Blätter aus meinem Skizzenbuch: Gesammelte kleine Erzählungen [2., verm. Aufl., Reprint 2021]
 9783112455524, 9783112455517

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Blätter aus meinem Gkizzenbuch

Gesammelte kleine Erzählungen von

Dr. E. Budde, "Verfasser von „lTlaturwissenschaftliche Plaudereien", „Erfahrungen eines Hadschi" u. s. w.

Zweite vermehrte Auflage

Berlin

Verlag von Georg Reimer 1902

Inhalt v Seite

Mannuckerle und Mannickerle 2. Lin 6ottopferdchen..................................

\ . .

3. Nemesis......................................................

26

4. Joachim......................................................

34

5. Rronekrane

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43

6. Edelweiß......................................................

52

60

7. Die Erzählung des Irrenhäuslers 8. Philosophie des Unbewußten

9. Idyll to. Auch einer

8l - . .

89 joi

U. Ein Glück

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\2. Das Antlitz der That

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\3. Obeid's Werbung

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14. Zwischen Becher und Lippe

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Mannuckerle und Mannickerle. Sie waren zusammen etwa zwei Jahre alt, beide rund, beide dick, und beide liefen auf allen vieren, aber nur einer aus Beruf; denn Mannuckerle war ein kleiner Mensch und Man­ nickerle ein kleiner Hund. Sie gehörten meinem Nachbar, dem Professor, und vom Fenster meines Arbeitszimmers aus, welches auf seinen Garten ging, hatte ich sie auftauchen und anwachsen sehen. Erst erschien Mannuckerle als weißes Bündel auf weiblichen Armen, oder als schlafendes Fleischklümpchen hinter den blauen Vorhängen feines Wagens; nach etwa einem Jahre kam Mannickerle dazu, als gelbliches Wollknäuel, das sich auf vier Stummelfüßen plump und ver­ gnüglich tummelte. Der Papa förderte ihr Zusammenleben auf jede weise; er sagte „unsere Kleinen", wenn er von ihnen sprach; die junge Frau war im Anfang innerlich empört darüber, daß ihr Goldkind mit dem Hund auf gleichem Fuß benamst und behandelt werden sollte, aber was konnte sie machen? Der Professor hatte Budde, Skizzenbuch.

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Mannuckerle und Mannickerle.

seine eigene, gutmütig ironische Art, seine Auf­ fassung durchzusetzen, und es blieb dabei: wie sie ihren Jungen Mannuckerle, so taufte er seinen Hund Mannickerle. Und den beiden Kleinen war es recht; sie hielten treulich zu­ sammen von den ersten Tagen ihrer Bekannt­ schaft an. Trug eine Frau den Knaben auf dem Arm, so konnte man sicher sein, daß Mannickerle an ihrem Kleide zerrend sich mitschleifen ließ, und wurde der Hund aus Gründen der Sicher­ heit oder der Bequemlichkeit in die Küche gesperrt, so stimmte Mannuckerle kräftigst in das Geheul seines Freundes ein, bis beide wieder vereinigt waren. Sie teilten miteinander, was sie hatten; Mannickerle bekam seine Prozente, wenn sein Freund ein Biskuit aß, und er zeigte sich seiner­ seits erkenntlich; einmal brachte er zwei Kotelette­ knochen, die er — der Himmel weiß wo — ergattert hatte, und trug sie getreulich auf den Teppich, wo sein Bundesbruder auf ihn wartete; dieser nahm den einen, er selber den andern und beide waren fröhlich am nagen, als die Frau vom Hause dazu kam — ich höre noch den mütter­ lichen Schreckensschrei und Mannuckerles Protest gegen die nachfolgende Mundwaschung. Ls war schöner, warmer Sommer. Der Professor kam mit Tinte und Papier, setzte sich an den Tisch unter der dicht belaubten Kastanie, nahm behaglich einige Züge der Morgenluft und

Mannuckerle und Mannickerle.

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zündete sich eine Ligarre an; dann öffnete er seine Mappe, verglich Notizen und begann zu schreiben. Nicht lange, so erschien auch seine Stau, ihren Sohn auf dem Arme, Mannickerle, wie üblich, hintendrein. „Bernhard," sagte sie, „du weißt, ich störe dich nicht gern, wenn's nicht unbedingt nötig ist. Aber heute ist's nötig, ich habe das Mädchen ausschicken müssen, die Babett muß kochen, ich selbst muß nach den Zimmern sehen, also spare dir von Zeit zu Zeit ein wenig Aufmerksamkeit ab und gieb acht, daß die beiden sich nicht um­ bringen; in einer halben Stunde wirst du befreit." „Gut," sagte er, „setze das Wurm dort vor das Rosenbeet; das schlimmste, was ihm begegnen kann, ist, daß er sich in die Finger sticht, und wenn er das thut, wird er schon Lärm machen." Sie warf einen mitleidigen Blick auf die Fingerchen ihres Lieblings und einen zweiten gen Himmel: „Zeus, du hörst den Barbaren!" „Hm," lächelte er, „Zeus weiß auch, daß kleine Jungen das Institut der Brennesseln und Stacheln aus persönlicher Erfahrung kennen lernen müssen. Setze ihn nur dahin; dort kann er nicht fallen, und ich kann ihn überwachen, ohne mehr als einen Blick von meiner Arbeit abzuziehen." Sie that's und sprang fort. Ich schaute noch einmal nach dem Papa und sah, daß er ohne Aufenthalt wieder vollständig in seine Beschäftigung 2*

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Mannuckerle und Mannickerle.

versunken war; er merkte nicht einmal, daß eine große, grüne Raupe sich angestrengt bemühte, an seinem Tintenfaß in die Höhe zu klettern.