinen Lesern die Tätigkeit der Aneignung. »Der Kommentar«, so erläutern Aleida und Jan Assmann die Funktion dieses Schreibverfahrens, »dient [...] der Umsetzung von Text in Leben, der Freisetzung des weltdeutenden, handlungsorientierenden und lebensformenden Anspruchs in ständig veränderten Erfahrungshorizonten«.22 Selbstverschriftlichung und Autobiographie So sehr sich die im achten Buch der Confessiones beschriebene Konversionslektüre von der Schriftmeditation unterscheidet, die Augustinus im letzten Teil seines

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Aurelius Augustinus: Enarrationes in Psalmos I—L. Hg. von E. Dekkers und J. Fraipont. In: Aurelii Augustini Opera. Bd. X. 1. Turnhout 1956 (Corpus Christianorum. Series Latina. Bd. 38). XXXVI.3.5. (»Wenn du hörst oder wenn du liest, dann ißt du; wenn du über das Gelesene nachdenkst, käust du wieder, auf daß du ein reines und kein unreines Tier seist. Das wird auch durch den Weisheitsspruch Salomons zum Ausdruck gebracht, der besagt: Der wünschenswerte Schatz ruht im Munde des Weisen; der törichte Mann aber schlingt ihn herunter. Wer nämlich schlingt, so daß an ihm nicht sichtbar wird, was er in sich aufgenommen hat, der hat das, was er gehört hat, vergessen. Wer aber nicht vergessen hat, der denkt nach und käut nachdenkend wieder und wird erfreut, indem er wiederkäut.« [Übersetzung von mir, Ch. M.]). Aleida und Jan Assmann: Kanon und Zensur. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hg. von Aleida und Jan Assmann. München 1987. S. 7-27, hier: S. 14.

Lektürepraktiken und literarische

Selbstkonstitution

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Bekenntniswerks durchführt, beide Lektüreszenarien verweisen auf die Existenz eines Zusammenhangs zwischen der Praxis des Lesens, der ethischen Formung des Subjekts und spezifischen Techniken des Schreibens. Es ist dieser Z u s a m m e n h a n g zwischen Selbstkonstitution, Lektüre- und Schreibverfahren, der den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildet. Das vormoderne Subjekt konstituiert sich, indem es liest. Das Individuum hat keinen unmittelbaren, im reinen Denken gegebenen Zugang zur Wahrheit seiner selbst; diese wird ihm vielmehr durch autoritative Texte vermittelt. Die Selbstentzifferung des Individuums ist an die Entzifferung von Schriften gekoppelt. Diese Lektüre beschränkt sich jedoch nicht auf die hermeneutische Erfassung von Sinn. U m als konstitutives Element fungieren zu können, m u ß dieser Sinn mit Wirkkraft ausgestattet werden. Das Lesen wird bis in die Frühe Neuzeit hinein in einem emphatischen Sinne als Praxis begriffen, als produktive Tätigkeit, welche die Persönlichkeit des Lesers zu transformieren vermag. Der Leser soll das Wissen, das er in den Texten vorfindet, nicht bloß passiv in Empfang oder distanziert zur Kenntnis nehmen, sondern zur Grundlage seiner Identität und Lebensführung machen. Die Lektüre ist in einen Apparat vielfältiger Verfahrensweisen eingebunden, die der in den Texten enthaltenen Wahrheit zur W i r k u n g verhelfen und sie in der Psyche des Lesers verwurzeln sollen. Zu diesen Verfahrensweisen zählt nicht zuletzt auch das Schreiben. Das Lesen findet seine Ergänzung im Schreiben, ja das Schreiben ist notwendiger Bestandteil eines Lektürevorgangs, der mehr sein will als ein kognitiver Akt. Schreibend macht sich der Leser das Gelesene ganz zu eigen; schreibend festigt er die Überzeugungen, die er durch Lektüre gewonnen hat; schreibend legt er davon Zeugnis ab, d a ß er sich mit den aufgenommenen Wahrheiten identifiziert und sie als identitätsstiftende Elemente verinnerlicht hat. Zwischen der Lektüretätigkeit und dem autobiographischen Schreiben besteht mithin eine enge Beziehung. Vormoderne Autobiographik stellt die Lektüreaktivität des Individuums nicht bloß distanziert als ein M o m e n t der Lebensgeschichte dar, sie geht vielmehr unmittelbar aus d e m Vollzug dieser Aktivität hervor. Die Art und Weise, wie das Individuum liest, bestimmt auch sein autobiographisches Schreibverfahren. Auf der einen Seite steht das Lesen nicht nur im Zeichen der Selbsterkenntnis, sondern auch der Selbstformung. A u f der anderen Seite beschränkt sich die Aufgabe des Schreibens nicht auf die bloße Darstellung des Selbst, sondern erfüllt eine ethopoetische Funktion - es dient der Umgestaltung und der Disziplinierung des schreibenden Subjekts. 23

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Z u m Begriff der Ethopoetik u n d des ethopoetischen Schreibens vgl. M i c h e l Foucault: L'hermeneutique du sujet. Cours au College de France (1981—1982). Edition etablie, sous la direction de Franiois Ewald et Alessandro Fontana, par Fröderic Gros. Paris 2 0 0 1 . S. 227f.; ders.: L'ecriture de soi. In: ders.: Dits et ecrits 1 9 5 4 - 1 9 8 8 . fidition etablie sous la direction de Daniel Defert et Fran$ois Ewald avec la collaboration de Jacques Lagrange. Paris 1994. Bd. 4. S. 4 1 5 - 4 3 0 , hier: S. 4 1 8 .

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Einleitung

Der Vielfalt der Lektüretechniken korrespondiert mithin die Vielzahl der Darstellungsmuster, die im autobiographischen Schrifttum zur Anwendung gelangen. Die vormoderne Autobiographik richtet sich nicht an einem singulären, normativen Gattungsmodell aus. Die Confessiones, denen ein solcher normativer Status in der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung fälschlicherweise oft zugeschrieben wird, markieren eine hybride Verbindung unterschiedlicher Schreibverfahren (Bekenntnis, Konversionsgeschichte, Gebet, Gedächtnis- und Schriftmeditation, exegetischer Kommentar), die Augustinus hellenistischen, jüdischen und frühchristlichen Traditionszusammenhängen entnommen hat. In den Confessiones finden eine Reihe ganz unterschiedlicher Darstellungstechniken Verwendung. Das Bekenntniswerk stellt seinerseits nur eine von vielen Quellen dar, aus denen sich die autobiographische Literatur des Mittelalters und der Neuzeit speist. Zwar hat bereits Georg Misch im ersten Band seiner monumentalen Geschichte der Autobiographie die unter Kultur- und Literaturhistorikern verbreitete Neigung beklagt, das Bekenntniswerk des Kirchenvaters zum alleinigen Ursprung der abendländischen Selbstdarstellung zu stilisieren: Die Confessiones, so argumentiert Misch, stehen nicht am Anfang einer Entwicklung, sondern sie stehen mitten darin; sie fuhren eine Traditionslinie weiter, die bis in die klassische Antike zurückreicht.24 Gleichwohl lebt die besagte Neigung auch heute noch in unverminderter Stärke fort. Sei es, daß sie die Gattungshistorie der Autobiographie als Ausdruck einer sich emanzipierenden Subjektivität zu rekonstruieren sucht,25 sei es, daß sie darauf abzielt, das im Laufe dieser Geschichte zur >Mündigkeit< gelangende Subjekt aus poststrukturalistischer Sicht zu dekonstruieren:26 Die Kultur- und Literaturgeschichtsschreibung sieht in Augustinus noch immer eine - mal positiv, mal negativ bewertete — Gründerfigur.27 Zusätzlich befördert wird die Neigung, Augustinus zum Gründerheros zu stilisieren, durch das restriktive Gattungsverständnis, das die Autobiographieforschung noch immer beherrscht. Es orientiert sich an den kanonischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts (Rousseau, Goethe, Chateaubriand) und legt die Autobiographie auf die retrospektive Prosaerzählung der eigenen Lebensgeschichte fest.28 Die enge

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G. Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. I: Das Altertum. Erste Hälfte. Frankfurt a. M. 3 1949. S. 20. Vgl. etwa Karl Joachim Weintraub: The Value of the Individual: Self and Circumstance in Autobiography. Chicago and London 1978. S. 22—48. Vgl. etwa Linda Anderson: Autobiography. London and New York 2001. S. 18-27. Die vorliegende Untersuchung will dieses Bild korrigieren, indem sie die augustinischen Confessiones als ambivalente Gelenkstelle zwischen antiken und neuzeitlichen Formen der Selbstverschriftlichung markiert. Vgl. Philippe Lejeune: L'autobiographie en France. Paris 1971. S. 14: »Nous appelons autobiographie le recit r&rospectif en prose que quelqu'un fait de sa propre existence, quand il met l'accent principal Sur sa vie individuelle, en particulier sur l'histoire de sa personnalite.« Obwohl oder vielleicht gerade weil Lejeunes Gattungsdefinition konventionell erscheint und die communis opinio der neueren Autobiographieforschung auf den Punkt bringt, hat sie sich als außerordentlich einflußreich erwiesen. Es gibt kaum eine Abhandlung zur Theorie oder

Lektürepraktiken und literarische

Selbstkonstitution

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Definition des Genres erfaßt jedoch nur einen Bruchteil der Texte, die der Selbstdarstellung und Selbstformung gewidmet sind. Das gilt schon für die moderne autobiographische Literatur, der die Definition doch in erster Linie gerecht werden will. So läßt sie sich etwa auf Rousseaus Confessions anwenden, nicht aber auf seine Dialogues oder Reveries, die gleichwohl das in den Bekenntnissen in Angriff genommene Projekt der Selbstanalyse konsequent fortsetzen. 29 Es gilt erst recht für vorund frühmoderne Selbstdarstellungen, die mit wenigen Ausnahmen ganz durch das Raster einer solchen Definition fallen. Zu diesen seltenen Ausnahmen zählen die augustinischen Confessiones, denen folglich in den gattungshistorischen Synthesen ein Ehrenplatz zugewiesen wird. Freilich läßt sich nur der erste, narrative Teil des Bekenntniswerks in das Zwangskorsett des modernen Gattungsbegriffs pressen; die exegetischen Partien und die Gedächtnismeditation fallen aus diesem engen Rahmen heraus und finden daher meist keine Berücksichtigung. Um derartige Verzerrungen der Perspektive zu vermeiden, wird den folgenden Analysen ein offener, flexibler Gattungsbegriff der literarischen Selbstdarstellung zugrunde gelegt, der der Tatsache Rechnung trägt, daß die Verfasser autobiographischer Texte zu allen Zeiten auf eine Vielzahl unterschiedlicher Darstellungsformen zurückgegriffen haben. 30 Nur auf der Basis eines offenen Gattungsbegriffs ist es möglich, den Zusammenhang zwischen Lektürepraktiken und autobiographischen Schreibverfahren zu erfassen und für die Erstellung einer Problemgeschichte vormoderner Subjektivität fruchtbar zu machen. Versucht man, die augustinischen Confessiones im historischen Kontext der Lektüre- und der ihnen korrespondierenden Schreibtechniken zu situieren, so wird sichtbar, daß sie keinen geistes- und gattungsgeschichtlichen Anfangspunkt

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Geschichte der Selbstdarstellung, in der sie nicht zitiert wird. Sie erfährt auch durch Lejeunes spätere Konzeption des autobiographischen Pakts keine Revision. Im Gegenteil, die Definition aus L'autobiographie en France wird in Lepacte autobiographique mit fast identischem Wortlaut wiederholt. Vgl. Ph. Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris 1975. S. 14. Vgl. jedoch den neuerdings von Jörg Dünne unternommenen Versuch, die Autobiographik Rousseaus auf eine ältere Tradition asketischen Schreibens zurückzuführen: Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne. Tübingen 2003. — Die Arbeit von Dünne erschien nach der Fertigstellung der vorliegenden Untersuchung und konnte daher leider nicht mehr angemessen berücksichtigt werden. Vgl. aber meine Besprechung des Buches in der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 50/2 (2005). S. 287-296. Ansätze zu einem flexibleren Gattungsverständnis finden sich bei Michel Beaujour, der der autobiographischen Lebensgeschichte eine nicht-narrative Form der Selbstdarstellung, das autoportrait, gegenüberstellt. Doch Beaujour vertritt die Auffassung, daß zwischen der narrativen und der nicht-narrativen Selbstdarstellung ein fundamentaler Gegensatz besteht. Das autoportrait, so behauptet er, ist eine ganz andere Textsorte, die anderen Gattungsgesetzen unterliegt und der Darstellung einer anderen Form von Subjektivität verpflichtet ist: »un autre genre - ou du moins un autre type de discours« (Miroirs d'encre. S. 8). Die Flexibilität, die durch die Berücksichtigung nicht-narrativer Schreibtechniken gewonnen wurde, geht auf diese Weise wieder verloren. Die rigide Unterscheidung zwischen narratio und autoportrait wird der autobiographischen Praxis nicht gerecht, in der narrative und nicht-narrative Darstellungsformen häufig miteinander kombiniert werden. Die augustinischen Confessiones bieten dafür ein anschauliches Beispiel.

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Einleitung

markieren, sondern einen problemgeschichtlichen Wendepunkt: Augustinus macht von bereits bestehenden Verfahrensweisen Gebrauch, unterzieht diese aber zugleich auch einer Umgestaltung und etabliert auf diese Weise einen neuen Typus von Selbstverhältnis.

2 . Applikation und Selbsttechnik Zur Geschichte des Begriffs der Applikation Das vormoderne Subjekt vergewissert sich der Wahrheit seiner selbst in der Auseinandersetzung mit Texten; lesend und schreibend sucht es ihrer habhaft zu werden. Es liegt somit nahe, den Vorgang der literarischen Selbstkonstitution auf das hermeneutische Konzept der Applikation zu beziehen. Die Konstitution des Subjekts wäre als eine Spielart der Applikation zu beschreiben, als Anwendung einer Textlektüre auf die eigene Person, die das Selbst zugleich (neu) begründet. Der hermeneutische Begriff der Applikation bezeichnet allgemein die »in jedem Verstehen enthaltenef] Vermittlungsleistung, in der ein Textsinn auf eine aktuelle Situation bezogen/angewendet wird.«31 Doch hier geht es nicht bloß darum, einen Text auf eine spezifische Lebenssituation anzuwenden. Gemeint ist vielmehr eine Applikation, die das Leben des Individuums in seiner Gesamtheit bestimmt, die seine Persönlichkeit verändert und prägt. Der Leser macht von dem Text nicht bloß punktuell einen praktischen Gebrauch, sondern er eignet ihn sich vollkommen an, er wird mit ihm eins. Tatsächlich wird der Begriff Applikation häufig synonym mit dem Terminus Aneignung verwendet. In diesem engeren, emphatischen Sinne kennzeichnet er »das Sich-zu-eigen-Machen eines fremden Textsinns und seine Integration in die eigene Lebenspraxis«.32 Heinrich Anz weist darauf hin, daß »eine durchgeführte Begriffsgeschichte« des Terminus Applikation bislang noch nicht existiert.33 In Anlehnung an den historischen Abriß, den Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode präsentiert, behauptet er, daß die durch den Begriff bezeichnete Sache zwar bereits in den mittelalterlichen Auslegungslehren angesprochen sei, daß aber erst die nachreformatorische Hermeneutik des Pietismus sie in ihrer Bedeutung erkannt und ihr einen terminologischen Status verliehen habe, denn die Wahrnehmung der Applikation als eines

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Heinrich Anz: Applikation. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubenmüller und Jan-Dirk Müller. Berlin und New York 1997ff. Bd. 1. S. 1 1 3 - 1 1 5 , hier: S. 113. H . Anz: Aneignung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. S. 86f., hier: S. 86. H . Anz: Applikation. S. 115.

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Lektürepraktiken und literarische Selbstkonstitution

eigenständigen Problembereichs setze »die Aufspaltung des einheitlichen Verstehens in ein generelles Glaubenswissen und einen sich daran anschließenden Glaubensvollzug voraus.« 34 D i e pietistische Hermeneutik habe dieser Aufspaltung durch die Ausdifferenzierung des Verstehens in die drei hermeneutischen Aufgabenstellungen

der subtilitas intelligendi, der subtilitas explicandi und der subtilitas applicandi Rechnung getragen. D i e Applikation ist demnach ein dezidiert neuzeitliches P h ä n o m e n - die Anwendung des Textsinns gewinnt erst dann ein problematisches Ansehen, wird also erst in dem M o m e n t z u m Gegenstand theoretischer Reflexion, in d e m die mittelalterliche Einheit von Glaubenswissen und Glaubenspraxis zerfällt u n d das Individuum gegenüber der Glaubensgemeinschaft, in der es bislang aufgehoben war, an Eigenwert gewinnt. Diese Sichtweise, die A n z mit seinem Gewährsmann G a d a m e r teilt, bedarf der Korrektur. Z u m einen kann man leicht nachweisen, daß die Applikation nicht erst im Pietismus terminologische Geltung erlangt hat. Z u m anderen - und dieser E i n wand wiegt sehr viel schwerer - trifft es nicht zu, daß die Aufspaltung der Einheit von Glaubenswissen u n d Glaubensvollzug, von verstehender Einsicht u n d praktischer Anwendung, ein Charakteristikum der Neuzeit ist. Dieser Einwand wiegt deshalb so schwer, weil er das wirkungsgeschichtliche K o n z e p t der Applikation, das Gadamer in Wahrheit

und Methode

entwickelt, in Frage stellt. D e r wirkungs-

geschichtliche u n d rezeptionsästhetische B e g r i f f der A p p l i k a t i o n - dies soll i m folgenden dargelegt werden - ist nicht dazu geeignet, den Z u s a m m e n h a n g zwischen Lektüre und literarischer Selbstkonstitution zu analysieren und in seiner historischen Bedingtheit zu markieren. D e r Begriff der Applikation spielt nicht erst im deutschen Pietismus des 18. Jahrhunderts, sondern bereits im englischen Nonkonformismus des 16. und 17. Jahrhunderts eine b e d e u t e n d e R o l l e . In den h o m i l e t i s c h e n u n d h e r m e n e u t i s c h e n Traktaten, die von puritanischen Geistlichen in großer Zahl verfaßt wurden, dreht sich alles u m die P r o b l e m a t i k der Applikation. E i n e der einflußreichsten dieser Abhandlungen, W i l l i a m Perkins' The Arte

of Prophecying,

definiert den A k t der

Applikation wie folgt: » A p p l i c a t i o n is that, whereby the doctrine rightlie collected is diverslly fitted according as place, time, and person doe require.« 3 5 Perkins widmet diesem T h e m a zwei umfangreiche Kapitel seiner Abhandlung, in denen er die dem Prediger zur Verfügung stehenden Techniken der Applikation aufzählt und eingehend erörtert. 3 6 W i e groß die Bedeutung ist, die er der Applikation zuweist, zeigt

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Ebd. S. 114. T h e Arte of Prophecying: or A Treatise concerning the sacred and onely true manner and method of Preaching. First written in Latine by Master William Perkins: and now faithfully translated into English (for that it containeth many worthy things fit for the knowledge of men of all degrees) by Thomas Tuke. London 1607. S. 99. Ebd. S. 9 9 - 1 2 2 (»Of the waies how to use and applie doctrine«), S. 1 2 2 - 1 2 9 (»Of the kinds o f Application«).

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Einleitung

sich noch einmal am Schluß des Traktats, wo er die Prinzipien der homiletischen Kunst zusammenfaßt: THE ORDER AND SUMME of the sacred and only methode of Preaching. 1. To read the Text distinctly out of the Canonicall Scriptures. 2. To give the sense and understanding of it being read, by the Scriptures it selfe, 3. To collect a few and profitable points of doctrine out of the naturall sense. 4. Toapplie (ifhe have the gift) the doctrines rightly collected to the life and manners of men, in a simple andplaine speech.17 D e m protestantischen sola scriptura-Vnnzvp

gehorchend, beschränkt Perkins die

Aufgabe des Predigers auf die Auslegung der Heiligen Schrift. Der Prediger hat zunächst den Literalsinn der Schrift zu erfassen (intellegere). Den Literalsinn soll er sodann erklären (explicate), indem er ihn auf die Grundwahrheiten der christlichen Glaubensdoktrin bezieht. Diese soll er schließlich auf die konkrete Lebenssituation seiner Hörer anwenden (applicare). Perkins' homiletische Verstehenslehre stellt somit ein Musterbeispiel für die Aufspaltung der Einheit von theoretischem Glaubenswissen und praktischem Glaubensvollzug dar. Tatsächlich ist die rigide Unterscheidung zwischen doctrine und use kennzeichnend für den puritanischen Umgang mit der Bibel. 38 Dem puritanischen Leser geht es immer zunächst darum, sich ein intellektuelles Verständnis der Bibel zu erarbeiten, ehe dieses in einem zweiten Schritt auf die praktische Lebensführung und auf das Selbst des Interpreten appliziert wird. Es wäre jedoch falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß der Puritanismus - vielleicht gar unter dem Einfluß des neuzeitlichen Rationalismus - eine rein intellektualistische Bibelhermeneutik betrieben habe, deren Zweck allein die Herstellung einer kohärenten Doktrin gewesen sei. Das Gegenteil ist der Fall. Die Applikation ist bei den Puritanern zwar zeitlich gesehen nur ein zweiter Schritt, der Wertigkeit nach aber besitzt sie absolute Priorität. 39 Unablässig schärfen die nonkonformistischen Theologen ihren Anhängern ein, daß es nicht genüge, sich intellektuelle Einsicht in die Heilswahrheit (»notional knowledge«) zu verschaffen, sondern daß dieses abstrakte, doktrinale Wissen verinnerlicht und in spirituelle Erfahrung (»spiritual knowledge«) umgesetzt werden müsse, damit es seine Heilswirkung entfalten könne. 40 »[A]pply these things to thine own hart,« so ermahnt etwa der walisische Bischof Lewis Bayly den Bibelleser, »and reade not these Chapters, as matters o f Historicall

discourse:

but as if they were so many Letters or Epistles sent downe from God out o f heaven to thee«.·" Der Leser wird dazu aufgefordert, die Schrift als eine an ihn persönlich adressierte Botschaft aufzufassen und sie sich auf diese Weise anzueignen. Doch die puritanische Geistlichkeit begnügt sich nicht damit, solche Forderungen zu erheben.

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Ebd. S. 148. Vgl. William Haller: The Rise of Puritanism. New York 3 1957.S. 134. Ebd. S. 135. Vgl. auch John R. Knott Jr.: The Sword of the Spirit. S. 46f. Vgl. Owen C. Watkins: The Puritan Experience. London 1972. S. 97f. Lewis Bayly: The Practice of Pietie Directing a Christian how to walke that he may please God. London 111619. S. 245.

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und literarische

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Sie gibt dem Leser zudem einen Apparat von Verfahrensweisen an die Hand, der es ihm ermöglichen soll, sie zu erfüllen. Dazu gehören vor allem spezifische Techniken der Meditation. »As digestion is the turning of the raw food into Chyle and Blood, and Spirits and Flesh;« heißt es etwa in einer der populärsten puritanischen Anleitungen zur individuellen Applikation der Schriftwahrheit, »so Meditation rightly managed, turneth the Truths received and remembred, into warm affection, raised resolution and upright conversation.«42 Wie sehr die puritanische Hermeneutik auch darauf bedacht ist, sich von ihrer katholischen Gegenspielerin abzugrenzen: Dort, wo es um die Applikation der Schrift geht, knüpft sie an das alte Lektüreverfahren der meditatio an, das in der katholischen Kirche seit Jahrhunderten praktiziert wird.43 Die puritanische Hermeneutik mag zwar den Begriff der Applikation geprägt haben, die Techniken jedoch, die dieser Begriff bezeichnet, übernimmt sie mitsamt der daran gekoppelten Bildlichkeit der Grammatophagie aus der alteuropäischen Tradition. Der Begriff der meditatio verweist nicht auf die Einheit von Wissen und praktischem Vollzug, die laut Gadamer für das vormoderne Zeitalter charakteristisch ist. Er taucht vielmehr immer dann auf, wenn diese Einheit in Frage steht. Das gilt für die puritanische Hermeneutik, wo die meditatio den Übergang von doctrine zu use regelt. Das gilt aber bereits fur die antike Rhetorik, aus der das Konzept ursprünglich herstammt:44 Die meditatio oder melete (gr. >Ubung