Blitzkrieg-Legende: Der Westfeldzug 1940 [5. Aufl.] 9783110745078, 9783110739473

Das Standardwerk in 5. Auflage! Hitler’s rapid triumph over the Allies was not planned as a “Blitzkrieg.” The German l

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Blitzkrieg-Legende: Der Westfeldzug 1940 [5. Aufl.]
 9783110745078, 9783110739473

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Vorwort des Verfassers zur 5. Auflage
Einleitung. Das »Wunder von 1940«
Erster Teil. Der »Blitzkrieg«. Wort und Begriff
Zweiter Teil. »Blitzkrieg« ohne »Blitzkrieg«-Konzept. Zur Vorgeschichte des Westfeldzuges
Dritter Teil. Das Ringen um den »Sichelschnitt-Plan«
Vierter Teil. Die Ardennenoffensive von 1940
Fünfter Teil. Die Entscheidungsschlacht: Der Durchbruch des Panzerkorps Guderian bei Sedan
Sechster Teil. Der Zusammenbruch der Maasfront
Siebter Teil. Der Vorstoß zur Kanalküste und das Problem der »offenen Flanke«
Achter Teil. Das »Wunder von Dünkirchen«
Neunter Teil. Das Ende des Westfeldzuges
Zehnter Teil. Ursachen für Sieg und Niederlage
Zusammenfassung
Epilog: Der Wahn vom »Weltblitzkrieg«
Abkürzungen
Quellen und Literatur
Personenregister
Fotonachweis

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Frieser · Blitzkrieg-Legende

Blitzkrieg-Legende Der Westfeldzug 1940

Von Karl-Heinz Frieser

Fünfte Auflage

Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

ISBN 978-3-11-073947-3 E-ISBN (PDF) 978-3-11-074507-8 Library of Congress Control Number: 2021940732 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Redaktion: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), Fachbereich Publikationen (0500-05) Kartenskizzen: Ulf Balke, Zeichenstelle und Kartenstelle des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes / ZMSBw Potsdam Umschlagabbildung: Szene aus dem Film »Sieg im Westen«, 1941. Ein Panzer II fährt zum Angriff an einem Maschinengewehrschützen mit MG 34 vorbei. (SZ Photo / Süddeutsche Zeitung Photo) Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Freiburg i. Br. / ZMSBw Potsdam Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort ...................................................................................................................... XI Vorwort des Verfassers zur 5. Auflage .................................................................... XII

VI

Inhalt

III. Der »Drehtür-Effekt« beim Schlieffenplan und »Sichelschnitt-Plan« ........

95

1. Schlieffenplan und Joffreplan im Jahre 1914 (95) · 2. »Sichelschnitt-Plan« und DylePlan im Jahre 1940 (100) · 3. Der Dyle-Breda-Plan: Gamelin in der Rolle des Terentius Varro (106)

IV. Die Opposition innerhalb der deutschen Generalität gegen den »SichelschnittPlan« ............................................................................................................ V. Schlußbetrachtung: Der »Sichelschnitt« - ein Vabanquespiel ..................

Vierter Teil Die Ardennenoffensive von 1940 I. Die Panzergruppe Kleist: ein umstrittenes operatives Experiment ........... II. Die Bedeutung der Logistik ... ............ ... .... ... ......... .. ..... ... ... ........ ... .... ....... .. III. Die Planung der Offensive: ein vorprogrammiertes Chaos .......................

110 115

117 117 122 125

1. Zuweisung von Marschstraßen (125) · 2. Treffenweiser statt flügelweiser Einsatz (126)

IY. Der Vormarsch durch die Ardennen: eine Beinahe-Katastrophe ..............

129

1. Das Zeitproblem (129) · 2. Das Verkehrsproblem (130)

V. Die Kompensation der operativen Fehler auf taktischer Ebene: das Beispiel der 1. Panzerdivision ..................................................................................

136

1. Der Handstreich auf Martelange (136) · 2. Der unerwartete Widerstand bei Bodange (138) · 3. Das Luftlandeunternehmen »Niwi« und das Problem der »Friktion« (141) · 4. Der Durchbruch durch die französische Verzögerungslinie bei Neufch:iteau (147) · 5. Der Panzervorstoß auf Bouillon (152) · 6. Der Handstreich auf Mouzaive (157) · 7. Der Vorstoß von der Semais zur Maas (158)

VI. Die Ardennenoffensive aus alliierter Perspektive ......................................

162

1. Das französisch-belgisehe Mißverständnis (162) · 2. Der Mythos der »undurchdringlichen« Ardennen (166) · 3. Die Einschätzung der Ardennen in der alliierten Feindaufklärung (168)

Fünfter Teil Die Entscheidungsschlacht: Der Durchbruch des Panzerkorps Guderian bei Sedan ...............................................................................................

173

I. Die sechs fatalen Fehler der französischen Armee bei Sedan ...................

173

1. Die Vernachlässigung des Abschnitts »Sedan« (173) · 2. Die Lücke von Gaulier (179) · 3. Das Fehlen von Minen (180) · 4. Bautruppe statt Kampftruppe (181) · 5. Das Rotationsprinzip (184) · 6. Das Einschieben der 71. Infanteriedivision in die Front (187)

II. Die deutschen Vorbereitungen für den Maasübergang ..............................

187

1. Die Kontroverse zwischen Kleist und Guderian am 12. Mai (187) · 2. Guderians Operationsplan und die Umsetzung (190)

III. Der Maasübergang am 13. Mai .................................................................. 1. Apokalypse über Sedan: Der Massenangriff der Luftwaffe (193) · 2. Der Durchbruch der 1. Panzerdivision (197) · 3. Der Maasübergang der 10. Panzerdivision und die Rolle

193

Inhalt

VII

des Stoßtrupps Rubarth (206) · 4. Das vorläufige Scheitern der 2. Panzerdivision (211) · 5. Der Mythos des »Panzerdurchbruchs« von Sedan (213) · 6. Die Panik von Bulson (216)

IY. Der Vorstoß aus dem Brückenkopf am 14. Mai ........................................

220

1. Die Luftschlacht über Sedan (220) · 2. Der Gegenangriff der Reserve des X. Korps: ein Drama der Verzögerungen (226) · 3. Guderians eigenmächtiger Vorstoß nach Westen (240) · 4. Sedan 1940- Wendepunkt in der Militärgeschichte (243)

Sechster Teil Der Zusammenbruch der Maasfront I. »Colmater et contre-attaquer«. Die operativen Gegenaktionen der Franzosen nach dem Durchbruch bei Sedan ........................................................

247

247

1. Der Versuch eines •operativen« Gegenangriffs durch die 2. Armee (248) · 2. Stonne: das »Verdun von 1940« (256) · 3. Die operativen Auswirkungen des Vorstoßes nach Stonne (266) · 4. Die Abriegelungsversuche im Westen durch die 9. und 6. Armee (267)

II. Der Durchbruch des Panzerkorps Reinhardt bei Montherme - ein Erfolg über das eigene Oberkommando ...............................................................

271

1. Der Übergang über die Maas (271) · 2. Die drohende Auflösung der Panzergruppe Kleist (275) · 3. Die Flucht nach vorn: Der. Vorstoß von Montherme nach Montcornet (276)

III. Der Durchbruch des Panzerkorps Hoth bei Dinant ................................

278

1. Der Vorausangriff auf die Maasbrücken am 12. Mai (280) · 2. Der Maasübergang am 13. Mai (285) · 3. Der Vorstoß aus den Brückenköpfen am 14. Mai (288) · 4. Der Versuch eines französischen Gegenangriffs durch das II. und XL Armeekorps (290) · 5. Die Panzerschlacht bei Flavion (292)

IY. Der Angriff des Panzerkorps Hoepner auf die Dyle-Linie- ein operatives Ablenkungsmanöver ...................................................................................

299

1. Die Panzerschlacht von Hannut (302) · 2. Der Durchbruch durch die Gembloux-Stellung (304)

V. Die Fesselung der französischen Divisionen in der Maginotlinie .............

308

Siebter Teil Der Vorstoß zur Kanalküste und das Problem der »offenen Flanke«

315

I. Hitlers »Halt-Befehl« bei Montcornet und das Ausbleiben des französischen Gegenangriffs ..............................................................................................

315

1. Guderians zeitweilige Ablösung am 17. Mai (316) · 2. Hitlers »Flankenpanik« (319) · 3. Die Gründe für das Ausbleiben des französischen Gegenangriffs (325)

II. Rommels eigenmächtiger Vorstoß bei Avesnes .......................................... III. Der britische Gegenangriff bei Arras: ein taktischer Mißedolg mit ungeahnten operativen Folgen .... .. ..... ... ......... .. ... ........ ....... .. .. ...... ..... ......... .. ...... 1. Das Erreichen der Kanalküste (341) · 2. Die Abwehr des britischen Flankenangriffs durch die 7. Panzerdivision (344) · 3. Der Gegenangriff bei Arras aus alliierter Sicht {348) · 4. Die operativen Auswirkungen des Gegenangriffs bei Arras (358)

331 341

VIII

Inhalt

Achter Teil Das »Wunder von Dünkirchen« I. Die Vorgeschichte des »Halt-Befehls« .........................................................

363 363

1. Der »Aufschließ-Befehl« vom 23. Mai (366) · 2. Rundstedts vorübergehende »Entmachtung« (367)

II. Der »Halt-Befehl« .......................................................................................

368

1. Die Reaktionen der Generale auf den »Halt-Befehl« (370) · 2. Der Versuch einer Abän·

derung des »Halt-Befehls« durch Brauchitsch und Haider (371) · 3. Die Aufhebung des »Halt-Befehls« am 26. Mai (374)

ill. Operation »Dynamo«. Die Evakuierung der Alliierten ............................ IY. Exkurs: Entschied der »Halt-Befehl« von Dünkirchen den Zweiten Weltkrieg? V. Hitlers angebliche Motive für den »Halt-Befehl« ......................................

376 380 382

1. These: Das sumpfige Gelände (382) · 2. These: Schonung der Panzerwaffe (383) · 3. These: Angst vor einem alliierten Flankenangriff (384) · 4. These: Interessenverlagerung auf den zweiten Akt des Feldzugs (384) · 5. These: Unkenntnis über die Zahl der eingekesselten Verbände (385) · 6. These: Kontinentales Denken (385) · 7. These: Alleiniger Einsatz der Luftwaffe (386) · 8. These: Absichtliche Schonung der Engländer (388)

VI. Hitlers wirkliches Motiv: Durchsetzung seines Führungsanspruchs gegenüber der Generalität ...................................................................................

Neunter Teil Das Ende des Westfeldzuges I. Der »Fall Rot« - nur noch ein Epilog ..................................................... II. Der Westfeldzug: eine zahlenmäßige Bilanz ................................ ..............

391

395 395 398

1. »Fall Gelbe (398) · 2. Gesamtbilanz des Westfeldzugs (»Fall Gelb« und »Fall Rot«) (400)

Zehnter Teil Ursachen für Sieg und Niederlage I. Der Zusammenbruch Frankreichs .............................................................

401 401

1. Gesellschaftlich-psychologische Gründe (401) · 2. Militärische Ursachen (404)

II. Der Mythos vom »nationalsozialistischen Blitzkrieg« .............................. III. Das Erfolgsgeheimnis des deutschen »Blitzkrieges«: Die Verbindung traditioneller militärischer Grundsätze mit moderner Technik ..... .......... ........

409 412

1. Strategische Konstante: Die Tradition des »schnellen Krieges« (412) · 2. Die Wiederbele-

bung des operativen Denkens (413) · 3. Das Schwerpunkt-Prinzip (415) · 4. Das Umfassungs-Prinzip (416) · 5. Die Enttabuisierung des Durchbruchs (418) · 6. Der Stoß in die Tiefe und die Überwindung des linearen Denkens (419) · 7. Die traditionellen Führungsgrundsätze (421) · 8. Die Verbindung von Taktik und Technik (424) · 9. Schnelligkeit und Überraschung (431)

Zusammenfassung ...............................................................................................

433

Epilog: Der Wahn vom »Weltblitzkrieg« ...........................................................

437

Inhalt

IX

Abkürzungen

443

Quellen und Literatur ........................................................................................

445

Personenregister ....... .... .... ....... ... .. .. .... .... ....... .. .. ....... .. .. ....... .. .. ........ ... ....... .... .. ... .

467

Fotonachweis ......................................................................................................

474

Skizzen und Graphiken Spitzengliederung der Wehrmacht im Mai 1940 ............................................... Gliederung OKW/OKH im Mai 1940 .............................................................. Ausgebildete Soldaten des deutschen Heeres im Herbst 1939 ........ ............ ...... »Lanzen-Vergleich«: Stählerne Spitze - hölzener Schaft .................................. Die wichtigsten Panzertypen im Vergleich .................... ...................... ............. Die wichtigsten Flugzeugtypen im Vergleich .. .. .......... ...... .. .. .................. .... .. .... Kräftevergleich am 10. Mai 1940 ........................................................................ 1. Aufmarschanweisung Fall »Gelb« {19.10.1939) ............................................ 2. Aufmarschanweisung Fall »Gelb« {29.10.1939) ............................................ 3. Aufmarschanweisung Fall »Gelb« (30.1.1940) .............................................. 4. Aufmarschanweisung Fall »Gelb« {24.2.1940) .............................................. Mansteins zweifacher »Sichelschnitt«-Plan ........................................................ Drehtürvergleich ......... ... ..... .............. .............................. ...................... ............. Kesselschlacht bei Cannae {216 v. Chr.) ............................................................. Deutscher und alliierter Operationsplan Mai 1940 .......................................... Gliederung der Heeresgruppe A (10. Mai 1940) ................................................ Unterschiedliche Vorstellungen für den Einsatz der Panzergruppe Kleistauf den 4 Vormarschstraßen in den Ardennen ........ ...... .. .... .................. .............. .... .... .. Treffenweiser Einsatz der Panzergruppe Kleist auf den 4 Vormarschstraßen in den Ardennen .................................................................................................... Vormarsch der Panzergruppe Kleist bis 10. Mai 1940 mittags im treffenweisen Einsatz ................................................................................................................ Vorstoß der Panzergruppe Kleist durch die Ardennen am 11. Mai 1940 ......... Verkehrschaos in den Ardennen am 12. Mai 1940 ........................................... Gliederung der 1. Panzerdivision (10. Mai 1940) ............................................... Handstreich auf Martelange am 10. Mai 1940 ................................................... Kampf um die Enge von Bodange am 10. Mai 1940 ........................................ Luftlandeunternehmen »Niwi«: 10. Mai 1940: Transport der 1. Welle- Planung und tatsächlicher Verlauf ................................................................................... Luftlandeunternehmen »Niwi«: 10. Mai 1940: 10. und 11. Kp/Infanterieregiement Großdeutschland ................................................................................................ Gliederung der französischen 5.leichten Kavalleriedivision ............................. Operationsplan für das Verzögerungsgefecht der französischen 5. leichten Kavalleriedivision .............. ....... ....... ... .. .. .... .. .. .... ...... .... .... ... ..... ... .... ............ ... .. ... .... ... .

16 17 29 39 48 60 65 72 72 73 73 90 96 97 101 118 127 130 131 132 132 137 139 139 142 142 148 149

X

Inhalt

Durchbruch durch die französische Verzögerungslinie bei Neufchiteau am 11. Mai 1940 .................................................................................................................... Vorstoß der I. Abteilung/Panzerregiment 1 auf Bouillon am 11. Mai 1940 ..... Handstreich auf Mouzaive in der Nacht vom 11./12. Mai 1940 ..................... Vorstoß des Panzerkorps Guderian von der Semois zur Maas am 12. Mai 1940 Belgiseher Operationsplan 1940: Ein ungewollter Rückzug in die Falle ......... Die französisch-belgisehe Verzögerungsoperation in den Ardennen (10. bis 12. Mai 1940) ................................................................................................................... Gliederung der französischen 55. Infanteriedivision am 13. Mai 1940 ............. Das Befestigungssystem bei Sedan am 13. Mai 1940 ......................................... Verwürfelung der französischen Verbände im Abschnitt Sedan bis 13. Mai 1940 Einschieben der französischen 71. Infanterie-Division in die Front bei Sedan Der infanteristische Durchbruch bei Sedan am 13. Mai 1940 .......................... Gliederung des Infanterieregiments Großdeutschland am 10. Mai 1940 .......... Durchbruch des Panzerkorps Guderian am 13. Mai 1940 ................................ Verzögerter Gegenangriff der Reserve des französischen X. Korps am 14. Mai Doppelgefecht von Bulson und Connage am 14. Mai 1940 ............................. Vorstoß des Panzerkorps Guderian aus dem Brockenkopf Sedan am 14. Mai

150 153 156 159 163 164 174 176 182 186 198 201 214 227 233

1940 ···················································································································· Abwehr des französischen Panzerangriffs (Char B) am 15. Mai 1940 um 11.00 Uhr bei Stonne .................................................................................................. Die »Amokfahrt« des französischen Hauptmanns Billotte ............................... Durchbruch der 6. Panzerdivision bei Montherme (13.-15. 5.1940) ................ Gliederung der 7. Panzerdivision im Mai 1940 ...................... ........................... Handstreichartiger Maasübergang bei Houx am 12. Mai 1940 ......................... Bildung von Brockenköpfen bei Houx und Dinant bis zum Morgen des 14. Mai

241

1940 ···················································································································· Panzerschlacht bei Flavion am 15. Mai 1940 .................................................... Zusammenbruch der Maasfront am 15. Mai 1940 ............................................ Operativer Ablenkungsangriff des Panzerkorps Hoepner über Hannut und Gembloux {11.-15. 5.1940) ........................................................................................ Angriff des Pionierstoßtrupps Oberleutnant Germer auf das Panzerwerk 505 bei La Ferte am 18. Mai 1940 .................................................................................. Der »Halt-Befehl von Montcornet« für den 17. Mai 1940 ............................... Rommels Vorstoß nach Avesnes und Le Cateau in der Nacht vom 16./17. Mai

286 293 298

1940 ···················································································································· Deutscher Panzervorstoß zur Kanalküste vom 10. bis 20. Mai 1940 ................ Britischer Gegenangriff bei Arras am 21. Mai 1940 ......................................... Der »Halt-Befehl« von Dünkirchen am 24.5.1940 ........................................... »Fall Rot«: Die deutschen Panzervorstöße vom 5. bis 18.Juni 1940 ................ Moltkes Kesselschlacht bei Sedan am 1. September 1870 ................................. Operationsplan für die Ardennen-Offensive im Dezember 1944 .....................

334 342 345 364 396 417 440

261 261 274 279 281

300 311 317

Vorwort

Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden auch Historikerinnen und Historiker zum Objekt der geschichtswissenschaftlichen Forschung: Wer bei Karl-Heinz Frieser die Ursprünge seiner Beschäftigung mit dem Angriff der Wehrmacht auf Frankreich und die Benelux-Staaten 1940 zurückverfolgt, wird im Bundesarchiv in Freiburg i.Br. auf den Arbeitsauftrag »HB 12/1986« vom 12. Dezember 1986 stoßen. Dieser sah für den damaligen Hauptmann am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) zunächst eine operative Analyse des »Sichelschnitt«-Plans vor. Im Zusammenhang mit dieser Forschung erschien 1987 dann ein kleiner Aufsatz zum Durchbruch der 7.  Panzerdivision bei Dinant und 1988 einer zum Vorstoß der Panzergruppe »Kleist« Richtung Kanalküste. Bis 1995 schließlich war das Projekt von Karl-Heinz Frieser zu einer veritablen Monografie aufgewachsen  – »Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940«. Tatsächlich stellte das Buch nicht die erste Beschäftigung des MGFA mit dem Krieg gegen Frankreich dar. So lagen bis dahin schon eine Studie zum deutschen Durchbruch bei »Amiens 1940« (Volkmar Regling, 1968) und zur »Panzertaktik im Spiegel deutscher Kriegstagebücher 1939 bis 1941« (Rudolf Steiger, 1973) vor. Auch im Band 2 des Reihenwerkes »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« (1979) war Frankreich im Jahr 1940 behandelt worden. Doch Friesers Buch war anders. Das lag einmal an dem mittlerweile deutlich verbesserten Quellenzugang, einschließlich einer großen Zahl von Zeitzeugenberichten und Material aus privaten Nachlässen. Auch war Karl-Heinz Frieser von Anfang an bemüht gewesen, wo immer möglich die andere, die französische Seite in seine Untersuchung mit einzubeziehen. Das war damals in der Militärgeschichte noch eine Seltenheit. »Blitzkrieg-Legende« war außerdem getragen von dem seinerzeitigen Bemühen der Heeresführung um eine Belebung der Operationsgeschichte. Natürlich ist die Militärgeschichtsschreibung in den vergangenen 25 Jahren in vielen Bereichen vorangeschritten und das Buch zeigt auch die Grenzen der Operationsgeschichte auf. Gleichwohl zeichnet sich »Blitzkrieg-Legende« durch besondere Qualitäten aus, die zum Teil auch den verlegerischen Erfolg erklären: Erstens war es immer ein Buch, das ein akademisches, ein militärisches und ein breites Publikum gleichermaßen ansprechen konnte. Zweitens empfahl sich »Blitzkrieg-Legende« durch seine für damalige Verhältnisse aufwändige Infografik in besonderer Weise für die Lehre. Es war anschaulich im eigentlichen Sinn des Wortes. Generationen von Studierenden, Soldaten und Angehörigen von NATO-Stäben sind seitdem mit Kopien von »Frieser-Karten« durch die Ardennen gestiefelt und haben bei Sedan auf der Anhöhe gestanden. Drittens hat dieses Buch unter allen Publikationen des ZMSBw vermutlich die größte internationale Resonanz gefunden, ist mithin das meistübersetzte Buch des Hauses. Während es nunmehr in der fünften Auflage auf Deutsch vorliegt, sind

XII

Vorwort

bereits Ausgaben auf Französisch und Japanisch (2003), Englisch (2005), Koreanisch (2007) und Rumänisch (2010) sowie Polnisch und Spanisch (2013) erschienen. Viertens und letztens: »Blitzkrieg-Legende« ist ein meinungsstarkes Buch. Diesen Mut zur These wünsche ich mir auch für unsere heutigen Historikerinnen und Historiker am ZMSBw und in der Bundeswehr insgesamt. Ich wünsche mir zudem, dass die Neuauflage von «Blitzkrieg-Legende« Anlass gibt, das Buch von Karl-Heinz Frieser nicht als das letzte Wort zum Thema zu nehmen, sondern sich auf der Basis der zwischenzeitlich erweiterten militärgeschichtlichen Erkenntnisse aufmerksam und durchaus kritisch mit dem Buch auseinanderzusetzen. Das wäre gewiss auch im Sinne des Autors. Ich danke vor allem dem Autor, Oberst a.D. Dr. Karl-Heinz Frieser, der sein Werk auch aus dem Ruhestand heraus weiter betreut und begleitet hat. Nicht zuletzt durch unzählige Vorträge und Exkursionen zum Thema und das europaweit. Ich wünsche dem Buch auch in seiner 5. Auflage eine gute Aufnahme durch das Publikum und ein weiterhin langes Bücherleben. Dr. Frank Hagemann Oberst und Kommandeur i.V. des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Vorwort des Verfassers zur 5. Auflage

Natürlich bin ich darüber erfreut, dass dieses Buch bislang in acht Sprachen publiziert worden ist. Doch als die französische Ausgabe erschien, rief dies bei mir gemischte Gefühle hervor. Ich hatte – als Deutscher – über den vielleicht demütigendsten Moment der Militärgeschichte Frankreichs geschrieben und dabei schonungslos die Fehler und Defizite der französischen Armee analysiert. Umso größer war meine Überraschung, als ich von der deutschen Botschaft in Paris angerufen wurde. Ich sollte als erster Ausländer den Wissenschaftspreis »Prix Edmond Fréville« erhalten. Die Preisverleihung fand im Institut de France in Paris statt. Bei dieser Veranstaltung wurde mir bewusst, dass ich mit meinem Buch auch einen Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung geleistet hatte. Doch es blieb nicht bei diesem einen Buch zum Westfeldzug. Ich veröffentlichte zusätzlich den Exkursionsführer »Ardennen – Sedan. Militärhistorischer Führer durch eine europäische Schicksalslandschaft«. In der »Blitzkrieg-Legende« beschrieb ich, was geschah und im Exkursionsführer wo es geschah. Ich habe inzwischen etliche Exkursionen für verschiedene Gruppen zu den Schauplätzen der Kämpfe durchgeführt. Beim Generalstabslehrgang der Führungsakademie der Bundeswehr gehört diese Exkursion inzwischen fest zum Lehrplan. Das Buch diente auch als Vorlage für einen ca. dreistündigen Dokumentarfilm von SPIEGEL-TV, an dem ich mitwirken durfte. Er wurde im Fernsehen auf verschiedenen Kanälen gezeigt, entweder unter dem Titel »Der seltsame Sieg« oder als Serie »Hitlers Blitzkrieg 1940«. In der wissenschaftlichen Fachliteratur fand diese Monografie große Aufmerksamkeit. Obwohl ich eine Reihe von Thesen aufgestellt hatte, die den bisherigen Darstellungen widersprachen, erfuhr ich kaum Kritik. Dies gilt auch für das wichtigste Resultat meiner Untersuchung, wonach Hitler vor dem Westfeldzug keine Blitzkrieg-Strategie verfolgt habe. Als ich 1985 in das damalige Militärgeschichtliche Forschungsamt in Freiburg kam, führte die Operationsgeschichte eher ein Schattendasein. Sie stand immer noch im Verruf, ein reaktionäres Relikt der früheren Generalstabswissenschaft zu sein. Als ich einen Forschungsauftrag für die Operation »Sichelschnitt« beantragte, stieß ich zunächst auf Skepsis. Heute ist die Operationsgeschichte als Teil der wissenschaftlichen Militärgeschichte in der akademischen Forschung emanzipiert, allerdings in modernem Gewand. Sie versteht sich als »integrative Operationsgeschichte« (Stig Förster). Erforscht werden sollen nicht nur militärische Aktionen, vielmehr werden diese Segmente in das Gesamtspektrum historischer Betrachtung eingebunden. Dieses Spektrum umfasst auch übergeordnete Aspekte, etwa politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Art. Für mich besteht das wichtigste Ergebnis meines Buches darin, dass ich einen Beitrag zu dieser positiven Entwicklung leisten konnte. Dr. Karl-Heinz Frieser (Oberst a.D.)

Einleitung Das »Wunder von 1940«

•[Das] ganz[e] Ausland ist auf der Suche nach den neuen Methoden der Deutschen - diese waren es gar nicht - Krieg ist immer ein System von Aushilfen1.« (General der Artillerie Halder, Chef des Generalstabes des Heeres, unmittelbar nach dem Westfeldzug)

General Weygand hatte am 2. Juli 1939 in Lilie erklärt: »Die französische Armee ist stärker als jemals in ihrer Geschichte; sie besitzt eine Ausrüstung bester Beschaffenheit, Befestigungen ersten Ranges, eine ausgezeichnete Moral und ein hervorragendes Oberkommando. Keiner von uns wünscht Krieg, aber wenn man uns zwingt, einen neuen Sieg zu erringen, werden wir ihn erringen2.« Hitlers Vabanque-Politik scheiterte Anfang September 1939. Er hatte geglaubt, Polen in einem isolierten Feldzug niederwerfen zu können, doch statt dessen erklärten ihm Großbritannien und Frankreich den Krieg. Damit hatte er das Gespenst des Ersten Weltkrieges, den Zweifrontenkrieg heraufbeschworen. Ebensowenig wie damals war das rohstoffarme Deutsche Reich in der Lage, eine langdauernde Auseinandersetzung mit den westlichen Seemächten durchzustehen. Der Versailler Vertrag hatte die deutschen Streitkrlifte auf ,.zwergformat« schrumpfen lassen. Auch die von Hitler seit 1935 hektisch aufgebaute Wehrmacht war noch völlig unvorbereitet für einen neuen Weltkrieg. Patrick TurnbuH schildert in seinem Buch »Dunkirk« (Dünkirchen), wie er vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges überrascht wurde: ~Die Nachricht, daß Deutschland Polen angegriffen hatte, prangte als riesige Schlagzeile auf dem Titel-

blatt der Lokalzeitung, die soeben in meine Hände geraten war. Es war der 1. September 1939, und ich nahm gerade mein Frühstück auf der Terrasse eines Hotels in Fez's Ville Nouvelle ein. Die Deutschen - so war ich überzeugt - hatten einen Akt selbstmörderischer Dummheit begangen. Großbritannien verfügte über die mächtigste Flotte und Frankreich über das beste Heer der Welt[ ...] Das Ende würde sehr schnell kommen, wahrscheinlich noch vor Weihnachten, und ohne allzu große Probleme3!«

Wie siegesgewiß sich die Franzosen hinter ihrer Maginotlinie fühlten, verdeutlicht eine Äußerung ihres Oberbefehlshabers General Gamelin. Dieser erklärte im Februar 1940, »er werde den Deutschen eine Milliarde Franc schenken, wenn sie ihm tatsächlich den Gefallen täten, anzugreifen\« Doch im Mai 1940 ereignete sich »das Verblüffendste, 1 2

J 4

H.Gr. C (Ia), Notiz Besprechung in Versailles am 28.6.1940, BA-MA, RH 19 III/141, An!. 23, BI. 44. Zit. nach Benoist-Mechin, Der Himmel stürzt ein, S. 9. Turnbull, Dunkirk, S. 7 (Übersetzung des Autors, auch im folgenden). Ciano Diaries, S.'201.

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Einleitung: Das »Wunder von 1940«

wovon die moderne Kriegsgeschichte weiß« 5• Im Ersten Weltkrieg hatten die deutschen Armeen vier Jahre lang vergeblich versucht, die französische Front zu durchbrechen; diesmal gelang bereits nach vier Tagen der Durchbruch bei Sedan. Die deutschen Panzer konnten nun fast ungehindert durch das französische Hinterland zur Kanalküste vorstoßen und den Nordflügel der Alliierten in einem gigantischen Kessel einschließen. Nach insgesamt sechs Wochen war der Feldzug zu Ende. Seitdem haben sich die Historiker in Superlativen überboten, um die elementare Wucht dieses Ereignisses in Worte zu fassen. Liddeli Hart sprach vom »überwältigendsten Sieg der modernen Geschichte«6, Barrie Pitt demgegenüber von einer »militärischen Katastrophe[...], die ihresgleichen in der Kriegsgeschichte suchte«7• Cohen und Gooch setzten diese Niederlage einer »Griechischen Tragödie« gleich 8, und der amerikanische Historiker William L. Langer schrieb: »Die moderne Geschichte berichtet von wenigen dermaßen betäubenden Ereignissen, wie es die Niederlageund der Einsturz der Französischen Republik im Juni 1940 waren. Seit Napoleons Blitzfeldzug gegen Preußen im Jahre 1806 war keine militärische Großmacht so schnell und so unerbittlich zermalmt worden. In noch nicht sechs Wochen wurde eine der Mächte, die die Welt lenkten, vom internationalen Schauplatz buchstäblich weggefegt 9 .«

Zunächst reagierte die Weltöffentlichkeit fassungslos, doch schon bald war eine plausible Erklärung gefunden: Sie lautete »Blitzkrieg«. Angeblich hatte Hitler eine völlig revolutionäre Strategie, die des »Blitzkrieges«, erfunden, die dann von seinen Generalen auf dem Schlachtfeld umgesetzt worden sei. Wenn dem so gewesen wäre, hätten die Erfinder gelassen und voller Genugtuung zusehen können, wie ihr Plan aufging. Doch die Sieger waren angesichts der sich überstürzenden Ereignisse zunächst ähnlich überrascht wie die Besiegten. Als die deutschen Panzerdivisionen bei Sedan durchgebrochen waren, rief Hitler aus: »Es ist ein Wunder, ein ausgesprochenes Wunder 10!«

Die atemberaubende Geschwindigkeit des deutschen Vorstoßes versetzte den Diktator in Panik. Er witterte eine heimtückische Falle und wollte die Operation stoppen. Auch die älteren Offiziere und Generale, die im Ersten Weltkrieg jahrelang erbittert gegen den gleichen Gegner gekämpft hatten, standen dieser Entwicklung mit ungläubigem Staunen gegenüber. Der spätere General der Infanterie Blumentritt, der damals im Stab der Heeresgruppe A an der Planung und Durchführung dieser Operation mitgewirkt hatte, sprach sogar von einem dreifachen »Wunder«: Das erste ereignete sich in den Ardennenwäldern, wo sich die deutschen Panzer auf den engen Wegen in kilometerlangen Staus festgefahren hatten. Doch unerklärlicherweise ließen sich die Luftwaffen der Alliierten Mann, Deutsche Geschichte, S. 922. Liddeli Hart, Zweiter Weltkrieg, S. 102. 7 Pitt, Angriffswaffe, Einleitung zu: Macksey, Deutsche Panzertruppen, S. 10f. s Cohen/Gooch, Military Misfortunes, S. 197. 9 Langer, Our Vichy Gamble, S. 3; deutsche Übersetzung zit. nach: Benoist-Mechin, Der Himmel stürzt ein, S. 5. ' 0 Blumentritt, Westfeldzug, Bd 2, S. 46, BA-MA, Study P-208, Bd 2. Bei anderer Gelegenheit nannte Hitler die erste Phase des Westfeldzugs »ein absolutes Wunder«, siehe Blumentritt, Rundstedt, S. 71. 5

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Einleitung: Das »Wunder von 1940«

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diese große Chance entgehen. Noch rätselhafter erschien Blumentritt das zweite »Wunder«, nämlich der Durchbruch bei Sedan, der innerhalb weniger Stunden gelang. Und nun ereignete sich das dritte »Wunder«. Die deutschen Panzerdivisionen stürmten zeitweilig ohne Rücksicht auf offene Flanken zur Kanalküste vor. Doch die befürchtete alliierte Gegenoffensive blieb aus 11 • Selbst der Panzergeneral Guderian, der wie kein anderer unbeirrbar an den Erfolg geglaubt hatte, wurde von der Entwicklung bei Sedan überrascht. In seinen Memoiren schreibt er: ·Das Gelingen unseres Angriffs kam mir[ ...] fast wie ein Wunder vor 12 .«

Der deutsche Erfolg war in dieser Weise überhaupt nicht vorausgeplant, sondern resultierte - wie noch gezeigt werden soll - aus dem zufälligen Zusammentreffen verschiedenster Faktoren. Die NS-Propaganda jedoch formte daraus die Legende, der deutsche Sieg sei auf ein längst vorher festgelegtes Konzept zurückzuführen, und belegten es mit dem noch relativ unbekannten Schlagwort »Blitzkrieg«. Gleichzeitig suggerierte man, der Erfinder dieser neuen Methoden sei Adolf Hitler, der »größte Feldherr aller Zeiten«. Die Alliierten griffen bereitwillig diesen Mythos auf, bot er doch ihren Generalen, die so gründlich versagt hatten, eine bequeme Entschuldigung. Doch die eigentliche »Blitzkrieg-Legende«, die seitdem erheblichen Einfluß auf die Interpretation der neuerendeutschen Geschichte erlangte, wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg von einigen Historikern geschaffen. Sie entwarfen die Fiktion einer »BlitzkriegStrategie«, die auf nichts Geringeres als auf »Weltherrschaft« abgezielt habe. Nachdem im Ersten Weltkrieg der »Griff nach der Weltmacht« 13 gescheitert sei, hätten die Deutschen erkennen müssen, daß ihr wirtschaftliches Potential für einen globalen Krieg gegen die westlichen Seemächte nicht ausreichen würde. Nun sollte angeblich das gleiche hochgesteckte Ziel schrittweise durch das Führen kleinerer, begrenzter Expansionen (sogenannter »Blitzkriege«) erreicht werden. Doch so faszinierend die Theorie von »Hitlers Blitzkriegstrategie« in ihrer gedanklichen Geschlossenheit erscheint, sie ist viel zu einfach, um wahr zu sein. Die vorliegende Studie soll darlegen, wie es zum »Wunder von 1940«, dem »Blitzsieg« im Westfeldzug, kommen konnte und welch unheilvolle Konsequenzen durch die erst anschließend konkretisierte Idee des sogenannten »Blitzkrieges« heraufbeschworen wurden.

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Liddeli Hart, Jetzt dürfen sie reden, S. 213; Blumentritt, Rundstedt, S. 68, 71. Guderian, Erinnerungen, S. 95. Vgl. hierzu das umstrittene Buch von Fritz Fischer (•Griff nach der Weltmacht«) über die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg.

Erster Teil Der »Blitzkrieg«. Wort und Begriff

»Ich habe noch nie das Wort Blitzkrieg verwendet, weil es ein ganz blödsinniges Wort ist 1.« (Hitler am 8. November 1941)

I. Das Wort »Blitzkrieg« In der nüchternen militärischen Sprache gibt es kaum ein anderes Wort, das von so schlaglichtartiger Prägnanz und gleichzeitig so irrlichternd mißdeutbar ist wie »Blitzkrieg«. Schon seine Enstehungsgeschichte verbirgt sich hinter einem Nebel von Legenden. Immer wieder wurde behauptet, daß Hitler dieses suggestive Wort geschaffen habe. Manche vermuten seine Entstehung auch in der »Propagandaküche« des Dr. Goebbels. Ebenso wird fälschlicherweise davon ausgegangen, daß dieses Wort erst nach den überraschenden Erfolgen der deutschen Wehrmacht zu Beginn des Zweiten Weltkrieges entstanden sei. Angeblich soll es im angelsächsischen Sprachraum geprägt worden sein, wobei als allererste Belegstelle ein Artikel aus dem Time-Magazine vom 25. September 1939 über den Polenfeldzug zitiert wird: •This was no war of occupation, but a war of quick penetration and obliteration - Blitzkrieg, lightning w.ul.«

Doch diese Hypothese beruht auf einem Irrtum. Eine genauere Auswertung der Militärpublizistik beweist, daß dieses Wort bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland bekannt war. So wird schon 1935 in einem Artikel der Militärzeitschrift »Deutsche Wehr« expressis verbis vom »Blitzkrieg« gesprochen. Danach sollten ernährungsschwache und rohstoffarme Staaten bestrebt sein, »einen Krieg schlagartig zu erledigen, indem sie gleich zu Anfang durch den rücksichtslosen Einsatz ihrer totalen Kampfkraft versuchen, eine Entscheidung zu erzwingen«3• Eine nähere Analyse findet sich in einem 1938 veröffentlichten Aufsatz im Militär-Wochenblatt. Der ,.Blitzkrieg« wird als »strategischer Überfall« definiert, vorgetragen durch den operativen Einsatz der Panzerwaffe und LuftDomarus, Hitler, S. 1776. Addington, Blitzkrieg Era, S. 234 (Anm. 53); ·Blitzkrieg« war keine Übersetzung des engliebes Wortes ,.lightning war•, sondern genau umgekehrt. Deutsche Emigranten brachten dieses Wort in den angelsächsischen Sprachraum, und zwar schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Vgl. das 1938 erschienene Buch von Fritz Sternberg, Germany and a lightning war. In der deutschen Originalfassung »Die deutsche Kriegsstärke• findet sich mehrfach (z.B. S. 8, 11) das Wort ·Blitzkrieg•. 3 Schwichow, Ernährungswirtschaft, S. 257f. t

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Erster Teil: Der •Blitzkriege. Wort und Begriff

waffesowie durch Luftlandetruppen4 • Derartige Fundstellen aber sind in der deutschen Militärliteratur vor dem Zweiten Weltkrieg ausgesprochen selten5• Das Wort »Blitzkrieg« wurde auch während des Zweiten Weltkrieges in der offiziellen militärischen Terminologie der Wehrmacht praktisch nie verwendet. Bedeutung erlangte es erst durch den Propagandajournalismus, und zwar in inflationärer Weise nach dem überraschend schnellen Sieg in Frankreich im Sommer 19406, wie aus folgendem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel »Blitzkriegpsychose« hervorgeht: »Blitzkrieg! Blitzkrieg! Blitzkrieg! Überall blitzte uns in den Wochen zwischen der Niederwerfung Frankreichs und dem Beginn der Luftangriffe größeren Ausmaßes auf England dieses Wort entgegen. Ob wir Zeitungen zur Hand nahmen oder Rundfunk hörten, es verging kein Tag, wo unsere Gegner nicht dieses Wort zitierten. Es ist ihnen schon so in die Knochen gefahren, daß sie sich nicht einmal die Mühe machten, sich in ihrer eigenen Sprache nach einem entsprechenden Wort dafür umzusehen, nein die >sprachgewandten• Engländer übernahmen das Wort Blitzkrieg aus dem Deutschen, und jeder Engländer weiß, was er darunter zu verstehen hat, weiß, was ihm und seinem Lande bevorsteht, wenn Deutschland erst einmal richtig zuschlägt. Für die Geschehnisse in Polen, Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich gibt es eben nur ein treffendes Wort: >Blitzkrieg•. Mit der Schnelligkeit und der Gewalt eines Blitzes hat unsere Wehrmacht zugeschlagen, jedes Hindernis vernichtend7.«

Doch schon Ende 1941 nach dem Scheitern des deutschen »Blitzkrieges« gegen die Sowjetunion kam es zu einer Zäsur. Nunmehr war dieses Wort verpönt, gerade Hitler dementierte energisch, es jemals benutzt zu haben8• Statt dessen behauptete die deutsche Presse, dieses Schlagwort sei lediglich eine böswillige Erfindung der britischen Propaganda: Braun, Der strategische Überfall, Sp. 1134. s Weitere Belege für die Verwendung des Wortes »Blitzkrieg« vor dem Zweiten Weltkrieg finden sich beispielsweise bei Possony, Wehrwirtschaft, S. 82, oder bei Foerster, Generaloberst Ludwig Beck, S. 123. 6 Aus der Fülle der 1940 oder kurz danach veröffentlichten »Blitzkriege-Literatur lassen sich u.a. folgende Beispiele anführen: Vogel, Grenzerjunge im Blitzkrieg; Köhn, Die Infanterie im »Blitzkrieg«; Blitzkrieg und Panzerdivisionen; Gaul, Der Blitzkrieg in Frankreich; Blitzkriegmethoden; Deutsche Blitzkriegsstrategen; Gribble, Blitzkrieg. In dem von Hadamovsky verfaßten Buch »Biitzmarsch nach Warschaue findet sich auf S. 84 dreimal das Wort »Blitz«, und zwar in folgenden Variationen: »Blitzkrieg«, »blitzschnell« und »Biitzschlag«. Im geheimen Lagebericht des Sicherheitsdienstes der SS, Nr. 88 vom 16. Mai 1940, heißt es, »weite Bevölkerungskreise« würden glauben, ,.daß es auch im Westen einen >Biitzfeldzugc gibt«, siehe Meldungen aus dem Reich, Bd 4, S. 1139. 7 Mußhoff, Blitzkriegpsychose. s Vgl. das diesem Kapitel vorangestellte Zitat, wonach Hitler »Blitzkrieg« als .blödsinniges Wort« bezeichnet, das er »noch nie« verwendet habe. In Wirklichkeit gehörte das Wort »Blitz« schon immer zu Hitlers Lieblingsmetaphern. Wie aus der Haßbach-Niederschrift hervorgeht, hatte der Diktator bereits in der Besprechung am 5.11.1937 erklärt, daß der Überfall auf die Tschechoslowakei »blitzartig schnell« erfolgen müsse (ADAP, D, Bd I, S. 31). Ebenso äußerte er sich am 27.3.1941: »Politisch ist es besonders wichtig, daß der Schlag gegen Jugoslawien[ ... ] in einem Blitzunternehmen durchgeführt wird« (Domarus, Hitler, S. 1677). Der Verfasser wurde von seinem Kollegen Dr. Reinhard Stumpf darauf aufmerksam gemacht, daß Hitler nach der deutschen Niederlage vor Moskau die Italiener für diese ihm plötzlich suspekte Wortschöpfung verantwortlich machen wollte. So erklärte er im Januar 1942: •Blitzkrieg, das Wort ist eine rein italienische Erfindung, italienische Phraseologie, eine Übersetzung aus dem Italienischen.« (Hitler, Monologe, S. 17). Möglicherweise bezog er sich auf das allerdings erst 1940 erschienene Buch »La guerra lampo« von Aldo Cabiati. Für die Behauptung Hitlers gibt es jedoch keine zuverlässigen Belege.

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II. Der Begriff »Blitzkrieg«

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•Den Begriff >Blitzkrieg< haben die Briten erfunden. Er ist falsch. Wir haben nie gesagt, daß dieses gewaltigste aller Ringen sich jemals in Blitzesschnelle abspi~len könnte9 .«

Die Angelsachsen hatten inzwischen tatsächlich Gefallen an diesem lautmalerischen deutschen Wort gefunden und variierten es in skurriler Weise: Die deutschen Soldaten wurden als .. blitzer« bezeichnet, es entstanden Aufsätze, wie beispielsweise »Üut-blitz the Blitzkrieg« 10 • Auch die deutschen Luftangriffe auf London erhielten den Namen »the blitz«. Selbst heute noch ist der Ausdruck »blitzkrieg« aus dem Vokabular der britischen Boulevardpresse nicht mehr wegzudenken, wenn es gilt, überraschend schnelle Siege im Sport zu dramatisieren. Nach dem Westfeldzug tauchte neben dem Wort »Panzer« auch der Begriff »Blitzkrieg« in den meisten Weltsprachen auf. Gleichzeitig versuchte man, dieses Wort in die eigene Sprache zu übertragen 11 • Auch für die Typologisierung von Feldzügen nach dem Zweiten Weltkrieg fand dieser Terminus Verwendung. So wurde etwa der mißglückte Überfall des Irak auf den Iran im Jahr 1980 in der Presse ironisch als »langsamster Blitzkrieg aller Zeiten« bezeichnet. Doch die epidemische Ausbreitung dieses Wortes trug nicht gerade zur Klarstellung des dahinter vermuteten Begriffes bei.

II. Der Begriff »Blitzkrieg« George Raudzens differenziert in einem Aufsatz über »Blitzkrieg Ambiguities« sieben verschiedene Bedeutungen dieses schillernden Begriffs. Hierbei beklagt er sich über eine »Interpretationsanarchie«, muß jedoch schließlich einräumen, daß auch er keine Patentlösung weiß 12 • Daraus läßt sich erkennen, daß sich die »Blitzkrieg«-Exegese in einem semantischen Labyrinth verirrt hat. Da es offenbar keinen Ausweg gibt, bleibt nur noch die Möglichkeit, den berühmten Faden der Ariadne aufzunehmen, um zum Eingang des Labyrinths zurückzufinden. Doch bevor weiter auf die verwirrende Semantik des »Blitzkrieges« eingegangen wird, soll zunächst einmal der Dreiklang der taktischen, operativen und strategischen Ebene erläutert werden: - Taktik bedeutet Truppenführung im Rahmen des »Gefechts der verbundenen Waffen«. Sie obliegt der unteren und mittleren Führung. Teiß, Der Blitzkrieg. Vgl. auch: Hargreaves, Blitzkrieg; Marshall, Blitzkrieg; Reilly, Blitzkrieg; ders., Can »Blitzkrieg« be stopped?; Miksche, Blitzkrieg. 11 Die Schweden sprachen von »Blixtkrieg« und »Blixtanfall« (Blixtanfallet; »Blixtkrig« och försvar mot »blixtkrig«; Blixtkriget och sprängberedskapen; Ehrensvaerd, Härt mot härt. Blixtanfallet och blixtförsvar); die Niederländer von »Bliksemoorlog« (Reilly, »Blixsemoorlog«); die Russen von »molnienosnaja vojna« (Diskussija o •molnienosnoj vojnec; Reilly, Na fone molnienosnoj vojny; Thompson, InZc:nernye vojska v molnienosnoj vojne); die Ungarn von »villamhaboru« {Lipcsey-Magyar, Villamharcaszat - zsakhadaszat); die Portugiesen von •guerra relampago« (Botelho, 0 commando e a guerra relampago); die Franzosen von »Ia guerre cklair«; die Briten und Amerikaner von ,.Jightning war«. 12 Raudzens, Blitzkrieg Ambiguities, S. 77 ff. 9

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Erster Teil: Der »Blitzkrieg«. Wort und Begriff

- Das Führen von Operationen (d. h. weiträumigen militärischen Bewegungen und Schlachten) ist Aufgabe der oberen Führung. Diese begann nach den Kriterien der Wehrmacht bei der Armee (im Ausnahmefall beim Korps), während heute bereits ein Korps (ausnahmsweise auch eine Division) derartige Führungsaufgaben übernehmen kann. Auf dieser Ebene werden taktische Kampfhandlungen im Rahmen einer übergeordneten Operation geplant und geführt, wobei diese wiederum auf die Ziele der Strategie hin ausgerichtet ist. - Die Strategie obliegt der obersten Führung; auf dieser Ebene erfolgt das Zusammenwirken der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Führungsstellen eines Landes im Hinblick auf das von der Politik definierte Kriegsziel 13 •

1. Operativ-taktische Interpretation »>BlitzkriegStufe< um den Aufbau einer deutschen >WeltmachtWeltmacht< Deutschland und der >Weltmacht< USA abgeben sollte21 .«

Hillgrubers »Stufenplan« wurde jedoch von etlichen Kritikern als zu deterministisch sowie als quellenmäßig nicht ausreichend gestützt in Frage gestellt22 • Nach Erdmann suggeriert der Stufenplan »eine Systematik, von der es zweifelhaft ist, ob mit ihr die Visionen und Improvisationen Hitlers zutreffend bezeichnet werden«23 • Während Hiligrober die These von der »Blitzkrieg-Strategie« eher behutsam anfaßte und sie lediglich zur Absicherung seines »Stufenplan«-Modells heranzog, wurde sie vor allem durch marxistische Historiker zunehmend übersteigert24 • Dadurch entfernte sich dieser überfrachtete Begriff schließlich von seinen militärischen Wurzeln und wurde weitgehend in das Sozio-ökonomische hinein verfremdet25 • Nach einer neueren Hypothese soll die Idee des »Blitzkrieges« nicht primär auf Hitler zurückgehen, sondern angeblich in der Vorstandsetage der IG Farben, eines marktbeherrschenden Chemie-Konzerns, konzipiert worden sein. Im Konkurrenzkampf der Monopolgruppen Schwerindustrie und chemische Industrie setzte sich im Jahr 1936letztere durch. Hierbei hatte die IG Farben vorgeschlagen, den Mangel des Deutschen Reiches an rüstungsrelevanten Rohstoffen auf chemischem Wege durch die Produktion von Ersatzstoffen zu kompensieren. Die dadurch erreichte teilweise Autarkie sollte - nach dieser These- zur Führung begrenzter »Blitzkriege« befähigen. Dies sei das Ziel des 1936 beschlossenen Vierjahresplans gewesen, der die Handschrift der IG Farben getragen hal>eU. Hillgruber, Hitlers Strategie, Nachwort zur 2. Auflage, S. 717. Von den Historikern, die diesen Gedanken fortentwickelt haben, ist vor allem Herbst (Der totale Krieg, S. 98ff.) zu nennen. 22 Salewski beispielsweise hält Hillgrubers »Stufenplane-Modell für zu monokausal: •Stufen gab es in der Tat zuhauf, aber es gab nicht nur eine Treppe, sondern ein großes Treppenhaus mit vielen Hauptund Hintertreppen• (Knotenpunkt, S. 119). Vgl. auch Stegemann, Hitlers »Stufenplan« und die Marine, sowie ders., Hitlers Ziele im ersten Kriegsjahr 1939/40. Die entschiedenste Antithese zu Hillgrubers »Stufenplan« vertritt Schustereit in seiner Monographie »Vabanque•. 23 Erdmann, Deutschland, S. 34. 24 Hierbei wird häufig auf folgenden Passus aus der »Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht« vom 24.6.1937 verwiesen: Die deutschen Streitkräfte sollten in die Lage versetzt werden, »einen Krieg überfallartig nach Stärke und Zeitpunkt überraschend beginnen zu können• (vgl. Prozeß, Bd 34, S. 735). In Wirklichkeit ist dieser Satz aus dem Gesamtzusammenhang gerissen. Im einleitenden Teil dieser Weisung werden nämlich rein hypothetisch verschiedene Szenarien eines künftigen Krieges und ebenso verschiedene Möglichkeiten einer entsprechenden Vorbereitung angesprochen. Es handelt sich also keineswegs monodimensional um eine einzige Option. 25 Zur »Blitzkriege-Literatur in der DDR-Historiographie siehe Förster, Totaler Krieg und Blitzkrieg; Heider/Lakowski, Theorie vom totalen Krieg; Menke, Militärtheoretische Überlegungen; Otto, Entstehung und Wesen der Blitzkriegstrategie; ders., Illusion und Fiasko. Vgl. auch das im Militärverlag der DDR erschienene »Wörterbuch zur Deutschen Militärgeschichte«, Bd 1, S. 90f. 26 Bitzel, Konzeption des Blitzkrieges, S. 35, 53, 80f., 405ff. Diese griffig formulierte These sollte allerdings mit Vorbehalt betrachtet werden, da sich der Autor nur auf Literatur stützt und keine Archivakten berücksichtigt. So sind beispielsweise Bernhard R. Kroener und Rolf-Dieter Müller, die die Akten des Bundesarchivs-Militärarchivs ausgewertet haben, zu wesentlich anderen Ergebnissen gelangt. Ihre im Band V/1 des Reihenwerks »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg• veröffentlichten 21

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Erster Teil: Der »Blitzkrieg«. Wort und Begriff

Auch bei der Festlegung seiner Expansionsziele habe sich der Diktator angeblich von einem dreistufigen Expansionsprogramm leiten lassen, das längst vorher von der Industrie formuliert worden sei. Zuerst sollte ein wirtschaftlicher Kernraum Mitteleuropa geschaffen und dieser dann zum europäischen Großraum erweitert werden. Am Ende aber habe das traditionelle Ziel der •Weltherrschaft« gestanden27 • In den letzten Jahren ist die Theorie von der »Blitzkrieg-Strategie« zunehmend angezweifelt worden. Hierbei wird geltend gemacht, daß es sich um eine erst nachtriiglich von Historikern konstruierte Fiktion handele. Nach Timothy Mason lag den Blitzkriegerfolgen eine »unheilvolle Kombination von innenpolitischem Zwang, außenpolitischem Zufall und extremer Abenteuerlust auf Hitlers Seite zugrunde. Die Erfolge verliehen dann dem Ganzen einen Schein des Durchdachten, den es aber nicht besaß28 .« Besonders deutlich bringt dies Hew Strachan zum Ausdruck: •Der Blitzkrieg mag auf der rein operativen Ebene eine bestimmte Bedeutung gehabt haben, aber als übergreifendes strategisches und ökonomisches Konzept war er nicht existent29 .«

3. Der Westfeldzug und die Entstehung des »Blitzkrieges« Die deutsche Generalität war aufgrund der ungünstigen geographischen Mittellage des Reiches schon immer bestrebt, sogenannte »schnelle Kriege« zu führen, um eine sofortige operative Entscheidung zu erzwingen. Ein derartiger Sieg gelang 1870 Moltke in der Kesselschlacht von Sedan. Doch zu Beginn des Ersten Weltkrieges scheiterte der auf dem gleichen Grundprinzip beruhende Schlieffenplan. Allmählich wurde deutlich, daß sich das Kriegsbild dramatisch verlindert hatte. Aufgrund der gesteigerten Waffenwirkung dominierte der Faktor Feuer über den Faktor Bewegung. Weitreichend geplante Operationen wurden oft schon im Ansatz erstickt; sie erstarrten in den Garben der Maschinengewehre und im »Stahlgewitter« der Artillerie. Ein langjähriger Stellungskrieg, der in Materialschlachten ausgetragen wurde, schloß sich an. Widerstrebend mußten die Generale feststellen, daß die Bedeutung der operativen Führungskunst immer stärker in den Hintergrund trat, denn die Entscheidung verlagerte sich von den Schlachtfeldern in die Fabriken. Das Ringen verfeindeter Völker vollzog sich als langwieriger Wirtschaftskrieg, wobei die westlichen Seemächte Deutschland durch eine Blockade von der Rohstoffzufuhr abschnitten. Darstellungen wurden von Bitzelleider nicht berücksichtigt, obwohl seine Monographie drei Jahre später erschien. 27 Bitzel, ebd., S. 63, 405. 28 Mason, Innere Krise, S. 188. 29 Strachan, European Armies, S. 163. In der neueren Literatur wird es zunehmend abgelehnt, Guderians bereits in den 20er Jahren entwickelte Panzertaktik mit Hitlers politischen Zielen zu verbinden. So erklärt Williamson Murray (German Army Doctrin, S. 93): »die Deutschen entwickelten keine Panzertaktik, um damit strategische Probleme zu lösen•; vgl. auch Carr, Rüstung, S. 446f.; Geyer, German Strategy, S. 584f.; Heinemann, Development, 68f.; Cooper, German Army, S. 115f., 151, 166, 219; Hughes, Blitzkrieg, S. 377ff.

II. Der Begriff »Blitzkrieg«

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Die militärische Führung des Deutschen Reiches zog aus dem verlorenen Weltkrieg sehr wohl ihre Lehren; sie glaubte nicht mehr daran, »schnelle Kriege« gegen kriiftemäßig überlegene Gegner gewinnen zu können. So stellte Oberst Thomas, der Chef des Wehrwirtschaftsstabes, im Jahr 1937 entschieden fest: ·Die fälschliehe Einstellung auf einen kurzen Krieg ist schon mal zu unserem Ruin geworden, wir sollten deshalb auch in der Zeit der Luft- und Panzergeschwader uns nicht von dem Wunschgedanken eines kurzen Krieges leiten lassen30 .c

Welche Vorstellungen innerhalb der Wehrmachtführung über das Kriegsbild der Zukunft vorherrschten, geht aus einem Szenario hervor, das Admiral Raeder 1937 entworfen hatte: »[...] so kann nur eine Art Festungskrieg entstehen, der sich in gegenseitigen taktischen Erfolgen und Mißerfolgen erschöpft. Im wechselseitigen Ringen um diese taktischen Erfolge wird dann der Staat den Enderfolg für sich buchen können, der über die größere Menschenzahl, noch mehr aber über unbegrenzteS Material und Lebensmittel verfügt[ ...]. Wie gerade eine derartige Kriegführung sich für Deutschland auswirken kann, wenn die fehlenden Rohstoffe nicht laufend beschafft werden können, braucht bei unserer geographischen Lage nicht besonders erläutert zu werden 31 .«

Deshalb warnte er vor der Illusion, »in einer einzigen großen Operation die Entscheidung zu suchen«32• Die Generalität stand derartigen militärischen Abenteuern ausgesprochen skeptisch gegenüber. Wie aus einer Vortragsnotiz hervorgeht, äußerte sich während der tschechischen Krise im Juli 1938 General der Artillerie Beck, der Generalstabschef des Heeres, gegenüber Generaloberst v. Brauchitsch, dem Oberbefehlshaber des Heeres: ·Der Gedanke eines Blitzkrieges[...] ist ein unsinniger Traum. Man sollte aus der modernen Kriegsge· schichte gelernt haben, daß überfallartige Unternehmungen kaum jemals zu einem dauernden Erfolg geführt haben33 .«

In einer 1938 erschienenen Darstellung hieß es kategorisch: »Die Möglichkeiten, mittels eines >Blitzkrieges< einen gleichwertigen Gegner zu besiegen, sind gleich Null[ ...] Mit anderen Worten: die militärische Kraft ist nicht mehr am stärksten, sondern die wirtschaftliche Kraft ist die größte Macht in der modernen Welt geworden 34.«

Dann aber, im Mai 1940, ereignete sich das »Wunder von Sedan«. Der »Blitzsieg« im Westfeldzug bewirkte einen radikalen Meinungsumschwung innerhalb der deutschen Generalität. Dieser Feldzug wurde in einer einzigen, im wesentlichen zwei Wochen dauernden Operation, dem »Sichelschnitt«, entschieden. Der Westfeldzug ließ wie ein Erdbeben zahlreiche überholte Doktrinen in sich zusammenstürzen; auf dem Gefechtsfeld spielte sich eine Revolutionierung des Kriegsbildes ab. Doch solche Zeiten des Umbruchs und der Umwertung bisheriger Vorstellungen und Begriffe bilden den Nährboden für neuartige Schlagworte und Parolen, wie es Goethe treffend zum Ausdruck brachte: »Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein35 .« 30 31

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Thomas, Operatives und wirtschaftliches Denken, S. 16. Vortrag Ob.d.M. am 3.2.1937, S. 21, BA-MA, RM 8/1491, BI. 75. Ebd. Foerster, Generaloberst Ludwig Beck, S. 123. Possony, Wehrwirtschaft, S. 82. Goethe, Faust, München 1962, S. 59.

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Erster Teil: Der »Blitzkrieg«. Wort und Begriff

Das Wort, das sich im Sommer 1940 zur rechten Zeit einstellte, lautete »Blitzkrieg«. Selten ist in der Militärgeschichtsschreibung ein Begriff derart überinterpretiert worden wie dieser. Er stellt genau betrachtet eine semantische Falle dar. Das Wort »Blitz-Krieg« verspricht mehr, als es - historisch betrachtet - halten kann, denn der Terminus »Krieg« suggeriert das Vorhandensein eines gesamtstrategischen »Krieg«-fiihrungskonzepts. Doch dieser Begriff blieb weitgehend der untergeordneten operativen Ebene verhaftet. Semantisch korrekter wäre es gewesen, von »Blitzoperationen« oder »Blitzfeldzügen« zu sprechen. Zwar wurde ein strategisches Ziel, die rasche Kriegsentscheidung, angestrebt, das Mittel hierzu aber beschränkte sich in erster Linie auf überlegene operative Führungskunst. Überspitzt ausgedrückt bedeutete der »Blitzkrieg« den Versuch, angesichts mangelnder wirtschaftlicher Ressourcen aus einer strategischen Not eine operative Tugend zu machen. In dieser »operativ« verstandenen Strategie mit ihren »strategisch« verstandenen Operationen lag jedoch ein immanenter Widerspruch. Nun glaubten Hitler und manche Generale tatsächlich, im »Blitzkrieg« das »Geheimnis des Sieges« gefunden zu haben, nämlich eine operative »Wunderwaffe«, mit der auch ein wirtschaftlich - und somit strategisch - weit überlegener Gegner durch schnelle Entscheidungsschlachten besiegt werden konnte. Dieses illusionäre Wunschdenken sollte sich später bei der Konzeption des Feldzugs gegen die Sowjetunion verhängnisvoll auswirken.

Zweiter Teil »Blitzkrieg« ohne »Blitzkrieg«-Konzept. Zur Vorgeschichte des Westfeldzuges

»Es war der Sieg, der dem Blitzkrieg den Status einer Doktrin verlieh 1.«

(Hew Strachan)

I. Hatte Hitler einen gesamtstrategischen Kriegsplan? Der Zweite Weltkrieg war für das Deutsche Reich politisch schon verloren, bevor er militärisch richtig begonnen hatte. Paul Schmidt, der Chefdolmetscher Hitlers, berichtet von einer gespenstisch anmutenden Szene in der Reichskanzlei, wo er am 3. September 1939 die britische Kriegserklärung übersetzen mußte: »Als ich geendet hatte, herrschte völlige Stille [...]. Wie versteinert saß Hitler da und blickte vor sich hin. Er war nicht fassungslos, wie es später behauptet wurde, er tobte auch. nicht, wie es wieder andere wissen wollten. Er saß völlig still und regungslos an seinem Platz. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich Ribbentrop zu, der wie erstarrt am Fenster stehen geblieben war. >Was nun?Was habt ihr nur mit unseren Flugzeugen gemacht< 150?«

Diese waren keineswegs verschwunden, sondern die meisten befanden sich auf Flugplätzen tief im Landesinneren oder in Depots, nur eben nicht an der Front. Eine Kontrollkommission zählte kurz nach dem Waffenstillstand im nichtbesetzten Teil Frankreichs 4268 Flugzeuge. Zusätzlich wurde bekannt, daß zum selben Zeitpunkt in Nordafrika noch 1800 Maschinen standen151 • Doch der Vorwurf organisatorischer Unfähigkeit, der der französischen Luftwaffengeneralität gemacht wurde, geht ins Leere. Wenn zu Beginn des Westfeldzugs das französische Luftwaffenpotential so gering mobilisiert war, dann nicht, weil es die verantwortlichen Generale nicht besser konnten, sondern gerade weil sie dies so wollten. Die französische Führung ging davon aus, daß der Konflikt mit dem Deutschen Reich zu einem langwierigen strategischen Abnutzungskrieg- wie im Ersten Weltkrieg - führen werde. Diejenige Luftwaffe, die am Schluß noch über genügend Flugzeuge verfüge, werde den Sieg erringen. Deshalb mußte es als verfehlt erscheinen, von Anfang an alles auf eine Karte zu setzen. Doch genau dies tat die deutsche Luftwaffe. Sie hatte für den Angriff schlagartig alle Reserven mobilisiert, um sofort die Luftüberlegenheit zu erringen. Aus diesem Grund lassen sich weder die Einsatzdoktrin noch die Stärkeangaben der deutschen und der französischen Luftwaffe am 10. Mai miteinander vergleichen. Die wenigen an der Front eingesetzten französischen Flugzeuge sollten lediglich die erste von etlichen noch zu erwartenden Schlachten schlagen. Doch bereits die erste Schlacht brachte die Entscheidung. Großbritannien, Belgien, Niederlande Auch bei der Einschätzung der britischen Luftwaffe ergibt sich die Frage, welche Stärke die richtige ist: die beschränkte Anzahl der Flugzeuge, die die Royal Air Force zum Zeitpunkt des deutschen Angriffs gerade bereitgestellt hatte, oder die Anzahl, die sie hätte mobilisieren können, wenn sie wie die deutsche Luftwaffe schlagartig ihr ganzes Potential in die Waagschale geworfen hätte. Die Einsatzstärke der britischen Luftwaffe an der französischen Nordostfront betrug am Ebd. Shirer, Zusammenbruch, S. 648; Deighton, Blitzkrieg, S. 328; Piekalkiewicz, Luftkrieg, S. 83. 149 Shirer, Zusammenbruch, S. 650. 150 Cot, En 40, S. 42. !SI Ebd., s. 38. 147

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Zweiter Teil: »Blitzkriege ohne »Blitzkriege-Konzept

10. Mai 1940 etwa 500 Flugzeuge (dabei 224 Bomber und 160 Jäger) 152• Doch diese Zahlen haben nur geringen Aussagewert hinsichtlich des Gesamtpotentials. Wie sollte man sonst erklären, daß die Royal Air Force während des Westfeldzugs 1029 Flugzeuge einbüßte, also erheblich mehr, als am 10. Mai an der Front standen153 ? So befanden sich von den 42 britischen Jagdstaffeln zunächst nur 14 auf dem Kontinent. Nach Beginn des deutschen Angriffs verlegte jedoch das britische Oberkommando weitere Staffeln nach Frankreich. Zahlreiche Flugzeuge wurden auch von Flugplätzen auf der Insel aus eingesetzt. Dies bekam die deutsche Luftwaffe vor allem bei Dünkirchen zu spüren, als sie plötzlich von modernen Spitfire-Jägern angegriffen wurde. Berücksichtigt man zusätzlich zu den bereits in Frankreich stehenden Staffeln auch die in England unmittelbar bereitgehaltenen, so kommt man für den 10. Mai auf eine Stärke von mindestens 1870 Maschinen (inklusive Aufklärer)154 • Doch selbst diese Zahl kann nicht einmal annähernd die tatsächliche Gesamtstärke der Royal Air Force beschreiben. Wie der britische Luftwaffenhistoriker R.J. Overy darlegt, standen bereits im September 1939 zusätzlich zu den 1911 ,.first-line«-Flugzeugen noch 2200 (häufig ältere Modelle) bereit 155 • Die Stärkeangaben hinsichtlich der belgiseben und niederländischen Luftwaffe werden in den meisten Darstellungen sehr ungenau wiedergegeben oder völlig ignoriert. Erheblich mehr Interesse zeigte hierfür die damalige deutsche Luftwaffenführung. Sie konzentrierte sich in den ersten Stunden des Westfeldzugs darauf, diese in einem Überraschungsangriff auszuschalten. Belgien verfügte über insgesamt 377 Maschinen (inklusive Transport-, Verbindungsflugzeugen usw.); davon waren am 10. Mai ca. 78 Jäger und 40 Bomber einsatzbereit. Die niederländische Luftwaffe bestand aus 124 Frontflugzeugen, wobei zu Beginn des Westfeldzugs 63 Jäger und 9 Bomber eingesetzt werden konnten 156• Es gibt nur wenige Legenden, die derart unausrottbar erscheinen wie die von der zahlenmäßigen Überlegenheit der deutschen Kampfflugzeuge. Hier kommt es darauf an, den richtigen Maßstab anzulegen157 • Am zuverlässigsten erscheinen die neuesten Berechnungen von Kirkland, French Air Strength in May 1940, S. 24. Vgl. auch Gunsburg, Divided, S. 108; Bond, France and Belgium, S. 171; Shirer, Zusammenbruch, S. 647; Sormail, Haut commandement, S. 5; Umbreit, Kampf um die Vormachtstellung, S. 282; Piekalkiewicz, Luftkrieg, S. 67; Turnbull, Dunkirk, S. 66; Facon, Chasseurs, S. 36; Harvey, French Armee de l'air, S. 450; Ellis, War in France, S. 309. 153 Auf diese Diskrepanz hat vor allem Uhle-Wettler (Höhe- und Wendepunkte, S. 298 f.) hingewiesen. 154 Gunsburg, Divided, S. 108; Danel, En mai-juin, S. 51; Ellis, War in France, S. 309; Cot, gibt 1850 britische Flugzeuge an (vgl. En 40, S. 41). 155 Overy, Air War, S. 23. 156 Danel, En mai-juin, S. 51; ders., La conqu~te de la Hollande, S. 23; Cot, En 40, S. 41. Nicht berücksichtigt sind hierbei die 43 niederländischen Marineflugzeuge, von denen nur wenige zum Kampfeinsatz gelangten. 157 Zu einer ähnlichen Verzerrung der Maßstäbe ist es bei den ebenfalls zur Luftwaffe zählenden Flugabwehrgeschützen gekommen. Angeblich waren die deutschen Angriffsdivisionen in Frankreich durch insgesamt 10000 Flugabwehrkanonen geschützt. Doch die genannten Zahlen schließen die im Reichs· gebiet zur Heimatluftverteidigung aufgestellten Flugabwehrkanonen mit ein. Jener offenbar durch eine falsche Übersetzung entstandene »Webfehler« ist seitdem durch zahlreiche Historiker »Weitergewoben« worden. Darauf weist Harvey hin. Nach seinen Berechnungen (French Armee de l'Air, S. 449) befanden sich bei den deutschen Angriffsarmeen nur 1696 Flugabwehrkanonen. 152

VI. War die Wehrmacht vom Kräftevergleich her überlegen?

57

Je nachdem, welche Kriterien man wählt, gelangt man zu zwei höchst unterschiedlichen Versionen des Kriifteverhältnisses.

Einsatzbereite Kampfflugzeuge am 10.5.1940 an der Westfront Frankreich Großbritannien Belgien Niederlande Alliierte Deutsches Reich

879 384 118 72 1453 Bomber und Jäger 2589 Bomber/Stuka/Schlachtflieger/Jäger/Zerstörer

Dieser Zahlenvergleich vermittelt ein falsches Bild, denn er bezieht sich nur auf die alliierten Kampfflugzeuge, die zufällig zum Zeitpunkt des deutschen Angriffs »einsatzbereit« an der Front standen. Natürlich war der Grad der »Einsatzbereitschaft« bei der deutschen Luftwaffe deutlich höher. Schließlich kannten die deutschen Generale den Zeitpunkt des Überraschungsangriffs und hatten hierfür ein Maximum an Maschinen startklar machen lassen. Eine weitere Verzerrung der Vergleichsmaßstäbe ist dadurch entstanden, daß etliche Historiker bei den Alliierten nur die wenigen Flugzeuge, die am 10. Mai zu den Frontverbänden gehörten, berücksichtigt haben. In Wirklichkeit verfügten die Franzosen zusätzlich zu den 1410 Kampfflugzeugen an der Front (davon 879 einsatzbereit) noch über 1176 Jäger und 511 Bomber im Hinterland. Diese Dislozierung erfolgte auch als Vorsichtsmaßnahme, damit im Falle eines deutschen Überraschungsschlages nicht allzu viele Maschinen am Boden zerstört würden. Ebenso hatte die Royal Air Force in Großbritannien noch 540 Jäger und 310 Bomber bereitgehalten, die gleich nach dem deutschen Angriff auf den Kontinent verlegt wurden oder die von ihren Flugplätzen auf der Insel in die Kämpfe eingriffen 158 • Die Berücksichtigung dieser zusätzlichen Verbände ergibt (selbst bei Ausklammerung der sonstigen britischen Reserven) ein völlig neues Bild:

Tatsächlich vorhandene Kampfflugzeuge (Ist-Stärke) am 10. Mai 1940 an der Front und im Hinterland Frankreich Großbritannien Belgien Niederlande

3097 1150 140 82

Alliierte Deutsches Reich

4469 Bomber und Jäger 3578 Bomber/Stuka/Schlachtflieger/Jäger/Zerstörer

158

Vgl. z.B. Sormail, Haut commandement, S. 5; Liß, Westfront, S. 145; Umbreit, Kampf um die Vor· machtstellung, S. 282.

58

Zweiter Teil: •Blitzkrieg« ohne »Blitzkriege-Konzept

Dies sind die Zahlen, die das tatsächliche Kriifteverhältnis widerspiegeln. Während die Deutschen etwa drei Viertel ihres Potentials hatten mobilisieren können, betrug dieses Verhältnis bei den Franzosen etwas mehr als ein Viertel1 59 • Der Luftwaffe war es somit gelungen, die absolute Überlegenheit der westlichen Luftstreitkräfte in eine relative eigene Überlegenheit zum Zeitpunkt ihres Überraschungsangriffs umzuwandeln. Wie dramatisch sich die Relation der beiden Luftwaffenpotentiale zum Nachteil der Deutschen entwickelte, demonstriert ein Vergleich der Produktionskapazitäten. Bereits 1939 überflügelte die britische Luftfahrtindustrie die deutsche hinsichtlich der monatlichen Produktionsrate. 1940 stieg in den ersten fünf Monaten bis zum Westfeldzug die britisch-französische Flugzeugproduktion nahezu auf das Doppelte der deutschen160. Hinzu kamen noch die Lieferungen der amerikanischen Rüstungsindustrie. Die Franzosen hatten Ende 1939 insgesamt 4700 Flugzeuge bestellt 16 \ während die Briten bis August 1940 die Lieferung von 14000 Flugzeugen und 25000 Flugzeugmotoren in Auftrag gaben162. Ausall dem folgt, daß die deutsche Luftwaffe zu keinem Zeitpunkt eine Chance hatte, den zahlenmäßigen Vorsprung der Westmächte aufzuholen. b) Qualitativer Vergleich Die meisten Autoren gehen von der Annahme aus, daß die Piloten der Alliierten fast durchweg mit minderwertigen Maschinen gegen die technisch weit überlegenen deutschen Flugzeuge hätten kämpfen müssen. Doch diese These muß bei einem genaueren Vergleich (siehe Graphik) erheblich relativiert werden. Während die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg zumindest über ein kleines Heer und eine noch bescheidenere Marine verfügen durften, war ihnen der Aufbau von Luftstreitkräften gänzlich untersagt. Als Hitler die Aufstellung einer Luftwaffe befahl, schien der technische Rückstand auf längere Zeit uneinholbar. V m so erstaunlicher wirken die Spitzenleistungen der deutschen Konstrukteure. So galt zeitweilig die von Professor Willy Messerschmitt entwickelte Me 109 als das beste Jagdflugzeug der Welt. Sie zeigte sich gegenüber den schon älteren Morane 406 und Potez 63-Jägern der französischen Luftwaffe deutlich im Vorteil. Aber bereits gegenüber der Bloch 152 erschien der Qualitätsunterschied keineswegs allzu erheblich. Die Dewoitine 520 und die Curtis »Hawk« waren diesem deutschen Jagdflugzeug durchaus gewachsen. Dies galt auch für die britische Hurricane. Mit der Spitfire konnte die Royal Air Force sogar ein Flugzeug präsentieren, das der Me 109 in einigen Belangen überlegen war.

Kirluand ist in einer soeben erschienenen Darstellung unter Anwendung anderer Zählkriterien (z. B. unter zusätzlicher Berücksichtigung der Aufklärer) zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt. Danach waren bei den Deutschen 76,8 Prozent, bei den Franzosen aber nur 25,3 Prozent der Flugzeuge einsatzbereit an der Front; vgl. ders., French Air Strength in May 1940, S. 28. 160 Overy, Air War, S. 23, 28; K.irkland, French Air Force, S. 103; Cot, En 40, S. 41; Gunsburg, Divided, s. 107f. 161 Shirer, Zusammenbruch, S. 650. 162 Overy, Air War, S. 28. 159

VI. War die Wehrmacht vom Kräftevergleich her überlegen?

59

Die neu eingeführten französischen Bombermodelle mußten im Jahr 1940 als die »fortschrittlichsten der Welt« angesehen werden 163• Aber auch die modernen britischen Bomber waren den vergleichbaren deutschen zumeist überlegen- sieht man von der Ju 88 ab. Einen Spezialfall stellt der Sturzkampfbomber Ju 87 dar. Wie die Graphik erläutert, rangierte dieses Flugzeug in bezug auf Geschwindigkeit, Reichweite und Bombenlast eigentlich am Ende der Leistungsskala. Zwar erschien die Treffgenauigkeit bemerkenswert, da der Stuka nicht im Horizontal- sondern im Sturzflug angriff. Die eigentliche Wirkung dieses legendären Flugzeuges aber war - wie noch darzustellen ist - eher moralischer Art. Der größte Nachteil bestand darin, daß es nur bei eigener Luftüberlegenheit eingesetzt werden konnte, ansonsten wäre diese schwerfällige Maschine eine allzu leichte Beute der gegnerischen Jäger geworden. Dies zeigten später die enormen Verluste während der Luftschlacht über England. Eine weitere Klischeevorstellung betrifft die Überlegenheit der deutschen Piloten. In Wirklichkeit waren diese im Durchschnitt erheblich schlechter ausgebildet als die der Alliierten. Hitler hatte erst vor wenigen Jahren fast »von Null an« die Luftwaffe aufstellen lassen. Dem überstürzten Aufbau der Luftstreitkräfte entsprach auch die Qualität der Pilotenausbildung. In den letzten dreieinhalb Monaten vor Kriegsbeginn starben bei Flugunfällen 281 Luftwaffenangehörige, während 287 zum Teil schwer verletzt wurden 164• Erfahrene Piloten waren »Mangelware« und mußten deshalb fast ununterbrochen eingesetzt werden. Der Nimbus der deutschen Luftüberlegenheit erscheint vor allem fragwürdig, wenn man die Verlustbilanz im Westfeldzug analysiert. So büßte die französische Armee de l'Air zwar 892 Flugzeuge ein, davon aber nur 306 im Luftkampf. Hingegen konnten die französischen Jäger 733 deutsche Maschinen abschießen165 • Bei der Royal Air Force betrugen die Verluste 1029 Flugzeuge 166 • Die deutsche Luftwaffe hingegen, die angeblich so souverän den Luftraum beherrschte, verlor im Westfeldzug 1559 Maschinen {inklusive 323 beschädigte) 167•

163 164

165

166 167

Kirkland, French Air Strength, S. 26. Kroener, Personelle Ressourcen, S. 717. Cot, En 40, S. 42, 53; Buffotot/Ogier, L'armee de l'air, S. 111. Harvey, French Armee de !'Air, S. 455; Kirkland, French Air Force, S. 117, Anm. 4. Akten des Genst der Luftwaffe (Generalquartiermeister), BA-MA, RL 2 III/1173 sowie 1174.

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...., c' ...::!... Einfall< Hitlers, sicherlich sogar ein guter Einfall. Wie wenig er aber in der Lage war, diesen Einfall militärisch durchzudenken, zeigen seine späteren Eingriffe in die laufende Operation55.«

Auch Generaloberst a. D. Hoth sieht darin nur eine der vielen »sprunghaften Intuitionen« Hitlers und warnt davor, einen »am 25. 10.39 rasch hingeworfenen, am nächsten Tage wieder fallengelassenen Gedanken« zu einer operativen Idee hochzustilisieren56 • Da dem Diktator jedoch die Entwürfe des Oberkommandos des Heeres unbefriedigend erschienen, grübelte er weiter über den Karten. Am 11. November überraschte er die Generalität mit dem Einfall, zusätzlich einen Vorstoß auf Sedan zu versuchen. Guderian sollte an der Spitze eines Armeekorps aus gepanzerten und motorisierten Truppen an dieser Stelle die Maas überwinden. Doch - wie bereits dargestellt - wurde lediglich 53 54

55 56

Liddell Hart, Zweiter Weltkrieg, S. 60. Bock, Tagebuchnotizen Westen (Vorbereitungszeit), S. 9 (25.10.1939), BA-MA, Study P-210, Bd 1; OKWIWFSt, KTB, Notizen Hptm. Deyle, BA-MA, RW 4/41, S. 4; vgl. auchJacobsen, Fall Gelb, S. 40. Halder, Hitler, S. 29. Hoth, Buchbesprechung zu: Jacobsen, »Fall Gelb«, S. 118; ders., Zu »Mansteins Operationsplan«.

II. Manstein und die Entwicklung des »Sichelschnitt-Plans«

93

den bisherigen zwei Schwerpunkten, wie sie in der zweiten Aufmarschanweisung festgelegt waren, noch ein dritter hinzugefügt. Hitler wagte es offenbar nicht, alles auf eine Karte zu setzen, und verstieß damit gegen einen der wichtigsten Grundsätze des »Blitzkrieges«, nämlich das Konzentrationsprinzip. Zu seiner Rechtfertigung erklärte er, daß der Schwerpunkt erst während der laufenden Operation je nach Lageentwicklung gebildet werden sollte. Gegen jene Unentschlossenheit in der Operationsplanung richtete sich die Kritik Mansteins. Er sah folgende Schwachstelle: »Nach Moltke sind Fehler im ersten Aufmarsch nicht wieder gut zu machen. [...]Die Luftwaffe kann ihren Schwerpunkt jederzeit verlegen, das Heer, wenn die Operation einmal läuft, nicht mehr, wenigstens nicht mehr in kurzer Zeit57 .«

Vor allem sah er im isolierten Vorstoß des XIX. Armeekorps auf Sedan eine Halbheit - ebenso wie Guderian, der dieses Korps führte. Es war nämlich geplant, das Xl\1. Armeekorps (mot.) lediglich als Reserve folgen zu lassen, anstatt es von Anfang an zusammen mit dem Korps Guderians zu einem gemeinsamen Angriff auf die Maaslinie bei Sedan einzusetzen. In der Folgezeit kreisten Hitlers Gedanken immer stärker um Sedan, eine Stadt, die ihn schon allein wegen der legendären Schlacht von 1870 in den Bann zog. Er tendierte immer mehr dazu, hierher den Schwerpunkt zu verlegen, ohne jedoch diese Überlegung in ein klares Konzept umsetzen zu können 58 • Um so begieriger sog er jene Informationen in sich auf, die ihm sein Chefadjutant Schmundt am 2. Februar nach einem Besuch bei der Heeresgruppe A in Koblenz hinterbrachte. In Mansteins Gedankengängen fand er exakt jene Argumente, dazu noch bestechend formuliert, die ihm bislang gefehlt hatten. Somit muß bereits der 2. Februar als der Tag angesehen werden, an dem sich Hitler zu einer radikalen Änderung des bisherigen Operationsplans entschloß. Das »konspirative« Treffen nach dem sogenannten »Arbeitsfrühstück« am 17. Februar diente eher der Klärung zusätzlicher Fragen, wobei Manstein endlich seine Karten aufdecken und die Bereitstellung starker Panzerkräfte fordern konnte. Hitler hatte bereits am 13. Februar über Jodl das Oberkommando des Heeres instruiert, daß nunmehr der Hauptstoß »Richtung Sedan« geführt werden sollte. Doch hierbei erwähnte er mit keinem Wort, daß er in Mansteins Gedankengänge eingeweiht war, ebensowenig am 18. Februar, als er dessen tags zuvor erhobene Forderung nach starken Panzerkräften dezidiert an das Oberkommando des Heeres richtete. Zu der unübersehbaren Anzahl von Legenden über den Westfeldzug zählt auch die in praktisch allen Geschichtsbüchern stehende Behauptung, Hitler habe instinktiv durch intuitive Erwägungen dieselbe operative Lösung gefunden wie Manstein aufgrund seines generalstabsmäßigen Kalküls. Dieser Behauptung muß entschieden widersprochen werden. Beide sagten zwar das gleiche, aber sie meinten nicht dasselbe. Hierbei ist das Mißverständnis in der zufälligen geographischen Übereinstimmung im Ort Sedan zu sehen. Nach dem Kriege haben beispielsweise die ehemaligen Generalobersten Halderund Hoth 57

58

Heeresgruppe A, Chef, Vortragsnotiz (19.1.1940), BA-MA, RH 19 I/26, BI. 101. Halder, Kriegstagebuch, Bd 1, S. 166f.; vgl. auch OKW/WFSt, KTB, Notizen Hptm. Deyle, BA-MA, RW 4/41, S. 5ff.

94

Dritter Teil: Das Ringen um den »Sichelschnitt-Plan«

sowie Generalfeldmarschall v. Manstein darauf hingewiesen, daß die Vorstellungen, die Hitler mit Sedan verband, eher taktischer Natur waren59 • Er hatte lediglich- wie ihm Manstein zubilligte - erkannt, »daß man am leichtesten bei Sedan über die Maas kommen werde«60 • Doch als militärischer Autodidakt war er nicht in der Lage, diese Idee zu Ende zu denken. Manstein hingegen beschäftigte die strategische Frage, wie man eine »volle Entscheidung« erzielen konnte. Während Hitlers Überlegungen in erster Linie auf das jenseitige Ufer der Maas gerichtet waren, reichten sie bei Manstein bis zur Kanalküste. Hier am Unterlauf der Somme war seiner Voraussicht nach ein »voller Sieg« möglich, wenn es gelang, schnell genug dorthin vorzustoßen und alle im Norden konzentrierten alliierten Truppen einzuschließen. Bei der operativen Umsetzung dieser strategischen Idee sollten Panzer die Ardennen durchqueren und im Überraschungsangriff die Maas überschreiten. Die Wahl des Ortes für den Maasübergang war eher ein taktisches Problem, wobei sich sein Ratgeber Guderian für Sedan aussprach, da er das dortige Gelände aus eigener Kenntnis für geeignet hielt. Um diesen Zusammenhang auf den Punkt zu bringen: Hitler verband mit Sedan taktische und somit rein induktive Überlegungen, Manstein hingegen deduktive, nämlich übergeordnet strategische. Dies jedoch war ein elementarer Unterschied, wie sich während des Feldzugs nach Überschreiten der Maas herausstellen sollte. Als nun die Panzerdivisionen nach dem Durchbruch bei Sedan - genau so wie es Manstein und Guderian wollten - in Höchstgeschwindigkeit zur Kanalküste vorstießen, geriet der Diktator in Panik. Wie aber kann Hitler die Operation »Sichelschnitt« so gewollt und geplant haben, wenn er - gerade als sich ihr Erfolg abzeichnete - an den Rand eines Nervenzusammenbruchs geriet und die Panzer stoppen ließ? Der Grund für das große Mißverständnis um Sedan liegt darin, daß er als militärischer Laie die Unterschiede zwischen taktischen, operativen und strategischen Erwägungen nicht immer erkennen konnte 61 • Hitler erging es wie einem amateurhaften Schachspieler, dem eher durch Zufall der gleiche »geniale« Schachzug gelingt wie einem Großmeister (diesem jedoch aufgrundeines viel komplexeren Denkprozesses) und der nun glaubt, auch er sei ein großer Meister. Doch als er seinem Generalstab, der die Partie schon gewonnen hatte, ins Handwerk pfuschte und die Panzer vor Dünkirchen stoppen ließ, bewahrte er die britische Armee vor dem »Schachmatt«. Wie wenig Hitler die Idee des »Sichelschnitts« verstanden hatte, soll bei der Betrachtung der Operation im einzelnen dargestellt werden.

59 60

61

Halder, Hit!er, S. 28ff.; Hoth, Mansteins Operationsplan, S. 130; Manstein, Verlorene Siege, S. 106f. Manstein, Verlorene Siege, S. 106f. Vgl. z.B. Halder, Hit!er, S. 30f.

111. Der »Drehtür-Effekt« beim Schlieffenplan und »Sichelschnitt-Plan« •Eine vollkommene Schlacht bei Cannae ist in der Kriegsgeschichte nur selten zu finden. Denn zu ihr gehön auf der einen Seite ein Hannibal, auf der anderen ein Terentius Varro, die beide in ihrer Weise zur Erreichung des großen Zweckes zusammenwirken 62 .« (Generalfeldmarschall Graf v. Schlieffen)

Die operativen Überlegungen Mansteins, die dem »Sichelschnittplan« zugrunde lagen, lassen sich nur nachvollziehen, wenn sie - wie er selbst betont - vor dem Hintergrund des Schlieffenplans betrachtet werden63 • Liddeli Hart hat in seinem bekannten »DrehtürVergleich« das Funktionsprinzip beider Pläne anschaulich in Zusammenhang gebracht. In beiden Fällen konnte es nur dann gelingen, in den Rücken des Gegners zu gelangen, wenn dieser durch eine Vorwärtsbewegung ungewollt einen »Drehtür-Effekt« auslöste64 : - 1914 befand sich der Drehpunkt bei Diedenhofen (Thionville) südlich von Luxemburg. Je ungestümer die Franzosen nach Elsaß-Lothringen hineindrängten, desto heftiger mußte ihnen der »Drehflügel« aus Richtung Belgien in den Rücken schlagen. - 1940 war das Drehmoment genau umgekehrt, nämlich im Uhrzeigersinn. Je weiter nördlich die alliierten Interventionstruppen nach Belgien vorrückten, desto leichter konnten ihnen die deutschen Panzerdivisionen über die Ardennen in den Rücken gelangen und bis zur Kanalküste vorstoßen.

1. Schlieffenplan und Joffreplan im Jahre 1914 Moltke d. Ä. war es 1870 im Krieg gegen Frankreich gelungen, sofort eine Entscheidung zu erzielen, als er eine französische Armee in der Kesselschlacht von Sedan, dem »Cannae des 19.Jahrhunderts«, einschließen konnte. Bei Cannae hatte Hannibal216 v. Chr. mit etwa 50 000 Mann ein fast 80 000 Mann starkes römisches Heer eingekesselt und vernichtet. Dem karthagischen Feldherrn gelang es, seinen römischen Gegenspieler Terentius Varro zu einem Frontalangriff gegen das provozierend nach vorne gewölbte Zentrum seines Heeres zu verleiten. Die hier aufgestellten Leichtbewaffneten wurden immer weiter zurückgedrängt. Da aber an beiden Flügeln die dichtgestaffelt stehenden Schwerbewaffneten als Eckpfeiler ihre Stellung hielten, drangen die Römer in der Mitte gleichsam in einen Sack hinein. Gleichzeitig überrannte die auf dem linken Flügel überpro62

6'

64

Schlieffen, Cannae, S. 262. Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf den Aufsatz von Günter Roth, Operatives Denken bei Schlieffen und Manstein, an dessen Konzeption der Verfasser mitgewirkt hat. Vgl. Horne, Über die Maas, S. 136.

..0 Liebesdienst< einer frühzeitigen Offensive nach Lothringen hinein erweisen würden«77 • Schlieffen habe dafür »das Risiko anfänglicher Rückschläge im Elsaß in Kauf genommen, und zugleich hoffen dürfen, daß der Gegner durch eine Offensive in Lothringen das Seine tun werde, um der großen Umfassungsoperation der Deutschen zum vollen Erfolg zu verhelfen« 78 • Diesmal jedoch war es erheblich schwieriger, den Gegner in die Falle eines modernen »Cannae« zu locken. Eine strategische Überraschung erschien unmöglich, schließlich waren es Großbritannien und Frankreich, die dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatten. Bis zum Mai 1940 blieben ihnen acht Monate Zeit, um sich auf die erwartete deutsche Offensive vorzubereiten. Auch eine operative Überraschung war kaum möglich, denn der »Trick« von 1914, nämlich die französische Armee von Norden her über Belgien zu überflügeln, mußte seit dem Scheitern des Schlieffenplans als bekannt angesehen werden. Manstein schlug deshalb vor, den Angriffsschwerpunkt von der Heeresgruppe B auf dem rechten Flügel zur Heeresgruppe A in die Mitte zu verlegen. Nach dem Durchbruch bei Sedan sollte eine Schwenkbewegung nicht nach Süden (wie beim Schlieffenplan), sondern nach Norden Richtung Sommemündung erfolgen, um den alliierten Nordflügel an der Kanalküste einzuschließen. Doch das Oberkommando des Heeres hatte Mansteins Idee zunächst als absurd und gefährlich zurückgewiesen. Sie schien ein operatives Vabanquespiel darzustellen und erinnerte somit fatal an den Schlieffenplan. Wieder einmal sollte das Schicksal des Reiches vom Erfolg einer einzigen Operation abhängig gemacht werden. Vor allem aber hing alles davon ab, daß der Gegner den gleichen entscheidenden Fehler machen würde wie 1914, als er in die Iothringische Falle hineinstoßen wollte. Diesmal konnte die Umfassung nur gelingen, wenn die Alliierten- wie Manstein annahm - mit dem linken Flügel in die belgisehe Falle hineinmarschieren würden. Nur so war der erforderliche Drehtürmechanismus in Gang zu setzen. 76 77

78

Clausewitz, Vom Kriege, S. 1040. Manstein, Verlorene Siege, S. 96. Ebd., S. 97.

Ill. Der »Drehtür-Effekt« beim Schlieffenplan und »Sichelschnitt-Plan«

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Dritter Teil: Das Ringen um den »Sichelschnitt-Pian«

Liddell Hart hat diesen Zusammenhang mit einem Stierkampf verglichen. Danach stellte die im Norden angreifende Heeresgruppe B den roten Mantel des Toreros dar. Sie sollte die alliierten lnterventionskriifte dazu reizen, wie ein wütender Stier vorwärts nach Belgien zu stürmen- hinein in die Falle. Denn nun konnten die in der Heeresgruppe A konzentrierten Panzerdivisionen wie ein Degen in die entblößte rechte Flanke hineinstoßen79. Von der Theorie her mußte dieser operative Schachzug wahrlich brillant erscheinen. Was war jedoch dann, wenn die französischen und britischen Truppen an der Grenze stehenbleiben würden? In diesem Fall konnten sie sich rechtzeitig hinter die Somme zurückziehen. Würden sie jedoch nach Süden durchbrechen, so drohte dem deutschen Umfassungsflügel seinerseits ein »Cannae« an der Kanalküste. Doch Mansteins Feindlagebeurteilung sollte sich als richtig erweisen. b) Das Bekanntwerden der alliierten Operationsabsichten Im Januar 1940 ereignete sich ein Zwischenfall, der eigentlich nur eine Fußnote der Geschichtsschreibung darstellen würde, wenn er nicht die Alliierten zu einem verhängnisvollen Fehler provoziert hätte. Es handelt sich um die bereits geschilderte Notlandung zweier deutscher Offiziere bei Mechelen. Aus französischer Perspektive spielte sich jene Episode wie folgt ab: »Die Deutschen wußten genau, welche Bewegungen wir im Fall einer Invasion Belgiens unternehmen würden, weil wir die Freundlichkeit gehabt hatten, unter ihren Augen eine Hauptprobe dafür zu veranstalten. Das kam folgendermaßen. Eines Tages machte ein deutsches Flugzeug in Belgien eine Landung. Seine Insassen waren Generalstabsoffiziere, die einen [... ] Plan zur Invasion Belgiens an einem bestimmten Datum mit sich trugen. Sie versuchten zum Schein, ihre Dokumente zu verbrennen, sorgten aber dafür, daß ihnen das nicht gelang. Wir wurden sofort eingehend davon unterrichtet. Die britische Armee wurde in Bereitschaftszustand versetzt[... ]. Dann wurden gewaltige Truppenbewegungen durchgeführt, sämtliche Reserven an die Front geschoben und die Deutschen beobachteten von ihren Erkundungsflugzeugen aus alle diese Bewegungen und zeichneten sie sorgfältig auf, wahrscheinlich überrascht über den Erfolg einer Kriegslist, die so uralt und so durchsichtig war80 .«

Natürlich ist die hier verbreitete Agentengeschichte reine Spekulation. Wie aus den deutschen Akten hervorgeht, handelte es sich keineswegs um den gezielten Einsatz eines »agent provocateur«, sondern um eine höchst peinliche Panne. Doch der Effekt war für die deutsche Feindaufklärung derart gewinnbringend, daß diese Aktion, wenn sie beabsichtigt gewesen wäre, nicht besser hätte inszeniert werden können. So führte also nicht das vermeintliche Bekanntwerden des deutschen Operationsplans, sondern - verursacht durch die Überreaktion der Gegenseite - das Bekanntwerden der alliierten Operationsabsichten letztlich zur Annahme des Manstein-Plans. Der deutsche Nachrichtendienst wußte nicht nur mit großer Wahrscheinlichkeit, daß alliierte Interventionstruppen im Falle eines deutschen Angriffs nach Belgien vorrücken würden, er kannte auch deren grobe Gliederung. Ja er konnte sogar in Erfahrung brin79

so

Liddeli Hart, Jetzt dürfen sie reden, S. 197, 208. Maurois, Tragödie Frankreichs, S. 85f.; vgl. hierzu Liß, Westfront, S. 119.

III. Der •Drehtür-Effekte beim Schlieffenplan und »Sichelschnitt-Plan«

103

gen, daß diese entlang der sogenannten Dyle-Linie in Stellung gehen würden. Außerdem war es gelungen, den französischen Funkverkehr zu entschlüsseln81 • H. Zimmermann gab seinem Buch über den Durchbruch des XVI. Panzerkorps durch die Dyle-Linie den Titel »Der Griff ins Ungewisse«. Hierzu äußerte sich der ehemalige Chef des Generalstabes dieses Korps, Generalleutnant a. D. Chales de Beaulieu, in einer gewissen Ironie: »Die Panzerschlacht von Hannut war planspielmäßig vorbereitet! Wie die Dylestellung vom Gegner besetzt werden sollte - mit seinen besten mot. Truppen - war auch schon vor Kampfbeginn durchgesickert. In solcher Lage von einem •Griff ins Ungewisse< zu schreiben, ist nicht möglich. Denn es ist alles so gekommen, wie es vermutet war 82.«

c) Die deutschen Täuschungsmaßnahmen Die Feindlagebeurteilung Mansteins war durch die Ergebnisse der Aufklärung eindrucksvoll bestätigt worden. Demnach war ein neues »Cannae« in den Bereich des Möglichen gerückt, wenn man die von ihm konzipierte Umfassungsidee konsequent durchführte. Doch zur Umsetzung des Drehtür-Effekts war eine doppelte Voraussetzung notwendig: Einerseits mußte die Aufmerksamkeit des Gegners auf die Heeresgruppe B im Norden gelenkt werden, andererseits mußte der Vorstoß der bei der Heeresgruppe A konzentrierten Panzerdivisionen durch die Ardennen so lange wie möglich verschleiert werden. Um dies zu bewerkstelligen, griff man schon in der Vorbereitungsphase zu den verschiedensten und bizarrsten Methoden: »Da gibt es Leute, die ins neutrale Ausland reisen und, je nach ihrer Persönlichkeit entweder eingeweiht oder als bekannte Plaudertaschen selbst getäuscht, ihren Geschäftsfreunden indiskrete Dinge erzählen, da gibt es an den verschiedensten Plätzen der Welt neutrale Attaches usw., die von guten Freunden dieses oder jenes aufschnappen können, da gibt es vom Feind abgehörte Telefonleitungen, auf denen >unvorsichtige< Gespräche geführt werden, und schließlich Klubs, vielleicht auch einmal eine elegante Frau, die bewußt oderunbewußt zum Träger von Gerüchten werden. Auf vielen solchen Wegen wurde in den Monaten vor der Offensive immer wieder in der verschiedensten Form die Nachricht vom deutschen >Schlieffen Plan 1940< kolportiert. Tatsächlich haben diese Maßnahmen offensichtlich zum Erfolg beigetragen83 .«

Koordinator dieser Täuschungsaktionen war der Chef der deutschen Abwehr, Admiral Canaris. Eine besondere Rolle spielte hierbei die Funktäuschung". Auch die Propaganda wurde gezielt zur Verschleierung der deutschen Operationsabsichten eingesetzt. Während nach Feldzugbeginn jeder bei der Heeresgruppe B im Norden erzielte Erfolg marktschreieUmbreit, Kampf um die Vormachtstellung, S. 241, 277. Besonders aufschlußreich sind die Darstellungen des Generalmajors a.D. Liß, der vor und während des Westfeldzugs im Generalstab als Chef der Abteilung Fremde Heere West fungierte: ders., Westfront, S. 118 ff.; ders., Deutsche Westoffensive, S. 213ff.; ders., Dünkirchen. Vgl. hierzu die Lageberichte West der Abteilung Fremde West des GenstdH in: BA-MA, RH 2/1491 bis 1494. Den Akten der Heeresgruppen und Armeen ist ebenfalls zu entnehmen, daß die Wehrmacht über den von den Alliierten geplanten Einmarsch in Belgien hervorragend informiert war; siehe etwa HGr B, RH 1911/19, S. 127. Aus der Memoirenliteratur vgl. z. B. Guderian, Erinnerungen, S. 86. 82 Nachwort zu Zimmermann, Griff ins Ungewisse, S. 190. 8 3 Loßberg, Im Wehrmachtführungsstab, S. 76. 84 Brausch, Sedan, S. 65. 81

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Dritter Teil: Das Ringen um den ,.Sichelschnitt-Plan«

risch hinausposaunt wurde, fand der Durchbruch bei Sedan erst verspätet und nur beiläufig Erwähnung. Dadurch wurden anfangs sogar die eigenen Soldaten irritiert, wie aus einem Gefechtsbericht der 2. Panzerdivision nach dem Maasübergang bei Sedan hervorgeht: »Nun sind wir also durch! Da unten liegt die Maas, und diese vielen Bunker, das ist die sagenhafte Linie Maginot [...] Das Kofferradio gibt die Abendnachrichten. Wir hören von Erfolgen in Holland und in Belgien und sind tief enttäuscht, daß von uns gar nichts gemeldet wird[ ...] Nur langsam dämmert uns ein wenig die Erkenntnis, daß man den Gegner in dem Glauben lassen will, daß der Erfolg hier an der Maas von uns selbst nicht voll bewertet wird, damit er möglichst lange noch den Stoß der Panzergruppe in seinen Rücken nicht als den Würgegriff der Eisenfaust empfinde85.«

Besser informiert zeigte sich der damalige Hauptmann i. G. Graf v. Kielmansegg: »Seit der Unterstellung unter das Korps Guderian war jedem einzelnen das Entscheidende dieses Durchbruchs bei Sedan eingehämmert worden: >Ihr seid die Spitze der Spitze des deutschen Angriffs. Die Augen ganz Deutschlands werden auf Euch gerichtet sein!< In Wirklichkeit stimmte das übrigens - jedenfalls zu diesem Zeitpunkt - nicht. Die Verschleierung der wahren Absicht der deutschen Führung wurde auch jetzt noch durchgeführt. Während der Wehrmachtbericht sich ziemlich eingehend über die Ereignisse in Holland und Belgien äußerte, wurde über die Erfolge des entscheidenden linken Flügels nur in kurzen nichtssagenden Sätzen gesprochen, als ob es sich um eine Nebenoperation handele. Wir hatten unseren Spaß daran, wußten wir doch, was wirklich gespielt wurde86 .c

Entscheidend waren jedoch die operativen Täuschungsaktionen auf dem Gefechtsfeld. So wurde die Luftwaffe in den ersten drei Tagen ganz bewußt abseits der eigentlichen Hauptstoßrichtung eingesetzt. Die gefürchteten Bomber und Stukas griffen fast nur im Bereich der Heeresgruppe B in Holland und Belgien sowie im französischen Hinterland an. Über den Ardennen waren in erster Linie deutsche Jagdflugzeuge zu sehen, die sich »Wie Habichte« auf jeden feindlichen Aufklärer stürzten. Die wichtigste Rolle bei diesem Täuschungsmanöver operativen Ausmaßes spielte eine »Geheimwaffe« der Wehrmacht, die Fallschirmjägertruppe. Es gelang in einem der spektakulärsten Kommandounternehmen des Zweiten Weltkrieges, das Sperrfort Eben Emael, eine der stärksten Festungen der Welt, im Handstreich zu nehmen. Eine Truppe von etwa 80 Elitesoldaten landete im Morgengrauen des 10. Mai mit Hilfe von lautlos gleitenden Lastenseglern auf dem Dach der Festung und griff unter dem Einsatz von Hohlladungen die Geschütztürme und Kasematten an. Die 1200 Mann starke Besatzung wurde in die unteren Stockwerke zurückgedrängt und mußte einen Tag später nach dem Eintreffen weiterer deutscher Verstärkungen kapitulieren. Doch die Luftlandeeinsätze in Holland und Nordbelgien hatten nur vordergründig die taktische Aufgabe, den Vormarsch der Heeresgruppe B zu unterstützen, viel bedeutsamer war der operative Zweck ihres Einsatzes, nämlich in diesem Raum den Schwerpunkt der deutschen Offensive vorzutäuschen. Alle diese Ablenkungsmaßnahmen bewirkten, daß die französischen und britischen Generale in der Anfangsphase des Westfeldzugs wie hypnotisiert nach Norden starrten. Sie übersahen die tödliche Gefahr, die ihnen in der rechten Flanke drohte. Während die alliierten Elitetruppen nach Norden Richtung Belgien vorrückten, drangen gegenläufig rechts ss Oberst Koelitz, Die Schützen sind drüben, in: Mit den Panzern in Ost und West, S. 134. 86 Kielmansegg, Scharnier Sedan, 2. Teil, S. 15.

III. Der •Drehtür-Effekt« beim Schlieffenplan und »Sichelschnitt-Plan«

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an ihnen vorbei die deutschen Panzerdivisionen nach Südwesten vor. Als die Generalstäbe der Alliierten den wirklichen deutschen Schwerpunkt erkannt hatten, war es zu spät, ihre Truppen befanden sich bereits in der Falle. In diesem Zusammenhang erscheint es kurios, daß Hitler zeitweilig ein Luftlandeunternehmen ausgerechnet gegen Sedan plante87 • Dies konnte ihm jedoch unter Hinweis auf das wenig günstige Gelände wieder ausgeredet werden. Ein solches Unternehmen wäre der operativen Täuschungsabsicht des »Sichelschnitts« geradezu diametral entgegengesetzt gewesen. Denn damit hätte Hitler ein - im wahrsten Sinne des Wortes - bis in den Himmel reichendes Zeichen gesetzt, wo sich der deutsche Schwerpunkt wirklich befand. Auch wenn die Propaganda später behauptete, Hitler habe von Anfang an den »Sichelschnitt« vor Augen gehabt, so ist dies ein schlagender Beweis dafür, daß er die operativen Zusammenhänge dieser Idee und den ihr zugrunde liegenden »Drehtür«-Mechanismus überhaupt nicht verstanden hatte. Dies bestätigt die schon erwähnte These, Hitler habe mit Sedan lediglich taktische Vorstellungen verknüpft. d) Schwerpunktprinzip Die erste Aufmarschanweisungvom 19. Oktober 1939 hatte den Schwerpunkt noch auf dem rechten Flügel vorgesehen. Damals betrug das Stärkeverhältnis zwischen den HeeresgruppenBund A 37:26 Divisionen. Da jedoch auch der gegenüberstehende linke Flügel der Allüerten enorm verstärkt war, hätte dies exakt zu dem von Manstein vorhergesagten Ergebnis geführt: Schwerpunkt wäre auf Schwerpunkt geprallt. Inzwischen jedoch war - seinem Vorschlag folgend - der Schwerpunkt auf den linken Angriffsflügel in die Ardennen verlegt worden. Als am 10. Mai 1940 die Offensive begann, war die ursprüngliche Kräfterelation geradezu auf den Kopf gestellt. Nun lautete hinsichtlich der Verteilung der Divisionen das Verhältnis 29: 45 zugunsten der Heeresgruppe A. Vor allem verfügte sie über sieben der zehn deutschen Panzerdivisionen. Außerdem waren von den am 10. Mai vorhandenen 42 Reservedivisionen die meisten als Verstärkung dieser im Schwerpunkt angreifenden Heeresgruppe vorgesehen. Der deutsche Generalstab hatte aus den Fehlern von 1914 gelernt. Damals war Schlieffens eigentliche Idee verwässert und schließlich ad absurdum geführt worden. Dies sollte sich auf die unterschiedlichen Proportionen der Heeresgruppen A und B auswirken, denn die »Drehtür« konnte nur dann in Gang gesetzt werden, wenn dem starken linken Flügel der Alliierten ein schwacher rechter der Deutschen und dem schwachen rechten der Alliierten ein starker linker Flügel auf deutscher Seite gegenüberstehen würde. Die Trennlinie zwischen beiden Flügeln erstreckte sich entlang der Linie Lüttich-Namur. Die hier nach Nordosten abbiegendeMaasunterteilte das Aufmarschgebiet in einen nördlichen und einen südlichen Flügel. Beim nördlichen Angriffsflügel ergab sich ein Kräfteverhältnis von 60 : 29 Divisionen zugunsten der Alliierten: 87

Speidel, Einsatz der operativen Luftwaffe, Teil3, S. 91, BA-MA, Studie Lw 3/2; dass., An!. 41 und 47, Lw 3/4a.

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Dritter Teil: Das Ringen um den »Sichelschnitt-Plan«

- Die Heeresgruppe B griff mit zwei Armeen und insgesamt 29 Divisionen an. -Ihr gegenüber standen die niederländische Armee (10 Divisionen), die Masse der belgischen Armee (20 von 22 Divisionen) und die britische Expeditionsarmee (12 Divisionen, davon 3 noch unvollständig). Das französische Heer konzentrierte hier zahlreiche Elitetruppen: die 1. und 7. Armee (8 beziehungsweise 7 Divisionen) und die 3 mechanisierten Divisionen des Kavalleriekorps Prioux. Am südlichen Angriffsflügel zwischen Namur und Longwy an der Iuxemburgischen Grenze betrug das Verhältnis 45: 18 Divisionen zugunsren der Wehrmacht: - Die Heeresgruppe A griff mit der 4., 12. und 16. Armee sowie der Panzergruppe v. Kleist an, also mit insgesamt 45 Divisionen. Unberücksichtigt sind hierbei die 2. und 9. Armee, die dahinter als zweite Staffel folgten. - Die Ardennen waren von der belgischen Armee nur durch zwei Divisionen gedeckt, die aber lediglich hinhaltenden Widerstand leisten sollten. Die Franwsen hatten sich mit der 9. und 2. Armee hinter der Maas und Chiers verschanzt. Sie warfen am 10. Mai hastig vier Kavalleriedivisionen und zwei Kavalleriebrigaden in die Ardennen. Im eigentlichen Durchbruchsabschnitt zwischen Dinant und Sedan bestand die Maasverteidigung weitgehend aus sieben zum Teil zweitklassigen Infanteriedivisionen. Die Maginotlinie war nicht zuletzt deshalb gebaut worden, um Personal zu sparen und somit Kräfte für die Verteidigung anderer Frontabschnitte freizubekommen. Doch am 10. Mai wurde diese extrem teure Anlage gleichsam wie ein Prestigeobjekt von 36 Divisionen »bewacht«, denen auf deutscher Seite weitgehend passiv die 19 Divisionen der Heeresgruppe C gegenüberstanden. Im Mai 1940 griffen 135 deutsche Divisionen (davon 93 in der ersten Welle) gegen insgesamt 151 alliierte (davon 114 Frontdivisionen) an. Doch da die Wehrmacht als Angreifer die Initiative besaß und den Schwerpunkt bestimmte, gelang es, die absolute Überlegenheit der Alliierten an der Gesamtfront in eine eigene relative Überlegenheit an dem Frontabschnitt umzuwandeln, wo die operative Entscheidung fallen sollte. Dennoch war dieser Operationsplan mit einem enormen Risiko verbunden; alles hing davon ab, ob der Gegner tatsächlich seinen »Beitrag« zum Ingangsetzen der »Drehtür« leisten würde.

3. Der Dyle-Breda-Plan: Gamelin in der Rolle des Terentius Varro

In der französischen Militärgeschichte gibt es wohl kaum einen Oberbefehlshaber, der sich derart heftiger Kritik ausgesetzt sah wie General Gamelin nach seinem Scheitern im Mai 1940. Doch seine Entscheidung, im Falle eines deutschen Angriffs nach Belgien vorzurücken, muß aus seiner Sicht als völlig richtig und logisch bezeichnet werden. Die rechte Flanke der französischen Frontlinie war durch die Maginotlinie geschützt. In der Mitte bildeten Maas und Ardennen einen doppelten Sperriegel. Somit konnte er seine besten Verbände auf dem linken Flügel konzentrieren. Die Deutschen hatten bereits im Ersten Weltkrieg die hindernisarmen Ebenen Flanderns für mehrere Offensiven gewählt. Es erschien wahrscheinlich, daß sie erneut versuchen würden, nach der Methode des Schlieffenplans, also mit Schwerpunkt auf dem rechten Flügel, durch dieses panzergün-

III. Der »Drehtür-Effekt« beim Schlieffenplan und »Sichelschnitt-Planc

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stige Gelände anzugreifen (genau dies war ursprünglich die Absicht der deutschen Führung gewesen!). Um jedoch nicht ganz Belgien schutzlos in die Hände des Aggressors fallen zu lassen, sollten britische und französische Interventionstruppen dem befreundeten, wenn auch offiziell neutralen Nachbarn zu Hilfe eilen. Hierbei boten sich drei Linien an, entlang denen (von der belgiseben Armee vorbereitete} Stellungen bezogen werden konnten: - Scheide-Linie: Diese Minimallösung sicherte einen schmalen Küstenstreifen und einige Häfen westlich der Schelde. Sie wurde jedoch verworfen, weil der überwiegende Teil Belgiens ungeschützt geblieben wäre. - Albert-Kanal-Linie: Bei dieser Maximallösung konnte fast die gesamte Maas bis zur Einmündung des Albertkanals bei Maastricht als Verteidigungslinie genutzt und der größte Teil Belgiens gedeckt werden. Doch diese Linie lag viel zu nahe an Deutschland und viel zu weit von Frankreich entfernt. Da die belgisehe Regierung den Einmarsch französischer und britischer Truppen erst nach der vorangegangenen Grenzüberschreitung durch deutsche Truppen erlauben wollte, war es zweifelhaft, ob diese exponierte Linie schnell genug erreicht werden konnte. - Dyle-Linie: Als Kompromiß einigte man sich auf eine Linie, die sich von Antwerpen entlang dem Fluß Dyle nach Namur erstreckte und dort Anschluß an die Maaslinie gewann. Die Entscheidung, zur Dyle-Linie vorzurücken, war keineswegs eine krasse Fehlplanung, wie später so oft behauptet wurde, sondern bot eine Reihe von Vorteilen88 : (1) Die Frontlinie wurde deutlich verkürzt, vor allem konnte der Nordflügel der 9. Armee zwischen Givet und Namur bis zur Maas vorrücken. (2) Durch das zusätzlich vorgelagerte Glacis erlangte die französische Verteidigung mehr Tiefe, was auch für die Luftabwehr von Bedeutung war. (3) Es kam zum erwünschten Schulterschluß mit der belgiseben Armee; ansonsten hätte sich diese vorzeitig nach Nordwesten in das »reduit national« um Antwerpen zurückgezogen und es so den Deutschen ermöglicht, sofort nach Frankreich durchzumarschieren. (4) Ein beträchtlicher Teil Belgiens mit der Hauptstadt Brüssel und wichtigen Hafenstädten wurde in die Verteidigung einbezogen. Dies mußte vor allem die Briten motivieren, die den Verlust der Gegenküste fürchteten. (5) Die belgisehe Pufferzone konnte dazu dienen, das nordfranzösische Industriegebiet nicht erneut (wie im Ersten Weltkrieg) zum Kriegsschauplatz werden zu lassen. (6) Eine eventuelle alliierte Gegenoffensive gegen Deutschland konnte über Belgien viel leichter geführt werden als über die französische Grenze hinweg, da ihr gegenüber der Westwall besonders stark ausgebaut war. Außerdem würde man voll ins Ruhrgebiet, das industrielle Herz Deutschlands, stoßen. Dieser Gedanke war bereits zu Beginn des Krieges erwogen worden, als man Polen zu Hilfe kommen wollte89 • 88 8'J

Siehe vor allem Gamelin, Servir, Bd 1, S. 89-108. Vgl. hierzu: Die Geheimakten des französischen Generalstabs, Dokument Nr. 3 (1.9.1939), S. 22, sowie das Faksimile S. 170.

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Dritter Teil: Das Ringen um den »Sichelschnitt-Plan«

(7) Frankreich, dessen Prestige als europäische Hegemonialmacht in den letzten Jahren erheblich gelitten hatte, konnte es sich nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei und Polens durch Hitler nicht schon wieder leisten, einen seiner Verbündeten, nämlich Belgien, im Stich zu lassen. Doch Gamelin fügte dem Dyle-Plan die sogenannte Breda-Variante hinzu. Danach sollten französische Truppen über Antwerpen hinaus bis Breda vorstoßen, um auch mit der niederländischen Armee Verbindung herzustellen. Der französische Oberbefehlshaber war vom Gedanken der »festen Front« aus dem Ersten Weltkrieg durchdrungen; insofern schwebte ihm eine zusammenhängende Frontlinie von der Schweizer Grenze bis zur Nordsee vor. Mit dieser Ausweitung des Plans liefen Gamelins Truppen jedoch Gefahr, vom sicheren französischen Stamm immer weiter auf den »belgischen Ast« hinauszuklettern, um sich auch noch nach dem »holländischen Zweig« zu strecken. Breda war nämlich von Frankreich fast doppelt so weit entfernt wie von Deutschland. So erwies sich Gamelins Lieblingsidee schließlich als Trugbild. Die französischen Vorauskriifte hatten keine Chance, den »Wettlauf« nach Breda gegen die schnellen deutschen Verbände zu gewinnen, und rannten vielmehr mit Höchstgeschwindigkeit in die Falle hinein. Das Verhängnis Gamelins lag darin, daß er sich bei dieser Ausweitung des Operationsplanes immer weiter auf jenen Ast hinauswagte, den der »Sichelschnitt« mit ungeheurer Wucht vom Stamm trennen sollte. Ursprünglich hatte das Dyle-Manöver lediglich von zehn französischen und fünf britischen Divisionen durchgeführt werden sollen. Am 20. März 1940 jedoch gab Gamelin eine neue Version des Plans heraus, die auch die Breda-Variante berücksichtigte. Nunmehr sollte die Stärke des linken Schwenkflügels 30 Divisionen umfassen, zu denen zahlreiche motorisierte und teilweise mechanisierte Eliteverbände zählten. Welche operativen Konsequenzen dies zur Folge hatte, läßt sich am besten an der neuen Rolle der 7. Armee erkennen. Ursprünglich gehörte sie zur Zentralreserve und wurde im Raum um Reims bereitgehalten. Genau aus dieser Richtung hatte eigentlich Manstein einen operativen Gegenangriff erwartet und deshalb vorgeschlagen, in diesen Raum die 12. Armee zur »offensiven Verteidigung« der linken deutschen Flanke vorstoßen zu lassen. Doch ein solcher französischer Gegenangriff fand niemals statt. Die 7. Armee war nämlich auf den linken Flügel verlegt worden, wo sie nach der ursprünglichen Version des Dyle-Plans als Reserve bereitstehen sollte. In der endgültigen Fassung dieses Plans aber war vorgesehen, sie zum Vorstoß auf Breda einzusetzen. Damit stieß Gamelin auf den Widerstand des Oberbefehlshabers der Nordostfront, General Georges. Doch Gamelin hatte sein Prestige mit diesem Unternehmen verbunden; er war sogar bereit, hierfür die gesamte 7. Armee in die Waagschale zu werfen. Damit hatte er General Georges seiner einzigen zusammenhängenden Reserve beraubt, mit der dieser gegebenenfalls einen operativen Gegenangriff hätte führen können. Georges sah darin einen gefährlichen Fehler und protestierte: »Das ist ein Abenteuer. Wenn der Gegner in Belgien nur täuschen sollte, kann er an anderer Stelle manövrieren. Wir sollten deshalb nicht unsere Reserven für dieses Unternehmen einsetzen! Fort mit dem Traum90!« 90

Roton, Annees cruciales, S. 97; Lyet, La bataille de France, S. 25; Goutard, 1940, S. 147.

lll. Der ,.Drehtür-Effekt« beim Schlieffenplan und ·Sichelschnitt-Plan«

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Gamelin aber verhielt sich wie der römische Feldherr Terentius Varro vor der Schlacht bei Cannae. Trotz aller Warnungen befahl er einen Vorstoß - mitten in die Falle hinein- und schuf dadurch die Voraussetzung für die Umfassung. Dennoch wäre es zu einfach, den französischen Oberbefehlshaber - wie so oft geschehen - zum alleinigen »Sündenbock« hochzustilisieren. Bereits in der ursprünglichen Version des Dyle-Plans, die innerhalb des französischen sowie britischen Generalstabs breite Zustimmung fand, war der Weg ins Verderben vorgezeichnet91 • Es handelte sich -analog zumJoffre-Plan von 1914- um jenen »Liebesdienst«, der dem deutschen Umfassungsplan voll in die Hände spielte. Der tragische Irrtum des Generals Gamelin ist vielmehr darin zu sehen, daß er ohne Not Vabanque spielte, indem er sich geradezu deterministisch auf diese einzige Lösung festlegte. Durch die von ihm durchgesetzte Ausweitung des Dyle-Plans zum Dyle-Breda-Plan vergrößerte er das in der bisherigen Planung bereits vorgezeichnete Debakel ins Monströse. Um die Jahrhundertwende war in der französischen Armee vor allem unter dem Einfluß des späteren Marschalls Foch das operative Konzept des »manceuvre posteriori« gepriigt worden. Danach sollte der Operationsplan erst nach Beginn der Kampfhandlungen entworfen werden, wenn genügend Informationen über die vermutlichen Absichten des Feindes vorliegen würden. So konnte rechtzeitig auf alle Eventualitäten reagiert werden. Hingegen wurde das Prinzip des »manceuvre priori« verworfen, welches die Festlegung eines exakten Planes noch vor Beginn der Operation vorsah92 • Bei Gamelins Dyle-Breda-Plan war das Prinzip des »manceuvre priori« bis zum Extrem überspitzt worden. Es wäre jedoch falsch, ihm allein diesen verhängnisvollen Schematismus vorzuwerfen. Der Erste Weltkrieg war nicht durch kühne operative Entschlüsse, sondern durch methodisch vorausgeplante Materialschlachten entschieden worden. Die französische ebenso wie die britische Armeeführung aber waren in dieser starren Denkgewohnheit steckengeblieben. Entsprechend starr und schematisch war der Dyle-Breda-Plan angelegt. Bei Beginn der Kampfhandlungen wurde wie durch einen blinden Automatismus jenes fatale Schwenkmanöver des linken Flügels ausgelöst, gleichgültig, ob die Deutschen tatsächlich so angreifen würden, wie vermutet. Wohl nie zuvor war eine französische Armee derart perfekt auf eine Operation vorbereitet worden. Gamelin hatte alles im Detail vorausgeplant und ein priizises »Drehbuch« verfaßt. Sein Problem bestand jedoch darin, daß sich die Deutschen nicht daran hielten. Das eigentliche Verhängnis aber ergab sich daraus, daß sich die Wehrmacht zunächst sogar ganz bewußt so verhielt, als würde sie die ihr von Gamelin zugedachte Rolle spielen. Er sollte in seiner vorgefaßten Meinung bestärkt werden, die Deutschen würden wiederum la Schlieffen mit Schwerpunkt auf dem rechten Flügel angreifen, diesmal allerdings mit Panzern. So erklärte am 10. Mai, dem Beginn des deutschen Angriffs, der Generalsekretär im Kriegsministerium, General Pierre Jacomet, voll Genugtuung:

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Zur Diskussion über den Dyle-Breda-Plan vgl. Umbreit, Kampf um die Vormachtstellung, S. 274; Shirer, Zusammenbruch, S. 616ff.; Horne, Über die Maas, S. 116ff.; Benoist-Mechin, Der Himmel stürzt ein, S. 33 f. Miksche, Kriegsbild, S. 86.

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Dritter Teil: Das Ringen um den »Sichelschnitt-Plan«

»Wenn Sie, wie ich heute morgen, das breite Lächeln des Generals Gamelin gesehen hätten, als er mir die Richtung des feindlichen Angriffs nannte, würden Sie beruhigt schlafen. Die Deutschen haben ihm gerade die Gelegenheit gegeben, auf die er gewartet hat93 .«

So wollte es die Ironie der Geschichte, daß die Franzosen nicht 1914, sondern erst 1940 ein Opfer des Schlieffenplans wurden. Sie starrten derart gebannt nach Flandern, daß sie die Ardennen aus den Augen verloren. Ebenso wurden ihnen ihre liebgewordenen Vorurteile gegenüber den als einfallslos und pedantisch eingeschätzten deutschen Nachbarn zum Verhängnis. Eine derart phantastische Idee, mit der Masse der Panzer ausgerechnet durch die Ardennen anzugreifen, die irgendwie an den Alpenübergang von Hannibals Kriegselefanten erinnerte, hätte nach ihrer Meinung vielleicht dem Kopf eines Jules Verne, nicht aber dem eines deutschen Generals entstammen können. So urteilt der französische Militärhistoriker Le Goyet über den Westfeldzug: »Kurioserweise gilt es festzustellen, daß die Franzosen, denen man nachsagt, daß sie in ihrer Phantasiebegabung unaufhörlich nach kühnen, revolutionären Lösungen streben, in einem starren Formalismus und Schematismus befangen waren, während die als methodisch, bedächtig und dogmatisch angesehenen Deutschen sich plötzlich im Denken und Handeln als wagemutig und kreativ entpuppten. Diese intellektuelle Überraschung[ ... ] war einer der bestimmenden Faktoren des deutschen Sieges94 .«

IV. Die Opposition innerhalb der deutschen Generalität gegen den »Sichelschnitt-Plan« »Ich mache darauf aufmerksam, daß der Stoß auf Sedan ein operativer Schleichweg ist, auf dem man durch den Kriegsgott erwischt werden kann95 ... (Generalmajor Jod!, Chef des Wehrmachtführungsamtes, am 13. Februar 1940 gegenüber Hitler)

Alistair Horne, der Autor einer der bekanntesten Monographien über den Westfeldzug, bezeichnet den »Sichelschnitt« als einen der »genialsten Pläne, die ein militärisches Gehirn je ersonnen hat«96 • Gleichzeitig jedoch stellt er fest, daß die meisten deutschen Generale sich dessen im Frühjahr 1940 gar nicht bewußt waren und dieser »abenteuerlichen« Idee Horne, Über die Maas, S. 177; Paillat, La guerre eclair, S. 79. General Spears, der britische Verbindungsoffizier beim französischen Ministerpräsidenten, wurde am 12. Mai in London vom französischen Militärattache informiert, die Deutschen würden mit Schwerpunkt im Abschnitt MaastrichtLüttich angreifen. »Ich dachte mir«, bemerkte hierzu Spears, ,.daß Georges und Gamelin entzückt sein müßten, denn die Deutschen täten genau das, was die beiden erwarteten und erhofften« (vgl. Spears, Assignment to Catastrophe, Bd 1, S. 137). 94 Le Goyet, Contre-attaques manquees, S. 130. 9S Jodl.:fagebuch, abgedruckt in: Prozeß, Bd 28, S. 402. Hierbei bezog sich Jod! offenbar auf eine von Clausewitz geprägte Metapher, vgl. ders., Vom Kriege, S. 230. 96 Horne, Über die Maas, S. 139. 93

rv.

Die Opposition innerhalb der deutschen Generalität gegen den »Sichelschnitt-Plan« 111

ablehnend gegenüberstanden. Wie skeptisch gerade das Kernstück des ganzen Unternehmens, nämlich der geplante operative Durchbruch bei Sedan, von der Mehrheit der höheren Generalität eingeschätzt wurde, zeigte eine Episode, die sich am 15. März in der Reichskanzlei in Berlin abspielte. Hitler hatte Generaloberst v. Rundstedt, den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, dessen einzelne Armeeoberbefehlshaber und zusätzlich die Generale v. K.leist und Guderian zu einer Besprechung befohlen. Jeder hatte seinen Operationsplan für die erste Phase der bevorstehenden Offensive vorzutragen; als letzter kam Guderian an die Reihe. Als er auf eine Frage Hitlers erläuterte, was er nach erfolgreichem Übergang über die Maas unternehmen würde, fuhr spontan General Busch, der Oberfehlshaber der 16. Armee, mit der Bemerkung dazwischen: »Na, ich glaube nicht, daß Sie rüberkommen!« Hitler schwieg und wartete mit sichtlicher Spannung auf Guderians Antwort. Dieser wandte sich an General Busch: »Sie brauchen es ja auch nicht zu machen97.« Guderian sprach später in diesem Zusammenhang von einer »schweren Aufgabe, [...] an deren Gelingen eigentlich niemand glaubte, außer Hitler, Manstein und mir«98 • Doch Hitler erwies sich als äußerst labiler Verbündeter, Manstein war kaltgestellt worden; somit verblieben neben Guderian nur einige jüngere Generale, die sich zunehmend der bislang ungeahnten Möglichkeiten, die in der Panzerwaffe schlummerten, bewußt wurden. In der Zwischenzeit jedoch war Guderian ein mächtiger Verbündeter erwachsen, nämlich General Halder, der einen erstaunlichen Sinneswandel vollzogen hatte. Auch Generaloberst v. Brauchitsch, der Oberbefehlshaber des Heeres, schloß sich der zunehmend optimistischer werdenden Einschätzung seines Generalstabchefs an. Nun kam es zu der paradoxen Situation, daß sich Haider mit den gleichen Argumenten, die früher Manstein gebraucht hatte, gegen die gleichen Vorwürfe zur Wehr setzen mußte, die er früher gegen Mansteins Plan erhoben hatte. Wohl nie zuvor ist ein deutscher Generalstabschef für einen Operationsplan derart ins Kreuzfeuer der Kritik geraten wie Haider im Frühjahr 1940. Der später so hochgelobte »Sichelschnitt«-Plan wurde gerade von der höheren Generalität als »verrückt und tollkühn« verurteilt99 • Haider selbst sah sich als »Totengräber der Panzerwaffe« tituliertulO. Der neue Operationsplan war durch das Trauma des gescheiterten Schlieffenplans stigmatisiert. Wieder einmal sollte offensichtlich alles auf eine Karte gesetzt und ein Feldzug durch ein einziges Umfassungsmanöver entschieden werden. Bereits in der Kritik am »Umfassungswahn« der Schlieffenschule war sarkastisch vermerkt worden, daß es im Industriezeitalter unmöglich sei, »die bewaffneten Streitkrlifte einer Großmacht wie eine Katze im Sack davonzutragen« 101 • Genau dies aber sollte erneut versucht werden. Das Oberkommando des Heeres glaubte offenbar- so lautete der Vorwurf -, die französisch-britischen Interventionstruppen wie eine Katze in den 97

Guderian, Erinnerungen, S. 81f.

98

Ebd., S. 81.

Dies schrieb Haider am 14. Mai in einem Brief an seine Frau; vgl. hierzu Schall-Riaucour, Aufstand und Gehorsam, S. 151. 100 Heusinger, Befehl, S. 86. lOtDiese Verballhornung des Schlieffenplans ist wahrscheinlich zum ersten Mal im Jahr 1914 durch Feldmarschall Graf v. Haeseler geprägt worden; vgl. hierzu Wallach, Dogma, S. 145. 99

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Dritter Teil: Das Ringen um den •Sichelschnitt-Plan«

belgiseh-holländischen Sack hineinlocken und diesen rasch verschließen zu können. Auf diese Weise sollte das, was in den vier Jahren des Ersten Weltkrieges nicht gelang, in wenigen Tagen erreicht werden. Die vehementeste Kritik kam von Generaloberst v. Bock, dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B. Dieser suchte Haider in seiner Wohnung in Berlin auf und beschwor ihn, jenen absurden Plan fallenzulassen. Hierbei warf er ihm vor, er spiele mit dem Schicksal Deutschlands Vabanque 102• Die Argumente, die er in diesem Zusammenhang anführte, klangen durchaus plausibel: •Sie werden mit der Flanke Ihres Durchbruchs 15 km entfernt an der Maginotlinie vorbeikriechen und hoffen, daß die Franzosen untätig zusehen. Sie stopfen die Masse der Panzer auf die schmalen Straßen der Ardennenberge, als gäbe es keine Luftstreitkräfte! Und dann hoffen Sie, eine Operation bis zur Küste durchzuführen, mit einer offenen, 320 km langen Südflanke, an der die Masse der französischen Armee steht«.

Er erklärte, das »überschreite die Grenzen der Vernunft« 103 • Doch auch der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, Generaloberst v. Rundstedt, zweifelte plötzlich am Erfolg. Nun machte es sich bemerkbar, daß Manstein versetzt worden war. Es wurde jedoch nur seine zunächst verfemte Idee rehabilitiert, nicht er selbst. Der spätere Generalfeldmarschall schreibt in seinen Memoiren im Kapitel »Zum Zusehen verurteilt«: •Zugleich aber wird man es wohl verstehen, daß es nicht gerade liebevolle Gedanken waren, die ich der Stelle widmete, die mich in diesem Augenblick weit ins deutsche Hinterland verbannt hatte, in dem im Westen der Plan zur Durchführung kommen sollte, für den ich so lange und verbissen gekämpft hatte 104.«

So kam es zu der paradoxen Situation, daß dieser kühne Plan, an dessen Realisierbarkeit ursprünglich nur sein Erfinder geglaubt hatte, nun ausgerechnet von einem General umgesetzt werden sollte, der zu den heftigsten Gegnern gehörte. General Haider hatte nämlich Manstein durch den ausgesprochen konservativ denkenden Generalleutnant v. Sodenstern ersetzt. Dies sollte sich für ihn als Bumerang erweisen, denn der neue Generalstabschef der Heeresgruppe A zeigte sich nicht gewillt, Halders plötzlichen Sinneswandel nachzuvollziehen. Sodenstern aber hatte bei der bevorstehenden Offensive eine Schlüsselposition inne; schließlich waren die für den »Sichelschnitt« zur Kanalküste vorgesehenen Panzerdivisionen in der Heeresgruppe A konzentriert. Er setzte nun seine ganze Energie ein, um den von ihm als undurchführbar angesehenen Plan seines Vorgängers zu Fall zu bringen oder wenigstens entscheidend abzuschwächen. Die Operation »Sichelschnitt« war ein Sprung ins Ungewisse, ein Wagnis, für das es in der damaligen Kriegsgeschichte keinerlei Vorbilder gab. Doch nun schien sich das Verhängnis von 1914 zu wiederholen, als Moltke d.J. vor der Kühnheit des Schlieffenplans zurückschreckte und ihn - wie später Generalfeldmarschall v. Hindenburg kritisierte nur in einer »Verwässerten« Form durchzuführen wagte105 • Der »Sichelschnitt« konnte Heusinger, Befehl, S. 86. Horne, Über die Maas, S. 138; dieses Zitat findet sich in ausführlicherer Form auch bei Heusinger, Befehl, S. 85. 104 Manstein, Verlorene Siege, S. 126. 10s Hindenburg, Aus meinem Leben, S. 118. 102 103

IY. Die Opposition innerhalb der deutschen Generalität gegen den »Sichelschnitt-Plan« 113

nur gelingen, wenn man alles auf eine Karte, nämlich die Panzerwaffe, setzte. Doch kaum

war Manstein von seinem Posten entfernt worden, bekam das Oberkommando der Heeresgruppe A Angst vor der eigenen Courage und wollte gleichsam einen »Blitzkrieg im Zeitlupentempo« planen. Die entscheidende Frage lautete: Sollten die Panzerdivisionen voraus oder die Infanteriedivisionen voraus angreifen? Oberst i. G. Blumentritt, der Ia im Generalstab der Heeresgruppe A, forderte, »[...] die mot. Verbände hinten zu lassen, den Kampf mit den Inf.-Divisionen zu führen und die Panzerwaffe erst einzusetzen, wenn das taktische Loch geschlagen und die operative Handlungsfreiheit gewonnen [war]« 106•

Auch Generaloberst v. Rundstedt gab dem Oberkommando des Heeresam 21. Februar zu verstehen, daß er den »Einsatz der Panzer als vorderstes Treffen nicht mehr für angebracht« halte 107. Generalleutnant v. Sodenstern wurde nun zur zentralen Oppositionsfigur gegen den von seinem Vorgänger als Panzeroperation geplanten »Sichelschnitt«. Eine seiner ersten Maßnahmen als neuer Generalstabschef der Heeresgruppe A bestand darin, seine Gegenposition in einer kurzen Denkschrift deutlich zu machen, die er am 22. Februar Generaloberst v. Rundstedt vorlegte. Darin stellte er unmißverständlich fest: »Ich bin nicht davon überzeugt, daß es auch den verstärkten Panzer- und mot. Kräften gelingen wird, den Maasübergang in der für operative Zwecke notwendigen Breite zu erzwingen. Ja, ich zweifle überhaupt daran, daß sie in der Lage sein werden, die Maas auch nur an einzelnen Stellen zu überschreiten und die damit etwa gewonnenen Brückenköpfe so lange zu halten, bis die nachfolgenden InfanterieDivisionen in der Lage sind, in der für eine operative Auswertung notwendigen Breite und Tiefe Raum zu schaffen. Aber selbst, wenn das gelingen sollte, werden die Panzer- und mot. Kräfte zu diesem Zeitpunkt dann soweit >erschöpft sein

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li. Der Durchbruch des Panzerkorps Reinhardt bei Montherme

275

2. Die drohende Auflösung der Panzergruppe Kleist General v. Kleist hatte von Anfang an operative Selbständigkeit für seine Panzergruppe gefordert. Diese sollte der Heeresgruppe unmittelbar unterstellt werden. Dagegen verlangten die Oberbefehlshaber der Armeen, in deren Gefechtsstreifen die Panzergruppe anzugreifen hatte, die Unterstellung unter ihr Kommando. Daraufhin entschied sich Generaloberst v. Rundstedt für einen verhängnisvollen Kompromiß: Wenn es der Panzergruppe Kleist gelang, die Maas bereits im ersten Ansturm zu überschreiten, sollte sie ihre operative Selbständigkeit behalten, ansonsten würde sie herausgelöst und als operative Reserve einer der nachfolgenden Armeen unterstellt werden. Obwohl am 14. Mai das Panzerkorps Guderian einen glänzenden Erfolg erzielte und Reinhardts 6. Panzerdivision kurz vor dem Durchbruch stand, nahm die Führung der Heeresgruppe A die bei Montherme gemeldeten Schwierigkeiten zum Anlaß, das mit Argwohn betrachtete Experiment eines operativ selbständigen Einsatzes der Panzerwaffe vorzeitig zu beenden. Die Heeresgruppe befahl noch am 14. Mai, daß mit Wirkung vom 15. Mai, 12.00 Uhr, die Panzergruppe Kleist der 12. Armee zu unterstellen sei. Diese Anordnung führte zur schwersten Krise der Panzergruppe Kleist während des Westfeldzuges. So heißt es in ihrem Kriegstagebuch am 14. Mai: »Es dreht[e] sich jetzt alles darum, ob es gelingen würde, den Aufenthalt an der Maas aus eigener Kraft zu überwinden und damit die operative Handlungsfreiheit zu behalten. Andernfalls war zu befürchten, daß die schnellen Verbände nunmehr in engster Anlehnung an die Infanteriekorps und dementsprechend mit kurzgestecktem Ziel verwandt würden. Das würde praktisch das Aufhören der Gruppe v. Kleist als selbständiger operativer Verband bedeutet haben66 .«

Bereits die ersten Befehle der 12. Armee bestätigten die schlimmsten Befürchtungen des Generals v. Kleist. Das Oberkommando dieser Armee erließ am 15. Mai um 4.00 Uhr den Befehl, das Panzerkorps Reinhardt aus der Front herauszulösen und der operativen Reserve zuzuführen. Nur die 6. Panzerdivision sollte an derFront belassen werden, war jedoch dem III. Armeekorps zu unterstellen. Dessen Divisionen sollten nun die Aufgabe lösen, zu deren Bewältigung die infanterieschwache 6. Panzerdivision anscheinend nicht in der Lage war. Sogar der sonst so loyale General v. Kleist wurde nun rebellisch; er ignorierte die Weisungen seiner Vorgesetzten und ließ den Angriff mit allen Verbänden fortsetzen. Generalleutnant Reinhardt forderte die 6. Panzerdivision auf, nun unbedingt den Durchbruch zu erzielen. Doch dieser Eliteverband brauchte nicht weiter motiviert zu werden. Als die Soldaten der 6. Panzerdivision erfuhren, daß sie durch eine normale Infanteriedivision abgelöst werden sollten, griffen sie noch einmal unter Aufbietung aller Kräfte an. Hierbei kam es der Division zustatten, daß inzwischen am 15. Mai um 1.00 Uhr im Schutz der Dunkelheit eine Pontonbrücke über die Maas gebaut worden war. Um 5.00 Uhr begann der Angriff gegen die Sehnenstellung, die die Halbinsel nach Süden hin abschloß. Doch in dem von Felsen zerklüfteten Waldgelände war die Wirkung der neu herangeführten Panzer eingeschränkt. So fiel die Entscheidung wieder einmal im infanteristischen Nahkampf, wobei Sturmpioniere die Bunker mit Flammenwerfern und Sprengladungen angriffen. Um 9.30 Uhr waren die Sehnenstellung sowie eine weitere Auffangstellung in der Tiefe durchbrachen. 66

BA-MA, RH 21-1122, S. 12.

276

Sechster Teil: Der Zusammenbruch der Maasfront

3. Die Flucht nach vorn: Der Vorstoß von Montherme nach Montcornet Die Führung der Heeresgruppe A beabsichtigte, zunächst mit HiHe der Infanteriedivisionen der 12. Armee einen »ausreichenden und gesicherten Brückenkopf an der Maas zu gewinnen«, und hatte deshalb die Panzerdivisionen dieser Armee unterstellt. Erst anschließend sollte die Operation »mit starken Kt.iften« fortgesetzt werden67 • Da die zum III. Armeekorps gehörende 3. Infanteriedivision bei Nouzonville nicht über die Maas kam, wurde Generalleutnant Reinhardt aufgefordert, Teile der soeben durchgebrochenen 6. Panzerdivision nach Süden schwenken zu lassen, um die Übergangsstelle der benachbarten Division »Von rückwärts« zu öffnen. Reinhardt aber, der den operativen Vorstellungen Mansteins folgte, lehnte dies entschieden ab. Es kam ihm darauf an, so schnell wie möglich in die Tiefe vorzustoßen. Doch diese operative Kontroverse wurde durch das eigenmächtige Handeln des Kommandeurs der 6. Panzerdivision, Generalmajor Kempf, abrupt beendet. Ihm gelang am 15. Mai eine der spektakulärsten Aktionen des Westfeldzuges, wobei er alle seine Vorgesetzten vor vollendete Tatsachen stellte. Er wartete nicht darauf, bis die Verbände seiner Panzerdivision vollzählig die Maas überschritten hatten, sondern formierte aus den rasch verfügbaren Teilen ad hoc die Verfolgungsabteilung v. Esebeck 68 • Diese sollte den Erfolg des Durchbruchs ausnutzen und so schnell wie möglich in die Tiefe des gegnerischen Hinterlandes vorstoßen. Sie gliederte sich wie folgt: - Panzerabteilung 65, - Kradschützenbataillon 6, - 2. Kompanie/Panzerpionierbataillon 57, - 2. und 6. Batterie/Artillerieregiment 76, - 1. Kompanie/Panzerjägerabteilung 41, - Aufklärungslehrabteilung, - eine Flakbatterie. Die hierfür vorgesehenen Fahrzeuge durften vorrangig die Kriegsbrücke überqueren. Um 15.00 Uhr war die Verfolgungsabteilung komplett und stieß blitzartig nach Westen vor. Bis um 20.00 Uhr hatte sie, unaufhaltsam angreifend, das immerhin 55 Kilometer Luftlinie entfernte Montcornet erreicht (vgl. Skizze S. 298). Auf dem Weg dorthin spielten sich unbeschreibliche Szenen ab. Immer wieder wurden französische Kolonnen überrollt. In den meisten Fällen kam es nicht einmal zu nennenswerten Kampfhandlungen, sondern die Franzosen, die so weit im Hinterland keine Feindverbände erwarteten, reagierten wie gelähmt. Mehrmals geschah es, daß die staubbedeckten deutschen Fahrzeugkolonnen mit eigenen oder britischen verwechselt und mit freundlichem Händewinken begrüßt wurden, bevor die Franzosen ihren schrecklichen Irrtum erkannten. Über 2000 Soldaten des Geg67

68

Durchbruch der Gruppe von Kleist, BA-MA, RH 21-1/381, 2. Teil, S. 50. Oberst Freiherr v. Esebeck bewies seinen Mut auch später im Widerstand gegen Hitler. Er wurde nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 (als General der Panzertruppe) verhaftet und bei Kriegsende aus einem Konzentrationslager befreit. Das Haupt jener Verschwörung bildete Oberst i. G. Graf v. Stauffenberg, der im Westfeldzug als Generalstabsoffizier (Ib) der 6. Panzerdivision eingesetzt war.

II. Der Durchbruch des Panzerkorps Reinhardt bei Montherme

277

ners wurden gefangengenommen, obwohl die vorwärtsstürmenden Deutschen kaum Zeit für derartige Maßnahmen hatten. Der Vorstoß auf Montcornet ließ innerhalb von wenigen Stunden die operative Planung der französischen Führung wie ein Kartenhaus zusammenstürzen. Es war sinnlos geworden, westlich des Ardennenkanals eine neue Verteidigungslinie durch die 6. Armee zu bilden, um das Panzerkorps Guderian abzuriegeln, denn nun standen plötzlich die Panzer einer anderen deutschen Division weit im Rücken dieser Linie. Am nächsten Tag trafen Generalmajor Kempf und der General der Panzertruppe Guderian auf dem Marktplatz von Montcornet zusammen und beglückwünschten sich gegenseitig zu ihrem Erfolg. Zwei Brückenköpfe hatten sich zu einem vereinigt, und die gesamte französische Verteidigung im Mittelabschnitt der Maas war zusammengebrochen69 • Die Tatsache, daß die deutsche Heeresführung ebenso wie die der Luftwaffe ihr Interesse voll auf Sedan konzentrierte, hatte auch einen Vorteil. Da Guderian nach seinem sofortigen Durchbruch alle Aufmerksamkeit auf sich zog, übersah die französische Armeeführung die Gefahr, die ihr aus Richtung Montherme drohte. Als der 6. Panzerdivision am 15. Mai ebenfalls der Durchbruch glückte, konnten ihre Panzer nahezu in ein Vakuum hineinstoßen. Aus der Sicht des Generals v. Kleist lag das wichtigste Ergebnis des Vorstoßes nach Montcornet darin, daß Generalmajor Kempf den Bestand der Panzergruppe gerettet hatte. Aufgrund dieses unerwarteten Erfolges machte die Führung der Heeresgruppe A einen Teil ihrer einschneidenden Anordnungen wieder rückgängig. Das bedeutete vor allem, daß das Panzerkorps Reinhardt wieder unter das Kommando der Panzergruppe Kleist kam. Zwar blieb das Unterstellungsverhältnis der Panzergruppe unter die 12. Armee weiter bestehen, doch dieser Umstand wirkte sich zunächst nicht weiter aus. Vielmehr erhielt die Panzergruppe Kleist nun wieder die Erlaubnis, den Infanteriedivisionen der 12. Armee weit voraus angreifen zu dürfen.

69

Zum Durchbruch bei Montherme siehe die Akten (alle BA-MA): 6. PzDiv, RH 27-6/lD, S. tOff.; RH 27-6/4, BI. 78f.; RH 27-6/126, S. 1--4; 11./SchtzRgt 4 (13.-15. Mai sowie Gefechtsberichte), RH 37/10; 1./SchtzRgt 4 (13.-15. Mai), RH 37/11; XXXXI. AK, RH 24-41/2, S. 31ff.; Ausführungen des Gen. d. PzTr. Reinhardt über den Maasübergang, RH 24-41/4; HGr A (13.-15. Mai), RH 19 I/37; AOK 12, Armeebefehl Nr. 7 vom 15. 5.1940, RH 20-12/33; PzGruppe Kleist, RH 21-1/22, S. 9ff.; Durchbruch der Gruppe von Kleist, RH 21-1/381,2. Teil, S. 28f., 40f., 47, SOff.; Reinhardt, Im Schatten Guderians, S. 333ff.; Paul, Brennpunkte, S. 59ff.; Ganns, Panzer-Artillerie Regiment 76, S. 72ff.; Zeitzler, Panzergruppe v. Kleist, S. 241; Berben/Iselin, Die Deutschen kommen, S. 12tff., 160ff.,174f., 179ff., 203ff., 237ff., 253, 278ff., 299ff., 306ff.; Horne, Über die Maas, S. 244ff., 287ff.; Delmas,l.es Ardennes, S. 103ff.; Delmas u.a., Mai-juin 40, S. 55ff.; Gounelle, Sedan, S. 195ff., 320ff.; Lyet, Mitrailleurs; Paillat, La guerre eclair, S. 278ff.; ill. Bataillon Schützenregiment 4, S. 358ff.; Kradschützen voran, S. 362ff.; Maassen, Über die Maas; Dach, Panzer, Teil II, S. 73ff.; Pallud, Blitzkrieg in the West, S. 228 ff.

278

Sechster Teil: Der Zusammenbruch der Maasfront

III. Der Durchbruch des Panzerkorps Hoth bei Dinant »Sie sind zu schnell, viel zu schnell für uns. Das ist allel0!« (Bemerkung eines bei St. Valery gefangengenommenen französischen Generals im Gespräch mit Rommel)

Das Panzerkorps Hoth war der 4. Armee unterstellt und griff, dieser vorauseilend, nach Westen an. Es hatte den Auftrag, die rechte Flanke der Panzergruppe Kleist zu decken, vor allem, wenn die an der Kanalküste eingeschlossenen alliierten Verbände nach Süden durchzubrechen versuchten. Dieses Korps bestand aus der 5. und 7. Panzerdivision und wurde vom General der Infanterie Hoth, einem der bekanntesten Panzergenerale des Zweiten Weltkrieges, geführt. Doch im Westfeldzug verstand es einer seiner Divisionskommandeure, Generalmajor Rommel, durch eine Reihe aufsehenerregender Aktionen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zu lenken. Die von ihm geführte 7. Panzerdivision tauchte immer wieder derart überraschend hinter den feindlichen Linien auf, daß sie von den Franwsen »la division fant&me« (»die Gespensterdivision«) genannt wurde71 • Ebenso wurde Rommels Name schließlich zum Synonym für den deutschen »Blitzkrieg«. Paradoxerweise galt ausgerechnet Rommel vor dem Zweiten Weltkrieg als reaktionär denkender Infanterieoffizier, der die Ideen eines Guderian vehement ablehnte. Da wurde ihm der Polenfeldzug, in dem er als Kommandant des Führerhauptquartiers die neue Panzerwaffe in Aktion erlebte, zum »Damaskuserlebnis«. Seiner leidenschaftlichen, kompromißlosen Art entsprechend wandelte er sich sofort vom Saulus zum Paulus. Es gelang ihm, am 12. Februar 1940 das Kommando über die neugebildete 7. Panzerdivision zu erhalten - eine Entscheidung, die allgemein mit Hitlers Vorliebe für diesen General in Verbindung gebracht wurde. Wenn Rommel als Panzerführer im Westfeldzug derart atemberaubende Erfolge errang, dann nicht obwohl, sondern weil er so wenig von den papierenen Einsatzgrundsätzen verstand. Die bisherigen Regeln, wie sie in den Vorschriften festgelegt waren, galten angesichts der Revolutionierung des Kriegsbildes nicht mehr. Rommel agierte vielmehr intuitiv aus der Situation heraus. Er besaß ein sicheres Gespür für sich abzeichnende Lageentwicklungen und reagierte kurzentschlossen. Insofern handelte er nicht viel anders wie als Stoßtruppführer im Ersten Weltkrieg. Im Oktober 1917 war es ihm in der Nähe von Tolmein in den Ostalpen bei einem Kommandounternehmen gelungen, 1400 italienische Soldaten gefangenzunehmen und 81 Geschütze zu erbeuten. Sein spektakulärster Erfolg war die Gipfelerstürmung des Monte Matajur. Daraufhin wurde er zum Hauptmann befördert und erhielt den begehrtesten deutschen Orden 70 71

Koch, Rommel, S. 24; vgl. auch ebd., S. 23. Manteuffel, Die 7. Panzerdivision im Zweiten Weltkrieg, S. 109f.; Scheiben, Gespensterdivision, S. 42f.; Horne, Über die Maas, S. 466; Irving, Rommel, S. 75.

Gliederung der 7 Panzerdivision im Mai 1940 XX

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( Noch>operativen Führungsebene« längst das Heft des Handeins entglitten. Die Panzerwaffe führte sich vielmehr selbst. Bezeichnend hierfür ist eine Episode, die sich, wie bereits erwähnt, an diesem Tag auf dem Marktplatz von Montcornet abspielte. Hier trafen General Guderian und Generalmajor Kempf aufeinander, dessen 6. Panzerdivision eigentlich dem Panzerkorps Reinhardt unterstand. Beide Generale beglückwünschten sich gegenseitig zu ihrem Erfolg, dann begannen sie, die durcheinander geratenen Kolonnen zu entwirren, und verteilten untereinander die Vormarschstraßen für den weiteren Angriff. Dies wäre eigentlich die Aufgabe des Generals v. Kleist gewesen. Nochamselben Abend erreichten erste Aufklärungskräfte die Oise. In welch euphorischer Gefühlslage sich inzwischen die deutschen Soldaten befanden, geht aus folgender Schilderung hervor: to Guderian, Erinnerungen, S. 96. 11 PzKorps Guderian, KTB, BA-MA, RH 21-2/41, S. 52.

318

Siebter Teil: Der Vorstoß zur Kanalküste und das Problem der »offenen Flanke«

»Unser Panzerkeil stieß nun in den nächsten Tagen von Sedan aus in Richtung auf die Kanalküste vor. Bei den Strategen hat dieses Unternehmen den Namen >Sichelschnitt< erhalten.[... ] Von den strategischen Absichten wußten wir natürlich nichts, aber wir gerieten in eine Art Hochgefühl, in einen Ausnahmezustand. Wir saßen in den Fahrzeugen, eingestaubt, übermüdet und aufgedreht 12.«

Diese Euphorie entsprach der tatsächlichen militärischen Lage, denn der Widerstand des Gegners war gebrochen. Winston Churchill schreibt hierzu in seinen Memoiren: »Die deutschen Panzer - die gefürchteten >chars allemandsAbfangen< des Tempos unserer mot. Kräfte der Fall sein werde20 .«

Generaloberst v. Rundstedt entschloß sich am Morgen des 16. Mai zu einem vorübergehenden Anhalten der Panzerverbände, um die nachfolgenden Infanteriedivisionen »aufschließen« zu lassen. Die Linie Beaumont-Montcornet sollte nur mit Vorausabteilungen überschritten werden. Am Abend desselben Tages machte er das Überschreiten der Sambre-Oise-Linie von seiner Genehmigung abhängig. Dennoch kann er nicht als der einzig Verantwortliche für den »Halt-Befehl« von Montcornet angesehen werden. Wie Haider betont, war es vielmehr Hitler, der die Panzer darüber hinaus auch am 17. und am 18. Mai »durch persönlichen Befehl« stoppte21 • Hierzu griff der Diktator durch mündliche Anordnungen in den Ablauf der Operation ein und erließ außerdem die Wei19 20 21

Zeitzler, Panzer-Gruppe v. Kleist, 2. Teil, S. 242. BA·MA, RH 19 I/37, BI. 115. Halder, Hitler, S. 16.

I. Hitlers •Halt-Befehle bei Montcornet

321

sung Nr. 1222 • Daß Hitler für diese sinnlose Unterbrechung der Operation die Verantwortung trug, ist beispielsweise auch von Kleist, Manstein, Blumentritt und Heusinger hervorgehoben worden23 • Ebenso drückt Guderian sein Erstaunen und seine Enttäuschung darüber aus, daß »Hitler selbst«, der doch die kühne Idee dieser Angriffsoperation gebilligt hatte, nun den »sofortigen Vormarsch stoppen würde« 24 • Doch Guderian war nicht der einzige, der den Sinn jener Anordnung nicht nachvollziehen konnte. Besonders deutlich wird dies in einem Telefongespräch, dessen Inhalt General Heusinger, der spätere Generalinspekteur der Bundeswehr, überliefert hat. Er mußte damals als 1. Generalstabsoffizier der Operationsabteilung des Generalstabs des Heeres Hitlers »Haltbefehl« an das Oberkommando der Heeresgruppe A weiterleiten. Der brisante Inhalt lautete: ,.Der Führer hat befohlen: ·Die Masse der Panzerverbände hat die Linie Le Cateau - Laon nach Westen nicht zu überschreitens Liß, Westfront, S. 165. >6 Ebd., S. 170; ders., Deutsche Westoffensive, S. 216f.; siehe auch Blumentritt, Westfeldzug, Bd 2, S. 43,

54f., BA-MA, Study P-208, Bd 2. ADAP, D, Bd IX, S. 306. n Manstein, Verlorene Siege, S. 127. >9 Halder, Kriegstagebuch, Bd 1, S. 297. 40 Ebd., S. 300. >7

324

Siebter Teil: Der Vorstoß zur Kanalküste und das Problern der »offenen Flanke«

als sein Rivale. Während dieser die Alliierten in zwei getrennten Großoperationen (»Fall Gelb« und »Fall Rot«) hatte niederwerfen wollen, strebte er jetzt den Erfolg »in einem Zug«41 an - so wie einst Schlieffen. Angesichts dieses atemberaubend kühnen Gedankens zeigte sich Hitler fassungslos und reagierte schroff ablehnend42 • Damit war die Idee einer »offensiven Lösung der Deckung der Südflanke« (Manstein)43 ad acta gelegt, und so gelang es dem französischen Oberkommando, an Somme und Aisne eine neue Verteidigungsfront aufzubauen. Auf die Frage, ob es möglich gewesen wäre, gleichzeitig mit dem Vorstoß auf die Somme-Mündung »auch die sich an der Aisne bereitstellenden französischen Kräfte durch einen zweiten Stoß nach Süden zu zerschlagen«, ist in einer späteren Darstellung auch Generalmajor a:D. Liß eingegangen. Er gelangte zu einem positiven Ergebnis: »Nachträglich mag man bedauern, daß es zu dieser Operation nicht gekommen ist. Sie wäre nach unserer heutigen Kenntnis der Feindlage wahrscheinlich geglückt und hätte dann den Feldzug um mehrere Wochen verkürzt44 .«

Der »Halt-Befehl« von Montcornet, wo Hitler in Panik die »Notbremse« zog, stellt den ersten Eingriff des Diktators in die Operation »Sichelschnitt« dar. Die zweite Intervention ist in der Ablehnung des von Haider beabsichtigten Südwestschwenks von Teilen der Heeresgruppe A zu sehen. Auch hier nahm Hitler dem für die Durchführung der Operation verantwortlichen Generalstabschef das Heft des Handeins aus der Hand. Der dritte Eingriff ergibt sich aus seinem Befehl, entlang der Südflanke eine Verteidigungsfront aufzubauen, und zwar mit Divisionen, die bislang für den unverzüglichen Vorstoß zur Kanalküste bestimmt waren. Halder hatte ursprünglich geplant, mit der 4. und 12. Armee nach Westen vorzudringen und die dahinter folgende 2. Armee zur Deckung der südlichen Flanke einzusetzen. Doch Hitler war inzwischen derart der »Flankenpsychose« verfallen, daß er die 12. Armee mitten in der Angriffsbewegung stoppte und sie zur statischen Verteidigung an der Aisne einsetzen ließ. So mußte die 2. Armee in die Lücke zwischen der 4. und 12. Armee eingeschoben werden45 • Dadurch kam es zu einer weiteren Verzögerung des Vormarsches. Die Gefahr aus der linken Flanke jedoch erwies sich als Phantom. Wie irrational Hitlers Angst vor einer ernsthaften feindlichen Bedrohung war, zeigt die tatsächliche Lage der Alliierten.

'~ 42 43

44 45

Ebd.; siehe auch Blurnentrin, Westfeldzug, Bd 2, S. 53 ff., BA-MA, Study P-208, Bd 2. Halder, Kriegstagebuch, Bd 1, S. 302. Manstein, Verlorene Siege, S. 127. Liß, Westfront, S. 167. Manstein, Verlorene Siege, S. 127f.; Liddeli Hart, Jetzt dürfen sie reden, S. 220f.; HGr A, KTB, BAMA, RH 19 I/37, BI. 124.

I. Hitlers •Halt-Befehl• bei Montcornet

325

3. Die Gründe für das Ausbleiben des französischen Gegenangriffs •lm Augenblick sieht es nach der größten militärischen Katastrophe in der Geschichte aus46 .« (General Ironside, der britische Generalstabschef, über die Lage der Alliierten am 17. Mai 1940)

Die französische Armee hatte den Feldzug bereits am 14. Mai verloren, ihre Führer wußten es nur noch nicht. Um so schrecklicher war in den folgenden Tagen das jähe Erwachen. Als einziger scheint General Georges, der Oberbefehlshaber der Nordostfront, die Katastrophe vorausgeahnt zu haben. Als er in den frühen Morgenstunden des 14. Mai vom Durchbruch bei Sedan erfuhr, erlitt er einen Nervenzusammenbruch. General Beaufre hat diese beklemmende Szene als Augenzeuge miterlebt: »Die Atmosphäre ähnelt der einer Familie, die am Sterbebett eines Angehörigen steht. Georges [...] erklärt mit schreckensbleichem Gesicht: >Unsere Front ist bei Sedan durchstoßen! Es gab einen Zusammenbruch.:.• Daraufhin sinkt er in einen Lehnstuhl und beginnt zu schluchzen. Er war der erste Mann, den ich in diesem Feldzug weinen sah. Später habe ich viele andere weinen sehen. Auf mich macht dies einen schrecklichen Eindruck. Doumenc [der Generalstabschef] reagiert angesichts dieser überraschenden Situation am schnellsten: >Mon General, so ist der Krieg, und im Krieg gibt es stets derart unvorhergesehene Ereignisse Pak ;;'"

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II. Rommels eigenmächtiger Vorstoß bei Avesnes

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Inzwischen aber waren die Panzer bereits so weit in das Stellungssystem des Gegners eingedrungen, daß sie einige gefährliche Bunker durch Schartenbeschuß ausschalten konnten. Die rückwärtigen Teile der befestigten Zone wurden durch Artilleriefeuer niedergehalten. Im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit griffen Soldaten des Kradschützenbataillons Pak-Stellungen und MG-Nester an. Doch die Hauptaufgabe lag während der Durchbruchsphase wieder einmal bei den Pionieren. Sie setzten Betonbunker mit geballten Ladungen und Flammenwerfern außer Gefecht und sprengten Lücken in die SperrgürteL Schließlich gelang es ihnen, die Straßensperre westlich von Clairfayts, die aus großen, in sich verankerten Stahligeln bestand, zu zerstören. Durch diese Bresche stießen die Panzer in die Tiefe der Befestigungszone vor, wobei sie während der Fahrt nach beiden Seiten feuerten. Es folgten die Kradschützen auf ihren Motorrädern und die Aufklärungsabteilung. Gegen 23.00 Uhr durchstießen sie bei Solre-le-Chiteau eine zweite Befestigungslinie82. Die deutschen Soldaten sahen nun im Mondschein weites, offenes Gelände vor sich. Generalmajor Rommel beschreibt in seinem Tagebuch den überschwenglichen Ausbruch seiner Gefühle: ..Der Weg nach Westen lag jetzt offen. Wir waren durch die Maginotlinie! Es war kaum faßbar. Vor zweiundzwanzig Jahren waren wir viereinhalb Jahre vor dem gleichen Feind gestanden, hatten Sieg um Sieg errungen und doch den Krieg verloren. Und jetzt waren wir durch die berühmte Maginotlinie gebrochen und fuhren tief in Feindesland. Es war nicht nur ein schöner Traum. Es war Wirklichkeit83!c

Doch gleich darauf prallte Rommel mit seinen Panzern frontal auf eine französische Artilleriestellung, aus der das Feuer eröffnet wurde. Sofort faßte er einen seiner typischen Entschlüsse; er trat die Flucht nach vorne an und ließ seine Panzer mit hoher Geschwindigkeit auf die französischen Geschütze zufahren, wobei sie während der Fahrt »aus allen Rohren« feuerten. Damit hatte er tatsächlich Erfolg. Später bemerkte er hierzu: »Die von mir befohlene Methode, feuernd in den Feind zu fahren,[ ...] hat sich hervorragend bewährt. Sie kostet Munition, aber spart Menschen und Panzer. Der Feind hat bis jetzt noch kein Mittel gegen dieses Verfahren. Seine Nerven versagen [...]84.«

Nun handelte er intuitiv als ehemaliger Stoßtruppführer nach demselben Prinzip wie Guderian. Ein Durchbruchserfolg war vergeblich, wenn er nicht sofort durch den Stoß Zum Durchbruch durch die verlängerte Maginotlinie am 16. Mai und zum Vorstoß nach Landrecies am 17. Mai siehe die Akten (alle BA-MA) 7. PzDiv: Tagesberichte 16. und 17. Mai, RH 27-7/44; RH 27-7/212, S. 2 (Bl.14)ff.; RH27-7/213, S. 12 ff; KTB,RH27-7/3, BI. 43ff.; »Rommelalbumc, 16./17.5., RH 27-71220; XV. PzK.orps: KTB, RH 21-3/36, S. 17 (BI. 20)ff.; leichte Flakabteilung 86, Einsatz im Frankreichfeldzug (Schrader, Durchbruch), RL 12/234; Heidkämper, Operationen des XV. AK, Mai 1940, S. 24ff., BA-MA, Hilfsstudie (XV. AK, Mai) zu P-208, Bd 2; Manteuffel, Die 7. PanzerDivision im Zweiten Weltkrieg, S. 65ff.; Rommel Papers, S. 17ff.; Tschimpke, Gespensterdivision, S. 89ff.; lrving, Rommel, S. 63ff.; Hoth, Kampf von Panzerdivisionen, S. 581 f.; Buffetaut, Rommel, S. 41ff., 195ff.; ders., Guderian perce Sedan, S. 71 ff.; Pallud, Blitzkrieg in the West, S. 259ff. Zusätzliche Privatdokumente (z. B. Kriegstagebuch II. Bataillon/Schützenregiment 7) erhielt der Verfasser über den Traditionsverband der 7. Panzerdivision. 83 Siehe Horne, Über die Maas, S. 339. Vgl. hierzu Rommel Papers, S. 20. Aus Rommels Tagebuch ist das Kapitel über den Westfeldzug nur in der englischen Ausgabe (The Rommel Papers) durch Liddeli Hart veröffentlicht worden. Manfred Rommel, der Oberbürgermeister von Stuttgart, übersandte dem Verfasser hierzu Kopien von einzelnen Dokumenten aus dem Besitz seines Vaters. 84 Siehe Irving, Rommel, S. 62 f. 82

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Siebter Teil: Der Vorstoß zur Kanalküste und das Problem der •offenen Flanke«

in die Tiefe ausgenutzt wurde. Er entschloß sich, auf der Straße nach Avesnes weiter vorzustoßen, und dies trotz der nächtlichen Dunkelheit. Der Zufall wollte es, daß entlang dieser Straße die französische 5. motorisierte Infanteriedivision ein Nachtbiwak aufgeschlagen hatte. Ihre Fahrzeuge standen links und rechts entlang der Straße aufgereiht. Dazwischen nächtigten Teile der 18. Infanteriedivision und der 1. Panzerdivision. Plötzlich rasten die deutschen Panzer mitten durch die wie Zielscheiben aufgereihten Fahrzeuge hindurch, wobei sie auf Rommels Befehl »Breitseiten aus allen Rohren« feuerten. Sie verbreiteten Panik und Entsetzen, wie aus folgendem Bericht hervorgeht: •Hunderte und Aberhunderte von französischen Soldaten und Zivilisten werden durch das auf den Straßen in scharfem Tempo dahinbrausende Panzerregiment aus dem Schlaf geschreckt und liegen mit angstverzerrten Gesichtern in den Furchen und Straßengräben rechts und links des Vormarschweges. Das Feuer des Panzerregiments reicht weit in den Raum seitwärts der Straßen hinein und bringt grenzenlose Verwirrung in dieser Nacht 85 ,«

Nie wieder in diesem Feldzug kam es zu derart apokalyptischen Szenen wie in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai auf der Straße von Solre-le-CMteau nach Avesnes. Die 5. motorisierte Infanteriedivision wurde buchstäblich im Schlaf überrollt. Selbst deutsche Soldaten, deren Einheiten wenige Stunden später bei Tageslicht auf dieser Straße hinterher fuhren, waren fassungslos: »Ich habe noch niemals ähnliche Bilder gesehen wie auf Rommels Vormarsch. Seine Panzer waren direkt auf eine französische Division gestoßen [...], aber er rollte einfach über sie hinweg. Auf den nächsten zehn Kilometern lagen Hunderte von Lastwagen und Panzern, einige waren in den Graben gefahren, andere ausgebrannt, in vielen lagen noch Tote oder Verwundete. Immer mehr Franzosen kamen mit erhobenen Händen aus den Feldern und Wäldern hervor, die furchtbare Angst stand ihnen auf den Gesichtern geschrieben. Vorne hörte man das kurze, scharfe Bellen der Geschütze unserer Panzer, die Rommel persönlich anführte. Er stand aufrecht mit zwei Offizieren seines Stabes in seinem Befehlspanzer, die Mütze war ihm in den Nacken gerutscht, und er feuerte den Angriff an86 .«

Gegen Mitternacht drangen die Panzer in Avesnes ein. Rommel jagte mit den vordersten Teilen hindurch und hielt erst auf den Hügeln westlich davon. Da inzwischen die Verbindung innerhalb der Kolonne abgerissen war, wartete er längere Zeit, um die nachfolgenden Einheiten aufschließen zu lassen. Endlich hörte er das Rasseln herannahender Panzer und setzte den Vormarsch fort. In Wirklichkeit aber handelte es sich um französische Panzer, nämlich die letzten 16 noch übriggebliebenen Kampfwagen der bei Flavion dezimierten französischen 1. Panzerdivision; dabei befanden sich auch einige Char B. Sie verwickelten die in Avesnes steckengebliebene Panzerabteilung in ein langwieriges und verlustreiches Gefecht. Rommel mußte den Vormarsch stoppen und Verstärkung schicken, wobei es Leutnant Hanke 87 im Schutz der Dunkelheit gelang, mit einem Panzer IV den Franzosen in den Rücken zu stoßen und einigen Char B die Ketten zu zerschießen. Um 4.00 Uhr war das nächtliche Gefecht in den Straßen von Avesnes entschieden, und die letzten drei Panzer, die von der französischen 1. Panzerdivision übriggeblieben waren, traten den Rückzug an. 7. PzDiv, BA-MA, RH 27-7/212, S. 3 (BI. 15}. Siehe Irving, Rommel, S. 68. 87 Hanke leitete später als Gauleiter von Schlesien die Verteidigung von Breslau.

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86

II. Rommels eigenmächtiger Vorstoß bei Avesnes

337

Der Bunker Nr. 21152 bis {westlich von Clairfayts) wurde am Abend des 16. Mai beim Durchbruch von Rammels 7. Panzerdi· vision durch die verlänger· te Maginotlinie genommen

Eine Artillerieabteilung der 7. Panzerdivision durchquert am 17. Mai Avesnes. Beiderseits der Straße stehen abgeschossene Hotchkiss 39 des Panzerbataillons 25 der französischen 1. Panzerdivision

338

Siebter Teil: Der Vorstoß zur Kanalküste und das Problem der »offenen Flanke«

Nun entschloß sich Rommel, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Er stieß mitten durch die Reihen des verwirrten Gegners bis in das 18 Kilometer entfernte Landrecies vor, um dort die wichtige Brücke über die Sambre zu nehmen. Erneut traf die Vorausabteilung auf französische Truppenteile, die beim Heranrollen der Panzer vor Überraschung wie gelähmt wirkten. Ein ehemaliger Panzerkommandant berichtet, Rommel sei einfach auf sie zugefahren und habe sie aufgefordert, die Waffen wegzuwerfen. Die Reaktion war fast immer die gleiche: Niele befolgten den Befehl willig- andere waren überrascht, aber nirgends gab es auch nur eine Spur von Widerstand. Mehrmals fragte man die Panzermänner hoffnungsvoll >Anglais< 88 ?«

Gegen 6.00 Uhr gelang es, handstreichartig die Sambre-Brücke in Landrecies zu nehmen. Doch Rommel jagte wie besessen weiter vorwärts und ließ erst anhalten, als gegen 6.30 Uhr die Spitze der Vorausabteilung das Hügelgelände östlich von I.e Cateau erreichte. Inzwischen ging nämlich nicht nur die Munition, sondern auch der Betriebsstoff zu Ende. Erst jetzt begann Rommel zu ahnen, in welch fatale Situation er sich hineinmanövriert hatte. Er bemerkte, daß ihm bei seinem Angriff zum Schluß nur noch zwei Panzerabteilungen und einige Kradschützenzüge gefolgt waren. Die dritte Panzerabteilung und die Masse der Aufklärungsabteilung waren unterwegs steckenge blieben. Doch die schlimmste Überraschung wartete noch auf Rommel. Er hatte in seinem Ungestüm gar nicht gemerkt, daß er den gesamten Vorstoß - Luftlinie nahezu 50 Kilometer - allein mit der Vorausabteilung geführt hatte! Die Masse seiner Division, darunter die beiden Schützenregimenter, befand sich noch vor der verlängerten Maginotlinie auf belgisehern Gebiet und hatte sich inzwischen längst zur Nachtruhe begeben! Auf dem bei Froid-Chapelle zurückgebliebenen Divisionsgefechtsstand herrschte größte Aufregung. Rommels Ia, Major i. G. Heidkämper, war nun allein verantwortlich und sah sich außerstande, die nervösen Anfragen des Korps zu beantworten, wohin denn sein Kommandeur mit den Panzern verschwunden sei. Um 22.30 Uhr war ein schriftlicher Korpsbefehl eingetroffen, der die Fortsetzung des Angriffs über die Grenzbefestigungen hinaus erst für den Morgen des 17. Mai erlaubte: »7. Pz.Div. setzt sich um 08.00 Uhr, die am 16. 5. abends erreichte Linie überschreitend, als erstes Angriffsziel in Besitz von Avesnes und hält sich zum weiteren Vorgehen Richtung Landrecies bereit89.«

Doch die Funkverbindung zu Rommels Führungsstaffel war auf rätselhafte Weise abgebrochen. Da fast alle Funksprüche der 7. Panzerdivision während jener Nacht in den Akten erhalten sind, lassen sich einige Ungereimtheiten feststellen90 • So ist auffallend, daß Rommel ausgerechnet in den Phasen, wo er auf keinen Fall von seinen Vorgesetzten gestoppt werden wollte, nicht zu erreichen war. Der Funkkontakt war über mehrere Siehe Horne, Über die Maas, S. 341. XV. PzKorps, Korpsbefehl für den 17. 5.1940, BA-MA, RH 21-3/38; siehe auch 7. PzDiv, KTB, BAMA, RH 27-7/3, BI. 43; Frontfahrt 16.5., AOK 4, BA-MA, RH 20-4/69, BI. 39; Heidkämper, Ope· rationendes XV. AK, Mai 1940, S. 24f., BA-MA, Hilfsstudie (XV. AK, Mai) zu P-208, Bd2. 90 Zu den Funksprüchen während der Nacht vom 16./17. Mai siehe vor allem die Akten der 7. PzDiv: KTB, BA-MA, RH 27-7/3, BI. 43ff.; RH 27-7/213, BI. llff., 17ff.; Funksprüche 17. Mai, RH 27-7/11. Vgl. auch: Funksprüche Panzerkorps Hoth an 7. Panzerdivision, RH 21-3/28 .

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li. Rommels eigenmächtiger Vorstoß bei Avesnes

339

Stunden abgerissen und kam erst wieder am 17. Mai um 3.40 Uhr zustande. Dies erscheint insofern paradox, als Rommel seit seiner letzten Kontaktaufnahme 15 Kilometer weiter nach Westen vorgestoßen war, was - rein technisch gesehen - kaum zu einer Verbesserung der Funkverbindung geführt haben dürfte. Rommel meldete sich erst wieder, als der Kampf um Avesnes weitgehend entschieden war und er vollendete Tatsachen geschaffen hatte. Merkwürdig ist auch, daß mit der Führungsstaffel des Kradschützenbataillons, die ebenfalls zur Vorausabteilung gehörte, zwischenzeitlich »gute Verbindung« bestand91 • Die Funkausstattung von Rommels Führungsstaffel aber war eindeutig besser. Um 4.20 Uhr traf bei Major i. G. Heidkämper auf dem Divisionsgefechtsstand ein dringlicher Befehl des Korps ein: »Nicht über Avesnes hinaus weiter vorgehen92 .«

Zu diesem Zeitpunkt befand sich Rommels Führungsstaffel etwa an der gleichen Stelle, an der sie den Funkspruch um 3.40 Uhr entgegengenommen hatte. Nun aber war auf eigenartige Weise die Verbindung schon wieder abgerissen. Auch der Führungsstab des Panzerkorps funkte mehrmals »sofort anhalten«93 • Doch alles war vergebens. Generalmajor Rommel blieb unerreichbar. Infolge dieses eigenmächtigen Vorstoßes aber riß die Verbindung zum Divisionsgefechtsstand schließlich völlig ab. Der allein zurückgelassene Major i. G. Heidkämper hielt sich strikt an den Korpsbefehl und ließ die Division erst um 8.00 Uhr Richtung Avesnes nachrücken. Nun kam es durch einen Verkehrsstau vor den französischen Befestigungen zu weiteren Verzögerungen, wofür ein Bericht des Schützenregiments 6 die Erklärung liefert: »Beim Erreichen der Maginot-Linie bot sich uns folgendes Bild: Durch die Bunkerlinie mit ihrem dichten Sperrgürtel zog sich eine Gasse. Die Bunker beiderseits der Vormarschstraße waren von den Panzern außer Gefecht gesetzt worden; die Bunker weiter südlich davon fanden wir noch vollkommen unversehn. Durch das dicke und tiefe Drahtverhau war gerade in Straßenbreite eine Gasse gesprengt bzw. geschnitten worden, durch die unser Bataillon jetzt drängte. Wir glaubten, jeden Augenblick mit einem plötzlichen verheerenden Feuerhagel aus den Bunkern überfallen zu werden. Nichts! Kein Schuß fiel! Wir konnten es gar nicht glauben, daß man durch eine deran schmale Gasse eine ganze Division hindurchschleusen wollte. Teilweise waren wir des Glaubens, daß uns der Franzose hier in eine Falle lockte und hinter uns das kleine Schlupfloch schließen würde94 .c

Rommel aber hatte sich inzwischen derart weit entfernt, daß tatsächlich keine Funkverbindung mehr möglich war. Er zeigte sich verärgert über das Zurückbleiben der Division, die er irrtümlich irgendwo hinter der Vorausabteilung auf dem Weg nach Landreeies wähnte. Deshalb entschloß er sich gegen 7.00 Uhr, das Kommando über die Vorausabteilung an Oberst Rothenburg, den Kommandeur des Panzerregiments, zu übergeben. Er selbst wollte denselben Weg Richtung Avesnes wieder zurückfahren, um die Division heranzuholen. Hierbei wurde sein Befehlsfahrzeug, ein achträdriger Panzerspähwagen, nur von einem Panzer III begleitet, der jedoch unterwegs wegen eines technischen Scha7.PzDiv, KTB, BA-MA, RH 27-7/3, Bl.43. Ebd., siehe auch XV. AK, KTB, BA-MA, RH 21-3/36, S. 19 (BI. 22}; Heidkämper, Operationen des XV. AK, Mai 1940, S. 25, BA-MA, Hilfsstudie (XV. AK, Mai) zu P-208, Bd 2. 93 7. PzDiv, BA-MA, RH 27-7/213, Bl.19. 94 Siehe Manteuffel, Die 7. Panzer-Division im Zweiten Weltkrieg, S. 71. 9'

92

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Siebter Teil: Der Vorstoß zur Kanalküste und das Problem der »offenen Flanke«

dens liegen blieb. Nun begann das wohl verrückteste Abenteuer des Generalmajors Rommel während des Westfeldzuges. Seine kleine Vorausabteilung stand weit im Westen, völlig isoliert wie eine Insel im Meer des feindlichen Hinterlandes. Inzwischen marschierten auf der Straße, über die die deutschen Panzer während ihres Vormarsches gerollt waren, schon längst wieder französische Truppenteile - Rommel entgegen - auf ihrem Rückzug nach Westen. Es erscheint schwer nachvollziehbar, daß der General nicht umkehrte, sondern unbeirrt den Weg nach Osten fortsetzte. Offenbar hatte er inzwischen jegliches Gespür für Gefahren verloren. Er preschte zwischen den verblüfften Franzosen hindurch, ließ einige Male das Feuer eröffnen und umging gefährliche Stellen, wo auf ihn geschossen wurde. Wenn er überraschend auf überlegenen Feind traf, fuhr er forsch darauf zu und forderte den jeweiligen Führer in einem Befehlston, der keinen Widerspruch duldete, auf, sich mit seiner Mannschaft gefangen zu geben. Damit gelang es ihm jedesmal, die Franzosen zu überrumpeln, wie folgendes Beispiel zeigt: »1 km ostw. Marbays [Marbaix] überquerte ein französischer Pkw von links kommend, dicht vor uns die Straße. Er wurde durch Zuruf angehalten. Ein Offizier stieg aus. Hinter ihm kam eine ganze Kolonne von Lastkraftwagen und M.G.-Schützen, die ihre M.G.s. auf Fliegerbeschuß eingestellt hatten. Diese Kolonne wurde von uns vereinnahmt und auf Avesnes in Marsch gesetzt. Leutnant Hanke hatte sich auf den vordersten Lkw geschwungen. Ich selbst fuhr neben der Kolonne her. Den Franzosen gaben wir durch Zeichen zu verstehen, sie sollten die Waffen niederlegen, für sie sei der Krieg aus95 .«

Seltsamerweise hatte Rommel mit diesem Bluff immer wieder Erfolg. Welches Risiko er dabei einging, kommentiert ein britischer Autor: »Ein einziger schießwütiger Franzose hätte genügt, und Rommels Laufbahn wäre hier in diesem Augenblick zu Ende gewesen. Er dachte gar nicht daran, seinen Rang oder seine Person zu verbergen. Durch seine schicke Uniform, die hohe Schirmmütze, die Orden und seine laute Stimme hob er sich deutlich von seinen Panzerkommandeuren ab. Er aber lebte sein wie durch Zauber beschütztes Leben weiter, wie zahllose Ereignisse zeigen96 .«

Endlich traf Rommel, hinter sich eine Kolonne von 40 französischen Lastkraftwagen, in Avesnes ein. Dort stieß er auf die vordersten Teile seiner allmählich nachrückenden Verbände. Nun war die Erleichterung groß - auch bei den höheren Führungsstäben bis zum Oberkommando der Wehrmacht. Die Meldung, Rommel sei spurlos mit seinen Panzern verschwunden, hatte für große Aufregung gesorgt. So war die 7. Panzerdivision nicht nur für den französischen, sondern auch für den deutschen Generalstab zur »Gespensterdivision« geworden. Doch es war unmöglich, einen derart erfolgreichen General »Vor das Kriegsgericht« zu stellen, Rommel erhielt statt dessen das Ritterkreuz. Die Folgen seines nächtlichen Vorstoßes erschienen atemberaubend. Nach der verlängerten Maginotlinie war auch noch die dahinterliegende Sambre-Oise-Linie durchstoßen worden. Hierbei fiel die SambreBrücke bei Landrecies in deutsche Hände, noch bevor sich die ausweichenden französischen Truppen hinter dem Fluß zur Verteidigung einrichten konnten. Das II. Korps, das bereits durch die vorangegangenen Kämpfe in Belgien stark angeschlagen war, löste sich in Panik auf. Auch die 1. Panzerdivision wurde endgültig aufgerieben. Außerdem über95 96

7. PzDiv, BA-MA, RH 27-7/212, S. 8 (BI. 20). Irving, Rommel, S. 66.

III. Der britische Gegenangriff bei Arras: ein taktischer Mißerfolg

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rollten Rommels Panzer einige Verbände der 18. Infanteriedivision, der 4. leichten Kavalleriedivision, der 1. leichten mechanisierten Division, der 1. nordafrikanischen Infanteriedivision und der 9. motorisierten Infanteriedivision. Am 17. Mai wurden in diesem Abschnitt etwa 10000 französische Soldaten gefangengenommen; 3500 davon gerieten in die Hände der 7. Panzerdivision, obwohl sie bei ihrem stürmischen Vormarsch kaum Zeit für derartige Maßnahmen hatte 97 • Die eigenen Verluste der Division betrugen für den 16. und 17. Mai demgegenüber lediglich 40 Gefallene und 75 Verwundete 98 • Rommels Vorstoß erscheint auch innerhalb der Entwicklung zum modernen operativen Bewegungskrieg von Bedeutung. Er stellt in diesem Feldzug das Extrembeispiel für den Übergang von der linearen zur nichtlinearen Gefechtsführung dar. Schließlich war die Vorausabteilung Dutzende von Kilometern ohne Flankenschutz, ja sogar ohne rückwärtige Verbindung zur Division wie eine sich fortbewegende Insel durch das Hinterland des Gegners vorwärtsgedrungen. Das psychologische Schockelement war zur wirkungsvollsten Waffe geworden.

III. Der britische Gegenangriff bei Arras: ein taktischer Mißerfolg mit ungeahnten operativen Folgen ,.Ein kritischer Augenblick trat ein, als meine Streitkräfte eben den Kanal erreicht hatten. Verursacht wurde die Krise durch _einen britischen Gegenstoß am 21. von Arras nach Süden. Kurze Zeit fürchtete man, unsere Panzerdivisionen könnten abgeschnitten werden, ehe unsere Infanteriedivisionen heran

waren99 .« (Generalfeldmarschall v. Rundstedt in einer rückblickenden Betrachtung)

1. Das Erreichen der Kanalküste Am 17. Mai entschloß sich General Haider zu einer Umstrukturierung der deutschen Angriffsverbände. Danach sollten möglichst alle »schnellen Truppen« (Panzerdivisionen und motorisierte Infanteriedivisionen) unter Führung der 4. Armee zusammengefaßt werden100. Diese hatten den Auftrag, nach Freigabe der Bewegung durch Hitler so schnell Die im Tagesbericht der 7. PzDiv für den 17. Mai genannte Zahl von 10000 Gefangenen (BA-MA, RH 27-7I 44) erscheint zu pauschal. Zutreffender ist sicher die Zahl von 3500, die in der zusammen· fassenden Statistik vom 31. Mai genannt wird; vgl. die Darstellung »Kurzer Gefechtsbericht der 7. Pz.Div. für die Zeit v. 10.-29. 5.40« (ebd., BI. 67). 98 Ebd., Tagesberichte 16. und 17. Mai. 99 Siehe Liddeli Hart, Jetzt dürfen sie reden, S. 227. 1oo Halder, Kriegstagebuch, Bd 1, S. 301. 97

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III. Der britische Gegenangriff bei Arras: ein taktischer Mißerfolg

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wie möglich nach Westen vorzustoßen, um die aus Belgien zurückweichenden alliierten Interventionstruppen noch vor Erreichen der Somme abzuschneiden und an der Kanalküste einzuschließen. Hierbei sollte - nach einem Vergleich Halders - die Heeresgruppe B im Norden den Am boß und die Heeresgruppe A mit ihren Panzerdivisionen den von Süden heranschwingenden Hammer darstellen101 • Inzwischen allerdings lief die Heeresgruppe B Gefahr, den Gegner - entgegen der operativen Absicht - allzu ungestüm vor sich herzutreiben, während der Vormarsch der Heeresgruppe A durch Hitlers »HaltBefehl« abgebremst wurde. Generaloberst v. Bock erhielt deshalb den Auftrag, das Panzerkorps Hoepner (XVI. Armeekorps) und das XXXIX. motorisierte Armeekorps (Generalleutnant Schmidt) herauszulösen und der Heeresgruppe A zuzuführen. Diese Verstärkungen sollten unter das Kommando von General Hoth treten, dessen Panzerkorps (XV. Armeekorps) nun zur sogenannten »Panzergruppe Hoth« erweitert wurde 102 • Haider gelang es nach mehrmaliger Intervention bei Hitler, am 19. Mai Bewegungsfreiheit für den Vorstoß auf die Kanalküste zu erhalten. Nun gab es für die Panzerverbände kein Halten mehr: »Wir haben ein Gefühl, wie es das edle Rennpferd haben mag, das von seinem Reiter aus kühler Überlegung am Zügel gehalten, nun den Kopf freibekommt und sich streckt, um im schwingenden Galopp als Sieger dem Ziel entgegenzueilen 103 .«

Der weitere Vormarsch führte durch das schicksalsträchtige Gelände der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges, wo sich Deutsche und Alliierte jahrelang im Stellungskrieg gegenübergelegen hatten. Noch am selben Tag konnte die 1. Panzerdivision Amiens nehmen und einen kleinen Brückenkopf südlich der Somme bilden. Noch erfolgreicher war die 2. Panzerdivision, die an diesem Tag 90 Kilometer weit vorstieß. In der Nähe von Albert überraschte sie eine britische Artillerieeinheit, die ohne scharfe Munition nur mit Manöverkartuschen eine Geländeübung durchführte. Um 20.30 Uhr wurde das von Manstein anvisierte operative Ziel, nämlich Abbeville an der Sommemündung, erreicht. Außerdem drang in derselben Nacht um 2.00 Uhr das m. Bataillon/Schützenregiment 2 westlich von Noyelles unmittelbar an die Kanalküste vor. Somit war die entscheidende Phase der Operation »Sichelschnitt« erfolgreich abgeschlossen. Die deutschen Panzer hatten einen Keil durch die alliierte Front getrieben und den gesamten Nordflügel, darunter die Masse der Elitedivisionen, an der Kanalküste eingeschlossen. In diesem gigantischen Kessel von 200 Kilometer Länge und bis zu 140 Kilometer Breite befand sich nicht nur das belgisehe Heer, sondern auch die Heeresgruppe 1 mit der britischen Expeditionsarmee, der französischen 1. und 7. Armee sowie versprengten Teilen der 9. Armee. Die alliierten Divisionen standen fast durchweg mit Front nach Osten und Norden, von wo sie durch die deutsche Heeresgruppe B frontal angegriffen wurden. Nun sollte von Süden her die 4. Armee, unterstützt von allen »Schnellen Truppen« in ihren Rücken stoßen: die Panzergruppe Kleist entlang der Kanalküste über Dünkirchen und die Panzergruppe Hoth östlich davon im Raum Arras. Ebd., S. 319. Die Gliederung der Panzergruppe Hoth stellte sich nach Eintreffen der neuen Verbände wie folgt dar: XVL mot. Armeekorps: 3. Panzerdivision, 4. Panzerdivision, 20. Infanteriedivision (mot); XXXIX Armeekorps (mot): 5. Panzerdivision, 7. Panzerdivision, 11. Schützenbrigade, SS!fotenkopf-Division. 103 Kielmansegg, Panzer, S. 138. 1o1

1o2

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Siebter Teil: Der Vorstoß zur Kanalküste und das Problem der •offenen Flanke«

2. Die Abwehr des britischen Flankenangriffs durch die 7. Panzerdivision Rommel war nach seinem stürmischen Vormarsch über Avesnes bis Le Cateau zunächst von seinen Vorgesetzten gestoppt worden. Nach Freigabe der Bewegung stieß er über Cambrai bis in den Raum südlich von Arras vor. Für den 21. Mai erhielt die 7. Panzerdivision den Auftrag, in einer Drehbewegung westlich um Arras herum Richtung Norden anzugreifen und die Übergänge über die Scarpe bei Acq zu nehmen. Diese halbkreisförmige Bewegung - im Uhrzeigersinn - stellte ein erhebliches Risiko dar, da während des gesamten langwierigen Schwenkmanövers die rechte Flanke zur Stadt hin offen war. Rechts von Rommels Angriffsverbänden sollte eigentlich die 5. Panzerdivision angreifen, um die Flanke der 7. Panzerdivision zu entlasten. Doch wie sich schließlich herausstellte, verzögerte sich ihr Vormarsch, so daß sie ihren Auftrag nicht erfüllen konnte. Rommel aber ließ im Hochgefühl seiner Erfolge alle Vorsicht außer acht. Er entschloß sich, mit dem Panzerregiment 25 einen Vorausangriff auf die mehr als 10 Kilometer entfernten Scarpe-Brücken bei Acq zu unternehmen. Die beiden Schützenregimenter sollten später folgen. Das Risiko wurde also noch dadurch erhöht, daß die Masse der Division zunächst ohne einen einzigen Panzer zurückblieb. Während Rommel bislang in erstaunlicher Weise vom Glück begünstigt gewesen war, brach nun das Verhängnis über seine Division herein, und zwar in Form eines der gefährlichsten Angriffe, deren sich eine deutsche Division im gesamten Westfeldzug erwehren mußte. Der Zufall wollte es, daß der von den Briten ohne vorherige Aufklärung vorgetragene Panzerangriff exakt zum ungünstigsten Zeitpunkt an der ungünstigsten Stelle voll in die ungeschützte Flanke der deutschen Infanteriekolonnen hineinstieß. Rommel war zunächst seinen rasch davonpreschenden Panzern gefolgt. Als jedoch die Infanterie nicht nachkam, fuhr er wieder zurück und erlebte gegen 16.00 Uhr den Angriff von etwa 40 britischen Panzern auf das ll. Bataillon des Schützenregiments 7. Daraufhin eilte er auf die Höhe 111 einen Kilometer nordwestlich von Wailly, wo mehrere Geschütze in Stellung gegangen waren. Zunächst schien die Situation nicht allzu dramatisch. Wie der Divisionskommandeur befriedigt registrierte, feuerten seine Kanoniere »ruhig Schuß um Schuß ab, ohne auf das Feindfeuer zu achten« 104 • Einige Panzer vom Typ Mark I wurden abgeschossen. Ein britischer Hauptmann kletterte aus seinem schwer beschädigten Panzer und taumelte, noch ganz benommen, mit erhobenen Händen auf die Deutschen zu. Plötzlich zeigten sich die Bedienungsmannschaften der Panzerabwehrgeschütze irritiert. Zwischen den britischen Panzern befanden sich auch einige schwerfällige Kolosse, die unaufhaltsam auf die deutschen Stellungen zufuhren. Die deutschen Kanoniere feuerten aus allen Rohren, doch es war sinnlos, alle Geschosse prallten wirkungslos ab. Es handelte sich um Infanteriepanzer Mark ll (Matilda), deren Panzerung mit 80 mm die stärkste aller im Westfeldzug eingesetzten Modelle bildete 105 • In einem Gefechtsbericht ist vermerkt: 104 105

Siehe Horne, Über die Maas, S. 418; vgl. hierzu Rommel Papers, S. 30. Selbst die »leichten« Infanteriepanzer Mark I waren bis zu 60 mm stark gepanzert und bereiteten den Deutschen bei Arras ebenfalls Probleme.

bei Arras am 21. Mai 1940 /

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Siebter Teil: Der Vorstoß zur Kanalküste und das Problem der »offenen Flanke«

»Gegen die schweren Panzer der Engländer sind die eigenen Paks auch auf nahe Entfernungen nicht wirkungsvoll genug. Die durch sie gebildeten Abwehrfronten werden vom mnd durchbrochen, die Geschütze zusammengeschossen oder überfahren, die Bedienungen größtenteils niedergemacht106 .«

Mit Hilfe einer in der Nähe befindlichen Artilleriebatterie gelang es mit größter Mühe, den Angriff kurz vor der Höhe 111 zu stoppen. Die Gefahr für das in der Spitze angegriffene Schützenregiment 7 schien zunächst gebannt. Doch nun stießen einzelne britische Panzer nördlich und südlich daran vorbei. Die linke (südliche) Flanke der 7. Panzerdivision sollte durch die motorisierte SS.:rotenkopf-Division gesichert werden, die jedoch noch über keine Fronterfahrung verfügte. Rommel beobachtete, wie britische Panzer in eine Stellung der Nachbardivision hineinroJlten. Etliche Soldaten gerieten dort in Panik und flohen. Bereits 30 Minuten vor der Attacke auf das Schützenregiment 7 war das Schützenregiment 6, das parallel dazu weiter nördlich vorging, bei Agny durch einen anderen britischen Panzerverband angegriffen worden. Es prallte frontal auf eine britische Panzerkolonne, die aus Richtung Dainville heranrollte. Etliche Fahrzeuge wurden zusammengeschossen. Bald darauf erfolgten aus nördlicher Richtung mehrere Angriffe durch britische Panzer und Infanterie. Sie trafen die langgezogenen Fahrzeugkolonnen des Schützenregiments 6 in die ungeschützte rechte Flanke. Den Divisionsstab erreichte folgender Funkspruch: »Fdl. starker Panzerangriff aus Richtung Arras. Hilfe, Hilfe 107.«

Die Panzerjägerabteilung 42 errichtete eilends eine Riegelstellung zwischen Agny und Beaurains. Doch die britischen Panzer rollten einfach über sie hinweg. Nachdem das Schützenregiment 6 durchstoßen war, ereilte die südlich davon zwischen Mercatel und Ficheux vorgehenden Fahrzeugkolonnen des Schützenregiments 7 teilweise das gleiche Schicksal. Einzelne britische Panzer drangen unaufhaltsam weiter nach Süden vor, wo sie in den Reihen der SS.:rotenkopf-Division für Verwirrung sorgten und deren Führungsstaffel bedrohten. Angesichts dieser Situation bewährte sich das Prinzip des »Führens von vorn«, das die deutschen Kommandeure im Gegensatz zu den alliierten praktizierten. Kaum ein anderer aber tat dies so extrem - und oft genug überzogen - wie Rommel. Sein Wahlspruch lautete, noch nie habe ein Admiral eine Seeschlacht von der Küste aus gewonnen108 • Bei Arras kam dieses Führungsprinzip in zweierlei Beziehung zum Tragen: psychologisch und führungstechnisch: Zum einen wirkte das Verhalten Rommels als Vorbild. Er befand sich an vorderster Front mitten zwischen seinen Soldaten. Obwohl sich teilweise alptraumhafte Szenen abspielten, als Pakstellungen von Panzern überrollt wurden, brach keine Panik aus. Im Gegensatz zur SS.:rotenkopf-Division kam es zu keinen nennenswerten Fluchtbewegungen. Nachdem sich der Divisionskommandeur persönlich dieser Gefahr aussetzte, blieb auch 106

1o7 108

Tagesbericht der 7. PzDiv vom 21. Mai (S. 20), BA-MA, RH 27-7/44. 7. PzDiv, KTB, BA-MA, RH 27-7/3, BI. 57. Lewin, Rommel, S. 297. So erklärten auch seine Soldaten voll Respekt: »Wo Rommel ist, ist die Front« (Young, Rommel, S. 44; Berben/Iselin, Die Deutschen kommen, S. 271).

III. Der britische Gegenangriff bei Arras: ein taktischer Mißerfolg

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seinen Soldaten nichts anderes übrig, als ebenfalls standzuhalten. So wurden die deutschen Linien von den feindlichen Panzern zwar durchbrochen, doch sie hielten. Dadurch gelang es, die britische Infanterie, die den Panzern folgen wollte, zurückzuschlagen. Die Situation, in die sich Rommel begab, war keineswegs ungefährlich. Als die britischen Panzer auf die deutschen Geschützstellungen, zwischen denen der General hin und her eilte, das Feuer eröffneten, sank plötzlich unmittelbar neben ihm sein Ordonnanzoffizier, Oberleutnant Most, tödlich getroffen zu Boden. Ebenso war wenige Tage zuvor an seiner Seite Hauptmann Schraepler, sein Adjutant, verwundet worden. Jedesmal hätte das Geschoß auch ihn treffen können. Das Führungsverhalten Rommels wirkte sich auch in anderer Hinsicht vorteilhaft aus. Während die alliierten Kommandeure meist kilometerweit vom Brennpunkt des Geschehens entfernt waren, konnte er in vorderster Linie blitzschnell die Situation erfassen und sofort reagieren. Es waren vier Maßnahmen, durch die er eine Wende herbeiführte 109: (1) Zunächst organisierte er eine vordere Auffanglinie aus Paks und leichten Flak-Geschützen. Dadurch konnten zwar nicht die Matilda-Kampfwagen, dafür aber etliche leichte Panzer gestoppt werden. (2) Wie aus mehreren Funksprüchen Rommels an seinen Divisionsstab hervorgeht, ließ er in der Tiefe eine zweite Auffanglinie aus Artillerie- und Flakgeschützen bilden110• Als die Briten im offenen Gelände zwischen Mercatel und Tilloy frontal gegen diese Stellungen anrennen wollten, verloren sie in wenigen Minuten zwei Dutzend Panzer. Besonderen Anteil an der Abwehr des Vorstoßes hatten die 8,8 cm Flakgeschütze. (3) Kurz nach 18.00 Uhr, etwa zwei Stunden nach Anforderung durch die 7. Panzerdivision, trafen die ersten Flugzeuge des I. und VIII. Fliegerkorps ein. Zu diesem Zeitpunkt war der britische Angriff bereits abgeschlagen. Nun stürzten sich die deutschen Flugzeuge auf die zurückweichenden Panzer. Bis 20.30 Uhr erfolgten 300 Stukaangriffe111. 109

Zur Schlacht bei Arras (aus deutscher Sicht) siehe folgende Akten (alle BA-MA): 7. PzDiv, KTB,

RH 27-7/3, Bl. 56ff.; Tagesbericht 21.5., RH 27-7/44, S. 20ff.; RH 27-71212, BI. 38ff.; AOK 4: KTB, RH 20-4/54, S. 247ff., 262ff.; Meldungen 21. 5., RH 20-4/71; Kurzer Überblick über die Operationen der 4. Armee, S. 13ff., RH 20-4/81; XV. AK: KTB, RH 21-3/36, S. 32ff. (BI. 35ff.); XXXIX. PzKorps: KTB, RH 24-39/7, S. 29 (BI. 31)ff. und Anl. zum KTB 21. Mai, RH 24-39/9; Heidkämper, Operationen des XV. AK, Mai 1940, S. 38ff., BA-MA, Hilfsstudie (XV. AK, Mai) zu P-208, Bd 2; Rommel Papers, S. 29ff.; Manteuffel, Die 7. Panzer-Division im Zweiten Weltkrieg, S. 76ff.; Plato, 5. Panzerdivision, S. 71; Ullrich, Wie ein Fels, S. 26ff.;Jacobsen, Dünkirchen, S. 54ff.; Macksey, Rommel, S. 51ff.; Lewin, Rommel, S. 28ff.; Horne, Über die Maas, S. 414ff.; BenoistMtkhin, Der Himmel stürzt ein, S. 124ff.; Deighton, Blitzkrieg, S. 304ff.; Bond, France and Belgium, S. 116ff.; Blaxland, Destination Dunkirk, S. 133ff.; Ellis, War in France, S. 88ff.; Buffetaut, Rommel, S. 63ff., 74ff., 197ff. Dem Verfasser wurden vom Traditionsverband der ehern. 7. Panzerdivision zusätzliche Dokumente, z. B. das Kriegstagebuch des 11. Bataillons/Schützenregiment 7, zur Verfügung gestellt. 110 7. PzDiv, KTB, BA-MA, RH 27-7/3, Bl. 57ff. In dieser Akte sind fast alle Funksprüche des Divisionsführungskreises während der Schlacht von Arras verzeichnet. 111 Ebd., BI. 58ff.; Heidkämper, Operationen des XV. AK, Mai 1940, S. 40, BA-MA, Hilfsstudie (XV. AK, Mai) zu P-208, Bd 2; Speidel, Einsatz der operativen Luftwaffe, Teil3, S. 307ff., BA-MA, Studie Lw 3/2.

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(4) Rommel hatte inzwischen auch das weit nach Norden vorausgeeilte Panzerregiment 25 zurückbeordert. Es sollte die ausweichenden britischen Verbände vom Rückzug abschneiden. Südlich von Duisans prallte es jedoch auf eine Kolonne französischer Panzer, die - wie noch darzustellen ist - die rechte Flanke der Briten sichern sollte. Erst nach heftigem, verlustreichem Kampf vermochten sich die deutschen Panzer durchzusetzen. Anschließend galt es, zwischen Duisans und Warlus einen britischen Pakriegel zu durchbrechen. Doch die sogenannte »Panzerschlacht von Arras« war längst entschieden, als die deutschen Panzer bei Dunkelheit auf dem von britischen Panzern bereits verlassenen Schlachtfeld eintrafen. Der 21. Mai brachte der 7. Panzerdivision die weitaus empfindlichsten Verluste im Westfeldzug. Sie waren genauso groß wie die aus den ersten vier Kampftagen einschließlich des Maasübergangs zusammengenommen. Es handelte sich um 89 Tote, 116 Verwundete und 173 Vermißte. Von den letzteren kehrten jedoch 90 Versprengte gleich darauf wieder zu ihren Einheiten zurück112 •

3. Der Gegenangriff bei Arras aus alliierter Sicht Betrachtet man Planung und Durchführung des alliierten Gegenangriffs, so offenbart sich in auffallender Weise die Unfähigkeit der britischen und französischen Führungsstäbe, schnell genug auf den deutschen Panzervorstoß zu reagieren. Dabei hätte sich ihnen noch einmal eine Chance geboten, das Blatt zu wenden. Je weiter die deutschen Panzer zur Kanalküste vordrangen, um so länger wurden die offenen Flanken. Das atemberaubende an dieser nichtlinearen Operationsführung bestand darin, daß sich ein isolierter Panzerkeil nach Westen schob, hinter dem sich in einzelnen Abschnitten fast ein Vakuum gebildet hatte. Die wenigen motorisierten Infanteriedivisionen reichten nämlich zur Absicherung des von den Panzern genommenen Gebietes bei weitem nicht aus, während sich die zu Fuß marschierenden Infanteriedivisionen teilweise noch einige Tagesmärsche entfernt befanden. So war im Abschnitt Arras ein nur 40 Kilometer breiter Korridor entstanden, dessen Flanken zu einem Zangenangriff geradezu provozierten. Winston Churchill hatte bereits am 19. Mai eine entsprechende Depesche an Gamelin geschickt, wobei er die vorgepreschten deutschen Panzerverbände bildkräftig mit dem Kopf einer Schildkröte verglich: »Die Schildkröte hat ihren Kopf sehr weit aus dem Schild vorgestreckt. Einige Tage müssen verstreichen, ehe ihr Körper unsere Verbindungslinien erreichen kann. Es scheint, daß wuchtige Schläge aus Norden und Süden gegen diese verlängerte >fasche< überraschende Ergebnisse zeitigen könnten 113 .«

Nun konnte sehr leicht jener gefährliche Umschwung eintreten, den Clausewitz das »Umfassen des Umfassenden« nennt 114• Hätten die Alliierten den Schwächemoment des Angreifers zum richtigen Zeitpunkt genutzt, so wäre es möglich gewesen, - im umge112

113 114

Manteuffel, Die 7. Panzer-Division im Zweiten Weltkrieg, S. 78. Siehe Horne, Über die Maas, S. 523. Clausewitz, Vom Kriege, S. 1158.

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kehrten Sinn - den Deutschen ein »Dünkirchen« zu bereiten. Die Panzer wären, vom Nachschub abgeschnitten, an der Kanalküste eingekesselt worden. Doch General Haider nahm dieses Risiko ohne weiteres in Kauf, da er um die Schwäche seiner Gegenspieler wußte. Er traute den Führungsstäben der Alliierten nicht zu, mehrere Großverbände - schnell genug - zu einer operativen Gegenaktion zusammenzufassen. Tatsächlich gab es zwei derartige Versuche, einen von französischer und einen von britischer Seite. Zu welchem Ergebnis sie führten, soll im folgenden behandelt werden. a) Der Weygand-Plan General Gamelin hatte die Durchführung der Operationen weitgehend General Georges, dem Oberbefehlshaber der Nordostfront, überlassen. Am 19. Mai jedoch erfolgte sein »erster und zugleich letzter Eingriff« in die Schlacht 115• In der Weisung Nr. 12 stellte er fest, daß hinter der ersten deutschen Staffel eine große Lücke entstanden sei, in die man mit »besonders beweglichen Streitkräften« hineinstoßen müsse. Auf diese Weise könne man hinter den Rücken der deutschen Panzerdivisionen gelangen und die Einkessdung der Heeresgruppe 1 auf dem Nordflügel verhindern. Doch seine Weisung trug eher den Charakter einer vage gehaltenen Denkschrift als den eines kühnen Operationsplanes. Die einzige wirklich konkrete Aufforderung bestand in dem berühmt gewordenen Satz: »Alles hängt von den allernächsten Stunden ab 116.«

Wie sich herausstellen sollte, vergingen noch mehrere Tage, bis überhaupt ein Operationsplan zustande kam. Noch am seihen Tag, dem 19. Mai, wurde der glücklose Gamelin von seinem Kommando abgelöst und durch den bereits 74jährigen reaktivierten General Weygand ersetzt. Dieser hatte im Ersten Weltkrieg als rechte Hand des Marschalls Foch gegolten, der im Frühjahr 1918 die gefährliche deutsche Großoffensive im Raum Amiens gerade noch stoppen konnte. Außerdem war er 1920 als Berater des polnischen Marschalls Pilsudski am »Wunder an der Weichsel« beteiligt, als die Offensive der Roten Armee vor Warschau zum Stehen gebracht wurde. Weygand schien über das Charisma zu verfügen, das man vom »Retter Frankreichs« erwartete. Doch wie sich zeigte, war er noch stärker als sein Vorgänger dem gemächlichen Tempo der Führungsabläufe des Ersten Weltkrieges verhaftet. Seine erste Maßnahme bestand darin, die Weisung seines Vorgängers für die Durchführung einer sofortigen Gegenoffensive wieder aufzuheben. Er wollte sich zunächst selbst ein Bild der Lage verschaffen. Hierbei hielt er es, seinem Vorbild Foch aus dem Ersten Weltkrieg folgend, für unverzichtbar, zunächst einmal die Front zu besuchen und mit den wichtigsten Oberbefehlshabern ein persönliches Gespräch zu führen. Dies mußte angesichts des Tempos des deutschen »Blitzkrieges« geradezu als Anachronismus erscheinen. Gamelins Aufruf, es komme auf jede Stunde an, war unbedingt zutreffend gewesen. In jeder Stunde, die verstrich, rückten die deutschen Panzerverbände immer weiter nach Westen vor, wobei sie am 20. Mai ihr großes operatives Ziel, Abbeville an der Sommemündung, erreichten. Doch Weygand vergeudete an diesem Tag 115

116

Horne, Über die Maas, S. 400; vgl. hierzu Cailloux, Contre-attaque, S. 134ff. Ebd.

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einen beträchtlichen Teil seiner Zeit damit, den politischen Würdenträgern in Paris, darunter dem neu ernannten Innenminister Mandel, Höflichkeitsbesuche abzustatten 117 • Am Morgen des 21. Mai flog er in den Kessel von Flandern zu General Billotte, dem Oberbefehlshaber der dort eingeschlossenen alliierten Heeresgruppe 1. Organisatorische Pannen und der ständige Zwang, deutschen Flugzeugen auszuweichen, führten dazu, daß er erst gegen 15.00 Uhr eintraf. Nach einem Gespräch mit französischen und belgischen Befehlshabern sowie dem belgischen König in Ypern reiste er gegen 17.30 Uhr wieder ab und gelangte nach einer zeitraubenden Luft-, See- und Eisenbahnreise erst am 22. Mai gegen 15.00 Uhr wieder nach Paris 118 • Inzwischen hatten die Deutschen längst Gelegenheit gehabt, genügend Divisionen in den Korridor nachzuführen, und waren weiter entlang der Kanalküste vorgestoßen, um die eingeschlossenen alliierten Armeen von den Häfen abzuschneiden. Auch jener von Rommels 7. Panzerdivision abgewehrte Vorstoß bei Arras, der noch eingehender - aus britischer Sicht - dargestellt werden wird, war inzwischen ergebnislos abgebrochen worden. Erst jetzt, am 22. Mai, erließ der neuernannte französische Oberbefehlshaber seinen Operationsbefehl Nr. 1, der als »Weygand-Plan« bekannt wurde. Churchill, der an derbetreffenden Sitzung des alliierten Kriegsrats in Paris teilnahm, erklärte hierzu in seinen Memoiren: »Man wird erkennen, daß Weygands neuer Plan sich nur durch seine energische Formulierung von dem widerrufenen Befehl Nummer 12 Gamelins unterschied 119.«

Dies bedeutete, daß seit Gamelins Ablösung am 19. Mai drei Tage sinnlos vergeudet worden waren - ein uneinholbarer Zeitverlust gegenüber den Deutschen! Weygands Operationsplan war denkbar einfach. Gegen den »Korridor« von Arras sollte ein Zangenangriff unternommen werden: - von Norden her durch die an der Küste eingeschlossene Heeresgruppe 1 unter General Billotte; - vom Süden her durch die neuformierte Heeresgruppe 3 unter General Besson, die sich hinter der Somme befand. Die Situation schrie geradezu danach, so schnell wie möglich mit soviel Truppen wie möglich den Korridor zu durchstoßen, um die »größte militärische Katastrophe in der Geschichte« 120 (General Ironside} abzuwenden. Dadurch konnte nicht nur der Umfassungsring um die eingekesselte Heeresgruppe 1 aufgesprengt werden, es war auch möglich, die deutschen Panzerdivisionen an der Küste einzuschließen. Auf diese Weise ließ sich sogar die drohende Niederlage in einen Sieg verwandeln. Doch währendJoffre 1914 das »Wunder an der Marne« zustande gebracht hatte, gelang es Weygand nicht, dieses Wunder an der Somme zu wiederholen. Eigentlich hätte man erwarten müssen, daß die Verbände der im flandrischen Kessel eingeschlossenen Heeresgruppe 1 so schnell wie möglich nach Süden zur Somme durchbrechen würden. Als aber Shirer, Zusammenbruch, S. 750. Müller, Dünkirchen, S. 142. 119 Churchill, Zweiter Weltkrieg, Bd II, 1. Buch, S. 88. 12o Ironside Diaries, S. 317. 11 7

118

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Weygand am 22. Mai während der Sitzung des alliierten Kriegsrates in Vincennes seinen Plan bekannt gab, erklärte er: •Es kann nicht die Rede davon sein, von der Masse der französisch-englisch-belgischen Streitkräfte,

die sich noch im Norden befindet[ ...], zu verlangen, daß sie sich einfach nach Süden zurückzieht und mit der Masse der französischen Armeen irgendwie zu vereinigen sucht 121 .«

Noch deprimierender war das Ergebnis bei der Heeresgruppe 3, die symmetrisch dazu einen Zangenangriff von Süden her durchführen sollte. Sie blieb in ihren Stellungen hinter der Somme stehen und beschränkte sich darauf, gegen die deutschen Brückenköpfe auf dem Südufer vorzugehen. Die letztmögliche Chance für eine Gegenoffensive hätte am 23. Mai bestanden. Am selben Abend jedoch entschloß sich General Gort, der Oberbefehlshaber der britischen Expeditionsarmee, zum Rückzug auf die Kanalküste und ließ die bei Arras stehenden Truppen nach Norden ausweichen. Auch wenn er sich am darauffolgenden Tag immer noch bereit erklärte, mit den geforderten zwei Divisionen an einer alliierten Gegenoffensive teilzunehmen, traute er der französischen Armee nicht mehr zu, ihrerseits die notwendigen Truppen zeitgerecht bereitzustellen. Die Bemühungen der französischen Führung hatten ohnehin einen herben Rückschlag erlitten, da General Billotte, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe 1, am Abend des 21. Mai bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Er hatte sich gerade auf der Rückfahrt von Ypern befunden, wo Weygand seinen Operationsplan zum ersten Mal vorgestellt hatte. Nun war der einzige Mann verstorben, der die Vorstellungen des französischen Oberbefehlshabers genau kannte. Dieser aber ließ sich mit der offiziellen Ernennung General Blanchards zum Nachfolger Billottes noch drei Tage Zeit, so daß im Kessel von Flandern zeitweilig fast ein Zustand der Führungslosigkeit herrschte. Weygand hatte die Gegenoffensive eigentlich am 23. Mai starten wollen, verschob sie dann jedoch auf den 24. und schließlich auf den 26. beziehungsweise 27. Mai, um sie schließlich endgültig abzusagen. Damit war die letzte Chance dahin, doch noch die Katastrophe abzuwenden122 • b) Die britische Initiative eines Gegenangriffs bei Arras Der vergebliche Versuch einer alliierten Gegenoffensive wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die mangelnde Zusammenarbeit zwischen der französischen, britischen und belgischen Armee. Da von seiten des französischen Oberbefehlshabers, dessen Befehlsgewalt alle alliierten Verbände an der Nordostfront unterstellt waren, keine energischen Anstrengungen zur rechtzeitigen Durchführung eines Gegenangriffs ausgingen, entwickelte General Ironside, der britische Generalstabschef, eine eigene Initiative. Es erscheint 121 122

Benoist-Mechin, Der Himmel stürzt ein, S. 135. Zur geplanten Weygand-Offensive siehe Weygand, Memoires, Bd 3, S. 77H.; Churchill, Zweiter Weltkrieg, Bd ll, 1. Buch, S. 77H.; Ironside Diaries, S. 321ff., 324ff.; Jacobsen, Dünkirchen, S. 66ff., 85ff., 103ff.; Müller, Dünkirchen, S. 140ff.; Horne, Über die Maas, S. 400ff., 409ff., 420ff., 433ff., 440ff., 451 ff., 458 f.; Shirer, Zusammenbruch, S. 749 ff.; Benoist-Mechin, Der Himmel stürzt ein, S. 111 ff., 118ff., 124ff., 132ff., 138ff., 141ff., 153ff.; Glover, The Fight for the Channel Ports, S. 104ff.; Deighton, Blitzkrieg, S. 303 f.

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