Brasilien: Eine Einführung 9783954871070

Die in diesem Band enthaltenen Artikel stellen kompakt und wissenschaftlich fundiert aktuelle Informationen zu Politik,

204 91 3MB

German Pages 300 Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Brasilien: Eine Einführung
 9783954871070

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Im Spannungsfeld zwischen globalem Wandel und regionaler Dynamik. Die Großregionen Brasiliens
Das politische System. Strukturen und Akteure
Die politische Dimension von Amtsmissbrauch, Korruption, Drogenhandel und Kriminalität: Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien
Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik
Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen
Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht
Brasilien als internationaler Akteur
Die kulturelle Dynamik Brasiliens
Städtische Kulturen und Bewegungen
Film und Fernsehen
”Brasil, pra mim”. Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens
Literarische Konstellationen
”Brasil. O país do futebol” Brasilien. Die Fußballnation
Die deutsch-brasilianischen Beziehungen
Chronologie zur Geschichte Brasiliens
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Peter Birle (Hg.)

Brasilien Eine Einführung

BIBLIOTHECA IBERO-AMERICANA Veröffentlichungen des Ibero-Amerikanischen Instituts Preußischer Kulturbesitz Band 151

Wissenschaftlicher Beirat Peter Birle (Ibero-Amerikanisches Institut) Sandra Carreras (Ibero-Amerikanisches Institut) Ulrike Mühlschlegel (Ibero-Amerikanisches Institut) Héctor Pérez Brignoli (Universidad de Costa Rica) Janett Reinstädler (Universität des Saarlandes) Friedhelm Schmidt-Welle (Ibero-Amerikanisches Institut) Liliana Weinberg (Universidad Nacional Autónoma de México) Nikolaus Werz (Universität Rostock)

Peter Birle (Hg.)

Brasilien Eine Einführung

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. © Vervuert 2013 Elisabethenstr. 3-9 D-60594 Frankfurt am Main Iberoamericana c/ Amor de Dios, 1 E-28014 Madrid [email protected] www.ibero-americana.net ISSN 0067-8015 ISBN 978-3-86527-782-4 (Vervuert) ISBN ebook 9783954871070

Depósito legal: M-22966-2013 Umschlaggestaltung: Carlos Zamora Umschlagabbildung: Innenraum der Catedral Metropolitana Nossa Senhora Aparecida in Brasília (Ausschnitt). Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier. Gedruckt in Spanien.

Inhalt Einleitung7 Peter Birle Im Spannungsfeld zwischen globalem Wandel und regionaler Dynamik. Die Großregionen Brasiliens

15

Martin Coy Das politische System. Strukturen und Akteure

43

Peter Birle Die politische Dimension von Amtsmissbrauch, Korruption, Drogenhandel und Kriminalität: Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien 

65

Bruno Wilhelm Speck Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik

91

Claudia Zilla Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen

109

Jacqueline Maria Radtke Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

127

Hartmut Sangmeister Brasilien als internationaler Akteur

149

Peter Birle Die kulturelle Dynamik Brasiliens

169

Horst Nitschack Städtische Kulturen und Bewegungen

187

Marcel Vejmelka Film und Fernsehen Joachim Michael

203

Inhalt

6

”Brasil, pra mim”. Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens

219

Cornelius Schlicke Literarische Konstellationen

237

Susanne Klengel / Georg Wink ”Brasil. O país do futebol” – Brasilien. Die Fußballnation 

255

Frank Stephan Kohl Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

271

Peter Birle Chronologie zur Geschichte Brasiliens

291

Autorinnen und Autoren

297

Einleitung Peter Birle

Die Entwicklung Brasiliens in den vergangenen 20 Jahren wird in der Regel als Erfolgsgeschichte betrachtet. 1985 kehrte das Land nach mehr als zwei Jahrzehnten Militärherrschaft zur Demokratie zurück und nach den großen ökonomischen Schwierigkeiten der späten 1980er und frühen 1990er Jahre gelang es seitdem, einen stabilen und prosperierenden Pfad der ökonomischen und sozialen Entwicklung einzuschlagen. In den jeweils zwei Amtszeiten der Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995–2002) und Luiz Inácio “Lula” da Silva (2003–2010) sowie unter der gegenwärtigen Präsidentin Dilma Rousseff (seit 2011) stieg Brasilien zum global player auf. “Brazil takes off ”, überschrieb The Economist 2009 eine längere Reportage über Brasilien und ließ die 38 Meter hohe Christus-Statue Cristo Redentor, das Wahrzeichen der Stadt Rio de Janeiro, auf dem Cover der Zeitschrift wie eine Rakete in die Luft steigen. Auf den ehemals linken Intellektuellen und Soziologen Cardoso, der das Land zu makroökonomischer Stabilität und Wachstum führte, folgte mit Präsident Lula zum ersten Mal ein Arbeiter und ehemaliger Gewerkschaftsführer im höchsten Amt Brasiliens. Er behielt den stabilitätsorientierten Kurs seines Vorgängers bei, setzte aber gleichzeitig vor allem in der Sozial- und Außenpolitik neue Akzente. Mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Dilma Rousseff wählten die Brasilianer dann erstmals eine Frau und einstmalige Aktivistin gegen die Militärdiktatur zur Präsidentin. Auf der Habenseite der in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu beo­bachtenden Entwicklungen in Brasilien liegen unter anderem die politische Stabilität, die wirtschaftliche Prosperität, der massive Rückgang der Armut, die Entstehung einer “neuen Mittelklasse” sowie der Aufstieg des Landes zu einem internationalen Akteur, der sowohl in Lateinamerika als auch auf globaler Ebene eine immer wichtigere gestaltende Rolle spielt. Spätestens die massiven Proteste während des Fußball-Konföderationen-Pokals im Juni 2013 haben dann aber auch der weltweiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass es in Brasilien trotz vieler positiver Entwicklungen nach wie vor große Probleme gibt. Die Einkommensverteilung gehört auch nach zehn Jahren PT-Regierungen immer noch zu den ungerechtesten weltweit. Die sozialen und regionalen Disparitäten sind zwar leicht rückläu-

8

Peter Birle

fig, aber keineswegs verschwunden. Die Korruptionsbekämpfung hat Fortschritte gemacht, das Problem als solches ist jedoch nach wie vor virulent. Auch die makroökonomische Erfolgsgeschichte hat zahlreiche Schattenseiten. So beklagen viele Umweltschützer und Ureinwohner seit Jahren, dass die Regierung ihre wachstumsorientierten Mega-Projekte ohne Rücksicht auf die Umwelt und die Belange der indigenen Bevölkerung vorantreibt. Diese teilweise widersprüchlichen Entwicklungen will Brasilien. Eine Einführung aufzeigen und analysieren. Die 14 Beiträge des Buches bieten aktuelle und wissenschaftlich fundierte Informationen zu zahlreichen Facetten der brasilianischen Wirklichkeit. Sie richten sich nicht nur an ein akademisches Publikum, sondern an all diejenigen, die jenseits von Reiseführern und journalistischen Reportagen Einblicke in ein Land suchen, das auch für Deutschland ein immer wichtigerer Partner ist. Den Anfang macht Martin Coy mit seinem Beitrag zu den Großregionen Brasiliens. Er weist darauf hin, dass das Land, immerhin der flächen- und bevölkerungsmäßig fünftgrößte Staat der Erde, von jeher durch wirtschaftliche, soziale und räumliche Disparitäten gekennzeichnet ist. Um Brasilien zu verstehen, muss man seine großregionale Struktur, Differenzierung und Dynamik in ihrer jeweiligen historischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingtheit begreifen. Coy analysiert, durch welche Faktoren die wirtschaftliche und räumliche Entwicklung Brasiliens geprägt wird. Industrie und Dienstleis­ tungssektor, aber auch Landwirtschaft und Agroindustrie spielen dabei eine – je nach Großregion sehr unterschiedliche – Rolle. Und auch wenn viele Brasilianerinnen und Brasilianer eine überwiegend positive Bilanz der neueren Entwicklungen ziehen, so stehen doch die entwicklungsstrategischen Orientierungen der Regierungen immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik, weil sie trotz entsprechender verbaler Bekenntnisse keine zuverlässige Garantie für ökologisch und sozial nachhaltige Entwicklungen sind. In seinem Beitrag zum politischen System beschreibt Peter Birle die wichtigsten Merkmale und Funktionszusammenhänge des brasilianischen Regierungssystems. Im Zentrum stehen dabei die Besonderheiten der föderativen Ordnung, das Wahlsystem sowie das Verhältnis zwischen Präsident und Kongress. Nach einem Blick auf das Parteiensystem und die Interessengruppen geht es um die Performanz des politischen Systems, vor allem um die Frage, ob die von verschiedenen Kritikern betonten Probleme der Regierungsführung in Brasilien ursächlich mit Bestimmungen der Verfassung zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund werden auch die seit längerem diskutierten politischen Reformen vorgestellt und die

Einleitung

9

Perspektiven der brasilianischen Demokratie analysiert. Das Fazit lautet: Die Performanz des politischen Systems und die Qualität der Demokratie könnten durch politische Reformen verbessert werden, von einem unregierbaren oder reformunfähigen Land, wie dies noch in den 1980er und 1990er Jahren manche Experten als Zukunftsszenario prognostizierten, kann jedoch nicht die Rede sein. Daran schließt thematisch der Beitrag von Bruno Wilhelm Speck zu Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien an. Gefragt wird danach, wie sich Brasilien im Hinblick auf die Garantie rechtsstaatlicher Prinzipien entwickelt hat und welche Tendenzen bei der institutionellen Umsetzung des Gemeinwohlgedankens zu beobachten sind. Wie stark kann sich der brasilianische Staat gegen gesellschaftliche Eliten wehren, die öffentliche Ämter für private Zwecke instrumentalisieren? Wie durchlässig sind öffentliche Institutionen für partikularistische Einflussnahme? Speck kommt zu dem Ergebnis, dass Brasilien zwar auf dem Weg zur Konsolidierung einer Wahldemokratie große Fortschritte gemacht hat und in vielen Bereichen mit neuen Formen der Bürgerbeteiligung experimentiert, in Sachen Garantie rechtsstaatlicher Prinzipien und Schutz des Gemeinwohls jedoch noch vor großen Aufgaben steht. Erst in jüngerer Zeit haben Bundesregierung und die Bundesstaaten damit begonnen, die Herausforderung eines anhaltend hohen Gewaltpotentials und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität ernst zu nehmen. Claudia Zilla befasst sich in ihrem Beitrag mit der Sozialpolitik und den sozialen Errungenschaften des letzten Jahrzehnts. Sie analysiert die von der Regierung Lula initiierte Strategie eines “Wachstums mit Inklusion”, die nicht nur in Brasilien selbst, sondern auch in Lateinamerika und weltweit große Anerkennung gefunden hat. Mit einer zielgerichteten Sozialpolitik konnte die sozioökonomische Teilhabe der Bevölkerung innerhalb weniger Jahre stark ausgebaut werden. Einkommenssteigerungen haben die Kaufkraft der Armen erhöht und durch finanzielle Anreize den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen erweitert. Gleichwohl bestehen weiterhin große Aufgaben: Die nachfrageorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik fördert den Konsum. Sparquote und Investitionsrate sind jedoch nach wie vor niedrig, vor allem die Investitionen in Wissenschaft, Technologie und Innovation. Auch das Steuersystem ist problematisch, da es für eine Verstetigung von Ungleichheit sorgt. Brasilien ist zwar der lateinamerikanische Staat mit den höchsten Steuereinnahmen, das Geld erhält der Staat aber vor allem über die Mehrwertsteuer, die im Unterschied zu direkten Abgaben einen regressiven Effekt hat, der Niedrigverdiener vergleichsweise stärker belastet.

10

Peter Birle

Auch im Bildungssystem ist es in den vergangenen Jahren zu positiven Entwicklungen gekommen, wie Jacqueline Maria Radtke in ihrem Beitrag aufzeigt. Die Autorin stellt den Aufbau des Bildungssystems vor, analysiert die Entwicklungen seit den 1990er Jahren und skizziert aktuelle Probleme. Als Ergebnis der Bildungs- und Sozialpolitik der Regierungen Cardoso und Lula lassen sich heute einige Fortschritte des Bildungswesens und des allgemeinen Bildungsstands der Bevölkerung erkennen. Der Bevölkerungsanteil mit Zugang zur Schulbildung hat deutlich zugenommen, immer mehr Sekundarschulabsolventen streben einen Hochschulabschluss an. Gleichwohl schlagen sich die gravierenden sozialen und regionalen Disparitäten bis heute auch im Bildungssystem nieder. Um der Bevölkerung nachhaltige Aufstiegschancen zu bieten, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen und gleichzeitig die Grundlagen für eine zukunftsfähige Entwicklung des Landes weiter zu verbessern, muss vor allem die Qualität der öffentlichen Schulbildung weiter verbessert werden. Den Aufstieg Brasiliens zu einer weltwirtschaftlichen Großmacht schildert Hartmut Sangmeister. Während das Land bis Mitte der 1990er Jahre vor allem als zahlungsunfähiger Großschuldner sowie als Volkswirtschaft mit chronischer Hyperinflation und erfolglosem wirtschaftspolitischen Krisenmanagement wahrgenommen wurde, gilt es heute als dynamisches Schwellenland, das den Rhythmus der Weltwirtschaft maßgeblich mitprägt. Allerdings weist auch Sangmeister neben den Erfolgen auf Defizite hin: Um in der globalisierten Wirtschaft dauerhaft eine führende Rolle einnehmen zu können, muss Brasilien seine Fähigkeiten für technologische Entwicklungen und für die Assimilation neuer Technologien stärken. Derzeit ist das Land im internationalen Vergleich technologisch nur bedingt wettbewerbsfähig. Notwendig wäre eine Bildungsreform, die sich an den Qualifikationserfordernissen des Arbeitsmarktes in der globalisierten Wirtschaftswelt des 21. Jahrhunderts orientiert. Weitere Herausforderungen betreffen die Reduzierung der überbordenden Bürokratie und der endemischen Korruption. Seit Mitte der 1990er Jahre ist Brasilien in zunehmendem Maße als globaler politischer Akteur in Erscheinung getreten. Das Land hat nicht nur in Lateinamerika verstärkt politische Verantwortung übernommen und zahlreiche Anstöße für neue regionale Kooperations- und Integrationsprozesse gegeben, sondern sich auch über die eigene Region hinaus profiliert: durch eine aktive Afrikapolitik, durch die Mitarbeit in multilateralen Süd-Süd-Foren wie der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und dem IBSA-Forum (Indien, Brasilien, Südafrika), durch eine prominente

Einleitung

11

Rolle bei den Diskussionen über die Zukunft der Welthandelsordnung und durch Vermittlungsangebote in internationalen Konflikten. Diese Entwicklungen analysiert Peter Birle in seinem Beitrag zur brasilianischen Außenpolitik. Er beschreibt zunächst einige ihrer Konstanten und Grundprinzipien und geht dann auf diejenigen internen und externen Faktoren ein, die Brasilien den Aufstieg zu einem global player ermöglicht haben. Im Anschluss daran erfolgt ein Blick auf die Beziehungen mit Lateinamerika, auf die SüdSüd-Politik sowie auf die Politik gegenüber den USA und Europa. Horst Nitschack analysiert die kulturelle Dynamik Brasiliens aus historischer Perspektive. Er zeigt auf, warum das Land trotz seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung auf kultureller Ebene lange Zeit nicht die gleiche Verbreitung und dasselbe Ansehen wie die hispanoamerikanischen Kulturen erreichte. Zudem fragt er nach der Bedeutung der Wissenschaften und der Literatur für die Herausbildung und Entwicklung der brasilianischen Nation. Nitschack weist darauf hin, dass die tiefgreifenden Veränderungen der brasilianischen Gesellschaft während des 20. Jahrhunderts nicht nur in der Kultur ihren Ausdruck fanden, sondern dass es gleichzeitig auch die Kultur war, die diesen Wandel ermöglichte. Die Indus­trialisierung, eine fortschreitende soziale Ausdifferenzierung, die Binnenmigration aus dem Nordosten in den Südosten und Süden des Landes, die Urbanisierung und der Bedeutungsverlust persönlicher gesellschaftlicher Bindungen waren Entwicklungen, die auch zu kulturellen Wandlungsprozessen führten. Heute ist Brasilien in den internationalen Medien vor allem durch seine Populärkultur, durch seine Fest- und Musikkultur präsent. Aber auch für das kulturelle Selbstverständnis des Landes spielt die Populärkultur eine zentrale Rolle. Die Widersprüchlichkeit der brasilianischen Großstädte verdichtet sich heutzutage in einer einzigartigen Verbindung aus Alltagskultur und zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, die exemplarisch für das kreative Potenzial der Favelas und armen Vorstädte steht. Diese Verbindung, in der die Musik und andere Formen der Kultur zu entscheidenden Instrumenten politischer Repräsentation wurden, stellt Marcel Vejmelka anhand einiger Beispiele für brasilianische Stadtkulturen vor. Dazu gehören das afrobrasilianische Selbstbewusstsein in Salvador da Bahia, die revitalisierten Traditionen des Nordostens in Recife, der Hip-Hop in der Megastadt São Paulo sowie die neuen städtischen Bewegungen in Rio de Janeiro. Vejmelka weist darauf hin, dass Räume der Armut und Informalität nicht nur Herde von Gewalt, Drogen, Verbrechen und anderen Bedrohungen

12

Peter Birle

für die bürgerliche Stadt sind, sondern auch Räume lebendiger kultureller Traditionen und Neuschöpfungen, die marginalisierten Kulturformen und Gesellschaftsgruppen ein Gesicht, eine Stimme und einen Diskurs geben und ihnen in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion Gewicht verleihen. Mit der Entwicklung von Film und Fernsehen in Brasilien beschäftigt sich der Beitrag von Joachim Michael. Er zeigt auf, dass zwischen beiden Medien eine komplexe und spannungsreiche Beziehung besteht, die nicht untypisch für die lateinamerikanischen Medienkulturen ist. Die Wechselbeziehung zwischen Kino und Fernsehen bestimmt nicht nur die spezifische Ausgestaltung der audiovisuellen Kultur, sondern sie verleiht auch der brasilianischen Gegenwartskultur ein ihr eigenes Gepräge. Michael weist darauf hin, dass die heutige Hypertrophie der Fernseh-Networks in Brasilien auch damit zusammenhängt, dass es dem nationalen Kino im 20. Jahrhundert nicht gelungen ist, seine Existenzkrisen zu überwinden. Die Schwundphänomene der Kinoproduktion wurden vom Fernsehen ausgenutzt, um sich in eigentümlicher Weise als nationales Bildschirmkino zu entwerfen und zu entfalten. Der Aufstieg des Mediennetzwerks Rede Globo sowie die ökonomische und kulturelle Bedeutung des Phänomens Telenovela spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Cornelius Schlicke setzt sich mit Identitätskonstruktionen in der populären Musik Brasiliens auseinander. Dazu gehören seit langem Samba, Bossa Nova und Musica Popular Brasileira (MPB), die sich allesamt auch im Ausland als Exponenten der brasilianischen Musik durchsetzen konnten. Darüber hinaus existiert jedoch eine Vielzahl von Musikformen, die eher mit bestimmten Regionen assoziiert werden: der forró, der verschiedene Stile aus der ländlichen Musikkultur des Nordostens umfasst, die música sertaneja, deren Interpreten seit den 1990er Jahren die brasilianischen Charts dominieren, die tecnobrega-Musik rund um die Metropole Belém in der nördlichen Provinz Pará und auch der aus den Favelas von Rio de Janeiro in den 1990er Jahren hervorgegangene Funk Carioca, der seither das Klangbild der Stadt mitbestimmt. Schlicke weist darauf hin, dass es, anders als dies beim Samba und bei der MPB der Fall war, im heutigen Brasilien keine Form von Musik mehr zu geben scheint, die unabhängig von Geschmacksfragen noch die Idee einer kulturellen Einheit repräsentiert. Stattdessen wird Identität vorwiegend anhand von sozialen, ethnischen, regionalen oder auch religiösen Kriterien markiert. Die Vielfalt des literarischen Schaffens brasilianischer Autorinnen und Autoren zeichnen Susanne Klengel und Georg Wink anhand einiger hi-

Einleitung

13

storischer und gegenwärtiger Haupt- und Nebenlinien der brasilianischen Literatur nach. Die Gegenwartsliteratur nimmt in der Darstellung einen besonderen Raum ein, aber auch ihre Verknüpfung mit Traditionslinien der brasilianischen Literaturgeschichte wird aufgezeigt. Neben den ‘großen Namen und Werken’ werden dementsprechend auch unbekanntere sowie aktuelle Autor/innen einbezogen, deren Arbeiten auf Deutsch vorliegen. Zu den literarischen Strömungen, die im Rahmen des Beitrages vorgestellt werden, gehören die realistische und die subjektiv-intimistische Literatur, die ‘großen Erzählexperimente’ und die Avantgarden, Erinnerungsliteratur und historischer Roman sowie die in jüngerer Zeit zu beobachtende Internationalisierung von Themen und Handlungsräumen. Klengel und Wink zeigen auf, dass sich die brasilianische Literatur zusehends aus ihrer traditionellen Bezogenheit auf den nationalen Raum befreit, weshalb man als potentieller Leser nicht mehr ‘nur’ an Brasilien interessiert sein muss, um an der reichen Literaturproduktion des Landes teilzuhaben.1 Frank Stephan Kohl weist uns darauf hin, dass man die brasilianische Kultur und Gesellschaft nur verstehen kann, wenn man auch einen Blick auf den Fußball wirft. Fußball ist in Brasilien mehr als nur ein populärer Sport mit Millionen von Anhängern und Fans, er ist Teil der nationalen Identität, integraler Bestandteil der Alltagskultur und Austragungsfeld gesellschaftlicher Konflikte. Der Fußball ist, so Kohl, eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste einheitsstiftende Moment einer von extremen sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaft. Der Beitrag geht jedoch nicht nur auf die historischen Hintergründe und die Entwicklung des Fußballs in Brasilien und dessen gesellschaftlichen und kulturellen Stellenwert ein, sondern auch auf die aktuelle Situation im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2014. Angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung des Fußballs ist es nicht verwunderlich, dass die vor allem von Jugendlichen getragenen Demonstrationen im Juni 2013 ausgerechnet im Umfeld eines Fußball-Großereignisses, des Konföderationen-Pokals, stattfanden. Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag von Peter Birle zum Verhältnis zwischen Deutschland und Brasilien. Die bilateralen Beziehungen weisen eine große historische Tiefe auf, beziehen sich auf zahlreiche Bereiche und zeichnen sich gerade in den vergangenen Jahren durch eine 1

Einen Überblick zu aktuellen Strömungen der brasilianischen Literatur bietet auch das ebenfalls in diesem Jahr erscheinende Buch Novas Vozes. Zur brasilianischen Literatur im 21. Jahrhundert (Klengel et al. 2013).

14

Peter Birle

große Dynamik aus. Eine ihrer Stärken liegt darin, dass sie sich nicht nur auf politisch-diplomatischer Ebene und zwischen wirtschaftlichen Akteuren abspielen, sondern dass es auch viel wechselseitiges Interesse an der Kultur des Partnerlandes sowie zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen und Gruppen in beiden Ländern gibt, die im Austausch miteinander stehen. Der Beitrag geht zunächst auf einige historische Aspekte der bilateralen Beziehungen ein und analysiert dann die Zusammenarbeit in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung, Kultur und Entwicklungszusammenarbeit. Ein Leitmotiv ist dabei die Frage nach den Ursachen dafür, dass Deutschland und Brasilien sich trotz großer Unterschiede und divergierender außenpolitischer Prioritäten als ‘strategische Partner’ betrachten und in vielen Bereichen eine enge Zusammenarbeit suchen.2 Eine kurze Chronologie zur Geschichte Brasiliens rundet den Band ab. Das Ibero-Amerikanische Institut in Berlin möchte mit diesem Buch einen Beitrag zum besseren Verständnis eines Landes leisten, das von den deutschen Sozialwissenschaften lange Zeit vernachlässigt wurde und erst in den vergangenen Jahren stärker ins Blickfeld des Interesses gerückt ist. Insofern steht Brasilien. Eine Einführung auch in der Tradition des wesentlich voluminöseren Bandes Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur (Costa et al. 2010), der ebenfalls in der Reihe Bibliotheca Ibero-Americana erschienen ist. Der Herausgeber dankt allen Autorinnen und Autoren dafür, dass sie es mit ihrem Engagement ermöglicht haben, dieses Publikationsprojekt innerhalb eines relativ überschaubaren Planungs- und Produktionszeitraums zu verwirklichen. Literatur Bader, Wolfgang (Hg.) (2010): Deutsch-brasilianische Kulturbeziehungen. Bestandsaufnahme, Herausforderungen, Perspektiven. Frankfurt am Main: Vervuert. Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.) (2010): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. 2. vollständig neu bearbeite Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert. Klengel, Susanne/Quandt, Christiane/Schulze, Peter W./Wink, Georg (Hg.) (2013): Novas Vozes. Zur brasilianischen Literatur im 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Vervuert. 2

Siehe zu diesem Thema auch den Band Deutsch-brasilianische Kulturbeziehungen. Bestands­ aufnahme, Herausforderungen, Perspektiven (Bader 2010).

Im Spannungsfeld zwischen globalem Wandel und regionaler Dynamik. Die Großregionen Brasiliens Martin Coy

Die Entwicklung Brasiliens während der letzten zehn Jahre wird gemeinhin als Erfolgsgeschichte gelesen. Spätestens mit der im Jahr 2003 von der führenden Investmentbank Goldmann Sachs veröffentlichten Studie “Dreaming with BRICs” gilt Brasilien endgültig als ‘Land der Zukunft’, als das es bereits Stefan Zweig in den 1940er Jahren bezeichnet hatte; nun allerdings aus der Sicht von und für Investoren, auf der Basis von Wachstumsziffern, wirtschaftlichen Potenzialen und Renditeerwartungen. Dabei sind es nicht nur erstaunliche Erfolge im industriellen und Dienstleistungssektor, die Brasilien in einem neuen Licht erscheinen lassen: Das Land ist inzwischen der drittgrößte Flugzeughersteller der Welt, nimmt eine wichtige Stellung im strategischen Bereich der KFZ-Produktion ein und überzeugt durch Spitzenforschung in den unterschiedlichsten Gebieten. Brasilien ist vor allem reich an Flächen und Rohstoffen. Flächenreichtum ist ein wichtiger Hintergrund für die führende Stellung des Landes auf den Weltagrarmärkten, und sowohl im Bereich vieler mineralischer als auch energetischer Rohstoffe kann Brasilien inzwischen seinen eigenen Bedarf decken und darüber hinaus als wichtiger Anbieter auf dem Weltmarkt auftreten. All dies zeigt, dass Brasilien – so wie allen großen Schwellenländern – in den kommenden Jahren eine Schlüsselstellung hinsichtlich seiner Positionierung im Globalen Wandel und damit bei der Frage des Umgangs mit der Anpassung an sowie der Bewältigung des Globalen Wandels zukommen wird. Anpassungs- und Bewältigungskapazitäten, was die Herausforderungen des Globalen Wandels anbelangt, hängen von den politischen Rahmenbedingungen, von den gesellschaftlich-institutionellen settings (Machtverhältnisse, Bereitschaft zum Wandel), vor allem aber auch von den sozioökonomischen, sozialkulturellen und ökologischen Potenzialen und Beschränkungen ab, die sich räumlich verorten und in unterschiedlichen regionalen Dynamiken manifestieren. Dabei gilt für Brasilien, dass es von jeher durch wirtschaftliche, soziale und räumliche Disparitäten gekennzeichnet ist, in denen sich historisches Erbe, Entwicklungsstile und

16

Martin Coy

ihre Folgen, in jüngeren Jahren aber sicherlich auch die Konsequenzen der Einbindung des Landes in die Globalisierung niederschlagen. Insofern spielt das Spannungsfeld zwischen Globalem Wandel und regionaler Dynamik in allen Großregionen des Landes eine zunehmende Rolle. Vor diesem Hintergrund heißt “Brasilien verstehen”, seine großregionale Struktur, Differenzierung und Dynamik in ihrer jeweiligen historischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingtheit zu begreifen. Der Südosten: Zwischen Megaverstädterung und Wirtschaftslokomotive

Das Herz Brasiliens schlägt im Südosten. So einfach könnte man es sich machen, wenn man die fünf brasilianischen Großregionen hinsichtlich der Indikatoren Bevölkerungsverteilung oder wirtschaftliche Wertschöpfung betrachtet. Nach dem letzten Bevölkerungszensus von 2010 leben 42 % aller Brasilianer (das sind in absoluten Zahlen ca. 82 Millionen, also mehr als die Einwohnerzahl Deutschlands) in den vier Bundesstaaten des Südostens – São Paulo, Rio de Janeiro, Minas Gerais und Espírito Santo, die zusammen lediglich 11 % der Gesamtfläche des Landes ausmachen. Die ebenfalls im Südosten liegenden drei größten städtischen Agglomerationen Brasiliens, São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte und ihre jeweiligen Metropolitanregionen, stellen allein schon circa 20 % der gesamten Bevölkerung des Landes. In den vier Bundesstaaten des Südostens werden 55 % des Bruttoinlandsproduktes (2010) erwirtschaftet. Die he­ rausragende Bedeutung der Region ist offensichtlich. Naturräumlich wird der Südosten charakterisiert durch das Küstengebirge der Serra do Mar, die bis auf knapp 2.800 m ü.NN ansteigen kann. Ihr vorgelagert ist ein schmaler Küstenstreifen, der teilweise durch weiträumigere Küstenebenen erweitert wird. Im Hinterland geht das durch weite Täler, die wichtige Funktion für die Verkehrsverbindungen haben, gegliederte Küstengebirge in weit ausgedehnte Hochländer über, die als landwirtschaftliche Gunsträume von besonderer Bedeutung sind. Der Südosten Brasiliens war vor allem das Verbreitungsgebiet des Küstenregenwaldes, der Mata Atlântica, die, beginnend in der Kolonialzeit und seit dem 19. Jahrhundert rasant beschleunigt, der wirtschaftlichen Erschließung und ‘Inwertsetzung’ weichen musste. Man schätzt, dass heutzutage nur noch ca. 7 % der ursprünglichen Mata Atlântica erhalten sind.

Die Großregionen Brasiliens

17

Phasen der Raumerschließung

Recife

Salvador da Bahia

Rio de São Janeiro Paulo

0

Portugiesische Forts Inwertsetzung im 16. Jahrhundert Inwertsetzung im 17. Jahrhundert Inwertsetzung im 18. Jahrhundert Inwertsetzung im 19. Jahrhundert Im 19. Jh. noch nicht inwertgesetzt Territorialgewinne durch Schiedssprüche Ende des 19./Anfang des 20. Jh. Fonte: baseado parcialmente em Manoel Mauricio Entwurf: Hervé Théry, Überarbeitung: Tobias Töpfer de Albuquerque, Atlas histórico, e Martine Droulers

250

500

750

1000 1250

km

Linie von Tordesillas Grenzziehung Vertrag von Utrecht (1703) Grenzziehung Vertrag von Madrid (1750) Grenzziehung Vertrag von Badajoz (1801) Züge der Bandeirantes Versklavung Indigener Suche nach Edelmetallen Auftragserschließung © HT-2003 MGM-Libergéo

Quelle: Coy/Théry 2010

Nach dem Bergbauboom, der insbesondere Minas Gerais im 17. und 18. Jahrhundert zum begehrtesten Raum der portugiesischen Kolonie werden ließ, wurde ab dem 19. Jahrhundert der rasch expandierende Kaffeeanbau zum Motor des Aufstiegs des Südostens zur Kernregion Brasi­liens.

18

Martin Coy

Zunächst noch auf der Basis von Sklavenarbeit organisiert, erhielten ab den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vor allem italienische Einwanderer entscheidende Bedeutung als Arbeitskräfte und Pächter in der Kaffeewirtschaft. Ausgehend von São Paulo dehnten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kaffeepflanzungen entlang der sukzessive ausgebauten Eisenbahnlinien immer weiter in das Hinterland aus. Das mit dem Kaffee erwirtschaftete Kapital wurde in den bereits exis­tierenden und entlang der Eisenbahnen neu entstehenden Städten zunehmend in gewerbliche und industrielle Aktivitäten investiert. Insofern kann man mit Fug und Recht sagen, dass die Industrieregion SüdostBrasilien ihren wesentlichen Ursprung im Kaffeeanbau hat. Dies gilt vor allem auch für den Standort São Paulo. Zunächst auf der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte und der Textilindustrie fußend, trat der Südosten in den 1940er Jahren mit dem seitens der USA mitfinanzierten Aufbau des ersten großen Schwerindustriekomplexes in Volta Redonda im Bundesstaat Rio de Janeiro massiv in das Industriezeitalter ein. In den 1950er Jahren, in der Modernisierungsphase der brasilianischen Wirtschaft und Gesellschaft, die mit dem Präsidenten Juscelino Kubitschek wie mit keinem anderen verbunden ist, erweiterte und diversifizierte sich das indus­trielle Branchenspektrum des Südostens erheblich. Vor allem Minas Gerais wurde auf der Basis der dortigen Eisenerz- und Manganvorkommen zum wichtigsten Eisen- und Stahlstandort Brasiliens. Die Zeche zahlte allerdings die Umwelt, denn in Ermangelung von Steinkohle wurde die Mata Atlântica als Lieferant von Holzkohle für die Schwerindustrie missbraucht. Vor allem São Paulo und sein Umland, aber auch die Großräume Belo Horizonte und Rio de Janeiro, wuchsen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Industrieagglomerationen von nationaler und internationaler Bedeutung heran. Der Fahrzeugbau, die Elektrotechnik und Elektronikindustrie, Chemie und Petrochemie (hier vor allem der wegen seiner Umweltbelastungen berühmt-berüchtigte Standort Cubatão in der Baixada Santista) sowie in jüngerer Zeit Flugzeugbau, Raumfahrtindustrie sowie andere Schlüsseltechnologien kennzeichnen die industrielle Vielfalt des brasilianischen Südostens. São José dos Campos, zwischen São Paulo und Rio de Janeiro im Vale do Paraíba gelegen, ist unter anderem als Standort von EMBRAER, dem inzwischen drittgrößten Flugzeughersteller weltweit, vielleicht am ehesten als ‘symbolischer Ort’ der Transformation dieser Großregion zum Hochtechnologiestandort anzusehen.

Die Großregionen Brasiliens

19

Trotz der nach wie vor bestehenden Vormachtstellung des Südostens lässt sich in den letzten Jahren ein deutlicher industrieller Dekonzentrations- und Standortverlagerungsprozess beobachten. Beherbergte die Großregion 1996 noch mehr als 60 % aller Industriebetriebe des Landes, waren es 2010 (wenn auch auf absolut sehr viel höherem Niveau) ‘nur’ noch etwa 47 %. ‘Gewinner’ sind aufgrund steuerlicher Vergünstigungen und sonstiger komparativer Kostenvorteile insbesondere der Süden und Nordosten. Trotz aller Vorherrschaft der modernen Industrie für die großregionale Beschäftigung und Wertschöpfung bleibt der Südosten nach wie vor auch ein wesentlicher Standort des Agrobusiness. Auch wenn der Kaffeeanbau bis auf den heutigen Tag eine wichtige Rolle spielt, wurde er in vielen Regionen doch von seiner ehemaligen Monopolstellung verdrängt. In erster Linie hat sich der großbetriebliche Zuckerrohranbau in weiten Teilen von São Paulo im Gefolge der staatlich geförderten Herstellung von Ethanol als Biotreibstoff seit den 1970er Jahren durchgesetzt. Die großen Usinas bestimmen nicht nur den ländlichen Raum, sondern indirekt auch zahlreiche Landstädte, an deren Peripherien das ‘Arbeitsheer’ der bóia-fria, der Tagelöhner der Zuckerrohrbetriebe, ein Überleben zu sichern versucht. Ein weiterer, stark exportorientierter Faktor des südostbrasilianischen Agrarsektors ist der Anbau von Zitrusfrüchten. Auch in diesem Sektor sind erhebliche agrarsoziale Disparitäten zu beobachten. Schließlich ist der Südosten Brasiliens – und dies gilt für große Teile sowohl von São Paulo als auch von Minas Gerais – eine Region der Rinderweidewirtschaft, die auf großen Fazendas betrieben wird. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass es hier auch immer wieder zu Landkonflikten gekommen ist. In den letzten Jahren ist die Großregion zu einem wichtigen Aktionsgebiet der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Sem-Terra) geworden (als ‘emblematische’ Region ist in diesem Zusammenhang Pontal do Paranapanema, das Grenzgebiet zu Paraná, zu nennen). Der Strukturwandel in der Landwirtschaft mit seiner Verdrängungswirkung und vor allem die Dynamik des industriellen Sektors sind wesentliche driving forces eines rasanten Verstädterungsprozesses, der im Laufe des 20. Jahrhunderts zum Charakteristikum des räumlichen Wandels des brasilianischen Südostens wurde. Offiziell sind mehr als 93 % der Bevölkerung des Südostens städtisch. Dabei ziehen die beiden Megastädte São Paulo und Rio de Janeiro von jeher die größte Aufmerksamkeit

20

Martin Coy

auf sich. Die Metropolregion von São Paulo gilt mit inzwischen mehr als 20 Millionen Einwohnern als sechstgrößte weltweit. Rio de Janeiro folgt mit einer Einwohnerzahl in der Metropolregion von ca. 12 Millionen auf dem 24. Platz im weltweiten Vergleich. Mit São Paulo und Rio verfügt

Bevölkerung Belém Manaus

Fortaleza

Recife

Brasília

Salvador da Bahia

Bevölkerung 2007

10 886 518 (São Paulo) Ew. 6 093 472 (Rio de Janeiro) Ew. 2 892 625 Ew. 2 455 903 100 000 10 000

(Salvador) (Brasília) Ew. Ew.

Entwurf: Hervé Théry, Überarbeitung: Tobias Töpfer

São Paulo

Rio de Janeiro

Porto Alegre 0

250

500

750

1000 1250

km

©Hervé Théry2008

Quelle: Coy/Théry 2010

der brasilianische Südosten über zwei der insgesamt vier megaurbanen Agglomerationen (mehr als 10 Millionen Einwohner) Lateinamerikas. Bei aller Dominanz der beiden Megastädte (zusammen mit der über fünf Millionen Einwohner zählenden Agglomeration Belo Horizonte) übersieht

Die Großregionen Brasiliens

21

man leicht, dass gerade im brasilianischen Südosten Verstädterung mehr meint als Mega-Verstädterung. Gerade Groß- und Mittelstädte sowohl im weiteren Einflussgebiet der Metropolräume als auch in den periphereren ländlich geprägten Räumen prägen die Vielfalt des Städtischen in dieser Großregion und gehören in vielen Fällen zu den besonders dynamischen urbanen Räumen. Musterbeispiel dafür ist vielleicht Campinas, die Millionenstadt im weiteren Umfeld von São Paulo, Standort hochrangiger Forschungseinrichtungen und Technologieunternehmen, die den Wandel Brasiliens und des Südostens besonders gut repräsentiert. Die beiden Megastädte São Paulo und Rio de Janeiro sind in ihrer Struktur Vorreiter und Musterbeispiele für den Prozess der sozialräumlichen Fragmentierung, der die Stadtentwicklung und den städtischen Wandel in allen lateinamerikanischen Ländern während der letzten Jahrzehnte prägt. Oftmals in unmittelbarer Nachbarschaft finden sich Favelas mit den in Brasilien als condomínios fechados bezeichneten Reichenghettos. Beispiele hierfür sind Barra da Tijuca, das Erweiterungsgebiet der noblen Zona Sul von Rio de Janeiro, oder der in direkter Nachbarschaft zur Favela Paraisópolis gelegene Privilegiertenstadtteil Morumbi in São Paulo. Allein in São Paulo existieren über 50 Shopping Center, die als ‘Konsum- und Freizeitenklaven’ zunehmend die Kommunikations- und Repräsenta­tionsfunktionen des öffentlichen Raumes übernehmen. Die Innenstadtbereiche durchliefen in den letzten Jahrzehnten tief greifende Veränderungen. Die öffentlichen Räume wurden zunehmend zu Überlebensräumen marginalisierter Bevölkerungsgruppen (informeller Straßenhandel, Obdachlose etc.). Die Aufenthaltsqualität in den Innenstädten verringerte sich, unter anderem infolge ihrer sukzessiven Zurichtung auf den motorisierten Individualverkehr. Auch als Standort hochrangiger Dienstleistungen mussten die Innenstädte, insbesondere das Zentrum von São Paulo, erhebliche Einbußen hinnehmen. Finanzsektor, Firmenzentralen, Niederlassungen ausländischer Unternehmen und unternehmensorientierte Dienstleister wandern seit Jahren in einen südwestlichen Sektor der Kernstadt ab, wo sich hochmoderne Bürostandortkonzentrationen herausgebildet haben, die die wachsende Bedeutung São Paulos als global vernetzte ‘Steuerungszentrale’ in der gebauten Umwelt symbolisiert anzeigen. Im Gefolge dieses Verlagerungsprozesses von Steuerungsfunktionen erhalten Versuche einer Revitalisierung der Innenstadt eine zunehmende Bedeutung. Bahnhöfe und sonstige öffentliche Gebäude werden saniert und zu Museen, Konzertsälen oder Kulturzentren umgebaut, öffentliche Räume werden neu gestal-

22

Martin Coy

tet. Dabei kommt es nur allzu oft zu einer Verdrängung derjenigen, für die das Stadtzentrum inzwischen Überlebensfunktion erhalten hat. Diese sozialräumliche Ambivalenz von Stadterneuerung zeigt sich im Moment vor allem in der Vorbereitung auf die Groß-Events der nächsten Jahre: die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016. Dabei sind Stadion-Um- und -Neubauten oder die Erstellung der olympischen Sportstätten nur ein Aspekt. Die brasilianischen Städte – und besonders Rio de Janeiro – nutzen die Großsportereignisse zum groß angelegten Stadtumbau, der, stark auf dem Gedanken von public-private-partnerships fußend, im Sinne einer ‘unternehmerischen Stadtpolitik’ durchgeführt wird, für die Investoreninteressen, Standortqualität, Stadtimage und Stadtmarketing prioritär sind. Dagegen treten Vorstellungen von einem ‘Recht auf Stadt’ für alle, die sich in Brasilien im Zuge einer nationalen Stadtreformbewegung ab den 1980er Jahren durchaus etablieren konnten, zusehends in den Hintergrund. Wie unter dem Brennglas kann dies derzeit bei der Realisierung des Stadterneuerungsprojektes Porto Maravilha in Rio de Janeiro beobachtet werden. Werden also auf Dauer die bestehenden Ungleichheiten in Brasilien auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen eher verringert oder weiter verstärkt? Die derzeitigen Entwicklungstrends im Zuge der bevorstehenden Megaevents weisen zumindest nicht auf einen Wirkung versprechenden Abbau von Disparitäten hin. Der Nordosten: Perspektiven für das ‘Armenhaus’ Brasiliens?

Die neun Bundesstaaten der Nordostregion (Maranhão, Piauí, Rio Grande do Norte, Ceará, Paraíba, Pernambuco, Alagoas, Sergipe und Bahia) stellen mit ca. 54 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Bevölkerungszahl des Landes. Beim ersten nationalen Zensus Brasiliens im Jahr 1872 war der Nordosten noch die bevölkerungsreichste Region, seitdem verliert er jedoch durch Abwanderung an Gewicht. Eine Reihe von sozialen Indikatoren kennzeichnen den Nordosten heute als Problemregion: Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit ca. 9.600 Reais (2010) das niedrigste Brasiliens und erreicht gerade einmal 40 % des Wertes für den Südosten. Der HDI-Wert (Human Development Index) des Nordostens ist mit 0,72 der niedrigste im Vergleich der Großregionen, die Analphabetenquote mit ca. 17 % und die Säuglingssterblichkeit mit 19 % sind die höchsten im gesamtbrasilianischen Vergleich.

Die Großregionen Brasiliens

23

Natur- und wirtschaftsräumlich lässt sich der Nordosten in drei mehr oder minder parallel zur Küste verlaufende Raumeinheiten untergliedern: Die Küstenebene der Zona da Mata, ausgestattet mit vergleichsweise fruchtbaren Böden und mit ausreichenden Niederschlagsmengen versorgt. Hier fand nach der Ankunft der Portugiesen ab dem 16. Jahrhundert die Ausbreitung der Zuckerrohrplantagen beste Voraussetzungen, und bis heute spielt der Zuckerrohranbau in vielen Bereichen der Zona da Mata (im Süden von Bahia auch der Kakaoanbau) eine große Rolle. Die Küstenregion ist als historischer Kernraum des Nordostens auch der Bevölkerungsschwerpunkt. Hier konzentrieren sich die Hauptstädte der Bundesstaaten und sonstigen Regionalmetropolen. An das Küstentiefland schließt sich der vergleichsweise schmale Streifen des Agreste an, ein ‘Übergangsraum’, in dem eine teilweise recht intensive landwirtschaftliche Nutzung (Versorgung der Metropolitanräume an der Küste) zu beobachten ist, die durch ausreichende Niederschläge ermöglicht wird. Ein Band von Mittelstädten übernimmt hier seit jeher eine ‘Drehscheibenfunktion’ für den Handel zwischen Küstenraum und Hinterland sowie eine indus­ trielle Produktionsfunktion, beispielsweise im Bereich der Textilindustrie. Der Agreste geht schließlich in die Weiten des Sertão, des klimatisch vorwiegend semiariden Hinterlandes, über, das flächenmäßig den größten Teil der Nordostregion ausmacht. Das Ausbleiben der Niederschläge führt immer wieder zu Dürreperioden, die seit jeher die Abwanderung großer Bevölkerungsmengen zur Folge haben. Aber es ist keineswegs nur die naturräumliche ‘Benachteiligung’, die den Nordosten zur Problemregion des Landes machen. Die wirtschaftlichen und vor allem die sozialen Verhältnisse üben mindestens ebenso eine strukturell bedingte Verdrängungswirkung aus. Im Hinterland des Sertão herrscht, von den wenigen klein- und mittelstädtischen Zentren abgesehen, im Wesentlichen eine extensive Viehhaltung vor. Ausgedehnte Fazendas, die sich oftmals nach wie vor in den Händen der traditionellen Agraroligarchien befinden, stehen kleinbäuerlicher Subsistenzlandwirtschaft entgegen. Diese seit jeher bestehenden (agrar)sozialen Disparitäten sind mit ungleichen Zugangs- und Verfügungsrechten bezüglich der überlebenswichtigen Ressourcen (Land, Wasser etc.), generell mit ungleichen Machtverhältnissen und ungleichen Überlebenschancen verbunden. Temporäre oder dauerhafte Abwanderung wird somit zur weithin bestimmenden Überlebensstrategie. Insgesamt gilt der Nordosten als die Region Brasiliens, in der das ‘koloniale Erbe’ am stärksten präsent ist. Die ehemalige Dominanz der

24

Martin Coy

Sklaverei als Basis der kolonialen Plantagenwirtschaft drückt sich nach wie vor in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung aus (im nationalen Vergleich die höchsten Anteile schwarzer Bevölkerung), traditionelle Machtstrukturen und coronelismo pausen sich bis heute in politischem Klientelismus und der Dominanz der alten regionalen Eliten durch. Armut als Folge von wirtschaftlichem Niedergang bzw. wirtschaftlicher Stagnation und persistenter Ungleichheit wird zur wesentlichen Triebkraft der Verdrängungsmigration, die dazu führt, dass nordestinos sowohl das Arbeitskräftereservoir in den Megastädten des Südostens bilden als auch an den Siedlungsgrenzen Amazoniens seit jeher als Kautschukzapfer, Kleinbauern oder aber als garimpeiros (illegale Goldsucher und Diamantenschürfer) eine wesentliche Rolle spielen. Aber das Bild von der Rückständigkeit und Krisenhaftigkeit des Nordostens ist bei genauerer Betrachtung nur die halbe Wahrheit. Mindestens seit einem halben Jahrhundert steht besonders der Nordosten im Zentrum der Bemühungen um Regionalentwicklung und ‘Modernisierung’. Die Gründung der SUDENE (Superintendência do Desenvolvimento do Nordeste) in den späten 1950er Jahren gilt als der emblematische Startpunkt einer zentral gesteuerten Regionalentwicklungspolitik, die weit über Brasilien hinaus Beachtung fand. Schon früher hatte der Zentralstaat seine Anstrengungen zur Dürrebekämpfung in Kampagnen und Behörden institutionalisiert, deren Wirkungsgrad allerdings umstritten war. Im Zuge der allgemeinen Modernisierungsbemühungen ab den 1970er Jahren verstärkte der Staat seine Politik der Regionalentwicklung im Nordosten. Im Zentrum stand der Bau von Staudämmen und Wasserkraftwerken entlang des Rio São Francisco. Dort entstanden auch im Grenzgebiet zwischen Bahia und Pernambuco, um die beiden Städte Petrolina und Juazeiro, mit der Fertigstellung des Sobradinho-Staudamms die großen Bewässerungsoasen, die heute als Produktionsgebiete von tropischen Früchten (vor allem Mango und Papaya) sowie von Tafeltrauben voll und ganz in globale Wertschöpfungsketten integriert sind. Seit geraumer Zeit ist im Nordosten auch ein zunehmendes Bemühen um Industrieansiedlung zu beobachten. In jüngeren Jahren befinden sich die Bundesstaaten des Nordostens (neben Bahia vor allem Ceará und Pernambuco) unter Mithilfe von Steuervergünstigungen und vergleichsweise niedrigen Produktionskosten (vor allem Lohnkosten) durchaus mit Erfolg in einem heftigen Standortwettbewerb mit den Bundesstaaten des Südens und Südostens hinsichtlich der Ansiedlung neuer Produktionsstätten nationaler und internationaler

Die Großregionen Brasiliens

25

Unternehmen. Der Ausbau der regionalen Infrastruktur soll die Standortbedingungen im Nordosten verbessern und dessen Einbindung in globale Märkte verstärken. Hierbei spielen vor allem neue Häfen, insbesondere Suape im Großraum Recife und Pecém im Großraum Fortaleza, eine strategische Rolle. Eine Anbindung des Hinterlandes an diese neuen Großhäfen beispielsweise mittels neuer Eisenbahnen ist geplant oder befindet sich bereits in Umsetzung. Von einem Großprojekt, dessen Idee bereits im 19. Jahrhundert geboren wurde und das vor allem die Regierung Lula mit großem Nachdruck betrieben hat, versprechen sich die Einen eine nachhaltige Lösung der Probleme des Sertão, die Anderen befürchten eher eine Verstärkung von so­ zialen Ungleichheiten. Die Rede ist von der Transposição do Rio São Francisco, der Ableitung von Flusswasser aus dem Rio São Francisco zur Versorgung weiter Teile des Hinterlandes von Pernambuco, Ceará, Rio Grande do Norte und anderen Bereichen. Mit diesem seit 2007 betriebenen Großprojekt, das unter anderem Priorität im Rahmen des nationalen Investitionsprogramms PAC (Programa de Aceleração para o Crescimento) der Regierungen Lula und Rousseff hat, soll Wasser aus dem Rio São Francisco in zwei Ableitungskanälen in die Trockengebiete geleitet werden. Die Befürchtungen gehen dahin, dass sich auch im Rahmen dieses Großprojektes die Tendenz hin zu einer “Kommodifizierung” des Allmendegutes Wasser verstärken wird, dass in diesem Zusammenhang die Kapitalkräftigen – beispielsweise über die Ausdehnung von Bewässerungsoasen – die Gewinner des Projektes sind, die eigentlich Bedürftigen aber eher leer ausgehen werden. Ob von diesem wie von vielen anderen Projekten wirklich neue Perspektiven für den Nordosten Brasiliens ausgehen, wird die Zukunft zeigen. Skepsis bleibt angebracht, ob sich im Endeffekt nicht doch die tief in die gesellschaftlichen und räumlichen Strukturen der Großregion eingeschriebenen Ungleichheiten reproduzieren oder sogar noch verstärken. Der Norden: Zwischen Regenwaldzerstörung und nachhaltiger Entwicklung

Amazonien gehört zu jenen Regionen Brasiliens, die in besonderem Maße ganz unterschiedliche Assoziationen auslösen. Region der Sehnsüchte nach dem arkadischen Leben der ‘Wildnis’, geheimnisvolle Region des Unbekannten, gleichzeitig aber auch ‘Grüne Hölle’ des undurchdringli-

26

Martin Coy 60 W

Ökosysteme und Bedrohungen 40 W

Äquator

Südl. Wendekreis

Pazifik

Atlantischer Ozean

0

250

500

60 W

Amazonien Campos Cerrados Caatinga

750

1000 1250

Südgrenze des amazonischen Regenwaldes Grenze des laubabwerfenden Waldes Höhen zwischen 200 und 500 m ü. NN

Küsten und atlantischer Regenwald

Entwaldungsbogen

Grasfluren

Entwaldung (atlantischer Regenwald)

Araukarien Pantanal

Entwurf: HervéGeoBrasil Théry, Überarbeitung: Tobias Töpfer Fontes: Ibama, 2002, Perspectivas do meio ambiente no Brasil

km

40 W

Rutschungen Desertifikation © HT-2003 MGM-Libergéo

Quelle: Coy/Théry 2010

chen ‘Dschungels’ und der bedrohlichen Gefahren. In jedem Fall ist Amazonien, die riesige Peripherie im Norden Brasiliens, seit jeher ein Ort der Mythen, ein die Phantasie beflügelnder Raum und eigentlich eine bis auf den heutigen Tag in weiten Teilen unbekannte Region.

Die Großregionen Brasiliens

27

Amazonien ist nach wie vor mit ca. 4 Millionen km² das größte zusammenhängende tropische Regenwaldgebiet der Erde, auch wenn in den letzten 40 Jahren ca. 15 % der Regenwaldfläche zerstört oder zumindest stark degradiert wurden, der größte Teil davon in Brasilien. Die genaue Länge des Amazonas anzugeben, ist schwierig. Je nach Quellfluss dürfte sie zwischen 6.500 und 6.800 km liegen. Somit kann sich der Amazonas mit dem Nil um den Titel des längsten Flusses unserer Erde streiten. Unumstritten ist, dass der Amazonas zusammen mit seinen mehr als 1.000 Zuflüssen das sich über eine Fläche von ca. 6,8 Millionen km² erstreckende größte Flusseinzugsgebiet der Erde bildet und zwischen 10 und 15 % des gesamten Süßwassers der Erde dem Atlantischen Ozean zuführt – auch dies ein Weltrekord. Die globale Bedeutung des Naturraums Amazonien wird also schon aus diesen wenigen Superlativen offensichtlich, auch deshalb kein Wunder, wenn in jüngeren Jahren angesichts des Globalen Wandels der Blick der Weltöffentlichkeit immer wieder auf das Gebiet gerichtet ist. Fast zwei Drittel Amazoniens gehören zu Brasilien, und das Gebiet stellt fast 60 % des brasilianischen Staatsterritoriums dar. Aber was ist eigentlich gemeint, wenn von Amazonien die Rede ist? Das Flusseinzugsgebiet, der Natur- oder Landschaftsraum (in Brasilien ca. 4,1 Mio. km² umfassend), das ‘statistische’ Amazonien (die Nordregion mit den brasilianischen Bundesstaaten Acre, Amapá, Amazonas, Pará, Rondônia, Roraima und Tocantins) oder die seit den 1950er Jahren bestehende brasilianische Planungsregion Amazônia Legal, die 5,5 Mio. km² umfasst und zu der, zusätzlich zu den bereits genannten Bundesstaaten, noch Mato Grosso und Teile des Bundesstaates Maranhão gehören. In dieser Region Amazônia Legal leben nach dem Zensus von 2010 ca. 24 Millionen Menschen, das entspricht lediglich 12 % der Gesamtbevölkerung Brasiliens auf 61 % des Gesamtterritoriums des Landes. Allerdings konzentrieren sich dort mit 250.000 Bewohnern fast 60 % der indigenen Bevölkerung Brasiliens. Insgesamt wenig Menschen in einem riesigen Raum, zumal inzwischen über 70 % aller Bewohner Amazoniens in den Städten der Region leben. Schon immer zog Amazonien die unterschiedlichsten Begehrlichkeiten der Menschen in besonderem Maß auf sich. Im 16. Jahrhundert suchten die Spanier dort das sagenumwobene Eldorado. Auch in den folgenden Jahrhunderten war der Entdeckungsdrang zumeist mit der Hoffnung auf Reichtum oder zumindest wirtschaftlich Verwertbares verbunden. Die extrem große Biodiversität Amazoniens – eine der höchs­ten

28

Martin Coy

weltweit – spielte dabei von jeher eine zentrale Rolle. So sind auch die verschiedensten Kulturpflanzen aus Amazonien über die ganze Welt verbreitet worden. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Kautschukbaum, Hevea brasiliensis. Unmittelbar mit dem Industrialisierungsprozess im 19. Jahrhundert verbunden, hat diese Pflanze Amazonien gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Boom beschert, der die extreme Peripherie kurzzeitig ins weltweite Rampenlicht stellte. Die großen Städte der Region, Belém und Manaus, wurden mit den Symbolen des Wohlstands, der Kultur und der Entwicklung ausgestattet: Opernhäuser, Theater, elektrische Straßenbeleuchtung, Straßenbahnen. In die Region wanderten Menschen aus den Armutsgebieten Brasiliens in der Hoffnung auf ein besseres Leben zu. Allerdings endete der kurzzeitige Boom nach wenigen Jahren abrupt, und die Region versank wieder weitgehend in die Stagnation der Peripherie. Der Zweite Weltkrieg brachte zwar nochmal ein kurzes Wiederaufleben des Kautschukbooms, im Grunde genommen dauerte es aber bis in die 1960er und 1970er Jahre, um Amazonien erneut in den Fokus zu bringen. Grund war nun eine im Wesentlichen durch den Staat ausgelös­ te und bis heute anhaltende Regionalentwicklungsdynamik, die in weiten Teilen der Region tief greifende demographische, wirtschaftliche, so­ziale, kulturelle, vor allem aber auch ökologische Veränderungen in einem zuvor unbekannten Ausmaß mit sich brachte. Straßenbau, kleinbäuerliche Agrarkolonisation, großbetriebliche Rinderweidewirtschaft, Holzeinschlag, die Ausbeutung mineralischer Ressourcen, der Ausbau des hydroenergetischen Potenzials, dies sind nur die wichtigsten Faktoren dafür, dass Amazonien als soziales Sicherheitsventil, aber auch als schier grenzenloser ‘Ergänzungsraum’ für die brasilianische Wirtschaft und als neue Ressourcenfrontier galt. Verbunden sind damit zahlreiche Konflikte um unterschiedliche Nutzungsinteressen und Überlebensstrategien, um Land vor allem, aber auch um die politische Vorherrschaft und um die geostrategische Kontrolle, die allzu oft gewaltsam ausgetragen werden. Die neue Regionalentwicklungsdynamik der letzten Jahrzehnte brachte eine völlige Kehrtwende hinsichtlich der Schwerpunkträume von Bevölkerung und wirtschaftlicher Entwicklung innerhalb Amazoniens mit sich. Waren es zuvor vor allem die Bereiche der Várzea (s. u.) und insgesamt die Regionen an den Flüssen, die als die Gunsträume und entwickelte Gebiete galten, so kehrt die Regionalentwicklung der letzten Jahrzehnte diesen Räumen eher den Rücken zu. Die Flüsse als Lebensadern, die die Überlebensstra-

Die Großregionen Brasiliens

29

tegien, die Ernährungsgewohnheiten, Kommunikation und Handel, kurz den Lebensstil der Menschen über Jahrhunderte bestimmten, werden von den neuen Fernstraßen abgelöst, die Amazonien aus seiner – vermeintlichen – Isolation herauslösen, die Peripherie an die Zentrumsregionen des Südostens und Südens anbinden, eine massive Zuwanderung überhaupt erst ermöglichen und die letztendlich eine völlig neue Siedlungsstruktur bewirken. Nun sind es die Pionierstädte an den Straßen und nicht mehr die traditionellen Flusshäfen, die die wirtschaftlichen, politischen und allzu oft auch die neuen kulturellen Zentren der Region bilden. Die von den Militärs in der Zeit der Diktatur ab den 1960er Jahren unter dem Motto “Land ohne Menschen für Menschen ohne Land” betriebene Erschließung Amazoniens sollte die vormalige Peripherie in den beschleunigten Rhythmus der Modernisierung einbinden. Die Interessen der rechtmäßigen Bewohner Amazoniens, der Indigenen, der caboclos und ribeirinhos oder der seringueiros, spielten dabei keine Rolle. Sie wurden – gesellschaftlich und räumlich – im Interesse des vermeintlichen Fortschritts im wahrsten Sinne des Wortes an den Rand gedrängt. Angesichts dieser Fortschrittseuphorie fragte auch niemand, ob es eigentlich nicht genau diese Gruppen sind, die aufgrund ihrer über Generationen gesammelten Erfahrungen am ehesten wissen, wie man mit dem fragilen Naturraum Amazonien umgehen muss. Denn nach kürzester Zeit zeigten sich bereits die Kosten des neuen Entwicklungsbooms: Waldzerstörung, Bodendegradierung, Biodiversitätsverlust. Im Vergleich zu einer über Jahrhunderte verlaufenden Co-Evolution zwischen Natur und Mensch, die sich den besonderen Verhältnissen anzupassen versuchte, beherrschen nun Unterwerfung der Natur und ihre rücksichtslose Ausbeutung das Geschehen. In jüngerer Zeit beginnt man auch in Amazonien wieder verstärkt nach Alternativen zum kompromisslosen Modernisierungskurs zu suchen und dabei auch die Erfahrungen der Völker des Waldes ernst zu nehmen. Dies ist Teil der Suche nach Pfaden einer nachhaltigen Entwicklung, die spätestens seit der Weltumweltkonferenz von Rio de Janeiro 1992 zunehmend den Diskurs um Regionalentwicklung im größten Regenwaldgebiet der Erde mitbestimmt. Amazonien hat nachgerade eine emblematische Bedeutung bei der globalen Suche nach nachhaltigen Entwicklungsalternativen erhalten. All dies sind Facetten einer spannenden und spannungsgeladenen Geschichte, die Amazonien im Kontext des Globalen Wandels zu erzählen hat. Dabei ist seit jeher das global-lokale Wechselspiel höchst ambivalent

30

Martin Coy

je nachdem, von welcher Seite aus man es betrachtet. Aus der Sicht Brasiliens und Amazoniens ist seit Generationen das Thema der ‘Internationalisierung’ Amazoniens virulent. Lange Zeit von der zentralstaatlichen Obhut aufgrund der enormen Entfernungen ‘abgekoppelt’, schien Vielen der internationale Einfluss in Amazonien zu groß und zu unkontrollierbar. Die jüngere Geschichte liefert hierzu vermeintlich zahlreiche Belege: der Schmuggel von Setzlingen des Kautschukbaums aus Amazonien heraus, Henry Fords amazonisches Abenteuer mit der Anlage von Kautschukplantagen am Rio Tapajós, die Pläne des US-amerikanischen Futurologen Hermann Kahn zur Umgestaltung Amazoniens in einen riesigen Energieproduzenten für die Welt, die gigantischen Projekte des Milliardärs Daniel Keith Ludwig am Rio Jari und heute die Suche nach neuen Stoffen für die Kosmetikbranche, nach wertvollen Substanzen für die Pharmaindustrie, nach gentechnologisch Verwertbarem für die Agrokonzerne, der nur allzu oft der Geruch der ‘Biopiraterie’ anhaftet. Auch die weltweit geführten Kampagnen und das lokale Engagement der großen globalen Umweltund Menschenrechtsorganisationen für die ökologische Erhaltung Amazoniens und den Schutz seiner traditionellen Bewohner werden von vielen Brasilianern als neue Form des Imperialismus, eines Öko-Imperialismus eben, angesehen oder zumindest so in ihren ganz häufig immer noch nationalistisch ausgerichteten Diskursen über Amazonien instrumentalisiert. Über lange Zeit reagierten der Zentralstaat und insbesondere die Militärs mit einer Überwachungs-Paranoia, die sich in Truppenstationierungen und hochmodernen satellitengestützten Überwachungssystemen niederschlugen. Und wie ist vor diesem Hintergrund die Stellung Amazoniens in den internationalen Debatten zu anthropogenem Klimawandel, zu globalem Klimaregime, zu Klimaschutz und Klimaanpassung sowie entsprechenden Governance-Strukturen zu sehen? Von einem möglichen ‘Umkippen’ der Ökosysteme Amazoniens im Zusammenhang des Klimawandels ist die Rede: Amazonien als einer der global bedeutsamen ‘Tipping Points’. Spätestens seit der Klimakonferenz von Bali im Jahr 2007 geht es in den Diskussionen zum globalen Klimaregime in allererster Linie um die bessere Einbeziehung der großen Schwellenländer (sic Brasilien), um die Funktion der Wälder und des Waldschutzes im Klimawandel (sic Amazonien). Kürzel wie REDD und REDD+ haben Eingang in die Alltagssprache von Unternehmern, Planern und Politikern bis hinunter auf die lokale Ebene gefunden. Wenn man allerdings genauer hinschaut, dann erscheint

Die Großregionen Brasiliens

31

das Narrativ von Amazonien in Zeiten des globalen Klimawandels nur auf den ersten Blick neu. Auf den zweiten entdeckt man eine Vielzahl von Elementen des alten Diskurses von der ‘Internationalisierung’ Amazoniens. Die Geschichte von Amazonien im Globalen Wandel ist vor allem mit den aktuellen Widersprüchen hinsichtlich der Funktionen verbunden, die die unterschiedlichen Akteure - Politiker, Planer, Rinderzüchter, Energieund Bergbauunternehmen, Kleinbauern, Indigene, Umweltaktivisten, um nur einige zu nennen – der Region zuweisen. Ist Amazonien vor allem wie eh und je die Ressourcenfrontier, die mit Rohstoffen, Energie und vor allem mit ihren unermesslichen Landreserven zur nationalen Wertschöpfung beitragen soll? Dann muss die Priorität folgerichtig auf dem weiteren Ausbau der Infrastrukturen liegen, damit die Region besser als bisher in die globalen Wertschöpfungsketten einbezogen werden kann. Dass dieser modernisierungsorientierte Diskurs noch lange nicht aus den Regionalpolitiken und den regionalen Entwicklungsstrategien für Amazonien verschwunden ist, zeigen die Prioritäten des Plans zur Wachstumsbeschleunigung (PAC): Ausbau der Straßen, neue Wasserkraftwerke, Implementierung von Wasserstraßen usw. Die Inkorporation Amazoniens steht also nach wie vor auf der Tagesordnung, und zwar sowohl in die nationalen Logiken von Wachstum und Fortschritt als auch und in zunehmendem Maße in die Logiken globalisierter Wirtschaftskreisläufe. Die Frage “Wem gehört Amazonien?” ist also schon zu stellen. Wie sieht es angesichts des anhaltenden Ressourcenhungers, mit dem Amazonien konfrontiert ist, mit den Rechten der ‘Völker des Waldes’ aus? Welche Realisierungschancen haben die Überlebensinteressen der Kleinbauern, der Landlosen, der Verdrängten? Wo stehen Waldschutz und die Bemühungen um eine angepasste, sozial und ökologisch verträgliche Nutzung, um nachhaltige Entwicklung also? Einfache Antworten gibt es auf diese Fragen nicht, denn sehr viel hat sich in Amazonien seit dem Ende des 20. Jahrhunderts verändert. Interessen werden zunehmend und wahrnehmbar artikuliert, zahlreiche lokale Initiativen zeigen alternative Entwicklungsperspektiven auf, Netzwerke der Kooperation ziehen sich über die Region. Amazonien ist heute mehr denn je eine Region der Widersprüche. Globalisierungsdruck und Inkorporation auf der einen, vielfältige Antworten im Sinne von lokaler Selbstbestimmung, von Anpassung und nachhaltiger Entwicklung auf der anderen Seite. Amazonien ist nach wie vor eine Region der Konflikte: der handfesten Konflikte um Verfügungsrechte über Land und andere Res-

32

Martin Coy

sourcen, aber auch der Konflikte zwischen den handlungsleitenden Wahrnehmungen hinsichtlich der regionalen Potenziale und Begrenzungen – neues Eldorado oder ‘Grüne Hölle’, Region unbegrenzter Möglichkeiten oder zu schützendes Gebiet. Die Bandbreite der Ansprüche an Amazo­ nien zwischen globalen Interessen und lokalen Bedürfnissen ist groß. Der Mittelwesten: Vom Hinterland zur ‘globalisierten Region’

Wenn es in den letzten Jahrzehnten in Brasilien eine Region gab, die durch Einflüsse der Globalisierung ihr Profil verändert hat, dann ist es der Mittelwesten. Bis in die 1960er Jahre hinein traf auf die meisten Teilregionen des Mittelwestens, zu dem offiziell die Bundesstaaten Goiás, Mato Grosso, Mato Grosso do Sul und der Bundesdistrikt von Brasília gezählt werden (naturräumlich und strukturell gäbe es auch gute Gründe den, zumindest in der statistischen Lesart zur Nordregion zählenden Bundesstaat Tocantins ebenfalls zum Mittelwesten zu rechnen), der Begriff des interior, des Hinterlandes, in besonderer Weise zu. In den unermesslichen Weiten der Campos cerrados, der Baumsavannen, die das charakteristische Ökosystem des zentralbrasilianischen Berglandes bilden, herrschte über Generationen eine extensive Form der großbetrieblichen Rinderweidewirtschaft vor, darin quasi eingelagert Gebiete eines subsistenzorientierten Kleinbauerntums beziehungsweise Orte, die teilweise schon seit dem 18. Jahrhundert vom manuellen kleinbetrieblichen Abbau (garimpo) von Diamanten, sonstigen Edelsteinen oder Gold lebten. In vielen Gebieten des Mittelwestens war auch die indigene Präsenz lange Zeit sehr deutlich spürbar. Viele zentralbrasilianische Regionen waren im 17. und 18. Jahrhundert von den auf der Jagd nach Sklaven und Edelmetallen aus São Paulo in das weitgehend unbekannte interior vordringenden bandeirantes erkundet und unterworfen worden. Diese Eroberungszüge der bandeirantes, kleinen Gruppen von Abenteurern und Desperados, gehören inzwischen zu den nationalen Mythen Brasiliens. Viele Orte im Mittelwesten lebten über Generationen hinweg aufgrund der enormen Entfernungen und aufgrund der fehlenden Verkehrsanbindungen in fast vollständiger Isolation und entwickelten ihren eigenen provinziellen Lebensrhythmus. So wird aus Cuiabá, der 1721 gegründeten Hauptstadt des heutigen Bundesstaates Mato Grosso, einem ehemaligen Goldgräbernest, das zum peripheren Verwaltungssitz mit seinen im be-

Die Großregionen Brasiliens

33

schaulichen Provinzleben aufgehenden Eliten herangewachsen war, berichtet, dass man 1889 noch Monate nach der Proklamation der Republik den Geburtstag des brasilianischen Kaisers mit dem gebührenden Zeremoniell beging, ganz einfach, weil die Nachricht von der Ausrufung der Republik noch nicht in das Herz Südamerikas vorgedrungen war. Zu weit und aufwendig war der Monate andauernde Weg von Rio de Janeiro über Buenos Aires, den Rio de la Plata und den Rio Paraguai flussaufwärts. Diese Anekdote lässt erahnen, dass man sich das frühe Brasilien in seinen enormen Ausdehnungen über lange Zeit eher als eine Art Archipel nur mehr oder weniger zusammenhängender Räume vorstellen muss. Von einem tatsächlichen Nationalstaat konnte keine Rede sein. Im 20. Jahrhundert änderte sich dies. Vor allem änderte sich die Wahrnehmung des Mittelwestens. Auch wenn politisch, wirtschaftlich und kulturell die Musik nach wie vor in den küstennahen Zonen des Südostens oder Nordostens spielte, so galt der Mittelwesten zunehmend als Region des eigentlichen, des genuinen Brasilien. Brasilidade, wenn man so will brasilianische Identität, wurde zunehmend im rustikalen, ländlichen, puristischen Mittelwesten gesehen. Dem interior wurde mehr Aufmerksamkeit zuteil. Und dies hatte handfeste politische Konsequenzen und Auswirkungen für die Regionalentwicklung. Vor allem unter Getúlio Vargas, in den 1930er und 1940er Jahren, gewann das Hinterland in politischen Diskursen und planerischen Maßnahmen an Bedeutung. In der Entwicklung und Integration des Hinterlandes sah der Diktator einen wesentlichen Bestandteil seiner politischen Mission der Erneuerung, des Estado Novo. Es wurde eigens eine staatliche Entwicklungsagentur gegründet, die Fundação Brasil Central, deren Aufgabe es war, Infrastrukturen auszubauen, Entwicklungsimpulse zu setzen. Noch heute lässt sich dies in vielen Städten des Mittelwestens nachvollziehen, in den damals entstandenen Institutionen, in der zeitbedingten Architektur und in vielen anderen Bereichen. Der Mittelwesten ist eine Region der Städtegründungen im Geist der Moderne. Belo Horizonte, die Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais, machte zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Anfang. Goiânia, die heutige Hauptstadt des Bundesstaates Goiás, folgte als Neugründung in den 1940er Jahren. Emblematische Bedeutung gewann Brasília, das unter der Präsidentschaft von Juscelino Kubitschek gegründet und gebaut wurde. Etwas mehr als 50 Jahre ist es her, dass auf dem Planalto Central, einem alten Verfassungsauftrag folgend, die neue Hauptstadt Brasília entstand. Das Gemeinschaftswerk des Stadtplaners Lúcio Costa und des Architek-

34

Martin Coy

ten Oscar Niemeyer wurde nicht nur zum weltweit bedeutsamen Symbol des Städtebaus der Moderne, seine Realisierung zeugt auch von der logistischen Fähigkeit des Landes, Großprojekte von epochalen Ausmaßen zu realisieren. Von Anfang an war das Megaprojekt umstritten. Viel Widerstand regte sich in den Zentren der Macht, denn wer wollte schon das angenehme Leben in der cidade maravilhosa, in Rio de Janeiro, mit dem rauen, menschenleeren und eintönigen Planalto Central tauschen? Auch wurde lange Zeit angezweifelt, ob von der neuen Hauptstadt die erhofften regionalen Entwicklungsimpulse ausgehen würden. Doch trotz aller berechtigten Kritik an der sozialräumlichen Segregation, die den Bundesdistrikt von Brasília heute kennzeichnet, ist inzwischen unbestritten, dass die Realisierung von Brasília den Auftakt für einen tief greifenden und dynamischen Regionalentwicklungsprozess darstellte. Am Beginn stand in den 1960er Jahren der Start zu einem epochalen Straßenbauprogramm. Brasília diente als Ausgangspunkt zur Erschließung der Peripherien. Fernstraßen – zumeist von den Militärs gebaut – fraßen sich durch die Wälder und Savannen und beendeten für die meisten Teilregionen die lange Zeit der Isolation und Stagnation. Mit den Straßen kamen auch die Menschen. Landsuchende, Kolonisten, Großgrundbesitzer, Inves­toren, aber auch viele Glücksritter und Abenteurer. Die wichtigsten Straßenprojekte, die den Mittelwesten durchmaßen, waren die Bundesstraßen Brasília–Belém, Brasília–Cuiabá–Porto Velho, Cuiabá–Santarém und die Straße Barra do Garças–Marabá – alles Süd-Nord-gerichtete Achsen, die die Inkorporation der peripheren Regionen in den Zentralraum Brasiliens gewährleisteten. Auch dies kann als geostrategisches Projekt der brasilianischen Militärs angesehen werden. Die infrastrukturelle Erschließung war Voraussetzung für die ‘Inwertsetzung’ der weitläufigen Hochflächen des zentralbrasilianischen Massivs. Ihr Potenzial bestand vor allem in Landreserven für eine großbetriebliche Landwirtschaft, sei es die extensive Rinderhaltung, die sich vor allem in den Übergangsbereichen zu den nördlich anschließenden tropischen Regenwäldern ausbreitete, oder sei es der modernisierte, sprich der mechanisierte, kapitalintensive und nur wenig Arbeitskraft absorbierende Ackerbau. Dieser ist heute die Grundlage der wirtschaftlichen ‘Erfolgsgeschichte’ des Mittelwestens. Die ‘konservative Modernisierung’ des Agrarsektors, die wir als die brasilianische Version der Grünen Revolution bezeichnen können, hat im Mittelwesten ihr Idealgebiet gefunden. Und mit der Sojabohne stand – nach entsprechenden Züchtungs- und Adap­

Die Großregionen Brasiliens

35

tionserfolgen – ab den 1980er Jahren für weite Bereiche des Mittelwestens, insbesondere für den flächengrößten Bundesstaat Mato Grosso, das Produkt zur Verfügung, das den über Jahrhunderte hinweg isolierten interior auf einen Schlag in den Prototyp eines ‘globalisierten Ortes’ nach der Diktion von Fred Scholz umwandelte. Soja-, inzwischen auch Mais- und Baumwollfelder prägen heute in vielen Gebieten des Mittelwestens das monotone (Kultur?)Landschaftsbild soweit das Auge reicht. Respektable Städte, die vor 40 Jahren als Pioniersiedlungen in Kolonisationsprojekten überhaupt erst gegründet wurden, reihen sich perlschnurartig entlang der Fernstraßen auf. Von weitem sind sie bereits an ihren riesigen Sojalagern und Trocknungsanlagen zu erkennen, die als neue ‘Landmarken’ den wirtschaftlichen Boom in der Kulturlandschaft materialisieren. Einige dieser neuen Städte (Sorriso, Lucas do Rio Verde, Nova Mutum) gehören inzwischen zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Munizipien Brasiliens. Aber dies ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite ist zu fragen, wer denn vom wirtschaftlichen Erfolg eigentlich profitiert. Das ist am ehesten wohl ein immer stärker konzentriertes Agrobusiness, inzwischen in den Händen von einigen wenigen – nationalen und vor allem multinationalen – Konzernen (zu nennen sind insbesondere die ‘großen vier’: ADM, Bunge, Cargill, Louis Dreyfuss), das ist eine erfolgreiche Gruppe von Farmern, die großenteils vor wenigen Jahrzehnten erst aus Südbrasilien kommend in den Mittelwesten zugewandert sind und mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg Regionalkultur und lokale Eliten vollkommen auf den Kopf stellten. Der regionale Wirtschaftsboom war sozial immer höchst exklusiv, eine Breitenwirkung im Sinne von Beschäftigungseffekten ist vergleichsweise bescheiden. Zudem ist der regionale Wirtschaftserfolg höchst fragil. Er wird von der Preisnotierung der global vermarkteten commodities an den Börsen in Chicago und anderswo auf der Welt bestimmt, er hängt von der Preisentwicklung der Vorleistungsgüter (Landmaschinen, Saatgut, Düngemittel, Pestizide) ebenso ab wie von der Entwicklung der Transportkosten. Denn trotz aller Beschleunigung ist der Distanzfaktor nach wie vor der entscheidende Standortnachteil des Mittelwestens. Auch die ökologischen Kosten sind enorm. Die Baumsavanne der Campos cerrados – nach den amazonischen Regenwäldern das flächenmäßig zweitgrößte Biom Brasiliens – gehört wahrscheinlich zu den am stärksten unterschätzten Ökosystemen des Landes. Sowohl national als auch international stand die schleichende, aber vielerorts viel radikalere Vernichtung des Cerrado sozusagen ‘im Schatten’ der Zerstörung

36

Martin Coy

der amazonischen Regenwälder. Und dies, obwohl die Biodiversität des Cerrado eine enorme Vielfalt aufweist und seine Ökosystemdienstleis­ tungen von großer Bedeutung sind. Von den meisten Umweltaktivisten viel zu wenig beachtet, ist in den letzten drei Jahrzehnten im Interesse der Zurichtung einer ganzen Region auf die globalisierten Märkte der Cerrado gründlich beseitigt und durch etwas ersetzt worden, dass sehr viel mehr einer vom Menschen gemachten ‘Produktionsmaschine’ als einer Kulturlandschaft entspricht. Der Süden: Das ‘andere’ Brasilien

Flächenmäßig die kleinste Region, aber doch fast doppelt so groß wie Deutschland, beherbergt der Süden mit ca. 28 Millionen Menschen gut 14 % der brasilianischen Bevölkerung. Die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren weisen dem Süden seinen Platz unter den ‘Erfolgreichen’ Brasiliens zu: Mit knapp 17 % der zweitgrößte Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt, nach dem Südosten und dem Mittelwesten das dritthöchs­ te Pro-Kopf-Einkommen, noch vor dem Südosten die beste Platzierung hinsichtlich des Indexes der menschlichen Entwicklung (HDI), geringste Säuglingssterblichkeit, mit dem Südosten zusammen geringste Analphabetenquote und geringster Anteil der Armutsbevölkerung (Einkommen unter einem salário mínimo) – all dies gibt dem Süden eine Sonderstellung. Ein ‘anderes’ Brasilien also. Was aber sind die Gemeinsamkeiten der drei Bundesstaaten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul? Oder ist es ihre Vielfalt, die als vorrangiges Charakteristikum gelten kann? Naturräumlich liegen mit Ausnahme des noch zu den Randtropen zählenden Nordens des Bundesstaates Paraná alle Teilregionen des Südens im subtropisch-gemäßigten Klimabereich. Dies führt zu stärkeren jahreszeitlichen Temperaturunterschieden, die sich auf das Nutzungspotenzial der Region auswirken. So erreicht beispielsweise der Kaffeeanbau in Paraná seine klimatisch bedingten Anbaugrenzen. Von den südlichen Ausläufern der Serra do Mar und der Mata Atlântica werden weite Bereiche des küstennahen Südens geprägt. Die Wälder dominierte einstmals die Araukarie als Charakterbaum, heute vielerorts stark zurückgedrängt. In den nördlichen Bereichen wird das Hinterland der Südregion geologisch durch weit ausgedehnte basaltische Intrusionen geprägt, was deshalb von Bedeutung ist, weil sich auf ihnen fruchtbare Böden ausbilden konnten.

Die Großregionen Brasiliens

37

Jenseits der Gebirgszüge der Serra Gaúcha geht gen Süden die Campanha Gaúcha in die Grasländer der Pampa Uruguays und Argentiniens über. Kulturlandschaftlich wird der Süden, der einstmals eine starke Präsenz indigener Bevölkerung hatte, vom überragenden Einfluss der europäischen Einwanderung vor allem des 19. Jahrhunderts geprägt. Durchaus im Sinne einer staatlich geförderten ‘Peuplierungspolitik’ zu verstehen, kamen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Migranten aus Italien, aus dem heutigen Deutschland (in hohem Maße aus den damaligen ländlichen Armutsgebieten, zum Beispiel aus dem Hunsrück oder aus Pommern) oder auch aus den Gebieten der ehemaligen Donaumonarchie (zum Beispiel aus Teilen der Ukraine und Polens, zum Teil auch aus dem österreichischen Kerngebiet) in die kaum erschlossenen ländlichen Regionen des Gebirges und der Gebirgsränder. Hier bildeten sich Pionierfronten heraus, Land wurde gerodet, es entstand eine klein- und mittelbäuerliche Landwirtschaft, die der Subsistenzsicherung, aber auch der Nahrungsmittelversorgung diente. Die jeweiligen Einwanderergruppen brachten aus ihren Herkunftsgebieten Techniken und Präferenzen mit, die sich zum Teil bis heute nachvollziehen lassen. Allerdings forderte das Leben in der ‘Neuen Welt’ von allen Migranten auch erhebliche Anpassungsleistungen. Neben den ländlichen Zielgebieten und der Landwirtschaft prägte die europäische Zuwanderung auch die Struktur vieler (Klein- und Mittel)Städte und dort vor allem die Entwicklung von Industrie und Gewerbe. Damit sind auch schon die – oftmals klischeehaften – Vorstellungen des Südens als dem europäischsten Teil Brasiliens – von vielen auch als Grund für den regionalen ‘Erfolg’ ins Feld geführt – erfüllt. Was sind nun vor diesem Hintergrund der ‘Andersartigkeit’ die Entwicklungspfade des Südens im 20. und 21. Jahrhundert? Die ländlichen Räume Südbrasiliens waren in den 1960er und 1970er Jahren Ausgangspunkte des agrarstrukturellen Wandels im Zeichen der Modernisierung. Die ‘Grüne Revolution’ auf brasilianische Art, die sich auf eine Kombination von Agrarforschung, Diffusion von Innovationen im Landbau (neue Anbaukulturen, neue Bewirtschaftungstechniken, verstärkte Marktorientierung), Agrarberatung und Agrarkreditwesen, allerdings nicht auf eine Veränderung der agrarsozialen Verhältnisse gründete, nahm hier ihren Ausgang. Die zahlreichen Kooperativen spielten dabei eine wichtige Rolle. Insbesondere die rasche Expansion des Sojaanbaus, hochmechanisiert und auf den Export orientiert, brachte es mit sich, dass immer mehr Kleinbauern aufgaben, ihr Land verkauften und in die Städte

38

Martin Coy

beziehungsweise in die Neusiedelgebiete des Mittelwestens oder Amazoniens abwanderten. Der ländliche Raum erlebte einen raschen und tief greifenden Strukturwandel, der in erheblichem Ausmaß durch Besitzkonzentration und Bevölkerungsverlust gekennzeichnet war. Demgegenüber gibt es heute in den ländlichen Räumen Südbrasiliens immer mehr Anzeichen für neue Produktionsformen (z. B. Ansätze von ökologischer Landwirtschaft, Versuche der Förderung von Regionalprodukten etc.), für eine breiter werdende Palette von Erwerbsalternativen (z. B. ländlicher Tourismus) beziehungsweise für veränderte Lebensstile. Der Süden ist unter den Großregionen Brasiliens wohl am ehesten der Raum, in dem sich neue Formen des ‘Ländlichen’ beobachten lassen. Besondere Impulse gingen in den letzten Jahrzehnten von den großen städtischen Agglomerationen Südbrasiliens aus. Hier sind insbesondere Curitiba, die Hauptstadt des Bundesstaates Paraná, und Porto Alegre, die Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul, zu nennen. Beide Städte sind durch ihre innovative Stadtpolitik bekannt und von zahlreichen anderen Städten im In- und Ausland zum Vorbild genommen geworden. Curitiba hat sich durch eine zukunftsorientierte Stadtentwicklungsplanung, durch innovative Politiken im Bereich des Öffentlichen Personennahverkehrs, durch neue Organisationsformen der Abfallentsorgung und –verwertung sowie durch viel beachtete Projekte der Stadterneuerung den Ruf erworben, Stadthygiene sowie städtische Umwelt- und Lebensqualität im Interesse der Bürger in Einklang zu bringen. Es gilt auf Basis einer breiten Zustimmung der lokalen Bevölkerung gemeinhin als Stadt mit der höchs­ten Lebensqualität in Brasilien, auch wenn sich bei genauerer Betrachtung inzwischen so etwas wie ein ‘Curitiba-Mythos’ beobachten lässt. Hintergrund dieser ‘Erfolgsgeschichte’ ist eine über Jahre hinweg effiziente Stadtpolitik und –verwaltung, geführt von Persönlichkeiten mit Weitblick sowie planerischer und administrativer Kompetenz. Ein anderes, aber nicht minder innovatives Stadtpolitikmodell nahm von Porto Alegre aus seinen Weg – inzwischen weit über Brasilien hinausgehend, sogar im Sinne eines kommunalpolitischen ‘Süd-Nord-Transfers’. Es geht um das so genannte orçamento participativo, das Modell eines Bürgerbeteiligungshaushalts, bei dem alljährlich auf dem Prinzip direkter Demokratie basierend über den Investitionshaushalt der Kommune in räumlich dezentralisierter und thematisch fokussierter Form entschieden wird: Porto Alegre also als ‘Hauptstadt der Partizipation’ in Brasilien. Entscheidend hierfür war die langjährige kommunalpolitische Kontinuität von lokalen

Die Großregionen Brasiliens

39

PT-Regierungen, die, allen Widerständen zum Trotz, die Umsetzung von partizipativen Politikmodellen zur Priorität erklärten. Nicht zuletzt ist Porto Alegre durch seine einschlägigen Partizipationserfahrungen zum Gründungsort der Weltsozialforen, einer der wichtigsten globalisierungskritischen Bewegungen der letzten Jahre, geworden. Auch darin manifes­ tiert sich ein ‘anderes’ Brasilien, ein Brasilien des bürgerschaftlichen Aufbruchs, der sozialen und politischen Vielfalt, in dem ein Mehr an cidadania zum Symbol für steigendes Selbstbewusstsein und neue soziale Verantwortung zu werden scheint. Ein oder viele Brasilien? Ein kurzes Fazit

Zusammenfassend basiert die Wirtschafts- und Raumentwicklung Brasiliens auf verschiedenen dominanten ‘Antriebskräften’. Die entscheidenden wirtschaftlichen ‘Motoren’ sind ohne Zweifel Industrie und moderner Dienstleistungssektor, räumlich konzentriert vor allem auf die Achse São Paulo – Rio de Janeiro, mit Ausdehnungen nach Belo Horizonte und in das Triângulo Mineiro, beziehungsweise mit kleineren Standortkonzentrationen im Distrito Federal, in Paraná und in Santa Catarina. Modernisierte Landwirtschaft und Agroindustrie spielen eine ähnlich dominante Rolle in zwei Großregionen, die durch den Westen des Bundesstaates São Paulo und den Südwesten von Mato Grosso do Sul einerseits und durch das Expansionsgebiet des Sojaanbaus in Mato Grosso sowie in geringerem Maße im Süden von Maranhão und im Westen von Bahia andererseits gebildet werden. Neben diesen dominanten Antriebskräften sind unter anderem die folgenden Faktoren für zwar oftmals begrenztere, aber trotzdem deutlich sichtbare regionale Dynamiken verantwortlich: der Bergbau, der (weltmarktorientierte) Obstanbau in Bewässerungsoasen, der Tourismus, sei es an den Küsten oder auch im Hinterland. Stellt sich abschließend die Frage, ob sich in den letzten 10 Jahren der Regierungen Lula und Rousseff Grundsätzliches an den sozioökonomischen und räumlichen Strukturmustern Brasiliens verändert hat. Erfolge bei der Armutsbekämpfung, im Sozialbereich, beim wirtschaftlichen Wachstum und in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen sind nicht zu übersehen. Die Bilanz, die die Brasilianerinnen und Brasilianer ziehen, ist überwiegend positiv. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die generellen entwicklungsstrategischen Orientierungen auch im Kreuzfeuer der

40

Martin Coy

Kritik stehen. Zwar ist ‘diskursiv’ ein Bekenntnis zu den sozialen und ökologischen Zielen der Nachhaltigkeit allenthalben zu konstatieren, bei genauerer Betrachtung der entscheidenden Verlautbarungen und vor allem der konkreten Politik wird jedoch die Persistenz einer modernisierungstheoretisch begründeten Gleichsetzung von (Regional)Entwicklung mit ökonomischem Wachstum offensichtlich. So werden die im Programm zur Wachstumsbeschleunigung PAC festgeschriebenen Maßnahmen des Infrastrukturausbaus (Fernstraßen, Energie-Großprojekte etc.) über kurz oder lang zu einer deutlichen Verschärfung der ohnehin schon bestehenden Konfliktlagen, vor allem in sensiblen Gebieten wie Amazonien, beitragen. Auch wenn Brasiliens Entwicklung der letzten Jahre durchaus als Erfolgsstory gelesen werden kann, so bleiben doch zahlreiche Probleme auch angesichts des Globalen Wandels nach wie vor ungelöst. Sie ergeben sich nicht zuletzt aus den strukturellen Disparitäten des Landes, rufen unterschiedliche regionale Dynamiken hervor und perpetuieren diese gleichzeitig. Damit steckt in der regionalen Vielfalt Brasiliens Zukunftspotenzial und Zukunftshypothek gleichermaßen.

Literaturverzeichnis Almanaque Abril 2013. São Paulo. Anhuf, Dieter (2010): “Kein Waldschutz ohne Klimaschutz. Die Rolle der Regenwälder Amazoniens im Kampf gegen den Klimawandel”. Geographische Rundschau 62, 9, 28–33. Coy, Martin (2010): “Stadtentwicklung und Stadtpolitik. Sozioökonomische Fragmentierung und Beispiele zukunftsorientierter Planung”. In: Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. 2. vollständig neu bearbeite Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert, 51–73. — (2013): “Environmental Justice? Sozialökologische Konfliktkonstellationen in Amazonien”. In: Burchardt, Hans-Jürgen/Dietz, Kristina/Öhlschläger, Rainer (Hg.): Umwelt und Entwicklung im 21. Jahrhundert. Impulse und Analysen aus Lateinamerika. Baden-Baden: Nomos, 121–133. — (2013b): “Umweltprobleme und Umweltpolitik in Brasilien”. Der Bürger im Staat 1-2/2013: 48–56. Coy, Martin/Klingler, Michael (2011): “Pionierfronten im brasilianischen Amazonien zwischen alten Problemen und neuen Dynamiken. Das Beispiel des ‘Entwicklungskorridors’ Cuiabá (Mato Grosso) – Santarém (Pará)”. In: Innsbrucker Jahresbericht 20082010, 109–129.

Die Großregionen Brasiliens

41

Coy, Martin/Schmitt, Tobias (2007): “Brasilien – Schwellenland der Gegensätze”. Geographische Rundschau 59, 9, 30–39. Coy, Martin/Théry, Hervé (2010): “Brasilien. Sozial- und wirtschaftsräumliche Disparitäten – regionale Dynamiken”. Geographische Rundschau 62, 9, 4–11. ISA [Instituto Socioambiental] (2007): Almanaque Brasil Socioambiental. São Paulo: ISA. Kohlhepp, Gerd (2010a): “Regionale Disparitäten und Regionalplanung”. In: Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. 2. vollständig neu bearbeite Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert, 91–109. — (2010b): “Bevölkerungsentwicklung und -struktur”. In: Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.): Brasilien heute. Geographi­ scher Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. 2. vollständig neu bearbeite Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert, 33 –50. Kohlhepp, Gerd/Coy, Martin (2010): “Amazonien. Vernichtung durch Regionalentwick­ lung oder Schutz zur nachhaltigen Nutzung?”. In: Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/ Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. 2. vollständig neu bearbeite Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert, 111–134. Neuburger, Martina (2010): “Entwicklungsprobleme des ländlichen Raumes”. In: Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. 2. vollständig neu bearbeite Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert, 75–89. Schmitt, Tobias (2010): “ ‘O Sertão vai virar mar’. Wasser als Schlüssel der Inwertsetzungs­ strategien im Nordosten Brasiliens”. Geographische Rundschau 62, 9, 12–19. Théry, Hervé/de Mello, Neli Aparecida (2005): Atlas do Brasil. Disparidades e Dinâmicas do Território. São Paulo: Edusp.

Das politische System. Strukturen und Akteure Peter Birle

Einleitung

Während des in Brasilien ausgetragenen Fußball-Konföderationen-Pokals im Juni 2013 konnten Fernsehzuschauer in der ganzen Welt miterleben, wie Millionen von Brasilianerinnen und Brasilianer ihrem Unmut über so­ ziale und politische Missstände Ausdruck verliehen. Für viele internationale Beo­bachter, die sich in den vergangenen Jahren vom Aufstieg Brasiliens zu einem wichtigen wirtschaftlichen und politischen Akteur auf regionaler und globaler Ebene, von der makroökonomischen Stabilität und dem beachtlichen Wirtschaftswachstum des Landes, einer fortschrittlichen So­zialgesetzgebung, einer erfolgreichen Armutsbekämpfung und einer aktiven Außenpolitik beeindruckt gezeigt hatten, kamen die Massendemonstrationen überraschend. Die Proteste führten der Welt vor Augen, dass Brasilien trotz zahlreicher positiver Entwicklungen in jüngerer Zeit nach wie vor ein Land ist, das sich durch extreme sozioökonomische Disparitäten sowie demokratische Defizite auszeichnet und mit großen Problemen kämpft. Präsidentin Dilma Rousseff, die einer Koalitionsregierung unter Führung der linken PT (Partido dos Trabalhadores; Partei der Arbeiter) vorsteht und deren Zustimmungswerte im Zuge der Demonstrationen dramatisch einbrachen, ging rasch in die Offensive. Sie äußerte sich positiv über die Demonstranten und versprach, die Proteste zum Anlass zu nehmen, um seit langem diskutierte politische Reformen nun noch entschiedener voranzutreiben. Die Unzufriedenheit vieler Brasilianerinnen und Brasilianer mit ihren Politikern hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich in Brasilien eine erhebliche Kluft zwischen den in der Verfassung festgeschriebenen Rechten, Garantien und Zielen einerseits und der Verfassungswirklichkeit andererseits auftut. Die damit zusammenhängenden Widersprüche aufzuzeigen, ist das Anliegen des vorliegenden Aufsatzes. Er beschreibt zunächst die wichtigsten Merkmale und Funktionszusammenhänge des brasilianischen Regierungssystems. Im Zentrum stehen dabei die Besonderheiten der föderativen Ordnung, das Wahlsystem sowie

44

Peter Birle

das Verhältnis zwischen Präsident und Kongress. Nach einem Blick auf das Parteiensystem und die Interessengruppen geht es abschließend um die Performanz des politischen Systems, vor allem um die Frage, ob die von verschiedenen Kritikern betonten Probleme der Regierungsführung in Brasilien ursächlich mit Bestimmungen der Verfassung zusammenhängen. Vor diesem Hintergrund werden auch die seit längerem diskutierten politischen Reformen vorgestellt und die Perspektiven der brasilianischen Demokratie analysiert. Die Grundzüge des Verfassungssystems

Die Grundzüge des politischen Systems der Föderativen Republik Brasilien sind in der Verfassung von 1988 festgelegt.1 Die nach dem Ende der autoritären Herrschaft in den Jahren 1987–1988 im Rahmen einer Verfassunggebenden Versammlung geführten Diskussionen sowie das Inkrafttreten der Verfassung im Oktober 1988 markierten wichtige Etappen beim Übergang von einer Militärdiktatur (1964 –1985) zu einem demokratischen politischen System. Mit dem Amtsantritt des auf der Grundlage der neuen Verfassung direkt gewählten Präsidenten Fernando Collor de Mello endete im März 1990 der Übergang zur Demokratie. Zwar verfügte das Land bereits seit 1985 wieder über einen zivilen Präsidenten, aber trotz einer der massivsten zivilgesellschaftlichen Mobilisierungskampagnen in der brasilianischen Geschichte hatten die Streitkräfte noch 1984 eine Direktwahl des Präsidenten abgelehnt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten zeichnete sich Brasilien durch eine relativ stabile politische Entwicklung aus. Die Demokratie gilt trotz der jüngsten Proteste als konsolidiert. Während der jeweils zwei Amtszeiten der Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995–2002) und Luiz Inácio Lula da Silva (2003 –2010) sowie unter der gegenwärtigen Präsidentin Dilma Rousseff (seit 2011) erlebte das Land eine Phase der Prosperität. Mit mehr als 70 Reformen (Stand Juni 2013) ist die Verfassung von 1988 die am häufigsten geänderte in der brasilianischen Geschichte, wahrscheinlich auch deshalb, weil die Hürden für Verfassungsänderungen vergleichsweise gering sind. Notwendig dafür ist eine 3/5-Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses (Art. 60). Auch wenn die Grundzüge des Regie1 Siehe Constituição … Die Verweise auf Verfassungsbestimmungen erfolgen im Rahmen dieses Aufsatzes unter Nennung des jeweiligen Artikels nach dem Muster (Art. XX).

Das politische System. Strukturen und Akteure

45

rungssystems bei den Reformen unangetastet blieben, so haben diese doch dazu geführt, dass beispielsweise die von den Verfassungsgebern bei der Rückkehr zur Demokratie beabsichtigte Stärkung der dezentralen Einheiten des Systems teilweise revidiert wurde (s. u.). Die Föderative Republik Brasilien ist laut Art. 1 der Verfassung ein demokratischer Rechtsstaat, der aus einer unauflöslichen Union der Bundesstaaten, Gemeinden und des Bundesdistrikts Brasília besteht. Zu den in Art. 1 genannten Grundlagen des Gemeinwesens gehören die Souveränität, die Staatsbürgerschaft, die Würde der menschlichen Person, die sozialen Werte Arbeit und freie Initiative sowie der politische Pluralismus. Die Verfassung garantiert eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative (Art. 2). Als grundlegende Ziele der Republik werden die Errichtung einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, die Sicherung der nationalen Entwicklung, die Bekämpfung von Armut und Marginalisierung, die Beseitigung der sozialen und regionalen Ungleichheiten sowie die Förderung des Wohlstandes aller Menschen ohne Ansehen von Herkunft, Rasse, Geschlecht, Hautfarbe, Alter oder anderer Formen der Diskriminierung genannt (Art. 3). Auf die Formulierung von Grundsätzen der Außenpolitik (Art. 4) folgt in Art. 5 die Nennung von nicht weniger als 77 durch die Verfassung garantierten individuellen und kollektiven Rechten und Pflichten. Art. 6 benennt die sozialen Rechte auf Bildung, Gesundheit, Nahrung, Arbeit, Wohnung, Freiheit, Sicherheit, soziale Fürsorge, Schutz von Mutterschaft und Kindheit sowie Obdachlosenhilfe. In den Art. 7–11 erfolgt die Garantie von Arbeiter-, Berufsverbände-, Gewerkschafts-, Streik- und Mitbestimmungsrechten. Während die Verfassung also in puncto Rechtsgarantien kaum Wünsche offen lässt, ist die Verfassungswirklichkeit des Landes von einer Realisierung der garantierten Rechte nach wie vor in vielerlei Hinsicht weit entfernt (siehe dazu auch den Beitrag von Speck in diesem Band). Die politisch-administrative Ordnung Brasiliens umfasst die Union, die Bundesstaaten, den Bundesdistrikt Brasília sowie die Gemeinden. Alle sind nach Maßgabe der Verfassung autonom (Art. 18). Die gesetzgebende Gewalt auf Bundesebene wird durch den Kongress ausgeübt. Es handelt sich um ein Zweikammerparlament, das aus Abgeordnetenkammer und Senat besteht (Art. 44). Die exekutive Gewalt wird vom Präsidenten der Republik und seinen Staatsministern ausgeübt (Art. 76). Die Judikative folgt in ihrer Organisationen dem nordamerikanischen Modell einer innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit stattfindenden Trennung zwischen Bundes- und Landesgerichtsbarkeit. Das höchste Gericht des

46

Peter Birle

Landes ist das Supremo Tribunal Federal (STF), dem die Funktionen eines Verfassungsgerichtes zukommen, das aber auch als Berufungsinstanz dient. Zu seinen Kompetenzen gehören die Überprüfung von Gesetzen und Richtlinien des Bundes, der Bundesstaaten und der Gemeinden und die Entscheidung bei Konflikten zwischen der Bundesregierung und den Bundesstaaten, zwischen zwei oder mehr Bundesstaaten sowie zwischen Regierungen der Bundesstaaten und ihren Legislativen. Zu den weiteren in Art. 92 genannten und in den darauffolgenden Verfassungsartikeln näher bestimmten nationalen Justizorganen gehören das Oberbundesgericht (Superior Tribunal de Justiça, STJ), das Oberarbeitsgericht (Tribunal Superior do Trabalho, TST), das Oberste Wahlgericht (Tribunal Superior Eleitoral, TSE) sowie das Oberste Militärgericht (Superior Tribunal Militar, SGM). Als Instanz der Selbstkontrolle wurde zudem 1992 der Nationale Justizrat (Conselho Nacional de Justiça) geschaffen. Die föderative Ordnung

Nach der Unabhängigkeit von Portugal im Jahr 1822 blieb Brasilien bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts eine Monarchie. Mit der Ausrufung der Republik wurde dann 1889 auch eine föderative Ordnung eingeführt. Die konkrete Ausgestaltung des Föderalismus und die Kompetenzen der verschiedenen Gebietseinheiten haben sich allerdings im Laufe der Zeit wiederholt verändert. Das heutige Brasilien besteht aus 26 Bundesstaaten und dem Bundesdistrikt Brasília2 (siehe Abbildung 1) sowie 5.570 Gemeinden.3 Die Verfassung von 1988 nennt die Gemeinden als eigenständige Einheiten der Union, womit Brasilien eine dreistufige Föderation ist. Dies ist auch Ausdruck einer langjährigen Tradition von Gemeindeautonomie und einer nur gering ausgeprägten Kontrollmacht der Bundesstaaten über die Angelegenheiten der Gemeinden. Den Schöpfern der Verfassung ging es nach der langjährigen Erfahrung einer autoritären Militärherrschaft mit starker Zentralgewalt nicht zuletzt darum, eine dezentralisierte Föderation 2 Der Bundesdistrikt Brasília darf nicht in Gemeinden unterteilt werden. Wie die Bundesstaaten verfügt er über einen Gouverneur und eine eigene Legislative. Seine legislativen Kompetenzen entsprechen denen der Bundesstaaten und Gemeinden (Art. 32). 3 Siehe

(30.7.2013).

Das politische System. Strukturen und Akteure

47

zu schaffen, in der Macht und Entscheidungsprozesse auf mehrere miteinander im Wettbewerb stehende Zentren verteilt sind (Souza 2005). Alle drei Ebenen der Föderation verfügen über eigene legislative und exekutive Institutionen. Auf Bundesebene besteht ein Zweikammerparlament, auf den beiden anderen Ebenen gibt es Einkammerparlamente. Die Anzahl der Abgeordneten richtet sich nach der Bevölkerungszahl und ist in der Bundesverfassung festgelegt (Art. 27 u. 29). Der Bund und die Bundesstaaten haben zudem jeweils eigene Gerichtsbarkeiten. Auf nationaler Ebene werden die Bundesstaaten durch den Senat repräsentiert. Abbildung 1: Die Bundesstaaten Brasiliens

Quelle: (30.7.2013)

48

Peter Birle

Der brasilianische Föderalismus zeichnet sich dadurch aus, dass viele Gesetzgebungskompetenzen, die auch die Bundesstaaten und die Gemeinden betreffen, auf Bundesebene zentralisiert sind. Gleichzeitig verfügen die subnationalen Gebietskörperschaften zumindest formal über beträchtliche Verwaltungsautonomie und über große Spielräume bei der Implementierung von Gesetzen. Diese Situation beschreibt Marta Arretche folgendermaßen: “Während die brasilianische Föderation strukturell zwar dualistisch aufgebaut ist, funktioniert sie in Wirklichkeit als ein ‘integriertes’ föderales Regime, da nur wenige Maßnahmen und Programme des Bundes ohne Zusammenarbeit mit staatlichen und lokalen Behörden umgesetzt werden” (Arretche 2012: 140). Zu den ausschließlichen Kompetenzen des Bundes gehören die in Art. 21 genannten Bereiche, u. a. die Außen-, Verteidigungs- und Geldpolitik sowie zahlreiche Politikbereiche, für die der Bund Richtlinien erlässt. Entsprechend verfügt der Bund gemäß Art. 22 über die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für das Zivil-, Handels-, Straf-, Wahl-, Landwirtschafts-, See- und Arbeitsrecht sowie für die Bereiche Transport, Post, soziale Sicherheit, für die indigene Bevölkerung betreffende Gesetze und für die Grundlinien der Bildungspolitik. Art. 23 nennt eine Fülle von gemeinsamen Zuständigkeiten des Bundes, der Bundesstaaten und der Gemeinden. Die Gesetzgebungskompetenz in diesen Bereichen – u. a. Steuern, Finanzen, Nutzung und Schutz der natürlichen Ressourcen und der Umwelt – obliegt dem Bund und den Bundesstaaten gemeinsam, wobei der Bund nur für den Erlass der jeweiligen Rahmengesetzgebung zuständig ist (Art. 24). Die tatsächliche Autonomie und die Spielräume der Bundesstaaten und Gemeinden hängen neben den in der Verfassung festgelegten Kompetenzen stark von den konkreten Ressourcen ab, auf welche die einzelnen Gebietskörperschaften zugreifen können. Die tief verwurzelten regionalen Ungleichheiten des Landes (siehe dazu den Beitrag von Coy in diesem Band) wirken sich daher auch auf die jeweiligen politischen Gestaltungsmöglichkeiten aus. Seit Mitte der 1990er Jahre sind die Gemeinderegierungen zu wichtigen Anbietern von Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheitswesen und Grundbildung geworden. Sie agieren dabei auf der Basis von vom Bund festgelegten Regeln und mit Ressourcen, die ebenfalls vom Bund zur Verfügung gestellt werden. Durch diese mit zweckgebundenen Transferleistungen verbundene Dezentralisierung von öffentlichen Dienstleistungen war es möglich, den Zugang der Bürger zu Gesundheitsfürsorge und Bildung basierend auf nationalen Programmen und Mindeststandards deutlich zu verbessern.

Das politische System. Strukturen und Akteure

49

Die föderative Finanzverfassung Brasiliens ist sehr komplex. Die Verfassung räumt allen drei Regierungsebenen Besteuerungskompetenzen ein. Einige Steuern stehen ausschließlich einer Ebene zu, andere werden vom Bund erhoben und mit den Bundesstaaten und Gemeinden geteilt, andere werden von den Bundesstaaten erhoben und mit den Gemeinden geteilt. Insgesamt gibt es mehr als 60 unterschiedliche Bundes-, Landes- und Gemeindesteuern. Die Verfassungsgeber von 1988 wollten die Bundesregierung bewusst finanziell schwächen, um eine erneute Zentralisierung von Ressourcen wie unter der Militärregierung zu verhindern. Themen wie Inflationskontrolle, Staatsdefizit und Haushaltsdisziplin spielten bei den damaligen Diskussionen kaum eine Rolle. Den subnationalen Einheiten wurde daher ein deutlich höherer Anteil an den Steuereinnahmen zugesprochen, während dies im Hinblick auf ihre Pflichten nicht der Fall war. Etwa ein Drittel der Steuern wird von den Bundesstaaten und Gemeinden eingenommen, einschließlich der Transferleistungen des Bundes entfallen auf sie mehr als 40 % der Steuereinnahmen. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden die Finanzierungsspielräume der dezentralen Gebietskörperschaften jedoch schrittweise beschnitten und gleichzeitig wurden ihnen neue Zuständigkeiten übertragen. Insbesondere die Regierung Cardoso tat sich in dieser Hinsicht mit einer Reihe neuer Regeln und Gesetze hervor, durch welche die Verschuldungsmöglichkeiten der subnationalen Einheiten eingeschränkt wurden. Die wichtigste diesbezügliche Reform war das im Jahr 2000 verabschiedete Gesetz zur Fiskalen Verantwortlichkeit, durch das die Verschuldungsmöglichkeiten des gesamten öffentlichen Sektors reduziert, Obergrenzen für die Ausgaben für Gehälter gesetzt und die Übernahme von Schulden der subnationalen Regierungen durch den Bund verboten wurden. Die Reform schwächte vor allem die mächtigen Gouverneure der Bundesstaaten, insofern sie den traditionellen politischen Eliten Pfründe entzog und den klientelistischen Netzwerken damit Grenzen setzte. Die seit Mitte der 1990er Jahre verfolgte Stabilitätspolitik unterwarf alle Ebenen der öffentlichen Verwaltung Transparenz- und Koordinationsverpflichtungen und stärkte die jeweilige Eigenverantwortung für die haushaltspolitische Performanz (Birle 2012a). Entgegen den ursprünglichen Absichten der Verfassungsgeber von 1988 hat sich seit Mitte der 1990er Jahre die Konzentration von Einkünften in den Händen des Bundes wieder verstärkt. Gleichwohl hat gerade der brasilianische Föderalismus gezeigt, dass er durchaus Spielräume für Politikinnovationen auf subnationaler Ebene bietet. Dazu gehören zum einen die zunächst auf lokaler Ebene initiierten und erst später vom

50

Peter Birle

Bund (zunächst von Präsident Cardoso und dann verstärkt von Präsident Lula) aufgegriffenen Strategien der konditionierten Einkommenstransferleistungen zur Armutsbekämpfung (siehe dazu den Beitrag von Claudia Zilla in diesem Band). Zum andern, und dies ist wahrscheinlich die international am häufigsten studierte und auch kopierte Innovation der brasilianischen Politik in den vergangenen Jahrzehnten, zeigt sich dies im sogenannten “partizipativen Haushalt”. Er wurde Ende der 1980er Jahre in Porto Alegre eingeführt, um den Bewohnern der Stadt die Möglichkeit zu geben, Einfluss auf die jährliche Haushaltsplanung zu nehmen. Zahlreiche andere Gemeinden Brasiliens folgten diesem Beispiel und auch international hat diese Art der Haushaltsplanung inzwischen viel Anerkennung und Nachahmer gefunden, nicht zuletzt deshalb, weil damit oft redistributive Effekte zugunsten der ärmeren Bevölkerung verbunden gewesen sind. Das Wahlsystem

In Brasilien herrscht Wahlpflicht für alle Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 70 Jahren. Sie müssen sich bei der für sie zuständigen Wahlbehörde in das Wahlregister eintragen und zur Wahl gehen. Über das Recht zur Wahl, aber nicht über die Verpflichtung dazu, verfügen darüber hinaus all diejenigen, die zwischen 16 und 18 Jahren oder über 70 Jahre alt sind. Auch Analphabeten sind von der Wahlpflicht befreit. Sie haben zudem nur das aktive, nicht das passive Wahlrecht. Ausländer und Wehrpflichtige dürfen nicht an Wahlen teilnehmen (Art. 14). Die Wahl des Präsidenten, der Gouverneure, der Kongressangehörigen und der Mitglieder der bundesstaatlichen Parlamente findet simultan alle vier Jahre (zuletzt 2010) statt. Während die Senatoren über eine achtjährige Mandatszeit verfügen, beträgt diese beim Präsidenten sowie bei Abgeordneten und Gouverneuren jeweils vier Jahre. Alle vier Jahre wird ein Teil der Senatoren neu gewählt, bei einer Wahl ist es ein Drittel (zuletzt 2006), bei der nächsten sind es dann zwei Drittel (zuletzt 2010). Um zwei Jahre versetzt zu den Wahlen auf Bundes- und Bundesstaatenebene finden im ganzen Land Gemeindewahlen statt, bei denen alle Bürgermeister und Stadträte für vier Jahre gewählt werden (zuletzt 2012). Seit 1997 ist eine einmalige direkte Wiederwahl der Inhaber von Ämtern im Bereich der Exekutive (Präsident, Gouverneure, Bürgermeister) möglich. Seit dem Jahr 2000 finden alle Wahlen ausschließlich mit elektronischen Wahlurnen statt.

Das politische System. Strukturen und Akteure

51

Abbildung 2: Wahlberechtigte Bevölkerung und Bundesabgeordnete nach Bundesstaaten (2010)

Bundesstaat Acre Alagoas Amapá

Wahlberechtigte

Mandate

Bundesstaat

Wahlberechtigte

Mandate

461.969

8

Paraíba

2.698.355

12

1.975.351

9

Paraná

7.553.063

30

410.786

8

Pernambuco

6.208.463

25

Amazonas

1.995.071

8

Piauí

2.207.915

10

Bahia

9.377.300

39

Rio de Janeiro

11.478.344

46

Rio Grande do Norte

2.195.402

8

Rio Grande do Sul

8.053.219

31

1.064.586

8

Ceará

5.803.864

22

Distrito Federal

1.804.865

8

Espírito Santo

2.491.098

10

Rondônia

Goiás

4.002.496

17

Roraima

261.746

8

Maranhão

4.231.479

18

Santa Catarina

4.485.198

16

Mato Grosso

2.064.007

8

São Paulo

30.044.141

70

Mato Grosso do Sul

1.675.864

8

Sergipe

1.393.198

8

Minas Gerais

14.370.541

53

927.039

8

Pará

4.675.330

17

Tocantins

Quelle: (30.7.2013).

Die Legislative des Bundes basiert auf einem Zweikammersystem aus Abgeordnetenkammer (513 Abgeordnete) und Senat (81 Senatoren). Jeder Bundesstaat und der Bundesdistrikt Brasília stellen drei Senatoren. In der Abgeordnetenkammer ist jeder Bundesstaat mit mindestens acht und höchstens 70 Sitzen vertreten (Art. 45). Aufgrund der großen Bevölkerungsunterschiede zwischen den Bundesstaaten führt diese Regelung zu einer hochgradig disproportionalen Repräsentation zu Ungunsten einiger Bundesstaaten im Südosten des Landes. So entfielen auf den Bundesstaat Roraima bei den Wahlen von 2010 acht Abgeordnete, die von etwas mehr als 260.000 Wahlberechtigten bestimmt wurden, das entspricht einem Abgeordneten pro

52

Peter Birle

34.000 Wähler. Ein ähnliches Verhältnis ergab sich im Bundesstaat Acre mit einem Abgeordneten pro 59.000 Wahlberechtigten. Demgegenüber stellte der bevölkerungsreichste Bundesstaat São Paulo mit seinen mehr als 30 Mio. Wahlberechtigten zwar das Maximum von 70 Abgeordneten, dies entsprach jedoch nur einem Abgeordneten pro 429.000 Wähler (siehe Abbildung 2).4 Diese Überrepräsentation der kleineren und bevölkerungsärmeren Bundesstaaten wurde bereits in den 1930er Jahren eingeführt, um ein Gegengewicht zur großen Macht von São Paulo und Minas Gerais in der Föderation zu schaffen. Unumstritten ist die Regelung allerdings nicht. Der Präsident, die Gouverneure und die Bürgermeister von Gemeinden mit mehr als 200.000 Einwohnern werden nach absolutem Mehrheitswahlrecht durch die wahlberechtigte Bevölkerung direkt gewählt. Für alle Parlamentswahlen bis auf die zum Senat gilt ein personalisiertes Verhältniswahlrecht mit offener Liste, für die Senatswahlen ein Mehrheitswahlrecht. Das System mit offener Liste bedeutet beispielsweise für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer, dass die Parteien zwar vor der Wahl ein Verzeichnis mit allen für sie kandidierenden Personen aufstellen, dieses gibt jedoch keinerlei Reihenfolge im Hinblick auf die spätere Mandatsverteilung vor. Die Wähler können ihre Stimme entweder einem Kandidaten oder einer Partei geben, wobei sich die große Mehrheit der Wähler für die Stimmabgabe an eine Person entscheidet. Die Stimmenauszählung erfolgt zweistufig. Zunächst wird ermittelt, wie viele Mandate einer Partei aufgrund der insgesamt innerhalb des Wahlkreises für sie bzw. für ihre Kandidaten abgegebenen Stimmen zustehen. Diese Mandate gehen dann an diejenigen Kandidaten, welche die meis­ten Stimmen auf sich vereinigen konnten. Dies führt dazu, dass selbst die Kandidaten ein und derselben Partei Wahlkampf gegeneinander betreiben müssen, um sich möglichst gute Wahlchancen zu erarbeiten. Zudem treten Parteiprogramme gegenüber dem persönlichen Profil der Kandidaten stark in den Hintergrund. Die Wahlkreise entsprechen den Bundesstaaten, weshalb die Kandidaten im gesamten Bundesstaat für sich werben müssen. Gerade in den großen und bevölkerungsreichen Bundesstaaten führt dies zu sehr kostenintensiven Wahlkämpfen. Im Vorteil sind dabei diejenigen Kandidaten, die entweder selbst über ausreichend Kapital verfügen oder über gute Beziehungen zu finanzkräftigen Sponsoren. Viele Kandidaten müssen sich während des 4

Die Berechnungen basieren auf den Wahlstatistiken des Obersten Wahlgerichts. Siehe (30.7.2013).

Das politische System. Strukturen und Akteure

53

Wahlkampfes verschulden. Diese Situation eröffnet nach Ansicht von Kritikern der Korruption Tür und Tor: “Nach den Wahlkämpfen müssen diese Kosten refinanziert bzw. die Verpflichtungen eingelöst werden. Das ist dann häufig Anlass für Korruption und Misswirtschaft” (Hofmeister 2009: 45). Eine weitere Besonderheit des brasilianischen Wahlrechts besteht in der Möglichkeit, Wahlkoalitionen zwischen Parteien zu bilden, wobei nicht notwendigerweise eine programmatische Zusammenarbeit erfolgen muss. Vor allem kleinere Parteien machen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Gemeinsam erzielen derartige Wahlkoalitionen immer wieder genügend Stimmen, um zumindest dem Vertreter einer Partei den Einzug ins Parlament zu sichern. Da es keine Sperrklausel gibt, führt dies allerdings auch dazu, dass in der Abgeordnetenkammer eine ganze Reihe von Parteien mit nur einem oder zwei Abgeordneten vertreten sind (s. u.). Parteien und Parteiensystem

Die wesentlichen rechtlichen Grundlagen für parteipolitische Aktivitäten in Brasilien sind in der Verfassung von 1988 und im Parteiengesetz von 1995 niedergelegt. Art. 17 der Verfassung garantiert die Gründung von politischen Parteien unter der Voraussetzung, dass diese nationalen Charakters sind, den Regelungen der Gesetze und der Wahljustiz entsprechen und keine Gelder von ausländischen Regierungen annehmen. Damit eine Partei zugelassen wird, muss sie nachweisen, dass sie über die Unterstützung von Wählern in mindestens einem Drittel der Bundesstaaten verfügt. Die wesentliche Funktion der Parteien ergibt sich indirekt aus Art. 14, der den Parteien das Monopol der Kandidatenaufstellung bei Wahlen zuspricht, denn wählbar ist nur, wer einer politischen Partei angehört. Selbst während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 waren parteipolitische Aktivitäten in Brasilien weiterhin möglich, da die Streitkräfte sich darum bemühten, ihrer Herrschaft eine demokratische Fassade zu verleihen. Allerdings lösten die Militärs das zuvor existierende Parteiensys­tem auf und schufen ein künstliches Zweiparteiensystem aus einer “Pro-Regierungspartei”, der Aliança Renovadora Nacional (Arena), und einer “Oppositionspartei”, dem Movimento Democrático Brasileiro (MDB). Nach einer 1979 durchgeführten Reform konnten sich dann aber bereits seit Anfang der 1980er Jahre wieder neue Parteien gründen, weshalb die Grundzüge des heutigen Parteiensystems bereits während der Endphase des autoritären

54

Peter Birle

Regimes entstanden.5 In der Folgezeit bildeten sich nicht nur zahlreiche neue Parteien, sondern bei allen seit den 1980er Jahren durchgeführten Wahlen schafften jeweils auch zahlreiche Parteien den Einzug in die Abgeordnetenkammer. Bei den Wahlen von 2010 gelang dies Vertreter/innen Abbildung 3: Die größten Parteien innerhalb der Abgeordnetenkammer nach den Wahlen von 2006 und 2010 Gründungsjahr

Mitglieder

Mandate Wahlen 2006

Mandate Wahlen 2010

PT

1980

1,4 Mio.

83

86

Partido do Movimento Democrático Brasileiro

PMDB

1980

2,3 Mio.

89

78

Partido da Social Democracia Brasileira

PSDB

1988

1,3 Mio.

66

54

Name der Partei Partido dos Trabalhadores

Partido Progressista

Abkürzung

PP

1995

1,3 Mio.

41

44

Democratas (bis 2007 Partido da Frente Liberal)

DEM (PFL)

2007 (1986)

1,1 Mio.

65

43

Partido da República

PR

2006

0,7 Mio.

-

41

Partido Socialista Brasileiro

PSB

1988

0,5 Mio.

27

35

Partido Democrático Trabalhista

PDT

1981

1,1 Mio.

24

27

Partido Trabalhista Brasileiro

PTB

1981

1,1 Mio.

22

22

Partido Social Cristão

PSC

1990

0,3 Mio.

9

17

Partido Comunista do Brasil

PC do B

1988

0,3 Mio.

13

15

Partido Verde

PV

1993

0,3 Mio.

13

13

Partido Popular Socialista

PPS

1992

0,4 Mio.

22

12

Quellen: (11.8.2013); (11.8.2013).

5

Ein kurzer Überblick zur historischen Entwicklung des Parteiensystems findet sich bei Bornschier 2008.

Das politische System. Strukturen und Akteure

55

von 22 Parteien. Darunter befinden sich auch mehr als ein halbes Dutzend Parteien, die jeweils nur durch einen, zwei oder drei Abgeordnete im Parlament vertreten sind. Das brasilianische Parteiensystem kann somit als ein fragmentiertes Vielparteiensystem charakterisiert werden. Die drei mandatsstärksten Parteien in der gegenwärtigen Abgeordnetenkammer sind: •





Die 1980 von Gewerkschaftlern, Intellektuellen, Aktivisten von sozialen Bewegungen und Mitgliedern kirchlicher Gruppen gegründete PT (Partido dos Trabalhadores; Partei der Arbeiter), die seit 2003 den Präsidenten stellt und gegenwärtig über die größte Anzahl von Kongressmandaten verfügt, steht für eine linke, fortschrittliche Programmatik. Während sie in den Jahren der Opposition für sozialistische Ziele eintrat, erwies sie sich seit Übernahme der Regierung als sehr pragmatisch und eher sozialdemokratisch orientiert. Sie weist eine stärkere Basisorientierung als andere politische Parteien auf, ist gut organisiert und verfügt von den großen Parteien über die klarste programmatische Orientierung. Die PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro; Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung) wurde 1966 unter dem Namen MDB (Brasilianische Demokratische Bewegung) als offizielle Oppositionspartei zur Partei der Militärregierung gegründet und nahm 1980 ihren heutigen Namen an. Ihre ideologische Position wird oft als “zentristisch” bezeichnet, was aber eher ein Ausdruck dafür ist, dass es der Partei an einer klaren Programmatik fehlt. Die PMDB ist die mitgliederstärkste Partei des Landes. Neben ihrer Beteiligung an den Regierungen Lula und Rousseff spielt sie auch eine wichtige Rolle in einer Reihe von Bundesstaaten und in der lokalen Politik. Die PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira; Partei der Brasilianischen Sozialdemokratie) entstand 1988 als Abspaltung der PMDB. Sie stellte mit Fernando Henrique Cardoso von 1995 bis 2002 den Staatspräsidenten und ist gegenwärtig die wichtigste Oppositionspartei. Während ihrer Zeit an der Regierung schlug die Partei vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht einen eher liberal-konservativen Kurs ein, der von vielen Kritikern als “neoliberal” angesehen wurde. Die PSDB ist nicht nur die drittstärkste Partei in der Abgeordnetenkammer, sie stellt auch die Gouverneure in acht Bundesstaaten, unter anderem in den wirtschaftlich bedeutenden Bundesstaaten São Paulo und Minas Gerais.

56

Peter Birle

In der politikwissenschaftlichen Fachliteratur gilt das Parteiensystem seit dem Ende der Militärherrschaft als Achillesferse der brasilianischen Demokratie. Immer wieder vorgebrachte Kritikpunkte betreffen u. a. die hohe Anzahl von im Parlament vertretenen Parteien, die geringe gesellschaftliche Verwurzelung vieler Parteien, die starke Bedeutung lokaler und regionaler ‘Parteifürsten’ sowie die geringe Disziplin der Abgeordneten gegenüber den Fraktionsführungen. Verschiedene Wissenschaftler prognostiziertem dem Land in den 1980er Jahren angesichts dieser Merkmale eine drohende Unregierbarkeit. Eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Exekutive und Legislative, wie sie die brasilianische Verfassung notwendig macht, wenn es nicht zu einer wechselseitigen Blockade der Gewalten kommen soll, wurde für wenig wahrscheinlich gehalten. Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben jedoch deutlich gemacht, dass das brasilianische Parteiensystem offenbar funktionstüchtiger ist, als sein Ruf es vermuten ließe. Auch wenn sich die effektive Zahl der im Parlament vertretenen Parteien nicht verringert hat, so ist doch eine gewisse Stabilisierung zu beobachten. Es scheinen sich zwei Gravitationszentren herausgebildet zu haben – ein linker, stärker staatsorientierter Pol mit der PT im Zentrum sowie ein konservativerer, stärker wirtschaftsliberal orientierter Pol um die PSDB –, die durchaus zur Bildung dauerhafter Regierungskoalitionen und zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der Exekutive in der Lage sind. Die Volatilität des Parteiensystems, d. h. die Veränderungen der Stimmenanteile von einer zur nächsten Wahl, ist relativ niedrig. Neuere Untersuchungen zeigen auch, dass die gesellschaftliche Verwurzelung der Parteien und die Parteiidentifikationen vieler Wähler nicht geringer sind als in vielen europäischen Ländern.6 Präsident, Kongress und Gesetzgebung

Wie in Präsidialsystemen üblich, ist der brasilianische Präsident gleichzeitig Staats- und Regierungschef. Laut Art. 84 ist er u. a. zuständig für: • •

die Ernennung und Entlassung der Staatsminister; die Leitung der Bundesverwaltung (gemeinsam mit den Staatsminis­ tern);

6

Siehe zu dieser Diskussion Albarracín 2012 und Armijo/Faucher/Dembinska 2006.

Das politische System. Strukturen und Akteure

• • • • • • • • •

• • • • •

57

die Initiierung von Gesetzgebungsverfahren in den von der Verfassung vorgesehenen Fällen; die Billigung, Verkündung und Veröffentlichung der Gesetze; das vollständige oder teilweise Veto gegen Gesetzesvorlagen; die Unterhaltung von Beziehungen mit auswärtigen Staaten und die Akkreditierung ihrer diplomatischen Vertreter; den Abschluss internationaler Verträge und Abkommen; die Ausrufung des Verteidigungsfalles und des Notstandes; die Ausübung der obersten Befehlsgewalt über die Streitkräfte; die Ernennung der Oberbefehlshaber von Heer, Marine und Luftwaffe; die Ernennung, nach Zustimmung durch den Bundessenat, der Richter des Obersten Bundesgerichts und der oberen Gerichte, des Generalstaatsanwalts der Republik sowie des Präsidenten und der Direktoren der Zentralbank; die Erklärung des Krieges im Falle eines auswärtigen Angriffs; den Abschluss von Friedensverträgen; die Vorlage eines mehrjährigen Haushaltsplans, des Entwurfs des Haushaltsrichtliniengesetzes und der Haushaltsanträge beim Nationalkongress; den jährlichen Rechenschaftsbericht vor dem Nationalkongress; den Erlass von vorläufigen Maßnahmen mit Gesetzeskraft.

Dem Kongress obliegt es, mit der Zustimmung durch den Präsidenten über alle Angelegenheiten zu befinden, die in die Kompetenz des Bundes fallen (Art. 48). Er hat die ausschließliche Zuständigkeit für die Ratifizierung von internationalen Verträgen und Vereinbarungen, für die Ermächtigung des Präsidenten zur Kriegserklärung und zum Friedensschluss sowie für die Ermächtigung des Präsidenten und des Vizepräsidenten zum Aufenthalt außerhalb des Landes für die Dauer von mehr als 14 Tagen (Art. 49). Der Abgeordnetenkammer obliegt darüber hinaus die ausschließliche Kompetenz, mit zwei Dritteln ihrer Mitglieder ein Amtsenthebungsverfahren wegen Pflichtverletzung gegen den Präsidenten oder den Vizepräsidenten sowie gegen die Staatsminister einzuleiten (Art. 51). Die Durchführung derartiger Verfahren ist dann Sache des Senats. Dieser ist außerdem für die Zustimmung zur Wahl von Richtern und zahlreichen weiteren Inhabern öffentlicher Ämter zuständig, für die Zustimmung zur Besetzung von Botschafterposten, für die Genehmigung von externen Fi-

58

Peter Birle

nanzgeschäften und für die Autorisierung der Aufnahme von Auslandsschulden (Art. 52). Im Gesetzgebungsprozess sind Abgeordnetenkammer und Senat gleichberechtigt. Das Initiativrecht für normale Gesetze besitzen neben den beiden Häusern des Kongresses sowie einzelnen Abgeordneten und Kommissionen auch der Präsident bzw. die Präsidentin, der Oberste Gerichtshof, die Obers­ten Bundesgerichte und der Generalstaatsanwalt. Auch Volksini­ tiativen sind möglich (Art. 61). Alle Vorlagen müssen sowohl von der Abgeordnetenkammer als auch vom Senat in gleichlautender Beschlussfassung verabschiedet werden, um Gesetzeskraft zu erlangen. Die legislativen Befugnisse der Exekutive sind in Brasilien außergewöhnlich stark, insbesondere aufgrund der folgenden vier Verfassungsbestimmungen: • • • •

alleiniges Initiativrecht der Exekutive für alle Gesetze, welche die Organisation der Verwaltung und der Justiz, die Steuern und den Haushalt betreffen (Art. 61); Vetorechte des Präsidenten (Art. 84); Möglichkeit zum Erlass von Provisorischen Maßnahmen (Medidas Provisórias; MP) mit Gesetzeskraft (Art. 62); Möglichkeit, eine eilige Behandlung der auf Initiative des Präsidenten zurückgehenden Gesetzesvorlagen zu verlangen, wodurch beiden Häusern des Kongresses maximal 45 Tage zur Diskussion über eine Vorlage zugestanden werden (Art. 64).

Die Exekutive hat auf diese Art und Weise nicht nur massiven Einfluss auf die Agenda des Kongresses, sondern sie kann auch die Behandlung ihrer eigenen Initiativen stark beschleunigen und gegebenenfalls zu Provisorischen Maßnahmen (MP) greifen. Mehr als 80 % der seit Ende der 1980er Jahre verabschiedeten Gesetze gingen auf Initiativen der Exekutive zurück, die Erfolgsquote lag bei gut 75 % der eingereichten Vorlagen. Zudem wird über die Initiativen der Exekutive deutlich rascher als über die der Legislative abgestimmt (durchschnittlich 410 Tage gegenüber 1090 Tagen). Die MP ermöglichen der Exekutive eine sofortige Änderung des gesetzlichen Status Quo, sie erlauben es ihr jedoch nicht, langfristig gegen die Kongressmehrheit zu regieren, denn auch die MP werden nur dann zu einem Gesetz, wenn die Mehrheit ihnen zustimmt. Zur Behandlung der MP hat der Kongress maximal 120 Tage Zeit. Er kann sie ablehnen oder eine Überarbeitung verlangen, was relativ häufig der Fall ist. Sowohl die

Das politische System. Strukturen und Akteure

59

Regierung Cardoso als auch die Regierung Lula haben in umfangreichen Maße von den MP Gebrauch gemacht (Figueiredo/Limongi 2012: 71ff.). Die Entscheidungsstrukturen innerhalb des Kongresses sind stark zentralisiert. Der Präsident der Abgeordnetenkammer und die Parteivorsitzenden verfügen durch die Vorgaben der Geschäftsordnung über zahlreiche Möglichkeiten, um die Parlamentskommissionen in ihrem Sinne zu besetzen und die Tagesordnung des Kongresses zu steuern. Interessengruppen und Zivilgesellschaft

Brasilien verfügt über ein relativ dichtes Netzwerk an gesellschaftlichen Interessengruppen. Über die mit Abstand größte Organisations- und Konfliktfähigkeit verfügen die Gewerkschaften und die Unternehmerverbände. Die bereits in den 1930er Jahren institutionalisierte korporatistische Gewerkschaftsgesetzgebung, die den Arbeitervertretungen einerseits neue Beteiligungsmöglichkeiten eröffnete, sie aber gleichzeitig der staatlichen Kontrolle unterwarf, wurde im Zuge der Rückkehr zur Demokratie in den 1980er Jahren weitgehend beseitigt. Die Gewerkschaften sind ein mächtiger politischer Akteur, ihr wichtigster Dachverband, die Central Única dos Trabalhadores (CUT), vertritt mehr als sieben Mio. Arbeitnehmer. Auch die Unternehmerverbände verfügen über einen nationalen Dachverband, daneben spielen vor allem die Industrieverbände des Großraums São Paulo eine wichtige Rolle als Lobbyorganisationen. Politische Partizipation war in Brasilien lange Zeit eine Angelegenheit der Eliten. Dies hat sich seit der Endphase der Militärdiktatur, als Millionen von Menschen sich politisch organisierten und für ihre Forderungen auf die Straße gingen, nachhaltig geändert. Die Zivilgesellschaft ist vielfältig und gut organisiert, neben sozialen Bewegungen und Selbsthilfegruppen gibt es eine große Anzahl von Nichtregierungsorganisationen (Avritzer 2009b). Eine auch über die Grenzen Brasiliens hinaus bekannt gewordene Organisation ist die Bewegung der Landarbeiter ohne Land (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST), die mit ihren ca. 1,5 Mio. Mitgliedern zu den größten sozialen Bewegungen in Lateinamerika gehört. Der Fokus der zivilgesellschaftlichen Beteiligungsformen hat sich im Laufe der Zeit verändert. Während es in den 1980er und 1990er Jahren vor allem da­ rum ging, autonome gesellschaftliche Sphären gegenüber dem Staat zu erkämpfen, für die Demokratisierung der staatlichen Politik einzutreten und

60

Peter Birle

mehr gesellschaftliche Kontrolle über den Staat zu erlangen, hat seitdem die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure an der Planung und Implementierung staatlicher Politiken deutlich zugenommen (Avritzer 2009a). Zum einen war dies durch die bereits erwähnte partizipative Haushaltsplanung auf lokaler Ebene möglich, wie sie zunächst ab 1989 in Porto Alegre und später in vielen anderen Städten eingeführt wurde. Zum anderen forcierte insbesondere die Regierung Lula ab 2003 die Institutionalisierung von sogenannten Nationalen Politikkonferenzen (Conferências nacionais de políticas públicas), durch die Millionen von Bürgern auf allen Ebenen des politischen Systems die Möglichkeit erhielten, politische Initiativen einzubringen und gemeinsam mit Vertretern aus Exekutive und Legislative über zentrale politische Themen zu beraten (Pogrebinschi 2012). Wie die massiven Proteste des Jahres 2013 gezeigt haben, hat sich jedoch ganz offensichtlich trotz dieser neuen Formen der Bürgerbeteiligung in wachsenden Teilen der brasilianischen Gesellschaft eine zunehmende Unzufriedenheit mit der Performanz des politischen Systems ausgebreitet. Dass die jüngsten Proteste sich nicht zuletzt gegen die Regierung einer Präsidentin richteten, deren Partei selbst aus den Massenprotesten gegen die Militärdiktatur in den 1970er und 1980er Jahren hervorging, zeigt, dass auch die PT längst zum politischen Establishment gehört, das sie einst bekämpfte. Die Performanz des politischen Systems – Reformdiskussionen und Reformbedarf

Das Regieren in Brasilien ist eine komplexe Herausforderung, nicht nur wegen der Größe, Vielschichtigkeit und Heterogenität des Landes, sondern auch, weil die Verfassung von 1988 der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative, der Zusammenarbeit zwischen Bund, Bundesstaaten und Gemeinden sowie der Repräsentativität der legislativen Kammern großes Gewicht einräumt. Keiner Partei ist es in den vergangenen 25 Jahren gelungen, eine absolute Mehrheit im Kongress zu erzielen. Dies führt dazu, dass alle Präsidenten Koalitionen bilden mussten, um die Unterstützung des Parlaments für ihre Politik sicherzustellen. Angesichts der Vielzahl von im Parlament vertretenen Parteien und dem Bedürfnis, möglichst große Regierungsmehrheiten zu bilden, bestehen diese Koalitionen oft aus mehr als einem Dutzend Parteien. Gerade die Regierung der gegenwärtigen Präsidentin Dilma Rousseff ist ein Musterbeispiel dafür.

Das politische System. Strukturen und Akteure

61

Entgegen den Warnungen vieler Wissenschaftler vor Unregierbarkeit und Reformunfähigkeit ist es dem brasilianischen “Koalitionspräsidentialismus” (Hofmann 2010) unter den Präsidenten Cardoso, Lula und Rousseff gelungen, tiefgreifende Reformen in vielen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereichen zu realisieren. Insofern ist die Performanz des politischen Systems weitaus positiver, als Kritiker dies für möglich gehalten hätten. Allerdings können die oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Verhandlungsprozesse zwischen Exekutive und Legislative zu Korruption führen, wie nicht zuletzt der Mensalão-Skandal von 2005 gezeigt hat (Fraundorfer/Llanos 2012). Sérgio Costa spricht in diesem Zusammenhang von einer politischen Tauschbörse, “in der sich die Regierung bzw. die Regierungspartei die Unterstützung der Parlamentarier mit Posten in Ministerien und in der Verwaltung, aber auch mit nicht immer legalen Geldüberweisungen erkauft. Damit aber wird die Korruption zu einem Strukturelement des Regierungsgeschäfts”(Costa 2013: 24). Seit vielen Jahren – und nicht erst seit den Protesten des Jahres 2013 – wird in Brasilien über die Notwendigkeit von politischen Reformen diskutiert.7 Im Zentrum dieser Diskussionen stehen immer wieder das Wahlsystem und die Wahlkampffinanzierung. Vorschläge wie die Einführung geschlossener Listen, eine staatliche Wahlkampffinanzierung, das Verbot von Wahlkoalitionen und die Einführung einer Sperrklausel sind wiederholt analysiert und zur Abstimmung gebracht worden, sie konnten jedoch nie die notwendigen Mehrheiten erzielen. Auch Präsidentin Rousseff hatte bereits kurz nach ihrem Amtsantritt das Thema politische Reform zu einer ihrer Prioritäten erklärt. Zwei Sonderkommissionen des Kongresses wurden schon 2011 mit der Ausarbeitung von Reformvorschlägen beauftragt. Insofern war es wenig überraschend, das Rousseff im Zuge der Proteste von 2013 die Flucht nach vorn antrat und versprach, so rasch wie möglich umfassende Reformen des politischen Systems einzuleiten. Es zeigte sich jedoch sehr schnell, dass auch diesmal die Reformeuphorie am Widerstand derjenigen scheitern könnte, die sich mit dem exis­ tierenden System gut arrangiert haben (Dilger 2013; Fraundorfer 2013). Gleichwohl wird angesichts des Ausbleibens einer ‘großen’ politischen Reform manchmal übersehen, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine ganze Reihe von ‘kleinen’ Reformen nicht nur diskutiert, sondern 7

Einen guten Überblick zu den langjährigen Reformdiskussionen und der in diesem Zusammenhang veröffentlichten Literatur bietet Hofmeister 2009.

62

Peter Birle

auch umgesetzt wurden, die zur Verbesserung der Performanz des politischen Systems beigetragen haben. Dazu gehörte die durch das Oberste Wahlgericht ergangene Rechtsprechung, die das in Brasilien zuvor sehr häufige Wechseln von Mandatsträgern einer Oppositionspartei zu einer Regierungspartei deutlich erschwerte. Solche Parteiwechsel waren lange Zeit an der Tagesordnung, da die Zugehörigkeit zu einer Regierungspartei es den Abgeordneten eher ermöglicht, auf Ressourcen zurückzugreifen, mit denen sie die Chancen ihrer Wiederwahl erhöhen können. Noch nach den Parlamentswahlen von 2002 wechselten innerhalb nur eines Jahres 125 von 513 Angehörigen der Abgeordnetenkammer die Partei (Hofmeis­ ter 2009: 47). Ein solches Verhalten ist inzwischen sehr viel schwieriger geworden. Auch das Ficha Limpa (Saubere Weste)-Gesetz von 2010, das Kandidaten, deren Verurteilung wegen Korruption in zweiter Instanz bestätigt wird, das passive Wahlrecht entzieht, zeigt, dass Reformen durchaus möglich sind. Insofern ist es sicherlich zutreffend, dass die Performanz des politischen Systems und die Qualität der Demokratie durch weitere politische Reformen noch verbessert werden könnten, von einem unregierbaren oder reformunfähigen Land kann jedoch auch auf der Grundlage des gegenwärtigen politischen Systems nicht die Rede sein.

Literatur Albarracín, Juan (2012): “Politische Parteien und Parteiensystem”. In: De la Fontaine/ Stehnken, 157–174. Armijo, Leslie/Faucher, Philippe/Dembinska, Magdalena (2006): “Compared to What? Assessing Brazil’s Political Institutions”. In: Comparative Political Studies. 39, 6, 759–786. Arretche, Marta (2012): “Föderalismus in Brasilien”. In: De la Fontaine/Stehnken, 138–154. Avelar, Lúcia/Cintra, Antonio Octávio (Hg.) (22007): Sistema político brasileiro: uma introdução. Rio de Janeiro: UNESP/KAS. Avritzer, Leonardo (2009a): Participatory Institutions in Democratic Brazil. Washington, D.C.: The Johns Hopkins University Press. — (2009b): Civil Society in Brazil: From State Autonomy to Political Interdependency. Minas Gerais: UFMG (Working Paper). Bartel, David Danilo (2013): “Die Protestbewegung offenbart eine Systemkrise”. In: Die Welt, 17.7.2013 (11.8.2013).

Das politische System. Strukturen und Akteure

63

Birle, Peter (2012a): BTI 2012. Brazil Country Report. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung (26.7.2013). — (2012b): Expert Report: Brazil. INCRA. An International Non-Profit Credit Rating Agency. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung (26.7.2013). Bornschier, Simon (2008): Demokratie, Sozialstruktur und Parteiensysteme in Lateinamerika. Brasilien in vergleichender Perspektive. Saarbrücken: VDM. Constituição da República Federativa do Brasil. Texto constitucional promulgado em 5 de outubro de 1988, com as alterações adotadas pelas Emendas Constitucionais nos 1/1992 a 68/2011, pelo Decreto Legislativo no 186/2008 e pelas Emendas Constitucionais de Revisão nos 1 a 6/1994. 35a Edição, atualizada em 2012. Brasília: Centro de Documentação e Informação. Edições Câmara. Costa, Sérgio (2013): “Das politische System Brasiliens”. In: Der Bürger im Staat, 63, 1–2, 23–33. De la Fontaine, Dana/Stehnken, Thomas (Hg.) (2012): Das politische System Brasiliens. Wiesbaden: VS Verlag. Dilger, Gerhard (2013): “Keine Wunder in Brasilien”. In: Le Monde diplomatique. Deutsche Ausgabe vom 12.7.2013. Figueiredo, Argelina Cheibub/Limongi, Fernando (2012): “Politische Institutionen und Performanz der Exekutive in der brasilianischen Demokratie”. In: De la Fontaine/ Stehnken, 65 –84. Fraundorfer, Markus (2013): Protestbewegungen als Motor für Brasiliens Demokratie. Hamburg: GIGA (GIGA Focus Lateinamerika 4). Fraundorfer, Markus/Llanos, Mariana (2012): Der Mensalão-Korruptionsskandal mit weitreichenden Folgen für Brasiliens Demokratie. Hamburg: GIGA (GIGA Focus Lateinamerika 12). Graham, Lawrence S./Rowland, Allison M. (2008): “Two Centuries of Federalism in Brazil, Mexico, and the USA”. In: Wilson, Robert et al. (Hg.): Decentralization, Democracy, and Subnational Government in Brazil, Mexico, and the USA. Notre Dame: University of Notre Dame Press, 38 –87. Hofmann, Aletta (2010): “Politische Führung im Koalitionspräsidentialismus: Brasilien”. In: Sebaldt, Martin/Gast, Henrik (Hg.): Politische Führung in westlichen Regierungssystemen. Theorie und Praxis im internationalen Vergleich. Wiesbaden: VS, 196–211. Hofmeister, Wilhelm (2009): “Politische Reformen in Brasilien - Eine endlose Diskussion um Demokratie und Regierungsfähigkeit”. In: KAS-Auslandsinformationen, 40–56. Kingstone, Peter R./Power, Timothy J. (2008)(Hg.): Democratic Brazil Revisited. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press. Montero, Alfred (2005): Brazilian Politics: Reforming a Democratic State in a Changing World. Cambridge: Polity. Palermo, Vincente (2002): “Wie wird Brasilien regiert? Die Debatte um politische Institutionen und Regierungsführung in Brasilien”. In: Hofmeister, Wilhelm (Hg.): “Gebt mir einen Balkon und das Land ist mein”. Politische Führung in Lateinamerika. Frankfurt am Main: Vervuert, 355–397.

64

Peter Birle

Pogrebinschi, Thamy (2012): “Participatory Policymaking and Political Experimentalism in Brazil”. In: Kron, Stefanie/Costa, Sérgio/Braig, Marianne (Hg.): Democracia y reconfiguraciones contemporáneas del derecho en América Latina. Frankfurt am Main/Madrid: Iberoamericana/Vervuert, 111–136. Souza, Celina (2005): “Federal Republic of Brazil”. In: Kincaid, John/Tarr, Alan (Hg.): A Global Dialogue on Federalism. Volume 1. Constitutional Origins, Structure, and Change in Federal Countries. Montreal: McGill-Queen’s University Press, 76 –102. Speck, Bruno Wilhelm (2010): “Politische Integration der Ärmsten in ein politisches System auf Krücken? Brasilien unter Präsident Lula”. In. Birle, Peter (Hg.): Lateinamerika im Wandel. Baden-Baden: Nomos, 117–137.

Die politische Dimension von Amtsmissbrauch, Korruption, Drogenhandel und Kriminalität: Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien Bruno Wilhelm Speck

Rechtsstaatsdefizite und Demokratietheorie

Nach einem langen Übergang zur Demokratie (1979–1989) und mehr als zwei Jahrzehnten freier Wahlen von Präsidenten, Gouverneuren und Bürgermeistern sowie der Legislative in Bund, Ländern und Kommunen kann die Demokratie in Brasilien als formell konsolidiert bezeichnet werden. Die politischen Kräfteverhältnisse haben sich von rechts nach links verschoben. Die Arbeiterpartei, ursprünglich eine kleine Splitterpartei in der Opposition, stellt seit über einem Jahrzehnt den Regierungschef. Auch auf Länder- und Kommunalebene kam es zu friedlichen Regierungswechseln durch Wahlen, was als vorläufiger Beleg für freien politischen Wettbewerb und eine funktionierende Wahldemokratie gelten kann. Politikwissenschaftler weisen allerdings immer wieder auf Defizite im Bereich der sozialen Verankerung der Demokratie sowie auf fehlende demokratische Werte und Überzeugungen bei den Bürgern hin. Auch die schwache institutionelle Verankerung der Demokratie, mit einem zersplitterten Parteiensystem und oft gespannten Beziehungen zwischen Regierung, Kongress und Judikative, wird als Risikofaktor genannt. Der Tenor der Untersuchungen hat sich jedoch schrittweise verschoben. Standen in der Transitions- und Konsolidierungsforschung noch die Defizite und damit das Risiko eines möglichen Abbruchs des ‘demokratischen Experiments’ im Vordergrund, so rückt nun zunehmend die Charakterisierung von Regimetypen in jungen Wahldemokratien ins Zentrum. Einer der Versuche, diese Regime zu kennzeichnen, geht auf den verstorbenen argentinischen Politikwissenschaftler Guillermo O’Donnell zurück. Er hat eine Kartographie für den Vergleich politischer Regime vorgeschlagen, die auf den drei Dimensionen liberaler, republikanischer und demokratischer Werte beruhen (O’Donnell 1998).

66

Bruno Wilhelm Speck

Die demokratische Wertedimension basiert auf der Idee gleicher politischer Rechte und der Suche nach einem Modell der Entscheidungsfindung, das die unterschiedlichen Werte und Interessen zusammenführt. Die institutionelle Umsetzung der Entscheidungsmodelle nimmt immer wieder Bezug auf das Mehrheitsprinzip und die periodische Neubestimmung des Konsenses durch Wahlen. Die Transitionsforschung konzentrierte sich weitgehend auf Fortschritte und Hindernisse bei der Verwirklichung des demokratischen Gedankens. Der republikanische Gedanke hat seinen Kern in der Durchsetzung des öffentlichen Interesses gegen Sonderinteressen. Basierend auf der Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre steht in der republikanischen Tradition die Ordnung des Gemeinwesens im Vordergrund, wobei die Vorstellungen über die gute oder legitime Ordnung sich im Laufe der Geschichte auf verschiedene Quellen bezogen, zuletzt auf die Idee der Verfassungsordnung. O’Donnell macht die republikanische Komponente vor allem an der Herausbildung horizontaler Kontrollmechanismen, also einem System gegenseitiger Kontrolle verfassungsmäßig verankerter Gewalten und Institutionen fest. Der Grundgedanke der liberalen Wertedimension besteht in der Sorge um den Schutz und die Stärkung des Individuums gegen Bedrohungen sowohl von Seiten des Staates als auch vor anderen gesellschaftlichen Akteuren. Autokratische Herrscher, der staatliche Machtapparat oder demokratische Mehrheiten können eine Gefahr für das Individuum darstellen. Bedrohung kann aber auch von gesellschaftlichen Institutionen wie Familie und Religion ausgehen, die individuelle Freiheiten zensieren, oder von Machtkonzentration in den Händen wirtschaftlicher und sozialer Eliten. Wichtige Institutionen zum Schutz des Individuums sind die Judikative sowie andere mit der Wahrung der Rechtsordnung betraute Institutionen wie Polizei und Staatsanwaltschaft. Im vorliegenden Text geht es um die beiden letztgenannten Dimensionen. Wie hat sich Brasilien im Hinblick auf die Garantie rechtsstaatlicher Prinzipien entwickelt und welche Tendenzen sind bei der institutionellen Umsetzung des Gemeinwohlgedankens zu beobachten? Es wird argumentiert, dass ein erhöhtes Gewaltniveau die Rolle des Staates als Garant persönlicher Unversehrtheit in Frage stellt. Im Falle der Unterschichten geht dies sogar so weit, dass der Staat zur Quelle von Polizeigewalt wird. Amtsmissbrauch und Korruption werden als Verletzung der republikanischen Dimension interpretiert. Wie stark kann sich der brasilianische Staat gegen

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

67

gesellschaftliche Eliten wehren, die öffentliche Ämter für private Zwe­ cke instrumentalisieren? Wie durchlässig sind öffentliche Institutionen für partikularistische Einflussnahme? Das Augenmerk richtet sich sich hier auf Initiativen der Regierung, white collar crime zu bekämpfen. Es wird auch ein Blick auf die Rolle des Kongresses und des Obersten Gerichtshofes bei der Aufarbeitung von Korruptionsskandalen geworfen. Der schwierige Weg zum Rechtsstaat Der Schutz des Bürgers vor Gewalt

Die Fähigkeit des Staates, die persönliche Integrität seiner Bürger zu schützen, ist eines der Grundanliegen der liberalen Dimension des Staates. Das anhaltend hohe Gewaltpotential in der brasilianischen Gesellschaft, die beschränkte Kapazität zur Aufklärung von Gewalttaten sowie der oft zu beobachtende Machtmissbrauch durch die Polizei stellen den Rechtsstaatsanspruch in den Augen der Bürger in Frage. Der Gewaltbegriff umfasst die körperliche Unversehrtheit (körperliche Gewalt), die gewaltsame Aneignung von wirtschaftlichen Gütern oder Rechten (ökonomische Gewalt) sowie Schaden an der Würde oder Identität der Betroffenen (symbolische Gewalt). Das Gewaltpotential in einer Gesellschaft kann an verschiedenen Indikatoren festgemacht werden. Die Messlatten reichen von Krankenhausregistern über Befragungen bis hin zu Lebenserwartungsraten. Wir beziehen uns hier auf physische Gewalt und greifen auf den Indikator ‘Mordraten’ zurück, da es sich dabei um eine der extremsten Arten von Bedrohung handelt und weil vergleichbare Daten sowohl auf internationaler Ebene als auch für längere Zeitreihen vorhanden sind. Im internationalen Vergleich von 184 Ländern lag Brasilien 2008 mit 22,8 Morden pro 100.000 Einwohner auf Platz 25. In Westeuropa liegen die Raten bei 1,3 Morden. Zahlreiche andere Länder haben jedoch auch weit höhere Mordraten als Brasilien. Im regionalen südamerikanischen Kontext liegt Brasilien über dem Durchschnitt. Grafik 1 zeigt, dass Süd­amerika mit 17,2 Morden ein vergleichbar hohes Gewaltpotential aufweist. Nur in Mittelamerika und dem südlichen Afrika liegen die Mordraten deutlich über diesem Niveau. Diese Erfahrung der latenten Bedrohung der persönlichen Unversehrtheit schlägt sich in der Sichtweise der brasilianischen Bürger nieder. Bei Umfragen äußert sich die Mehrheit der Bürger besorgt über die eigene

68

Bruno Wilhelm Speck

Grafik 1: Mordraten pro 100.000 Einwohner im internationalen Vergleich

Alle

Mordraten (pro 100.000 Einwohner) Alle

Ozeanien

OZEANIEN Polynesien Mikronesien Melanesien Australien und Neuseeland

Europa

EUROPA Westeuropa Südeuropa Nordeuropa Osteuropa ASIEN Asien

Westasien Südliches Asien Südostasien Ostasien Zentralasieen Amerika

AMERIKA Südamerika Nordamerika Mittelamerika Karibik AFRIKA Afrika

Westafrika Südliches Afrika Nordafrika Zentralafrika Ostafrika

0,0 5,0 10,0 15,0 20,0 25,0 30,0 35,0 40,0

Quelle: United Nations Office on Drug and Crime, (eigene Bearbeitung).

Sicherheit. Mehr als die Hälfte haben große Angst vor Mord, Überfällen, Einbruch oder anderen Formen der Gewalt, wie aus Grafik 2 hervorgeht. Über die letzten drei Jahrzehnte betrachtet haben die Mordraten innerhalb Brasiliens erhebliche Veränderungen durchlaufen. Zwischen 1980 und 2003 sind die Zahlen praktisch konstant angestiegen. Die Zahl der jährlichen Morde stieg von knapp 14.000 im Jahr 1980 auf knapp etwa 50.000 seit 2002, was auch unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums immer noch mehr als einer Verdoppelung von 11,7 auf 28,9 Morde pro 100.000 Einwohner entspricht. Erst seit 2002 haben sich die Mordraten auf hohem Niveau stabilisiert (Grafik 3).

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

69

Grafik 2: Die Angst der Brasilianer vor Gewalt 100% 90% 80% 70%

12%

14%

13%

26%

23%

25%

18%

27%

60% 50%

Keine Angst

40% 30%

Etwas Angst 62%

62%

62%

bewaffnetem Überfall

Mord

Einbruch

55%

Grosse Angst

20% 10% 0%

Gewaltopfer

Angst vor ... Quelle: Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada [IPEA], (Respräsentative Umfrage SIPS, no. 2, Datenerhebung März 2012).

Grafik 3: Zahl der Morde und Mordraten pro 100.000 Einwohner 60.000

25,0

50.000

20,0

40.000

15,0

30.000

10,0

20.000

5,0

10.000

0,0

-

1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

30,0

Morde (absolut)

Mordraten (pro 100.000 Einwohner)

Quelle: Waiselfisz 2011 (eigene Bearbeitung).

70

Bruno Wilhelm Speck

Hinter dieser Stabilisierung auf hohem Niveau verbergen sich jedoch Ungleichgewichte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Grafik 4 zeigt die niedrige Mordrate unter Frauen, was darauf hinweist, dass die Gewaltkriminalität vor allem Männer betrifft. Vor allem Jugendliche und Schwarze sind überrepräsentiert unter den Mordopfern, wobei die Tendenz der letzten Dekade auf eine Verschärfung der Lage dieser Bevölkerungsschichten hinweist. Auch das Stadt-Land-Gefälle, hier festgemacht an den Mordraten in der Landeshauptstadt im Vergleich zu anderen Regionen, wird geringer. Noch immer liegen die Mordraten der Städte weit über dem Land, aber die Schere beginnt sich zu Ungunsten der ländlichen Regionen zu schließen. Grafik 4: Mordraten nach verschiedenen Bevölkerungssegmenten 60,0

60,0

50,0

50,0

40,0

40,0

30,0

30,0

20,0

20,0

10,0

10,0

-

2002

2006

2010

Gesamtdurchschnitt

Landeshauptstädte

Hinterland

Schwarze

Jugendliche

Frauen

Quelle: Waiselfisz 2011 (eigene Bearbeitung).

Reform der Polizei und Politik der inneren Sicherheit

Sicher spielen sozioökonomische Faktoren bei der Erklärung der Gewalt­ raten eine große Rolle. Von den Kriminologen wurden die Mordraten als ein Symptom wachsender Kriminalität interpretiert, die ihrerseits eine praktisch unvermeidbare Folge der Modernisierungs- und Urbanisierungsprozesse

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

71

darstellte. Für die Sozialwissenschaftler waren die Gewaltraten und Kriminalität Ausdruck des auf Ungleichheit beruhenden sozioökonomischen Entwicklungsmodells. Die Verschlimmerung der Gewaltraten war mit der wirtschaftlichen Krise in den 1980er und 1990er Jahren leicht zu erklären. Aus diesem Blickwinkel wurde die Kriminalitätsbekämpfung als ein Neben­ effekt der Wirtschafts- und Sozialpolitik an diese Ressorts abgeschoben. Erst in den letzten Jahren kam es in der Wissenschaft zu einer differenzierteren Sicht der Ursachen von Gewalt und Kriminalität. Waiselfisz (2012) nennt eine Reihe von Ursachen, die hinter den erhöhten Mordraten stehen. Dazu gehören hohe Drogenkriminalität in Grenzregionen, mangelnde Vorbereitung der Städte auf die neuen Herausforderungen der Urbanisierung in Wachstumsregionen, hohes soziales Konfliktpotential im Zusammenhang mit der Expansion von Landwirtschaft, Holzwirtschaft und Bergbau und auch kulturelle Charakteristika wie Ehrenmorde, die zu erhöhten Mordraten in bestimmten Regionen führen können. Die Kriminalitätsbekämpfung ist weitgehend Ländersache. Die Verbrechensbekämpfung und die polizeilichen Untersuchungen unterliegen der Militär- bzw. Zivilpolizei. Die ersten Reformen in Richtung einer Politik der inneren Sicherheit erfolgten deshalb auf dieser Ebene. In den 1990er Jahren haben einzelne Bundesstaaten mit einer systematischen Politik der inneren Sicherheit begonnen (Sapori 2011). Zuerst haben konservative Gouverneure (São Paulo, Minas Gerais), dann aber auch weiter links angesiedelte Landeschefs (Rio de Janeiro, Pernambuco) die öffentliche Sicherheit als Herausforderung für die Politik entdeckt. Zur Verbesserung der inneren Sicherheit gehören an erster Stelle die Stärkung der Polizei durch Ausbildungsmaßnahmen, bessere Ausrüstung und eine Anhebung des Lohnniveaus, aber auch Sanktionen gegen Amtsmissbrauch. An zweiter Stelle wurden moderne Methoden der Verbrechensbekämpfung eingeführt, die die organisierte Kriminalität in Schranken halten können. Ein dritter Pfeiler der Politik der inneren Sicherheit, der im Rahmen der Befriedungspolitik (Unidade de Polícia Pacificadora, UPP) in Rio de Janeiro eine große Rolle spielt, ist die Rückgewinnung des Machtanspruchs des Staates in Stadtteilen, die über lange Zeit den Drogenbanden der Organisierten Kriminalität überlassen waren. Hier hat der Rechtsstaat Terrain zurückerobert und damit erst die Voraussetzungen für eine effektive Integration dieser Bevölkerungsschichten in den Rechtsstaat geschaffen. Aufgrund der Verbindungen zur Drogenbekämpfung und der länder­ übergreifenden organisierten Kriminalität wurde die innere Sicherheit jedoch

72

Bruno Wilhelm Speck

zunehmend auch als Herausforderung an die Bundesregierung begriffen. Bereits 1995 kam es zur Einrichtung einer Planungsabteilung zur Inneren Sicherheit im Justizministerium. Im Jahr 2000 wurde ein Bundesfonds eingerichtet, über den Länder und Gemeinden Projekte zur inneren Sicherheit finanzieren können. Auch der Gesetzgeber wurde aktiv. Das 2003 verabschiedete “Entwaffnungsgesetz” knüpfte den Waffenbesitz an den Besitz eines staatlichen Waffenscheins und die staatliche Registrierung der Waffe. Außerdem wurde der Zugang zu Waffen an ein Mindestalter von 25 Jahren geknüpft und auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt. Ein Waffenreferendum, das den Verkauf von Waffen und Munition im Land generell unter Verbot gestellt hätte, wurde jedoch im Jahr 2005 von 64 % der Bevölkerung abgelehnt. Die Stabilisierung der Mordraten ab 2003 und die unterschiedlichen Entwicklungen der Zahlen auf Landesebene weisen darauf hin, dass neben demographischen und sozioökonomischen Faktoren die Politik der inneren Sicherheit eine entscheidende Rolle spielt. So wurde die Mordrate in den Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo mit ursprünglich sehr hohem Gewaltpotential drastisch reduziert, wohingegen es in anderen Regionen im Nordosten und Norden zu einer erstaunlichen Zunahme der Gewalt kam (Grafik 5). Grafik 5: Mordraten in Brasilien und ausgewählten Regionen 60

60

50

50

40

40

30

30

20

20

10

10

0

0

Brasil

Pará

Bahia

Quelle: Waiselfisz 2011 (eigene Bearbeitung).

Rio de Janeiro

São Paulo

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

73

Der Staat als Quelle von Gewalt

Der brasilianische Staat kann die persönliche Integrität seiner Bürger nur bedingt garantieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die Polizei oft selbst zur Quelle von Ungleichheit und Gewalt wird. Der brasilianische Staat zeigte sich aus der Perspektive der Strafverfolgungsbehörden oft als Klassenstaat (Carvalho 1992). Die Polizei stellt für die Unterschicht oft eine Bedrohung dar. Sie behandelt Schwarze, Arbeitslose und Arme prinzipiell als Verdächtige. Bei Razzien werden Häuser in Armensiedlungen ohne richterliche Vollmacht durchsucht und Verdächtige systematisch misshandelt oder gefoltert. Die Polizei ist also für Arme eher eine Bedrohung als Beistand bei der Garantie von Menschen- und Bürgerrechten. Diese Erfahrung schlägt sich auch in jüngsten Umfragen nieder. Etwa jeder zehnte Brasilianer, der selbst die Polizei aufsuchte oder der in eine Polizeikontrolle kam, gibt an, mit Amtsmissbrauch konfrontiert gewesen zu sein. Entsprechend gering ist das allgemeine Vertrauen in die Polizei. Über 60 % der Bürger haben kein oder nur geringes Vertrauen in die Landespolizei. Nur 40 % haben starkes Vertrauen oder Vertrauen (Grafik 6). Grafik 6: Vertrauen der Brasilianer in die Polizei

Die Brasilianer vertrauen in... 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

6%

6%

31%

33%

41%

40%

21%

21%

11%

9%

40%

41%

Starkes Vertrauen 31%

31%

15%

15%

Quelle: IPEA 2012 (eigene Bearbeitung).

Vertrauen Schwaches Vertrauen Kein Vertrauen

74

Bruno Wilhelm Speck

Prozesstau bei den Gerichten

Eine weitere Dimension des Rechtsstaates in Brasilien bezieht sich auf die Rolle der Justiz. Die Gerichte sind die zentrale Entscheidungsinstanz für Rechtsstreitigkeiten, die auf anderem Wege nicht einvernehmlich geklärt werden können. Der Rechtsstaatsanspruch beinhaltet, dass über Rechtsansprüche unbesehen der gesellschaftlichen Macht der Betroffenen entschieden wird. Auch wo der Staat mit seinen Bürgern über die Auslegung von Rechten und Pflichten in Konflikt gerät, soll die Unabhängigkeit der Gerichte eine unparteiische Lösung sicherstellen. Die überlasteten brasilianischen Gerichte können diese Rolle derzeit nur sehr beschränkt ausfüllen. Zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien haben sich mit der Rolle von Staatsanwaltschaft und Gerichten nach der Verabschiedung der neuen Verfassung von 1988 beschäftigt (Arantes/Kerche 1999). Zum einen weisen diese Studien auf die zunehmende Einmischung der Justiz in die Politik hin. Zum anderen untersuchen sie aber auch die Kapazität der Gerichte, dem Bedarf von Bürgern, staatlichen Behörden oder anderen Rechtspersonen bei der Klärung von Rechtsstreitigkeiten nachzukommen. Letzterer Aspekt steht hier im Vordergrund. Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist in Brasilien vor allem Landessache. Sowohl die Richter der ers­ ten Instanz als auch die Landgerichte (Tribunais de Justiça) haben jedoch Schwierigkeiten, der wachsenden Nachfrage nachzukommen. Zahlen über die Kapazität und Leistung der Gerichte in Brasilien liegen erst für die letzten Jahre vor. Die Nachfrage nach Gerichtsentscheiden für Rechtsstreitigkeiten übersteigt bei weitem die Bearbeitungskapazität der Gerichte, was sich in einem wachsenden Prozesstau niederschlägt. So hat sich im Zeitraum von 2009 bis 2011 die jährliche Zahl neuer Prozesse von 17,7 Millionen auf 18,7 Millionen erhöht, während die Zahl der Entscheide bei 18,3 Millionen stagnierte (Grafik 7). Das Volumen der nicht abgeschlossenen Prozesse hat sich im selben Zeitraum von 48,3 Millionen auf 51,6 Millionen erhöht. Zu diesen strukturellen Engpässen kommt eine steigende Nachfrage an die Gerichte im Konflikt zwischen öffentlicher Hand und der Gesellschaft hinzu.

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

75

Grafik 7: Wachsender Prozesstau bei Gerichten, 2009 bis 2011 60.000.000 50.000.000

18.331.786

18.688.234

17.149.116

49.658.202 17.459.200

18.205.887

10.000.000

17.720.899

20.000.000

48.314.032

30.000.000

51.628.147

40.000.000

2009

2010

Altlasten

Neue Prozesse

2011 Urteile

Quelle: Conselho Nacional de Justiça, (Datenbasis Justiça em Números, eigene Bearbeitung).

Die brasilianische Justiz ist aus unterschiedlichen Gründen ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückt. Sowohl für die öffentliche Hand als auch für den Bürger sind die Gerichte ein wichtiges Vehikel zur Klärung von Rechtsansprüchen geworden. Die staatlichen Behörden greifen auf die Gerichte zurück, um die Rechtsordnung durchzusetzen und Übertretungen abzustrafen. Die Bürger ihrerseits haben den Weg über die Gerichte als einen weiteren Kanal der Durchsetzung von Rechtsansprüchen entdeckt, die andernfalls über politischen Druck durchgesetzt werden müss­ ten oder verfallen würden. Mehr und mehr ziehen staatliche Behörden vor Gericht, um beispielsweise ausstehende Steuern oder Abgaben einzuklagen oder Geldbußen für Umweltschäden zu verhängen. Alleine die Zahl der zivilrechtlichen Prozesse von Gemeinden, Ländern und Bund stieg zwischen 2009 und 2011 von 4,6 auf 5,9 Millionen Verfahren an. Im selben Zeitraum saß die öffentliche

76

Bruno Wilhelm Speck

Hand aber auch vermehrt auf der Anklagebank, wobei das Prozessvolumen zunächst geringer ist, in nur zwei Jahren jedoch von 1 Million auf 1,5 Millionen Prozesse anstieg. Dabei geht es zum Beispiel um das Einklagen von Rechten auf Versorgung mit Medikamenten oder die Klage gegen manipulierte Ausschreibungsverfahren. In diesem Zusammenhang kommt es jedoch auch zu paradoxen Entwicklungen. Experten weisen darauf hin, dass das Ausschöpfen aller Revisionsmittel durch den Staat trotz aussichtsloser Sachlage einer der Gründe für die wachsende Prozesslawine bei den Gerichten ist. Die öffentliche Hand ist also zum Teil selbst verantwortlich für die Überlastung der Gerichte, deren Kapazität sie durch Modernisierungsmaßnahmen und Neueinstellungen zu erweitern sucht. Damit sind jedoch auch die Strukturprobleme der Gerichte klar zu Tage getreten. Die Gründe für die Engpässe sind komplex. Die Prozessflut stieg an, obgleich die öffentliche Hand erhebliche Mehrinvestitionen in die Judikative tätigte. Der Anteil der Ausgaben für die Landgerichte stieg von durchschnittlich 4,9 % auf 5,3 % der Länderhaushalte an. Es wurde mehr Verwaltungspersonal eingestellt und mehr Richterstellen geschaffen. Da es aber an geeigneten fachlich ausgebildeten Kandidaten fehlt, sind derzeit nur vier von fünf Stellen besetzt. Juristen weisen auch immer wieder auf die brasilianische Prozessordnung hin, die eine zusätzliche Verzögerung von Entscheidungen erlaubt und die höheren Gerichte mit einer Lawine von Revisionsanträgen überrollt. Auch die Korruption von Richtern und Justizangestellten unterwandern oft die Rolle der Gerichte als Vehikel zur Klärung von Rechtsstreitigkeiten. Die Bekämpfung von Amtsmissbrauch und Kriminalität in der Oberschicht

Neben den Defiziten bei der Verwirklichung des Rechtsstaates in Brasilien bleibt zu klären, wie das politische System Brasiliens die Idee des Gemeinwohls gegen Missbrauch durch Privatinteressen verteidigt. Mitglieder der gesellschaftlichen Elite, die in die kriminelle Erwirtschaftung von Gewinnen verwickelt sind, entziehen sich immer noch mit relativer Leichtigkeit dem Arm des Gesetzes. Oft bestehen enge Verbindungen zwischen organisierter Kriminalität, Wirtschaft und Politik. In vielen Fällen wird das öffentliche Amt selbst instrumentalisiert im Dienste der kriminellen Wertschöpfung. In mehreren Fällen haben Kriminelle erfolgreich als Abgeordnete kandidiert,

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

77

um im Schutz parlamentarischer Immunität ihre Geschäfte weiterzuführen oder auszubauen. Der Schaden für das Gemeinwohl und für die Legitimität des Staates als Hüter des öffentlichen Interesses ist offensichtlich. Kontrolle und Strafe

Wie geht der brasilianische Staat mit diesen Phänomenen um? Auf der einen Seite gab es Anstrengungen von Seite der Regierung, bei der Kriminalitätsbekämpfung auch vor der Oberschicht keinen Halt zu machen. In diesem Zusammenhang spielt der Ausbau einer Rechnungsprüfungsbehörde Controladoria Geral da República (CGU) und der Bundespolizei eine entscheidende Rolle. Gerade unter der Regierung der Arbeiterpartei haben beide Institutionen in den vergangenen Jahren Anstrengungen unternommen zu zeigen, dass der Arm des Gesetzes auch vor white collar crime keinen Halt macht. Die Haushaltsausgaben für beide Organe sind im letzten Jahrzehnt bedeutend angehoben worden (Grafik 8). Grafik 8: Haushaltsausgaben für die Bundespolizei und Rechnungsprüfung (in Preisen von 2012) 8.000.000.000

800.000.000

7.000.000.000

700.000.000

6.000.000.000

600.000.000

5.000.000.000

500.000.000

4.000.000.000

400.000.000

3.000.000.000

300.000.000

2.000.000.000

200.000.000

1.000.000.000

100.000.000

0

0 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Jahresbudget der Bundespolizei

Jahresbudget der CGU

Quelle: Sistema Integrado de Administração Financeira do Governo Federal [SIAFI], . Der Autor dankt der Nichtregierungsorganisation Contas Abertas für die Hilfe beim Zugang zu diesen Daten (eigene Bearbeitung).

Die Bundespolizei hat in einer Serie zum Teil spektakulärer Untersuchungen zahlreiche kriminelle Netzwerke ausgehebelt, zu denen auch hochran-

78

Bruno Wilhelm Speck

gige Beamte, Politiker, Richter oder andere Mitglieder der politisch-gesellschaftlichen Elite gehörten. Bei den ersten Untersuchungen ging es vor allem um Drogenhandel und Schmuggel in den Grenzregionen im Amazonasgebiet und im Süden. Neben Drogenhändlern wurden auch mehrere Polizisten festgenommen. Die Gesamtzahl der Festnahmen belief sich im ersten Jahr auf 223, darunter fünf Polizisten. Auch die Politiker blieben nicht verschont. So wurden 2003 der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Roraima und weitere 56 Personen in vier Bundesstaaten wegen Unterschlagung und Missbrauchs öffentlicher Gelder festgenommen. In São Paulo traf es den Stadtverordneten Armando Melão, dem vorgeworfen wurde, Unternehmer erpresst zu haben. In einer weiteren Aktion noch im ersten Jahr stand ein Landesabgeordneter aus dem Bundesstaat Amazonas unter Verdacht, die Manipulation öffentlicher Ausschreibungen organisiert zu haben. 20 Personen wurden festgenommen. Der Abgeordnete entging der Festnahme, weil er parlamentarische Immunität genoss. Die Zahl der Festnahmen durch die Polizei stieg jährlich auf fast 3000 an (Grafik 9). Es kam auch zur Verhaftung von Staatsanwälten und Richtern. Die Bundespolizei hat sich durch diese Aktionen Ansehen und Respekt bei der Bevölkerung verschafft. Sie genießt heute die höchsten Vertrauensraten in der Bevölkerung (Grafik 6). In Kreisen von Politik und Wirtschaft machte sich jedoch zunehmend Kritik breit. Mit der Operation Satiagraha, die korrupte Verbindungen zwischen Banken und Politikern untersuchte, kam es zu einem offenen Konflikt innerhalb verschiedener Instanzen der Bundespolizei über Untersuchungsmethoden und die Notwendigkeit von Festnahmen von Verdächtigen. Der Bankier Daniel Dantas und der Unternehmer Najib Nahas waren 2008 unter dem Verdacht festgenommen worden, umfassende Schmiergeldzahlungen an hochstehende Politiker gezahlt zu haben. Dantas wurde in Folge richterlicher Anordnungen unterschiedlicher Instanz wiederholt festgenommen und wieder auf freien Fuß gesetzt. Auch der Kongress, die Regierung und das Oberste Bundesgericht hatten Teil an der Debatte. Zunächst ging es dabei um unterschiedliche Interpretationen zur Beweislage und Fluchtgefahr im Falle Dantas, im weiteren Sinne aber standen die Untersuchungsmethoden der Bundespolizei zur Debatte. Die Episode führte letztlich zu einer Ablösung und dann auch Verurteilung des verantwortlichen Kommissars, der die Untersuchung geleitet hatte. Langfristig läutete dieser Fall eine Trendwende in der Verbrechensbekämpfung durch die Bundespolizei ein. War noch in den ersten Jahren die

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

79

Zahl der Untersuchungen jährlich gewachsen, so kam es nun zu einer Stagnation der Zahl der neuen Fälle. Auch die Zahl der Festnahmen stagnierte zunächst und brach dann auf etwas mehr als die Hälfte des Niveaus von 2007 ein. Der Rückgang der Festnahmen zeigte sich besonders deutlich unter der Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff. Kam es noch zur Amtszeit Lulas (2003–2010) in 80 % der Untersuchungen zu Festnahmen, so ging diese Rate unter seiner Nachfolgerin (seit 2011) auf die Hälfte zurück (Grafik 9). Aus der vorherigen Grafik 8 geht auch hervor, dass die Haushaltsmittel für die Bundespolizei in dieser Zeit zurückgefahren wurden. Nach langen Jahren mit beträchtlichen Wachstumsraten stagnierte der Haushalt der Bundespolizei zwischen 2009 und 2010 und ging seitdem sogar zurück. Grafik 9: Untersuchungen und Verhaftungen durch die Bundespolizei 2917

100% 2673

90%

2663

3000

2734

2700

2457

2400

80% 2070

70% 60%

2100 1660

1407

50%

1500 1200

40% 30%

900

703

20% 10% 0%

1800

223 42 9

65

2003

2005

2004

Untersuchungsaktionen

188

178 2006

231

2007

Festnahmen

2008

283

2009

600 269

2010

257

2011

258

2012

300 0

Untersuchungen ohne Festnahmen (%)

Quelle: Departamento de Polícia Federal, (Datenbasis über Aktionen der Polizei, eigene Bearbeitung).

Die Bekämpfung der Kriminalität mit Verbindungen in die politische Elite ist aber nicht auf die Polizei beschränkt. Eine zweite Institution, die eine wichtige Rolle spielt ist die Controladoria Geral da União (CGU), die auf Kabinettsebene angesiedelte Innenrevision der Regierung. Nach dem Abbau der

80

Bruno Wilhelm Speck

Rechnungsprüfung noch unter der Regierung Collor de Mello (1990–92) hatte die Regierung Cardoso (1995–2002) zu Ende ihrer Amtszeit 2001 die CGU zur Untersuchung von Korruptionsfällen als direkt dem Präsidenten unterstelltes Organ eingerichtet. Im folgenden Jahr wurde der CGU dann die gesamte Innenrevision unterstellt und unter der Regierung Lula (2003– 2010) kam es zu einer personellen Stärkung der Behörde (Grafik 9). Die CGU ist nicht zu verwechseln mit dem Rechnungshof, der die Ausgaben aller Gewalten unabhängig prüft. Im Gegensatz dazu ist die Innenrevision dem Präsidenten unterstellt und der jeweilige Minister kann jederzeit ausgetauscht werden, was die Unabhängigkeit der Institution einschränkt. Der Ausbau der CGU unter der Regierung Lula schlug sich zunächst in den Haushaltszahlen nieder. Wie Grafik 8 deutlich macht, war der Anstieg der verfügbaren Hauthalsmittel sogar noch stärker als im Falle der Bundespolizei. Die CGU baute vor allem den Personalstand aus und verdoppelte die Zahl der Stellen von 2003 bis 2007. In allen Bundesstaaten wurden Außenstellen eingerichtet, die für die Rechnungsprüfung vor Ort zuständig sind. Mit der Stärkung der CGU kam es auch zu einer Intensivierung der Kontrollen und zu einer Zunahme der Sanktionen, die unter anderem an der Zahl der entlassenen Beamten festgemacht werden kann (Grafik 10). Grafik 10: Personeller Ausbau der Internen Rechnungsprüfung (CGU) 3000 2500 2000 1500

2181 1476

1643

242

289

2700 2665

2438

2227

2385

1797

1000 500

2389

234

331

400

347

390

482 523 471

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

0

1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0

Personalausstattung der CGU Aufgrund von Untersuchungen der CGU entlassene Staatsdiener

Quelle: Controladoria-Geral da União [CGU], (Jahresberichte 2003–2012, eigene Bearbeitung).

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

81

Die CGU hat ihre Tätigkeiten vor allem auf zwei Bereiche konzentriert. Zum einen prüft sie die Verwendung der Bundeszuschüsse in Ländern und Kommunen. Die Zuschüsse des Bundes machen einen erheblichen Teil der Landes- und Kommunalhaushalte aus. Viele Gemeinden in ärmeren Regionen sind praktisch vollständig von den Zuschüssen des Bundes abhängig. Die Kontrollen der CGU beziehen sich deshalb potenziell auf die gesamte Gemeindeverwaltung. Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Kontrolle der Bundesmittel rechtfertigte sich, weil es im Zusammenhang mit diesen Transferzahlungen immer wieder zu Unterschlagungen, Missbrauch und Korruption gekommen war. Die Auswahl der zu kontrollierenden Gemeinden erfolgte nach einem Zufallsprinzip und war damit politischer Einflussnahme entzogen. Erfolge stellten sich schnell ein, weil die Verwaltungsstrukturen in den kleineren Kommunen sehr schwach sind und die Kontrollen durch Rechnungshöfe nicht greifen. Für die Regierung Lula war der Ausbau der CGU die Einlösung eines wichtigen Wahlversprechens. Nicht zuletzt war die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) mit dem Motto angetreten, Korruption zu bekämpfen und mehr Ethik in die Politik zu bringen. Gleichzeitig bestand jedoch die Gefahr, durch die Aufdeckung von Korruption in der Bundesverwaltung das Ansehen der neuen Regierung zu schädigen. Mit der Konzentration der Kontrolle auf die Länder- und Gemeindefinanzen konnte die Regierung auf dem Gebiet der Korruptionskontrolle Initiative zeigen, ohne Gefahr zu laufen, Skandale auf Bundesebene aufzudecken. Der zweite Schwerpunkt der CGU war die Schaffung von mehr Transparenz über die Verwendung öffentlicher Mittel durch die verschiedenen Bundesministerien. Hier enthielt sich die CGU wohlweislich direkter Kontrollen und beschränkte sich auf den Aufbau eines Internetportals, über das die Bundesausgaben im Detail und zeitnah vom Bürger mitverfolgt werden können. Auf indirektem Weg zeigen auch diese Maßnahmen zur Stärkung der Transparenz Wirkung. So geriet der Minister für Regionalentwicklung Geddel Vieira Anfang 2010 unter Druck, weil er die Ausgaben zum Katastrophenschutz (ca. 200 Millionen Euro) zur Hälfte seinem Bundesstaat und innerhalb diesem zu 90 % den von seiner Partei regierten Kommunen zukommen lassen hatte. Der Minister blieb im Amt, verlor aber die Gouverneurswahlen in Bahia im selben Jahr. Dieser Versuch der Förderung der eigenen politischen Karriere unter Nutzung von Bundesmitteln wurde von der Nichtregierungsorganisation Contas Abertas unter Nutzung des neuen Transparenzportals aufgedeckt und von der Presse aufgegriffen.

82

Bruno Wilhelm Speck

Die Transparenz und die Untersuchung von Missständen sind wichtige Eckpunkte der Bekämpfung von Amtsmissbrauch und Korruption durch die CGU. Hinzu kommen zahlreiche Maßnahmen, um die institutionellen Kontrollen zu stärken. So wurden in vielen Behörden Ouvidorias eingesetzt, d. h. Bürgerbeauftragte, die Beschwerden über Verzögerungen, Willkür oder Amtsmissbrauch bei der Bearbeitung von Anträgen untersuchen. Auch die Kontrolle durch die Rechnungshöfe im Bund und in den Ländern wurde modernisiert. Ein Bundesgesetz, das bereits 2000 erlassen worden war, um die verantwortliche Haushaltsführung zu stärken, wurde 2009 erweitert, um die Transparenz der Haushalte auch auf Länder- und Gemeindeebene durchzusetzen. Schwachpunkt Wahlkampf- und Parteienfinanzierung

Wenn auf der einen Seite die administrativen Kontrollmechanismen gestärkt wurden, so sind im Bereich der politischen Kontrollen die Erfolge bisher ausgeblieben. Brasilien hat durchaus Fortschritte bei der Modernisierung des Wahlprozesses erreicht. Durch die Einführung der Stimmabgabe an elektronischen Wahlterminals (seit 2000 flächendeckend) wurde der Prozess der Auszählung, früher ein notorischer Ansatzpunkt für Manipulationen, entscheidend verbessert. Es kam seither zu keinen Skandalen, die Brasilianer erfahren bereits wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale die Auszahlungsergebnisse und setzen heute großes Vertrauen in den Wahlprozess. Die Versuche, über gesetzliche Beschränkungen Kandidaten mit zweifelhaftem Lebenslauf von der Wahl auszuschließen, hatten jedoch bisher nur verhaltenen Erfolg. Einer der strukturellen Gründe für die häufigen Verstrickungen von Abgeordneten in Skandale wird im besonderen Verhältnis der Legislative zur Regierung gesehen. Das brasilianische Regime des Koalitionspräsidentialismus basiert auf der Kombination zweier entgegengesetzter Kräfte (Abranches 1988). Zum einen erschwert das fragmentierte Parteiensys­ tem die Herstellung einer soliden Regierungsbasis im Kongress. Da Präsident und Kongress in getrennten Wahlverfahren und sogar basierend auf verschiedenen Wahlkoalitionen gewählt werden, kann es dazu kommen, dass der direkt gewählte Regierungschef unmittelbar nach der Wahl über keine Mehrheit im Kongress verfügt. Um Regierungsmehrheiten zu schmieden, werden weitere Parteien in die Regierungskoalition einbezo-

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

83

gen. Auch während der Legislaturperiode kommt es oft zu Änderungen in der Zusammensetzung der Regierungsparteien. Die Mechanismen, die diese Koa­litionen zusammenhalten, sind die Vergabe von Ministerien und Ämtern an kleinere politische Parteien oder die Freigabe von Haushaltsmitteln, die die Wahlkreise bestimmter Parlamentarier begünstigen. Auch direkte Bestechung von Parlamentariern kann eine – wenn auch labile – Basis für politische Unterstützung sein. Konnte der Koalitionspräsidentialismus auf der einen Seite den Regierungen seit der Rückkehr zur Demokratie stabile Mehrheiten garantieren (mit Ausnahme der Minderheitsregierung Collor), so bietet er auf der anderen Seite Schwachstellen, die die Integrität der politischen Akteure untergraben. Wo die Unterstützung der Regierung vorwiegend auf dem materiellen Vorteil oder dem Wiederwahlinteresse der Parlamentarier beruht und die Beteiligung an der Politikgestaltung zweitrangig ist, kann politische Unterstützung letztlich auch mit Geld erkauft werden. Dies geschah beim Mensalão-Skandal (siehe unten), bei dem der ersten Regierung Lula vorgeworfen wurde, die Parlamentarier kleinerer Parteien in der Regierungskoalition mit regelmäßigen Zahlungen versorgt und damit politisches Wohlverhalten garantiert zu haben. Die Regierbarkeit wird dabei entweder direkt zur Quelle von Korruption oder sie unterwandert schrittweise die Integrität der Abgeordneten. Eine weitere Belastung für die Integrität des politischen Systems ist die Wahlkampf- und Parteienfinanzierung. Die enge Verbindung zwischen Volksvertretern und den Unternehmen, die für die Wahlfinanzierung verantwortlich sind, wird immer wieder als tiefere Ursache für Begünstigungen von Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen, staatlichen Finanzierungskrediten oder Steuererlassen genannt. Während die politischen Parteien etwa die Hälfte ihrer Ausgaben durch staatliche Zuschüsse bestreiten, werden die Wahlen praktisch ausschließlich durch Unternehmensspenden finanziert. Dies ist die Folge einer Neuregelung der Wahlfinanzierung aus dem Jahr 1997, die neben staatlicher Parteienfinanzierung und kostenloser Werbezeit in Radio und Fernsehen den Parteien und Kandidaten erlaubt, praktisch unbegrenzt Spenden von Bürgern und Unternehmen zu empfangen. Die einzige Auflage ist, diese Spenden nach der Wahl detailliert beim Wahlgericht (Tribunal Superior Eleitoral, TSE) zu registrieren. Diese Informationen sind öffentlich. Seit 2002 können sie von Bürgern, Presse und interessierten Organisationen im Internet abgefragt werden.

84

Bruno Wilhelm Speck Grafik 11: Spendenaufkommen bei Wahlen R$ 45

R$ 40

R$ 40

R$ 6.000.000.000,00 R$ 5.000.000.000,00

R$ 35 R$ 27

R$ 30 R$ 22

R$ 25 R$ 18

R$ 20 R$ 15

R$ 40

R$ 13

R$ 10

R$ 4.000.000.000,00 R$ 3.000.000.000,00 R$ 2.000.000.000,00 R$ 1.000.000.000,00

R$ 5

R$ 0,00

R$ 0

Gesamtspendenvolumen

Spendenvolumen pro Wähler in Preisen 2012

Quelle: Datenbasis Tribunal Superior Eleitoral [TSE], (eigene Bearbeitung).

Auch wenn es im Einzelnen schwer ist, den Einfluss von Unternehmensspenden auf politische Entscheidungen nachzuweisen, haben doch die Spenden einen erheblichen Einfluss auf die Politik. Das Ausmaß des finanziellen Engagements der Unternehmen in der Politik ist beeindru­ ckend. Das Gesamtvolumen der Spenden ist seit 2002 stetig angestiegen. Das nominale Spendenvolumen hat sich von 0,8 Milliarden Reais im Jahr 2002 in nur einer Dekade auf 5,9 Milliarden Reais im Jahr 2012 versiebenfacht. Sicher drücken diese Zahlen nicht die ganze Wahrheit aus. Heute kommen die Parteien der Offenlegungspflicht eher nach als noch in früheren Jahren, was zur einer Unterschätzung der weiter zurückliegenden Zahlen führen kann. In konstanten Preisen und auf die ansteigende Wählerschaft umgelegt, hat sich das Volumen der Wahlfinanzierung immerhin von 13 Reais auf 40 Reais pro Wähler verdreifacht (Grafik 11). Trotz möglicher Dunkelziffern (caixa dois) bieten diese Zahlen doch

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

85

einen tiefen Einblick in die Struktur der Wahlfinanzierung in Brasilien (Grafik 12). Bei Gemeindewahlen (2004, 2008, 2012) halten sich Unternehmensspenden, Personenspenden und Eigenfinanzierung etwa die Waage; bei den Wahlen auf Landes- und Bundesebene überwiegen jedoch erstere. Die Unternehmen sind für drei Viertel des Gesamtvolumens der Wahlfinanzierung verantwortlich. Die größten Spender sind Banken und Bauunternehmen, die in Einzelfällen bis zu 100 Millionen Reais an verschiedene Parteien und Kandidaten spendeten. Die Kandidaten wiederum sind kaum in der Lage, ihre Einnahmen zu diversifizieren. Viele Politiker erhalten einen Großteil der Spenden von wenigen Unternehmen. Dies schafft Abhängigkeiten, die im politischen Alltag bedient werden müssen. Grafik 11: Zusammensetzung der Wahlfinanzierung

100% 90% 80% 70% 60%

10% 0%

14% 2002

75%

18%

18% 27% 2004

Eigenfinanzierung

45%

37%

34%

40% 20%

67%

68%

50% 30%

35%

39%

15% 2006

Personenspenden

27%

31% 15% 11%

2008

2010

24% 2012

Unternehmensspenden

Quelle: Datenbasis Tribunal Superior Eleitoral [TSE], (eigene Bearbeitung).

Bisherige Versuche, das System der Parteien- und Wahlkampffinanzierung zu ändern, sind gescheitert. Das hängt zum einen mit dem Widerstand von konservativen Parteien zusammen. Auf der anderen Seite ist aber auch bei der Arbeiterpartei PT der Wille zur großen Kehrtwende dahingeschwun-

86

Bruno Wilhelm Speck

den, seit die Partei im Bund und auch in verschiedenen Ländern an der Regierung ist. Die Unternehmensspenden, die sich opportunistisch nach der jeweiligen Regierungsfahne richten, begünstigen nun auch die Arbeiterpartei und die anderen Regierungsparteien. Ein Kurswechsel führt hier zu unerwünschten Unsicherheiten für eine ansonsten von der Bevölkerung positiv bewertete Regierung. Ein weiteres Charakteristikum der politischen Landschaft, das auf Kosten der Sorge um das Gemeinwohl geht, ist die Schwächung der politischen Opposition. Auch hier zeigt der Koalitionspräsidentialismus Folgen. Da die derzeitige Regierungsmehrheit sehr breit ist und kritische Stimmen durch die Besetzung von Stellen oder die Freigabe von Geldern beschwichtigt werden können, wird die Kontrollfunktion des Kongresses geschwächt. Die Anhörung von Ministern, die Einsetzung parlamentarischer Untersuchungskommissionen oder die Abstrafung von Parlamentariern, die in Skandale verwickelt waren, werden damit unwahrscheinlich. Auch auf Länderebene kann sich systematische Opposition gegen die Regierung kaum bilden (Speck/Bizzarro 2012). Die Aufarbeitung des Mensalão-Skandals ist in dieser Hinsicht symbolträchtig. Zum Ende der ersten Amtszeit von Präsident Lula kam es zur Aufdeckung eines Skandals durch einen Politiker der Regierungsbasis (Roberto Jefferson), der 2005 öffentlich behauptete, regelmäßige Zahlungen an Parlamentarier aus dem eigenen Lager sicherten der Regierung die notwendige Unterstützung bei wichtigen Abstimmungen. Es folgten Untersuchungen durch den Kongress, die Polizei und die Staatsanwaltschaft. Nach diesen Untersuchungen gibt es über die Herkunft, Vermittler und Empfänger des Geldes nur wenig Zweifel. Zwischen 2003 und 2004 wurden insgesamt 55 Millionen Reais mobilisiert, die in monatlichen Zahlungen an Parlamentarier flossen. Das Geld kam von Unternehmen, die sich über Werbeverträge und Finanzdienstleistungen für die Regierung schadlos hielten. Bei der operationellen Umsetzung hatten der Unternehmer Marcos Valério und der Finanzchef der Arbeiterpartei, Delúbio Soares, eine zentrale Rolle gespielt. Die Parlamenta­ rier hoben das Geld entweder selbst oder über Dritte von der Banco Rural in bar ab. Im Hinblick auf die juristische Auslegung dieser ‘Tauschgeschäfte’ kam es zu unterschiedlichen Meinungen. Während die Anklage auf ein großangelegtes Schema des Stimmenkaufs plädierte und damit den Drahtziehern in der Regierung (an vorderster Stelle José Dirceu, dem wichtig-

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

87

sten Minister der Regierung Lula) aktive Bestechung und den Parlamentariern Bestechlichkeit vorwarf, argumentierten die Verteidiger, dass es sich schlicht um nicht registrierte Gelder zur Finanzierung von Wahlkampf und Parteien gehandelt habe. Die strafrechtlichen Unterschiede zwischen beiden Varianten sind groß. Auf Korruption und Bildung einer kriminellen Vereinigung steht Freiheitsentzug, während Fehler bei der Offenlegung von Wahlfinanzen mit einer schlichten Nachbesserung der Informationen und einer Geldbuße beglichen werden können. In Folge der Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission im Jahr 2005 und nachfolgender Verfahren vor der Ethikkommission des Kongresses 2005/2006 kam es nur in drei Fällen zur Aberkennung des Mandats durch das Parlament (José Dirceu, Roberto Jefferson und Pedro Correia). Der Mandatsverlust ging einher mit der Aberkennung der politischen Rechte für zehn Jahre. Vier Parlamentarier legten schon im Vorfeld der Untersuchungen ihr Amt nieder und entzogen sich damit weiteren Untersuchungen (Paulo Rocha, José Borba , Valdemar Costa Neto und Carlos Rodrigues). Sie nahmen den Nachteil des Mandatsverlusts und eines indirekten Schuldeingeständnisses in Kauf, um bei den anstehenden Wahlen wieder antreten zu können. Zwölf weitere Parlamentarier wurden von ihren Kollegen freigesprochen. Diese Bilanz weist auf eine insgesamt schwache Rolle des Kongresses beim Abstrafen von Parlamentariern hin. Vor diesem Hintergrund erhielt der Prozess, der 2012 vor dem obers­ ten Bundesgerichtshof Supremo Tribunal Federal (STF) stattfand, eine große Bedeutung. Der Generalbundesanwalt hatte gegen 40 Beteiligte im Mensalão-Skandal ermittelt und in 38 Fällen Anklage erhoben wegen Geldwäsche, Devisenschwindel, Unterschlagung, Misswirtschaft sowie aktiver und passiver Korruption. Der STF ließ die Klage gegen 37 Beteiligte zu, sprach 12 frei und verurteilte 25 der Angeklagten, viele zu hohen Gefängnisstrafen. Roberto Jefferson, der den Skandal öffentlich gemacht hatte, wurde zu sieben Jahren Freiheitsentzug gerurteilt, Delúbio Soares, der Schatzmeister der PT, zu acht Jahren, José Dirceu zu 10 Jahren, Katia Rabello, Bankerin, zu 16 Jahren, und der Publizist Marcos Valerio zu 40 Jahren. Der Prozess gilt als Markstein in der Geschichte der Verurteilung von Mitgliedern der politischen Elite. Der Vollstreckung der Urteile stehen jedoch noch verschiedene Revisionsmittel im Wege, die von den Angeklagten in vollem Ausmaß ausgeschöpft werden (Stand Juni 2013). Die Verurteilung bringt auch noch einmal den Kontrast zur laxen Handhabung des Kongresses hinsichtlich der Vergehen vieler Parlamen-

88

Bruno Wilhelm Speck

tarier zum Ausdruck. Vier Abgeordnete, alle Mitglieder der Regierungsbasis des 2010 gewählten Kongresses, sitzen auch nach der Verurteilung weiterhin im Kongress und leiten wichtige Kommissionen. Kongress und Oberstes Gericht streiten sich derzeit über die letztgültige Instanz in der Entscheidung über den Mandatsverlust und die Verhaftung der Abgeordneten. Der Kongress besteht darauf, dass diese Entscheidung letztlich ihm selbst unterliegt. Es könnte sein, dass die Legislative einen Phyrruskrieg erzielt: die Abgeordneten bleiben bis zum Ende der Mandatszeit im Amt, während das Ansehen des Kongresses in der Bevölkerung weiter sinkt und das Oberste Bundesgericht als einzige Instanz dasteht, die die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezwungen hat. Fazit

Während Brasilien auf dem Weg zur Konsolidierung einer Wahldemokratie große Fortschritte gemacht hat und in vielen Bereichen mit neuen Formen der Bürgerbeteiligung experimentiert, steht das Land in Sachen Garantie rechtsstaatlicher Prinzipien und Schutz des Gemeinwohls noch vor großen Herausforderungen. Die Bundesregierung und die Länder haben erst jetzt begonnen, die Herausforderung eines anhaltend hohen tials und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität Gewaltpoten­ ernst zu nehmen. Dazu wurden zusätzliche Mittel für den Aus- und Umbau und die Modernisierung verschiedener Polizeieinheiten bereitgestellt. Zudem hat eine sys­tematische Debatte über verschiedene Konzepte zur Politik der inneren Sicherheit begonnen. Erfolge dieser Politik zeichnen sich bereits ab, sind aber noch auf einzelne Bundesstaaten begrenzt. Die Gewalt, die von der schlecht ausgebildeten Polizei ausgeht, bleibt weiterhin eine große Herausforderung. Sie schafft Ungleichheit, denn sie trifft die Mittel- und Oberklasse nur bedingt. Während sich diese gegen eventuellen Missbrauch über den Amtsweg oder die Öffentlichkeit zur Wehr setzen kann, wird es in den ärmeren Bevölkerungsschichten noch lange dauern, Vertrauen in die Polizei herzustellen. Eine weitere Quelle wachsender Ungleichheit ist die Privatisierung von Sicherheitsleistungen. Private Sicherheitsdienste haben sich zu einem bedeutenden Dienstleis­tungsgewerbe entwickelt. Die fehlenden Rechtsstaatsgarantien graben so eine tiefe neue Kluft in die brasilianische Gesellschaft, die gegenwärtig schrittweise die Erblast ökonomischer Ungleichheiten zu überwinden sucht.

Rechtsstaat und Gemeinwohl in Brasilien

89

Im Hinblick auf die Überlastung der Gerichte als Instanzen zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen bleibt die Bilanz bisher düster. Die Einrichtung des Conselho Nacional de Justiça als Aufsichtsorgan hat einige Missstände behoben, insgesamt aber bisher nur ein klareres Bild über die Diskrepanz zwischen der Nachfrage nach gerichtlichen Lösungen und der begrenzten Kapazität der Gerichte zur Abarbeitung der Prozesse geliefert. Es ist noch nicht abzusehen, wann der Rechtsweg um Grundrechte und soziale Rechte vor Gericht wirksam einzufordern auch armen Brasilianern offen stehen wird. Der Schutz des Gemeinwohls gegen Mitglieder der politischen oder gesellschaftliche Elite, die auf kriminellem Wege Gewinne erwirtschaften und öffentliche Ämter im Eigeninteresse missbrauchen, hat Fortschritte gemacht. Der Ausbau der CGU und der Bundespolizei hat dazu entscheidend beigetragen, wenn auch in einer umfassenden Bilanz andere Institutionen und Initiativen Erwähnung finden müssten. Die Verfolgung von Korrup­ tion und white collor crime haben das eherne Gesetz gebrochen, dass der Arm des Gesetzes die Mitglieder höherer Gesellschaftskreise nicht erreichen könne. Auch der Oberste Gerichtshof STF hat mit der Verurteilung der Beteiligten im Mensalão-Skandal ein Zeichen in derselben Richtung gesetzt. Es ist jedoch einfacher, Missstände aufzudecken, als Abhilfe zu schaffen. Der Aufbau integerer Kommunalverwaltungen durch Kontrolle von oben zeigt bisher nur begrenzte Erfolge. Langfristige Veränderungen erfordern eine Stärkung der Verwaltung, aber auch mehr politische Opposition vor Ort. Die Stärkung des republikanischen Gedankens von unten wird nicht an politischen Parteien, Gewerkschaften und Verbänden, aber auch einer kritischen Presse und Zivilgesellschaft vorbeikommen. Die politische Elite tut sich ihrerseits noch schwer mit dem Abtragen von Altlasten und der Behebung struktureller Probleme. Die Herstellung von mehr Transparenz im Bereich der Politikfinanzierung hat sich nicht als ausreichend erwiesen, um gefährliche Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft zu unterbinden. Der Einfluss einzelner Großunternehmen auf Regierungen und Abgeordnete ist lediglich ins Licht der Öffentlichkeit gerückt worden. Dies scheint jedoch nur der halbe Weg. Falls es nicht zur Reform der Parteien- und Wahlkampffinanzierung kommt, wird der Einfluss der Unternehmen auf die Entscheidungen der Politiker das Vertrauen in die Politik weiter untergraben. Schließlich ist auch darauf zu verweisen dass die Straßenproteste, die im Juni 2012 in São Paulo (wärend der Verfertigung dieses Manuskripts)

90

Bruno Wilhelm Speck

ihren Ausgang nahmen, erst vor dem Hindergrund scharfer Polizeirepression gegen Demonstranten eskalierten und in eine nationale Protestwelle mündeten. Die breite Zustimmung zu und Teilnahme der Bürger an den Protesten kann als Einforderung rechtsstaatskonformen Verhaltens der Polizeikräfte und die Respektierung des Demonstrationsrechts gelesen werden.

Literaturverzeichnis Abranches, Sérgio Henrique (1988): “O presidencialismo de coalizão: o dilema institucional brasileiro”. In: Dados, 31, 1, 5 –33. Arantes, Rogério Bastos/Kerche, Fábio (1999): “Judiciário e democracia no Brasil”. In: Novos Estudos CEBRAP, 54, 27–41. Carvalho, José Murilo de (1992): “Interesses contra a cidadania”. In: DaMatta, Roberto et al. (Hg.): Brasileiro: cidadão? São Paulo: Cultura Editores Associados, 87–125. IPEA [Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada] (2012): “Sistema de Indicadores de Percepção Social SIPS”, Governo Federal, Brasília. O’Donnell, Guillermo (1998): Horizontal Accountability and New Polyarchies. Notre Dame: The Helen Kellogg Institute for International Studies (Working Paper 253). Paixão, Antônio Luiz (1988): “Crime, controle social e consolidação da democracia: As metáforas da cidadania” In: Wanderley Reis, Fabio/O’Donnell, Guillermo (Hg.): A democracia no Brasil. Dilemas e perspectivas. São Paulo: Vértice, 168–299. Sapori, Luis Flávio (2011): “A segurança pública no Brasil”. In: Em Debate (Belo Horizonte), 3, 1, 11–15. Speck, Bruno Wilhelm/Bizzarro Neto, Fernando Augusto (2012): “A ‘força’ das oposições nas Assembleias Legislativas Brasileiras”. In: Em Debate (Belo Horizonte), 4, 1, 11–19. Waiselfisz, Julio Jacobo (2011): Mapa da violência 2012. Os novos padrões da violência homicida no Brasil. São Paulo: Instituto Sangari. — (2012): Mapa da violência 2012. A cor dos homicídios no Brasil. Rio de Janeiro: CEBELA, FLACSO/Brasília: SEPPIR/PR.

Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik Claudia Zilla

Lateinamerika ist im weltweiten Vergleich die Region mit der stärksten Ausprägung sozialer Ungleichheit. Die durchschnittliche Armutsrate in der Region ist zwar nicht die höchste der Welt, jedoch viel zu hoch angesichts des erreichten Entwicklungsniveaus und des Einkommens pro Kopf. Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts wurde allerdings der Trend zunehmender sozialer Exklusion der 1990er Jahre umgekehrt. Armut und soziale Ungleichheit konnten dank hoher Wachstumsraten und der Steigerung der Sozialausgaben signifikant verringert werden. Ähnliche Entwicklungen sind auch in Brasilien zu beobachten. In diesem Sinne stellt das Land keine Ausnahme im regionalen Kontext dar. Allerdings lässt die Kombination von vier Merkmalen Brasilien zu einem besonders erfolgreichen Fall werden. Erstens gehörte Brasilien traditionell zur Gruppe der Staaten mit der größten sozialen Ungleichheit in der Region, so dass die Ausgangslage besonders kritisch war. Zweitens verzeichnete Brasilien zwischen 2003 und 2013 nur moderate Wirtschaftswachstumsraten, die unterhalb des lateinamerikanischen Durschnitts lagen. So war ein wichtiger fördernder Faktor in Brasilien nicht so günstig ausgeprägt wie in anderen Volkswirtschaften auf dem Subkontinent. Dennoch konnte Brasilien drittens in diesem Zeitraum herausragende Erfolge bei der Reduzierung der Armut und der sozialen Ungleichheit erzielen, welche die Leistungen der übrigen Länder übertrafen. Viertens schließlich setzte diese positive soziale Entwicklung in Brasilien bereits Ende der 1990er Jahre und damit früher als in den meisten lateinamerikanischen Staaten ein. “Wachstum mit Inklusion” heißt die Formel, die ein Novum in der sozioökonomischen Geschichte Brasiliens darstellt und für welche die Regierungen von Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2010) und Dilma Rousseff (seit 2011), beide von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT), nicht nur im Inland, sondern auch in Lateinamerika und weltweit große Anerkennung erhalten. Brasilien wurde von einem Entwicklungsland zu einer “Entwicklungsmacht”, die ihre entwicklungspolitische Expertise im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit als emerging donor sogar außerhalb der nationalen Grenzen verwertet (Zilla/Harig 2012). Brasilien gilt heute als eine Demokratie – die drittgrößte der Welt –, in der mit einer

92

Claudia Zilla

zielgerichteten Sozialpolitik die sozioökonomische Teilhabe der Bevölkerung stark ausgebaut werden konnte. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit den brasilianischen sozialen Errungenschaften des letzten Jahrzehnts, mit den relevantesten der dafür verantwortlichen Faktoren sowie mit den Defiziten und He­ rausforderungen, die auf dem Weg zu einer Industriegesellschaft für das südamerikanische Land weiterhin bestehen. Dabei wird jeweils einleitend der lateinamerikanische Kontext dargestellt, zu dem Brasilien gehört, aus dem das Land aber auch herausragt. Ausgeklammert werden die nationalen und internationalen Aspekte, die das Wirtschaftswachstum ermöglichten, sowie die parteipolitischen Kräfteverhältnisse und Entscheidungen, die der umgesetzten Sozialpolitik zugrunde liegen. Diese Dimensionen werden in anderen Beiträgen dieses Bandes behandelt. Soziale Errungenschaften Lateinamerikas Erfolge

Im Zentrum des Entwicklungsdiskurses der 1990er Jahre in Lateinamerika standen zwei Überzeugungen. Zum einen ging es um den Glauben an die Notwendigkeit der Sequenz “zunächst Wirtschaftswachstum, dann Umverteilung”. Damit verbunden war zum anderen die Erwartung oder Hoffnung, dass Umverteilung überwiegend durch den trickle-downeffect, also das (natürliche) Durchsickern von Wohlstand in die unteren Schichten der Gesellschaft erfolgen würde oder sollte (Zilla 2012: 46f.). Ein ‘minimalistisches’ Rollenverständnis des Staates setzte sich durch: Er solle zwar (zumeist durch eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik) die für die ökonomische Entwicklung notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, sich aber wenig regulierend bzw. sozialpolitisch ‘sparsam’ verhalten. Im Kontext des Washington Consensus, also des Maßnahmenbündels, das unter anderem Wechselkurskorrekturen, Fiskaldisziplin, Kürzungen der Sozialausgaben, eine Liberalisierung der Handelspolitik, die Deregulierung der Märkte, die Privatisierung von Staatsunternehmen und den Abbau von Subventionen umfasste, wurde der Staat verkleinert und zog sich aus ökonomischen und sozialen Bereichen zurück. Allerdings ging das lateinamerikanische Wirtschaftswachstum der 1990er Jahre in den meisten Ländern mit einer Steigerung der sozialen Ungleichheit einher.

Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik

93

Diese kritische Korrelation änderte sich erst ab 1998 und wandelte sich ab 2002 definitiv zu einer günstigen; Wachstum fiel fortan mit einer Verringerung der sozialen Ungleichheit zusammen (Gasparini/Cruces 2013: 54). Durch die analytische Isolierung der Faktoren Wirtschaftswachstum und Umverteilung kann ihre jeweilige Auswirkung auf die Armutsbekämpfung ermittelt werden. Während in den 1990er Jahren das Wirtschaftswachstum fünf Prozent der Reduzierung und die (regressive) Umverteilung zwei Prozent der Steigerung der Armut erklärten, führten in den 2000er Jahren sowohl das Wirtschaftswachstum (sechs Prozent), als auch die (progressive) Umverteilung (vier Prozent) zu einem Rückgang der Armutsrate (Gasparini/Cruces 2013: 55). Brasiliens Leistungen

Im lateinamerikanischen Kontext avancierte Brasilien in der letzten Dekade zum Musterbeispiel für die Förderung einer sozial inklusiven und mobilen Gesellschaft. Obwohl diese Leistung zumeist den PT-Regierungen gänzlich zugeschrieben wird, setzte die Verbesserung der sozioökonomischen Indikatoren bereits nach der Einführung des Plano Real im Jahr 1994 ein, unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso (1995–2002) von der Partei der Brasilianischen Sozialdemokratie (Partido da Social Democracia Brasileira, PSDB). Spürbare Resultate der Währungsreform und der begleitenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die nach dem Machtwechsel 2003 von den darauffolgenden Regierungen beibehalten wurden, waren unter anderem die Bekämpfung der Hyperinflation und die Stabilisierung der Währung. Auch viele der positiven Entwicklungen der 2000er Jahre, wie der Anstieg der Exporte und somit des Handelsbilanzüberschusses, der ausländischen Direktinvestitionen, der Währungsreserven, der inländischen Bankkredite sowie niedrige Zinsen und geringe Arbeitslosigkeit, sind zum Teil als Folgen von Entscheidungen zu sehen, die zu früheren Zeitpunkten getroffen wurden. Zusammen mit einer aktiveren Sozialpolitik führten diese zu einer erheblichen sozioökonomischen Verbesserung im Lande (Trebat 2013: 130). So konnte zwischen der Einführung des Real 1994 und 2010 die Armutsrate um 67 Prozent verringert werden (Neri 2011: 27). Aber auch die Diskrepanz zwischen Armen und Reichen ist in Brasilien kleiner geworden.

94

Claudia Zilla

Armut

Rund 197 Millionen Menschen leben in Brasilien. Mit einem Bruttoinlands­ einkommen (BIP) pro Kopf von 10.720 US-Dollar ist es ein Land oberen mittleren Einkommens (Weltbank 2011). Nach Daten der Comisión Económica para América Latina (CEPALSTAT 2013) ging der Anteil der in Armut lebenden Menschen von 38,7 Prozent im Jahr 2003 auf 24,9 Prozent im Jahr 2009 zurück. Bei der extremen Armut sank der Wert von 13,9 auf 7,0 Prozent. Auch die Arbeitslosigkeit konnte zwischen 2003 und 2012 signifikant reduziert werden, von 12,3 auf 5,5 Prozent (CEPALSTAT 2013). Der Anstieg der Beschäftigung ging mit einer zunehmenden Formalisierung des Arbeitsmarktes einher. Dies bedeutet eine Qualitätssteigerung der Arbeit bzw. der Arbeitsplätze, die nun vom Arbeitsrecht und der sozialen Sicherung erfasst werden. Zur Armutsbekämpfung trug aber nicht nur das Wirtschaftswachstum bzw. die niedrigere Arbeitslosigkeit, sondern auch die Verringerung der Ungleichheit bei. Ungleichheit

Brasilien verfügt traditionell über einen wenig ehrenhaften Ruf als eine sehr ungerechte Gesellschaft. Der brasilianische Gini-Koeffizient, also jener Index, der die Gleichverteilung (= 0) bzw. die Ungleichverteilung (= 1) des Einkommens misst, hat bisweilen weltweite Rekordwerte erreicht (Lustig/ López-Calva/Ortiz-Juárez 2012: 6). Nachdem dieser in den 1970er und 1980er Jahren zunahm und sich in den 1990er Jahren kaum veränderte, begann er ab 1998 und noch stärker ab 2002 zurückzugehen. Im Zeitraum 2001–2011 konnte der Gini-Koeffizient von 0,639 auf 0,559 reduziert werden. Dies stellt eine erhebliche Verringerung dar, die in der Welt ihresgleichen sucht. Damit hat Brasilien aufgehört, “Champion der Ungleichheit” in Lateinamerika zu sein. Der Gini-Koeffizient Brasiliens ist heute jedoch immer noch weit entfernt vom Durchschnitt der Länder der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD), der bei 0,31 liegt. Die Einkommensschere schließt sich, wenn das Einkommen der ärmeren Zehntel der Gesellschaft schneller ansteigt als das der reicheren. Das bedeutet Wachstum zugunsten der Armen (crescimento pró-pobre), eine Entwicklung, die dem lateinamerikanischen Trend der 1990er Jahre entgegensteht und im Brasilien der 2000er Jahre stark ausgeprägt war.

Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik

95

Grafik 1: Veränderung des Pro-Kopf-Einkommens zwischen 2001 und 2009 nach Einkommensgruppen

Quelle: Neri 2011: 25.

Das Wachstum zugunsten der Armen war im hochgradig heterogenen Brasilien mehrdimensional. Marcelo Neri (2011: 31ff.) zeigt in seinem Buch A nova classe média. O lado brilhante da base da pirâmide eindrücklich, wie im Zeitraum 2001–2009 die Verringerung der Einkommensunterschiede den benachteiligten Gesellschaftsgruppen systematisch zugutekam. Ers­tens verbesserte sich das haushaltsbezogene Einkommen pro Kopf1 im armen Nordosten Brasiliens um 41,8 Prozent gegenüber 15,8 Prozent im reichen Südwesten. Ein geographisch konkreteres Beispiel: In Maranhão, dem traditionell ärmsten Bundesstaat, stieg das Einkommen um 46,8 Prozent an; in São Paulo, dem reichsten Bundesstaat, lediglich 1

Grundlage dieser Messung ist die Pesquisa Nacional por Amostras de Domicílio (PNAD), die das Gesamteinkommen eines Haushalts bzw. einer Familie unter Berücksichtigung der Anzahl der Mitglieder (also Einkommen pro Kopf) ermittelt.

96

Claudia Zilla

um 7,2 Prozent. Zweitens wuchs das Einkommen der Frauen um 38 Prozent, das der Männer nur um 16 Prozent. Drittens nahm das Einkommen derjenigen, die sich selbst als Schwarze bzw. Mischlinge (pretos e pardos) beschreiben, um 43,1 bzw. 48,5 Prozent zu. Das Einkommen der selbstdefinierten Weißen verbesserte sich um 20,1 Prozent. Viertens erfuhren Bürgerinnen und Bürger ohne schulische Bildung eine 46,7-prozentige Erhöhung ihres Einkommens. Diese betrug unter den Menschen mit zumindest unvollständigem oberem Bildungsniveau 17,5 Prozent. Im Falle der Analphabeten entsprach die Verbesserung sogar 53,5 Prozent. Dagegen wuchs das Einkommen derjenigen mit zwölf oder mehr Jahren formaler Bildung ‘nur’ um 9 Prozent. Zusammengefasst: Die traditionell ausgeschlossenen Bevölkerungssektoren (Schwarze, Analphabeten, Frauen und Personen aus dem Nordosten) sowie Bewohnerinnen und Bewohner der Peripherie und ländlicher Gebiete haben am stärksten von den Einkommenszuwächsen profitiert. Die räumlich bedingte, genderspezifische und ethnische Ungleichheit nahm ab. Sozialpolitik Die Aufwertung der Rolle des Staates

Derartige Erfolge beim Abbau der sozialen Ungleichheit können nicht ohne die Intervention des Staates erreicht werden. Aus den sozialen Missständen der 1990er Jahre wurde in Lateinamerika die Lehre gezogen, dass wenn eine Gesellschaft durch strukturelle (ökonomische, soziale und politische) Ungerechtigkeit geprägt ist, die (natürliche) Verteilung wachsenden Wohlstands auch ungleichmäßig erfolgt, so dass im besten Falle die Ungleichheit unverändert bleibt bzw. reproduziert wird. Das ‘Durchsickern von Reichtum’ begünstigt (ungleich) stärker die Privilegierten. Dieser Tendenz kann aber der Staat als aktiver entwicklungspolitischer Akteur entgegenwirken. In unterschiedlichem Ausmaß je nach Land griff dieser in Lateinamerika nun stärker in die Wirtschaft ein, sorgte für (eine induzierte) Umverteilung und nahm damit eine entwicklungspolitische Schlüsselrolle ein. Dieses neue Selbstverständnis wurde gefördert durch zahlreiche Machtwechsel ‘gen Links’ und einen commodity boom auf dem Weltmarkt. Zum einen setzten die neuen (je nach Fall sozialdemokratischen, sozialistischen, progressiven oder populistischen) Regierungen die soziale Frage hoch auf ihre Agenda. Zum anderen führte die starke (zum

Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik

97

größten Teil preisbedingte) Expansion der Ausfuhren von Rohstoffen zu Wirtschaftswachstum und der Steigerung der Staatseinnahmen. Daraus ergaben sich der politische Wille und der ökonomische Handlungsspielraum für den Ausbau der staatlichen Sozialausgaben. Die Bekämpfung der Armut und sozialen Ungleichheit in Brasilien

Entsprechend dem brasilianischen Verständnis basiert das System von Sozialschutz bzw. sozialer Sicherung (Sistema de Seguridade Social) auf beitragsfreien Leistungen (Assistência Social = Sozialhilfe) und beitragspflichtigen sozialen Versicherungen (Previdência Social = soziale Vorsorge). Die rechtliche Grundlage bildet dabei die brasilianische Verfassung von 1988 (einschließlich der darauffolgenden Reformen bis 2013), in der soziale Rechte (Kapitel II, Artikel 6: Recht auf Bildung, Gesundheit, Ernährung, Arbeit, Wohnung, Erholung, Sicherheit, soziale Vorsorge, Mutter- und Kinderschutz und Sozialhilfe), Arbeitsrechte (Kapitel II, Artikel 7) sowie die Verantwortung des Staates für soziale Leistungen festgeschrieben sind. In diesem Sinne handelt es sich um ein rechtsbasiertes System sozialer Sicherung (Robles/Mirosevic 2013: 7f.). Aus dem Jahr 1993 stammt das Grundgesetz für Sozialhilfe (Lei Orgánica da Assistencia Social, LOAS), das den Schutz der Familien während des ganzen Lebenszyklus und deren Integration in den Arbeitsmarkt und die Gemeinschaft verfolgt. Das Gesetz definiert die Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Ebenen innerhalb der föderalen Staatsorganisation Brasiliens und sieht die Errichtung eines mit Mitgliedern aus der Regierung und der Zivilgesellschaft paritätisch besetzten Nationalen Rates für Sozialhilfe (Conshelo Nacional de Assitência Social) vor. Analoge deliberative Kollektivorgane existieren auf den regionalen und lokalen Ebenen. Ihre Bedeutung kann daran gemessen werden, dass die Nationale Politik für Sozialhilfe des Jahres 2004 (Politica Nacional de Assitência Social, PNAS) ein Resultat deren Arbeit war (Robles/Mirosevic 2013: 19). Im selben Jahr wurde unter der Lula-Regierung als institutioneller Ausdruck des verstärkten politischen Willens zu einer aktiven Sozialpolitik das Ministerium für Soziale Entwicklung und Bekämpfung des Hungers (Ministério do Desenvolvimento Social e Combate à Fome) geschaffen. Auch wenn die Liberalisierungspolitik der 1990er Jahre in Brasilien nicht die stark negativen sozialen Auswirkungen hatte, die in anderen

98

Claudia Zilla

Ländern der Region (etwa in Argentinien, Kolumbien, Peru und Mexiko) beobachtet werden konnten (Robles/Mirosevic 2013: 57), führten erst gezielte Maßnahmen der brasilianischen Regierung eine insbesondere ab 2003 deutlich spürbare stetige Verbesserung der sozialen Lage herbei. Zwar verursachte die globale Finanzkrise 2009 eine Zunahme der Arbeitslosigkeit, der Armut und der sozialen Ungleichheit und somit einen Einbruch im positiven sozioökonomischen Trend. Es ist jedoch davon auszugehen, dass ohne eine ausgeprägte Sozialpolitik die Effekte der Krise gravierender gewesen wären und die darauffolgende Erholung weniger schnell eingesetzt hätte. In diesem Sinne war Brasilien verhältnismäßig gut gewappnet gegen die widrige globale Wetterlage. Bezeichnend ist dabei, dass die Krisensituation (diesmal) nicht eine (prozyklische) Kürzung der Sozialausgaben motiviert hat. Vielmehr wuchsen diese weiterhin, sogar über die Jahre 2008 –2010 und wurden durch eine antizyklische Lohnpolitik ergänzt. Im entwicklungspolitischen Kontext wurden insbesondere jene Programme prominent, die auf konditionierten Finanztransfers basieren. Derartige Maßnahmen wurden zwar bereits unter der Cardoso-Regierung eingeführt. Jedoch verfügte Präsident Lula erst als die Staatseinnahmen als Folge der Einführung des Plano Real erheblich stiegen über die nötigen Ressourcen, um die Sozialausgaben zu erhöhen und die Sozialprogramme auszubauen (Robles/Mirosevic 2013: 7). Voraussetzung hierfür war die Existenz einer signifikanten Steuerquote, das heißt einer (im lateinamerikanischen Vergleich) relativ vollen Staatskasse. Das durch den brasilianischen Staat erhobene Steuervolumen entspricht 32,6 Prozent des BIP, was den höchsten Wert in Lateinamerika (regionaler Durchschnitt: rund 20 Prozent) darstellt und dem OECD-Durschnitt (35 Prozent) sehr nahe kommt (Daten für 2009 aus OECD 2013). Nur ein Staat, der Einnahmen hat, kann sie sozial ausgeben. Zwischen 2002 und 2012 nahmen die Sozialausgaben sowohl als Anteil des BIP als auch der gesamten Staatsausgaben progressiv zu. Zu den Sozialausgaben gehören in Brasilien neben der sozialen Sicherung (Sozialhilfe und soziale Vorsorge) auch Gesundheitsfürsorge, Bildung sowie Wohnungswesen (und sonstige).

Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik

99

Tabelle 1: Entwicklung von Wachstum, Arbeitslosigkeit und Sozialausgaben, 2002–2012

Wachs­tum des BIP in %

Wachs­tum BIP/Kopf in %

Arbeits­ losigkeit

Anteil der Sozial­aus­ gaben am BIP in %

Anteil der Sozial­aus­ gaben an den gesam­ ten Staats­ aus­gaben in %

2002

2,7

1,3

11,7

21,82

68,0

2003

1,1

-0,1

12,3

22,40

71,8

2004

5,7

4,5

11,5

22,30

73,3

2005

3,2

2,0

9,8

22,51

73,1

2006

4,0

2,9

10,0

23,73

73,7

2007

6,1

5,1

9,3

24,41

73,2

2008

5,2

4,2

7,9

24,83

73,7

2009

-0,3

-1,2

8,1

27,06

73,5

2010

7,5

6,6

6,7

k. A.

k. A.

2011

2,7

1,9

6,0

k. A.

k. A.

2012*

1,2

0,4

5,5

k. A.

k. A.

Vorläufige Daten.

*

Quelle: CEPALSTAT 2013

100

Claudia Zilla Tabelle 2: Die Entwicklung der Sozialausgaben, 2002–2009

Anteil am BIP in %

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

Sozialausgaben insgesamt

21,82

22,40

22,30

22,51

23,73

24,41

24,83

27,06

Soziale Sicherung

12,34

11,59

11,93

12,28

12,89

12,79

12,81

14,07

Bildungswesen

4,21

5,14

4,55

4,55

4,77

5,16

5,34

5,88

Gesundheits­ fürsorge

3,72

4,18

4,34

4,32

4,59

4,68

4,71

5,21

Wohnungs­ wesen (und sonstige)

1,56

1,49

1,48

1,37

1,57

1,77

1,97

1,90

Quelle: CEPALSTAT 2013

Insgesamt geht in Brasilien die Reduzierung der Armut und der sozialen Ungleichheit nicht nur auf den Ausbau der Sozialhilfe zurück, sondern auch auf die Ausweitung der sozialen Vorsorge sowie auf die Arbeitsmarktpolitik – wie etwa die Steigerung des Mindestlohns (Robles/Mirosevic 2013: 7f.). Sozialhilfe

Zu den beitragsfreien Leistungen gehören die Sozialprogramme konditionierten (an Auflagen gekoppelten) und nicht-konditionierten Finanztransfers. Diese richten sich an Menschen, die in extremer Armut leben (kinderreiche Familien, Schwangere, ältere Menschen ohne Rente etc.). Herkunft und Konzept der Sozialprogramme sind dabei je nach Fall sehr unterschiedlich. Über die Vor- und Nachteile von Finanztransfers als universalistischem Recht vs. konditionierter armutsorientierter Leistung wird international wie in Brasilien noch diskutiert. Durchgesetzt hat sich aber hier eine Armutsfokussierung, die zunächst in der Verantwortung der lokalen Regierungen lag. Das erste Sozialprogramm konditionierten Finanztransfers auf föderaler Ebene wurde 2001 von der Cardoso-Regierung um-

Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik

101

gesetzt: das Schulstipendium (Bolsa Escola) vom Bildungsministerium. Ihm folgten im selben Jahr das konditionierte Ernährungsstipendium (Bolsa Alimentação) und die nicht-konditionierte Gashilfe (Auxílio Gás). Unter den international bekanntesten sozialpolitischen Strategien Brasiliens, die aus auf Finanztransfers basierten Sozialprogrammen bestehen, befinden sich “Null Hunger” (Fome Zero) und “Brasilien ohne Armut” (Brasil Sem Miséria). “Null Hunger” ist eine Strategie der brasilianischen Regierung, um das Menschenrecht auf Ernährung zu sichern. Zielgruppe sind Menschen mit eigeschränktem Zugang zu Nahrungsmitteln. Verfolgt wird die Förderung der Nahrungssicherheit, aber auch der sozialen Inklusion und der Bürgerschaft (cidadania) von verwundbaren Bevölkerungsgruppen. Die 2003 unter der Lula-Regierung eingeführte Strategie besteht aus vier thematischen Säulen mit entsprechenden Sozialprogrammen: (1) Zugang zu Nahrungsmitteln; (2) Stärkung der familiären Landwirtschaft; (3) Generierung familiären Einkommens sowie (4) Soziale Rechenschaft und Partizipation (Fome Zero 2013). “Brasilien ohne Armut” wurde im Jahr 2011 unter der Präsidentschaft von Dilma Rousseff lanciert. Diese sozialpolitische Strategie richtet sich an Haushalte mit weniger als 70 Rais (39 US-Dollar) monatlich und erfasst 16,2 Millionen Menschen bzw. 11,7 Prozent der nationalen Bevölkerung. Sie hat zum Ziel, die extreme Armut bis 2014 gänzlich zu beseitigen. Auch hier sind vier zentrale Aktionsbereiche zu unterscheiden: (1) Einkommensgarantie, in der Regel geleistet durch das Familienstipendium (Bolsa Familia); (2) ‘aktive Suche’ zur Erfassung von bedürftigen Familien, die im Einheitsregister (Cadastro Único) noch nicht eingetragen sind (also ohne Personalausweis); (3) Eingliederung in den Arbeitsmarkt durch Programme zur Generierung von Einkommen und Beschäftigung in urbanen Regionen (Training, Mikrokredit, Unternehmertum und Arbeitsvermittlung); (4) Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen (Brasil Sem Miséria 2013). Im Jahr 2012 wurde im Rahmen der Strategie “Brasilien ohne Armut” das Programm “Liebevolles Brasilien” (Brasil Carinhoso) geschaffen. Es zielt auf die Bekämpfung der Armut unter Kindern ab und beinhaltet wiede­ rum Maßnahmen in den Bereichen Einkommen, Schulbildung und Gesundheit. Diese sozialpolitischen Strategien sind intersektoral, denn sie integrieren verschiedene Schwerpunktbereiche. Auf diesen Gebieten werden ständig neue Aktionen und Unterprogramme entwickelt. Viele Komponenten (Leis­ tungen/Sozialprogramme) sind an Bedingungen geknüpft. Die Konditiona-

102

Claudia Zilla

lität besteht etwa in der Regelmäßigkeit des Schulbesuches von Kindern (85 Prozent Anwesenheit) und Jugendlichen (75 Prozent Anwesenheit), der Ernährungs- und Impfkontrolle von Kindern, des Arztbesuches von Schwangeren etc. Innerhalb der Programme gibt es nach Staatsebene verschiedene Zuständigkeiten. Mittels der Überweisung von Ressourcen und besonderer Prämien an die Gemeinden versucht die Bundesregierung, Anreize für die aktive Beteiligung der lokalen Ebene an der Sozialpolitik zu schaffen. Als konditioniertes Finanztransferprogramm hat Bolsa Família (heute als Bestandteil von “Brasilien ohne Armut”) den größten Haushalt und die stärkste finanzielle Entwicklung zwischen 2004 und 2011 (von 0,1 auf 0,4 Prozent des BIP) erfahren. Es weist zudem den umfassendsten De­ ckungsgrad auf: Im Jahr 2011 waren 27,4 Prozent der brasilianischen Bevölkerung (mehr als 54 Millionen) Nutznießer des Programms (Robles/ Mirosevic 2013: 25). Dank der Fokussierung auf die unteren Zehntel der Einkommenspyramide haben das Familienstipendium und ähnliche Programme nicht nur zur Armutsbekämpfung, sondern auch zum Abbau der sozialen Ungleichheit beigetragen. Soziale Vorsorge

Zentrale Säule der sozialen Vorsorge ist in Brasilien die Altersvorsorge. Diese besteht heute aus zwei Untersystemen: Das Sonderregime der Pensionsvorsorge (Regime Própio de Previdência Social, RPPS), mit vergleichbar höheren Renten für Beamte und Militärs (keine Arbeiter oder Angestellte des privaten Sektors sind im System) und das Allgemeine Regime der Pensionsvorsorge (Regime Geral de Previdência Social, RGPS) für alle übrigen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Das Pensionsalter variiert je nach System, Gebiet (urban/ländlich) und Geschlecht zwischen 55 und 70 Jahren. Die erforderliche Mindestzeit für Beitragszahlungen beträgt zwischen 30 und 35 Jahre. Beide Regime beinhalten eine solidarische Komponente der intergenerationalen und interregionalen Umverteilung und sind gemischt finanziert: Der Staat, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer leis­ ten Beiträge. Deren Verwaltung obliegt einer staatlichen Anstalt (Instituto Nacional do Seguro Social, INSS) (Robles/Mirosevic 2013: 31). Zusätzlich zu diesen zwei Rentensystemen gibt es ein freiwilliges Regime nach dem pay-as-you-go Prinzip. Es wird privat verwaltet durch profitorientierte und nicht-profitorientierte Institutionen.

Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik

103

Die Verfassung von 1988 definierte den Mindestlohn als Grundlage jeglicher Leistung der sozialen Sicherung. Ende der 2000er Jahre wurde eine jährliche Mindestlohnanpassung auf der doppelten Grundlage des Inflationsausgleichs und des Wirtschaftswachstums festgelegt. Folglich dürfen Renten – der erfolgten Beitragszahlungen ungeachtet – nicht unter dieses Niveau fallen. Im Dezember 2010 entsprachen 99,3 Prozent der Gesamtheit der in ländlichen Gebieten gezahlten Renten dem Mindestlohn; sie erreichten 8,2 Millionen direkte Leistungsberechtigte. In den Städten waren 46 Prozent der insgesamt bezahlten Renten auf dem Niveau des Mindestlohns; sie erfassten 7,4 Millionen Empfängerinnen und Empfänger (Robles/Mirosevic 2013: 31). Diese Werte offenbaren zweierlei: Zum einen bezieht der größte Teil der Leistungsberechtigten die niedrigste Rente. Aus diesem Grund ist zum anderen die Festlegung des Mindestlohns als ‘Rentenboden’ besonders sozial relevant. Insgesamt wirkt im System ein Umverteilungsmechanismus, der zu Einkommenssteigerungen bei den ärmsten Bevölkerungsgruppen führt. Seit 2002 steigt der Anteil der ökonomisch aktiven Menschen stetig an, die durch das System erfasst werden. Im Zeitraum 2002–2009 wuchs er von 53,8 auf 59,3 Prozent. Hierfür sind in erster Linie das Wirtschaftswachstum und die zunehmende Formalisierung des Arbeitsmarktes verantwortlich. Dennoch besteht ein Missverhältnis zwischen Einzahlungen und Leistungen, das der Staat im Sinne der Sicherung einer Mindestrente und der Angleichung zwischen urbanen und ländlichen Gebieten aus eigener Kraft kompensieren muss. Im Jahr 2010 entsprachen die Beiträge zum Allgemeinen Regime der Pensionsvorsorge 5,8 Prozent des BIP, die Ausgaben für die Leistungen aber 7 Prozent. 1,2 Prozent des BIP waren folglich notwendig, um das Defizit abzudecken (Robles/Mirosevic 2013: 34). Die Systeme der sozialen Sicherung bilden den zweitwichtigsten Erklärungsfaktor für den Abbau der Ungleichheit in Brasilien. Hierzu gehört auch die Beihilfe der Fortgesetzten Leistung (Beneficio de Prestação Continuada, BPC), ein Mindesteinkommen für ältere Menschen ab 65 Jahren (Robles/Mirosevic 2013: 7f.). Der Beitrag der sozialen Sicherung zur Ungleichheitsreduzierung im Zeitraum 2001–2011 wird auf 19 Prozent geschätzt (IPEA 2012). Einen bedeutenden Effekt in diesem Zusammenhang hatte zudem die Entwicklung der Beschäftigung.

104

Claudia Zilla

Arbeit

Da der Arbeitsmarkt in Lateinamerika für 70 Prozent des gesamten Einkommens verantwortlich ist, haben Veränderungen in diesem Bereich starke Effekte auf die Einkommensverteilung (Gasparini/Cruces 2013: 55). Relevante Akteure der brasilianischen “Dekade der Inklusion” (IPEA 2012) waren nicht nur die Regierungen der Arbeiterpartei. Dabei spielten auch die im lateinamerikanischen Vergleich mächtigen brasilianischen Gewerkschaften eine Rolle. Sie verstehen sich als Teil der politischen Bewegung, die Lula und Dilma an die Regierung brachte und üben auch Druck auf das Regierungshandeln aus (Zilla 2012: 47). Die brasilianische Wirtschaftspolitik ist seit 2003 durch eine Nachfrageorientierung gekennzeichnet. Sie basiert auf der Erhöhung des Mindestlohns, die sowohl Rentenanpassungen als auch Einkommenszuwächse zur Folge hat. Zwischen 1995 und 2005 stieg der Mindestlohn um 3,8 Prozent jährlich. Im Jahr 2007 wurde dieser durch eine politische Maßnahme an die Veränderung des BIP und die Inflation gekoppelt; im Jahr 2011 wurde diese Bindung per Gesetz festgeschrieben. Anfang 2009 wurde durch eine antizyklische Entscheidung der Mindestlohn nominell um zwölf bzw. real um sechs Prozent erhöht. Im Januar 2010 betrug der Mindestlohn 510 Real (= 274 US-Dollar). Insgesamt erfuhr der Mindestlohn zwischen 2005 und 2011 eine jährliche reale Zunahme von drei Prozent. Dieser Art Politik wird ein starker Umverteilungseffekt zugeschrieben, da der Mindestlohn von den großen unterprivilegierten Bevölkerungssektoren bezogen wird. Laut Studien ist er im Zeitraum 1995–2005 für 73 Prozent der Verbesserung in der Einkommensverteilung verantwortlich (Robles/Mirosevic 2013: 14). Zur Verringerung der Einkommensungleichheit hat auch die Reduzierung des Einkommensunterschieds zwischen qualifizierter und nicht qualifizierter Arbeit (sogenannte Gehaltsprämie) beigetragen. Die Gehaltsprämie (also der Vorteil qualifizierter Arbeit) erhöhte sich in den 1990er Jahren durchschnittlich um 1,8 Prozent pro Jahr, während sie sich im vergangenen Jahrzehnt um 2,8 Prozent reduzierte. Veränderungen der Gehaltsprämie werden durch das Angebot und die Nachfrage von Arbeit sowie durch Arbeitsmarktpolitik induziert. Die Beschäftigungspolitik hat sich in Brasilien traditionell auf vier Bereiche konzentriert: Arbeitslosenversicherung, Stellenvermittlung, Berufsbildung und Mikrokredit. Hierbei spielen Maßnahmen des Arbeitsministeriums (Ministério do Trabalho e Emprego, MTE) eine zentrale Rolle,

Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik

105

deren Zielgruppe Arbeitslose sind. Besonders benachteiligte Gruppen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt werden eher durch Sozialprogramme (Sozialhilfe) unterstützt, etwa im Rahmen der Strategien “Null Hunger” und “Brasilien ohne Armut” (Robles/Mirosevic 2013: 49). Diese beinhalten zahlreiche arbeitsmarktbezogene Pläne, Programme und Aktionen, die in der letzten Dekade vermehrt eingeführt wurden. Defizite und Herausforderungen

Nach Studien des brasilianischen Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung ist im Zeitraum 2001–2011 das Einkommen jener Menschen, die zum ärmsten Zehntel gehören, 550 Prozent mehr gewachsen als das des reichsten Zehntels. Zwischen 2001 und 2008 wird die Gini-Reduzierung zu 58 Prozent durch Effekte der Arbeit, zu 19 Prozent durch Leistungen der sozialen Vorsorge und zu 13 Prozent durch Bolsa Família erklärt. Jeder Prozentpunkt der Reduzierung von Gini, der durch die soziale Vorsorge herbeigeführt wurde, kostete 532 Prozent mehr als im Falle des Sozialprogramms. Eine größere Ungleichheitsverminderung wäre also erreicht worden, hätte man sich mit denselben Ressourcen mit einer stärkeren Armutsorientierung auf Bolsa Família konzentriert (IPEA 2012: 38f.). Heute stellt das Familienstipendium 0,5 Prozent des BIP dar. Diese Schlussfolgerung legt den Fokus auf Einkommensunterschiede, blendet jedoch politische und soziale Aspekte aus. Wie wird Bürgerschaft (cidadania) in dem einen und anderen Fall verwirklicht und erlebt? Was ist das Selbstverständnis einer Bürgerin bzw. eines Bürgers als leistungsberechtigter Person der sozialen Vorsorge einerseits und der Sozialhilfe andererseits? Sind da Unterschiede auszumachen? Dies sind Fragen, die über die Ungleichheit hinaus die soziale Gerechtigkeit sowie die Beziehungen der Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat und deren Status in der Gesellschaft betreffen. Es fehlt an Analysen, welche diese soziopolitischen und sozialpsychologischen Dimensionen der soziökonomischen Errungenschaften Brasiliens zum Gegenstand machen. Die Einkommenssteigerungen haben die Kaufkraft der Armen erhöht und durch finanzielle Anreize den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen erweitert (= Quantität). Das staatliche Bildungs- und Gesundheitswesen weist aber noch gravierende Defizite auf, welche die Chancengleichheit beeinträchtigen (= Qualität). Bezüglich der Ergebnisse der Grundschul-

106

Claudia Zilla

bildung befindet sich Brasilien auf dem 127. Platz im PISA-Bericht des Jahres 2010 und liegt somit deutlich hinter China (Platz 35) (Trebat 2013: 131). Auch die Qualitätssteigerung des Gesundheitswesens und die Errichtung eines Netzes öffentlicher Gesundheitsstationen blieben bisher weit hinter den Wahlversprechen von Präsidentin Dilma Rousseff zurück. Für die Verstetigung der Ungleichheit sorgt in Brasilien zudem das Steuersystem. Brasilien ist zwar der lateinamerikanische Staat mit den höchsten Steuereinnahmen. Das Geld erhält der Staat aber vor allem über die Mehrwertsteuer, welche im Unterschied zu den direkten Abgaben einen regressiven Effekt hat. Sie belastet die niedrig Verdienenden stärker. Die Einkommensungleichheit wird entsprechend durch das Steuersystem reproduziert, eine fiskalische Umverteilungswirkung ist kaum vorhanden (OECD 2012). Im Grunde sind es die direkten Finanztransfers des Staates, welche diese steuerpolitische Dysfunktionalität zu kompensieren vermögen (Zilla 2012: 48f.). Die nachfrageorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik fördert den Konsum. Die brasilianische Gesellschaft ist insgesamt stark auf Konsum ausgerichtet – während die Sparquote und die Investitionsrate, die nachhaltige Entwicklung gewährleisten sollten, nach wie vor nicht hoch genug sind. Vor allem die Investitionen in Wissenschaft, Technologie und Innovation sind weiterhin sehr niedrig, sie entsprechen 1,1 Prozent des BIP, und im Unterschied zu den OECD-Ländern, ist hierfür in erster Linie der Staat und nicht die Privatwirtschaft verantwortlich (OECD 2012). Die Unternehmen engagieren sich ungenügend in der Förderung der angewandten Wissenschaften. Das alles trägt zur niedrigen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit Brasiliens bei. Dies stellt kein großes Problem dar, solange die Volkswirtschaft relativ geschlossen (der Außenhandel entspricht lediglich 25 Prozent des BIP) bzw. protektionistisch bleibt und der Binnenmarkt Wachstumspotential besitzt. Die Schattenseite dieser Entwicklung sind aber erhöhte Preise und/oder Produkte niedriger Qualität für die Verbraucherinnen und Verbraucher. In diesem Sinne ist in Brasilien der Binnenmarkt für das stete Wirtschaftswachstum seit 2003 verantwortlich – und nicht etwa der Außenhandel. Im Unterschied zu anderen Schwellenländern wirkte auch nicht eine hohe Investitionsrate als Konjunkturmotor, sondern eine starke Nachfrage nach lang- und kurzlebigen Konsumgütern. Durch erhebliche Einkommenssteigerungen wurden sie zugänglich insbesondere für Bevölkerungsgruppen, die einst in Armut gelebt hatten und nun in die

Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik

107

Mittelschicht aufstiegen (Zilla 2012: 50f.). Im Kontrast zu vielen Schwellenländern, in denen die soziale Schere auseinander ging, hat Brasilien es allerdings geschafft, die soziale Ungleichheit stark zu verringern. Eine nachhaltige gerechte Wohlfahrtsentwicklung bedarf aber eines komplexeren, umfassenden Ansatzes, der mehr als die Steigerung der Kaufkraft in den Blick nimmt. Die erfolgreiche brasilianische Armutsund Ungleichheitsbekämpfungsstrategie ist stark auf die Bereitstellung von Finanzmitteln angewiesen. Nach der verlorenen Dekade der 1980er Jahre waren die 1990er Jahre durch eine Politik der Wirtschaftsstabilisierung gekennzeichnet. Die 2000er Jahre waren dank der Reduzierung der Armut und der sozialen Ungleichheit ein für die Inklusion gewonnenes Jahrzehnt. Mögen in der nahen Zukunft die nötigen strukturellen Reformen erfolgen, die längerfristig ein Ministerium für soziale Entwicklung und Bekämpfung des Hungers überflüssig werden lassen.

Literatur Brasil sem Miséria (2013): (30.05.2013). Cepalstat (2013): Comisión Económica para América Latina y el Caribe, División de Estadísticas. Unidad de Estadísticas Sociales. Fome Zero (2013): (30.05.2013). Gasparini, Leonardo/Cruces, Guillermo (2013): “Poverty and Inequality in Latin America: A Story of Two Decades”. In: Journal of International Affairs, Spring/Summer, 66, 2, 51–63. IPEA (2012): A Década Inclusiva (2001-2011): Desigualdade, Pobreza e Políticas de Renda, Comunicados de IPEA, Nr. 155, Brasília: Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada. Lustig, Nora/López-Calva, Luis F./Ortiz-Juárez, Eduardo (2012): Declining Inequality in America in the 2000s: The Cases of Argentina, Brazil, and Mexico. Working Paper 307. Washington: Center for Global Development. Neri, Marcelo (2011): A nova classe média. O lado brilhante da base da pirâmide. São Paulo: Saraiva. OECD (2012): Latin American Economic Outlook 2012. Organisation for Economic Co-ope­ ration and Development. — (2013): Country statistical profile: Brazil 2013. Organisation for Economic Co-operation and Development. (30.05.2013). Robles, Claudia/Mirosevic, Vlado (2013): Social Protection Systems in Latin America and the Caribbean: Brazil. Santiago de Chile: Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC).

108

Claudia Zilla

Trebat, Thomas (2013): “New Directions for a More Prosperous Brazil”. In: Journal of International Affairs, Spring/Summer, 66, 2, 127–142. Weltbank (2011): (30.05.2013) Zilla, Claudia (2012): “Sozioökonomische Inklusion. Neue linke Sozialpolitik”. In: WeltTrends, Zeitschrift für Internationale Politik, 85, Juli/August, 20 Jahrgang, 44–51. Zilla, Claudia/Harig, Christoph (2012): Brasilien als “Emerging Donor”. Politische Distanz und operative Nähe zu den traditionellen Gebern. Berlin: SWP- Studien 2012/S07.

Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen Jacqueline Maria Radtke

Eine fortschrittliche Bildungs- und Sozialpolitik hat in den vergangenen Jahren zu positiven Entwicklungen des brasilianischen Bildungswesens geführt. Der Bevölkerungsanteil mit Zugang zur Schulbildung hat deutlich zugenommen, immer mehr Sekundarschulabsolventen streben einen Hochschulabschluss an. Trotzdem sieht sich die brasilianische Bildungspolitik nach wie vor mit großen Herausforderungen konfrontiert. Der folgende Beitrag stellt den Aufbau des Bildungssystems vor, analysiert die Entwicklungen seit den 1990er Jahren und skizziert aktuelle Probleme und Herausforderungen. Der Aufbau des Bildungssystems

Laut Art. 6 der brasilianischen Verfassung ist Bildung ein soziales Grundrecht. Art. 227 bezeichnet Erziehung und Bildung als gemeinsame Aufgaben von Familie, Gesellschaft und Staat. Die gesetzlichen Grundlagen des gegenwärtigen Bildungssystems sind im Bundesbildungsgesetz von 1996 (Lei de Diretrizes e Bases da Educação – LDB) festgelegt. Das Bildungssystem zeichnet sich durch eine dezentrale Verteilung der Verwaltungs- und Verantwortungsbereiche aus. Auf der Ebene der Zentralregierung erarbeitet das Bildungsministerium (Ministério da Educação – MEC) alle zehn Jahre einen Nationalen Bildungsplan (Plano Nacional de Educação – PNE), in dem die Bildungsrichtlinien für die kommende Dekade festgelegt werden. Die Kontrolle und Evaluierung erfolgt zusammen mit dem Nationalen Bildungsrat (Conselho Nacional de Educação – CNE) (BMBF 2012). Die daran anschließende Ausgestaltung der Bundesbildungspolitik und die Sicherstellung eines konkreten Bildungsangebots in Form von Bildungseinrichtungen und Lehrplänen ist Aufgabe der bundesstaatlichen Bildungsministerien (Secretarias de Educação). Den Gemeinden und Städten kommt hierbei die Aufgabe der Sicherstellung eines Teils des Betreuungsund Bildungsangebots im vorschulischen Bereich und im Grundschulbe-

110

Jacqueline Maria Radtke

reich zu (Perez/Fraga de Melo/Fichtner 2010: 624). Laut Bildungsgesetz ist es vorgesehen, dass die Zentralregierung mindestens 18 % und die Bundesstaaten, Bundesdistrikte und Gemeinden mindestens 25 % ihrer Steuereinnahmen “in die Versorgung und Entwicklung des öffentlichen Bildungssystems investieren” (Fritsche 2003: 53). Neben dem öffentlichen Bildungssystem besteht in Brasilien – wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern – ein durch privat finanzierte Einrichtungen zur Verfügung gestelltes Bildungsangebot. Die Gründung und Unterhaltung privater Schulen ist seit 1988 erlaubt. Private Bildungseinrichtungen unterstehen jedoch der staatlichen Kontrolle. Sie müssen nachweisen, dass sie den “allgemeinen Normen der Erziehung” (Richter 2013: 182) entsprechen. Der private Bildungssektor setzt sich sowohl aus profitorientierten als auch aus gemeinnützigen Organisationen zusammen, wobei insbesondere im Bereich der höheren Bildung Kirchen als Träger gemeinnütziger privater Bildungseinrichtungen fungieren (Müller 2009: 12). Die schulische Grundbildung (Educação Básica) setzt sich aus der Vorschulbildung (Educação Infantil), der Fundamentalbildung (Ensino Fundamental) und der mittleren Bildung (Ensino Médio) zusammen. Im Rahmen der Vorschulbildung können Kinder bis zum dritten Lebensjahr in Kindergärten betreut werden und vom vierten bis zum fünften Lebensjahr eine Vorschule besuchen. Dieses erste Bildungsangebot “soll der psychologischen, intellektuellen und sozialen Entwicklung dienen” (Fritsche 2003: 47, nach Art. 29, LDB). Die obligatorische neunjährige Fundamentalbildung dauert vom sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr. Sie unterteilt sich in den fünf Jahre andauernden Grundschulunterricht und die vierjährige untere Sekundarstufe. Neben der Vermittlung der Fähigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens soll die Fundamentalbildung auch dazu dienen, die Schüler zu mündigen Bürgern zu erziehen. Hierfür werden Kenntnisse in den Bereichen Politik und Gesellschaft, Kunst und Technologie vermittelt. Die Fundamentalstufe legt die Grundlagen für einen weiteren Bildungsweg. Nach weiteren drei Schuljahren kann ein Abschluss der mittleren Bildungsstufe erreicht werden. Ziel der mittleren Bildung ist es, die in der Fundamentalstufe erworbenen Kenntnisse zu festigen und zu vertiefen. Die Schüler sollen lernen, mit neuen Situationen umzugehen, um auf eine bevorstehende berufliche Tätigkeit vorbereitet zu sein. Darüber hinaus sollen sie ihre Rechte und Pflichten als Bürger kennenlernen und sich in Kritikfähigkeit üben. Außerdem soll die Fähigkeit des Verbindens

Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen

111

Übersicht 1: Das brasilianische Bildungssystem Alter

Bildungsstufe Vorschulbildung (Educação Infantil) Betreuung in Kindergärten bis zum 3. Lebensjahr Besuch von Vorschulen vom 4. bis 5. Lebensjahr

0–5

Zuständigkeit: Gemeinden Fundamentalbildung (Ensino Fundamental) 5-jährige Grundschulbildung (Klasse 1–5) 4-jährige untere Sekundarschulbildung (Klasse 6–9)

6–14

Zuständigkeit: Gemeinden und Bundesstaaten Berufsbildung (Educação Profissional):

Grundbildung (Educação Básica)

Mittlere Bildung (Ensino Médio) 3-jährige obere Sekundarschulbildung

15–17

Zuständigkeit: Bundesstaaten

ab 18

1. Berufliche Grundbildung (nível básico) 2. Technisches Niveau (nível técnico), 3. Technologisches Niveau (nível tecnólogo), berechtigt zur Bewerbung an Hochschulen Zuständigkeit: Bundesstaaten und mehrheitlich privatwirtschaftliche Bildungsinstitutionen, die den allgemeinen Bildungsauftrag nach den staatlichen Richtlinien wahrnehmen.

Höhere Bildung (Ensino Superior)

Grundständiges Studium (Graduação) mit Abschluss Bacharel oder Licenciatura

Zuständigkeit: Bundesregierung, Bundesstaaten, Gemeinden

Masterstudium Promotion

Quelle: Eigene Zusammenstellung

112

Jacqueline Maria Radtke

von theoretischem Wissen mit der praktischen Anwendung gefördert werden. Ein Abschluss der mittleren Bildung ist die Voraussetzung für den Übergang zur höheren Bildung. Die höhere Bildung (Ensino Superior) ist so gestaltet, dass ein erster akademischer Grad nach etwa vier bis fünf Jahren im Rahmen der Graduação mit einem Bachelor (Bacharel) erreicht werden kann. Parallel hierzu exis­tiert das berufsqualifizierende Studium, welches zu einer Lehrertätigkeit berechtigt. Nach ebenfalls vier bis fünf Jahren wird hierbei der Titel Licenciatura verliehen. Beide Abschlüsse berechtigen zu einem Postgraduiertenstu­dium. Dieses endet entweder nach einem in der Regel zweijährigen Masterstudium oder einer daran anschließenden Promotion. Zusätzlich besteht die Möglichkeit des Besuchs von zweijährigen Fortbildungskursen (Cursos Sequenciais). Diese berechtigen allerdings nicht zur Aufnahme eines Postgraduiertenstudiums (Richter 2013: 183). Die verschiedenen Hochschulen bieten neben ihrem regulären Präsenzprogramm zusätzlich seit dem Jahr 2000 Fernstudiengänge an. Etwa 4 % der angebotenen Studien­gänge können inzwischen als Fernstudium absolviert werden (BMBF 2012). Nach der Fundamentalbildung kann auch der Weg der Berufsbildung (Educação Profissional) eingeschlagen werden. Sie unterteilt sich in drei Stufen: die berufliche Grundbildung (nível básico), das technische Niveau (nível técnico) und das technologische Niveau (nível tecnólogo). Die berufliche Grundbildung ermöglicht erste Berufsbefähigungen und “dient […] der Qualifikation von Arbeitskräften bzw. der Ermöglichung des Wiedereintritts in das Berufsleben, unabhängig von irgendwelcher Vorbildung” (Fritsche 2003: 126). Im Rahmen des technischen Niveaus erhalten die Schüler eine Ausbildung, die einer Berufsausbildung entspricht. Der größte “Teil der Berufsbildung in Brasilien findet […] außerhalb des staatlichen Bildungssystems statt, und zwar in sektorbezogenen, dezentral organisierten, privatwirtschaftlichen Berufsbildungsinstitutionen, die privatwirtschaftlich finanziert werden und den Arbeitgeberverbänden unterstehen” (Richter 2013: 184). Das Bildungsgesetz sieht dabei vor, dass diese Berufsschulen ebenfalls den allgemeinen Bildungsauftrag wahrnehmen und den Berufsschülern einen Abschluss der mittleren Bildung ermöglichen. Ebenfalls ist es möglich, den Grad der mittleren Bildung parallel zur Berufsausbildung in speziellen Kursen an einer öffentlichen Mittelschule zu erlangen. Auf dem technischen Niveau aufbauend, bieten weiterführende berufsbildende Schulen eine theoretisch-technisch orientierte Ausbildung an, im Rahmen derer das technologische Niveau mit dem Diploma

Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen

113

de Tecnólogo absolviert werden kann. Dieser Abschluss berechtigt ebenfalls zur Bewerbung an einer Hochschule (Fritsche 2003: 126; Bezerra Andrade 2005: 31; Richter 2013: 184). Die Grundbildung

Als Ergebnis der Bildungs- und Sozialpolitik der Regierungen Cardoso (1995–2002) und Lula da Silva (2003–2011) lassen sich heute einige Fortschritte des brasilianischen Bildungswesens und des allgemeinen Bildungsstands der Bevölkerung erkennen. Wichtige politische Grundlagen für diese Entwicklungen waren die Einrichtung der Bildungsfonds FUNDEF/FUNDEB, die Implementierung der an Konditionen gebundenen Bildungs- und Sozialhilfeprogramme Bolsa Escola und Bolsa Família und die Evaluierung von Schülerleistungen durch nationale (SAEB/ProvaBrasil) und internationale (PISA) Erhebungen. Mit FUNDEF (Fundo de Desenvolvimento do Ensino Fundamental), dem Bildungsfond zur Entwicklung der Fundamentalbildung, wurde eine landesweite Verbesserung der Grund- und unteren Sekundarschulbildung (Schuljahr 1 bis 9) angestrebt. Das Hauptaugenmerk des Programms lag auf der garantierten Bereitstellung eines Mindestlevels an Bildungsausgaben pro Schüler, welches im Laufe der Zeit zusätzlich erhöht wurde. Es wurde festgelegt, dass 60 % der Ausgaben für die Bezahlung von Lehrern und 40 % für weitere Kosten von Schulen verwendet werden müssen. Mit FUNDEF bezog sich die Bildungspolitik der Regierung Cardoso insbesondere auf die Problematik der ungleichen Finanzierung des Bildungswesens zwischen den verschiedenen Regionen des Landes. Das dezentrale Bildungssystem sieht vor, dass sich die Staaten und Kommunen die Verantwortung für das Bildungsangebot teilen. Die Kommunen und Städte sind für die Bereitstellung und Verwaltung vorschulischer Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sowie für einen Teil der Grundschulen zuständig. Während sich die Bildungssituation der reicheren Bundesstaaten weniger problematisch gestaltete, waren insbesondere die Kommunen der zentralwestlichen, nordöstlichen und nördlichen Bundesstaaten von massiver Unterfinanzierung betroffen. Hier fehlte es an Grundlegendem: Lehrbücher und Einrichtungsgenstände, die Versorgung der Schulgebäude mit Elektrizität und Wasser sowie eine hinreichende Ausbildung und Bezahlung von Lehrkräften konnte nicht in allen Regionen Brasiliens gewährleistet

114

Jacqueline Maria Radtke

werden. Die mit FUNDEF verbundenen Bestimmungen verpflichteten die Bundesstaaten dazu, finanzielle Mittel so aufzuteilen, dass sowohl bundesstaatliche als auch kommunale Bildungseinrichtungen das gesetzliche Minimum an Finanzierung erhalten. Die Staaten, welche auf Grund zu geringer Steuereinnahmen nicht in der Lage waren, für alle Schulen dieses Minimum aufzubringen, wurden durch den Bildungsfond bezuschusst. Im Schnitt wurden hierbei jährlich 6 von 26 Bundesstaatshaushalten durch den Zentralhaushalt aufgestockt. Durch seine enorme ressourcenerhöhende Wirkung stellte FUNDEF insbesondere in den Kommunen dieser Regionen ein Anreizsystem zur Erhöhung der Schülerzahlen dar. Seit 1989 können verstärkte Bemühung der Kommunen zur Erhöhung der Einschulungszahlen in Grundschulen beobachtet werden (z. B. in Form von Schulbustransport, Schulessen und Einschulungskampagnen). Im Jahr 2007 wurde unter der Administration von Lula da Silva die Fortsetzung und Ausweitung des Programms beschlossen: aus FUNDEF wurde FUNDEB (Fundo de Manutenção e Desenvolvimento da Educação Básica e de Valorização dos Profissionais da Educação). In das Bildungsfinanzierungsprogramm wurden nun auch die vorschulische Bildung, die höhere Sekundarstufe (Klasse 10 bis 12) und die Erwachsenenbildung mit einbezogen. Außerdem garantiert FUNDEB eine Pro-Kopf-Finanzierung für die Einschulungen Angehöriger der indigenen Bevölkerung und der Bewohner der Quilombolas (Bruns/Evans/Luque 2012: 1– 6). Im Zuge dieser kontinuierlichen Bildungsfinanzierungspolitik wurden erhebliche Verbesserungen bezüglich der Einschulungsraten erreicht. Während im Jahr 2005 lediglich 83 % der Sechsjährigen eine Grundschule besuchten, stieg diese Zahl bis 2010 auf 92 % an. Auch im Bereich der vorschulischen Bildung lässt sich ein Anstieg verzeichnen. Der Anteil der Dreijährigen, die eine vorschulische Einrichtung besuchten, stieg im Zeitraum von 2005 bis 2010 von 21 % auf 32 % an, bei den Vierjährigen ließ sich ein Anstieg von 37 % auf 55 % verzeichnen und bei den Fünfjährigen stieg der Anteil von 63 % auf 78 % an (OECD 2012). Als weiterer Indikator für den positiven Effekt des Bildungsfonds können die stark gestiegenen Bildungsausgaben Brasiliens herangezogen werden. Den Daten der OECD zur Folge stieg der Anteil der staatlichen Gesamtausgaben für Bildung (hierin sind Ausgaben für Bildungseinrichtungen, Verwaltungen und Subventionen für private Einrichtungen einbezogen) in den Jahren 2000 bis 2009 von 10,5 % auf 16,8 %. Verglichen mit den vorliegenden Daten anderer Länder weist Brasilien hiermit die stärkste Ausgabenanstiegskurve

Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen

115

auf und lag im Jahr 2009 sogar über dem OECD-Durchschnitt von 13 % (OECD 2012; Bruns/Evans/Luque 2012: 6–7). Im Jahr 2001 wurde das Schulstipendienprogramm Bolsa Escolar ins Leben gerufen, welches im Jahr 2003 in das umfassende Sozialhilfeprogramm Bolsa Família integriert wurde. Es handelt sich um Programme, mit deren Hilfe allen Kindern die Möglichkeit gegeben werden soll, Schulen im Rahmen der Fundamentalbildung zu besuchen und abzuschließen. Einkommensschwache Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter erhalten einen monatlichen Pro-Kopf-Zuschuss ausgezahlt, wenn die Kinder eine öffentliche Schule besuchen (Bruns/Evans/Luque 2012: 8–11). Studienergebnisse zeigen, dass diese conditional cash-transfer-Programme einen Beitrag zur Erhöhung der Anwesenheitszeiten der Schüler in Schulen und zur Verringerung der Schulabbrecherquote leisten. So war im Jahr 2007 die Zahl unentschuldigt fehlender Kinder aus armen Familien, welche finanziell unterstützt wurden, um 3,6 % geringer als die der Kinder, deren Familien nicht unterstützt wurden. Auch die Wahrscheinlichkeit des Schulabbruchs war bei Kindern von unterstützten Familien um 1,6 % geringer als bei Kindern, deren Familien keine Unterstützung erhielten (Veras Soares/Perez Riba/Guerreiro Osório 2007: 5). Bis 1994 existierte in Brasilien keine Möglichkeit zur Erfassung von Schülerlernerfolgen. Unter den Regierungen Cardoso und Lula da Silva wurden systematisch Verfahren zur Messung von Lernleistungen entwi­ ckelt und implementiert. Im Jahr 1995 wurde das Evaluierungsverfahren SAEB (Sistema Nacional de Avaliação da Educação Básica) eingeführt, im Rahmen dessen im halbjährlichen Rhythmus die Leistungen einer Stichprobe von Schülern der 4., 8. und 11. Klasse in den Fächern Mathematik und Portugiesisch getestet werden. Im Jahr 2005 wurde das Evaluierungsprogramm durch Prova Brasil auf alle Schüler der 4. und 8. Klasse ausgeweitet, welches nun alle zwei Jahre die nationalen Schülerleistungen erfasst. Mit SEAB werden weiterhin anhand einer Stichprobe die Lernerfolge von Elftklässlern erhoben. Darüber hinaus nimmt Brasilien seit 2000 an den internationalen Schülerleistungsevaluationen der OECD im Rahmen der PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) teil. Hierbei werden im dreijährigen Rhythmus die Lernerfolge der Sekundarschulabsolventen (9. Klasse) evaluiert (Bruns/Evans/Luque 2012: 8). Im Jahr 2000 landeten Brasiliens Schüler in den drei durch PISA evaluierten Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz jeweils auf dem letzten Platz von 32 teilnehmenden Ländern. Die Erhe-

116

Jacqueline Maria Radtke

bung von 2009 zeigt, dass Brasilien einige Verbesserungen vorzuweisen hat. So erreichten die Schüler in den drei Disziplinen im Schnitt 33 Punkte mehr als im Jahr 2000, was im Vergleich die drittgrößte Verbesserung innerhalb dieser Periode bedeutet. In Mathematik erzielten Brasiliens Schüler mit einem Anstieg von 52 Punkten im Vergleich mit den in der gleichen Periode teilnehmenden Ländern die größte Verbesserung (Bruns/Evans/ Luque 2012: 16). Die beschriebenen Fortschritte dürfen jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die brasilianische Bildungspolitik das traditionelle Problem der regionalen Ungleichheiten noch nicht zu lösen vermochte. Zwar haben inzwischen größere Teile der brasilianischen Bevölkerung Zugang zum Bildungssystem und im Schnitt verbleiben sie auch länger in diesem; im Nordosten beträgt der Anteil derjenigen, die weniger als vier Jahre zur Schule gehen, jedoch noch immer 40 %, während der Landesdurchschnitt bei 26 % liegt (BMBF 2012). Die Inklusion der Bevölkerung in das Bildungssystem – insbesondere in den ärmeren Regionen – stellt somit weiterhin eine wichtige Herausforderung dar. Darüber hinaus zeigt sich, dass trotz quantitativer Verbesserungen, die Qualität der Schulbildung nach wie vor erheblichen Verbesserungsbedarf aufweist, denn Schüler lernen vergleichsweise wenig in brasilianischen Schulen. Auch wenn sich in der PISA-Studie 2009 Verbesserungen abzeichneten, so erreichten im Bereich Mathematik 38 % der getesteten Schüler nicht einmal die niedrigste Kompetenzstufe 1 (auf einer Skala von 1 bis 6), was bedeutet, dass ein sehr großer Teil der brasilianischen Schüler im Alter von 15 Jahren nicht über die notwendigen grundlegenden Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, um mathematische Basisoperationen durchzuführen (OECD 2010: 130–131). Darüber hinaus hat sich die beschriebene Verbesserung lediglich im untersten Leistungsbereich vollzogen. Der Anteil derjenigen Schüler, die ein sehr hohes Ergebnis im Bereich Mathematik erreichten, ist mit 1 % nach wie vor sehr gering. Brasilien liegt mit diesem Ergebnis weit unter dem OECD-Durschnitt von 15 %. Im Bereich der Lesekompetenz lässt sich ein noch weniger ermutigendes Bild erkennen: Während nur 1,3 % der getesteten Schüler und Schülerinnen das höchste Kompetenzniveau erreichten, gelangten 50 % von ihnen in ihren Testergebnissen nicht über die niedrigste Kompetenzstufe 1 hinaus (Bruns/Evans/Luque 2012: 22–25). Dies bedeutet, dass die Hälfte der 15-jährigen maximal über elementare Lesefähigkeiten verfügt, mit deren Hilfe sie lediglich explizite Informationen und Hauptaussagen aus einem Text mit vertrauten Inhal-

Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen

117

ten herausarbeiten und mit bekannten Alltagsthemen verbinden können (OECD 2010: 52). Des Weiteren schafft es ein großer Teil der brasilianischen Schüler nicht, Schulabschlüsse innerhalb der vorgesehen Zeit zu erreichen. Weltweit weist Brasilien eine der höchsten Wiederholungsraten von Schülern im Grund- und Mittelschulbereich auf. Nicht selten kommt es vor, dass Schüler für das Abschließen der neunjährigen Fundamentalbildung drei Schuljahre mehr benötigen. Diese Ineffektivität der Schulbildung bedeutet nicht nur für die Schüler und ihre Familien einen beachtlichen Mehraufwand an Ressourcen, auch auf die staatlichen Ausgaben für Bildung hat dies erhebliche Auswirkungen: Mehr als 12 % der Gesamtbildungsausgaben im Bereich der Fundamentalbildung werden für Schüler aufgewendet, welche Klassen wiederholen müssen (Bruns/Evans/Luque 2012: 48). Im engen Zusammenhang mit der hohen Wiederholungsquote steht die hohe Schulabbrecherquote. Obwohl in allen Regionen Brasiliens die Einschulungsraten für Grundschulen bei mindestens 90% liegen, ist für das Jahr 2010 noch immer festzustellen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Schüler keinen Abschluss der Fundamentalstufe erreichte. Hiervon sind besonders Schüler in ländlichen Regionen und Schüler aus Familien mit sehr geringen Einkommen betroffen. Im Jahr 2009 konnten in ländlichen Regionen aus der Gruppe der 26–30jährigen lediglich 35 % einen Abschluss der Fundamentalbildung nachweisen. In urbanen Regionen haben 75 % dieser Alterskohorte diesen Abschluss erreicht. Landesweit verlassen etwa 30 % der Schüler die Schule nach 11 bis 12 Jahren, ohne einen Abschluss der Fundamentalstufe erworben zu haben. Im Mittelschulbereich brechen ca. 25 % der Schüler die Schule ab, nachdem es ihnen nach vier Jahren Schulbesuch nicht gelungen ist, die mittlere Reife zu erlangen. Mehr als 15 % der Mittelschulabsolventen haben bereits das 25. Lebensjahr vollendet (Bruns/Evans/Luque 2012: 32–34, 47). Die beschriebenen Probleme bedingen und verstärken sich durch einen Mangel an gut ausgebildeten Lehrern an öffentlichen Schulen. Viele Lehrer verfügen nicht über einen Hochschulabschluss. Dieser Umstand lässt sich damit erklären, dass bis in die 1990er Jahre ein Hochschulabschluss keine Voraussetzung für eine Lehrertätigkeit war. Zusätzlich erklärt dies, warum der Lehrerberuf bis heute wenig öffentliches Ansehen genießt (Richter 2013: 188). Erst mit dem im Jahr 1996 erlassenen Bildungsgesetz wurde die Ausbildung von Lehrern auch zur Aufgabe der Hochschulen erhoben. Ein Hochschulabschluss ist jedoch bis heute nur

118

Jacqueline Maria Radtke

für Sekundarschullehrer, nicht aber für Grundschullehrer notwendig. Die Ausbildung von Vor- und Grundschullehrern erfolgt vorwiegend in speziellen Kursen in den Sekundarschulen (Richter 2013: 185). Die schlechte Bezahlung und die geringen Aufstiegschancen von Lehrern an öffentlichen Schulen lassen den Beruf wenig attraktiv erscheinen. Die Einstiegsgehälter übersteigen häufig nicht das Zweifache des gesetzlichen Mindestlohns, sodass viele Lehrer – insbesondere bei einer Teilzeitbeschäftigung oder einer Beschäftigung auf Stundenbasis – an mehreren Schulen lehren, um sich ein ausreichendes Monatsgehalt zu verdienen. Die geringste Entlohnung erhalten Lehrer in der Regel an kommunalen Schulen. Hierzu kommen die schlechten Arbeitsbedingungen, denen Lehrer auf Grund überfüllter Schulklassen und mangelhafter Ausstattung der Schulen ausgesetzt sind. Im Durchschnitt unterrichtete im Jahr 2010 ein Grundschullehrer 23,4 Schüler (OECD-Durchschnitt: 15,8 Schüler) und ein Mittelschullehrer 19 Schüler (OECD-Durchschnitt: 13,8). Im selben Jahr betrug die durchschnittliche Klassengröße in Grundschulen 24,6 Schüler (OECD-Durchschnitt: 21,2) und in Sekundarschulen 29 Schüler (OECDDurchschnitt: 23,4 Schüler). Viele Lehramtsstudenten nutzen die freien Studienplätze an öffentlichen Universitäten lediglich, um einen ersten akademischen Abschluss zu erwerben. Nicht selten werden sie anschließend jedoch in einer anderen Branche tätig oder bemühen sich um eine Lehrtätigkeit in einer privaten Schule, die ihnen eine höhere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen bietet (Hamm 2011: 2). Eine der wichtigsten Herausforderungen der Bildungspolitik wird es daher sein, die Qualität der schulischen Lehre zu verbessern. Hierbei müssen zum einen Anreize geschaffen werden, die die Attraktivität des Lehrerberufs erhöhen. Zum anderen muss an der Verbesserung der Ausund Weiterbildung von Lehrern gearbeitet werden, denn häufig wissen auch engagierte Lehrer schlichtweg nicht, wie sie ihren Unterricht verbessern können (Bruns/Evans/Luque 2012: 64), was sich wiederum negativ auf ihre Motivation und auch das Ansehen der Lehrer auswirkt. Aspekte des inhaltlichen und pädagogisch-methodischen Wissens könnten daran anschließend in Rekrutierungsverfahren für den Lehrerberuf aufgegriffen werden. Zwar sind die Einstellungsverfahren für Lehrer in Brasilien dezentral organisiert, sodass hier kein einheitliches Bild präsentiert werden kann. Es lässt sich jedoch beobachten, dass viele Eignungs- und Bewerbungsverfahren eine schriftliche Klausur und die Bewertung formaler Abschlüsse beinhalten. Anhand der erreichten Ergebnisse

Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen

119

werden Rangfolgen erstellt, auf deren Grundlagen die Entscheidung für eine Einstellung der Bewerber getroffen wird. Aufgaben wie das Erstellen eines Unterrichtsplans oder das Abhalten einer beobachteten Unterrichtsstunde müssen in der Regel von den Bewerbern nicht erbracht werden. Es zeigt sich jedoch, dass Länder mit einem hohen Bildungsstand und guten Schülerleistungen in der Tendenz strengere Auswahlverfahren für die Einstellung neuer Lehrer vorsehen (Bruns/Evans/Luque 2012: 58). Angesichts der Probleme des öffentlichen Schulsystems versuchen viele Familien mit höherem Einkommen, ihren Kindern den Besuch einer privaten Schule zu ermöglichen. Dies kann sich jedoch nur ein kleiner Teil der brasilianischen Bevölkerung leisten. Der Anteil aller Mittelschulschüler, welche eine öffentliche Einrichtung besuchen, beträgt 78 %. Das Einkommen ihrer Familien beträgt in etwa ein Drittel des Familieneinkommens der Schüler an privaten Mittelschulen (Schwartzman 2013). Hierin zeigt sich, dass der Zugang zu guter Bildung noch immer sehr vom Einkommen der Eltern abhängt. Eine häufige Forderung zur Verbesserung des Bildungswesens ist der Ruf nach mehr öffentlichen Ausgaben für Bildung. Das brasilianische Bildungsministerium reagierte darauf, indem es im Herbst 2012 mit der Verabschiedung des Nationalen Bildungsplans festlegte, dass der Ausgabenanteil für Bildung bis zum Jahr 2020 auf 10 % des Bruttoinlandprodukts angehoben werden soll (The Economist: 28.10.2012). Dieses ambitionierte Ziel zeigt, dass das Bildungswesen und seine Finanzierung auch in der kommenden Dekade eine wichtige Rolle in der brasilianischen Politik spielen werden. Ob eine derartige Erhöhung der Ausgaben erfolgversprechend ist, kann jedoch bezweifelt werden. Bruns et al. (2012) befürchten, dass eine Erhöhung des Ausgabenanteils durch kurzfristige Investitionen zur Verschwendung öffentlicher Mittel führen könnte. Hierfür sprechen zum einen Vergleiche mit anderen Ländern, bei denen bisher kein bedeutender Zusammenhang zwischen einer Erhöhung des Ausgabenanteils für Bildung und einer Verbesserung der Schülerleistungen festgestellt werden konnte. Zum anderen ist zu beobachten, dass das Bruttoinlandsprodukt Brasiliens einen starken Zuwachs bei einem rückgängigen Bevölkerungswachstum erlebt. Es ist abzusehen, dass die Zahl der Schüler – insbesondere die der Grundschüler – in den kommenden Jahren zurückgehen wird, sodass sich der Ausgabenanteil gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Schüler erhöhen wird, ohne dass eine Erhöhung des Ausgabenanteils vorgenommen werden muss. Daher schlagen Bruns et. al vor, dass Brasili-

120

Jacqueline Maria Radtke

en dem Beispiel anderer Länder folgen sollte, die in der Vergangenheit vor dieser Situation standen, indem die durch schrumpfende Schülerzahlen freigesetzten Ressourcen in die Verbesserung der Qualität des Bildungswesens investiert werden. Frei werdende Infrastruktur, die mit zurückgehenden Grundschülerzahlen zu erwarten ist, könnte für die Sekundarschulbildung genutzt werden. Darüber hinaus könnten freie Ressourcen in die Verbesserung und Ausweitung der vorschulischen Bildung investiert werden, um zu gewährleisten, dass Kinder mit der Einschulung angemessen darauf vorbereitet sind, im Rahmen des Schulunterrichts zu lernen (Bruns/Evans/Luque 2012: 41–44). Die höhere Bildung

Seit den 1990er Jahren erhält die höhere Bildung zunehmend gesellschaftliche Beachtung. Mit wachsender Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften und einer steigenden Zahl von Mittelschulabsolventen “mündete das elitäre Bild der Hochschulbildung in eine allgemeine Auffassung von Hochschulbildung als Berufsausbildung einer qualifizierten Erwerbsbevölkerung” (Balbachevsky/Schwartzman 2010: 612). Im Zuge dessen hat sich das Angebot im Bereich der höheren Bildung stark vergrößert. Dies äußert sich zum einen in einer Ausweitung des Spektrums der angebotenen Studiengänge, zum anderen kam es seit Ende der 1990er Jahre zu einer Neugründungswelle entsprechender Organisationen. Im Zeitraum von 1998 bis 2008 hat sich die Zahl der vorhandenen Hochschulen fast verdoppelt, was vor allem auf eine Vergrößerung des Hochschulangebots des privaten Sektors zurückführen ist. Insgesamt waren im Jahr 2008 rund 90 % aller brasilianischen Hochschulen privat finanzierte Bildungseinrichtungen (Dias et al.: 2011: 1). Seit dem Jahr 1999 hat sich die Zahl der in privaten Hochschulen eingeschriebenen Studierenden mehr als verdoppelt. Insgesamt waren im Jahr 2011 etwa 75 % aller Studierenden in privaten Einrichtungen regis­ triert (BMBF: 2012). Die öffentlichen Hochschulen (10 %) sind zu etwa gleichen Teilen in der Trägerschaft der Zentralregierung, der Bundesstaaten und der Gemeinden (Balbachevsky/Schwartzman 2010: 602). Mit der Expansion der Hochschulbildung ist zudem eine Diversifizierung der verschiedenen Einrichtungen bezüglich des Studienfachangebots, der Organisationsform und der Qualität von Lehre und Forschung zu beobachten. So gelten die großen, fast ausschließlich staatlich finan-

Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen

121

zierten Universitäten mit ihrem breiten Angebot an Graduierten- und Postgradiertenstudiengängen nicht nur als gute und günstige Lehreinrichtungen, sondern bieten mit ihren Forschungszentren auch nationalen und internationalen Wissenschaftlern attraktive Arbeitsbedingungen (Fritsche 2003: 66). Sie repräsentieren etwa die Hälfte aller Organisationen mit Universitätsstatus und bilden mehr als 80 % der Studierenden in postgraduierten Programmen aus (Balbachevsky/Schwartzman 2010: 602). Innerhalb der Gruppe der kleineren, häufig privaten Bildungseinrichtungen variiert das Ausmaß angebotener Studiengänge stark. Es existieren beispielsweise stark spezialisierte Organisationen, die sich nur auf einen Fachbereich konzentrieren und somit nur entsprechend wenige Studiengänge anbieten. Diese Organisationen nennen sich nicht Universitäten, sondern Fakultäten. Viele private Hochschulen funktionieren vorwiegend als reine Lehreinrichtungen für grundständige Studiengänge, ohne darüber hinaus Postgraduiertenstudiengänge anzubieten und einen Forschungsbereich aufzuweisen (Müller 2009: 12). Zwar kann nicht pauschal behauptet werden, dass die Qualität der Ausbildung in privaten Hochschulen geringer ist als in den öffentlichen Hochschulen, jedoch fehlt es bisher an zuverlässigen Evaluierungsinstrumenten. Unter der Regierung Cardoso wurde zwar ein Evaluierungsverfahren zur Beurteilung der Qualität grundständiger Studiengänge eingeführt; hierfür wurden Ranglisten zur Bewertung von Studiengängen veröffentlicht. Zu ihrer Erstellung bezog sich das Bildungsministerium auf die infrastrukturelle Ausstattung der Hochschulen, auf Informationen zum akademischen Grad der Lehrenden und auf Leistungstestergebnisse aller Studierenden der jeweiligen Ausbildungsrichtung. Dieses Verfahren wurde jedoch unter Lula da Silva durch das Verfahren ENADE (Exame Nacional de Desempenho dos Estudantes) abgelöst. Hierbei werden die Lernleis­tungen der Studenten nur noch anhand einer Stichprobe erhoben. Dieses Evaluierungsverfahren “hat erhebliche methodische Schwächen; die Regierung selbst sagt[e], dass die Ergebnisse nicht für bare Münze genommen werden sollten” (Balbachevsky/Schwartzman 2010: 616). Insgesamt haben sich in einigen Bundesstaaten und Gemeinden im privaten Sektor sehr schnell neue Studienprogramme und Organisationen gegründet, die noch keinen regulierenden Prozessen und Qualitätsüberprüfungen unterzogen werden konnten (Dias et al. 2011: 17). Für die Aufnahme an einer öffentlichen Hochschule spielt die Durchschnittsnote des mittleren Bildungsabschlusses keine große Rolle. Er be-

122

Jacqueline Maria Radtke

rechtigt lediglich zur Teilnahme an den Aufnahmeprüfungen – dem Vestibular – der öffentlichen Hochschulen. Diese wird von den einzelnen Einrichtungen individuell gestaltet und beinhaltet neben Prüfungsinhalten bezüglich des angestrebten Studiengangs auch Wissenstests zu allen Grundfächern der Schulbildung. Die Hochschulen erteilen Zulassungen nach Reihenfolge der erreichten Testergebnisse – bis ihre Kapazitäten erschöpft sind (Waber 2007: 44). In der Regel sind Absolventen privater Mittelschulen wesentlich besser auf das Vestibular vorbereitet, während Absolventen öffentlicher Schulen häufig das notwendige Wissen fehlt, um ein Ergebnis in den vorderen Rängen zu erreichen. Um ihre Zulassungschancen zu erhöhen und die Kosten für die Teilnahme an den Zulassungsklausuren nicht umsonst zu investieren, nehmen viele Mittelschulabsolventen an speziellen ein- bis zweijährigen Kursen teil, die auf das Vestibular vorbereiten. Einige Schulen, vor allem des privaten Sektors, haben diese Vorbereitungskurse bereits in ihren Unterricht integriert. Im Normalfall handelt es sich jedoch um kos­tenpflichtige Schulungen privater Anbieter, die nicht selten damit werben, Hochschullehrer zu beschäftigen, die schon einmal an der Gestaltung von Verstibularklausuren mitgewirkt haben (Fritsche 2003: 6–7). Viele Familien, deren Kinder an öffentlichen Hochschulen keinen Studienplatz erhalten haben, versuchen ihnen zumindest an einer günstigeren privaten Hochschule ein Studium zu ermöglichen. Die Zahl der Einschreibungen in private Hochschulen ist in den vergangen Jahren stark angewachsen: Im Jahr 2008 waren 74,9 % der brasilianischen Studierenden in private Hochschulen eingeschrieben. Gleichzeitig blieben jedoch im selben Jahr 40 % der vorhandenen Gesamtstudienplätze, die fast ausschließlich dem privaten Sektor zugeordnet waren, unbesetzt. Dies zeigt, dass viele Mittelschulabsolventen Schwierigkeiten haben, die Kosten für ein privates Hochschulstudium aufzubringen (Dias et al. 2011: 11–12). Um mehr Absolventen öffentlicher Mittelschulen eine Hochschulausbildung zu ermöglichen, hat die Regierung Lula da Silva im Jahr 2004 das Programm ‘Universität für alle’ (Programa Universidade para Todos) auf den Weg gebracht. Mit diesem Programm werden in privaten Einrichtungen “quasi öffentliche Studienplätze geschaffen” (BMBF 2012), indem private Hochschulen finanziell bezuschusst werden, wenn sie einkommensschwachen oder einer Minderheit angehöhrenden Studierenden die Studiengebühren erlassen (Balbachevsky/Schwartzman 2010: 616). Von 2005 bis 2011 wurden fast 750.000 Studierende durch das Programm gefördert, davon knapp 70 % durch Vollstipendien (BMBF 2012).

Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen

123

Zur Förderung öffentlicher Hochschulen wurde im Jahr 2008 das Programm Reuni (Programa de Apoio a Planos de Reestruturação e Expansão das Universidades Federais) auf den Weg gebracht. Hierbei werden finan­zielle Mittel zur Gründung neuer Hochschulstandorte und für interne Umstrukturierungen vorhandener Hochschulen zur Verfügung gestellt, mit dem Ziel, mehr öffentliche Studienplätze zu schaffen (BMBF 2012). Des Weiteren unterschrieb die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff im Sommer 2012 ein neues Hochschulgesetz, welches öffentliche Universitäten verpflichtet, bis zum Jahr 2016 die Hälfte der verfügbaren Stu­dienplätze für Absolventen öffentlicher Schulen zur Verfügung zu stellen (Schwartzman 2013). Die Erfolge der jüngsten Beschlüsse bleiben noch abzuwarten. Um eine Erhöhung der Akademikerrate zu erreichen, muss die Bildungspolitik unweigerlich ihren Schwerpunkt weiterhin auf die Verbesserung der Grundbildung – und hier insbesondere des Sekundarschulbereichs – richten. Denn auch wenn nun mehr Mittelschulabsolventen ein Hochschulstudium anstreben, so zeigt sich auch für die Hochschulausbildung eine große Diskrepanz zwischen den Einschreibzahlen und der Anzahl derjenigen, die schließlich einen Hochschulabschluss erwerben. Von denjenigen, die sich in den Jahren 1991 bis 2008 in eine Hochschule eingeschrieben haben, erreichten im Durchschnitt lediglich 50 % einen Abschluss (Dias et al. 2011: 15). Ein möglicher Grund hierfür könnte sein, dass den Studenten die finanziellen Mittel für das Beenden ihres Studiums fehlen. Dem könnte durch die Quotenreglung Abhilfe geschaffen werden. Jedoch dürfte insbesondere auch fehlendes Wissen, verschuldet durch schlechte Vorbereitung der Studierenden durch die Mittelschulen, ein entscheidender Grund für das Abbrechen eines Hochschulstudiums sein. Daher besteht die Befürchtung (Schwartzman 2013), dass die Hochschulen auf ihre neue Klientel mit einer Herabsetzung der Leis­tungsanforderungen reagieren. Dies könnte sich negativ auf die Qualität der öffentlichen Hochschullehre auswirken. Fazit

Das brasilianische Bildungssystem hat seit den 1990er Jahren große Fortschritte gemacht. Sowohl die Grundbildung als auch die höhere Bildung haben sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht positiv entwickelt. Gleichwohl schlagen sich die gravierenden sozialen und regionalen Dis-

124

Jacqueline Maria Radtke

paritäten bis heute auch im Bildungssystem nieder. Um dauerhaft der Herausforderung gewachsen zu sein, der Bevölkerung Aufstiegschancen zu bieten, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen und gleichzeitig die Grundlagen für eine zukunftsfähige Entwicklung des Landes weiter zu verbessern, muss vor allem die Qualität der öffentlichen Schulbildung weiter verbessert werden.

Literaturverzeichnis Balbachevsky, Elizabeth/Schwartzman, Simon (2010): “Das Hochschulsystem. Strukturen und Veränderungstendenzen”. In: Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirt­ schaft, Kultur. 2. vollständig neu bearbeite Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert, 601– 622. Bezerra Andrade, Francisca R. (2005): “Die Entwicklung der mittleren und beruflichen Bildung in Brasilien”. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP), 1, S. 30–34. Verfügbar unter: (14.06.2013). BMBF (2012): Bildung und Forschung: Brasilien. Bundesministerium für Bildung und For­ schung, Kooperation International. Verfügbar unter: (14.06.2013). Bruns, Barbara/Evans, David/Luque, Javier (2012): Achieving World- Class Education in Brazil. The Next Agenda. Washington: The World Bank. Da Trindade Prestes, Emília Maria/Pfeiffer, Dietmar K. (2010): “Überwindung der Bildungsarmut durch staatliche Bildungspolitik: Möglichkeiten und Grenzen”. In: Sandkötter, Stephan (Hg.): Bildungsarmut in Deutschland und Brasilien. Frankfurt am Main.u. a: Peter Lang, 39–68. Dias, Diana/Marinho-Araújo, Claisy/Almeida, Leandro/Amaral, Alberto (2011): The Democratisation of Access and Success in the Higher Education: The Case of Portugal and Brazil. Higher Education Management and Policy, Vol. 32/1. Verfügbar unter: (14.06.2013). Fritsche, Michael (2003): Bildungspolitik und wirtschaftliches Wachstum in Brasilien. Marburg: Tectum Verlag. Hamm, Esther (2011): Die brasilianische Bildungsmisere - Hindernis für den sozialen Aufstieg. Online-Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung. Verfügbar unter: (14.06.2013). Müller, Christian (2009): “Hochschule. Enorm expansionsfähig”. In: GaTE Germany (Hg.): Länderprofile Analysen- Erfahrungen- Trends. Edition Brasilien, 11–14. (14.06.2013).

Das Bildungssystem. Entwicklungen und Herausforderungen

125

OECD (2010): PISA 2009 Results: What Students Know and Can Do – Student Performance in Reading, Mathematics and Science, 1. Verfügbar unter: (13.06.2013). — (2012): Education at a Glance: OECD Indicators 2012. BRAZIL. Perez, Aparecida/Fraga de Melo, Gilberto/Fichtner, Bernd (2010): “Brasilien – ein Land mit Zukunft (?). Bildungssystem und alternative Bildungspraktiken”. In: Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. 2. vollständig neu bearbeite Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert, 623–636. Richter, Claudia (2013): “Das Bildungswesen in Brasilien”. In: Adick, Christel (Hg.): Bildungsentwicklungen und Schulsysteme in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik. Müns­ ter: Waxmann, 171–190. Schwartzman, Simon (2013): “Affirmative Action in Higher Education in Brazil: São Paulo’s turn”. In: Blog from Center for International Higher Education. Washington. Verfügbar unter: (13.06.2013). The Economist (2012): “Coming soon: the world’s priciest classrooms”. Verfügbar unter: (14.06.2013). UNESCO (2010): Word Data on Education. VII Ed. 2010/11. Brazil. Verfügbar unter: (14.06.2013). Veras Soares, Fabio/Perez Ribas, Rafael/Guerreiro Osório, Rafael (2007): Evaluating the Impact of Brazil’s Bolsa Família: Cash Transfer Programms in Comparative Perspective. Brasília: International Poverty Centre. Verfügbar unter: (05.06.2013). Waber, Jörg (2007): “Hochschulzugang und Disparitäten. Deutsches und brasilianisches Bildungssystem im Vergleich”. In: Tópicos, 3, 44–45. Verfügbar unter: (14.06.2013).

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht Hartmut Sangmeister

Brasilien hat in den beiden zurückliegenden Dekaden einen bemerkenswerten wirtschaftlichen (Wieder-)Aufstieg vollzogen. Nach dem Debakel der Verschuldungskrise war das Land bis Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts von ausländischen Wirtschaftsbeobachtern vor allem als zahlungsunfähiger Großschuldner wahrgenommen worden, als eine Volkswirtschaft mit chronischer Hyperinflation und einem erfolglosen wirtschaftspolitischen Krisenmanagement wechselnder Regierungen. Heute gilt Brasilien als eines der dynamischsten Schwellenländer, die den Rhythmus der Weltwirtschaft maßgeblich prägen. Im Club der zehn größten Volkswirtschaften der Welt hat der ehemalige Bankrotteur Brasilien bereits 2011 mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,5 Mrd. US-Dollar den 6. Platz eingenommen – vor Großbritannien (Abb. 1).1 Nach den Plänen der brasilianischen Regierung soll das Land schon bald zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen.

Indien

Russland

Italien

Großbritannien

Brasilien

Frankreich

Deutschland

Japan

VR China

Bruttoinlandsprodukt 2011 (Mrd. US$) 16.000 14.991,3 14.000 12.000 10.000 7.318,5 5.867,2 8.000 6.000 3.600,8 2.773,0 2.476,7 2.445,4 2.194,0 1.857,8 1.848,0 4.000 2.000 0 USA

Mrd. US$

Abb. 1: Brasilien im Club der weltweit zehn größten Volkswirtschaften 2011

Quelle: World Bank 2013.

1

Soweit nicht andere Quellen genannt, sind alle statistischen Daten entnommen aus World Bank 2013.

128

Hartmut Sangmeister

Der erfolgreiche Wachstumskurs der brasilianischen Volkswirtschaft wäre nicht möglich geworden ohne den Plano Real von 1994, das wirtschaftspolitische Reformprogramm des damaligen Finanzministers und späteren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso. Erst durch umfassende Wirtschaftsreformen während der Regierungszeit von Cardoso (1995 –2002) konnte die brasilianische Volkswirtschaft gesamtwirtschaftliche Stabilität wieder gewinnen und die anhaltende Stagnation überwinden, was zuvor mit mehreren staatlich verordneten Lohnstopps, mit fünfzig verschiedenen Konzepten staatlicher Preiskontrollen sowie vier Währungsreformen innerhalb nur einer Dekade nicht gelungen war. Von Präsident Luiz Inácio ‘Lula’ da Silva (2003 –2010) ist die stabilitäts- und wachstumsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik seines Amtsvorgängers im Wesentlichen fortgeführt worden. 1. Wirtschaftsgroßmacht Brasilien: die Fakten

Brasiliens Wirtschaft hat in den zurückliegenden Jahren eine beachtliche Wachstumsdynamik entfaltet, mit jährlichen Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von zeitweise über 7 Prozent (Abb. 2). Abb. 2: Brasilien – Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts 2003 –2012 - Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent -

* BIP in konstanten US-Dollar des Jahres 2000.

Quelle: IMF 2013a: 154; World Bank 2013.

In der Zehnjahresperiode 2003 –2012 erreichte der durchschnittliche jährliche Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung fast 4 Prozent. Da sich gleichzeitig das Bevölkerungswachstum weiter verlangsamte,

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

129

führte die Wachstumsdynamik im Zeitraum 2002–2011 zu einem Anstieg des preisbereinigten Bruttonationaleinkommens (BNE) pro Kopf der Bevölkerung um 30 Prozent. Abb. 3: Brasilien – Bruttonationaleinkommen pro Kopf 2002–2011 - in konstanten US-Dollar des Jahres 2000 -

Quelle: World Bank 2013.

Trotz eines von Unsicherheit geprägten weltwirtschaftlichen Umfeldes sind die makroökonomischen Fundamentaldaten Brasiliens anhaltend solide; der Zentralbank gelingt es seit Jahren, den Preisanstieg mit konsequenter Hochzinspolitik (fast) innerhalb des Zielkorridors von maximal 6,5 Prozent zu halten, das Defizit des öffentlichen Haushalts liegt mit weniger als 3 Prozent des BIP innerhalb der Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages der Euro-Zone. Im Unterschied zu den meisten europäischen Volkswirtschaften ist Brasilien mit seiner stabilitätsorientierten Politik von der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 deutlich geringer betroffen worden, zumal auch das Engagement des brasilianischen Bankensektors in der internationalen Spekulationsblase regulierungsbedingt vergleichsweise schwach war. Als Zielland ausländischer Direktinvestitionen ist Brasilien wieder ausgesprochen attraktiv geworden: 2012 gingen rund 70 Prozent aller in Lateinamerika getätigten ausländischen (Netto‑)Direktinvestitionen nach Brasilien (Abb. 4). Neben den Direktinvestitionen fließt ausländisches Kapital in erheblicher Größenordnung auch in Form von kurzfristigen Finanzinvestitionen nach Brasilien, da das im internationalen Vergleich hohe brasilianische Zinsniveau ausländische Anleger anzieht. Zwar hat die bra-

130

Hartmut Sangmeister

silianische Zentralbank den Leitzins SELIC (Sistema Especial de Liquidação e de Custódia) für Staatsanleihen seit dem Höchststand von 12,5 Prozent (Juli 2011) in mehreren Schritten auf 7,5 Prozent gesenkt (April 2013), er liegt damit aber immer noch deutlich über den Leitzinssätzen in der Eurozone (0,5 Prozent) und in den USA (0,25 Prozent). Mit den hohen (Netto‑) Kapitalimporten Brasiliens war allerdings der negative Nebeneffekt eines stetigen Aufwertungsdrucks auf die Landeswährung Real verbunden, wodurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit vor allem brasilianischer Industrieprodukte erheblich beeinträchtigt wurde. Abb. 4: Brasilien – Ausländische (Netto-)Direktinvestitionen 2003–2012 - in Mrd. US-Dollar -

* Vorläufiger Wert.

Quelle: CEPAL 2012: 81.

Der brasilianische Staat kann sich auf den internationalen Finanzmärkten problemlos Kapital beschaffen, da er von internationalen Rating-Agenturen wie Standard & Poors die gute Bonitätsnote BBB erhält.2 Die hohe Rentabilität brasilianischer Staatsanleihen macht sie bei ausländischen Anlegern begehrt, die ihre Gläubigerposition 2012/2013 erheblich ausgeweitet haben. Im Ergebnis ist die Auslandsverschuldung Brasiliens wieder deutlich gestiegen, zwischen 2009 und 2012 um rund 100 Mrd. US-Dollar (Abb. 5). Dennoch wird aber das Risiko einer erneuten internationalen Zahlungsunfähigkeit des Landes als relativ gering eingeschätzt; dement2

Foreign Currency Rating, Stand Mitte Mai 2013 (12.05.2013).

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

131

sprechend ist der Risikozuschlag (Spread) vergleichsweise niedrig, den Brasilien für auf ausländische Währung denominierte Staatsanleihen zahlen muss: Der Emerging Market Bond Index von JP Morgan registrierte Mitte April 2013 für Brasilien einen Spread von 166 Punkten – für das Nachbarland Argentinien hingegen 1.148 Punkte.3 Abb. 5: Brasilien – Auslandsverschuldung 2003–2012 - in Mrd. US-Dollar 350

Mrd. US-Dollar

300 250

214,9

256,8 201,4 169,5 172,6

200

193,2

298,2

302,9

198,3 198,2

150 100 50

20 12 *

20 11

20 10

20 09

20 08

20 07

20 06

20 05

20 04

20 03

0 Jahr

* Vorläufiger Wert

Quelle: CEPAL 2012: 82.

Die seit Anfang 2011 amtierende Präsidentin Dilma Rousseff hält an der wachstumsorientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik ihrer beiden Amtsvorgänger grundsätzlich fest, setzt jedoch angesichts der abnehmenden Dynamik der brasilianischen Wirtschaft verstärkt auf staatliche Nachfrageimpulse. Mit einem zweiten Programm zur Wachstumsförderung (Programa de Aceleração do Crescimento/PAC-2), das 2011–2014 rund 1 Billion US-Dollar für Investitionen in die Energieversorgung und in die Verkehrsinfrastruktur vorsieht, soll der wirtschaftliche Aufschwung verstetigt werden. Vor diesem Hintergrund wird für Brasiliens Wirtschaft auch in den kommenden Jahren weiterhin stabiles Wachstum erwartet, in einer Größenordnung von jährlich 4 Prozent (Abb. 6).

3

Lateinamerika Finanzmarkt Monitor, 16. Mai 2013, 9.

132

Hartmut Sangmeister

Abb. 6: Brasilien – Projektion des gesamtwirtschaftlichen Wachstums 2012–2018 - Veränderung des BIP** gegenüber dem Vorjahr in Prozent -

* Projektion. ** BIP in konstanten US-Dollar des Jahres 2000.

Quelle: IMF 2013a: 159; IMF 2013b: 13.

Allerdings zeigt der brasilianische Wirtschaftsboom seit 2012 deutliche Abschwächungstendenzen. Trotz staatlicher Programme zur Konjunkturbelebung und einer gelockerten Geldpolitik ist das gesamtwirtschaftliche Wachstum verhalten geblieben. Vor allem die Industrieproduktion befindet sich seit einiger Zeit in einer anhaltenden Schwächephase mit sinkender Kapazitätsauslastung. Auch die inländische Konsumnachfrage, von der in den zurückliegenden Jahren die stärksten Wachstumsimpulse ausgingen, war Anfang 2013 erstmals seit Herbst 2003 rückläufig. Ob Brasiliens Wirtschaft die positiven Zukunftserwartungen dauerhaft erfüllen wird, hängt maßgeblich von der mittel- bis langfristigen Tragfähigkeit der Entwicklungsstrategie ab, die verfolgt wird. 2. Weltmarktorientierung und Stärkung der Binnennachfrage

Brasiliens Politik hat sich nach dem Krisenjahrzehnt der 1980er Jahre erzwungenermaßen von der über Dekaden verfolgten Strategie importsub-

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

133

stituierender Industrialisierung verabschiedet, da diese bei einer ständig wachsenden externen Verschuldung nicht länger finanzierbar war. Nach dem notwendigen entwicklungsstrategischen Paradigmenwechsel lautet die Devise jetzt, gesamtwirtschaftliches Wirtschaftswachstum durch Fokussierung auf zwei Nachfragekomponenten zu generieren: (1.) Einbindung in die internationale Arbeitsteilung durch Spezialisierung auf den Export von Primärgütern und (2.) Stärkung der Binnennachfrage durch Einkommenserhöhungen breiter Bevölkerungsschichten. Abbildung 7: Brasilien – Wertschöpfungsstruktur der Warenausfuhr 2011 - in Prozent -

Quelle: World Bank 2013.

Gesamtwirtschaftliche Wachstumsimpulse durch Inwertsetzung des reichlich vorhandenen Naturkapitals zu generieren, bietet sich für Brasilien entwicklungsstrategisch an, denn in dem größten Land Lateinamerikas befinden sich bedeutende Lagerstätten an Bauxit, Blei, Eisenerz, Erdöl, Kupfer, Mangan, Nickel, Uran, Zink, Zinn sowie beachtliche Gold- und Diamantenvorkommen. Zudem verfügt das Land über ein enormes agrarisches Produktionspotenzial mit einem hoch produktiven Agrobusiness. Brasiliens Reichtum an natürlichen Ressourcen und seine agrarwirtschaftliche Leis­tungsfähigkeit spiegeln sich in der Wertschöpfungsstruktur der Warenausfuhr wider (Abb. 7). Zu den wichtigsten Posten in der Exportstatistik gehören traditionelle Primärprodukte wie Eisenerz, Erdöl, Fleisch etc. sowie agroindustrielle Erzeugnisse wie Sojamehl und Orangensaftkonzentrat. Bei steigenden Weltmarktpreisen für Rohstoffe und Agrarprodukte konnte das Land über Jahre hinweg von einer erheblichen Verbesserung

Hartmut Sangmeister

134

seiner Terms of Trade4 profitieren. Mit Erlösen von 86,5 Mrd. US-Dollar für den Export von Agrarprodukten 2011 nahm Brasilien im internationalen Vergleich den dritten Platz ein – nach den USA und der EU (WT0 2012: 70). Aber im Unterschied zu ihren Konkurrenten aus den USA und der EU sind brasilianische Produzenten auf dem Weltmarkt für Agrarerzeugnisse erfolgreich, ohne (volkswirtschaftlich widersinnige) Subventionen in vergleichbarer Milliardenhöhe zu erhalten. Brasilien hat in den zurückliegenden Jahren erfolgreich demonstriert, dass sich mit der Ausfuhr von Rohstoffen und Agrarprodukten beachtliche gesamt­wirtschaftliche Wachstumseffekte erzielen lassen. In der Zehn­ jahresperiode 2002–2011 lagen die jährlichen Zuwachsraten der Export­ erlöse fast immer über den gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten; andererseits führen weltwirtschaftliche Turbulenzen zu überproportionalen Rückgängen der brasilianischen Exporterlöse im Vergleich zu den gesamtwirtschaftlichen Wachstumseinbußen (Abb. 8). Abb. 8: Brasilien – Jährliche Wachstumsraten 2003–2012 - in Prozent %

15,3

15 10

9,3

5,0

5,7

5 0

11,5

10,4

2003

2004

7,5 5,2

6,1 4,0

3,2

1,1

6,2

2005

0,5

2006

-5 -10 Jährliche Wachstumsrate des BIP** (%)

2007

2008

Jahr

4,5 2,7

-0,3

2009

1,4 0,9

2010

2011

2012*

-9,1 Jährliche Wachstumsrate der Exporterlöse (%)

* Vorläufiger Wert. ** In konstanten US-Dollar des Jahres 2005.

Quelle: CEPAL 2012: 72, 75.

4

Setzt man den Index der Terms of Trade, d. h. den Index des Verhältnisses zwischen dem Preisindex der Exportgüter und dem Preisindex der Importgüter, für 2005 = 100, dann stieg er im Falle Brasiliens von 97,8 im Jahr 2003 auf 130,0 im Jahr 2012 (CEPAL 2012: 79).

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

135

Die bemerkenswerte Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung Brasi­ liens beruht aber keineswegs allein auf den außenwirtschaftlichen Erfolgen. Denn der prozentuale Beitrag der Exporte zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung ist trotz massiver Steigerung der Ausfuhrvolumina und -erlöse gesunken, von 16,4 Prozent im Jahr 2004 auf 11,9 Prozent 2011. Entscheidende Wachstumsbeiträge kamen von der Binnennachfrage. Der Anteil des privaten Konsums am BIP hat sich erhöht, von 59,8 Prozent 2004 auf 60,3 Prozent im Jahr 2011. Noch stärker ist der Staatsverbrauch gestiegen, dessen Anteil am BIP 2011 20,7 Prozent betrug, gegenüber 19,2 Prozent im Jahr 2004. Ermöglicht wurde die Ausweitung der Binnennachfrage durch die Schaffung von Millionen neuer Arbeitsplätze, durch Reallohnerhöhungen auf breiter Front sowie großzügige Konsumentenkredite. Die konsequente Erhöhung des staatlich fixierten Mindestlohns in Verbindung mit einer zielgruppenorientierten Sozialpolitik haben dazu geführt, dass die Einkommenskonzentration etwas verringert wurde, auch wenn die Einkommensverteilung noch immer zu den Ungleichsten weltweit zählt (Abb. 9). Am meisten begünstigt von dieser Entwicklung wurde die brasilianische Mittelschicht. Immerhin ist es in Brasilien gelungen, mit Programmen der Armutsbekämpfung, die weltweit Beachtung finden, das Millennium Development Goal Nr. 1 – Halbierung des Anteils der Armen an der Gesamtbevölkerung bis 2015 – vorzeitig zu erreichen (UNDP 2013: 26). Abb. 9: Brasilien – Personelle Einkommensverteilung 2001 und 2009 100,0

100

Kumulierte Anteile am Gesamteinkommen (in %)

90

80,0

80

60,0

57,1

60

53,7

41,4

40,0

40

22,4 20,0

20 10

0,0 0,0

0,8 0,9

2,9 2,5 20,0

10,0

38,0

19,1

8,3 40,0

60,0

80,0

100,0

Kum ulierte Anteile der Einkom m ensbezieher (in %) 2009

Quelle: World Bank 2013.

2001

Gleichverteilungsgerade

136

Hartmut Sangmeister

3. Die brasilianische Wachstumsstrategie: eine nachhaltige Erfolgsgeschichte?

Die Vereinten Nationen gehen in ihrem Human Development Report 2013 davon aus, dass die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens weiterhin anhalten wird, ebenso wie die anderer Schwellenländer. Bereits jetzt erbringen Brasilien, China und Indien zusammen eine Wirtschaftsleis­ tung, die derjenigen der ‘alten’ Industrieländer Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, und USA entspricht; bis 2050 sollen auf Brasilien, China und Indien 40 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung entfallen (UNDP 2013: 13). Trotz solch positiver Zukunftsaussichten müssen in Brasilien erhebliche Herausforderungen gemeistert werden, um weiterhin auf wirtschaftlichem Erfolgskurs bleiben zu können. Zwar gehört das Land inzwischen zu den 25 weltweit führenden Exportnationen (WTO 2012: 28) und in der Zehnjahresperiode 2002–2011 haben sich die Erlöse für den Export von Waren und Dienstleistungen mehr als vervierfacht, mit jährlichen Zuwachsraten von durchschnittlich fast 7 Prozent (Abb. 10); dennoch war der brasilianische Anteil an dem Gesamtwert der weltweiten Warenausfuhren auch 2011 mit 1,4 Prozent noch immer relativ gering – vergleichbar mit der Bedeutung von Exportnationen wie Australien oder der Schweiz. Im weltweiten Handel mit kommerziellen Dienstleistungen – dem am stärks­ ten wachsenden Segment des globalen Außenhandels – ist Brasilien in noch geringerem Maße präsent: Für den Export kommerzieller Dienstleistungen erzielte Brasilien 2011 Erlöse in Höhe von 36 Mrd. US-Dollar und damit lediglich 0,9 Prozent des globalen Umsatzes mit grenzüberschreitenden Dienstleistungen. Immerhin ist es Brasilien gelungen, die aus der Kolonialzeit überkommenen Liefer- und Absatzbeziehungen, die noch bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts den brasilianischen Außenhandel geprägt hatten, durch eine stärkere geographische Diversifizierung deutlich zu verändern. Die traditionelle Abhängigkeit von Abnehmern in Europa und Nordamerika wurde abgebaut. Vor allem in Asien konnten neue Märkte erschlossen werden, aber auch in den lateinamerikanischen Nachbarländern (Abb. 11). Die Europäische Union (EU) hat ihre lange Zeit vorherrschende Rolle als wichtigster Handelspartner Brasiliens eingebüßt. Jedoch entfiel 2012 immer noch ein Fünftel der brasilianischen Warenausfuhren auf die EU, aus der auch ein Fünftel der Gesamtimporte Brasiliens stammte. Die be-

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

137

deutendsten Abnehmerländer brasilianischer Produkte waren 2012 China, die USA und Argentinien, von denen Brasilien auch die meisten Waren importierte (Tabelle 1). Abb. 10: Brasilien – Export von Waren und Dienstleistungen 2002–2011 - in Mrd. US-Dollar und jährliche Zuwachsraten in Prozent 350 15,3%

300

Mrd. US$

250 200

7,4%

10,4%

11,5%

20 15 10

9,3%

6,2%

5,0%

4,5%5 0,5%

150 100

294,5

0 -5

69,9 -9,1%

50

-10

0

-15

2002

2003

2004

2005

2006

2007

Export von Waren und Dienstleistungen (Mrd. US$)

2008

2009

2010

2011 Jahr

Jährliche Zuwachsrate der Exporte* (in %)

* Zuwachsrate in konstanten US-Dollar des Jahres 2000.

Quelle: World Bank 2013

Abb. 11: Brasilien – Geographische Verteilung der Exporte 2012 - in Prozent Asien

31,1%

Europäische Union

20,1%

MERCOSUL

11,5%

Lateinamerika&Karibik*

9,3%

USA

11,1%

Afrika

5,0%

Naher Osten

4,8%

Osteuropa

1,8%

* Ohne die fünf Mitgliedstaaten des Mercado Comum do Sul (MERCOSUL).

Quelle: SECEX 2013: 17.

%

138

Hartmut Sangmeister Tabelle 1: Die wichtigsten Außenhandelspartner Brasiliens 2012 Brasilianische Warenausfuhr

Brasilianische Wareneinfuhr Wert Mrd. US$

Anteil am Gesamt­ export (%)

China USA Argentinien Deutschland Südkorea Nigeria

34,248 32,603 16,444 14,209 9,098 8,012

15,4 14,6 7,4 6,4 4,1 3,6

1. 2. 3. 4. 5. 6.

China USA Argentinien Niederlande Japan Deutschland

41,228 26,849 27,998 15,041 7,956 7,277

Anteil am Gesamt­ export (%) 17,0 11,1 7,4 6,2 3,3 3,0

7. 8.

Indien Venezuela

5,577 5,056

2,3 2,1

7. 8.

Japan Italien

7,735 6,199

3,5 2,8

4,602 4,581

1,9 1,9

9. 10.

Mexiko Frankreich

6,075 5,910

2,7 2,7

Wert Mrd. US$

nach

9. Chile 10. Italien

Gesamtexport

242,580

aus

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Gesamtimport

223,149

Quelle: SECEX 2013: 19.

Die relative Bedeutung des Warenaustauschs mit Deutschland, traditionell einer der wichtigsten Außenhandelspartner Brasiliens, ist in den zurückliegenden Dekaden gesunken, spielt aber nach wie vor eine wichtige Rolle. Aus deutscher Sicht ist die wirtschaftliche Bedeutung Brasiliens als Außenhandelspartner hingegen vergleichsweise gering: 2012 waren lediglich 1,1 Prozent des deutschen Warenexports für Brasilien bestimmt, und nur 1,2 Prozent der Warenimporte kamen aus brasilianischer Produktion (Statistisches Bundesamt 2013: 2). Die größten Veränderungen des brasilianischen Außenhandels haben sich in den Beziehungen zu Asien vollzogen, und vor allem der Warenaustausch mit China zeigte während der zurückliegenden Jahre eine außerordentliche Dynamik. Mit jährlichen Zuwachsraten von durchschnittlich etwa 40 Prozent in den Jahren 2002–2011 sind die Erlöse für brasilianische Ausfuhren nach China in diesem Zeitraum um über das Zwanzigfache gestiegen, von 1,9 Mrd. auf 44,3 Mrd. US-Dollar. Mit der Abschwächung des Wirtschaftswachstums in China waren die Ausfuhren in das ‘Reich der Mitte’ 2012 erstmals rückläufig (-7,0 Prozent gegenüber dem Vorjahr). Mehr als 70 Prozent der brasilianischen Lie-

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

139

ferungen nach China entfallen auf Primärprodukte wie Eisenerz und Nichteisen-Metalle, Soja und andere ölhaltige Früchte, Holz und zellulosehaltiges Material sowie Erdöl und Ölderivate. Brasilien liefert China aber auch industrielle Fertigprodukte wie Motoren und Autoteile in nennenswerter Größenordnung. Für China kommt Brasilien auf Grund seines Rohstoffreichtums eine ganz besondere Bedeutung zu. Die ost­ asiatische Wirtschaftsgroßmacht hat bereits 1993 mit Brasilien als erstem Land weltweit eine “strategische Partnerschaft” etabliert. Diese Partnerschaft ist während der Amtszeit von Präsident Lula durch eine Vielzahl von Abkommen zu einer intensiven Zusammenarbeit ausgebaut worden. Vorzeigeprojekte dieser Kooperation sind beispielsweise der sino-brasilianische Erderkundungssatellit zur Exploration natürlicher Ressourcen (China-Brazil Earth Resources Satellites-Project/CBERS) oder das Gemeinschaftsunternehmen der brasilianischen Empresa Brasileira de Aeronáutica (Embraer) mit der chinesischen Harbin Aviation Indus­try zum Bau des Mittelstreckenflugzeugs ERJ 145. Bereits 2004 wurde die brasilianisch-chinesische Zusammenarbeit im Bereich Nukleartechnologie vereinbart, welche die Lieferung von brasilianischem Uran nach China vorsieht sowie die Beteiligung Chinas an der Finanzierung des brasilianischen Nuklearprogramms. Die Nachhaltigkeit gesamtwirtschaftlicher Wachstumserfolge, die schwerpunktmäßig auf der Ausfuhr von Rohstoffen und Agrarprodukten basieren, hängt in hohem Maße davon ab, wie sich die globale Nachfrage nach Primärgütern entwickelt. Eine anhaltende Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in den wichtigsten Außenhandels-Partnerländern und/ oder sinkende Weltmarktpreise für Rohstoffe und Agrarprodukte führen unmittelbar zu Einbußen bei den brasilianischen Exporterlösen. Dies bekam Brasilien 2012 deutlich zu spüren, als nach vielen Jahren immer neuer Exportrekorde ein Rückgang der Ausfuhrerlöse gegenüber dem Vorjahr um 5,3 Prozent registriert werden musste. Bereits im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 war es zu leicht rückläufigen Exporterlösen gekommen. Die Abhängigkeit des exportbasierten Teils der brasilianischen Wachstumsstrategie von der weltwirtschaftlichen Entwicklung ist unübersehbar, da die Nachfrage nach Primärprodukten hoch elastisch auf Konjunkturschwankungen reagiert. Verbunden mit der Überbewertung der Landeswährung Real, welche die Importe verbilligt und die Exporte verteuert, sieht sich Brasilien außenwirtschaftlich seit einigen Jahren wieder mit dem

140

Hartmut Sangmeister

Problem chronischer Leistungsbilanzdefizite konfrontiert (Abb. 12). Allerdings konnten Fehlbeträge in der Leistungsbilanz während der zurückliegenden Jahre meist durch Zuflüsse ausländischer Direktinvestitionen mehr als ausgeglichen werden; zeitweise überstiegen die externen Kapitalzuflüsse das Defizit in der Leistungsbilanz, sodass sich die zentralen Devisenreserven des Landes erhöhten. Dieser Trend hat sich jedoch zwischenzeitlich umgekehrt. Schwächere Exporterlöse, steigende Import­ aufwendungen sowie höhere Rücküberweisungen von Dividenden und Gewinnen ausländischer Unternehmen in ihre Heimatländer lassen den Fehlbetrag in der Leistungsbilanz ansteigen. Zwar ist das Leistungsbilanzdefizit noch keineswegs besorgniserregend, zumal die brasilianische Zentralbank über Devisenreserven von 365 Mrd. US-Dollar verfügt; jedoch wäre ein anhaltender Anstieg des Fehlbetrags in der Leistungsbilanz bei dauerhaft rückläufigen Kapitalimporten problematisch. Abb. 12: Brasilien – Saldo der Leistungsbilanz 2003–2012 - in Prozent des BIP Leistungsbilanzüberschuss

Leistungsbilanzdefizit *Vorläufiger Wert.

Quelle: IMF 2013a: 168; World Bank 2013.

Angesichts jetzt deutlicher erkennbar werdender Schwächen seiner außenwirtschaftlichen ‘Reprimarisierungsstrategie’ muss Brasilien die Diversifizierung der zu einseitig ressourcenbasierten Exportpalette anstreben. Bislang sind Produkte Made in Brazil in den wertschöpfungsintensiven Hightech-Segmenten des Weltmarktes seltener vertreten als die Erzeugnisse anderer Schwellenländer. 2011 hatten Hochtechnologiegüter am brasilianischen Export von Industriegütern nur einen Anteil von 9,7 Prozent, in China hingegen 25,8 Prozent und in den Philippinen sogar 46,4 Pro-

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

141

zent. Zwar verfügt Brasilien über einen leistungsfähigen Industriesektor, aber auf den anspruchsvollen europäischen Märkten lassen sich überwiegend nur brasilianische Primärprodukte absetzen: 2012 waren 72 Prozent der brasilianischen Ausfuhren in die EU Primärprodukte, während Indus­ trieprodukte lediglich einen Anteil von 14 Prozent hatten (Abb. 13). Abb. 13: Brasilien – Struktur der Warenexporte in die EU 2012 - in Prozent 3,1% 11,0%

Primärprodukte

14,0%

Industrielle Halbfertigwaren Industrieprodukte 71,9%

Sonstige Erzeugnisse

Quelle: European Commission Trade 2013.

Unübersehbar ist allerdings, dass immer mehr brasilianische Unternehmen als global player auf dem Weltmarkt agieren. In der Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Weltwirtschaft, die das Fortune Magazine jährlich veröffentlicht, wurden für 2011 sieben Konzerne aus Brasilien aufgeführt. Auf Platz 23 der Fortune-Liste stand Petrobras, eines der weltweit fünf größten Unternehmen der Erdöl- und Erdgasindustrie, mit Produktionsstätten nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den USA, in Afrika, im Nahen Osten und in Portugal. Ebenfalls auf der Fortune-Liste genannt wurde der Konzern Vale, hervorgegangen aus dem ehemals staatlichen Unternehmen Vale do Rio Doce (CVRD), weltweit der größte Exporteur von Eisenerz, der in fünf Kontinenten auch Kohle, Kupfer, Nickel, Platin, Gold, Silber, Aluminium und Kobalt fördert. Ebenfalls ein global player ist der brasilianische Konzern JBS, der weltweit in der Fleischverarbeitung tätig ist. Auf der Liste des Fortune Magazine standen auch die brasilianischen Konzerne Itaúsa-Investimentos Itaú und Ultrapar Holdings mit ihren vielfältigen unternehmerischen Aktivitäten rund um den Globus.

142

Hartmut Sangmeister

Das relative Gewicht Brasiliens in der Weltwirtschaft hat sich jedoch ungeachtet der Internationalisierungs- und Diversifizierungserfolge der brasilianischen Wirtschaft nicht wesentlich verändert. Während sich beispielsweise Chinas Anteil an der globalen Wertschöpfung in drei Dekaden vervielfachte, ist der prozentuale Beitrag der brasilianischen Volkswirtschaft zum globalen BIP in diesem Zeitraum weitgehend konstant geblieben. 1980 hatte Brasilien einen Anteil von 2,4 Prozent an der globalen Wertschöpfung, die Volksrepublik China hingegen lediglich 1,0 Prozent; dreißig Jahre später erwirtschaftete China 7,8 Prozent des globalen BIP, Brasilien nur 2,2 Prozent.5 Von der Rolle einer weltwirtschaftlichen Großmacht wie China ist Brasilien noch ziemlich weit entfernt. Nicht nur die chinesischen Warenexporte übertreffen die brasilianischen Ausfuhren um ein Vielfaches. Auch im Vergleich zu chinesischen Direktinvestitionen im Ausland ist das Auslandsengagement brasilianischer Investoren deutlich geringer: Von 2007 bis 2011 investierten Unternehmen aus China (einschließlich Hongkong) 263 Mrd. US-Dollar in Produktionsstätten im Ausland, während brasilianische Unternehmen im selben Zeitraum für Neugründungen im Ausland nur 47 Mrd. US-Dollar aufwandten (UNCTAD 2012: 190–191). Ungeachtet seiner Exporterfolge während der zurückliegenden Jahre nimmt Brasilien in Ranglisten der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nur einen mittleren Platz ein – nahezu gleichauf mit Volkswirtschaften wie Portugal und Indonesien (Abb. 14). Der custo Brasil – das komplexe Zusammenwirken von endemischer Korruption, ausufernder staatlicher Bürokratie, exzessiven Ein- und Ausfuhrvorschriften, hohen Steuerlasten, einer widersprüchlichen Steuergesetzgebung sowie hohen Lohnnebenkos­ ten und hohen Realzinsen – verteuert die Produktionskosten in Brasi­ lien um mehr als 30 Prozent im Vergleich zu Deutschland und den USA (Estado de São Paulo, 08.03.2010). Doing business in und mit Brasilien ist schwieriger als in vielen anderen Ländern (Tabelle 2). Im internationalen Ranking der World Bank “Ease of doing business” erreichte Brasilien 2012 lediglich den 130. Platz von 185 Plätzen – einen Rang hinter Bangladesh und nur einen Rang vor Nigeria (World Bank 2012: 3). In dem von Transparency International veröffentlichten Corruption Perceptions Index 2012 für 174 Staaten rangiert Brasilien auf Platz 69 – gleichauf mit Ländern wie Mazedonien und Südafrika (Transparency International 2012). 5

Bruttoinlandsprodukt in konstanten US-Dollar des Jahres 2000.

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

143

Abb. 14: Brasiliens internationale Wettbewerbsfähigkeit 2012

0

1

2

3

GCI Score 4

5

Schweiz (1.Rang) Deutschland (6.Rang) USA (7.Rang)

7

5,48 5,47

Chile (33.Rang)

4,65

Brasilien (48.Rang) Portugal (49.Rang) Indonesien (50.Rang)

4,40 4,40 4,40

Ecuador (86.Rang) Mongolei (93.Rang) Argentinien [94.Rang)

Paraguay (116.Rang) Venezuela (126.Rang) Mali (128.Rang)

6

5,72

3,94 3,87 3,87

3,67 3,46 3,43

Quelle: WEF 2012: 13.

Den brasilianischen Ambitionen einer weltwirtschaftlichen Großmacht kann es auf Dauer nicht genügen, die Nachfrage der rohstoff- und ener­ giehungrigen Schwellenländer Asiens zu bedienen und die Welt mit Nahrungs- und Futtermitteln zu versorgen. Eine zukunftsfähige Einbindung in den Weltmarkt kann nicht allein auf die in Brasilien noch reichlich verfügbaren natürlichen Ressourcen bauen. Ohnehin muss eine ressourcenbasierte Wachstumsstrategie, wie sie Brasilien verfolgt, die Endlichkeit des nicht-erneuerbaren Naturkapitals berücksichtigen und ein effizientes Management der Umweltnutzung gewährleisten. Zwar sind Natur- und Umweltschutz in Artikel 225 der brasilianischen Verfassung von 1988 verankert und zahlreiche Institutionen für Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung wurden geschaffen, aber vielfach existieren Natur- und Umweltschutz lediglich auf dem Papier. Die Fakten der fortschreitenden Umweltschädigungen in Brasilien sind alarmierend. Und dennoch neigt Präsidentin Dilma Rousseff – ebenso wie schon ihr Amtsvorgänger Lula – dazu, wirtschaftlichen Interessen den Vorrang vor Umweltschutz zu geben.

144

Hartmut Sangmeister Tabelle 2: Die Bürokratie im brasilianisch-deutschen Vergleich

Ein Unternehmen legal zu eröffnen, dauert • in Brasilien 119 Tage und erfordert 13 verschiedene Verwaltungsvorgänge; • in Deutschland 15 Tage und erfordert 9 verschiedene Verwaltungsvorgänge. Die gerichtliche Durchsetzung eines Zahlungsanspruchs • dauert in Brasilien 731 Tage und erfordert 44 Verwaltungsvorgänge; • dauert in Deutschland 394 Tage und erfordert 30 Verwaltungsvorgänge. Ein durchschnittliches Insolvenzverfahren • ist in Brasilien erst nach 4 Jahren abgeschlossen; • ist in Deutschland bereits nach 1,2 Jahren abgeschlossen. Die Ausfuhr eines Containers verursacht durchschnittliche Kosten • in Höhe von 2.215 US-Dollar in Brasilien; • in Höhe von 872 US-Dollar in Deutschland. Quelle: World Bank 2012: 152, 165.

Um in der globalisierten Wirtschaft dauerhaft eine führende Rolle einnehmen zu können, muss Brasilien die Fähigkeiten für technologische Entwicklungen und für die Assimilation neuer Technologien stärken. Derzeit ist das Land im internationalen Vergleich technologisch nur bedingt wettbewerbsfähig. Im Technological Readiness Index 2012 des World Economic Forum, der die Kapazität eines Landes zur Partizipation an technologischen Entwicklungen bewertet, wird Brasilien nur auf Rang 48 platziert – zwischen Uruguay (Rang 47) und Ungarn (Rang 49) (WEF 2012: 18). Wettbewerbsfähigkeit in der internationalen Wirtschaftswelt des 21. Jahrhunderts, deren Produktions- und Wertschöpfungsprozesse immer stärker auf Wissen basieren, erfordert entsprechend qualifiziertes Humankapital. Hier bestehen aber in Brasilien nach wie vor nicht unerheb­ liche Defizite. Es fehlt in vielen Bereichen der brasilianischen Wirtschaft an gut ausgebildeten Facharbeitern, an Ingenieuren und Naturwissenschaftlern. Dies ist nur eine der negativen Konsequenzen des stark stratifizierten brasilianischen Bildungssystems und seiner exkludierenden Mechanismen. Die defizitäre Bildung großer Bevölkerungsschichten gilt als die eigentliche Achillesferse der Entwicklung Brasiliens. Um den bisherigen (welt‑)wirtschaftlichen Aufstieg Brasiliens abzusichern, ist es eine

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

145

der vordringlichsten Aufgaben, die Probleme des Erziehungswesens auf allen Ebenen zu lösen und die Qualität der formalen Bildung deutlich zu verbessern. Zwar besuchen inzwischen mehr als 95 Prozent der brasilianischen Kinder im grundschulpflichtigen Alter eine Schule, aber die Qualität der staatlichen Schulen gilt als dürftig und die Reprobations- und Abbrecherquoten sind hoch. Problematisch ist auch die Situation im Bereich der sekundären Bildung: Die Zahl von Schülern in der Altersgruppe zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr, welche eine Sekundarschule besuchen, nimmt ab, so dass im Jahr 2011 die Zahl der Sekundarschüler geringer war als noch 2000. Dies hat negative Konsequenzen für den Bereich der tertiären Bildung. Nur knapp 15 Prozent der brasilianischen Bevölkerung zwischen 18 und 24 Jahren sind in Hochschulen immatrikuliert – deutlich weniger als in Argentinien, Chile und auch in Bolivien. Die vergleichsweise niedrigen tertiären Immatrikulationsquoten sind auch eine Konsequenz des Finanzierungsmodells im tertiären Bildungsbereich. Während 2011 private Hochschulen von ihren Studierenden auf den rund 2,7 Millionen Studienplätzen Gebühren erhoben, war das Studium auf einem der 485.000 Studienplätze staatlicher Hochschulen gebührenfrei, wodurch der kostenfreie Zugang zu tertiärer Bildung auf etwa 20 Prozent der studierenden Bevölkerung beschränkt blieb (Baeta Neves 2013). Nach der Liberalisierung des brasilianischen Bildungsmarktes in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist das Angebot an Studienplätzen durch private Institutionen stark ausgeweitet worden, aber diese bedienen überwiegend nur die Nachfrage nach grundständigen Studiengängen mit geringen Voraussetzungen und niedrigen Investitionen in die Lehr-Infrastruktur. Dementsprechend unterscheidet sich in Brasilien die Struktur der Immatrikulationsdaten deutlich von derjenigen anderer – vor allem asiatischer – Schwellenländer. Im Jahr 2011 waren in Brasilien etwa 42 Prozent der Studierenden in sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen eingeschrieben, knapp 15 Prozent besuchten Studiengänge im Gesundheitsbereich und 16 Prozent in den Erziehungswissenschaften; lediglich 13 Prozent studierten Ingenieurwissenschaften und weniger als 3 Prozent waren in Studiengängen des Bereichs Landwirtschaft und Tiermedizin immatrikuliert. Brasilien hat in der Vergangenheit im internationalen Vergleich relativ wenig Mittel für Forschung und Entwicklung (F & E) aufgewandt: Im Zeitraum 2001–2010 stand lediglich 1 Prozent des BIP für F & E zur Verfü-

146

Hartmut Sangmeister

gung (zum Vergleich: Deutschland 2,6 Prozent). Erfolgreiche F & E-Leis­ tungen hängen jedoch nicht nur von den finanziellen Mitteln ab, die dafür bereitgestellt werden, sondern auch von der Verfügbarkeit entsprechend qualifizierter Humanressourcen. Hier besteht im internationalen Vergleich auf Grund der strukturellen Defizite des brasilianischen Hochschulsys­ tems ein erheblicher Aufholbedarf. Je 1 Million Einwohner waren 2010 in Brasilien nur 704 Wissenschaftler im Bereich F & E tätig (in Deutschland 3.979). Um die Forschungslandschaft zu verbessern und zu internationalisieren, hat die brasilianische Regierung 2011 das Stipendienprogramm “Wissenschaft ohne Grenzen” (Ciência sem Fronteiras/CsF) gestartet, das mit über 100.000 Stipendien in vier Jahren den internationalen Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern in den Bereichen der Life ­sciences, der Natur- und Ingenieurwissenschaften fördert. Die Entsendung der Stipendiaten in Länder mit exzellenten Hochschulen wie Australien, Deutschland, Frankreich, Japan, Großbritannien und die USA soll dazu beitragen, Innovation und technische Entwicklung in Brasilien voranzutreiben und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Wirtschaft zu festigen. Politik und Gesellschaft in Brasilien stellt sich die Aufgabe, makroökonomische Stabilität und außenwirtschaftliche Erfolge für Investitionen in die Zukunft zu nutzen. Die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas kann nur dann weiter an weltwirtschaftlicher Bedeutung gewinnen, wenn sie ihre Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Technologie stärkt. Ein nachhaltiger Aufstieg zu einer weltwirtschaftlichen Großmacht setzt voraus, konsequent alle Hemmnisse abzubauen, die eine Mobilisierung des enormen ökonomischen Potenzials des Landes behindern, wie die überbordende Bürokratie (Tabelle 2) und die endemische Korruption. Zu den vordringlich zu lösenden innenpolitischen Aufgaben gehört aber vor allem eine Bildungsreform, die sich konsequent an den Qualifikationserfordernissen des Arbeitsmarktes in der globalisierten Wirtschaftswelt des 21. Jahrhunderts orientiert. Literaturverzeichnis Baeta Neves, Abilio A.: “Der Wandel der Hochschullandschaft und der Forschung in Brasilien”. Vortrag im Rahmen des Seminars Regionalkompetenz Brasilien, 08.04.2013, Internationale DAAD Akademie, Berlin; vervielfältigtes Manuskript.

Brasiliens Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Großmacht

147

CEPAL [Comisión Económica para América Latina y el Caribe] (2012): Balance preliminar de las economías de América Latina y el Caribe. Santiago de Chile. European  Commission trade (2013): Brazil. EU Bilateral Trade and Trade with the World.

(24.05.2013). IMF [International Monetary Fund] (2013a): World Economic Outlook, April 2013. Hopes, Reali­ties, Risks. Washington, DC. — (2013b): Regional Economic Outlook: Western Hemisphere, May 2013. Washington, DC. Lateinamerika Finanzmarkt Monitor, 16. Mai 2013. SECEX [Secretaria de Comércio Exterior do Ministério do Desenvolvimento, Indústria e Comércio Exterior] (2013). Balança comercial Brasileira. Dados consolidados 2012. Brasília. Statistisches Bundesamt (2013): Außenhandel. Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland 2012. Wiesbaden. Transparency International (2012): Corruption Perceptions Index 2012. Berlin. UNCTAD [United Nations Conference on Trade and Development] (2012): World Invest­ ment Report 2012. Genève. UNDP [United Nations Development Programme] (2013): Human Development Report 2013. The Rise of the South: Human Progress in a Diverse World. New York. WEF [World Economic Forum] (2012): Global Competitiveness Report 2012-2013. Genève. World Bank (2012): Doing Business 2013. Smarter Regulations for Small and Medium Enterprises. Washington, DC. — (2013): World Development Indicators Online. (15.–29.05.2013). WTO [World Trade Organization] (2012): International Trade Statistics 2012. Genève.

Brasilien als internationaler Akteur Peter Birle

Einleitung

Brasilien ist seit Mitte der 1990er Jahre in zunehmendem Maße als globaler politischer Akteur in Erscheinung getreten. Unter den Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995 –2002) und Luiz Inácio Lula da Silva (2003 –2010) sowie seit 2011 unter Präsidentin Dilma Rousseff hat das Land nicht nur in Lateinamerika verstärkt politische Verantwortung übernommen und zahlreiche Anstöße für neue regionale Kooperations- und Integrationsprozesse gegeben, sondern sich auch über die eigene Region hinaus profiliert: durch eine aktive Afrikapolitik, durch die Mitarbeit in multilateralen Süd-Süd-Foren wie der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und dem IBSA-Forum (Indien, Brasi­ lien, Südafrika), durch eine prominente Rolle bei den Diskussionen über die Zukunft der Welthandelsordnung und durch Vermittlungsangebote in internationalen Konflikten. Die brasilianische Außenpolitik zeichnet sich dabei gleichermaßen durch Kontinuitäten und Brüche aus. Während das außerordentlich aktive Engagement neu ist, bestehen viele Grundprinzipien der internationalen Einbindung Brasiliens schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Der folgende Beitrag beschreibt zunächst einige Konstanten und Grundprinzipien der brasilianischen Außenpolitik und geht dann auf die internen und externen Faktoren ein, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten den Aufstieg des Landes zu einem global player ermöglicht haben. Im Anschluss daran erfolgt ein Blick auf die Beziehungen mit Lateinamerika, auf die Süd-Süd-Politik sowie auf die Politik gegenüber den USA und Europa. Kontinuität und Wandel der Außenpolitik

Mit fast 200 Millionen Einwohnern, einem Territorium von 8.547.000 km2 und einem Bruttoinlandsprodukt, das zu den zehn größten weltweit gehört, ist Brasilien ein Land von kontinentalen Dimensionen. Es gehört

150

Peter Birle

zu den grundlegenden Konstanten der brasilianischen Außenpolitik, dass die politischen Eliten aus der Größe des Landes traditionell eine Ambi­ tion, gewissermaßen einen natürlichen Anspruch Brasiliens abgeleitet haben, eine wichtige Rolle in der Welt zu spielen. Dieses Statusbewusstsein war bereits vorhanden, lange bevor die Militärs in den 1960er und 1970er Jahren ihre Großmachtträume in geopolitischen Kategorien artikulierten, und es hat auch nach der Rückkehr zur Demokratie seinen Platz im Kanon der außenpolitischen Grundüberzeugungen nicht eingebüßt. Die Gewiss­ heit, dass Brasilien aufgrund seiner Größe ein Platz im Konzert der global players zustehe, verband sich mit der Einsicht, dass es dazu zunächst seine wirtschaftliche Abhängigkeit überwinden und die nationale Entwicklung fördern müsse. Insofern besteht eine zweite zentrale Konstante des außenpolitischen Denkens in der Vorstellung, dass die internationalen Beziehungen dazu beitragen müssen, die interne wirtschaftliche und soziale Entwicklung voranzutreiben. Umgekehrt hat dieser desarrollistische Grundzug dazu geführt, dass die außenpolitische Agenda stets stark durch das jeweils vorherrschende Wirtschaftsmodell beeinflusst wurde. Zwei weitere Konstanten der brasilianischen Außenpolitik lauten Universalismus und Autonomie. Brasilien erhebt den Anspruch, nicht nur in Lateinamerika eine wichtige Rolle zu spielen, sondern substantielle Beziehungen zu allen Weltregionen zu pflegen; und es strebt gleichzeitig danach, seine internationale Einbindung frei von Zwängen zu gestalten, die dem Land durch andere Staaten oder durch einseitige Abhängigkeiten auferlegt werden könnten. Während dieses Streben nach Autonomie eine Konstante ist, hat sich die Art und Weise, wie die Autonomie erlangt bzw. erhalten werden soll, in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Vigevani/Cepaluni (2010) unterscheiden in dieser Hinsicht zwischen drei grundlegenden Strategien der brasilianischen Außenpolitik: • •



Autonomie durch Distanz, d. h. Wahrung der eigenen Souveränität durch die Nichtbeteiligung an internationalen Vereinbarungen; Autonomie durch Partizipation, d. h. der Versuch, die internationale Agenda durch eine aktive Beteiligung an internationalen Diskussionen und Vereinbarungen im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen und zu verändern; Autonomie durch Diversifizierung, d. h. die Etablierung von strategischen Partnerschaften mit Ländern, die eine ähnliche Position in der globalen Machthierarchie einnehmen, um so die internationale Ord-

Brasilien als internationaler Akteur

151

nung im Sinne der Entwicklungsländer zu verändern, Gegengewichte zu den von den entwickelten Ländern vorgegebenen Prioritäten aufzubauen und die eigene Verhandlungs- und Gestaltungsmacht im internationalen System zu erhöhen. Keine dieser drei Strategien wird in Reinkultur verfolgt, es handelt sich eher um unterschiedliche Mischungsverhältnisse. Die Regierungen der Streitkräfte (1964 –1985) setzten auf defensive Positionen im Hinblick auf internationale Vereinbarungen im Bereich der Menschenrechte, der Kontrolle sensibler Technologien und der Nichtverbreitung von Atomwaffen (Autonomie durch Distanz). Gleichwohl engagierte sich Brasilien schon in den 1970er Jahren aktiv im Rahmen der damaligen Nord-Süd-Agenda und schloss sich der Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung an. Nach dem Ende der Militärherrschaft nahm die Partizipation in internationalen Foren weiter zu. Die Cardoso-Administration bemühte sich in den 1990er Jahren durch eine aktive Mitarbeit in vielen internationalen Gremien darum, das Erbe der Militärdiktatur hinter sich zu lassen und den Status des Landes zu verbessern. Zu einem zentralen Ziel der brasilianischen Außenpolitik gehört seitdem ein ständiger Sitz in einem reformierten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN). Aber während Cardoso vor allem darauf setzte, dass Brasilien in den Club der Mächtigen aufgenommen wird, ohne allzu sehr auf grundlegende strukturelle Veränderungen des internationalen Systems zu pochen, trat die Regierung Lula sehr aktiv für grundlegende Reformen des VN-Systems, der Welthandelsordnung und der internationalen Finanzordnung ein und bediente sich dabei einer Strategie der Autonomie durch Diversifizierung. Weitere zentrale Merkmale der brasilianischen Außenpolitik sind ihre Professionalität, ihre pragmatische Grundhaltung und ihre langfristige Orientierung im Sinne einer “Staatspolitik”. Entscheidende Weichenstellungen in dieser Richtung wurden schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Außenminister Baron von Rio Branco (1902–1912) vorgenommen. Rio Branco sorgte für die Institutionalisierung eines professionell arbeitenden Außenministeriums – bekannt als Itamaraty, in Anlehnung an den Namen des Palastes, der von 1899 bis 1970 als Sitz der Behörde diente – sowie eines funktionierenden diplomatischen Dienstes. Während Außenpolitik in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern vor allem auf Präsidialdiplomatie basiert, wurde in Brasilien das Außenministerium selbst zu einem wichtigen institutionellen Akteur. Das Itamaraty fungiert als in-

152

Peter Birle

stitutionelles Gedächtnis einer diplomatischen Tradition (Lafer 2001). Die starke Position des Außenministeriums sorgt dafür, dass Regierungswechsel in der Regel nicht zu brüsken Veränderungen der Außenpolitik führen, wie dies beispielsweise im Nachbarland Argentinien in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder der Fall gewesen ist. Gleichwohl ist auch die brasilianische Außenpolitik nicht in Stein gemeißelt. Innerhalb des Außenministeriums existieren unterschiedliche Strömungen, deren jeweiliger Einfluss sich verschieben kann. Während die Befürworter einer starken Süd-Süd-Orientierung unter Präsident Lula an Einfluss gewannen, wurden die “pragmatischen Institutionalisten” zurückgedrängt. Kritiker beklagten unter Lula auch eine “Politisierung” der Außenpolitik. Vor den Präsidentschaftswahlen von 2010 wurde die Außenpolitik erstmals zu einem Wahlkampfthema. Mit der Regierungsübernahme durch Präsidentin Rousseff sind diese Auseinandersetzungen wieder abgeflaut, was damit zusammenhängen dürfte, dass sie einen wesentlich nüchterneren Politikstil vertritt als ihr Vorgänger, der sich im Rahmen unzähliger Auslandsreisen stark persönlich auf internationalem Parkett engagierte und dabei keine Berührungsängste mit umstrittenen Amtskollegen wie dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zeigte. Auch die geographischen Prioritäten der Außenpolitik haben sich seit der Regierung Lula verschoben. In einem Aufsatz für die Zeitschrift Revista Brasileira de Política Internacional zog der damalige Außenminister Celso Amorim im Jahr 2010 eine erste Bilanz zum Ende der Regierung Lula. Allein der Umfang und die Reihenfolge der von ihm angesprochenen Themen der außenpolitischen Agenda sprechen eine deutliche Sprache: Zunächst äußert sich Amorim auf 13,5 Seiten zu den weltpolitischen Veränderungen, zur neuen Rolle Brasiliens, zu Fragen der global governance sowie zu den Themen Solidarität und Universalismus. Es folgen vier Seiten zu Südamerika, eineinhalb Seiten zu den Süd-Süd-Beziehungen allgemein und vier Seiten zu Afrika, dem Mittleren Osten and beyond. Auf gut einer Seite werden danach die Beziehungen mit Europa und den USA kurz abgehandelt (Amorim 2010). Ein Blick in Reden der gegenwärtigen Präsidentin Dilma Rousseff bestätigt diese Prioritätensetzung: Lateinamerika und Afrika stehen an erster Stelle, es folgen die übrigen Süd-SüdBeziehungen, erst danach interessieren die Beziehungen mit den USA und Europa (Rousseff 2013).

Brasilien als internationaler Akteur

153

Voraussetzungen für den Aufstieg zum global player

Brasiliens internationaler Aufstieg im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte war nicht nur das Ergebnis einer bewussten politischen Entscheidung, sondern er basierte auch auf einer Reihe von internen und externen Vo­ raussetzungen. Ohne die innenpolitische und makro-ökonomische Stabilität, das solide wirtschaftliche Wachstum und die sozialen Fortschritte, die in jüngerer Zeit erzielt werden konnten, wäre Brasiliens aktive internationale Rolle kaum in der zu beobachtenden Form möglich gewesen. Auch wenn trotz eines forcierten Kampfes gegen die Armut nach wie vor große gesellschaftliche Ungleichheit herrscht, auch wenn trotz der Einführung neuer Elemente partizipativer Demokratie nach wie vor grundlegende politische Reformen notwendig sind und auch wenn trotz mehr Transparenz des öffentlichen Sektors die weit verbreitete Korruption nach wie vor ein gravierendes Problem ist, so bildeten die im Lande selbst erzielten Fortschritte doch eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich Brasilien auch international als glaubwürdiger Vertreter demokratischer, partizipativer und sozialer Werte engagieren und globale Strukturreformen einfordern konnte. Sonst wäre es auch kaum möglich gewesen, dass Präsident Lula gleichermaßen bei den Globalisierungskritikern im Rahmen des Weltsozialforums wie bei der in Davos versammelten internationalen Business-Elite als gern gesehener Gast willkommen geheißen wurde. Das verstärkte außenpolitische Engagement diente nicht zuletzt der Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die internationalen Aktivitäten brasilianischer Unternehmen. Eine Reihe von Großkonzernen inves­ tiert in zunehmendem Maße in lateinamerikanische und globale Märkte. Dies war nicht nur wegen der für Brasilien günstigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen (enorm gewachsene Nachfrage aus Asien, hohe Rohstoffpreise) möglich, sondern auch, weil einige Unternehmen große Produktivitätsfortschritte erzielt haben und international konkurrenzfähig sind. Sonst wäre der Aufstieg des Landes zu einem der größten Agrarexporteure kaum möglich gewesen. Dadurch änderte sich gleichzeitig die Erwartungshaltung von Teilen der Privatwirtschaft gegenüber der Regierung. War es früher vor allem der defensiv orientierte Schutz des brasilianischen Binnenmarktes, den die Unternehmen von der Regierung einforderten (eine von Teilen der Industrie nach wie vor vertretene Position), so erwartet man heute auch eine aktive Mitgestaltung der internationalen

154

Peter Birle

Rahmenbedingungen im Sinne der ‘nationalen Interessen’. Hier wird einmal mehr der desarrollistische Grundzug der Außenpolitik deutlich. Brasiliens Aufstieg zum global player ist aber auch auf Veränderungen in Lateinamerika und im internationalen System insgesamt zurückzuführen, auf eine Krisen- und Übergangssituation, aus der sich für Brasilien neue Handlungsspielräume ergaben. Diese Faktoren können an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden, sie seien aber zumindest kurz genannt: •

• • • • •

die Krise des neoliberalen Entwicklungsmodells und die Suche nach alternativen Wegen. In Lateinamerika schlug sich diese Tendenz in den Wahlsiegen anti-neoliberaler Parteien und Bewegungen und in der Machtübernahme durch linke Regierungen nieder; die Krise des kapitalistischen Akkumulationsmodells, wie sie sich vor allem in der internationalen Finanzkrise nach 2008 zeigte; die weitverbreitete Kritik am nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etablierten System von Bretton Woods und der Ruf nach einer Reform des internationalen Finanzsystems; die weltweit zunehmenden Forderungen nach einer Reform der Vereinten Nationen; die Tendenzen zu einem polyzentrisch strukturierten internationalen System mit zunehmender Machtdiffusion; die Krise der US-Hegemonie und das Fehlen einer klar konturierten Lateinamerikapolitik der USA.

Brasilien hat es verstanden, die günstigen internen und externen Rahmenbedingungen zu nutzen, um seiner Außenpolitik ein in dieser Form nie zuvor gekanntes Profil zu verleihen. Ein zentraler Bestandteil dieses Engagements ist eine aktive Süd- bzw. Lateinamerikapolitik. Brasilien und Lateinamerika

Brasilien nimmt mehr als die Hälfte des Territoriums Südamerikas ein und weist Grenzen mit 10 der 12 unabhängigen Staaten des Subkontinents auf. Die zentrale geographische Position wird noch akzentuiert durch die Bevölkerungsgröße (fast 200 Mio.) und die Wirtschaftskraft des Landes. Seit den 1990er Jahren und nochmals verstärkt seit den beiden Amtszeiten von

Brasilien als internationaler Akteur

155

Präsident Lula bemüht sich Brasilien aktiv um einen Ausbau seiner politischen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen mit den Nachbarn in Südamerika. Lange Zeit waren die geographischen Schwerpunkte der Außenpolitik anders definiert: Während des gesamten 19. Jahrhunderts und eines großen Teils des 20. Jahrhunderts strebte Brasilien vor allem gute Beziehungen mit Europa und den Vereinigten Staaten an. Demgegenüber zeichnete sich die Haltung gegenüber Lateinamerika eher durch Desinteresse oder Distanz aus. Dies änderte sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aus mehreren Gründen. Erstens wurden die Erwartungen Brasiliens an die “ungeschriebene Allianz” mit den USA immer wieder enttäuscht, weshalb man sich verstärkt um eine Zusammenarbeit mit den südamerikanischen Nachbarn bemühte, zumal sich dafür nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes auch neue Spielräume ergaben. Zweitens bot sich nach dem Ende der traditionellen Rivalität mit Argentinien die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Nachbarland eine Verbesserung des internationalen Status anzustreben. Drittens erhöhte sich im Zuge der Demokratisierungsprozesse in Südamerika seit den 1980er Jahren nicht nur die Kooperationsbereitschaft der Regierungen, sondern auch der Austausch auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Viertens nahm die Bedeutung der süd­ amerikanischen Märkte für die brasilianische Volkswirtschaft zu. Der Anteil der Exporte nach Lateinamerika an den Gesamtexporten des Landes stieg von etwas mehr als 10 % auf ca. ein Viertel. Zudem liegt der Anteil der Industrieprodukte an den Exporten in die Region mit über 90 % so hoch wie gegenüber keiner anderen Weltregion. Das bilaterale Verhältnis mit dem wichtigsten Nachbarn Argentinien war seit dem 19. Jahrhundert durch Rivalitäten geprägt. Phasen einer engeren Zusammenarbeit wurden immer wieder durch Perioden abgelöst, in denen die Konflikte zwischen den Nachbarländern zunahmen. Lange Zeit hatte Argentinien einen deutlichen Entwicklungsvorsprung vor Brasilien, der aber seit den 1960er Jahren verloren ging. Die Bevölkerung Brasiliens ist mit knapp 200 Mio. Einwohnern heute fast fünfmal so groß wie die Argentiniens, während die Relation noch Mitte des 20. Jahrhunderts in etwa 1 zu 3 (17 Mio. Argentinier, 52 Mio. Brasilianer) betrug. Das Bruttoinlandsprodukt Brasiliens war 2008 etwa viermal so hoch wie das Argentiniens, während beide Länder in den 1960er Jahren noch fast gleichauf lagen. Den seit Mitte der 1970er Jahre in mehreren Schüben erfolgten Desindustrialisierungstendenzen in Argentinien stand ein relativ kontinuierliches Wachstum der brasilianischen Industrieproduktion gegenüber.

156

Peter Birle

Seit Ende der 1970er Jahre konnten die wechselseitigen Spannungen Schritt für Schritt abgebaut werden. Die Annäherung begann in der Endphase der Militärdiktaturen. 1980 unterzeichneten beide Länder mehrere Kooperationsabkommen im Energie- und Nuklearsektor. Während des Falkland/Malvinen-Konfliktes zwischen Argentinien und Großbritannien im Jahr 1982 zeigte sich Brasilien solidarisch mit Argentinien. Die brasilianische Regierung unterstützte zwar nicht die Anwendung militärischer Gewalt gegenüber Großbritannien, wohl aber den argentinischen Rechtsanspruch auf die Inselgruppe im Südatlantik. Im Zuge des Übergangs zur Demokratie in Argentinien (1983) und Brasilien (1985) verbesserten und intensivierten sich die Beziehungen weiter. 1986 unterzeichneten beide Länder ein Abkommen über die Liberalisierung des bilateralen Handels. 1990 vereinbarten sie die Etablierung einer Wirtschaftsgemeinschaft und luden wenig später auch Uruguay und Paraguay ein, sich an der Initiative zu beteiligen, die im März 1991 in die Gründung des Gemeinsamen Marktes des Südens (Mercosul) mündete. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen des Mercosul entwickelte sich zunächst zu einer Erfolgsgeschichte. Während der 1990er Jahre wuchs der bilaterale Handel um das Siebenfache. Argentinien wurde zum zweitwichtigsten Abnehmer brasilianischer Produkte, während Brasilien zum wichtigsten Exportmarkt für Argentinien avancierte. Im Bereich Sicherheitspolitik vereinbarten beide Länder wichtige vertrauensbildende Maßnahmen. Mit der Deklaration von Rio im Jahr 1997 definierten sie ihre bilaterale Beziehung als “strategische Allianz”. Gleichwohl erschwerten unterschiedliche außenpolitische Strategien und zunehmende Handelskonflikte eine engere Zusammenarbeit. Argentinien, das die langjährige “ungeschriebene Allianz” zwischen Brasilien und den USA immer mit Skepsis und Misstrauen verfolgt hatte, bemühte sich während der Regierungszeit von Präsident Menem (1989 –1999) selbst um eine Sonderbeziehung zu den USA. Damit rückte Brasilien als außenpolitischer Partner in die zweite Reihe, auch wenn es als Handelsund Wirtschaftspartner wichtig blieb. Mit Nestor Kirchner (2003 –2007) und Luiz Inácio Lula da Silva (2003 –2010) kamen zwar in beiden Ländern Präsidenten an die Regierung, die dem Mercosul grundsätzlich positiv und der Liberalisierungspolitik der neunziger Jahre eher skeptisch gegenüberstanden. Trotzdem gelang es nicht, der subregionalen Wirtschaftsintegration neuen Schwung zu verleihen. Mehr als 20 Jahre nach Gründung des Mercosul ist nur ein geringer Teil der ursprünglichen Ziele verwirklicht

Brasilien als internationaler Akteur

157

worden. Die Perfektionierung der Zollunion ist in weite Ferne gerückt, vielmehr häufen sich die Handelskonflikte zwischen den Mitgliedsstaaten. Selbst das Funktionieren als Freihandelszone ist angesichts immer neuer nicht-tarifärer Handelshemmnisse und Quoten für den Handel in sensiblen Bereichen nicht mehr gewährleistet. Weniger als die Hälfte der zwischen den Mitgliedsstaaten vereinbarten gemeinsamen Regeln, Normen und Standards wurde in nationale Regelungen überführt. Der Mercosul verfügt über eine komplexe institutionelle Struktur, die allerdings einer rein intergouvernementalen Logik folgt. Die Etablierung von supranationalen Steuerungsmechanismen stößt auf entschiedenen Widerstand. Entscheidungsprozesse sind in den nationalen Exekutiven konzentriert. Es ist nicht gelungen, gemeinsame Visionen zu entwickeln, und insgesamt dominiert der Eindruck der Fragmentation. Die kleinen Mitgliedsländer Paraguay und Uruguay sehen sich als Integrationsverlierer und erwarten mehr Unterstützung und größere Anstrengungen zum Abbau der innergemeinschaftlichen Asymmetrien. Die Einrichtung eines Strukturellen Konvergenzfonds (FOCEM) im Jahr 2007 war zwar ein Schritt in die richtige Richtung, sein finanzieller Umfang ist mit ca. 125 Mio. US-Dollar jedoch eher bescheiden. Auch wenn Brasilien 70 % der Beiträge zu dem Fonds beisteuert, scheint es stark übertrieben, das Land deswegen in Anlehnung an die langjährige deutsche Rolle in Europa bereits als Zahlmeister des Integrationsprozesses zu bezeichnen, wie dies verschiedene Experten in jüngerer Zeit getan haben. Obwohl die Regierungen aller Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit wiederholt von einer “Vertiefung” und “Wiederankurbelung” des Mercosul gesprochen haben, scheint der politische Wille dazu nicht vorhanden zu sein. Zwar ist aufgrund der damit verbundenen politischen Kosten nicht damit zu rechnen, dass eines der Mitgliedsländer das Bündnis verlässt, aber vor allem Brasilien scheint nicht daran interessiert zu sein, dem Mercosul größere Entscheidungskompetenzen zuzugestehen. Die strukturellen Asymmetrien zwischen Brasilien und den anderen Mitgliedsländern haben sich seit Gründung des Mercosul eher verstärkt als reduziert. Argentinien hat für Brasilien stark an Bedeutung verloren. Noch Anfang der 1990er Jahre war Argentinien für Brasilien als Energie- und Lebensmittellieferant nicht unwichtig. Inzwischen ist Brasilien selbst in beiden Bereichen zu einem Exporteur geworden. Die wiederholten wirtschaftlichen und politischen Krisen in Argentinien bei einer gleichzeitig relativ kontinuierlichen und erfolgreichen Entwicklung Brasiliens haben die ‘strategische Partnerschaft’ zwischen beiden Ländern stark

158

Peter Birle

relativiert. Brasilien ist trotz Integrationsrhetorik nicht dazu bereit, seinem Streben nach außenpolitischer Autonomie und Universalismus durch eine institutionelle Stärkung des Mercosul Schranken setzen zu lassen. Parallel zur subregionalen Wirtschaftsintegration im Rahmen des Mercosul ergriffen die brasilianischen Regierungen seit den 1990er Jahren weitere Initiativen zum Ausbau der regionalen Zusammenarbeit. Im Jahr 1992 vereinbarten die Unterzeichner des Amazonaspaktes von 1978 (Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Guyana, Peru, Surinam und Venezuela) eine sogenannte Amazonasinitiative zur engeren Zusammenarbeit im Bereich der physischen Infrastruktur. 1994 schlug die brasilianische Regierung die Errichtung einer Südamerikanischen Freihandelszone (ALCSA) vor, die allerdings ebenso wenig verwirklicht wurde wie der von den USA im gleichen Jahr lancierte Vorschlag einer Gesamt­amerikanischen Freihandelszone (Área de Libre Comercio de las Américas; ALCA). Im September 2000 lud der damalige Präsident Cardoso erstmals alle südamerikanischen Staats- und Regierungschefs zu einem Gipfeltreffen in die brasilianische Hauptstadt Brasília ein. Das Treffen gilt als Geburtsstunde der “Initiative zur regionalen Infrastrukturintegration in Südamerika” (IIRSA), mit der die physische Integration Südamerikas vorangetrieben werden sollte. Beim dritten südamerikanischen Gipfeltreffen im peruanischen Cusco wurde 2004 die Gemeinschaft Südamerikanischer Nationen (CSN) ins Leben gerufen, die 2007 auf Vorschlag Venezuelas den Namen Union Südamerikanischer Nationen (UNASUL) erhielt. Zentrales Ziel der UNASUL ist die Stärkung der kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit in Südamerika. Der im Mai 2008 unterzeichnete Gründungsvertrag wurde von allen zwölf unabhängigen Staaten Südamerikas unterzeichnet. Ebenfalls aufgrund einer brasilianischen Initiative entstand Ende 2008 im Rahmen der UNASUL der Südamerikanische Verteidigungsrat. Die brasilianische Diplomatie sprach seit den 1990er Jahren immer öfter von Südamerika und seltener von Lateinamerika, wenn es um die Definition der eigenen regionalen Zugehörigkeit ging. Dies war kein Zufall, sondern bewusste Strategie. Dahinter steckte insbesondere die Ansicht, dass Mexiko sich aufgrund seiner starken Hinwendung zu den USA und spätestens mit Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) im Jahr 1994 so weit von Südamerika entfernt habe, dass es keinen Sinn mehr mache, von Lateinamerika zu sprechen. Mexiko, Zentralamerika und die Karibik wurden dem geopolitischen Ein-

Brasilien als internationaler Akteur

159

flussgebiet der USA zugerechnet, während Südamerika als eine natürliche Interessensphäre Brasiliens angesehen wurde. Gleichwohl ist die Bezugnahme auf Lateinamerika nicht vollständig von der diplomatischen Agenda Brasiliens verschwunden, im Gegenteil, in den vergangenen Jahren ist wieder öfter die Rede davon. Im Dezember 2008 lud Präsident Lula die Staats- und Regierungschefs aller Länder Lateinamerikas und der Karibik zu einem Gipfeltreffen nach Costa do Sauípe ein, um über Integra­tionsund Entwicklungsfragen zu sprechen. 33 Länder, einschließlich Kuba, waren bei dem Treffen anwesend. Zum ersten Mal in 200 Jahren unabhängiger Geschichte – so betonten die brasilianischen Gastgeber – hatten sich damit die lateinamerikanischen und karibischen Länder ohne externe Bevormundung versammelt. Beim zweiten CALC-Gipfeltreffen an der mexikanischen Riviera Maya im Februar 2010 wurde die Gründung einer Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) beschlossen, die dann im Dezember 2011 in Caracas erfolgte. Brasilien war nicht das einzige Land, das im vergangenen Jahrzehnt Impulse für einen Ausbau der regionalen Zusammenarbeit gab. Insbesondere Venezuela trat unter Präsident Hugo Chávez durch entsprechende Initiativen hervor. Mit der Bolivarischen Allianz für die Völker Amerikas (ALBA), einem auf den Grundprinzipien Kooperation, Solidarität, Komplementarität und Selbstbestimmung basierenden alternativen Integra­ tionsmodell, sowie mit zahlreichen Initiativen für eine verstärkte regionale Zusammenarbeit in den Bereichen Militär, Finanzen, Umwelt, Bildung, Wissenschaft und Technologie, Gesundheit und Medien gelang es dem im März 2013 verstorbenen Chávez, zum charismatischen Anführer einer gegen die die kapitalistische Globalisierung und den ‘US-Imperialismus’ gerichteten Bewegung zu werden. Obwohl Brasilien mit dem von Chávez propagierten bolivarischen Mythos einer lateinamerikanischen Einheit weder in historischer Perspektive noch im Hinblick auf die damit verbundenen aktuellen Zielsetzungen übereinstimmt, bemühten sich die Regierungen Lula und Rousseff immer darum, Venezuela nicht auszugrenzen und die von den beiden Ländern propagierten Integrationsmodelle als komplementär darzustellen. Die auf Provokation und radikalen Positionen basierende venezolanische Politik hatte für Brasilien zudem den Vorteil, dass dadurch die eigene Glaubwürdigkeit als Garant einer zwar progressiven, aber gleichzeitig moderaten und vermittelnden Position zusätzlich gestärkt wurde. Diese vermittelnde Rolle Brasiliens wurde auch durch das Engagement der brasilianischen Diplomatie bei der Krisenbewältigung

160

Peter Birle

in und zwischen Nachbarländern, beispielsweise beim Konflikt zwischen Peru und Ecuador (1995), in Paraguay (1996), in Haiti und Bolivien sowie im Hinblick auf die angespannte Situation in Venezuela deutlich. Im Jahr 2004 übernahm Brasilien zudem die Führung der VN-Friedensmission in Haiti. Trotz dieser vielfältigen politischen Initiativen tut sich Brasilien nach wie vor schwer mit einer Führungsrolle in Südamerika. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass sich die brasilianische Außenpolitik stets im Spannungsfeld zwischen erwünschter Übernahme von Verantwortung einerseits und Ängsten der Nachbarn vor einem brasilianischen Hegemoniestreben andererseits bewegen muss. Zudem hat Brasilien zwar ansatzweise damit begonnen, finanzielle Kosten des regionalen Integrationsprozesses zu übernehmen, es ist aber nicht dazu bereit, eine Stärkung subregionaler oder regionaler Entscheidungsinstanzen auf Kosten der eigenen außenpolitischen Entscheidungsfreiheit zu akzeptieren. In wirtschaftlicher Hinsicht wird eine brasilianische Führungsrolle in Südamerika auch durch die starken entwicklungsstrategischen Interessendivergenzen zwischen den gegenwärtigen Regierungen erschwert. Während Länder wie Chile, Peru und Kolumbien sich auf der Grundlage bi- und multilateraler Freihandelsabkommen zunehmend in Richtung pazifisches Asien orientieren, vertreten Länder wie Venezuela, Bolivien und Ecuador extrem globalisierungskritische Positionen. In entwicklungsstrategischer Hinsicht nimmt Brasilien eine Zwischenposition ein, es ist jedoch für keines seiner Nachbarländer ein entwicklungsstrategisches Modell. Der Schutz der nationalen Industrie war und ist ein zentrales Ziel der Außen- und Außenwirtschaftspolitik. Brasilien verfügt heute über den größten und am stärksten diversifizierten Industriesektor der Region, darunter sind aber auch zahlreiche wenig wettbewerbsfähige Sektoren. Der große brasilianische Binnenmarkt könnte ein wichtiger Anziehungspunkt für die Nachbarländer sein, er gilt jedoch als hochgradig geschützt. Brasiliens staatliche Entwicklungsbank BNDES ist zwar inzwischen zu einer der kapitalstärksten Entwicklungsbanken weltweit avanciert und engagiert sich in zunehmendem Maße auch in großen Infrastrukturprojekten außerhalb Brasiliens, die zur Verfügung gestellten Mittel kommen jedoch ausschließlich brasilianischen Unternehmen zugute. Die Bank ist damit kein Instrument einer regionalen Konvergenzpolitik, sondern eher ein weiteres Instrument im Arsenal der brasilianischen Wirtschaft, um ihre führende Rolle in Südamerika auszubauen.

Brasilien als internationaler Akteur

161

Die Süd-Süd-Politik

Neben den innerlateinamerikanischen Beziehungen ist zumindest in rhetorischer Hinsicht die Süd-Süd-Politik seit der Regierung Lula zu einem Schwerpunkt der brasilianischen Außenpolitik avanciert. Dazu gehört ers­ tens eine aktive Politik gegenüber dem afrikanischen Kontinent, die sich in der Eröffnung zahlreicher neuer Botschaften, in einer regen Besuchsdiplomatie sowie in einem Ausbau der brasilianischen Entwicklungszusammenarbeit mit afrikanischen Ländern niedergeschlagen hat (ausführlicher Seibert 2009, Zilla/Harig 2012). Zweitens hat Brasilien eine Reihe von Süd-Süd-Gipfeltreffen initiiert, beispielsweise zwischen Südamerika und Afrika, zwischen Südamerika und den arabischen Staaten sowie zwischen Südamerika und Ostasien. Drittens stützt sich die brasilianische Diplomatie in wachsendem Maße auf neue Netzwerke und Allianzen mit anderen aufstrebenden Mächten außerhalb der OECD-Welt. Dabei handelt es sich um Bündnisse mit variabler Geometrie, die nicht notwendigerweise auf gemeinsamen Werten und allgemeinen Prinzipien basieren, sondern je nach konkretem Thema ad hoc zustande kommen (Flemes/Scholvin/Strüver 2011). Die wichtigsten dieser multilateralen Foren sind die BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und das IBSA-Forum (Indien, Brasilien, Südafrika). Die Bündnisse gelten aus brasilianischer Perspektive als funktional für die Vertretung nationaler Interessen auf globaler Ebene, eine grundsätzliche Schwäche besteht jedoch darin, dass sie alle stark vom schwankenden politischen Willen der beteiligten Länder abhängig sind, der Zusammenarbeit im Rahmen der jeweiligen Außen- und Außenwirtschaftsstrategien einen wichtigen Platz einzuräumen. Mit der Süd-Süd-Politik verbinden sich für die brasilianische Außenpolitik mehrere Zielsetzungen. Es geht zum einen darum, die eigene Gestaltungsmacht im internationalen System weiter auszubauen und Reformen voranzutreiben, die einen Machtzugewinn für Brasilien bedeuten würden. An erster Stelle ist hier sicherlich das Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der VN zu nennen. Es geht zum anderen darum, Entscheidungen und Entwicklungen zu verhindern, die nicht im brasilianischen Interesse liegen. Diese Vetomacht wurde 2003 sehr deutlich, als Brasilien eine führende Rolle im Rahmen der G20 spielte, einer Koalition von Entwicklungs- und Schwellenländern, die mit ihrer entschlossenen Haltung die Verhandlungen im Rahmen der Konferenz der Welthandelsorganisa-

162

Peter Birle

tion (WTO) in Cancún zum Scheitern brachte, weil die von den USA und der EU vorgelegten Vorschläge als inakzeptabel betrachtet wurden. Nicht zuletzt ist die Süd-Süd-Politik auch ein Instrument, um nach Anerkennung und Statuszugewinnen, sowohl von Seiten der etablierten Mächte als auch von Seiten des Südens, zu streben. Die bilateralen Beziehungen zu den USA

Auch wenn der kulturelle, politische und wirtschaftliche Einfluss der USA in Südamerika nie ein vergleichbares Ausmaß erreichte wie in Mexiko, Zentralamerika und der Karibik, so waren und sind die USA doch ein wichtiger Referenzpunkt für die internationale Einbindung Brasiliens. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern haben im 20. Jahrhundert sehr unterschiedliche Phasen durchlaufen, die von der Allianz bis zur wechselseitigen Distanzierung reichten, dabei aber nie in offene Feindschaft umschlugen. Seit der Amtszeit von Außenminister Rio Branco (1902–1912) bemühte sich Brasilien um ein konfliktfreies Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Ein gutes Verhältnis zur Hegemonialmacht im Norden schien nicht nur aufgrund der handelspolitischen Abhängigkeit sinnvoll. Brasilien baute auch darauf, dass eine pragmatische Unterstützung nord­ amerikanischer Positionen auf hemisphärischer und globaler Ebene im Gegenzug zu einer wohlwollenden Haltung der USA gegenüber brasilianischen Inte­ressen führen und somit die internationale Position Brasiliens stärken würde. Ob diese frühe Form des bandwagoning tatsächlich zu den gewünschten Ergebnissen führte, blieb in Brasilien immer umstritten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren die brasilianischen Erwartungen gegenüber den USA groß: Brasilien hatte den Achsenmächten 1942 den Krieg erklärt und 1944 ein 25.000 Mann starkes Expeditionskorps nach Europa geschickt. Als Dank dafür rechnete man mit wirtschaftlichem und politischem Entgegenkommen der USA. Umso größer war die Enttäuschung darüber, dass Brasilien nicht den erhofften ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erhielt. Auch die wirtschaftliche Unterstützung der USA blieb weit hinter den brasilianischen Erwartungen zurück. Der ideologische Konsens der brasilianischen Eliten mit den USA im Kalten Krieg trat daher in dem Maße in den Hintergrund, wie sich in Brasilien ein wirtschaftlicher Nationalismus ausbreitete und Außenpolitik immer mehr als Außenwirtschaftspolitik im Dienste der nationalen Ent-

Brasilien als internationaler Akteur

163

wicklung gesehen wurde. Ab Ende der 1960er Jahre wuchs die Unzufriedenheit gegenüber den USA, da diese zunehmend als Garant einer als ungerecht empfundenen Weltwirtschaftsordnung wahrgenommen wurden. In den 1980er Jahren war Brasilien aufgrund wachsender politischer und ökonomischer Konflikte immer weniger dazu bereit, die nordamerikanischen Positionen im Ost-West-Konflikt zu unterstützen. Der bilaterale Handel nahm zwar zu, aber unterschiedliche Auffassungen im Hinblick auf Themen wie die Schuldenkrise, Technologietransfer, den Schutz von Patenten und geistigem Eigentum, den wechselseitigen Marktzugang und Exportsubventionen sorgten für zahlreiche Divergenzen. Dies änderte sich vorübergehend, als Präsident Collor de Mello (1990–1992) eine Öffnung, Deregulierung und Liberalisierung des brasilianischen Binnenmarktes in Gang setzte. Im Verlauf der 1990er Jahre verdoppelte sich das Volumen des bilateralen Handels und die Direktinvestitionen der USA in Brasilien verdreifachten sich. Die Regierungen Clinton (1993 –2001) und Cardoso (1995–2002) arbeiteten in vielen Bereichen zusammen, die bilaterale Agenda blieb jedoch durch eine Reihe von Handelskonflikten belastet. Zum zentralen Thema entwickelten sich dabei die letztlich gescheiterten Verhandlungen über die von den USA 1994 vorgeschlagene Bildung einer Gesamt­amerikanischen Freihandelszone (ALCA). Die unterschiedlichen Auffassungen dahingehend, welche Märkte in welchem Ausmaß und zu welchem Zeitpunkt geöffnet werden sollten, konnten nie überwunden werden. Während die USA eine Liberalisierung der Märkte für Industriegüter und Dienstleistungen anstrebten, forderte Brasilien eine Öffnung der Agrarmärkte und einen Abbau von Subventionen und protektionistischen Maßnahmen in den Industrie­ländern. Außerdem bestand das Land auf einer differenzierten Marktöffnung je nach Größe und Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Volkswirtschaften. Entsprechend dieser Konfliktlinien saßen sich Brasilien und die USA auch bei den Welthandelsgesprächen im Rahmen der WTO in unterschiedlichen Lagern gegenüber. Der Amtsantritt von US-Präsident George W. Bush (2001–2008) und dessen Außenpolitik (Krieg in Afghanistan, Bush-Doktrin, Irak-Invasion) führten zu einer deutlichen Abkühlung des bilateralen Verhältnisses, da Brasi­ lien dieser Politik sehr kritisch gegenüberstand und sich weigerte, Bushs “Koalition der Willigen” beizutreten. Viele Beobachter rechneten daher mit wachsenden Konfrontationen zwischen beiden Ländern, als Präsident Lula 2003 sein Amt antrat. Dazu kam es jedoch nicht. Lula und Bush

164

Peter Birle

pflegten regelmäßige Kontakte auf höchster Ebene und auch ihre Außenminister standen in einem engen Austausch miteinander. Die bilateralen Beziehungen blieben freundlich, auch wenn in der Sache zum Teil tiefgreifende Interessenunterschiede und Meinungsverschiedenheiten existierten. Ein zentrales Thema in den Beziehungen zwischen beiden Ländern ist der Handel. Auch wenn auf die USA heute nur noch 14 % der brasilianischen Exporte und 15 % der Importe entfallen, so bleibt der US-Markt doch wichtig für Brasilien, vor allem für Fertiggüterexporte. Einige brasilianische Exportprodukte sind allerdings in den USA mit hohen Einfuhrzöllen und/oder Antidumping-Maßnahmen konfrontiert, beispielsweise Zucker, Tabak, Ethanol und Orangensaft. Beide Länder haben wegen diverser Handelsdispute immer wieder die Streitschlichtungsinstanzen der WTO bemüht. Umgekehrt beklagen die USA hohe brasilianische Zölle für Industriegüter und erwarten mehr Entgegenkommen beim Handel mit Dienstleistungen, Investitionen, Eigentumsrechten und staatlichen Ausschreibungen. Es sind diese grundsätzlichen Fragen, die sich nicht nur mit Blick auf den bilateralen Handel stellen, sondern genauso hinsichtlich der zukünftigen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen in den Amerikas und auf globaler Ebene. Zu einem wichtigen Thema zwischen beiden Ländern sind in den vergangenen Jahren Energiefragen geworden. Dabei geht es zum einen um Biokraftstoffe. Brasilien und die USA haben als die beiden weltgrößten Produzenten von Ethanol im Jahr 2007 ein Memorandum of Understanding unterzeichnet, um die Ethanolproduktion in der westlichen Hemisphäre zu steigern, globale Produktionsstandards in diesem Bereich zu etablieren, Entwicklungs- und Forschungskapazitäten auszubauen und Technologien auszutauschen. Einem weiteren Ausbau der bilateralen Zusammenarbeit steht jedoch unter anderem entgegen, dass brasilianisches Ethanol in den USA mit hohen Einfuhrzöllen belegt wird, während die USA die eigene Ethanolproduktion subventionieren und zugleich den zollfreien Import von Ethanol aus der Karibik und Zentralamerika ermöglichen. Zu Verstimmungen führte wiederholt auch das Thema Atomenergie. Brasilien ist zwar 1998 unter Präsident Cardoso dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, es besteht jedoch auf dem Recht, selbst zu zivilen Zwecken Uran anzureichern. In politischer Hinsicht begrüßten es die USA offiziell, dass Brasilien seit den 1990er Jahren eine aktivere Rolle in Südamerika übernommen und wiederholt zur Lösung von zwischenstaatlichen Konflikten in der Re-

Brasilien als internationaler Akteur

165

gion beigetragen hat. Gleichwohl zeigten sich zwischen dem ‘Stabilitätsanker Brasilien’ und den USA wachsende Divergenzen im Hinblick auf die Einschätzung regionaler Entwicklungen und die Rolle der USA in der Hemisphäre. Je mehr Brasilien sich zudem um eine Profilierung auf globaler Ebene bemüht und dabei auf einem von den USA unabhängigen Profil besteht, desto eher sind in Zukunft bilaterale Konflikte zu erwarten. Ein klares Beispiel dafür war die heftige Kritik der USA an dem von Brasilien und der Türkei in Verhandlungen mit dem iranischen Präsidenten im Mai 2010 erzielten Kompromiss im Streit um das Atomprogramm des Iran. Die Beziehungen mit der Europäischen Union

Neben den bilateralen Beziehungen mit wichtigen europäischen Partnern wie Frankreich, Deutschland und Spanien konzentriert sich die brasilianische Politik gegenüber Europa vor allem auf vier Bereiche: den Handel, die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen zwischen dem Mercosul und der EU, die 2007 abgeschlossene strategische Partnerschaft mit der EU sowie die Zusammenarbeit zur Gestaltung globaler Strukturen und Prozesse. Mit einem Außenhandelsvolumen von fast 77 Mrd. Euro (2012) ist die EU einer der wichtigsten Handelspartner Brasiliens. Brasilianischen Exporten im Wert von 37,1 Mrd. Euro standen dabei Importe im Wert von 39,6 Mrd. Euro entgegen. Für Brasilien ist die EU der wichtigste Abnehmer von landwirtschaftlichen Produkten wie Zucker, Sojabohnen und Rindfleisch. Gleichwohl sind gerade die Handelsbeziehungen immer wieder zur Quelle von Konflikten geworden, da hier unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen. Während Brasilien von der EU seit langem einen verbesserten Marktzugang für seine landwirtschaftlichen Produkte (und in den vergangenen Jahren auch für Biotreibstoff) fordert und die Agrarsubventionen der EU kritisiert, steht die EU den hohen Zugangshürden zum brasilianischen Markt für Industriegüter und Dienstleistungen skeptisch gegenüber und fordert einen verbesserten Schutz von geis­ tigem Eigentum. Diese Divergenzen haben bislang auch den erfolgreichen Abschluss eines Assoziierungsabkommens zwischen dem Mercosul und der EU verhindert, über das seit 1999 verhandelt wird und das eine breite Palette an Themen umfassen sollte, vom politischen Dialog über den Handel mit Agrargütern und Dienstleistungen bis hin zu Regeln für öffentliche Beschaffungen, Investitionen und geistige Eigentumsrechte. Obwohl

166

Peter Birle

beide Seiten wiederholt ihr Interesse an einem solchen Abkommen beteuert haben, scheint letztlich der politische Wille zu fehlen, um sich auf die dafür notwendigen Kompromisse einzulassen. Durch die 2007 vereinbarte strategische Partnerschaft zwischen der EU und Brasilien sollte die Zusammenarbeit in Energiefragen, im Hinblick auf die Bekämpfung des Klimawandels und in puncto Gestaltung der globalen Strukturpolitik intensiviert werden. Doch obwohl sich die Häufigkeit der Treffen seitdem erhöht hat, ist es nicht gelungen, substanzielle Kompromisse zu erzielen. Auch wenn beide Seiten immer wieder ihre gemeinsamen Grundwerte und die Präferenz für multilaterale Strategien betonen, so liegen die konkreten Vorstellungen im Hinblick auf die Gestaltung des internationalen Systems doch oft weit auseinander. Hinzu kommt, dass Europa aus brasilianischer Perspektive zunehmend als ‘Kontinent der Vergangenheit’ angesehen wird. Die EU, so der brasilianische Sicherheitsexperte Alcides Costa Vaz, sei jahrhundertelang eine Kernregion und ein führender Akteur der Weltpolitik gewesen. Wirtschaftliche, geostrategische und demographische Entwicklungen hätten jedoch – verstärkt nach dem Ende des Ost-Welt-Konfliktes – dazu geführt, dass diese Rolle zunehmend in Frage gestellt werde. Die EU sei nach wie vor eine Exportmacht, ein wichtiger Akteur in multilateralen Institutionen und der engste Verbündete der USA, aber ihre relative Macht und ihr internationaler Einfluss würden als stagnierend oder sogar als zurückgehend wahrgenommen. Demgegenüber spielten neue Akteure wie Brasilien eine zunehmende Rolle auf globaler Ebene (Costa Vaz 2013). Solche Aussagen zeigen nicht nur das gewachsene Selbstbewusstsein Brasiliens, sondern sie erklären auch, warum Brasilien nur bedingt dazu bereit ist, sich auf Kompromisse mit einer EU – zumal einer durch die EuroKrise noch verstärkt in Mitleidenschaft gezogenen EU – einzulassen, von der man annimmt, dass sie ohnehin in Zukunft eine immer geringere Rolle spielen wird. Fazit

Brasilien ist in den vergangen zwei Jahrzehnten zu einem internationalen Akteur ersten Ranges avanciert. Dazu beigetragen haben sowohl die im Inneren des Landes erzielten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erfolge als auch die veränderten internationalen Rahmenbedingungen.

Brasilien als internationaler Akteur

167

Die brasilianische Diplomatie hat es verstanden, dieses Umfeld geschickt zu nutzen, um sich nicht nur in der eigenen Region Süd- bzw. Lateinamerika, sondern auch auf globaler Ebene als wichtiger politischer Akteur zu etablieren. Die Professionalität und die langfristige Orientierung der brasilianischen Außenpolitik machen das Land zu einem zuverlässigen Partner. Gleichwohl ist Brasilien nicht nur ein zäher Verhandlungspartner, sondern das internationale Engagement des Landes folgt auch nahezu ausschließlich einem strikten Kalkül nationalen Interesses und ist stets darauf bedacht, auf keinen Fall eine Einschränkung der nationalen Autonomie zuzulassen. Dies zeigt sich nicht nur im Rahmen der regionalen Kooperations- und Integrationsprozesse in Lateinamerika, sondern auch in den anderen Bereichen der brasilianischen Außenpolitik.

Literaturverzeichnis Amorim, Celso (2010): “Brazilian Foreign Policy under President Lula (2003-2010): An Overview”. In: Revista Brasileira de Política Internacional, 53 (Special Edition), 214 –240. Birle, Peter (2006a): “Brasilien und die Amerikas: Lateinamerika und die USA als Bezugspunkte der brasilianischen Außenpolitik”. In: Birle, Peter et al. (Hg.): Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas. Frankfurt am Main: Vervuert, 139–166. — (2006b): “Von Rivalen zu strategischen Partnern? Selbst- und Fremdbilder in den bilateralen Beziehungen zwischen Argentinien und Brasilien”. In: Birle, Peter/Nolte, Detlef/Sangmeister, Hartmut (Hg.): Demokratie und Entwicklung in Lateinamerika. Frankfurt am Main: Vervuert, 311–339. — (2009): “Zwischenstaatliche Konflikte in Südamerika vom 19. Jahrhundert bis heute. Ursachen, Lösungsansätze, Perspektiven”. In: Mark, Lothar/Fritz, Erich G. (Hg.): Lateinamerika im Aufbruch. Eine kritische Analyse. Oberhausen: Athena, 123 –136. — (2010a): “Argentinien und Brasilien zwischen Rivalität und Partnerschaft”. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 12/2010, 3 – 8. — (2010b): “Zwischen Integration und Fragmentierung: Regionale Zusammenarbeit in Lateinamerika”. In: Birle, Peter (Hg.): Lateinamerika im Wandel. Baden-Baden: Nomos, 75 –98. Burges, Sean W. (2008): “Consensual Hegemony: Theorizing Brazilian Foreign Policy after the Cold War”. In: International Relations, 22, 1, 65 – 84. Costa Vaz, Alcides (2013): Brazilian Perspectives on the Changing Global Order and Security Challenges. Bruxelles: Center for European Policy Studies (CEPS Working Document No. 376). Daudelin, Jean (2007): “Joining the Club: Lula and the End of Periphery for Brazil”. In: Birle, Peter/Costa, Sérgio/Nitschack, Horst (Hg.): Brazil in the Americas. Convergences and Perspectives. Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert, 51–77.

168

Peter Birle

Flemes, Daniel/Scholvin, Sören/Strüver, Georg (2011): “Aufstieg der Netzwerkmächte”. In: GIGA Focus Global, 2, 1– 8. Grabendorff, Wolf (2013): “Brasilien auf dem Weg zur Weltmacht?” In: Der Bürger im Staat, 1-2, 117–124. Gratius, Susanne (2012): Brazil and the European Union: Between Balancing and Bandwagoning. Madrid: Egmont Institute/FRIDE. Hirst, Monica (2005): The United States and Brazil: a long Road of Unmet Expectations. New York: Routledge. Lafer, Celso (2001): A identidade internacional do Brasil e a política externa brasileira. Passado, presente e futuro. São Paulo: Perspectiva. Malamud, Andrés (2011): “A Leader without Followers? The Growing Divergence Between the Regional and Global Performance of Brazilian Foreign Policy”. In: Latin American Politics and Society, 3, 1–24. Moniz Bandeira, Alberto Luiz (2006): “Brazil as a Regional Power and its Relations with the United States”. In: Latin American Perspectives, 148, 12 –27. Meimann, Kellie/Rothkopf, David (2009): The United States and Brazil. Two Perspectives on Dealing with Partnership and Rivalry. Washington, DC: Center for American Progress. Pastrana Buelvas, Eduardo/Jost, Stefan/Flemes, Daniel (Hg.) (2012): Colombia y Brasil: ¿socios estratégicos en la construcción de Suramérica? Bogotá: Editorial Pontificia Universidad Javeriana. Rousseff, Dilma (2013): “Discurso da Presidenta da República, Dilma Rousseff, durante cerimônia de formatura da turma 2011/2013 do Instituto Rio Branco. Palácio Itamaraty, 17 de junho de 2013”. (3.7.2013). Seibert, Gerhard (2009): “Brasilien in Afrika: Globaler Geltungsanspruch und Rohstoffe”. In: GIGA Focus Africa, 8, 1– 8. Sorj, Bernardo/Fausto, Sergio (Hg.) (2011): Brasil y América del Sur. Miradas Cruzadas. Buenos Aires: Catálogos. — (2013): Brasil y América Latina: ¿Qué Liderazgo es Posible? Rio de Janeiro: Plataforma Democrática. Vigevani, Tullo/Cepaluni, Gabriel (2010): Brazilian Foreign Policy in Changing Times. The Quest for Autonomy from Sarney to Lula. Lanham: Lexington Books. Zilla, Claudia (2011): Brasilianische Außenpolitik. Nationale Tradition, Lulas Erbe und Dilmas Optionen. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. Zilla, Claudia/Harig, Christoph (2012): Brasilien als emerging donor: politische Distanz und operative Nähe zu den traditionellen Gebern. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik.

Die kulturelle Dynamik Brasiliens1 Horst Nitschack

Trotz seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung hat Brasiliens Kultur auf der internationalen Bühne nicht die gleiche Verbreitung und dasselbe Ansehen wie die hispanoamerikanischen Kulturen erreicht. Ein wichtiger Grund hierfür ist sicher die Bedeutung der präkolumbianischen Kulturen – Tolteken und Azteken in Mexiko, Mayas in Zentralamerika und Inkas in den Anden –, für die es im Raum des heutigen Brasiliens keine Entsprechungen gab. Auch während der Kolonialzeit bis zu den Unabhängigkeitserklärungen der neuen amerikanischen Nationen war die kulturelle Ausstrahlung der hispanoamerikanischen Kolonien nach Eu­ ropa von größerer Bedeutung als die des portugiesischen Kolonialreichs in Amerika. Dies lag nicht zuletzt an der portugiesischen Kolonialpolitik, die darauf abzielte, den riesigen Raum in direkter Abhängigkeit vom Mut­ terland zu halten. Die portugiesischen Kolonialherren gründeten keine Universitäten, die Eliten der Kolonie waren für ihre Ausbildung auf das Mutterland, vor allem auf die Universität in Coimbra, angewiesen. Die Einrichtung von Druckereien, die ein eigenständiges intellektuelles Leben ohne direkte Überwachung durch die Beamten der portugiesischen Kro­ ne gefördert hätten, war untersagt. Die Plantagenwirtschaft (zuerst Zu­ cker, später Kakao und Kaffee) als der wichtigste wirtschaftliche Produk­ tionszweig basierte vor allem auf der Ausbeutung aus Afrika importierter Sklaven und verlangte nur einen geringen Anteil an städtischen Eliten. Ganz anders in Hispanoamerika, wo die kolonialen Metropolen nicht nur Handelszentren, sondern auch Verwaltungszentren waren und gut ausge­ bildete Kolonialbeamte benötigten. Ein im Vergleich mit den spanischen Kolonien relativ geringes allgemeines Bildungsniveau im portugiesisch sprechenden Teil Amerikas war die Folge. Die entscheidende Wende begann im Jahr 1808 mit dem Umzug des gesamten portugiesischen Königshauses und seines Hofstaates von Lis­ sabon nach Rio de Janeiro. Im Gegensatz zum spanischen König Karl IV 1

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang des Forschungsprojektes FONDECYT Nr. 1120116.

170

Horst Nitschack

kapitulierte der portugiesische Prinzregent João VI nicht vor den napo­ leonischen Truppen, sondern entschloss sich, seinen Regierungssitz nach Rio de Janeiro zu verlegen und bestieg mit mehr als 10.000 Begleitern eine von den Engländern bereitgestellte Flotte. Dieser Zustrom an Poli­ tikern, Verwaltungsbeamten und der zugehörigen Infrastruktur bedeute­ te für die verschlafene Tropenstadt am Zuckerhut einen entscheidenden Wandel. Rio de Janeiro erhielt ein neues Theater und eine Bibliothek, in der die 70.000 Bände der Lissaboner Staatsbibliothek, die im könig­ lichen Umzugsgepäck mitgeführt wurden, untergebracht werden konn­ ten. Nach der endgültigen Niederlage Napoleons rief João VI 1816 die ‘Französische Kunstmission’ mit dem Auftrag ins Land, die künstlerische Ausbildung in Brasilien nach französischem Vorbild zu modernisieren. Ihr gehörten Namen an wie Jean-Baptiste Debret, Nicolas-Antoine und Auguste Marie Taunay, Vater von Félix Taunay. Wenn die Wirkung der Mission auch weit hinter den Erwartungen zurückblieb, die in sie gesetzt wurden, so kam mit ihr doch ein für die Herausbildung der brasiliani­ schen Kultur entscheidender weiterer Faktor ins Spiel: die Rezeption und Aneignung der kulturellen Traditionen und künstlerischen Produktio­ nen der anderen europäischen Länder, vor allem derjenigen Frankreichs. Auch die deutschsprachigen Länder spielten in den nächsten Jahrzehnten in der kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung des ab 1822 als Kaiserreich unabhängigen tropischen Staates eine nicht zu unterschät­ zende Rolle. 1817 traf in Begleitung von Maria Leopoldine von Öster­ reich, der zukünftigen Gemahlin des Kaisers von Brasilien, eine Gruppe von österreichischen und deutschen Wissenschaftlern in Brasilien ein, unter anderem die Naturwissenschaftler Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich Philipp von Martius. Sie leisteten zusammen mit einer Rei­ he weiterer deutscher Naturwissenschaftler und Anthropologen in der Folgezeit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der tropischen Natur Brasiliens. Zu ihnen gehörten Wilhelm Ludwig von Eschwege, Georg Heinrich Freiherr von Langsdorff, an dessen Expedition ins Innere Bra­ siliens (1824 –28) auch zeitweise der Maler Johann Moritz Rugendas teil­ nahm und später dann Karl von der Steinen und Theodor Koch-Grün­ berg, die ihre bedeutenden Amazonas-Expeditionen in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchführten. Wenn deren Forschungsreisen – vor allem die der beiden Letztgenann­ ten – auch anthropologisch von großer Bedeutung waren, so wurde doch durch ihre Publikationen in Deutschland ein Brasilienbild verbreitet, das

Die kulturelle Dynamik Brasiliens

171

das Land vor allem mit den Kulturen der Indianerstämme der unzugäng­ lichen Amazonasregionen identifizierte. Ein solcher Exotismus war allerdings bereits von der brasilianischen Romantik selbst gefördert worden. Auf der Suche nach einer selbstständi­ gen brasilianischen Kultur, die sich von der Kultur der ehemaligen Kolo­ nialmacht absetzt, entdeckten Autoren wie Gonçalves de Magalhães, José de Alencar und Gonçalves Dias die indianischen Kulturen des 16. und 17. Jahrhunderts, deren Vertreter sie entweder nach dem Vorbild antiker Hel­ den oder als Verkörperungen des Rousseau’schen ‘edlen Wilden’ in ihren Epen und Romanen auftreten ließen. Im einen Fall war der brasilianische Indianer ein tropischer Herkules oder eine tropische Artemis, im anderen Fall Brasilien der Ort, in dem der ‘edle Wilde’ tatsächlich existiert hatte. Im ersten Fall lag die Absicht zugrunde, die indianischen Stämme Brasiliens zu Vertretern von humanen Werten zu machen, die denen des antiken Griechenlands nicht nachstehen, im zweiten Fall wurde der Rousseau’sche ‘edle Wilde’ für Brasilien als Wirklichkeit postuliert. Beide Fälle können als Argumentationsstrategien der brasilianischen Eliten interpretiert werden, eine kulturelle Eigenständigkeit für Brasilien zu reklamieren, bei der das Land als unabhängige Nation den europäischen Kulturnationen auf Au­ genhöhe begegnete. Die Künste, vor allem eine Nationalliteratur, waren für die neu ent­ stehenden lateinamerikanischen Nationen von ähnlich großer Bedeutung wie einige Jahrzehnte zuvor für die europäischen Länder. Für die inter­ nationale Anerkennung als selbstständige Nation spielte die Existenz ei­ ner Nationalliteratur eine entscheidende Rolle, denn das Recht auf Na­ tion wurde mit dem Verweis auf eine bereits bestehende Nationalliteratur mit ihren Mythen, Sagen und Märchen legitimiert. Das galt auch im Falle Brasiliens. Der Literatur kam dabei nicht nur die Aufgabe der nationalen Integration zu, d. h. Landschaften, Schauplätze, Figuren, Konflikte und ganz allgemein Erzählungen zu erfinden, die Brasilien als Brasilien identi­ fizierten und ein Bild von einem Land entstehen ließen, mit dem sich die Leser der schmalen Elite identifizieren konnten. Die Literatur war auch der privilegierte Ort und die Nationalliteratur die privilegierte Institution, in der eine eigene brasilianische Sprache gefordert und gefördert wurde. Sie setzte sich vom Portugiesisch der ehemaligen Kolonialmacht nicht nur in der Aussprache, sondern auch in Syntax und Lexik ab. Die Gründung der Brasilianischen Akademie der Literatur Ende des 19. Jahrhunderts (1896) war die logische Folge dieses Prozesses. Ihr ging die Veröffentli­

172

Horst Nitschack

chung der ersten brasilianischen Literaturgeschichte von Silvio Romero im Jahre 1888 voraus. Noch früher war bereits 1863 in Berlin von dem öster­ reichischen Gelehrten Ferdinand Wolf die erste Geschichte brasilianischer Literatur auf Französisch veröffentlicht worden: Le Brésil littéraire. Histoire de la littérature brésilienne. Im Vorwort argumentierte Wolf, die brasilianische Literatur habe in den letzten 30 Jahren Fortschritte gemacht, die danach verlangten, ihr einen Platz unter den Nationalliteraturen einzuräumen, was implizit bedeutete, man müsse der jungen brasilianischen Nation auch ih­ ren Platz unter den Nationen einräumen. Wenn auch der Beitrag der ausländischen Wissenschaftler für die na­ turwissenschaftliche Erforschung Brasiliens entscheidend war, so entstand doch gleichzeitig eine eigene Wissenschaftstradition. 1838 wurde in Rio de Janeiro das Brasilianische Historische und Geographische Institut gegrün­ det, das es sich zur Aufgabe machte, die historische, geographische und ethnische nationale Wirklichkeit Brasiliens zu erforschen und zu doku­ mentieren. In diesem Zusammenhang wurde dann im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Positivismus zur wichtigsten theoretischen Referenz für die brasilianischen Intellektuellen. Allerdings sah sich dessen Fortschrittsphilosophie mit einer philosophisch nicht zu rechtfertigenden nationalen Wirklichkeit konfrontiert: Jenes Brasilien, das sich mit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1822 auf den Weg gemacht hatte, eine moderne Nation zu werden, war bis 1888 eine Gesellschaft, die von Sklavenarbeit lebte und die dem größten Teil der im Land lebenden Menschen keine Bürgerrechte zugestand. Bis 1865 befand sich Brasilien damit noch in ‘gu­ ter Gesellschaft’, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatten auch die Vereinig­ ten Staaten die Sklaverei noch nicht abgeschafft. Ab Mitte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts gerieten die brasilianischen Eliten jedoch unter einen doppelten Druck: Gleichzeitig mit der Sklavenbefreiung in den Vereinig­ ten Staaten trat Brasilien zusammen mit Uruguay und Argentinien in einen Krieg gegen Paraguay, ein Krieg, der sich über fünf Jahre hinziehen sollte und zu dem Brasilien auch auf die Unterstützung durch seine schwarze Bevölkerung angewiesen war. Das Resultat war das Gesetz der ‘freien Ge­ burt’ von 1871, auf Grund dessen alle Kinder von Sklavinnen von nun an als Freie geborenen wurden. Sowohl durch den Positivismus, für den die drei Faktoren ‘Ort’, ‘Mo­ ment’ und ‘Rasse’ für eine wissenschaftliche Beschreibung von Kulturen und damit für ihre Einordnung auf der Skala des Fortschritts entschei­ dend waren, wie auch durch die Rezeption des europäischen Rassismus,

Die kulturelle Dynamik Brasiliens

173

vor allem seiner Vertreter Gobineau und Buckle – Gobineau diente als französischer Diplomat in Rio de Janeiro und hatte direkten Zugang zum Hof Pedros II und zum Kaiser selbst – war das Paradigma ‘Rasse’ zu einer zentralen Kategorie zur Beschreibung von Kultur – im konkreten Fall der brasilianischen Kultur – geworden. Mehr noch, die Schwierigkei­ ten einer Nation, sich in der Geschichte des Fortschritts einen führenden Platz zu sichern, wurden als Konsequenz ihres rassischen Erbes und ihrer Rassenkonfiguration interpretiert. Konsequenterweise beschrieb Silvio Romero in seiner Literaturgeschichte Brasilien als eine Nation von drei Rassen und hatte keinen Zweifel daran, damit die Besonderheit seiner Kultur wissenschaftlich bestimmt zu haben. Sie war für ihn eine Kultur mit vor allem portugiesischen, aber auch einem gewissen europäischen Anteil, dem ‘weißen’ Element, dazu kamen indianische Elemente und der afrikanische kulturelle Anteil. Wenn seiner Ansicht nach die indianischen und afrikanischen Elemente für das Verständnis brasilianischer Kultur auch keinesfalls unterschlagen werden durften, so war er doch gleichzeitig davon überzeugt, der Weg zu einem modernen, zivilisierten Brasilien sei nur über eine ‘Aufweißung’ (blanqueamento) zu erreichen. Einen entschei­ denden Beitrag dazu sollte die europäische Einwanderung leisten, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder durch staatliche Programme gefördert wurde. Diese Idee der ‘Aufweißung’ hatte trotz all ihrer Fragwürdigkeit einen für den brasilianischen kulturellen Diskurs wichtigen Nebeneffekt, der eine tiefgreifende Neudefinition des Rassen­ paradigmas zur Folge hatte. Zwar hatte der klassische Rassismus eines Gobineau mit der weißen Rasse an der Spitze eine Hierarchie der Rassen festgelegt, das zentrale ethnische Problem aber war ihm die Vermischung der Rassen, die mestizagem. Nach Gobineau zerstört die Rassenmischung den Wert, der jede Rasse – auch die inferioren – auszeichnet. Vor allem diese Vermischung sei für die Unfähigkeit Brasiliens verantwortlich, auf den Zug des Fortschritts aufzuspringen. Mehr noch, sie würde – so Go­ bineaus Prognose – unweigerlich in weniger als 200 Jahren zum Unter­ gang des brasilianischen Volkes führen. Bereits mit Euclides da Cunhas Krieg im Sertão (1902) setzte eine folgenreiche Uminterpretation ein. Laut da Cunha war aus der Vermischung, die im Inneren des Landes bereits seit mehreren hundert Jahren am Werk war, eine neue Rasse entstanden: der Mensch des Sertão, der sich vor allem durch seine Stärke und seine Widerstandskraft auszeichnete. Vermischung führe also nicht notwendi­ gerweise zum Untergang, sondern unter bestimmten Voraussetzungen

174

Horst Nitschack

finde gewissermaßen eine ‘natürliche’, darwinistische Zuchtauswahl statt. Wenn auch sein impliziter Rassismus da Cunha noch zwang, eine neue Rasse zu erfinden, so fand mit ihm doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Wende statt: die Vermischung der Rassen wurde als Chance und nicht als Verhängnis angesehen. Der mexikanische Intellek­ tuelle José Vasconcelos feierte in seinem in den 1920er Jahren in ganz Lateinamerika gelesenen Erfolgsbuch Die kosmische Rasse (1925) gerade die Vermischung aller großen Rassen in Lateinamerika, besonders aber in Brasilien, als die Hoffnung nicht nur Lateinamerikas, sondern der ge­ samten Menschheit. 1889 wurde die Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien aus­ gerufen, eine Konsequenz der historischen und politischen Transforma­ tionsprozesse, deren deutlichster Ausdruck die Abschaffung der Sklaverei im Jahre zuvor war. Nicht nur der Name verriet die Vorbildrolle, die den im Laufe des 19. Jahrhunderts zur führenden hemisphärischen Macht avancierten Vereinigten Staaten von Amerika dabei zukam. Auch die erste Fahne der Republik war unübersehbar eine Imitation der US-amerikani­ schen ‘Stars and Stripes’, wenn auch in den brasilianischen Farben grün und gelb. Diese Fahne wurde kurz darauf durch die heute noch offizielle Nationalfahne ersetzt, in deren Zentrum die positivistische Parole ‘Ord­ nung und Fortschritt’ steht. Dieser Wechsel stand für die beiden gegen­ sätzlichen Haltungen der brasilianischen Eliten. Die einen bewunderten den mächtigen nördlichen Nachbarn als Vorbild, während er für die an­ deren eine Bedrohung der brasilidade, des echten Braslianertums darstell­ te. Der Blick auf den Nachbarn hoch im Norden, ob ablehnend oder bewundernd, führte immer direkt oder indirekt zu der Frage, warum es Brasilien im Laufe des 19. Jahrhunderts, dem Jahrhundert des allgemeinen Fortschritts, nicht so weit gebracht habe wie die Vereinigten Staaten. War es das tropische Klima? War es die Natur mit ihren undurchdringlichen Wäldern, die jeden Kilometer konstruierter Straße oder Eisenbahnlinie zu einem menschenvernichtenden Abenteuer werden ließ? War es die ras­ sische Konstellation, der zu geringe Anteil an weißer Bevölkerung, die Mentalität der afrikanischen Bevölkerung oder der hohe Anteil an Mulat­ ten (Silvio Romero)? War es das koloniale, vor allem das portugiesische Erbe, das diesen Kolonisatoren im Vergleich mit ihresgleichen aus dem europäischen Norden, den Siedlern und Einwanderern in die USA, we­ niger Tüchtigkeit und Effizienz mit auf den Weg gab (Manoel de Bom­ fim, Paulo Prado)? War es die Religion, die puritanische Arbeitsmoral im

Die kulturelle Dynamik Brasiliens

175

Norden und der meridiane Katholizismus in Brasilien (Sérgio Buarque de Holanda)? Waren es die ungleichen Besitzverhältnisse, der Großgrund­ besitz und die Plantagenwirtschaft mit ihren Heerscharen an besitzlosen Landarbeiten (Caio Prado Júnior)? Zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und bis in die 40er Jah­ re des 20. Jahrhunderts stellten brasilianische Schriftsteller und Wissen­ schaftler diese Frage ganz unterschiedlich und gaben dementsprechend auch unterschiedliche Antworten darauf. Was von den einen als Problem beschrieben wurde, interpretierten andere als Möglichkeit, als ein Potential für künftige Entwicklungen. Zuweilen fanden sich beide Positionen beim gleichen Autor: Euclides da Cunha interpretierte im Krieg im Sertão (1902) die Rückständigkeit des Nordostens, die Bereitschaft zum religiösen Fana­ tismus und zur Gewalt seiner Bewohner gleichzeitig als das Potential einer zukünftigen Rasse; für Oswald de Andrade war das indianische Element, das nach ihm jedem Brasilianer tief eingeschrieben ist, gerade der Garant dafür, dass Brasilien einen unverdinglichten und menschenfreundlichen Umgang mit den modernen Techniken finden werde (Das Antropophage Manifest; 1928); für Gilberto Freyre in Herrenhaus und Sklavenhütte (1933) entstand aus dem Jahrhunderte langen Zusammenleben von Portugiesen und Afrikanern auf den Zuckermühlen nicht nur eine Vermischung ih­ rer Kulturen, sondern eine neue Kultur, die brasilianische. Das heißt, die Vertreter dieser zweiten Gruppe waren sich einig – wenn auch mit ganz unterschiedlichen Argumenten –, der nördliche kapitalistische Weg könne nicht der Weg des tropischen Brasiliens sein. Bei aller Vielfältigkeit der Fragen und der Antworten war ihnen aber allen der Blick auf dieses Land gemeinsam: als Sorge, als Hoffnung, als überschwängliches Lob (ufanismo). Welche wissenschaftliche Haltung, welche ideologische Überzeugung, welche Weltanschauung dem Diskurs auch zugrunde liegen mochte, ob sie pessimistisch, kritisch-zweifelnd, op­ timistisch oder in jubilierender Selbstbejahung vorgetragen wurde, eine grundsätzliche Infragestellung des ‘Projekts Brasilien’, seiner Einheit und seiner kulturellen Werte, fand sich nirgends. Alle waren auf der Suche nach einer gesellschaftlichen Ordnung, die es allen möglich macht, in die­ sem Land zu leben, und alle teilten das Gefühl, es gäbe etwas, was alle Brasilianer verbinde und sie zu Brasilianern mache. Was das sei, darin gin­ gen die Antworten ähnlich auseinander wie bei der Frage, wer oder was für die fehlende Entwicklung verantwortlich sei oder was das besondere Entwicklungspotential Brasiliens ausmache.

176

Horst Nitschack

Hundert Jahre nach der Unabhängigkeit fand 1922 im Rahmen der zahlreichen Gedenkfeiern auch die Kunstwoche von São Paulo statt, mit Namen wie Oswald und Mário de Andrade, Menotti del Picchia, Plinio Salgado, Anita Malfatti, Heitor Villo-Lobos und einer Reihe weiterer be­ deutender Künstler. Es war die brasilianische Avantgarde-Bewegung, die sich selbstbewusst präsentierte: vor dem eigenen brasilianischen Publi­ kum, wie auch mit einem selbstbewussten Blick auf die in der Vergangen­ heit als Vorbild bewunderten europäischen Kulturen und Wissenschaften. Im Manifest Brasilholz (Pau Brasil) wurde zwei Jahre später das Programm auf den Begriff gebracht: Brasilien solle ein Land des Poesie-Exports und damit des Kulturexports werden und nicht nur Rohstoffe exportieren und die Kultur der entwickelten Länder importieren. Das gab einer Entwicklung Ausdruck, die Brasilien in den Jahren seit der Gründung der Republik vollzogen hatte: Rio de Janeiro war in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts grundlegend modernisiert worden – zum Teil gegen heftigen Widerstand der Bevölkerung. Die Elektrifizie­ rung wurde vorangetrieben und Prachtstraßen angelegt, Tunnel durch die Berge getrieben, die die verschiedenen Stadtteile voneinander trennten, und eine Seilbahn auf den Zuckerhut hinauf konstruiert. 1920 hatte Rio de Janeiro mehr als eine Million Einwohner. In den Romanen von Macha­ do de Assis – für viele Kritiker bis heute der bedeutendste Autor der bra­ silianischen Literatur – war dieses Rio de Janeiro noch als recht idyllische tropische Hauptstadt erschienen, wenn auch als scheinheilige und letztlich verlogene Idylle. Capitu, die Protagonistin aus Dom Casmurro (1899), wur­ de lange Zeit als eine Madame Bovary der Tropen gelesen. Erst in den 1960er Jahren wies die Literaturkritik darauf hin, dass der Leser im Ro­ man keinen anderen Beleg für Capitus Ehebruch hat, als die paranoiden Phantasien ihres ewig missgelaunten Ehemanns Casmurro. Dieses schein­ bar idyllische Rio de Janeiro mit seinen Stränden und dem Zuckerhut er­ fuhr mit der Deklaration der Republik einen tiefgreifenden Umbruch. Vor allem an der Peripherie, wo vorher die Sommerhäuser der Oligarchie und des wohlhabenden Bürgertums standen, entstanden jetzt die ärmlichen Siedlungen einer sich neu herausbildenden Gesellschaftsschicht mit ganz neuen Subjekten, eine Mischung aus Gelegenheitsarbeitern, ersten Ansät­ zen eines Proletariats und Kleinhändlern. Siedlungen, in denen sowohl aus den Migranten aus dem Nordosten wie auch aus befreiten ehemaligen Sklavinnen und Sklaven neue soziale Subjekte entstanden, die dann im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr zu Akteuren in der brasiliani­

Die kulturelle Dynamik Brasiliens

177

schen Geschichte wurden. Mit Aluísio Azevedos naturalistischem Roman Cortiço (1890) sowie mit dem Roman O Mulato (1881) trat diese neue gesell­ schaftliche Wirklichkeit erstmals in die brasilianische Literaturszene. Es waren Jahrzehnte eines rasanten Umbruches, in denen die Wider­ sprüche der Modernisierung krass zutage traten: Die Kaffeeplantagen, die Brasilien zum größten Kaffeeexporteur der Welt werden ließen, lagen zum größten Teil im Bundesstaat São Paulo. Der Reichtum aus diesem Handel verwandelte die Stadt São Paulo in diesen Jahrzehnten in die modernste Stadt des Landes, einer der Gründe, weswegen die Kunstwoche der bra­ silianischen Avantgarde 1922 dort und nicht in Rio de Janeiro stattfand. Hunderttausende von europäischen Einwanderern, vor allem aus Italien und Deutschland, strömten in diesen Jahrzehnten in den Südosten und Süden Brasiliens und beeinflussten die Kultur dieser Regionen nachhaltig. Es wiederholte sich im Süden, was bereits Jahrzehnte zuvor im Norden aufgrund des Kautschuk-Booms passiert war, durch den noch nie gesehe­ ner Reichtum in das Amazonasgebiet gespült worden war. Für kurze Zeit hatte er Manaus zur modernsten Stadt Brasiliens mit elektrischer Beleuch­ tung und elektrischer Straßenbahn gemacht, in deren neu errichtetem Opernhaus (1896) Künstler aus ganz Brasilien und aus Europa auftraten. Im Gegensatz zum Kautschuk-Boom im Norden, der ab 1910 ein abrup­ tes Ende fand, gelang es in São Paulo den durch den Kaffeeexport gewon­ nenen Reichtum in industrielles Kapital zu transformieren, die Grundlage dafür, dass diese Stadt im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Megalopolis und zur größten Industriestadt Südamerikas wurde. Am Ende des Jahr­ hunderts verwandelte sich Brasilien nicht nur wirtschaftlich in einen global player, sondern es wurde auch als Kulturnation zu einem Exporteur, so wie es Oswald de Andrade in seinem Manifest Brasilholz gefordert hatte. Die tiefgreifenden Veränderungen der brasilianischen Gesellschaft während des gesamten 20. Jahrhunderts fanden nicht nur in der Kultur ihren Ausdruck, gleichzeitig war es auch die Kultur, die diesen Wandel ermöglichte. Die Konsequenzen der Modernisierung waren Herausforde­ rungen, mit denen Brasilien und seine Kultur im Laufe des 20. Jahrhun­ derts konfrontiert war. Zu ihnen gehörten die Industrialisierung und eine fortschreitende soziale Ausdifferenzierung, die Binnenmigration aus dem Nordosten in den Südosten und Süden des Landes (vor allem nach Rio de Janeiro und São Paulo), die Urbanisierung (heute leben ca. 80 % der brasilianischen Bevölkerung in urbanen Agglomerationen), der Bedeu­ tungsverlust persönlicher gesellschaftlicher Bindungen (Familien, Nach­

178

Horst Nitschack

barschaftsstrukturen, hierarchische Ordnungen) und der traditionellen Wertsysteme sowie die Entstehung einer den gesamten nationalen Raum organisierenden Marktgesellschaft und des damit verbundenen Individua­ lisierungsprozesses. Der Aufbau eines alle Bundesstaaten einbeziehenden Schulsystems ermöglichte trotz aller Defizite dem größten Teil der Bevölkerung eine Grundbildung, zumindest die Alphabetisierung. Die entschlossene staat­ liche Förderung des Ausbaus der Universitäten erlaubte die Ausbildung der wissenschaftlichen Eliten im eigenen Land. Die Verbreitung der avan­ cierten technischen Kommunikationsmittel (Telefon, Radio, TV, Inter­ net) über das gesamte Staatsgebiet gewährte sowohl einen Raum für die Entfaltung der Diversität brasilianischer Kultur, wie sie auch gleichzeitig die symbolische und imaginäre Einheit des Landes und der Nation trotz aller Widersprüche und Ungleichheiten festigte. Die kulturellen Traditio­ nen sind jedoch keineswegs nur positiv: In ihnen ist zwar Wissen und Erfahrung gespeichert, aber dieses Wissen kann auch den Charakter des Aberglaubens, ethnischer, geschlechtsspezifischer und religiöser Vorurtei­ le haben und archaische Wertvorstellungen und Handlungsmuster recht­ fertigen. In diesem Fall gilt es dann, ihnen im kulturellen Dialog und in kulturellen Verhandlungen zu begegnen. Nur dadurch kann das Gewalt­ potential, das der vehemente gesellschaftliche Transformationsprozess birgt, entschärft werden. Das brasilianische 20. Jahrhundert zeichnete sich nicht nur durch die­ sen Modernisierungsprozess aus, sondern auch dadurch, dass die unter­ schiedlichen sozialen Akteure, die vorher aus den öffentlichen kulturellen Räumen ausgeschlossen waren, jetzt in ihnen präsent wurden, und zwar in doppelter Weise: zuerst als Objekte, als Gegenstand von wissenschaft­ lichen Untersuchungen und literarischen Erzählungen, dann aber auch als Subjekte selbst. Mit dem Naturalismus rückten erstmals die urbanen po­ pulären Schichten in das Blickfeld der Literatur, einer Literatur, die vor al­ lem von den Eliten gelesen wurde. Der Modernismus hob die indianische Vergangenheit als brasilianisches Identitätsmerkmal provokativ auf den Schild und griff damit, wenn auch auf ganz andere Weise, den Indianismus eines José de Alencar aus dem 19. Jahrhundert auf. Er dachte dabei jedoch in keinem Moment an die tatsächlich im Land lebende indianische Bevöl­ kerung, ähnlich wie es bereits bei den Indianisten des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen war. Mit dem ‘Roman der 30er Jahre’ (Romance de 30), zu dem Autoren wie Graciliano Ramos, Raquel de Queiroz und José Lins do Rego

Die kulturelle Dynamik Brasiliens

179

gehören, wurden die Lebensverhältnisse der ländlichen Bevölkerung des Nordostens in die offizielle brasilianische Literatur eingeschrieben, in Ro­ manen, die dann auch in Übersetzungen einem internationalen Publikum zugänglich wurden. Dies gilt auch für diejenigen Romane, die einige Jahre später die Besiedlungsgeschichte des Südens Brasiliens erzählten, vor al­ lem die Trilogie O Tempo e o Vento (1949–1961) von Érico Veríssimo. Einer der wichtigsten sozialen Akteure, dessen kulturellen Beitrag Sil­ vio Romero in seiner Literaturgeschichte von 1888 zwar theoretisch ein­ räumte, der aber dennoch aus dem offiziellen kulturellen Leben perma­ nent ausgegrenzt wurde, war die Bevölkerung afrikanischer Abstammung. Obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts bei über 50 % lag, wurde ihr im öffentlichen Kulturleben, in der Li­ teratur und in den anderen Künsten praktisch keine Beachtung geschenkt. Hier öffnete sich mit den Romanen Jorge Amados (Suor [Schweiss], Kakao, Jubiabá), die die Bevölkerung afrikanischer Abstammung erstmals als his­ torisches Subjekt wahrnahmen, ein ganz neues Panorama. Erstmals be­ gegnete der Leser schwarzen Protagonisten, erstmals ihrer Kultur, ihren Lebensgewohnheiten und ihren religiösen Praktiken (Candomblé). Das aber bedeutete notwendigerweise, dass die Mietskasernen, die Hütten, die Bars, die Arbeitsplätze, die Plantagen und der Hafen von Salvador, kurz, die Orte, an denen diese Bevölkerung lebt und ihr Aus- und Einkommen fin­ den muss, zu Schauplätzen von Romanen wurden. Diese Entdeckung der afrikanischen Kultur und ihrer Bedeutung für die brasilianische Alltags­ kultur durch Jorge Amado geschah zeitgleich mit der Veröffentlichung der bedeutendsten soziologischen Arbeit zu diesem Thema: Gilberto Freyres Herrenhaus und Sklavenhütte (1933). Auch der aus Recife stammende Sozio­ loge hob in seinem Buch auf den entscheidenden Anteil ab, den die afri­ kanischen Traditionen für den brasilianischen Alltag haben. Aber bei ihm blieb der portugiesische Kolonisator und später dann der weiße Herr und Arbeitgeber das historische Subjekt, auch wenn er tiefgreifend von afrika­ nischem kulturellem Erbe verändert wurde. Jorge Amados Sicht, in des­ sen ‘proletarischen’ Romanen die schwarze Bevölkerung zum historischen Subjekt wurde, stand dazu in krassem Gegensatz. In seinen Geschichten erzählte er, wie in dieser schwarzen Bevölkerung, die nach der klassischen kommunistischen Theorie zum Lumpenproletariat gehört, ein politisches Klassenbewusstsein entstehen kann. Gleichzeitig sind diese Romane ein Beleg für die Aufwertung der Po­ pulärkultur und machen deutlich, welche Bedeutung ihr für brasilianische

180

Horst Nitschack

Kultur überhaupt zukommt, die bis dahin vor allem als Kultur der Eli­ ten begriffen wurde. Eine damals nicht vorhersehbare ‘Spätfolge’ dieses Perspektivenwechsels ist es, wenn Brasilien heute in den internationalen Medien vor allem durch seine Populärkultur, durch seine Fest- und Musik­ kultur präsent ist. Aber auch für das kulturelle Selbstverständnis von Bra­ silien insgesamt spielt Populärkultur eine kaum zu überschätzende Rolle. Es wird durch sie ein ‘kulturelles Feld’ geschaffen, das für das Zusammen­ leben entscheidend ist, da es Wertvorstellungen und Urteilskriterien für das Imaginäre seiner kollektiven Subjekte schafft und festigt. Intellektu­ elle, wirtschaftliche und politische Eliten sind dabei – und das ist gerade wichtig – von Populärkultur nicht ausgeschlossen, sondern suchen oftmals sogar ihre Nähe. Allerdings sind sie in der Regel nicht diejenigen, die Po­ pulärkultur hervorbringen, sondern diejenigen, die sie verwerten und poli­ tisch oder ideologisch einsetzen. Ihren Sitz, den Ort ihrer Entstehung und ihrer Ausübung hat sie in den sozialen, ethnischen und genderdefinierten Gruppen. Die Subjekte der Populärkultur sind kollektive und keine indi­ viduellen Subjekte. Dort, wo individuelle Subjekte an ihrer Realisierung und Ausübung beteiligt sind, tun sie dies immer im Verweis auf und unter Legitimation durch das kollektive Subjekt, nicht als Ausdruck oder Beweis ihrer eigenen individuellen Fähigkeit oder Genialität. Populärkultur zieht sich quer durch die brasilianische Gesellschaft, in ihr werden ihre Wider­ sprüche und Konflikte benannt und semantisiert. Dabei bleibt sie jedoch sehr heterogen: sie ist konservativ und innovativ, ausschließend, indem sie Gruppenidentitäten schafft und sie von anderen abgrenzt, und einschlie­ ßend, indem sie Materialien und Ideen aus allen Bereichen verarbeitet. Sie ist Ort der selbstbewussten Selbstbestimmung, eines empowerment, und Ort der kompromissbereiten, aber auch listigen Verhandlung. Ihre Ver­ wobenheit mit allen gesellschaftlichen Bereichen quer durch Raum und Zeit und die ihr besondere Struktur machen sie zu einem privilegierten Medium lokaler, regionaler oder auch nationaler Identitäten. Gleichzeitig ist sie ein Medium, in dem sowohl ‘Verhandlungen’ wie auch Auseinander­ setzungen zwischen den unterschiedlichsten politischen Akteuren stattfin­ den. Das gilt zum Beispiel für die politischen und sozialen Bewegungen der Bevölkerung afrikanischer Abstammung (die Quilombola-Bewegungen) und ihre symbolische Aufwertung des afrikanischen Helden Zumbi, der reli­giösen Praktiken des Candomblé und dem Ritual der Capoeira. Das gilt für die Gender-Bewegungen und auf etwas differenzierte Weise für die Vielzahl der neuen Manifestationen von Religiosität: an die Stelle der noch

Die kulturelle Dynamik Brasiliens

181

aus der Kolonialzeit stammenden synkretistischen Praktiken, bei denen indianische, an vielen Orten auch afrikanische Traditionen von der katho­ lischen Kirche integriert wurden, treten heute neue religiöse Bewegungen: eine Vielzahl von freikirchlichen Gruppen, einige aus der Pfingstbewe­ gung, aber auch Sekten im eigentlichen Sinne, die sich weitgehend selbst organisieren und finanzieren. Von ihnen werden nicht nur fundamentalis­ tische Glaubensdoktrinen gepredigt, sondern – und hierin liegen ihre Stär­ ke und ihr Erfolg – sie wirken als neue moralisierende Instanz gegen die drohende Anomie, die Gesetzeslosigkeit und den Werteverlust, denen die Bevölkerung vor allem aus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht ausgesetzt ist. So sind die Glaubensüberzeugungen mit ganz praktischen Konsequenzen für das Alltagsleben verbunden: Alkohol- und Drogenver­ bot, keine sexuellen Beziehungen vor der Ehe, Sparsamkeit und Vergnü­ gungsfeindlichkeit (strenge Kleiderordnung, oftmals Tanzverbot). Es geht eine neue moralisierende und ordnende Kraft von ihnen aus, die Parallelen mit dem puritanischen Charakter der Freikirchen im sich industrialisieren­ den Europa (Methodisten, Adventisten, Baptisten, etc.) hat. Diese ‘marginalisierten’ Räume der Populärkultur, die im Grunde die ausgedehntesten in der brasilianischen Gesellschaften sind, denn ‘marginal’ ist eigentlich eher die offizielle Kultur, sind also nicht nur Objekte für die Kulturproduktion der Eliten (Spiel- und Dokumentarfilme, z. B. der Film Cidade de Deus), für Großstadtromane oder Genderromane, ihre Bewohner werden nicht nur als Konsumenten einer florierenden Massenkultur und ihrer Kulturindustrie entdeckt (vor allem der Musikindustrie und als Publi­ kum der Telenovelas), sondern sie werden – notwendigerweise – auch zu selbstständigen Kulturproduzenten, in dem Sinne, dass selbstorganisierte Alltagspraxis ohne Kultur nicht denkbar ist. Der Übergang von Populär­ kultur zu Massenkultur ist durchaus fließend: Populärkultur wird zu einem festen Bestandteil der Kulturindustrie, wie auch im Gegenzug Elemente der Kulturindustrie von der Populärkultur angeeignet und transformiert wer­ den. Vereinfacht und schematisch kann man behaupten, die Subjekte der Populärkultur sind die kollektiven Subjekte der unterschiedlichen kulturel­ len Akteure, das Subjekt der Kulturindustrie und der Massenkultur ist das Kapital und die Bedingungen seiner Verwertung, der finanzielle Gewinn. Waren das gesamte 19. Jahrhundert hindurch die ländlichen Räume der privilegierte Ort von Populärkultur, so sind es im Laufe des 20. Jahr­ hunderts die Städte und die urbanen Agglomerationen geworden. Moder­ nisierung bedeutet in Brasilien wie auch in anderen Ländern die Umstruk­

182

Horst Nitschack

turierung der Gesellschaft in eine vorwiegend urbane Gesellschaft. Wie sehr Modernisierung in all ihrer Widersprüchlichkeit und Ambivalenz mit Stadtkultur verbunden ist, zeigen wahrscheinlich wenige Ereignisse klarer als der Entschluss in den 1950er Jahren, Brasilien in seinem unbesiedel­ ten Inneren, auf dem Altiplano, eine neue Hauptstadt zu geben, und die tatsächliche Realisierung dieses Entschlusses durch die Einweihung dieser neuen Hauptstadt, Brasília, im Jahre 1960. Der Architekt Oscar Niemeyer und der Stadtplaner Lúcia Costa entwarfen eine Stadt, die den Idealen einer modernen demokratischen Gesellschaft entsprach, sie konstruierten mit den avanciertesten Techniken und mit einer Ästhetik, die in nichts an brasilianischen Barock oder an lokale Bautraditionen erinnerte, sondern sich ganz einer universellen Moderne verschrieb. Dieser neue Regierungssitz wurde vier Jahre später nach einem Staats­ streich der Militärs zum Sitz der Militärregierung, die Brasilien mehr als 20 Jahre lang beherrschte. So wie die demokratische Utopie eines modernen Brasiliens den ebenso modernen Panzern der Militärs zum Opfer fiel, die in Rio de Janeiro und São Paulo jeden Widerstand gegen den Putsch bru­ tal unterdrückten, so zeigte auch der allgemeine Modernisierungsprozess, der Brasilien in den folgenden Jahrzehnten zur führenden Nation Süda­ merikas werden ließ, ein Janusgesicht: modernste Industrieanlagen und Favelas, Zunahme des Wohlstandes und Ausgrenzung großer Bevölke­ rungsteile, Universitäten und Forschungseinrichtungen auf international vergleichbarem Niveau und unkontrollierbare Gewalt in den Vorstädten, Körperkult und höchster Standard in plastischer Schönheitschirurgie und prekäre gesundheitliche Versorgung der armen Bevölkerung. Diese Liste könnte noch lange fortgesetzt werden. Literatur war immer ein Medium, in dem Erwartungen wie auch Kri­ tiken sehr sensibel registriert wurden. Das gilt auch für die brasilianische Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Obwohl ihr im Ge­ gensatz zu den hispanoamerikanischen Literaturen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts vier Nobelpreise zugesprochen bekamen, kein solcher Preis verliehen wurde, sind ihre Autoren dennoch bei einem internationalen Lesepublikum bekannt geworden. Jorge Amado ist bis heute der meist übersetzte brasilianische Autor, wenn ihn in den letzten Jahren auch Paulo Coelho an Auflagenzahlen übertroffen hat. Das Gewicht der regionalen Literaturen nimmt in der brasilianischen Literaturlandschaft der zwei­ ten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu. Der Nordosten, der Sertão, wird mit Guimarães Rosa und Grande Sertão, Veredas (1956) in die Weltliteratur

Die kulturelle Dynamik Brasiliens

183

eingeschrieben, der Süden ist mit Moacyr Scliar, João Gilberto Noll und vielen jungen AutorInnen präsent, Amazonien mit Márcio Souza und Mil­ ton Hatoum. Das sind einige eher beliebig ausgewählte Namen, zu denen noch eine große Anzahl weiterer hinzuzufügen wäre. Die Mehrzahl der Autoren und Autorinnen aber, die sowohl im nationalen Kontext wie auch in der internationalen Wahrnehmung Gewicht haben, schreiben über die Wirklichkeiten der Städte, allen voran die der Städte Rio de Janeiro und São Paulo. Clarice Lispectors letzter Roman Sternstunde (1977) hat als Pro­ tagonisten eine in Rio de Janeiro verlorene Migrantin aus dem Nordosten und den Erzähler, Rodrigo, selbst. Er schreibt über eine Welt, die nicht die seine ist. Damit steht er vor dem Problem, das sich immer stellt, wenn sich die Kultur der Elite vornimmt, Figuren, Lebensweise und Konflikte einer Bevölkerungsschicht zu repräsentieren, mit der sie keinerlei Erfahrung teilt. Der Erzähler des Romans fragt sich, was ihm überhaupt das Recht gibt, über die Erfahrung dieser einfachen Frau aus dem Nordosten in Rio de Janeiro zu schreiben, auch wenn sie selbst keine Worte dafür hat, selbst niemanden kennt, der ihr zuhören könnte und darüber hinaus überzeugt ist, ihr Leben sei sowieso ohne jegliche Bedeutung. Auch in Ignacio Loyola Brandãos ersten Stadtromanen Null (1974) und Kein Land wie dieses (1982) sind die Protagonisten hilflos der modernen Stadt und ihren unmensch­ lichen Lebensbedingungen ausgeliefert. Diese Opferperspektive wird in den Erzählungen und Romanen Rubem Fonsecas abgelehnt. Bei ihm werden aus den Opfern Täter. Dieser Umschlag, die Identifikation des Erzählers mit den Tätern, ist für den größten Teil der neueren Stadtlitera­ tur, wie z. B. für die Romane von Patricia Melo (O matador, 1995; Inferno, 2000) symptomatisch. Problematisch bleibt dabei allerdings, was Clarice Lispector bereits im Falle ihres Erzählers Rodrigo thematisierte: wodurch rechtfertigt sich diese Einfühlung in den Täter? Welche Glaubwürdigkeit kommt ihr zu? Findet hier nicht im Grunde eine literarische Ausbeutung der Marginalisierten statt? Paulo Lins, dessen Roman Cidade de Deus (1997) in seiner verfilmten Fassung City of God (Fernando Meirelles und Kátia Lund) zu einem Welterfolg wurde, rechtfertigt sein Schreiben durch seine Arbeit als Anthropologe in der Favela, die Schauplatz des Romans ist. Die autobiographischen Texte eines Luiz Alberto Mendes (Memórias de um sobrevivente, 2001; Às Cegas, 2005) sind nicht nur aus der Perspek­ tive der Täter, sondern von einem Täter selbst geschrieben. Der Autor schrieb diese Autobiographie, in der er seinen Weg vom einfachen Dieb zum Mörder erzählt, im Gefängnis, in dem er seine Haft für Überfälle und

184

Horst Nitschack

Mord zu verbringen hatte. Das Praktische Handbuch des Hasses (2003) von Ferréz (Reginaldo Ferreira da Silva) ist einer der Titel, in denen die Welt der Favelas der Schauplatz ist, die Welt, in der er selbst seine Jugend ver­ bracht hat und in der er auch heute noch lebt. Das gleiche gilt für die Texte von MV Bill und Celso Athayde (Falcão – Kinder des Drogenhandels, 2006). Ihre Zuordnung schwankt zwischen Zeugentext und Autofiktion. Auch sie zeichnet ein extremer Realismus der Gewalt mit dem täglichen Kampf ums Überleben als zentrales Thema aus. Das Medium Literatur kann sich einen Realismus erlauben, der dem Medium Film und mehr noch der Telenovela, jenem Medium, mit dem Brasilien Welterfolge feiert, nicht erlaubt ist. So endet der bereits erwähn­ te Film City of God relativ versöhnlich, indem der Protagonist Buscapé die Übergriffe der Polizei dokumentieren kann und ihm dafür eine aus­ sichtsreiche Berufskarriere in Aussicht steht. Der Roman selbst schließt mit einem unerbittlichen Bandenkrieg. Dennoch ist urbane Gewalt auch eines der favorisierten Themen im Brasilianischen Kino der Gegenwart. In Ônibus 174 (2002) von José Padilha wird die Entführung eines Omni­ busses rekonstruiert, Carandirú (2003) von Hector Babenco verfilmt den Bericht des Arztes Dráuzio Varella über eine Gefängnisrevolte in São Pau­ lo im Jahr 1992. Tropa de Elite (2007) (José Padilha) ist ein Film über eine Spezialeinheit der Polizei und deren Kampf gegen den Drogenhandel. Die alltägliche Gewalt wird nicht nur von den internationalen Medien als eines der großen Probleme des Landes wahrgenommen, auch die brasilia­ nischen Medien selbst diagnostizieren sie als eine der größten Herausfor­ derungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wenn wir zu Beginn der Literatur des 19. Jahrhunderts eine entschei­ dende Rolle bei der Herausbildung nationaler Identität zugewiesen und ihren Beitrag betont haben, eine imaginäre Repräsentanz zu schaffen, was und wie Brasilien sein soll, so lässt sich behaupten, dass diese Aufgabe seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts von den Telenovelas übernom­ men worden ist. Die medialen und technischen Voraussetzungen dafür hat das Rede Globo geschaffen, heute die drittgrößte Fernsehanstalt der Welt. In den Telenovelas bespiegelt sich die brasilianische Gesellschaft auf eine gut konsumierbare Art und Weise. Mit etwas Selbstkritik, mit einer guten Portion Problembewusstsein, auch mit Selbstironie. Meist sind es Liebesgeschichten mit glücklichem Ausgang, oftmals auch mit einem so­ zialen Aufstieg für das ‘Aschenputtel’ verbunden, das zwar arm aber von edlem Charakter ist. Gleichzeitig haben sie ein gewisses ‘Aufklärungspo­

Die kulturelle Dynamik Brasiliens

185

tential’: Das indirekte Lob der Kleinfamilie soll das weibliche Publikum daran erinnern, dass ein sozialer Aufstieg für eine kinderreiche Familie oder gar eine alleinstehende Frau mit mehreren Kindern undenkbar ist. Helden afrikanischer Abstammung sind seit langem mit den gleichen Tu­ genden ausgestattet wie ihre weißen Kollegen, der Bösewicht wird nicht mehr durch seine ethnische Zugehörigkeit definiert. In vielen Serien hat auch ein Gay oder eine Lesbe einen ehrenwerten Part. Wie groß die mora­ lisierende Wirkung dieser Telenovelas letztendlich ist, lässt sich nur schwer feststellen. Letztlich besteht ihre Funktion eben doch darin, ein unterhalt­ sames Programm zu bieten, das außerdem nicht nur auf Brasilien ausge­ richtet ist, da dies den Export, vor allem auf den hispanoamerikanischen Markt, beeinträchtigen würde. Allerdings wurden in den letzten Jahren auch Telenovelas produziert, die ganz explizit auf einen internationalen Markt ausgelegt sind, gedreht auf internationalen Schauplätzen (Nord­ afrika, Indien, China) mit historisch-exotischen Handlungsführungen. O Clone (2001-2002) (Gloria Pérez) und Caminhos da Índia (2009) (Carlos Lombardi) sind Beispiele dafür. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand Brasilien endgültig seinen Platz auf der Weltbühne, wirtschaftlich, politisch und kulturell. Auf diesem durch Medien determinierten Schauplatz spielen auch fünf gewonnene Fußballweltmeisterschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle. Aber wer erinnert sich heute noch daran, dass das Land 1970 die Fußballweltmeisterschaft gewann, genauso wenig wie wir uns daran erin­ nern, dass dies gerade die härtesten Jahre der Militärdiktatur waren und gleichzeitig auch die Jahre der deutsch-brasilianischen Verhandlungen über ein gemeinsames Programm für den Bau des Atommeilers in Ancra. Woran wir uns nicht erinnern müssen, weil wir sie an den unterschiedlichs­ ten Orten der Welt plötzlich hören, sind die Klänge der Música Popular Brasileira, diese Mischung aus Bossa Nova, Samba und Jazz, die uns so unvergleichlich brasilianisch anmutet. Die Namen von Vinicio de Moraes, Gilberto Gil, Caetano Veloso, Chico Buarque, Elis Regina und vieler an­ derer aus dieser Musikszene sind länger im Gedächtnis geblieben als die Namen der Generäle der Diktatur. Ob der Ausspruch, Brasilien sei kein ernst zu nehmendes Land, wirk­ lich dem damaligen französischen Präsidenten de Gaulle zuzuschreiben sei, mag dahin gestellt sein. Sicher aber ist, dass es heute an der Ernsthaftigkeit Brasiliens keinen Zweifel mehr gibt. Seine politische Rolle in Amerika, die Konkurrenzfähigkeit seiner Technologien und seiner Indus­trie und sein

186

Horst Nitschack

Entwicklungspotential haben es zu einem der fünf BRICS-Staaten wer­ den lassen. Dass eine solche Entwicklung möglich war in einem Land, das vor weniger als 200 Jahren seine Unabhängigkeit erklärte, in dem vor 125 Jahren die Sklaverei abgeschafft wurde, das im 20. Jahrhundert durch zwei lange Diktaturperioden (der Estado Novo von Getulio Vargas (1937–1945) und die Militärdiktatur (1964–1985) hindurch ging, ist nicht zuletzt auch seiner kulturellen Dynamik zuzuschreiben.

Literaturverzeichnis Andrade, Oswald de (1972): Do Pau Brasil à Antropofagia e às Utopias: manifestos, teses de concursos e esaios. Rio de Janeiro: Civilização Brasileira. Birle, Peter/Costa, Sérgio/Nitschack, Horst (Hg.) (2008): Brazil and the Americas. Convergences and Perspectives. Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert. Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.) (2010): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. 2. vollständig neu bearbei­ tete Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert. Cunha, Euclides da (1994): Krieg im Sertão. Übersetzt von Berthold Zilly. Frankfurt am Main: Suhrkamp. DaMatta, Roberto ([1984] o.J.): O que faz o brasil, Brasil. Rio de Janeiro: Rocco. — ([1985] 51997): A Casa & a Rua. Espaço, Cidadanía, Mulher e Morte no Brasil. Rio de Ja­ neiro: Rocco. Freyre, Gilberto (1965): Herrenhaus und Sklavenhütte: ein Bild der brasilianischen Gesellschaft. Übersetzt von Ludwig Graf von Schönfeldt. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch. Holanda, Sérgio Buarque de ([1936] 131979): Raízes do Brasil. Rio de Janeiro: Olympio. Nitschack, Horst (2011): “Subjetividade e violência no romance urbano atual do Brasil”. In: Sartingen, Kathrin/Ugalde, Esther Gimeno (Hg.): Perspectivas actuais na Lusitanística. München: Martin Meidenbauer, 13–26. Ortiz, Renato ([1985] 1994): Cultura Brasileira & Identidade Nacional. São Paulo: Brasiliense. Romero, Silvio ([1888] 71980): História da literatura brasileira. 5 Bde., Rio de Janerio/Brasília: Livraria José Olympio Editora in Zusammenarbeit mit Instituto Nacional do Livro/ Ministério da Educação e Cultura.

Städtische Kulturen und Bewegungen Marcel Vejmelka

Die Widersprüchlichkeit der brasilianischen Großstädte

Im Vorfeld des brasilianischen Gastauftritts auf der Frankfurter Buch­ messe 2013, der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien und der Olym­ pischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro erfährt auch die urbane Szenerie des Landes ein gesteigertes Medieninteresse. Doch bestimmte Klischeevorstellungen in Bezug auf Brasilien setzen sich auch in der zwei­ ten Dekade des 21. Jahrhunderts fort und lassen sich nur schwer über­ winden. Die aktuelle brasilianische Literatur erfährt innerhalb des inter­ nationalen Literaturbetriebs kaum Aufmerksamkeit und hat es dort selbst unter Experten schwer, sich von ‘landestypischen’ Erwartungshaltungen zu befreien. Die Medien widmen sich im Hinblick auf die beiden sportli­ chen Megaevents der kommenden Jahre vorrangig Themen wie den infra­ strukturellen Vorbereitungen und stadtplanerischen Großprojekten, und berichten dabei mit Vorliebe über die diesen Maßnahmen zugrundeliegen­ den Probleme der Gewalt und Kriminalität in den Großstädten. Dieser fast schon klassische Mediendiskurs über die extreme soziale Ungleichheit und die daraus resultierenden Spannungen im Stadtraum, die dort herrschende allgemeine Kriminalität und Gewalt, den organisierten Drogenkomplex und seine bewaffneten Auseinandersetzungen mit Po­ lizei und Militär wird in den letzten Jahren um den Aspekt der seitens des Staates entwickelten Strategie zur Deeskalation dieses Dauerkonflikts erweitert. Besonderes Aufsehen und Diskussionen erregten dabei die zu­ nächst in Rio de Janeiro zum Einsatz gebrachten Einheiten der “Friedens­ polizei” (Unidade de Polícia Pacificadora, UPP). Diese Entwicklungen schließen an eine über Jahrhunderte zurück rei­ chende Geschichte an, in der Brasilien seit der Erschließung und Koloni­ sierung dieses riesigen Landes durch die Portugiesen von Städten, Stadt­ räumen und Stadtkulturen geprägt wurde. Ein herausstechendes Merkmal dieser Geschichte ist bis heute der hohe Anteil der städtischen Bevölke­ rung – laut dem Zensus von 2010 leben aktuell ca. 84 % der Brasilianer in Städten – und die übermächtige Bedeutung der urbanen Zentren, die in

188

Marcel Vejmelka

starkem Kontrast zu den kontinentalen Ausmaßen und dünn besiedelten Flächen des Landes stehen. Während der ersten Jahrhunderte der portugiesischen Kolonialherr­ schaft bestand kaum Interesse oder Initiative hinsichtlich einer Besiedlung des Landesinnern, und die Reihe von Städten und Siedlungen an der Küs­ te erfüllte vorrangig strategische Funktionen als Faktoreien, Festungen und Häfen. Erst mit der Entdeckung der riesigen Gold- und Edelstein­ vorkommen und der sich daran anschließenden Einrichtung großflächiger Land- und Viehwirtschaft folgten auch verstärkte Gründungen strategisch situierter Städte im Landesinnern. Die gesellschaftlichen und kulturellen Wurzeln Brasiliens bildeten sich in diesen Küstenstädten heraus, die quan­ titativ immer weiter zunehmenden städtischen Vorposten im Landesin­ nern wirkten als Speerspitzen dieser urban geprägten ‘Zivilisation’, die sich daran machte, die unermesslichen Naturräume des Landes zu erschließen. Die besondere Bedeutung der Städte in dieser historischen Entwick­ lung ist auch ablesbar an dem Umstand, dass Brasilien zweimal seine Hauptstadt verlegte. Der erste Sitz der Kolonialregierung in Salvador da Bahia wurde angesichts der Verlagerung des ökonomischen Schwerpunkts in die Gold- und Diamantengebiete weiter im Süden 1763 nach Rio de Ja­ neiro verlegt, das sich zum wichtigsten Ausfuhrhafen für diese Werte ent­ wickelte. Die bereits Ende des 19. Jahrhunderts getroffene Entscheidung, Brasilien administrativ wie auch symbolisch als moderne Nation mit einer neuen Hauptstadt zu gestalten, fand ihre endgültige Umsetzung 1960 mit der Einweihung des neu erbauten Brasília. Die von Lúcio Costa und Os­ car Niemeyer nach modernistischen Grundsätzen konzipierte Modellstadt wurde bewusst ins geographische und symbolische Zentrum des Landes gesetzt, ihre innere Struktur – das Zentrum der politischen Macht, der berühmte plano piloto – ist durchweg funktional strukturiert und besitzt die Form eines Flugzeugs. Insgesamt wird in diesem ‘Wandern’ der Hauptstadt und den jeweili­ gen Phasen strategischer Stadtgründungen sichtbar, wie in Brasilien durch­ gehend über die Gestaltung des Stadtraums der geografische Raum wie auch der gesellschaftliche Körper rational geordnet werden sollten. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts beginnt so eine Reihe von strategisch geplanten und systematisch umgesetzten Stadtgründungen. Das dem Zukunftspro­ jekt Brasília vorangehende Jahrhundert war durchzogen von ähnlich funk­ tionalistischen Stadtgründungen zur Erschließung des Landesinnern, so z. B. 1852 Teresina als Hauptstadt für den Bundesstaat Piauí, 1882 Rio

Städtische Kulturen und Bewegungen

189

Branco im Bundesstaat Acre, 1890 Boa Vista in Roraima im äußersten Norden, 1897 die Umgestaltung und Neugründung von Belo Horizon­ te als neue Hauptstadt von Minas Gerais, im 20. Jahrhundert dann 1933 Goiânia als Hauptstadt für den Bundesstaat Goiás und Palmas als Haupt­ stadt des kurz zuvor selbst erst gegründeten Bundesstaats Tocantins. Diesen eine abstrakte Ordnung abbildenden Stadtentwürfen steht ebenfalls durch die gesamte brasilianische Geschichte hindurch die Reali­ tät der Großstädte gegenüber. Die Sklaverei hatte zunächst ihren Schwer­ punkt auf den Plantagen und in den Minen im Landesinnern, doch spätes­ tens mit ihrer Abschaffung Ende des 19. Jahrhunderts zogen ehemalige Sklaven wie auch andere Teile der verarmten Landbevölkerung massiv in die Städte. Dort lebten sie in armen Vorstädten oder illegalen Siedlungen, den Urformen der heutigen Favelas. Diese extreme sozio-ökonomische Segregation nahm schnell politisch wie administrativ nicht mehr kontrol­ lierbare Ausmaße an, die urbanen Peripherien ließen eine bis heute prägen­ de Dualität zwischen bürgerlicher und informeller Stadt entstehen. Zum Ende des 20. Jahrhunderts machte der Begriff der “Brasilianisierung” von Städten weltweit Karriere. Neben zugespitzten sozialen Konflikten im Stadtraum bezeichnete er auch die zunehmende Kommerzialisierung und Privatisierung des öffentlichen Raums. So verbindet man in der internatio­ nalen Wahrnehmung die brasilianischen Großstädte traditionell mit dem Begriff der “Krise”, mit Problemen wie Armut, Kriminalität und Gewalt, einer zunehmenden Fragmentierung der urbanen Gesellschaft und ihrer Territorien. Es ist ein historisches Paradox, dass die politische und soziale Elite Brasiliens ihren entschlossenen und kohärenten Willen zur Ordnung des nationalen Raums über strategische Stadtgründungen durch die interne Vernachlässigung dieser Stadträume ebenso konsequent selbst untergrub. Infrastrukturell durchdachte Stadtplanung wurde nicht betrieben, die ar­ men Teile der Stadtbevölkerung wurden in der Regel einfach marginali­ siert – an die Peripherien verdrängt und von der bürgerlichen Stadt aus­ geschlossen – und das enorme und rasante Anwachsen dieser peripheren Stadträume beeinträchtigte unweigerlich die gesamte Lebensqualität und Bewohnbarkeit der Großstädte. Der Geograph Milton Santos beschrieb diese historisch bedingte Negativentwicklung in den 1990er Jahren mit dem Begriff des “Metropolenschwunds” (involução metropolitana). Besonders problematisch dabei ist, dass der Druck der Peripherien auf die bürgerliche Stadt letztere dazu veranlasst, ihren eigenen urbanen Raum

190

Marcel Vejmelka

selbst zunehmend zu fragmentieren und privatisieren. Der bekannteste Faktor dieser Gegenbewegung ist die Entstehung räumlich abgegrenzter Enklaven für die gehobene Mittelschicht und die Oberschicht in Hoch­ hauskomplexen (condomínios verticais), geschlossenen Wohnanlagen (gated communities oder condomínios fechados) oder auch außerhalb des Stadtgebiets in neuartigen metropolitanen Zentren, die nicht mehr der traditionellen Auffassung von Stadt entsprechen (Mega-Munizipien). Diese Stadtflucht der Reichen und die allgemeine Vernachlässigung der urbanen Peripherien verstärkten wie in einem Teufelskreis ihre Ursache: die Abwesenheit der staatlichen Macht in diesen armen Stadträumen, in deren Folge das dorti­ ge Machtvakuum ab den 1970er und vor allem 1980er Jahren zunehmend von der Drogenkriminalität ausgefüllt wurde. Die armen Viertel und Favelas tragen aufgrund ihrer historischen Ent­ stehung nach Abschaffung der Sklaverei und im Zuge der frühen Land­ flucht während der ersten Modernisierungsschübe um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Stigma der Armut, des Elends, der Kriminalität und der systematischen Marginalisierung ihrer vorrangig afrobrasiliani­ schen und farbigen Bevölkerung. Doch zeitgleich mit der allmählichen Verfestigung und Radikalisierung dieser Verschränkung von negativer Wahrnehmung und Realität bildet gerade dieser Raum die Keimzelle für kulturelle Formen und Manifestationen, ohne die Brasilien in seinem Selbstverständnis und erfolgreich verbreiteten Bild nicht denkbar wäre. Mit den Scharen ehemaliger Sklaven und ihrer Nachkommen auf der Suche nach Arbeit und Überlebensmöglichkeiten füllten sich die teilweise zugewiesenen, teilweise durch Landbesetzungen entstandenen Armen­ viertel der Städte auch mit dem geistigen Erbe des Widerstands gegen die Sklaverei und den Frühformen eines (afro)brasilianischen Selbstbe­ wusstseins. Die Quilombos – Siedlungen geflohener Sklaven – des 17. und 18. Jahrhunderts im Nordosten Brasiliens, in erster Linie der Quilombo de Palmares in Pernambuco, waren selbst befestigte Städte mit landwirtschaft­ lich genutztem Umland; die dramatischste und bekannteste messianische Bewegung der Region um Antônio Conselheiro hatte ihr Zentrum in der 1883 gegründeten Siedlung Canudos, die bei ihrer Zerstörung durch das Militär 1897 urbanen Charakter angenommen hatte. Beide Pole, die von der Kolonialmacht und der jungen Republik als existentielle Bedrohungen bekämpft und schließlich zerstört wurden, wirken in den modernen Stadt­ bereichen der Armut und des Elends bis heute fort. Gleichzeitig stellen sie in nicht geringerem Maße dynamische Räume dar, die hier nicht idealisiert

Städtische Kulturen und Bewegungen

191

oder verklärt werden dürfen, aber in ihrer Bedeutung für die Konfigu­ rationen und Rekonfigurationen populärer Kultur im heutigen Brasilien wahrgenommen werden müssen. Und auch diese Bedeutung der aus der Sicht der bürgerlichen Stadt – des asfalto – als problematisch und bedroh­ lich empfundenen Bereiche der Armut und Informalität besitzt eine his­ torische Dimension und eigene Tradition, die in jüngerer Vergangenheit zunehmende Anerkennung erfährt. Die hier skizzierte Widersprüchlichkeit der brasilianischen Großstädte verdichtet sich somit in der einzigartigen Verbindung aus Alltagskultur und zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, die heute exemplarisch für das kreative Potenzial der Favelas und armen Vorstädte steht. Diese Ver­ bindung, in der z. B. Musik zu einem entscheidenden Instrument politi­ scher Repräsentation wurde, soll auf den folgenden Seiten anhand einiger Beispiele für brasilianische Stadtkulturen vorgestellt werden. Salvador und das afrobrasilianische Selbstbewusstsein

Salvador da Bahia war bis 1763 erste Hauptstadt der Kolonie Brasilien und wichtigster Umschlagplatz für die aus Afrika verschleppten Sklaven, die vorrangig in der Plantagenwirtschaft eingesetzt wurden. Deren starke Präsenz über das Ende der Sklaverei hinaus prägte die Stadt entscheidend. So wird Salvador heute als das “schwarze Herz Brasiliens” bezeichnet und bildet zugleich das Zentrum des zum Ende des 20. Jahrhunderts etablier­ ten afrobrasilianischen Selbstbewusstseins. Der von afrobrasilianischen Kulturformen durchdrungene Karneval von Salvador hat im Hinblick auf Größe und Bedeutung schon lange mit dem klassischen Modell aus Rio de Janeiro gleichgezogen und ist heute ein Magnet für Besucher aus der ganzen Welt. Es ist kein Zufall, dass die diesen Karneval gestaltenden Or­ ganisationen und Gruppen eine zentrale Bedeutung für das Erstarken der afrobrasilianischen Kultur in Bahia und ganz Brasilien haben. Unter dem Einfluss der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen und globaler Diskurse um afrikanisches Erbe (négritude, Panafrikanismus) entstanden in den 1970er und 80er Jahren die blocos afro und betrieben im Rückgriff auf die lebendigen – stark religiös ausgerichteten – Traditionen des afoxé eine ‘Afrikanisierung’ des Karnevals von Salvador. Das bis dahin nur lokal und regional bedeutsame Ereignis wurde durch diese Neuerung aufgewertet und diente seinerseits als wichtige Plattform und Bühne, um

192

Marcel Vejmelka

die von den blocos repräsentierte Populärkultur sichtbar zu machen. So entstanden aus den Initiativen im unmittelbaren Kontext des Karnevals zahlreiche afrobrasilianische Kultur- und Sozialprojekte sowie Nichtregie­ rungsorganisationen (NROs), die den erneuerten und kritischen Karneval mit ethno-politischem Aktivismus auch außerhalb dieser Sphäre verban­ den. Ein afoxé mit politischem und sozialem Engagement sind die Filhos de Gandhy, die bereits seit 1949 bestehen und sich besonders um die Wieder­ belebung und Anerkennung der afrobrasilianischen Spiritualität verdient gemacht haben. Zu den erfolgreichsten und international bekanntesten Projekten zählen die blocos afro der ersten Stunde wie Ilê Ayê (1974 gegrün­ det), die Grupo Cultural Olodum (1979) und Ara Ketu (1980). Olodum entstand 1979 als bloco afro und bemüht sich seit 1983 als NRO um die Bildung einer afrobrasilianischen kulturellen Identität, Antirassismus und black entrepreneurship. In diesem Rahmen wurden umfassende kultu­ relle und soziale Aktivitäten wie Theater, Tanz und Schulen entwickelt (). Das über Karneval, Musik und weitere kulturelle Angebote artikulierte Engagement dieser blocos afro und afoxés bewirkte gegen anfängliche Widerstände der Eliten eine zunehmende In­ tegration des afrobrasilianischen Erbes in das Selbstbild Salvadors und Bahias. Im Stadtraum fand diese Entwicklung Anfang der 1990er Jahre ihren markanten Niederschlag in der Sanierung und Wiederbelebung des historischen Stadtzentrums von Salvador um den Pelourinho, das Teil des Weltkulturerbes ist. In musikalischer Hinsicht sind Olodum die Erfinder und prominen­ testen Vertreter des Samba Reggae, der Anfang der 1980er als Fusion von Samba mit karibischen und afrikanischen Rhythmen entstand. Aus dem Samba Reggae entwickelte sich im Anschluss die popmusikalische Rich­ tung der Axé Music, die ab den 1990ern immer größeren nationalen und internationalen Erfolg erlebte. Olodum und Samba Reggae erfuhren 1990 die ers­te internationale Aufmerksamkeit, als sie mit Paul Simon den Song “The obvious child” für das Album The Rhythm of the Saints aufnahmen. Darauf folgte 1996 eine Zusammenarbeit mit Michael Jackson für eine Version des Songs “They don’t care about us”. Ein Teil des dazugehö­ rigen Videos wurde auf dem Pelourinho in Salvador gedreht (der zweite Drehort war die Favela Dona Marta in Rio de Janeiro) und rückte so die Grupo Cultural Olodum als NRO (Michael Jackson trug in mehreren Sze­ nen ein T-Shirt mit dem prägnanten Logo der Gruppe), afrobrasilianische

Städtische Kulturen und Bewegungen

193

Rhythmen als populärkulturellen Ausdruck und zwei afrobrasilianisch ge­ prägte urbane Szenerien weltweit in den Fokus der Öffentlichkeit. Antirassismus, afrobrasilianisches Selbstbewusstsein, kulturelle Iden­ tität, soziales und politisches Engagement haben so die kulturellen Ent­ wicklungen in Bahia und Salvador in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts und bis in die Gegenwart entscheidend mitgeprägt. Neben dem großen Erfolg bahianischer Rhythmen und Percussion-Stile gilt dies auch für die international ähnlich erfolgreiche Tradition der capoeira oder die zunehmende gesellschaftliche Aufwertung und Verbreitung afrobrasiliani­ scher Spiritualität (candomblé). Recife: revitalisierte Traditionen des Nordostens

Das etwa 700 km nördlich von Salvador gelegene Recife ist die größte und bedeutendste Metropole des brasilianischen Nordostens. Aufgrund der historischen Besonderheiten dieser Region – insbesondere die langjährige Herrschaft der Niederländer im 17. Jahrhundert – sind im Nordosten bis heute kulturelle Schlüsselelemente verschiedener europäischer Einflüsse in vielfältiger Verschmelzung präsent. Die Volkskultur ist bekannt für ihre Feste und Tänze wie Frevo, Maracatu oder Bumba-meu-boi, in denen europä­ ische, indigene und afrikanische Elemente sich vermischen. Recife gehörte im 20. Jahrhundert zu den brasilianischen Großstäd­ ten, in denen die soziale Segregation und die daraus resultierenden Kon­ flikte am deutlichsten sichtbar wurden. Als Metropole des Nordostens zog die Stadt Migranten aus der gesamten Region an, die sich in Elendssied­ lungen entlang der zahlreichen Flussarme und Sumpfgebiete (mangues) nie­ derließen. Vor dem Hintergrund dieser drängenden Probleme mit Armut, Elend, Kriminalität und zunehmender Umweltverschmutzung entstand zu Beginn der 1990er Jahre in Pernambuco mit dem Gravitationszentrum in der “Manguetown” Recife die Bewegung des Manguebeat, die eine mu­ sikalische Synthese aus regionalen Musikformen und Folklore (anfangs vor allem Maracatu, später verstärkt auch Forró), alternativem Rock und digitalen Musiktechnologien vollzog. Die Pioniere des Manguebeat, die mit nur zwei Alben in rasantem Tempo zunächst in Brasilien und dann auch international auf sich auf­ merksam machten, waren Chico Science & Nação Zumbi. Gegen Ende des Jahrzehnts erweiterte sich das Spektrum musikalischer Mischungen

194

Marcel Vejmelka

und traditioneller Aktualisierungen unter dem Oberbegriff nova cena, die nachhaltig die zeitgenössische Musik Brasiliens zwischen Tradition und Pop/Rock beeinflusste. Ihr bedeutendster Vertreter ist die Band Mundo Livre S/A, die auch schon in den Anfangsjahren des Manguebeat aktiv war. Ihr Sänger Fred 04 zeichnete gemeinsam mit Chico Science verant­ wortlich für das 1991 verkündete Manifest der neuen Bewegung, “Caran­ guejos com Cérebro” (Krebse mit Hirn), das gleich zu Beginn den un­ trennbaren Zusammenhang von alternativer Kulturszene, Musik, sozialer Bewegung und Umweltschutz unterstreicht. So ging es im Manguebeat neben der Aufwertung und Aktualisierung traditioneller und populärkul­ tureller Elemente des Nordostens immer auch darum, vorrangig junge Menschen für Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit im lokalen wie glo­ balen Zusammenhang zu mobilisieren (siehe z. B. das Centro Escola Mangue in Recife: ). Symbolträchtig hat man die Bewe­ gung ins Zeichen der Mangrovenwälder gestellt. Dieser komplexe Raum der Biodiversität bildet das die Stadt Recife prägende Ökosystem und ihre sozialen wie kulturellen Lebensadern. Somit verkörpert die vom Manguebeat ausgehende Entwicklung bis heute eine für den brasilianischen Nordosten charakteristische Verbin­ dung aus neuen Musikformen und sozialer Bewegung im Einsatz für die ethnische, soziale wie kulturelle Anerkennung von Minderheiten. Die da­ rin aktiven Initiativen entwickeln eine Dynamik, die in andere Medien wie Film und Bildende Kunst hineinwirkt, weit über ihre Herkunftsregion hin­ aus reicht und eine neue Wahrnehmung des Nordostens befördert. São Paulo: Hip-Hop

Die Megastadt São Paulo wird häufig auch zu den so genannten global cities gezählt. Sie verkörpert neben ihrer wirtschaftlicher Spitzenposition und kulturellen Avantgarde das gängige Bild vom Großstadtdschungel und urbanen Chaos: eine ausufernde, nicht mehr überschaubare Stadt, permanentes Verkehrschaos, hohe Kriminalität und stark beeinträchtigte Lebensqualität. Die kritische Liebesklärung, die Caetano Veloso 1978 in seinem Song “Sampa” an die “dura poesia concreta de suas esquinas”, die harte Poesie des Betons von São Paulo machte, beschreibt diese proble­ matische Dualität sehr treffend.

Städtische Kulturen und Bewegungen

195

In den ersten Jahrzenten des 20. Jahrhunderts betrat São Paulo die brasilianische und bald auch internationale Bühne als erste moderne Me­ tropole des Landes. Literarisch dokumentiert und mythisiert wurde diese urbane Entfesselung der Industrialisierung und des früh schon nicht mehr kontrollierbaren Wachstums 1922 von Mário de Andrade in seiner Paulicéia desvairada. Ein etwas gesetzteres, deswegen aber nicht weniger bewegtes und konfliktbeladenes Bild der Einwandererstadt als Ziel und Hoffnung von Menschen aus Brasilien und Europa zeichnete 1927 Antônio de Al­ cântara Machado in den Erzählungen von Brás, Bexiga e Barra Funda. Die Schattenseiten der global city lassen São Paulo als Betonmoloch er­ scheinen, der unzählige Binnenmigranten anzieht, verschlingt und in sei­ nen Armen- und Elendsvierteln sammelt. In diesem düsteren urbanen Sze­ nario vollzog sich Brasiliens zentrale Entwicklung einer Hip-Hop-Szene, die globale Elemente dieser US-amerikanischen Subkultur mit Aspekten brasilianischer Stadtkulturen vermischte. Grundlegendes musikalisches Merkmal des in São Paulo entstandenen Hip-Hop war in seiner Anfangs­ zeit in den 1990er Jahren die Repräsentation der rauen Wirklichkeit und des Überlebenskampfes in der Megastadt durch harte Beats und aggres­ sive Texte. Die Pioniere des brasilianischen Hip-Hop sind die Racionais MCs, die mit Alben wie Holocausto urbano (1990) und Sobrevivendo no inferno (1997) Meilensteine der brasilianischen Musikgeschichte geschaffen haben und gleichzeitig unerwarteten kommerziellen Erfolg erzielten. Die beiden Titel bilden Anspielungen auf die ursprüngliche Lebenswirklichkeit der Gruppenmitglieder im Favelakomplex von Capão Redondo im Südwesten São Paulos. In ihren Texten und ihrem außermusikalischen Engagement klagen die Racionais MCs die allgemeine Marginalisierung und Diskri­ minierung der armen und mehrheitlich dunkelhäutigen Menschen in der Peripherie an, denunzieren Missstände in staatlichen Erziehungseinrich­ tungen oder Jugendgefängnissen, Polizeigewalt und Perspektivlosigkeit. Wie mittlerweile auf der ganzen Welt bildet Hip-Hop als paradigmatische urbane Gegenkultur eine Plattform, um über die Musik hinaus mit Kul­ turaktivitäten wie Breakdance oder Graffiti, Drogen- und Kriminalitäts­ prävention oder Ausbildungsangeboten gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Im Schoß der Hip-Hop-Kultur vollzog sich auch der Übergang von den Rap-Texten über die Lyrik hin zur Literatur im Allgemeinen. Der be­ kannteste Vertreter dieser unter dem Label der “literatura marginal” sich etablierenden Literatur ist Ferréz, der ebenfalls in Capão Redondo auf­

196

Marcel Vejmelka

gewachsen ist und diese unmittelbare Lebenswirklichkeit – die Ausweg­ losigkeit, Diskriminierung und Selbstzerstörung junger Erwachsener in São Paulos Peripherie zwischen schnellem Geld und Ruhm, Drogen und Gewalt – in seinen ästhetisch mit dem Rap verbundenen Romanen (Capão Pecado, 2000, und Manual prático do ódio, 2003) schonungslos und kritisch zur Darstellung bringt. Ferréz hat Capão Redondo bewusst nicht verlassen und nutzt dort seine Bekanntheit, um Nachwuchsautoren der “literatura marginal” unter anderem mit einem eigenen Verlag (Selo Povo) zu för­ dern und die Hip-Hop-Szene, insbesondere mit einem eigenen Modelabel (1DASUL), weiter mitzugestalten. Rio de Janeiro: neue städtische Bewegungen

Die Favelas oder comunidades – im Sinne einer selbstbewussten Selbstbe­ nennung ihrer Bewohner und Aktivisten – sind seit der ‘Afrikanisierung des Karnevals’ im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert unverzichtbare Grundlage und Nährboden für diesen heute international vermarkteten Wettbewerb, den sie in Rio de Janeiro mit ihren Sambaschulen, Umzü­ gen und samba enredos bestreiten. Auch so typische Musikformen Rio de Janeiros wie Samba und Choro/Chorinho sind lebendiger Bestandteil des kulturellen Lebens der comunidades, wo sie mit neuen musikalischen und jugendkulturellen Formen wie dem seit den 1970er Jahren entstandenen und seit den 1990ern auch international beachteten funk in Dialog und Konkurrenz stehen. Regulierung und Formalisierung beeinflussen diesen kulturellen Be­ reich dahingehend, dass die Stadtregierung den Sambaschulen der oberen Ligen seit 2005 in der so genannten “Cidade do Samba” (der “Stadt des Samba”) jeweils eigene Hallen für ihre Umzugsvorbereitungen zur Verfü­ gung stellt. Die Sambaschulen können so eine bessere Infrastruktur nut­ zen und interessierten Besucher wird ein ‘geordnetes’ Umfeld garantiert, das auch nicht innerhalb einer Favela liegt. Doch die konkrete Einbet­ tung und damit Verankerung der Sambaschulen in ihren Vierteln, Favelas und Gemeinschaften wird dadurch geschwächt. Allgemein spiegeln die Widersprüche des Karnevals von Rio de Janeiro viele der Probleme, die den in der Stadt herrschenden Konflikten zugrunde liegen. Die weiter vo­ranschreitende Kommerzialisierung des Großevents steigert die Span­ nung und Kluft zwischen Leitungsgremien und Basis, hinzu kommt der

Städtische Kulturen und Bewegungen

197

Einfluss der Drogenbanden, die sich seit den 1990er Jahren zunehmend als wichtigste ‘Sponsoren’ der Sambaschulen betätigen. Die wachsende Anerkennung für die Ursprünge solch bedeutender Kulturgüter steht in enger Wechselbeziehung zu einem strukturellen Wan­ del ihres Entstehungskontextes. Der Erfolg kultureller Manifestation und Initiativen beförderte die zivilgesellschaftliche und politische Repräsenta­ tion der comunidades, wurde von ebendieser aber auch erst in seiner aktuel­ len Form ermöglicht. Neue soziale Akteure haben in jüngerer Vergangen­ heit die nationale und internationale Bühne betreten. Heute bemühen sich NROs und kulturelle Initiativen in den armen Stadtvierteln und Favelas, wie zum Beispiel das Zentrum für Kooperation und Bewohneraktivitäten (Centro de Cooperação e Atividades Populares) im Favelakomplex von Man­ guinhos, um neue Formen des empowerment und der nachhaltigen lokalen Entwicklung für die arme und einfache Bevölkerung mit ihren ökonomi­ schen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen. Gerade im Zuge der digita­ len Revolution der Medien und des Internets schaffen diese Organisatio­ nen immer stärker präsente Kanäle für ihre eigenen Stimmen und Bilder, welche in großem Maße über eigene Kulturgüter wie Musik und Tanz, Journalismus und Film/Videokunst transportiert werden (). Auch bereits erfolgreiche Musiker, Schriftsteller oder Künstler engagieren sich dafür, ihre comunidades durch die Gründung sol­ cher kultureller und sozialer Institutionen zu unterstützen. Insgesamt bie­ tet sich ein Bild neu gestalteter Kanäle der Kommunikation und Interak­ tion zwischen den armen ‘Inseln’ der fragmentierten Großstädte. Soziale Bewegungen und Zivilgesellschaft greifen hier ineinander und treten in Wechselwirkung mit kulturellen Entwicklungen in den comunidades, die weit über den Bereich der ‘informellen Stadt’ hinaus wirken. Die Grupo Cultural AfroReggae () wurde 1993 in Reaktion auf eine Reihe von Massakern an unschuldigen Favela-Bewoh­ nern durch korrupte Polizisten gegründet – diese Entstehungsgeschichte wird in dem Dokumentarfilm Favela Rising von Jeff Zimbalist und Matt Mochary (2005) sehr anschaulich erzählt. Heute kann AfroReggae auf eine beeindruckende Vielfalt an sozialen Projekten in der Jugendarbeit verweisen. Neben national wie international erfolgreichen Musikgruppen mit eigener Produktionsfirma widmet sich die NRO der Medienarbeit, betreibt ein Mode-Label und eine Zirkusschule, leistet medizinische Auf­ klärung und Hilfe unter den Bewohnern und kann eigene Schulstipendien vergeben.

198

Marcel Vejmelka

Ein weiteres Beispiel bildet die Kooperative CoopaRoca () aus Rios größter comunidade Rocinha, die mit ihren Mo­ dekreationen aus Resten und Abfall in die Geschäfte der wohlhabenden Zona Sul einzog. Dieses frühe Beispiel von ‘favela chic’ hat Schule gemacht und so wirkt z. B. im Umfeld von AfroReggae und deren internationa­ ler Kooperation mit britischen NROs das Kollektiv Retalhos Cariocas () mit einem ähnlichen Modell von Design, Produktion und Vertrieb in Eigenverantwortung sowie Arbeits- und Aus­ bildungsmöglichkeiten für die Gemeinschaft. Das in Brasilien und im Ausland ebenso euphorisch wie kritisch rezi­ pierte Filmprojekt Cidade de Deus von Fernando Meirelles und Kátia Lund (2002) ist ein gutes Beispiel für die Konflikte und Probleme, die andererseits gerade aus dem Erfolg solcher sozialer und kultureller Projekte entstehen können. Das dem Film zugrunde liegende Buch gleichen Titels von Paulo Lins (1997) war ursprünglich ein stadtanthropologisches Forschungspro­ jekt in den etwa 120.000 Einwohner umfassenden comunidades, die sich um den 1962–1965 als stadtplanerisches Projekt implantierten Wohnkomplex “Cidade de Deus” angesiedelt haben. Statt einer wissenschaftlich-enga­ gierten Studie entstand schließlich ein literarisches Projekt über drei Ge­ nerationen von Drogenbossen, das einen überraschenden Publikumserfolg erzielte und umfassende Diskussionen im Spannungsfeld von Ästhetik, Gesellschaft und Politik anstieß. Für die Dreharbeiten zur Verfilmung an Originalschauplätzen und mit zahlreichen lokalen Laiendarstellern wurden Filmproduktion und soziale Arbeit in den comunidades eng miteinander ver­ zahnt, es entstanden ‘Nebenprojekte’ wie der Dokumentarfilm Notícias de uma guerra particular (1999) über die Hintergründe der Gewaltspirale in Rios Favelas, die erfolgreiche, gemeinsam mit TV Globo produzierte Fernseh­ serie Cidade dos Homens (2002–05) und der gleichnamige Kinofilm (2007), in denen zumindest teilweise auch das Lebens der favelados jenseits von Dro­ gengewalt und Kriminalität einem breiten Publikum vorgestellt wurden. Kritik wurde vor allem gegen die international erfolgreiche und auf ihre ästhetisierenden Dimensionen reduzierte Darstellung der Favelas als exotischer Freiraum sowie der Gewalt als deren Hauptmerkmal vorge­ bracht, wie sie sich im dem vor allem kommerziell eingesetzten Label favela fiction niederschlägt. Filme wie die beiden Teile von Tropa de elite (Elite squad, 2007 und 2010, Regie: José Padilha) werden einerseits diesem Eti­ kett zugeordnet und für ihre als übertrieben empfundene Gewaltdarstel­ lung kritisiert, andererseits schließen sie an die von Cidade de Deus/City of

Städtische Kulturen und Bewegungen

199

God initiierte Entwicklung an, die Schattenseiten der brasilianischen Stadt­ landschaften im Allgemeinen sowie der ‘wunderbaren Stadt’ Rio de Janei­ ro im Besonderen unverstellt vor Augen zu führen und auch die Ursachen dieser Situation – bei Tropa de elite vor allem die den gesamten Polizei- und Staatsapparat durchsetzende Korruption – zu denunzieren. Im Vorfeld der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016

Schon seit langen Jahrzehnten versucht der brasilianische Staat, durch ent­ sprechende Maßnahmen und mit mal größerem, mal geringerem Erfolg, mit den urbanen Peripherien in Dialog zu treten. Ein zentraler Ansatz ist dabei immer wieder die Schaffung neuer bzw. die Wiederbelebung degra­ dierter alter Räume – wie den historischen Stadtzentren – als ‘kulturelle Territorien’, die wie ein Hebel für eine allgemeine soziale Verbesserung angrenzender Stadtbereiche wirken könnten. Noch älter und problematischer ist der Ansatz staatlicher Interven­ tion, über die Regulierung und Formalisierung der Armenviertel (community upgrading) das Problem der sozialen Konflikte sowie der mit ihnen einhergehenden Kriminalität und Gewalt einzudämmen. In Rio de Janei­ ro etwa wurde dies mit dem 1993 von der Stadtverwaltung begonnenen Programm Favela-Bairro unternommen, in dessen Zuge stadtplanerische Entwürfe mehr oder weniger im Dialog mit Organisationen der betroffe­ nen comunidades die Favelas mit ihrem charakteristischen – und als eigene Ästhetik begreifbaren – Chaos aus spontanen Bauten und verwinkelten Straßenzügen mit Kanalisation, Stromversorgung und Asphaltierung aus­ statten und dort neue öffentliche Räume schaffen wollten. Nicht zuletzt im Hinblick auf die anstehenden Großereignisse in der Stadt wurden bisherige Upgrading-Programme 2010 gebündelt und unter dem Namen “Morar carioca” (Wohnen in Rio) neu aufgelegt. Im Zuge dieses ambitionierten Ansatzes sollen bis 2020 über 1.000 Favelas in die Stadtstruktur integriert werden. Überhaupt erfahren alle staatlichen Initia­ tiven im Zusammenhang mit sozialen Fragen in Rio de Janeiro durch die Vorbereitung auf die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 neue Impulse bzw. stehen sie nun unter deren Vorzeichen. Das offizielle Olympia-Portal der Stadtverwaltung von Rio de Janeiro bie­ tet einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Bereiche und ein­ zelnen Projekte ().

200

Marcel Vejmelka

Große mediale Aufmerksamkeit erfuhr z. B. die 2011 eröffnete Seil­ bahn (die sog. “Teleférico do Alemão”), die sich mit sechs Stationen auf etwa 3,5 km Länge über die riesige Favela “Complexo do Alemão” er­ streckt und für die Bewohner als Nahverkehrsmittel dient. Gleichzeitig soll die Seilbahn zu einer Attraktion für brasilianische wie internationale Touristen werden und so weiter reichende Strukturveränderungen in der Region bewirken. Im Juni 2012 wurde in Rios Nordzone die Parkanlage “Parque de Madureira” eröffnet, die mit ihrem Angebot für Freizeitak­ tivitäten und Sport einen weit reichenden stadtplanerischen Eingriff in dieser Region bedeutet. Im Zusammenspiel mit der ebenfalls dort geplan­ ten Schnellbuslinie “Transcarioca” soll eine strukturelle Aufwertung be­ fördert werden. Die Schaffung neuer Schnellbuslinien quer durch Rio de Janeiro, um vor allem auch die Peripherie an die bürgerliche Infrastruktur anzuschließen, bildet dabei sicher das Herzstück der vorbereitenden Maß­ nahmen für die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro. Die drei Expresslinien sollen die Struktur des öffentlichen Nahverkehrs insgesamt verbessern und damit vor allem signifikante Er­ leichterungen für die Mobilität der Bewohner bringen, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind oder auf das Auto verzichten wollen. Die Kehrseite dieser dialogischen Ansätze bilden die eingangs erwähn­ ten Militäraktionen zur ‘Säuberung’ der Favelas von den dort herrschen­ den Drogenbanden. Diese Strategie ist ebenso alt wie die Favelas selbst, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte der Staat, den ‘Makel’ der illegalen Elendsviertel durch Zwangsräumung bzw. Umsiedlung der Bewohner zu beseitigen. Auch wurden z. B. unter der Militärregierung in den 1960er und 1970er Jahren Projekte zur Zerstörung von Favelas mit der Umsiedlung ihrer Bewohner in Mustersiedlungen durchgeführt. Bei­ des allerdings nicht mit dem beabsichtigten Erfolg. Der bereits erwähnte Komplex der Cidade de Deus entstand gerade aus einer solchen Muster­ siedlung heraus. Neu ist im Vorfeld der sportlichen Megaevents in den 2010er Jahren der Versuch, nach der Vertreibung der Drogenbanden die staatliche Ord­ nung durch speziell geschulte Polizeieinheiten in ‘Friedensmission’ (die UPPs) zu etablieren und zu stabilisieren. Einerseits bedeutete die Schaf­ fung dieser neuartigen Polizeieinheiten eine Abkehr von der frontalen und unnachgiebigen Konfrontation mit den Drogenbanden, vor allem auch von der pauschalen Kriminalisierung der comunidades. Auf der anderen Seite jedoch übernehmen die UPPs in der Regel Sicherungsaufgaben in

Städtische Kulturen und Bewegungen

201

Favelas, die zuvor vom Militär in massiven bewaffneten Aktionen regel­ recht von den kontrollierenden Drogenbanden ‘befreit’ oder ‘gesäubert’ wurden. Neben dem Vorwurf der staatlichen Bevormundung und getarn­ ten Kontrolle der comunidades durch die ‘Friedenspolizei’ beinhaltet eine häufig vorgebrachte Kritik an dieser neuen Strategie die Befürchtung, dass es sich dabei letzten Endes nur um eine medienwirksam inszenierte ‘Be­ friedung’ der urbanen Brennpunkte im Vorfeld der international bedeutsa­ men Groß­ereignisse handelt, die nach dem Ende der Olympischen Spiele 2016 bald wieder sich selbst überlassen werden. Schlussbemerkung

Räume der Armut und Informalität sind nicht nur Herde von Gewalt, Drogen, Verbrechen und anderen Bedrohungen für die bürgerliche Stadt, auch wenn sie in der allgemeinen gesellschaftlichen und internationalen Wahrnehmung oftmals als solche erscheinen. Sie sind vor allem auch Räu­ me lebendiger kultureller Traditionen und Neuschöpfungen, die sich oft kritisch mit den Erfordernissen und Beschränkungen ihres Entstehungs­ kontextes auseinandersetzen. Diese kulturellen Dynamiken wirken pro­ duktiv und kreativ auf ihr Umfeld ein, verwandeln sich in soziale und politische Projekte oder verbinden sich mit den analog zu ihnen entste­ henden ‘städtischen Bewegungen’, um gemeinsam ihren marginalisierten Kulturformen und Gesellschaftsgruppen ein Gesicht, eine Stimme, einen Diskurs zu geben und ihnen in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion Gewicht zu verleihen: Samba, Karneval, Funk oder Hip-Hop, blocos afro oder Manguebeat sind sehr unterschiedliche kulturelle Phänomene und bewirken nicht unmittelbar den gesellschaftlichen Wandel, streben ihn teilweise nicht einmal an. Aber sie sind Ausdruck von Dynamiken und Transformationen innerhalb bestimmter Gesellschaftsgruppen und Teil einer globalen Entwicklung, in der populäre Kulturen, Medien und neue Formen des Engagements immer größere Bedeutung und vielfältige Wir­ kungen entfalten. Besonders interessant ist hierbei zu beobachten, wie solche lokalen Initiativen über neue Medien und im Kontext der Globalisierung ‘von unten’ verstärkt neuartige Formen der internationalen Vernetzung auf­ bauen. Diese Entwicklung führt zur zunehmenden Zusammenarbeit bra­ silianischer NROs und Projekte mit Partnern auf der ganzen Welt, einer­

202

Marcel Vejmelka

seits in den Industrieländern, ebenso aber im ‘globalen Süden’, wie das Beispiel der Grupo Cultural AfroReggae auf beeindruckende Weise zeigt. Dadurch entsteht eine neue weltweite Sichtbarkeit und Anerkennung die­ ser lokalen Aktivitäten, die in dieser Form in Brasilien selbst – seitens der bürgerlichen Stadt – meist gar nicht gegeben ist. Ähnlich verhält es sich mit der Anerkennung und dem Erfolg des in Brasilien weiterhin stark ‘ghettoisierten’ funk, der unter dem Label Rio funk oder Favela funk mitt­ lerweile Einzug in die Clubs der Welt gehalten hat und außerhalb Brasi­ liens bereits als neue Ausdrucksform brasilianischer Populärkultur aner­ kannt wird. Allgemein ist so festzustellen, dass weite Teile dieser Akteure brasilianischer Stadtkulturen und neuen sozialen Bewegungen in ihrem unmittelbaren Stadtraum zwar weiterhin marginalisiert sind und um all­ gemeingesellschaftliche Anerkennung ringen müssen, auf globaler Ebene dagegen diese Isolation bereits haben überwinden können.

Literaturhinweise Caldeira, Teresa Pires do Rio (2000): Cidade de muros. Crime, segregação e cidadania em São Paulo. São Paulo: Editora 34. Castro, Mary Garcia/Abramovay, Miriam/Rua, Maria das Graças et al. (Hg.) (2001): Cultivando vida, desarmando violências. Experiências em educação, cultura, lazer, esporte e cidadania com jovens em situação de pobreza. Brasília: UNESCO/Fundação Kellogg. Gouvêa, Ronaldo Guimarães (2005): A questão metropolitana no Brasil. Rio de Janeiro: Edi­ tora FGV. Herschmann, Micael (Hg.) (1997): Abalando os anos 90. Funk e Hip-hop. Globalização, violência e estilo cultural. Rio de Janeiro: Rocco. Lanz, Stephan (Hg.) (2004): City of COOP. Ersatzökonomien und städtische Bewegungen in Rio de Janeiro und Buenos Aires. Berlin: b_books. Markman, Rejane Sá (2007): Música e simbolização. Manguebeat: contracultra em versão cabocla. São Paulo: Annablume. Moura, Roberto (1995): Tia Ciata e a Pequena África no Rio de Janeiro. 2. Aufl. Rio de Janeiro: Prefeitura da Cidade do Rio de Janeiro/Secretaria Municipal da Cultura. Neat, Patrick/Platt, Damian (2010): Culture Is Our Weapon. Making Music and Changing Lives in Rio de Janeiro. London: Penguin. Santos, Milton (1993): A urbanização brasileira. São Paulo: Hucitec. Schaun, Angela (2002): Prácticas educomunicativas. Grupos afro-descendentes Salvador - Bahia, Ara Ketu, Ilê Aiyê, Olodum, Pracatum. Rio de Janeiro: Mauad.

Film und Fernsehen Joachim Michael

Tele-ImagiNation und Kino-ImagiNation

Als das brasilianische Fernsehen im September 1950 erstmals auf Sendung ging, war das nationale Kino bereits ein halbes Jahrhundert alt. Von Beginn an gingen beide Medien eine komplexe und spannungsreiche Beziehung ein, die nicht untypisch erscheint für die lateinamerikanischen Medien­ kulturen. Gemeint ist damit nicht nur, dass die intermediale Wechselbe­ ziehung zwischen Kino und Fernsehen die spezifische Ausgestaltung der audiovisuellen Kultur bestimmt, sondern dass sie darüber hinausgehend der Gegenwartskultur ein ihr eigenes Gepräge verleiht. Nicht zu Unrecht wird die Beziehung zwischen Kino und Television als Konkurrenzverhält­ nis betrachtet, das immer schon zugunsten des Rundfunks entschieden scheint. Es gilt jedoch zu untersuchen, wie sich die televisuelle Dominanz zum Kino verhält: ob das Fernsehen seine Stärke daraus bezieht, dass es andere Medien wie das Kino verdrängt, und inwiefern die den postkolo­ nialen Rahmenbedingungen geschuldete historische Strukturschwäche des Kinos zugleich die Voraussetzungen für die Übermacht des Fernse­ hens schafft. Die Hypertrophie der Fernseh-Networks in Brasilien hat auch damit zu tun, dass es dem nationalen Kino im 20. Jahrhundert nicht gelang, seine Existenzkrisen dauerhaft zu überwinden. Die wiederkehren­ den Schwundphänomene der Kinoproduktion im vergangenen Jahrhun­ dert wurden vom Fernsehen ausgenutzt, um sich in eigentümlicher Weise als nationales Bildschirmkino zu entwerfen und zu entfalten. Das Paradox, dass sich der TV-Riese Rede Globo als “brasilianisches Hollywood” kon­ stituiert, stellt sich als Anspruch dar, die Nation weniger dar- als vielmehr zuallererst vorzustellen und das nationale Selbst nach dem Vorbild der Ki­ novision auf den Bildschirm zu projizieren. Insofern als Kino und Fern­ sehen in der ImagiNation Brasiliens grundsätzlich konvergieren, stellt sich ihr Verhältnis als konfliktiver Wechselbezug dar, der die eigentümlichen Ausformungen beider Medien bedingt. Denn das Fernsehen dehnt seinen Einfluss in dem Maße aus, wie die Sehnsucht der peripheren Nation, sich technisch zu imaginieren, nicht durch das Kino gestillt werden kann. In

204

Joachim Michael

der Folge stehen ästhetisch und inhaltlich beide Medien meist – nicht im­ mer – im Widerspruch zueinander, da die industrielle Hochleistungstele­ vision mit ihrer Glanzästhetik des prallen Konsumglücks von der HungerÄsthetik eines Kinos negiert wird, das sich in einer seiner schöpferischsten Phasen als Autorenkino im programmatischen Gegensatz zu Hollywood positionierte. Während also die glamouröse Überentwicklung des Ipanema-way-of-life tagtäglich auf den allgegenwärtigen Bildschirmen flimmert, projizierte sich immer wieder die unaufgehaltene Unterentwicklung des Restlandes auf die vereinzelten Leinwände. Anfang und Ende: die Zyklen des Kinos

Nur etwa sieben Monate nach der Uraufführung des Kinematographen in Paris wurden im Juli 1896 erste Filmsequenzen in Rio de Janeiro gezeigt. Bereits 1897 fand der legendäre Kurzfilm L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat der Brüder Lumière eine brasilianische Entsprechung in Chegada do Trem em Petrópolis (Ankunft des Zuges in Petrópolis) von Vittorio di Maio. Die bewegten Bilder kündeten eine Moderne an, die die junge Nation in den urbanen Zentren über alle sozialen Schichten hinweg mit Begeisterung aufnahm. Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war von reger Film­ tätigkeit geprägt, die mit dokumentarischen Aufnahmen eingeleitet und in der zweiten Hälfte der Dekade mit ersten Spielfilmen ergänzt wurde. Unmittelbar nach Einführung des neuen Mediums entstand bereits eine große Produktionsphase, die auch die Belle Époque oder gar das Goldene Zeitalter des brasilianischen Kinos genannt wird (Gomes 1996: 11, 91). Unverkennbar war das Begehren der postkolonialen Gesellschaft, sich auf der Leinwand gespiegelt zu sehen. Mit der Elektrifizierung in Rio de Ja­ neiro sprossen reihenweise Filmabspielstätten aus dem Boden und 1907 waren allein im Umkreis der Avenida Central etwa zwanzig Filmtheater in Betrieb, die meist selbst produzierte Sequenzen zeigten. Dieser erste Pro­ duktionszyklus gilt als einer der erfolgreichsten des brasilianischen Kinos, weil Produktion und Vorführung in einer Hand lagen und die gedrehten Filme den Weg auf die Leinwände fanden. Zwischen 1900 und 1912 wur­ den jährlich über einhundert Filme produziert, die zusammen mit Wo­ chenschauen und Dokumentationen lokaler Ereignisse die Kinoschau zu einer beliebten urbanen Freizeitaktivität machten (Gomes 1996: 19–36; Johnson/Stam 1995: 19–22).

Film und Fernsehen

205

Nach dem Ersten Weltkrieg fand dieser Boom ein frühzeitiges Ende, da Hollywood erfolgreich begann, die Filmvorführungen auch in Brasilien zu monopolisieren. Diese Entwicklung wurde durch den Umstand ver­ stärkt, dass die durch den Krieg stark gestiegenen Filmmaterialkosten die europäische Konkurrenz in eine Krise gestürzt hatten. Dazu kam, dass der Verleih in Brasilien zunehmend unter US-Kontrolle geriet und Hollywood den Vorzug gab. Die Schwächung der heimischen Produktion, deren Ver­ bannung aus den Kinos und die Vorherrschaft der US-Filme, die zu dieser Zeit schon 85,6 % des Marktes erobert hatten, waren die Folge (Shaw/ Dennison 2007: 20). So leitete sich ein historisches Muster des brasiliani­ schen Kinos ein, demzufolge im 20. Jahrhundert auf kurze Boomphasen mit großen Erwartungen unweigerlich anhaltende Krisen folgten. Im Er­ gebnis führte die Abkoppelung der heimischen Filmproduktion von Ver­ leih und Vorführung zur uneingeschränkten Dominanz Hollywoods und zum wiederholten Scheitern des Versuchs, eine nachhaltige Filmindustrie im Land zu errichten. Vereinzelte Anstöße hierzu gab es bereits in den zwanziger Jahren, ebenso Initiativen, die heimische Produktion vor den billigen Importen aus Nordamerika zu schützen. Aber erst der Tonfilm erweckte das Interesse des Staates. Die Regierung unter Getúlio Vargas erkannte im Kino ein wichtiges Instrument zur Begründung Brasiliens als nationale Gemeinschaft. 1932 wurde den Kinobetreibern per Gesetz vor­ geschrieben, vor jeder Kinoaufführung einen brasilianischen Kurzfilm zu zeigen. Solche protektionistischen Maßnahmen wurden später immer wie­ der gesetzlich ausgedehnt, jedoch nie rigoros kontrolliert. 1937 sollte die Gründung des Instituto Nacional de Cinema Educativo (INCE) das Kino mit staatlichen Produktionen in den Dienst von nationaler Bildung und Er­ ziehung stellen (Shaw/Dennison 2007: 24). Typisch für die Ausgestaltung technischer Medien in Brasilien war hierbei, dass das Kino jene Entwick­ lungslücke schließen sollte, die durch die ausgeprägte soziale Einschrän­ kung der Buchkultur klaffte. An die Stelle der Bücher, die die Bevölkerung nicht lesen konnte, sollten nun die bewegten Bilder treten. Mehr als jedes andere Medium nutzte jedoch Jahrzehnte später das Fernsehen das Ver­ harren des Buches innerhalb seiner urbanen Lese-Inseln, um außerhalb dieser Zonen eine ihm sich selbst überlassene Bevölkerung audiovisuell zu alphabetisieren. Für INCE produzierte und drehte Ende der 1930er Jahre der re­ nommierte Regisseur Humberto Mauro, der sich unter anderem mit dem später als Klassiker akklamierten Ganga bruta (1933) hervorgetan hatte,

206

Joachim Michael

mehr als 200 Dokumentarfilme. Diese didaktischen Streifen dienten auch dem Zweck, der Unterhaltungstendenz des brasilianischen Films entge­ genzuwirken, der die Tonspur für seine Zwecke zu nutzen wusste und in Rio de Janeiro ein eigenes Genre ausformte, das Musik, Tanz und Komik miteinander verband und als chanchada populär wurde. Filme wie Alô, alô, Brasil (1935) von Adhemar Gonzaga brachten Radio-Stars wie Carmen Miranda auf die Leinwand. Bis in die fünfziger Jahre kamen hunderte von chanchadas in die Kinos und bescherten dem brasilianischen Film eine feste Publikumsbindung sowie den Zuschauern ein Amüsement, in dem sie sich wiedererkannten (Gomes 1996: 95 –96; Johnson/Stam 1995: 27). Diese Bindung zerbrach erst, als das Fernsehen begann, dem Kino das Publikum streitig zu machen. Zuvor jedoch scheiterte der Versuch, ausge­ hend vom Erfolg der chanchadas, das Kino nach dem Vorbild Hollywoods auf eine solide Studiobasis zu stellen. Ein Beispiel dafür war das Studio Atlântida, das 1941 in Rio de Janeiro gegründet wurde und sich schon bald auf die chanchadas und Musicals spezialisierte, von deren Krise Ende der 1950er Jahre es sich jedoch nicht zu erholen vermochte. Ein noch spekta­ kuläreres Unternehmen war das Studio Vera Cruz, das 1949 in São Paulo mit der Absicht aufgebaut wurde, den chanchadas ein auch international erfolgreiches brasilianisches Qualitätskino entgegenzusetzen. Vera Cruz produzierte achtzehn Spielfilme, von denen O cangaceiro (1953) der be­ rühmteste ist. Er wurde in Cannes ausgezeichnet und in zweiundzwanzig Ländern gezeigt. Das Studio konnte den großen Erfolg des Films jedoch nicht nutzen und musste 1954 Insolvenz anmelden. Es war nach dem Mo­ dell der Metro-Goldwin-Mayer-Studios zu einer Zeit ins Leben gerufen worden, als die US-Studios aufgrund der Konkurrenz durch das Fernse­ hen bereits in die Krise geraten waren. Die hohen Produktionskosten, die nicht zuletzt das implementierte Star-System sowie die aufwändigen Sets verursachten, waren ohne einen gesicherten Verleih nicht zu refinanzieren (Gomes 1996: 76 –78; Johnson/Stam 1995: 27–28). Das Scheitern des ‘tropischen Hollywoods’ brachte das Filmschaffen nicht zum Erliegen, aber an ihm lässt sich der Schwenk hin zu unabhän­ gigen Produktionen festmachen, die sich am italienischen Neorealismus orientierten. Prekäre und nicht-industrielle Bedingungen des Drehens wurden nun zum ästhetischen Prinzip und zum politischen Ausgangs­ punkt einer kinematografischen Reflexion über die sozialen Bedingun­ gen des Landes. In dieser Zeit entstanden bemerkenswerte Filme wie Rio 40 graus (1955) und Rio, zona norte (1957), beide von Nelson Pereira

Film und Fernsehen

207

dos Santos. Die Ablehnung der ‘Qualitätsproduktionen’ der Studios und das improvisierte Arbeiten an ungestellten Sets mit Laiendarstellern lei­ tete die Ära des cinema novo ein, die nach der der Belle Époque und der der chanchadas die dritte bedeutsame Epoche des brasilianischen Kinos darstellt. Sie unterschied sich jedoch von den vorhergehenden in signi­ fikanter Weise dadurch, dass sie nicht auf die Konstitution einer natio­ nalen Filmindus­trie ausgerichtet war. Im Gegenteil, im Augenblick, da das Fernsehen sich anschickte, sich unter den Bedingungen der Unter­ entwicklung als mögliche Industrie technischer Bilder zu etablieren, ging das Kino mit dem cinema novo dazu über, sich aufgrund der Unterent­ wicklung vom industriellen Modell der Bilderproduktion zu distanzieren. Hierin markierte das cinema novo zugleich seine Differenz zur zeitgleichen Nouvelle Vague, mit der es vieles gemein hatte. Filme des cinema novo mit niedrigen Budgets wanden sich nicht nur gegen die tradition de la qualité des makellosen Studiokinos, sondern machten vielmehr den strukturel­ len Mangel zum ästhetischen Mittel, die Entbehrungen und Knechtun­ gen anzuzeigen, zu denen das Land in der Unterentwicklung verurteilt war. Diesem Mangel musste auch das Kino verhaftet bleiben, insofern es sich den sozialen und politischen Bedingungen Brasiliens verpflich­ tet fühlte. Neben Hollywood, das als Zerstreuungsindustrie die Speer­ spitze jener imperialistischen Weltordnung bildete, die die Abhängigkeit der peripheren Länder bestimmte, ist es vor allem das Fernsehen, das stellvertretend im eigenen Land diese Herrschaftsverhältnisse vertiefte, indem es mit seinem standardisierten und schematisierten Amüsement von der Bildung eines kritischen Bewusstseins ablenkte. Das Fernsehen begann jedoch während der Ära des cinema novo in den 1960er Jahren erst nach und nach, sich als hegemoniales Massenmedium zu konstitu­ ieren. Die Bild-Kritik des cinema novo vollendete sich also erst, so könnte man meinen, als es schon nicht mehr als Bewegung fortbestand und sich Rede Globo in den 1970er Jahren endgültig mit seinen hohen Produk­ tionsstandards und seinem Star-System als Hollywood brasileira behaupte­ te. Die wesentliche ästhetische und inhaltliche Auseinandersetzung auf der Ebene der technischen Bilder war folglich zwischen dem cinema novo und dem Fernsehen auszumachen, wenngleich sie als solche nicht dazu kam, ausgetragen zu werden. Denn die Selbstversöhnung mit einem kommenden (mehr als mit dem bestehenden) Brasilien, die das Fernse­ hen später betrieb, konnte für dieses Kino nur Grund des Aufbegehrens sein. Dennoch kamen beide Seiten darin überein, dass die (noch immer

208

Joachim Michael

ferne) Nation nur in den technischen Bildern zu sich kommen konnte. Es zeigte sich, dass sich mit dem cinema novo das Kino als künstleri­ sche und intellektuelle Avantgarde positionierte, die auf der Höhe und im ebenbürtigen Austausch mit der Literatur und anderen Künsten das cinéma d‘auteurs weiterentwickelte und in ihren Filmen die aktuellen Debatten der Gesellschaft ästhetisch reflektierte und kritisch fortführte. Hierbei stand die Bewegung zugleich in engem Kontakt mit aktuellen Kinotendenzen in ganz Lateinamerika, die die Filmkunst in den Dienst der Befreiung stell­ ten, wie etwa Fernando Solanas und Octavio Getino, die 1969 in einem Manifest ein revolutionäres tercer cine forderten, das sich im Gegensatz zum Mainstream- und Kunstkino dem Markt nicht anpasst. Allerdings formier­ te sich das cinema novo auf der Grundlage des erwähnten Filmschaffens und der Debatten der 1950er Jahre bereits um 1960, was die Vorreiterrolle der cinemanovistas markiert. Seine theoretische Formulierung fand es in den Schriften, die der Regisseur Glauber Rocha zwischen 1963 und 1965 ver­ öffentlichte. Darin legte er das “anti-industrielle” Filmschaffen dar, dem “eine Kamera in der Hand und eine Idee im Kopf ” genügte. Insbeson­ dere aber begründete Rocha die Unversöhnlichkeit und den Schockcha­ rakter dieser Filme mit der “Ästhetik des Hungers” als eine “Ästhetik der Gewalt”, die den satten Neo-Kolonialisten im In- und Ausland die Ver­ zweiflung der Hungernden in Ausdruck und Inhalt entgegenschleuderte (Rocha 2004: 63 – 67). Glauber Rocha war darüber hinaus als Filmemacher die emblemati­ sche Figur der Bewegung, die mit Filmen wie Deus e o diabo na terra do sol (1964), Terra em transe (1967) und O dragão da maldade contra o santo guerreiro (1968) die Ansätze des cinema novo in seiner dokumentarischen Kompro­ misslosigkeit sowie in seinem Zurückreichen in die kulturelle und lite­ rarische Tiefe entfaltete, aber in seinem Lyrismus und seiner reflexiven Gebrochenheit zugleich überschritt. Bis zu dreißig Filmemacher zählte das cinema novo in seiner produktivsten Phase. Herausragende Regisseure waren neben Rocha der schon erwähnte Nelson Pereira dos Santos unter anderem mit Vidas secas (1963), in dem der Mangel zum fundamentalen Antagonisten avanciert, Carlos Diegues, Leon Hirszman, Ruy Guerra und Joaquim Pedro de Andrade, dessen Verfilmung von Macunaíma (1969) zum ersten großen Publikumserfolg der Bewegung wurde. Ihre Filme verteilten sich auf die verschiedenen Abschnitte des cinema novo, dessen Anfangs­ phase durch den Militärputsch 1964 ein abruptes Ende fand. Die zweite Phase war von Reflexionen über die Niederlage revolutionärer Ansätze

Film und Fernsehen

209

gekennzeichnet und wurde durch den “Putsch im Putsch” 1968 beendet, der die Repression drastisch verschärfte und die Bürgerrechte schmerzlich einschränkte. Nicht zuletzt aufgrund der Zensur wichen die Filme in der anschließenden dritten Phase bis 1971 auf Allegorisierungen aus. Gleich­ zeitig suchten sie vermehrt den Kontakt zum Publikum und parodierten sowohl Tradition wie Moderne, wie es auch der tropicalismo in Musik und Theater tat. Davon setzte sich ein kompromissloser und radikalisierter Teil ab und bildete das sogenannte cinema marginal (Xavier 1997). Da die Förderung der nationalen Kultur zum Entwicklungsplan der konservativen Modernisierung der Militärs gehörte, unterstützte die Mi­ litärdiktatur trotz scharfer Zensur das heimische Kino und schuf 1969 die staatliche Filmbehörde Embrafilme (Empresa brasileira de filmes), die zu­ nächst nur die Vermarktung brasilianischer Filme im Ausland fördern soll­ te, aber schon 1970 dazu überging, Filmproduktionen zu finanzieren, und ab 1973 den Vertrieb nationaler Filme übernahm. Embrafilme war sehr erfolgreich und ermöglichte in der Zusammenführung von Produk­tion und Vertrieb große brasilianische Publikumserfolge wie Dona Flor e seus dois maridos (1976) von Bruno Barreto und A dama do lotação (1978) von Ne­ ville de Almeida. Tatsächlich erreichte der Marktanteil des brasilianischen Filmes in der Ära Embrafilme von 1974 bis 1984 seinen Höhepunkt und stieg von anfangs 15 % auf bis zu 32 %. Die künstlerische Reflexivität und Kompromisslosigkeit, für die das cinema novo international bis heute gefei­ ert wird, war in diesem publikumswirksamen Förderkino der Embrafilme verloren, aber die nationale Produktion hielt sich auf einem Niveau von ca. 25 Filmen pro Jahr. In den 1980er Jahren setzten jedoch die zuneh­ mende Popularität des Fernsehens und die Einführung der Videorecorder dem Kino zu. Außerdem erschwerten die einsetzende Wirtschaftskrise und das Missmanagement in der Filmbehörde die Lage. In der Folge ge­ rieten Kino und Embrafilme nach dem Ende der Militärdiktatur 1984 in eine schwere Krise (Ballerini 2012: 32–35). Der erste frei gewählte Präsident Fernando Collor schaffte 1990 in sei­ ner Schocktherapie des freien Marktes alle staatlichen Organe der Kultur­ förderung ab, darunter auch Embrafilme. Der Film und andere Kulturer­ zeugnisse galten als Waren, die sich uneingeschränkt dem internationalen Wettbewerb zu stellen hatten. Der Zuschauermarktanteil nationaler Filme in den brasilianischen Kinos sank von 34 % (1983) über 10 % (1990) auf annähernd 0 %. Die nationale Filmproduktion kam faktisch zum Erliegen. Der Schock saß tief, obwohl schon Mitte des Jahrzehnts die sog. retomada,

210

Joachim Michael

d. h. Erholung, einsetzte. Nachdem Collor angesichts eines Amtsenthe­ bungsverfahrens 1992 zurücktrat, schuf die Nachfolgeregierung mit der Lei do audiovisual gesetzliche Anreizmechanismen für steuerlich absetzbare Förderungen von Filmproduktionen durch Privatpersonen und Unter­ nehmen. Nun war es nicht mehr der Staat, der die Filmerzeugung direkt finanzierte, sondern die Privatwirtschaft, die dadurch ihre Steuerlast er­ leichterte. Diese Art der Förderung war erfolgreich. Zwischen 1995 und 2005 brachten etwa hundert neue Regisseure ihre Erstlingsfilme in die Kinos. Aber nur 30 % von ihnen gelang es, einen zweiten Film zu lancie­ ren. Auch das Publikum brasilianischer Filme wuchs wieder: von prak­ tisch 0 % in 1992 stieg es auf knapp 15 % im Jahr 2000, aber es erreichte weniger als die Hälfte des Wertes der 1980er Jahre. Die Produktion der retomada war von ungewöhnlichem Umfang und Vielseitigkeit. Sie fand auch vereinzelt großen Zuspruch von Publikum und Kritik, wie Cidade de Deus (2002) von Fernando Meirelles und Kátia Lund. Der Film zählte über drei Millionen Besucher und war damit der erfolgreichste Film der retomada. Der meistgesehene brasilianische Film aller Zeiten ist dagegen ein Film der sog. pós-retomada, wie das Gegenwartskino ab dem Jahr 2002 bezeichnet wird. Tropa de elite 2 (2010) von José Padilha wurde von über zehn Millionen Zuschauern gesehen. Diese Erfolge bedeuteten jedoch nicht, dass sich eine nachhaltige und solide Kinostruktur entwickeln konnte. Denn die Förderung betraf nur die reine Erzeugung der Filme, nicht aber deren Vertrieb, Leinwandprojek­ tion und Sekundärverwertung im Fernsehen und als DVD. Das eigentliche Problem, das auch in der Gegenwart bislang nicht angegangen wurde, ist die Vorführung, nicht die Produktion der Filme. Denn die meisten der durch Sponsoring finanzierten Streifen erreichen ihr Publikum nicht, weil weder die Kinos noch die Fernsehanstalten sie annehmen. Während sich also in der Gegenwart die brasilianische Kinoproduktion mit knapp drei­ ßig Filmen pro Jahr erholt hat, bleibt das chronische Problem bestehen, dass Hollywood weiterhin etwa 90 % der brasilianischen Kinos bespielt. Eine schwere Hypothek für das brasilianische Kino bleibt, dass das Fern­ sehen anders als etwa in den USA oder Deutschland gegenüber dem hei­ mischen Kino von allen Verpflichtungen ausgenommen ist. Hier finden brasilianische Filme keine Verwertungsmöglichkeiten, weil die Anstalten den billigen Importfilmen aus den USA den Vorzug geben, wodurch den brasilianischen Filmen die Möglichkeit genommen wird, Verluste bei den Kinoaufführungen auszugleichen (Ballerini 2012: 36 – 49; Moisés 2003).

Film und Fernsehen

211

Triumph und Phantasma der nationalen Television

Trotz seiner Erfolge kann das Kino seine Funktion in den Augen von Beo­ bachtern und Filmschaffenden selbst in der Gegenwart nur unzureichend wahrnehmen. Sie besteht darin, dass sich das Land in einem “kinemato­ grafischen Spiegel” erblickt und in ihm zu sich findet (Moisés 2003: 5). Das Fernsehen hat nicht von Anfang an darauf hingearbeitet, den Zu­ schauern in ihrem Zuhause eine Brasilien-Vision zu eröffnen, aber von dem Augenblick an, als es sich dieses Ziel vornahm, begann sein Aufstieg nicht nur als Medienmacht, sondern vor allem als prägender Faktor der Gegenwartskultur. Dies bedeutet, dass auch die Entwicklung des neuen Rundfunkmediums nicht von Anfang an geradlinig war. Nach dem Vor­ bild des Radiobetriebes und des TV-Systems in den USA überließ der Staat die Sendefrequenzen der Privatinitiative zur kommerziellen Nut­ zung, weil er sich außerstande sah oder nicht willens war, den Sendebe­ trieb mit öffentlichen Anstalten selbst zu übernehmen. Jedoch übte er die Hoheit über die Rundfunk-Kommunikation aus und vergab bzw. verlän­ gerte die befristeten Sendelizenzen. Dadurch entstand eine grundsätzliche (gegenseitige) Abhängigkeit des Mediums von der Politik. Hieraus ergab sich, dass das Dispositiv des brasilianischen Fernsehens hinsichtlich seiner Produktion nicht nur durch unternehmerische Gewinnmaximierung son­ dern, wie schon das Radio, grundsätzlich auch durch politische Interessen geprägt wurde. Da es jedoch zu Beginn der 1950er Jahre keine TV-Empfangsgeräte in Brasilien gab, und die potentielle Nachfrage nach den Apparaten wegen der hohen Kosten als eingeschränkt galt, war die wirtschaftliche Tragfä­ higkeit des kommerziellen Mediums zunächst äußerst fragwürdig. An­ dererseits machte die Popularität des Radios den Bedarf an technischen Medien deutlich, die versprachen, nicht zuletzt auch die Distanz zwischen Tradition und Moderne zu überbrücken. Unter den Bedingungen der auf­ holenden Modernisierung war das kulturelle und wirtschaftliche Potential des Fernsehens enorm. So erklärt sich, dass das Medium in mehreren la­ teinamerikanischen Ländern nicht nur sehr früh eingeführt wurde, son­ dern auch jeweils mit mehreren Sendern. Brasilien gehörte zu den ersten Ländern überhaupt, die an den regu­ lären Fernseh-Start gingen. Bereits im September 1950 nahm der Medien­ mogul Assis Chateaubriand den ersten Sender TV Tupi Difusora in São Paulo in Betrieb. Er verfügte über die Mittel, die für die hohen Investitionen

212

Joachim Michael

erforderlich waren, und mit denen er sein Medienimperium auszudehnen gedachte. Tatsächlich gebot Chateaubriand auf dem Höhepunkt seiner Medienmacht Ende der 1950er Jahre über 34 Zeitungen, 18 Zeitschriften, 25 Radiosender und 18 Fernsehsender. Nachdem er 1951 auch einen Tu­ pi-Sender in Rio de Janeiro gründete, folgten andere Unternehmen schnell nach. Die Tupi-Sender erhielten bald Konkurrenz durch TV Paulis­ta (1952), TV Record (1953), TV Rio (1955) und TV Continental (1959). Tupi erweiterte seine Sendergruppe in den folgenden Jahren in sieben weiteren brasilianischen Großstädten (Xavier/Sacchi 2000: 229–238, 257). Auch der Staat plante einen eigenen Sender. Rádio Nacional experimen­ tierte schon 1946 mit Fernsehübertragungen, allerdings autorisierte die Bundesregierung erst zehn Jahre später den Sendebetrieb. Dass dieser je­ doch nie zustande kam, könnte mit dem Druck Chateaubriands auf den damaligen Präsidenten Kubitschek in Verbindung stehen. Der Medienmo­ gul wünschte keine staatliche Konkurrenz und drohte mit einer Medien­ kampagne gegen die Regierung. Ein Fernsehsender hatte zur damaligen Zeit eine Reichweite von lediglich etwa 100 km. Der Staat schuf erst 1962 mit einer novellierten Telekommunikationsgesetzgebung die Grundlagen für die Gründung staatlicher Behörden zur Regelung des Fernmeldewesens und zum Aus­ bau seiner Infrastruktur. Dies bedeutet, dass die Voraussetzungen für die Bildung von TV-Networks lange nicht gegeben waren. Um die einzelnen Sender untereinander zu verschalten, hätten die Unternehmen die auf­ wändige Infrastruktur selbst aufbauen müssen. Da sie dazu angesichts der Ausmaße des Landes nicht in der Lage waren, produzierte und sendete jede Anstalt auch innerhalb einer Sender-Gruppe in dieser Phase ihr ei­ genes Programm. Auch waren die technischen Voraussetzungen für den Programmaustausch zwischen den Sendern noch nicht gegeben. Dies sollte sich erst ab Anfang der 1960er Jahre ändern, als das Videoband zum Einsatz kam. Aufgrund der hohen Anschaffungskosten für ein Empfangs­ gerät war das Fernsehen in den Anfangsjahren einem begüterten Publi­ kum in den Großstädten vorbehalten. Es war daher zu Beginn ein lokales Medium, das seinen Zuschauern ein Nahsehen von meist nicht aufzuzeich­ nenden Radio-Adaptionen gewährte und ihren Ansprüchen durch eigens inszenierte Theaterklassiker (den teleteatros) gerecht zu werden versuchte. Das landesübergreifende Fernsehen blieb bis in die 1960er Jahre eine Fern-Vision. Ein überregionales Netzwerk bedeutet jedoch nicht nur, dass ein einziges Programm von einer Vielzahl von Sendestationen ausgestrahlt

Film und Fernsehen

213

wird. Vielmehr begründet erst die gleichzeitige, landesweite Schau eines einheitlichen Programms die Tele-ImagiNation der nationalen Gemein­ schaft. Schon von Anfang an waren Prestigesendungen wie die teleteatros immer wieder um die Umsetzung brasilianischer Werke bemüht. Auch live ausgestrahlte Telenovelas, die damals über kein Prestige verfügten, griffen häufig brasilianische Themen und Probleme auf. Dies bedeutet, dass die ‘Brasilianität’ der Sendungen sowie die Suche nach einer ‘brasilianischen’ Fernsehsprache von Anfang an zu den Voraussetzungen des Mediums ge­ hörten. Diese Nationalisierung des Mediums geriet jedoch just dann in Gefahr, als dieses daran ging, durch den Programmaustausch per Video­ band zwischen den Sendestationen ein einheitliches Programm zu bilden, das überregional auf Sendung gehen sollte. Denn die videotapes leiteten den Programmimport ein, der fast ausschließlich aus den USA stammte. In dem Augenblick also, als das Fernsehen die technischen Voraussetzungen erfüllte, ein landesweites Programm auszustrahlen, drohten – in der dama­ ligen Wahrnehmung – die Sendeinhalte entnationalisiert zu werden und dem auswärtigen Kulturdiktat zu erliegen, das die Dependenz kulturell vertieft und tagtäglich vor Augen geführt hätte. Der Streit um den Tele-Blick wurde vor allem in den 1960er Jahren ausgetragen, als die nationale Frage primär als Problem der Unterentwick­ lung diskutiert wurde, wie am cinema novo zu erkennen ist. Politisch wurde dieser Konflikt durch den Militärputsch zugunsten einer konservativen Modernisierung entschieden, die die marktwirtschaftliche Entwicklung zu einer Konsumgesellschaft erzwang. Das Fernsehen spielte hierbei eine zentrale Rolle, da es nicht nur die Welt der Konsumgüter vor Augen führen und anpreisen, sondern durch den Absatz der Empfangsgeräte auch die Industrieproduktion dieser Güter steigern sollte. Tatsächlich verdoppelten sich seit Mitte der 1950er Jahre die Verkaufszahlen von Fernsehgeräten jährlich. Allein 1960 wurden 200.000 Geräte verkauft. In jenem Jahr gab es über 620.000 Fernseher in Brasilien (Xavier/Sacchi 2000: 164). Daraus entstand ein Millionenpublikum, wenn man davon ausgeht, dass das Fern­ sehen sein privates Dispositiv noch nicht voll entwickelt hatte und halb öffentlich, halb privat rezipiert wurde. In dem Maße, in dem sich das Po­ tential eines landesweiten Publikums zu erkennen zeigte, erschlossen sich auch die technischen Voraussetzungen, diese Zuschauerschaft einheitlich zu adressieren. Die Frage, die sich also stellte, war, inwieweit die sich ab­ zeichnende televisionäre Integration der brasilianische Bevölkerung als ein nationales Publikum in den Dienst einer lediglich ökonomischen Mo­

214

Joachim Michael

dernisierung zu stellen war, die aufgrund der forcierten Minimierung der Löhne nur einem eingeschränkten Bevölkerungssegment zugutekommen würde, und die zudem mit der Ausstrahlung US-amerikanischer enlatados (Programmimporte) die Zuschauer sich selbst gegenüber zu Fremden ma­ chen würde. Die Alternative im Rahmen des Entwicklungsmodells der Industrialisierung war hingegen, die Modernisierung mit einer kollektiven Emanzipation zu vereinen, die die Nation vorstellbar macht und auf dem Bildschirm zu sich führt (Kehl 1986). Die historische Chance, die brasilianische Bevölkerung zu einem po­ tentiellen, aber riesigen Publikum zu formieren, ergriff ein Sender, der erst 1965 an den Start ging, der sich aber umso entschlossener daran machte, umgehend ein landesweites Sendenetz zu errichten, das er schon 1969 in Betrieb nahm. Es handelte sich um TV Globo aus Rio de Janeiro. Der Pionier TV Tupi erkannte diese Möglichkeit viel zu spät und bildete erst 1974 ein Network mit einer programação nacional. Zu diesem Zeitpunkt lag die Sendergruppe bereits weit abgeschlagen hinter Globo. 1980 muss­ te Tupi aus Zahlungsunfähigkeit den Sendebetrieb einstellen. Rede Glo­ bo, wie sich die Fernsehanstalt aus Rio nach ihrer Marktpositionierung als Sendernetzwerk nannte, unterstützte das Modernisierungsprojekt der Militärs bedingungslos. Im Gegenzug konnte sie auf die Rückendeckung der Generäle zählen, die sie zu Beginn bitter nötig hatte. Globo war ein Ableger der gleichnamigen Zeitungs- und Radiogruppe unter dem Kom­ mando von Roberto Marinho und nahm sich die US-amerikanischen TV-Networks zum Vorbild. Trotz seiner Unternehmensgröße verfügte Globo jedoch nicht über die Investitionsmittel, die die landesweite Ex­ pansion erforderte. Vor allem aber mangelte es der Gruppe an dem nö­ tigen Know-how für den Aufbau eines solchen Netzwerkes. Dies konnte auch der Radiobetrieb nur bedingt bieten, der bis dato auf lokalen Ein­ zelsendern beruhte, die je nach Leistungsstärke ab den 1940er Jahren per Kurzwelle in das Landesinnere zu senden vermochten und damit zwar erstmals ein nationales Publikum ansprachen, hierfür jedoch einen unver­ gleichbar geringeren Aufwand auf sich nehmen mussten. Globo behalf sich schon 1962 mittels eines Joint Ventures mit der US-amerikanischen Mediengruppe Time-Life. Das US-Unternehmen versorgte Globo mit millionenschweren Finanzhilfen und umfangreichem Know-how in Tech­ nik, Programmgestaltung, Werbung und Verwaltung. Im Gegenzug sollte Time-Life 45 % des erwirtschafteten Gewinns und 3 % des Umsatzes des Senders erhalten. Der Vertrag war auf eine erneuerbare Dauer von zehn

Film und Fernsehen

215

Jahren ab Betriebsaufnahme ausgerichtet. Das Problem war, dass die Te­ lekommunikationsgesetzgebung von 1962 (Código brasileiro de telecomunicações) Partnerschaften mit ausländischen Medienunternehmen ausdrücklich verbot. Das Ergebnis war der “escândalo Time-Life”, der 1966 sogar zu einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss führte, welcher zum Ergebnis kam, dass TV Globo gegen das Gesetz verstoßen habe. Die zweite Militärregierung, die 1968, wie schon angedeutet, unter Artur da Costa e Silva die Diktatur verschärfte und verstetigte, setzte sich jedoch über den Untersuchungsausschuss hinweg und legalisierte TV Globo in ihrem ersten Amtsjahr (Herz 1987: 185 –198). Der Skandal steht bis heute im Brennpunkt der brasilianischen Massenmedienkritik, weil er die auto­ ritäre Abhängigkeit Brasiliens von transnationalen Wirtschaftsinteressen durch den Import und die Verbreitung eines fremden Bewusstseins zu besiegeln schien. Rede Globo begegnete der Krise mit einer Doppelstrategie: Der Sen­ der machte sich daran, das Publikum zum Einen durch eine konsequente ‘Brasilianisierung’ des Programms zu überzeugen und es zum Anderen durch einen kinematografischen ‘Qualitätsstandard’ zu ködern. Globo erfand diese Strategie nicht, sondern übernahm sie – nicht anfänglich, sondern erst gegen Ende der 1960er Jahre – von dem Konkurrenten TV Excelsior, der bereits Anfang des Jahrzehnts ein ästhetisch aufwändiges, ‘nationales’ Programm entwickelte, dessen Brasilienschau den Zuschauern durch ein festes Programmgitter zur täglichen Gewohnheit werden sollte. Die Unternehmensgruppe, die hinter TV Excelsior stand, wurde wegen politischer Differenzen von den Militärs liquidiert, und der Sender musste 1970 seinen schon zuvor schwer zensierten Dienst einstellen. Rede Globo begann nun unter anderem durch die Verpflichtung herausragender Dreh­ buchautoren die Telenovela, das Rückgrat des Programms, systematisch auf nationale Themen auszurichten. Dass hieran auch Schriftsteller betei­ ligt wurden, die für ihr kritisches und politisches Engagement bekannt wa­ ren, wie etwa Dias Gomes und Gianfrancesco Guarnieri, verlieh dem Sen­ der Prestige und Glaubwürdigkeit. Mit der telenovela verdade gab Globo ab 1969 vor, nationale Probleme in seinen Serien ungeschönt zu diskutieren. Die Telenovela war ursprünglich ein Formatimport nicht aus den USA, sondern aus Kuba und Mexiko, wo die Fernsehsender frühzeitig die Soap Opera in der radiophonen Tradition der radionovela in ein se­ rielles Melodrama konvertierten, das im Gegensatz zur Seifenoper auf einer finalen Erzählstruktur beruht und nicht endlos fortgesetzt wird.

216

Joachim Michael

Die Telenovela ist wegen ihrer vielen Kapitel (in der Regel um die 200) extrem rentabel. Sie eignet sich sehr gut zur Variation von Themen, Ge­ schichten und Figuren. Die ‘Brasilianisierung’ des Genres sah hingegen vor, dies dazu zu nutzen, das standardisierte Aschenbrödel-Melodrama der mexikanischen Telenovela mit einer Fülle von Parallelplots zu er­ gänzen, die unter Einbeziehung verschiedenster Genres wie etwa dem Krimi oder der Sozialsatire aktuelle oder historische Anliegen der brasi­ lianischen Gesellschaft aufgreifen und diskutieren. Dass sich hierbei Un­ terhaltung mit Kritik vermengen kann, zeigt das Beispiel der berühmten Telenovela Roque Santeiro des Autors Dias Gomes. Die Politsatire wurde 1985/86 nach dem Ende der Diktatur gesendet, nachdem sie zehn Jahre zuvor der Zensur der Militärs zum Opfer gefallen war. Zwar geben die ‘brasilianischen’ Telenovelas von Rede Globo vor, in jeder Serie einen eigenen “nationalen Kosmos” zu entwerfen, der seine Differenzierung in einer Multiplotstruktur von etwa einem Dutzend Parallelhandlungen findet, die wiederum von bis zu siebzig bis achtzig Figuren bevölkert werden. Jedoch modellieren sie konstitutive Mus­ter, die ihren Ausdruck im Ipanema-way-of-life eines Hochglanz-Brasilien finden, das in der Regel in der gehobenen Mittelschicht angesiedelt ist. Dieses Glamour-Format wird durch eine technische Qualität der Bilder unterstützt, die mit un­ sichtbaren Kontinuitätsmontagen die Wirklichkeits­illusion der TV-Schau sicherstellen. Nichts darf das ungebrochene Sehvergnügen stören, das mit aufwändigen Aufnahmetechniken beständig neu angestachelt wird. Dazu kommt das Star-System von ausgewählten Schauspielerinnen und Schauspielern, die sich dem Publikum als Träger seiner projektiven Iden­ tifikationen anbieten. Rede Globo drängt sich, mit anderen Worten, den Zuschauern als Bildschirm-Kino auf, das sie kontinuierlich auffordert, sich in ihm zu spiegeln und sich der Lust des Schauens hinzugeben. Dies ist das Anliegen des kleinformatigen Hollywood brasileira. Aber was ist dies für ein Blick, den die Globo-Telenovela ködert? Es ist der Schlüsselloch­ blick, der sich den Ausgeschlossenen in die Sperrbezirke der besseren Welt des überquellenden Wohlstandes auftut. Was die Unterentwicklung den Zuschauern unbarmherzig entzieht, vergeudet sich in der Überent­ wicklung des Glücks, das sich nur auf dem Bildschirm zur Schau stellt. Die Telenovela bannt den Blick, ihr Ziel ist es, den Blick an den Fernse­ her festzusaugen, nie darf er vernachlässigt, verunsichert oder verstört werden. Er ist nicht auf sich zurückzuwerfen, wie es das cinema novo in seiner selbstbezogenen Kinokritik forderte. Daher ist das Telenovela-Bild

Film und Fernsehen

217

nur Projektionsfläche des Zuschauerbegehrens – nichts liegt ihm ferner, als die Wirklichkeit des Zuschauers zu rekonstruieren, bzw. diesen so zu spiegeln, wie er sich sieht. Was sich dem Schlüssellochblick der Teleno­ vela-Schau eröffnet, ist die andere Wirklichkeit, das schönere Brasilien der unbeschwerten Üppigkeit, das sich für immer hinter den Hochsicher­ heitsmauern verschanzt hat. Voyeuristisch ist dieser Blick, er befeuert die Passion des Fern-Sehens. Bleibt die Frage, worauf die Brasilianität der Serie letztlich gründet, wenn die Telenovela stets jenes andere Brasilien halluziniert, das dem Zu­ schauer verschlossen ist. Das Telenovela-Brasilien entsteht, so wäre zu antworten, nicht auf dem Bildschirm, sondern dort, wo die Imagination des Zuschauers beginnt. Jedoch ist dies nicht die Imagination des auf der Bildfläche geschauten Brasiliens. Denn nicht in der Schau imaginiert sich das Brasilien der Telenovela, sondern in der Vorstellung, dass alle dieselbe Serie zur selben Zeit anschauen. Trotz der hohen Einschaltquoten der Telenovela kann dies nie der Fall sein, sondern immer nur das Ergebnis je­ ner Imagination des Zuschauers, zusammen mit allen anderen Brasilianern gleichzeitig von der Leidenschaft der Telenovela-Schau erfasst zu werden. Die Telenovela-Nation ist daher nicht das abgebildete Brasilien, sondern die Imagination der Gemeinschaft der Schauenden. In der imaginären Schau der Schau, mit anderen Worten, entsteht die nationale TelenovelaGemeinschaft (Michael 2010).

Literaturverzeichnis Ballerini, Franthiesco (2012): Cinema Brasileiro no seculo 21: reflexões de cineastas, produtores, distribuidores, exibidores, artistas, criticos e legisladores sobre os rumos da cinematografia nacional. São Paulo: Summus. Gomes, Paulo Emilio Salles (1996): Cinema: trajetória no subdesenvolvimento. São Paulo: Paz e Terra. Herz, Daniel (1987): A história secreta da Rede Globo. Porto Alegre: tchê! Kehl, Maria Rita (1986): “Eu vi um Brasil na TV”. In: Simões, Inimá F./Henrique da Costa, Alcir/Kehl, Maria Rita: Um país no ar. História da TV brasileira em três canais. São Paulo: Brasiliense, 167–276. Michael, Joachim (2010): Telenovelas und kulturelle Zäsur. Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika. Bielefeld: Transcript. Moisés, José Álvaro (2003): “A new policy for Brazilian cinema”. In: Nagib, Lúcia (Hg.): The New Brazilian Cinema. London: Tauris, 3 –22.

218

Joachim Michael

Johnson, Randal/Stam, Robert (1995): “The Shape of Brazilian Film History”. In: Dies. (Hg.): Brazilian Cinema. New York: Columbia University Press, 15 –52. Rocha, Glauber (2004): Revolução do cinema novo. Prefácio de Ismail Xavier. São Paulo: Cosac & Naify. Shaw, Lisa/Dennison, Stephanie (2007): Brazilian national cinema. London [u.a.]: Routledge. Xavier, Ismail (1997): Allegories of Underdevelopment: Aesthetics and Politics in Modern Brazilian Cinema. Minneapolis [u.a.]: University of Minnesota Press. Xavier, Ricardo/Sacchi, Rogério (2000): Almanaque da TV. Rio de Janeiro: Objetiva .

”Brasil, pra mim”. Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens Cornelius Schlicke

In Beiträgen über brasilianische Musik – von Reiseführern und CD-Beiheften über musikjournalistische Abhandlungen bis hin zu Filmen und Radiosendungen – ist es weit verbreitet, zuallererst auf ihre vermeintlichen ‘Wurzeln’ einzugehen und dabei das Gründungsmodell der drei übergeordneten ethnischen Komponenten zu bemühen. Vorausgesetzt wird dabei in aller Regel, dass das Zusammentreffen indigener, portugiesisch-europäischer und afrikanischer Kulturen ursächlich für die bis heute entwickelte musikalische Vielfalt des Landes sei. So heißt es etwa in The Brazilian Sound, einem vor allem auf die Interpreten gerichteten Referenzwerk zur populären Musik des Landes: Sowohl Brasiliens Nationalcharakter als auch seine reichhaltige musikalische Tradition lassen sich auf die tiefgreifende Vermischung der Rassen zurückführen, die im April des Jahres 1500 ihren Anfang nahm, als der portugiesische Seefahrer Pedro Álvares Cabral an einer üppigen, tropischen Küste landete, die später zum südlichen Bahia gehören sollte. (McGowan/Pessanha 1993: 18–19)

Zu den hervorragenden Eigenschaften der brasilianischen Musik zählen die Verfasser, dass sie “dank ihrer portugiesischen Herkunft äußerst lyrisch” sei und zugleich durch “eine schillernde Palette afrobrasilianischer Rhythmen” belebt werde (S. 11), während die Musik der Indianer angesichts deren Dezimierung, Unterordnung und Missionierung “keine größere Rolle in der Entwicklung” (S. 19) gespielt habe. Diese Zuordnung bestimmter Qualitäten zum europäischen (‘lyrisch’, ‘harmonisch strukturiert’) oder afrikanischen (‘rhythmisch’, ‘sinnlich’) Pol der brasilianischen Musikachse folgt ebenfalls einer gängigen Denkweise, die in ihrem Zusammenschluss die Vorstellung von einem ‘starken musikalischen Erbe’ stützen soll. Abgesehen davon, dass eine solche Darstellungsform schon aufgrund der vorgenommenen Reduktion der Quellen wenig zur Erklärung der heute tatsächlich gegebenen musikkulturellen Vielfalt in Brasilien beiträgt, indem sie jüngeren Einflüssen wie dem fortgesetzten atlantischen,

220

Cornelius Schlicke

dem inneramerikanischen und schließlich zunehmend globalen Austausch eine bloß nachrangige, sekundäre Bedeutung zuweist, ist sie schon von ihrem Ausgangspunkt her problematisch: Denn es wird die Vorstellung von einer Art ‘Ursubstanz’ der brasilianischen Musik hervorgerufen, ein gewissermaßen naturgemäßes Resultat einer Baukastenlogik, der zufolge sich diverse kulturelle ‘Elemente’ unterschiedlicher Provenienz wie von selbst miteinander vermischt haben. Die feste Verbindung von Herkunft oder gar Hautfarbe mit einer jeweils besonderen Musikalität ist dabei wie selbstverständlich unterstellt. Es ist nun gar nicht zu bestreiten, dass sich in der folkloristischen und auch populären Musik Brasiliens einige Gestaltungsmerkmale wie etwa rhythmische Zellen oder Verfahren der Melodiebildung wiederfinden, die sich zuweilen noch recht spezifisch auf entsprechende Musikpraktiken in Afrika oder Portugal zurückführen lassen und sich über Jahrhunderte erhalten haben. Entscheidend ist hierbei aber, dass deren Bedeutung, Gebrauch und Funktion innerhalb der musikalischen Prozesse fortwährend umdefiniert werden, und zwar von wechselnden sozialen Gruppen, die sich mehr oder weniger bewusst auf das vorgefundene musikalische Material beziehen, um sich damit im Rahmen kultureller Konstellationen abzugrenzen. Auf diese Weise trägt Musik als soziales Medium ganz entscheidend zur Konstituierung und Vermittlung von Identitäten bei, die als ideologische Programme fungieren, seien diese religiös, sozial, ethnisch oder national bestimmt. Was zum Beispiel ‘authentisch brasilianisch’ klingen soll, wird in gesellschaftlicher Auseinandersetzung fortlaufend neu ausgehandelt, freilich nicht willkürlich, sondern unter Beachtung der Gebrauchsgeschichte der musikkulturellen Formen. Der Eindruck einer ‘logischen Evolution’, bei der eine Entwicklung die nächste praktisch schon bedingt hat, bestätigt sich dabei immer wieder automatisch. Samba, Brasiliens ‘Nationalrhythmus’

Der Samba steht in Brasilien symbolisch für die Vermischung von Rassen und Kulturen (mestiçagem), ein wesentliches Konzept bei der Konstruk­ tion nationaler Identität (Vianna 1999: xiii). Sein Aufstieg zum exponierten nationalen Genre ging zugleich mit der zunehmenden Anerkennung und Integration der kulturellen Ausdrucksformen der afrobrasilianischen Bevölkerung einher.

Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens

221

Das Zentrum dieser Entwicklung war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Rio de Janeiro. Innerhalb einer sich zunächst noch in der Anonymität einfacher Wohnviertel abspielenden Musizierpraxis gab es hier einen starken Einfluss durch Afrobrasilianer aus der Provinz Bahia, die nach der Abschaffung der Sklaverei in die damalige Hauptstadt gezogen waren. So vermieteten ältere schwarze Frauen ihre Häuser für Feste, bei denen Musiker zum Tanz aufspielten. Zugleich waren diese Häuser als Stätten afrobrasilianischer Religiosität bekannt. Legendenstatus erlangte das Haus von Tia Cata (1854–1924) in der Umgebung der Praça Onze. Die geladenen Musiker improvisierten dort und spielten verschiedene populäre Genres, darunter den maxixe, den brasilianischen Tango, der sich unter dem Einfluss des lundu, der Polka und der kubanischen Habanera in den 1870er Jahren zu einem ausgelassenen und beliebten Paartanz entwickelt hatte. In dieser kollektiven Atmosphäre entstand schließlich auch das Lied “Pelo Telefone”, das der Musiker Donga alias Ernesto dos Santos 1916 als ersten Samba registrieren ließ. Im darauffolgenden Jahr war es ein Hit beim Karneval und erschien auf Schallplatte. Neben Donga waren zum Beispiel auch Pixinguinha (1898 –1973) und Sinhô (1888–1930) als umtriebige Komponisten der frühen Samba-Ära an der Etablierung neuer Spielweisen beteiligt. Noch jedoch war der Samba kein kohärentes Genre, das sich deutlich vom maxixe abgegrenzt hatte. Die Grenzen zwischen den musikalischen Spielarten waren fließend: Aus den europäischen Salontänzen wie Walzer, Polka, Schottisch oder Mazurka hervorgegangene Hybridgenres trafen auf die afrobrasilianischen Formen des Musizierens aus dem Norden. Pixinguinha beispielsweise machte sich abgesehen vom Samba vor allem als Komponist instrumentaler choros einen Namen. Eine verstärkte Musterbildung vollzog sich dann im Verlauf der 1920er Jahre im sozial und ethnisch durchmischten Viertel Estácio, Heimat von Samba-Musikern wie Ismael Silva, Nilton Bastos und Armando Marçal. Sie experimentierten mit komplexen perkussiven Rhythmusstrukturen und vereinfachten zugleich die Liedstruktur der Sambas. Damit trugen sie maßgeblich zur Konsolidierung des Genres bei. Ihr Stil wurde zum Vorbild für nachfolgende Generationen von Musikern. 1928 wurde in Estácio zudem die erste Sambaschule namens Deixa Falar gegründet. Waren es also zu einem Gutteil Musiker aus Arbeiterbezirken und Favelas mit einem hohen Anteil afrobrasilianischer Bevölkerung, die den Samba weiterentwickelten, so verdankte sich die landesweite Popularität

222

Cornelius Schlicke

und Bedeutung dieser Musik letztlich übergeordneten Entwicklungen: Einer breiten Diskussion über den Inhalt nationaler Identität und ihrer politischen Ausgestaltung, dem Ausbau des Rundfunkwesens und der zunehmenden Bedeutung anderer Unterhaltungsmedien sowie der staatlichen Einflussnahme auf den Karneval. Das Selbstverständnis der brasilianischen Nation (brasilidade) war in den 30er Jahren ein vorrangiges Thema intellektueller Debatten. Der Soziologe Gilberto Freyre etwa definierte Brasilien als plurikulturelle Gesellschaft und stellte die Rassenmischung als vorteilhaftes Merkmal heraus. Ein Schwerpunkt entsprechender Diskussionen lag auf der Neubewertung des afrikanischen Kultureinflusses (McCann 2004: 2), der zuvor noch weitgehend negiert worden war, einhergehend mit der Diskriminierung der afrobrasilianischen Bevölkerung. Politisch wurde das Jahrzehnt von Getúlio Vargas dominiert. Dessen Vorhaben einer umfassenden Modernisierung des Staatsapparats wie des gesamten Landes setzte eine Mobilisierung aller Bevölkerungsteile und deren Identifikation mit der Nation vo­ raus. Insofern wurde auch von dieser Seite die afrobrasilianische Präsenz nicht mehr nur als Schaden, sondern im Sinne der national-kulturellen Dis­tinktivität Brasiliens sogar als potentiell nützlich angesehen. Angemerkt werden muss aber auch, dass diese ‘offizielle’ Neuausrichtung des Nationalbewusstseins kaum etwas am alltäglichen Rassismus änderte. Zeitlich parallel zur Beförderung eines neuen kulturellen Wertebewusstseins ereignete sich der Aufschwung des Radios zu einem Massenmedium. Zuvor hatte sich die Rundfunkübertragung in erster Linie an elitäre Schichten gerichtet, und die musikalische Programmgestaltung konzentrierte sich dementsprechend vornehmlich auf Opernarien und Märsche. Mit der Ausweitung des Marktes, der Einführung der Werbefinanzierung und schließlich auch der Nationalisierung von landesweit ausstrahlenden Radiostationen rückten jedoch andere Nachfragestrukturen ins Visier. Auch Samba-Musiker wurden vermehrt zu den Varieté-Shows der großen Radiosender eingeladen, die ausnahmslos in Rio ansässig waren, ebenso wie ein Großteil der übrigen Unterhaltungsindustrie. In Rio entschied sich, was musikalisch und kulturell von nationaler Bedeutung sein konnte. Der öffentliche Karneval wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch vom Bürgertum dominiert und orientierte sich mit seinen Vereinen, Straßenumzügen, Maskenbällen und der dort erklingenden Musik eng an Europa. Parallel zu diesem ‘großen’ Karneval feierte die

Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens

223

ärmere, zum Großteil afrobrasilianische Bevölkerung in den Randbezirken bald ihren eigenen, ‘kleinen’ Karneval (Oliveira Pinto/Tucci 1992: 14). Umzugsgruppen (cordões) zogen mit Rasseln und Trommeln durch die Straßen und stellten auch sonst reichhaltige Bezüge zur ‘afrikanischen Heimat’ her. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nannten sie sich clubs oder blocos, und gegen Ende der 20er Jahre wurden die ersten Sambaschulen (escolas) gegründet. Aus diesem ‘kleinen’ Karneval gingen letztlich die groß dimensionierten Karnevalsparaden hervor, für die Rio und auch andere brasilianische Metropolen wie Salvador da Bahia heute weltbekannt sind. Während das bunte Treiben bei den Behörden zunächst alles andere als wohlgelitten war, fand die Presse Gefallen daran und initiierte schließlich auch den Wettbewerbscharakter des Umzugs. 1933 setzte dann die staatliche Einflussnahme ein, als die Darbietungen der escolas in das Programm der offiziellen Tourismus-Organisation aufgenommen wurden. Dies verband sich zugleich mit der Etablierung formaler und inhaltlicher Vorgaben: “Zur Vorschrift wurde unter anderem, dass die enredos [Themen] der einzelnen Karnevalsgruppen Episoden aus der brasilianischen Geschichte und Kultur thematisieren sollten” (Oliveira Pinto/Tucci 1992: 20). So wurde es den Sambaschulen zur Aufgabe gemacht, mit Hilfe ihrer verschiedenen Kostümgruppen, ihrer geschmückten Umzugswagen, der Musik und der Texte ein Bewusstsein von der kulturellen Größe des Landes zu vermitteln – durchaus auch unter Hervorhebung des afrikanischen Erbes –, während beispielsweise Äußerungen politischer Kritik zu Abwertung oder gar Ausschluss führten. Den Patriotismus beförderten gleichermaßen auch Lieder, die unter der Rubrik samba-exaltação subsumiert wurden. Das bekannteste dieser Art ist “Aquarela do Brasil”, 1939 von Ary Barroso komponiert. In bildhafter Sprache preist sein Text die Schönheit von Land und Leuten, und zum Abschluss jeder Strophe heißt es lediglich: “Brasil, Brasil, pra mim, pra mim” (“Brasilien, Brasilien, für mich, für mich”). Dank der Verwendung für einen Disney-Film brachte es die Melodie wenig später unter dem internationalen Titel “Brazil” zu Weltruhm. Der Samba war mittlerweile in bürgerlichen Kreisen weithin akzeptiert und gehörte längst auch zum Terrain weißer Komponisten und Musiker, deren Lieder nicht mehr nur auf die Karnevalszeit bezogen waren, sondern ganzjährig in den Radios erklangen. In diesem samba-canção lag der Schwerpunkt auf der elaborierten Ausgestaltung der Melodien und Harmonien, zumeist unterlegt mit gefühlsbetonten Texten. Eine Schlüsselfi-

224

Cornelius Schlicke

gur war hierbei der Komponist Noel Rosa. Schwarze Musiker und Sänger hatten es trotz der mittlerweile größeren Akzeptanz nach wie vor schwer, sich in die Star-Maschinerie der wachsenden Unterhaltungsbranche einzufügen. Viele kooperierten auch mit weißen Interpreten, die dann ihre Werke darboten, so etwa Ismael Silva mit dem populären Sänger Francisco Alves.1 Im Schatten des Glamours lebte der Samba auch in den Favelas von Rio fort. Parallel zur Bossa-Nova-Euphorie konzentrierten sich einige Musiker wieder mehr auf einen der klassischen Spielweise verpflichteten Stil, für den Veteranen wie Nelson Cavaquinho oder Clementina de Jesus standen. Zé Keti komponierte traurige Sambas, die auf die Armut in den Favelas Bezug nahmen, darunter sein vielleicht bekanntestes Lied “Acender as velas”. Die Sambaschulen haben mittlerweile volle Anerkennung erlangt und sind zu riesigen Institutionen geworden. Allein die angeschlossenen Perkussionsgruppen, die baterias de samba, zählen bis zu 350 Musiker, die eine Vielzahl unterschiedlich dimensionierter Trommeln (surdo, caixa, repique), Handtrommeln (tamborim, pandeiro), Reibetrommeln (cuíca), Becken (pratos), Rasseln (chocalho), Doppelglocken (agogô) und Schrapinstrumente (reco-reco) im aufwändig organisierten Zusammenspiel bedienen. Orientierung bieten gleichermaßen die Basismarkierungen der tiefen surdo-Trommeln wie auch die repetitiven Rhythmusformeln der tamborins und agogôs. Neben den perkussiven batucadas der escolas haben sich immer wieder neue Samba-Varianten herausgebildet, beispielsweise der pagode-Stil, bei dem nur wenige Perkussionsinstrumente von Zupfinstrumenten wie dem cavaquinho oder dem Banjo begleitet werden und der eher im kleinen Kreis zelebriert wird, wiewohl er um die Mitte der 1980er Jahre auch auf dem Plattenmarkt erfolgreich war. Abgesehen von solchen Spielarten im engeren Sinn finden sich strukturbildende Merkmale der Samba-Musik – insbesondere ihre rhythmischen Zellen – aber auch in vielen anderen brasilianischen Musikformen wieder, von der Bossa Nova bis hin zu elektronisch produzierten Club-Sounds. Der Samba-Groove ist eine Art Matrix innerhalb der populären Musik Brasiliens, und als solche transportiert er die Idee kultureller Einheit, die klangliche Verwirklichung von brasilidade. 1 Vgl. “Music, Culture, Brazil: An Interview with Bryan McCann”. (12.05.2013).

Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens

225

Bossa Nova: Musikalischer Ausdruck einer aufstrebenden Nation2

In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mangelte es zumindest in der urbanen Mittelschicht Brasiliens nicht an Optimismus. Im Rahmen der von Juscelino Kubitschek propagierten Entwicklungsstrategie sollte Brasilien zu einem modernen Staat mit prosperierender Wirtschaft ausgebaut werden. “50 Jahre Fortschritt in 5 Jahren” hatte der Wahlkampf-Slogan der von ihm angeführten Mitte-Links-Koalition geheißen, und der Bau der neuen Hauptstadt Brasília sollte das dazu passende Fanal des Aufbruchs sein. Es galt, das Hinterland zunächst symbolisch und schließlich auch ökonomisch zu erschließen, um die geographische Größe des Landes in eine zählbare Größe des Entwicklungsniveaus zu transformieren. Das Selbstbewusstsein der Nation wurde durch das Megaprojekt Brasília und die Versprechen auf eine bessere Zukunft und Wohlstand für die Massen entfacht und setzte einen Enthusiasmus frei, der schließlich im Sieg der Fußballnationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 1958 kulminierte. Mit dem Optimismus paarte sich eine allgemeine Fortschrittsgläubigkeit, die damals nicht nur in Brasilien en vogue war. Die Vorstellung, dass sich die Gesellschaft, die Technik, die Kultur immer rasanter entwickeln würden, wirkte unabhängig von der individuellen Auslegung stimulierend beim Bemühen, Neues hervorzubringen. Das betraf auch jene jungen Musiker, die sich nachts in den Bars von Rios Südzone, vor allem im Bezirk Copacabana trafen. Sie einte der Anspruch, die klassischen SambaArrangements weiterzuentwickeln und die zu dieser Zeit vor allem von operettenhafter Stimmgewalt geprägte Interpretationsweise des Gesangs zu verändern. Im Nachtleben von Rios Strandbezirken Copacabana, Ipanema und Leblon waren damals viele Musiker aktiv, die heute als Wegbereiter der Bossa Nova gewürdigt werden: Der Gitarrist Luiz Bonfá schrieb Mitte der 50er Jahre einige Lieder zusammen mit Antônio Carlos (alias Tom) Jobim, dem wohl bekanntesten aller Bossa-Nova-Komponisten. Dasselbe gilt für den früh verstorbenen Newton Mendonça, der die Texte von Bossa-Nova-Standards wie “Samba de una nota só” und “Desafinado” verfasste und auch an deren musikalischer Gestaltung beteiligt war. Carlos Lyra und Roberto Menescal, zwei weitere wichtige Bossa-Nova-Akteure, gründeten 1956 im Bezirk Copacabana eine Gitarrenschule, die ein Treff2

Dieser Abschnitt enthält Auszüge aus Schlicke 2012

226

Cornelius Schlicke

punkt für Musiker mit Affinität zum Jazz war. Häufig wurde auch in der elterlichen Wohnung der Sängerin Nara Leão an der Avenida Atlántica musiziert. Man tauschte sich aus, ohne notwendigerweise eine feste Gruppe zu bilden. Von großer Bedeutung für die stilistische Entwicklung war João Gilberto. Er hatte sich eine sehr eigene Art des Gitarrenspiels angeeignet, ein synkopisches Zupfen der Akkorde, aus dem sich ein verlangsamter und komprimierter Samba-Rhythmus ergab. Noch ungewöhnlicher war sein introvertierter und höchst intimer Gesang, der in seiner verhaltenen Artikulation über dem Rhythmus der Gitarre zu schweben schien. Das war die Interpretationsweise, die vielen als Vorbild diente, um die subtile Poesie der neuartigen Kompositionen angemessen wiederzugeben. Durch die rhythmische Phrasierung von Gitarre und Gesang jenseits der Grundschläge wirken die Bossa-Nova-Songs lässig verschleppt, was durch eine entspannte Vortragshaltung noch verstärkt wird. In der plastischen Verbindung seiner Elemente bekommt das Rhythmusgefüge einen weichen, geschmeidigen Charakter. Das gleiche gilt für die Texte, die sich eher mit der Sonnenseite des Lebens in Rio beschäftigen: Die Strände, die Wellen, der blaue Himmel, hübsche Frauen und Blumen bebildern in subtiler und metaphernreicher Gestaltung die oft sehr kurzen Verse. Häufig zu hören ist das Wort saudade, das eine Art melancholischer Sehnsucht bezeichnet, die unterschwellig das Verlangen nach der Utopie des schieren Wohlbefindens einschließt. Kunstvoll verstanden es die Bossa-NovaPoeten – allen voran Newton Mendonça und Vinícius de Moraes – den Text durch die Musikalität ihrer Sprache auch als Klang wirken zu lassen. Die Bohemiens der Copacabana waren kosmopolitisch orientiert, sie interessierten sich für Filme und Musik von außerhalb. So ist der Einfluss der Jazzmusik auf die Bossa Nova unüberhörbar, insbesondere in der Variante des Cool Jazz mit seiner intellektuellen und zugleich transparenten, affektarmen Musizierweise. Es ist allerdings unangemessen, dass die Bossa Nova oft nur lapidar als Mix aus Samba und Jazz bezeichnet wird, da die Eigenständigkeit der Synthese, auf die es gerade ankommt, somit untergraben wird. Zudem waren die Einflüsse unverkennbar wechselseitiger Natur, da die Bossa Nova ihrerseits eine große Wirkung auf die JazzSzene in den USA ausübte. Im Jahr 1959 erschien der Film Orfeu negro, eine französisch-brasilianische Koproduktion des Regisseurs Marcel Camus. Der Film basierte auf einem Theaterstück von Vinícius de Moraes, unterlegt mit einem neuen Soundtrack, für den Tom Jobim als musikalischer Direktor verpflichtet

Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens

227

wurde. Auch Luiz Bonfá steuerte einige Lieder bei, darunter Manhã de Carnaval. Außerdem wurden Karnevalsrhythmen der Sambaschulen und rituelle Candomblé-Musik einbezogen. Im Ausland war der Film eine gefeierte Sensation, er wurde mit der Goldenen Palme in Cannes und mit dem Oscar für den besten ausländischen Film ausgezeichnet. Es war nicht zuletzt die Musik, die das internationale Publikum an Orfeu negro faszinierte. Bei vielen weckte der Film ein Interesse an den aktuellen musikalischen Entwicklungen in Brasilien. Die weltweite Kommerzialisierung der Bossa Nova ging dann von den USA aus. Unter dem Eindruck einer Brasilien-Tournee nahm der JazzGitarrist Charlie Byrd mit dem Saxophonisten Stan Getz die LP Jazz Samba auf, die Instrumentalversionen brasilianischer Bossa-Songs enthält und äußerst erfolgreich war. Paul Winter, Herbie Mann und weitere Jazzmusiker starteten ähnliche Projekte. Im November 1962 gaben Jobim, Gilberto und andere brasilianische Bossa-Stars ein gemeinsames Konzert mit Jazzmusikern in der New Yorker Carnegie Hall. Den wohl nachhaltigsten Beitrag für die weltweite Popularität der Bossa Nova leistete allerdings die Veröffentlichung der Schallplatte Getz/Gilberto im Jahr 1964, auf der Gilbertos damalige Frau Astrud zwei Songs auf Englisch sang und damit das Lied mit dem Originaltitel Garôta de Ipanema zum internationalen Ohrwurm machte: “Tall and tan and young and lovely, the girl from Ipanema goes walking, and when she passes each one she passes goes ‘ahh!’ ” Abgesehen vom Bau Brasilias hinterließ die Ära Kubitschek mit dem Versuch, durch Investitionen in infrastrukturelle Großprojekte und eine forcierte Industrialisierung mithilfe ausländischen Kapitals die Wirtschaft anzukurbeln, vor allem eine Reihe schwerwiegender Probleme: eine außergewöhnlich hohe Inflationsrate, eine große Auslandsabhängigkeit und eine weiter verschärfte Polarisierung der sozialen Gegensätze. Die Verheißungen der ‘goldenen Jahre’ waren nur für einige wenige in Erfüllung gegangen – auch die Arbeiter, die Brasília erschufen, mussten letztlich in glanzlose Satellitenstädte ziehen. Soziale Reformversuche von Kubitscheks Nachfolgern Quadros und Goulart scheiterten nicht zuletzt am Widerstand der Oberschicht und der Armee, die 1964 schließlich die Macht übernahm. Einige Bossa-Nova-Musiker – darunter Gilberto und Jobim – setzten ihre Karriere in den USA oder anderswo fort. Andere wie Nara Leão mit ihrem sozialkritischen Musiktheater “Opinião” orientierten sich oppositionell. Als kulturelle Bewegung mit einem festen Kern von Musikern war die Bossa Nova jedoch passee.

228

Cornelius Schlicke

MPB: Eigenständig universal

Ab 1965 wurden von diversen Fernsehsendern große Songfestivals bzw. -wettbewerbe organisiert, bei denen sukzessive neue Gesichter auftauchten. Dieser mediale Aufwand ging mit einschneidenden Transformationen innerhalb der brasilianischen Popmusik einher, obwohl das Wirken dieser neuen Generation von Musikern sehr vielseitig und verschiedenartig war. Das Phänomen wurde schließlich unter dem Kürzel MPB – música popular brasileira – bekannt. Die Unschärfe des Begriffs korrespondiert mit seiner Verwendung, bezeichnet er doch keine feste Bewegung oder gar ein Genre. Alle Definitionsversuche, die sich allein auf musikalische Kriterien konzentrieren, scheitern schon im Ansatz, da die Veränderungen gleichermaßen ästhetischer, politisch-sozialer und medialer Natur waren. Die ‘klassische’ Periode der MPB reicht bis zur Mitte der 80er Jahre, wenngleich einige der Stars aus dieser Zeit noch heute aktiv sind. Chico Buarque, Gilberto Gil, Elis Regina, Maria Bethânia, Jorge Ben, Djavan oder der aus Minas Gerais stammende Milton Nascimento sind nur einige der großen Namen, denen das Etikett anhaftete. Was sie eint, ist im Grunde ihr Individualismus. Als darüber hinausgehende Gemeinsamkeiten lassen sich noch eine universal orientierte musikalische Haltung, ein damit einhergehender Eklektizismus und ein gewisser Anspruch in der musikalischen und poetischen Gestaltung anführen. Diese letztlich schwammigen Kriterien markierten dann auch eine Differenz der MPB zu eher regional verwurzelten Musikstilen oder zur ‘reinen’ Rockmusik. Zeitlich ging die Hochphase der MPB mit der bis 1985 währenden Militärdiktatur einher. Eine Zeit lang wurden die TV-Festivals von politisch bewussten Künstlern noch als Forum kritischer Töne genutzt. Nach dem Erlass eines Ermächtigungsgesetzes im Dezember 1968 verschärften sich Repression und Zensur jedoch, und viele Musiker mussten zeitweise ihre Heimat verlassen, darunter Edu Lobo, Chico Buarque oder Geraldo Vandré. Gilberto Gil und Caetano Veloso gingen nach einer Inhaftierung nach London. Als Galionsfiguren der Subströmung Tropicalismo, die deutliche Anleihen an die Hippie-Kultur zeigte, galten sie dem Militär als zu unangepasst. Der Tropicalismo (auch Tropicália) war zu dieser Zeit eine allgemeine Kunstrichtung, die sich an das Konzept des “künstlerischen Kannibalismus” aus Oswald de Andrades “Anthropophagischem Manifest” von 1928 anlehnte. Es propagierte die Einverleibung des Fremden und die Vermischung scheinbar unvereinbarer kultureller Versatzstücke, um Eigenes

Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens

229

hervorzubringen. Das 1968 entstandene Kollektiv-Album Tropicália war mit seinen vielfältigen Einflüssen und einer teils ins Absurde gesteigerten Ironie das wichtigste entsprechende Experiment seiner musikalischen Vertreter. Es war ein Konzeptalbum, was mediengeschichtlich zugleich auf die auch in Brasilien sich damals verändernden Strategien der Musikindustrie im Pop-Geschäft verweist: Die LP löste die Single als wichtigstes Me­dium ab, was mit einer Verlagerung auf langfristige, am Künstler orientierte Imagekreationen einherging und dessen Individualität durch die Vermarktung nicht mehr nur eines Hits, sondern eines auch visuell aufwändig gestalteten Gesamtprodukts in den Vordergrund rückte (Stroud 2008: 54). Mitte der 1960er Jahre gab es eine breite öffentliche Debatte über den Zustand der populären Musik des Landes. Sie war geprägt von der Konfrontation zwischen der lange Zeit dominanten nationalistischen, hierarchisch selektionierenden Sichtweise und dem immer stärkeren Einfluss internationaler Rock- und Popmusik, dem sich beispielsweise die Anhänger der “Jovem Guarda” hingaben, einer damals ebenfalls sehr erfolgreichen TV-Show, zu deren Stars der spätere Schnulzensänger Roberto Carlos zählte. Das Phänomen MPB erfüllte dabei eine Art Mittlerrolle: Einerseits bedienten sich viele Musiker ebenfalls der Rockmusik, im Fall des Tropicalismo sogar auf eine recht schrille, herausfordernde Weise, und andererseits bezog man sich durchaus konstruktiv auf die ‘offizielle’ Version einer linear gedachten Tradition populärer Musik, was nicht zuletzt ja auch in der Bezeichnung MPB zum Ausdruck kommt. Musikalisch äußerte sich dies in der vielseitigen Verarbeitung von Stilelementen heimischer Musikformen. So zeichnete sich die Strömung durch die individuelle Positionierung innerhalb der Gegenüberstellung des Fremden und des Nationalen sowie von Tradition und Innovation aus. Darüber hinaus setzte sich allgemein die Einschätzung durch, es handele sich um qualitativ anspruchsvolle Musik (música de boa qualidade), zum einen bedingt durch die ambitionierte künstlerische Haltung der Protagonisten selbst, zum anderen transportiert von ihrer Anhängerschaft, die sich im Wesentlichen aus der urbanen, liberalen Mittelschicht rekrutierte. Dies wiederum erleichterte ihre Einstufung als ‘authentisch’, schien diese Musik doch geeignet, die Nation würdig zu repräsentieren (Stroud 2008: 7). Gerade als Sammelsurium von Einzelpositionen vermittelte die MPB daher Kontinuität innerhalb der sich an verändernde Lebensumstände anpassenden Auffassungen von nationaler Identität, ein Status, dem sie bis heute ihr Prestige als música popular brasileira verdankt.

230

Cornelius Schlicke

Brasilien heute: Gesellschaftliche Ausdifferenzierung, musikalische Vielfalt

Samba, Bossa Nova und MPB konnten sich allesamt auch im Ausland als Exponenten der brasilianischen Musik durchsetzen, was ihren Stellenwert vor Ort noch weiter erhöhte. Daneben existiert eine Vielzahl von Musikformen, die eher mit bestimmten Regionen assoziiert werden. Bahia repräsentiert dabei wie keine andere Gegend das afrobrasilianische Erbe. Das Hinterland von Salvador da Bahia, Hauptstadt des portugiesischen Kolonialreiches, war ein Zentrum des Zuckeranbaus. Sklaven kamen in mehreren Zyklen aus unterschiedlichen Herkunftsgebieten. Insbesondere kulturelle und religiöse Traditionen der Yoruba und der Bantu-Sprachfamilie haben ihre Spuren hinterlassen, so zum Beispiel im Kampfspiel Capoeira und in den Kulten des Candomblé, wo Musik jeweils eine hervorgehobene Rolle spielt. Instrumententypen wie die Fasstrommel atabaque oder der bei der Capoeira verwendete Musikbogen berimbau gehen auf afrikanische Vorbilder zurück, ebenso wie spezifische strukturbildende Rhythmusformeln oder der Wechselgesang von Vorsänger und Chor. Aber auch losgelöst von solch speziellen Zusammenhängen haben originär afrikanische Musikkonzepte die folkloristische und populäre Musik Brasiliens wesentlich mitgeprägt. Sklaven sangen in Kirchenchören und spielten in den Musikensembles ihrer Besitzer. Auch Militärkapellen und Ballhausorchester waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts vielfach mit Schwarzen besetzt. Sie interpretierten die aus Europa importierten Tänze auf ihre Art, variierten die Rhythmen, verlagerten die Akzente, schleiften die aus der europäischen Harmonik abgeleiteten Melodien oder veränderten die Tongebung der Instrumente. Bald schon hatten sich eigenständige kreolische Salontänze wie der lundu oder die modinha des frühen 19. Jahrhunderts herausgebildet. Im 20. Jahrhundert schließlich kam es in vielen Bereichen der brasilianischen Musik zu mehr oder weniger bewusst vorangetriebenen Formen der (Re-)Afrikanisierung: Musik entwickelte sich zum Symbol afrobrasilianischer Identität und des schwarzen Widerstands. Tänze, Rhythmen und Instrumente der aus der Sklaverei entlassenen Schwarzen hatten bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Salvador das Karnevalsgeschehen dominiert. 1905 wurden sie auf Bestreben des um die kulturelle Hoheit besorgten Bürgertums verboten, um sich schließlich in den 1920er Jahren in Gestalt der afoxés wieder Geltung zu verschaffen. Um die Mitte

Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens

231

der 70er Jahre herum bekamen diese vom Candomblé beeinflussten Karnevalsvereinigungen, deren Mitglieder sich in weiße Gewänder hüllen, im Rahmen einer übergeordneten afrobrasilianischen Kulturbewegung deutlichen Zulauf. Auch neue Gruppen entstanden, die blocos afro. Demonstrativ stellten sie ein ‘schwarzes Selbstbewusstsein’ zur Schau – in den von ihnen aufgegriffenen Themen, in der jährlichen Hommage an ein afrikanisches Land oder eine bestimmte ethnische Gruppe, in ihren Kos­ tümen, Tänzen und nicht zuletzt dem musikalischen Mix aus Candomblé-, Samba- und Reggae-Rhythmen –, dargeboten zum Beispiel von der über die Stadt hinaus bekannten Gruppe Olodum. Musik hat sich in Brasilien zu einem bedeutenden Medium bei den Auseinandersetzungen um Rassismus und afrobrasilianische Identität entwickelt. Auch namhafte Liedermacher der MPB wie etwa Gilberto Gil setzten immer wieder gezielt Ausdrucksmittel aus dem unerschöpflichen Reservoir afrobrasilianischer oder afrokaribischer Musiktraditionen ein, um die in ihren Texten artikulierten Forderungen nach dem Abbau von Schranken und Vorurteilen oder der Anerkennung des afrikanischen Kulturerbes musikalisch zu untermauern. Entsprechende Fusionen hatten unter der Sammelbezeichnung axé in den 90er Jahren großen Erfolg in Brasilien und auf dem internationalen Markt der World Music, unter anderem durch Veröffentlichungen von Künstlern wie Daniela Mercury, Margareth Menezes oder Carlinhos Brown. Verstärkte Aufmerksamkeit wurde auch dem forró zuteil. Er umfasst verschiedene Stile aus der ländlichen Musikkultur des Nordostens, einer besonders armen Region Brasiliens, gezeichnet von ungleicher Landverteilung und der extremen Dürre des sertão. Ursprünglich bezeichnete forró ein Fest. Der charakteristische Paartanz wird traditionell von einem Trio begleitet, zusammengesetzt aus Akkordeon oder Knopfgriff-Harmonika (sanfona), einer großen, doppelfelligen Trommel (zabumba) und der Triangel. Durch die Migration von Landflüchtigen gelangte diese Musik in die südlichen Metropolen und entwickelte sich zum forró urbano. Die Verbundenheit mit der heimatlichen Kultur blieb dabei jedoch “konstantes Thema im forró-Repertoire” (Oliveira Pinto 1995). Wegweisend war der Akkordeonist Luíz Gonzaga, der nach seiner Militärzeit nach Rio ging, wo er zunächst ein Repertoire aus Foxtrott und anderen Modetänzen darbot. Ab 1940 spielte er jedoch forró und hatte damit wesentlich mehr Erfolg. Mit einem vergrößerten Ensemble popularisierte er insbesondere den Stil namens baião. Vielfach artikulierte er in seinen Liedtexten die Hoffnung des Landflüchtigen auf Heimkehr, so zum Beispiel in “Asa branca”. Seit den 60er Jah-

232

Cornelius Schlicke

ren eröffneten in São Paulo und Rio zahlreiche nordestino-Tanzhäuser, und ebenso entstanden spezialisierte Plattenfirmen. In jüngerer Zeit haben sich weiter modernisierte Fusionsformen wie der forróck herausgebildet. Ein gänzlich anderes Bild vom Landleben vermittelt die música sertaneja, deren Interpreten seit den 1990er Jahren die brasilianischen Charts dominieren: “In der música sertaneja ist nicht die Großstadt das anstrebenswerte Ziel für ein Leben in Wohlstand, sondern das Land” (Oliveira Pinto 1995). Das Landleben in den südlichen und zentralen Bundesstaaten wird dabei zur romantischen Idylle stilisiert. Ursprünglich aus der ländlichen música caipira heraus entwickelt, handelt es sich bei der música sertaneja mittlerweile um eine Art Country-Pop. Nach wie vor vermitteln zumeist männliche Duos um Gitarre und viola (ein Gitarrentyp mit fünf Doppelsaiten) das Image aufrechter, kerniger Landmenschen, die in Videoclips vor einer Kulisse aus saftigen Wiesen und galoppierenden Pferden von wahrer Liebe und Bodenständigkeit singen. Durch Einflüsse aus Mexiko und Paraguay hat auch das Akkordeon Eingang in diese Musik gefunden, die jedoch zumeist in aufwändige Produktionen mit modernem Instrumentarium eingebettet ist. Das Marktsegment des sertanejo universitário zielt auf die jugendliche Mittelschicht ab und ist sowohl von der Thematik als auch musikalisch kaum noch von herkömmlichem Pop zu unterscheiden. Michel Teló und Paula Fernandes gehören zu den derzeit populärsten Interpreten dieser Richtung. Ähnlich erfolgreiche Tonträgerabsätze wie die música sertaneja weist allein der Gospelpop sowohl katholischer als auch evangelikaler Ausrichtung auf. Brasiliens Tonträgerindustrie ist nach wie vor überwiegend in São Paulo und Rio ansässig. Die Repräsentanten der vier globalen Major-Unternehmen beherrschen den Markt. Der Anteil der Piraterieprodukte belief sich allerdings 2005 auf 52 %,3 was Brasilien zu einem der Länder mit der größten CD-Piraterie weltweit machte. Auf besondere Weise betrifft dies die tecnobrega-Musik rund um die Metropole Belém in der nördlichen Provinz Pará. “Brega” (“Kitsch”) wurde von Journalisten seit den späten 1970er Jahren als abwertendes Attribut für romantische Balladen verwendet und verallgemeinerte sich schließlich als Bezeichnung für solche Musik. Lokale Spielarten in Pará waren unter anderem von der Lambada beeinflusst. Durch die Unterlegung mit elektronischen Beats wurden sie zur tecnobrega, die mittlerweile in verschiedenen Varianten existiert. Das Be3 IFPI: The Recording Industry 2005 Commercial Piracy Report, S. 9. (25.05.2013).

Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens

233

sondere an ihr ist, dass sie ausnahmslos in Heimstudios produziert wird, wobei in der Regel bereits existierende Aufnahmen als Material verwendet und neu verarbeitet werden. Diese Produktionen werden direkt an organisierte Raubkopierer weitergegeben und über Straßenhändler vertrieben – Urheberrechte spielen dabei keine Rolle. Das geschieht in großem Ausmaß. Die produzierenden DJs und die beteiligten Musiker verdienen am Verkauf allerdings nicht. Sie empfehlen sich mit ihren Produkten lediglich für die Beteiligung an Partys in der Umgebung von Belém, die von bis zu 10.000 Besuchern frequentiert werden und mit gigantischen Sound Sys­ tems (aparelhagem), Laser- und Licht-Shows ausgerüstet sind.4 Aus den Favelas von Rio ist in den 1990er Jahren der Funk Carioca hervorgegangen, der seither das Klangbild der Stadt (und auch anderer) wesentlich mitbestimmt, wegen seiner sexuell expliziten Tanzformen, der Gewaltverherrlichung in den Texten und der Verbindung zum kriminellen Umfeld aber bei vielen schlecht angesehen ist. Von wissenschaftlicher Seite wurde versucht, ihn als “countercultural practice” differenzierter in den Blick zu nehmen und seine integrative Bedeutung für Jugendliche aus den ärmeren Schichten hervorzuheben (Sneed 2008: 60). So wird in den Funk-Songs eine regelrechte Favela-Identität konstruiert, in der diese Gemeinschaften als menschlicher, zutiefst brasilianischer Raum gelten, und schwer bewaffnete Gangster als loyale Beschützer dieses Umfelds idealisiert werden. Musikalisch handelt es sich beim Funk im Wesentlichen um einen Mix aus elektronisch produzierten Beats, Samples von Geräuschen wie Schüssen oder Explosionen und einem zumeist in rauer Stimme vorgetragenen Gesang mit simpler, repetitiver Melodik. Vereinzelt fließen Merkmale afrobrasilianischer Musikformen ein, eine größere Verwandtschaft besteht jedoch zum Hip-Hop, insbesondere in der Variante des Miami Bass. In verschiedenen Favelas werden zu später Stunde häufig sogenannte bailes funk mit teilweise mehreren tausend Teilnehmern veranstaltet, nicht selten finanziert von den ortsansässigen Gangstern. Die aufgeladene Atmosphäre äußert sich bei solchen Ereignissen neben der laut dröhnenden Musik und vereinzelten Schlägereien vor allem in der tänzerischen Imitation von Sexualakten. Funk-Songs mit besonders eindeutigen 4

Vgl. den dänischen Dokumentarfilm Good Copy, Bad Copy (2007), einsehbar unter , sowie Brüggemann, Simon (2011): “Kitsch ohne Copyright: Die Tecnobrega-Szene mischt den Norden Brasiliens popmusikalisch auf ”. In: iz3w, Nr. 327. (25.05.2013).

234

Cornelius Schlicke

pornographischen Referenzen werden gemeinhin dem Subgenre putaria zugeordnet. Dabei treten sowohl Männer als auch Frauen als Protagonisten auf, und auch die Verdinglichung als Sexualobjekte betrifft beide Geschlechter. Auch dies spiegelt letztlich die Anerkennung von Prinzipien der Unterordnung und der Aggressivität wider. Insgesamt herrscht die Vorstellung von einer feindlichen Welt vor, in der es sich mit der Unterstützung weniger Vertrauter – wie etwa der eigenen Gang – durchzusetzen gilt. Damit fügt sich der Funk in eine Reihe ähnlicher musikkultureller Phänomene in Lateinamerika ein, die immer zugleich mit sozial benachteiligten Milieus in Verbindung gebracht werden. Es scheint im heutigen Brasilien keine Form von Musik mehr zu geben, die unabhängig von Geschmacksfragen noch die Idee einer kulturellen Einheit repräsentiert, wie dies beim Samba und der MPB der Fall war. Stattdessen wird Identität vorwiegend anhand von sozialen, ethnischen, regionalen oder auch religiösen Kriterien markiert. Dies wiederum ist in einer sozial stratifizierten Gesellschaft nicht weiter verwunderlich und auch kein eigentlich neues Phänomen, eher wurde es zuvor von nivellierenden Ideologien verdeckt. Nicht nur in Brasilien zu beobachten ist allerdings, dass das Material, aus dem sich solche spezifischen kulturellen Zusammenhänge konstituieren, zunehmend der globalen Interaktion entstammt, ganz gleich, ob es sich um Funk oder evangelikalen Gospel-Pop handelt.

Literaturverzeichnis Lucas, Maria Elizabeth (1996): “Wonderland Musical: Notas sobre as Representações da Música Brasileira na Mídia Americana”. In: Revista Trans, no. 2. (12.05.2013). McCann, Bryan (2004): Hello, Hello Brazil: Popular Music in the Making of Modern Brazil. Durham: Duke University Press. McGowan, Chris/Pessanha, Ricardo (1993 [engl. Orig. 1991]): The Brazilian Sound. Samba, Bossa Nova und die Klänge Brasiliens. St. Andrä-Wördern: Hannibal. Oliveira Pinto, Tiago de (1995): “Forró in Brasilien, Musik für Dienstmädchen und Taxifahrer?”. In: Popscriptum 3 – World-Music, Schriftenreihe herausgegeben vom For­ schungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität zu Berlin. (25.05.2013). Oliveira Pinto, Tiago de/Tucci, Dudu (1992): Samba und Sambistas in Brasilien. Wilhelms­ haven: Noetzel.

Identitätskonstruktion in der populären Musik Brasiliens

235

Schlicke, Cornelius (2012): Salsa Rica, Tango Caliente. Eine musikalische Reise durch Lateinamerika. Berlin: Parthas. Sneed, Paul (2008): “Favela Utopia: The Bailes Funk in Rio’s Crisis of Social Exclusion and Violence”. In: Latin American Research Review, 43, 2, 57–79. Stroud, Sean (2008): The Defence of Tradition in Brazilian Popular Music. Politics, Culture and the Creation of Música Popular Brasileira. Aldershot [u. a.]: Ashgate. Vianna, Hermano (1999 [port. Orig. 1995]): The Mystery of Samba. Popular Music and National Identity in Brazil. Herausgegeben und übersetzt von John Charles Chasteen. Chapel Hill: The University of North Carolina Press.

Literarische Konstellationen Susanne Klengel / Georg Wink

Brasilianische Literatur oder Literaturen Brasiliens? Die Entscheidung, heute angesichts eines außerordentlich vielfältigen literarischen Feldes im Singular von der brasilianischen Literatur zu sprechen, ist nicht ohne Risiko, legt dieses doch eine Argumentation entlang der Kriterien einer nationalen Literaturgeschichte nahe, die von den Realitäten einer zunehmend verflochtenen Welt – auch auf dem Gebiet der Literatur – längst konterkariert werden. Wenn wir dennoch im Folgenden die unterschiedlichen Formen der Literaturen Brasiliens meist als brasilianische Literatur bezeichnen, so dient dies vor allem einer Vereinfachung in unserer Darstellung, in der wir versuchen wollen, die Vielfalt des literarischen Schaffens brasilianischer Autorinnen und Autoren anhand einiger historischer und gegenwärtiger Haupt- und Nebenlinien zu verfolgen. Die Literaturen Brasiliens bilden ein Feld, dessen Dynamiken und vielschichtige Verästelungen heute nur schwer in einem übersichtlichen Gesamtbild darzustellen sind. Nicht nur ist die Zahl der Autorinnen und Autoren, die Erstlingswerke vorlegen, in den vergangenen Jahren stark angewachsen, sondern auch die brasilianische Literaturwissenschaft hat ihrerseits eine beträchtliche Kanonerweiterung befördert und viele vergessene oder bislang übergangene Werke zum Vorschein gebracht (dies gilt insbesondere für die Literatur von Afrobrasilianern und von Autorinnen). Es überrascht daher wenig, dass außerhalb von Brasilien und jenseits des kleinen Bereichs der internationalen Brasilianistik diese Literaturen nur in Ansätzen bekannt sind. Zwar besaßen einzelne Autoren wie Jorge Amado, Clarice Lispector oder João Ubaldo Ribeiro schon immer eine internationale Leserschaft, doch diese Leuchttürme markieren nicht kleine literarische Eilande, sondern ein Land von kontinentalen Ausmaßen, in dem spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine ebenso vielfältige wie innovative Literatur von weltweiter Relevanz verfasst wird. Neu ist seit einiger Zeit allerdings die Aufmerksamkeit, die in Brasilien selbst dieser Literaturproduktion – auch als Exportgut – zukommt und die durchaus im Zusammenhang mit den sozio-ökonomischen Entwicklungen gesehen werden muss.

238

Susanne Klengel / Georg Wink

Brasilien erlebt heute nicht nur einen wirtschaftlichen Boom, auch der Literaturbetrieb läuft auf Hochtouren. Zahlreiche Literaturfestivals wie die FLIP (Festa Literária Internacional de Paraty) haben sich etabliert, eine Vielfalt an Literatur- und Kulturzeitschriften informiert über Neuerscheinungen. Die internationale Sichtbarkeit brasilianischer Autorinnen und Autoren wird dabei zunehmend als kulturpolitisches Desiderat empfunden. Unter dem Motto “Portugiesisch geschrieben, weltweit gelesen” wurden bemerkenswerte Maßnahmen getroffen, zum Beispiel die Förderung von Übersetzungen und die Gründung der Informationszeitschrift Machado de Assis Magazine auf Englisch und Spanisch. Im deutschsprachigen Raum, wo die brasilianische Literatur deutlich weniger rezipiert wurde als die Boom-Autoren des spanischsprachigen Lateinamerikas, treffen diese Bemühungen derzeit auf offene Ohren. Nachdem Brasilien bereits im Jahre 1994 Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse war, wurde es erneut für das Jahr 2013 ausgewählt – eine Ehre, die vielleicht als Hinweis auf die neue geopolitische Bedeutung Brasiliens verstanden werden kann. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, auf den folgenden Seiten vor allem Aspekte der thematischen und stilistischen Spannbreite dieser Literatur zu verdeutlichen. Dabei nimmt die Gegenwartsliteratur, auf die unsere Darstellungen zulaufen, einen besonderen Raum ein, doch kann diese nicht ohne ihre Verknüpfung mit Traditionslinien der brasilianischen Literaturgeschichte gelesen werden. Wir werden also einerseits die ‘großen Namen und Werke’ berücksichtigen, andererseits aber auch versuchen, den Tendenzen der Kanonerweiterungen gerecht zu werden und Unbekannteres sowie insbesondere auch aktuelle Autor/innen, die auf Deutsch vorliegen, einzubeziehen. Die brasilianische Literaturgeschichte wird im Allgemeinen in folgende Epochen unterteilt: Barock (17. Jh.), Neoklassik (ab ca. 1750), Romantik (ab ca. 1830), Realismus bzw. Naturalismus und gleichzeitig Parnass bzw. Symbolismus (ab ca. 1880), Prämodernismus (ab ca. 1902), Modernismus (1922–1930), Regionalismus (1930/40er Jahre), schließlich der Konkretismus in der Poesie (1950er Jahre), die Literatur der Militärdiktatur (1964 bis Ende 1980er Jahre) und die Postmoderne (seit dem Ende der 1980er Jahre), die freilich oft unter dem vagen Begriff Postmodernismus (ab der Mitte des 20. Jh. bis in die Gegenwart) zusammengefasst werden. Diese retrospektive Einteilung seitens der Literaturhistoriker bringt es zum einen mit sich, dass die Gegenwartsliteratur undefiniert bleibt, zum anderen, dass Werke, die sehr unterschiedlich sind (auch wenn sie bis-

Literarische Konstellationen

239

weilen von ein und demselben Autor stammen), unter einer Epochenbezeichnung zusammengefasst werden. Fast paradox wirkt dies in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wo so grundverschiedene Werke wie das epische Gedicht Os Timbiras von Gonçalves Dias, der Roman O guarani von José de Alencar (beide 1857) und die Memórias de um Sargento de Milícias (1852/53) von Manuel Antônio de Almeida fast gleichzeitig veröffentlicht wurden, die der Neoklassik, der Romantik und dem Prämodernismus zugeordnet werden. Das Schema ist zudem in einer knappen Einführung für inte­ ressierte Leser nur bedingt hilfreich, da Lektüren erfahrungsgemäß eher nach thematischen und stilistischen Präferenzen ausgesucht werden und weniger nach Epochen. Wir haben uns deshalb unter Einbezug der zeitgenössischen Literatur für eine Unterteilung in ‘Strömungen’ entschieden, in denen bestimmte Schreibweisen und Sujets besonders deutlich hervortreten. Diese Strömungen durchqueren die Epochen, weisen vielerlei ‘Zuund Abflüsse’ auf, verbinden sich untereinander, verbreitern sich, ändern manchmal ihre Richtung, versiegen oder entspringen aufs Neue. Gewiss lässt sich auch in diesem Ordnungsbild nicht jedes Werk einer bestimmten Richtung zuordnen, doch es erweist sich als flexibler und aussagekräftiger als eine strenge Abfolge. In diesem Sinn kann man zunächst die folgenden zwei Hauptströmungen ins Auge fassen: Erstens eine stärker dem Realismus verpflichtete Literatur, die von den sozialkritischen Schilderungen der Armenviertel Rio de Janeiros gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Favela-Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts reicht. Die zweite große Strömung, die allerdings nicht die gleiche breite Anerkennung als ‘nationales Projekt’ erfuhr, ist dem realistischen Schreiben entgegengesetzt und kann als einfühlende, psychologisierende oder gar intimistische Literatur bezeichnet werden. Auch sie verfügt über eine lange Tradition und hat in der Gegenwartsliteratur in Form einer Problematisierung von Identitätssuchen, einem gestörten Verhältnis zum Privaten und in der Auseinandersetzung mit dem schreibenden Ich eine besondere Bedeutung erlangt. Beide Strömungen verlaufen parallel und häufig vermischt mit den großen Erzählexperimenten der brasilianischen Literatur, in denen die Suche nach neuen Schreibweisen (und einer neuen Erzählsprache) zu besonders eindrucksvollen Ergebnissen führte. Hier finden wir viele der Hauptwerke der brasilianischen Literatur wieder. Gemeinsam mit den Avantgarden, in denen die Form künstlerischer Darstellung auf provokative Weise neu entworfen wurde, bilden sie eine dritte Strömung. Als vierte Strömung ist die Erinne-

240

Susanne Klengel / Georg Wink

rungsliteratur bis hin zum historischen Roman zu nennen, die sich heute oft mit einer fünften, noch jungen Tendenz zu einem grenzübergreifenden, internationalen und transkulturellen Schreiben verbindet, das letztlich auch mit der Geschichte der Einwanderung in Brasilien zu tun hat. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass alle diese Strömungen zusammenhängen und dadurch kein Autor festgelegt wird, sie dienen lediglich einer Vereinfachung bei der Orientierung. Liegen bei den im Folgenden erwähnten Werken deutsche Übersetzungen vor (einen Überblick bis Mitte 2012 gibt die Bibliographie der brasilianischen Literatur von Küpper), sind diese angegeben; im anderen Fall steht die deutsche Titelübersetzung in der Klammer; das angegebene Jahr bezieht sich immer auf die brasilianische Erstveröffentlichung. Seit wann gibt es die brasilianische Literatur?

Geht man allein von der Sprache und vom Entstehungsort aus – und betrachtet die kolonialzeitlichen Überseebesitzungen der portugiesischen Krone als einen eigenen Kulturraum, was aus historischer Sicht sicher problematisch wäre –, entstand die brasilianische Literatur mit dem berühmten Schreiben über die Entdeckung Brasiliens (1500) von Pero Vaz de Caminha, in dem mit literarischem Geschick alle Register der antiken Paradiestopoi gezogen werden. Hinzu kommen die Berichte der ersten Chronisten sowie die Beschreibungen Brasiliens in anderen Sprachen, die maßgeblich zum exotischen Bild Brasiliens beigetragen haben, wie der Mundus Novus (1503) von Amerigo Vespucci, Hans Stadens Wahrhaftig historia und beschreibung eyner landschafft der wilden, nacketen, grimmigen menschenfresser-leuthen (1557) und Jean de Lérys Reisebericht mit dem unglücklich übersetzten Titel Unter Menschenfressern am Amazonas (1556–58). Zu nennen sind auch die Myste­ rienspiele des Jesuitenpaters José de Anchieta (1534–97) und die Predigten von Antônio Vieira (1608–97). Bereits in Brasilien geboren – also nach heutigen Maßstäben keine ‘Migrationsliteratur’ mehr – war das so genannte ‘Höllenmaul’ Gregório de Mattos (1633–1696), der für seine harsche und bisweilen unter die Gürtellinie zielende Kritik an Kirche, Adel und Kolonialverwaltung, die er in seinen bemerkenswerten Barockgedichten (zum Beispiel den Ausgewählten Gedichten) äußerte, im Exil büßen musste. Sein ungewöhnliches Werk ist bei weitem noch nicht hinreichend in seiner Brisanz und poetischen Ausdruckskraft beachtet worden. Weitere ‘brasi-

Literarische Konstellationen

241

lianische’ Werke der Dichtkunst von Bedeutung sind Basílio da Gamas O Uraguai (1769) und Santa Rita Durãos Caramuru (1781), in denen der ‘edle Wilde’ seinen ersten Auftritt zelebrierte. Gemäß den brasilianischen Literaturgeschichten, die sich am Konzept der Nationalliteratur orientieren, entwickelt sich die brasilianische Literatur deutlich später, nämlich nach der Unabhängigkeit im Jahr 1822. Umso mehr kam ihr als Schlüsselfunktion zu, im Sinne des zeitgenössischen deterministischen Paradigmas die nationalen Charakteristika wie Naturraum und ‘Volkscharakter’ in eine literarische Form und Sprache zu verwandeln und dabei gleichzeitig die Nation möglichst umfassend zu beschreiben. Die Nationalliteratur sollte demnach auf einer doppelten Ebene – des­ kriptiv und konstitutiv – zum Aufbau der Nation einen Beitrag leisten. Zu dieser Zeit entstanden geradezu programmatisch die ersten ‘nationalen’ Werke des so genannten Indianismus, wobei sich gegenüber dem erwähnten neoklassischen Epos Os Timbiras (1857) von Gonçalves Dias der Roman als neue Form durchsetzte. Zu denken ist hier insbesondere an die berühmten Romane von José de Alencar, in denen meist die Geburtsstunde der brasilianischen Literatur gesehen wird. Alencar entwirft darin einen Gründungsmythos, der auf der interkulturellen Symbiose der portugiesischen Eroberer mit idealisierten Indigenen aufbaut, die zur nationalen Allegorie umgedeutet wird. Die indianistischen Romane Alencars wurden – zu einem Zeitpunkt, als die fast vollständige Dezimierung der autochthonen Bevölkerung praktisch erfolgt war – mit Begeisterung als Ausdruck des ‘Nationalen’ gefeiert; sie kamen erst in die Kritik, als sich in den 1880er Jahren die von uns zuerst genannte Strömung, der Realismus, herausbildete. Der hier behandelte Indianismus als brasilianische ‘Gründungsfiktion’ bildet keine eigene Strömung, aber er durchzieht mit seinem Anspruch auf eine eigenständige, von Europa emanzipierte und nicht nachahmende Literatur auch viele spätere Strömungen. Die Strömung der realistischen Literatur

In brasilianischen Umfragen nach dem “beeindruckendsten Leseerlebnis” spielt Aluísio de Azevedos Ein brasilianisches Mietshaus (1890) eine besondere Rolle. Der bis heute ungebrochene Erfolg hat vermutlich mit dem Realitätspakt zu tun, den das Buch seinen Lesern anbietet. Es handelt sich um eines der ersten Werke, die den Anspruch vermittelten, die Realität

242

Susanne Klengel / Georg Wink

möglichst wirklichkeitsgetreu mit allen Schattenseiten wiederzugeben, in diesem Fall das Leben in den damals typischen unmenschlichen Mietbara­ cken (cortiços) von Rio de Janeiro. Wir haben es hier mit der mächtigen Strömung einer gesellschaftskritischen und engagierten Prosa zu tun, die ihren heutigen Ausdruck zum Beispiel in der Favela-Literatur findet. Eingeführt wurde der Realismus schon in Manuel Antônio de Almeidas Memórias de um Sargento de Milícias [dt. Lebenserinnerungen eines Unteroffiziers der Bürgerwehr] (1854/55). Schauplatz ist hier Rio de Janeiro nach der Übersiedlung des portugiesischen Königshofs (1808); geschildert wird auf satirische Weise das städtische Kleinbürgertum. In dem Buch wird oft die Weiterentwicklung des pícaro zum brasilianischen Typus des ‘Schlawiners’(malandro) gesehen, eines halbseidenen Lebenskünstlers, dem sowohl die Grausamkeit wie der Aufstiegswille seines spanischen Verwandten abgeht. Die Figur des malandro wurde in Macunaíma. Der Held ohne jeden Charakter (1928) von Mário de Andrade zum Nationalcharakter stilisiert und entwickelte eine eigene Tradition der ‘Malandro-Literatur’– zum Beispiel Malagueta, Perus e Bacanaço (1963) von João Antônio, Memoiren eines Gigolo (1968) von Marcos Rey und Galvez, Kaiser von Amazonien (1976) von Márcio Souza – bis hin zur Dekadenz der Figur als bandido, die keine versöhnliche Figur mehr ist, sondern eine Schreckensgestalt in der heutigen Kriminal- und Favela-Literatur, etwa in Patrícia Melos kürzlich erschienenem Leichendieb (2010). Die realistische Darstellung der brasilianischen Wirklichkeit wurde nach der Ausrufung der Republik (1889) zu einem handfesten Problem. Denn Brasilien galt sozialdarwinistischen Thesen dieser Zeit entsprechend als doppelt stigmatisiert: wegen seines “verweichlichenden” tropischen Klimas und wegen der “Minderwertigkeit” seiner “gemischtrassigen” Bevölkerung. Die bekannteste ‘Lösung’ dieses Dilemmas bestand in der These von der ‘Aufweißung’ (branqueamento), die innerhalb weniger Generationen durch die gezielte Mischung mit ‘Weißen’ erreicht werden sollte – eine gleichsam paradoxe optimistische Umdeutung des damals gültigen rassis­ tischen Paradigmas der ‘Rassenmischung’. Interessant ist in diesem Kontext das monumentale Werk Krieg im Sertão (1902) von Euclides da Cunha. Als Kriegsberichterstatter dokumentiert der Autor in einer Mischung aus Epos und Essay die Vernichtungskriege der republikanischen Armee gegen eine religiöse Minderheit im Inneren des Sertão. Gleichzeitig nutzt er das Ereignis zur Anfertigung einer grundlegenden Studie des brasilianischen Binnenlandes und der Frage der ‘Rassenmischung’ und kommt zu dem überraschenden Schluss, dass man in Canudos auf tragische Weise

Literarische Konstellationen

243

eine starke brasilianische ‘Subrasse’ zerstört hatte, auf der das zukünftige Brasilien unter bestimmten Bedingungen hätte aufbauen können. Durch Eucildes da Cunhas sprachmächtige Darstellung wurde Canudos und der gesamte Sertão zum Sinnbild einer nationalen Tragödie und ist bis heute ein zentraler nationaler Erinnerungsort. In der regionalistischen Literatur, die ihren ersten Höhepunkt in den 1930er und 40er Jahren während des autoritären Entwicklungsstaates von Getúlio Vargas hatte, wurde die Rückständigkeit des Sertão in einer Vielzahl von sozialkritischen Romanen zum nationalen Problem erhoben. Rachel de Queiroz in Das Jahr 15 (1930) und Graciliano Ramos in Karges Leben (1938) thematisieren die Armut nicht als Folge naturgegebener Dürrepe­rioden, sondern als menschengemacht durch eine verkrustete Feudalstruktur, die vielen Betroffenen nur die Möglichkeit der Abwanderung bietet. Doch auch diese ist nur eine Illusion, wie António Torres in Diese Erde (1976) schildert, wo ein Dürreflüchtling in der Großstadt scheitert, und nach seiner Rückkehr als vermeintlich ‘gemachter Mann’ schließlich Suizid begeht. Etwas mehr Hoffnung lässt das episch verfasste Weihnachtsspiel Tod und Leben des Severino (1954) von João Cabral de Melo Neto, welches wie die Komödien von Ariano Suassuna zeigt, dass das Drama des Sertão nicht auf den Roman beschränkt ist, und auch nicht auf den Realismus, wie der auf das Innenleben der Protagonisten gerichtete Roman Fogo Morto [dt. Totes Feuer] (1943) von José Lins do Rego verdeutlicht. Der Nordosten, insbesondere Bahia, ist auch das Thema von Jorge Amado, dem bis heute bekanntesten brasilianischen Autor im deutschsprachigen Raum, mit 24 übersetzten Werken, in denen das ‘einfache’ Volk im Vordergrund steht, das zum Teil mit folkloristischem Lokalkolorit, zum Teil aber auch in einer noch immer aktuellen Brisanz (zum Beispiel Die Herren des Strandes, 1937) dargestellt wird. João Ubaldo Ribeiro gilt wegen seines Buchs Brasilien, Brasilien (1984), eine Auseinandersetzung mit der dreihundertjährigen Regionalgeschichte der Insel Itaparica, als letzter Regionalist des Nordostens. Im äußeren Süden wiederum, einer weiteren Region mit starker eigener Prägung, verfasste Érico Veríssimo in den 1930er Jahren einen vielbändigen Romanzyklus, in dem er ein literarisches Gesamt-Tableau des Bundesstaates Rio Grande do Sul und seiner Geschichte erarbeitet, wobei für eine ‘gaucheske Literatur’ schon zu Beginn des Jahrhunderts José Simões Lopes Neto den Grundstein gelegt hatte. Die Beispiele erwecken vielleicht den Eindruck, regionale Literatur sei auf die Peripherie Brasiliens beschränkt. Tatsächlich ist dies nur eine

244

Susanne Klengel / Georg Wink

sprachliche Konvention, denn ‘regionalistische’ Porträts Rio de Janeiros oder São Paulos werden nicht unter diesem Begriff verbucht, so dass es irreführend wäre, diese Werke hier anzuführen. In der Gegenwartsliteratur hat der Regionalismus in diesem peripheren Sinn stark an Bedeutung verloren, da die Handlungsorte ebenso wie die Adressen der Autoren und der Verlage in den Metropolen des Südostens zu finden sind. Zwei interessante Ausnahmen seien jedoch genannt: An der Grenze zu Paraguay schrieb seit den 1990er Jahren der bislang wenig bekannte und früh verstorbene Autor Wilson Bueno eine Literatur, die nicht nur durch die Grenzregion geprägt ist, sondern auch sprachliche Elemente aus dem Spanischen und dem Guarani aufnimmt, ein Novum in der brasilianischen Literatur. Die Erbauung Brasílias in den 1960er Jahren ist hingegen der Rahmen für João Alminos Cidade livre [dt. Freie Stadt] (2010), der dafür zum “Chronisten Brasílias” geadelt wurde. In autobiografischer Manier eröffnet der Roman eine überaus aufschlussreiche Binnensicht auf Lust und Frust des Pionierlebens an jenem besonderen Ort, wo am 21. April 1960 eine Utopie verwirklicht werden sollte. Die Aufbruchstimmung der 1950er Jahre, versinnbildlicht im Bau der neuen Hauptstadt, wurde durch den Putsch der Militärs 1964 beendet. Politische Verfolgung und Exil sowie die Zweifel an den möglichen Formen des Widerstands führten zu einer neuen Form der Auseinandersetzung mit der Realität Brasiliens, für die Romane wie Quarup (1967) und Lucinda (1981), beide unter diesen Titeln übersetzt, von Antônio Callado stellvertretend stehen können. Der erste Roman zeichnet die Entwicklung des Protagonisten vom Franziskanermönch zum Guerillaführer nach und erweckt Hoffnung auf eine revolutionäre Wende; der zweite dagegen thematisiert im Rückblick die politische Repression bis hin zu Entführung, Folter und Mord im Namen des Regimes. Nicht alle literarischen Werke dieser Zeit bezogen offen Stellung, wie zum Beispiel Oswaldo França Júniors eigentümliche Road-Story Jorge, der Brasilianer (1967). Zu besonderer Bedeutung gelangte während der Diktatur die realistische Großstadtliteratur, die in Dyonélio Machados Os ratos [dt. Die Ratten] (1935) einen Vorläufertext hat. Ignácio de Loyola Brandão erzählt in seinem alptraumhaften Roman Null (1974), wie der Jurastudent José sich im Bannkreis staatlicher Zwänge verliert, zum Rattenfänger absteigt und kurz vor seinem vermeintlichen Wiedereinstieg in ein bürgerliches Leben zum Kriminellen wird, sich ohne Überzeugung dem bewaffneten Widerstand anschließt und in einer Gefängniszelle in den USA endet. In Kein Land wie dieses (1982) entwirft

Literarische Konstellationen

245

der Autor eine Orwell’sche Vision São Paulos nach dem politischen und ökonomischen Kollaps. Die Entfremdung des Menschen im Moloch der Großstadt wurde in den 1970er Jahren zum Topos einer neuen emotionslosen Kriminalliteratur, die in der Literaturkritik häufig mit dem Begriff “Brutalismus” belegt wird. Ihr Wegbereiter war zweifellos Rubem Fonseca, der in seinen Romanen und Erzählungen die Abgründe menschlichen Handelns mit einer so kühlen Distanz schildert, mit der wohl nur die Schilderungen familiärer Niedertracht von Dalton Trevisan Schritt halten können. Berüchtigt ist Fonsecas Erzählung, in der ein ehrenwerter Familienvater sich zur regelmäßigen Entspannung in sein Auto setzt, um mit Präzision (und möglichst ohne Lackschäden) einen Fußgänger zu überfahren. Autoren in dieser Tradition – die übrigens allesamt eng mit dem Film kooperieren – sind Fernando Bonassi mit Um céu de estrelas [dt. Ein Himmel voller Sterne] (1991) und Niemandsland (1994), Marçal Aquino mit O invasor [dt. Der Eindringling] 2002 sowie Patrícia Melo mit den übersetzten Romanen O matador (1995) und Inferno (2000), wobei letzterer die Favela als zentralen Handlungsort einführt. Für diese Autoren, die trotz der anhaltenden ‘Krise der Repräsentation’ das Projekt eines ‘realistischen Schreibens’ aufrechterhalten, beantwortet sich die Frage nach der Darstellbarkeit der Realität durch eine provokative Schocktherapie. So auch Ana Paula Maia in Krieg der Bastarde (2007), einer einfallsreichen und an Quentin Tarantino erinnernden Übersteigerung menschlicher Interaktion unter dem Diktat des homo homini lupus. Eine andere Möglichkeit ist die metanarrative Brechung der vermeintlich realistischen Perspektive, etwa in Luiz Ruffatos Es waren viele Pferde (2001), eine literarische Installation, in der São Paulo in einer vielschichtigen, fragmentierten Darstellung über einen Zeitraum von 24 Stunden hinweg aus verschiedenen Perspektiven beobachtet wird. In André Sant’Annas 2006 veröffentlichtem Roman O paraíso é bem bacana [dt. Das Paradies ist super], der zum Teil in Berlin spielt, scheint die Darstellung der Realität nur noch als Karikatur möglich: Mané, der tragische Fußballstar, ist unfähig sich auszudrücken, sein Leben kann nur durch das Stimmengewirr seiner Umwelt repräsentiert werden. Eine dritte Möglichkeit scheint die intermediale Transposition zu bieten. Neben dem schon erwähnten ‘filmischen Schreiben’ bei Marçal Aquino und Fernando Bonassi findet sich eine andere Form des Bild-Text-Verhältnisses im abgründigen Roman des renommierten Comic-Autors Lourenço Mutarelli O cheiro do ralo [dt. Der Geruch aus dem Abfluss] (2002), der ein ‘comicartiges Schreiben’ entwickelt. Andere Werke experimentieren mit komplexen Bild- und Klangkonfigura-

246

Susanne Klengel / Georg Wink

tionen, zum Beispiel in Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall (2010) von João Paulo Cuenca, das ein von Überwachungstechnologien überwuchertes Tokio zeigt, oder die kunsttheoretischen Überlegungen in Landschaft mit Dromedar (2010) von Carola Saavedra in der Insellandschaft Lanzarotes. Eine andere Möglichkeit eröffnet sich in der Idee der ‘marginalen Literatur’, die aus der Betroffenenperspektive unmenschliche Zustände am Rand der Gesellschaft thematisiert und dabei den Lesern einen Realitätspakt und empirische Einblicke anbietet. In Form der Favela-Literatur steht diese in einer langen Tradition, die mit dem bereits erwähnten Aluísio de Azevedo begann und mit Carolina Maria de Jesús’ Tagebuch der Armut (1958) – das jedoch durch den Herausgeber erheblich modifiziert wurde und nur bedingt als ‘Insiderblick’ gelten kann – einen internationalen Erfolg feierte. Versuche nicht über, sondern für ‘die Favela’ zu sprechen, sind in den letzten Jahren allgegenwärtig. Während jedoch Conceição Evaristos subtile Erzählungen und Romane wenig Beachtung fanden, wurde Die Stadt Gottes (1997) von Paulo Lins (auch dank der erfolgreichen Verfilmung) zu einem Zeugnis der Gewalt in den Favelas von Rio de Janeiro und zum Vorbild einer neuen ‘exotischen’ und zweischneidigen Favela-Ästhetik. Die Darstellung von Favela-Topoi wie Drogen, Gewalt und Armut ohne Nennung der Mechanismen von Ausbeutung und Dominanz befriedigt im Zweifelsfall nur das schlechte Gewissen der lesenden Mittelklasse. Vertreter der ‘marginalen Literatur’ wie Ferréz, der mit Capão Pecado [dt. Sünden-Capão] (2000), Manual prático do ódio [dt. Praktische Anleitung zum Hass] (2003) und dem Erzählband Ninguém é inocente em São Paulo [dt. Niemand ist unschuldig in São Paulo] (2006) in Erscheinung getreten ist, legen daher besonderen Wert auf die Aneignung und Umkodierung des symbolischen Guts Literatur durch Kulturaktivitäten und eine gezielte Herausgebertätigkeit, die ein ‘Hörbarmachen’ der Stimmen der Betroffenen erst ermöglichen. Zu den Ausgeschlossenen gehören seit jeher auch die zahlreichen afrobrasilianischen Autoren, die schon lange das Recht auf Repräsenta­ tion einfordern und in der gegenwärtigen Kanonrevision besondere Aufmerksamkeit erhalten. Hierbei ist zwischen Autoren zu unterscheiden, die tendenziell anerkannt wurden, allerdings jenseits ihrer afrobrasilianischen Identifizierung: so etwa im 19. Jahrhundert die Dichter Luiz Gama und João da Cruz e Sousa. Dazu zählen auch der inzwischen kanonische Autor Lima Barreto und sogar der Weltautor Machado de Assis, was auch heute noch für Irritationen sorgt. Diejenigen hingegen, die ein afrobrasilianisches Selbstbekenntnis ablegten, waren in ihrer Rezeption immer auf eine

Literarische Konstellationen

247

ethnische Nische beschränkt (unter anderen die Autoren Solano Trindade, Oswaldo de Camargo, Oliveira Silveira, Éle Semog, Adão Ventura, Geni Guimarães, Miriam Alves und Cuti), obgleich seit den 1980er Jahren mit den Cadernos negros oder der Zeitschrift und Buchreihe Quilombhoje der Versuch unternommen wurde, ein breiteres Publikum zu erreichen. Literarische Innenwelten

Die zweite große Strömung bildet das unverzichtbare Komplement zum Realismus, wenngleich Überschneidungen durchaus vorhanden sind. Auch hier sei auf frühe Vorläufer verwiesen wie Álvares de Azevedo, ein zeitlebens verfemter, bisher wenig beachteter Autor, und dessen tragischmorbiden Erzählzyklus Noites na taverna [dt. Nächte in der Taverne] von 1855 sowie Raul Pompéia mit seinem Meisterwerk O Ateneu [dt. Das Athenäum] (1888), in dem der Erzähler seine Internatserinnerungen, die von psychologischen Konflikten mit Mitschülern und Lehrern geprägt sind, Revue passieren lässt. Ihren Höhepunkt erreichte diese Strömung jedoch in der Mitte des 20. Jahrhunderts, insbesondere im Werk von Clarice Lispector, der bislang wohl einzigen brasilianischen Autorin von Weltgeltung. In Romanen wie Nahe dem wilden Herzen (1944), Der Lüster (1946), Der Apfel im Dunkeln (1961) oder Die Sternstunde (1977) greift sie Gedanken und Empfindungen ihrer meist weiblichen Protagonisten auf und geht dabei bis an die Grenze des Sagbaren, die sie in Die Passion nach G. H. (1964) und Agua Viva: Ein Zwiegespräch (1973) zu einem expliziten Thema macht. In den 1980er Jahren wurde Lispector insbesondere dank der internationalen feministischen Rezeption auch außerhalb Brasiliens bekannt. Sie bleibt eine bedeutende Referenz für viele spätere Autoren wie Caio Fernando Abreu, Adriana Lisboa oder Beatriz Bracher, deren tragischer Familienroman Antonio (2007) gerade in Übersetzung erschienen ist. Clarice Lispector, die etwas ältere Cecília Meireles mit ihrem umfangreichen Werk an Gedichten, crônicas und Kinderliteratur, Lygia Fagundes Telles (zum Beispiel Mädchen am blauen Fenster 1970) und Nélida Piñon (von der nur einzelne Erzählungen übersetzt vorliegen) gelten als die ersten ‘schreibenden Frauen’ Brasiliens. Inzwischen sind durch die in der Literaturwissenschaft erfolgreich betriebene Kanonrevision zahlreiche ‘vergessene’, teils unter Pseudonym schreibende, teils nie verlegte Autorinnen ins öffentliche literarische Bewusstsein gerückt. Hierzu zählen zum

248

Susanne Klengel / Georg Wink

Beispiel Nísia Floresta, eine brasilianische ‘Madame de Staël’, die über eine Deutschlandreise schrieb; Ana Luísa de Azevedo Castro, die 1859 den emanzipatorischen Roman D. Narcisa de Vilar veröffentlichte; Emília Freitas, die 1899 mit A Rainha do Ignoto [dt. Die Königin des Unbekannten] das Genre der phantastischen Literatur in Brasilien einführte und Júlia Lopes de Almeida mit einem knappen Dutzend Werke, die zwischen 1889 und 1934 vorrangig als Feuilletonromane erschienen. In den 1950er Jahren wurden zwei weitere für diese nach innen gewendete Schreibweise besonders repräsentative und heute kanonische Romane verfasst: Cornélio Pena nahm in A menina morta [dt. Das tote Mädchen] (1954) – wie Gilberto Freyre in seiner berühmten Studie Herrenhaus und Sklavenhütte (1933) – die Sozialstruktur der brasilianischen fazenda als gesellschaftliche Organisationsform und Sinnbild der Sklavenwirtschaft zum Gegenstand, verzichtete aber auf Freyres letztlich harmonisierende Befunde. Ausgehend vom inneren Konflikt der Gutsherrentochter erfolgt eine Kritik der Sklavenhaltergesellschaft, die schließlich in der Freilassung aller Sklaven mündet. Ähnlich psychologisierend und ebenfalls in einem ehemaligen Herrenhaus angesiedelt, inszeniert Lúcio Cardoso in Crônica da casa assassinada [dt. Chronik des gemordeten Hauses] (1959) anhand eines Textgeflechts aus Tagebucheinträgen, Briefen, Erinnerungen und Beichten ein abgründiges Drama über den Niedergang einer traditionellen Familie. Erwähnt seien in dieser Linie der Auslotung psychologischer Konstellationen außerdem Autran Dorado, Raduan Nassar (insbesondere der Roman Das Brot des Patriarchen von 1975) und João Gilberto Noll. In der Gegenwartsliteratur seit den 1990er Jahren ist das subjektive und introspektive Erzählen zu einer bevorzugten Form geworden, die sich auch in einer auffälligen Hinwendung zur Ich-Perspektive zeigt. Adriana Lisboa, eine der bekanntesten Autorinnen der jüngeren Generation, verarbeitet in Der Sommer der Schmetterlinge (2001) die Erinnerung an eine traumatische inzestuöse Beziehung. Die Suche nach dem ‘Selbst’ ist auch Thema des Romans Feriado de mim mesmo (2005) von Santiago Nazarian, der oft der Gay-Literatur zugerechnet wird. Diese hatte in Adolfo Caminhas Werk Tropische Nächte (1895), einer realitätsnahen Schilderung der Beziehung zwischen einem schwarzen und einem weißen Matrosen, einen bemerkenswert frühen Vorläufer gefunden. Weitere Gegenwartsautoren, bei denen sich die Binnenperspektive mit autobiografischen Schilderungen verbindet, werden im Abschnitt zur Erinnerungsliteratur vorgestellt.

Literarische Konstellationen

249

Die ‘großen Erzählexperimente’ und die Avantgarden

Jenseits der getroffenen Unterscheidung zwischen einer realistischen und einer subjektiv-intimistischen Strömung finden sich in der brasilianischen Literatur Werke, denen – noch deutlicher als im Fall Clarice Lispectors – der Status eines Wendepunkts zugesprochen wird. Hier geht es um die bekanntesten Namen der Literaturgeschichte, die teilweise (trotz der Hürde der portugiesischen Sprache und des ‘peripheren’ Entstehungsortes) bereits Eingang in die ‘Weltliteratur’ gefunden haben. Zu diesen Autoren liegen auch zahlreiche Studien in deutscher Sprache vor, so dass die Darstellung hier nur resümierend ausfallen kann. Der wohl berühmteste Schriftsteller Brasiliens ist Machado de Assis (1838–1908), Gründer der Academia Brasileira de Letras im Jahr 1897. In seinem Werk, das alle Gattungen einschließt und dessen erzählerischer Duktus bereits narrative Innovationen des modernen Romans vorwegnimmt, zeichnete er mit feiner Ironie ein Gesellschaftsbild der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro, dessen kritisch-subversives Potential erst in den letzten Jahren in seinem ganzen Umfang erkannt wurde. Einige der bekanntesten literarischen Figuren Brasiliens gehen auf seine Werke zurück, wie etwa der selbstherrliche Privatier und Nutznießer der Sklavenwirtschaft in Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas (1881), der aus dem Grab heraus Bekenntnisse ablegt, oder die betrügerische Capitu im Roman Dom Casmurro (1900), die möglicherweise selbst die Betrogene war angesichts der homoerotischen Zuneigung ihres Mannes Bentinho zu dem Hausfreund Eusébio, wie eine neuere Lesart nahelegt. Auch Lima Barretos (1881–1922) lange verkanntes und als anstößig betrachtetes Werk (zum Beispiel die Romane Das traurige Ende des Policarpo Quaresma, 1915 und Clara dos Anjos, postum 1948) ist nicht nur von satirischem Spott durchtränkt, der kaum eine gesellschaftliche Figur verschont, sondern befreit die literarische Sprache auch aus dem engen Korsett der Konvention und nähert sie der gesprochenen Sprache an wie kaum ein Werk vor ihm. Als ‘großer Erneuerer’ ist vor allem João Guimarães Rosa (1908–67) zu nennen. Mit seinem Hauptwerk Grande Sertão (1956) schuf der Autor eine neue Erzählsprache oder vielmehr eine bildkräftige Kunstsprache, durchsetzt mit Archaismen, Dialektausdrücken, populären Redewendungen, wissenschaftlichen Termini und zahlreichen Neologismen, die heute zum Teil in die Allgemeinsprache eingegangen sind. Der Sertão wird durch

250

Susanne Klengel / Georg Wink

Guimarães Rosas Werk, das zurzeit neu übersetzt wird, zu einem (vom Teufel bespielten) Kosmos, der in die Weltliteratur eingerückt ist. Sein Einfluss reicht bis in die Gegenwartsliteratur, wie Luiz Ruffatos fünfbändiger Romanzyklus Inferno provisório [dt. Vorläufige Hölle] (2005–11) verdeutlicht. Als bedeutendster brasilianischer Dichter des 20. Jahrhunderts gilt Carlos Drummond de Andrade (1902–87), dessen Werk teilweise auf Deutsch vorliegt. In seinen poetischen Motiven ist die schwermütige Bergbauregion seiner Kindheit in Minas Gerais zwar sehr präsent, doch sind seine Themen universaler Natur und changieren zwischen politischem Engagement und existenzialistischem Zweifel, die er in einer klaren und sparsamen Sprache, die sich auch der dichterischen Freiheiten des Modernismus bedient, zum Ausdruck bringt. Die heute auch international bekannte brasilianische Avantgarde-Bewegung des Modernismus der 1920er Jahre besitzt in der brasilianischen Literatur- und Kulturgeschichte eine zentrale Position, sie gilt als das Gründungsereignis der modernen brasilianischen Literatur. Provokativ forderten die Modernisten im Jahre 1922 und insbesondere die ‘kulturellen Anthropophagen’ ab dem Jahre 1928 unter Federführung von Oswald de Andrade einen kreativen Zugriff auf die europäische Kultur im Sinne einer lustvollen Einverleibung und Transformation dieses (nicht länger) kanonischen Kulturerbes. Vergleicht man dies mit poststrukturalistischen Dekonstruktionen traditioneller Konzepte wie ‘Original’, ‘Einfluss’ und ‘Essenz’, dann zeigt sich, wie überraschend früh solche Überlegungen in Brasilien diskutiert und umgesetzt worden waren. Zu den bekanntesten Werken gehören die intertextuelle Rhapsodie Macunaíma. Der Held ohne jeden Charakter (1928) von Mário de Andrade, die formalen Experimente des Lyrikers Manuel Bandeira und das Lyrik- und Prosawerk Oswald de Andrades, zu dem auch aberwitzige, aber nie aufgeführte Theaterstücke wie O homem e o cavalo [dt. Der Mensch und das Pferd] (1934) zählen, in dem ein intergalaktischer Entscheidungskampf zwischen Faschismus und Sozialismus inszeniert wird. Manche Prämissen des Modernismus wirkten in der Konkreten Poesie der 1950er Jahre fort, wie die Dichtung der Gruppe Noigandres und besonders das babylonische Großprojekt Galáxias [dt. Galaxien] von Haroldo de Campos oder sein Konzept der “transkreativen Übersetzung” zeigen, das auch sein Bruder Augusto de Campos praktizierte. Die konkrete Poesie bildet im Übrigen einen der seltenen Fälle eines direkten Kulturdialogs mit dem deutschsprachigen Raum. Vom Modernismus und von der konkreten Poesie beeinflusst entstand – gewissermaßen als Gegen-

Literarische Konstellationen

251

stück zum Sertão von Guimarães Rosa – mit Avalovara (1973) von Osman Lins ein vollkommen anders gelagertes literarisches Experiment, in dem alle Handlungsmomente mathematisch, gleichsam einer geheimnisvollen Ordnung folgend, aufeinander bezogen sind. Konkretistische Elemente finden sich auch – neben dem Einfluss des japanischen Haiku – im dichterischen Werk von Paulo Leminski (1944 –1989). Jenseits aller Avantgarde-Strömungen gab es in Brasilien eine Reihe von Außenseiter-Autoren, deren Werke bis heute ein literarisches Schattendasein fristen. Sousândrade, dessen Werk von den Brüdern Campos wiederentdeckt wurde, verfasste ab 1870 sein episches Gedicht Guesa errante [dt. Guesas Irrfahrt], eine polyglotte lateinamerikanische Odyssee voll von kühnster Metaphorik. Ebenfalls suspekt blieben dem brasilianischen Publikum bis heute die satirischen und erotischen Gedichte von Bernardo Guimarães (1825–84), Autor des Melodramas Die Sklavin Isaura (1878); außerdem die an das absurde Theater gemahnenden Stücke von Qorpo Santo (1829–83); die Nonsense-Prosa und Lyrik von Campos de Carvalho (1916–98) oder heute die Texte von Daniel Pellizzari. Zu einem festen Bestandteil der Literaturgeschichte ist dagegen die im weiteren Sinne ‘phantastische’ Literatur geworden, etwa Murilo Rubiãos kafkaeske Erzählungen (Der Feuerwerker Zacharias, 1965), Rubens Figueiredos labyrinthische Erzählungen in As palavras secretas [dt. Die geheimen Worte] (1998) und Andréa del Fuegos gespenstischer Roman Geschwister des Wassers (2010), ebenso die aller Rationalität spottende Epopöe Reviravolta [dt. Kehrtwende] (2007) des Philosophen Gustavo Bernardo und der hybride Bild/Text Ó (2009) von Nuno Ramos. Auffällig oft scheinen zeitgenössische Schriftsteller narrative Strategien nicht mehr unbefangen, sondern explizit zu verwenden, was möglicherweise den nicht seltenen akademischen Laufbahnen der Autoren geschuldet ist. Als Beispiel hierfür kann der extrem selbstreferenzielle Roman O grau Graumann [dt. Der Graumann Grad] (2002) von Fernando Monteiro gelten, der Identitätslogiken in jeder Hinsicht auf den Kopf stellt. Erinnerungsliteratur und historischer Roman

Brasilien, so behaupteten viele europäische Reisende, sei ein Land ohne Gedächtnis, worauf auch der Avantgarde-Roman Macunaíma ironisch anspielt. Dem steht paradoxerweise eine Fülle von ‘Erinnerungsliteratur’ gegenüber, die mit literarischen Mitteln eine aktive Vergangenheitsvergegenwärtigung

252

Susanne Klengel / Georg Wink

betreibt. Dies gilt, neben den bereits erwähnten Werken, vor allem für die Rückblicke der kinderlosen Protagonisten in Esaú e Jacó [dt. Esau und Jakob] (1904) und für das Tagebuch des Abschieds (1908) von Machado de Assis; für Recordações do escrivão Isaías Caminha [dt. Erinnerungen des Schreibers Isaias Caminha] (1909) von Lima Barreto, welches die Zeitgenossen aufgrund der indiskreten Enthüllungen überaus konsternierte; für die fragmentierte Weltkritik in den Memórias sentimentais de João Miramar [dt. Empfindsame Erinnerungen des João Miramar] (1923) von Oswald de Andrade; für das Tagebuch des kleinen Beamten Belmiro, der in O amanuense Belmiro (1937) von Cyro dos Anjos gegen seine Verlorenheit in einer gesellschaftlichen Umbruchphase anschreibt; für die Biographien skrupelloser oder ‘rechtschaffener’ Großgrundbesitzer in São Bernardo (1934) von Graciliano Ramos oder in Der Oberst und der Werwolf (1964) von José Cândido de Carvalho sowie für die poetische Komposition des im Exil verfassten Schmutzigen Gedichts (1976) von Ferreira Gullar. In all diesen Werken geht es um die Suche der individuellen Identität in einem besonderen Kontext – Brasilien –, welcher sich aber gerade durch seine Mehrdeutigkeit (bzw. seine ‘fehlende Essenz’) und ein buntes Nebeneinander von Entwicklungsprozessen auszeichnet. Verstärkt wird diese Nebenströmung in jüngerer Zeit durch eine Tendenz zur Erforschung der eigenen Familiengeschichte durch Nachkommen der letzten Einwanderungswelle. Stellvertretend sei Brief aus Manaus (1989) von Milton Hatoum genannt, der sich in Zwei Brüder (2000) und Asche vom Amazonas (2005) auch mit der Verarbeitung der Militärdiktatur auseinandersetzt. Ein weiteres Beispiel ist Nur na escuridão [dt. Nur in der Dunkelheit] (1999) von Salim Miguel. Die Erinnerung an die Shoah und die jüdische Diaspora findet sich bei Moacyr Scliar, unter anderem in den Romanen Der Krieg in Bom Fim (1972), Die Ein-Mann-Armee (1973), Die Götter der Raquel (1975), Das seltsame Volk des Rafael Mendes (1983) sowie in Kafkas Leoparden (2000). Dort findet eine literarisierte Erinnerungsarbeit statt, die in jüngster Zeit in A chave de casa [dt. Der Schlüssel des Hauses] (2007) von Tatiana Salem Levy, Hannahs Briefe (2010) von Ronaldo Wrobel, Tagebuch eines Sturzes (2011) von Michel Laub und in Verbannung: Erinnerung in Trümmern (2011) von Luis S. Krausz fortgeführt wird. Die bereits erwähnte chilenisch-brasilianische Schriftstellerin Carola Saavedra ist neben Paloma Vidal (Mar azul [dt. Blaues Meer] 2012) eine der wenigen, die selbst über Migrationserfahrung verfügen, und sie thematisiert häufig das Schreiben zwischen Kulturen und Sprachen. Eine weitere Art der autobiografischen Erinnerung, die eine besondere Art der Alteritätserfahrung

Literarische Konstellationen

253

betrifft – das Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom – findet sich in Cristóvão Tezzas O filho eterno [dt. Der ewige Sohn] (2007), während sich Lya Luft in Gezeiten des Glücks (2003) mit einem anderen gesellschaftlichen Tabu befasst, dem persönlichen Alterungsprozess einer Frau. Der neue historische Roman mit metafiktionalen Merkmalen, der seinerseits auch Überschneidungen mit der Erinnerungsliteratur aufweist, ist ebenfalls stark vertreten. Während Ana Miranda in Boca do Inferno [dt. Höllenmaul] (1989) dem eingangs erwähnten Barockdichter Gregório de Mattos (und gleichzeitig Umberto Eco) nachspürt, versucht sich Ana Maria Gonçalves in Um defeito de cor [dt. Farbfehler] (2006) an einer literarischen Rekonstruktion des Sklavenhandels. Paulo Lins, Autor von Die Stadt Gottes, verfasste dagegen in seinem zweiten Roman Seit der Samba Samba ist (2012) mit provokantem Gestus eine nicht nur musikalische Sozialgeschichte der 1930er Jahre. Die neue Internationalität

Eine Tendenz, die nicht vorrangig in der Migrationserfahrung begründet liegt, sondern in der Suche nach Inspiration in der weiten Welt (die ja lange der sogenannten Ersten Welt vorbehalten war), ist die Internationalisierung von Themen und Handlungsräumen. In diesem neuen Phänomen des “Instinkts für das Internationale” – der schon von Machado de Assis’ im Jahre 1879 diskret eingefordert wurde – zeigt sich eine kosmopolitische Konzeption, die in der spanischsprachigen Literatur Lateinamerikas schon seit längerer Zeit deutlich geworden ist (zum Beispiel in den Werken Roberto Bolaños). Unterstützt werden diese Bestrebungen auch durch die eingangs erwähnten kulturpolitischen Investitionen. Beispielhaft hierfür sei das Projekt Amores Expressos (2007–2008) erwähnt, welches Autorinnen und Autoren einen Kurzzeitaufenthalt in Metropolen aller Kontinente ermöglichte, um einen ‘globalisierten’ Liebesroman zu verfassen. Bereits erschienen sind: Cordilheira [dt. Kordillere] (2008) von Daniel Galera, Dreihundert Brücken (2009) von Bernardo Carvalho, Estive em Lisboa e lembrei de você [dt. Ich war in Lissabon und erinnerte mich an dich] (2009) von Luiz Ruffato, Nunca vai embora [dt. Geh nie fort] (2011) von Chico Mattoso, Do fundo do poço se vê a lua [dt. Vom Grund des Brunnens sieht man den Mond] (2010) von Joca Reiners Terron und O livro de Praga [dt. Das Prager Buch] (2011) von Sérgio Sant’Anna neben dem bereits erwähnten Roman von

254

Susanne Klengel / Georg Wink

João Paulo Cuenca. Andere ähnlich ausgerichtete Werke liegen bereits auf Deutsch vor, wie Chico Buarques Budapest (2003) oder Bernardo Carvalhos Mongólia (2003) und der zum Teil in Japan spielende Roman In São Paulo geht die Sonne unter (2007). Auffällig ist ein besonderes Interesse am Fernen Osten, das teilweise mit der japanischen Immigration nach Brasilien zu tun hat, aber auch allgemein mit einer Suche nach Auseinandersetzung mit fremden Räumen (zum Beispiel Adriana Lisboas Japan-Roman Rakushisha, 2007). Welche Motive auch immer der neuen ‘globalisierten’ Perspektive zugrunde liegen, sie zeigt, dass sich die brasilianische Literatur zusehends aus ihrer traditionellen Bezogenheit auf den nationalen Raum befreit. Als potentieller Leser muss man nicht mehr ‘nur’ an Brasilien oder an einer ‘spezifisch brasilianischen Literatur’ interessiert sein, um an der reichen Literaturproduktion des Landes teilzuhaben. Möglicherweise reicht es in Zukunft aus, einfach an Literatur im Sinne einer ‘Literatur der Welt’ interessiert zu sein – zu der die brasilianischen Autorinnen und Autoren zweifellos schon immer gehört haben.

Weiterführende Literatur in deutscher Sprache Briesemeister, Dietrich/Feldmann, Helmut/Santiago, Silviano (Hg.) (1992): Brasilianische Literatur der Zeit der Militärherrschaft (1964-1984). Frankfurt am Main: Vervuert. Brunn, Albert von (1997): Moderne brasilianische Literatur (1960-1990). Essays zu neuen Werken brasilianischer Autoren. Mettingen: Brasilienkunde Verlag. Chiappini, Ligia/Zilly, Berthold (Hg.) (2000): Brasilien, Land der Vergangenheit? Frankfurt am Main: TFM. Klengel, Susanne/Quandt, Christiane/Schulze, Peter W./Wink, Georg (Hg.) (2013): Novas Vozes. Zur brasilianischen Literatur im 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Vervuert. Küpper, Klaus (2012): Bibliographie der brasilianischen Literatur. Prosa, Lyrik, Essay und Drama in deutscher Übersetzung. Frankfurt am Main: TFM. Mertin, Ray-Güde (Hg.) (1996): Von Jesuiten, Türken, Deutschen und anderen Fremden: Aufsätze zur brasilianischen Literatur und literarischer Übersetzung. Frankfurt am Main: TFM. Mertin, Ray-Güde/Schönberger, Axel (Hg.) (1993): Studien zur brasilianischen Literatur. Frankfurt am Main: TFM. Strausfeld, Mechtild (Hrsg.) (1984): Brasilianische Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Weis-Bomfim, Patricia (2002): Afrobrasilianische Literatur: Geschichte, Konzepte, Autoren. Mettingen: Brasilienkunde Verlag. Wink, Georg (2008): Die Idee von Brasilien. Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang.

”Brasil. O país do futebol” Brasilien. Die Fußballnation Frank Stephan Kohl Este futebol que às vezes odiamos. Este futebol que sempre amamos. E sem o qual não vivemos. E sem o qual, principalmente, o Brasil não comprendemos. (Juca Kfouri, Texttafel im Museu do futebol, São Paulo)1

”Brasil, o país do futebol”

Der Fußball wird mit Brasilien assoziiert wie der Karneval und der Samba. Eine heilige Trinität brasilianischer Kultur, die Trias der brasilianischen Identität. “Brasil é o país do futebol”, Brasilien ist das Land des Fußballs, DAS in Großbuchstaben. England gebührt die Ehre, das Mutterland des Fußballs zu sein. Aber das wahre Heimatland des Ballspiels mit den Füßen, gespielt von elf Personen, mit einem Ball und zwei Toren, ist das Land mit Amazonas und Zuckerhut. Erst die spielerische tropische Interpretation des strengen britischen Sports, die Kannibalisierung des Fußballs durch die multiethnische brasilianische Gesellschaft, wenige Jahre nach Abschaffung der Sklaverei im Lande, und die Entwicklung eines leichten spielerischen Umgangs mit dem Ball haben die wahre Schönheit des zweckfreien Spiels hervorgebracht und es damit der seiner eigentlichen Bestimmung gebührenden Form zugeführt. Brasilien ist aber auch noch in einem anderen Sinne das Heimatland des Fußballs, weil nämlich unter allen Nationen nur Brasilien an allen bislang ausgetragenen neunzehn Fußballweltmeisterschaften teilgenommen hat. Und mit fünf gewonnen Weltmeisterschaften steht Brasilien allein auf dem Siegerpodest, gefolgt von Italien mit vier und Deutschland mit drei Trophäen. 1

“Dieser Fußball, den wir manchmal hassen. Dieser Fußball, den wir immer lieben. Und ohne den wir nicht leben können. Und ohne den, vor allen Dingen, wir Brasilien nicht verstehen.”

256

Frank Stephan Kohl

‘Penta’ ist der aktuelle Status, ‘Hexa’ ist das angestrebte Ziel für die 2014 im eigenen Land stattfindende Weltmeisterschaft. Die Durchführung des größten globalen Sportevents, wie es die FIFA-Weltmeisterschaft darstellt, beobachtet von einem Milliardenpublikum, erfüllt viele Brasilianer mit Stolz und Vorfreude. Die Zweifel aber, ob das Schwellenland und die fünftgrößte Industrienation bereits zu den etablierten Nationen aufschließen kann und in der Lage ist, eine Infrastruktur (Verkehr, Tourismus, moderne Stadien) und ein gewaltfreies und sicheres Umfeld bereitzustellen, sind nach den im Umfeld des Confederations Cup im Juni 2013 erkennbaren Protesten ebenfalls enorm. Die Art und Weise der Durchführung einer Weltmeisterschaft gilt als Test für die ambitionierte Wirtschaftsmacht Brasilien und wird die Frage beantworten, wie zuverlässig das Land eine komplexe Veranstaltung von der Größenordnung einer Weltmeisterschaft zu organisieren in der Lage ist. Brasilien als Organisator und Gastgeber der WM steht nicht allein unter strenger Beobachtung der FIFA und einer multimedial vernetzten Weltöffentlichkeit, sondern auch einer wachsenden kritischen Bürgeropposition im eigenen Land, die solche globalen Großereignisse zunehmend kritisch betrachtet und deren Nutzwert im Verhältnis zu den hohen Investitionen in Frage stellt. Die vor allem jungen Protestanten stellen unbequeme Nachfragen bezüglich der Sinnhaftigkeit der Investitionen angesichts sozialer Probleme im eigenen Land, fehlender Schulen und Krankenhäuser und haben die Korruption und Vetternwirtschaft als zentrales Problem nicht nur des Fußballs, sondern der gesamten brasilianischen Gesellschaft zum Thema gemacht. “A Copa para quem?” lautete eine auf verschiedenen Plakaten zu sehende Frage: “Für wen ist diese WM?” Ein Verständnis des brasilianischen Fußballs ist der Schlüssel zum Verständnis der brasilianischen Kultur und Gesellschaft. Fußball ist mehr als nur ein populärer Sport, mit Millionen von Anhängern und Fans. Fußball ist Teil der nationalen Identität, ist paixão nacional, integraler Bestandteil der brasilianischen Alltagskultur und Austragungsfeld gesellschaftlicher Konflikte. Man muss den brasilianischen Fußball kennen, die Akteure, die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, die Geschichte und die Geschichten, die Fans und ihre Treue zu ihrer Mannschaft, die enge Hass­liebe eines ganzen Landes zu ihrer Seleção. Der Fußball ist eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste einheitsstiftende Moment einer von extremen sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaft, wie bereits vor 30 Jahren der Anthropologe Roberto DaMatta darlegte (1982).

Brasilien. Die Fußballnation

257

Die historischen Hintergründe und die Entwicklung des Fußballs in Brasilien, sein gesellschaftlicher und kultureller Stellenwert sowie die aktuelle Situation im Vorfeld der WM 2014 werden in diesem Beitrag knapp und zusammenfassend beschrieben. Die Fußballnation. Identitätskonstruktion als historisches Drama

Gerne wird darauf hingewiesen, dass in der brasilianischen Flagge bereits ein Ball zu erkennen sei. Und in der Werbung wird noch stets das Bild von Brasilien als Nation von 190 Millionen uneingeschränkten Fußballenthu­ siasten bedient und fröhlich propagiert. Als Zuschauer, Trainer und Experten werden Männer und Frauen in unterschiedlichen Spots und Anzeigen für die unterschiedlichsten Produkte eingesetzt. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der darin unterschwellig verborgenen Botschaft einer Nation im Trikot und in Fußballschuhen, die sich vor allem für das Spiel von 22 Männern (oder auch immer häufiger Frauen) mit einem Ball begeistern, wird darin vor allem die Gültigkeit der klischeehaften Konstruktion von Brasilien als Fußballnation sichtbar. Brasiliens Weg zur Fußballweltmacht. Ein Drama in drei Akten.

Erster Akt: Die Verwandlung des englischen Sports in ein brasilianisches Spiel Die Legende des Gründungsmythos des Fußballs in Brasilien ist mit dem Namen Charles Miller, zwei Bällen, einer Luftpumpe und einem Regelwerk verbunden. Demnach soll der Sohn eines schottischen Vaters und einer brasilianischen Mutter bei der Rückkehr aus England im Jahre 1894 im Hafen von Santos mit der fußballerischen Grundausstattung gelandet sein und damit das Ballspiel in dem tropischen Land verbreitet haben. Kein populärhistorisches Fußballbuch ohne Millers Geschichte, keine Ausstellung ohne ein Bild des schnurrbärtigen Anglobrasilianers, der damit fast in den Rang eines Nationalhelden erhoben wird. Neuere historische Untersuchungen haben gezeigt, dass bereits seit den 1880er Jahren in verschiedenen brasilianischen Bildungseinrichtungen der foot-ball zum Programm der körperlichen Ertüchtigung gehörte, doch sind dies scheinbar nur Detailfragen in der Brasilianisierung des englischen Sports (Santos Neto 2002).

258

Frank Stephan Kohl

Zu den Gründungsvätern der Konstruktion von Brasilien als Fußballnation gehören der Journalist Mário Rodrigues Filho und der Literaturwissenschaftler Anatol Rosenfeld. Beide haben sich sehr früh in Essays mit den Anfängen und der Entwicklung des brasilianischen Fußballspiels beschäftigt. Mário Filho, Bruder des Dramaturgen Nelson Rodrigues und einer der wichtigsten Vertreter des Sportjournalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte 1947 erstmals seinen Klassiker O negro no futebol brasileiro publiziert, der mittlerweile in 4. Auflage erschienen ist und sich, nimmt man seine Rezeption als Indikator, nach wie vor großen Interesses erfreut (Filho 2003). Etwas weniger prominent ist der Aufsatz von Anatol Rosenfeld, den dieser 1956 unter dem Titel Das Fußballspiel in Brasilien im Staden-Jahrbuch veröffentlicht hatte und der 1974, unmittelbar nach seinem Tod, in portugiesischer Übersetzung herauskam, ehe er 1993 erneut in einer Aufsatzsammlung mit dem Titel Negro, Macumba e futebol erschien (Rosenfeld 1993). Die beiden Autoren beschäftigen sich mit der Entwicklung des Fußballs in Brasilien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als einem aus England importierten Elitesport, der sich schnell in den unteren sozialen Schichten durchsetzte, die vor allem durch ihre multiethnische Zusammensetzung und ihre afrobrasilianischen Wurzeln charakterisiert waren. Zusammen mit der historischen Rahmensituation, gekennzeichnet durch die erst 1888 abgeschaffte Sklaverei, die wachsenden Immigrationsströme aus Europa und die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattfindenden Prozesse der Urbanisierung und wirtschaftlichen Modernisierung, wurde auch der sich in dieser Zeit zum breite Gesellschaftsschichten erfassenden Massensport entwickelnde Fußball in die Erklärungsversuche zur Entwicklung und Definition einer eigenen brasilianischen nationalen Identität einbezogen. Aus der Mischung afrobrasilianischer Kulturelemente, vor allem aus dem Samba und der Kampfkunstsportart Capoeira mit dem britischen Elitesport entwickelte sich nach Mário Filho ein originärer brasilianischer Fußballstil, zu dessen Charakteristika gerade das Spielerische, das Tänzerische, das Unvorhergesehene und Improvisierende gehörten und den er mit Rückgriff auf die Arbeiten von Gilberto Freyre als “mulattischen Stil” bezeichnete (Filho 2003). Als problematisch erweisen sich heute zum einen die vereinfachte Darstellung des Fußballs als Rassen- und Sozialgrenzen überwindenden Sports und zum anderen die Übertragung von spezifisch ethnischen Kulturelementen zur Charakterisierung von als national definierten kollektiven Charaktereigenschaften. Mit einem “mulattischen Stil” wurde nicht nur der konkrete Fußballstil beschrieben, sondern es

Brasilien. Die Fußballnation

259

erfolgte auch gleichzeitig eine Verknüpfung mit angenommenen Charaktereigenschaften einer ganzen Nation. Vereinfacht ausgedrückt, die Unvorhersehbarkeit im Fußballspiel war damit Ausdruck einer allgemeinen Unzuverlässigkeit der gesamten Nation. Sinnvoller sind Erklärungsansätze, die unter Bezug auf die besondere soziale Situation der farbigen Unterschichtenbevölkerung in Brasilien zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinweisen und die Entwicklung eines spielerischen Fußballstils als Rückgriff auf bekannte Kulturelemente zur kreativen Lösung von Integrationsfragen interpretieren. Die Entwicklung von Finten, Tricks und Drehungen, die Anwendung von Dribblings und Übersteigern sind demnach erfolgreiche Vermeidungsstrategien der direkten körperlichen Auseinandersetzung gewesen und haben sich als erfolgreiche Techniken zur Behauptung im Fußball herausgestellt. Trotz der problematischen – historisch bedingten – Charakterisierungen von kollektiven nationalen Charaktereigenschaften stehen der Erfolg des Fußballs als Sozialschichten übergreifender Sport und fester Bestandteil der Alltagskultur in Brasilien und dessen rasanter Aufstieg zu einem alle Bevölkerungsschichten einbeziehenden Massensports außer Frage. Die Verwandlung des britischen Sports in ein brasilianisches Spiel war gewissermaßen der erste Akt des Dramas in der Entwicklung der brasilianischen Fußballnation. Der zweite Akt in der heroischen Entwicklung der Fußballnation Brasilien konzentriert sich in der verlorenen Weltmeisterschaft im Jahre 1950 im eigenen Land, kulminierte in einer nationalen Katastrophe, die ein kollektives Trauma zur Folge hatte, das mit dem Begriff Maracanaço bezeichnet wurde. Zweiter Akt: Traumatisches Scheitern als Fußballnation Die erste Fußballweltmeisterschaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs fand 1950 in Brasilien statt. Der Gastgeber präsentierte sich als Ausrichter einer internationalen Großveranstaltung und als einer der Titelanwärter. Die große Tragödie spielte sich am 16. Juli 1950 ab, Bühne war das mit annähernd 200.000 Zuschauern vollbesetzte Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, das eigens für die Copa do Mundo errichtet worden war. Brasilien traf in der letzten Partie des Turniers auf Uruguay, war klarer Favorit und hätte aufgrund des Regelwerkes und der vorausgegangenen Resultate lediglich ein Unentschieden benötigt, um den ersten Weltmeistertitel zu erringen. Doch in der 79. Minute traf Uruguays Angreifer Ghiggias ins Tor von Brasiliens Barbosa und eine ganz Nation ins Fußballherz. Das Maracanã ver-

260

Frank Stephan Kohl

fiel in entsetztes Schweigen, kollektive Fassungslosigkeit erfasste das ganze Land, das sein nationales Selbstbild mit dem erfolgreichen Ausgang der Weltmeisterschaft verknüpft hatte. Folgerichtig wurde – im Hinblick auf das Selbstverständnis als einzigartige Fußballnation – von Zeitgenossen als Grund für die Niederlage ein nationaler Minderwertigkeitskomplex, ein Straßenköterkomplex (complexo de vira-lata) diagnostiziert (Couto 2009: 67).2 Dritter Akt: Dreifacher Triumph und die uneingeschränkte Anerkennung als Fußballnation Der dritte Akt beginnt 1958 in Schweden und leitet schließlich das Happy End in triumphaler Form ein. Brasilien zeigt endlich einen berauschenden Fußball, kann seine Überlegenheit mit Siegen krönen und gewinnt nach 1958 auch in Chile (1962) und in Mexiko (1970) in kurzer Folge drei Weltmeistertitel und darf damit als erste Nation überhaupt den Wanderpokal “Jules Rimet” endgültig behalten. Als Symbolfiguren des erfolgreichen brasilianischen Fußballs werden der krummbeinige Mané Garrincha und der beim ersten Titelgewinn im Jahre 1958 erst 17jährige Pelé gefeiert. Brasilien hatte sich selbst und der Welt bewiesen, dass es im Fußball eine Weltmacht darstellte. Und die enge Verbindung von nationaler Identitätskonstruktion und fußballerischem Erfolg wird schlagartig in einem in jenen Jahren äußerst populären Lied erkennbar. Darin heißt es: “A taça do mundo é nossa / Com brasilieiro não há quem possa” (Der Weltpokal gehört uns / mit dem Brasilianer kann es niemand aufnehmen).3 Strahlender Held im ersten Teil des dritten Aktes des brasilianischen Fußballdramas war natürlich Pelé, der im eigenen Land bis heute als Volksheld verehrt und als nationales Heiligtum betrachtet wird. Pelé, “Weltfußballer des 20. Jahrhunderts”, ist mittlerweile eine der Realität enthobene Figur, von der unter dem Namen Edson Arantes do Nascimento auch ein wirklicher Mensch existiert. 2

3

Couto führt an, dass der Begriff vom Dramatiker, Literaten und Journalisten Nelson Rodrigues in dessen Chronik mit dem Titel “Meu personagem da semana: o Escrete”, geprägt worden war, die am 31. Mai 1958 in der Zeitschrift Manchete Esportiva erschienen war. Neu abgedruckt in Rodriges (1993). Der vollständige Text des Liedes, anlässlich des ersten brasilianischen WM-Titels von Wagner Maugeri, Lauro Müller, Maugeri Sobrinho und Victor Dagô geschrieben, lautet: “A taça do mundo é nossa / Com brasileiro não há quem possa / Êh eta esquadrão de ouro / É bom no samba, é bom no couro. O brasileiro lá no estrangeiro / Mostrou o futebol como é que é / Ganhou a taça do mundo / Sambando com a bola no pé / Goool!”.

Brasilien. Die Fußballnation

261

44 Jahre lang, bis etwa 2002, dauerte dieser dritte Akt. Brasilien galt fast ein halbes Jahrhundert lang als die unangefochtene Fußballweltmacht, als ständiger Titelfavorit und potentiell unschlagbare Nation auf dem Feld des Fußballs, mit einem unerschöpflichen Reservoir an neuen Spielern, sprich Helden. Neben schön gescheiterten Helden wie Socrates und Falcão, die 1982 trotz eindrucksvollen Darbietungen nicht den Titel holen

Quelle: Frank Stephan Kohl (“zuckerhutkicker”)

konnten, finden sich im dritten Akt auch erfolgreiche Helden wie Romário und Ronaldo, unter deren Führung Brasilien in den Jahren 1994 und 2002 noch zwei weitere Titel gewann und damit als bislang einzige Nation fünf Weltmeistertitel errungen hat. Im 21. Jahrhundert ist das Stück Fußballnation Brasilien zu Ende gegangen. Der Vorhang ist gefallen. Brasilien hat den Alleinvertretungsanspruch für schönen und erfolgreichen Fußball verloren. Das Erfolgsstück des jogo bonito ist abgesetzt.

262

Frank Stephan Kohl

Der Fußball ist immer noch sehr präsent in der brasilianischen Alltagskultur. Als nationale Leidenschaft (paixão nacional) wird er besonders im Vorfeld von Weltmeisterschaften immer wieder beschworen, aber er ist längst nicht mehr allein auf dem Spielplan der nationalen Identitätsstiftung Brasiliens vertreten. Die gegenwärtige Situation des brasilianischen Fußballs

Als Brasilien 1994 seinen vierten Weltmeistertitel errang, war in der Statistik wieder die alleinige Spitzenposition hergestellt, denn Italien (1934, 1938, 1982) und Deutschland (1954, 1974 und 1990) hatten mittlerweile auch jeweils drei Titel vorzuweisen und zum ‘Rekordweltmeister’ aufgeschlossen. Die Ausnahmestellung der Seleção wurde zudem durch die fast ununterbrochene Spitzenposition in der Nationentabelle des Weltfußballverbandes FIFA abgebildet, deren Grundlage die Ergebnisse jeder Nationalmannschaft bildeten. In der ebenfalls von der FIFA organisierten Wahl des Weltfußballers des Jahres – wahlberechtigt waren die Nationaltrainer aller angeschlossenen Verbände – standen ebenfalls regelmäßig Süd­amerikaner an der Spitze. In den ersten 10 Jahren (1991–2000) waren mit Romário (1994), Ronaldo (1996 und 1997) und Rivaldo (1999) viermal Brasilianer mit der Auszeichnung gekürt worden.4 Auch wenn Brasilien bei der WM 2002 in Südkorea und China den fünften Weltmeistertitel erringen konnte und auch wenn mit Ronaldo im gleichen Jahr und mit Ronaldinho (2004 und 2005) und Kaká (2007) noch zwei weitere Brasilianer die Auszeichnung zum Weltfußballer erhielten, die Ära Brasiliens als erfolgreiche, tonangebende und stilprägende Fußballnation war vorbei (Gumbrecht 2013). Mittlerweile hat Spanien die Posi­ tion des fußballprägenden Landes eingenommen. Neben den Erfolgen der Nationalmannschaft La Roja sind auch die internationalen Erfolge von Real Madrid und dem FC Barcelona Beweis für diesen Machtwechsel. Und mit Lionel Messi aus dem Nachbarland Argentinien ist ein in Spanien aktiver Fußballer in den vergangenen vier Jahren jeweils zum besten Fußballer gewählt worden. Auch die zweit- und drittplatzierten Fußballer standen bei spanischen Vereinen (FC Barcelona und Real Madrid) unter Vertrag. 4

Die Zahlen, Tabellen und Ranglisten lassen sich auf der Internetseite der FIFA nachlesen. (19.06.2013).

Brasilien. Die Fußballnation

263

In der FIFA Weltranglis­te konnte sich Brasilien zwar noch einige Jahre lang immer wieder an die Spitze der Tabelle setzen, doch seit 2009 hat die Seleção regelmäßig eine Position nach der anderen eingebüßt. Im Juni 2013, ein Jahr vor dem Anpfiff der Weltmeisterschaft im eigenen Land lag das Land des Fußballs nur noch auf dem 22. Rang, zwischen den afrikanischen Nationen Ghana und Mali. Entgegengesetzt zum internationalen Abwärtstrend der Seleção und dem Verlust der Spitzenposition hat der nationale Profifußball im eigenen Land einen deutlichen Aufwärtstrend erkennen lassen. Seit 2003 wird die nationale brasilianische Fußballmeisterschaft, der Campeonato Brasileiro, als Turnierwettbewerb im Ligaformat ausgetragen. Zwischen Mai und Dezember finden die Begegnungen der 20 Vereine der jeweiligen Spielklassen als Hin- und Rückspiel, oder anders gesagt als Heim- und Auswärtspartie statt.5 Im Dezember steht dann nicht allein der brasilianische Meister als Gesamtsieger des Turniers fest, sondern auch die vier Absteiger und die an den internationalen Turnieren berechtigten Teilnehmer sind bekannt. Erst seit neun Jahren existieren dieser Austragungsmodus und das Regelwerk. In dem bereits seit 1971 unter der Bezeichnung Campeonato Brasileiro ausgetragenen nationalen Turnier wechselten in den ersten 30 Jahren nicht allein die Zahl der teilnehmenden Mannschaften, sondern auch der Turniermodus mit Vor-, Zwischen und Finalrunden, mit oder ohne Endspiel. Ebenso war die Zahl der absteigenden Mannschaften immer wieder modifiziert worden. Politische Interessen der während der Militärdiktatur regierenden Arena-Partei hatten zur zeitweiligen Aufblähung des Turniers auf bis zu 94 Mannschaften geführt. Und die eigennützigen Interessen einflussreicher Funktionäre verhinderten durch kurzfristige Regeländerungen immer wieder den Abstieg eines Traditionsklubs. Folge des chaotischen Profifußballbetriebes ohne zuverlässiges System und wirksames Regelwerk waren eine massive Abnahme des Publikumsinteresses, ein Rückgang der Zuschauerzahlen und eine immer stärker zunehmende Abwanderung von Fußballspielern. (Couto 2009: 24 –35) Seit den 1990er Jahren hatte die Zahl der das Land verlassenden Fußballer stetig zugenommen. Stars wie Romário, Rivaldo, Ronaldo, Ronaldinho, Kaká oder Robinho hatten nur wenige Jahre oder Monate nach ihren ersten 5

Im ersten Jahr spielten noch 24 Vereine in der obersten Spielklasse. Diese Zahl wurde in den kommenden Jahren auf 22 und schließlich auf 20 Mannschaften reduziert. Neben der Serie A existieren mittlerweile auch die Spielklassen B, C und D, ebenfalls mit jeweils 20 bzw. 40 teilnehmenden Klubs.

264

Frank Stephan Kohl

Quelle: Frank Stephan Kohl (“zuckerhutkicker”)

Erfolgen und Berufungen in die Nationalmannschaft Verträge mit europäischen Spitzenklubs erhalten. Alarmierend war nicht allein die immer weiter steigende Zahl an Fußballtalenten, die das Land verließen, sondern auch die Tatsache, dass die Fußballspieler immer früher Brasilien den Rü­cken kehrten. Und längst waren es nicht mehr nur Spitzenfußballer, die von Klubs in den europäischen Topligen in Italien, Spanien, England oder Deutschland engagiert wurden. Ein Heer brasilianischer Fußballer wurde in Europa, Russland und im arabischem Raum aktiv (Coelho 2009: 124 –145). Mit der seit 2003 nach einem verlässlichen Modus organisierten nationalen Liga verbesserten sich die Rahmenbedingungen für den Fußball in Brasilien. In der Folge begannen sich die Klubs ebenfalls professionelle Strukturen zuzulegen. Die Klubführung und das Management in einigen der Klubs wurde von erfahrenen Wirtschaftsführern übernommen, Sport­ abteilungen und Trainingszentren wurden auf- und ausgebaut, Nachwuchsabteilungen eingerichtet, Investoren und Werbepartner gefunden, die Fernsehgelder und Übertragungsrechte besser geregelt. Auch wenn es nach wie vor Korruption und Missmanagement, Nepotismus und Seilschaften in den Verbänden gibt, haben sich die Rahmenbedingungen doch

Brasilien. Die Fußballnation

265

erheblich verbessert. Das Investitionsvolumen stieg und damit auch die Möglichkeit, den talentierten Fußballern besser dotierte und langfristigere Verträge anzubieten. Auch wenn nach wie vor zahlreiche Fußballer aus Brasilien ins Ausland wechseln und spektakuläre Transfers stattfinden wie der von Neymar, der im Juni 2013 für mehr als 57 Millionen Euro vom FC Santos zum FC Barcelona wechselte, so zeichnet sich doch eine Trendwende ab. Junge Spieler bleiben länger bei ihren Klubs, wechseln häufiger innerhalb des Landes und selbst die im Ausland erfolgreichen Stars kehren nicht erst zum Ausklang ihrer Karriere zurück, sondern lassen sich oft noch auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit in die Heimat zurücklocken. Ehemalige Nationalspieler wie Zé Roberto, Lúcio, Alexandre Pato oder Vagner Love und eine Vielzahl weiterer Fußballlegionäre haben in der jüngsten Vergangenheit wieder Verträge bei Klubs in ihrer Heimat unterschrieben und präsentieren sich ihrem eigenen Publikum. In der jüngs­ ten Vergangenheit sind sogar internationale Stars in Brasilien unter Vertrag genommen worden, wie etwa der Niederländer Clarence Seedorf, der im Sommer 2012 zu Botafogo nach Rio de Janeiro gewechselt war, oder Diego Forlan aus Uruguay, 2010 zum besten Spieler der WM in Südafrika gewählt, der im gleichen Jahr vom SC Internacional Porto Alegre unter Vertrag genommen worden war. Die Publikumszahlen6 steigen vor allem in den Fußballmetropolen und die brasilianischen Mannschaften können in den letzten Jahren mehrere internationale Erfolge vorweisen, Tendenz steigend: In den letzten acht Ausgaben (2005–2012) der südamerikanischen Kontinentalmeisterschaft, der Copa Libertadores – dem Pendant zur europäischen Champions League – standen immer mindestens ein, zeitweise sogar zwei brasilianische Klubs im Finale. Die letzten drei Südamerikameister kamen aus Brasilien: SC Internacional Porto Alegre (2010), FC Santos (2011) und SC Corinthians São Paulo (2012). Und auch bei der seit 2005 als Turnier in Japan ausgetragenen Fifa-Klub-Weltmeisterschaft lieferten sich brasilianische Mannschaften bereits viermal Endspielduelle mit den europäischen Rivalen und reisten dreimal als Sieger mit der Trophäe nach Hause.

6

In der Saison 2008 kamen zu den 380 Meisterschaftsspielen rund 6,2 Millionen Zu­ schauer in die Stadien, mit anderen Worten annähernd 17.000 Zuschauer pro Spiel.

266

Frank Stephan Kohl

Der Fußball zwischen mythischer Heldenverehrung und kritischer Reflexion

Parallel zum Rückgang der internationalen Erfolge der Nationalmannschaft und dem langsam einsetzenden Bedeutungsverlust des Fußballs als identitätsstiftendes Element der brasilianischen Gesellschaft setzte eine intensivere Behandlung des “wichtigsten brasilianischen Kulturgutes”, der “nationalen Leidenschaft”, des “giftigen Heilmittels” (Veneno Remédio), so der Titel eines Buches von Jose Miguel Wisnik (2008), ein. Unter den zahllosen Publikationen, die sich mit der paixão nacional beschäftigen, befinden sich in erster Linie anekdotenreiche, detailverliebte und glorifizierende Heldenbiographien, die je nach Autor und behandeltem Athleten komische oder tragische Züge tragen. Dazu kommen Vereinsgeschichten und Klubhistorien, in denen Folkloristisches und Anek­ dotenhaftes, angereichert mit extensiver Statistik und umfangreichem Bildmaterial präsentiert wird. Die Seleção und die Weltmeisterschaften sind weitere bevorzugte Themenfelder, mit denen sich Journalisten, selbsterklärte Experten oder enthusiastische Fußballliebhaber extensiv beschäftigt haben. Die Frühphase des brasilianischen Fußballs und die Niederlage im Jahre 1950 sind dabei neben den gewonnenen Weltmeisterschaften die beliebtesten Ausschnitte. Im Vorfeld fußballerischer Großereignisse wie etwa der Fußballwelt­ meis­terschaften steigt regelmäßig die Zahl der Publikationen. Und neben den immer häufiger mit fotografischem Bildmaterial reich illus­trierten Monographien haben auch die Zeitschriftenverlage die populären Fußballgeschichten für sich entdeckt und bringen regelmäßig Sondernummern oder Zusatzbeilagen heraus. Auch das Internet ist als mediale Plattform für die Präsentation von Fußballgeschichte und Fußballgeschichten herangezogen worden. Im Jahr 2008 bekam der Fußball mit der Eröffnung des Museu do Futebol in São Paulo eine weitere Plattform. Das populärhistorische und medial innovative Fußballmuseum befindet sich unterhalb der Zuschauer­ ränge im städtischen Pacaembu-Stadion am Charles-Miller-Platz. Statt mit Reliquien und Fußballdevotionalien wartet das Museum mit multimedialen Installationen auf. Mehr als 1.500 Bilder und mehr als sechs Stunden Filmmaterial bilden die Grundlage für die imposanten audiovisuellen Installationen und beeindruckenden interaktiven Stationen. Genau wie die populären Darstellungen und populärhistorischen Erzählungen stellen sie

Brasilien. Die Fußballnation

267

den Fußball als eng mit der Entwicklung der brasilianischen Nation verknüpftes Kulturgut dar und heben in einer dramaturgisch perfekten Inszenierung, ähnlich der eingangs geschilderten Dramaturgie, die Entwicklung des brasilianischen Fußballs zum Nationalsport und den Welterfolg seit 1958 hervor. Die Wirkung der Inszenierung lässt sich an den emotionalen Reaktionen und Kommentaren der Besucher sehr gut ablesen. Der brasilianische Fußball wird in allen diesen Erzählungen und Darstellungen, vergleichbar dem Karneval und dem Samba, als ureigene Ausdrucksform brasilianischer Kultur zelebriert. Der moderne Fußball ist ohne die brasilianischen Akteure und ihre Darbietungen nicht denkbar. In Brasilien wurden viele Spielzüge, Systeme, Tricks und Finten erfunden. Und wenn auch nicht immer erfunden, so doch in besonderen Ausprägungen entwickelt, die später den Weltfußball bereichert haben. Der Übersteiger, der Fallrückzieher, das Dribbling und der Ausfallschritt sind maßgeblich durch brasilianische Fußballer beeinflusst und geprägt. Leônidas da Silva, Mané Garrincha, Pelé, Romário, Ronaldo, Ronaldinho und Robinho haben die Art und Weise des Fußballspiels geprägt, wie Picasso die Malerei oder Mozart und Beethoven die Musik. Auch die Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen, vor allem historischer, sozial- und kulturwissenschaftlicher Natur, ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Die Aufgabe des Anspruches, mit dem Fußball auch die gesamte Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft erklären zu wollen, hat sich fruchtbar auf die geschichtswissenschaftlichen Studien ausgewirkt (Ribeiro 2010). In quellenfundierten Studien zu den Anfängen des Fußballs in Brasilien und sozialhistorischen Untersuchungen zur Entwicklung des Sports als Massenphänomen hat eine neue Generation von His­ torikern die sozialen und gesellschaftlichen Konflikte detailliert herausgearbeitet (Franzini 2003; Pereira 2000; Santos Neto 2002). Soziologische Studien haben sich mit Themen wie Fankultur (torcedores), Korruption, Geschlechterrollen, medienwissenschaftlichen Aspekten der globalisierten Mediengesellschaft, der Verwandlung des modernen Fußballs in ein globales Medienspektakel und mit den Verlusten nationaler Stilelemente auseinandergesetzt (Daolio 2005; Franco Júnior 2007; Soares/Lovisolo/ Helal 2001).

268

Frank Stephan Kohl

Fußball heute: Ein Millionengeschäft der globalisierten Mediengesellschaft

In wahrscheinlich keinem anderen Land der Welt wird so häufig, so intensiv, so leidenschaftlich und so kontrovers und ausführlich über Fußball gesprochen wie in Brasilien. Die Medienlandschaft ist breit und vielfältig: Printmedien, Hörfunk, Fernsehen und Internet bieten eine kaum zu überblickende Zahl an Berichten, Reportagen und Kommentaren. Kaum ist ein Spiel zu Ende gegangen, das von verschiedenen TV- und Radiostationen und in der jüngsten Gegenwart auch von Internetportalen begleitet worden ist, treten die Kommentatoren, Kritiker und Kenner an Runden Tischen zusammen, um in aller Ausführlichkeit, mit aller Emotionalität und in ausgiebiger Breite die Spielzüge, Tore, Ein- und Auswechslungen, Transfers etc. zu besprechen. Diese diversen Runden Tische werden an den Sonntagabenden auf verschiedenen TV- und Radio-Kanälen ausgestrahlt. An den folgenden Tagen werden in den entsprechenden Seiten der Tageszeitungen und in speziellen Sportblättern der vergangene Spieltag nach- und der bevorstehende Spieltag vorbereitet. Das ausgiebige und intensive Reden über den Fußball in Brasilien ist einer der besten Indikatoren für den hohen gesellschaftlichen Stellenwert, für seine unglaubliche mediale Präsenz. Ebenso sind Fußballspieler Werbefiguren für eine Vielzahl von Kampagnen, vor allem für Automobile, Sportbekleidung, Erfrischungsgetränke und Lifestyleprodukte. Gemeinsam mit den Stars der Telenovelas lassen sich mit Fußballern Produkte erfolgreich bewerben, ihr Bekanntheitsgrad ist mit dem von Schauspielern und Sängern zu vergleichen. Vor der Weltmeisterschaft 2014: “Copa pra quem?”

Was kostet die WM 2014? Kann Brasilien ein Sportereignis von dieser Größenordnung stemmen? Ein Jahr vor dem Beginn der Weltmeisterschaft, zur Mini-WM, oder zum Konföderationencup wird genau diese Frage gestellt: “Copa pra quem?” Begleitet von zahlreichen Protesten wird der Sinn einer globalen Veranstaltung, wie sie die WM darstellt, angezweifelt. Unsummen wurden in den Neubau von Stadien investiert. Unter enormem Zeitdruck sollten die neuen Sporttempel fertiggestellt werden. Schon ein Jahr vor der WM zeichnete sich ab, dass die Kosten explo-

Brasilien. Die Fußballnation

269

dierten. Stadienbauten wurden nicht rechtzeitig fertiggestellt, die Qualität einzelner Bauelemente ist zweifelhaft. Das eingerissene Dach des Stadions “Arena Fonte Nova” in Bahia, das unter Regenmassen zusammenbrach, wurde zum Sinnbild für die schludrige Arbeit am Bau. Ist ein zur Weltelite der Industrienationen aufschließender BRICSStaat wie Brasilien dazu in der Lage, eine WM zu organisieren, zu finanzieren und durchzuführen? An diese Frage schließt sich eine weitere an: Was bringt uns die Austragung der WM? Die Ausgrenzung oder die nichtvorhandene Inklusion wird vielfach thematisiert. International operierende global player, die zu den Sponsoren der WM gehören, dürfen ihre Produkte mit dem Markenschutz der FIFA verkaufen. Lokale Firmen sind ausgeschlossen und auch die fliegenden Händler sollen von der WM weitgehend ferngehalten werden. In der Folge von Preiserhöhungen für öffentliche Transportmittel (um ca. 20 Centavos) breitete sich eine vor allem von Jugendlichen getragene Protestwelle aus, die sich innerhalb kürzester Zeit auch die Kritik an der Austragung der Fußballweltmeisterschaft zu eigen machte. Die sozialen Netzwerke im Internet spielen bei der neueren Protestwelle, die als die größte Brasiliens seit 20 Jahren gilt, eine herausragende Rolle. Die Ausgabe von enormen Summen für den Bau von Fußballstadien, die nach Abschluss der Weltmeisterschaft nicht mehr adäquat genutzt würden, und die im Korruptionsdschungel verschwindenden Millionen gerieten in die Kritik. Verbunden wurde diese Kritik mit der Forderung nach höheren Ausgaben im Bildungssektor und für das Sozialsystem. Die Ausgaben für ein Sportevent von der Größenordnung einer Weltmeisterschaft stoßen auch in Brasilien, dem país do futebol, immer häufiger auf harsche Kritik und offene Ablehnung. Angesichts der sozialen Schieflage im Land, angesichts von Wohnungsproblemen, Armut und Bildungsnotstand schwindet die Unterstützung für ein Prestigeobjekt, wie es die Weltmeisterschaft darstellt.

Literaturverzeichnis Bellos, Alex (2004): Futebol. Fußball. Die brasilianische Kunst des Lebens. Berlin: Tiamat. Coelho, Paulo Vinicius (2009): Bola fora. A história do êxodo do futebol brasileiro. São Paulo: Panda Books.

270

Frank Stephan Kohl

Couto, José Geraldo (2009): Futebol brasileiro hoje. São Paulo: Publifolha. DaMatta, Roberto et al. (1982) (Hg.): Universo do Futebol: esporte e sociedade brasileira. Rio de Janeiro: Pinakotheke. Daolio, Jocimar (2005) (Hg.): Futebol, cultura e sociedade. Campinas: Ed. Autores Associados. Filho, Mário Rodrigues (42003): O negro no futebol brasileiro. Rio de Janeiro: Mauad. Franco Júnior, Hilário (2007): A dança dos deuses: Futebol, sociedade, cultura. São Paulo: Companhia das Letras. Franzini, Fabio (2003): Corações na ponta da chuteira: capítulos iniciais da história do futebol brasileiro (1919-1938). São Paulo: DP&A editora. Gumbrecht, Hans Ulrich (2013): “Das Jahrhundert des brasilianischen Fußballs ist vorbei”. In: Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven, 1, 20 –21. Pereira, Leonardo Affonso de (2000): Footballmania: uma história social no futebol do Rio de Janeiro: 1902-1938. Rio de Janeiro: Editora Nova Fronteira. Ribeiro, Luiz Carlos (2010): “História e historiografia do futebol brasileiro: da crise da tradição às novas epistemes”. In: Revista Digital (Buenos Aires), 15, 149. (26.6.2013). — (2011): “Futebol e identidade nacional”. In: Ministério das Relações Exteriores (Hg.): Textos do Brasil No. 17, Brasília, 112–121. Rodrigues, Nelson (1993): A sombra das chuteiras imortais. São Paulo: Companhia das Letras. Rosenfeld, Anatol (1993): “O futebol no Brasil”. In: Ders.: Negro, Macumba e futebol. São Paulo: Edusp, 73 –106. Santos Neto, José Moraes dos (2002): Visão do jogo: primórdios do futebol no Brasil. São Paulo: Cosac & Naify. Soares, Antônio Jorge (2001): “História e a invenção de tradições no futebol brasileiro”. In: Soares, Antônio Jorge/Lovisolo, Hugo/Helal, Ronaldo (Hg.): A invenção do país do futebol: mídia, raça e idolatria. Rio de Janeiro: Maud, 13 –50. Soares, Antônio Jorge/Lovisolo, Hugo/Helal, Ronaldo (Hg.) (2001): A invenção do país do futebol: mídia, raça e idolatria. Rio de Janeiro: Maud. Toledo, Luiz Henrique de (2000): No país do futebol. Rio de Janeiro: Jorge Zahar. Wisnik, José Miguel (2008): Veneno Remédio – O futebol e o Brasil. São Paulo: Companhia das Letras.

Film

Ginga. The Soul of Brazilian Football (2005). Ein Film von Hank Levine, Marcelo Machado, Tocha Alves. 110 Minuten.

Zusätzlicher Link

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen Peter Birle

Einleitung

Deutschland und Brasilien sind auf vielfältige Art und Weise miteinander verbunden. Die bilateralen Beziehungen weisen nicht nur eine große historische Tiefe auf, sie beziehen sich auch auf zahlreiche Bereiche – von Politik und Wirtschaft bis hin zu Wissenschaft und Kultur – und zeichnen sich gerade in den vergangenen Jahren durch eine große Dynamik aus. Eine Stärke der Beziehungen liegt darin, dass sie sich nicht nur auf politischdiplomatischer Ebene und zwischen wirtschaftlichen Akteuren abspielen, sondern dass es auch viel wechselseitiges Interesse an der Kultur des Partnerlandes sowie zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen und Gruppen in beiden Ländern gibt, die im Austausch miteinander stehen. Durch eine Reihe von offiziellen Initiativen wird seit einigen Jahren versucht, die Beziehungen noch weiter auszuweiten und zu vertiefen, die Sichtbarkeit der Zusammenarbeit zu erhöhen und Anstöße für neue Kooperationen zu geben. Im Jahr 2010/2011 fand das “Deutsch-Brasilianische Jahr der Wissenschaft, Technologie und Innovation” statt. Unter dem Motto “Wo Ideen sich verbinden” läuft seit Mai 2013 das Jahr “Deutschland + Brasilien 2013-2014”. Im Herbst 2013 ist Brasilien Gastland der Frankfurter Buchmesse, Deutschland präsentiert sich seinerseits auf der Buchmesse von Rio de Janeiro. Der folgende Beitrag geht zunächst kurz auf einige historische Aspekte der bilateralen Beziehungen ein und analysiert dann die Zusammenarbeit in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung, Kultur und Entwicklungszusammenarbeit. Ein Leitmotiv ist dabei die Frage nach den Ursachen dafür, dass Deutschland und Brasilien sich trotz großer Unterschiede und divergierender außenpolitischer Prioritäten als ‘strategische Partner’ betrachten und in vielen Bereichen eine enge Zusammenarbeit suchen.

272

Peter Birle

Ein kurzer Blick zurück

Bereits seit dem 16. Jahrhundert und damit lange vor der staatlichen Unabhängigkeit Brasiliens waren deutsche Wissenschaftler, Geistliche und Soldaten in dem unter portugiesischer Kolonialherrschaft stehenden Brasilien aktiv. Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1822 förderte das Kaiserreich gezielt die Anwerbung deutscher Söldner für das neu zu gründende Heer und die Einwanderung deutscher Siedler. Vor allem im Süden des Landes gelegene Regionen wie Rio Grande do Sul und Santa Catarina sollten durch die Ansiedlung von Migranten gegen mögliche Angriffe von außen geschützt werden. In mehreren Wellen wanderten im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts Hunderttausende von Deutschen nach Brasilien aus. Sie trugen zur landwirtschaftlichen Erschließung bei und prägten als Kleinbauern den ländlichen Raum in nicht unerheblichem Maße. Die Nachfahren der Migranten hinterließen in der brasilianischen Wirtschaft und Kultur deutliche Spuren und trugen mit dazu bei, dass die Beziehungen zwischen beiden Ländern heute über ein solides Fundament individueller und zivilgesellschaftlicher Verbindungen verfügen. Auch wenn die Kenntnis der deutschen Sprache heutzutage rückläufig ist, so weisen doch viele Brasilianer deutsche Wurzeln auf und vor allem im Süden und Südosten des Landes ist der kulturelle Einfluss der Einwanderung nach wie vor spürbar. Brasilien ist schon früh ein Land gewesen, für das sich deutsche Wissenschaftler und Künstler interessierten. Naturforscher wie Carl Friedrich Philipp von Martius, Karl von den Steinen und Theodor Koch-Grünberg trugen dazu bei, dass die deutsche Brasilienforschung im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen international hervorragenden Ruf genoss. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen setzten schon bald nach der Unabhängigkeit Brasiliens ein und waren im 19. Jahrhundert umfassender als die zwischen Deutschland und den USA. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts avancierte Deutschland zum wichtigsten Abnehmer von brasilianischem Zucker und Kaffee. Auch andere Rohstoffe wie Tabak, Baumwolle und Leder wurden importiert. Schon früh zeigte sich im Hinblick auf die Wirtschaftsbeziehungen ein Aspekt, der bis zum heutigen Tag ein Charakteristikum der brasilianischen Außen- und Außenwirtschaftspolitik ist: Man war und ist stets darum bemüht, einseitige politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten zu vermeiden oder zumindest gegen sie anzukämpfen und hat es in diesem Zusammenhang oft verstanden, sich Rivalitäten zwischen anderen Ländern zu Nutze zu machen. In diesem

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

273

Sinne waren die Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland ein wichtiges Gegengewicht, um die seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA nicht zu groß werden zu lassen. Die beiden Weltkriege führten jeweils zu einer zeitweisen Unterbrechung der bilateralen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Gleichwohl erfuhren gerade die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern schon wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erneut einen enormen Aufschwung. Ab 1953 investierten deutsche Unternehmen wie Krupp, Mercedes Benz, Volkswagen und Oetker massiv in Brasilien und gründeten dort Niederlassungen. Brasilien war zu dieser Zeit nicht das einzige lateinamerikanische Land, an dem die deutsche Wirtschaft ein großes Interesse zeigte. Insgesamt flossen in den 1950er Jahren mehr deutsche Direktinvestitionen nach Lateinamerika als in europäische Länder. Brasilien war dabei mit ungefähr einem Viertel der Investitionen in der Re­gion das bevorzugte Zielland. Für Brasilien wiederum bedeuteten diese mit dem Wiederaufstieg Deutschlands als Handelsmacht verbundenen Investitionen die Möglichkeit, die eigene Industrialisierung trotz Devisenknappheit voranzutreiben und so die entwicklungsstrategischen Zielsetzungen des Landes umzusetzen. Zudem veranlassten die deutschen Investitionen auch die US-amerikanische Konkurrenz, aus Sorge um den brasilianischen Markt dort mehr zu investieren, als dies sonst der Fall gewesen sein dürfte. Die Machtübernahme durch die Militärs ab 1964 beeinträchtigte die bilateralen Beziehungen kaum, vielmehr wurden einige der bis heute gültigen vertraglichen Grundlagen, beispielsweise das Kulturabkommen (1969), während der Zeit der Diktatur abgeschlossen. Dies gilt auch für das “Abkommen auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie” von 1975. Anders als die USA oder Frankreich war die Bundesrepublik Deutschland damals dazu bereit, sich auf einen Vertrag einzulassen, der die Implementierung des gesamten nuklearen Kreislaufes in Brasilien vorsah. Die USA hatten einen derartigen Technologietransfer aus sicherheitspolitischen Überlegungen abgelehnt. Die Bundesrepublik Deutschland, die bereits seit den 1950er Jahren mit Brasilien im Bereich der Kernenergie kooperierte, erhoffte sich von dem Vertrag Impulse für den Export von Nukleartechnologie und nahm dafür in Kauf, sich erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wegen ihrer Lateinamerikapolitik auf einen Konflikt mit den USA einzulassen. Brasilien ging es demgegenüber vor allem darum, die eigene nukleare Autonomie voranzutreiben und sich so von einer technologischen Bevormundung durch die USA zu emanzipieren. Die Beherrschung

274

Peter Birle

des atomaren Kreislaufes galt zudem als unabdingbare Voraussetzung für den von den Militärs angestrebten Großmachtstatus. In diesem Zusammenhang spielte nicht zuletzt die Ausbildung von brasilianischen Atomspezialis­ ten in deutschen Forschungseinrichtungen eine wichtige Rolle. Auch wenn die vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit im Nuklearbereich aus unterschiedlichen Gründen weit hinter den ursprünglichen Plänen zurückblieb, ziehen beide Seiten bis heute letztlich eine positive Bilanz aus dem Projekt, nicht zuletzt deshalb, weil sich daraus viele Impulse für die wirtschaftliche und technologische Kooperation in anderen Bereichen ergaben. Die politischen Beziehungen

Weder für Deutschland noch für Brasilien nehmen die wechselseitigen bilateralen Beziehungen einen vorderen Rang in den jeweiligen außenpolitischen Prioritätensetzungen ein. Die deutsche Außenpolitik gilt zunächst Europa und der transatlantischen Partnerschaft mit den USA. Richtschnur für das außen- und sicherheitspolitische Handeln ist die Einbindung in die Vereinten Nationen (VN), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die North Atlantic Treaty Organization (NATO) und die Europäische Union (EU). Darüber hinaus richten sich die Blicke auf die EU-Nachbarschaftspolitik gegenüber Osteuropa und den Mittelmeeranrainern, auf die “Transformationspartnerschaften” mit den Staaten Nordafrikas, auf den Nahostkonflikt sowie auf Krisenländer wie Afghanistan, Mali, Syrien, und Iran. Demgegenüber gilt die gegenwärtige brasilianische Außenpolitik in erster Linie Lateinamerika und Afrika. Entwicklung, Frieden, die Reduzierung der Kluft zwischen reichen und armen Ländern, Gleichheit zwischen den Völkern und eine effektive Demokratisierung des internationalen Systems, so lauten ihre wichtigsten Ziele. Neben der regionalen Zusammenarbeit in Lateinamerika, wozu neben dem Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUL) vor allem das Engagement im Rahmen der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUL) sowie der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) gehört, ist Brasilien in multilateralen Süd-Süd-Foren wie der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und dem IBSA-Forum (Indien, Brasilien, Südafrika) aktiv. Gleichwohl sind die deutsch-brasilianischen Beziehungen für beide Länder auch in politisch-diplomatischer Hinsicht alles andere als marginal.

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

275

Deutschland ist neben Frankreich Brasiliens wichtigster Partner in Europa, umgekehrt ist Brasilien neben Mexiko der wichtigste Ansprechpartner Deutschlands in Lateinamerika. Beide Länder interessieren sich, wenn auch aus zum Teil unterschiedlichen Motiven, für eine Vertiefung der bilateralen Beziehungen, das zeigt auch die rege Besuchsdiplomatie der vergangenen Jahre. Die Regierungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Luiz Inácio Lula da Silva unterzeichneten im Mai 2008 in der brasilianischen Hauptstadt Brasília einen “Aktionsplan der deutsch-brasilianischen strategischen Partnerschaft”. Darin bekräftigen beide Länder die “Entschlossenheit, ihre strategische Partnerschaft durch den Ausbau der bilateralen Beziehungen auf allen Ebenen und in verschiedenen Bereichen weiter zu vertiefen” (Aktionsplan 2008: 1). Der Plan sieht neben einem regelmäßigen politischen Dialog, in den auch Themen der internationalen Agenda einbezogen werden sollen, folgende Kooperationsbereiche vor: • • • • • • • • • • • • • •

VN-Reform/Kooperation in multilateralen Foren Sicherheitspolitik, Abrüstung, Nichtverbreitung von Atomwaffen Menschenrechte Bekämpfung der organisierten Kriminalität/Terrorismus/Rechtshilfe Multilaterale Handelsbeziehungen Stabiles internationales Finanzsystem Engere Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen Deutsch-brasilianische Energiezusammenarbeit Klimawandel Nachhaltige Entwicklung und Umwelt/Bilaterale Zusammenarbeit Bilaterale Kulturbeziehungen/Bildungszusammenarbeit Forschung für Nachhaltigkeit/Hochtechnologie Dialog der Gesellschaften

Brasilien gehört in den Augen der Bundesregierung zu einer Gruppe von Ländern, die seit 2012 als “neue Gestaltungsmächte” bezeichnet werden: Die Ordnung der internationalen Staatengemeinschaft wird zunehmend multipolar: Einflussreiche Länder, die lange als Entwicklungs- oder Schwellenländer bezeichnet wurden, gestalten internationale Politik in einer interdependenten Welt. Sie sind wirtschaftliche Lokomotiven, sie beeinflussen

276

Peter Birle

maßgeblich die Zusammenarbeit in ihren Regionen, sie wirken auch in anderen Weltregionen und sie spielen in internationalen Entscheidungsprozessen eine zunehmend wichtige Rolle. Selbstbewusst finden sie ihren Platz in den internationalen Beziehungen und übernehmen zunehmend Verantwortung für globale Fragen. Wir sehen in ihnen mehr als Schwellenländer: Sie sind ‘neue Gestaltungsmächte’. (Auswärtiges Amt 2012: 5)

Wenn Deutschland sich Brasilien als Partner für die Gestaltung globaler Prozesse anbietet, dann steckt dahinter nicht nur Anerkennung dafür, dass Brasilien sich in jüngerer Zeit auf der Grundlage einer dialogorientierten und kooperativen Außenpolitik sowohl in Lateinamerika als auch auf globaler Ebene konstruktiv engagiert, Impulse für notwendige Reformen gegeben und zunehmende politische Verantwortung übernommen hat. Wie das Zitat zeigt, steht das Zugehen auf Länder wie Brasilien auch im Zusammenhang mit den von Seiten der Bundesregierung wahrgenommenen Veränderungen des internationalen Systems insgesamt. Eine Rolle dürfte dabei auch das Bewusstsein spielen, dass sich die relative Bedeutung Deutschlands auf globaler Ebene aufgrund globaler wirtschaftlicher und demographischer Trends in den kommenden Jahrzehnten eher verringern, das Gewicht Brasiliens dagegen weiter vergrößern wird. Eine vernetzte Zusammenarbeit mit Brasilien ist daher auch ein Stück Zukunftsvorsorge, d. h. es geht um die Festigung von soliden bilateralen Verbindungen, um nachhaltig für die eigenen Positionen zu werben und auch zukünftig globale Strukturen mitgestalten zu können. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Hinblick auf die im Rahmen des “Aktionsplans der deutsch-brasilianischen strategischen Partnerschaft” genannten Kooperationsbereiche nur zum Teil übereinstimmende Interessen bestehen. Insofern scheint es stark übertrieben, wenn das Auswärtige Amt auf seiner Website pauschal davon spricht, dass die bilateralen Beziehungen “auf gemeinsamen Werten und übereinstimmenden Auffassungen zur globalen Ordnung” beruhen. Für einen Teil des Wertekanons (Demokratie, Menschenrechte, friedliche Konfliktlösung, etc.) und Teilbereiche der internationalen Ordnung trifft dies in der Tat zu, etwa für die Reform der VN, im Hinblick auf die beide Länder ihre gegenseitige Unterstützung bei der Kandidatur für einen ständigen Sitz in einem erweiterten Sicherheitsrat nachdrücklich bekräftigen. In anderen Bereichen besteht zwar Konsens über die Notwendigkeit von Reformen, aber über deren konkrete Ausgestaltung gehen die Ansichten auseinander. Im Hinblick auf den von Brasilien geforderten besseren Zugang zum europäischen Binnenmarkt vor allem im Bereich der Landwirtschaft ist Deutschland zwar grundsätzlich reformbereit, wird deswegen aber kaum

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

277

einen Konflikt mit denjenigen EU-Partnerländern riskieren, die entsprechende Reformen ablehnen. Die Interessendivergenzen zwischen Brasi­lien und Deutschland hinsichtlich der Gestaltung globaler Strukturen und Prozesse hängen in erster Linie damit zusammen, dass Brasilien den Status Quo (beispielsweise in puncto Welthandelsordnung oder Stimmenanteile in Weltbank und Internationalem Währungsfonds) als ungerecht empfindet und auf eine stärkere Beteiligung der Länder des Südens drängt, während Deutschland zwar ein deutlicher Verfechter des Multilateralismus ist, aber nicht für eine grundlegende Revision des Status Quo eintritt. Unterschiedliche Vorstellungen gibt es auch im Hinblick auf die Rolle der nationalen Souveränität. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur an die Erfahrung gewöhnt, mit einer durch die Siegermächte in Teilen beschränkten nationalen Souveränität zu leben; sie hat auch im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses nationale Souveränitätsrechte auf europäische Instanzen übertragen und ist davon überzeugt, dass dieses Pooling von Souveränität im eigenen Interesse ist, da dadurch schlagkräftige supranationale Instanzen entstehen. Man sollte die in Europa vorhandene Bereitschaft zur Abgabe von Souveränität nicht idealisieren, denn die großen Schwierigkeiten im Hinblick auf die Etablierung einer gemeinsamen europäischen Außenund Sicherheitspolitik zeigen sehr deutlich, dass auch hier die Bereitschaft zur Abgabe von Souveränität klare Grenzen kennt. Sie ist aber zumindest in einigen Politikbereichen vorhanden. Die lateinamerikanischen Länder haben demgegenüber völlig andere historische Erfahrungen gemacht, die auch ihre heutigen außenpolitischen Selbstverständnisse prägen: Nicht nur die jahrhundertelange europäische Kolonialherrschaft, sondern auch die Rückzugskämpfe der ehemaligen Kolonialmächte während des 19. Jahrhunderts und vor allem die den größten Teil des 20. Jahrhunderts andauernde hegemoniale Rolle der USA in der westlichen Hemisphäre haben dazu geführt, dass das Bewusstsein einer von außen verweigerten Souveränität sich tief in die nationalen Selbstverständnisse eingeprägt hat. Die im Laufe des vergangenen Jahrzehnts zu beobachtenden Bemühungen um die Etablierung genuin lateinamerikanischer Regionalorganisationen wie UNASUL und CELAC sind nicht zuletzt Ausdruck des Versuchs, sich von den USA zu emanzipieren. Auch wenn die brasilianische Souveränität sicherlich nie derart durch die USA oder andere externe Mächte bedroht war wie beispielsweise die der zentralamerikanischen Staaten, so ist doch auch und gerade für Brasilien der Respekt vor

278

Peter Birle

der nationalen Souveränität ein zentrales Element seines außenpolitischen Selbstverständnisses. Nicht nur im Hinblick auf die regionalen Kooperationsprozesse in Lateinamerika lehnt das Land jede Abgabe von nationaler Souveränität an übergeordnete Instanzen (etwa im Rahmen von MERCOSUL oder UNASUR) ab; ganz besonders empfindlich reagiert man, wenn beispielsweise im Hinblick auf den Schutz des tropischen Regenwaldes im Amazonas oder in puncto globale Sozial- und Umweltstandards Vorschläge unterbreitet werden, die als “Einmischung in die inneren Angelegenheiten” empfunden werden. Diese divergierenden Souveränitätsverständnisse machen bi- und multilaterale Aushandlungsprozesse mit Brasilien einigermaßen kompliziert. Gleichwohl sind sie kein Hindernis für eine Partnerschaft, die sowohl von Deutschland als auch von Brasilien als wichtig und zukunftsfähig betrachtet wird. Dabei spielt aus brasilianischer Perspektive auch die Tatsache eine Rolle, dass Deutschland sich im Zuge der internationalen Finanzkrise und der Euro-Krise als ein relativ krisenfestes Land erwiesen hat, dessen Bedeutung innerhalb der EU noch zugenommen hat. Übersicht: Verträge und politische Dokumente zwischen Deutschland und Brasilien (Auswahl)

Abkommen über Soziale Sicherheit (03.12.2009) Aktionsplan der deutsch-brasilianischen Strategischen Partnerschaft (14.05.2008) Rahmenabkommen über Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Forschung und technologischen Entwicklung (20.03.1996) Rahmenabkommen über Technische Zusammenarbeit (17.09.1996) Vereinbarung über den Austausch technischer Informationen und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen (10.03.1978) Abkommen auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie (27.06.1975) Kulturabkommen (09.06.1969) Basisabkommen über die Technische Zusammenarbeit (30.11.1963) Abkommen über den planmäßigen Luftverkehr (29.08.1957) Briefwechsel über deutsche Investitionen (04.09.1953) Abkommen über die Wiederherstellung der durch den Zweiten Weltkrieg betroffenen gewerblichen Schutzrechte und Urheberrechte (04.09.1953)

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

279

Die wirtschaftlichen Beziehungen

Brasilien ist für die deutsche Wirtschaft ein wichtiger Exportmarkt und Investitionsstandort. Zwar ist das relative Gewicht des Landes in der deutschen Außenhandels- und Investitionsstatistik heute geringer als von Mitte der 1950er bis in die 1970er Jahre, aber nach einem Einbruch in den 1980er Jahren gilt Brasilien seit der erfolgreichen Stabilisierungspolitik unter Präsident Fernando Henrique Cardoso (1995–2002) und spätestens mit den wirtschaftlichen Erfolgen des vergangen Jahrzehnts als ein Markt, auf dem sich gute Geschäfte machen lassen. Der bilaterale Außenhandel Brasilien–Deutschland erreicht gegenwärtig eine Größenordnung von ca. 22 Mrd. € pro Jahr. 2012 hat Deutschland Waren im Wert von 11,7 Mrd. Euro nach Brasilien exportiert. Die Importe aus Brasilien beliefen sich im gleichen Zeitraum auf 10,6 Mrd. Euro. Damit lag Brasilien bei den deutschen Einfuhren auf Rang 21 und bei den Ausfuhren auf Rang 20. Exportiert wurden vor allem Maschinen (27,8 %), chemische Erzeugnisse (26,7 %), Kraftfahrzeuge und -teile (11,0 %) sowie Elektrotechnik (6,7 %), die Importe setzten sich in erster Linie aus Rohstoffen (37,6 %), Nahrungsmitteln (25,7 %), Maschinen (7,0 %), chemischen Erzeugnissen (6,6 %) sowie Eisen und Stahl (5,3 %) zusammen. Mit 6,4 % Importanteil lag Deutschland 2012 hinter den USA (15,3 %), China (14,6 %) und Argentinien (7,4 %) an vierter Stelle der Lieferländer. Bei den Abnehmerländern rangierte Deutschland mit einem Anteil von 3,0 % an den brasilianischen Exporten nach China (17,0 %), den USA (11,1 %), Argentinien (7,4 %), den Niederlanden (6,2 %) und Japan (3,3 %) an sechster Stelle. Der Bestand an deutschen Direktinvestitionen in Brasilien betrug 2011 24,222 Mrd. €, wobei der Nettotransfer seit 2010 jeweils negativ war (2010: -949; 2011: -2.011; 2012: -2.029). Der Bestand an brasilianischen Direktinvestitionen in Deutschland ist bislang relativ bescheiden, er betrug 2010 162 Mio. €, der Nettotransfer belief sich 2010 auf 51 Mio., 2011 auf 52 Mio. und 2012 auf -10 Mio. € (Germany Trade & Invest 2013).

280

Peter Birle

Tabelle 1: Der deutsche Außenhandel mit Brasilien, 2010 – 2012

Dt. Einfuhr Dt. Ausfuhr Saldo

2010

%

2011

%

2012

%

9,4

30,6

11,3

20,2

10,6

-6,2

10,4

42,5

11,2

7,7

11,7

4,5

1,0

-0,1

1,1

Quelle: Germany Trade & Invest 2013: 4.

Die relative Bedeutung Brasiliens für die deutsche Außenwirtschaft hat sich seit den 1990er Jahren kaum verändert. Dies ist insofern überraschend, als gerade in den letzten Jahren allerorten von einem “BrasilienBoom” die Rede ist. So heißt es in einer an die mittelständische Industrie gerichteten Broschüre aus dem Jahr 2012 unter der Überschrift “Chancen nutzen – Netzwerke ausbauen”: Brasilien ist in aller Munde – sechstgrößte Volkswirtschaft weltweit, kontinentales Schwergewicht, Agrarweltmacht und Rohstoffgigant. Das Land ist längst kein Zukunftsmarkt mehr – es ist vielmehr Ort der Gegenwart und Region voller Chancen, die es zu nutzen gilt. Angesichts des enormen Potenzials stellt sich für viele Unternehmer mittlerweile nicht mehr die Frage, ob investiert werden soll, sondern wie der Markteintritt gelingen kann. (Rödl & Partner 2012: 9)

Schätzungsweise 1.400 deutsche Unternehmen sind bereits in Brasilien aktiv, ein großer Teil von ihnen hat sich im Großraum São Paulo angesiedelt. In einigen Branchen, etwa in der Automobilindustrie, im Maschinenbau sowie bei Chemie und Pharma nehmen sie Spitzenpositionen ein. Die drei Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammern in São Paulo, Rio de Janeiro und Porto Alegre bieten ihren Mitgliedern ein umfassendes Dienstleistungsangebot, das sich nicht nur an deutsche Unternehmen richtet, die sich in Brasilien niedergelassen haben oder dies planen, sondern auch an brasilianische Unternehmen mit Interesse am deutschen Markt (). Nicht zuletzt mit Blick auf die bevorstehenden sportlichen Großereignisse FIFA-WM 2014 und Olympische Spiele 2016 hat der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zusätzlich zu den bestehenden Strukturen, zu denen auch die seit über 30 Jahren

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

281

jährlich stattfindenden Deutsch-Brasilianischen Wirtschaftstage gehören, ein Brazil Board geschaffen, das das Brasilienengagement der deutsche Industrie bündeln soll und sich “für eine konsequente und langfristige Intensivierung der deutsch-brasilianischen Wirtschaftsbeziehungen, vor allem über strategische Partnerschaften” (BDI 2012: 1) einsetzt. Nicht zuletzt geht es solchen Lobby-Organisationen natürlich auch darum, gegenüber den Regierungen der beiden Länder jene Aspekte zu thematisieren, die als Haupthindernisse für ein noch stärkeres Engagement der deutschen Wirtschaft in Brasilien empfunden werden: die staatliche Bürokratie, das komplizierte Steuersystem, das fehlende Doppelbesteuerungsabkommen, die komplexen Zoll-, Import- und Handelsbestimmungen sowie Probleme in den Bereichen Transport und Infrastruktur. Aus brasilianischer Perspektive ist das Engagement deutscher Unternehmen in Brasilien vor allem deshalb interessant, weil man sich davon weitere Technologie- und Innovationsschübe erwartet. Deutsche Unternehmen tragen erheblich zur Ausbildung hochqualifizierter brasilianischer Ingenieure und Techniker bei und der von ihnen generierte Mehrwert kommt nicht nur den jeweiligen Unternehmensbilanzen zugute, sondern er bedeutet auch für die brasilianische Volkswirtschaft einen Kompetitivitätszuwachs auf den internationalen Märkten. Dies ist gerade für ein Land wie Brasilien, das sich nicht damit begnügen will, Rohstoffe auszuführen und wissensintensive Produkte zu importieren, ein wertvoller Beitrag zur Verwirklichung einer langfristig orientierten Entwicklungsstrategie (Vargas 2011). Die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung

Zwischen Deutschland und Brasilien existiert ein gut ausgebautes Kooperationsnetzwerk in den Bereichen Wissenschaft und Forschung. Die wichtigsten institutionellen Akteure auf deutscher Seite sind dabei der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und das Auswärtige Amt (AA). Seit Februar 2012 existiert als gemeinsame Vertretung das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus (DIWH) in São Paulo. Ähnliche Einrichtungen gibt es sonst nur noch in New York, Moskau, Neu-Delhi, Tokio und Kairo, auch dies ist schon eine Aussage über die zunehmende Bedeutung, die Brasilien als Partner im Bereich von Wissenschaft und Forschung eingeräumt

282

Peter Birle

wird. Durch die gemeinsame Vertretung der deutschen Wissenschaft und Innovation an einem Ort sollen Synergien zwischen den deutschen Organisationen erzeugt werden. Zudem geht es darum, die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit der deutschen Forschungs- und Wissenschaftslandschaft für brasilianische Interessenten zu erhöhen (). Als beispielhaft für die quantitative und qualitative Entwicklung der deutsch-brasilianischen Wissenschaftskooperation seit den 1950er Jahren können die Phasen betrachtet werden, die Gabriele Althoff für das Engagement des DAAD in Brasilien identifiziert hat (zum Folgenden siehe Althoff 2010: 693f.). Seit dem Beginn der DAAD-Aktivitäten in Brasilien bis Mitte der 1970er Jahre bestand die Kooperation in erster Linie in einem einseitigen Stipendienangebot von deutscher Seite sowie aus relativ zufälligen Fördermaßnahmen für Deutsche und Brasilianer. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens über den Wissenschaftleraustausch mit dem Nationalen Rat für Forschung und Technologie (CNPq) im Jahr 1974 erfolgte eine Erhöhung des Austauschvolumens (jährlich bis zu 100 Wissenschaftler sowie 30 bis 40 Kurzzeitdozenten, Lektoren und Langzeitdozenten). Ein entscheidender quantitativer und qualitativer Sprung der Zusammenarbeit ergab sich dann seit Mitte der 1990er Jahre. Auf brasilianischer Seite wurde die Stiftung zur Förderung des Hochschulnachwuchses (CAPES) zum wichtigsten Kooperationspartner des DAAD und gleichzeitig entstanden in der Folgezeit eine Reihe von neuen, gemeinsam finanzierten Programmen, durch die sich die Schwerpunkte der Zusammenarbeit von der Individualförderung auf die projektbezogene Förderung verlagerten. Das wichtigste Programm in diesem Zusammenhang ist PROBRAL, zusätzlich besteht seit 2001 ein Programm zur Zusammenarbeit in der universitären Lehre, UNIBRAL. Seit 2008 gibt es eine Vereinbarung über ein gemeinsames Programm für Doppelabschlüsse und Doppelpromotionen, seit 2009 ein Abkommen über eine “Strategische Partnerschaft in Forschung und Lehre”. Auch die DFG hat ihr Brasilienengagement seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts erheblich ausgeweitet. Seit 2006 existiert ein Abkommen mit der Stiftung zur Förderung der Forschung im Bundesstaat São Paulo (FAPESP), auf dessen Basis zahlreiche Forschungskooperationen gefördert werden. Weitere deutsche Wissenschaftseinrichtungen, die sich in Brasilien engagieren, sind beispielsweise die Alexander von Humboldt Stiftung und die Fraunhofer-Gesellschaft. Einige deutsche Bundesländer sind mit eigenen Initiativen hervorgetreten. So wurde vor gut zehn Jahren das Baden-Württembergische Brasilien-Zentrum eingerichtet, um die wis-

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

283

senschaftliche, technische und kulturelle Kooperation zwischen BadenWürttemberg und Rio Grande do Sul zu fördern und auszubauen (). Auch das Bayerische Hochschulzentrum für Lateinamerika (BAYLAT), eine Serviceeinrichtung zur Förderung der internationalen Vernetzung von bayerischen und lateinamerikanischen Hochschulen und zur Werbung für den Standort Bayern als Zentrum für Technologie und Innovation sowie Wissenschaft und Lehre, weist einen starken Brasilienbezug auf (). Zwischen deutschen und brasilianischen Hochschulen bestanden laut Angaben der Hochschulrektorenkonferenz Anfang Juli 2013 427 Kooperationsabkommen. Die deutsch-brasilianische Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung zeichnet sich in den vergangenen Jahren durch eine sehr dynamische Entwicklung aus. Auch die brasilianische Seite ergreift dabei zunehmend die Initiative für eine Vertiefung der Kooperation. Ein Beleg dafür ist das von der Regierung Rousseff ins Leben gerufene Mobilitätsprogramm “Wissenschaft ohne Grenzen”, mit dem bis 2014 über 100.000 Studierende und Forscher an führende Universitäten weltweit entsandt werden sollen. Rund 10.000 Stipendiatinnen und Stipendiaten sollen allein nach Deutschland kommen, damit liegt Deutschland hinter den USA und Großbritannien auf Platz drei der Zielländer. Allerdings fällt ein starkes Übergewicht der Bereiche Naturwissenschaft und Technik in der bilateralen Kooperation auf. Hier liegen auch eindeutig die Prioritäten sowohl der beiden Regierungen als auch der Wirtschaft. Demgegenüber fällt die Kooperation im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften deutlich bescheidener aus. Lehre und Forschung zu Brasilien an deutschen Hochschulen sind in den meisten sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern bei Weitem nicht so umfassend, wie man dies aufgrund der Größe und Bedeutung des südamerikanischen Landes vermuten könnte, auch wenn sich in den vergangenen Jahren ein wachsendes Interesse an Brasilien abzeichnet (Göbel/Birle/Specht 2009). Einrichtungen, die sich in diesem Bereich engagieren, sind beispielsweise das am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin 2010 gegründete fachgebietsübergreifende Forschungszentrum Brasilien, das brasilienbezogene Projekte und Forschungsaktivitäten mit kultur- und sozialwissenschaftlicher Ausrichtung bündelt (), sowie das Martius-Staden-Ins­ titut für Wissenschaft, Literatur und deutsch-brasilianischen Kulturaustausch in São Paulo ().

284

Peter Birle

Die Kulturbeziehungen

Der kulturelle Austausch zwischen Deutschland und Brasilien hat in den vergangenen Jahren einen Aufschwung erlebt, er ist allerdings durch deutliche Asymmetrien gekennzeichnet. Deutschland verfügt über eine auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und über sogenannte Kulturmittler, allen voran das Goethe-Institut, deren Aufgabe es ist, weltweit die Kenntnis der deutschen Sprache zu fördern, die internationale kulturelle Zusammenarbeit zu pflegen und durch Information über die deutsche Kultur, Gesellschaft und Politik ein umfassendes Deutschlandbild zu vermitteln. In Brasilien besteht ein relativ enges Netz von Kulturmittlern. Das Goethe-Institut ist in São Paulo, Curitiba, Porto Alegre, Rio de Janeiro und Salvador vertreten, hinzu kommt ein Goethe-Zentrum in Brasília (). Drei deutsche Auslandsschulen, das Colégio Visconde de Porto Seguro und das Colégio Humboldt in São Paulo und die Escola Alemã Corcovado in Rio de Janeiro, führen zur deutschen Hochschulreife, weitere Schulen bieten Deutschunterricht an. Die genannten Organisationen tragen dazu bei, die deutsche Sprache und Literatur, Musik, Kunst, Theater und Film in Brasilien zu verbreiten.1 Demgegenüber geschieht die Vermittlung der brasilianischen Kultur in Deutschland sehr viel stärker über den Markt: Schallplattenfirmen und Verlage schicken bekannte Künstler auf Tournee ins Ausland, brasilianische Filme werden auf internationalen Festivals präsentiert. Bis vor etwa zehn Jahren gab es ein Brasilianisches Kulturinstitut in Deutschland (ICBRA), es wurde jedoch geschlossen und seine Aufgaben in die Brasilianische Botschaft in Deutschland zurückverlagert. Dies entspricht der traditionellen Vertretung der brasilianischen Kultur im Ausland durch das Außenministerium. Hinzu kommt, dass Brasilien in puncto Kulturvermittlung andere Prioritäten setzen muss als Deutschland. Ein Land, in dem 87 % der Bevölkerung noch nie im Kino waren, 92 % noch nie in einem Museum und 93 % noch nie auf einer Kunstausstellung (Dantas 2010: 333), muss zunächst die Kulturvermittlung im eigenen Land ankurbeln. Danach liegen die Prioritäten in Lateinamerika sowie in einigen afrikanischen Staaten, vor allem in 1

Siehe dazu die Beiträge in Bader 2010. Sie gehen auf ein 2008 in São Paulo durchgeführtes Symposium zurück, bei dem eine Bestandsaufnahme relevanter Felder der deutsch-brasilianischen Kulturbeziehungen vorgenommen wurde. Interessant ist dabei insbesondere, dass alle Themen sowohl aus einer deutschen als auch aus einer brasi­ lianischen Perspektive behandelt werden (z. B. der brasilianische Film in Deutschland/ der deutsche Film in Brasilien), wodurch sich interessante Dialogprozesse ergeben.

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

285

der Gemeinschaft der lusophonen Länder. Erst an dritter Stelle steht die Kulturvermittlung im Nord-Süd-Dialog, wie sie beispielsweise im Umfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland unter dem Motto Copa da Cultura stattfand. Um die strukturelle Asymmetrie in den kulturellen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu überwinden, haben die Teilnehmer eines deutschbrasilianischen Symposiums 2008 unter anderem vorgeschlagen, die Verbreitung des brasilianischen Portugiesisch in Deutschland durch Lektoren an deutschen Universitäten mit Förderung durch die brasilianische Regierung auszubauen, die Übersetzung von hervorragenden wissenschaftlichen und literarischen Werken mit Hilfe spezieller Programme zu fördern und durch gegenseitige Besuche und Gastaufenthalte einen systematischen Gedankenaustausch zwischen den Kulturvermittlern anzukurbeln (Bader 2010: 341f.). Die Entwicklungspolitische Zusammenarbeit

Deutschland ist seit einem halben Jahrhundert in Brasilien entwicklungspolitisch aktiv. Inzwischen passt das Land aufgrund seines Entwicklungsstandes und seiner gewachsenen globalen und regionalen Bedeutung immer weniger ins klassische Profil der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Brasilien selbst ist in den vergangenen Jahren vor allem in Lateinamerika und in Afrika zu einem wichtigen entwicklungspolitischen Geber geworden. 2006 wurde die bilaterale EZ neu ausgerichtet, um diesen Faktoren Rechnung zu tragen. Sie ist auch Teil des 2008 unterzeichneten Aktionsplans der strategischen Partnerschaft. Wichtigste Ziele der Zusammenarbeit sind die Bekämpfung des Klimawandels und der Schutz der Biodiversität, die Schwerpunkte liegen im Bereich des Schutzes des Tropenwaldes sowie der Förderung von erneuerbaren Energien und von Ener­gieeffizienz. Auch wenn die politische Bedeutung der EZ mit Brasilien mittlerweile aus deutscher Perspektive weitaus größer ist als die finanzielle, war Deutschland 2010 der zweitgrößte bilaterale Geber des Landes. Inzwischen beteiligt sich die brasilianische Regierung allerdings je nach Thema und Region mit 30–90 % an den Kosten der EZ. Insofern weicht die EZ mit Brasilien – ohne entwicklungspolitische Ziele aufzugeben – erheblich vom Kooperationsstandard mit klassischen Entwicklungsländern ab. Sie ist nicht zuletzt geprägt durch eine forcierte Zusammenarbeit staatlicher Instanzen mit der Wirtschaft (private public

286

Peter Birle

partnerships) sowie durch gemeinsame deutsch-brasilianische EZ in Drittländern (Dreieckskooperation).2 Weitere wichtige Akteure der deutschen EZ neben den entwicklungspolitischen Durchführungsorganisationen3 sind die politischen Stiftungen. Seit 1969 ist die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Brasilien vertreten. Ihre Aktivitäten richteten sich zunächst auf soziale Entwicklung und Demokratieförderung, seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 nehmen das Zusammenspiel demokratischer Institutionen, die internationale Rolle Brasiliens und Fragen der nachhaltigen Entwicklung stärkeren Raum ein. Gegenwärtig konzentriert sich die Arbeit auf die Schwerpunkte internationale Politik, politische Bildung, soziale Marktwirtschaft sowie Umwelt, Klima und Energie (). Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) ist seit 1977 in Brasilien vertreten. Wichtigste Partnerorganisationen sind die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) und der Gewerkschaftsdachverband CUT (Central Única dos Trabalhadores), die Projektarbeit konzentriert sich auf die Themen internationale Politik, Staat und Gesellschaft, Arbeitsbeziehungen, Gewerkschaften und soziale Inklusion (). Die Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) ist seit 1990 mit Projekten in Brasilien aktiv. Sie arbeitet mit diversen NGOs, mit sozialen Bewegungen, Universitäten und Gewerkschaften zusammen. Ihre Programmarbeit widmet sich schwerpunktmäßig den Achsen Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung (). Die Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS) unterhält seit 1992 ein Projektbüro in São Paulo. Im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten steht die Zusammenarbeit mit den brasilianischen Liberalen. Die zentralen Themen der Projektarbeit 2012– 2015 lauten Freiheit und Fortschritt, Freiheit und Religion sowie Freiheit und Partizipation (). Seit 2003 ist auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in Brasilien vertreten. Das Regionalbüro in São Paulo koordiniert die Aktivitäten der Stiftung in Brasilien und im Cono Sul; es fördert zivilgesellschaftliche Organisationen und koordiniert eigene Veranstaltungen, Workshops, Publikationen und Ausstellungen. Zentrales Ziel der Arbeit ist die Unterstützung politischer Akteure, die sich für demokratische Partizipa­ tion und soziale Gerechtigkeit einsetzen (). 2 Siehe zu diesem Thema die Informationen auf der Website des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (5.7.2013) sowie Stamm 2006 und Scholl/Krammenschneider 2010. 3 Zum Brasilienengagement der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) siehe (5.7.2013).

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

287

Die zivilgesellschaftlichen Beziehungen

Deutschland und Brasilien verbindet ein breites Geflecht zivilgesellschaftlicher Beziehungen. Dazu gehören die Aktivitäten der DeutschBrasilianischen Gesellschaft, der kirchlichen Hilfswerke sowie der zahlreichen Solidaritätsgruppen, die sich mit Brasilien auseinandersetzen und in Deutschland über Brasilien informieren. Die seit 1960 bestehende Deutsch-Brasilianische Gesellschaft (DBG) ist eine private, gemeinnützige und überparteiliche Einrichtung. Sie führt Kultur- und Informationsveranstaltungen sowie Sprachkurse durch und gibt seit 1995 mehrmals jährlich die Zeitschrift Tópicos heraus, die mit aktuellen Beiträgen zu politischen, kulturellen, wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen und ökologischen Themen ein breites Spektrum von Brasilieninteressierten in Deutschland ansprechen will (). Die lateinamerikanische “Theologie der Befreiung” und nicht zuletzt brasilianische Theologen wie Dom Hélder Pessoa Câmara, Leonardo Boff und Carlos Alberto Libânio Christo (Frei Betto) stießen seit Ende der 1960er Jahre auch in Deutschland auf großes Interesse. Daraus entwickelten sich im Laufe der Zeit aktive Beziehungen zwischen vielen kirchlichen Gemeinden in Deutschland und Brasilien. Die kirchlichen Hilfswerke sind mit Entwicklungsprojekten in Brasilien aktiv. Das “Bischöfliche Hilfswerk Misereor” der katholischen Kirche unterstützt in Recife, Caruaru und weiteren brasilianischen Großstädten Programme mit Straßenkindern. Andere Projekte dienen der Verbreitung klimagerechter Landwirtschaftsmethoden und der Unterstützung von brasilianischen Organisationen wie der “Bischöflichen Kommission für Landpastoral” (CPT) oder der “Bewegung der landlosen Bauern” (MST). Die evangelische Aktion “Brot für die Welt” fördert in Brasilien vor allem Programme in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährung und Friedenssicherung. Neben der Projektarbeit ist die entwicklungspolitische Lobbyarbeit in Deutschland und Brasilien ein Schwerpunkt der Aktivitäten der kirchlichen Organisationen, die sich in diesem Zusammenhang auch immer wieder mit Forderungen an die Regierungen der beiden Länder gewandt haben. Auch Solidaritätsaktionen mit brasilianischen Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten sind durch die kirchlichen Hilfswerke unterstützt worden. Seit den 1970er Jahren entwickelte sich in Deutschland eine breite zivilgesellschaftliche Solidaritätsarbeit mit Brasilien. Bis zum Ende der Militärherrschaft galten die Aktivitäten der entsprechenden Gruppen vor allem

288

Peter Birle

dem Kampf für eine Demokratisierung des Landes. Nach der Rückkehr zur Demokratie richtete sich das Augenmerk dann verstärkt dem Kampf gegen soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Zur Solidaritätsbewegung gehören sehr unterschiedliche Organisationen, beispielsweise kirchliche Gruppierungen, gemeinnützige Vereine, Netzwerke, Arbeitsgruppen aus Schulen und Universitäten, gewerkschaftliche Arbeitskreise, politische Verbände und entwicklungspolitische Organisationen. Diese Gruppen setzen sich in Deutschland für brasilianische Basisbewegungen und für die Demokratisierung und nachhaltige Verbesserung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Lebensbedingungen in Brasilien ein. Etwa 40 Gruppen und eine gleich große Zahl von Einzelpersonen schlossen sich 1989 zum Netzwerk “Kooperation Brasilien” (KoBra) zusammen. Die Mitglieder von KoBra leisten Öffentlichkeitsarbeit, bemühen sich um politischen Einfluss und unterstützen Projekte in Brasilien. Sie arbeiten mit einer Vielzahl sozialer Bewegungen in Brasilien zusammen. KoBra versteht sich als Sprachrohr und Lobbyinstanz der Brasiliengruppen in Deutschland. Das Netzwerk fördert und unterstützt die Anerkennung und Wahrung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte in Brasilien, insbesondere benachteiligter Gruppen, die Entwicklung gerechter Beziehungen zwischen den Geschlechtern sowie den Kulturaustausch und die interkulturelle Arbeit. KoBra publiziert in unregelmäßigen Abständen thematische Reader und bringt zehnmal jährlich die Zeitschrift Brasilicum mit aktuellen Nachrichten aus Brasilien zu Politik, Wirtschaft und Umwelt heraus (). Die Zivilgesellschaften Deutschlands und Brasiliens sind vielfältig und alles andere als homogen. Auch die bilateralen Beziehungen zwischen den entsprechenden Akteuren in beiden Ländern sind sehr vielschichtig. Punktuell kommt es zwischen den verschiedenen Akteuren auf deutscher Seite – dem DBG, den politischen Stiftungen, kirchlichen Hilfswerken und Solidaritätsgruppen – immer wieder zu gemeinsamen Aktionen. Es gibt allerdings auch Konflikte und Widersprüche, die unter anderem auf unterschiedlichen politischen und ideologischen Vorstellungen und den daraus resultierenden Einschätzungen der Entwicklungen in Brasilien basieren. Diese pluralistische Vielfalt verbietet es einzelnen Akteuren, einen Monopolanspruch auf die Repräsentation der Zivilgesellschaft oder des zivilgesellschaftlichen Dialogs zwischen beiden Ländern zu erheben. Gerade dies macht aber auch den Reichtum der zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien aus.

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen

289

Fazit

Wenn in den deutschen Medien die Rede von Brasilien ist, stehen oft die Themen Fußball, Samba, Karneval, Traumstrände und tropischer Regenwald im Vordergrund. All dies gehört zu Brasilien und es ist nicht weiter verwunderlich, dass für zahlreiche Deutsche, die Brasilien vor allem als Urlaubsland betrachten, derartige Aspekte im Vordergrund stehen. Die deutsch-brasilianischen Beziehungen jedoch sind weit mehr als das. Sie zeichnen sich durch eine große Dichte und Vielfalt sowie durch die Beteiligung zahlreicher staatlicher und nichtstaatlicher Akteure aus. In vielen Bereichen bestehen weiterhin historisch überkommene Asymmetrien, aber es zeichnen sich auch Tendenzen ab, die für die Zukunft zumindest teilweise eine stärkere Gleichgerichtetheit der wechselseitigen Austauschund Transferprozesse erwarten lassen.

Literaturverzeichnis Aktionsplan der deutsch-brasilianischen strategischen Partnerschaft (2008). Online zugänglich unter (3.7.2013). Althoff, Gabriele (2010): “Wissenschaftliche Kooperation und akademischer Austausch”. In: Costa et al., 684–699. Auswärtiges Amt (2010): Deutschland, Lateinamerika und die Karibik: Konzept der Bundesregierung. Berlin: Auswärtiges Amt. — (2012): Globalisierung gestalten – Partnerschaften ausbauen – Verantwortung teilen. Konzept der Bundesregierung. Berlin: Auswärtiges Amt. Alzamora, Geane (Hg.) (2008): Kulturdialoge Brasilien - Deutschland: Design, Film, Literatur, Medien. Berlin: Ed. Tranvía. Bader, Wolfgang (Hg.) (2010): Deutsch-brasilianische Kulturbeziehungen: Bestandsaufnahme, Herausforderungen, Perspektiven. Frankfurt am Main: Vervuert. Boeckh, Andreas (2006): “Der ‘aufstrebende Gigant’ und die Bundesrepublik Deut­ schland: Zum Stellenwert der deutsch-brasilianischen Beziehungen”. In: Martius-Staden-Jahrbuch, 53, 239–260. Boeckh, Andreas/Sevilla, Rafael (Hg.) (1997): Bestandsaufnahme und Perspektiven der deutschbrasilianischen Beziehungen. Frankfurt am Main: TFM. Brandão Osorio, Luiz Felipe (2011): “O sentido estratégico das relações bilaterais Brasil-­ Alemanha”. Dissertação de Mestrado apresentada ao Programa de Pós-Graduação em Economia Política Internacional. Universidade Federal do Rio de Janeiro.

290

Peter Birle

Bundesverband der Deutschen Industrie (2012): BDI Brazil Board. Ziele. Themen. Mitglieder. Berlin: BDI. Costa, Sérgio/Kohlhepp, Gerd/Nitschack, Horst/Sangmeister, Hartmut (Hg.) (2010): Brasilien heute. Geographischer Raum · Politik · Wirtschaft · Kultur. 2. vollständig neu bearbeitete Auflage. Frankfurt am Main: Vervuert. Dantas, Marcelo (2010): “Kultur und auswärtige Kulturpolitik in Brasilien”. In: Bader, 333 –337. Dungen, Johannes von (2010): Vom Freund zum Partner. Die deutsch-brasilianischen Kulturbeziehungen im Wandel. Stuttgart: ifa. Gate Germany (2009): Länderprofile. Analysen – Erfahrungen – Trends. Edition Brasilien. Bonn: DAAD. Germany Trade & Invest (2013): Wirtschaftsdaten kompakt: Brasilien. Bonn. (3.7.2013). Göbel, Barbara/Birle, Peter/Specht, Johannes (2009): Wirtschafts-, sozial- und geisteswissen­ schaftliche Lateinamerikaforschung in Deutschland. Situation und Perspektiven. Berlin: Ibero­ Amerikanisches Institut. Pinheiro Guimarães, Samuel (Hg.) (2000): Alemanha: visões brasileiras. Brasília: Instituto de Pesquisa de Relações Internacionais/Fundação Alexandre de Gusmão. Lohbauer, Christian (2000): Brasil - Alemanha: 1964 – 1999. Fases de uma parceria. São Paulo: Konrad-Adenauer-Stiftung. Menezes, Albene/Kothe, Mercedes (1997): Brasil e Alemanha: 1827 - 1997: Perspectivas Históricas. Brasília: Thesaurus. Moniz Bandeira, Luiz Alberto (1995): Das deutsche Wirtschaftswunder und die Entwicklung Brasiliens: die Beziehungen Deutschlands zu Brasilien und Lateinamerika (1949 - 1994). Übersetzt von Marie-Louise Sangmeister-Plehn. Frankfurt am Main: Vervuert. Moniz Bandeira, Luiz Alberto/Pinheiro Guimarães, Samuel (Hg.) (1995): Brasil e Alemanha: a construção do futuro. Brasília: Instituto de Pesquisa em Relações Internacionais, Fundação Alexandre de Gusmão. Rödl & Partner (2012): Perspektiven verbessern. Going Global. Der deutsche Mittelstand in Brasilien 2012. Nürnberg. Sangmeister, Hartmut/Schönstedt, Alexa (2010): “Die brasilianisch-deutschen Wirt­ schaftsbeziehungen. Aus Tradition in die Zukunft: Solide Geschäfte zwischen ungleichen Partnern”. In: Costa et al., 656–667. Scholl, Johannes/Krammenschneider, Ulrich (2010): “Deutsche Entwicklungszusammen­ arbeit mit Brasilien”. In: Costa et al., 669–682. Stamm, Andreas (2006): Entwicklungszusammenarbeit im Gesamtkontext der Deutsch-Brasiliani­ schen Kooperation. Eine Portfolioanalyse. Discussion Paper 19. Bonn: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik. Vargas, Everton Vieira (2011): “Brasil-Alemanha: uma parceria para ousar”. In: Valor Econômico (19. September). Vaz, Alcides Costa (1999): “Parcerias estratégicas no contexto da política exterior brasileira: implicações para o Mercosul.” In: Revista Brasileira de Política Internacional, 42, 2, 52–80.

Chronologie zur Geschichte Brasiliens 1494

Mit dem Vertrag von Tordesillas fällt das Territorium des späteren Brasilien in die portugiesische Einflusssphäre.

1500

‘Entdeckung’ Brasiliens durch den Seefahrer Pedro Álvares Cabral und Inbesitznahme für die portugiesische Krone. Für mehr als dreihundert Jahre wird das Land zur portugiesi­ schen Kolonie.

1538

Beginn der Einfuhr afrikanischer Sklaven.

1808

Der portugiesische Königshof flieht vor Napoleonischen Truppen aus Lissabon in die neue Hauptstadt Rio de Janeiro.

1815

Brasilien erlangt die Stellung eines Königreichs; Gleichstel­ lung mit dem Mutterland Portugal.

1822

Grito do Ipiranga: Ausrufung der Unabhängigkeit Brasiliens durch Dom Pedro I., Sohn des portugiesischen Königs João VI.

1822

Proklamation von Pedro I. zum Kaiser von Brasilien.

1840 –89

Regierungszeit des Kaisers Dom Pedro II.

1888

Aufhebung der Sklaverei.

1889

Abschaffung der Monarchie, Ausrufung der Föderativen Re­ publik Brasilien.

1930

Staatsstreich und Machtübernahme durch Getúlio Vargas; Ende der “Alten Republik”.

1937

Vargas schafft den autoritär-korporatistischen “Neuen Staat” (Estado Novo); neue Verfassung mit diktatorischen Vollmach­ ten.

1945

Absetzung von Präsident Vargas durch Staatsstreich des Mi­ litärs.

1946 –51

Präsidentschaft von General Eurico Gaspar Dutra.

1951–54

2. Präsidentschaft von Getúlio Vargas.

292

Chronologie zur Geschichte Brasiliens

1956 – 61

Regierung Kubitschek; forcierte Industrialisierung.

1960

Verlegung der Hauptstadt von Rio de Janeiro in das planmä­ ßig errichtete Brasília.

1961

Präsident Jânio Quadros tritt nach 7 Monaten im Amt zu­ rück. Sein Nachfolger João Goulart leitet Strukturreformen ein, die zu wachsender gesellschaftlicher Polarisierung füh­ ren. Am 1. April 1964 wird Goulart von den Streitkräften abgesetzt.

1964 –85

Militärdiktatur.

1968

Mit dem unter Präsident Costa e Silva erlassenen Institu­ tionellen Akt Nummer 5 (AI-5) wird die Arbeit des Parla­ ments eingestellt, der Präsident erhält außergewöhnliche Rechte, die politischen Bürgerrechte werden aufgehoben.

1974 –79

Während der Präsidentschaft von General Ernesto Geisel beginnt eine langsame politische Öffnung des Regimes.

1975

Deutsch-Brasilianisches Nuklearabkommen.

1978

Streikwelle in São Paulo: Entstehung unabhängiger Gewerk­ schaften.

1979 –85

Während der Präsidentschaft von General Figueiredo be­ ginnt die Öffnung zur Demokratie.

1979

Die Streitkräfte erlassen ein Amnestiegesetz, mit dem alle politischen Verbrechen, die zwischen 1961 und 1979 von Widerstandskämpfern und von Mitgliedern der Streitkräfte begangen wurden, von der Strafverfolgung ausgenommen werden.

1983 –84

Landesweite Kampagne zahlreicher zivilgesellschaftlicher Gruppen für Direktwahlen des Präsidenten.

1985

Re-Demokratisierung: Tancredo Neves wird von Wahlmän­ nern zum Präsidenten gewählt. Er stirbt jedoch noch vor Amtsantritt infolge einer schweren Erkrankung. Nachfolger und damit Präsident der “Neuen Republik” wird verfas­ sungsgemäß Vizepräsident José Sarney (bis 1990).

1988

Verkündung einer neuen Verfassung.

Chronologie zur Geschichte Brasiliens

293

1989

Die Stadt Porto Alegre führt eine partizipative Budgetpla­ nung ein, die zum weltweiten Vorbild für kommunalpoliti­ sche Reformen wird.

1990 –92

Präsidentschaft von Fernando Collor de Mello.

1991

Unterzeichnung der MERCOSUL-Verträge mit Argenti­ nien, Paraguay und Uruguay zur Gründung eines gemeinsa­ men Marktes.

1992

Amtsenthebung von Präsident Collor de Mello durch das Parlament aufgrund von Korruptionsvorwürfen.

1992–94

Vize-Präsident Itamar Franco wird Nachfolger von Collor.

1994

Währungsreform. Einführung des Real. Erfolgreicher wirt­ schaftlicher Stabilisierungsplan (Plano Real) unter Finanzmi­ nister Cardoso.

1995– 98

Erste Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso.

1997

Verfassungsänderung: Ermöglichung einer Wiederwahl des Präsidenten.

1999 –2002 Zweite Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso. 2000

Auf Einladung von Präsident Cardoso findet in Brasília das Erste Gipfeltreffen der Südamerikanischen Präsidenten statt.

2001

Mit dem Schulstipendium Bolsa Escola und dem Ernährungs­ stipendium Bolsa Alimentação setzt die Regierung Cardoso er­ ste konditionierte Sozialprogramme auf föderaler Ebene in Kraft.

2001

Der Chefvolkswirt der Großbank Goldman Sachs prägt den Ausdruck BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) für vier aufstrebende Volkswirtschaften, deren globales Ge­ wicht weiter zunehmen wird.

2003 – 06

Erste Präsidentschaft des Vorsitzenden der Arbeiterpartei, Luiz Inácio Lula da Silva.

2003

Fome Zero (Null Hunger): Programm zur Bekämpfung von Hunger und extremer Armut. Zentraler Bestandteil ist das konditionierte Finanztransferprogramm Bolsa Família, das

294

Chronologie zur Geschichte Brasiliens

Millionen von Armen Unterstützung zukommen lässt (2011 mehr als 13 Mio. Haushalte). 2003

Brasilien übernimmt das militärische Kommando der Frie­ densmission der Vereinten Nationen (MINUSTAH) in Haiti.

2003

Indien, Brasilien und Südafrika gründen das IBSA-Dialog­ forum als außenpolitischen Konsultationsmechanismus. Die maßgeblich von Brasilien getragene Entwicklungs- und Schwellenländerkoalition G20+ sorgt für das Scheitern der Welthandelskonferenz in Cancún.

2004

Korruptionsvorwürfe (Mensalão) gegen die Regierungspartei.

2005

Der Stabschef des Präsidenten, der Schatzmeister, der Ge­ neralsekretär und der Parteivorsitzende der PT treten infolge von Korruptionsvorwürfen zurück.

2007–10

Zweite Präsidentschaft von Luiz Inácio Lula da Silva.

2007

Brasilien und die Europäische Union unterzeichnen ein Ab­ kommen über eine Strategische Partnerschaft.

2007

Als Reaktion auf die als “respektlos” empfundene Preispo­ litik eines Farma-Multis bricht Brasilien erstmals das Patent eines Anti-Aids-Medikaments, um HIV-Patienten angemes­ sen versorgen zu können.

2008

Unterzeichnung des Gründungsvertrages für die aufgrund einer brasilianischen Initiative entstandene Union Südameri­ kanischer Nationen (UNASUL) in Brasília.

2008

Die internationale Finanzkrise trifft auch die brasilianische Wirtschaft, das Land erholt sich jedoch rascher als viele an­ dere Länder.

2009

Brasilien verpflichtet sich dazu, seine Emissionen bis 2020 um 36 –39 % gegenüber dem “Business as usual”-Szenario zu reduzieren.

2010 Das Ficha Limpa Gesetz untersagt die Kandidatur von Po­ litikern, die in zweiter Instanz wegen Korruption verurteilt wurden.

Chronologie zur Geschichte Brasiliens

295

2011

Am 1. Januar übernimmt Dilma Rousseff als erste Frau die Präsidentschaft des Landes.

2011

Die Regierung lanciert das Sozialprogramm “Brasilien ohne Armut”, mit dem bis 2014 die extreme Armut im Land eli­ miniert werden soll.

2011

Die Regierung lanciert den Plano Brasil Maior, durch den die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes verbessert werden soll.

2011

26 Jahre nach dem Ende des Militärregimes nimmt eine Wahrheitskommission ihre Arbeit auf, die bis 2014 die Men­ schenrechtsverletzungen während der Diktatur untersuchen soll.

2012

Eine 2011 vom Nationalkongress eingesetzte Kommission unterbreitet zahlreiche Vorschläge für politische Reformen (Wahl- und Parteienfinanzierung, innerparteiliche Demokra­ tie, etc.).

2012

Einführung einer Zulassungsquote für Afrobrasilianer und Indigene an den staatlichen Universitäten. Innerhalb von 4 Jahren müssen 50 % der Studienplätze an diese Gruppen, die rund die Hälfte der Bevölkerung stellen, zugeteilt werden.

2012

Im Mensalão-Prozess, dem größten gerichtlich verhandelten Korruptionsskandal in der Geschichte des Landes, werden mehrere ehemalige Mitglieder der PT-Regierung zu hohen Haftstrafen verurteilt.

2013 –14

Unter dem Motto “Wo Ideen sich verbinden” wollen Deutschland und Brasilien die bilateralen Beziehungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur nachhaltig ausbauen.

2013

Während des Confederations Cup kommt es zu landesweiten Massenprotesten gegen Korruption und soziale Missstände.

2013

Brasilien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse.

2014

Brasilien ist Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft.

2016

Als erste Stadt in Südamerika ist Rio de Janeiro Austragungs­ ort der Olympischen Spiele.

Autorinnen und Autoren

Peter Birle, Dr., Politikwissenschaftler, Leiter der Forschungsabteilung des Ibero-Amerikanischen Instituts, Berlin. ; E-Mail: [email protected] Martin Coy, Prof. Dr., Lehrstuhl für Angewandte Geographie und Nachhaltigkeitsforschung, Institut für Geographie, Universität Innsbruck. ; E-Mail: [email protected] Susanne Klengel, Prof. Dr., Professorin für Literaturen und Kulturen Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. ; E-Mail: [email protected] Frank Stephan Kohl, Dr. des., Kulturwissenschaftler und Fotohistoriker, Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter im Referat Nachlässe und Sondersammlungen des Ibero-Amerikanischen Instituts, Berlin. ; E-Mail: [email protected] Joachim Michael, Dr., Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Universität Hamburg. ; E-Mail: [email protected] Horst Nitschack, Prof. Dr., Coordinador del Programa de Doctorado en “Estudios Latinoamericanos”, Centro de Estudios Culturales Latinoamericanos, Universidad de Chile, Santiago de Chile. ; E-Mail: [email protected] Jacqueline Maria Radtke, Soziologin. E-Mail [email protected]

298

Autorinnen und Autoren

Hartmut Sangmeister, Prof. Dr., Präsident der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur (HWTK) Berlin. ; E-Mail: [email protected] Cornelius Schlicke, Dr., Musikwissenschaftler. E-Mail: [email protected] Bruno Wilhelm Speck, Prof. Dr., Universidade Estadual de Campinas, Instituto de Filosofia e Ciências Humanas. ; E-Mail: [email protected] Marcel Vejmelka, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abteilung Spanisch/Portugiesisch, Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Germersheim. ; E-Mail: [email protected] Georg Wink, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am LateinamerikaInstitut der Freien Universität Berlin im Bereich Literaturen und Kulturen Lateinamerikas. ; E-Mail: [email protected] Claudia Zilla, Dr., Politikwissenschaftlerin, Leiterin der Forschungsgruppe Amerika, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin. ; E-Mail: [email protected]

Iberoamericana / Vervuert Verlag Brasilien BADER, Wolfgang (Hg.): Deutsch-brasilianische Kulturbeziehungen. Bestandsaufnahme, Herausforderungen, Perspektiven. 2010, 352 S. (Bibliotheca Ibero-Americana, 133) ISBN 9783865275820 * Experten und Protagonisten thematisieren interdisziplinär alle wichtigen Felder der kulturellen Sphäre, um daraus eine Bestandsaufnahme der aktuellen deutsch-brasilianischen Kulturbeziehungen sowie Perspektiven zu erarbeiten. BIRLE, Peter; COSTA, Sérgio; NITSCHACK, Horst (Hg.): Brazil and the Americas. Convergences and Perspectives. 2008, 237 S. (Bibliotheca Ibero-Americana, 120) ISBN 9788484893752 * A view from outside Brazil that seeks to understand how Brazilian society is responding to the processes of global integration. Also documents the plurality of ways that social actors and analysts interpret the transformations. COSTA, Sérgio; KOHLHEPP, Gerd; NITSCHACK, Horst; SANGMEISTER, Hartmut (Hrsg.): Brasilien heute. Geographischer Raum, Politik, Wirtschaft, Kultur. 2010, 792 S. (Bibliotheca Ibero-Americana, 134) ISBN 9783865275905 * Die zweite vollständig neu überarbeitete Auflage des Standardwerks stellt die vielfältigen Aspekte der brasilianischen Wirklichkeit umfassend vor und bietet Einblicke in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur. ECKL, Marlen: "Das Paradies ist überall verloren". Das Brasilienbild von Flüchtlingen des Nationalsozialismus. 2010, 586 S. (Editionen der Iberoamericana, A, 47) ISBN 9783865275790 * Anhand des Brasilienbildes in Werken von bisher unbeachtet gebliebenen Autoren, gibt das Buch erstmals einen über Stefan Zweig hinausgehenden Einblick in das Brasilien der 30er/40er Jahre und das dortige deutschsprachige Exil. KLENGEL, Susanne; QUANDT, Christiane; SCHULZE, Peter W.; WINK, Georg (Hg.): Novas vozes. Zur brasilianischen Literatur im 21. Jahrhundert. 2013, 368 S. (Bibliotheca Ibero-Americana, 153) ISBN 9783865277923 * Nach einem Überblick über die zeitgenössische brasilianische Literatur wird in Einzelstudien das weite Feld der brasilianischen Gegenwartsliteratur sondiert, ohne dabei wertende Grenzziehungen oder eine Kanonisierung vorzunehmen. MERRELL, Floyd: Capoeira and Candomblé. Conformity and Resistance through Afro-Brazilian Experience. 2005, 318 S. ISBN 9788484891789 * This study involves the author's practice of and reflection on the arts of Capoeira and Candomblé and culminates in the idea of an "other logic", interrelating it with the topics of post-colonial and diaspora studies. PREUSS, Ori: Bridging the Island: Brazilians' Views of Spanish America and Themselves, 1865-1912. 2011, 240 p. (Tiempo Emulado. Historia de América y España, 12) ISBN 9788484894810 * Explores the interplay between Brazilian interpretations of the national Self and the Spanish-American Other during the critical years spanning the demise of slavery and monarchy. SANTOS, Lidia: Kitsch Tropical. Los medios en la literatura y el arte de América Latina. Premiado por LASA como "Mejor libro sobre Brasil en perspectiva comparada" 2004. 2ª ed., 262 S. (Nexos y Diferencias. Estudios de la Cultura de América Latina, 2) ISBN 9788484891185 * Este estudio enseña cómo la utilización "camp" de lo "kitsch" y lo cursi (folletines y novelas rosas, radio y telenovelas, tango y bolero, o el cine norteamericano de los años 40 y 50) ha servido para sobrepasar al realismo.

Das Ibero-Amerikanische Institut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin verfügt über ein vielfältiges Publikationsprogramm in deutscher, spanischer, portugiesischer und englischer Sprache, das sich aus mehreren Quellen speist: der institutseigenen Forschungstätigkeit, am IAI durchgeführten Tagungen und Symposien, Kooperationsprojekten mit in- und ausländischen Forschungseinrichtungen sowie hervorragenden Arbeiten einzelner Wissenschaftler/innen. In der seit 1959 existierenden Schriftenreihe "Bibliotheca Ibero-Americana" werden Monographien und Sammelbände zu Literatur, Kultur und Sprache, Geschichte, Wirtschaft und Politik Lateinamerikas, der Karibik, Spaniens und Portugals veröffentlicht. Frühere Bände: 150. Literatura de la Independencia, independencia de la literatura. Katja Carrillo Zeiter / Monika Wehrheim (eds.), 2013. 149. Democracia y reconfiguraciones contemporáneas del derecho en América Latina. Stefanie Kron / Sérgio Costa / Marianne Braig (eds.), 2012. 148. Cultura, sociedad y democracia en América Latina. Aportes para un debate interdisciplinario. Klaus Bodemer (coord.), 2012. 147. Múltiples identidades. Literatura judeo-latinoamericana de los siglos XX y XXI. Verena Dolle (ed.), 2012. 146. Ideas viajeras y sus objetos: El intercambio científico entre Alemania y América austral. Gloria B. Chicote / Barbara Göbel (eds.), 2011. 145. Culturas políticas en la región andina. Christian Büschges / Olaf Kaltmeier / Sebastian Thies (eds.), 2011. 144. "Una estirpe, una lengua y un destino". Das Sprachideal der Academias de la Lengua Española (1950-1998). Kirsten Süselbeck, 2011. 143. Escribir después de la dictadura. La producción literaria y cultural en las posdictaduras de Europa e Hispanoamérica. Janett Reinstädler (ed.), 2011. 142. La expresión metaperiférica: narrativa ecuatoriana del siglo XX. José de la Cuadra, Jorge Icaza y Pablo Palacio. Fernando Nina, 2011. 141. El viaje y la percepción del otro: viajeros por la Península Ibérica y sus descripciones (siglos XVIII y XIX). Ricarda Musser (ed.), 2011. 140. Venezuela heute. Politik-Wirtschaft-Kultur. Andreas Boeckh / Friedrich Welsch / Nikolaus Werz (Hrsg.), 2011. 139. Die Erfindung einer Nationalliteratur. Literaturgeschichten Argentiniens und Chiles (1860-1920). Carrillo Zeiter, Katja, 2011.

Mehr Information: http://www.iai.spk-berlin.de/publikationen.html