Biologie der Angst: Wie aus Streß Gefühle werden [13 ed.] 9783666014390, 9783525014394, 9783647014395

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Biologie der Angst: Wie aus Streß Gefühle werden [13 ed.]
 9783666014390, 9783525014394, 9783647014395

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© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

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Gerald Hüther

Biologie der Angst Wie aus Streß Gefühle werden

13., unveränderte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-01439-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de 13., unveränderte Auflage 2016 Umschlagabbildung: Claude Monet (1873), Mohnblumen bei Argenteuil (Ausschnitt), Öl auf Leinwand, Museé d‘Orsay, Paris © 2016, 1997 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: h Hubert & Co, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt 1. Begegnung und Ausschau

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2. Zugangswege 11 Weshalb wir immer nur das finden, was wir suchen, und sich immer nur diejenigen verstehen, die durch die gleiche Brille schauen Das Problem des Leib-Seele-Dualismus und die unterschiedlichen Perspektiven von psychologischen und neurobiologischen Ansätzen

3. Entwicklungswege 17 Warum es die Streßreaktion gibt, wie sie entstanden ist und wozu sie dient Die biologischen Funktionen der Streßreaktion und die Evolution plastischer, anpassungsfähiger Gehirne

4. Sackgassen 33 Was in uns passiert, wenn wir nicht mehr weiterwissen Die neuronale und endokrine Streßreaktion und ihre Besonderheiten beim Menschen

5. Auswege 47 Wie wir Sackgassen des Denkens und Fühlens verlassen und wie wir gar nicht erst hineingeraten Die Bedeutung von individueller Erfahrung und Kompetenz und der Einfluß psychosozialer Unterstützung

6. Gebahnte Wege 57 Wie holprige Wege unseres Denkens und Fühlens zu Straßen und Autobahnen werden Die Auswirkungen psychischer Herausforderungen auf neuronale Verschaltungen: Bahnung und Spezialisierung

5 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

7. Neue Wege 71 Was bei Sturmflut mit Straßen und Autobahnen passiert Die Auswirkungen psychischer Belastungen auf neuronale Verschaltungen: Destabilisierung und Reorganisation

8. Der intelligente Weg 79 Weshalb unser Gehirn kein Computer ist, und was wir tun müssen, damit es keiner wird Die Bedeutung der Wahrnehmungsfähigkeit für die Informationsverarbeitung in sich selbst optimierenden Systemen

9. Spurensuche 85 Weshalb jeder Mensch so ist, wie er ist, so denkt, wie er denkt, und so fühlt, wie er fühlt Der Einfluß psychischer Herausforderungen und Belastungen auf die Hirnentwicklung

10. Ausblick und Abschied

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Die wichtigsten im Text gebrauchten Fachausdrücke

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Literatur

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Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort Sie sprechen alles so deutlich aus: und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus und hier ist Beginn und das Ende dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; Ihr Garten und Gut grenzt gerade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um. Rainer Maria Rilke

Begegnung und Ausschau Dort, wo ich wohne, gibt es einen kleinen Hügel. Die Leute in der Gegend nennen ihn den Pferdeberg, aber Pferde weiden dort oben schon lange nicht mehr. Es führt ein einsamer grasbewachsener Weg hinauf. Nur selten verirrt sich ein Mensch hierher. Von der Anhöhe schaut man weit ins Land. Es ist durchzogen von einem Netz von Straßen und Wegen, auf denen Menschen wie Ameisen in ihren Autos, mit ihren Fahrrädern oder zu Fuß unterwegs sind. Von den umliegenden Dörfern eilen sie in die Stadt und dann wieder zurück in die Dörfer. Auf Straßen und Spazierwegen bewegen sie sich durch die Felder und Wälder. Bleiben Sie ein bißchen mit mir hier oben. Manchmal gelingt es mir nämlich, an dieser Stelle die Zeit anzuhalten, und je besser dies gelingt, desto rascher vergeht die Zeit für die dort unten. Nur wer still steht, sieht, wie die anderen sich fortbewegen, sieht, wohin sie immer wieder gehen und welche Spuren sie dabei hinterlassen. Dort, mitten im Wald, hat eben ein Aus7 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

flugslokal eröffnet. Schauen Sie, wie der kleine Weg von der Stadt her immer breiter wird, wie alle Windungen begradigt werden. Jetzt ist er bereits eine Straße geworden, und da kommen auch schon die ersten Autos angefahren. Oder dort, neben der Stadt, wird eine Fabrik gebaut. Der holprige Feldweg wird plattgewalzt, schon ist er asphaltiert und vierspurig ausgebaut. Der Weg, für den man früher eine Stunde zu Fuß brauchte, ist jetzt in zehn Minuten zurückzulegen. Unten am Fluß stellt die Fähre ihren Dienst ein. Sie haben ein Stück flußauf eine Brücke gebaut. Das alte Fährhaus verwaist, die Zufahrt bleibt unbenutzt. Schon bricht der Asphalt auf. Die ersten Büsche beginnen zu wachsen, bald wird die Straße kaum noch zu finden sein. Aber ich habe Sie nicht hierhergeführt, um Ihnen zu zeigen, wie ein Netzwerk von Straßen und Wegen in Abhängigkeit von der Nutzung ständig verändert und fortwährend an neue Erfordernisse und Gegebenheiten angepaßt wird. Was wir von hier oben beobachten können, ist ein Bild für etwas, das später einmal als der entscheidende Durchbruch der Neurobiologie auf dem Gebiet des Verständnisses von Hirnfunktion in diesem Jahrhundert bezeichnet werden wird. Es ist ein Prozeß, für den wir noch gar keinen eigenen Namen haben. Die Engländer und Amerikaner nennen ihn »experiencedependent plasticity of neuronal networks« und meinen damit die Festigung oder aber Verkümmerung der Verbindungen zwischen den Nervenzellen in unserem Gehirn in Abhängigkeit von ihrer Benutzung. Stellen Sie sich vor, was das heißt: Die Art und Weise der in unserem Gehirn angelegten Verschaltungen zwischen den Nervenzellen, die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, ist abhängig davon, wie wir diese Verschaltungen nutzen, was wir also mit unserem Gehirn machen, was wir immer wieder denken, was wir immer wieder empfinden, ob wir zum Beispiel Abend für Abend vor dem Fernseher sitzend verbringen 8 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

oder ob wir statt dessen Geige spielen, ob wir viel lesen oder ständig mit unserem Computer im Internet herumsurfen. Für jede dieser Beschäftigungen benutzen wir sehr unterschiedliche Verbindungen zwischen den Nervenzellen in unserem Gehirn. Sie heißen auf Englisch »neuronal pathways«. Nervenwege? Wege des Denkens und Empfindens? In unserem Gehirn gibt es eine Unmenge verschlungener Pfade. Viele davon werden im Lauf unseres Lebens und in Abhängigkeit davon, wie oft wir sie in unseren Gedanken beschreiten, zu leicht begehbaren Wegen, zu glatten Straßen oder gar zu breiten Autobahnen. Wem es wichtig geworden ist, sein Ziel möglichst schnell durch die Nutzung des existierenden Straßenund Autobahnnetzes zu erreichen, der übersieht allzuleicht die verträumten Pfade, die sonnigen Feldwege und die beschaulichen Nebenstraßen, die ebenfalls dorthin führen. Sie wachsen so allmählich zu und sind irgendwann kaum noch begehbar. Wer lieber zeitlebens auf einsamen verschlungenen Pfaden herumspaziert, der wird früher oder später feststellen, daß er immer dann in Schwierigkeiten gerät, wenn es darauf ankommt, in seinem Denken möglichst schnell von hier nach dort zu gelangen und eine rasche, eindeutige Entscheidung zu treffen. Wie es kommt, daß manche Menschen ihr Gehirn so benutzen, daß sie möglichst schnell vorankommen, und was in ihrem Leben darüber entscheidet, wohin sie wollen, davon handelt dieses Buch. Was uns also interessiert, ist mehr als das, was wir von unserem Hügel aus sehen können: Wir wollen wissen, warum an einer Stelle schmale Wege zu breiten Straßen und woanders ausgebaute Straßen zu schmalen Pfaden werden. Uns interessiert nicht so sehr die Tatsache, daß ein Netzwerk von Wegen in unserem Gehirn existiert und daß sich dieses Netzwerk neuronaler Kommunikation im Lauf unseres Lebens verändert. Wir wollen vielmehr 9 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

wissen, weshalb die Wege des Denkens und Empfindens eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung so sind wie sie sind. Wir wollen herausfinden, unter welchen Umständen und aus welchen Gründen manche dieser Wege bevorzugt benutzt werden und deshalb immer leichter begehbar werden. Wir wollen auch verstehen, was passieren muß, damit eingefahrene Wege verlassen werden können. Da es in unserem Gehirn keine Verkehrsplaner gibt, die alle künftigen Entwicklungen in die Erstellung des Wegeplans einbeziehen, kann sich jeder Weg, den wir einschlagen und den wir ausbauen, irgendwann später im Leben als Sackgasse, als Irrweg erweisen. Die Frage, weshalb solche Fehlentwicklungen immer wieder auftreten, welche Folgen sie haben und wie sie überwunden werden können, wird sich also wie ein roter Faden durch all unsere Überlegungen winden. Wir wollen das Wunderbare und Geheimnisvolle nicht entzaubern. Wir schauen nur einmal ganz vorsichtig hinein, voll Ehrfurcht und Bewunderung. Dann machen wir den Deckel wieder zu und tragen das Geheimnis in uns weiter – vielleicht auf all unseren künftigen Wegen.

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Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freie Leben Und in die Welt wird zurückgegeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu echter Klarheit werden gatten Und man in Märchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt von einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. Novalis

Zugangswege Von unserem Hügel aus können wir nur beobachten, daß sich das vor uns ausgebreitete Netzwerk von Wegen und Straßen, ähnlich wie das Netzwerk von Nervenverbindungen in unserem Gehirn, verändert, wenn die Menschen beginnen, es auf andere Weise zu nutzen. Weshalb manche Menschen solche, andere jedoch jene Wege einschlagen, bleibt uns verborgen. Hier reicht die Hügelperspektive nicht mehr aus. Es scheint so, als müßten wir entweder höher hinaus, um uns einen noch größeren Überblick über das Geschehen zu verschaffen, oder hinunter, um die Einzelheiten besser erkennen zu können. Seit altersher haben Menschen versucht, das nicht Faßbare entweder durch eine Vergrößerung der Entfernung von den konkreten Phänomenen vorstellbar, oder aber durch direktes Eindringen in die sichtbaren Formen begreifbar zu machen. Auch diejenigen, die wissen wollten, weshalb Menschen so fühlen, denken und handeln, wie sie es nun einmal tun, und weshalb sich ihr Fühlen, Denken und Handeln im Lauf der Zeit verändert, sind entweder weit zurückgetreten und haben 11 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

beschrieben, was aus solcher Entfernung sichtbar wurde, oder sie haben versucht, so tief wie möglich in das Gehirn hineinzuschauen und zu beschreiben, was dort normalerweise abläuft, und wie sich diese Abläufe ändern, wenn in irgendeiner Weise in das Geschehen eingegriffen wird. Da ein und dasselbe Ding entweder aus großer Entfernung oder aber aus großer Nähe betrachtet, sehr verschieden aussieht, ist es kein Wunder, daß im Lauf der Zeit verschiedene Worte und Begriffswelten entstanden sind, um entweder unser Denken und Fühlen zu beschreiben oder die neuroanatomischen, neurophysiologischen und neurochemischen Merkmale unseres Gehirns und seiner Funktionsweise zu erfassen. Es ist auch kein Wunder, daß Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler einander immer weniger verstanden, und wie immer bei solchen Entwicklungen, Fronten gebildet und tiefe, scheinbar unüberbrückbare Gräben ausgehoben wurden. Da solche Abgrenzungen auf Dauer wenig fruchtbar sind, finden sich irgendwann einzelne, später immer mehr, die darangehen, die entstandenen Gräben wieder aufzufüllen und die einstmals so deutlichen Fronten aufzuweichen. Auch das ist kein Wunder, wunderbar ist aber, daß sich diese Synthese zwischen philosophischen, psychologischen und neurobiologischen, also zwischen geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Ansätzen gerade jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, vollzieht. Noch immer sitzen die Vertreter der zu langen und der zu kurzen Perspektive in ihren Stellungen. Aber sie hören schon das Lied, das auf der anderen Seite gesungen wird, und sie beginnen zu verstehen, daß beide Lieder sich nur im Text unterscheiden. Ihre Melodie ist gleich. Sind Sie noch mit mir auf dem Hügel? Wir haben gemeinsam geschaut. Wir wollen nun gemeinsam lauschen, ob wir die Melodie erkennen, die über uns und 12 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

unter uns gesungen wird. Vielleicht gelingt es uns, sie mitzusingen. Damit uns der unterschiedlich gesungene Text dabei nicht zu sehr stört, werden wir ihn im Druck etwas verkleinern. Diese kleingedruckten Texte sollen eine Hilfe für diejenigen sein, die die Melodie besser erkennen, wenn sie auch den dazugehörigen Text hören oder mitlesen können. Diese Texte sind oft schwerfällig und in einer Sprache geschrieben, die manchem gar nicht zu der Melodie zu passen scheint, die in diesem Buch gesungen wird. Wem es so geht, der mag sie einfach überhören. Einige werden die großgeschriebene Melodie schnell erkennen und auch den kleingeschriebenen Text ein Stück weit mitverfolgen wollen. Damit das möglichst vielen gelingt, sind die unverständlichsten Fachausdrücke in Klammern und am Ende (S. 117) erklärt. Am schwersten haben es freilich diejenigen, die nur das Kleingedruckte lesen, um herauszufinden, weshalb die Melodie, die sie selbst nicht mitsingen können oder wollen, falsch sein muß. Für sie sind dort, wo es erforderlich schien, in Klammern Verweise auf die wichtigsten Originalarbeiten eingefügt, in denen noch einmal in aller Ausführlichkeit nachgelesen werden kann, was im kleingedruckten Text gesagt wurde. Weiterführende Darstellungen finden sich in folgenden Übersichtsarbeiten: Hüther, G. (1996): The central adaptation syndrome: Psychosocial stress as a trigger for the adaptive modification of brain structure and brain function. Progress in Neurobiology, Vol. 48, Seite 569–612. Hüther, G.; Doering, S.; Rüger, U.; Rüther, E. und Schüßler, G. (1996): Psychische Belastungen und neuronale Plastizität. Zeitschrift für psychosomatische Medizin, Band 42, Seite 107–127. Rothenberger, A. und Hüther, G. (1997): Die Bedeutung von psychosozialem Stress im Kindesalter für die strukturelle und funktionelle Hirnreifung: Neurobiologische Grundlagen der Entwicklungspsychopathologie. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie (Heft 9, 1997, im Druck) Hier also die erste kleingedruckte Erläuterung: Seit der Antike wird das abendländische Denken von einem dualistischen Modell der Leib-Seele-Spaltung beherrscht. Lange Zeit standen die beiden Pole einander isoliert gegenüber, und bis heute ist es nicht gelungen, den »geheimnisvollen Sprung

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vom Seelischen ins Körperliche« (Freud 1895) wissenschaftlich zur Gänze zu vollziehen. Es hat sich aber doch eine Entwicklung vollzogen von einem dualistischen zu einem integralen Denken (Schüßler 1988): Wir sehen Leib und Seele nicht mehr als voneinander getrennte, sondern als zwei sich gegenseitig beeinflussende und durchdringende Wesenheiten an, die eine »komplementäre Identität« (Kirsch und Hyland 1987) bilden. Diese gegenseitige Durchdringung wird in weiten Teilen der aktuellen neurobiologischen und psychologischen Forschung immer deutlicher. In diesem Bereich entstehen immer differenziertere Kenntnisse über die Beeinflußbarkeit biologischer Prozesse durch psychische Faktoren und über die Auswirkungen neurobiologischer Voraussetzungen und Gegebenheiten auf psychische Phänomene. Nachdem noch bis vor wenigen Jahrzehnten die Überzeugung herrschte, daß ein Umbau der während der Hirnentwicklung einmal angelegten Verschaltungen im adulten Gehirn nicht mehr stattfindet, wissen wir heute, daß das Gehirn auch im Erwachsenenalter noch in hohem Maße zu struktureller Plastizität fähig ist. Zwar können sich Nervenzellen im Anschluß an die intrauterine Reifung des Gehirns schon vor der Geburt nicht mehr teilen, sie bleiben jedoch zeitlebens zur adaptiven Reorganisation ihrer neuronalen Verschaltungen befähigt (»experience dependent plasticity«). Im Zuge derartiger Umbauprozesse kommt es zur Veränderung der Effizienz bereits vorhandener Synapsen (Kontaktstellen), etwa durch Vergrößerung oder Verringerung der synaptischen Kontaktflächen, durch verstärkte oder verminderte Ausbildung prä- und postsynaptischer Spezialisierungen oder durch Veränderungen der Eigenschaften und der Dichte von Rezeptoren für Transmitter (Botenstoffe) und damit der Effizienz der Signalübertragung. Verstärktes Auswachsen und »kollateral sprouting« (Bildung zusätzlicher Seitenäste) von Axonen (Fortsatz der Nervenzelle zur Verbindung mit anderen Nervenzellen) kann zur Neubildung von Synapsen, terminale retrograde Degeneration (Rückbildung) zur verstärkten Elimination vorhandener Synapsen führen. Durch plastische Veränderungen des Dendritenbaumes (vielfach verästelte Zellfortsätze) oder durch Änderung der Abschirmung von Neuronen durch Astrozyten (Hüllzellen) kann das Angebot postsynaptischer Kontaktstellen erhöht oder vermindert werden. Unter normalen Bedingungen findet so im Gehirn eine ständige Stabilisierung, Auflösung und Umgestaltung synaptischer Verbindungen und neuronaler Verschaltungen statt. Derartige Umbauprozesse können beispielsweise verstärkt nach

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Deafferenzierungen (Nervendurchtrennungen) durch Extremitätenamputationen beobachtet werden. Es findet hier eine Reorganisation kortikaler somatosensorischer Projektionsfelder statt, das heißt, die vorher für die verlorene Extremität zuständigen Gehirnareale übernehmen nach und nach neue, andersartige Funktionen (Ramachandran 1993; O’Leary u.a. 1994). Steroidhormone spielen eine besondere Rolle als Trigger (Auslöser) für strukturelle Umbauprozesse im adulten ZNS (Zentralnervensystem). Sie wirken als sogenannte Liganden-gesteuerte Transkriptionsfaktoren und nehmen so direkten Einfluß darauf, welche Gene einer Nervenzelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden. Ein beeindruckendes Beispiel für einen solchen Einfluß von Steroidhormonen ist die sich in Abhängigkeit vom Sexualzyklus weiblicher Ratten ändernde Dichte synaptischer Verbindungen in verschiedenen Hirngebieten (Olmos u.a. 1989; Wooley und McEwen 1992). Die intensivsten strukturellen Reorganisationsprozesse im adulten Gehirn wurden bisher beim Erwachen von Tieren aus dem Winterschlaf beobachtet. Im Zuge der hierbei stattfindenden massiven hormonellen Veränderungen kommt es innerhalb weniger Stunden zum Wiederauswachsen der während des Winterschlafes zurückgebildeten Dendritenbäume von Pyramidenzellen (Popov und Bocharavo 1992; Popov u.a. 1992).

Noch ist es sehr laut hier oben auf unserem Hügel. Das dumpfe Dröhnen der Autos und das Getöse der gelegentlich vorüberziehenden Flugzeuge klingt nicht wie ein Lied. Um die Melodie vernehmen zu können, müßte man dorthin zurückkehren, wo sie entstanden ist. Man müßte weg in eine ferne Vergangenheit, in eine Zeit, als es weder Flugzeuge noch Autos gab, zurück in eine Zeit, als das denkende und empfindende Gehirn die ersten Schritte auf seinem langen Entwicklungsweg gegangen ist.

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Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang. Rainer Maria Rilke

Entwicklungswege Keine Sorge, unser Weg zu den Anfängen unseres Denkens und Fühlens führt uns nicht zurück bis zum Urschleim oder gar zum Urknall. Wir werfen nur einen kurzen Blick zurück auf die ersten lebendigen Wesen, die damals – ebenso wie wir heute – gezwungen waren, sich in ihrer Welt zurechtzufinden. Sie hatten es noch sehr leicht, denn sie hatten ein Programm, ein von ihren Vorfahren ererbtes Programm, das ihre körperliche Gestalt, ihren Stoffwechsel und natürlich auch ihr Verhalten diktiert hat. Die genetischen Programme, die den Bau eines Lebewesens und seine Reaktionen auf Eßbares oder Feindliches bestimmten und dafür sorgten, daß entsprechend programmierte Nachkommen gezeugt wurden, blieben jedoch nie ganz gleich. Diese Programme neigten von Natur aus dazu, größer zu werden und mehr zu enthalten als eigentlich nötig war, und sie neigten dazu, sich immer wieder etwas zu verändern. Sie hatten also eine Eigenschaft, die wir an unseren Computerprogrammen nicht so sehr schätzen. Sie waren fehlerfreundlich. Und sie machten noch etwas, was Computerprogramme nicht machen sollen, sie vermischten sich ständig mit anderen, ähnlichen Programmen. Wir nennen das, was da stattgefunden hat 17 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

und – nicht ohne Grund – noch heute und selbst bei uns stattfindet, sexuelle Reproduktion. Beides zusammen, die Fehlerfreundlichkeit und die sexuelle Durchmischung im Zuge ihrer Reproduktion hat dazu geführt, daß immer wieder neue, leicht veränderte Programme entstanden sind, die den Bauplan und damit all das, was lebende Wesen konnten und machten, bestimmt haben. Deshalb gab und gibt es immer wieder Individuen, die etwas anders aussehen und die etwas anders sind als andere. Das ist natürliche Variabilität, und ohne die gäbe es keine Entwicklung. Aber hier liegt auch die Wurzel für das Leid auf dieser Welt: Nicht alle Programme erwiesen sich als gleich gut geeignet, um die Entwicklung eines lebenden Wesens so zu steuern, daß es als erwachsenes Individuum auch überleben und sich fortpflanzen konnte. Hierfür gab es für die jeweiligen Bedingungen besser und schlechter geeignete Programme. Die Vorfahren aller heute lebenden Arten und aller heute lebenden Menschen hatten die besseren. Die Träger der anderen Programme sind gestorben, bevor sie sich fortpflanzen konnten. Ihre Programme wurden gelöscht und sind für immer verloren. Das ist Selektion und ohne die gäbe es auch keine Entwicklung. Aber Variabilität und Selektion von genetischen Programmen sind das eine, die für das Überleben und die Weitergabe dieser Programme erforderlichen äußeren Bedingungen sind das andere. Die einen sind die Spieler, die anderen die Dirigenten. Die genetischen Programme sind Handlungsanweisungen, die den Aufbau, die Strukturierung und damit auch die physiologischen Leistungen und das Verhalten der Individuen einer Art mehr oder weniger genau bestimmen. Ob diese Programme erhalten blieben und an die Nachkommen weitergegeben werden konnten, hing jedoch immer von den jeweils herrschenden äußeren Bedingungen ab. Sie bestimmten, welche Programme am besten geeignet waren und welche der immer wieder aufgetretenen Programmänderungen einen Selektionsvorteil boten. Über lange Zeiträume der Evolution waren es ausschließlich Änderungen der äußeren Lebensbedingungen, die die Richtung vorgaben, in die sich die

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genetischen Programme einzelner Arten fortzuentwickeln hatten. Die Situation änderte sich erst, als lebende Wesen auf dieser Erde begannen, die für ihr Überleben und für ihre Reproduktion erforderlichen Bedingungen in zunehmendem Maße selbst zu gestalten oder wenigstens zu beeinflussen, richtiger: als ihre Programme so weit entwickelt waren, daß sie ihre Träger eben dazu befähigten. Seit dieser Zeit hat der Begriff »Umwelt« eine doppelte Bedeutung: Neben der klassischen Außenwelt existiert eine zweite, noch viel bedeutsamere, eigene Welt, die durch die Wirkung genetischer Programme innerhalb dieser äußeren Welt erzeugt wird. Begonnen hat diese Entwicklung bereits sehr früh. Jede Eizelle enthält nicht nur ein genetisches Programm, sondern gleichzeitig auch all das, was für seine Umsetzung initial erforderlich ist (Bausteine, Kofaktoren, Energie etc.). Artspezifische intrauterine Entwicklungsbedingungen, Brutpflege und andere Mechanismen tragen zur Abschirmung der Nachkommen vor äußeren Bedingungen bei, die den Ablauf der genetisch programmierten Entwicklung gefährden. Während der Evolution wirkte also ein innerer Selektionsdruck, der die Träger von genetischen Programmen begünstigte, die in der Lage waren, die eigenen Entwicklungsbedingungen aktiv und weitgehend unabhängig von den äußeren Bedingungen zu gestalten.

Natürliche Variabilität und Selektion bestimmten bereits die Entwicklung der Einzeller. Bald, das heißt in der Evolution nach unvorstellbaren Zeiträumen, entstanden Programme, die sich ihren Trägern als nützlich erwiesen, weil sie dazu führten, daß die Zellen zusammenklebten. Schon haben wir Vielzeller. Die saßen entweder fest und sind später einmal Pilze oder Pflanzen geworden, oder sie bewegten sich aktiv vorwärts. Letzteres schafften nur die, die ein Programm besaßen, das dazu führte, daß bestimmte Zellen das Kommando übernahmen und allen anderen Zellen auf der Oberfläche sagten, ob sie ihre Ruderinstrumente vorwärts oder rückwärts, nach rechts oder nach links bewegen sollten, hin zum Futter oder weg von unwirtlichen Verhältnissen und hungrigen Freßfeinden. Hierfür war ein Programm erforderlich, das dafür sorgte, daß besonders empfindliche Zellen, die ursprünglich auch auf der Oberfläche lagen, ein Stück eingesenkt 19 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

wurden. Sie durften nicht mehr auf alles reagieren und mußten Möglichkeiten bekommen, durch Fortsätze miteinander und mit den äußeren wie auch mit den inneren Zellen in Kontakt zu bleiben. Nur so konnten sie in ihrer Aktivität von außen, aber auch durch andere Zellen beeinflußbar bleiben und ihrerseits andere Zellen durch ihre Aktivität in bestimmter Weise beeinflussen. Schon haben wir die ersten Tiere vor uns, die ein bewährtes, brauchbares genetisches Programm für ein voll funktionstüchtiges Nervensystem von ihren Eltern übernommen hatten. Nun geht es Schlag auf Schlag. Programme, die es ermöglichten, wichtige Sinneseindrücke (die meist von vorn kommen) zu verarbeiten, und auf andere Nervenzellen zu übertragen, bildeten die Grundlage für die Entwicklung einer Nervenzellansammlung im Kopfteil. So sind die ersten fest vernetzten Gehirne entstanden – irgendwo auf der Stufe der Würmer. Der Rest ist nur noch Spielerei. Für jede nur mögliche Art des Überlebens fand sich früher oder später ein modifiziertes Programm, das die Herausbildung der dazu erforderlichen neuronalen Verschaltungen steuerte. Wie schön das alles funktioniert hat, sieht man am Beispiel der riesigen Gruppe der Insekten. Hier haben die Gene gewissermaßen alles ausprobiert, was ein Überleben mit Hilfe eines genau programmierten, fest verdrahteten Nervensystems unter den unterschiedlichsten Lebensbedingungen ermöglichte. Die Strategie, mit Hilfe genetisch genau vorgeschriebener fester Verschaltungen im Gehirn in allen Lebenslagen zurechtzukommen, war auf dieser Entwicklungsstufe an den Grenzen ihrer Möglichkeiten angekommen. Hier war die Evolution, zumindest was die weitere Entwicklung des Nervensystems betraf, offensichtlich in eine Sackgasse geraten. Parallel zum Programm der Insekten und aller anderen sogenannten Urmünder hatte sich jedoch bei den sogenannten Neumündern, zu denen wir gehören, be20 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

reits sehr früh ein Programm entwickelt, das die ganze Entwicklung des Organismus anders anfaßte, das der Ausbildung des Nervensystems zumindest potentiell und, wie wir gleich sehen werden, später auch wirklich mehr Spielraum ließ. Von den Vorfahren der Wirbeltiere bis etwa zu den Sauriern und ihren heutigen Verwandten blieb das Gehirn allerdings noch immer relativ fest verdrahtet, ohne daß dies für die heute noch lebenden Eidechsen und Krokodile, die Nachfahren der Saurier, von großem Nachteil wäre. Die genetischen Programme, die die Verschaltungen in ihrem Gehirn lenkten, sind in einem langen Evolutionsprozeß genau für die Bedingungen optimiert worden, unter denen sie noch heute leben. Damit sie auch weiterhin überleben können, darf sich, wie bei den Insekten, an ihrer Lebenswelt, an den Bedingungen, die in ihren jeweiligen ökologischen Nischen herrschen, möglichst nichts ändern. Sie alle haben sich Lebensräume erschlossen, die bis heute weitgehend so geblieben sind, wie sie damals waren. Aber Unveränderlichkeit der äußeren Verhältnisse war und ist die Ausnahme, nicht die Regel auf dieser Erde. Je stärker und je rascher sich diese äußeren Lebensbedingungen änderten, desto weniger waren die Träger von Programmen für die Herausbildung fester, im späteren Leben nicht mehr veränderbarer Verschaltungen zwischen den Nervenzellen ihres Gehirns in der Lage, hinreichend flexibel auf neuartige Herausforderungen ihrer Lebenswelt zu reagieren. Die meisten sind eben nicht deshalb ausgestorben, weil sie von anderen gefressen wurden, sondern, so wie die Saurier, einfach deshalb, weil es irgendwann zu kalt oder zu heiß, zu naß oder zu trocken wurde und sie daher nicht mehr genug zu fressen fanden und ihre Nachkommen nicht mehr hochbrachten. Sie hatten ein zu fest programmiertes Gehirn, um flexibel genug auf derartige Veränderungen reagieren zu können. 21 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Jetzt kam eine großartige Erfindung zum Tragen, von der die Saurier noch nicht in dem Maße profitieren konnten, wie all diejenigen, aus denen später einmal die Säugetiere werden sollten: Mit den ersten Wirbeltieren waren Programme entstanden, die dazu führten, daß das Gehirn bei Gefahr bestimmte Signalstoffe produziert, die in das Blut abgegeben werden und die Produktion und Abgabe von Hormonen durch die Nebennieren anregen. Diese hormonelle Reaktion diente zunächst dem Zweck, die letzten Reserven des Körpers zu mobilisieren, damit er eine bedrohliche Situation übersteht. Es war eine Reaktion für den Notfall. Sie heißt Streßreaktion und hat schon unendlich vielen Lebewesen geholfen, kritische Phasen zu überstehen. Sie wurde bei jeder Gefährdung ausgelöst, also immer dann, wenn in der für das Überleben wichtigen Außenwelt lebensbedrohliche Veränderungen auftraten. Ein Feind oder ein Nahrungskonkurrent ließ sich durch die Aktivierung einer angeborenen Verschaltung und die dadurch ausgelöste Instinkthandlung vielleicht vertreiben. Falls das nicht gelang, konnten andere Nervenbahnen benutzt werden, um sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Was passierte aber, wenn die im Gehirn angelegten Verschaltungen so beschaffen waren, daß es mit ihrer Hilfe einfach nicht möglich war, einer plötzlich auftretenden Veränderung der äußeren Lebenswelt mit einer entsprechenden Verhaltensreaktion zu begegnen, wenn neuartige Bedingungen entstanden, sich das Klima veränderte, die Ressourcen knapp wurden? Derartige Veränderungen der äußeren Lebensbedingungen verschwanden meist auch nicht so plötzlich, wie sie gekommen waren. Wenn es immer weniger zu fressen gab, wenn sich die klimatischen Bedingungen immer stärker veränderten, dann wurde aus der kurzen Notfallreaktion ein Dauerstreß. Besonders bekamen das all diejenigen zu spüren, deren Verhalten am wenigsten geeignet war, mit den veränderten Bedingungen umzugehen. Wenn eine Not22 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

fallreaktion zur Dauerreaktion wird, brennen irgendwann irgendwo im Körper die Sicherungen durch. Das war damals ebenso wie heute: Dauerstreß führt zum Untergang, entweder zum Tod durch streßbedingte Erkrankungen (denn die Streßhormone unterdrücken auch die körpereigenen Abwehrkräfte) oder durch streßbedingte Unfruchtbarkeit (denn die Streßhormone unterdrücken auch die Produktion von Geschlechtshormonen). Über unvorstellbar lange Zeiträume hinweg sind so immer wieder diejenigen Nachkommen einer Art an den Folgen von Dauerstreß zugrundegegangen, die kein Rezept fanden, um die in ihrem Gehirn ausgelöste und ihren ganzen Körper erfassende Streßreaktion kontrollierbar zu machen. Die Vorfahren einiger Arten hatten Glück und fanden eine Nische, in der sich die Lebensbedingungen über viele Generationen hinweg nicht mehr allzusehr veränderten. Ihre Nachkommen konnten, so wie die Riesenechsen auf den Galápagosinseln, bleiben, wie sie waren. Die Verschaltungen in ihrem Gehirn und die von ihnen gesteuerten Verhaltensweisen waren optimal zur Bewältigung der Probleme geeignet, die es über Generationen hinweg auf den Galápagosinseln für Riesenechsen gab. Unseren Vorfahren ist es nicht gelungen, sich auf ein kleines, unveränderliches Eiland zurückzuziehen und so zu bleiben, wie sie waren. Sie zählen damit zu denjenigen, deren Überleben als Art von immer wieder auftretenden Änderungen im genetischen Programm ihrer Nachkommen abhing. Hin und wieder hat eine solche Änderung diesen Nachkommen geholfen, sich besser als alle anderen in der sich ständig verändernden Welt zurechtzufinden. Sie hatten deshalb weniger Streß, blieben länger gesund und konnten sich stärker vermehren als ihre Artgenossen mit den alten Programmen. Reichten solche, etwas erweiterten und flexibler gewordenen Verschaltungen in ihrem Gehirn 23 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

aus, um sich in einer immer komplexer werdenden, sich immer stärker verändernden Lebenswelt ohne Dauerstreß zurechtzufinden, war alles gut und die genetischen Programme, die diese Verschaltungen hervorbrachten, blieben wie sie waren. Reichte die Änderung nicht, bekamen die Träger dieser noch immer nicht hinreichend flexiblen Programme früher oder später die Konsequenzen ihrer unzureichenden Anpassungsfähigkeit als dauerhaft aktivierte Streßreaktion zu spüren. Auch sie hatten ab und zu Nachkommen, deren genetische Programme es möglich machten, noch komplexere und noch stärker durch die Art der Nutzung beeinflußbare Verschaltungen der Nervenzellen in ihren Gehirnen auszubilden. So ging es mit ganz kleinen, manchmal auch mit größeren Schritten weiter, aber niemals irgendwohin, sondern immer dorthin, wo wieder einmal zufällig Programme entstanden waren, die ihre Träger dazu befähigten, besser als alle anderen – also ohne Dauerstreß – auf immer vielschichtigere und unvorhersehbarere Änderungen ihrer Lebenswelt reagieren zu können. So entstanden immer lernfähigere Gehirne und damit immer anpassungsfähigere Verhaltensweisen. Der große Lenker, der immer wieder die Richtung dieser Entwicklung bestimmte, indem er all diejenigen auslöschte, die mit ihren zu starren Programmen diesem Weg nicht folgen konnten, war – die allen Wirbeltieren eigene neuroendokrine Streßreaktion. Unser großes lernfähiges Gehirn ist also auf einem unvorstellbar langen Weg entstanden, der von der Angst und dem Leid all derer gezeichnet ist, die sich vergeblich bemüht haben, in einer sich ständig verändernden Welt zu überleben. Jeden kleinen Schritt, den unsere entfernten Ahnen auf diesem Weg vorangekommen sind, haben jene erst mit Dauerstreß und dann mit ihrem Leben bezahlt.

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Das ist noch immer Darwins Ansatz, aber nicht mehr aus der Perspektive derer betrachtet, die sich gern als Darwinisten bezeichnen. Darwin hat sich in viel stärkerem Maß als seine späteren Interpreten gefragt, wie es möglich war, daß bestimmte Merkmale im Verlauf der Evolution wie von Geisterhand gesteuert, scheinbar zielstrebig in eine ganz bestimmte Richtung weiterentwickelt wurden. Er hat auch verstanden, daß im Verlauf der Evolution der höheren Tiere ein komplexes Verhaltensrepertoire immer wichtiger wurde und die weitere Ausformung anatomischer Merkmale zunehmend an Bedeutung verlor. Er hat bereits gesehen, daß diejenigen, die ein ungeeignetes Verhaltensprogramm besaßen, früher oder später aussterben mußten, wenn es ihnen oder ihren Nachkommen nicht gelang, ihr Verhalten an die veränderten Bedingungen anzupassen. Aber Darwin wußte noch nicht, daß die höheren Tiere einen Mechanismus in sich trugen, der den Trägern ungeeigneter Verhaltensprogramme Unfruchtbarkeit und Untergang bescherte. Er konnte nichts von einer neuroendokrinen Streßreaktion wissen, aber er ahnte, daß eine vermeintliche Bedrohung wie auch das vermeintliche Ende einer Gefahr bei Tieren ähnliche Empfindungen auslösen wie bei uns Menschen, daß auch Tiere offenbar die Angst kennen, mit der jede Streßreaktion beginnt, ebenso wie die Erleichterung, die auch wir empfinden, wenn sie aufhört. Diese sonderbaren Gefühle entstehen ja eben dadurch, daß stammesgeschichtlich sehr alte Verschaltungen in unserem Gehirn aktiviert werden. So wie alle Säugetiere Augen haben, mit denen sie sehen können, haben sie auch diese alten Schaltstellen, die, wenn sie erregt werden, eine Empfindung auslösen, die wir Angst nennen, und beim Aufhören dieser Erregung, beim Verschwinden der Angst ein Gefühl der Freude, der Erleichterung zurücklassen.

Ein großes lernfähiges Gehirn ist etwas Feines, aber es hat ein Problem, das wir bereits von unserem Hügel aus erkannt haben. Ist aus einem ehemaligen Feldweg erst einmal eine schöne breite Straße oder gar eine Autobahn geworden, auf der man schnell von hier nach dort kommt, fahren auch viele hier entlang, selbst dann, wenn sie gar nicht dorthin wollen, wohin sie führt. Bis zu den Sauriern gab es nur festgefügte Verschaltungen im Gehirn, deren Abzweigungen, deren Dicke und deren Gabelungen durch ein arteigenes geneti25 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

sches Programm diktiert wurden. Nun haben wir ein Gehirn vor uns, in dem in Abhängigkeit von der Art und der Häufigkeit der Benutzung seiner anfangs noch kaum festgelegten Verschaltungen allmählich einzelne Wege zu Straßen und Autobahnen ausgebaut werden. Die Dicke, die Abzweigungen und Gabelungen dieser Nervenbahnen wurden dabei im Lauf des Lebens jedoch ebenso festgefügt, als wären sie von einem Programm diktiert. Wenn nun eine neue, bisher nicht dagewesene Bedrohung auftrat, saß der Träger eines solchen Gehirns in der gleichen Patsche wie die Dinosaurier im Karbon: Ratlosigkeit, Angst, vergebliche Versuche mit den eingefahrenen Strategien weiterzukommen. Dann Resignation und wieder Angst, Streß, streßbedingte Unfruchtbarkeit und streßbedingte Krankheiten, bis – ja, bis wieder eine kleine Programmänderung auftrat, die die Lösung des Dilemmas ermöglichte: Die Streßhormone, die bis dahin auf alle Körperzellen gewirkt hatten und deren Signal von allen Körperzellen verstanden worden war, die auf irgendeine Weise dazu beitragen konnten, die vorhandenen Reserven des Körpers zur Bewältigung einer Notfallsituation zu mobilisieren, mußten auch auf das Gehirn wirken können. Was gebraucht und gefunden wurde, war eine Programmänderung, die es möglich machte, daß auch die Nervenzellen des Gehirns durch die bei einer fortwährenden Bedrohung ausgeschütteten Streßhormone ihre Eigenschaften veränderten, bisherige Verschaltungen auflösten und sich für neue Verschaltungen öffneten. Unter dem Einfluß der Streßhormone mußten unbrauchbar gewordene Autobahnen zu Straßen und Wegen zurückgebildet werden können. Genau das ist passiert. Irgendwann auf dem Weg von den Sauriern zu den Säugetieren hat diese entscheidende Programmänderung stattgefunden, und seit dieser Zeit ist das Gehirn, sind die dort herausgebildeten Verschaltungen remodellierbar geworden. 26 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Die neuroendokrine Streßreaktion der höheren Wirbeltiere findet sich bereits auf der Stufe der Fische. Atlantische Lachse sterben beispielsweise nach dem Ablaichen an den Konsequenzen einer unkontrollierbaren Streßreaktion. Solange der Paarungs- und Ablaichinstinkt aktiviert ist, wird diese Streßreaktion unterdrückt. Die Lachse merken bis dahin offenbar gar nicht, wie eng es in den Flüssen wird, welches Gedränge dort entsteht und wie wenig Futter es gibt. Sie sterben nicht, wenn sie unmittelbar nach dem Ablaichen aus den Flußoberläufen in das Meer zurückverbracht werden. Leider existiert bisher keine vergleichend stammesgeschichtliche Untersuchung der Expression von Glukokortikoidrezeptoren im ZNS der Wirbeltierreihe. Von welcher Entwicklungsstufe an und in welchen Hirngebieten die bei Streß ausgeschütteten Glukokortikoide direkten Einfluß auf die Genexpression neuraler Zellen nehmen konnten, läßt sich jedoch aus dem Umstand ableiten, daß diejenigen Hirnstrukturen, die bei den Säugetieren derartige Rezeptoren in hoher Dichte exprimieren (limbisches System und Neokortex) erst auf der Stufe der Sauropsiden (Reptilien und Vögel) entstanden sind. Eine weitere Voraussetzung für die Nutzbarkeit eines im Blut zirkulierenden Hormons als Signal für zentralnervöse Anpassungsprozesse ist ein von anderen Außenfaktoren weitgehend unabhängiger Blutkreislauf. Auch die ersten Warmblüter finden sich erst auf der Stufe der Sauropsiden. Eine dritte Voraussetzung für eine optimale Nutzbarkeit streßmediierter zentralnervöser Anpassungsprozesse ist eine verzögerte Hirnentwicklung. Sie wurde in Koevolution mit dem hierfür erforderlichen Brutpflegeverhalten ebenfalls erst auf der Stufe der Vögel und Säugetiere eingeleitet.

Jetzt fängt es an spannend zu werden. Die Streßreaktion ist offenbar nicht nur der große Lenker, der immer wieder dafür gesorgt hat, daß im Lauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung genetische Programme stabilisiert wurden, die das Gehirn immer größer und lernfähiger werden ließen. Die Streßreaktion ist auch der große Modellierer, der sogar noch im Lauf unseres Lebens immer wieder dafür sorgt, daß zunächst zwar richtige, sich später aber als Sackgassen erweisende Verschaltungen aufgelöst und neue Wege eingeschlagen werden können. Und in beiden Fällen ist der Auslöser dieser Reaktion die Angst. 27 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Die historische Entwicklung der Streßforschung ist geprägt von faszinierenden Ergebnissen einerseits und konzeptueller Verwirrung andererseits – bis heute existiert kein allgemein akzeptiertes Streßmodell. Der Streßbegriff ist so vielfältig gebraucht worden und in die Umgangssprache eingegangen, daß es heutzutage unerläßlich ist, der Verwendung des Begriffs eine Betrachtung seiner Entstehung und Konzeptualisierung voranzustellen. Trotz widersprüchlicher Ansätze, Ergebnisse und theoretischer Modelle läßt sich die Streßforschung rückblickend in einige wenige wichtige Etappen gliedern. Der eigentlich erste Streßforscher moderner wissenschaftlicher Prägung war Charles Darwin (1809–1882). Obwohl er den Begriff »Streß« selbst noch nicht verwandte, sah er in der Umwelt eine ständige Herausforderung und Bedrohung für Lebewesen jeglicher Art. Seiner Auffassung zufolge erzeugt dieser »Streß« einen Selektionsdruck, der nur die stärksten und bestangepaßten Individuen einer Art überleben läßt. Darwins Überzeugung, daß diese »Selbstoptimierung« einer Art auf genetischer Ebene stattfindet, eben durch Bevorzugung von Individuen mit »besserer« genetischer Anlage, die diese durch Fortpflanzung weitergeben können, findet so eine späte Bestätigung durch die Streßforschung. Es ist wichtig hervorzuheben, daß Darwin die Reaktion eines Individuums auf den »Streß« des Selektionsdruckes als die des ganzen Organismus ansah, bei der Physiologie und Verhalten eine Einheit bilden – eine Auffassung, die erst nach gut einem Jahrhundert von der Streßforschung wieder aufgegriffen wurde und heute fester Bestandteil moderner Streßtheorien ist. Nur wenige Jahre nach Darwin war es der französische Physiologe Claude Bernard, der eine mechanistische Theorie entwarf, die die Streßforschung über Jahrzehnte hinweg dominieren sollte. 1865 beschrieb er den Organismus als eine lebende Maschine, die in dauernder Verbindung mit der Außenwelt steht. Kommt es durch äußere Einflüsse wie zum Beispiel Hitze oder Feuchtigkeit zu einer Störung des »inneren Milieus«, so wird dieses durch »Schutzfunktionen« wiederhergestellt; versagen diese Schutzfunktionen, resultiert Krankheit und Tod. Der amerikanische Physiologe Walter B. Cannon hielt 1914 an Bernards Vorstellungen von der Aufrechterhaltung eines inneren Milieus fest. Er prägte hierfür den Begriff »Homöostase« und führte für die störenden Einflüsse erstmals den Begriff »Streß« ein. Er erkannte als erster die Bedeutung der Katecholamine für die Reaktion des Organismus auf eine Streßbelastung. Ihre vermehrte Ausschüttung befähigt den Organismus zu Kampf oder Flucht (»Notfallreaktion«, Cannon 1914/1932).

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Kaum ein anderer hat die Streßforschung so geprägt wie der kanadische Arzt für experimentelle Medizin Hans Selye. 1936 beschrieb er erstmals die pathogene Wirkung von Streßbelastungen. An Ratten, die er massiven Belastungen (z. B. Hitze, Kälte, Nahrungskarenz, Verletzungen) aussetzte, fand er eine Trias von Organveränderungen: Hypertrophie der Nebennierenrinde, Atrophie und Blutung in Thymus und Lymphknoten sowie Erosionen der Magenschleimhaut. 1946 entwarf er das Modell des »Allgemeinen Adaptationssyndroms«, das eine stereotype und unspezifische Reaktion auf verschiedenste Stressoren darstellt. Einer »Alarmphase« allgemeiner Aktivierung folgt eine »Phase des Widerstandes«, die bei weiterbestehendem Stressor in die »Phase der Erschöpfung« mit den beschriebenen Organveränderungen mündet und zum Tode führen kann. Selye beschrieb als erster die zentrale Funktion der Kortikosteroide bei der Streßantwort und sah sie als das pathogene Agens an. 1971 definierte Selye Streß als die »unspezifische Reaktion des Körpers auf jegliche Beanspruchung«. Zur Unterscheidung von »krankmachendem» versus »gesunderhaltendem» Streß führte er 1974 die Begriffe »Dysstreß« und »Eustreß« ein. Hatte Selye (zumindest in seinen frühen Arbeiten) noch implizit der Vorstellung der inneren Homöostase angehangen – ein gestreßter Organismus bleibt entweder in seinem Zustand oder wird krank –, so wies Tyhurst 1953 darauf hin, daß es neben Wiederherstellung und Krankheit noch eine dritte Möglichkeit gibt, nämlich die der Reorganisation, also Streßbewältigung durch Veränderung des Organismus. Indem er die subjektive Bewertung von Situationsanforderungen als entscheidend für die Streßreaktion eines Individuums darstellte, brachte Lazarus (1966) eine neue Perspektive in die Streßforschung ein, die von Lazarus und Folkman (1984) weiter differenziert wurde. Sie unterschieden zwischen einer »Erstbewertung« (primary appraisal), in der das Individuum ein Ereignis hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die eigene Person einschätzt, einer »Zweitbewertung« (secondary appraisal) als Einschätzung der individuellen Bewältigungsmöglichkeiten und einer dritten Phase der abschließenden »Neubewertung« der Situation. Im Anschluß an die drei Phasen der Bewertung folgt im Modell von Lazarus und Folkman der »Bewältigungsprozeß« (coping). Mason (1971) griff Lazarus’ Überlegungen auf und verlangte eine Streßdefinition, die das »ganze Spektrum interagierender Faktoren« einschließlich Stimuli, Bewertung und Reaktionen beinhaltet. Darüber hinaus zeigte er in zahlreichen Experimenten, daß es keine unspezifische physiologische Streß-

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antwort gibt, sondern in Abhängigkeit vom Streß-Stimulus eine große intra- und interindividuelle Variabilität der neuroendokrinen Antworten besteht. Lazarus (1966) und Mason (1971) wiesen erstmals seit Darwin auf die Wichtigkeit des Verhaltens im Rahmen der Streßantwort hin. Diese Vorstellung wurde durch die Beobachtung erhärtet, daß nicht nur eine belastende Situation selbst, sondern bereits die Antizipation einer solchen zu einer psychoneuroendokrinen Streßreaktion führen kann (Moore-Ede 1986). Moderne integrative Streßtheorien tragen den Ergebnissen früherer Forscher Rechnung und vermitteln eine sehr differenzierte Sichtweise des Phänomens Streß. Ursin und Olff (1993) konstruierten ein dreiteiliges Streßmodell, in dem sie den »Streßstimulus« vom »Streß-bewertenden oder -verarbeitenden System« und der »Streßantwort« unterscheiden. Für die Gesamtheit der Aktivierung eines solchen Prozesses schlug Weiner (1992) den Begriff »Streßerfahrung« (stressful experience) vor. Ursin und Olff (1993) betonten die Notwendigkeit, zwischen zwei Arten der streßbedingten Aktivierung zu unterscheiden. »Phasische Aktivierung« trete bei erfolgreicher Bewältigung auf und gehe mit einer vermehrten Adrenalinausschüttung, Pulsfrequenzanstieg und einer mäßigen Erhöhung des Plasmatestosteronspiegels einher, bei ausbleibender oder erfolgloser Bewältigung gehe diese in »tonische Aktivierung« über, welche nach einiger Zeit zu psychosomatischen Beschwerden führe. In zunehmendem Maß beschäftigten sich auch kognitive Psychologen und Psychoanalytiker mit der Frage, wie psychische Belastungen entstehen und welche Auswirkungen sie auf das Denken, Fühlen und Handeln einer Person haben. Sie entwickelten eine Vielzahl von Theorien über die Ursachen und die Konsequenzen von Angst und psychischen Konflikten. Die diesen psychischen Prozessen zugrundeliegenden neurobiologischen Mechanismen fanden hierbei jedoch nur wenig Beachtung. Das hier vorgestellte Konzept des »Zentralen Adaptationssyndroms« (Hüther 1996) ist der Versuch, eine Brücke zwischen den bisher entweder physiologisch oder aber psychologisch orientierten Streß- und Angstkonzepten zu schlagen. Die dabei vorgenommene strenge Trennung zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Streßreaktionen und zwischen deren stabilisierenden oder destabilisierenden Auswirkungen auf die im Gehirn angelegten neuronalen Verschaltungen ist eine modellhafte Überzeichnung, die helfen kann, die beobachtbaren Phänomene besser zu verstehen und mit psychischen Belastungen

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umzugehen. Auch die vorgenommene Fokussierung auf das zentrale noradrenerge System und das adrenokortikale System stellt eine Vereinfachung dar, die der Vielfalt der ebenfalls noch am Streßreaktionsprozeß beteiligten Mechanismen nicht gerecht wird. Das Konzept nimmt eine Neubewertung der Ursachen und Konsequenzen von Angst und Streß vor. Es ermöglicht die Abkehr vom einseitigen Paradigma der Malignität und Pathogenität psychischer Belastungen und beleuchtet die biologische Bedeutung von Angst und Streß für Selbstorganisationsund Anpassungsprozesse. Der Angstbegriff wird in seinem biologischen Zusammenhang etwas weiter gefaßt als beispielsweise in der Affektforschung. Er bezeichnet das initial bei jeder psychogenen Streßreaktion ausgelöste Gefühl, das sich durch die individuelle Erfahrung der Bewältigbarkeit einer bestimmten psychischen Belastung zwangsläufig verändert. Das ursprüngliche Gefühl der Angst verwandelt sich daher in Abhängigkeit von diesen individuell gemachten Erfahrungen zu einem ganzen Spektrum von Gefühlen, die wir aus der Erfahrung der Überwindbarkeit initial empfundener Ängste entwickeln. Sie können das ursprüngliche Gefühl der Angst mehr oder weniger vollständig überdecken und dann als Überraschung, Neugier, Freude oder gar Lust empfunden werden.

Bevor wir uns mit der Frage beschäftigen, in welcher Weise psychische Herausforderungen und Belastungen die Verschaltungen in unserem Gehirn beeinflussen, müssen wir noch einen kurzen Blick auf die Auslöser der Streßreaktion werfen.

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Halt dein Rößlein nur im Zügel, kommst ja doch nicht allzuweit. Hinter jedem neuen Hügel dehnt sich die Unendlichkeit. Nenne niemand dumm und säumig, der das Nächste recht bedenkt. Ach, die Welt ist so geräumig, und der Kopf ist so beschränkt. Wilhelm Busch

Sackgassen Wer kennt nicht dieses sonderbare Gefühl, das sich immer dann einstellt, wenn wir nicht mehr weiter wissen. Wir spüren es, wenn wir eine schwere Prüfung zu bestehen haben, wenn uns der Chef mit Entlassung droht, wenn ein liebgewonnener Mensch uns verläßt oder mit unerfüllbaren Wünschen und Erwartungen an uns herantritt. Es ist ein Gefühl, das aus dem Bauch zu kommen scheint und sich bis in die Haarwurzeln ausbreitet. Wenn es ausgelöst wird, fängt unser Herz an zu rasen und der Pulsschlag pocht in unseren Ohren. Wir bekommen feuchte Hände, müssen aufs Klo, fühlen uns schlecht, ohnmächtig, alleingelassen und hilflos. Das ist die Angst, die wir als dieses sonderbare Sammelsurium von angstbegleitenden Reaktionen erleben. Wir fühlen, daß etwas in uns plötzlich in Gang gesetzt wird und unseren ganzen Körper überflutet, ohne daß wir uns dagegen wehren können. Zunächst nehmen wir etwas wahr, was wir eigentlich nicht erwartet hatten. Als nächstes stellen wir fest, daß das, was da unerwarteterweise passiert ist, bedrohliche Ausmaße anzunehmen scheint. Jetzt beginnen die Alarmglocken in unserem Gehirn zu läuten. Wir fangen an, verzweifelt nach einer Lösung zu suchen, eine irgendwo zwischen unseren Milliarden von Nervenzellen angelegte Ver33 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

schaltung für eine Verhaltensstrategie zu aktivieren, die uns geeignet scheint, die Bedrohung irgendwie abzuwenden, das Problem zu lösen, die Situation zu bereinigen. Falls wir so etwas finden, werden die Alarmglocken schon etwas leiser. Wir machen das, was uns in dieser Situation als richtig erscheint. Wenn sich herausstellt, daß das genau das Richtige war, hören die Alarmglocken auf zu dröhnen. Uns fällt ein Stein vom Herzen. Schwein gehabt! Das, was wir da erlebt haben, war eine kontrollierbare Streßreaktion. Sie beginnt immer damit, daß eine Information ganz oben in unserem Gehirn, wo alle Fäden zusammenlaufen, in der Hirnrinde, ankommt, die in dieser Situation, zu diesem Zeitpunkt oder in dieser Weise nicht erwartet wurde. Die eingehende Information stört die dort in der üblichen Routine ablaufenden Prozesse ganz genauso wie ein Fremder, der plötzlich in die laufende Unterrichtsstunde hereinstürmt, der Lehrerin eine Ohrfeige gibt und wortlos wieder verschwindet. Im Nu ist die ganze Klasse in Aufregung, die Lehrerin geht zum Direktor und wie ein Lauffeuer breitet sich die Information in der gesamten Schule aus. Im Gehirn führt die oben entstandene Aufregung dazu, daß auch tiefer gelegene Nervenzellen von der sich ausbreitenden Erregung mit erfaßt werden. Sie erreicht so auch eine Gruppe von Nervenzellen mit sehr langen, vielfach verzweigten Fortsätzen, die ihrerseits wieder hinauf in alle höher gelegenen Hirnregionen reichen und die dort ablaufenden Prozesse beeinflussen. Wenn diese Zellen mit ihrem Gestrüpp von Fortsätzen zu feuern anfangen, wird das gesamte Gehirn sozusagen wachgerüttelt – höchste Alarmstufe. In Sekundenbruchteilen werden alle gespeicherten Informationen abgesucht, gleichzeitig wird über Nervenfortsätze, die in alle Regionen des Körpers ziehen, ebenfalls Alarm geschlagen. Jedes Organ versteht dieses Signal sofort. Die Nebennieren entleeren ihre Vorräte an Adrenalin, 34 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

dem bekanntesten Streßhormon, in das vorbeifließende Blut. Das Herz beginnt wie wild zu schlagen, die Blutgefäße werden eng gestellt, die Muskulatur zum Sprung vorbereitet, Energiereserven der Leber mobilisiert, die Pupillen weit aufgemacht und – so man welche hat – richten sich sogar die Haare auf, wie bei einem Hund, dem sich bei Erregung das Fell sträubt. Die stammesgeschichtlich älteren Anteile und Mechanismen der neuroendokrinen Streßreaktion des Menschen sind weitgehend mit denen aller anderen Säugetiere identisch. Die Wahrnehmung neuartiger und durch assoziative Verarbeitung als bedrohlich eingestufter Reizkonstellationen geht mit der Generierung eines unspezifischen Aktivitätsmusters in assoziativen kortikalen und subkortikalen Strukturen einher. Eine besondere Rolle spielt hierbei der präfrontale Kortex, eine Region, die insbesondere für die Interpretation sensorischer multimodaler Eingänge und für antizipatorische Phänomene verantwortlich ist. Die Aktivierung dieser assoziativen Kortexareale bewirkt die Generierung eines charakteristischen Aktivierungsmusters im limbischen System. Innerhalb des limbischen Systems ist die Amygdala von besondere Bedeutung, da hier die eingehenden Erregungsmuster durch Aktivierung angeborener, phylogenetisch alter neuronaler Netzwerke mit einer affektiven Qualität versehen werden. Durch absteigende Projektionen insbesondere zu den noradrenergen Kerngebieten im Hirnstamm kommt es zur Stimulation des peripheren sympathischen und adrenomedullären (SAM) Systems. Aufsteigende Fasern der im Locus coeruleus und im Hirnstamm lokalisierten noradrenergen Neurone verstärken die Aktivierung im Bereich der Amygdala und der hypothalamischen Kerngebiete, sowie – über Aktivierung mesokortikaler dopaminerger Projektionen – im Bereich des präfrontalen Kortex. Auf diese Weise entsteht ein sich aufschaukelndes Erregungsmuster zwischen Kortex, limbischem System und den zentralen noradrenergen Kerngebieten, das – wenn es nicht durch andere Eingänge unterdrückt wird – zur Aktivierung der neurosekretorischen Zellen im Nucleus paraventricularis und damit zur Stimulation des hypothalamo-hypophyseo-adrenokortikalen (HPA) Systems führt. (Die während der Aktivierung des hypothalamo-hypophyseotropen Systems stattfindenden Teilprozesse, die Bedeutung intra- und extrahypothalamischer Freisetzung von insbesondere CRF und Vasopressin, die Regulation der Ausschüttung dieser Signalstoffe durch limbi-

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sche, kortikale und andere Eingänge, die Beteiligung noradrenerger und anderer Transmittersysteme an diesen Aktivierungsprozessen, die Stimulation der ACTH-Freisetzung, die Ursachen und Auswirkungen der damit einhergehenden vermehrten Bildung und Abgabe von Endorphinen, die durch ACTH und andere Faktoren ausgelöste Stimulation der adrenokortikalen Glukokortikoidsekretion sowie die auf den verschiedenen Ebenen dieser Kaskade wirksamen Kontroll- und Regelmechanismen sind an anderer Stelle ausführlich beschrieben, vgl. Hüther 1996.) Das noradrenerge System wird bereits durch neuartige, unerwartete Stimuli aktiviert, also auch durch Stressoren, die mit keiner oder einer nur schwachen Aktivierung der HPA-Achse einhergehen. Zu einer derartigen kontrollierbaren Streßreaktion kommt es immer dann, wenn zwar Verhaltens- (incl. Verdrängungs-) Strategien zur Vermeidung oder Beseitigung des Stressors verfügbar sind, die Effizienz dieser Mechanismen jedoch (noch) nicht ausreicht, um die aufgetretene Anforderung durch eine zur Routine gewordene Reaktion zu bewältigen und die Aktivierung einer Streßreaktion zu verhindern. Derartige kontrollierbare Belastungen führen zu einer präferentiellen Aktivierung des zentralen noradrenergen und des peripheren SAM-Systems und (wenn überhaupt) nur zu einer kurzzeitigen Stimulation der HPA-Achse.

Manchmal ist die aufgetretene bedrohliche Situation so oder so ähnlich noch nie dagewesen. Dann funktioniert nicht einmal das noch, was sonst als letzter Ausweg immer funktioniert hat, nämlich entweder den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als merke man nichts, oder aber wegzulaufen, bis man alles hinter sich gelassen hat. Dann, wenn alle Wege blockiert oder verbaut sind, gehen zusätzlich zu den Alarmglocken noch die Sirenen an. Jetzt ist es vorbei mit aller Kontrollierbarkeit, und der Angstschweiß tropft uns von der Stirn. In unserem Gehirn ist der Teufel los, alles geht durcheinander. Verschaltungen, die sonst nie von dem berührt werden, was wir im gewöhnlichen Leben machen und denken, werden auf einmal auch noch in Erregung versetzt. Sie sondern Substanzen ab, die mit dem vorbeiströmenden Blut in eine Drüse an der Unterseite des Gehirns transportiert werden. Diese Substanzen bewir36 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

ken, daß von den Zellen dieser Hirnanhangdrüse ein Hormon ausgeschüttet wird. Das gelangt mit dem vorbeifließenden Blut zu den Nebennieren, und die schütten nun große Mengen eines weiteren Streßhormons aus, das Kortisol heißt und viel tiefergreifende und weiterreichende Wirkungen hat als das Adrenalin. Aus der anfänglichen Angst wird Verzweiflung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die im Körper ablaufende Streßreaktion ist nicht mehr anzuhalten, sie ist unkontrollierbar geworden. Vergeblich suchen wir noch immer nach einer Lösung oder warten darauf, daß ein Wunder geschieht und alles wieder so wird, wie es vorher war. Da solche Wunder selten geschehen, bleibt uns schließlich nichts anderes übrig, als uns in unser Schicksal zu fügen. Wir sind von Selbstzweifel geplagt und merken, wie die andauernde Belastung unsere Energiereserven aufzehrt, fühlen uns müde, kraft- und mutlos. Erschöpft fallen wir abends ins Bett, um am nächsten Morgen mit dem gleichen unguten Gefühl aufzuwachen, mit diesem sonderbaren Gefühl gleichzeitiger Unruhe und Lähmung, und wir ahnen, daß etwas passieren muß, damit diese unkontrollierbare Streßreaktion irgendwann aufhört, daß wir verloren sind, wenn wir keinen Ausweg finden. Jede Reaktion auf einen psychischen Stressor beginnt mit einer unspezifischen Aktivierung kortikaler und limbischer Hirnstrukturen, die zur Stimulation des zentralen und peripheren noradrenergen Systems führt (»arousal«). Sobald im Zuge dieser unspezifischen Aktivierung eine Möglichkeit zur Lösung der betreffenden Anforderung gefunden wird, kommt es mit der Aktivierung der an dieser Verhaltensreaktion beteiligten neuronalen Verschaltungen zum Erlöschen der initialen unspezifischen Aktivierung. Vor allem die verstärkte Ausschüttung von Noradrenalin in den initial aktivierten kortikalen und limbischen Hirnregionen führt zu einer ganzen Reihe von funktionellen und metabolischen Veränderungen in Nerven- und Gliazellen, die direkt oder indirekt zur Stabilisierung und Bahnung der in die Antwort involvierten neuronalen Verschaltungen beitragen. Wenn eine Belastung auftritt, für die eine Person keine Möglichkeit einer Lösung durch ihr eigenes Handeln sieht, an der sie

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mit all ihren bisher erworbenen Reaktionen und Strategien scheitert, so kommt es zu einer sogenannten »unkontrollierbaren Streßreaktion«. Sie ist durch eine langanhaltende Aktivierung kortikaler und limbischer Strukturen sowie des zentralen und peripheren noradrenergen Systems gekennzeichnet, die sich wechselseitig so weit aufschaukelt, daß es schließlich auch zur Aktivierung des HPA-Systems mit einer massiven und lang anhaltenden Stimulation der Kortisolausschüttung durch die Nebennierenrinde kommt. Solche unkontrollierbaren Belastungen haben andere, weiterreichende Konsequenzen auf die im Gehirn angelegten Verschaltungen als die soeben beschriebenen kontrollierbaren Streßreaktionen. Der Nachweis von Glukokortikoidrezeptoren im Gehirn hat den Blick für ein Phänomen geschärft, das bisher in der Streßforschung kaum beachtet wurde: Das Gehirn ist nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch ein wichtiges Zielorgan der Streßreaktion. Mit der schrittweisen Aufklärung der an der Auslösung der neuroendokrinen Streßreaktion beteiligten Mechanismen ist darüber hinaus deutlich geworden, daß die durch einen Stressor im ZNS selbst ausgelösten Reaktionen (z. B. verstärkte Katecholaminausschüttung im Zuge der Aktivierung noradrenerger Kerngebiete, vermehrte Ausschüttung von CRF und Vasopressin durch intra- und extrahypothalamische Axone, z. B. der Amygdala oder des Nucleus paraventricularis, Stimulation der Endorphinausschüttung z. B. durch ACTH produzierende Zellen der Adenohypophyse) in der Lage sind, die während der Streßreaktion ablaufenden zentralnervösen Verarbeitungsprozesse auf vielfältige Weise zu beeinflussen. Auch die streßinduzierte Stimulation des sympathischen Nervensystems und der Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin aus dem Nebennierenmark hat eine ganze Reihe direkter und indirekter Effekte auf das ZNS. Sie reichen von Änderungen der Hirndurchblutung über die vermehrte Bereitstellung von Substraten für den Energiestoffwechsel bis hin zu Änderungen der Verfügbarkeit von Vorstufen für die Katecholamin- und Serotoninsynthese. Durch ansteigende Spiegel zirkulierender Glukokortikoide kommt es nicht nur zu einer direkten Aktivierung von Glukokortikoidrezeptoren im ZNS mit weitreichenden und oft langfristigen Konsequenzen für die Funktion der betreffenden Nerven- und Gliazellen. Auch indirekte, Glukokortikoid-vermittelte periphere Effekte (Abfall der Sexualhormonspiegel, Suppression der Synthese und Ausschüttung von Mediatoren der intrazellulären Kommunikation wie Prostaglandine und Zytokine, Änderungen der Substratversorgung etc.) können die

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Funktion des ZNS während einer Streßbelastung auf vielfältige Weise beeinflussen. Welche dieser Mechanismen im Verlauf einer Streßbelastung aktiviert und welche langfristigen Veränderungen dadurch ausgelöst werden, hängt von der Art der Belastung ab, der sich eine bestimmte Person ausgesetzt sieht, also von der individuellen Bewertung der Kontrollierbarkeit des Stressors. Zu einer kontrollierbaren Streßreaktion kommt es immer dann, wenn die bisher angelegten Verschaltungen zwar prinzipiell zur Beseitigung der Störung geeignet, aber noch nicht effizient genug sind, um diese vollständig und gewissermaßen routinemäßig zu beantworten. Eine derartige Streßbelastung ist besser mit dem Begriff »Herausforderung« zu beschreiben. Zu langanhaltenden Aktivierungen der HPA-Achse und zu langfristigen Erhöhungen zirkulierender Glukokortikoidspiegel kommt es immer dann, wenn die Streßbelastung sich als unkontrollierbar erweist, das heißt, wenn keine der vorhandenen Verhaltens- (incl. Verdrängungs-)strategien auch nur ansatzweise geeignet ist, das ursprüngliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Bei Versuchstieren beobachtet man unter diesen Bedingungen ein Phänomen, das »behavioural inhibition« genannt wird. Die wiederholte Konfrontation mit verschiedenen unkontrollierbaren Stressoren führt zu einem Zustand von »learned helplessness« und dient als Tiermodell für streßinduzierte Erkrankungen.

Wir kennen nun die beiden Arten von Streßreaktionen, die eine, die nur kurze Zeit dauert, die wir noch anhalten, kontrollieren können, weil wir eine Lösung finden, und die andere, die Tage oder gar Wochen anhält, weil uns nichts einfällt, um eine als Gefahr und Bedrohung eingeschätzte Veränderung in unserer Lebenswelt abzuwenden, oder weil alles, was uns dazu einfällt, nicht machbar ist, nicht funktioniert. Das Anfangsgefühl ist in beiden Fällen Angst. Nicht nur ein bißchen, sondern ganz und gar verschieden sind jedoch die sowohl im Gehirn als auch im Körper im Verlauf dieser Reaktionen ausgelösten Veränderungen, ihre Dauer und deshalb auch die Auswirkungen beider Arten von Streßreaktionen auf das Gehirn und den Körper. Wenn sich eine Belastung als kontrollierbar erweist, kehrt sich plötzlich alles um, aus einer Bedro39 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

hung wird eine Herausforderung, aus Angst wird Zuversicht und Mut, aus Ohnmacht wird Wille, und am Ende, wenn wir es geschafft haben, spüren wir, wie unser Vertrauen in das, was wir wissen und können, gewachsen ist. Wir sind stolz und zufrieden, froh und ein bißchen glücklich. Ganz anders wandeln sich unsere Gefühle, wenn wir erkennen müssen, daß wir keine Möglichkeit finden, eine drohende Gefahr rechtzeitig abzuwenden. Dann schlägt die Angst um in Wut und Verzweiflung, die anfängliche Ratlosigkeit wächst zu anhaltender Ohnmacht, die leichte Verunsicherung wird zu quälendem Zweifel. Unser Selbstvertrauen schwindet, uns verläßt der Mut, wir fühlen uns elend und verzweifelt, unzufrieden und unglücklich. Es ist bemerkenswert, wie viele Worte wir haben, um all die Veränderungen unserer Gefühle zu beschreiben, die wir erleben, wenn die am Beginn der Streßreaktion stehende Angst entweder verschwindet oder größer wird. Weshalb sollte ein Hase, dem es gelungen ist, den ihm nachhetzenden Hunden zu entkommen, nicht ebenso erleichtert, froh, glücklich und zufrieden sein wie wir nach einer bestandenen Prüfung? Warum fallen uns Worte wie Verzweiflung, Ohnmacht, Wut und Resignation nicht ein, um zu beschreiben, was ein Schwein empfindet, wenn es zum Schlachthof abtransportiert wird? Alles, was wir bei diesem Schwein messen können, angefangen von den veränderten Hirnströmen bis zu den ansteigenden Streßhormonspiegeln im Blut, zeigt uns, daß es die gleiche unkontrollierbare Streßreaktionen erlebt wie wir, wenn wir hilflos zusehen müssen, wie . . . ja, was eigentlich? Was muß eigentlich passieren, um bei uns ein Gefühl der völligen Hilflosigkeit auszulösen? Die Antwort auf diese Frage ist gleichzeitig eine Antwort auf die Frage nach der Übertragbarkeit unserer Gefühle nicht nur auf Tiere, sondern auch auf andere Menschen. Der Engländer würde sagen: »It depends . . . «, 40 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

und das stimmt, denn es sind die Vorerfahrungen, die jeder einzelne im Lauf seines Lebens gemacht hat, die bestimmen, wie er eine plötzlich auftretende Veränderung seiner Lebenswelt interpretiert. Was von dem einen als unkontrollierbare Bedrohung empfunden wird, kann für den nächsten eine willkommene Herausforderung darstellen. Bei einem Einzelgänger wie unserem Hasen löst nur das, was sein eigenes Überleben und seine Fähigkeit bedroht, einen Partner zur Fortpflanzung zu finden, eine unkontrollierbare Streßreaktion aus. Für sozial organisierte Säugetiere wie die Schweine ist bereits die Abtrennung von der Herde eine unkontrollierbare Bedrohung. Für den Menschen, dessen gesamter Erfahrungsschatz von Geburt an durch soziale Faktoren, durch das Verhalten anderer Menschen geprägt ist, kann jede nur denkbare Veränderung seiner Beziehungen zu anderen Menschen unkontrollierbare Angst auslösen. Der Verlust einer nahestehenden Person ebenso wie ihre dauernde Anwesenheit, zunehmende Entfernung ebenso wie bedrohliche Annäherung, zu viel Kälte ebenso wie zu viel Wärme, zu viel Verantwortung ebenso wie zu wenig Vertrauen . . . die Liste ist unendlich viel länger als etwa bei Schweinen oder selbst bei unseren nächsten Verwandten, den Affen. Aber es geht noch weiter. Unser Gehirn kann nicht nur äußerst subtile Veränderungen des sozialen Beziehungsgeflechts in dem wir leben wahrnehmen. Besonders einschneidende Erlebnisse mit anderen Menschen werden über lange Zeit gespeichert, deshalb kann auch die Erinnerung an eine erlebte Erniedrigung, an ein schweres Versagen, an eine Vergewaltigung unseres Willens zu einer fortgesetzten oder bei geringfügigen Anlässen immer wieder aufflammenden unkontrollierbaren Belastung werden. Noch eine andere Fähigkeit unterscheidet uns von Affen und anderen Tieren. Aus all den Erfahrungen, die 41 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

wir im Leben machen und von denen andere Menschen uns berichten, entstehen in unserem Gehirn Vorstellungen darüber, wie nicht nur wir, sondern wie auch die Welt um uns herum sein sollte, wie sie so geworden ist, wie sie ist, und was aus ihr und aus uns wird, wenn wir sie verlassen haben. Es sind Ideen und Hypothesen, deren Gültigkeit keiner überprüfen kann, an denen wir jedoch, so gut es geht, festhalten, an die wir glauben. Jede Erschütterung dieser Vorstellungen durch das, was wir täglich erleben, bedeutet eine Bedrohung und wird, ganz so, als ob uns jemand seinen Revolver in den Nakken drückte, zum Auslöser einer unkontrollierbaren Streßreaktion. Schließlich hat nur der Mensch so viel Phantasie, daß er sich Ereignisse lediglich vorzustellen braucht, um eine schwere Streßreaktion auszulösen. Schweißgebadet wacht er auf und ist froh, daß alles nur ein Alptraum war oder er merkt, daß er den Fernseher ausschalten oder den Krimi weglegen kann. Vieles spricht dafür, daß die an Versuchstieren gewonnenen Vorstellungen über die Mechanismen der zentralnervösen Aktivierung der neuroendokrinen Streßantwort in ihren Grundzügen auch für den Menschen gelten. Die Besonderheiten der Streßreaktion beim Menschen ergeben sich aus der enormen Ausdehnung des assoziativen Kortex und der daraus resultierenden Fähigkeit zur langfristigen Speicherung äußerst komplexer Gedächtnisinhalte, zur Bewertung und Kontrolle von Emotionen und zur Steuerung situationsgerechten Verhaltens. Wichtige, die Streßantwort bestimmende Faktoren, die von der tierexperimentellen Streßforschung erst in den letzten Jahren erkannt wurden, etwa die Bedeutung der Vorerfahrung eines Individuums mit einem bestimmten Stressor, das Ausmaß der von einem Individuum empfundenen Kontrollierbarkeit eines Stressors oder der Einfluß von sozialen Faktoren (»social support«, »social status«) auf die Streßantwort, spielen beim Menschen eine weitaus größere Rolle als bei Versuchstieren und sind entscheidend für die enorme interindividuelle Varianz seiner Streßantwort. Eine Frage, mit der sich die experimentelle Streßforschung bisher kaum beschäftigt hat, ist die nach den normalen Auslösern und der Häufigkeit der Aktivierung der Streßreaktion

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unter den jeweiligen, artspezifischen Lebensbedingungen. Bei allen sozial organisierten Säugetieren und insbesondere beim Menschen ist psychosozialer Konflikt die wichtigste und häufigste Ursache für die Aktivierung der Streßreaktion, die leicht unkontrollierbar werden kann. Besonders betroffen sind Individuen mit einem unzureichend entwickelten Repertoire an sozialen Verhaltens-(Coping-)Strategien. Aber auch rasche, unerwartete Veränderungen des sozialen Rahmens, für den erfolgreiche Coping-Strategien entwickelt wurden, etwa Veränderungen des sozialen Beziehungsgefüges durch Verlust eines Partners oder durch einen raschen Wandel kultureller und sozialer Normen, sind Ursachen für unkontrollierbare Belastungen der betroffenen Personen. Eine weitere häufige Ursache für unkontrollierbaren Streß ist die Unerreichbarkeit von vorgestellten Zielen und die Unerfüllbarkeit von als zwingend empfundenen Bedürfnissen und Wünschen innerhalb des gegebenen soziokulturellen Kontextes. Ebenso wie ein Defizit an relevanter Information die Ursache für inadäquates Verhalten und damit psychosozialen Streß darstellt, kann auch ein Informationsüberschuß zu Handlungsunfähigkeit und damit einhergehenden unkontrollierbaren Streßbelastungen führen, weil es nicht gelingt, die vorhandenen Informationen hinsichtlich ihrer aktuellen Relevanz zu klassifizieren. Schließlich ist nur der Mensch aufgrund seiner assoziativen Fähigkeiten in der Lage, sich ein Szenario vorzustellen, das eine Streßbelastung nicht nur beinhaltet, sondern die entsprechende neuroendokrine Reaktion tatsächlich auslöst. Da das furchterregende Szenario nur in der Vorstellungswelt existiert, ist keine adäquate Reaktion möglich und eine unkontrollierbare Streßreaktion unausweichlich.

Faszinierend ist auch die Fähigkeit so vieler Menschen, ihre Ängste zu verleugnen und sich einzubilden, sie hätten alles im Griff. Auf die Frage, wovor sie eigentlich Angst haben, antworten sie meist nur mit einem Achselzucken. Sie behaupten, sie hätten keine Angst, jedenfalls hier und jetzt nicht, und sie könnten sich auch kaum erinnern, jemals richtige Angst empfunden zu haben. Manchen fallen noch irgendwelche Erlebnisse ein, wie die riesige Spinne, die dem einen bei der Suche nach den besten, meist zuunterst liegenden Bananen im Supermarkt vor drei Jahren entgegengesprungen war, oder die Strömung, die einen anderen damals 43 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

während der Sommerferien beim Schwimmen an der Atlantikküste erfaßt und um ein Haar ins Meer hinausgezogen hätte. Aber die Erfahrung habe sie klug gemacht, so beeilen sie sich hinzuzufügen, sie buddelten seither nicht mehr so tief im Bananenregal herum oder schwämmen nicht mehr so weit ins Meer hinaus. Deshalb hätten sie nun auch keine Angst mehr, meinen sie. Zwingt man sie jedoch, darüber nachzudenken, was ihrer Meinung nach sehr schnell dazu führen würde, ihnen dieses schöne Gefühl der Angstfreiheit zu nehmen, herrscht zunächst nachdenkliches Schweigen, aber dann kommen die Antworten wie aus der Pistole geschossen: Es wäre furchtbar, wenn plötzlich kein Geld mehr da wäre, um die Familie zu versorgen, wenn sie eine unheilbare Krankheit bekämen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlören, wenn der Partner sie verließe, die Kinder drogenabhängig würden, wenn die Klimakatastrophe käme, ein Atomreaktor in der Nähe explodierte, die Wirtschaft zusammenbräche und was sonst noch alles. Es ist auffällig, daß besonders Männer diese Fähigkeit zur Nichtwahrnehmung ihrer Ängste bis zur Perfektion entwickelt haben. Entweder sind die Verschaltungen, die das Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, bei Frauen bereits von Geburt an subtiler und komplexer als bei Männern, oder Männer gewinnen im Lauf ihres Lebens eine festere Überzeugung als Frauen, ihre Ängste durch den Einsatz ganz bestimmter Strategien beherrschen zu können. Bereits bei Kindern, besonders gut bei Jungen, läßt sich beobachten, wie sie jeden Trick, den sie finden, um ihre Angst kontrollierbar zu machen, immer und immer wieder ausprobieren. Ein Junge, der dafür bewundert wird, daß er auf hohe Bäume klettert, kann so schnell zu einem Klettermax, einer, der seine ersten Erfolge bei Computerspielen erntet, leicht zu einem versessenen Computerfreak werden. Während seine Spielkameraden noch 44 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

ängstlich einen Bogen um den hohen Baum oder die ungeheure Maschine machen, ist die ursprüngliche Angst bei einem solchen Kind bereits längst in ein Gefühl freudiger Erwartung, Spannung und Neugier umgeschlagen. Wer so bestimmte Fähigkeiten entwickelt, weil er immer wieder feststellt, wie sich durch die Bewunderung und Anerkennung anderer Menschen eigene Sicherheit gewinnen läßt, der hat tatsächlich irgendwann keine Angst mehr – freilich nur so lang, wie sich an den bisherigen Gegebenheiten nichts ändert. Beginnen die so erfolgreich eingesetzten Strategien ihre Wirkung zu verfehlen, oder bröckeln Teile der so sicher geglaubten Bühne ab, auf der die bisherige Vorstellung so prima funktionierte, dann kommt die alte Angst wieder hervorgekrochen. Wehe dem, der ihr jetzt nichts besseres entgegenzusetzen hat, als auf Bäume zu klettern oder mit Computern zu spielen.

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Wer nichts weiß, liebt nichts. Wer nichts tun kann, versteht nichts. Wer nichts versteht, ist nichts wert. Aber wer versteht, der liebt, bemerkt und sieht auch . . . Je mehr Erkenntnis einem Ding innewohnt, desto größer ist die Liebe . . . Wer meint, alle Früchte würden gleichzeitig mit den Erdbeeren reif, versteht nichts von den Trauben. Paracelsus

Auswege Kinder sind noch nicht in der Lage zu erkennen, von wie vielen Voraussetzungen ihr Überleben tatsächlich abhängt. Sie kennen einige, und meinen, das seien alle. Sie erleben die Angst immer erst dann, wenn sie eine konkrete bedrohliche Veränderung in ihrer kleinen Lebenswelt wahrnehmen, und sie können die damit einhergehende Streßreaktion durch eine ebenso einfache wie lautstarke Reaktion kontrollierbar machen. Jedes Kind und jeder Erwachsene, der im Lauf seines Lebens einen immer komplexer werdenden Lebensbereich für sich erschließt, stellt irgendwann fest, daß sein »Überleben«, daß die Erhaltung seiner körperlichen, geistigen und emotionalen Integrität von immer mehr und immer schlechter kontrollierbaren Voraussetzungen abhängig wird. Er ist gezwungen, nach Auswegen zu suchen, die geeignet sind, dieser wachsenden Angst zu begegnen. Der am häufigsten eingeschlagene Weg, nämlich der Versuch, all das nicht wahrzunehmen, was Angst auslösen könnte, ist leider eine Sackgasse. Man spaziert mühelos hinein, freut sich noch eine Zeitlang über die Tatsache, daß es hier keine Warnschilder und Schlag47 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

löcher mehr gibt, bis man irgendwann dort ankommt, wo es nicht mehr weitergeht, jedenfalls nicht mehr so wie bisher. Die dann zwangsläufig ausgelöste unkontrollierbare Streßreaktion läßt einem nur noch die Wahl zwischen Selbstzweifel und Neuanfang oder Impotenz und Krankheit. Auf lange Sicht ist das Nichtwahrnehmenwollen real existierender Gefährdungen und Bedrohungen offenbar kein geeigneter Weg zur Bewältigung der Angst. Kein Tier ist in der Lage, die Angst so lange und hartnäckig zu verdrängen wie der Mensch, und wenn es jemals so ein Lebewesen gegeben hätte, so wäre es mitsamt seinem ungeeigneten Programm längst ausgestorben. Es gibt geeignetere Strategien zur Bewältigung der Angst und die lassen sich sogar schon bei Tieren beobachten. Das Lieblingstier der Streßforscher, die Laborratte, hat schon manchen Vertreter dieser Zunft zur Verzweiflung gebracht. Über viele Generationen haben die Züchter dieser Rattensorte immer wieder nur diejenigen Tiere verpaart, die besonders »pflegeleicht« waren, die sich durch so gut wie nichts aus der Ruhe bringen ließen, nicht bissen, nicht wild umhersprangen und sich nicht wehrten, wenn man sie aus ihren Käfigen nahm und mit ihnen alle möglichen und unmöglichen Versuche anstellte. Die heutigen Nachfahren der durch diese besondere Art von Zuchtwahl entstandenen Laborratten zeichnen sich durch stoische Ruhe, unendliche Geduld und größte Zutraulichkeit aus. Um an derartigen Ratten Streßreaktionen untersuchen zu können, muß man sich schon einiges einfallen lassen. Heiße Platten, Elektroschocks, kaltes Wasser, Festbinden – alles haben unsere Streßforscher ausprobiert und alles funktionierte einmal, zweimal, vielleicht auch dreimal hintereinander, aber dann war Schluß. Keine Streßreaktion mehr. Feierabend. Selbst Laborratten spielen irgendwann nicht mehr mit, denn eines können sie noch: Sie können noch lernen, und sie können 48 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

sich merken, daß diese ganze Quälerei nicht ewig dauert, daß sie bald überstanden ist und daß sie ihr Leben nicht wirklich bedroht. Aber wie soll man eine unkontrollierbare Streßreaktion messen, wenn sie bei jeder gleichartigen Belastung immer kontrollierbarer wird? Die exakteste Meßapparatur ist unnütz, wenn sich die Ratte von Versuch zu Versuch verändert. Das Blatt hatte sich gewendet. Nun saßen die Streßforscher ratlos vor ihren unerwarteten Ergebnissen, bis ihnen irgendwann einfiel, was sie eigentlich hätten wissen müssen: Daß die bisher im Lauf des Lebens gemachten Erfahrungen, daß das erworbene Wissen im Umgang mit einer ganz bestimmten Bedrohung ausschlaggebend dafür ist, wie jemand (auch eine Ratte) auf eine plötzlich erneut auftretende, gleichartige Gefährdung reagiert. Bei Kleinkindern kann man besonders eindrucksvoll miterleben, welches immense Geschrei sie anfangs machen, wenn sie für einen Augenblick alleingelassen werden. Das ist ihre Lösung, um eine unkontrollierbare Streßreaktion abzuwenden. Jede Mutter weiß das und spielt deshalb tage- und wochenlang ein und dasselbe Spiel des kurzzeitigen Verschwindens und Wiederauftauchens. Sie merkt, wie die Angst ihres Babys bei jedem Verschwinden abnimmt und seine Sicherheit mit der Erfahrung wächst, daß selbst so etwas Bedrohliches wie der plötzliche Verlust der Mutter doch irgendwie kontrollierbar ist. Jeder von uns hat im Lauf seines Lebens seine eigenen Erfahrungen gemacht. Er hat gelernt, was er tun kann, um bestimmte Probleme und Schwierigkeiten zu meistern oder wenigstens auszuhalten. Jeder von uns weiß auch recht genau, mit welchen Anforderungen und Belastungen er besonders schlecht umgehen kann. Manche Menschen haben erstaunlich feine Antennen ausgebildet, um solche Situationen bereits sehr früh zu erkennen, und wenden äußerst raffinierte Strategien an, um die auf sie zukommenden Schwierigkei49 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

ten bereits im Vorfeld abzubiegen oder sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Wie weit es ein einzelner Mensch in dieser Hinsicht schon gebracht hat, hängt – wie bei der Ratte – davon ab, mit welchen Anlagen er auf die Welt gekommen ist, welche bedrohlichen Situationen er im Lauf seines Lebens auszustehen hatte und wie er sie bewältigen konnte. Jeder, der mehrere Kinder großgezogen hat, weiß, daß bereits Neugeborene sehr unterschiedlich auf alles Fremde, Ungewohnte und Unbekannte reagieren. Anschließend wächst jeder einzelne Mensch in einer nur für ihn typischen Welt auf. Diese Welt ist nie identisch mit der Welt der anderen. Nie erlebt er die gleichen Herausforderungen, Bedrohungen oder Gefährdungen im gleichen Alter wie andere, und niemals wird er genau die gleichen Erfahrungen wie andere bei der Lösung dieser Probleme machen können. Deshalb ist jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seiner Entwicklung einzigartig. Er trägt seine eigene Geschichte von Erfahrungen in sich und zusätzlich in Form der von seinen Eltern ererbten Programme, auch noch die Geschichte seiner Vorfahren. Dieser ganz persönliche Erfahrungsschatz eines Menschen wird seine Entscheidungen über jeden weiteren noch einzuschlagenden Schritt auf seinem zukünftigen Weg bestimmen. Das, was sich aus Erfahrung bewährt hat, legt fest, wohin es geht, egal ob uns das gefällt oder nicht, und ob das mit unserer gegenwärtigen Vorstellung von der Freiheit menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns vereinbar ist oder nicht. Frei können wir in unseren Entscheidungen eigentlich immer erst dann werden, wenn es so wie bisher nicht mehr weitergeht, wenn alle bisher bewährten Strategien unseres Denkens, Fühlens und Handelns sich als ungeeignet oder undurchführbar erweisen, um eine immer bedrohlicher auf uns zukommende und scheinbar unabwendbare gefährliche Entwicklung auf50 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

zuhalten. Dann spüren wir wieder tagelang dieses ungute Gefühl im Bauch, und wir brauchen den Spiegel von Streßhormonen in unserem Blut gar nicht erst zu messen, um zu wissen, daß das eine unkontrollierbare Streßreaktion ist. Gleichgültig, für wie kompetent wir uns bis dahin im Umgang mit allen möglichen Herausforderungen gehalten haben, dieses aus dem Bauch kommende Gefühl sagt uns, daß es so wie bisher nicht mehr weitergeht. Und wenn wir bislang noch so stolz darauf und überzeugt davon waren, alle Probleme ganz allein, aus eigener Kraft und nach eigenen Vorstellungen bewältigt zu haben, so sagt uns dieses nicht abzustellende Gefühl in unserem Bauch, daß das offenbar doch ein fataler Irrtum war. Selbst dem größtem Individualisten und dem effektivsten Manager macht dieses Gefühl dann irgendwann klar, daß er es allein nicht mehr schafft, daß er einen anderen Menschen braucht, der ihm hilft oder der, wenn er nicht wirklich helfen kann, wenigstens da ist, ihm zuhört, ihn tröstet, ihm irgendwie zur Seite steht. So kann jeder, dessen Denken, Fühlen und Handeln bisher auf bestimmten, von Erfolg und fortwährender Benutzung gebahnten Straßen entlanggesaust ist, irgendwann in seinem Leben das Glück haben, plötzlich angehalten zu werden. Das ist zwar schmerzlich, aber nur so bekommt er die Chance, längst verlassene und deshalb inzwischen fast zugewachsene Wege wiederzufinden. Erst jetzt wird er wieder frei. Er muß vielleicht noch einmal lernen, was andere, weniger rasante Fahrer nicht so schnell vergessen haben: Daß es die Angst ist, die am Beginn jeder Streßreaktion steht, und daß der Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten zur immer besseren Bewältigung von Problemen nur die eine von zwei möglichen Strategien ist, um der immer wieder auftauchenden Angst vor unkontrollierbaren Belastungen und Bedrohungen zu begegnen. Es ist nämlich keineswegs so, daß einzig und allein das im 51 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Lauf des Lebens erworbene Wissen und Können zur Bewältigung einer bestimmten Belastung oder Bedrohung beiträgt und so verhindert, daß eine unkontrollierbare Streßreaktion in Gang gesetzt wird. Auch das Gefühl, daß man nicht allein ist, daß jemand da ist, den man um Rat fragen kann, der einem zur Seite steht, der zuhört, tröstet und mitfühlt, führt dazu, daß die Angst verschwindet und die Streßreaktion angehalten wird. Waren die Streßforscher bereits daran verzweifelt, daß die Streßreaktion ihrer Ratte verschwand, sobald diese gemerkt hatte, daß das, was sie anfangs für eine Bedrohung hielt, offenbar nur ein Experiment war, so hat es ihnen wohl gänzlich die Sprache verschlagen, als sie feststellen mußten, daß bei einem Affen immer dann, wenn sein »Freund« zu ihm gesetzt wird, kaum noch Angst und deshalb auch keine Streßreaktion mehr auslösbar ist. Die Forscher hatten sich ein ganz einfaches Experiment ausgedacht, um ein neues Präparat zu testen, das gegen Angst und Streß helfen sollte. Dazu wurde ein Affe in einen Käfig gesetzt, anschließend holte man einen Hund herein, der nun knurrend um den Käfig herumlief. Natürlich hatte der Affe Angst und die Streßhormonspiegel in seinem Blut schnellten in die Höhe. Dann holte man einen zweiten Affen, gab dem das Testpräparat, setzte ihn zu dem anderen, ließ wieder den Hund um den Käfig rennen, und der Affe, der das Präparat bekommen hatte, zeigte keinerlei Streßreaktion. Die Pille wirkt also, dachten die Forscher, aber nur bis sie auch die Streßhormonspiegel desjenigen Affen anschauten, der zuerst im Käfig gesessen und keine Beruhigungspille bekommen hatte. Bei dem war nämlich auch keine Streßreaktion mehr meßbar. Sie nahmen den zweiten Affen wieder heraus, holten den Hund, und die Streßreaktion war wieder da. Sie warteten einen Tag und machten das Ganze noch einmal. Diesmal bekam der zweite Affe keine Beruhigungspillen. Alles verlief wie am Tag zuvor. Sah einer der beiden Affen allein im 52 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Käfig sitzend den Hund, so stiegen seine Streßhormonspiegel mächtig an. Saßen die beiden Affen gemeinsam im Käfig, so konnte der Hund draußen knurren, so viel er wollte, sie hatten keine Angst mehr. Setzte man jedoch zwei Affen zusammen, die aus unterschiedlichen Kolonien stammten und sich deshalb nicht kannten, kam es zu keinerlei Unterdrückung der Streßreaktion. Das schaffte eben nur der alte Bekannte, der gute Freund, nicht irgendein Affe. Damit hatten die Forscher nun wirklich nicht gerechnet. Sie hatten endlich das wichtigste und effektivste Gegenmittel gegen Angst und Streß bei allen sozial organisierten Säugetieren, und damit ganz besonders bei uns Menschen, gefunden, also genau das, wonach sie und so viele andere weltweit schon so lange suchten. Auf einmal ließ sich so vieles erklären, was viele bis heute immer noch nicht verstehen. Bei uns Menschen muß, anders als bei Affen, der Freund oder die Freundin nicht unbedingt neben uns sitzen, um uns die Angst zu nehmen. Uns reicht es schon, wenn wir wissen, daß ein Freund oder eine Freundin, eine Mutter, ein Großvater, einfach irgend jemand, der uns nahe ist, existiert, an uns denkt und alles, was in seiner Macht steht, auch tun wird, um uns zu helfen. Es muß auch nicht unbedingt ein Mensch sein, es genügt vielleicht auch ein Hund, eine Katze oder ein Kanarienvogel, irgend etwas Lebendiges, zu dem wir sprechen können, auch Musik oder ein Bild, das wir in uns aufzunehmen und dabei spüren, wie das sonderbare Gefühl im Bauch auf wundersame Weise verschwindet. Und zu alledem können wir selbst dann, wenn alle uns enttäuscht und verlassen haben, noch glauben. Wir können daran glauben, daß es jemanden gibt, der seine Hand schützend über uns hält und uns den richtigen Weg weisen wird. Wie heißt dieses Gefühl, das so stark ist, daß es die Angst besiegt, das so stark werden kann, daß es Men53 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

schen sogar ihre größte Angst, die vor dem Tod, vergessen und singend ihre letzten Schritte gehen ließ, bevor sie von ihren Peinigern auf den Scheiterhaufen geworfen oder ans Kreuz genagelt worden sind? Es ist das gleiche Gefühl, das einen Menschen dazu bringt, in einen reißenden Fluß zu springen, um ein Kind zu retten, in ein brennendes Haus zu laufen, um seine Frau herauszuholen, in den Krieg zu ziehen, um das Vaterland gegen einen vermeintlichen Feind zu schützen. Weshalb haben wir keinen passenden Namen für dieses starke Gefühl? Wir ahnen, wie dieses Gefühl heißen könnte, das die Angst besiegt: Es ist die Liebe. Wir wissen aber auch, daß es nur wenige Menschen auf dieser Erde gibt, deren Fähigkeit zu lieben ausreicht, um alles, was sie umgibt, zu umfassen. Sie haben kaum noch Angst. Die meisten Menschen können jedoch nur das lieben, was ihre konkreten Ängste in ihrem bisherigen Leben zu unterdrücken imstande war: oft sich selbst, ihre eigenen Fähigkeiten und Erfolge, womöglich sogar ihr Auto, vielleicht noch immer die Eltern, manchmal den Partner, fast immer die Kinder, vielleicht auch ihren Hund oder ihr Pferd. Seltener umfaßt diese Liebe all das, was wir Heimat nennen, die Nachbarn, den Wald, die Vögel, die Natur. Aber wir können auch Ideen und Idole lieben, uns für Utopien begeistern, für religiöse Vorstellungen, für politische Ziele, für so viel Verschiedenes. Aber immer dann, wenn ein Mensch etwas ganz Bestimmtes auf dieser Welt gefunden hat, das ihm hilft, seine Angst erträglicher zu machen, hat er sich bereits eine neue Angst eingehandelt. Es ist die Angst, daß er das, was er liebt, wieder verliert. Sobald er spürt, daß jemand kommt und ihm das wegzunehmen droht, was er so nötig braucht, um all die verschiedenen Bedrohungen in seinem Leben aushalten, kontrollieren zu 54 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

können, bekommt diese Angst einen sehr präzisen Namen: Haß. Auf diese Weise erzeugt jede unvollständige Liebe immer wieder Haß, Wut, Aggression, Feindschaft, Krieg und neue Angst auf seiten derer, gegen die sich der Haß richtet. Je dünner die Decke aus Liebe und Kompetenz ist, die ein Mensch gefunden hat, um damit seine größte Blöße, die nackte Angst, zu bedecken, desto intensiver und unversöhnlicher muß er diejenigen hassen, die ihm ein noch so kleines Stück dieses lebenswichtigen Schutzes vor den Folgen einer unkontrollierbaren Streßreaktion wegzunehmen drohen. Das können Fremde sein, die die bisherige Ordnung in Frage stellen, Konkurrenten, die seine Stellung bedrohen, oder Untergebene, die seinen Weisungen nicht folgen. Es können aber ebensogut Menschen sein, für die er sich verantwortlich fühlt, der Lebenspartner, die Eltern, die Kinder, die ihm zu viel abverlangen oder die sein Selbstbild in Frage stellen. Auch gegen diejenigen, die er braucht, die ihm nahestehen, kann sich der Haß eines Menschen richten, sobald er spürt, daß sie sich von ihm abwenden, nicht mehr bereit oder in der Lage sind, ihm in der bisherigen Weise bei der Bewältigung seiner Ängste beizustehen. Oft äußert sich dieser Haß gegen andere Menschen als blinde Zerstörungswut, die sich gegen all das richtet, was jenen besonders lieb ist und am Herzen liegt. Ein Mensch kann aber auch wütend auf sich selbst werden, sich selbst hassen und womöglich absichtlich selbst verletzen, wenn er glaubt, dem nicht gerecht werden zu können, was er von sich oder andere von ihm erwarten, wenn er feststellt, daß der Schutzmantel, den er sich selbst zu schaffen imstande war, nicht ausreicht, um ihm genügend Sicherheit zu bieten. Deshalb kann die Angst auf dieser Welt erst dann verschwinden, wenn irgendwann einmal alle Men55 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

schen so aufwachsen und leben, daß sie all das, was sie umgibt, erkennen, verstehen und deshalb vielleicht auch lieben können. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, betrachtete die Liebe in erster Linie als ein sexuelles Phänomen. »Die Erfahrung, daß die geschlechtliche (genitale) Liebe den Menschen die stärksten Befriedigungserlebnisse gebe, mußte es nahegelegt haben, die Glücksbefriedigung im Leben auch weiterhin auf dem Gebiet der geschlechtlichen Beziehungen zu suchen, die genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen.« Für ihn und viele seiner Anhänger blieb die Nächstenliebe ein Ergebnis der sexuellen Begierde, wobei der Sexualtrieb in einen »zielgehemmten Impuls« verwandelt wird. »Die zielgehemmte Liebe war eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewußten des Menschen noch immer.« Das Gefühl allumfassender Liebe, das am stärksten in der Lage ist, die Angst des Menschen kontrollierbar zu machen, hat Freud als pathologische Regression, als »Wiederherstellung des uneingeschränkten Narzißmus« der frühen Kindheit interpretiert (vgl. S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ges. Werke, Band 14, S. 419–506, S. Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 1960).

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Seit ich des Suchens müde war, Erlernte ich das Finden. Seit mir ein Wind hielt Widerpart, Segl ich mit allen Winden. Friedrich Nietzsche

Gebahnte Wege Streß, Angst, Liebe, Haß – was ist das für ein Bogen, den wir da spannen? Er reicht von der exakten, trockenen Biologie, den meßbaren Ursachen und Konsequenzen der in unserem Kopf und in unserem Körper ablaufenden Streßreaktion, bis hin zu den abstraktesten Gefühlen, über deren Herkunft selbst die Psychologen wenig zu sagen haben. Vielleicht sollten wir uns einen Augenblick setzen und überlegen, ob wir hier tatsächlich noch auf dem richtigen Weg sind. Haß, so schien es, entsteht immer dann, wenn wir spüren, daß uns jemand genau das wegzunehmen droht, was uns bisher geholfen hat, die Angst davor zu unterdrücken, nicht anerkannt und ausgelacht, ausgeschlossen und alleingelassen zu werden. Das, was uns in unserem bisherigen Leben geholfen hatte, diese Angst zu besiegen, war unser bisher erworbenes Wissen über die Ursachen bestimmter Belastungen und die Gesamtheit unserer bisher bei der Bewältigung dieser Belastungen gemachten Erfahrung. Wir nutzen die Sicherheit dieser Erfahrungen und suchen die Geborgenheit und die Nähe anderer, um die Angst und damit eine Kette von Reaktionen in unserem Gehirn und unserem Körper zu unterdrücken, die neuroendokrine Streßreaktion heißt. Diese Notfallreaktion ist so uralt, daß es sie bereits bei den Sauriern gab. Sie hat immer wieder dafür gesorgt, daß diejenigen ausstarben, deren Lebensbedingungen sich so schnell veränderten, daß sie 57 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

mit ihren unflexiblen Programmen, die die Verschaltungen der Nervenzellen in ihrem Gehirn und damit ihr Verhalten bestimmten, nicht zurechtkamen. Irgendwann, so habe ich behauptet, sei dann eine kleine Programmänderung aufgetreten, die dafür sorgte, daß die während der Streßreaktion ausgeschütteten Hormone direkt auf die neuronalen Verschaltungen im Gehirn einwirken und sie verändern konnten. »Ha!« rufen Sie lauthals und springen begeistert auf. »Da haben wir ja den Pferdefuß. Wenn das nämlich nicht stimmt, stimmt der ganze Rest auch nicht. Und wenn es stimmt, dann muß man es auch heute noch bei allen Tieren beobachten und messen können, die ein lernfähiges, plastisches Gehirn haben.« Setzen Sie sich wieder hin, es stimmt! Die Natur ist offenbar erfinderischer, als wir uns vorzustellen bereit sind. Wie wir gleich sehen werden, hat es sogar mehrere kleine Programmänderungen gegeben, die alle genau das bewirkten, was wir uns auf dem Weg von den Sauriern zu uns ausgedacht haben. Die Verschaltungen in unserem Gehirn haben ja eigentlich mit richtigen Wegen wenig gemein. Auf einem Weg gelangt man ohne Unterbrechungen von hier nach dort. Ein elektrischer Impuls im Gehirn hingegen muß auf seinem Weg von einer Nervenzelle zur nächsten jedesmal eine Art Fähre benutzen. Wenn eine Nervenzelle erregt wird, breitet sich der Impuls zwar blitzartig auf ihrer gesamten Oberfläche bis zu den Enden ihrer mehr oder weniger langen, oft vielfach verzweigten Fortsätze aus, aber dort, kurz vor der nächsten Nervenzelle, ist Schluß. Hier klafft ein zwar nur mit dem Elektronenmikroskop zu sehender Spalt, der aber wie ein Bruch in einem Stromkabel jede weitere Ausbreitung der Erregung unterbricht. Jetzt geht es nur noch mit einem Trick weiter. Von jeder Nervenzellendigung (das ist das deutsche Wort für eine Synapse) wird immer dann, wenn ein elektrischer Impuls an58 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

kommt, eine chemische Substanz abgegeben, ein Neurotransmitter. Dieser Botenstoff schwimmt durch den Spalt, gelangt auf die andere Seite zur nächsten Nervenzelle und löst dort eine erneute Erregung aus. So springt die Erregung von einer Nervenzelle zur nächsten, breitet sich über die Verzweigungen immer weiter aus und kann überall dorthin gelangen, wo diese Äste hinführen, von einem in ein anderes oder gar in mehrere andere Netzwerke. In diesen Netzen können mehrere Erregungen gleichzeitig eintreffen und sich gegenseitig aufschaukeln. Bestimmte Nervenzellen dieser Netze geben Botenstoffe ab, die die Erregbarkeit nachgeschalteter Nervenzellen entweder vermindern oder erhöhen. So können die eingehenden Erregungen sowohl abgebremst als auch verstärkt und damit in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Das Netz von Verbindungen zwischen den Milliarden von Nervenzellen in unserem Gehirn ist nicht nur viel dichter als jedes Wegenetz, das wir uns vorstellen können, es hat auch viel mehr Verzweigungen. Es gibt kleinere, lokale Netzwerke mit besonders engen Verschaltungen, in denen ganz bestimmte Informationen verarbeitet werden. Diese lokalen Netze sind mit anderen lokalen Netzen über Nervenfasern verbunden und bilden so größere, komplexe Netzwerke. Zwischen denen der rechten und der linken Hirnrinde gibt es enge Verschaltungen, ebenso wie zwischen denen in höher- und tiefergelegenen Hirnregionen. Von den Sinnesorganen und aus dem Körper kommende Nervenbahnen münden in ganz bestimmte dieser lokalen Netze ein, und andere führen aus diesen Netzen heraus in alle Bereiche des Körpers, zu jeder einzelnen Muskelfaser, allen Drüsen und Organen. Der Versuch, all diese Verschaltungen zwischen den Fortsätzen der Nervenzellen in unserem Gehirn bis in ihre letzten Verzweigungen zu verfolgen, wäre noch unsinniger als das Bemühen, eine Karte zu erstellen, auf der alle Stra59 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

ßen, Wege und Trampelpfade dieser Erde eingezeichnet sind. Wir würden dabei sehr schnell die Übersicht verlieren. Unser Gehirn enthält nämlich nicht nur solche Nervenbahnen, auf denen Informationen in Form elektrischer Erregungen in das Gehirn hinein-, dort in allen möglichen Netzen umher- und an irgendeiner Stelle wieder hinausgelangen. Es enthält auch noch solche, die nichts weiter machen, als zu beeinflussen, welchen Weg diese Erregungen entlanglaufen und mit welcher Geschwindigkeit sie vorankommen. Ohne diese Nervenzellen, die mit ihren Fortsätzen das gesamte Gehirn überziehen, und selbst gar nicht am Verkehr teilnehmen, sondern lediglich den Verkehr lenken, würde unser Gehirn nur wie ein einfacher Computer funktionieren, bei dem man vorn etwas eingibt und hinten etwas herauskommt. Sie wirken ähnlich wie unsere Verkehrsleitsysteme auf den Autobahnen, wie der Verkehrsfunk mit seinen Staumeldungen und Umleitungsempfehlungen. Eines dieser »Verkehrsleitsysteme« in unserem Gehirn, Sie ahnen es bereits, wird immer dann aktiviert, wenn es irgendwo gekracht hat. Am häufigsten kracht es zwangsläufig dort, wo alle Wege zusammenlaufen, also in den Netzwerken in unserer Hirnrinde, die die ständig eingehenden Informationen mit dem vergleichen, was dort bereits abgespeichert ist. Dort entsteht immer dann ein hektisches Durcheinander, wenn das eine nicht zum anderen paßt, wenn etwas Neues, Unerwartetes aufgetreten ist – also immer genau in dem Augenblick, in dem die Angst entsteht und eine Streßreaktion ausgelöst wird. Dieses ganz am Anfang der Streßreaktion im Gehirn eingeschaltete »Leitsystem« heißt zentrales noradrenerges System. Es wird immer zusammen mit dem peripheren noradrenergen System (dem sympathischen System) aktiviert, was wir sofort daran erkennen, daß unser Herz zu rasen anfängt und uns der Angstschweiß auf die Stirn tritt. 60 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Dieses bei jedem Stau oder Verkehrsunfall aktivierte System sorgt dafür, daß alle Nervenzellen wachgerüttelt werden, und daß der Informationsfluß schnell und effizient dort entlang geleitet wird, wo es besser vorangeht. Das sind diejenigen Nervenbahnen und Verschaltungen, deren Benutzung eine Verhaltensreaktion auslöst, die in irgendeiner Weise geeignet ist, die aufgetretene Bedrohung zu beseitigen – zunächst durch genaueres Hinschauen, und, je nachdem, was sich da im einzelnen abspielt, entweder durch Flucht oder aber durch Angriff oder eine andere Form der aktiven Bewältigung. Die Informationsverarbeitung im ZNS wird heute als ein gleichzeitig seriell und parallel ablaufender Prozeß der Aktivierung multifokaler, eng miteinander verschalteter neuronaler Netzwerke verstanden. Jedes dieser Netzwerke besitzt strukturell festgelegte Verschaltungsmuster mit anderen Netzwerken, die im Verlauf der Ontogenese herausgebildet und zeitlebens durch die Art ihrer Nutzung um- und überformt werden (»experiencedependent plasticity«). Die Aktivität und die Effizienz der in verschiedenen Bereichen des ZNS operierenden lokalen Netzwerke wird durch »überregionale« Systeme mit weitreichenden und überlappenden Projektionen beeinflußt und aufeinander abgestimmt (Übersicht in Mesulam 1990). Eines dieser globalen Systeme ist das zentrale noradrenerge System. Seine Neurone sind im Locus coeruleus und den katecholaminergen Kernen des Hirnstammes lokalisiert. Ihre vielfach verzweigten Axone erreichen praktisch alle Bereiche des ZNS und beeinflussen die Aktivität der dort angelegten lokalen Netzwerke. Diese noradrenergen Kerngebiete erhalten ihrerseits Eingänge aus den höheren, limbischen und kortikalen Hirnbereichen, die die noradrenergen Neurone immer dann erregen, wenn es in assoziativen kortikalen beziehungsweise limbischen Gebieten zu einer verstärkten neuronalen Aktivität (»alerting stimuli«, »arousal«) kommt, also bei jeder Aktivierungsreaktion durch neuartige, mit den normalerweise ablaufenden Erregungsmustern interferierende Stimuli (Abercrombie und Jacobs 1987; Jacobs u.a. 1991; Lachuer u.a. 1991). Unter dem Einfluß vermehrter Noradrenalinausschüttung kommt es in den limbischen und kortikalen Zielgebieten zu charakteristischen Veränderungen der Erregbarkeit nachgeschalteter Neuronenverbände der dort lokali-

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sierten neuronalen Netze. Ihre Spontanaktivität wird verringert und ihre Antwort auf andere eintreffende Impulse verstärkt. Das daraus resultierende verbesserte Signal-Rauschverhältnis führt zu einer größeren Selektivität der neuronalen Reaktionen dieser lokalen Netze auf spezifische Stimuli (Foot u.a. 1983; Cole und Robbins 1992). Auf der Verhaltensebene bewirkt dieser Effekt eine Intensivierung der Reaktionen auf interne oder externe Reize, eine raschere Verarbeitung sensorischer Information und der motorischen Antworten (»behavioral output«). Auf diese Weise führt die initial bei jeder Streßreaktion stattfindende noradrenerge Aktivierung zu einer globalen Erhöhung des Vigilanzniveaus (vermehrte Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft). Die während dieser Phase in lokale Netze einfließenden Informationen werden intensiver und nachhaltiger verarbeitet, als das ohne die Aktivierung des noradrenergen Systems möglich wäre (Aston-Jones 1986; Jacobs u.a. 1991). Nach Zerstörung des noradrenergen Systems kommt es daher zu einer generellen Verschlechterung von Hirnleistungen (Everitt u.a. 1983; Robbins 1984). Die Aktivierung des zentralen noradrenergen Systems geht, zumindest in Tierversuchen, immer mit einer gleichzeitigen Aktivierung des peripheren noradrenergen Systems einher (Abercrombie und Jacobs 1987), deren körperliche Auswirkungen bei jeder Streßreaktion initial spürbar werden.

Wenn die Bedrohung so abgewendet werden kann, ist alles gut. Wir haben eine kontrollierbare Streßreaktion erlebt. Das noradrenerge System hört auf zu feuern, der Verkehrsfunk meldet freie Fahrt auf allen Straßen. Also Gas geben und weiter geht’s wie vorher – denkt der Autofahrer. Aber das war schon wieder ein Irrtum. Die Natur ist nun einmal kein Autofahrer. Sie nutzt nämlich jede sich bietende Gelegenheit, um das existierende Streckennetz, die neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn, immer besser an die tatsächlichen Erfordernisse anzupassen. Dieses zu Beginn jeder Streßreaktion aktivierte noradrenerge System kann nämlich noch etwas, was kein noch so gut ausgeklügeltes computergestütztes Verkehrsleitsystem zustandebringt. Es sorgt dafür, daß immer diejenigen neuronalen Verschaltungen, die erfolgreich zur Auflösung des entstandenen Durcheinanders 62 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

in den Netzwerken der Hirnrinde beitragen und die wir schließlich benutzen, um eine bestimmte Belastung zu bewältigen, auch gleich ausgebaut, besser, schneller und effizienter nutzbar gemacht werden. So müßte ein Verkehrsleitsystem funktionieren! Nicht einfach nur Staumeldung und Umleitungsempfehlung durchgeben, sondern gleich noch ein Straßenbaukommando auf die Umleitungsstrecke schicken, das dafür sorgt, daß diese auch gleich vernünftig ausgebaut wird. Das macht das noradrenerge System in unserem Kopf. Es ist kaum zu glauben, aber unser Gehirn scheint tatsächlich schlauer zu sein als wir. Jeder, der eine holprige Nebenstrecke gefunden hat, um an allen Staus vorbei möglichst schnell in die Stadt zu kommen, wird sich schon die ganze Zeit gefragt haben, wie es funktionieren soll, daß dieser holprige Schleichweg nur allein dadurch, daß immer mehr Schlaumeier hier entlangfahren, zu einer vernünftigen Straße werden soll. Jetzt haben wir die Antwort. Die simple Benutzung eines Weges kann bestenfalls dazu führen, daß er irgendwann ausgefahren und immer breiter wird. Um daraus eine richtige Straße werden zu lassen, muß etwas anderes passieren. Da muß eine ordentliches Straßenbett ausgehoben und mit Schotter aufgefüllt werden. Das Ganze muß dann festgewalzt und asphaltiert werden, Markierungen müssen angebracht, Verkehrsschilder und Wegweiser aufgestellt werden. Das ist genau das, was das noradrenerge System mit den Verschaltungen macht, die in unserem Gehirn benutzt werden, wenn wir eine ganz bestimmte Herausforderung meistern. Sie werden unter dem Einfluß des von den noradrenergen Nervenendigungen ausgeschütteten Signalstoffs und der von diesem Signalstoff ausgelösten Prozesse »gebahnt« (so heißt das tatsächlich auch in der Fachsprache der Hirnforscher). Auf diese Weise werden die anfänglich noch holprigen Feldwege unseres Denkens und Fühlens allmählich zu 63 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Straßen und unter Umständen sogar zu breiten Highways. Aufgrund seiner weitreichenden Projektionen, und weil adrenerge Rezeptoren nicht nur an Neuronen, sondern auch an Gliaund Endothelzellen (Hüll- und Gefäßzellen) vorhanden sind, ist das noradrenerge System in der Lage, Hirnfunktionen in gleichzeitig sehr spezifischer und globaler Weise zu modulieren. Durch Stimulation adrenerger Rezeptoren der Hirngefäße kommt es zur Steigerung der cerebralen Durchblutung, vermehrter Glukoseaufnahme und erhöhtem Energiestoffwechsel (Bryan 1990). Die Wirkung auf Astrozyten (Hüllzellen) führt zu einer Freisetzung von Glukose und Laktat (Energielieferanten für Nervenzellen) (Pentreath u.a. 1986; Sorg und Magistretti 1991) und zur Abgabe von neurotrophen Faktoren (wachstumsfördernde Substanzen für Nervenzellen) (Furukawa u.a. 1989; Eiring u.a. 1992), die ihrerseits über Modulation der Genexpression in benachbarten Neuronen plastische Veränderungen (Auswachsen von Fortsätzen, Synaptogenese etc.) induzieren (Stone u.a. 1992; Rosenberg 1992; Vaccarino u.a. 1993). Da ein erheblicher Anteil der noradrenergen Axone, besonders im Kortex keine typischen Synapsen, sondern freie Nervenendigungen bildet, kann das im Zuge der Streßreaktion in den extrazellulären Raum freigesetzte Noradrenalin sowohl als Transmitter als auch in einer hormonähnlichen Weise wirken. Vieles spricht dafür, daß die noradrenerg-mediierte Stimulation astrozytärer neurotropher Funktionen entscheidend an synaptischen Bahnungsprozessen im Verlauf kontrollierbarer Streßreaktion beteiligt ist (vgl. Hüther 1996). Wie wichtig die durch kontrollierbare Belastungen ausgelöste Aktivierung zentraler noradrenerger Neurone für zentralnervöse Anpassungsprozesse ist, macht der Umstand deutlich, daß im Verlauf der Evolution Mechanismen stabilisiert worden sind, die die Reaktionsfähigkeit des noradrenergen Systems auf wiederholte, kontrollierbare Belastungen nicht nur sichern, sondern sogar noch verstärken. So läßt sich bei Versuchstieren zeigen, daß wiederholte, verschiedenartige kontrollierbare Streßbelastungen dazu führen, daß das noradrenerge System auf eine erneute Belastung mit verstärkter Aktivierung reagiert. Diese nur durch verschiedenartige, kontrollierbare Stressoren induzierbare Verstärkung noradrenerger Einflüsse erfolgt gleichzeitig auf mehreren Ebenen: durch eine erhöhte Feuerungsrate der noradrenergen Neurone (Pavcovich u.a. 1990), durch vermehrte Synthese, Speicherung und Ausschüttung von Noradrenalin

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durch noradrenerge Nervenendigungen (Anisman u.a. 1987; Adell u.a. 1988; Nisenbaum u.a. 1991) sowie – und das ist das interessanteste, bisher aber erst in einer Studie nachgewiesene Phänomen – durch verstärktes Auswachsen von Axonen und Intensivierung der noradrenergen Innervation bestimmter Zielgebiete, z. B. des Kortex (Nakamura 1991). Vieles, was hier über das noradrenerge System und seine Rolle als Trigger von adaptiven plastischen Veränderungen des ZNS unter kontrollierbarem Streß gesagt wurde, scheint in gewissem Umfang auch für das dopaminerge und das serotonerge System zu gelten, und es ist davon auszugehen, daß das kontrollierte, regionale Zusammenwirken dieser drei monoaminergen Systeme bestimmte kortikale und limbische Erregungsmuster stabilisiert, die dann über die gleichzeitige Stimulation neurotropher Aktivitäten strukturell in Form adaptiver plastischer Veränderungen der an der Generierung dieser Erregungsmuster beteiligten synaptischen Verschaltungen verankert werden. Wiederholt auftretende, kontrollierbare psychosoziale Belastungen können auf diese Weise zu einer sukzessiven Stabilisierung, Faszilitation und verbesserten Effizienz der in die Antwort involvierten neuronalen Netzwerke und Verbindungen führen. Sie fördern die Bahnung und strukturelle Verankerung der in die Generierung ganz bestimmter, spezialisierter Fähigkeiten oder Reaktionsweisen involvierten neuronalen Verschaltungen. Dieser zentralnervöse Anpassungsprozeß ist in gewisser Weise vergleichbar mit peripheren Anpassungen an physische Stressoren, etwa die durch Kältebelastung induzierte Verdichtung des Haarkleides. Sehr komplexe, verschiedenartige und vielseitige kontrollierbare Belastungen sind offenbar notwendig, um die individuelle genetische Potenz zur Strukturierung eines entsprechend komplexen Gehirns nutzen zu können. Einen beeindruckenden Beweis für diese Vermutung und ein anschauliches Beispiel für das Ausmaß möglicher plastischer Veränderungen, vor allem während der Hirnentwicklung, liefern die Ergebnisse von Untersuchungen zum Einfluß von sogenannten »handling« oder »enriched environments« auf die Entwicklung des Kortex bei jungen Versuchstieren. Unter solchen Bedingungen aufgewachsene Ratten zeigen vergleichsweise einen dickeren Kortex, verstärkte Vaskularisierung, vermehrte Anzahl von Gliazellen, vergrößerte Dendritenbäume der Pyramidenzellen und höhere Synapsendichte (Greenough und Bailey 1988). Darüber hinaus zeichnen sie sich im Erwachsenenalter durch eine geringere Ängstlichkeit in fremder Umgebung und eine verminderte Glukokortikoidsekretion in verschiedenen Streßsituationen aus

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(Levine u.a. 1967; Akanaet al 1986). Die besondere Bedeutung wiederholter noradrenerger Aktivierung für strukturelle Veränderungen neuronaler Verschaltungen wird auch durch die Beobachtung unterstrichen, daß eine intakte noradrenerge Innervation eine essentielle Voraussetzung für die während der Differenzierung des visuellen Kortex ablaufenden strukturellen Bahnungsprozesse ist (Gordon u.a. 1988; Kasamatsu 1991; Marshall u.a. 1991) und daß selbst die im erwachsenen Gehirn nach kortikalen Läsionen stattfindenden strukturellen Umbauprozesse unter noradrenerger Kontrolle stehen (Feeney und Sutton 1987; Boyeson und Krobert 1992; Levin und Dunn-Meywell 1993).

So kommt es, daß etwas, was uns beim ersten Mal noch ziemlich viel angst macht, also etwa die erste Fahrt mit dem Auto durch die Stadt, beim zweiten Mal bereits mit viel weniger Herzrasen und feuchten Händen einhergeht, um schließlich irgendwann ganz mühelos und ohne die geringste Angst, fast routinemäßig erledigt zu werden. Ohne noradrenerges System hätten wir weder Herzklopfen noch feuchte Hände, würden aber wohl noch heute alle wie die Anfänger umherfahren. Wir lernen etwas Neues richtig schnell und so, daß es auch sitzt, offenbar nur dann, wenn dieses sonderbare noradrenerge System in unserem Gehirn eingeschaltet wird, das uns gehörig wachrüttelt und dazu beiträgt, die erfolgreich zur Lösung des Problems, zur Bewältigung der Angst eingesetzten Verschaltungen zu bahnen. Das, was uns nicht unmittelbar berührt, was nicht die geringste Spur einer kontrollierbaren Streßreaktion auslöst, bekommen wir, wenn überhaupt, nur mit größter Mühe in unseren Kopf, und, wenn wir es nicht ständig wieder aufsagen, ist es im Nu auch wieder verschwunden. Etwas anderes ist es, wenn die Angst unkontrollierbar wird, wenn der Fahrlehrer neben uns immer ungehaltener wird und uns anbrüllt, endlich aufzupassen. Dann geht nicht nur nichts mehr in das Gehirn hinein, 66 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

dann kommt auch nichts Brauchbares von dem, was bereits drin war, heraus. Bevor wir uns mit diesem Phänomen beschäftigen, bleiben wir aber noch einen Augenblick bei den kontrollierbaren Belastungen und ihren Auswirkungen auf unser Denken, Fühlen und Handeln. Wenn die bei jeder kontrollierbaren Streßreaktion stattfindende Aktivierung des großen noradrenergen Leitsystems dazu führt, daß all diejenigen Verschaltungen, die in unserem Gehirn zur Bewältigung einer Herausforderung benutzt werden, besser ausgebaut, gebahnt und effektiver gemacht werden, können durch häufig auftretende, gleichartige und immer wieder durch die gleichen Reaktionen und Verhaltensweisen bewältigbare Belastungen aus anfangs noch recht holprigen Feldwegen, gut ausgebaute Straßen und aus flotten Straßen rasante Autobahnen für den Informationsfluß in unserem Gehirn entstehen. Manche Herausforderungen bewältigen wir, indem wir bestimmte Verschaltungen zur Steuerung komplexer Bewegungsabläufe benutzen. Es ist also nicht verwunderlich, daß wir jede anfangs noch so schwierige Handlung, wenn sie uns einmal gelungen ist, das nächste Mal schon viel besser und irgendwann sogar ganz mühelos vollziehen. Sie wird Schritt für Schritt zu einer gebahnten Routine, die am Ende keinerlei Anstrengung, keine neuartige Anforderung und auch keine Aktivierung unseres noradrenergen Systems mehr verursacht. Viele ungewohnte Anforderungen oder bedrohliche, angsteinflößende Entwicklungen lassen sich auch durch Nachdenken bewältigen. Wenn wir eine Lösung finden, werden diejenigen Wege unseres Denkens gebahnt, die zur Lösung dieses Problems beitragen. Je häufiger es wieder auftaucht, desto leichter fällt es uns, die jeweils geeigneten Denkmuster zu aktivieren und die entsprechenden Verhaltensstrategien zur Lösung einzusetzen. Wieder ist eine Straße, diesmal auf der 67 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Ebene des Denkens, entstanden, auf der man sehr bequem vorankommt. Was für ein gutes Gefühl es doch ist, wenn alles so flott läuft, wenn man feststellt, daß man durch eigenes Denken und Handeln die schwierigsten Aufgaben lösen, die bedrohlichsten Situationen klären und auflösen kann. Jetzt wird es aber erst wirklich interessant. Auch dieses gute Gefühl entsteht ja letzten Endes nur deshalb, weil bestimmte Verschaltungen im Gehirn aktiviert werden. Das Gehirn belohnt uns so für erfolgreiches Verhalten. Die Verschaltungen dieses »Belohnungssystems« werden ebenfalls immer dann aktiviert, wenn wir eine Herausforderung gemeistert, eine kontrollierbare Belastung erfolgreich bewältigt haben. Es ergeht ihnen ebenso wie denen, die für bestimmte Bewegungskoordinationen oder bestimmte Denk- und Verhaltensmuster verantwortlich sind. Sie werden ebenfalls gebahnt. Je öfter wir also die Erfahrung machen, daß wir die in unserem Leben auftretenden Probleme zu lösen imstande sind, desto tiefer gräbt sich in unserem Gehirn ein bestimmtes Gefühl ein. Wenn wir immer wieder besonders stolz darauf sind, es allein und ohne fremde Hilfe geschafft zu haben, werden wir immer selbstbewußter und überzeugter von unserer Kompetenz. Wenn wir immer wieder voll überströmender Freude erleben, daß ein anderer Mensch uns tatsächlich geholfen hat, die in unserem Leben auftretenden Anfechtungen und Bedrohungen zu meistern, wird sich das Gefühl immer tiefer in unserem Gehirn verankern, daß es ein Leben ohne so etwas nicht geben kann, egal, ob wir es nun Liebe nennen oder nicht. Vielleicht stellen wir auch einfach nur fest, daß wir auftauchende Probleme und Spannungen in unseren Beziehungen zu anderen Menschen besonders gut lösen können, indem wir all unsere Sinne und unsere ganze Wahrnehmungsfähigkeit einsetzen, um eintre68 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

tende Veränderungen in der uns umgebenden Welt, beispielsweise des Gesichtsausdruckes, der Stimme, der Körperhaltung eines anderen Menschen rechtzeitig zu erkennen und entsprechend sensibel auf die Signale zu reagieren, die er nicht auszusprechen wagt. Je öfter uns das gelingt, um so besser werden die für die Verarbeitung komplexer und subtiler sinnlicher Wahrnehmungen verantwortlichen Verschaltungen nutzbar gemacht. Mit jeder erfolgreich bewältigten Belastung, jeder bestandenen Herausforderung wird unter dem Einfluß der bei der kontrollierbaren Streßreaktion stattfindenden Aktivierung des noradrenergen Systems das jeweils empfundene Gefühl in Form von bestimmten, dieser Empfindung zugrundeliegenden neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn verankert. Diese Bahnungsprozesse sind um so intensiver, je früher sie erfolgen und je häufiger die entsprechenden Verschaltungen bei Herausforderungen und Belastungen aktiviert werden. Welche Verschaltungen für welche Gefühle gebahnt werden, hängt davon ab, was der einzelne empfindet, wenn es ihm wieder einmal gelungen ist, eine Bedrohung abzuwenden oder eine Herausforderung zu bestehen. Ihn interessiert dabei nicht, wie diejenigen sein Verhalten beurteilen, die ihm nichts bedeuten und ihm keine Sicherheit bieten. Der einzige Maßstab für die Bewertung des Erfolges seiner Bemühungen, die Angst zu bewältigen, ist seine persönliche Einschätzung und das Urteil, ihm nahestehender, Sicherheit bietender Bezugspersonen. Wenn also jemand bereits sehr früh und häufig genug die Erfahrung macht, daß Probleme dadurch lösbar werden, daß er oder jemand, der ihm Sicherheit zu bieten scheint, wild um sich schlägt, so wird sich in ihm das Gefühl festigen, daß aggressives Verhalten besonders gut geeignet ist, um Ängste zu bewältigen und Sicherheit zu schaffen. 69 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

In gleicher Weise kann durch immer wieder erfolgreich eingesetztes unterwürfiges Verhalten während der frühen Kindheit später ein zwanghaftes Aufopferungsbedürfnis, durch erfolgreiche Anlehnung zwanghafte Abhängigkeit, durch eigensüchtiges Verhalten Egozentrik, durch erfolgreiche Verdrängung, Insensibilität und Gefühlsarmut gebahnt werden. Die Liste der auf diese Weise entstehenden neurotischen Fehlhaltungen ist lang. Sie umfaßt das gesamte Spektrum der innerhalb der Bevölkerung eines bestimmten Kulturkreises zu einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung herausgeformten, tolerierten und durch gesellschaftliche Normen sanktionierten Verhaltensweisen und Gefühlswelten. Gefährlich werden derartige Fixierungen dann, wenn sie den einzelnen oder ganze Gesellschaften zunehmend daran hindern, neue Lösungswege zur Bewältigung der Angst vor neuartigen Herausforderungen zu suchen.

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Wenn einer, der mit Mühe kaum geklettert ist auf einen Baum, schon meint, daß er ein Vogel wär, so irrt sich der. Wilhelm Busch

Neue Wege Die Wege des Lebens führen selten geradeaus, so sehr wir uns das vielleicht auch manchmal wünschen. Wir sind eben nicht allein auf dieser Welt. Kaum haben wir mit Hilfe des noradrenergen Systems die Verschaltungen für eine ganz bestimmte Verhaltensstrategie gebahnt, mit der wir wunderbar vorankommen, weil sie uns alle bisher in unserem Leben aufgetauchten Untiefen und Schlaglöcher immer besser vermeiden oder durchfahren hilft, schon steht uns wieder irgend jemand oder irgend etwas Neues, bisher noch nicht Dagewesenes im Wege. Fatalerweise trifft uns so etwas um so härter, je fester sich in unserem Kopf die Überzeugung gebildet hatte, auf dem einmal eingeschlagenen Weg ganz besonders gut voranzukommen. Oft haben wir ein halbes Leben gebraucht, um zu begreifen, wie wir beruflich, bei Männern oder bei Frauen vorankommen, Karriere machen, den Haushalt perfekt beherrschen oder anderen ganz besonders imponieren können. Sie wissen besser als ich, was Ihnen sonst noch alles eingefallen ist, um sich immer glatter um all das im Leben vorbei- oder hindurchzuwinden, was bei Ihnen anfangs noch Verunsicherung, Angst und Streß ausgelöst hat. Aber, ob Sie es nun schon erlebt haben oder nicht, und obwohl wir es uns immer wieder wünschen: Viel Erfolg zählt zum Schlimmsten, was einem im Leben passieren kann. Wer immer wie71 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

der mit der gleichen Strategie erfolgreich vorankommt, der wird am Ende einem Rennpferd immer ähnlicher, einem Rennpferd, das sich selbst die Scheuklappen immer fester überzieht. Er sieht immer weniger von dem, was rechts und links von ihm passiert, merkt nicht, wie sich die Rennstrecke allmählich verändert oder daß ihm jemand einen Knüppel in den Weg legt. Dann macht es platsch, und er liegt auf der Nase, oder er erkennt plötzlich, daß er sich hoffnungslos verrannt hat. Er stellt fest, daß er so viel Zeit und Aufmerksamkeit in seinen Beruf, in seine Karriere gesteckt hat, daß ihm gar nicht aufgefallen ist, wie ihm Frau und Kinder immer fremder wurden, bis sie sich nun endgültig von ihm getrennt haben, oder daß er all die Warnungen aus seinem Körper ignoriert hat, bis er im Krankenhaus aufwacht, weil ihm sein Herz von heute auf morgen den weiteren Dienst in der bisherigen Weise versagt. Manchem fallen die Scheuklappen erst dann von den Augen, wenn er trotz seiner guten Arbeit für die Firma entlassen wird, weil unfähige Manager sie bankrott gemacht haben, wenn er sein halb abbezahltes, mit so viel Mühe gebautes Häuschen für einen Spottpreis verkaufen muß, wenn die Bank ihn und seine Familie im Regen stehen läßt, weil er die monatlichen Raten nicht mehr bezahlen konnte. Nun ist guter Rat teuer und auch nicht so schnell zu bekommen. Jetzt kommt es wieder, dieses sonderbare, schon längst vergessene und für immer überwunden geglaubte Gefühl im Bauch. Man macht noch zwei, drei vergebliche Versuche, doch noch mit dem Kopf durch die Wand, mit den alten Strategien durch die neuen Anforderungen zu kommen, und dann steckt die Karre endgültig fest. Die untergründige Angst, und mit ihr die im Gehirn ausgelöste Streßreaktion, ist nicht mehr aufzuhalten, sie wird unkontrollierbar. Hilflosigkeit und Verzweiflung machen sich breit, und der Körper wird immer wieder von den 72 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Wellen an Streßhormonen überschwemmt, die bei derartigen unkontrollierbaren Belastungen zwangsläufig ausgeschüttet werden, tagelang, manchmal wochenlang. Diese fortwährende Überflutung des Körpers mit Streßhormonen bleibt nicht folgenlos, und je länger sie anhält, um so schwerwiegender sind ihre Auswirkungen auf die verschiedensten Organe und deren Funktionen. Die Unterdrückung der Bildung von Sexualhormonen ist wohl noch der harmloseste Effekt, denn die Begeisterung für Sex ist angesichts der sich ausbreitenden Angst und Verzweiflung meist ohnehin schon auf den Nullpunkt gesunken. Schlimmere Konsequenzen hat die durch eine derartig andauernde Erhöhung der Streßhormonspiegel ausgelöste Unterdrückung der körpereigenen Abwehrmechanismen. Ein Erreger nach dem anderen kann sich nun ungehindert im Körper ausbreiten, und es dauert sehr lang, bis der Körper sich wieder einigermaßen von diesen Krankheiten erholt hat. Natürlich ist auch der Schlaf gestört. Er wird von unruhigen Träumen zerfahren und spendet kaum noch Kraft und Erfrischung für den kommenden Tag. So gerät allmählich alles aus dem Gleis, es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann das schwächste Glied in der Kette, die unseren Körper zusammenhält, zerbricht. Wir ahnen, daß es so nicht weitergeht, daß eine Lösung gefunden, daß unser Leben verändert werden muß. Nur wie? Immer wieder suchen wir unser Gehirn nach einer brauchbaren Verschaltung ab, und jedesmal merken wir, wie unsere Gedanken automatisch in die alten bequemen Bahnen der inzwischen unbrauchbar gewordenen Straßen unseres Denkens und Empfindens rutschen. So fest sitzt das alles. So tiefe Spuren haben wir, ahnungslos und vom Erfolg geblendet, in unser Gehirn eingegraben. Mit eigener Kraft kommen wir hier nur schwer wieder heraus. 73 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Völlig ohne unser Zutun geschieht jedoch, solange dieser Zustand einer unkontrollierbaren Belastung anhält, etwas in unserem Gehirn. Ganz allmählich und ohne daß wir etwas davon merken, weichen die Streßhormonwellen, die ja ständig auch unser Gehirn, seine Nervenzellen und ihre Verschaltungen überfluten, die dort entstandenen Straßen auf. Wie die Meeresbrandung bei Sturmflut Straßen und Dämme unterspült, zerlöchert und unbrauchbar macht, trägt auch die ständige Anflutung von Streßhormonen dazu bei, die bereits ausgebildeten Strukturen, die bereits entwickelten Spezialisierungen, die bereits entstandenen, gebahnten Verschaltungen allmählich aufzulösen. Die im Blut zirkulierenden Glukokortikoide gelangen problemlos in das Gehirn und binden an die im Zytoplasma von Nervenund Gliazellen vor allem in limbischen und kortikalen Regionen reichlich vorhandenen Glukokortikoidrezeptoren. Die so entstandenen Hormon-Rezeptor-Komplexe wandern in den Zellkern und bewirken dort (als Liganden-gesteuerte Transkriptionsfaktoren) nachhaltige Veränderungen der Genexpression und damit der bisherigen Leistungen und Funktionen dieser Zielzellen. In Abhängigkeit von der Dosis, der Dauer der Einwirkung und des jeweiligen Zustands ihrer Zielzellen können Glukokortikoide sowohl degenerative als auch regenerative Wirkungen ausüben. Darüberhinaus haben sie eine permissive Wirkung, das heißt, sie verstärken oder verringern die Antwort ihrer Zielzellen auf andere Signale. So können Glukokortikoide in niedrigen Konzentrationen das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen fördern (McEwen und Brinton 1987), in höheren Konzentrationen jedoch hemmen (McEwen u.a. 1993). Nervenzellen, die besonders viele Glukokortikoidrezeptoren besitzen, wie die Pyramidenzellen des Hippokampus, sind zwangsläufig besonders empfindlich für die Wirkungen von Kortikosteroiden. Sie degenerieren, wenn der Kortisolspiegel durch Entfernen der Nebennieren von Versuchstieren abfällt (McEwen u.a. 1992). Ihre Dendritenbäume degenerieren aber auch und die Neurone sterben unter Umständen sogar ab, wenn es infolge längerdauernder unkontrollierbarer Streßreaktionsprozesse zu stark erhöhten Glukokortikoidspiegeln kommt (Sapolski u.a. 1985; Uno u.a. 1989; Fuchs u.a. 1995;). Von diesen degenerativen Wir-

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kungen sind vor allem solche Neurone und deren Fortsätze betroffen, die zusätzlich durch fortgesetzte erregende Eingänge (Glutamat) übermäßig stimuliert werden (Sapolsky 1990). Gleichzeitig führt die langanhaltende Aktivierung von Glukokortikoidrezeptoren zur Unterdrückung der Synthese und Ausschüttung von neurotrophen Faktoren durch Gliazellen (Smith u.a. 1995). Interessant sind auch die Wirkungen von Glukokortikoiden auf die Funktion der monoaminergen Systeme, speziell des noradrenergen Systems. So wird die Noradrenalin-induzierte Stimulation der cAMP-Bildung (Substanz der intrazellulären Signalübertragung) in Neuronen und Gliazellen durch langfristig erhöhte Glukokortikoidspiegel gehemmt (Roberts u.a. 1984; DeKloet u.a. 1986), die Noradrenalinausschüttung verringert und der Noradrenalin-Umsatz reduziert (Lachuer u.a. 1992; Buda u.a. 1994). Durch starke Streßbelastungen kommt es sogar zur Degeneration noradrenerger Axone und einer daraus resultierenden Verringerung der noradrenergen Innervationsdichte im Kortex (Nakamura u.a. 1991). Die mit unkontrollierbarem Streß einhergehende Stimulation der Glukokortikoidausschüttung beeinflußt aber nicht nur das noradrenerge System, auch serotonerge, dopaminerge und peptiderge Mechanismen der Signalübertragung im ZNS werden durch Glukokortikoide langfristig moduliert. Im Verlauf unkontrollierbarer Belastungen kommt es auch zu einem massiven Abfall der Produktion und Ausschüttung von Sexualsteroiden, die ihrerseits als trophische Faktoren an der Regulation struktureller Reorganisationsprozesse im ZNS beteiligt sind (Rivier u.a. 1986; Rabin u.a. 1988). Generell zeigen Tierversuche einen hochinteressanten und sehr konsistenten Effekt: Hohe Spiegel von Glukokortikoiden, wie sie physiologischerweise bei unkontrollierbarem Streß erreicht werden, faszilitieren die Extinktion von erlernten Verhaltensreaktionen und führen zur Elimination vor allem solcher Verhaltensweisen, die für eine erfolgreiche Beendigung des Streß-Reaktions-Prozesses ungeeignet sind (Bohus und DeWied 1980; VanWimersma-Greidanus 1989). Die mit unbewältigbaren Belastungen einhergehenden langanhaltenden neuroendokrinen Veränderungen können also offenbar – über die von ihnen ausgelösten plastischen Veränderungen neuronaler Verschaltungsmuster in limbischen und kortikalen Hirnregionen, vor allem durch die Destabilisierung und Auflösung bisher stabilisierter Verbindungen – zu sehr grundsätzlichen Veränderungen des Denkens, Fühlens und Handelns eines Individuums führen.

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Die Aneignung neuer Bewertungs- und Bewältigungsstrategien, grundlegende Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln werden durch die vorangehende Destabilisierung und Auslöschung unbrauchbar gewordener Muster erst ermöglicht. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß vor allem Umbruchphasen wie die Pubertät oder andere psychosoziale Schwellensituationen, die zu psychosozialen Neuorientierungen zwingen, besonders häufig mit langanhaltenden, unkontrollierbaren psychischen Belastungen einhergehen. Vereinfacht ausgedrückt heißt das: Unkontrollierbarer Streß kann veraltete, für neuartige Anforderungen unbrauchbare Bewertungs- und Bewältigungsmuster durch überwiegend degenerative Veränderung der ihnen zugrundeliegenden neuronalen Verschaltungen destabilisieren und auslöschen. Ein solcher Prozeß geht, je länger er anhält, mit einer zunehmenden Labilisierung und der Gefahr einer Dekompensation des Individuums einher. Da diese Destabilisierungen die Entstehung eine Vielzahl körperlicher und geistiger Erkrankungen begünstigen, wurden in der Streßforschung bislang fast ausschließlich die pathogenen Auswirkungen unkontrollierbarer Belastungen untersucht, und »tonische Aktivierung« als etwas Destruktives und zu Vermeidendes angesehen (»Dysstress«).

Wieder einmal ist unser Gehirn und unser Körper so viel schlauer, als wir uns das vorzustellen bereit sind. Wenn es in einer bestimmten Richtung nicht mehr weiterzugehen scheint, wird ganz einfach all das aufgelöst und weggespült, was uns so hartnäckig daran hindert, eine andere Richtung einzuschlagen, neue Wege des Denkens und Fühlens auszuprobieren. Das ist es also, was unsere Großeltern meinten, wenn sie sagten: »Wenn einer lange genug mit dem Kopf gegen die Wand gerannt ist, wird es drinnen schon weich werden«. Aber auch dieser eingebaute Mechanismus, der die immer neue Anpassung der in unserem Gehirn angelegten Verschaltungen an die jeweiligen Erfordernisse unserer Lebenswelt ermöglicht, kann überschießen. Ebenso wie es durch übermäßige Bahnungsprozesse im Verlauf wiederholter kontrollierbarer Belastungen zur neurotischen Fixierung des Denkens, Fühlens und 76 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Handelns eines Menschen kommen kann, kann die Destabilisierung neuronaler Verschaltungen bei langanhaltenden unkontrollierbaren Belastungen tiefer reichen und mehr auflösen, als eigentlich erforderlich wäre. Die mit Verzweiflung und Ratlosigkeit einhergehende unkontrollierbare Streßreaktion ist die Voraussetzung dafür, daß wir einen neuen, geeigneteren Weg zur Bewältigung der Angst finden. Dauert sie zu lange an, so werden die immer wieder anflutenden Streßhormonwellen zu einer wachsenden Gefahr für unsere geistige, emotionale und körperliche Integrität. Eine kleine Sicherung ist in unserem genetischen Programm auch für diesen Fall noch eingebaut. Die hohen Kortisolspiegel wirken nämlich wie eine Bremse auf diejenigen Zellen im Gehirn und im Körper, die durch Streßbelastungen übermäßig aktiviert werden. Jeder weiß, daß ein Auto mit Vollgas und angezogener Handbremse nicht lange fährt. Er sollte deshalb in der Lage sein, auch die aus seinem Körper kommenden Störgeräusche, die Anzeichen eines überhitzten Motors und abgefahrener Bremsbeläge wahrzunehmen, anzuhalten und sich auf den nächstbesten Hügel zu setzen, um darüber nachzudenken, wo die Ursachen dieser Störung liegen. Erst dann, wenn die breiten Straßen und Autobahnen in seinem Hirn weggeräumt und eingeschmolzen sind, hat der Mensch die Freiheit wiedergewonnen, mit seinen Gedanken nun auch einen der vielen anderen, selten benutzten und fast vergessenen kleinen Wege zu begehen. Erst jetzt kann er sich wirklich auf die Suche machen, auf die Suche nach einem ganz anderen, neuen Weg. Jetzt hat er die Chance, eine alte Verschaltung wiederzuentdecken, deren Benutzung dazu führt, daß die unlösbar geglaubten Probleme sich entweder in Luft auflösen, weil er erkennt, daß sie gar keine wirklichen Probleme waren, oder daß er sie letztlich doch, wenngleich ganz anders, als er sich das ursprünglich 77 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

vorgestellt hatte, beiseite räumen kann. Die Angst ist weg, die unkontrollierbare Streßreaktion ist kontrollierbar geworden. Jetzt kann er tief durchatmen, und im vorangehenden Kapitel (vorsichtshalber) noch einmal nachlesen, wie es weitergeht.

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Es wandert eine schöne Sage Wie Veilchenduft auf Erden um, Wie sehnend eine Liebesklage Geht sie bei Tag und Nacht herum. Das ist das Lied vom Völkerfrieden Und von der Menschheit letztem Glück, Von goldner Zeit, die einst hienieden, Der Traum als Wahrheit kehrt zurück, ... Wer jene Hoffnung gab verloren Und böslich sie verloren gab, Der wäre besser ungeboren: Denn lebend wohnt er schon im Grab. Gottfried Keller

Der intelligente Weg Ich ahne schon, daß diejenigen, die nur das Kleingedruckte lesen, nun allmählich Probleme haben, dem Großgedruckten zu folgen. Deshalb wollen wir das, was wir uns inzwischen erarbeitet haben, noch einmal in kleiner Schrift auf den Punkt bringen. Die Offenheit aller lebenden Systeme macht ihre innere Ordnung störanfällig für Änderungen ihrer Außenwelt. Solche Veränderungen führen jedoch normalerweise nicht zu chaotischen Störungen ihrer bisher entwickelten inneren Struktur und Organisation. Jedes lebende System verfügt über eine Reihe von Mechanismen, die dazu beitragen, Veränderungen der Außenwelt abzupuffern, abzuschwächen oder ihnen auszuweichen, und die in Abhängigkeit von ihrer Nutzung immer besser ausgebaut und fortentwickelt werden. Anschauliche Beispiele derartiger adaptiver Modifikationen finden sich auf der Ebene körperlicher Merkmale (Änderungen der Schwanzlänge bei Mäusen bei veränderter Außentemperatur, verstärkte Keratinisierung der Haut bei erhöhter Beanspruchung etc.) wie auch auf der Ebene psychischer Reaktionen (Verdrängung, Abschirmung, selektive Aufmerksamkeit etc.). Zu derartigen adaptiven Modifika-

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tionen kommt es immer dann, wenn die Störung der Außenwelt und damit das Ausmaß der im System erzeugten Unordnung gering bleibt und geeignete Reaktionen zur Beseitigung der Störung angelegt sind und aktiviert werden können, wenn es sich also für das betreffende System um eine kontrollierbare Belastung handelt. Die zwangsläufige Konsequenz wiederholter, kontrollierbarer Belastungen ist die Bahnung, der Ausbau, die schrittweise Verbesserung der Effizienz der zur Beseitigung der Störung (des Stressors) benutzten Mechanismen. Sie führt im Fall wiederholter gleichartiger kontrollierbarer Belastungen zur Herausbildung ganz bestimmter Spezialisierungen und endet damit, daß die betreffende Störung schließlich durch eine zur Routine gewordene Reaktion abgefangen und unwirksam gemacht werden kann. Der Ausbau von Mechanismen, die besonders geeignet sind, eine ganz bestimmte Art von Störungen der inneren Ordnung eines lebenden Systems aus der Außenwelt zu unterdrücken, hat zur Folge, daß das betreffende System gegenüber andersartigen, bisher selten aufgetretenen Störungen anfällig wird, anfälliger als ein System, das im Verlauf seiner bisherigen Entwicklung einer Vielzahl verschiedenartiger kontrollierbarer Belastungen ausgesetzt war. Die zunehmende Spezialisierung eines Systems auf die Beseitigung ganz bestimmter Störungen schränkt zwangsläufig seine Fähigkeit ein, adäquat auf andere, bisher seltener aufgetretene Veränderungen seiner Außenwelt zu reagieren. Wenn sie eintreten, kommt es zu einer wesentlich tiefgreifenderen Störung der inneren Ordnung des Systems, die nun nur noch durch die Aktivierung unspezifischer »Notfall«-Reaktionen für eine gewisse Zeit aufrechterhalten werden kann. Kann keine geeignete Abwehrstrategie aktiviert werden, bleibt die Störung also unkontrollierbar, so kommt es zu einer zunehmenden Destabilisierung des Systems und der bisher von diesem System entwickelten Spezialisierungen. Diese Destabilisierung ist die notwendige Voraussetzung für eine Neuorganisation seiner inneren Ordnung. Als Ergebnis dieser adaptiven Reorganisation können neuartige Strategien und Reaktionen herausgeformt werden, die destabilisierende Einflüsse aus der Außenwelt verringern. Durch die wiederholte Aktivierung und erfolgreiche Benutzung dieser Mechanismen kommt es zur Bahnung und Festigung dieser Neuentwicklungen und damit zu einer Verbesserung der adaptiven Potenz des betreffenden Systems. Die Reaktion des ZNS auf entweder kontrollierbare oder unkontrollierbare Belastungen und ihre unterschiedlichen Auswirkungen auf die Struktur und

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Organisation verhaltenssteuernder neuronaler Netzwerke ist lediglich ein besonders anschauliches Beispiel für die durch kontrollierbare und unkontrollierbare Störungen ausgelösten adaptiven Modifikationen beziehungsweise Reorganisationen der inneren Struktur und Organisation lebender Systeme auf allen Ebenen. Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein generelles Entwicklungsprinzip, das beschreibt, auf welche Weise die immer wieder auftretenden (und zumeist von einem lebenden System selbst erzeugten) Veränderungen der äußeren Bedingungen zu entsprechenden Veränderungen der inneren Struktur und Organisation lebender Systeme führen. Es gilt als Prinzip für jedes lebende System, gleichgültig, ob es sich hierbei um eine Zelle, einen Organismus, eine Population oder eine Gesellschaft handelt. Jedes System produziert bei einer Störung seiner inneren Ordnung ein charakteristisches Muster von Signalen, das gewissermaßen eine physikalische, chemische oder sprachliche Kodierung von Art und Ausmaß der Störung darstellt. Diese zuerst von bestimmten Teilbereichen des Systems generierten, allgemeinverständlichen Signale breiten sich innerhalb des Systems aus und lösen in anderen Subsystemen ihrerseits charakteristische Veränderungen der inneren Ordnung aus. Art und Ausmaß dieser nunmehr Signal-kodierten Veränderungen sind jedoch eindeutiger definiert und lösen spezifische Antworten aus, die im Fall kontrollierbarer Störungen zur Festigung, im Fall unkontrollierbarer Störungen zur Destabilisierung der in einzelnen Bereichen des Gesamtsystems bisher etablierten inneren Struktur und Organisation führen. Beide Arten von Streßreaktionen, also die kontrollierbaren Herausforderungen als auch die unkontrollierbaren Belastungen tragen, in jeweils spezifischer Art und Weise zur Strukturierung des Gehirns, also zur Selbstorganisation neuronaler Verschaltungsmuster im Rahmen der jeweils vorgefundenen äußeren, psychosozialen Bedingungen bei: Herausforderungen stimulieren die Spezialisierung und verbessern die Effizienz bereits bestehender Verschaltungen. Sie sind damit wesentlich an der Weiterentwicklung und Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale beteiligt. Schwere, unkontrollierbare Belastungen ermöglichen durch die Destabilisierung einmal entwickelter, aber unbrauchbar gewordener Verschaltungen die Neuorientierung und Reorganisation von bisherigen Verhaltensmustern.

Wissen Sie, was ein sich selbst organisierendes System ist? Ich auch nicht. Aber unser Gehirn scheint genau so etwas zu sein, ein System, das seine innere Organi81 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

sation immer wieder neu an die jeweils vorgefundenen äußeren Bedingungen anpaßt. Bleiben diese Bedingungen über längere Zeit gleich, bleiben auch die einmal zur Bewältigung dieser Anforderungen eingeschlagenen Lösungswege und die dabei benutzten Verschaltungen so wie sie sind. Wenn diese Anforderungen zunehmen, passiert zunächst erst einmal gar nichts. Das Gehirn arbeitet weiter wie ein Computer, der nicht mitbekommt, daß er zu langsam und seine Festplatte zu klein ist. Sobald wir aber spüren, daß die Anforderungen anfangen, unsere Fähigkeiten zu überschreiten, schaltet unser Gehirn einen Mechanismus ein, der diejenigen Verschaltungen ausbaut, bahnt und effizienter nutzbar macht, die zur Bewältigung der betreffenden Anforderungen gebraucht werden. Wenn sich nun die Art dieser Anforderungen grundsätzlich verändert, passiert wieder gar nichts. Wieder arbeitet das Gehirn weiter wie ein zwar intelligenter, lernfähiger Computer, der aber nicht merkt, daß er auf dem falschen Programm läuft. Wenn wir jedoch spüren, daß sich inzwischen etwas ganz grundsätzlich verändert hat, daß wir mit den bisherigen Strategien nicht mehr weiterkommen, schaltet unser Gehirn einen Mechanismus ein, der die zu stark gebahnten Verschaltungen auflöst. So werden wir in die Lage versetzt, noch einmal ganz woanders anzufangen, etwas Neues zu versuchen und, wenn es funktioniert, umzulernen. An diesem Punkt stürzt jeder noch so schnelle und gescheite Computer garantiert ab. Es sei denn, er wäre so konstruiert, daß auch er spürt, daß etwas an seinem Programm nicht stimmt, daß er so etwas wie Angst empfindet und deshalb so etwas wie eine unkontrollierbare Streßreaktion in seinem Inneren ausgelöst wird. Im Verlauf dieser Reaktion müßte er nicht alle, sondern nur diejenigen seiner bisher benutzten Programmteile, die für die neuen Aufgaben nicht zu gebrauchen sind, nicht einfach nur löschen, sondern irgendwie abschwächen. 82 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Merken Sie, wo es bei allen noch so ausgefeilten Maschinen, die wir bauen können, klemmt, wo es immer wieder klemmen wird? Sie bekommen einfach nicht mit, was in der Welt passiert, wenn wir es ihnen nicht vorher sagen und ihnen irgendwie einprogrammieren. Was sie nicht von uns wissen, merken sie nicht, und was wir ihnen gestern gesagt haben, kann morgen schon ganz falsch sein, denn wir leben in einer sich ständig verändernden Welt. Um wirklich vorhersehen zu können, wie sich diese Welt verändern wird, müßten wir sie in Kenntnis der diesen Veränderungen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten bewußt gestalten. Dann wäre nicht nur unser Gehirn, sondern auch die ganze uns umgebende Welt ein sich selbst optimierendes System. Visionäre einer solchen Welt, wie Teilhard de Chardin (1959) oder Erich Fromm (1979), haben uns immer wieder zu sagen versucht, worauf es hierbei vor allem ankommt: Wir müssen noch viel genauer sehen lernen und besser merken, was um uns herum geschieht und wie wir unsere Lebenswelt durch unser Handeln verändern. Wir dürfen nicht blind und nur deshalb, weil wir und andere es bisher so getan haben, einzelne Wege unseres Denkens, Fühlens und Handelns zu Autobahnen werden lassen, die wir selbst dann nicht mehr verlassen können, wenn absehbar wird, daß diese in die falsche Richtung führen.

Damit in den Gehirnen möglichst vieler Menschen keine breiten Straßen, sondern möglichst viele kleine und vielfach verzweigte Wege entstehen, damit Menschen frei werden, den Träumen anderer zu lauschen und nach gemeinsamen Wegen zu suchen, um sie wahr werden zu lassen, müssen sie hellwach sein und dürfen sich nicht wie ein Computer programmieren lassen. Sie müssen merken, was um sie herum passiert. Sie müssen äußerst empfindliche Antennen ausbilden, um so früh wie möglich erkennen zu können, wenn sich die Verhältnisse, in denen sie leben und von denen ihr Überleben abhängt, zu verändern beginnen. Sobald sie eine derartige Veränderung wahrnehmen, 83 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

müssen in ihrem Gehirn die Alarmglocken zu läuten beginnen. Ich glaube, es wird höchste Zeit, daß wir uns anschauen, wie und wodurch unser Gehirn doch immer wieder unbemerkt wie ein Computer programmiert wird.

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Du mußt das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest. Und laß dir jeden Tag geschehen so wie ein Kind im Weitergehen von dem Wehen sich viele Blüten schenken läßt. Sie aufzusammeln und zu sparen, das kommt dem Kind nicht in den Sinn. Es löst sie leise aus den Haaren, drin sie so gern gefangen waren, und hält den lieben jungen Jahren nach neuen seine Hände hin. Rainer Maria Rilke

Spurensuche Wir sind damit wieder bei der alten Frage angekommen, warum wir so sind, wie wir sind, durch was unser Denken, Fühlen und Handeln tatsächlich bestimmt wird. Einer, der intensiv nach einer Antwort auf diese Frage gesucht hat und dabei ebenso Bemerkenswertes wie Bizarres aus den frühen Kindheitserinnerungen Erwachsener zutage gefördert hat, war Sigmund Freud. Er hatte, ebenso wie vor ihm Karl Marx und Charles Darwin, begriffen und – was wohl das wichtigste war – seinen Zeitgenossen auch begreiflich machen können, daß sich das, was ist, nur verstehen läßt, indem man sich fragt, wie es so, wie es ist, geworden ist. Wenn der Weg, den ein Mensch, den die menschliche Gesellschaft oder den eine bestimmte Tierart im Lauf der Zeit zurücklegt, von so vielen Ereignissen beeinflußt und in seiner Richtung bestimmt wird, wie das nun einmal der Fall ist, dann wird eine solche Spurensuche zu einem mühsamen Unterfangen. Wenn dann noch jeder an einer anderen Stelle und nach anderen Einflüssen zu suchen beginnt, ist das chaotische Ende all dieser Bemühungen vorprogrammiert. 85 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

So sind die Psychoanalytiker auf ihrem Weg bei der frühen Kindheit und den unterdrückten sexuellen Wünschen angekommen, die Entwicklungspsychologen bei den Stufen des kindlichen Abstraktionsvermögens, bei dem, wie und was Kinder lernen, die Epigenetiker bei den vorgeburtlichen Einflüssen im Mutterleib, die Genetiker bei den ererbten, die frühe Hirnentwicklung steuernden genetischen Programmen und die Soziobiologen bei dem, was diese Gene in grauer Vorzeit vielleicht dazu gebracht haben mag, unser Verhalten noch heute zu steuern. Alle kommen zu Erkenntnissen und Aussagen, die ein Stück weit tragen und überzeugen, – bis sie anfangen, einander zu widersprechen und sich gegenseitig zu entwerten. Das Durcheinander ist perfekt, alle haben Recht, aber jeder eben nur ein bißchen. Und wir, was machen wir? Wir gestatten immer demjenigen, seine Meinung am lautesten zu verkünden, dessen Auffassung davon, wie wir so geworden sind, wie wir sind, uns zur Zeit am besten in den Kram paßt. Wollen wir gerade einmal die Welt verändern, holen wir Freud und Piaget und all diejenigen hervor, die uns darin bestärken, daß der Mensch sich ändern, daß er erzogen werden kann. Sind die Weltverbesserer wieder einmal mit ihren Konzepten gescheitert, wird den Genetikern und Soziobiologen das Wort erteilt und Gelegenheit gegeben, ihren Graben noch etwas tiefer auszuheben. So geht das Pendel hin und her, bis – ja, bis was? Bis uns entweder die Kraft oder ganz einfach die Lust vergeht, es ständig wieder anzustoßen. Irgendwann bleibt es dann stehen. Unten, in der Mitte. Es ist noch nicht ganz so weit, aber es scheint so, als könnten wir diesen Zustand, der nur noch durch das Gewicht, nicht den Schwung der Argumente bestimmt wird, noch selbst miterleben. Dann erst hätten wir Gelegenheit, unbefangen von allen Seiten genauer hinzuschauen, und würden feststellen, daß die Herausbil86 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

dung der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten eines Menschen sowohl von gewissen angeborenen Voraussetzungen als auch von den während seiner Entwicklung vorgefundenen Bedingungen abhängt. Als erstes würden wir sehen, was jede Hebamme schon lange weiß, daß es nämlich keine zwei Neugeborenen gibt, ja nicht einmal eineiige Zwillinge, die sich in jeder Hinsicht gleichen. Jeder Mensch ist bereits dann, wenn er geboren wird, anders als alle anderen. Er sieht nicht nur anders aus, er verhält sich auch anders. Der eine ist ruhiger, der andere lauter, der eine interessierter an dem, was ihn umgibt, der andere weniger, der eine läßt sich durch fast nichts erschüttern, der andere schreit bei jeder Kleinigkeit, der eine verhält sich fordernd, der andere nachgiebig. Jeder für sich ist einzigartig. Bereits unmittelbar nach der Geburt ist schon nicht mehr auseinanderzuhalten, was von dieser Einzigartigkeit durch die von den Eltern stammenden genetischen Programme verursacht und was davon bereits das Ergebnis von Einflüssen ist, denen das Neugeborene während seiner sehr langen und äußerst komplizierten Entwicklung im Mutterleib ausgesetzt war. Die Entwicklung des kindlichen Gehirns folgt einem grundsätzlichen Entwicklungsprinzip aller lebenden Systeme: Neue Interaktionen (hier: neuronale Verbindungen und synaptische Verschaltungen) können nur im Rahmen und auf der Grundlage bereits etablierter Interaktionsmuster ausgebildet und stabilisiert werden. Dabei müssen sie den bereits entwickelten Interaktionsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Subsystemen folgen. Wie alle lebenden Systeme entwickelt sich auch das Gehirn nur dann, wenn neuartige Bedingungen auftreten, die die Stabilität der bereits etablierten Interaktionen in Frage stellen. Solche Bedingungen werden oft von dem sich entwickelnden System selbst verursacht (im sich entwickelnden Gehirn etwa durch Proliferation von neuralen Zellen, Auswachsen von Fortsätzen, Sekretion von wachstumshemmenden und -stimulierenden Faktoren etc.). Solange das der Fall ist, verläuft die (Hirn)Entwicklung weitgehend autonom, selbstorganisiert und eigendynamisch innerhalb der jeweils herrschenden äußeren

87 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

(intrauterinen) Bedingungen. In dem Maße, wie Proliferation und Wachstum erlöschen, verliert das sich entwickelnde Gehirn eine wesentliche Triebfeder seiner Eigendynamik. In dem Maße, wie das sich entwickelnde Gehirn zunehmend Verbindungen zur Außenwelt erlangt, werden die bereits etablierten Verschaltungen und Erregungsmuster über die entsprechenden sensorischen Eingänge zunehmend von außen beeinflußbar. Mehr noch, da nun die durch sensorische Eingänge getriggerten Erregungsmuster dazu führen, daß bestimmte neuronale Verschaltungsmuster stabilisiert werden können, hängt die Stabilität dieser Verschaltungen von den jeweiligen sie stabilisierenden Eingängen und Erregungsmustern ab. Von diesem Zeitpunkt an verläuft die Hirnentwicklung nicht mehr autonom gegenüber sensorischen Inputs, sondern sie wird durch die sensorischen Eingänge aus der Außenwelt bestimmt und bleibt von ihnen abhängig.

Jeder von uns hat bis zum Zeitpunkt seiner Geburt schon eine ganze Menge gelernt. Wenn er auf die Welt kommt, weiß er zumindest eines sehr genau, nämlich was Geborgenheit bedeutet. Jetzt lernt er die Angst kennen, und er spürt die Auswirkungen der damit einhergehenden Streßreaktion an seinem ganzen Körper. Es geht um das nackte Überleben, und er kennt zunächst nur eine Lösung: Er schreit und versucht verzweifelt, wenigstens einen Zipfel dieser Wärme und Abgeschirmtheit, dieser sicheren Versorgung und dieses schwimmenden schwerelosen Schaukelns im Bauch der Mutter wiederzufinden. Alles, was er von dort bereits kennt, den Herzschlag der Mutter oder eine immer wieder gehörte Melodie, selbst Gerüche, die er nun wiedererkennt, hilft ihm, die Angst zu unterdrücken, die er in seiner völlig neuen Welt erlebt. Er strebt immer wieder dorthin zurück, und indem er das tut, macht er eine neue Erfahrung nach der anderen. Zu diesen Erfahrungen zählen all die kleinen Erfolge, die seine Streßreaktion kontrollierbar machen. Dabei werden diejenigen Verschaltungen in seinem Gehirn gebahnt, die er bei seiner Suche nach dem verlorengegangenen Glück immer wieder benutzt. 88 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Oberflächlich betrachtet sehen viele dieser initial beobachtbaren Verhaltensreaktionen von Neugeborenen so aus, als seien sie von angeborenen, genetisch festgelegten neuronalen Verschaltungen gesteuert. Ein typisches Beispiel hierfür ist die auffällige Zielstrebigkeit, mit der alle neugeborenen Säugetiere die mütterlichen Milchdrüsen suchen und finden. Bei Ratten wurde dieses »Nippelsuchverhalten« genauer untersucht. Es stellte sich heraus, daß die Neugeborenen so zielstrebig auf die Brustwarzen der Mutter zusteuern, weil diese einen Duftstoff absondern, der auch in der Amnionflüssigkeit (Fruchtwasser) enthalten ist, und den die jungen Ratten daher bereits gut kennen. Wäscht man diesen Duftstoff von den mütterlichen Brustwarzen ab, so wird die Brust nicht mehr gefunden. Trägt man nun etwas Amnionflüssigkeit auf das Rückenfell der Mutter auf, so werden die Brustwarzen von den Jungen dort vermutet und vergeblich gesucht. Spritzt man vor der Geburt Zitronenaroma in die Amnionflüssigkeit, so werden die Nippel dort gesucht, wo die Mutter nach Zitrone riecht. Das scheinbar instinktive Nippelsuchverhalten neugeborener Ratten (und vermutlich auch anderer Säugetiere) ist somit Ausdruck der intrauterin beziehungsweise perinatal stattgefundenen Bahnung von assoziativen Verschaltungen zwischen bestimmten Geruchsempfindungen und anderen, die intrauterine Geborgenheit signalisierenden Wahrnehmungen. Nach der »Geburt« von Enten- und Gänseküken führen ähnliche Bahnungsprozesse dazu, daß die frisch geschlüpften Küken der Mutter (oder irgendjemandem, der sich bewegt, selbst einer Spielzeugeisenbahn) nachfolgen. Konrad Lorenz hat dieses Phänomen als Prägung bezeichnet. Damit es dazu kommen kann, muß sich das »Prägungsobjekt« bewegen, das heißt, es muß immer wieder aus dem Blickfeld des Kükens verschwinden. Die dadurch ausgelöste Angst muß durch eine eigene Verhaltensreaktion (Rufen, Nachfolgen) kontrollierbar gemacht werden können. Die im Verlauf dieser wiederholten Streßreaktion stattfindenden zentralnervösen Aktivierungsprozesse führen zur Bahnung der dabei benutzten Verschaltungen und damit zur Festigung bestimmter Verhaltensreaktionen. Am Beispiel der Prägung von Gänseküken auf einen Menschen wird deutlich, welche weitreichenden Konsequenzen derartige, sehr früh stattfindende, besonders intensive Bahnungsprozesse haben können: Eine solche Gans wird später versuchen, sich mit ihrem »Prägungsobjekt« zu paaren.

89 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Das alles passiert allen Neugeborenen und doch hat es jeder von uns etwas anders erlebt. Diejenigen, die kräftig und gesund auf die Welt kamen, fanden sich schneller in der neuen Welt zurecht als die anderen. Die schwächlicheren und empfindlicheren machten ihre Erfahrungen langsamer, dafür aber intensiver und nachhaltiger. Diejenigen, die eine ausgeglichene, erfahrene und sichere Mutter hatten, kamen in jeder Hinsicht besser voran als diejenigen, die sich immer wieder neu auf eine sich ständige verändernde Mutter einstellen mußten. Manchmal paßten die Angebote der Mutter und die Bedürfnisse des Neugeborenen gut zusammen, so daß zu schnelle Entwicklungen gebremst und damit intensiver und nachhaltiger gestaltet, zu vorsichtige, ängstliche Verhaltensweisen abgebaut und Voraussetzungen für eine raschere Entwicklung geschaffen wurden. In manchen Fällen klappte das Zusammenspiel weniger gut und die Mutter verstärkte durch ihr Verhalten zu rasche und deshalb zu einseitige oder zu ängstliche und deshalb zu wenig eigenständige Entwicklungen ihres Kindes. Was wir während dieser Phase erlebt haben, wie wir uns mit unseren Anlagen und den ersten Erfahrungen in dieser neuen Welt zurechtgefunden haben, was wir als Säugling im einzelnen gelernt haben, wissen wir heute nicht mehr. Die Verschaltungen, die wir benutzt haben, um beispielsweise unsere Bewegungen zu koordinieren, sind jedoch nicht verschwunden. Wir haben sie auf unserer weiteren Suche nach besseren Lösungen zur Kontrolle der Angst immer weiter benutzt, ausgebaut, verfeinert und an die Erfordernisse unseres weiteren Lebens angepaßt. So sind unsere tapsigen Bewegungen zu exakter Körperbeherrschung, so ist unser anfängliches Geschrei und Gebabbel allmählich zu einer verständlichen Sprache geworden, unserer Muttersprache. Jedesmal, wenn es uns gelang, unsere Angst durch die Benutzung irgendeiner der vielen, sich in un90 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

serem Gehirn herausbildenden oder schon angelegten Verschaltungen zu besiegen, war das Verschwinden der Angst unsere größte Belohnung. Wir wurden in die Arme genommen, geküßt, gestreichelt und bekamen so ein Stück der Wärme und Geborgenheit wieder, die wir mit unserer Geburt verloren hatten. Später reichte uns schon ein Lob, ein liebevoller Blick, ein freundliches Lächeln der Mutter, um uns dieses Gefühl der Geborgenheit wiederzugeben und uns Mut zu machen, auf unserem weiteren Weg. So haben wir immer wieder erfahren, wie die Angst verschwand, wenn jemand in unserer Nähe war, der uns mit seiner Wärme Sicherheit und Schutz bot, der uns liebte. Das war die erste eigene Erfahrung, die wir in unserem Leben gemacht haben. Die Verschaltungen hierfür wurden immer wieder gebahnt und das Gefühl, daß wir bei einem Menschen, der uns liebt, geborgen sind, wurde tief in das Gehirn eines jeden Menschen eingegraben. Leider haben nicht alle Kinder dieses Glück, und leider bleiben diese Verschaltungen nicht automatisch für den Rest des Lebens so fest verankert, wie sie es damals waren. Die mit kontrollierbaren Belastungen einhergehende Aktivierung des noradrenergen Leitsystems in unserem Gehirn hat während unserer ersten Lebensmonate nicht nur dazu beigetragen, die für die Bewegungskoordination und für das Gefühl des Geborgenseins verantwortlichen Verschaltungen zu bahnen. Auch unsere Wahrnehmungsfähigkeit und die Verarbeitung von Sinneseindrücken wurden immer ausgefeilter und sicherer. Immer besser wurden wir in die Lage versetzt, die durch unser Verhalten ausgelösten Reaktionen auf seiten der Mutter und dem inzwischen größer gewordenen Kreis von Bezugspersonen zu erkennen. Immer besser konnten wir herausfinden, was wir tun mußten, um uns ihre Geborgenheit, ihre Liebe zu sichern. Nun waren wir erstmals in der Lage, einfach nur durch ein Lächeln, durch ein liebes Wort, 91 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

durch ein zärtliches Streicheln die Wärme und Zuwendung eines anderen Menschen zu gewinnen, uns durch eigenes Handeln Liebe schenken zu lassen. Wir konnten das tun, wann immer wir wollten, auch ohne unmittelbare Not, Bedrängnis oder Angst. Hätten wir es jedoch tatsächlich ausschließlich so benutzt, wären die dabei aktivierten Verschaltungen in unserem Gehirn auch nicht gebahnt worden. Diese Verschaltungen wurden gebahnt, weil wir sie eben nicht einfach so, sondern vor allem immer dann benutzten, wenn wir Angst hatten. Wir haben immer dann liebevoll gelächelt und zärtlich gestreichelt, wenn wir spürten, daß der andere in Bedrängnis war, daß die Mutter oder der Vater sich Sorgen machten, daß sie Angst hatten. Jedesmal, wenn unser Lächeln von ihnen erwidert wurde, war auch unsere eigene mitfühlende Angst wie weggeblasen, wurden die betreffenden Verschaltungen ein Stück tiefer in unserem Gehirn verankert. In uns zurückgeblieben ist das Gefühl, daß wir einem anderen Menschen etwas geben können, das seine Angst besiegt, daß wir uns hingeben können. Damals haben wir begriffen, was es heißt, einen anderen Menschen lieben zu können. Damals, als unsere Eltern noch voll Ungeduld darauf warteten, wann wir endlich die ersten Schritte gehen, die ersten Worte stammeln und womöglich das erste Mal in den Topf machen würden, haben wir von ihnen fast unbemerkt zwei entscheidende Fähigkeiten erworben, die unseren weiteren Lebensweg – im Gegensatz zu den anderen vielbeachteten Fertigkeiten – tatsächlich bestimmt haben. Wie die beiden Keimblätter, die zuerst von einem aufkeimenden Samenkorn einer Sonnenblume entfaltet werden, hat sich in unserem Gehirn im Lauf unserer ersten Lebensmonate das Gefühl dafür entfaltet und gekräftigt, was es bedeutet, von anderen Menschen geliebt zu werden und unsere Liebe anderen Menschen schenken zu können. 92 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Damit dieses Gefühl wachsen kann, braucht jedes Baby jemanden, der ihm seine Wärme, seine Zärtlichkeit, seinen ganzen Körper und seine ganze Zuneigung unbefangen und ohne Zaudern nicht immerzu, sondern immer dann schenkt, wenn es Angst verspürt. Die Mutter (oder wer immer es sein mag) muß seine Signale der Verunsicherung verstehen, und sie muß ihrem Kind deutlich und so, daß es von ihm auch verstanden wird, zeigen, daß es selbst bereits in der Lage ist, nicht nur seine, sondern auch ihre Ängste zu verjagen, sie froh und glücklich zu machen. Der an das Bettchen gehängte Klimbim und das ganze »pädagogisch wertvolle« Spielzeug in der Krabbelecke ist dabei bestenfalls schmückendes Beiwerk. Wenig hilfreich sind auch alle Maßnahmen, die darauf abzielen, ein Kind bereits dann zu erziehen, wenn es noch voll und ganz damit beschäftigt ist, seine ersten beiden Keimblätter auszubilden. Die Versuche von Eltern, ihrem Sprößling bereits sehr früh beizubringen, was ihnen besonders wichtig erscheint, sind für ein Kleinkind oft nur schwer durchschaubar. Jedes vergebliche Bemühen, es dazu zu bringen, nicht mehr in die Windeln, sondern in einen Topf zu machen, löst zunächst nichts anderes als eine immer wiederkehrende unkontrollierbare Streßreaktion aus und trägt dazu bei, alle bisher schon entwickelten Verschaltungen in seinem Gehirn aufzulösen. Das sind vor allem diejenigen, die das Gefühl von Geborgenheit vermitteln, wie auch jene, die sein Vertrauen in seine Fähigkeit bestimmen, diese Geborgenheit zu erlangen. Eltern, die sich weniger von ihren Vorstellungen leiten lassen und genauer auf die Signale ihres Kindes achten, merken sehr genau, wann ihm die Sache mit den Windeln unangenehm zu werden beginnt. Das wäre der richtige Zeitpunkt, um ihm behilflich zu sein, dieses kleine Problem zu bewältigen und das Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten wachsen zu lassen. Wird er verpaßt, so lernt das Kind wieder etwas 93 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

anderes, nämlich, daß man sich an vollgemachte Windeln auch ganz gut gewöhnen kann. Auch das wird gebahnt und läßt sich später möglicherweise nur schwer wieder auflösen. Eltern müssen also ein sehr feines Gespür dafür entwickeln, was in ihrem Kind vorgeht, was es fühlt, von welchen Ängsten es getrieben wird und auf welche Weise es versucht, seine Angst und die dadurch ausgelöste Streßreaktion kontrollierbar zu machen. Wie man dieses Gespür entwickelt, weiß ich nicht. Wer sich nicht in einen Säugling hineinfühlen kann, dem wird auch die Lektüre aller Bücher, Zeitschriften und Ratgeber dieser Welt nicht wirklich weiterhelfen. Wer naiv versucht, sich in sein Kind hineinzuversetzen, ohne zumindest in Grundzügen zu wissen, wie es zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung die Welt betrachtet, betrachten muß, was es fühlt, weil es gar nichts anderes fühlen kann, der hält allzuleicht und ohne es zu merken seine eigenen Vorstellungen und Empfindungen für die des Kindes. Wenigstens in groben Zügen läßt sich nachvollziehen, was ein Kind empfinden muß, nachdem es im Lauf seines ersten Lebensjahres die Erfahrung gemacht hat, daß ihm die Zuwendung der Mutter Sicherheit und Schutz bietet und die Angst vor allem Neuen zu bewältigen hilft. Es hat sich unter diesem sicheren Schirm entfaltet, hat Laufen und Sprechen gelernt, kann aus Bauklötzen Türme bauen, fast allein essen und weiß, daß es sich, wann immer es bedrohlich wird, unter diesen Schirm retten kann. Es fühlt sich in dieser Welt nun wieder ähnlich geborgen wie damals, vor seiner Geburt. Es weiß, wie sehr es diese Geborgenheit braucht, und muß sich deshalb immer wieder vergewissern, daß sie ständig verfügbar ist. Deshalb klebt es nun am Rockzipfel der Mutter wie eine Klette und paßt auf, daß keiner kommt, der diese auch noch für sich beansprucht. Seiner so geschärften 94 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Aufmerksamkeit entgeht nichts. Es merkt deshalb irgendwann, daß die Mutter selbst Rechte für sich geltend macht, daß der Vater einen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf sich lenkt und daß womöglich auch noch Geschwister die Zuwendung der Mutter von ihm wegziehen. Jede dieser Feststellungen wird für das Kind zu einer Bedrohung seiner bisherigen Geborgenheit. Es entdeckt, daß der so sicher geglaubte Schirm voll gefährlicher Risse und Löcher ist. Sofort ist die alte Angst wieder da. Es fühlt sich noch einmal, nun zum zweiten Mal, hinausgeworfen in eine neue, fremde und bedrohliche Welt und es versucht verzweifelt, die unkontrollierbar werdende Streßreaktion kontrollierbar zu machen. Auch diesmal findet das Kind eine Lösung, aber der eingeschlagene Weg ergibt sich nun nicht mehr gleichsam automatisch. Es muß auf der Grundlage seiner bisher gemachten Erfahrungen und innerhalb der jeweils vorgefundenen Verhältnisse jetzt versuchen, sich diesen Weg durch schrittweises Vortasten, durch vielfachen Versuch und Irrtum selbst zu erschließen. Damit ist es über Jahre hinweg tagein tagaus intensiv beschäftigt. Zunächst wird das Kleinkind versuchen, die mütterliche Geborgenheit so wie bisher ausschließlich für sich selbst zurückzugewinnen. Gelingt das nicht, so muß es Ablehnung, Wut und Haß gegenüber all denen empfinden, die es dadurch bedrohen, daß sie seine Bemühungen scheitern lassen. Richtet sich diese Ablehnung ganz besonders gegen die Eigeninteressen der Mutter und sind deren Selbstentfaltungsbestrebungen so stark, daß all seine Versuche scheitern, so kann die daraus resultierende unkontrollierbare Streßreaktion so lange aktiviert bleiben, bis die ursprünglich gebahnten und für die Mutterbindung verantwortlichen Verschaltungen gelockert werden. Die enge Bindung an die Mutter wird so allmählich gelöst. 95 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Schätzt das Kind die Eigeninteressen der Mutter als weniger bedrohlich ein, so wird es den Versuch machen, sich mit den Zielen und Vorstellungen der Mutter zu identifizieren und so zu werden, wie die Mutter ist. Wird dieses Verhalten von der Mutter durch verstärkte Zuwendung belohnt, so kommt es durch die wiederholt ablaufenden kontrollierbaren Streßreaktionen zur Bahnung aller hierbei aktivierten Verschaltungen. Die Bindung wird verstärkt und von der Mutter übernommene Kompetenzen und Grundüberzeugungen werden fest verankert. Die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Kind und seinem – die Mutter ebenfalls für sich beanspruchenden und aus diesem Grund bedrohlich erscheinendem – Vater hängt entscheidend von der Beziehung zwischen beiden Elternteilen ab. Sind die Gefühle der Mutter für den Vater bereits weitgehend abgekühlt, so kann sich die Ablehnung des Vaters als äußerst erfolgreiche Strategie erweisen, um dem Kind die ganze Gunst der Mutter zu sichern. Die dabei immer wieder aktivierte kontrollierbare Streßreaktion stabilisiert all diejenigen Verschaltungen, die im Prozeß der aktiven Ablehnung des Vaters benutzt werden. Auf diese Weise kann eine bereits entstandene Bindung an den Vater überformt und zurückgedrängt werden. Seine Kompetenzen und Vorstellungen werden nicht übernommen. Solange die Mutter sich weigert, die Versuche des Kindes, den Vater auszugrenzen, durch besondere Zuwendung zu belohnen, läßt sich das »Vaterproblem« auf diese Weise nicht lösen. Unter diesen Umständen bleibt dem Kind als alternative Strategie nur die Identifikation mit den Zielen, Wünschen und Vorstellungen des Vaters. Ist diese Strategie erfolgreich, so kommt es durch die wiederholt auftretenden kontrollierbaren Streßreaktionen zur Verstärkung aller hierbei aktivierten Verschaltungen. Die Bindung an den Vater 96 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

wird intensiver und die von ihm übernommenen Kompetenzen und Vorstellungen werden fest verankert. Auch für die weitere Gestaltung der Beziehungen zu seinen älteren und jüngeren Geschwistern muß das Kind eine der beiden Strategien einschlagen: entweder Ablehnung und Ablösung oder aber Anlehnung und Identifikation. Welchen Weg es im Einzelfall wählen wird, hängt davon ab, welches Verhalten ihm die größere Geborgenheit bietet und deshalb besser zur Bewältigung seiner Angst geeignet ist. Die entscheidende Frage nach der Entstehung von menschlichen Grundbedürfnissen wird von der gegenwärtigen Entwicklungspsychologie nur unzureichend beantwortet. Die auf Piaget zurückgehende kognitive Entwicklungspsychologie befaßt sich mit den kindlichen Entwicklungsstufen von Intelligenz, Abstraktionsvermögen und Kognition und kann kaum etwas über die emotionale Entwicklung aussagen. Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie hat sich von der psychosexuellen Entwicklung, also der Entwicklung des Sexualtriebes im erweiterten Sinn Freuds, zur dominierenden Theorie der emotionalen Entwicklung ausgeweitet, die von triebhaften Grundbedürfnissen »Triebimpulsen« abgeleitet wird (Abhängigkeits- und Autonomiebedürfnissen, sexuelle, aggressive und narzißtische Bedürfnisse). Die sogenannten Triebimpulse durchlaufen nach dieser Vorstellung eine altersabhängige Entwicklung, die eng mit der Entwicklung der Emotionalität zusammenhängt und deren Störungen zur Herausbildung neurotischer (hysterischer) Persönlichkeitsmerkmale führt. Die Entwicklung dieser triebhaften Bedürfnisse wird traditionell in mehreren Schritten beschrieben: 1. die orale Phase, etwa von der Geburt bis zum Ende des ersten Lebensjahres, 2. die anale oder analsadistische Phase, etwa das zweite und dritte Lebensjahr umfassend, 3. die phallisch-narzißtische oder ödipale Phase, etwa im vierten und fünften Lebensjahr, 4. eine Zeit der Triebruhe (Latenzphase) zwischen dem sechsten Lebensjahr und der Pubertät, die mit ihrer endgültigen Begründung der Sexualität ins Erwachsenenalter überleitet. Dieses auf Freud zurückgehende Entwicklungsmodell ist in entscheidenden Bereichen von Spitz, Erikson und Mahler erweitert worden. Entscheidende Wandlungen erfahren diese Modelle gegenwärtig durch die von der experimentellen Entwicklungspsychologie nachgewiesene zentrale Bedeutung der Bindung (attachment)

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zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen (vgl. Kraemer 1992) und die zunehmende Kenntnis des Einflusses kontrollierbarer und unkontrollierbarer Streßreaktionen auf die Hirnentwicklung (vgl. Rothenberger und Hüther 1997). Auf der Grundlage des hier vorgestellten Konzepts lassen sich die oben genannten Triebimpulse als Manifestationen bereits stattgefundener Bahnungsprozesse auf der Ebene neuronaler Verschaltungen verstehen. Demnach wären Abhängigkeits- und Autonomiebedürfnisse, aggressive und narzißtische Bedürfnisse als erfolgreiche Bewältigungsstrategien des Kindes zu werten, deren zugrundeliegende Verschaltungsmuster durch wiederholte, kontrollierbare Streßreaktionen bereits tief im kindlichen Gehirn verankert worden sind. Die Triebfeder für die sequentielle Aneignung dieser Strategien im Denken, Fühlen und Handeln eines Kindes wäre die von ihm erlebte Angst und das daraus resultierende Grundbedürfnis nach Überwindung dieser Angst, also nach Sicherheit. Die zur Unterdrückung dieser Angst eingeschlagenen Strategien sind vom jeweiligen Entwicklungsstadium des Kindes abhängig. Sie führen über die Ausbildung der »Mutter-Kind-Dyade« zur »Triade«, der Beziehung zwischen dem Kind und beiden Elternteilen. Die dabei stattfindenden Identifikations- und Abgrenzungsversuche gehen meist mit widersprüchlichen Gefühlen einher (»Ödipuskomplex«, »Kastrationskomplex« etc.).

Über viele Jahre hinweg ist das Kind damit beschäftigt, sich in diesem Wirrwarr widerstreitender, immer neu hin- und herwogender Gefühle zurechtzufinden. Seine Suche nach einem gangbaren Weg durch dieses Gestrüpp wird auch für uns nicht leichter nachvollziehbar, wenn wir die eben gedachte, »altmodische« Familienstruktur durch eine der vielen »moderneren« Varianten ersetzen. Es macht keinen großen Unterschied, wenn die Rollen von Mutter und Vater vertauscht werden und eine starke initiale Bindung an den Vater stattfindet. Wenn Kinder allein mit der Mutter oder dem Vater aufwachsen, muß das nicht unbedingt ein Nachteil sein. Sie haben es leichter, und es gelingt ihnen vielleicht rascher, sich für den Weg der Identifikation mit dem verbliebenen Elternteil zu entscheiden, und sie werden weniger Ambivalenz in ihrer Gefühlswelt 98 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

entwickeln. Der Preis, den sie hierfür bezahlen, ist ein Mangel an Kompetenzen, deren Verschaltungen durch eine mögliche Identifikation mit dem anderen Elternteil hätten gebahnt werden können. Da eine Identifikation mit beiden Eltern jedoch kaum gelingen kann, wenn deren Beziehung durch gegenseitige Ablehnung bestimmt wird, wäre dieses Defizit auch beim Zusammenbleiben des Elternpaares entstanden. Mit Sicherheit unterschätzt wurde bisher der Einfluß der Geschwisterkonstellation auf die emotionale und geistige Entwicklung eines Kindes. Er ist dann besonders stark, wenn Geschwister gleichen Geschlechts sind und der Altersunterschied zwischen ihnen nicht zu groß ist. Der erstgeborene Bruder oder die erstgeborenen Schwester hat unter diesen Umständen immer schon einen Teil der beschützenden familiären Welt für sich in Anspruch genommen, und der wird meist sehr erfolgreich verteidigt. So ist es wenig erstaunlich, daß die Wege des Denkens, Fühlens und Handelns von Erstgeborenen wesentlich geradliniger und damit auch weniger flexibel ausgeformt werden. Die Nachgeborenen müssen grundsätzlich andere Strategien einschlagen, um ihre Ängste zu bewältigen. Diese Wege sind oft vielfältiger und verzweigter, anfangs bisweilen sogar recht bizarr, im allgemeinen aber immer weniger fest und wesentlich verschlungener als die ihrer älteren Geschwister. Wenig Beachtung hat auch die besondere Bedeutung gefunden, die Bezugspersonen aus dem Randbereich der engeren Familienstruktur für die psychische Entwicklung von Kindern erlangen können. Vor allem Großeltern, die in einer harmonischen Beziehung zu den Eltern stehen, bieten dem Kind eine einzigartige Möglichkeit, aus dem Durcheinander seiner gefühlsmäßigen Bindungen und Ablehnungen von Eltern und Geschwistern auszubrechen. Sie sind einfach da und bieten Geborgenheit und Schutz. Sie können von ei99 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

nem Kind für sich entdeckt und geliebt werden, ohne daß es ständig befürchten muß, daß sie ihm von Vater oder Mutter weggenommen werden. Manchmal gelingt das auch mit einem Onkel oder einer Tante, und versucht wird es fast immer mit Kindergärtnerinnen und den ersten Lehrerinnen und Lehrern. Auch Freunde und Freundinnen gehören zu diesem immer größer werdenden Kreis von Beziehungen, die Kinder mit anderen Menschen eingehen und die sowohl zu sicheren Schilden als auch zu ständig präsenten Quellen ihrer Ängste werden können. Oft erreichen die Beziehungen zu Freunden und Freundinnen durch die gemeinsame Identifikation mit bestimmten Vorstellungen und Vorbildern eine enorme Intensität. In zunehmendem Maß machen sich Massenmedien diesen Umstand zunutze, indem sie bestimmte, ebenso kurzlebige wie fragwürdige Vorbilder und Idole für spezifische Altersgruppen und soziale Schichten verbreiten. Experimentell läßt sich anhand von Tierversuchen nur in sehr groben Zügen nachweisen, auf welche Weise kontrollierbare und unkontrollierbare Belastungen an der Strukturierung des sich entwickelnden Gehirns und damit an der Herausformung bestimmter Grundzüge des Verhaltens und Empfindens beteiligt sind. Gut lassen sich die langfristigen Konsequenzen von wiederholten, kontrollierbaren Streßbelastungen bei Ratten veranschaulichen, die während ihrer 21tägigen Säugephase täglich für 15 Minuten von der Mutter und ihren Geschwistern getrennt in einem separaten Käfig untergebracht wurden. Dieses sogenannte »handling« führt initial zu einer deutlichen Aktivierung ihrer Streßantwort und zu Verhaltensäußerungen, die als »distress vocalisations« quantifizierbar sind. In dem Maße, wie die Tiere mit der täglichen Handling-Prozedur vertraut werden, tritt das typische Merkmal einer wiederholten kontrollierbaren Belastung zutage: Die neuroendokrine Streßantwort wird zunehmend schwächer, es kommt über die Etablierung und Bahnung der entsprechenden neuronalen Verschaltungen zur Habituation der Antwort auf den immer gleichen Stimulus. Wie komplex und wie tiefgreifend diese adaptiven Modifikationen zentralnervöser Verarbeitungsmechanismen bei diesen jungen

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Ratten sind, wird deutlich, wenn man sie als erwachsene Tiere nach etwa einem Jahr genauer untersucht: Sie zeigen deutlich verringerte Angstreaktionen und ein vermindertes Vermeidungsverhalten gegenüber neuartigen Stimuli. Ihre basale Kortikosteronsekretion ist erniedrigt und nach Aktivierung ihres HPA-Systems kommt es zu einer rascheren Normalisierung der vermehrten Glukokortikoidsekretion (Übersichten in Levine u.a. 1967; Meaney u.a. 1993; Smythe u.a. 1994). Werden juvenile Ratten unter Bedingungen (»enriched environments«) aufgezogen, die aufgrund ihrer Komplexizität eine Vielfalt verschiedenartiger Stimuli für die häufige Auslösung sehr milder, also besonders gut kontrollierbarer Streßreaktionen (novelty-stress) bieten, so entwickeln sie einen dickeren Kortex mit größeren und verzweigteren Dendritenbäumen der Pyramidenzellen, mit einer höheren Synapsendichte, einer größeren Zahl glialer Zellen und einer stärkeren Vaskularisierung (Übersicht in Greenough und Bailey 1988). Auch bei Affen ist der Einfluß derartiger, während der postnatalen und juvenilen Entwicklung durch kontrollierbare Streßbelastungen ausgelösten adaptiven Modifikationen von Cytoarchitektur und neuronalen Verschaltungsmustern auf das spätere Verhalten recht gut untersucht. Ihr Sozialverhalten ist wesentlich kompetenter, Problemlösungen werden schneller gefunden, ihre Reaktionen auf neuartige Stimuli sind kontrollierter und sie besitzen ein komplexeres Verhaltensrepertoir, wenn sie während ihrer juvenilen Entwicklung einer größeren Vielfalt neuartiger Stimuli und damit häufiger kontrollierbaren Streßbelastungen ausgesetzt wurden als ihre Geschwister (Clarke 1993). Langanhaltende Zweifel über die Zweckmäßigkeit des einzuschlagenden Weges, langdauernde emotionale Verunsicherung und die daraus resultierende anhaltende Aktivierung einer unkontrollierbaren neuroendokrinen Streßreaktion kennen nur die lernfähigsten sozial organisierten Säugetiere wie Affen und Menschen. Die wichtigsten Auslöser dieser Reaktion sind psychosoziale und psychische Belastungen. Die erste einschneidendste und mit Abstand wichtigste unkontrollierbare Belastung während der Kindheit ist der Verlust von bisher vorhandenen, Sicherheit bietenden Bezugspersonen. Junge Primaten erleben eine unkontrollierbare, langanhaltende Aktivierung ihrer neuroendokrinen Streßreaktion, wenn sie von ihrer Mutter getrennt werden (Coe und Levine 1981). Sie versuchen zunächst, mit allen Mitteln die Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen und sind dabei sogar bereit, einen Hund oder eine ausgestopfte Puppe als Ersatz für die verlorene Bezugsperson anzu-

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nehmen. Wenn alle ihre Bemühungen scheitern, werden sie passiv, verlieren jedes Interesse an ihrer Umgebung und gehen schließlich zugrunde (Übersichten in Seligman 1975; Kraemer 1992). Die Konsequenzen unkontrollierbarer Streßbelastungen während der juvenilen Entwicklung wurden an Affen untersucht, deren Mütter gezwungen waren, ihr Futter auf recht aufwendige Weise zu beschaffen. Sie mußten ihre Jungen häufiger unbeaufsichtigt lassen und zeigten eine geringere Bindung und eine erhöhte Ängstlichkeit im Umgang mit ihnen. Im Vergleich zu »optimal« aufgewachsenen Affen sind die Jungen dieser Mütter im ersten Jahr leichter irritierbar durch neuartige Reize und stärker abhängig von der Mutter (Rosenblum u.a. 1994) und fallen noch vier Jahre später durch geringeres Selbstvertrauen, unsoziales und subordinates Verhalten auf (Andrews und Rosenblum 1991). Infolge derartiger juveniler Streßbelastungen kommt es zu erheblichen Veränderungen bei der Ausreifung globaler (adrenerger und serotonerger) Transmittersysteme. Es wird vermutet, daß derartige frühkindliche unkontrollierbare Streßbelastungen zu einer erhöhten Vulnerabilität für Angststörungen und affektive Erkrankungen führen.

Wie immer die Beziehungen aussehen, die Kinder im Lauf ihrer Entwicklung zu anderen Menschen, aber auch zu anderen Lebewesen, eingehen, sie hinterlassen Spuren, die ihr späteres Verhalten bestimmen. Diese Spuren sind die unter dem Einfluß kontrollierbarer und unkontrollierbarer Streßreaktionen stabilisierten und destabilisierten Verschaltungen in ihrem Gehirn. Damit in ihren Köpfen möglichst viele verschiedenartige und vielfältige Wege des Denkens, Fühlens und Handelns angelegt und gefestigt werden können, muß ihnen Gelegenheit gegeben werden, tiefe Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Flache Beziehungen rütteln das noradrenerge System nicht wach, wenn es abgeschaltet ist, und sie bringen auch keine Ruhe in das Gehirn, wenn dort das große Durcheinander einer unkontrollierbaren Streßreaktion ausgebrochen ist. Nur wenn Kindern Gelegenheit geboten wird, und sie diese Gelegenheit auch nutzen können, um sich und all das, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer 102 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Entwicklung bereits denken, fühlen und können, in immer neuen Beziehungen zu anderen Menschen zu erproben, zu erweitern, zu vertiefen und – falls erforderlich – auch wieder aufzulösen, werden sie in die Lage versetzt, sich einen gangbaren Weg durch das anfängliche Wirrwarr ihrer widerstreitenden Gefühle zu bahnen. Der Einfluß sozialer Faktoren auf die Hirnentwicklung wurde unter neurobiologischen Gesichtspunkten bisher kaum untersucht. Ein guter Überblick des gegenwärtigen Wissens findet sich bei Leon Eisenberg (1995).

Dieser Prozeß der Herausformung eines möglichst komplexen Gehirns, dessen Verschaltungen so angelegt sind und so benutzt werden können, daß das Denken, Fühlen und Handeln nicht immer wieder programmartig auf wenigen eingefahrenen Straßen und Autobahnen entlangsaust, sollte bis zum Beginn der Pubertät abgeschlossen sein. Nur so kann die nun erwachende Sexualität und Erotik als ein neuer, sich vielfach verzweigender Weg ohne Zwang und Angst mit den bisher entwickelten Wegen des Denkens und Fühlens verbunden werden. Menschen, denen das gelungen ist, werden die durch die Angst ausgelöste Streßreaktion auch auf ihrem weiteren Lebensweg nutzen können, um diejenigen Verschaltungen in ihrem Gehirn auszubauen und weiterzuentwickeln, die ihr Wissen und ihr Können mit dem fest verankerten Gefühl von Liebe und Verantwortung verbinden. Sie brauchen nicht länger krampfhaft nach dem Sinn des Lebens zu suchen, denn sie sind frei geworden, ihn täglich neu zu entdecken. Wenn sie irgendwann später einmal erleben, mit welcher Hingabe ihr Kind die Blumen auf einer Wiese gießt, können sie dieses Bild in der glücklichen Erkenntnis genießen, daß es offenbar ebenfalls auf dem richtigen Weg ist. Wie schön wäre es, wenn wir dem blumengießenden Mädchen noch eine Zeitlang ungestört zuschauen 103 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

könnten. Aber wir sehen ihn in unserem Geist schon kommen, den älteren, wohlmeinenden Herrn mit seinem Spazierstock in der Hand und der Brille auf der Nase, der es nicht lassen kann, unserem Mädchen zu sagen, was für ein Blödsinn es sei, die Blumen auf der Wiese zu gießen. Auch er ist mit Ängsten in eine Welt und in Bedingungen hineingewachsen und hat bestimmte Lösungen gefunden oder vorgefunden, die die Wege seines Denkens, Fühlens und Handelns gebahnt haben. Und wir sehen in unserer Vorstellung einen Jungen, der hinter dem Mädchen pfeifend daherkommt und mit einem Stock jede der eben begossenen Blumen zerschlägt. Auch er benutzt dabei bestimmte Verschaltungen in seinem Gehirn, die er als scheinbar erfolgreiche Lösungen zur Bewältigung seiner Ängste gebahnt hat. Wir wissen auch, daß jeden Augenblick ein Mann aus dem Gebüsch hervortreten kann, um seine Hose zu öffnen, und dem Mädchen sein Geschlechtsteil zu präsentieren, ein Mann, dem es nicht gelungen ist, die in der Pubertät erwachende Sexualität ohne Angst mit den wenigen Verschaltungen zu verbinden, die er bis dahin zu entwickeln Gelegenheit gehabt hatte. Wir ahnen, daß der Bagger deshalb am Rand der Wiese steht, weil hier in ein paar Tagen ein Parkplatz für die Kunden des benachbarten Spielzeug-Supermarkts entstehen soll. Wir wissen, daß er gebaut werden muß, weil ein am Rande der Stadt gelegener Supermarkt ohne einen ausreichend großen und komfortablen Parkplatz keine Kunden für sein Spielzeug findet. Und wie wichtig Spielzeug für Kinder sei, so wird uns der Leiter des Supermarkts beflissen erklären können, sehe man ja schon daran, daß unser kleines Mädchen seine Blumen mit einer alten Flasche und nicht mit einer der bei ihm erhältlichen Plastikkinderkannen gieße . . . Wir leben nun einmal in einer Welt, in der nicht alles so ist, wie es sein sollte. Sie ist aber die einzige, die wir haben. Da Menschen wie wir sie so gemacht haben, wie 104 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

sie ist, sind wir die einzigen, die sie ändern könnten. Dazu müßten wir uns freilich selbst ändern. Nur wie? Solange wir uns einreden, alles sei sicher und auf dem richtigen Weg, haben wir keine Chance, nach einem anderen, besseren Weg zu suchen. Aber auch wenn wir die Angst zulassen, werden wir einen solchen Weg kaum finden, solange wir weiterhin das Durcheinander des Verkehrs auf allen Wegen, Straßen und Autobahnen dieser Welt immer nur entweder aus zu großer Nähe oder aus zu großer Entfernung betrachten. Wir bleiben Gefangene unserer jeweils gewählten Perspektive. Vielleicht finden auch Sie irgendwo in Ihrer Nähe einen Hügel, von dem aus alles etwas anders aussieht . . . Wenn Sie wollen, können Sie aber gern auch immer wieder auf meinen kleinen Hügel, den Pferdeberg, zurückkehren. Sie finden ihn irgendwo in der Mitte von Deutschland. Noch bis vor wenigen Jahren lief der Grenzzaun genau über ihn hinweg und zerteilte ihn in zwei Hälften. Seine östliche Seite hatte man damals komplett abrasiert. Um Schußfreiheit zu schaffen, wurde kein Baum und kein Strauch stehengelassen. Inzwischen haben die ersten Büsche und Bäumchen wieder Wurzeln geschlagen, und bald wird wohl der ganze Pferdeberg wieder so aussehen wie früher. Der Weg hinauf führt durch eine alte, verwilderte Obstplantage. Zwei Brüder aus dem Nachbardorf hatten sie angelegt, bevor die Grenze gebaut wurde. Solange der Grenzzaun stand, lag sie im Niemandsland. Weil niemand die Bäume beschneiden konnte, sind sie über Jahrzehnte gewachsen, wie sie wollten. Ihre Früchte fielen herab, und unter den Pflaumen und Kirschen entstand ein dichtes Gestrüpp von jungen Pflaumen und Kirschen. Misteln trieben aus den Astgabeln der Apfelbäume. In die morschen Äste hatte der Buntspecht seine Höhlen gezimmert, und viele der alten Bäume wurden von Heckenrosen und Geißblatt überwachsen. 105 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Wann immer ich Lust hatte, einsam auf meinem Hügel zu sitzen, um träumend und ein bißchen wehmütig zuzuschauen, wie der Verkehr dort unten vorüberbraust, führte mich mein Weg durch diese verwilderte Obstplantage. Hier wuchsen im Frühling die ersten Walderdbeeren, im Sommer die süßesten Kirschen und im Spätherbst teilte ich mir die letzten Äpfel an den kahlen Zweigen mit den vielen Vögeln, die hier zu Hause waren. Vor einiger Zeit traf ich auf die beiden Brüder, die die Bäume zusammen mit ihrem Vater damals, vor mehr als einem halben Jahrhundert, gepflanzt hatten. Sie konnten sich noch gut an die Begeisterung erinnern, mit der sie die vielen verschiedenen Obstsorten ausgesucht und als kleine Bäumchen in die Erde gesetzt hatten. Ihr Vater hatte ihnen gezeigt, wie man sie beschneidet, wie man herunterhängende Äste hochbindet, wie man kopuliert und okuliert und was man sonst noch alles tun kann, um später einmal möglichst viele Früchte zu ernten, denn deren Verkauf sollte den Unterhalt der Familie sichern. Als die Bäume ihre ersten Früchte zu tragen begannen, wurde der Grenzzaun gezogen, und fortan war ihnen das Betreten ihrer Plantage verboten. Einer der Brüder ist später über die Grenzanlagen geklettert und hat sein Glück in der anderen Hälfte der geteilten Landes versucht. Jetzt, nach dreißig Jahren, standen sie endlich wieder gemeinsam auf ihrer Plantage und überlegten, was damit werden sollte. Um heutzutage vom Obstbau leben zu können, so meinten beide, müsse alles umgepflügt und eine besonders ertragreiche, hochgezüchtete Sorte als Spalierobst angebaut werden. Die Bäume müßten maschinell gedüngt, gespritzt und abgeerntet werden. Damit sich die dazu erforderlichen Maschinen rentierten, müßte die Plantage aber zehnmal, besser hundertmal größer sein. 106 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Lange standen die alten Männer ratlos am Fuß meines Hügels. Dann schüttelten sie resignierend ihre Köpfe und gingen ihrer Wege.

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Erst hier, an diesem Wendepunkt, wo die Zukunft den Platz der Gegenwart einnehmen soll, müssen die Feststellungen der Wissenschaft der Vorwegnahme durch den Glauben weichen; hier kann unsere Ratlosigkeit beginnen, und hier ist sie im Recht. Was hinter der modernen Unruhe sich herausbildet und heranwächst, ist nichts Geringeres als eine organische Krise der Evolution. Pierre Teilhard de Chardin

Ausblick und Abschied Ich arbeite nun schon seit vielen Jahren als Hirnforscher, und noch immer bereitet mir die Arbeit im Labor sehr viel Freude, aber ich glaube, Sie wissen jetzt, weshalb ich ab und zu ebenso gern hier oben auf meinem Hügel bin. Hier kommt man nicht auf die Idee, jeden Stein umdrehen zu müssen, um zu verstehen, wie Wege und Straßen entstehen und vergehen. Man ist hier hoch genug, um zu schauen, aber nicht so hoch, daß man die Übersicht verliert. Von hier aus kann man sie genau beobachten, die begeisterten Hochflieger und Tiefbohrer, die notorischen Besserwisser, die sich ständig zu Wort melden, nur um sich immer wieder zu bestätigen, wie wichtig sie sind. Sie werden über unser langweiliges Plätzchen hier oben nur müde lächeln und fortfahren, Fragen zu beantworten, die keiner gestellt hat, und Dinge zu tun, die nur von ihnen getan werden können. Sie werden noch einige Zeit damit verbringen, die Räder eines immer unsinniger werdenden Uhrwerks in Gang zu halten. Das einzige, was sie dabei bewegen, sind die Zeiger, die ihnen deutlich machen, daß die Zeit, ihre Zeit, vergeht. Je älter sie werden, um so lau109 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

ter werden sie sich fragen, wie sie eigentlich in dieses Räderwerk gelangt sind. Manche finden einen Ausweg, andere machen nicht mehr richtig mit. So wird die Last für diejenigen, die noch mit der alten Begeisterung an den alten Rädern drehen, immer schwerer, bis auch sie die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen erkennen und feststellen, daß sich die Angst nur eine Zeitlang dadurch besiegen läßt, daß man immer schneller an immer größeren Rädern eines vorgefundenen Getriebes dreht. Wer ein Programm hat, das nicht geeignet ist, die Angst kontrollierbar zu machen, ist verloren. Das ist das uralte biologische Gesetz, an dem bereits die Saurier gescheitert sind. Aber Sie, nachdem wir zusammen hier oben auf diesem Hügel waren, was ist mit Ihnen? Haben wir von hier etwas anderes gesehen als das, was sie selbst schon immer gefühlt und gewußt haben? Ich glaube das nicht, denn es war ja eigentlich nichts anderes als das, was wir tagtäglich erleben. Alles um uns, was lebendig ist und in seiner Harmonie gestört wird, versucht mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die verlorengegangene Harmonie wiederzufinden, zunächst die alte, und wenn das nicht geht, eben eine neue. Deshalb kann alles, was lebt, nie so bleiben, wie es ist. Dies gilt für jede einzelne Zelle, das gilt für jeden von uns, und das gilt natürlich auch für jede Gesellschaft. Eine Zelle kann sich nur verändern, indem sie die Art des Zusammenwirkens ihrer Teile verändert. Wir können uns nur verändern, indem wir die Art des Zusammenwirkens derjenigen Zellen verändern, die unser Verhalten bestimmen. Und eine Gesellschaft kann sich nur verändern, wenn sich diejenigen verändern, die diese Gesellschaft so machen, wie sie ist. Das klingt alles sehr banal und doch tun wir uns so schwer damit. Zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen haben Menschen eine Antwort auf die Frage gesucht, warum sie selbst, warum andere Menschen, 110 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

warum die Welt, in die sie hineingeboren wurden, so ist, wie sie ist. Was ihnen anfangs noch als gottgegebene Ordnung erschien, wurde mit zunehmender Kenntnis der Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen den für sie sichtbaren Strukturen der Natur und Gesellschaft erst in kleinen, später in immer größer werdenden Schritten erklärbar. Sie suchten nach Lösungen für die Probleme der Welt, in der sie sich täglich bewegten und die sie kennen mußten, um möglichst gefahrlos und unbehindert ihre Bedürfnisse zu befriedigen, Handel zu treiben, Ressourcen zu erschließen und sich vor Angriffen zu schützen. Einzelne Wissenschaftsdisziplinen wurden entwickelt, um immer tiefer in die Zusammenhänge zunächst der physikalischen, später der chemischen und atomaren und schließlich auch der lebendigen Welt einzudringen und die dort entdeckten Phänomene nutzbar zu machen. Die Triebfeder all dieser Anstrengungen war die Angst, und das Ziel all dieser Bemühungen war Sicherheit. Die geeignetste Strategie, der effektivste Weg zum Erreichen dieser Sicherheit, so schien es für lange Zeit, war die Schaffung materieller und geistiger Unabhängigkeit, also die Aneignung von Macht und Wissen. Wir sind noch immer auf diesem Weg, der von unseren Vorfahren so erfolgreich eingeschlagen worden ist. Die Signale, die uns aus der Gesellschaft und aus unserem Körper inzwischen erreichen, sagen uns jedoch immer eindringlicher, daß dieser Weg eine Sackgasse zu sein scheint. Er führt nicht dorthin, wo mehr Sicherheit und weniger Angst zu finden sind. Die individuelle oder kollektive Anhäufung von Wissen und Macht, die so lange geeignet schien, die Angst und die damit einhergehende Streßreaktion kontrollierbar zu machen, ist inzwischen selbst zu einer Bedrohung geworden. Sie hat zwangsläufig andere zurückgelassen, die weniger Macht haben, die ärmer sind und weniger wissen. Getrieben von der Angst und auf der Suche 111 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

nach mehr Sicherheit folgen diese Menschen, wie ein kleiner Junge seinem scheinbar allmächtigem Vater, dem so hell beleuchteten Pfad der Erfolgreichen, der Mächtigen, der materiell Unabhängigen auf dieser Welt. Als Einzelne, als Gruppen oder als ganze Gesellschaften nehmen sie, was sie bekommen können, und zwar von dort, wo es zu holen ist und mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. So wächst die Angst derer, die nun erleben müssen, wie ihre so mühevoll zusammengenähte Decke aus Wohlstand und Macht immer dünner und löchriger zu werden beginnt. Zuerst irritiert, dann beunruhigt und schließlich ernsthaft beängstigt machen sie verschiedene Versuche, das Problem mit den bisher erfolgreichen Strategien zu bewältigen. Ihre Macht reicht nicht aus, um die alte Ordnung wiederherzustellen, ihren Reichtum können sie nicht opfern, und ihr ganzes angehäuftes Wissen darüber, wie man Macht und Reichtum erlangt, stellt sich als völlig nutzlos heraus, um diese Art von Bedrohung abzuwenden. Die Situation beginnt ausweglos zu werden, eine unkontrollierbare Streßreaktion ist unabwendbar. Sie erfaßt zunächst die schwächeren Glieder der sogenannten Wohlstandsgesellschaft, die Kranken, die Alten, die Kinderreichen, die Empfindlicheren, die weniger Mächtigen und weniger Reichen, die Arbeitslosen, Zugewanderten und Rechtlosen. Bei denen, die noch Kraft haben, führt die wachsende Angst zu steigender Gewaltbereitschaft, bei den anderen zu Resignation, Krankheit und Zerfall. Das alles wußten oder ahnten Sie ebenfalls schon seit langem und können es sich, wenn es sein muß, täglich durch die Nachrichten oder die Zeitungen bestätigen lassen. Was sie aber vielleicht nicht wußten, und was ich auf diesen wenigen Seiten von meiner Hügelperspektive deutlich zu machen versucht habe, ist etwas, was auch ich bis vor wenigen Jahren nicht zu denken gewagt hätte. Daß es nämlich irgendwann einmal mög112 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

lich werden würde, so große Bereiche des Wirrwarrs im Fühlen und Denken einzelner Menschen und damit auch so viele Ungereimtheiten und Widersprüche im Denken, Fühlen und Handeln großer Gruppen von Menschen auf einen biologischen Mechanismus zurückzuführen. Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, daß bei dem Versuch, die Ursachen, die Mechanismen und die Konsequenzen der neuroendokrinen Streßreaktion bis in das letzte Detail, bis hinunter auf die Ebene der molekularen Sequenzen und Interaktionen zu studieren und zu analysieren, irgendwann einmal so viel Information zusammengetragen werden würde, daß sich daraus, wie bei einem Puzzle, ein Bild zusammenfügen läßt. Ich hätte auch nicht geglaubt, daß dieses Bild am Ende so bestechend einfach aussehen würde, daß man es jedem Menschen, der verstehen möchte, auf wenigen Seiten nachzeichnen kann. Und wie sehr sich dieses Bild von all dem unterscheidet, was uns bisher über die negativen Auswirkungen von Angst und Streß einzureden versucht wurde! Wir brauchen immer neue Herausforderungen und die damit einhergehenden kontrollierbaren Streßreaktionen, um uns immer besser an die vielfältigen Erfordernisse unserer Lebenswelt anpassen zu können. Wenn wir dann, vom Erfolg unserer Bemühungen in einzelnen Bereichen geblendet, starr und unachtsam zu werden beginnen, uns selbst überschätzen und uns einbilden, alles sei von uns kontrollierbar und beherrschbar, so brauchen wir ebenso dieses anhaltende Gefühl von Angst, Verzweiflung und Ohnmacht und die damit einhergehende unkontrollierbare Streßreaktion mit ihren destabilisierenden Einflüssen auf die in unserem Gehirn angelegten Verschaltungsmuster. Wie sonst könnte es uns gelingen, aus den bisherigen Bahnen unseres Denkens, Fühlens und Handelns auszubrechen und nach neuen, geeigneteren Wegen zu suchen? Wir haben die Streßreaktion nicht deshalb, damit wir krank wer113 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

den, sondern damit wir uns ändern können. Krank werden wir erst dann, wenn wir die Chancen, die sie uns bietet, nicht nutzen. Wenn wir die Herausforderungen, die das Leben bietet, vermeiden, ebenso, wie wenn wir immer wieder nur ganz bestimmte Herausforderungen suchen. Wenn wir uns weigern, die Angst zuzulassen und unsere Ohnmacht einzugestehen ebenso, wie wenn wir unfähig sind, nach neuen Wegen zu suchen, um sie überwindbar zu machen. Auch das gilt für jeden einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaften oder Gesellschaften, die sie alle zusammen bilden. Vor Jahren habe ich das Zitat eines Philosophen aus der Renaissance-Zeit gefunden, das mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist: »Naturae enim non imperatur, nisi parendo« (»Denn der Natur wird nicht befohlen, außer indem man ihr gehorcht«, Bacon, Novum Organum). Erst jetzt beginne ich zu begreifen, was dieser Satz bedeutet: Erst wenn es uns gelingt, zu erkennen, durch welche Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien die Entwicklung lebender Systeme bestimmt wird, erst dann, wenn wir begreifen, weshalb bestimmte Prozesse in bestimmte Richtungen gelenkt werden, haben wir die Möglichkeit, diese Entwicklungsrichtungen auch gezielt zu beeinflussen und korrigierend in absehbare Fehlentwicklungen einzugreifen. Erst wenn wir verstehen, weshalb und wovor Menschen Angst haben und was mit ihnen dann passiert, können wir nach geeigneten Auswegen suchen. Wir müssen nicht mehr wie unwissende Kinder den von den Eltern eingeschlagenen und von deren Eltern vorgezeichneten Wegen in ausweglose Sackgassen folgen. Wir müssen auch nicht mehr wie Blinde auf die von allen Seiten auf uns herabrieselnden Ratschläge, Warnungen und gutgemeinten Hinweise derjenigen hören, die glauben, ganz besonders gut sehen zu können, weil sie dicke Brillen tragen. Wir können prüfen, ob die Richtung stimmt, in die sie uns zu lenken versuchen. Weil wir wissen, daß die Angst, 114 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

daß kontrollierbare Herausforderungen und unkontrollierbare Belastung die Wege unseres Denkens und Fühlens bestimmen werden, können wir uns fragen, ob ihr Rat mit dem vereinbar ist, was wir wollen und ob ihr Rat uns deshalb auf einen Weg führen kann, der nicht zwangsläufig wieder als Sackgasse enden muß. Was, so mögen Sie nun noch fragen, nützt uns all das schöne Wissen. Die Entwicklungen so vieler einzelner Menschen und deshalb auch der Gesellschaften, die sie bilden, sind inzwischen so fehlgerichtet, daß jeder Versuch einer Kursänderung unabsehbare Folgen hätte. Ist das wirklich so? Die Menschen vor uns haben unendlich viel Zeit damit verbracht, ihre Waffen zu schärfen, Reichtum, Macht und Wissen anzuhäufen. Dabei sind zwangsläufig immer komplexere und immer stärker vernetzte gesellschaftliche Beziehungen entstanden. Solche Systeme brechen nicht plötzlich wie ein Kartenhaus zusammen. Sie lassen sich ganz allmählich und sehr gezielt verändern, indem immer mehr Menschen an all den Stellen, wo ein solches System bedrohlich starr zu werden beginnt, zur Seite treten und einfach einen anderen Weg einschlagen. Vielleicht ist es das, was Julian Huxley mit seiner Bemerkung meinte, »der Mensch (sei) nichts anderes, als die zum Bewußtsein ihrer Selbst gelangte Evolution«. Hier und dort beginnt einer, eine Melodie zu summen, die von allen anderen und über alle Gräben hinweg wiedererkannt wird. Es ist ein uraltes Lied, das von Einzelnen immer wieder einmal gesungen wurde, solange es Menschen auf dieser Erde gibt. Es ist das Lied von der Befreiung unseres Denkens, Fühlens und Handelns aus den Fesseln der Angst. Ich glaube, es ist Zeit, daß wir von unserem Hügel herunterkommen. Ich wünsche Ihnen Umsicht und Zuversicht auf all Ihren Wegen. Leben Sie wohl! 115 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

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Die wichtigsten im Text gebrauchten Fachausdrücke ACTH: adrenokortikotrophes Hormon aus der Hirnanhangdrüse, → Streßreaktion adaptive Modifikation: Anpassung komplexer synaptischer Verschaltungsmuster, → Neuroplastizität adaptive Reorganisation: Neustrukturierung neuronaler Netzwerke, → Neuroplastizität Adenohypophyse: Hirnanhangdrüse, → Streßreaktion Adrenalin: Hormon des Nebenrindenmarks, → Streßreaktion adrenokortikales System: Hormone aus der Hirnanhangdrüse regen die Sekretion von Kortisol durch die Zellen der Nebennierenrinde an, → Streßreaktion Amnionflüssigkeit: Fruchtwasser Amygdala: Hirnregion, → Limbisches System assoziativer Kortex: Netzwerk der Großhirnrinde, → Kortex Astrozyten: sternförmige Zellen des Nervenstützgewebes, auch an Nervenstoffwechselvorgängen beteiligt, → Neuroplastizität Axon: zentraler, für die Erregungsleitung wesentlicher Teil des langen Fortsatzes der Nervenzellen, → Neuron c-AMP: zyklisches Adenosinmonophosphat; Substanz, die bei der Mittlung der Hormonwirkung innerhalb der Zelle beteiligt ist, → Genexpression CRF: Corticotropin releasing factor; Stoff, der in der Hirnanhangdrüse ein Hormon (ACTH) freisetzt und seinerseits die Tätigkeit der Nebennierenrinde reguliert, → Streßreaktion Cytoarchitektur: Zellanordnung, → Neuroplastizität Deafferenzierung: Unterbrechung der Erregungsweitergabe (durch die hinteren Nervenwurzeln) an das Zentralnervensystem, → Neuroplastizität Degeneration, terminale, retrograde: Rückbildung von Fortsätzen und Verbindungsstellen der Nervenzellen, → Neuroplastizität Dendrit, Dendritenbaum: Fortsatz, oft stark verzweigt (Baum), der Nervenzelle, → Neuron Distress vocalizations: Angstrufe von jungen Versuchstieren bei Belastungen dopaminerges System: Transmittersystem, → ZNS

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Dysstreß: veraltete Vorstellung von »schädigenden« Streßreaktionen gegenüber »Eustreß« als fördernden Einfluß, → Streßreaktion Endothelzellen: Wandzellen der Blutgefäße enriched environments: besonders reichhaltig und abwechslungsreich gestaltete Aufzuchtbedingungen Eustreß: veraltete Vorstellung von »förderlichen« Streßreaktionen gegenüber »Dysstreß« als pathogenen Einfluß, → Streßreaktion experience-dependent plasticity: durch individuelle Erfahrungen ausgelöste Anpassungen der Struktur und Funktion neuronaler Verschaltungen im Zentralnervensystem, → Neuroplastizität Extinktion: Auslöschung, Vergessen von bereits erlernten Gedächtnisinhalten Genexpression: die von bestimmten Abschnitten (Genen) der Erbsubstanz (DNA) tatsächlich von der Zelle abgelesene und in entsprechende Eiweißmoleküle »übersetzte« Information des Zellkerns. Der Kern enthält wesentlich mehr genetische Informationen als die, die beispielsweise von einer bestimmten Nervenzelle exprimiert wird. Veränderungen der Genexpression führen oft zu grundlegenden Veränderungen der Struktur und Funktion der betreffenden Zellen. Wichtige Auslöser hierfür sind Mediatoren der interzellulären Kommunikation (→ Zellkommunikation). Sie können durch Aktivierung von Rezeptoren auf der Zelloberfläche eine Sequenz von intrazellulären Mechanismen der Signalübertragung auslösen (z. B. Erhöhung der c-AMP-Produktion oder des intrazellulären Kalziumspiegels), die u. U. bis zu Änderungen auf der Ebene der Genexpression reicht. Andere Mediatoren (Kortisol) verbinden sich mit ihren Rezeptoren (cytoplasmatische Glukokortikoidrezeptoren), sog. Liganden-gesteuerte Transkriptionsfaktoren, die dann in den Zellkern wandern und dort u. U. tiefgreifende Änderungen der Genexpression auslösen. Gliazellen: Zellen des Nervenstützgewebes, auch an Nervenstoffwechselvorgängen beteiligt, → Neuroplastizität Glukokortikoide: Wirkstoffe aus der Nebennierenrinde, beeinflussen vielfältige Zellfunktionen (Kortisol), → Streßreaktion Glutamat: Salz der Glutaminsäure, wichtiger Neurotransmitter, → Zellkommunikation Handling: regelmäßiges Herausnehmen von Versuchstieren aus ihrer gewohnten Umgebung Hippokampus: halbmondförmige Hirnstruktur des → limbischen Systems, bedeutsam für Lern- und Gedächtnisleistungen

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HPA-System: Hypothalamo-hypophyseo-adrenokortikales System; neuronal ausgelöstes, hormonelles Reaktionssystem, an dem Zwischenhirn, Hirnanhangdrüse und Nebennierenrinde beteiligt sind, → Streßreaktion Hypothalamus: Teil des Zwischenhirns, → limbisches System intrauterin: in der Gebärmutter, vorgeburtlich juvenil: jugendlich Katecholamine: Signalstoffe (Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin) der Zellkommunikation, wirken als Transmitter, Hormone und Modulatoren auf Nerven- bzw. Körperzellen, → Streßreaktion Keratinisierung: Verhornung der Haut Kortex: Hirnrinde. Diese Hirnregion ist beim Menschen besonders entwickelt und enthält ca. 14 Milliarden Nervenzellen, die im Neokortex zu komplexen assoziativen Netzwerken verbunden sind (assoziativer Kortex, präfrontaler Kortex). Von den neuronalen Netzen des Neokortex werden die höchsten integralen Funktionen gesteuert. Bestimmte Bereiche des Kortex sind vorwiegend an der Verarbeitung von Informationen aus dem Körper beteiligt (somatosensorische Projektionsfelder), andere Areale enthalten auf die Verarbeitung von Sinneseindrücken spezialisierte Netzwerke (optische, akustische Felder) oder sind für die Bewegungskoordination zuständig (motorische Felder). Als Pyramidenzellen bezeichnet man einen besonders großen, auffälligen Zelltyp des Kortex, der sich durch besonders weitreichende Fortsätze auszeichnet Kortisol: Glukokortikoid der Nebennierenrinde mit vielfältigen Wirkungen auf Nerven- und Körperzellen, → Streßreaktion, → Zellkommunikation, → Genexpression Ligand: Signalstoff, von Zellen abgegeben, der an spezifischen Rezeptoren anderer Zellen anbindet und dort bestimmte Reaktionen auslöst, → Zellkommunikation Limbisches System: gürtelförmig um den Hirnstamm gruppiertes Areal neuronaler Netze, die intensiv miteinander sowie mit höher- und tiefergelegenen Netzwerken des Gehirns verbunden sind. Es erhält seine Informationen parallel zu diesen anderen Hirnregionen und wirkt modulierend auf die dort ablaufenden Verarbeitungsprozesse ein. Es hat eine zentrale Bedeutung für die Entstehung von Emotionen (Amygdala), für Lern- und Gedächtnisleistungen (Hippocampus) und für die Regulation vegetativer Funktionen (Hypothalamus). Locus coeruleus: wichtigstes Kerngebiet des zentralen noradrenergen Systems, → Streßreaktion

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Mediator: Signalstoff, dient der Kommunikation zwischen Zellen, → Zellkommunikation Modulator: Signalstoff, der die Kommunikation zwischen Zellen beeinflußt, → Zellkommunikation monoaminerge Systeme: Transmittersysteme, die Monoamine (Noradrenalin, Serotonin, Dopamin) als Signalstoffe ausschütten Neokortex: stammesgeschichtlich junger Teil der Großhirnrinde, → Kortex Neuron: Nervenzelle. Charakteristischer, extrem polarisierter Zelltyp des Nervensystems, der in der Lage ist, an der Zelloberfläche eintreffende Informationen aufzunehmen, in elektrische Impulse umzuformen und an nachfolgende Strukturen weiterzuleiten. Besitzt Fortsätze, meist mehrere stark verzweigte Dendriten (Dendritenbaum) zur Informationsaufnahme sowie ein oft reichlich verzweigtes Axon zur Informationsweiterleitung in Projektionsgebiete. Am Axonende befinden sich Verdickungen (Präsynapsen), aus denen bei Erregung Botenstoffe (Transmitter) in den synaptische Spalt abgegeben werden. Sie binden an spezifische Eiweiße (Rezeptoren) der postsynaptischen Membran nachgeschalteter Nervenzellen und lösen dort u.U. eine erneute Erregung aus. neuronal pathways: Nervenbahnen, Verbindungen zwischen Nervenzellen Neuroplastizität: Gesamtheit der nach Abschluß der Hirnentwicklung stattfindenden Anpassungen der Struktur und Funktion der im → ZNS angelegten neuronalen Verschaltungen an veränderte Anforderungen oder Nutzungsbedingungen. Sie reicht von den experimentell durch lokale Stimulation auslösbaren Veränderungen der Effizienz der Signalübertragung an einzelnen Synapsen (synaptische Plastizität) über elektronenmikroskopisch sichtbare Änderungen synaptischer Strukturen und synaptischer Verschaltungsmuster bis hin zur adaptiven Modifikation und Reorganisation komplexer synaptischer Verschaltungsmuster neuronaler Netzwerke, die sogar lichtmikroskopisch als Veränderungen der Cytoarchitektur (Anordnung der Nervenzellen) sowie der Ausformung von Axon- und Dendritenbäumen sichtbar sind und u. U. mit Veränderungen der Gefäßversorgung (Vaskularisierung) einhergehen können. Nach Abschluß ihrer Proliferation können sich Nervenzellen nicht mehr teilen, ihre Fortsätze und Synapsen sind jedoch in der Lage, sich zurückzubilden (retrograde terminale Degeneration) bzw. neu auszuwachsen (collateral sprouting, Synaptogenese). Besonders deutlich

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werden solche neuroplastischen Veränderungen nach Verlust oder fortdauernder Nichtbenutzung bestimmter Eingänge (Deafferenzierung), nach massiven hormonellen Veränderungen (z. B. Pubertät, Streßreaktion). Eine wichtige Rolle bei der Regulation dieser Umbauprozesse spielen Gliazellen (sog. Hüll- oder Stützzellen, sind in vielen Hirnregionen zahlreicher vorhanden als Nervenzellen), insbesondere Astrozyten (sternförmige Gliazellen), die entscheidend an der Regulation der »Arbeitsbedingungen« der sie umgebenden Nervenzellen beteiligt sind (Sicherung der Versorgung, Aufrechterhaltung des Ionenmilieus, Abgabe von Wachstumsfaktoren, sog. neurotrophen Faktoren). neurotrophe Faktoren: Substanzen, die das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen fördern, → Zellkommunikation, → Neuroplastizität Noradrenalin: Transmitter und Hormon, → Zellkommunikation, → Streßreaktion noradrenerges System: Transmittersystem (zentrales NS im Hirnstamm, peripheres NS), wirkt durch Ausschüttung von Noradrenalin, → ZNS, → Streßreaktion Nucleus paraventricularis: wichtiges Kerngebiet im Zwischenhirn, → Streßreaktion parasympathisches Nervensystem: Teil des vegetativen Nervensystems, Gegenspieler des sympathischen NS, → ZNS peptiderge Systeme: Transmittersysteme, die Peptide als Signalstoffe ausschütten, → ZNS perinatal: kurz vor, während und kurz nach der Geburt Postsynapse: nachgeschalteter Bereich der Verbindungsstelle zwischen Nervenzellen, → Neuron präfrontaler Kortex: Teil der Großhirnrinde, → Kortex Präsynapse: vor der Verbindungsstelle zwischen Nervenzellen gelegener Bereich des Nervenfortsatzes, → Neuron Projektionen: neuronale Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnregionen, → Neuron, → Kortex Proliferation: Zellteilung, → Neuroplastizität Prostaglandine: Hormongruppe mit zahlreichen Vertretern, → Zellkommunikation Pyramidenzellen: besonders großer Zelltyp in der Großhirnrinde, → Kortex Rezeptoren: aufnehmende, reizempfangende Zellstrukturen, → Neuron, → Zellkommunikation, → Genexpression SAM-System: Sympatho-adrenomedulläres System, neuronal aktiviertes Reaktionssystem, bestehend aus sympathischem Nervensystem und Nebennierenmark, wirkt über die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin, → Streßreaktion

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Sauropsiden: Sammelbezeichnung für Reptilien und Vögel und deren gemeinsame Vorfahren sensorische Eingänge: über das periphere Nervensystem eintreffende Informationen, → ZNS serotonerges System: Transmittersystem, → ZNS Serotonin: Transmitterstoff, → ZNS Sexualsteroide: von den Geschlechtsdrüsen gebildete Signalstoffe (Geschlechtshormone), → Zellkommunikation somatosensorische Projektionsfelder: Teile der Großhirnrinde, die Informationen aus dem Körper verarbeiten, → Kortex Streßreaktion, neuroendokrine: relativ unspezifische Reaktion des Organismus auf physische oder psychische Belastungen. Die Reaktion auf psychische Stressoren (Herausforderungen, Belastungen) ist von der individuellen Bewertung abhängig. Sie beginnt mit einer unspezifischen Aktivierung assoziativer Netzwerke in kortikalen und limbischen (subkortikalen) Regionen. Als Folge dieser Arousal-Reaktion kommt es zur Aktivierung des zentralen noradrenergen Systems (Locus coeruleus und noradrenerge Kerne des Hirnstammes) sowie des peripheren noradrenergen Systems (sympatho-adrenomedulläres System, SAM-System, verstärkte Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin durch sympathische Nervenendigungen und Nebennierenmark). Im Fall stärkerer, anhaltender und als unkontrollierbar eingeschätzter Belastungen führt die auf hypothalamische Kerngebiete (Nucleus paraventricularis) übergreifende Erregung zur Freisetzung von CRF (corticotropin releasing factor) und Vasopressin. Beide Release-Hormone stimulieren die Freisetzung von ACTH (adrenokortikotrophes Hormon) aus der Adenohypophyse (Hirnanhangdrüse). ACTH wiederum regt die Sekretion von Glukokortikosteroiden (beim Menschen Kortisol) durch die Zellen der Nebennierenrinde an. Dieses neuronal getriggerte hormonelle Reaktionssystem bezeichnet man als hypothalamo-hypophyseo-adrenokortikales System (HPA-System, HPA-Achse). Die häufig verwendeten Bezeichnungen Eustreß für die kurzzeitige Aktivierung des SAM- und HPA-Systems und Dysstreß für die langanhaltende Aktivierung des HPA-Systems sind irreführend. sympathisches Nervensystem: Teil des vegetativen Nervensystems, Gegenspieler des parasympathischen NS, → ZNS Synapse: Verbindungsstelle zwischen Nervenzellen, → Neuron Synaptogenese: Neubildung von Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, → Neuroplastizität Testosteron: Geschlechtshormon, → Zellkommunikation

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Transmitter: Botenstoff zur Kommunikation zwischen Nervenzellen, → Neuron, → Zellkommunikation Trigger: Auslöser, → Zellkommunikation Vaskularisierung: Gefäßversorgung, → Neuroplastizität Vasopressin: Hormon, → Streßreaktion Zellkommunikation: wechselseitige Beeinflussung von Zellen durch Abgabe bestimmter Signalstoffe (Mediatoren), die als Liganden an spezifische Rezeptoren anderer Zellen anbinden und durch deren Aktivierung eine spezifische Antwort auslösen (triggern). Die Mediatoren der synaptischen Signalübertragung (→ Neuron) werden als Transmitter bezeichnet (z. B. Serotonin, Glutamat). Die mit dem Blutkreislauf verteilten Signalstoffe heißen Hormone (z. B. Sexualsteroide wie Testosteron oder Glukokortikoide wie Kortisol). Für die von einer Zelle abgegebenen und zu benachbarten Zellen durch das Gewebe diffundierenden Signalstoffe hat man sich noch nicht auf einen gemeinsamen Namen einigen können (Modulatoren, Zytokine, Prostaglandine, neurotrophe Faktoren). Manche Signalstoffe werden sowohl als Transmitter, als Hormon und als Modulator benutzt (z. B. die Katecholamine Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin) ZNS: Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark), hat die Aufgabe, die über das periphere Nervensystem zugetragenen Informationen (sensorische Eingänge) zu verarbeiten, z. T. zu speichern und in verarbeiteter Form über das periphere Nervensystem an die Erfolgsorgane abzugeben (sympathisches und parasympathisches System). Die Verarbeitung der eintreffenden Informationen und ihre Abgleichung mit bereits gespeicherten Informationen erfolgt in regionalen neuronalen Netzwerken, die z. T. eng miteinander verflochten sind und deren Aktivität durch sog. globale Transmittersysteme moduliert und harmonisiert wird (z. B. monoaminerge, d. h. noradrenerge, serotonerge und dopaminerge Systeme, auch peptiderge Systeme). Zytokine: Signalstoffe zwischen Zellen, vor allem des Immunsystems, → Zellkommunikation

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130 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Wenn Sie weiterlesen möchten ... Gerald Hüther

Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn Wie wird ein Mann ein Mann? Oder etwas präziser: Wie wird aus dem, was ein Mann werden könnte, schließlich das, wofür sich der Betreffende aufgrund seines Geschlechtsteils hält? Diese Frage beschäftigt den Biologen, Hirnforschers und Bestsellerautors Gerald Hüther in seinem neuen Buch. Die wichtigste Erkenntnis der Hirnforschung lautet: Das menschliche Gehirn ist weitaus formbarer, in seiner inneren Struktur und Organisation anpassungsfähiger, als bisher gedacht. Auch das von Männern. Die Nervenzellen und Netzwerke verknüpfen sich so, wie man sie benutzt. Das gilt vor allem für all das, was man mit besonderer Begeisterung in seinem Leben tut. Was aber ist es, wofür sich schon kleine Jungs, später halbstarke Jugendliche und schließlich die erwachsenen Vertreter des männlichen Geschlechts so ganz besonders begeistern? Und weshalb tun sie das? Warum hat für viele oft gerade das so große Bedeutung, was den Mädchen und Frauen ziemlich schnuppe ist? Männer sind von anderen Motiven geleitet und benutzen deshalb ihr Gehirn auf andere Weise – und damit bekommen sie zwangsläufig auch ein anderes Gehirn. Wenn es Männern gelänge, sich nicht an Wettbewerb und Konkurrenz auszurichten, sondern die in ihnen angelegten Potenziale zu entfalten, fände eine Transformation auf dem Weg zur Mannwerdung statt. Dann gäbe es kein schwaches Geschlecht mehr.

Gerald Hüther

Wie aus Stress Gefühle werden Betrachtungen eines Hirnforschers Photographien von Rolf Menge Nichts fürchten wir so sehr wie unsere ureigenen Ängste. Und doch sind es gerade unsere Ängste in all ihren Schattierungen, die unsere geistige und emotionale Entwicklung in Bewegung bringen. Angst und immer wieder nur Angst bewirkt im Menschen einen Stress-Reaktions-Prozeß, der die Voraussetzungen schafft für die Lebensgestaltung auf geistiger, emotionaler und körperlicher Ebene.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

Gerald Hüther lädt ein zur Besinnung, zum Innehalten und zur Einstimmung in eine neue Gedankenwelt. Die Kernaussagen seines erfolgreichen Buches Biologie der Angst und die ruhige Art seiner Argumentation werden in diesem Band zusammengeführt mit meisterhaften Fotografien. Das Buch lädt ein zur Konzentration wie auch zur Abschweifung, vor allem zum Dialog mit einem hellen Gedankengebäude.

Gerald Hüther

Die Evolution der Liebe Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen Seit mehr als einem Jahrhundert sind die Naturforscher nun schon damit beschäftigt, die vielfältigen Formen des Lebens in ihre kleinsten Bausteine zu zerlegen. Für die Herausbildung der Formenvielfalt machen sie seit Darwin ein einziges Grundprinzip verantwortlich: die Konkurrenz. Ihren Theorien über die Bedeutung der natürlichen Auslese und das Überleben der Besten im Kampf ums Dasein, über angeborene Verhaltensweisen und Instinkte, über egoistische Gene, über Sexualität und Partnerwahl und den Krieg der Geschlechter fehlt jedoch die entscheidende andere Hälfte. Sie haben bisher vergessen, danach zu suchen, was die lebendige Welt, was den Einzelnen, was ein Paar, was eine Gruppe und was nicht zuletzt auch die menschliche Gemeinschaft im Innersten zusammenhält: die Liebe.

Gerald Hüther

Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn In der modernen Hirnforschung wurden bahnbrechende Entdeckungen gemacht. Die sogenannte Plastizität des menschlichen Gehirns bedeutet, dass es lebenslang veränderbar, ausbaubar, anpassungsfähig ist. Sogar die Masse der Gehirnzellen ist, entgegengesetzt der früheren Auffassung der Wissenschaftler, nicht endgültig festgelegt, sondern kann im Verlauf des Lebens noch zunehmen. Nach den neuesten Erkenntnissen der Hirnforscher hat

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014394 — ISBN E-Book: 9783647014395

die Art und Weise der Nutzung des Gehirns einen entscheidenden Einfluss darauf, welche neuronalen Verschaltungen angelegt und stabilisiert oder auch destabilisiert werden. Die innere Struktur und Organisation des Gehirns passt sich also an seine konkrete Benutzung an. Wenn das Gehirn eines Menschen aber so wird, wie es gebraucht wird und bisher gebraucht wurde, dann stellt sich die Frage, wie wir eigentlich mit unserem Gehirn umgehen müssten, damit es zur vollen Entfaltung der in ihm angelegten Möglichkeiten kommen kann. In einer leicht lesbaren, bildreichen Sprache geht der Neurobiologe Gerald Hüther diesem Fragenkomplex nach und gelangt zu Erkenntnissen, die unser gegenwärtiges Weltbild erschüttern und die uns zwingen, etwas zu übernehmen, was wir bisher allzu gern an andere Instanzen abgegeben haben: Verantwortung.

Gerald Hüther

Die Macht der inneren Bilder Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern Innere Bilder – das sind all die Vorstellungen, die wir in uns tragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Es sind Ideen und Visionen von dem, was wir sind, was wir erstrebenswert finden und was wir vielleicht einmal erreichen wollen. Es sind im Gehirn abgespeicherte Muster, die wir benutzen, um uns in der Welt zurechtzufinden. Wir brauchen diese Bilder, um Handlungen zu planen, Herausforderungen anzunehmen und auf Bedrohungen zu reagieren. Aufgrund dieser inneren Bilder erscheint uns etwas schön und anziehend oder hässlich und abstoßend. Innere Bilder sind also maßgeblich dafür, wie und wofür wir unser Gehirn benutzen. Woher kommen diese inneren Bilder? Wie werden sie von einer Generation zur nächsten übertragen? Was passiert, wenn bestimmte Bilder verloren gehen? Gibt es innere Bilder, die immer weiterleben? Benutzen nur wir oder auch andere Lebewesen innere Bilder, um sich im Leben zurechtzufinden? Gibt es eine Entwicklungsgeschichte dieser inneren Muster?

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Der Hirnforscher Gerald Hüther sucht in seinem neuen Buch nach Antworten auf diese Fragen – nicht als Erster, aber erstmals aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive. So schlägt er eine bisher ungeahnte Brücke zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Weltbildern, die eine Verbindung zwischen materiellen und geistigen Prozessen, zwischen der äußeren Struktur und der inneren Gestaltungskraft aller Lebensformen schafft. Diese Synthese gelingt dem Autor mit der ihm eigenen Leichtigkeit in der Darstellung.

Adam Phillips

Wunschlos glücklich? Über seelische Gesundheit und den alltäglichen Wahnsinn Aus dem Englischen von Florian Langegger

Ob man als Baby von neuen Erfahrungen überflutet wird, als Pubertierender vielen neuen Verwirrungen ausgesetzt oder durch seine eigenen sexuellen Phantasien als Erwachsener irritiert ist – die Verrücktheit scheint überall zu lauern und gleichzeitig ein völlig »normaler« menschlicher Zustand zu sein. In unserer Leistungsgesellschaft nehmen psychische Krankheiten zu, wo doch das »Normalsein« gefordert ist. Die Verrücktheit umgibt – wenngleich sie letztendlich oft destruktiv wirkt – ein Hauch von Glamour, in ihrer Begleitung finden sich oft Begriffe wie Genie, Kreativität und Individualität. Der Begriff Gesundheit jedoch verwirrt. Was ist (seelische) Gesundheit, was macht sie aus? Wann sind wir »gesund« und »normal«? Adam Phillips sucht und findet Antworten auf diese Fragen, die überraschen und zum Nachdenken anregen.

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Mit jedem Schritt achtsam bei dem sein, was ist

Friedrich D. Hinze

Acht Schritte zur Achtsamkeit Ein Buch zum Tun und Lassen 2011. 158 Seiten mit 19 Abb. und 23 farbigen Karten, kartoniert in Schuber ISBN 978-3-525-40432-4

Das Buch ist mehr als ein Buch. Es besteht aus zwei Teilen: Einem Lesebuch und den »Einsichtskarten der Achtsamkeit«. Die alltagsnahe, handlungsorientierte und leicht verständliche Darstellung des Themas regt zum Weiterdenken an. Farbige Abbildungen erweitern den Blick. Vielseitige Übungen setzen achtsames Verhalten in Gang. Die Einsichtskarten vermitteln Einsichten, die zum Tun bewegen und zum Lassen raten. Mit den wegweisenden Karten in der Hand hat der Leser gute Aussichten, in acht Schritten zum achtsamen Umgang mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu gelangen.

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Aus unserem Programm Till Bastian

Die Seele als System

Gerhard Roth / Klaus-Jürgen Grün / Michel Friedman (Hg.)

Wie wir wurden, was wir sind

Kopf oder Bauch?

2010. 224 Seiten mit 9 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40167-5

Zur Biologie der Entscheidung

Das Freud’sche Seelenmodell mit seinen Instanzen Es, Ich, Über-Ich wird heutzutage von vielen Psychotherapeuten als ungenügend empfunden, und doch müht man sich nach wie vor, eine Struktur des Seelenlebens anhand von Denkmodellen und Bauplänen zu erfassen. Till Bastian geht in seinem Buch einen anderen Weg. Er fasst die Seele als ein Wirkungsgefüge vieler verschiedener Funktionen auf, die sich in den Jahrtausenden der Menschwerdung entwickelt haben. Der evolutionäre Gesichtspunkt spielt in Bastians Darstellung eine entscheidende Rolle, wobei er die Konzepte der Theory of Mind und der Mentalisierung genauer in den Blick nimmt sowie einen Theorieentwurf zur Motivation vorstellt. Ein Kapitel über die Essentials psychotherapeutischen Vorgehens bildet den Abschluss.

Warum steht auf Zigarettenpackungen die Warnung, dass Rauchen tödlich sein kann? Weil wir es dem Einzelnen nicht zutrauen, immer diejenige Entscheidung zu treffen, die die Allgemeinheit für die richtige hält. Ein Regelwerk von Gesetzen und moralischen Vorgaben soll den Menschen vor »falschen« Entscheidungen bewahren. Unser Gehirn ist aber darauf ausgerichtet, unsere Lebensbedürfnisse auf möglichst einfache, ressourcenschonende Art zu organisieren. Dieses Prinzip der Denkökonomie konterkariert unsere vernunft- und ethikbasierten Theorien der Entscheidung und fordert zum Umdenken und zu einer Neubewertung heraus.

2010. 160 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40231-3

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