Biographie und Philosophie: Die Lebensbeschreibung bei Wilhelm Dilthey 9783737005289, 9783847105282, 9783847005285

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Biographie und Philosophie: Die Lebensbeschreibung bei Wilhelm Dilthey
 9783737005289, 9783847105282, 9783847005285

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Francesca D’Alberto

Biographie und Philosophie Die Lebensbeschreibung bei Wilhelm Dilthey

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0528-2 ISBN 978-3-8470-0528-5 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0528-9 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Titel der Originalausgabe: Biografia e filosofia. La scrittura della vita in Wilhelm Dilthey, FrancoAngeli, Milano 2005. Dieses Buch wurde durch einen Zuschuss für Druck- und Veröffentlichungskosten der Universität von Padua, Institut für Philosophie, Soziologie, Pädagogik und Angewandte Psychologie (FISPPA) im Rahmen des Projektes Giovani Studiosi 2013 Prot. GRIC13KUFT »Friedrich Schleiermacher als Philosoph und Gesprächspartner des Deutschen Idealismus« realisiert. Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1: Haym und Dilthey : Die Epoche der Biographie . . . . . . . . 1. Dilthey versus Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Charakteristik und die misslungene Biographie . . . . . . . . . . . . 3. Die vorsichtige Versöhnung zwischen Kunst und Geschichte bei Rudolf Haym . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Theoretische Anmerkungen zu Leben Schleiermachers . . . . . . . . 5. Haym als Interpret Diltheys: Die unvermeidbar künstlerische Form der Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die philosophische Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 19

Kapitel 2: »Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers . . . . 1. Generation und individuelles Leben . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Möglichkeiten der Lebensbeschreibung . . . . . . . . . . . . 3. Das Verschwinden des Individuums in der Biographie . . . . . . 4. Leben und Denken: Die Gestaltung des philosophischen Werkes 5. Die Kritik an Hegels Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die schwierige Messung historischer Wirkungen . . . . . . . . . 7. Die umfassende Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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53 53 62 65 69 74 76 78

Kapitel 3: Biographie und Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . 1. Über die Einbildungskraft der Dichter : Der Fall Goethe . . . . . 1.1 Dichtung und Wahrheit: Die Quelle und das Werk . . . . . . 1.2 Biographischer Vergleich und Erkenntnistheorie . . . . . . . 2. Die vielfältige Rolle der Biographie in den Geisteswissenschaften 3. Kunst und Wissenschaft: Die Individualisierung . . . . . . . . . 4. Die Beschreibung der Individualität: Struktur und Entwicklung . 5. Gleichförmigkeit, Individuation, Typus . . . . . . . . . . . . . .

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87 87 90 94 96 100 105 112

23 29 43 46

6

Inhalt

6. Das fragile Gleichgewicht der Biographie zwischen Kunst und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Auf dem Weg zur Jugendgeschichte Hegels . . . . . . . . . . . . . .

115 118

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123 123 126 129 131 137 140 147

Kapitel 5: Der Abschied von der Lebensgeschichte . . . . . . . . . . . . 1. Die autobiographische Begründung der Biographie . . . . . . . . . . 2. Die geschichtlichen Formen der Autobiographie und die Kategorien des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Lebensverlauf: Die Widersprüche des biographischen Konzepts. 4. Sich selbst und den Anderen verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der schwache Grundsatz der Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Biographie und geschichtlicher Zusammenhang . . . . . . . . . . . 7. Von der biographischen Ganzheit… . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. … zur Teilung des biographischen Modells . . . . . . . . . . . . . .

151 151 155 157 158 163 164 165 170

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 4: Die Jugendgeschichte Hegels . . . . . . . . 1. Dilthey und Hegels andere Biographen . . . . . 2. Die Mehrdeutigkeit der Fragmente . . . . . . . . 3. Das Fragment für sich: Der Teil ohne das Ganze 4. Eine Form der Metabiographie . . . . . . . . . . 5. Hegels Methode: Erlebnis und Nacherleben . . . 6. Jugend, Fragment, Manuskript . . . . . . . . . . 7. Bilanz des biographischen Schreibens . . . . . .

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Einleitung

Thema dieses Buches ist die Reflexion Wilhelm Diltheys über die biographische Gattung: Besondere Berücksichtigung finden dabei die von ihm verfassten biographischen Werke. Nicht nur aus methodologischen Gründen werden Theorie und konkrete historiographische Arbeit in diesem Buch zusammen betrachtet: Im Fall Diltheys stehen Theorie und historische Praxis in einem besonders engen Zusammenhang. Nicht zufällig hat er sein ganzes Leben neben seinem theoretischen Schaffen an verschiedenen Biographien gearbeitet, so auch an dem monumentalen Werk Leben Schleiermachers bis zu seinem Tod im Jahre 1911. Hat die Forschung die spärlichen theoretischen Überlegungen Diltheys zur Lebensgeschichte – wie die in dem bekannten Fragment Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften – mit Interesse analysiert, vernachlässigte sie dagegen die biographischen Werke Diltheys. Diese wurden nie systematisch untersucht. In dem vorliegenden Buch soll genau diese Lücke geschlossen werden mit dem Ziel, eine Brücke zwischen der Theorie der Biographie und dem konkreten biographischen Schreiben zu schlagen. So soll das Bild von Diltheys Arbeit vervollständigt werden. Das beschriebene Desinteresse der Forschung an den biographischen Werken Diltheys kann auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden. In erster Linie muss man hervorheben, dass die von ihm verfassten Biographien meistens im Licht seiner theoretischen Beschäftigung mit dem Thema der Autobiographie gelesen wurden. Obwohl sich Dilthey mit dem Thema der Autobiographie nur in den letzten Jahren seiner intellektuellen Tätigkeit beschäftigte und sich keines seiner Werke einzig diesem Thema widmet, haben seine Reflexionen darüber eine beachtliche Rezeption gefunden, vor allem, weil sie die Grundlage des monumentalen Werkes von Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, wurden1. Vor diesem Hintergrund führte das starke Forschungsin1 Vgl. G. Misch, Geschichte der Autobiographie, Frankfurt am Main, Schulte-Bulmke 1949 (2. Auf.).

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Einleitung

teresse an der Autobiographie und dem mit ihr verbundenen Begriff der Selbstbesinnung dazu, dass Autobiographie und Biographie häufig als getrennte Gebiete betrachtet wurden, was in eine einseitige Interpretation Diltheys resultierte. Dass Autobiographie und Biographie zwei ganz verschiedene Schicksale in der Rezeption erlebten, merkt man schon, wenn man in der Dilthey-Bibliographie beide Themen nachschlägt: Während die Anzahl der Publikationen zur Biographie, die im Folgenden dargestellt werden, gering ist, haben sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Beiträge über die Autobiographie vervielfältigt. Das betrifft unterschiedliche Wissensfelder – von der Psychologie über die Soziologie bis zur Geschichte der Politik hat die Autobiographie starke Resonanz gefunden2. Demzufolge ist ein zentrales Element – die enge Beziehung zwischen Selbstbiographie und Biographie, die Dilthey thematisierte und theoretisch begründete –, verloren gegangen. Wie in diesem Buch entwickelt wird, findet Dilthey den Ursprung der Autobiographie in der Biographie: Es ist ein entscheidender Punkt seiner Theorie, den Zusammenhang zwischen beiden Dimensionen zu verdeutlichen. Um die diltheysche Konzeption der Selbstbiographie zu begreifen, gilt es zunächst, die grundlegende Rolle der Biographie zu verstehen. Nur dadurch wird die Bedeutung der Autobiographie deutlich. Ein weiterer Grund für das geringe Forschungsinteresse an den Biographien Diltheys liegt in der Vereinfachung seiner Konzeption der Lebensbeschreibung. In dem verbreiteten Vorurteil, dass das biographische Modell Diltheys eindeutig sei, geht dessen Komplexität verloren. Die im Laufe des Buches diskutierte These, dass dieses Modell von der Theorie des Verstehens inspiriert und darüber hinaus auf deren Kategorien reduzierbar sei, übte einen starken Einfluss aus. Da Dilthey erst in den letzten Jahren eine – wenn auch fragmentarische – »Theorie der Biographie« geschrieben hat, hat man diese späten Überlegungen als sein letztes Wort zum Thema der Lebensgeschichte betrachtet. Dabei wurde vergessen, dass er sich Zeit seines Lebens immer wieder von Neuem theoretisch mit dem Thema der Biographie beschäftigt hat. Als Beispiel für diese Reduktion der diltheyschen Theorie der Biographie auf sein Verstehensmodell sei hier ein Text von Monika Schulten genannt, die Jean-Paul Sartre und Dilthey vergleicht3. Mit 2 Vgl. dazu unter anderem W. Flach, Die wissenschaftstheoretische Einschätzung der Selbstbiographie bei Dilthey, »Archiv für Geschichte der Philosophie«, 52 (1970), S. 172ff.; A. Pranteda, Individualit— e autobiografia in Dilthey, Guerini e Associati, Milano 1991; M. Jaeger, Autobiographie und Geschichte: Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Metzler, Stuttgart-Weimar 1995. 3 Vgl. M. Schulten, Jean-Paul Sartres ›L’idiot de la famille‹. Ein methodisches Modell der Dichterbiographie: Vergleich zwischen Wilhelm Diltheys verstehender und Jean-Paul Sartres dialektischer Konzeption der Biographie, Peter Lang, Frankfurt am Main-Bern-New YorkParis 1991.

Einleitung

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dem Zweck, Raymond Arons These eines Mangels an Originalität des biographischen Ansatzes Sartres im Vergleich mit dem Diltheys zu kritisieren4, hebt Schulten die vielfältigen Schichten von Sartres Modell hervor. Dabei vernachlässigt sie verschiedene Aspekte von Diltheys biographischer Konzeption. Nach Schultens Interpretation stellen die diltheyschen Reflexionen über Biographien in den 1890er Jahren einfach eine rückwirkende Begründung seines Vorgehens beim Verfassen von Leben Schleiermachers dar. Das heißt, Schulten sieht keine Perspektivenänderung zwischen dem Ansatz in Leben Schleiermachers und der späteren Theorie der Biographie hinsichtlich des Verstehensmodells. Weitere Versuche, die Bedeutung der Biographie in Diltheys Denken zu erhellen, haben Seung-Naum Son und Hans-Hermann Groothoff unternommen; diese beschränken sich aber auf deren bildungsgeschichtliche und pädagogische Aspekte5. Um zu einer vollständigen Rekonstruktion des diltheyschen Denkens der Biographie zu gelangen, ist es notwendig, nicht nur die letzten Schriften Diltheys einzubeziehen, wie dies die meisten Interpreten gemacht haben, sondern die wichtigsten Biographien (Leben Schleiermachers und Jugendgeschichte Hegels) zu analysieren. Vor allem möchte dieses Buch die Reflexionen Diltheys an seine konkrete geschichtliche Arbeit an der Biographie rückbinden. Die Leitfrage dieser Forschung kann wie folgt zusammengefasst werden: Ist das biographische Modell Diltheys in der Tat eindeutig auf die Verstehenstheorie zurückzuführen oder hat es sich im Zuge der intellektuellen Entwicklung Diltheys und der Veränderung seiner theoretischen Grundfragen modifiziert? Welche Rolle hat das konkrete biographische Schreiben in der diltheyschen Grundlegung der Geisteswissenschaften gespielt? Ohne Zweifel machen Forschungsweise und Schreibart Diltheys eine historisch-genetische Rekonstruktion seiner Grundthemen nicht einfach: Die fragmentarische Form seiner berühmtesten Biographien sind entscheidender Grund solcher Schwierigkeiten. Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass die biographische Gattung selbst als insgesamt problematisch angesehen wurde: Zwar wurde sie in den meisten Feldern der Geistesgeschichte immer wieder verwendet, galt aber meistens als opus minor im Vergleich mit anderen historischen Gattungen. Diese Unterschätzung der Biographie als geschichtliches Modell hat eine starke Wirkung auch auf die Interpretation Diltheys gehabt. In diesem Sinn will das vorliegende Buch auch einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten,

4 R. Aron, Histoire et dialectique de la violence, Gallimard, Paris 1973, S. 218ff. 5 S. N. Son, Wilhelm Dilthey und die pädagogische Biographieforschung, Leske und Budrich, Opladen 1997; H.-H. Groothoff: Wilhelm Dilthey. Zur Erneuerung der Theorie der Bildung und des Bildungswesens, Hermann Schrödel Verlag, Hannover 1981.

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Einleitung

warum die Biographie beständig mit Schwierigkeiten konfrontiert war, sich als wissenschaftliche Form durchzusetzen. Die Schwierigkeit, diese geschichtliche Gattung näher zu bestimmen, hat mit ihren Merkmalen zu tun. Als literarisches Genre, das in allen schriftsprachlichen Kulturen der menschlichen Geschichte gepflegt wurde, lässt sich die Biographie nicht einfach definieren. Ein Beispiel für solche Klassifikations- und Definitionsschwierigkeiten gibt Friedrichs Sengle: In seiner Geschichte der Literatur der Biedermeierzeit versucht er, die verschiedenen Formen der Biographien zu klassifizieren und bestätigt dabei, dass sich die Biographie allen Kategorisierungen entzieht6. Obwohl dem Roman sehr nah, hat die Biographie eine beträchtliche Verwendung auch im geisteswissenschaftlichen Bereich gefunden, wobei ihre Rolle und Funktion nicht präzisiert wurden. Wir sehen uns in ihrem Fall vor einem Paradox: Die Gattung wurde in der abendländischen Geschichtsschreibung von Beginn an verwendet und auch ihr ästhetischer Wert steht außer Frage – aber ihre Wissenschaftlichkeit wird bezweifelt. Ob die Biographie neben dem ästhetischen auch einen wissenschaftlichen Wert hat, und insofern ein wichtiger Bestandteil der historischen Forschung ist, wurde im Laufe der Geschichte vielfach diskutiert. So hatte zum Beispiel schon Plutarch in den Kaiserviten zwischen Geschichte und Biographie unterschieden. Eine Diskussion über diese Unterscheidung entfaltete sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, dabei orientierte man sich stark an den antiken Vorgängern. In seiner Biographie Wallensteins aus dem Jahre 1869 stellte Leopold von Ranke fest, dass es notwendig sei, die universale Geschichte im Zusammenhang mit den Lebensgeschichten der für die historische Entwicklung entscheidenden Persönlichkeiten zu sehen7. Nicht bloße Beschreibung von Leben und Werk eines Philosophen, war die Biographie laut Ranke die Form, in der Individuelles und Allgemeines, Notwendigkeit und Freiheit sich versöhnten. Eine drastische Verleugnung jedes wissenschaftlichen Anspruchs der Lebensbeschreibung findet sich dagegen bei Johann Gustav Droysen: In seiner Historik findet die Biographie einen Platz nur unter den erzählerischen Formen der Geschichtsschreibung. Um eine wissenschaftliche und methodologisch strenge Historik zu begründen, war es Droysens Ansicht nach notwendig, deren narrative Seite zu tilgen: Kunstwerk und Geschichtsschreibung seien nicht miteinander verbindbar. Die Geschichtsforschung – so seine Forderung – solle anstreben, rein wissenschaftliche Historiographie zu sein8. Die Kritik an Ranke, der den historischen Wert der Biographie anerkannte und durch sie ein unmittelbares Verständnis der Geschichte ermöglicht sah, beinhaltete bei Droysen 6 F. Sengle, Biedermeierzeit. Band II. Die Formenwelt, Metzler, Stuttgart 1972, S. 306ff. 7 L. von Ranke, Geschichte Wallensteins, Duncker und Humblot, Leipzig, S. VII. 8 J. G. Droysen, Historik, hg. von R. Hübner, Oldenbourg, Wien-München 1977, S. 349ff.

Einleitung

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die Ablehnung jedes ästhetischen Charakters der historiographischen Arbeit. Hier zeigt sich, dass die Biographie als ästhetisches und literarisches Modell eine wichtige Rolle in der Diskussion über die Geschichtswissenschaft in der Romantik gespielt hat. Die kritische Rekonstruktion dieser Debatte war auch für das Werk von Hans-Georg Gadamer grundlegend9. Darüber hinaus kommt der Biographie eine besondere Bedeutung in der abendländischen Geschichte dadurch zu, dass sie ein ausgeprägtes ethisch-politisches Charakteristikum hat: Sie stellt das Verhältnis zwischen Individualität und Umwelt konkret dar. Nicht zufällig wurde sie als »Historiographie der Krise« interpretiert, die besonders in den Phasen der Auflösung der sozialen Verhältnisse und der gemeinsamen Werte Erfolg hat. In diesem Sinn bietet sie interessante Ansatzpunkte, um die Idee der Individualität und deren Rolle am Ende des 19. Jahrhunderts zu beleuchten. Dieselbe Wandelbarkeit zeigte die Biographie auch im philosophischen Bereich. Häufig als bloße Ansammlung unwichtiger Informationen und Daten angesehen, wurde sie oft als »unphilosophisch« charakterisiert. Obwohl sie das ursprüngliche Vorbild der Geschichte der Philosophie war – in Form des von Diogenes Laertius verfassten Von den Leben und Meinungen berühmter Philosophen –, führte sie in dieser Disziplin im Laufe der Zeit eine zunehmend randständige Existenz. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und mit der oben zitierten Debatte endet diese Verbannung langsam, sodass gerade im philosophischen Bereich einige epochemachende Biographien das Licht der Welt erblicken, unter denen jene von Rudolf Haym (Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik, 1856; Hegel und seine Zeit, 1857; Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 1880–1885) und Leben Schleiermachers von Wilhelm Dilthey (1870), gefolgt von Jugendgeschichte Hegels (1905)10. Angesichts dieser Lage ist die Prüfung von Diltheys biographischem Modell ein Weg, wichtige Aspekte dieser »Biographie-Renaissance« und die Verwendung von Biographien zur Rekonstruktion der Philosophiegeschichte als Kennzeichen der post-hegelianischen Epoche näher zu beleuchten. In der vorliegenden Arbeit spielt das Werk Leben Schleiermachers eine zentrale Rolle. Dieses Werk gehört zu jener frühen Phase von Diltheys Denken, als der Plan einer Grundlegung der Geisteswissenschaften noch nicht Gestalt angenommen hatte. Diese Grundlegung entfaltet sich allmählich, zusammen mit der intellektuellen Entwicklung Diltheys. Dabei kommt Leben Schleiermachers die Funktion eines »Kompendiums« zu und damit besonderer Wert. Die wich9 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Mohr, Tübingen 1960. 10 Eine kurze Betrachtung Diltheys innerhalb dieser »Biographie-Renaissance« findet man in G. Graevenitz, Geschichte aus dem Geist des Nekrologs. Zur Begründung der Biographie im 19. Jahrhundert, in »Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte« 54 (1980), S. 105ff.

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Einleitung

tigsten Themen der Biographie wurden erst ab den 1880er-Jahren vom Autor systematisiert. Unter den wenigen Interpretationen, die der Bedeutung von Leben Schleiermachers für Diltheys Philosophie gerecht werden, zeichnet sich Frithjof Rodi besonders aus. Indem er das Verhältnis zwischen Denken und philosophischer Tradition diskutiert, charakterisiert er das biographische Werk als Vorbild der »synergistischen Analyse« im geschichtlichen Bereich. Durch diesen Georg Misch entliehenen Ausdruck will Rodi ein Verfahren darstellen, das nicht nur einzelne Einflüsse untersucht, sondern Zusammenwirken und Synergie verschiedener Faktoren für jedes historische Phänomen11. Gerade in Leben Schleiermachers sieht Rodi eine »Einigung des Heterogenen« wirken, eine Synergie, die das einseitige hegelsche Schema für die Rekonstruktion der philosophischen Geschichte hinter sich lässt. Diese Interpretation argumentiert zudem gegen Gadamers Schleiermacher-Lektüre: Habe Gadamer die romantische Hermeneutik als Streben zur Objektivität ausgelegt, zeige die Biographie bei Dilthey dagegen eine ganz andere Art des Verhältnisses zwischen Biographen und Tradition. Das biographische Verständnis sei eine »verblüffende« Erfahrung, und nicht objektives und eindeutiges Verstehen. Diese Erfahrung Diltheys, betont Rodi, zeige die schwindende Kraft der Biographie: Nicht zufällig schaffte es Dilthey nicht, sein Werk zu Ende zu führen, da die vielen Probleme, auf die das biographische Schreiben stößt, ihn zwingen, immer wieder zu den Grundfragen der Lebensgeschichte, ihrer möglichen Konzeption und ihrer Beschreibung zurückzukommen. Das vorliegende Buch hat ein weiteres Charakteristikum, das schon an dieser Stelle erläutert werden soll. Das Thema der Biographie hat im besonderen Maße innerhalb der Hermeneutik Resonanz gefunden, und das vor allem, nachdem Gadamer die Beziehung zwischen Biographie und Erlebnis herausgearbeitet hatte12. Im Rahmen dieses Buches wird die Biographie außerhalb des hermeneutischen Ansatzes betrachtet: Dabei sollte man nicht vergessen, dass Dilthey keine Theorie der Biographie im Rahmen der Hermeneutik geschrieben hat. Vielmehr hat er versucht, durch unzählige biographische Porträts die Geistesgeschichte seiner Epoche zu rekonstruieren. Dies ist der Grund, warum im Folgenden seine wichtigsten Biographien analysiert werden, um zu verstehen, ob das konkrete Schreiben von Lebensgeschichten Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften geprägt hat und inwiefern Theorie und Praxis der Geschichtsschreibung sich bei Dilthey gegenseitig beeinflussen.

11 Vgl. F. Rodi, Erkenntnis der Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, S. 15ff. 12 Vgl. H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 66ff.

Kapitel 1: Haym und Dilthey: Die Epoche der Biographie

1.

Dilthey versus Haym

Dilthey hat sich intensiv mit Biographien von Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern beschäftigt, was sich auch in zahlreichen Publikationen, überwiegend Aufsätzen, niederschlug13. Sein berühmtestes biographisches Werk ist Leben Schleiermachers, in Berlin bei Reimer in den Jahren 1867 und 1870 veröffentlicht. An diesem Werk arbeitete Dilthey nicht nur während seiner jungen Jahre: Seine ganze intellektuelle Entwicklung war von dem Versuch gekennzeichnet, es zu beenden. Leider blieb sein Wunsch unerfüllt, das ganze Leben und das System Schleiermachers darzustellen, und das Leben Schleiermachers unvollständig. Das Werk entstand vor dem Hintergrund des großen Interesses Diltheys für den reformierten Theologen, das schon in den 1850er-Jahren geweckt wurde, und zu einem beständigen Teil seiner philosophischen Reflexionen wurde. 1860 schrieb Dilthey den Aufsatz Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik, der von der Schleiermacher-Stiftung gepriesen wurde14. Nach der Publikation des schleiermacherschen Briefwechsels, herausgegeben von seinem Schwager Ludwig Jonas, fing Dilthey an, das Leben Schleiermachers zu schreiben. Spätere Aufsätze über den Theologen wurden zum Teil im Band XIV der Gesammelten Schriften veröffentlicht15. Die erste Auflage des Werkes enthielt den ersten Teil der Biographie, also das erste und zweite Buch (Jugendjahre und erste Bildung und Fülle des Lebens. Die 13 Vgl. u. a. die Aufsätze in Gesammelte Schriften (im Folgenden GS) XXVI, Das Erlebnis und die Dichtung und die ursprünglich in »Westermanns Monatsheften« erschienenen Beiträge über die deutschen Geschichtsschreiber, heute in GS XI, XVI, XVII. 14 Heute in GS XIV, S. 595ff. 15 Wie z. B. Schleiermachers politische Gesinnung (1862); De prinipiis ethices Schleiermacheri (1864); Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1890); Über den Platon Schleiermachers (1898).

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Haym und Dilthey: die Epoche der Biographie

Epoche der anschaulichen Darstellung). In den letzten Jahren seines Lebens wollte Dilthey eine zweite Auflage vorbereiten, die aber erst gut ein Jahrzehnt nach seinem Tod von Hermann Mulert im Jahr 1922 herausgegeben wurde. Der zweite Teil des Werkes enthält das dritte und das vierte Buch (Einsamkeit in Stolp und Halle); er blieb aber unvollständig und fragmentarisch. Meine Forschung beschäftigt sich mit diesen Büchern, die den wirklich biographischen Teil des diltheyschen Œuvres ausmachen. Der Band XIV der Gesammelten Schriften (Schleiermachers System als Philosophie und Theologie) behandelt das System Schleiermachers: Dieser Teil wurde nicht von Dilthey veröffentlicht und für die oben genannte zweite Auflage von Hermann Mulert stark verändert. Diese Eingriffe in Diltheys Nachlass haben der Forschung viele Schwierigkeiten bereitet und die ohnehin komplizierte Situation bei der Edition von Diltheys Werken erschwert. In der zweiten Auflage fügte Mulert neben den von Dilthey schon vorbereiteten Teilen vielfältige Fragmente aus dem Nachlass hinzu. Zugleich hat er große Teile der ersten Auflage ausgeschlossen (wie z. B. Denkmal der inneren Entwicklung Schleiermachers). Mulert hat also das Leben Schleiermachers massiv verändert. Zudem änderte er die Seitennummerierung, die ursprünglich von Paul August Max Ritter ausgearbeitet wurde, was auch den späteren Herausgebern der Gesammelten Schriften Schwierigkeiten bereitete. Nach dem Erscheinen der zweiten Ausgabe stellte Carl Stange fest, dass Mulert den Text Diltheys so stark verändert hatte, dass es nicht mehr möglich war, zwischen Diltheys ursprünglichem Werk und Mulerts Einschüben zu unterscheiden. Deswegen haben die Herausgeber der neuen Edition den ganzen Nachlass Diltheys und die Originalausgabe des Werkes mit dem Ziel geprüft, die Einschübe Mulerts zu tilgen. Aus demselben Grund wurde in der neuen Ausgabe der erste, von Dilthey publizierte Teil der Biographie von dem nicht von ihm fertiggestellten zweiten Teil gesondert. In Band XIII der Gesammelten Schriften findet man den Text der ersten Ausgabe zusammen mit den von Dilthey für die zweite Auflage schon vorbereiteten Teilen und den von ihm vorgesehenen Änderungen. In den Fußnoten des Bandes sind die von Dilthey vorbereiteten und neu geschriebenen Stücke hervorgehoben, um den originalen Text erkennbar zu machen. Jene Texte, die stark bearbeitet wurden, sind immer gekennzeichnet und die Änderungen wiedergegeben16. Das anspruchsvolle Vorhaben Diltheys, das Leben und Denken Schleierma16 Für die Editionsgeschichte von Leben Schleiermachers vgl. Textkritische Bemerkungen des Herausgebers (3. Auf.) und Vorwort des Herausgebers der zweiten Auflage, GS XIII, S. XXVI ff. und XXX ff. Man zitiert die erste Auflage von Leben Schleiermachers, Reimer, Berlin 1870 (abgekürzt LS). Wo es möglich ist, wird in Klammern auf die entsprechende Seite in GS XIII hingewiesen. In dem vorliegenden Buch werden die Werke in ihrer originalen Fassung zitiert: Grammatische Varianten, die nach unserem heutigen Verständnis falsch sind, bleiben unkommentiert.

Dilthey versus Haym

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chers darzustellen, war schwer zu realisieren – vor allem, nachdem seine akademische Tätigkeit immer mehr Zeit verlangte, was besonders nach seiner Berufung zum Professor an die Humboldt-Universität zu Berlin im Jahre 1882 der Fall war. Doch nicht nur diese Umstände ließen die Arbeit an dem Werk nur langsam voranschreiten: Tiefere Gründe führten zum Scheitern des ambitionierten Projektes. Dilthey selbst merkte im Laufe der Zeit immer deutlicher, wie viele neue philosophische Probleme beim Schreiben der Fortsetzung des Werkes entstanden. Die Schwierigkeiten, es zu vervollständigen, führten ihn zu einer tiefgreifenden Reflexion über die Möglichkeiten und Bedingungen der biographischen Historiographie. Über diese für ihn frustrierende Situation schrieb er dem Freund Yorck von Wartenburg: »Ich lebe […] in der tiefsten Einsamkeit und den ganzen Tag mit den Bildern der Schleiermacherbiographie beschäftigt. Ich habe eben eine Zeit wo sich nichts formen will«17. Diese Schwierigkeit schien Dilthey unüberwindlich – »ich verzweifle dann ob ich je fortrücke« –, und abhängig von der biographischen Geschichtsschreibung selbst. Dreißig Jahre nach der Publikation des ersten Teils des Lebens Schleiermachers stellt er in dem Brief an den Grafen fest: »Das einzig Feste [sind] die großen Linien der geschichtlichen Denknothwendigkeiten, unter denen ein Mensch gelebt hat«. Dagegen sei die Entwicklungsgeschichte eines Individuums »ein nur in engen Gränzen lösbares Problem, wenn man nicht phantasierend das eigne Innere hineinträgt, ohne Sorge um die Beweisbarkeit, einem möglichen Zusammenhang nachgehend«18. Trotz dieses kritischen Blicks auf die eigene Arbeit ist Diltheys Ansicht nach nicht jeder Teil seines bis dahin publizierten Werkes zu widerrufen. Abgesehen von der Schwäche der Biographie als Entwicklungsgeschichte sieht er Leben Schleiermachers als ein Zeugnis zuverlässiger Geschichtsschreibung: »Doch wird man die Ehrlichkeit ein document humain rein sehen zu lassen, der frechen Sicherheit von Kuno Fischer gegenüber, immer anerkennen müssen. Zu dieser Ehrlichkeit gehört auch das von außen sehen lassen, die so gegebene Unbestimmtheit an vielen Punkten der Entwicklung, die nur die mitschreitende Phantasie des Lesers ergänzen mag«19. Um diese kritische

17 S. von der Schulenburg (Hg.), Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897,Verlag Max Niemeyer, Halle 1923, S. 241f. In Bezug auf die philosophische Freundschaft zwischen Dilthey und Yorck von Wartenburg vgl. J. Krakowsky / G. Scholtz (Hg.), Dilthey und Yorck. Philosophie und Geisteswissenschaften im Zeichen von Geschichtlichkeit und Historismus, Wydawnictwo Uniwersytetu Wraclawskiego, Wraclaw 1996. Vgl. auch die klassische Studie von L. von Renthe-Fink, Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1964. 18 Dilthey, Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, S. 241. 19 Ebd., S. 242.

16

Haym und Dilthey: die Epoche der Biographie

Sicht Diltheys auf die Biographie zu begreifen, gilt es, das Leben Schleiermachers zu analysieren. Am Anfang von Leben Schleiermachers wendet sich Dilthey mit den folgenden Worten an seine Leserinnen und Leser : »Von denen, welche diese Auffassung nicht teilen und der Biographie einen engeren Rahmen sowie eine geschlossenere Kunstform wünschen, darf dieser Versuch wohl die Gunst erbitten, allein aus der Aufgabe, welche er sich stellt, beurteilt zu werden«20. Das Werk sollte Dilthey zufolge als eine Neuheit innerhalb der Tradition der biographischen Geschichtsschreibung angesehen werden: als alternatives Modell zu der von Dilthey als »künstlerisch« bezeichneten Konzeption der Biographie. Dass Dilthey sein eigenes biographisches Vorgehen als eine Neuerung in der Tradition der Lebensgeschichte ansieht, erkennt man schon in der Rezension Jean Jacques Rousseau. Sein Leben und seine Werke von Friedrich Brockerhoff (1863). Hier stellt Dilthey fest, dass alles im Bereich der Biographie noch experimentell sei und dass es »für die Geschichte der Dichter und Denker noch kein klassisches Vorbild, keine Traditionen [gibt], an welche man sich ruhig anschließen dürfte«21. In diesem Sinne stelle das Leben von Rousseau für ein biographisches Werk ein besonders geeignetes Thema dar. Jedoch ist sein Urteil über Brockerhoffs Arbeit im Wesentlichen negativ und seine Kritik an diesem Werk verdeutlicht die diltheysche Konzeption der Biographie. In erster Linie kritisiert er bei Brockerhoff die Tatsache »einer durchgehenden psychologischen Ausdeutung des vorhandenen Materials, welche es für ihre Pflicht hält, von jedem irgendwie hervortretenden Faktum in der Jugendgeschichte des Helden Einwirkungen auf seinen späteren Charakter nachzuweisen«22. Dilthey stellt sich gegen die psychologisierende Tendenz, die zahlreiche Lebensbeschreibungen charakterisiert, und der zufolge der Charakter das Ergebnis unendlich vieler zufälliger Wirkungen ist. Er stellt fest, dass »die objektive Bedeutung der Eindrücke gar keinen Maßstab für ihre subjektive Macht in dem sich bildenden Gemüt darbietet«23. Die psychologisierenden Biographen glauben, den Prozessen in der Seele wie »durch ein Fenster« zusehen zu können. Wegen dieser Art der Betrachtung der seelischen Prozesse gehe die Individualität des Beschriebenen verloren: Das Individuum wird »ein Atom unter Atomen«, weil sein Wesen »dem eines elektrischen Funkens [gleicht], welcher widerstrebende Stoffe zu einer chemischen Einheit verbindet«24. Gegen eine solche psychologische Tendenz, deren Lebensbeschreibungen mechanisch und schematisch wirken, macht Dilthey einen anderen Charakter der Biographie stark: Ihm zu20 21 22 23 24

LS, S. I (GS XIII, S. XXXIII). GS XVI, S. 429. Ebd., S. 430. Ebd. Ebd., S. 432.

Dilthey versus Haym

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folge sollten Biographen »die Macht des Persönlichen auch für die Geschichte der Ideen und Wissenschaften bezeugen«25. Der elitären Tradition der deutschen Biographie in wilhelminischer Zeit verbunden, verweist Dilthey auch auf die Notwendigkeit, die Entwicklungsgeschichte kritisch zu beleuchten. Dazu zählt die ausführliche Prüfung der Bedeutsamkeit und des Wertes der verwendeten Dokumente, aber ebenso der Erinnerungen des Protagonisten. Um so das biographische Schreiben kritisch zu begründen, ist es laut Dilthey notwendig, »auf einen ganz anderen Weg, als man sonst in der Geschichte der Wissenschaften zu verfolgen gewohnt ist«, zu gehen: Vor der Entwicklung der Idee müsse man die Entwicklung des inneren Gemütslebens des Individuums und dessen Verhältnis zur Welt ansehen26. Allein diese wenigen Zeilen zeigen, dass Dilthey gegen eine rein äußerliche Betrachtung der biographisch Dargestellten ist, in der die Beziehung zwischen dem Protagonisten und der Welt vereinfacht wird. Schwieriger ist Diltheys Definition der »geschlossenen Kunstform« zu Beginn des Lebens Schleiermachers zu verstehen. In der Einleitung in das Werk finden wir einen wichtigen Hinweis, um den Ausdruck der geschlossenen Kunstform erschließen zu können. Er schreibt: »[I]ch habe nirgends bloß charakterisiert, Beziehungen angedeutet«, sondern vielmehr »die Vorgänge nach ihrem Gehalt dargelegt, ihren Zusammenhang nach Ursache und Wirkung aufgezeigt«27. Diesbezüglich präzisiert er : »Ich möchte, daß vor der Seele des Lesers, wenn er dieses Buch schließt, das Bild dieses großen Daseins steht, aber zugleich ein Zusammenhang bleibender Ideen«28. Betrachtet man die biographische Produktion der Jahre vor Erscheinen von Leben Schleiermachers, findet man eine besondere Übereinstimmung zwischen den von Dilthey in den beiden Zitaten verwendeten Wörtern und dem Titel des großen biographischen Werkes von Rudolf Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik (1856)29. Die lange Freundschaft zwischen den beiden Gelehrten, von der auch ein bekannter Briefwechsel zeugt, legt die Annahme nahe, dass Haym das Objekt von Diltheys Kritik ist. Diese Hypothese wird von Hayms Rezension von Leben Schleiermachers gestärkt30. Die Lebensgeschichte als philosophisches und literarisches Thema interessiert beide Autoren, wie auch die Publikation der Romantischen Schule von Haym 1870 (im 25 26 27 28 29

Ebd. Vgl. ebd., S. 433. LS, S. XIV (GS XIII, S. XLV). Ebd., S. V (GS XIII, S. XXXV). R. Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik, Verlag von Rudolph Gärtner, Berlin 1856. 30 Vgl. E. Weniger (Hg.), Briefe Wilhelm Diltheys an Rudolf Haym. 1861–1873, Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 9 (1936), Berlin, S. 416ff. Heute in W. Dilthey, Briefwechsel. Band I: 1852–1882, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011.

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selben Jahr erscheint Leben Schleiermachers) zeigt. In beiden Werken wird die Entwicklung der deutschen Kultur in der Frühromantik und in der Romantik mittels biographischer Rekonstruktionen dargestellt. Schon in seinen Jugendtagebüchern kritisiert Dilthey das historiographische Modell von Haym, in dem er einen starken Einfluss der englischen Historiographie feststellt. Diesbezüglich schreibt er : »So vermag ich Hayms W. v. Humboldt zuweilen nicht zu lesen vor Ekel über diese blasse und äußerliche Nachahmung des englischen Stils«31. Besonders stark ist seiner Ansicht nach der Einfluss von Thomas Babington Macaulay, dessen Geschichtsschreibung Dilthey in dem Aufsatz Zur Charakteristik Macaulays (1860) kritisiert32. Im Licht der genannten Aspekte verstärkt sich die These, dass das biographische Ideal des jungen Diltheys, das sich erst in Leben Schleiermachers konkretisiert, danach strebt, die künstlerische Historiographie zu kritisieren. Die historiographische und allgemein wissenschaftliche Schwäche von Macaulay liegt für Dilthey in dem großen Einfluss des historischen Romans von Walter Scott auf ihn. Bei Macaulay verwirklicht sich eine Historiographie, »welche sich vorherrschend in der poetischen Anschauung anstatt in der wissenschaftlichen Verknüpfung der wesentlichen Erscheinungen bewegt«33, deren allgemeine Bedingungen sie darum nicht begreifen kann. Im Zentrum dieser Schreibweise steht die auf Intuition begründete Charakteristik, was eine unter den Frühromantikern besonders verbreitete Methode war, die den Charakter der Persönlichkeit in literarischer Form darstellte34. Dies schafft ein biographisches Ideal, das nur die wichtigen politischen Persönlichkeiten in Betrachtung zieht, und dabei jeweils deren Charakter und Originalität hervorhebt. Dementsprechend hat die Charakteristik kein anderes Ziel, als die Phantasie der Leser anzuregen und ihre Neugier zu befriedigen. Laut Dilthey ist also History of England (1848–1855) von Macaulay nicht anderes als eine Ansammlung zahlreicher Charakteristiken35. 31 C. Misch (Hg.), Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern. 1852–1870, Teubner, Leipzig und Berlin, S. 84. 32 Ursprünglich in der »Preußischen Zeitung«, heute in GS XVI, S. 1ff. 33 Ebd., S. 17. 34 In Bezug auf den Begriff »Charakteristik« bei Friedrich Schlegel vgl.: F. Schlegel, Charakteristiken und Kritiken (1796–1801), in Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, hg. von H. Eichner, Ferdinand Schoeningh / Thomas-Verlag, München-Paderborn-Wien-Zürich 1967; ders., Charakteristiken und Kritiken (1802–1829), Bd. III, München-Paderborn-WienZürich 1975; ders., Philosophische Lehrjahre (1796–1806), in ders., Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. XVIII; ders., Fragmente zur Poesie und Literatur I, Bd. XVI, MünchenPaderborn-Wien-Zürich 1981; Fragmente zur Poesie und Literatur II, Bd. XVII, hg. von E. Behler, München-Paderborn-Wien-Zürich 1991. Vgl. auch I. Nerling-Pietsch, Herders literarische Denkmale. Formen der Charakteristik vor Friedrich Schlegel, Lit Verlag, Münster 1997; T. Bremer, Charakter-charakteristisch, in Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart-Weimar 2000, S. 772. 35 Vgl. GS XVI, S. 23.

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Abweichend davon bestimmt er Ziel und Zweck der deutschen Geschichtsschreibung. Die Engländer hätten »weder im Guten noch im Bösen […] eine Ahnung von der Objektivität des universalhistorischen Standpunktes«, welcher »zugleich der Ruhm und die Schwäche unserer deutschen Geschichtsschreibung ist, wenigstens war«36. Positive Ausnahme auf dem Feld der englischen Historiographie ist nach Ansicht Diltheys Thomas Carlyle37, der ihm lebenslang ein wichtiger Orientierungspunkt bleibt. Er entdeckt bei diesem Autor eine »deutsche Richtung«, die sich darin zeige, dass dem einzelnen Individuum ein hoher Wert beigemessen wird. Hauptfigur dieser Richtung ist Leopold von Ranke. Dilthey erblickt in Rankes Methodologie eine Alternative zu der ästhetisierend oberflächlichen Tendenz der Charakteristik von Macaulay : Sowohl aufgrund dessen stark nationalistischen Tendenzen als auch wegen der von ihm gewählten beschränkenden Form des Essays sei Macaulays Vorgehen ein negatives Modell. Als entscheidend für die Geschichtsschreibung erweisen sich dagegen für Dilthey die Anstrengungen Rankes, den nationalen und den historisch-allgemeinen Gesichtspunkt zu verbinden, und dessen Fähigkeit, die Grundrichtungen des individuellen Charakters zu begreifen, ohne sich in Details und nachrangigen Gesichtspunkten zu verlieren.

2.

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In dem Vorwort zur Veröffentlichung im Jahre 1856 bekennt Haym, dass »eine Charakteristik Wilhelm’s von Humboldt der eigentliche Zweck« seines Werkes sei38. Im Vergleich mit der Beschreibung der einfachen Tatsachen der Existenz und des äußeren Verlaufes des Lebens von Humboldt, ist es laut Haym, »unendlich wichtiger und reizender, die wunderbare Individualität desselben, sein inneres Sein und den allgemeinen Gang seiner geistigen Entwicklung darzulegen«39. Hat die Charakteristik als wesentlichen Zweck, das Individuum mit Blick auf sein Inneres darzustellen, benötigt sie Haym zufolge doch die Geschichte des individuellen Lebens, weil wir »keinen Begriff von einer Charakteristik [haben], die nicht wesentlich historisch verführe«40. Obwohl das individuelle Innere ihr Objekt ist, braucht sie die historische Erzählung: Durch diese entfaltet sich das

36 Ebd., S. 25. 37 Der Aufsatz entsteht zur Gelegenheit der deutschen Übersetzung der Lebensgeschichte Carlyles von J. A. Froude im Jahre 1887. 38 R. Haym, Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik, S. IV. 39 Ebd. 40 Ebd.

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Innere, weil »ein Individuum sich nur [darstellt], indem es sich vor unseren Augen entwickelt«41. Ein Individuum forme sich in Verbindung mit »den Schicksalen des äußeren Lebens« und »den Bildungseinflüssen des Jahrhunderts, im Zusammenhang, mit den allgemeinen geschichtlichen Ereignissen und Verhältnissen«. Trotz dieser historischen Dimension entwickele es sich »vor Allem aus dem Kern seines eignen Wesens«42. Einerseits könne man keine Charakteristik von Wilhelm von Humboldt schreiben, »ohne zugleich ein möglichst vollständiges und genaues Bild seines Lebens zu zeichnen«, und »ohne es in die Entwicklung des deutschen Geistes und Lebens mitten hineinzustellen«43. Andererseits wird die Bedeutung des Individuums unterstrichen, da die Charakteristik ihren Zweck in der Individualität selber findet. Trotz der anerkannten Notwendigkeit einer historischen Fassung der Charakteristik, die auf dem Zusammenhang von Individuellem und Allgemeinem besteht, rückt die genaue historische Rekonstruktion in der Hintergrund: Weder die Vollständigkeit der Dokumente noch profunde Einblicke in die tatsächlichen Geschehnisse allein können die biographische Aufgabe erfüllen. Obwohl Haym auf den traditionellen Wegen der Charakteristik bleibt, sieht er, dass sich diese für die historische Rekonstruktion öffnen muss. Die Charakteristik war nämlich als literarisches Porträt aus der englischen Historiographie in die deutsche ›eingewandert‹ und wurde in Deutschland von Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schlegel ausführlich theoretisiert. Trotz klarer Unterschiede verbindet sich in den Perspektiven beider Autoren die Charakteristik mit der Erkundung des individuellen Charakters und von dessen Ursprüngen. Selbst die Idee eines Lebensbildes, die eng mit der Porträtfunktion der Charakteristik verbunden ist, führt zur Priorität der Individualität und zu der Vorstellung eines wesenhaften Kernes des Individuums, der sich im Laufe der Lebensgeschichte entfaltet. Dass für Haym Geschichte und Kontext eine geringere Rolle als das rein Individuelle spielen, zeigt sehr deutlich seine lange Abhandlung über die erste Schrift, die Wilhelm von Humboldt verfasst hat. Die Abhandlung werde dadurch legitimiert, dass dieser »nie wieder etwas von gleicher Abgeschlossenheit, in gleich strengem und in gleich übersichtlichen Gange geschrieben [hat]. Von allen seinen Schriften ist diese am wenigsten Fragment«44. Diese Schrift enthalte nämlich »nicht eigentlich ein wissenschaftliches System; wohl aber enthält sie das System der humboldtschen Individualität. Alle Züge seines geistigen Charakters haben wir in diesem ersten jugend41 42 43 44

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 65.

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lichen Erguss wie in noch geschlossener Knospe beisammen«45. Auf Grundlage dieser harmonischen Konzeption des Individuums folgt Haym den Entwicklungen und Etappen von Humboldts äußerer Existenz. Dabei hat seine Bildung nicht viel mit äußeren Einflüssen zu tun, sondern wird angesehen als Selbstbildung (entsprechend heißt der Titel des zweiten Buches des Werkes auch so). Im Konzept einer solchen Selbstbildung wird dem Individuum ein Selbstbewusstsein zugesprochen, eine autonome Fähigkeit, sein eigenes Leben und Schicksal zu beherrschen. Diese Elemente erklären, warum die Ereignisse im Leben von Wilhelm von Humboldt nur als Gelegenheiten für die Entwicklung seiner schon selbstständigen und selbstbewussten Individualität erscheinen (obwohl die Periodisierung des Werkes sich auf solche Ereignisse bezieht). Selbst wenn der Protagonist mitten in seine Epoche und deren Entwicklung gestellt wird, wird er durch diese nicht grundlegend bestimmt. Die historiographische Konzeption, die sich darin zeigt, ähnelt also dem Porträt, dem Bildnis und dem Roman stärker als der Biographie. In Porträts und Romanen ist die Geschichte einfach eine äußerliche Gelegenheit, durch die eine Persönlichkeit sich entwickelt und ausdrückt. Als zentrales Ziel von Hayms Historiographie zeigt sich nicht die Darstellung einer individuellen Geschichte, sondern die der Entfaltung eines im Wesentlichen unveränderlichen Charakters: »[A]lle Züge dieses vielseitigen Wesens [erfuhren] eine Vertiefung«, und das Schicksal gestattete Humboldt, »in verschiedenen Lebensperioden bald diese bald jene Richtung in aller Breite und Ausführlichkeit zu verfolgen«46. Die Geschichte und ihre Ereignisse, wie auch die persönlichen Beziehungen und die Freundschaften von Humboldt bieten nur jenen Elementen und Zügen, die in seiner Persönlichkeit schon angelegt sind, die Möglichkeit, sich zu vertiefen: »Er folgte seiner eigenen Individualität und er folgte zugleich dem Zuge des deutschen Geisteslebens«47. Also »bedurfte [es] nur eines persönlichen Anstoßes durch verwandte Individualitäten, um ihn ganz in diese Dinge hineinzuziehen«48. In der Charakteristik am Ende der Humboldt-Biographie kann Haym, mithilfe von dessen Tagebüchern und Briefen, »einen letzten Blick auf das Ganze seiner Erscheinung« werfen: Dank der Bekenntnisse Humboldts sei es möglich, den Hauptfaden zu finden, der »die späteste mit der gesammten vorausgegangenen Entwicklung des Mannes noch einmal zusammenknüpfen«49 lässt. Innerhalb der Lebensbeschreibung bildet diese Schlusscharakteristik den notwendigen Rückblick, dessen Zweck es ist, den Zusammenhang des gesamten 45 46 47 48 49

Ebd. Ebd., S. 66. Ebd. Ebd. Ebd., S. 623.

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Lebenslaufes hervorzuheben. Wir sehen dadurch eine Ganzheit, die trotz aller Zeit- und Lebensveränderungen eine solche bleibt. Das begründet, so Haym, dass Humboldt ein Mann »von keinem Alter« war50. Die Geschichtlichkeit des Individuums und die Notwendigkeit einer historischen Rekonstruktion seines Lebens verlieren damit ihre Bedeutung. Am Ende der Biographie versucht Haym, abgesehen von der Zeitlichkeit der Existenz, das Leben seines Helden in Gänze zu begreifen. Solch eine Vollständigkeit würde sich in der Verwirklichung eines existenziellen Plans ausdrücken: Haym versichert, dass Wilhelm von Humboldt »seiner Jugend durch’s Leben treu geblieben, dass er unverbrüchlich einer Richtung gefolgt sei«51. Er stellt zudem fest, »er hatte frühzeitig sein Leben auf einen Plan und auf ein Prinzip gestellt: niemals, selbst unter mannigfachen äußeren Ablenkungen, hatte er diesen Plan innerlich aufgegeben. Es bestand ihm das Leben nicht aus dem Stückwerk aneinandergereihter Tage und Stunden: es galt ihm als ein Ganzes […], als ein ›Act, der wohl geführt und wohl geschlossen sein wolle‹«52. In diesem Entwurf ist die Grundlage des Individuums der Charakter, in dem die verschiedenen Ereignisse des Lebens verschmelzen. Der Charakter, als Schlüssel eines ganzen Systems der Individualität, geht über die existenziellen Widersprüche hinaus. Er liegt in einem höheren Bewusstsein, das auf keine äußerliche Tatsache zurückführbar ist. Humboldts Vollkommenheit drückt sich für Haym selbstverständlich in dessen intellektueller Tätigkeit aus: Sein Existenzplan betreffe sein ganzes Sein, das »so sich zu vollendeter Harmonie ab[rundet]«. Es handele sich um die Verwirklichung jener schönen Menschheit, »welche darzustellen die Dichter bemüht gewesen waren«53. Die Lebensentwicklung als »unablässiges und bewusstes Streben« zu dieser existenziellen Vollkommenheit erreiche so ihr Ziel54. Im Hintergrund des Werkes von Haym findet man die Idee einer Harmonie zwischen Leben und intellektueller Tätigkeit, die Vorstellung eines höheren Bewusstseins, das beide Dimensionen zusammenhält. Leben und Denken spiegeln sich ineinander dank der ursprünglichen Einheit des Individuums. Die von Haym dargestellten Hauptzüge der Charakteristik und des Lebensbildes setzen voraus, dass das Individuum eine Art der Selbstständigkeit gegenüber der historischen Bestimmung behält. Obwohl die historische Forschung es in seinem historischen Kontext zeigt und damit bezweckt, es verstehbar werden zu lassen, ist das Individuum nicht nur durch die historischen Ereignisse erklärlich. Aus dieser Perspektive sind die Verwendung historischer Dokumente und die profunde Kenntnis der geschichtlichen Tatsachen 50 51 52 53 54

Ebd., S. 623. Ebd. Ebd., S. 623f. Ebd., S. 629. Ebd.

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für den Geschichtsschreiber nicht so zentral, da er sich vor allem auf das Innere des Individuums konzentriert. Die nach dem künstlerischen Vorbild konzipierte Biographie bietet in diesem Sinn ein geschlossenes und harmonisches Bild der Existenz, in dem sich der Mensch unter verschiedenen Umständen entwickelt und in der Harmonie dieser Entfaltung endlich zu seiner Vollendung kommt. Eine solche Art der Biographie ist deswegen eine ›vollendete Kunstform‹, die mit dem Tod des Individuums endet und auf dessen Leben zurückblickt (nicht zufällig spricht Haym von Rückblick): Sie erschafft ein vollständiges Bild der Existenz. Zusammen mit der Idee des Individuums als eigenständigem Wesen, das sich in der Geschichte und in der äußeren Welt entfaltet, und dessen Sinn und Vollständigkeit von Anfang an gegeben war, führt diese Konzeption auf eine Selbstentwicklung, auf die Entfaltung des Potenzials des Individuums zurück. Die Bedeutung von Lebensbild und Charakteristik werden dadurch verständlich: Das Wesen eines Menschen zeigt sich in seiner Vollständigkeit nur in einem künstlerischen Bild und nicht in der historischen Erzählung; denn die Vollständigkeit hat eine vor-historische Dimension55. Auf Grundlage dieser Reflexionen Hayms zeigt sich der Lebenslauf eines Individuums als Totalität, in der sich Vergangenheit und Gegenwart verbinden, womit eine harmonische Kontinuität im ganzen Leben des Philosophen entsteht.

3.

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Ganz anders stellt sich ein weiteres Werk Hayms aus dieser Epoche dar, die Biographie Hegel und seine Zeit. Was bis jetzt im Vordergrund stand – die Rekonstruktion des Lebens und die Charakteristik als Grundzüge der Biographie – macht nun einer ganz anderen Art und Weise des biographischen Schreibens Platz. In diesem Werk nutzt Haym es zu einem theoretischen Zweck: Es wird zum Mittel, um gegen eine einseitig systematische Weise des Denkens und die mit ihr verbundene Verneinung der Rolle des Individuums zu schreiben. Ziel der Arbeit ist laut Haym, »eine objektive Geschichte dieser Philosophie« zu verfassen und diese zugleich zu kritisieren: Er will »den Boden zu Beidem auf 55 Durch diese Begriffe versucht Haym, die künstlerische und die historische Dimension der Biographie zu verbinden und dadurch das Anschauliche und Wesentliche der bildenden Kunst in der Erzählung auszudrücken. Wie bekannt, ist die Biographie nicht nur mit dem Roman eng verbunden, sondern auch mit dem Porträt, was vor allem die Biographien der Moderne kennzeichnet. In Bezug auf dieses Thema hat Georg Simmel einen wichtigen Beitrag geleistet. Ein Vergleich zwischen Dilthey und Simmel findet sich bei: T. Jatzkowski, Die Theorie des kulturell-historischen Verstehens bei Wilhelm Dilthey und Georg Simmel, GCA Verlag, Herdecke 1998 (über die Biographie bes. S. 498ff.).

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historischem Wege, durch eine Auseinandersetzung ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung [gewinnen]«56. Dadurch will er zeigen, dass das hegelsche System »nicht sowohl eine große unbewusste Schöpfung der Zeit [ist], nicht sowohl ein Wurf, eine Erfindung des Genies, als vielmehr ein Produkt des Talentes, ein, im Wesentlichen, mit Reflexion und Absichtlichkeit Gemachtes«57. Haym geht es darum, eine neue Methode auszuprobieren und einen neuen Bereich zu betreten. Dafür müsse man »die letzte Scheu vor der nackten Wahrheit der Tatsachen [loslassen]«, und zwar, dass wir uns »augenblicklich in einem großen und fast allgemeinen Schiffbruch des Geistes und des Glaubens an den Geist [befinden]«58. Im Licht der tiefen Krise des philosophischen Denkens gelte es, die biographische Arbeit neu zu betrachten und zu interpretieren. Die Krise der Philosophie, hebt Haym hervor, hat keine theoretischen Gründe. Vielmehr hat sie ihre Wurzel in der realen Geschichte, die der Philosophie wenig Raum lässt: »Das ist keine Zeit mehr der Systeme, keine Zeit mehr der Dichtung oder der Philosophie«. In der Tat werden »die untersten Grundlagen unseres physischen wie unseres geistigen Lebens […] durch Triumphe der Technik umgerissen und neugestaltet«59. Es wird deutlich, dass »die Existenz der Einzelnen wie der Voelker auf neue Basen und in neue Verhältnisse gebracht [wird]«60. Die idealistische Philosophie wurde nicht »durch ein System [beseitigt] – sie ist einstweilen durch den Fortschritt der Welt und durch die lebendige Geschichte beseitigt worden«61. Die Rettung der Philosophie sieht Haym allein darin, dass diese sich direkt mit der realen Welt auseinandersetzt. Ohne sie in dieser Auseinandersetzung zu schonen, gelte es, die Philosophie in die reale Welt »einzutauchen«, sie mit dem Material der Welt reagieren zu lassen: Nur dadurch könne sie einen neuen produktiven Weg für sich finden. In diesem Sinn strebt Haym eine »Pragmatisierung der Ideen« an62. Obwohl sich Haym bewusst ist, dass er sich damit in einem dem Materialismus nahen Bereich bewegt, will er sein historisches Programm nicht materialistisch geprägt sehen: »Wenn die geschichtlichen Zustände, der Metaphysik 56 R. Haym, Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Wert der hegelschen Philosophie, Verlag von R. Gärtner, Berlin 1857, S. 2. 57 Ebd., S. 10. 58 Ebd., S. 5. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 6. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 9. In Bezug auf die pragmatische Historiographie vgl. M. Hahn, Geschichte, pragmatische, in J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1974, Bd. III, S. 401f. Der Begriff »pragmatisch« wird auch in dem Aufsatz von G. Kühne-Bertram thematisiert, Aspekte der Geschichte und die Bedeutung des Begriffs ›pragmatisch‹ in den philosophischen Wissenschaften des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, »Archiv für Begriffsgeschichte«, 27 (1983), S. 158ff.

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gegenüber, ein realistisches, so sind sie der empirisch-materialistischen Ansicht gegenüber ein idealistisches Motiv«63. Diese Pragmatisierung zielt auf eine gänzliche Historisierung der Philosophie, die diese vor einer materialistischen Reduktion retten will. Haym räumt ein, »dem Zuge der Zeit zum Materialismus« zu folgen, wenn er »geistige Gestaltungen auf ihre realen Motive« reduziert und »Transzendentalphilosophie zu historischer Kritik« verdichtet64. Sein Ziel dabei aber ist, »den unvertilgbaren Funken idealistischer Ansicht desto kräftiger wiederaufzublasen«65. Es geht in seinem Projekt darum, sich dem transzendentalen Gesichtspunkt zuzuwenden: »[A]n die Stelle der Vernunft tritt uns der ganze Mensch, an die Stelle des allgemeinen der geschichtlich bestimmte Mann«66. Auf dieser Grundlage basiert seine »konkrethistorische Kritik«67. Im Rahmen dieses allgemeinen Vorhabens einer Pragmatisierung der Ideen spielt die Biographie eine entscheidende Rolle, weil sie einen wichtigen Beitrag zu der »Entlarvung der Metaphysik« im hegelschen System leistet, indem sie zeigt, dass »die Geschichte der Bildung ihres Urhebers in ihrem eignen Bau [sich spiegelt]«68. Haym fügt hinzu: »Sie ist von wesentlich geschichtlicher Konstruktion. Entwicklung, Stufenfolge, Werden des Einen aus dem Anderen ist ihr Wesen. Sie ist geschichtlich in ihrer Form, sie entnimmt aus der Geschichte ihren Stoff«69. Die Geschichte von Hegels Leben zeigt, wie jeder Begriff des Systems selbst ein logischer Ausdruck des historischen Werdens ist: Dieses Letztgenannte hat seinerseits seine Wurzeln in der individuellen Geschichte des Philosophen. In Hegel und seine Zeit bearbeitet und vertieft er seine schon im Jahre 1856 entwickelte Perspektive und die Biographie wird zur Methode, den konstruktiven Charakter der hegelschen Philosophie ans Licht zu bringen. Neben dieser »dekonstruktiven« Rolle der Biographie kommt ihr Hayms Ansicht nach auch ein konstruktiver Wert zu: Indem sie die historisch-individuelle Wurzel des Systems beweist, bringt sie den hegelschen Plan zum Abschluss. Da Hegel eine historische Wissenschaft begründen wollte, gelte es, »um die Erbschaft der Hegel’schen Philosophie anzutreten«70, den konstruktiven Charakter der hegelschen Methode »gegen einen heuristischen Charakter zu vertauschen«, um so ihre scholastische Form und ihre sophistische Neigung zu unterlaufen71. Erstens ist die Biographie ein Mittel zur Kritik der Metaphysik, da 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Haym, Hegel und seine Zeit, S. 13. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 23. Ebd., S. 23f. Ebd., S. 466. Vgl. ebd., S. 467.

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sie die historische Wurzel jedes Systems zeigt; zweitens ist sie die beste Form für die Geisteswissenschaften, weil sie in ihr eine Methode der historischen Kritik finden, die zur Pragmatisierung der Ideen und zur Prüfung der realen Grundlagen der geistigen Tatsachen führt. Im Licht von Hayms Theorie ist die Biographie das einzige Terrain, auf dem die Geisteswissenschaften sich vor materialistischen Tendenzen bewahren können, da diese die realen Grundlagen prüft, aber die geistigen Phänomene nicht auf physiologische Prozesse zurückführt. Obwohl die beiden Werke in derselben Zeit geschrieben wurden, zeigen sie unterschiedliche Ansätze: Liegt der Biographie von Wilhelm von Humboldt eine harmonische und künstlerische Konzeption zugrunde, findet man in Hegel und seine Zeit eine Historisierung der Biographie, die diese als »pragmatisches Projekt« auszeichnet. Diltheys Kritik der Charakteristik wäre im Licht dieser Beobachtung gegen eine Phase der haymschen Reflexion gerichtet, die jener zu diesem Zeitpunkt schon überwunden hatte. Betrachtet man Die Romantische Schule, die im selben Jahr wie Leben Schleiermachers veröffentlicht wurde, stellt man in der Tat fest, dass Haym die schwierige Koexistenz der ästhetischen und der historischen Dimension der Biographie betont, die sich am Ende nicht aufeinander reduzieren lassen72. Die Geschichte der Literatur, erklärt Haym am Anfang der Romantischen Schule, stelle die Veränderungen der Ideenwelt einer Nation dar, wie sie sich in ihren schriftlichen Werken zeige. Aber »gewiss können diese Wandlungen nicht einseitig als die nothwendige Entwicklung der den Ideen für sich selbst einwohnenden Lebenskraft begriffen werden«73, denn die Ideen »wirken schlechterdings nur, getragen von der Empfänglichkeit, der Regsamkeit und der Zeugungslust empfindender, denkender selbstthätiger persönlicher Geister«74. Um die Geschichte der Literatur angemessen zu beschreiben, ist es daher in erster Linie notwendig, »die Geschichte dieser Geister« zu erfassen; nur dies »kann die Grundlage für die Geschichte des durch sie fortgepflanzten Literaturgeistes sein«, weil die Hauptfiguren einer bedeutenden literarischen Tendenz »zunächst Schüler und Lernende« sind. Darum gelte es zu analysieren, wie die von ihnen entwickelten Neuerungen »aus einer Reihe individueller Anstöße und Bewegungen« entspringen. Dazu zählen »die realsten und die geistigsten Momente«: Das heißt, »die biographischen Zufälligkeiten der Geburt, Zeit, Ort, Abstam-

72 Für die Bedeutung eines Vergleichs zwischen Diltheys und Hayms historischen Konzeptionen, besonders in Bezug auf die Rolle der Romantik, vgl. F. Rodi, Die Romantiker in der Sicht Hegels, Hayms und Diltheys, in »Hegel-Studien«, Beiheft 22, 1983, S. 179ff. (heute in: ders., Erkenntnis der Erkannten, S. 31ff.). 73 Haym, Die Romantische Schule, S. 8. 74 Ebd., S. 8f.

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mung und Familiengeist, das Vaterhaus und die Schule, persönliche Begegnungen, Studien, vielleicht dieses oder jenes einzelne Buch«75. Obwohl uns Haym dadurch eine möglichst vollständige Historisierung der Biographie, deren Reduktion um die erzählerisch-künstlerische Dimension und auf eine rein historische Dimension darlegt, hält er dennoch beständig an der Tatsache fest, dass »alle diese Einwirkungen aber […] ihren Weg durch die Seele [nehmen] und reflectieren sich je nach der Natur dieser Seele«. Es ist notwendig, die Werke eines Schriftstellers, die »nur einzelne Kreuzungs- und Knotenpunkte gleichsam der durcheinanderschiessenden Faeden« sind, in denen der allgemeine und der individuelle Geist sich ablagern, »nach ihrer Entstehung und ihren Wirkungen flüssig zu machen«76. Man sollte die Ereignisse darstellen, ohne sie lediglich aufzulisten: Die historische Forschung habe dem »Durchgehenden und Allgemeinen« zu folgen, aber zugleich sollte es dem Geschichtsschreiber möglich sein, sich in die individuellen Details und in die innere Erfahrungswelt der wichtigen Persönlichkeiten einzufühlen. Dafür bedarf es des Verstehens ebenso wie der Fähigkeit zu Mitgefühl. Jeder Versuch der Historisierung müsse sich mit der individuellen Natur des beschriebenen Protagonisten auseinandersetzen. Das ist nur möglich durch das Einfühlen des Historikers in sein Objekt. Aber »dem Acte des Schaffens selbst können wir weitaus in den meisten Fällen nur durch Vermuthungsschlüsse nachkommen«, darum kann diese Aufgabe nur approximativ erfüllt werden: »[D]ie Stunde der Befruchtung und der Geburt ist zuletzt immer in undurchdringliches Dunkel gehüllt.«77. In Die Romantische Schule lässt Haym die zwei in den Werken der Jahre 1856 und 1857 als zentral erkannten Dimensionen zusammenlaufen: die ästhetische und die pragmatisch-historische. Er betrachtet in der geistigen Produktion das Prinzip eines nicht historisierbaren individuellen Ursprungs als entscheidend. Zugleich besteht er jedoch auf sein Vorhaben einer Pragmatisierung und Historisierung, das die realen materiellen Wurzeln jeder philosophischen Position erkennt und hervorhebt. Da die reale Wurzel des geistigen Lebens im Zentrum der Individualität liegt, die ihrerseits als geheimnisvolles und ursprüngliches Prinzip kein Objekt der Geschichte sein kann, muss Haym die zwei Dimensionen unabhängig voneinander betrachten. Das Ursprünglich-Individuelle und das Historische wirken an der Geschichte des Geistes mit, aber sie sind in keiner Weise verbunden. Sie wirken zusammen, aber beide sind nicht fähig, zu einer Lösung des Problems des Ursprungs der geistigen Kreativität zu führen: Dieser Ursprung bleibt das Prinzip, über das man zu keiner abschließenden Erkenntnis gelangen kann. Diese approximative Natur der historiographischen Arbeit ak75 Ebd., S. 9. 76 Ebd. 77 Ebd.

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zeptierend, sollte man, so legt Haym dar, verschiedene Mittel der Forschung nutzen: die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse und Tatsachen ebenso wie intellektuelles Verständnis und Einfühlungsvermögen gegenüber den in der Biographie betrachteten Individuen. Der Interpret braucht selbstverständlich sowohl die historische Darstellung als auch eine »psychologische« Dimension. In dem Werk aus dem Jahre 1870 bleibt er nah an den bereits in seinen ersten Werken etablierten Formen des biographischen Schreibens, das heißt, er beleuchtet die künstlerische und die historische Dimension, aber er verzichtet in Die Romantische Schule darauf, eine Prävalenz der historischen Seite festzustellen. In der intellektuellen Entwicklung Hayms bleibt die Versöhnung zwischen historischer und ästhetischer Seite problematisch, weil der wahrhafte Kern der Geschichte, das Individuum, unerforschbar bleibt und seine Kreativität spontan und historisch nicht vorhersehbar ist. Obwohl Haym die Autonomie der individuellen Dimension bestätigt, wodurch sie erst durch eine künstlerische Konstruktion begriffen werden kann, versucht er mit dem Begriff der Generation das Individuelle mit dem Allgemeinen zu verbinden. Im Zuge dieser Verbindung schlägt er eine mögliche Bestimmung der realen Bedingungen der Individualität vor: »Wie der Einzelne mit seinem Lebensgehalt, welcher es auch sei, immer doch im Zusammenhange des Ganzen und wie zugleich alles Geistige schließlich im Natürlichen wurzelt, wird am deutlichsten an dem Begriff der Generation«78. Derselbe Begriff als vermittelndes Element zwischen Individuum und Geschichte wurde in dieser Epoche von Dilthey in Leben Schleiermachers theoretisch begründet. Im Licht dieser Analyse sieht die Perspektive Rudolf Hayms komplexer aus als die eines traditionellen und beständig »harmonischen« Bildes der Biographie: Vielmehr zeigt sie eine tiefgreifende Reflexion der möglichen pragmatischen und historisierenden Charakterisierung. Die Tatsache, dass Haym die ästhetische und die historische Seite der Biographie als zwei voneinander unabhängige Dimensionen erkennt, ist darauf zurückzuführen, dass er die ästhetische Dimension als untilgbar ansieht. In dem Werk Die Romantische Schule, in dem er von Anfang an auf eine historisch-wissenschaftliche Bestimmung der biographischen Arbeit verzichtet, zeigt sich, dass er den Weg Diltheys schon vor diesem gegangen ist. Mit Leben Schleiermachers nämlich versucht Dilthey, das künstlerische Vorbild der Biographie in Frage zu stellen, und zwar durch den zu dieser Zeit neuen Weg der Historisierung der Individualität.

78 Ebd., S. 10.

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4.

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Charakteristik und Lebensbild, die von Haym bestimmten Elemente der »künstlerischen« Biographie, findet man auch in der biographischen Konstruktion Diltheys, dessen Vorhaben über diese traditionelle Konzeption hinausgeht. Diltheys Ziel ist es, das biographische Schreiben zu erneuern: Es soll mehr als Charakteristik oder das Bild einer Existenz sein. Im Vorwort und in der Einleitung von Leben Schleiermachers deutet er die wesentlichen Bausteine seines Vorhabens an, um dem Leser einen Wegweiser für die Interpretation des Werkes zu geben. Eine Biographie, stellt Dilthey am Anfang fest, sei im Fall einer Persönlichkeit wie der von Friedrich Schleiermacher notwendig: »Die Philosophie Kants kann völlig verstanden werden ohne nähere Beschäftigung mit seiner Person und seinem Leben«. Anders jedoch bedürfen »Schleiermachers Bedeutung, seine Weltansicht und seine Werke zu ihrem gründlichen Verständnis biographischer Darstellung«79. Besonders nach der Veröffentlichung der Briefe des Theologen sei die Publikation einer solchen immer vordringlicher geworden80. Der Leser könnte aus diesen Zeilen schlussfolgern, dass die Biographie ein nur für »besondere Fälle« gültiges Mittel der historischen Rekonstruktion sei. Einer solchen irreführenden Interpretation möchte Dilthey vorbeugen; im Zuge dessen stellt er klar, dass die Biographie keine einfache Rekonstruktion der Lebensereignisse ist. Sie führe vielmehr zu einer tieferen und ursprünglicheren Dimension. Denn, »in dem Verhältnis des Einzelnen zu der Gesamtheit, in welcher er sich entwickelt und auf die er zurückwirkt, liegt der Schwerpunkt der Biographie wie des Lebens selber«81. Die von Dilthey hervorgehobene Struktur des Lebens ist nicht unmittelbar historisch: Nur für die schöpferischen Persönlichkeiten wird diese erste Stufe der Ich-Welt-Beziehung als Entwicklung und Rückwirkung zum geschichtlichen Problem. Diltheys Ziel ist deswegen, dieses Lebensmodell zu verstehen und darzustellen: »[D]ie Biographie eines Denkers oder Künstlers hat die große geschichtliche Frage zu lösen, wie ganz zerstreute Elemente der Kultur, welche durch allgemeine Zustände, gesellschaftliche und sittliche Voraussetzungen, Einwirkungen von Vorgängern und Zeitgenossen gegeben sind, in der Werkstatt 79 LS, S. I (GS XIII, S. XXXIII). 80 Ebd. Es handelt sich um den Briefwechsel Schleiermachers, zum Teil von Dilthey selber herausgegeben: vgl. Aus Schleiermachers Leben in Briefen, 3. Bd.: Schleiermachers Briefwechsel mit Freunden bis zu seiner Übersiedlung nach Halle, namentlich der mit Friedrich und August Wilhelm Schlegel; 4. Bd.: Briefe an Brinkmann, Briefwechsel mit seinen Freunden von der Übersiedlung nach Halle bis zu seinem Tode. Denkschriften. Dialog über das Anständige. Recensionen, hg. von W. Dilthey, Reimer, Berlin 1861–1863. Die Briefe von Schleiermacher sind heute in der Kritischen Gesamtausgabe (KGA), V. Abt.: Briefwechsel und biographische Dokumente, V Bände, De Gruyter, Berlin-New York, 1980ff. 81 LS, S. I (GS XIII, S. XXXIII).

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des einzelnen Geistes verarbeitet und zu einem originalen Ganzen gebildet werden, das wiederum schöpferisch in das Leben der Gemeinschaft eingreift«82. Diese Struktur des Lebens als Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesamtzusammenhang zeigt sich, sobald sich der Geschichtsschreiber mit dem Historisch-Schöpferischen des Einzelnen befasst. Über die ursprüngliche Beziehung von Ich und Welt hinaus, konzentriert sich Dilthey auf die historische Tätigkeit des Individuums und ihre Entwicklung im Laufe des Lebens. Der Verfasser konstatiert eine Korrespondenz zwischen dem biographischen Modell und der Struktur des Lebens, deren problematischer Kern die Beziehung und Interaktion des Individuums mit der Welt ist. In diesem Sinn ist konsequent die Möglichkeit ausgeschlossen, das Denken als eine Tatsache neben anderen Lebenstatsachen zu betrachten. Die Frage nach dem Denken nämlich klärt sich erst, nachdem die ursprüngliche Frage der Beziehung zwischen Individuum und Welt erhellt worden ist. Das Problem der Biographie entsteht Diltheys Ansicht nach nicht nur aus dem Interesse für eine Persönlichkeit, sondern auch aus der Überzeugung, dass die geschichtliche Struktur des Lebens sich bei einigen Persönlichkeiten in einer besonders deutlichen Weise entfaltet. Bevor ich mich weiter der Analyse des Werkes Leben Schleiermachers widme, möchte ich meine Verwendung des Ausdrucks »Struktur des Lebens« erläutern: Ich nutze ihn in seinem »allgemeinen« Sinn, ohne mich auf die spätere diltheysche Theorie der Struktur zu beziehen. Diltheys Verwendung dieses Begriffes in der Biographie werde ich später analysieren. Mehr als ein Beschreiben der Individualität, bedeutet biographisch zu schreiben für Dilthey die Reduktion des Lebens auf seine wesentliche Geschichtlichkeit und auf die Beziehung des Individuums mit der Welt. Die allgemeine Struktur des Lebens, das heißt das ursprüngliche Sich-Beziehen des Ichs auf die Welt, zeigt besonders bei Künstlern und Denkern ihre Geschichtlichkeit. Bei ihnen entfaltet sich am deutlichsten die Wechselwirkung zwischen Ich und Welt. Die historische Forschung unterteilt sich laut Dilthey in zwei Phasen: Zunächst gelte es, die materiellen und geistigen Umstände zu interpretieren, die auf das Individuum wirken, darunter auch die Einflüsse der Vergangenheit und der Gegenwart. Denn die jeweils gegebenen Verhältnisse werden durch den Einzelnen verarbeitet: Durch diese Verarbeitung des Gegebenen schöpft das Individuum etwas Neues. Dieses Novum ist wiederum der historische Gesamtzusammenhang, der ganz anders ist als der Zusammenhang, von dem es früher bestimmt war. Es eröffnet sich dann die zweite Phase der bio82 Ebd. In dem Aufsatz Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, in »Philosophische Monatshefte«, 11 (1875), S. 118ff. und heute in GS V, S. 31ff. definiert Dilthey dieses Problem als zentrale Frage für die Geisteswissenschaften.

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graphischen Aufgabe: Jetzt tritt dieses Neue in die Kultur der Gegenwart ein, sodass es seinerseits ein schöpferischer Aspekt der kulturellen Entwicklung wird. Der Geschichtsschreiber soll deswegen auch die Wirkungen des Einzelnen auf die Kultur prüfen und rekonstruieren. Im Fall von Schleiermachers Biographie führt die Prüfung dieser Lebensstruktur dazu, »die Bedeutung dieses großen Daseins in Zusammenhang der weltgeschichtlichen geistigen Bewegung, inmitten deren es verlief », zu begreifen83. Das Ziel Diltheys ist also zu zeigen, wie die Persönlichkeit Schleiermachers aus den historisch-geistigen Bedingungen der Zeit gebildet und wie sie ihrerseits kreativ und bildend wurde. Das Verhältnis von Ich und Welt und deren Wechselwirkung, die zu etwas Neuem führt, bildet einen weiten Bereich der Biographie: Was in der Einleitung theoretisch erläutert wird, führt die Darstellung in Leben Schleiermachers aus. Die unendlich vielen Beziehungen, die in dessen Leben sich entfalten, werden von Dilthey in anderen Beiträgen weiterentwickelt. Für unsere Forschung sind diese anderen Biographien, die aus dem Werk Leben Schleiermachers entstehen, nicht so bedeutend. Die wichtigsten Aspekte von Diltheys Theorie sind nämlich in dem Werk enthalten, so z. B. die Thesen seines berühmten, an der Universität Basel gehaltenen Vortrages84. Diltheys Interpretation in Leben Schleiermachers beginnt mit der Analyse der deutschen Aufklärung, die er deutlich von der englischen und französischen unterscheidet. Das Spezifische der deutschen Aufklärung, besonders deren Aufwertung des individuellen Inneren und des einzelnen Schicksals, die auch die folgende deutsche Geistesgeschichte charakterisiert, gründet in den besonderen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen Deutschlands (besonders im Ausschluss der Mittelschicht aus dem politischen Leben, der mit dem konsequenten Desinteresse des Bürgertums für die Nation verbunden ist). Dieser Charakter der deutschen Aufklärung erklärt deren stark theologische Prägung, die auf Luther und den Pietismus zurückgeht. Neben der theologischen Natur der Aufklärung spielt für die geistige Entwicklung in Deutschland die besondere Beziehung zwischen Dichtung und Philosophie eine entscheidende Rolle. In der Dichtung, so Dilthey, bilden sich die zentralen Elemente der späteren philosophischen Weltanschauung heraus. Die Dichter, betont er, brachten »eine großartige wissenschaftliche Bewegung hervor, neue Richtungen der Forschung, ja eine neue Weltanschauung«85. Die spätere Generation vervollständigt in der wissenschaftlichen Forschung, was die Poeten angefangen hatten. Auch die Philosophie der Epoche, deren Wurzeln bei 83 LS, S. XI (GS XIII, S. XLII). 84 W. Dilthey, Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800, GS V, S. 12ff. 85 LS, S. IX (GS XIII, S. XL).

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Kant zu finden sind, wurde von Goethe stark beeinflusst: Mehr als die logische Konstruktion von Hegel herrschte Dilthey zufolge die Kraft der goetheschen Konzeption über die deutsche Kultur. Auch im Fall Schleiermachers drückt sich die Kontinuität seiner intellektuellen Entwicklung in der Rezeption Kants aus, obwohl dieser Bezug auf Kant im Rahmen einer religiösen Weltanschauung stattfindet86. Die diltheysche Rekonstruktion möchte prüfen, wie die zentralen Elemente von Schleiermachers Bildung – das heißt Aufklärung im Sinne Kants und die Dichtung der deutschen Klassik – durch den Einfluss von drei Generationen vor Schleiermacher auf ihn wirken und dazu führen, dass sich mit ihm eine Wende in der ethischen Welt und in der Konzeption der christlichen Religiosität verwirklicht. Bei Dilthey findet man nicht mehr das harmonische Bild des Individuums und konsequenterweise ist die Rekonstruktion durch künstlerische Intuition ausgeschlossen. Vielmehr führt die Idee der Individualität als Grundstein des historischen Prozesses zu einer völlig neuen Konzeption der Biographie und der Erzählung einer Lebensgeschichte. Das künstlerische Modell ermöglicht es, die Individualität als nicht-zeitliches Element zu betrachten und beschäftigt sich kaum mit der Frage der Beziehung zwischen dieser nicht-temporalen Individualität und der Zeit ihrer Existenz. Denn die Geschichtlichkeit des Lebens impliziert, laut Dilthey, nicht zwangläufig die Geschichtlichkeit der Gesamtheit seiner Momente. Nur im Fall von Persönlichkeiten, die auf die Geschichte einen direkten und starken Einfluss ausüben, wird die Beziehung mit ihrer Gegenwart und mit der Gegenwart des Biographen als Geschichtsschreiber problematisch. Die Biographie zeigt die Struktur des Lebens (das heißt die Wechselwirkungen). In Bezug auf Schleiermacher betont Dilthey : »Ich schreibe das Leben eines Mannes, dessen persönlicher Eindruck noch heute in einer älteren Generation ganz lebendig ist, dessen Schule über Deutschland hin bis in die Schweiz noch in kräftiger Wirksamkeit steht, dessen Anschauungen über Religion, Christentum, Kirche bis über den Ozean hin gestaltend eingreifen, dessen Forschungen auf den verschiedensten Gebieten leidenschaftlich bekämpft und verteidigt werden, als wären sie eben vorgetreten. Erwäge ich dies, so erscheint er mir ganz als ein Gegenwärtiger«87. Dank des starken Einflusses Schleiermachers auf das Denken seiner Zeit kann man sich ohne große Schwierigkeiten die Konsequenzen seiner Philosophie für die Epoche Diltheys vergegenwärtigen. Anders ist die Lage hinsichtlich des Individuums Schleiermachers. Ist sein Denken noch aktuell, zeigt sich seine Persönlichkeit als fremd: »[I]n dem innersten Leben, Denken, Fühlen dieses 86 Ebd., S. IX f. (GS XIII, S. XLI). 87 Ebd., S. V (ganz anders ist der Wortlaut in der von Dilthey später neubearbeiteten Auflage: vgl. GS XIII, S. XXXV).

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Mannes ist etwas dem gegenwärtigen Geschlecht völlig fremdartiges. Er, seine Zeit, seine Genossen: das alles ist von dem heutigen Tage durch eine Umwandlung in den Gefühlen, Ideen und Bestrebungen geschieden, wie sie sich kaum jemals schneidender vollzogen hat«88. In Leben Schleiermachers zeigt sich eine tiefe Kluft zwischen der konkreten historischen Persönlichkeit und deren Wirkungen auf die Kultur. Dank seiner Kreativität hat Schleiermacher die geistige Welt stark geprägt. Die ungewöhnliche Kreativität des Individuums wirkt also direkt auf die Kultur. Dilthey selbst befindet sich damit in der Epoche Schleiermachers, das heißt in einer Zeit, die von Schleiermacher geprägt ist. Zugleich gehört das Individuum Schleiermacher einer anderen, schon vergangenen und der Gegenwart fremden Epoche an. In der Biographie stellt Dilthey einen Bruch fest zwischen der Geschichtlichkeit, die von dem Individuum beeinflusst wird, das heißt, seinem Einfluss auf die ihm gegenwärtige Welt, und der von einer anderen Epoche bestimmten Geschichtlichkeit der Person. Auf diese Weise ergibt sich ein historiographisches Paradox: Die Werte und die Ideen des Biographen sind dieselben wie die des kreativen Individuums, sind also dementsprechend gegenwärtig; zugleich aber unterscheidet sich das Individuum geistig und moralisch durch die Veränderungen in dieser Epoche, die diese Form der Individualität selbst bewirkt hat. Die von Dilthey theoretisierte geschichtliche Struktur des Lebens produziert eine Ambivalenz und damit einen schwierigen Ausgangspunkt für den Geschichtsschreiber, der seinem Gegenstand zugleich nah und fern ist. Das in der Biographie betrachtete Individuum ist dem Biographen fremd, auch deshalb, weil es neue geschichtliche Bedingungen schafft. Sein schöpferisches Vermögen verwandelt die frühere Epoche, sodass sie dem Biographen fremd wird. Insofern befindet sich der Biograph auf einer Grenze: Hier kreuzen sich die Fäden, die zu einem historisch Neuen führen. In dieser doppelten Verbindung liegt die Geschichtlichkeit der Biographie. Im Licht der Lebensstruktur, die sich in der Geschichtlichkeit gründet, wird die Einmaligkeit und das Spezifische der Lebensgeschichte deutlich. Deswegen ist der Biograph laut Dilthey nicht nur ein Erzähler. Er ist vielmehr derjenige, der seinerseits wieder auf diese Geschichtlichkeit wirkt und die zwei Seiten der historischen Arbeit zusammenbringt: »[D]iese Gegenwart hat zu der ganzen großen Epoche, welcher Schleiermacher angehörte, das reine Verhältnis verloren«, deswegen sei es notwendig, »den Zusammenhang ihrer Lebensergebnisse mit unseren heutigen Aufgaben herzustellen, dem Bleibenden in ihnen eine erneute Wirkung in der Gegenwart zu schaffen«89. Er ist nicht nur Erzähler, »Porträtmaler« oder Chronist des individuellen Lebens; der Biograph befindet

88 Ebd. (vgl. die anderslautende neubearbeitete Auflage: GS XIII, S. XXXV). 89 Ebd. (auch hier weicht die Neuauflage ab: vgl. GS XIII, S. XXXV).

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sich im Mittelpunkt der Lebensstruktur, das heißt, am Übergang von der früheren zur folgenden Epoche, in der sich die beiden Dimensionen nähern. Ein solches Gewebe von Vergangenheit und Gegenwart zielt auf die Idee des »Gegenwärtig-werdens« der Vergangenheit, darauf, Vergangenes in die Gegenwart zu bringen. Denn »mit der eigenen Arbeit an den wissenschaftlichen Aufgaben der Gegenwart muss sich zu diesem Endzweck geschichtliche Forschung verbinden. Im Umfang dieser umfassenden Aufgabe liegt auch dies Leben Schleiermachers und seine Absicht«90. Diltheys lebensgeschichtlicher Ansatz dient dazu, die Verbindung mit der Vergangenheit zu erhalten: Dadurch wird der Punkt deutlich, an dem sich die Vergangenheit zu unserer Gegenwart umwandelt. Es ist also möglich, die Vergangenheit in der geschichtlichen Entwicklung zu erschließen. Die Kontinuität der deutschen kulturellen Entwicklung, die Dilthey mithilfe des biographischen Modells erklärt, ist die Verwirklichung eines geistigen Erbes, das durch die Generationen erhalten bleibt und sich weiterentwickelt. Diltheys Untersuchung hält die zwei Dimensionen dieses historischen Prozesses der Gegenwärtigkeit zusammen: einerseits der Wille, den Lesern das Bild einer bedeutenden Existenz als fremde und weite Dimension anzubieten, andererseits bleibende Ideen in ihrem Zusammenhang und im Licht der gegenwärtigen Forschung darzustellen. Auf der Suche nach dieser geistigen Kontinuität muss dem Biographen vor allem klar sein, welche Dokumente er nutzen will und wodurch sich diese Dokumente auszeichnen. In der Rekonstruktion der geistigen Bewegungen kann er authentische Materialien benutzen: Zu diesen zählen an erster Stelle Werke des Dargestellten. Dabei sind die Werke von entscheidender Bedeutung, weil sie »nicht trügen«. Zugleich sagen sie nicht »alles, was der Historiker bedarf«, weil sie »den ursächlichen Zusammenhang, die Entstehung der Ideen aus einem älteren Gedankenkreis oder aus dem Erlebnis und der Anschauung des Wirklichen nicht [aussprechen]«. Um diesen Zusammenhang zu beleuchten, muss man in erster Linie auf Briefe und Tagebücher zurückgreifen91. Diese Unterscheidung zwischen Werken, Tagebüchern und Briefen ist ein wichtiges Element, um die diltheysche Konzeption der Biographie zu verstehen. Sie setzt voraus, dass das individuelle Innere sich vollständig in den Werken ausdrückt. Als unmittelbarer Spiegel der Persönlichkeit sind die Werke für Dilthey paradoxerweise nicht das direkte Objekt des Interesses des Biographen. Dieser verfolgt vielmehr das Ziel, zu dem kausalen Zusammenhang zwischen Leben und Schriften zurückzugehen. Das publizierte Werk stellt sich Dilthey als etwas Objektives und klar Umrissenes dar, eine Art der unmittelbaren Transposition des Inneren: Entsprechend ist in diesem Fall keine historische Inter90 Ebd. (anders in der späteren Auflage: vgl. GS XIII, S. XXXV). 91 Ebd., S. XII (GS XIII, S. XLIII).

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pretation notwendig. Der hermeneutische Prozess interessiert sich für den Zusammenhang des Denkens des Autors mit seinem Leben und mit der Vergangenheit. Dem Biographen stellen sich zahlreiche methodologische Fragen in Bezug darauf, wie Leben und Denken verbunden sind und einander beeinflussen. Geständnisse und Lebenspläne, die sich auf Grundlage der Briefwechsel herauskristallisieren, stellen für die Biographie die wichtigsten Materialien dar. Jedoch muss der Biograph einen kritischen Gegenpol dazu besitzen: Dazu gilt es in erster Linie, die »Briefe derselben Person an andere aus derselben Zeit« zu vergleichen92, sodass Bedeutung und Wichtigkeit des Geschriebenen eingeordnet werden können. Diese kritische Arbeit hat für Dilthey das Ziel, »wahrhaft objektive Einsicht« zu gewinnen. Er sieht diese in Leben Schleiermachers gänzlich realisiert, da die Biographie »auf der sich ergänzenden Fülle von Handschriften« beruht93. Laut Dilthey vervollständigen die Briefe, Tagebücher und unveröffentlichten Arbeiten zusammen mit den Berichten der Zeitgenossen über den Protagonisten die Dokumente94. In der Hoffnung, »durch eine mehrmalige, unsäglich mühsame Durcharbeitung der Papiere Schleiermachers […] ihre wahre Zeitordnung« entdeckt zu haben95, präsentiert Dilthey am Ende der Biographie das Denkmal der inneren Entwicklung Schleiermachers erläutert durch kritische Untersuchungen. Hierin legt er die Chronologie und die wesentlichen Inhalte der schleiermacherschen Papiere dar. Dadurch will er jedem Forscher ermöglichen, sich die von ihm verwendeten Quellen zu erschließen, und so die konsequente Überprüfung seiner historiographischen Arbeit gewährleisten96. Die Überzeugung, dass die Vollständigkeit der Dokumente die notwendige und genügende Bedingung für die historische Rekonstruktion ist, bestätigt Dilthey auch in späteren Werken: Sowohl im Aufsatz Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875) als auch in dem späteren Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie (1889) stellt er als Hauptproblem der historischen und philosophischen Forschung die fehlende Zugänglichkeit der Archive dar97. 92 Ebd., S. XIII (GS XIII, S. XLIV). 93 Ebd. (GS XIII, S. XLIV). 94 In Bezug auf die Rolle der Briefe an verschiedene Personen vgl. ebd., S. XIII (GS XIII, S. XLIX), wo Dilthey die Briefe von Varnhagen von Ense und die von Henrik Steffens vergleicht. 95 LS, S. XIII (GS XIII, S. XLIV). 96 Ebd. (GS XIII, S. XLIX f.). In den Denkmalen der inneren Entwicklung Schleiermachers erläutert durch kritische Untersuchungen hat Dilthey Teile des schleiermacherschen Nachlasses publiziert, den die Tochter Schleiermachers ihm zu Verfügung stellte. Es handelt sich um Notizen, Fragmente und Teile der Tagebücher. Diese Materialien wurden in GS XIII nicht wieder veröffentlicht. 97 Vgl. Dilthey, Archive für Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der

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Hinter dieser Frage versteckt sich das allgemeinere Problem der Verfügbarkeit der Dokumente und ihrer Nutzbarkeit für die historische Forschung und die Frage des »Überschusses« der Quellen, die die neue Epoche der historischen Forschung charakterisiert. Dilthey hat die Hoffnung, dass neue Archive und Bibliotheken jene Dokumente archivieren können, die bislang bei Privatleuten aufbewahrt wurden98. Die objektivistische und positivistische Konzeption Diltheys, die sich in seiner Wertschätzung der Statistik ausdrückt, hat das Ziel, eine lediglich ästhetische und romantische Konzeption des geistigen Lebens zu überwinden. Dieses Ziel spiegelt sich in der zeitgenössischen Stellungnahme zu Fragen der Literaturgeschichte. Zum Beispiel lieferten Diltheys Ansicht nach die historisch-literarischen Arbeiten von Julian Schmidt zwei entscheidende Beiträge, in denen sich endlich der ursächliche Zusammenhang der geistigen Bewegungen zeigte: Die neue Reflexion über den biographischen Ansatz und seine neue Konzeption als objektive Forschung. Dadurch zeigt sich endlich der Zusammenhang der geistigen Bewegungen99. Auch in dem Bereich der literarischen Geschichte, erklärt Dilthey, muss man versuchen, die Tatsachen zu erhellen, indem man »die Verkettung der Ursachen und Wirkungen […] in einer lückenlose[n] Ordnung« sucht, weil sich sowohl die intellektuellen Prozesse als auch die politischen nach diesem Vorbild entwickeln100. Aus diesem Grund schätzt Dilthey das Verfahren von Wilhelm Scherer, dessen Determinismus die Naturwissenschaften mit einer vergleichbaren Methode verband101. Das Ziel seiner Schleiermacher-Biographie fasst er folgendermaßen zusammen: »Ich will versuchen, den ganzen Lebensgehalt Schleiermachers inhaltlich darzulegen, seine Entwicklungsgeschichte und ihren Zusammenhang mit der großen geistigen Bewegung, inmitten deren er lebte, die hieraus sich ergebende umfassende Begründung seiner Lebens- und Weltansicht […], ich möchte nicht erzählen blos, sondern überzeugen«102. Der Unterschied zwischen Diltheys biographischer Methode und dem Modell, nach dem Haym vorgeht, betrifft nicht nur die Auffassung der geistigen Kontinuität und der Rekonstruktion, die durch die Dokumente möglich ist,

98 99

100 101 102

Philosophie, »Archiv für Geschichte der Philosophie«, 2 (1889), S. 343ff., heute in GS V, S. 555ff. Hinsichtlich Diltheys Interesse für die Statistik vgl. Volkszählungen (GS XVI, S. 69ff.), Der Mensch und die Zahlen (ebd., S. 134ff.). Vgl. Dilthey, Literaturhistorische Arbeiten über das klassische Zeitalter unserer Dichtung, in GS XI, S. 195ff., ursprünglich erschienen 1866 in »Westermanns Monatshefte« unter dem Pseudonym Wilhelm Hoffner. Vgl. auch Julian Schmidt, GS XI, S. 232ff. und Julian Schmidts Literaturgeschichte, GS XVI, S. 257ff. Ebd., S. 198. Vgl. Dilthey, Wilhelm Scherer, GS XI, S. 236ff., ursprünglich erschienen in Wilhelm Scherer zu persönlichem Gedächtnis, »Deutsche Rundschau«, 49 (1886), S. 132ff. LS, S. V (gestrichen in GS XIII, S. XXXV).

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sondern auch die Art des Schreibens. Die Biographie bedarf nach Dilthey einer objektiven und gewissenhaften Arbeitsweise, um einen kohärenten Zusammenhang von Ideen zu erschaffen. Dagegen ist es für Haym vor allem das Porträt, das eine geschlossene Perfektion erzeugt. Der Vergleich zwischen Dilthey und Haym ist nicht nur »heuristischer« Natur : Er fußt auch auf einer realen Beziehung zwischen den beiden Autoren. Die schon zitierte Rezension Hayms von Leben Schleiermachers ermöglicht, den Unterschied zwischen den beiden Perspektiven auf das biographische Schreiben auszuwerten. Schätzt Haym das Werk Diltheys auch sehr – so denkt er, dass Die Romantische Schule nicht so gut gelungen sei103 –, begreift er doch auch die theoretischen Probleme und »Knoten«, die sich in diesem Werk zeigen. In Bezug auf den von Dilthey herausgegebenen schleiermacherschen Briefwechsel schreibt Haym, dass eine Biographie des berühmten Theologen und Philosophen noch notwendiger sich zeige, »seit es durch die reichlichen Mittheilungen seines Briefwechsels uns gleichsam Allen vergönnt worden war, noch einmal, und zwar vertrauter und vollständiger mit ihm zu leben als irgend ein Einzelner von denen, die noch in sein helles Auge geblickt, noch den Strom seiner Rede von seinen eigenen Lippen geschöpft hatten«104. Es geht nicht nur um die Notwendigkeit, Schleiermachers Leben im Licht seines Briefwechsels erneut zu lesen und die Vergangenheit durch vielfältige neue Dokumente zu reinterpretieren: Haym erkennt vielmehr ein für das biographische Schreiben neues theoretisches Problem. Dieses Problem fasst er in folgende Fragen: Würde »ein überlebender Zeitgenosse, ein unmittelbarer Schüler Schleiermachers ihm am besten die Dienste des Biographen« leisten? Und würden die »wirkliche Geschichte […] etwa Freunde und Schüler am besten schreiben?«105 Die Verfügbarkeit der Dokumente ist deswegen laut Haym keine ausreichende Bedingung zum Schreiben einer Biographie. Sie ermöglicht vor allem, den Gegenstand mit dem für das Schreiben notwendigen historischen Abstand zu betrachten. Der Briefwechsel von Schleiermacher bietet also nicht nur Arbeitsmaterial für den Biographen, sondern ist auch Bedingung für ein Verständnis des Beschriebenen, da die Dokumente den Nachfolgenden eine tiefere Kenntnis und eine Vertrautheit mit dem Verfasser ermöglichen. Sowohl Dilthey als auch Haym sehen den Biographen nicht als »Zeugen«, der am besten geeignet wäre, eine 103 R. Haym, Ausgewählter Briefwechsel, S. 275f. 104 R. Haym, Die Dilthey’sche Biographie Schleiermachers, in »Preußische Jahrbücher«, 26 (1870), S. 556. Neben der Rezension von Haym bedeutsam sind die Folgenden: E. Zeller, Schleiermacher in der ersten Hälfte seines Lebens, »Historische Zeitschrift«, 25 (1871), S. 49ff.; C. Sigwart, Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, »Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik«, 57 (1870), S. 277ff.; F. Meinecke, Rez. Leben Schleiermachers von Wilhelm Dilthey. Zweite Auflage, »Historische Zeitschrift«, 130 (1924), S. 458ff. 105 Haym, Die Dilthey’sche Biographie Schleiermachers, S. 556.

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Biographie zu verfassen, da er dem »Biographierten« zeitlich näher ist. Dank der Verfügbarkeit der Dokumente kann die Biographie am besten von einem nicht Gegenwärtigen geschrieben werden. Die Dokumente sind daher nicht nur Mittel oder einfache Materialien für die biographische Forschung, sondern sie verändern die biographische Arbeit selbst. Das Leben Schleiermachers erscheint Haym als notwendiges und bedeutendes Werk, weil die Briefe und persönlichen Dokumente Schleiermachers einen tieferen Blick in dessen Leben erlaubten. Dilthey befindet sich dank der Verfügbarkeit dieser Dokumente in der günstigsten Lage, eine Biographie zu schreiben. Die Erfüllung einer weiteren Bedingung ist Haym zufolge für das Schreiben einer guten Biographie unverzichtbar. Die Größe einer Persönlichkeit könne erst dann in einer Biographie vollständig zur Geltung gelangen, wenn ihr Leben »in einem verstehenden Geist sich noch einmal spiegelt und sich dadurch mit gesteigerter Wirkung in die Gegenwart hinein fortsetzt«106. Die Verfügbarkeit der Dokumente reicht also für die Biographie nicht aus: Diese brauchen einen Geist, der ihren Sinn erschließen kann. Um das Innere des Geschilderten zu offenbaren, benötigt der Geschichtsschreiber ein besonderes Talent: »Aus den durcheinandergeworfenen Bruchstücken eines bedeutenden Geistes und Lebens stellt nur derjenige das Ganze her, dem zugleich dies Ganze beständig gegenwärtig ist«107. Nur aus »diesem geistigen Einverständnis heraus, […] [dass] das Einzelne vorwegnimmt, um sich […] zu vervollständigen und zu vertiefen«108, können die gegebenen Phänomene rekonstruiert werden. In dem historischen Werk ist nach Hayms Ansicht das Verstehen zweier Geister im Spiel: Auf Grundlage dieses Verständnisses kann ihm zufolge gelungene Biographien nur schreiben, wer die ganze Persönlichkeit begreifen kann. Dieser Totalität liegt der Zusammenhang der einzelnen Teile und Momente eines Lebens zugrunde. Trotz der gemeinsamen Überzeugung beider Autoren, dass die Nutzung persönlicher Dokumente (Briefe, Tagebücher, Nachlassmaterialien) für die Biographie unerlässlich sei, interpretieren sie deren Sinn anders. Aus Diltheys Perspektive erlauben solche Materialien die objektive Arbeit des Geschichtsschreibers: Durch sie kann er mithilfe der vergleichenden Methode den Zusammenhang von Ursache und Wirkung sehen. Für Haym ist jedes Lesen der Dokumente abhängig von dem einfühlenden Vermögen des Geschichtsschreibers. Dieser sollte sich mit seinem »Objekt« durch Mitgefühl verbinden: Nur dieses Gefühl ermöglicht eine biographische Rekonstruktion. Zentral ist für Haym deswegen die Identität des Biographen: Der verstehende Geist, der mitfühlend mit dem Objekt in Verhältnis tritt, sieht das Leben des Anderen als eine Einheit, und ist 106 Ebd., S. 557. 107 Ebd. 108 Ebd.

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deswegen fähig, die einzelnen, fragmentarischen Momente zu einem Ganzen zusammenzufügen. Aufgrund dieses Postulats findet Haym das Werk Diltheys besonders gelungen: »Vom ersten Blatt an erhalten wir den Eindruck, daß der ganzen Darstellung eine sichere Gesamtanschauung des Schleiermacher’schen Wesens zu Grunde liegt, die in intensiver Empfindung, in einem ganz auf dieses Wesen gestimmten Mitgefühl ihre Wurzel hat«109. Damit die Lebensgeschichte überzeugend und wahrhaftig gerät, müssen sich in der Beziehung vom Biographen zum Beschriebenen Mitgefühl, Empfindung und Anschauung verbinden. Die Wahrheit einer Biographie bemisst sich deswegen nicht allein an ihrer Objektivität und ihrer Nachprüfbarkeit, sondern auch in dem Gelingen des Nachempfindens des Wesens des Anderen. In Leben Schleiermachers erkennt Haym solches Nachempfinden. Diese Biographie beschreibt er mit dem Wort bewunderungswürdig; das sei sie, weil sie einem Roman ähnele. Er beurteilt in dem Werk als besonders gelungen genau das, was Dilthey zu vermeiden suchte: das Porträthafte. Das Ziel Diltheys war es hingegen, ein objektives Werk zu verfassen. Leben Schleiermachers wird der von Haym geforderten Duplizität absolut gerecht: Die künstlerisch-intuitive Arbeit, die zur historischen Rekonstruktion unverzichtbar ist, ist in einen historisierenden, kritischen Hintergrund eingebettet. Die positive Beurteilung Hayms fußt auf einem Missverständnis: Er sieht bei Dilthey die doppelte Struktur, die seine eigene Arbeit charakterisiert. Aber das biographische Vorbild, das er in Leben Schleiermachers sieht, liegt in Wahrheit weit von der diltheyschen Absicht entfernt. In der Asymmetrie und den Unterschieden zwischen den Positionen Diltheys und Hayms werden einige kritische Punkte der Biographie deutlich. Eine entscheidende Rolle spielt der Wert der Dokumente. Wie für Dilthey ermöglicht auch für Haym die Prüfung der Dokumente und des Nachlasses einen tieferen Blick in das Leben einer Persönlichkeit, als er deren Zeitgenossen möglich ist. Trotzdem sehen beide Autoren die Arbeit des Biographen unterschiedlich. Laut Haym werden die Dokumente vom Biographen durch Gefühl und Anschauung belebt. Laut Dilthey sind hingegen die Dokumente allein schon ausreichend: Der Geschichtsschreiber benötigt einfach eine Forschungsmethode, aber kein Mitgefühl oder Einfühlungsvermögen110. Solche verschiedenen Perspektiven sind auf ein unterschiedliches Verständnis von historischer Distanz zurückzuführen: Das biographische Schreiben ist für beide Autoren nur mit Abstand, im Rückblick möglich, das heißt, wenn alles 109 Ebd., S. 558. 110 Besonders in dem Aufsatz des Jahres 1875 wird diese rein materielle Betrachtung der Quelle sehr deutlich beschrieben: Wenn alle Dokumente zur Verfügung stehen würden, wäre eine vollständige wissenschaftliche Rekonstruktion der geistigen Prozesse möglich: vgl. GS V, S. 38ff.

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schon geschehen und abgeschlossen ist. Biograph kann nur sein, wer später kommt, weil er paradoxerweise die historische Persönlichkeit durch die Benutzung der Dokumente besser und tiefgehender versteht als deren Zeitgenossen. Der Abstand ist also eine notwendige Bedingung für das Gelingen der Biographie: Nur aufgrund dessen ist die Nähe des Biographen zum Dargestellten möglich und dadurch auch erst die Biographie. Für Haym ist diese Nähe echtes Mitgefühl, eine Beziehung zwischen dem Geist des Biographen und dem Geist seines Objektes, die den historischen Abstand tilgt. Dilthey zufolge entsteht hingegen dieser Abstand durch die Teilhabe an derselben Kultur mithilfe der Wechselwirkung, die er als Struktur der Biographie erkannt hat. Für beide wohnt der Biographie diese Ambiguität inne: Sie ist immer ein Schreiben post mortem (und deswegen nie gegenwärtig), aber zugleich nur möglich durch Nähe, die auf einer geistigen Kontinuität basiert. Interpretiert Haym die diltheysche Art des biographischen Schreibens als Anschauung des Wesens (beispielsweise von Schleiermacher), beurteilt er zugleich Leben Schleiermachers als in Übereinstimmung stehend mit dem eigenen Vorhaben der Historisierung der Biographie, welches er im Werk Hegel und seine Zeit begründet hatte. Dieses Vorhaben scheint Haym unverzichtbar : Wenn die Philosophie Platons »mit der künstlerischen Charakteristik dieser wunderbaren Persönlichkeit« eine Einheit bildet, ruft das nach einer ganz anderen Rekonstruktion der Persönlichkeit; »statt des künstlerischen der unserer Gegenwart eigene historische Geist«111. Daraus folgt: »Auf ’s Natürlichste leiht sich der Gehalt der Schleiermacher’schen Persönlichkeit dem Unternehmen einer solchen historisch-kritischen Weiterentwicklung dar«. Die Notwendigkeit einer »treuen geschichtlichen Darstellung« macht »selbständige und schöpferische Leistung« überflüssig: Die philosophische Tätigkeit bedarf entsprechend »in unseren Tagen unweigerlich des Anhalts an das Geschichtliche«, und so hat sich »unser Verfasser dieser in der Richtung der Zeit gelegenen Schranke fügen müssen«112. Im Einklang mit seinem Plan einer Erneuerung der Philosophie betrachtet Haym das diltheysche Werk als gegenwärtig. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist aus seiner Perspektive die Epoche der Biographie: Demjenigen, der »voll Eifer [ist], die Natur des Geistes zu studieren«, und das »durch entsagsame Vertiefung in die geschichtlichen Erscheinungen, in deren ursachlichen Zusammenhang, in das Geheimnis ihres Werdens und Fortschreitens« tut, ist die Biographie die Realisierung dieser Bemühungen. Vielleicht, spekuliert Haym, seien in dem Versuch, der Entwicklung und Gedankenbildung in einer bedeutenden Persönlichkeit nachzugehen, »die innigste Durchdringung des Philoso111 Haym, Die Dilthey’sche Biographie Schleiermachers, S. 561. 112 Ebd.

Theoretische Anmerkungen zu Leben Schleiermachers

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phischen und Historischen möglich«. Hier sei »die Gefahr des Irrthums die geringste, die Aussicht auf ein reines Ergebnis am größten«. Auf jeden Fall sei es die Biographie, bei der »dem Forscher das Interesse der Zeitgenossen am bereitwilligsten entgegenkommt«113. Haym versteht das diltheysche Werk – übereinstimmend mit seinem eigenen Vorhaben – als Verwirklichung einer historiographischen Methode, die alternativ zur hegelschen verfährt. Er sieht diese Methode als pragmatische an. Seine Beurteilung der diltheyschen Arbeit lautet wie folgt: »[D]a, wo der Verfasser Historiker ist, da ist er ein vortrefflicher, ein echter Historiker«. Weiter schreibt Haym, dass die Biographie Schleiermachers »ein Stück Geschichte der Philosophie [ist], wesentlich verschieden von dem, was noch heutigen Tages gewöhnlich so heißt, in einem ganz anderen Stil als demjenigen, der seit Hegel der herrschende unter uns geworden und zum Theil durch glänzende Muster vertreten ist«114. Gegen diese genetisch-konstruktive Methode der Geschichtsschreibung erkläre das besprochene Buch »wiederholt in bestimmten Worten den Krieg«; indem Dilthey die Bildung des Denkens in Schleiermachers Geist darstelle, zeige er die Unzulänglichkeit »der Voraussetzungen, auf denen jene falsche, aber blendende Geschichtsschreibung beruht«115. Haym wendet sich gegen die unkritische, gar phantastische Vorstellung »einer allgemeinen Vernunft, der Vernunft des Weltgeistes«, wie sie Hegel vertritt. Dadurch werde »die unendliche Mannigfaltigkeit des Werdens von Gedanken aus Gedanken […] durch die Annahme eines logischen Gesetzes« verengt. Der »Schein einer organischen Selbstentwickelung, eines künstlerischen Planes, eines dramatischen Verlaufs [täuscht und blendet]«, indem er die Philosophie einer bestimmten Epoche als »repräsentativen Ausdruck des Gesammtgeistes dieser Epoche«116 verkennt. Diesem Modell stelle Dilthey »die einzig richtige, echt historische Methode« entgegen, indem er die Gedanken zu ihrem menschlichen Ursprung zurückführt117. Dadurch zerstöre er den Traum, dass man sich »auf den Höhen der Gedankengeschichte der Beachtung der realen Vermittlungen entziehen könne, als ob philosophische Systeme zu vornehm wären, um der ursachlichen Bedingungen zu bedürfen, ohne deren Verständnis sonst nichts in der Welt verstanden werden kann«118. Treffendes Bei113 Ebd. Dilthey selbst hebt hervor, dass die Biographie besonders interessant für die Leser ist, da sie, im Vergleich mit anderen Formen der Geschichtsschreibung, die ethische Kraft der Persönlichkeit in den Vordergrund stellt. Vgl. z. B. Dilthey, Zur Biographie des Freiherrn von Stein, GS XVI, S. 91ff. 114 Haym, Die Dilthey’sche Biographie Schleiermachers, S. 562f. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Ebd., S. 563. 118 Ebd., S. 564.

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spiel dieser Entlarvung der hegelschen Dialektik sei die Rekonstruktion des Bezugs von Schleiermacher auf Kant. »Die Theorie der immanenten dialektischen Entwicklung« werde hier geleugnet, weil, wie Dilthey zeigt, der kantische Ansatz bei Schleiermacher nicht aufgehoben wird, sondern »durch eine ursprüngliche gegensätzliche Stimmung, durch eine gänzlich verschiedene, in dem Tiefsten der Individualität begründete Richtung« zum Teil verneint und zum Teil geändert wird119. Daher tritt »[an] die Stelle der constructiv genetischen […] die pragmatisch genetische Darstellung«120. Nicht im Sinne eines schlechten Pragmatismus, der »jeden Gedanken wie ein festes Ding« hinnimmt und die Geschichte als »chaotisches Aufspüren von Causalitäten« präsentiert121. Vielmehr ist diese Darstellung »die Grundlage für die genetische Erklärung des Schleiermacher’schen Systems«, sowie »die lebendigste und beweglichste Anschauung von dem Treiben intellektueller Kräfte in der Werkstätte der menschlichen Seele«122. Haym zufolge gelingt es Dilthey, »fern von der Beschränktheit, innergeistige Prozesse als eine Kette mechanisch und äußerlich wirkender Ursachen zu fassen, und von der spekulativen Überhebung, an dem Werden individueller Überzeugungen die absolute Dialektik, das abstrakte Entwickelungsspiel der Vernunft ohne Beinamen aufzeigen zu können«123. Indem er jeden Gedanken mit einem seelischen Vorgang, mit einer Bewegung der Seele verbindet, zeigt Dilthey, dass »das System, dessen Werden er darlegt, etwas mehr als ein Entwickelungsstadium der allgemeinen [Vernunft ist]: es ist ihm das Denkmal einer individuell gearteten Vernunft«124. Durch die Wertschätzung der Besonderheit der Einzelnen verdeutlicht Dilthey, dass sie als Individualitäten einen weltgeschichtlichen Wert haben. Die Philosophie Schleiermachers gilt ihm nicht als allgemeiner Ausdruck der ganzen Epoche, sondern als Repräsentantin »nur einer bestimmten Richtung dieser Epoche«125. Das diltheysche Werk lässt die Philosophie Schleiermachers »aus allen zusammenwirkenden Factoren, aus den persönlichen Umständen, aus der sittlichen und intellektuellen Cultur der Zeit, aus der Lage der philosophischen Forschung, aus den Mitteln und Anregungen, welche die positiven Wissenschaften gaben, in treuer Feststellung der wirklich vorhandenen, der nach der ideologischen Evolutionstheorie geradezu ignorirten Causalverknüpfung verstehen«126. 119 120 121 122 123 124 125 126

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 564f.

Haym als Interpret Diltheys: Die unvermeidbar künstlerische Form der Biographie

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Haym als Interpret Diltheys: Die unvermeidbar künstlerische Form der Biographie

Haym schätzte das Werk Diltheys sehr, aber ihm war klar, dass dieses sich in Hinblick auf einige wesentliche Aspekte von seinem eigenen Vorgehen stark unterschied. Das erhellen auch die kritischen Anmerkungen in seiner Rezension der Biographie Leben Schleiermachers. Haym stellt fest: »[U]m so vollendeter freilich wird eine solche Biographie sein, je mehr sie sich selbst wieder der künstlerischen Form annähert, und das wird sie, je mehr die Erzählung zur natürlichen Hülle der entwickelten Ideen wird, je unmittelbarer und greiflicher uns aus der Darstellung eines wissenschaftlichen Lebens zugleich die Kritik seines Gedankensgehaltes entgegenspringt«127. Gerade angesichts dieser als notwendig bestimmten künstlerischen Form der Lebensbeschreibung »lässt die vorliegende Biographie Einiges zu wünschen übrig«128. Laut Haym fehlt bei Diltheys biographischen Modell ein »freies und ungezwungenes Einverständnis zwischen der historischen Form und der kritisch-philosophischen Endabsicht«129. Man sollte sich fragen, ob Dilthey »hie und da zu geistvoll und zu gedankenreich [ist], um uns ein unbedingt vertrauenerweckender Führer zu sein«130. In der Tat können wir in Leben Schleiermachers lesen über »das Leben eines Mannes, der […] so ganz nur Mensch, der herablassendste, der herzlichste wohltuendste Seelsorger war«. Schleiermacher suchte aber der Biographie zufolge gleichermaßen für seine Gefühle und seinen moralischen Ansatz »den mathematischen strengsten Ausdruck, die wissenschaftlich schärfste Formel«131. Gerade in seinen verschiedenen Eigenschaften liegt »eine unüberwindliche Schwierigkeit« für die biographische Behandlung Schleiermachers: Die »wissenschaftliche, insbesondere die philosophische Gestalt, zu welcher Schleiermacher den idealen Gehalt seines Wesens ausprägte, unendlich mangelhaft erscheint im Vergleich zu dem, was er war und lebte. Er hat es selbst wiederholt bekannt, daß ihm Leben mehr war als Wissen, der Verkehr mit Menschen mehr als mit Büchern, mit Seelen mehr als mit Ideen. Er war […] eine auf das Menschliche, gar nicht im erster Linie auf das Wissenschaftliche gerichtete Natur«132. In dieser Beschreibung findet sich die für die haymsche Konzeption typische Spaltung wieder : Haym betrachtet die individuelle Ebene als letztlich uner127 128 129 130 131 132

Ebd., S. 562. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 559. Ebd.

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gründlich; er fordert, diese darzustellen, ohne sie zu erklären oder zu bestimmen. Er wirft Dilthey die totalisierende Struktur seiner Biographie vor, in der verschiedene, sonst vereinzelte Aspekte zu einer Einheit zusammengefasst werden. Seiner Ansicht nach wird die Biographie dadurch ein vollständiges Werk, dass sie die Individualität vollständig erklärt. Im Zuge dieser kritischen Überlegungen stellt Haym die Frage nach der realen Form und Bedeutung dieses diltheyschen Werkes: Konkret heißt es hier, »lesen wir eine Biographie oder lesen wir ein philosophisches Werk?«133. Biographie und philosophisches Werk sind aus der Perspektive Hayms klar zu unterscheiden: Er postuliert, dass der Sinn einer Biographie auch in dem Nachphilosophieren zu finden sei. Somit lehne Dilthey zu Recht ab, »sich bloß charakterisirend zu verhalten und seiner Arbeit die Form eines geschlossenen Kunstwerks zu geben«134. Denn, »einen Philosophen darstellen, was kann das anders heißen als ihm nachphilosophiren? Ihm nachphilosophiren heißt weiterphilosophiren«135. Deswegen ist die Biographie auch »lebendige philosophische Forschung, also ein Versuch, vom Standpunkt der Gegenwart aus die höchsten ethischen und erkenntnistheoretischen Fragen weiterzuführen, […] in die Form einer biographisch-historischen Darstellung gekleidet: so haben wir diese Biographie nach ihrer strengen wissenschaftlichen Seite hin aufzufassen«136. Jedoch ist eine solche Operation in den Augen Hayms untauglich und tendenziös: »das Interesse der Forschung […] wird oft ungebührlich laut über dem der Darstellung«. Das liege darin begründet, dass »subjektive Aufklärungsbedürfnisse, Fragen und Untersuchungen, die in einer anderen Umgebung entsprungen sind, […] sich störend ein[mischen]« und »der historische Stoff dem Darsteller nur Mittel zum Zweck, nur ein Leitfaden zum Studium mehr oder weniger entlegener wissenschaftlicher Probleme [wird]«137. Ein solches Übermaß an Theorie ist für die Biographie gefährlich, da sie riskiert, in Hegels Perspektive der Logik zurückzufallen. In diesem Fall wird »vorweg der constructive Rahmen aufgestellt, innerhalb dessen diese Geschichte« sich entwickelt138 : »Die pragmatische Erklärung verliert hier den festen Boden unter den Füssen, sie schlägt einigermaßen wieder um in die vordem beliebte ideologisch-constructive«. Dabei erscheint dieses »um so härter, weil es mit dem Anspruch auftritt, reale Zusammenhänge, real wirkende Ursachen, und nicht etwa eine bloße Dialektik der die Bedeutung der Thatsachen

133 134 135 136 137 138

Ebd. Ebd., S. 560. Ebd. Ebd., S. 560f. Ebd., S. 562. Ebd., S. 575.

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in sich enthaltenden Ideen aufzuzeigen«139. Um dieses aprioristische Vorgehen zu vermeiden, sei es notwendig, an der ursprünglichen Ebene der Individualität festzuhalten: Die Individualität zu beleuchten, diene selbstverständlich dem Ziel der Annährung, dieses Ziel werde aber nie in Gänze erreicht. Deswegen gebe es »nur Einen Weg […] mit der Person zugleich das System, mit dem Leben zugleich die Philosophie Schleiermacher’s darzustellen«140. Dabei bleibt jenes »Verhältnis der Unangemessenheit und des Nichtfertiggewordenseins«141 immer bestehen, weil jeder Beschriebene »unendlich mehr [ist], als alle Aufzeichnungen, alle Forschungen, die wir noch von ihm besitzen«142. Als Grund sieht Haym, dass »das Ethisch-Religiöse immer und überall nur unvollständig lösbar [ist] im Element des Begrifflichen«143. Haym kritisiert Diltheys Rekonstruktion der schleiermacherschen Philosophie, da die Rekonstruktion von einem zu dominanten theoretischen Interesse beeinflusst ist. Dieser theoretische Ansatz, dessen Sinn das obengenannte »Nachphilosophieren« ist, entspreche nicht den Notwendigkeiten der Biographie; er sei als äußeres Element an das Leben herangetragen und habe mit der Lebensgeschichte nichts zu tun. Wenn Haym fragt, ob wir es bei Leben Schleiermachers mit einer Biographie oder mit einem philosophischen Werk zu tun haben, stellt er in der Tat eine viel allgemeinere Frage und zwar jene nach dem Sinn und der Bedeutung der biographischen Arbeit. Dabei wirft er Dilthey vor, die Biographie zu stark auf Grundlage einer begrifflichen Struktur konzipiert zu haben; dementsprechend wäre ein rein philosophisches Werk entstanden. Sind Dilthey und Haym sich auch darin einig, die hegelsche historische Perspektive zu kritisieren, beurteilt nur Haym das Verhältnis zwischen Leben und Denken als problematisch. Das begriffliche und das ethische Element sind für ihn inkommensurabel, sodass er die Biographie aus dem Bereich der Philosophie ausschließt. Das diltheysche Ziel ist dagegen wissenschaftlich, indem er versucht, dem Verhältnis zwischen dem Leben in seiner Komplexität und der individuellen geistigen Tätigkeit gerecht zu werden, um eine fundierte, wahrhaftige, objektive, auf dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung aufbauende Lebensbeschreibung zu erschaffen.

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Ebd., S. 576. Ebd., S. 560. Ebd. Ebd., S. 559. Ebd.

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Die Kritik an Diltheys historiographischem Modell in der Rezension von 1870 führt Haym zu den Grundelementen von Leben Schleiermachers. Die ausführliche Darstellung des Werkes lässt eine Reihe theoretischer Frage entstehen, die dabei helfen, diese »Epoche der Biographie« zu interpretieren. Die erste Frage betrifft den Begriff »philosophische Biographie« selber. In der haymschen Perspektive präsentiert sich die Biographie als innovatives historisch-philosophisches Modell. Dieses ist aus einer Notwendigkeit entstanden, die sich bei seinem eigenen biographischen Schreiben über Hegel zeigte: eine adäquate historische Interpretation von Hegel anzubieten. Diese Biographie ist in einem engen Sinn die Biographie eines Philosophen, das heißt, ein historischphilosophisches Modell, das die historische Wurzel der Philosophie und das Verhältnis zwischen individuellem Leben und Denken hervorhebt. Die Dominanz der künstlerischen Dimension im Werk über Wilhelm von Humboldt (1856) und der scheinbare Kontrast zwischen dieser Biographie und Hegel und seine Zeit (1857) zeigen in Hayms Konzeption eine Kluft zwischen der philosophischen und der biographischen Dimension. Die Biographie betrachtet den historischen Menschen und bezieht sich dabei auf die konkreten Bedingungen des Lebens des Dargestellten. Zugleich ist sie auch laut Haym eine erzählende Art des Schreibens. Haym bleibt im Grunde dieser künstlerischen Tradition der Biographie treu, insofern ist seine Kritik an Dilthey verständlich: Bei Dilthey ist die spekulative Intention stärker als die erzählerischen und künstlerischen Elemente es sind. Im Vergleich mit Haym scheint die diltheysche Vorgehensweise ambivalent. Seine Vorgehensweise reagiert nicht auf ein spezifisches Problem der Geschichte der Philosophie: Die philosophische Biographie ist vielmehr für Dilthey das historiographische Modell, in dem das Leben in seiner Gesamtheit eine Form bekommt. Entsteht Schleiermachers Biographie aus dem Willen, das Denken dieses Menschen zu verstehen, konzentriert sie sich dabei sofort auf ein tieferes Problem: auf die »Struktur des Lebens«. Angesichts dieser unterschiedlichen Begriffe der Autoren versteht man auch deren divergierende Ansichten. Hayms Modell legt eine harmonische und eigenständige Individualität zugrunde: Die historische Rekonstruktion zeigt den Kontext, in dem das Denken des Philosophen sich bildet; sie erforscht aber nicht im Besonderen die Individualität, die in sich etwas Geschlossenes ist. Bei Dilthey dagegen ist das Individuum kein eigenständiges Wesen, das für sich selber existiert: Aufgrund der spezifischen Struktur des Lebens steht es immer schon im Verhältnis mit der Welt. Laut Haym spiegeln sich Leben und Denken gegenseitig und die Entstehung der Individualität folgt einer eigentlich schon vorausbestimmten Entwicklung. Bei Dilthey ist das Problem der Individualität und ihres Wirkens sekundär. Das biographische Thema ist nicht nur die bil-

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dend-produktive Dimension, also das Werk, sondern auch die vorindividuelle Struktur Ich und Welt. Der diltheysche Ansatz stellt das biographische Modell selbst und dessen Sinn für die philosophische Forschung in Frage. Vor diesem Hintergrund kann man postulieren, dass das diltheysche Werk Biographie im radikalen Sinn ist, das heißt, eine philosophische Forschung über die Möglichkeit des Lebensbeschreibung. Um das Thema der Biographie über den Verlauf der intellektuellen Entwicklung Diltheys adäquat zu erforschen, darf nicht vergessen werden, dass sein biographisches Schreiben einerseits historisches Modell, andererseits philosophische Forschung über die Struktur des Lebens ist. Sie fragt nach den Verbindungen zwischen Leben und Denken, und beleuchtet vor allem die Bedingung, die eine solche Prüfung legitimiert. Die Geschichtlichkeit der Ich-Welt-Beziehung realisiert sich erst vollständig, wenn das Individuum gestaltend auf die Welt einwirkt. Es geht bei der Biographie darum, diesen Prozess zu verifizieren und die Geschichtlichkeit dieser ursprünglichen Verbindung von Ich und Welt zu begreifen. Insofern ist die Biographie für Dilthey in erster Linie Geschichte des Lebens: Sie geht über das Individuum hinaus, um das Leben als Ich-Welt-Verhältnis zu prüfen. Durch diese Radikalisierung des Konzeptes der Biographie, die ausgehend von der konkreten Erzählung zu der philosophischen Frage des Sinnes ebendieses Tuns führt, bezieht Dilthey gegen die überwiegend künstlerisch ausgerichtete traditionelle Konzeption der Biographie Position. Bei ihm ist das Beschreiben des Lebens nicht an einer harmonischen und in sich geschlossenen Individualität orientiert: Vielmehr konzentriert er sich auf die unvermeidbare ursprüngliche Verbindung zwischen dem Einzelnen und der Welt, um jede solipsistische und monadologische Interpretation der Lebensgeschichte zu vermeiden. Er schlägt in diesem Sinn den Weg einer Erneuerung der Biographie ein, die über die ästhetische Sphäre hinausgeht: Die Grenzen einer solchen ästhetischen Konzeption hatte Johann Gustav Droysen schon hervorgehoben. Wollte Haym die Tradition der Charakteristik durch eine bessere historische Prüfung lediglich verbessern, äußerte sich Droysen gegenüber dieser Tradition der Biographie in seinen Vorlesungen des Jahres 1857 sehr kritisch. Ohne ihren möglichen historiographischen Wert anzuerkennen, klassifizierte er sie unter den Formen der erzählerischen Darstellung der Geschichte, denen er lediglich einen künstlerischen Wert zusprach144. Durch die Verbindung der Biographie als Charakteristik und der Biographie als Entwicklungsgeschichte versucht Dilthey, ihr einen historischen Wert zu geben. In diesem Sinn folgt er dem Weg von Leopold von Ranke, demzufolge der 144 J. G. Droysen, Historik. Die Vorlesung über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, Oldenbourg-Wien-München 1977.

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Persönlichkeit in der Geschichte der primäre Wert zukommt und dieser in der objektiven und wissenschaftlichen Darstellung Raum gegeben werden sollte. Die Befreiung von den traditionellen künstlerischen Vorbildern und die Begründung der wissenschaftlichen Biographie waren für Dilthey die entscheidenden Schritte, um den Wert der Individualität in der Geschichte anzuerkennen und um Rankes Vorhaben zu realisieren, Biographie und Geschichte zu versöhnen. Die Historisierung der Biographie und ihre wissenschaftliche Begründung auf der Basis eines Verhältnisses von Ursache und Wirkung war für Dilthey eine Möglichkeit, sich von der hegelschen Konzeption zu befreien, die das Individuelle auf das Allgemeine zurückführt und damit verneint. Die Abwendung vom künstlerischen Modell und die Verwissenschaftlichung der Biographie sind damit als zwei Hauptelemente ihrer Erneuerung in dieser Epoche festzuhalten. Das Projekt des jungen Dilthey steht unter dem Einfluss von Rankes Idee einer objektiven Geschichte, die die Archive als »Niederschlag des Lebens« betrachtet und das Verhältnis zwischen Einzelnem und Allgemeinen als Aktion und Reaktion ansieht145. Gleichwohl distanziert sich Dilthey von Rankes unmittelbarem Verständnis zumindest hinsichtlich der Zwecke: Anders als dieser wollte er eine strukturierte und klar umrissene Methodologie der Lebensgeschichte146. Dilthey verwirft die harmonische und geschlossene Art der Biographie, die sich als Kunstwerk präsentiert, zugunsten einer strukturierten Methode. Bei Haym und Dilthey finden wir zwei verschiedene Auffassungen hinsichtlich des eigentlichen Objektes der biographischen Forschung. Das hat entscheidende Konsequenzen auch für die jeweilige Konstruktion der Biographie. Laut Dilthey ist die Biographie der Spiegel der Struktur Ich-Welt, der die Individualität zugrunde liegt: Sie prüft auch das historische Moment dieser Struktur, das in der Fähigkeit besteht, ihrerseits Geschichte zu schaffen und auf die Kultur zu wirken. Die Biographie geht über die geschlossene Form des Kunstwerkes hinaus. Anders als bei Haym fußt sie nicht auf einer historisch analysierten, aber in sich geschlossenen Individualität, sondern auf der strukturellen Offenheit des Individuums für das Allgemeine. Der Kern des Projektes des jungen Diltheys ist ein objektives und positivistisches, auf dem Verhältnis von Ursache und Wirkung begründetes Schreiben, das die historischen Tatsachen einbezieht. Die Arbeit des Geschichtsschreibers umfasst nicht die Interpretation des Werkes – das Werk ist für Dilthey unmit145 Vgl. L. von Ranke, Geschichte Wallensteins, Duncker & Humblot, Leipzig 1869. 146 Ein Vergleich zwischen der biographischen Konzeption von Ranke und Droysen wurde von D. Harts durchgeführt: vgl. Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens Alexander und Rankes Wallenstein, in »Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte«, 54 (1980), S. 105ff.

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telbarer Ausdruck der Individualität –, sondern die notwendige Einbeziehung von Briefen und Tagebüchern. Im Licht von Diltheys Beschreibung ist die historiographische Arbeit vollständig realisierbar : Diese positivistische Bestrebung der historischen Arbeit macht die Tatsachen potenziell vollständig erklärbar aufgrund des Kriteriums der kausalen Notwendigkeit, die wiederum zum Kriterium der Wahrheit wird. Es bleibt aus dieser Perspektive kein unerklärliches Element übrig. Das bedeutet, dass Dilthey theoretisch keine Unwegsamkeit der historischen Arbeit sieht oder ihre Möglichkeiten radikal in Frage stellt. Das positivistische Modell verspricht prinzipiell die vollständige Erklärbarkeit der Geschichte. Interpretation erscheint als immer möglich, da sie im Grunde die objektive Arbeit der Rekonstruktion der Tatsachen ist: Das Werk braucht in diesem Sinne keine Auslegung des Geschichtsschreibers, weil es einfach wie ein Spiegel der Person ist. Das hermeneutische Problem wird innerhalb des positivistischen Modells völlig gelöst. Relevant ist hier einzig die Verfügbarkeit der Dokumente. Das Leben Schleiermachers strebt insofern die wahre, objektive Rekonstruktion der Existenz des Protagonisten an. In diesem Modell, das auf den ersten Blick so einleuchtend erscheint, stecken eine Reihe von Problemen, sobald man es auf die bereits analysierte Struktur der Biographie anwendet. Wenn Dilthey von Ursachen und Wirkungen spricht, die den historischen Zusammenhang bilden, so wird nicht deutlich, dass die Werke »den ursächlichen Zusammenhang, die Entstehung der Ideen aus einem älteren Gedankenkreis oder aus dem Erlebnis und der Anschauung des Wirklichen nicht [aussprechen]«147. Ein bestimmter historischer Zusammenhang kann insofern verschiedenste Ursachen haben. Dilthey interpretiert das Ursache-Wirkungs-Verhältnis als Struktur jeder historischen Arbeit, ohne dabei zu spezifizieren, welche Beziehung zwischen dieser Kausalität und den Umständen besteht. Der so betonte positivistische Charakter der Geschichtsschreibung führt zu neuen Fragen, die sich von jenen unterscheiden, die das künstlerische Modell der Biographie aufwirft. Ein Beispiel dieses Unterschiedes ist die Frage der Nicht-Gegenwärtigkeit des Biographen gegenüber seinem Objekt. Sowohl für Dilthey als auch für Haym ist die Verfügbarkeit des Nachlasses und der Briefe notwendige Bedingung der Biographie. Laut Haym lässt sich der historische Abstand überwinden durch den verstehenden Geist, der die Papiere des Nachlasses dank eines Aktes der Einfühlung und des Mitfühlens auslegen kann. Dagegen ist nach Dilthey gerade der Abstand notwendig, da nur dadurch die angesprochenen Dokumente zugänglich sind, und er wird nie durch Einfühlung überwunden. Die haymsche Interpretation der Biographie als Mit- und Einfühlen durch 147 LS, S. XII (GS XIII, S. XLIII).

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den Biographen, die mit dem Modell des Werkes über Wilhelm von Humboldt harmoniert, fußt auf einer anschaulichen Konzeption der Biographie. Der Biograph kann den Anderen mittels der Intuition (Anschauung) verstehen. Das erklärt sich durch die Idee eines inneren Kernes des Individuums: Die Individualität wird als Wesen gedacht, das nachgebildet werden soll. Dieses »platonisierende« Porträt, in dem der Biograph selbst nicht vorkommt, als ob er einfach ein Spiegel wäre, findet im Gefühl und im Verstehen seine Mittel. Es wird damit eine andere Konzeption des biographischen Verhältnisses angedeutet, in der die Biographie nicht einfach Widerspiegelung eines Menschen ist, sondern eine empathische Beziehung zwischen dem Biographen und seinem »Objekt« beinhaltet. In beiden Fällen hält Haym an dem exemplarischen Charakter der Biographie fest; diese verbindet sich mit der pragmatischen Historiographie: Das Individuum ist ein Beispiel für das Gegenwärtige. Die individuelle Vollkommenheit und die Harmonie einer Existenz lassen das Individuum für immer zu einem Vorbild werden. Das biographische Werk wird notwendigerweise zu einem »geschlossenen Kunstwerk«148, postuliert Dilthey : Die Biographie schließt sich um die vollständige Individualität, die in ihrem Wesen anschaulich wird. Im Licht dieser Konzeption ist auch der Charakter der Biographie verschieden. Laut Haym handelt es sich um einen Prozess der Identifizierung mit dem beschriebenen Individuum: In diesem Sinne ist die Biographie ein Abbild, aber der Prozess der Vergegenwärtigung ihres Objektes ist nicht möglich. Die Individualität ist in sich abgeschlossen und unveränderlich. Durch ihre Vollständigkeit wird sie zu einem Anschauungsobjekt, aber nicht zum Objekt einer möglichen Vergegenwärtigung. Dagegen muss man Dilthey zufolge die Biographie als einen ebensolchen Vergegenwärtigungsprozess denken. Er wendet sich gegen die Idee der Biographie als nicht gegenwärtiges Werk. Dementsprechend bestimmt er auch den historischen Wert der Lebensgeschichte ganz anders. Sein Unterfangen kann insofern als mutig gelten – er versucht, sich in einem andauernden Prozess die Vergangenheit mit der Gegenwart wieder anzueignen. Die doppelte Bindung Fremdheit-Nähe macht die Biographie zu einem Ort der Vergegenwärtigung durch die Arbeit des Geschichtsschreibers. Entscheidend an dieser neuen Konzeption ist der Begriff von Rückwirkung, was in einem starken Kontrast zu Hayms Lebensbildmodell steht. Dieser Begriff zeigt das schöpferische Vermögen des Einzelnen, der die Kultur direkt beeinflusst und sich damit selbst historische Bedeutung verleiht. Dadurch stellt sich die Biographie nicht als abgeschlossenes Werk über eine vollständige und exemplarische Individualität dar : Vielmehr zeigt sie die Wirkungen des Individuums in der Gegenwart. Das persönliche Leben wird zum Motor der ganzen 148 Vgl. LS, S. I (GS XIII, S. XXXIII).

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Kulturwelt: Das Individuum verändert durch seine eigene schöpferische Tätigkeit die allgemeinen Umstände. Die Biographie wird zu einer privilegierten Perspektive auf die Geschichte, weil sie genau den Punkt anschaut, von dem aus die historische Materie durch das Leben bearbeitet wird und damit genau den Punkt erfasst, an dem sich eine Wandlung vollzieht. Eigentlich analysiert die Biographie, wie sich die Geistesgeschichte entwickelt und welchen Regeln sie folgt. Die Kritik an der Charakteristik als einer exklusiven künstlerischen und anschaulichen Form und die Notwendigkeit einer umfassenden Betrachtung der Geistesgeschichte, die fähig ist, das Allgemeine und das Individuelle in Zusammenhang zu stellen, spiegelt die allgemeine Tendenz dieser Epoche wider, die Essayistik in Richtung einer umfassenden historiographischen Konstruktion zu wandeln. Das positivistische Projekt Diltheys entsteht innerhalb der Professionalisierungs- und Institutionalisierungstendenz der literarischen Geschichte und der Historiographie, die mit der Rekonstruktion der nationalen Tradition verbunden ist. Die Bestrebung, die Hauptprotagonisten des geistigen Lebens in Deutschland zu sammeln und dadurch die progressive Entwicklung des deutschen Geistes darzustellen, findet in der Debatte über die Formen des literarischen Schreibens einen entscheidenden Ausdruck149. Die Versöhnung von Charakteristik und Biographie ist ein Versuch, die ideelle Seite eines Werkes zusammen mit seinem Wert und seiner Bedeutung in einer umfassenden geistigen Bewegung zu sehen. Diese Versöhnung, die in den Literaturgeschichte durch ausführliche monographische Studien zum Ausdruck kommt, führt allmählich zur empirischen und speziellen Forschung. Dilthey sieht in Leben Schleiermachers das Werk, das endlich mit der romantischen Tendenz der Biographie abschließt und eine positivistische, objektive und fundierte Historiographie realisiert, durch die das Leben in seiner ursprünglich historischen und relationalen Struktur Ausdruck findet. Das Werk Leben Schleiermachers zeigt in erster Linie, wie Dilthey sein komplexes und radikales Projekt einer Historisierung der Biographie verwirklicht und eine konkrete Alternative zu Hayms Modell anbietet, und damit die Probleme der früheren Geschichtsschreiber überwindet.

149 Vgl. H. Kaulen, Die literarwissenschaftliche Monographie, in P.-J. Brenner (Hg.), Geist, Geld und Wissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, S. 141ff.

Kapitel 2: »Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers

1.

Generation und individuelles Leben

Der Leser, der von der biographischen Erzählung erwartet, dass sie einfach die Ereignisse eines Lebens darstellt, stößt bei Leben Schleiermachers auf eine Überraschung: Bevor Dilthey sich Schleiermacher zuwendet, rekonstruiert er ausführlich die Geschichte seiner Vorfahren. Das liegt nicht an reiner Gelehrsamkeit oder an dem Willen zur erzählerischen Vollständigkeit. Er folgt hier vielmehr einem historiographischen Grundsatz: »Einem unbestreitbaren, tatsächlichen Verhältnis gemäß, das freilich bis jetzt nicht erklärt, ja nicht einmal in seinen wahren Grenzen als empirisches Gesetz festgestellt werden kann, steigert sich in einer großen Anzahl von Fällen ein bestimmter Familiengeist mehrere Generationen hindurch, bis er sich dann in einem einzelnen Individuum zu seiner klassischen Gestalt zusammenfasst«. Auf dieser Grundlage »beruht die Berechtigung des Biographen, über das Leben seines Helden hinaus in das seiner Voreltern zu blicken«150. Die Biographie Schleiermachers beginnt also lange vor der Geburt des Protagonisten. Den ersten Jahren Schleiermachers (1768–1796) widmet sich das erste Buch des Werkes, Jugendjahre und erste Bildung: Hier werden vor allem die Schulzeit Schleiermachers, seine Zeit an der Universität und seine erste Anstellung als Prediger bis zu seiner Umsiedlung nach Berlin erzählt. In Berlin sucht er den Kontakt mit seiner eigenen Generation151. Diese Hinwendung provoziert eine einschneidende Wandlung in seiner Existenz, die im zweiten Buch das zentrale Thema ist. Dieses trägt den Titel Fülle des Lebens und beschäftigt sich mit der Berliner Zeit (1796–1802). Es endet mit dem Kapitel Trennungen, das heißt mit der realen und gedanklichen Loslösung Schleiermachers vom Kreis seiner Berliner Gefährten. Diese Distanzierung fängt an, als Schleiermacher, »sicherer und 150 LS, S. 3 (GS XIII, S. 3). Vgl. Der religiöse Familiengeist, S. 3ff. (GS XIII, S. 3ff.). 151 Ebd., S. 155ff. (GS XIII, S. 183ff.).

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männlicher geworden in den Kämpfen dieser Zeit, begann […], sich des ganzen Gegensatzes bewusst zu werden, der ihn von diesen Charakteren schied, von allen ohne Ausnahme, die den Kreis der Genossen ausmachten«152. Um Schleiermachers Leben in Abschnitte zu unterteilen, verwendet Dilthey den Begriff »Generation«. Dieser Begriff wird zum Strukturgesetz der historischen Konstruktion, der Dilthey dazu dient, das Problem des Verhältnisses zwischen den allgemeinen Bedingungen der Kultur und dem Individuum zu erläutern. Das damit angewandte Kriterium ist kein rein formales und die Generation ist kein unbestimmter Rahmen, in den das Leben eines Individuums gestellt werden kann. Der Begriff soll vielmehr als bindendes und als effektives Prinzip der historischen Forschung gelten. Dass »Generation« eine entscheidende Rolle in der diltheyschen Reflexion spielt, zeigen auch weitere Schriften, in denen Dilthey diesen Begriff aus einer theoretischen Perspektive erläutert, so zum Beispiel in dem Aufsatz über Novalis (1865)153 und in Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875). Hier analysiert Dilthey den Generationsbegriff, den er bereits in Leben Schleiermachers eingeführt hatte, und spricht von der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Begründung der Geisteswissenschaften durch diesen Begriff. Zu diesem Zweck, betont er, habe er die Biographie Leben Schleiermachers auf den Generationsbegriff aufgebaut154. Schon in dem biographischen Aufsatz über Novalis geht es Dilthey darum, durch das Leben des Dichters »einige der wichtigeren Motive der Weltansicht aufzuklären, welche in der auf Goethe, Kant und Fichte folgenden Generation hervortritt«155. Auf diese Weise könne die Biographie ein bedeutendes historisches Problem behandeln, nämlich den Begriff der Romantik. Durch das Leben des Novalis’ diskutiert Dilthey die geschichtlichen Besonderheiten, die der Epoche der Romantik innewohnen. Er fragt sich, »wie die Betrachtung eines einzelnen Mannes eine Einsicht in die allgemeinen Motive der intellektuellen Kultur seiner Generation eröffnen könne«156. Dadurch betont er die Notwendigkeit, jene Bedingungen zu bestimmen, die unmittelbaren Einfluss auf die (jeweils beschriebene) Generation ausüben. Er macht zwei zentrale Bedingungen aus, die erste ist laut Dilthey, »der Besitzstand der intellektuellen Kultur, wie er sich zu der Zeit vorfindet, in welcher diese Generation sich ernsthaft zu bilden 152 Ebd., S. 531f. (GS XIII, S. 537). 153 Der Aufsatz, publiziert in »Preußische Jahrbücher«, 15 (1865), S. 596ff., wurde dann in Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Teubner, Leipzig 1906 erneut publiziert. Heute in GS XXVI. 154 GS V, S. 36ff. Zur weiteren Nutzung des Generationsbegriffes vgl. Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie, GS IV, S. 561ff. 155 GS XXVI, S. 174. 156 Ebd.

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beginnt«; die zweite Bedingung ist die »des umgebenden Lebens, tatsächlicher Verhältnisse, gesellschaftlicher, politischer, unendlich vielartiger Zustände«157. Dilthey weist darauf hin, dass diese Reduktion der Bedingungen auf zwei gestatte, die möglichen Einflüsse zu begrenzen. Dazu »[lassen wir] den allergrößten Teil derselben ganz außer Rechnung und behandeln eine begrenzte Reihe, die wir aus ihnen aussondern, ohne weiteres als die Totalität derselben«. Auf Grundlage dieser Begrenzung der Beziehung zwischen Individuum und den Zeitbedingungen bzw. der Kultur einer Generation stellt sich die Frage: »Welche Methode folgt nun hieraus für das Studium der intellektuellen Kultur einer Epoche?«158 Mit dem Generationsbegriff wählt Dilthey ein Verfahren, das durch die Individuen die Kultur einer Epoche rekonstruiert. Dieser Begriff sei »ein höchst fruchtbarer Begriff«, vor allem in den Fällen, »wo eine solche Generation in so deutlicher Abgrenzung auftritt«159. In dem Aufsatz aus dem Jahre 1875 legt Dilthey auch eine theoretische Erläuterung des Generationsbegriffes vor. Er schreibt, dass die Generation »die Bezeichnung für einen Zeitraum, und zwar ebenfalls eine von innen abmessende Vorstellung [ist], welche der des Menschenlebens eingeordnet ist«160. Sie umfasse ungefähr 30 Jahre. Aus dem individuellen Leben herausgenommen, sei Generation der zentrale Begriff der historischen Analyse, weil sie »eine Zusammenordnung von Erscheinungen zu einem dem erklärenden Studium zu unterwerfenden Ganzen« bilde161: Durch die zeitlichen Grenzen der Lebensentwicklung aller Einzelnen würden mithilfe dieses Begriffes Personengruppen isoliert, deren Existenz sich in derselben Zeit entwickele. Daraus ergibt sich, dass die Generation »eine Bezeichnung [ist] für ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit von Individuen; diejenigen, welche gewissermaßen nebeneinander emporwuchsen, d. h. ein gemeinsames Kindesalter hatten, ein gemeinsames Jünglingsalter, deren Zeitraum männlicher Kraft teilweise zusammenfiel, bezeichnen wir als dieselbe Generation […]. Diejenigen, welche in den Jahren der Empfänglichkeit dieselben leitenden Einwirkungen erfahren, machen zusammen eine Generation aus«162. Im Licht dieses Entwurfs bilden die Brüder Schlegel, Schleiermacher, Alexander von Humboldt, Hegel, Novalis, Hölderlin, Wackenroder, Tieck, Fries und Schelling eine Generation163. Der Generationsbegriff, der hier, wie schon im Novalis-Aufsatz, zweierlei Arten von Bedingungen identifiziert, wird für die historische Untersuchung 157 158 159 160 161 162 163

Ebd. Ebd., S. 175. Ebd. GS V, S. 36f. Ebd., S. 37. Ebd. Vgl. ebd.

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entscheidend, indem er eine Summe von Übereinstimmungen unter verschiedenen Individuen bestimmt164. Die Gesamtheit einer solchen Kongruenz stelle den Grundcharakter einer einzelnen Generation dar ; demzufolge zeigt jede Generation Ähnlichkeiten hinsichtlich der Physionomie und auch des Charakters. Der Generationsbegriff artikuliert sich für Dilthey in einer Struktur, die verschiedene Momente der historischen Forschung charakterisiert und die Grenzen und Möglichkeiten der historischen Phänomene bestimmen kann. Eine solche Struktur setze »den Möglichkeiten weiterer Fortschritte, die von der früheren Generation aus sich darbieten, bestimmte Grenzen«165. Auf diese Weise den zu analysierenden Teil der Geschichte durch das Generationskriterium zu differenzieren ist die entscheidende Voraussetzung der diltheyschen Biographie. Bei der Biographie eröffnet die Einbindung des Individuums in die Generation die Möglichkeit, verschiedene kulturelle Elemente der Vergangenheit, innerhalb derer ein einzelnes Individuum sich bewegt, aufzufinden. Diese werden von den Zeitgenossen geteilt und wirken auf die Zukunft. Der allgemeine, durch dieses Generationskriterium bestimmte Ansatz in Leben Schleiermachers ist das erste konkrete Ergebnis dieses Modells. Im ersten Buch ermöglicht der Generationsbegriff nicht nur, die Verbindung Schleiermachers mit der religiösen Tradition seiner Familie darzulegen, sondern auch jene mit dem deutschen Geistesleben am Ende des 18. Jahrhunderts. Indem er die zwei Generationen vor ihm und ebenso Schleiermachers Generation selbst analysiert, kann Dilthey die geistigen Bedingungen darstellen, in denen sich der junge Protagonist befindet. Im Laufe des ersten Buches werden die Beziehungen Schleiermachers mit der Außenwelt (Erziehung, Schule, Universität) beschrieben: Diese Bedingungen, Ergebnis der Arbeit voriger Generationen, bilden die »Objektivität«, die Welt, der das Individuum gegenübersteht. Die Schicksale der Genossen Schleiermachers und, vor allem, die Geschichte von Friedrich Schlegel und anderer Romantiker, zeigen wiederum unterschiedliche Möglichkeiten der Existenz unter ähnlichen Umständen. Nachdem Dilthey das von den vorigen Generationen hinterlassene Gedankengut und dessen Konsequenzen analysiert hat, betrachtet er im zweiten Buch die Generation Schleiermachers. Dieser zweite Teil beginnt mit einem neuen Lebensabschnitt des Protagonisten. Dilthey erläutert die von den Zeitgenossen geteilten Lebensumstände und die kulturellen Einflüsse, die auf Schleiermacher wirken (besonders im ersten Kapitel Die deutsche Literatur als Ausbildung einer neuen Weltansicht). Auf diese Weise gelingt es Dilthey, das komplexe Geflecht darzustellen, in dem die Generation Schleiermachers mit der Gesamtheit der gesellschaftlichen Umstände und historischen Einflüsse verbunden ist. 164 Vgl. ebd., S. 38. 165 Ebd., S. 37.

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Dass das Individuum aus den Ausgangsbedingungen selbsttätig etwas Neues schaffen kann, macht sein schöpferisches Potenzial aus: Mit diesem Aspekt beschäftigt sich das zweite Buch. Hier wird dargestellt, wie Schleiermacher sich vom Kreis seiner Zeitgenossen unterscheidet. Dilthey erläutert die Lage von Schleiermachers Generation – die literarischen Strömungen, die Berliner Gesellschaft, die philosophische Debatte –, dann konzentriert er sich auf den Bruch mit diesem Kreis. Schleiermacher nämlich trennt sich von seiner Generation und entwickelt seine eigene Weltsicht. Als Erneuerer der Geschichte, schafft er als einzelner Geist in der Kulturwelt ein geistiges Werk, das neu und originell ist. Im achten und neunten Kapitel des zweiten Buches (Der theoretische Kampf der neuen sittlichen Ideale gegen die geltenden sittlichen Maximen der Gesellschaft und Trennungen) folgt Dilthey den möglichen Entwicklungen vor dem so dargestellten Horizont des schöpferischen Vermögens. Genau in dieser Phase beginnt Schleiermacher, die geistige Welt, in der er sich bewegt, auf eigene und originelle Weise zu bearbeiten, was Dilthey in den folgenden Büchern darstellt. Neben der strukturellen Verwendung des Generationsbegriffes, die den Zweck verfolgt, die einzelnen Phasen der Biographie zu bestimmen, findet sich im weiteren Verlauf des Werkes eine zweite Verwendung des Begriffes. Zum Beispiel entwickelt er, neben der Darstellung des deutschen Geisteslebens und dessen Unterschieden hinsichtlich der Generation von Schleiermacher und den vorigen Generationen, auch die Geschichte der Städte und Institutionen mit Blick auf die Generationsfolge166. Das ist in Berlin der Fall: Die Beschreibung folgt der Unterteilung in eine »alte« und eine »neue« Generation. Dasselbe gilt für die Geschichte der Universität Halle und ihrer Generationen von Professoren167. Entscheidend in dem Werk ist jedoch die Berliner Zeit von Schleiermacher. Dilthey rekonstruiert verschiedene Aspekte des kulturellen Lebens der preußischen Hauptstadt, was den Kern des zweiten Buches ausmacht. Das Kapitel Berlin erzählt die Geschichte der Hauptstadt und erläutert die dortigen Verhältnisse; Eintritt in die Gesellschaft zeigt die Verfassung und das Leben der Berliner Gesellschaft am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts; das Kapitel Die dichterischen Genossen stellt die Beziehungen unter jenen Protagonisten zu dieser Zeit in dieser Gesellschaft dar. Dilthey zielt darauf, die Verbindungen zwischen der Stadt Berlin und dem intellektuellen Leben der Generation Schleiermachers zu ergründen, wobei er der deutschen Dichtung der Epoche besondere Aufmerksamkeit schenkt: »Nun lernte die junge Generation den freien Wert der Person empfinden und mit Lebensfreudigkeit der Fülle 166 Um sich Kindheit und Jugend Schleiermachers zu nähern, beschreibt Dilthey dessen Beziehung mit den Kommilitonen: Damit zeigt er auch die unterschiedlichen Wirkungen derselben Erziehung auf die Individuen einer Generation. Im Fall von Schleiermacher gilt diese Rekonstruktion als Ergänzung der Geschichte von drei Generationen von Theologen. 167 Vgl. LS, S. 28ff. (vgl. Viertes Buch, Halle , für die 2. Auflage vorbereitet).

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menschlicher Bezüge sich hingeben, dem Moment vertrauend, in heller Freude an der eignen Erscheinung, mit vollem Sinn für die Individualität Anderer […]. Die Dichtung hatte wieder einmal ihr großes Werk hervorbracht, den unendlichen Inhalt des Daseins, wie er im ruhelosen Drang des Gemüts, der Leidenschaften, des Willens, in der gefassten heiteren Betrachtung hinaustritt, zu erschließen«168. Die Beschreibung der Berliner Gesellschaft bietet die Gelegenheit, die strukturelle Funktion des Generationsbegriffes zu verdeutlichen. Dieser Begriff ermöglicht es, die Zusammenhänge zwischen Kultur und Gesellschaft zu beleuchten: »Es besteht ein wichtiger, bisher noch nicht wissenschaftlich untersuchter Zusammenhang zwischen großen Richtungen der Gesellschaft und solchen des geistigen Schaffens«169. Die Strömungen der deutschen Kultur nach der Aufklärung werden nach diesem Genrationskriterium unterteilt170. Dasselbe passiert in den zentralen Kapiteln 6 und 7 des zweiten Buches, in denen die Beziehungen zwischen Schleiermacher und den zeitgenössischen Dichtern und zu den Philosophen der vorigen und seiner eigenen Generation erläutert werden171. Nachdem er das Verhältnis Schleiermachers »zu der älteren Generation der Philosophen« dargestellt hat172, beschäftigt sich Dilthey mit dessen Beziehungen zu den jungen Philosophen der Epoche: Um die Lebenssicht Schleiermachers im Jahre 1800 zu verstehen, sei »es notwendig, das ganze persönliche und wissenschaftliche Verhältnis dieser Männer zu ihm« zu erfassen173. Die Schilderungen des geistigen Klimas der Epoche, des Erbes der vorigen Generationen sowie des Verhältnisses Schleiermachers zur zeitgenössischen Philosophie streben danach, die Werke des jungen Schleiermachers, das sind Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) und Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), zu erhellen. Durch die an diesem Teil des Werkes durchgeführte Untersuchung kommt Dilthey zu einem weiteren zentralen Punkt in Schleiermachers Philosophie: zu der Beziehung zwischen Philosophie und Identität, die in den Paragraphen über Spinoza, Leibniz und Plato thematisiert wird174. 168 Ebd., S. 190 (GS XIII, S. 215). 169 Ebd., S. 193f. (GS XIII, II, S. 217f.). 170 Vgl. die folgenden Kapitel: Die moralisch-religiöse Weltansicht der deutschen Aufklärung und Schleiermachers Stellung innerhalb derselben in dieser Epoche (LS, S. 78ff.; GS XIII, S. 83ff.); Die deutsche Literatur als Ausbildung einer neuen Lebensansicht (LS, S. 155ff.; GS XIII, S. 183ff.). 171 Vgl. die folgenden Kapitel: Die dichterischen Genossen (S. 281ff.); Die Welt- und Lebensansicht der Reden und Monologen, erklärt und erläutert aus ihrem Verhältnis zu den philosophischen Systemen (S. 313ff.). 172 LS, S. 348 (GS XIII, S. 368). 173 Ebd., S. 329 (GS XIII, S. 344). 174 Ebd., S. 318ff. (GS XIII, S. 334ff.).

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Obwohl diese historisch-generationelle Rekonstruktion »aus der allgemeinen Darlegung und Erläuterung [von Schleiermachers] Welt- und Lebensansicht von 1800 in das Einzelne der schöpferischen Arbeiten, welche dieser Lebensepoche angehören« führt175, benennt Dilthey die Grenze eines solchen Kriteriums: Kein geschichtlicher Blick durchdringe »jene[s] geheimnisvolle Weben des Innenlebens«176. Der lange Weg der historischen Rekonstruktion durch den Generationsbegriff ist nicht endlos, wie Dilthey selbst erkennt. Der Biograph vermutet die Entstehung der schleiermacherschen Mystik in dem Moment, als der Theologe »in den Kreis der Romantik eintrat«, aber Dilthey kann weder »den Umfang seiner Lektüre vollständig bestimmen«, noch »die Abfolge [erkennen], in der die Hauptvertreter dieser Bewegung ihm nahegetreten sind und Wirkung auf ihn gewannen«177. Der Biograph kann nur »in zeitlicher Folge die Männer nennen, die sicher auf ihn eingewirkt haben, Schleiermachers inneres Verhältnis zu ihnen zu erfassen suchen«178. Auch im dritten Buch (Einsamkeit in Stolp) – über das Jahr 1803, während dem Schleiermacher nach Stolp umzieht – und im vierten Buch (Halle) – über die Jahre 1803–1807 –, finden wir trotz deren Kürze und Unvollständigkeit denselben Generationsbegriff in Bezug auf die Geschichte der protestantischen Kirche179 und auf die Beziehungen Schleiermachers mit den Professoren in Halle180. So ist das ganze fünfte Kapitel des dritten Buchs (Die damalige Philosophie) eine Untersuchung der Situation der Philosophie mit dem Zweck, die Konfliktlage der spekulativen Tendenzen der schleiermacherschen Generation darzustellen181. Die auf diese Weise strukturierte Lebensgeschichte nimmt die Form einer biographisch-generationellen Darstellung an: Mehr als eine reine Biographie wird sie zur Darstellung von zahlreichen, durch denselben Begriff bestimmten Geschichten. Das Ergebnis dieser umfangreichen Rekonstruktion ist die begriffliche Verschlingung von Individualität und Generation. Der Generationsbegriff ermöglicht, den Kontext und die Bedingungen, unter denen sich Individualität bildet, zu bestimmen. Die generationelle Übereinstimmung ermöglicht den Zugang zum Individuum, das heißt, einem heterogenen Ele175 176 177 178

Ebd., S. 263 (GS XIII, S. 382). Ebd., S. 364 (GS XIII, S. 382). GS XIII, S. 337. Ebd., S. 337. Vgl. LS, S. 363 (GS XIII, S. 382). Reden und Monologen sind die Themen der Kapitel VIII (Die Entstehung der Reden über die Religion), IX (Inhalt und Bedeutung der Reden über die Religion), X (Erste geschichtliche Wirkung der Reden), XI (Die Monologen als die vollendete anschauliche Darstellung seines Lebensideals), XII (Das Schicksal der neuen sittlichen Ideale im Leben) im zweiten Buch des Werkes. 179 Vgl. Buch III, Des Predigers Ideal von der Zukunft der protestantischen Kirche. 180 Vgl. Buch IV, Halle. 181 Vgl. Buch III, Die damalige Philosophie.

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ment, das in seiner Einmaligkeit unerklärbar bleiben wird. Aufgrund des Begriffes der Generation beschränkt der Geschichtsschreiber sein Forschungsgebiet und umreißt die Umstände, in denen der Einzelne sich bewegt. Da Dilthey auf jedes anschauliche und mitfühlende Verständnis der Individualität verzichten will, braucht er neue begriffliche Mittel: Der Generationsbegriff ist der Schlüssel, um die sonst nicht zugängliche Individualität verständlich zu machen. Die in der Biographie erkannte Beziehung zwischen Individuum und Generation schafft eine Reihe von zu beleuchtenden gegenseitigen Einflüssen zwischen der individuellen Kreativität und der generationellen Identität. Das Generationskriterium wird zum Schlüssel der historischen Forschung, weil es ermöglicht, ein abgegrenztes Gebiet innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse und hinsichtlich des umfangreichen historischen Materials zu bestimmen. Die Nützlichkeit des Generationsbegriffes für den Geschichtsschreiber liegt vor allem in dessen Fähigkeit, in der Individualität die auf ein allgemeines Gesetz zurückzuführenden Merkmale zu erfassen. Als historiographisches Kriterium gibt die Generation das Individuelle preis. Aber genau diese Nivellierung der Einzelheiten, dieses Preisgeben des Individuellen dem Gemeinsamen gegenüber, macht die Individualität erforschbar, da sie kein unerklärbares unicum, kein in sich geschlossenes Objekt bleibt. Durch ein allgemeines Gesetz wird die Individualität verstehbar. Ein Beispiel dieses starken Einflusses der Generation auf die Individualität ist der Mangel an einer »existenziellen« Unterteilung des schleiermacherschen Lebens: Die Etappen seines Lebens sind allein durch die Beziehungen zu anderen Generationen und mit den Zeitgenossen bestimmt. Kein innerer Blick kommt dazu, der das Leben Schleiermachers in seinen verschiedenen Phasen beschreibt182. Zugleich könnte das Individuelle in diesem historischen Modell verloren gehen, falls es ganz von diesem Generationsbegriff determiniert wird. Dieser generationelle Determinismus, der eine Generation als Ansammlung gleichartiger Individuen betrachtet, ist hinsichtlich des individuellen Schöpferischen unergiebig. Indem Dilthey im Vorwort das Schöpferische der Individualität als entscheidend für die Biographie betrachtete, steht er vor einer großen Frage. In der Tat wollte Dilthey das Individuelle keinesfalls dem Allgemeinen unterordnen. Vielmehr beschreibt er in dem Aufsatz aus dem Jahre 1875 eine Korrespondenz zwischen den historischen Zeitumständen und der inneren Zeit. Denn wenn »das Gerüst des Verlaufs geistiger Bewegungen und wissenschaftlicher Leistungen nur von außen angesehen in dem System von Stunden, Monaten, 182 Sogar der Tod des Vaters Schleiermachers, mit dem das erste Buch endet, spielt keine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Biographie. Was in der Tat Schleiermacher zur »Fülle des Lebens« führt und einer neuen Epoche öffnet, ist das Treffen mit der neuen Berliner Generation. Vgl. LS, S. 72ff. (GS XIII, S. 77ff.).

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Jahren und Jahrzehnten [besteht], in dem wir sie ordnen«, hat solch ein äußeres Gerüst ein einheitliches Maß: »[I]n dem Verlauf des Menschenlebens [ist] die natürliche Einheit für anschauliches Abmessen der Geschichte geistiger Bewegungen [gegeben]«183. In den Tiefen der individuellen Geschichte findet man deswegen eine wechselseitige Beziehung zwischen Generation und Individuum. Einerseits ist der einzelne Lebensverlauf die Maßeinheit der Geschichte, andererseits ist die Geschichte der Rahmen, durch den das Individuum verständlich wird. In diesem Sinn hat das historische Gesetz, das die Forschung leitet, seine Wurzel in dem Einzelleben: Das Gesetz ist kein Mechanismus, der sich einfach vollzieht, vielmehr entsteht es aus dem Einzelleben selbst und aus dessen »Rhythmus«184. Innerhalb einer so strukturierten Biographie befindet sich das Individuum in einer ambivalenten Position: Einerseits ist es das Fundament der Geschichte, andererseits ist es Element einer Gruppe, die durch die objektiven Bedingungen beeinflusst ist. Von dieser Ambivalenz hängt die divergierende Form der historischen Rekonstruktion ab: Im ersten Fall ist die Geschichte auf einer persönlichen Zeitlichkeit gegründet, in dem zweiten bestimmt die Zeit der Geschichte die Zeitlichkeit der Individualität, die ihre individuelle Dimension verliert. Die biographische Geschichtsschreibung verfolgt dabei unterschiedliche und miteinander verwobene Bestrebungen, die auf Objektivität und Wissenschaftlichkeit zielen. Dieses Ziel erreicht sie durch den Generationsbegriff und die widersprüchliche Vorstellung, dass Individuen einer Generation ähnliche Charaktere und Ideen zeigen. Diese Vorstellung übersieht das schöpferische Potenzial der Individualität. Sie will aber zugleich zeigen, wie der einzelne Mensch durch seinen Geist auf die Geschichte wirkt: Die Spannung zwischen den beiden Tendenzen macht die Schwierigkeit in der Struktur von Leben Schleiermachers aus. Diese Schwierigkeit zeigt sich sehr deutlich in dem zweiten Buch der Biographie Schleiermachers, in dem Dilthey versucht, die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Generation zu beschreiben und zugleich dem einzigartigen Charakter des Individuums gerecht zu werden. Dilthey fokussiert, wie sich Schleiermachers Individualität aus den Ketten der generationellen Bestimmung, die die Originalität und Kreativität des Einzelnen gefährdet, befreit und wie dieser sich als Individuum entwickelt und den Zeitgenossen gegenüber fremd fühlt. Damit verfolgt Dilthey das Ziel, das Individuum als Schöpfer des Neuen in der Geschichte aufzuwerten. 183 GS V, S. 36. 184 Vgl. zu diesem Ausdruck F. Rodi, »Der Rhythmus des Lebens selbst«. Hegel und Hölderlin in der Sicht des späten Diltheys, 1987, heute in ders., Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, S. 56ff.

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2.

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Die Möglichkeiten der Lebensbeschreibung

Dilthey sieht die Gefahr, dass der Generationsbegriff zu einem mechanistischen Blick auf die Verfasstheit des Individuums in der Biographie führt. Um dies zu vermeiden, versucht er, die beiden zentralen Aspekte der historischen Arbeit miteinander in Einklang zu bringen: Zeigt er einerseits das Bild einer großen Existenz, schildert er andererseits den »Zusammenhang bleibender Ideen, streng begründet, eingreifend in die wissenschaftliche Arbeit und das handelnde Leben der Gegenwart«. Er will nicht »erzählen blos, sondern überzeugen«185, der Erzählung einen stringenten Charakter geben und dabei die Geistesgeschichte interpretieren. Durch den Generationsbegriff werden die zentralen Aspekte der Erzählung identifiziert und die Dimension des Erzählens findet für die gründliche Rekonstruktion der Existenz Schleiermachers in dessen Briefen eine passende Grundlage. Mit Blick auf Tatsachen wie den biographisch wichtigen Bruch mit dem Vater, wird das Leben Schleiermachers durch die Briefwechsel mit der Schwester und dem Onkel mit den Worten des Protagonisten erzählt. Die Analyse der Dokumente (Briefe, Tagebücher) ist die erste Stufe der historischen Arbeit, die zum Ziel hat, »den ursächlichen Zusammenhang, die Entstehung der Ideen aus einem älteren Gedankenkreis oder aus dem Erlebnis und der Anschauung des Wirklichen« zu verstehen186. Hinsichtlich dieses Ziels sind Erzählung und Erklärung dasselbe, weil sie auf der Erarbeitung des Zusammenhanges von Briefen und Leben fußen187. Das zweite in dem Zitat genannte Moment, das Überzeugen, basiert auf dem Erzählen: Hier geht es Dilthey darum, die Verbindungen zwischen den kulturellen Bedingungen und dem Denken Schleiermachers, zwischen der deutschen Tradition und der Romantik darzustellen. Es handelt sich um die Darstellung eines Zusammenhanges, die auf eine allgemeine Interpretation der Kulturgeschichte zielt, wobei Lessing den Ausgangspunkt bildet. Die erste Stufe der Darstellung, die das Individuum betrifft, verbindet sich mit der zweiten, die die kulturellen Phänomene und ihre Entwicklungen beleuchten. Hier tritt deutlich das »Nachphilosophieren« zutage, das Haym als entscheidenden Bestandteil der diltheyschen Arbeit identifizierte. Hinsichtlich verschiedener Aspekte entfernt sich Dilthey von der rein historischen Arbeit. Letztere wird auf die erzählende Dimension reduziert. Diese Dimension rekonstruiert die Geschichte der deutschen Kultur. Durch sie will Dilthey nicht die Rolle der Individualität in der 185 LS, S. V (GS XIII, S. XXXV). 186 Ebd., S. 29ff. 187 Neben der Geschichte des »religiösen Familiengeistes« betrifft ein wichtiger erzählerischer Ansatz die Erziehung Schleiermachers: vgl. ebd., S. 12ff. (GS XIII, S., 13ff.).

Die Möglichkeiten der Lebensbeschreibung

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Geschichte verstehen, sondern er hat ein primär theoretisches Interesse: Den Zusammenhang zwischen den seinerzeit jüngsten Entwicklungen der deutschen Kultur und deren aufklärerischem Ursprung. Über dem Gewebe von persönlichen Beziehungen und individueller Geschichte spannt sich der größere Rahmen der sogenannten deutschen Bewegung188. Dieser Rahmen umfasst verschiedene Generationen, deren Hauptmerkmale bereits in dem Vorwort von Leben Schleiermachers (Überarbeitung der schon zitierten Antrittsvorlesung des Jahres 1867, Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800) zusammengefasst sind. Das biographische Werk will die deutsche Geistesgeschichte ab der Aufklärung beleuchten und zugleich die Position Schleiermachers in ihr. Neben der Aufklärung, die »dem Predigtamt in dem protestantischen Preußen die Bewegungsfreiheit [gab], ohne die Schleiermachers rückhaltlos wahrhaftiger Bildungsgang unmöglich gewesen wäre« und die »demselben die Ergebnisse der Bibelkritik [eröffnete], die seine Seele vom Druck der alten Dogmatik befreiten, spielen Kant und die deutsche Dichtung eine zentrale Rolle«189. Besonders wichtig ist die Dichtung in Schleiermachers Bildungsgeschichte: »Leiser, stiller, langsamer vollzog sich die Einwirkung unserer großen Dichtung und Literatur auf den Geist des jungen Predigers«190 : So bekam er ein freieres Lebensgefühl, das seine Ideale und seine Weltanschauung veränderte191. Aus seiner Beschäftigung mit der Dichtung entwickelte sich die wissenschaftliche Reflexion, denn in der deutschen Kultur der Zeit seien die Dichter »nicht nur wissenschaftliche Denker neben ihrer poetischen Tätigkeit«, sondern »ihre dichterische Entwicklung ist geradezu durch den Fortgang ihrer Forschung bedingt«192. In dem konkreten biographischen Schreiben zeigen sich Schwierigkeiten, die von der gegenseitigen Durchdringung der zwei Dimensionen – Erzählen und Überzeugen – herrühren. Die Trennung dieser beiden Aspekte ist besonders deutlich im ersten Buch, wo man nach den sieben erzählerischen Kapiteln sechs erklärende Kapitel findet: Die Letztgenannten sind notwendig, um »ein Bild seiner inneren Gedankenwelt, in ihrem Verhältnis zu dem wissenschaftlichen Geist der Epoche, in der er sich entwickelte, [zu entwerfen]«, was in der vorigen, sonst breiten Erzählung nicht deutlich umrissen war193. Die zwei Dimensionen werden von Dilthey im dem Kapitel Die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung dieser Jahre (geschrieben für die zweite Auflage, aber nicht datiert) zusam188 189 190 191 192 193

Vgl. ebd., S. VIII (GS XIII, S. XXXVI), siehe auch Kapitel 1. GS XIII, S. XXXVII. GS XIII, S. XXXVIII. LS, S. XXXVIII. Ebd., S. IX (GS XIII, S. XXXIX). Ebd., S. 78 (GS XIII, S. 82).

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mengefügt. Noch grösser ist die Distanz zwischen dem erzählerischen und dem erklärenden Ansatz in den Kapiteln über Kant. Hier wird die Biographie unterbrochen und es entfaltet sich eine intensive Diskussion über die kantische Philosophie (Kapitel IX, Kants kritischer Standpunkt als Grundlage der Entwicklung Schleiermachers und Kapitel X, Das System Kants als Gegenstand der Polemik Schleiermachers). Wie schon von Haym festgestellt, harmonisiert dieser theoretische Teil kaum mit dem rein biographischen194. Eine ähnliche Trennung zeigt sich bei den Kapiteln über die Schriften Schleiermachers (zum Beispiel Kapitel XI, Schriften und Weltansicht Schleiermachers in dieser Epoche). Dieser Bruch existiert ebenfalls, wenn auch weniger evident, im zweiten Buch. Die Erzählung über die Berliner Zeit beschäftigt sich mit sehr verschiedenen Themen: von der kulturellen Situation in Deutschland über die Geschichte der Berliner Charit¦ und die Lebensgeschichte Friedrich Schlegels bis zu Schleiermachers Trennung vom Berliner Kreis. Ebenso erläutert dieser Teil die Entstehung der Werke Schleiermachers und analysiert sie. Denselben Ansatz findet man im dritten Buch, wo die Geschichte der protestantischen Kirche und die Entstehung der schleiermacherschen Übersetzung Platons erzählt werden. Die Verbindung der zwei Dimensionen schafft eine ununterbrochene Entwicklungsgeschichte: Dilthey eröffnet dem Leser nicht nur Zugang zur allgemeinen Geschichte, zum größeren Kontext. Er prüft darüber hinaus zahlreiche Facetten des kulturellen Lebens auf ihre Verbindung mit verschiedenen Themen, die in ihrer jeweiligen Entwicklung analysiert werden. Man findet die Geschichte der Lebensorte, zum Beispiel die Entwicklung der Stadt Berlin; bei der Schilderung der Freundschaften des Protagonisten werden auch die Biographien seiner Freunde beleuchtet (exemplarisch der Fall von Friedrich Schlegel195). Allmählich durchdringen sich diese zwei Dimensionen auf eine wirkungsvolle Weise, Erzählen und Erklären harmonisieren zunehmend. In diesem Sinn sind in die Entwicklungsgeschichte Schleiermachers immer andere Entwicklungsgeschichten integriert. Dadurch entsteht eine individuelle Geschichte, die ihrerseits aus individuellen Geschichten besteht: Die verschiedenen Hauptpunkte der Erzählung werden durch das wissenschaftliche Interesse des Erzählers verbunden. Das heißt, die ganze Geschichte fußt auf dem gegenwärtigen Interesse des Geschichtsschreibers. Die historische Rekonstruktion strebt, wie schon gezeigt, nach einem Zusammenhang bleibender Ideen, um eine konsequente erklärende Erzählung der deutschen Geistesentwicklung zu bieten. Der Übergang von der erzählerischen zur erklärenden Dimension, der vom individuellen Leben zum Leben des Geistes und der Kultur führt, wird von Dilthey mittels einer angenommenen Ähnlichkeit der historischen Tatsachen 194 Vgl. Haym, Die Dilthey’sche Biographie Schleiermacher’s, S. 569. 195 LS, S. 205ff. (GS XIII, S. 229ff.).

Das Verschwinden des Individuums in der Biographie

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realisiert. Die Voraussetzung dieses Überganges ist, dass jede Geschichte »individuelle Geschichte« ist und dass jede Erzählung auf die Individualität reduzierbar ist. Die Tendenz, dass durch den Generationsbegriff alles als determiniert beschrieben wird, wird zu einem allgemeinen historischen Gesetz. Dabei geht es nicht nur darum, die Existenz Schleiermachers mit der allgemeinen Weltgeschichte zu verbinden, sondern auch um die Darstellung einer Gesamtheit von einzelnen Entwicklungsgeschichten. Zwischen diesen beiden Dimensionen gibt es in der Tat eine Kluft, die schon von Haym beschrieben wurde. Dilthey selbst hebt die Schwierigkeiten hervor, »in einer Zusammenordnung und Erläuterung der Grundanschauungen diesen Standpunkt von 1800 [zu] fixieren«, was ihn zu der Feststellung führt, dass dem Verfasser einer Entwicklungsgeschichte stets bewusst sein muss, das »Hypothetische nicht völlig vermeiden zu können«196. In der Darstellung der Ideenentstehung kann der auf Dokumenten begründete Kausalzusammenhang ein geistiges Phänomen nicht völlig erklären. Einerseits herrscht die Erzählung über das Historische, andererseits geht die Erklärung über die Geschichte hinaus, um den schöpferischen Zusammenhang mit der gegenwärtigen philosophischen Forschung zu beleuchten, sodass die Biographie kein geschlossenes Werk ist. Durch dieses an die Gegenwart gebundene Nachphilosophieren wird aus der Lebensgeschichte ein aktuelles Werk. Dilthey schwankt zwischen der objektiven Begründung der historischen Arbeit – der Dimension des Erzählens – und einer theoretisierenden Auslegung, in der die Biographie zur gegenwärtigen Geschichte wird.

3.

Das Verschwinden des Individuums in der Biographie

Einige Passagen von Leben Schleiermachers zeigen deutlich, dass für Dilthey das individuelle Leben mehr Bedeutung hat als die beschriebenen Strukturen. Zum Beispiel verwendet er in der Betrachtung der Eltern von Schleiermacher eine Konzeption der Generation, die sich von dem in früheren Schriften verwendeten Generationsbegriff unterscheidet. Das historische Prinzip, das die Erzählung der Vergangenheit der schleiermacherschen Familie rechtfertigt, fußt auf der Prämisse, dass ein bestimmter Familiengeist »in einem einzelnen Individuum zu seiner klassischen Gestalt« kommt197. Es handelt sich hier nicht nur um eine einfache Generationsstruktur, die die kulturellen Umstände »misst«, sondern um die Darstellung einer geistigen Tendenz, die dem Einzelnen einen repräsentativen Wert verleiht, der über sein Einzelleben hinausgeht. In der Geschichte der schleiermacherschen Familie zeige sich aber vor dem Hintergrund dieser 196 Ebd., S. 303 (GS XIII, S. 320). 197 Ebd., S. 3 (GS XIII, S. 3).

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»Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers

Idee der Repräsentativität »zugleich der ganz veränderte theologische Geist des Geschlechts, das im zweitem Drittel des achtzehnten Jahrhunderts hervortrat, […] die letzte vor der Entwicklungsgeschichte Schleiermachers liegende Generation«198. Auch »die unseligen religiösen Zustände zweier Generationen spiegeln sich in diesen inneren Schicksalen seiner Vorfahren«199. Im Licht solcher Tatsachen hat man den »schwerverständlichen Charakter von Schleiermachers Vater«200 zu verstehen, und dass »der freie Sinn des Großvaters, in dem Vater gehemmt, erst in dem Enkel sich wieder Bahn brach und damit der religiöse Geist dieser Familie, der in schweren Gewissenskämpfen von Großvater und Vater sich entwickelt hatte, in ihm [gemeint ist Schleiermacher, FDA] einen großen und freien Abschluss fand«201. Solche Korrespondenzen zwischen Generationen und Individuen drücken sich in der Dialektik eines überindividuellen Geistes aus, der beide in einer gemeinsamen Entwicklung verbindet. Dieser Generationengeist wird als »Familiengeist« angesehen, der die Verfassung des jungen Schleiermachers beeinflusst. Durch die Hypothese der Existenz eines Familiengeistes, der sich gemäß einer eigenen Dialektik und eigener Gesetzte entwickelt, sieht Dilthey in dem Individuum die Verwirklichung eines überhistorischen Geistes, der dasselbe Individuum in hohem Maße (auch in den innerlichsten Entscheidungen) bestimmt. Die »Prähistorie« des Individuums hat so einen großen Einfluss auf dessen Entwicklung. Ein dritter Ansatz zur Analyse der Lebensgeschichte, der mit dem Projekt einer Historisierung des individuellen Lebens schwer versöhnbar ist, zeigt sich in Bezug auf den herrnhutischen Einfluss auf Schleiermacher. Dilthey beschreibt, dass »sein ganzes künftiges Dasein unter der Macht der Einflüsse [stand], die in dem Knaben teils schon lebendig waren«202. Wenn »Goethes Knabenzeit überall das unbefangenste Sichregen dichterischer Phantasie [durchleuchtet], so die Kindheit und die Knabenjahren Schleiermacher die Macht des religiösen Gefühls«203. Da in den ersten Zeiten unserer Entwicklung »bereits in einer wunderbaren Weise die Gestalt unseres künftigen Daseins gegenwärtig« ist204, deutet Dilthey ein individuelles »Wesen« an: Das Individuum würde sich in einer vorbestimmten Weise entwickeln, die geschichtlichen Umstände wären in diesem Sinn nicht entscheidend. Die Idee eines solchen »Wesens« kommt in Leben Schleiermachers oft und in verschiedenen Formen vor. An 198 199 200 201 202 203 204

Ebd., S. 7 (GS XIII, S. 7). Ebd., S. 9 (GS XIII, S. 9). Ebd., S. 6 (GS XIII, S. 6). Ebd., S. 9 (GS XIII, S. 9). Ebd., S. 11 (GS XIII, S. 11). Ebd. (GS XIII, S. 12). Ebd. (GS XIII, S. 12).

Das Verschwinden des Individuums in der Biographie

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einigen Stellen scheint das Wesen des Individuums von seiner ersten Bildung determiniert; in diesem Fall wären die historischen Umstände analysierbar. An anderen Stellen scheint es unerklärlich und weist auf eine unbeschreibbare Genialität hin205. Einerseits beurteilt Dilthey es als möglich, die Entwicklung des Individuums zu rekonstruieren, das Entscheidende seiner Persönlichkeit – in diesem Fall die Erziehung – zu begreifen. Andererseits muss er für weite Teilen der Persönlichkeit eine Unerklärbarkeit derselben anerkennen; das Individuum trägt eine ursprüngliche und unerklärbare Originalität in sich, die sich dem Einfluss der Geschichte entzieht. Die Entwicklungsgeschichte ist insofern, genau wie für Haym, die Entfaltung einer in sich vollendeten genialen Originalität, die sich in der Geschichte konkretisiert. In Leben Schleiermachers findet man aber nicht nur diese beiden Möglichkeiten. In der Einleitung in eine neue Phase der schleiermacherschen Existenz kündigt Dilthey an, dass Schleiermacher schon in den letzten Jahren seiner Jugend, konkret seit 1792, »als ein eigener Mensch von seinen Umgebungen« sich schied, um die ihm eigene Konstitution zu entwickeln206. Erst jetzt fand er, dass »er nun auf der Höhe des Lebens angelangt sei, auf der er seine Jugendexistenz zu überschauen vermöge«207; erst nachdem das Ich sich von den ihn bestimmenden Umständen trennt, kann man von einer echten Individualität sprechen. Dieser Moment ist durch das Ende einiger persönlicher Beziehungen markiert: »Indem er so über einer von allen gegenwärtigen Verhältnissen unabhängigen Bestimmung seines inneren Lebens sann, war schon ein Vorgefühl in ihm, dass diese zu schwanken begannen; er war noch mitten in dem Umkreis von Gedanken, die sich aus einer solchen Aufgabe erhoben, als diese Verhältnisse zusammenbrachen«208. Am Ende des zweiten Buches konstatiert Dilthey, wie schon angedeutet, dass Schleiermacher begann, sich seiner Andersheit in Hinblick auf die Zeitgenossen bewusst zu werden209. Die wahre Entstehung des Individuums geschieht durch Verwerfung und Opposition gegenüber der Welt, die ihn umgibt. Sowohl die Dialektik zwischen den Generationen als auch die Bildung des Einzelnen sind von diesem Ablehnungsprozess charakterisiert. Das Individuum kommt zu sich selbst, nachdem es sich von den Umständen, die es bestimmen, befreit hat und seine Stellung in der Welt annimmt; nachdem es seine Einzigartigkeit anerkannt hat. Die Individualität entsteht insofern durch eine oppositionelle Dialektik: Dank dieser Dialektik scheidet sich das Individuum von seiner Generation und nimmt seine eigene Form an. Der Sinn dieser Entwicklung findet in dem dritten Buch Aus205 206 207 208 209

In der zweiten Auflage wird das noch deutlicher, vgl. GS XIII, S. 33. Ebd., S. 55 (GS XIII, S. 62). Ebd. (GS XIII, S. 62). Vgl. ebd., S. 57 (GS XIII, S. 64). LS, S. 531f. (GS XIII, S. 537).

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»Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers

druck: »Die Schmerzen und Enttäuschungen der letzten Zeiten, in denen die geistige Genossenschaft der Romantiker sich auflöste, hatten ihr Werk an ihm getan, und auf diesem Boden fühlte er nur doppelt«, dass er ein Herrnhuter geworden wäre, »nur von einer höheren Ordnung«210. Als sich Schleiermacher von dem Seminar in Barby trennte, »empfand er noch nicht die Bedeutung seiner herrnhutischen Epoche«211. Erst später »wenn dann seine Jugend mit ihrer herrnhutischen Frömmigkeit vor ihm stand, so fühlte er tief, wie der religiöse Grundzug seines Genius damals mächtige Nahrung und erste Gestalt erhalten hatte«212. Die ganze biographische Erzählung gestaltet sich als Rückkehr zum Ursprung, in dem die Individualität das wird, was in ihrer ersten Form bereits angelegt war. Hinter dem Generationsprozess, der das Individuum in den Umständen auflöst, findet man aber auch einen gänzlich anderen Prozess der individuellen Entwicklung beschrieben. Nach einer vorindividuellen Phase erreicht die Individualität das Bewusstsein ihrer Unabhängigkeit von der Umgebung und kann deswegen zu ihrer ursprünglichen Form kommen. Eine solche Bewegung erklärt die Idee, dass »nach eigenen Gesetzen in unserem Inneren neue Elemente auf der Grundlage unserer ältesten Lebensform [arbeiten]; könnten wir die Formel dieses Verhältnisses aussprechen, so würde sie das Geheimnis lösen, wie wir inmitten der lebendigsten, tiefgreifendsten Entwicklung doch immer dieselben bleiben«213. Durch die Hypothese, dass innere Gesetze existieren, die die gegebenen Elemente in eine neue Form transformieren, stellt Dilthey neben die historische Forschung ein psychologisches Gesetz. In dieser Art wäre das Individuum von der Außenwelt nicht bestimmt, ebenso wenig eine entscheidende Änderung in ihm entsprechend der gegebenen Umstände. Vielmehr hat man es bei der individuellen Geschichte mit einem innerlichen Entwicklungsgesetz zu tun, das nicht nur von der Geschichte absieht, sondern im Gegenteil Bedingung der Geschichte wird. Die Beziehung zwischen Individuum und äußeren Umständen – bis jetzt von Dilthey, anders als bei Haym, als entscheidend für die Entstehung der Individualität beurteilt – ändert sich völlig: Für eine Individualität, die in sich schon die Möglichkeit einer bestimmten Entwicklung trägt, sind die geschichtlichen Umstände einfach Gelegenheiten. Hat der Umzug nach Berlin Schleiermacher eine neue Welt eröffnet, so betont Dilthey dennoch, dass, »wo er auch gelebt hätte, würde das Große, was damals in der geistigen Welt geschah, ihn haben ergreifen müssen«214. Dilthey erkennt bedeutsame geschichtliche Fügungen, »die das innerste Streben eines 210 211 212 213 214

GS XIII, Einsamkeit in Stolp. Ebd., S. 33. Ebd. LS, S. 247f. (GS XIII, S. 269). Ebd., S. 155 (GS XIII, S. 183).

Leben und Denken: Die Gestaltung des philosophischen Werkes

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Menschen durch ein ganz entsprechendes äußeres Schicksal plötzlich zu völliger Entfaltung bringen«215. Das Individuum hat einen Trieb in sich selber, eine auf die äußeren Gelegenheiten nicht reduzierbare Form; es hat eine eigene Dialektik, durch die es nach einem Negationsprozess und durch ein erneuertes Bewusstsein seiner Existenz wieder wird, was es von Anfang an war. Die Analyse der Biographie tut zwei ganz unterschiedliche Momente in der Definition der Individualität kund: Neben der Idee der Einbettung des Individuums in die Generationsdialektik findet man die Vorstellung seiner selbstständigen Form. Diese zweite Idee ist wiederum in zwei Hypothesen geteilt: die Hypothese eines originären und nicht reduzierbaren Wesens und die Hypothese eines psychologischen Entwicklungsgesetzes, einer Dialektik der individuellen Entwicklung.

4.

Leben und Denken: Die Gestaltung des philosophischen Werkes

Sobald Dilthey das Denken Schleiermachers erläutert, zeigt sich die schwierige und ungelöste Beziehung zwischen Individuum und Generation. Dilthey behauptet: »Die Geschichte übt die Gerechtigkeit, die das Leben versagt«216, denn, »wenn die unwissenschaftliche Überlieferung nach ihrem inneren Gesetz alle Arbeiten eines Heroenzeitalters auf den einzigen Herkules häuft, so erhebt sich für wahrhaftige Geschichte die Aufgabe, das verwickelte Ineinandergreifen vieler geistiger Arbeiten darzustellen, aus dem Schöpfungen von langer Lebensdauer entstehen, und jenen Schein einsamer inneren Entfaltung zu zerstören, von dem das Leben aller großen Geister umgeben ist«. Die Arbeit des Geschichtsschreibers ist es also, die Grenzen hervorzuheben, »in denen die geistigen Gesetze alle originale wissenschaftliche Schöpfungskraft des einzelnen eingeschränkt halten«217. Die Analyse der schleiermacherschen Schriften wird konsequent der Notwendigkeit gerecht, eine auf die geniale Originalität des Individuums beschränkte Erklärung zu vermeiden. Im ersten Buch hebt Dilthey in Bezug auf die ersten Schriften Schleiermachers hervor, dass sie nicht nur die Einflüsse von dessen jugendlicher Bildung, sondern auch die Beschäftigung mit Kant und mit der Aufklärung zeigen218. Dieselbe Art der Erklärung findet man in Bezug auf die Entstehung von Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Ver215 216 217 218

Ebd. (GS XIII, S. 183). Ebd., S. 206 (GS XIII, S. 230). Ebd. (GS XIII, S. 230). Dilthey beschreibt die wichtigsten Pfade der Aufklärung in LS, S. 83ff.

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»Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers

ächtern und Monologen. Eine Neujahrsgabe, die auf den Einfluss von Spinoza (und Shaftesbury in der zweiten Auflage) und auf die Auseinandersetzung mit den Zeitgenossen zurückgeführt werden219. »Als diese Werke hervortraten«, betont der Autor, »wirkten sie, als stünden sie in keinem Zusammenhang mit der bisherigen Philosophie«. Sie sonderten sich sogar »absichtlich von der philosophischen Bewegung der Zeit [ab]«. Trotzdem waren Diltheys Ansicht nach die neuen religiös-sittlichen Erlebnisse Schleiermachers bedingt »durch die Lage der literarischen, philosophischen, theologischen Ideen der Zeit«220. Die ganze Darstellung der Existenz Schleiermachers erklärt sein charakteristisches Verhalten zur Religion und vor allem seine Konzeption der Individualität. Nicht nur diese »objektive Arbeit« der biographischen Rekonstruktion charakterisiert das Werk Diltheys: Um die Frage der Beziehung zwischen dem Leben und der Werkentstehung zu beantworten, bemüht sich Dilthey um eine genaue und sorgsame Interpretation der individuellen Kreativität, die aber nicht so überzeugend wie der Generationsmechanismus gelingt. Die durch den Generationsbegriff anerkannten und rekonstruierten kulturellen Bedingungen veranschaulichen die schleiermachersche Existenz, erklären aber nicht, wie die vielfältigen Tendenzen und Einflüsse der Epoche von Schleiermacher selber aufgenommen wurden. Das heißt, die ganze Rekonstruktion durch den Generationsbegriff zeigt nicht, wie die Bearbeitung der kulturellen Beziehungen durch ein Individuum etwas produzieren kann, das neu und originell ist. Da es insofern unmöglich ist, die individuelle Schöpfung von den gegebenen Bedingungen her zu erhellen, versucht Dilthey einen anderen Weg, um diese Frage zu beantworten. Er konzentriert sich auf die durch autonome Gesetze bestimmte individuelle Entwicklung, die auf keine allgemeine Norm reduzierbar ist221. Vor der Darstellung der ersten Schriften Schleiermachers (Über das höchste Gut, 1789; Über die Freiheit, 1790–1792; Über den Wert des Lebens, 1792–1793) schildert uns der Biograph, dass klare Bilder »ganz anderer, weit von jener Dogmatik abstehender Möglichkeiten des Weltzusammenhangs« sich in Schleiermacher entwickelten, die im Gegensatz mit der Dogmatik der Aufklärung standen: Diese neuen Möglichkeiten stellten sich zunächst als »unbewachte Bilder« seiner Phantasie dar222. Die Entstehung dieser neuen Ideen über die Seele und ihr göttliches Wesen sind für Dilthey »ein klassisches Beispiel, wie, inmitten von allen Seiten her gefestigter theoretischer Überzeugungen, der unaufgeklärte, aber in dem Gemütsleben sich regende und bewegende Drang einer anders gearteten Natur wenigstens in theoretischen Phantasiebildern seine 219 220 221 222

Vgl. Haym, Die Dilthey’sche Biographie Schleiermacher’s, S. 593ff. GS XIII, S. 314. LS, S. 1 (GS XIII, S. XXXIII). Ebd., S. 53 (GS XIII, S. 61).

Leben und Denken: Die Gestaltung des philosophischen Werkes

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spätere Ausgestaltung vorwegnimmt«223. Die Rezeption aller durch den Generationsbegriff bestimmten Elemente und Einflüsse basiert auf dieser Sphäre des Gemüts. Die erste Form des reifen Denkens zeichne sich »in dem unbewussten, unbewachten, geheimnisvollen Leben der Gemütskräfte« ab224. Für Individuen wie Schleiermacher sei der Zusammenhang mit den Bedingungen ihrer eigenen geistigen Organisation undurchschaubar und kann »weder durch eine zufällige Reihe äußerer Anregungen noch durch eine von Denker zu Denker fortschreitende Übertragung von Begriffen« rekonstruiert werden225. Es ist deswegen unmöglich, die Bildung des Individuums durch eine rein historische Arbeit oder allein durch eine theoretische Hypothese zu rekonstruieren. Die Hauptideen von Schleiermacher – am Ende des ersten Buches zusammengefasst – entstammen in letzter Konsequenz einer unbestimmbaren Gefühlsdimension, die verschiedene äußerliche Einflüsse aufnimmt und schöpferisch bearbeitet. Diese Dimension stellt sich dar als »der innere Kristallisationsprozess, in dem aus der Tiefe seiner Lebensverfassung sich im Gegensatze gegen Kant seine eigene Lebens- und Weltansicht entfaltete«226. Dieser Prozess findet am Anfang der 1790er-Jahre durch die Einwirkung einer »verwandten Natur« statt227. Deswegen sind die von Dilthey im ersten Buch beschriebenen Bedingungen (vor allem Kants und Spinozas Einfluss) zentral, weil diese Bedingungen in einem inneren Prozess bearbeitet werden, der auf einem Gefühl der Opposition der Individualität gegenüber den Umständen fußt. Die »elementaren Grundzüge der [Schleiermacher] eigenen Weltansicht« in dieser neuen Epoche seiner Lebens zeigen sich in der Tat nicht unmittelbar in der Beziehung mit seinen Zeitgenossen: Vielmehr äußern sie sich in dem Kampf mit »dem Geiste des voraufgegangenen Zeitalters«228. Dilthey sieht also einen individuellen und innerlichen Grund, auf dem Idee und Werk basieren. Die erste unbewusste und gefühlsmäßige Stufe besteht in der Opposition gegenüber den Bedingungen und den Ideen, die die herrschende Weltanschauung ausmachen. So erkennt man in der Bildung der Individualität wie auch in der Entstehung des Denkens einen Abstand des Individuums von seiner Umgebung, eine Negationsbewegung und Opposition gegenüber den äußerlichen Elementen. Diese negative Dimension ergänzt den Generationsprozess, weil sie die Beziehung zwischen dem Individuum und den zeithistorischen Umständen spezifiziert. Die Individualität verhält sich negativ gegenüber diesen: Es handelt sich bei diesem

223 224 225 226 227 228

Ebd. Ebd., S. 147 (GS XIII, S. 166). Ebd. GS XIII, S. 166. Ebd., S. 166. LS, S. 147 (GS XIII, S. 166).

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»Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers

Prozess um keine passive Assimilation an die Umwelt bzw. an eine Reihe von Einflüssen, sondern um eine Tätigkeit, obwohl diese Tätigkeit unbewusst ist. Nach dieser Beschreibung der ersten unbewussten Stufe des Gefühls folgt in dem zweiten Buch jene der Zeit, in der »sein langsam und ruhig gereifter Geist mit der gewaltigen, gärenden Bewegung seiner Epoche sich messen soll«229. So ist es für Dilthey möglich festzustellen: »Gegen das Jahr 1800 haben die Denker, deren Ergebnisse in seinem System benutzt sind, Platon, Aristoteles, Spinoza, Leibniz, Kant, Jacobi, Fichte, Fr. Schlegel, Schelling, allesamt bereits ihren Einfluss auf ihn zu üben begonnen«230. Es sei jedoch notwendig, die Bedeutung all dieser heterogenen Einflüsse angemessen zu beurteilen und »ihren Anteil an der Entstehung der Weltansicht von Reden und Monologen abzuwägen«231. Die Werke Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern und Monologen. Eine Neujahrsgabe bieten nämlich eine, so Dilthey, »anschauliche Darstellung« der schleiermacherschen Ideen. Nachdem er die Entwicklung der Ideenwelt Schleiermachers von dem Oppositions- und Konfliktverhältnis mit den kulturellen Bedingungen abgeleitet hat, weist Dilthey darauf hin, dass die entwicklungsgeschichtliche Perspektive zu Fehlinterpretationen führt. »Wenn ich beide Werke im Zusammenhang der bisherigen Entwicklungsgeschichte, in ihrem Verhältnis zu Tagebuchblättern, Briefen, Kritiken erwäge«, erläutert Dilthey, »so erscheint mir als auf strenge philosophische Untersuchung gegründet die Aufhebung aller andern Standpunkte, die sichere Conzeption und Begrenzung des eigenen«232. In der Tat »besaß [Schleiermacher] seine im wesentlichen einfache Welt- und Lebensansicht noch nicht in einem Zusammenhang metaphysischer und ethischer Begriffe, sondern in der anschaulichen Form, in welcher er sie ausspricht, als Mystik«233. Deswegen seien seine Schriften »unmittelbare Ergüsse seines innersten sittlichen Lebens«234 und, weil diese Anschauungen »seinem personalen Erleben« entsprungen waren235, realisieren sie sich vor allem als Lebensideal, als unmittelbare Lebenspraktik. Die folgende Auseinandersetzung mit der Weltanschauung geht über die rein unbewusste und unreflektierte Phase des Gefühls hinaus, ist jedoch noch nicht auf einer begrifflichen Stufe angelangt. Schleiermacher sei »seiner großen Aufgabe sich bewusst geworden« und schreite »innerlich wie von den Moralsystemen der Zeit so auch von dem Lebensideal der Dichtung geschieden«236 229 230 231 232 233 234 235 236

Ebd., S. 152 (GS XIII, S. 179). Ebd., S. 298 (GS XIII, S. 314). Ebd. Ebd., S. 303 (GS XIII, S. 319). Ebd. Ebd., S. 243 (GS XIII, S. 265). Ebd., S. 246 (GS XIII, S. 268). Ebd., S. 259f. (GS XIII, S. 280).

Leben und Denken: Die Gestaltung des philosophischen Werkes

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voran. Nur im dritten Buch findet man die eigentlich begriffliche Phase seiner intellektuellen Entwicklung dargestellt237. Nachdem sich die Lebens- und Weltanschauung ausgebildet habe, konzipiere Schleiermacher »das Prinzip und die Methode seines philosophischen Systems. Dies geschah in der Auseinandersetzung mit der gesamten Philosophie seiner Zeit«238. Erst damit gewinnt sein Leben »festen Boden, seine Gesinnung den Kreis der Handlung, für die sie bestimmt war, seine männliche Seele die Welt, in der sie frei zu atmen vermochte«239. In dieser existenziellen Reife »fügt sich seine Lebens- und Weltansicht in den großen geschichtlichen Zusammenhang des philosophischen Gedankens ein […], ein festgefügter klarer Zusammenhang der Gedanken bildet sich, in dem jeder Begriff sich an seinem Zusammenhang zu festigen und zu erproben hat«. Die intellektuelle Entwicklung Schleiermachers erreicht damit ihre philosophische Phase240. Dank des Verständnisses der »Kulturbedingungen, welche uns Heutigen schon fremdartig geworden sind, treten wir freudig mit ihm in das Handeln und wissenschaftliche Denken der Gegenwart [ein]«241. Erst in dem dritten Buch findet man das schleiermachersche System des Denkens: Indem seine Weltanschauung zu einem System wird, endet die Biographie und der systematische Teil von Leben Schleiermachers beginnt, das in dem XIV. Buch der Gesammelten Schriften Diltheys ausführlich analysiert wird. Auch in der Rekonstruktion des Denkens von Schleiermacher benutzt Dilthey, ohne direkten Bezug zu nehmen, ein Modell, das nicht auf die Generationsstruktur reduzierbar ist. Die Stufen der Entwicklung der schleiermacherschen Weltanschauung beziehen sich auf eine innere, von Dilthey nicht erklärte, aber wesentliche Dimension: Nur in dieser Dimension bildet sich der Zusammenhang zwischen dem Individuum und der Allgemeinheit ab. Die Möglichkeit, dass das Individuum eine schöpferische Rolle spielt und dass es in der Geschichte aktiv Einfluss nimmt, liegt in der Bearbeitung der Verhältnisse, die sich seiner Generation darbieten. Nur durch die Erklärung dieser individuellen Bearbeitung erhält die Biographie ihren wissenschaftlichen Wert und kann die Frage der Beziehung zwischen Individuum und Kultur beantwortet werden. Erst dadurch wird sie zur philosophischen Biographie. Das heißt, sie ist einerseits Biographie eines Philosophen, und zwar ein Werk, das den Zusammenhang zwischen Leben und Denken zeigt, andererseits ist sie philosophisch, weil sie die Grundfrage des philosophisch-historischen Schreibens beantwortet: die Frage der Beziehung zwischen Individuum und historischem Kontext. Obwohl er diese Prinzipien noch nicht eingeführt hat, erklärt Dilthey in Leben Schleiermachers 237 238 239 240 241

Ebd. GS XIII, II, S. 76. LS, S. 541f. (GS XIII, S. 545f.). Ebd. Ebd.

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»Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers

den individuellen Bildungsprozess und den des Werkes durch dasselbe Gesetz, dessen Vorbild die Opposition jeder geistigen Bewegung den äußeren Bedingungen gegenüber ist.

5.

Die Kritik an Hegels Modell

Die allgemeine Gültigkeit dieser Dialektik zwischen Leben und Denken zeigt auch Schleiermachers Kant-Interpretation. Anders als das poetische Genie, kann das philosophische Genie ihm zufolge nicht seinem eigenen inneren Gesetz folgen. Der Antrieb der philosophisch-wissenschaftlichen Entwicklung liege vielmehr in einer Antipathie und im starken Widerspruch gegen die Vorgänger, wie die Beziehungen zwischen Aristoteles und Plato, Leibniz und Spinoza, Herbart und Kant, Spinoza und Descartes zeigen242. Durch dieses biographische Modell identifiziert Dilthey in der Opposition gegen das Gegebene ein entscheidendes Moment der individuellen Bildung und der Entwicklung der eigenen Weltanschauung. »[M]it solchen Nachweisungen fällt die tatsächliche Grundlage für das Verfahren der auf Hegel gegründeten Geschichte der Philosophie zusammen, aus dem Durchleben und der immanenten Kritik des vorhergegangenen Standpunktes den des nächsten philosophischen Denkers hervorgehen zu lassen«243. Die objektive Bedingtheit der Philosophie in den historischen Bedingungen und die des Philosophen durch andere Philosophen sind empirische Tatsachen. Ihr Fehlen bringt die Schwäche des hegelschen Vorbilds ans Licht. Die festgestellte Opposition (sowohl auf der individuellen und gefühlsbezogenen Stufe als auch in der Entwicklung des Denkens) wird zum neuen Gesetz, weil »in großen Naturen, in anschaulicher Form, ja in der bloßen Empfindung der Welt ein Gehalt gegenwärtig [ist], der sofort den von der wissenschaftlichen Epoche dargebotenen Zusammenhang der Begriffe als fremdartig von sich stößt«244. Die Notwendigkeit, den individuellen Ursprung der Genese des Denkens zu betrachten, entsteht aus der großen Bedeutung des Genies für die Geschichte, da seine hervorragende Natur »ein Ganzes der geistigen Organisation« darstellt, »dessen gesetzlicher Zusammenhang mit den Bedingungen, unter denen es sich bildet, unerforschlich ist und das weder durch eine zufällige Reihe äußerer Anregungen noch durch eine von Denker zu Denker fortschreitende Übertragung von Begriffen erkannt wird«245. Bleibt auch die Möglichkeit einer Geschichte der Philosophie auf Grundlage 242 243 244 245

Ebd., S. 129 (GS XIII, S. 133). Ebd., S. 129 (GS XIII, S. 133). Ebd. Ebd., S. 147 (GS XIII, S. 166).

Die Kritik an Hegels Modell

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individueller Geschichte noch unbestimmt, stellt Dilthey dennoch klar, dass die Genese des Denkens weder aus dem Außen bestimmt ist, noch einem inneren Gesetz der Begriffsentwicklung folgt. Dass eines der Ziele der Biographie von Schleiermacher ist, eine neue antihegelsche historiographische Perspektive zu begründen, wird auch durch eine weitere Tatsache verdeutlicht: Dadurch, dass »das wissenschaftliche Fundament für das Verständnis von Schleiermachers System, d. h. für die Entwicklung und Fortbildung seiner religiös-sittlichen Welt- und Lebensansicht zu einem wissenschaftlichen festgegründeten Zusammenhang von Begriffen […], in einem vergleichenden Studium dieser ganzen Gruppe von Systemen [liegt]«. Ein solches Studium betrifft »ihre Genesis, das in ihrer gemeinsamen Anlage gegründete gemeinsame Entwicklungsgesetz derselben und die Ansatzpunkte ihrer verschiedenen Gestaltung«246. Dieser Vergleich zwischen philosophischen Systemen befreit »von dem Gesichtspunkt, unter dem Hegel diese Systeme als pure Entwicklungsstufen zu seiner Philosophie hin erschienen sind«247. Laut Dilthey hat Hegels Modell verhindert, »die wahre Geschichte der gleichzeitigen Einwirkungen, denen sie unterlagen« und »den wahren Gang der einzelnen Entwicklungsgeschichte« anzuerkennen248. Demgegenüber untersucht Dilthey nicht nur die individualgeschichtlichen Wurzeln des Denkens, das als Oppositionsbewegung erkannt wurde, sondern er realisiert mittels der Biographie auch ein vergleichendes Studium der philosophischen Systeme. Das Ergebnis dieses Studiums ist seine Theorie der Weltanschauungen, die er besonders in der späten Phase seiner intellektuellen Entwicklung (vor allem in dem Aufsatz Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen von 1911) vertieft, aber bereits in dem Werk Leben Schleiermachers formuliert, hauptsächlich in dem Kapitel des dritten Buches Die damalige Philosophie249. Durch die Biographie wird die dialektische Rekonstruktion des Denkens aus dem Denken selbst in Frage gestellt: Dabei handelt es sich um ein entscheidendes Ergebnis von Leben Schleiermachers. Indem Dilthey den Ursprung des schleiermacherschen Denkens analysiert, betrachtet er die vorbegriffliche Dimension als grundlegend; diese bildet die Matrix der Geschichte des Denkens. Um zu verstehen, »welche Überzeugungen heute das Handeln der Menschen [beherrschen]«, ist es Dilthey zufolge notwendig, sich zu vergegenwärtigen, dass es »nicht systematische Gedanken [sind], welche die Menschen beeinflussen«. Der Einfluss bestehe vielmehr »aus dem Leben selbst, aus der Interpretation 246 247 248 249

Ebd., S. 351 (GS XIII, S. 370f.). Ebd. Ebd. Vgl. GS VIII.

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desselben in der Kunst, aus der autoritativen Leitung der sittlichen Lebensführung durch die Kirche […]. [Von hier] sind zu allen Zeiten die Stimmungen, die wenig fassbaren Züge einer Lebens- und Weltansicht gekommen, die das Handeln regieren«. Diese Ideen verbinden sich mit den wissenschaftlichen Grundsätzen und verdichten sich später in den positiven Wissenschaften. Nur auf dieser Stufe haben »die Erfahrungswissenschaften der Natur und des Geistes eine große Zahl gesetzlicher Verhältnisse erkannt«, die die Reflexionen über das Leben fest zusammenhalten250. Durch das Leben Schleiermachers thematisiert Dilthey das allgemeinere Problem des Übergangs von der Dimension des Gefühlslebens und der Religiosität zur Dimension des wissenschaftlichen Denkens und der positiven Wissenschaften, jeder Mensch ist in beiden Dimensionen verortet. Mit dem Zweck, die historischen und konkreten Bedingungen des Denkens in kritischer Auseinandersetzung mit Hegel und durch die Analyse der Individualität und ihrer Beziehungen mit der Kultur hervorzuheben, bewertet Dilthey die Biographie als unabdingbares Modell für die philosophische Historiographie. Denn es gehe darum, dass die historische Forschung die Systeme mit Blick auf deren Mechanismen und Funktionen analysiere: Sie sollte diese nicht als Momente einer Dialektik und einer einseitigen Entwicklung interpretieren, sondern als Ausdrucksweisen der Grundhaltung eines Menschen gegenüber der Welt. Eine solche Grundhaltung nennt Dilthey Lebens- und Weltansicht. Anhand des Beispiels von Schleiermacher veranschaulicht Dilthey die Möglichkeit für die historische Forschung, bis zur Wurzel der Beziehung zwischen Mensch und Welt zu gehen, bevor diese in systematisches Denken überführt wird. Das vorbegriffliche Moment, das in der Dialektik der Individualität erscheint, spielt eine entscheidende Rolle auch für die Ausbildung des philosophischen Denkens und des daraus folgenden Werkes.

6.

Die schwierige Messung historischer Wirkungen

Nachdem er die hegelsche Idee einer immanenten Entwicklung der philosophischen Systeme zurückgewiesen hat, thematisiert Dilthey die Frage der Wirkung der philosophischen Werke auf die Nachfolger. Das Ziel ist hierbei, Kontinuitäten und Zusammenhänge in der Geschichte des Denkens zu beleuchten. Wirkung und Rückwirkung sind entscheidend: Hier erst zeigt sich das schöpferische Potenzial des Individuums, das in seiner Fähigkeit zum Ausdruck kommt, die Kultur und das Denken zu prägen. In der Rückwirkung fußt die historische Kraft des Individuums und seiner Philosophie. Ebenfalls präsentiert 250 GS XIII, S. 78f.

Die schwierige Messung historischer Wirkungen

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sich das Erklärungsvermögen der Generationsstruktur hier : Mithilfe der Rückwirkung lässt sich das entscheidende Moment für die Bildung einer neuen Generation, also einer neuen Epoche der Geistesgeschichte identifizieren. Die hegelsche Perspektive mitsamt der Idee einer zwangsläufigen Entwicklung des Denkens hinter sich lassend, erläutert Dilthey mithilfe der Rückwirkung die Beziehungen zwischen verschiedenen Denkern, der Reihenfolge der Denker, und dadurch auch den Fortschritt in der Geistesgeschichte. Die Rückwirkung wird zu einem strukturellen Merkmal in der Geschichte des Denkens: »Die Lebenskraft bedeutender Werke kann an den Epochen ihrer Wirkung, an dem Umfang und der Tiefe derselben gemessen werden. Daher die Geschichte zwar nicht über den Wert geistiger Leistungen, aber über ihre Fähigkeit, inmitten der ringenden Elemente der geistigen Welt sich zu erhalten, das endgültige Urteil spricht. Es ist nun in der Regel, dass ein Werk zunächst von den mitstrebenden Zeitgenossen noch nicht unbefangen, in seinem eigenen Sinn aufgenommen wird […]. [E]rst ein nachwachsendes Geschlecht bringt ihm dann reine Empfänglichkeit entgegen. So verursachten die Reden [gemeint ist Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, FDA] unter Schleiermachers Genossen lebendige Bewegung, Umgestaltung der Denkart wie der Dichtung; aber diese ersten Wirkungen waren sehr wenig im Geiste ihres Urhebers; und über den nächsten Kreis hinaus begegneten ihnen damals fast überall Gleichgültigkeit oder Abneigung«251. Denn erst eine neue Generation »brachte ein reines, unbefangenes Verständnis dem religiösen, philosophischen, theologischen Gehalt der Reden entgegen«252. Dilthey hebt die Wirkung der Monologen hervor, die »[in] die ethischen Untersuchungen […] nicht eingegriffen [haben]«. Sie »griffen in das Leben ein, zuerst in sehr engen, dann in immer weiteren Kreisen«. Die Wirkung der Monologen war zunächst lediglich, »daß sie den Freunden die Individualität Schleiermachers tiefer aufschlossen«253. Das Verständnis bildet sich also vor allem a posteriori, erst wenn eine folgende Generation das Neue aufnimmt, das durch die individuelle Kreativität erzeugt wurde. Die Rückwirkung beschreibt nicht nur eine Seite des historischen Fortschrittes, sie bietet auch die Möglichkeit, den generationellen Abstand zu erklären, der das Verständnis den Zeitgenossen erschwert. Die objektiven kulturellen Bedingungen, deren zeitgenössische Bearbeitung sowie die Schöpfung von etwas Neuem, das seinerseits zur objektiven Bedingung wird, erschweren das Verständnis. Der damit beschriebene Mechanismus betrifft auch die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Welt, indem er dessen Reaktionen misst: »Der Umfang 251 Ebd., S. 427 (GS XIII, S. 442). Die diltheysche Theorie der Lebenskraft der Philosophie findet man auch speziell in Bezug auf die Geschichte der Philosophie und auf die Probleme der philosophischen Historiographie in den Vorlesungen, vgl. GS XXIII. 252 Ebd., S. 445 (GS XIII, S. 458). 253 Ebd., S. 466 (GS XIII, S. 477).

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und die Grenzen der Einwirkung Schlegels auf Schleiermacher lassen sich hiernach bestimmen. Die selbstständige Verknüpfung der geistigen Elemente der Zeit in Friedrichs Lebensplan hätte nach vielen Seiten hin von Schleiermacher, wie von anderen Zeitgenossen derselben Generation, ähnlich vollzogen werden können«. Aber »lag es nicht in Schleiermachers Geist, einen so umfassenden Überblick über die Welt der Kultur […] zu entwerfen«. Vielmehr müsse er Friedrich Schlegel für dessen geniale Darlegung verschiedener Zusammenhänge dankbar sein. Es sei schwierig, betont Dilthey, die Grenzen der persönlichen Einwirkung zu beurteilen: Man könne sagen, dass »die Rückwirkung Schleiermachers auf die geistige Bewegung, wie sie ihn in Berlin umgab, viel langsamer, später, ohne das feurige Gefühl begeisterter Genossenschaft erfolgt sein würde, vielleicht mit weniger vollständigen Überblick über die inneren Regungen der Zeit, dann freilich auch unabhängiger von manchen Vorurteilen und Irrungen der jungen Generation«254. Die Rückwirkung erhellt so auch, dass Denkfortschritte – so, wie die Aufnahme von Neuem durch die zeitgenössische Generation – nie gleichförmig verlaufen, und ermöglicht das Verständnis des Neuen in der Geschichte und den Mechanismus des Fortschrittes.

7.

Die umfassende Biographie

Die Untersuchung von Leben Schleiermachers hat Heterogenität und Komplexität der diltheyschen Konzeption der Biographie hervorgehoben. Man findet in diesem Werk verschiedene mögliche Annährungen an die Lebensgeschichte, die oft in Konflikt mit dem Generationsbegriff als Hauptgesetz der Biographie geraten. Das von Dilthey in Vorwort und Einleitung von Leben Schleiermachers gezeichnete Vorhaben der Biographie als »umfassendem Blick« in das historische Leben, der das Problem der Beziehung zwischen dem Einzelnen und der umgebenden Totalität bestimmt, verwirklicht sich in dem konkreten historiographischen Schreiben. Die Darstellung der deutschen kulturellen Bedingungen vor Schleiermacher und während dessen Jugend, der Herausbildung seiner Individualität und seines Denkens, alle oben skizzierten Facetten der Biographie, ergeben ein umfangreiches und komplexes Werk. Die Lebensgeschichte wird also zur Weltgeschichte. Der Generationsbegriff ist der wesentliche Begriff, weil er die Entstehung der Individualität mit dem umfassenderen kulturellen Kontext verbindet und Möglichkeiten wie Grenzen des individuellen Schöpfertums in Zusammenhang mit der historischen Entwicklung zeigt. Die Verbindung des Ichs mit der Totalität, die Dilthey als Rückwirkung der Entwicklung zusam254 Ebd., S. 234f. (GS XIII, S. 256f.).

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menfasst, wird historiographisch in den Generationsbegriff übersetzt. In diesem Sinn findet das Werk Diltheys eine wesentliche Kohärenz mit seinem anfänglichen Vorhaben. In dieser Übereinstimmung von theoretischem und praktischem Moment liegen jedoch einige Unzulänglichkeiten begründet, die auf verschiedene zentrale Fragen der Biographie hinweisen. Indem Dilthey die Biographie als Ort bestimmt, an dem sich die Struktur des Lebens als Ausgangspunkt der Geschichte offenbart, sind die Ergebnisse dieser Prämisse zuweilen problematisch. Obwohl er den Generationsansatz als feste Struktur beibehält, ist er nicht fähig, die individuelle Kreativität auf dieser Basis zu klären. Oft ist er gezwungen, überindividuelle Normen hinzuzuziehen, die die Beziehung zwischen Ich und Welt regeln. In anderen Fällen reduziert er das historische Geschehen vollständig auf die Individualität, wobei er strukturelle Gesetze der Persönlichkeit einbezieht, oder eine unerklärliche Genialität als Ursprung der individuellen Schöpferkraft ausmacht. Dieser Aspekt ist besonders bedeutsam hinsichtlich der Schwierigkeiten Diltheys, sich aus der anschaulich-künstlerischen Dimension des biographischen Genres zu befreien. Hat er das Künstlerische als Grundelement für die Bearbeitung der Biographie als primär, aber als unzureichend beurteilt, muss er in dem konkreten Schreiben oft Kompromisse mit dieser ästhetischen Konzeption der Lebensgeschichte und mit deren Theorie eingehen. Die Idee der Individualität als in sich geschlossene harmonische Ganzheit, die sich in der Geschichte entfaltet mit dem Ziel, zu sich selbst zu kommen, beherrscht nämlich zahlreiche Passagen von Leben Schleiermachers. Man findet oft das Bild einer unbeschreiblichen Genialität. Die unüberwindbare Schwierigkeit, das erzählerische mit dem erklärenden Moment zu verbinden, bestätigt die Komplexität des diltheyschen Unternehmens. An verschiedenen Stellen von Leben Schleiermachers verzichtet Dilthey darauf, das Künstlerische auf das Historische zu reduzieren: Dadurch schließt er sich dem Vorgehen Hayms an, der in Die Romantische Schule diese beiden Momente mit großer Vorsicht zusammenstellte. Das Erkennen der Unmöglichkeit, das Individuum vollständig aus der Geschichte heraus zu erklären, und das Interesse für die allgemeine Geschichte als Verwirklichung des inneren Lebens machen die zwei Pole der diltheyschen Forschung aus. Da er die Individualität nicht gänzlich geschichtlich begründen kann, schwankt er zwischen einer unerklärbaren Genialität und einer mit einem inneren Entwicklungsgesetz ausgestatteten Individualität. Dieses innere Gesetz ermöglicht dem Historiker, sich der Entwicklungsgeschichte des Individuums anzunähern. »Individuum est ineffabile«: Mit diesen Wörter beginnt Dilthey sein Werk, und das ist das erste Zeichen seiner wesentlichen Nähe zu Hayms Konzeption. Dilthey versucht durch verschiedene Rekonstruktionen, der Biographie eine allgemeine und vollständige Grundlage zu geben. Sowohl in der Ausbildung der Individualität und des Denkens als auch im umfangreicheren historisch-philosophischen

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»Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers

Bereich wird eine Gesetzlichkeit der historischen Rekonstruktion postuliert. In Hinblick auf verschiedene Aspekte bleibt diese Gesetzlichkeit allerdings unbegründet. Die Präsenz verschiedener Perspektiven in dieser Biographie, mit der Dilthey jeden Bereich der Geschichte abdecken und eine allgemeine Norm bestimmen möchte, schließt aber nicht aus, dass Dilthey mehrfach die Unmöglichkeit einer näheren Bestimmung des Individuums einräumt. Er erkennt damit einerseits dessen »Unsagbarkeit« an, also, dass es unmöglich ist, dass Individuum vollständig zu beschreiben. Andererseits ist diese Suche nach einem allgemeinen Gesetz die Konsequenz des Unterfangens, den ursprünglichen Ausgangspunkt der Geschichte zu finden, wobei sich sein Interesse allmählich von der Generation zum Individuum hin verlagert. Das Individuum wird zum ursprünglichsten Element des historischen Mechanismus. Dilthey benutzt für die Struktur der Biographie weitere nicht sofort sichtbare verbindende Elemente. Dem Generationsmodell stellt er im Laufe des Werkes eine selbstständige Individualität zur Seite, die schöpferisch und gestaltend auf die Welt einwirken kann. Die Dialektik der Individualität und jene des Werkes verflechten sich und dienen als Unterstützung für das Generationsmodell: Die drei Stufen der individuellen Entwicklung (Gefühl, Anschauung, Begriff) verbinden die Persönlichkeit mit der äußeren Welt und den historischen Bedingungen. Dieses zusätzliche individuelle Gesetz verschiebt also im Verlauf von Leben Schleiermachers das Problem des Zusammenhanges Ich-Welt von der Analyse der historischen Bedingungen zur Struktur des Individuums und dessen ureigenster Fähigkeit, die äußere Welt aufzunehmen und neu zu bearbeiten. Die Frage nach der Rolle des Individuums als Ausgangspunkt, der nicht historisierbar ist, wird in Leben Schleiermachers vermehrt und dringlich gestellt; so rückt die vor-historische Dimension des Lebens ins Zentrum des Interesses. Die diltheysche Forschung über den Zusammenhang von Ich und Welt mit dem Ziel, die strukturellen Grundlagen zu finden, wird zur Bestimmung der Gesetze der Individualität selbst. Innerhalb des Vorhabens einer Historisierung der Individualität wendet sich die Aufmerksamkeit allmählich auf die vor-historischen Gesetze des Individuums, auf dessen Funktion und Struktur. Die Dialektik dieses Gesetzes, das die Beziehung Ich-Welt enthält, und die Konzeption einer vorindividuellen Geschichte des Familiengeistes zeigen die Unmöglichkeit der Versöhnung der überindividuellen Position, die die Persönlichkeit als einen Geist interpretiert, der die Epoche repräsentiert, mit dem Postulat eines klar umrissenen und eigenständigen Ich. Die Schwierigkeiten im Verhältnis von Individuum und Welt betreffen also den Inhalt der diltheyschen Geistesgeschichte. Die Biographie wird von Dilthey – in Übereinstimmung mit Haym – als Entlarvung des Hegelschen Idealismus angesehen, da sie die konkrete historische Bedingtheit der Philosophie und ihrer Protagonisten ans Licht bringt. Gerade die Konfliktbeziehung zwischen den

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einzelnen Philosophen ist Diltheys Ansicht nach das echte Triebwerk der Denkgeschichte: Erstere führt aber ihrerseits auf den Generationsbegriff zurück und erbt dessen Probleme. Das so identifizierte Triebwerk der Generationen bestimmt die Möglichkeiten der Geschichte der Philosophie und wird zum Gesetz ihres Verlaufes. Die dialektische Beziehung zwischen den Generationen bewirkt, dass jede Bewegung des Geistes zum Moment der Aufhebung der vorigen Generation wird. Bei diesem neuen Gesetz der Geschichte der Philosophie handelt es sich nicht mehr um eine logische Aufhebung: Vielmehr wird die Geschichte des Denkens zum Ort des Aufnehmens und der Aufhebung der Vergangenheit. Ist dieses Generationsgesetz, wie in vielen Passagen des Werkes Leben Schleiermachers deutlich wird, der Ausdruck eines inneren Gesetzes der Individualität, dessen Ursprung in der Opposition des Einzelnen gegenüber den äußeren Umständen liegt, dann ist die Geschichte der Philosophie mit der Struktur der Individualität verbunden. An die Stelle des logischen Systems Hegels tritt eine genauso unhistorische psychologische Erklärung, derer Ergebnis die individuellen Gesetze als einzige Erklärung der historischen Tatsachen ist. Man kann einen weiteren Aspekt dieses Oppositionsgesetzes, der das Denken leitet, nicht verneinen. Dilthey setzt die hegelsche Dialektik in ein empirisches Gesetz um, und geht dabei das Risiko ein, die konkreten historischen Tatsachen durch eine allgemeine Norm zu bestimmen. Die weitere dialektische Bewegung in der individuellen Entwicklung verstärkt diese Hypothese einer Historisierung der hegelschen Dialektik: Obwohl die von Dilthey identifizierten Etappen keinen allgemeinen historischen Wert haben, scheint ihnen die Bewegung »Position-Verneinung-Aufhebung« innezuwohnen, indem sie diese als konstitutive Momente der Persönlichkeit setzt. In letzter Instanz führt die Arbeit an dem Werk Leben Schleiermachers immer wieder auf die mangelhafte Erhellung der Struktur des Individuums zurück. Die von Dilthey verwendeten Begriffe benötigen eine weitere Vertiefung der Struktur der Individualität, was in diesem Werk noch nicht erreicht wird. Hier geht Dilthey der Klärung der Beziehung zwischen den historischen Umständen, in denen die Generation sich befindet, und der Rolle der Individualität aus dem Weg. Die Beziehung zwischen Individualität und Generation und die konsequente Bestrebung, die Weltgeschichte mittels der Biographie zu schreiben, ist ein wesentlicher Bestandteil des noch positivistischen Ansatzes des jungen Diltheys. Die Wurzel dieser Bemühung liegt in der Überzeugung, dass es für den Geschichtsschreiber dank der Übereinstimmung zwischen der individuellen und der allgemeinen Dimension in der historischen Erzählung möglich ist, die Zusammenhänge zwischen Ich und umgebender Totalität zu rekonstruieren. Die von Dilthey in dem biologischen Leben bestimmte Zeitlichkeit bildet die Basis sowohl des individuellen Lebens als auch der Generation und ist der trait d’union zwischen zwei Dimensionen, die sonst unversöhnlich bleiben. Die

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»Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers

zeitliche Übereinstimmung fällt aber in die Kluft zwischen der objektiven Dimension der Geschichte und der Ursprünglichkeit des Individuellen. Diese Kluft zwischen den beiden Dimensionen erschwert die Realisierung dieses positivistischen Modells, weil sie die Möglichkeit einer Kette von Ursachen und Wirkungen in der Biographie in Frage stellt. Obwohl Dilthey es als prinzipiell möglich ansieht, im Denken der Kausalitätskette zu einem Begriff von Erfahrung oder zu einer Idee dessen zu kommen, was für die Entstehung des Denkens wichtig ist, hat Dilthey die effektive Realisierung dieses Zusammenhanges nicht überprüft. Im Verlauf von Leben Schleiermachers sind die Nutzung verschiedener Methoden, die Berufung auf die romantische Genialität und die Anerkennung einiger unüberwindlicher Lücken in der historischen Kenntnis die Zeichen der Probleme des positivistischen Ansatzes. In der konkreten biographischen Geschichtsschreibung erscheint das anfängliche positivistische Modell abgeschwächt: Die Tatsache, dass es unmöglich ist, einen Zusammenhang zu schaffen, dieser aber notwendig ist; der Mangel an Dokumenten, die die Voraussetzung für die Wissenschaftlichkeit und Vollständigkeit der Geschichte bilden; die fehlende Konzeption der historischen individuellen Tatsachen rufen nach einer ausführlicheren Reflexion des Charakters der Lebensgeschichte. In Leben Schleiermachers tritt allmählich die zentrale Position der Rückwirkung zutage: Dank dieses Begriffes kann Dilthey die geschlossene künstlerische Form der Biographie hinter sich lassen. Er kann dadurch mehr, als die Individualität lediglich isoliert zu betrachten und sie in den Kontext ihrer historischen Einflüsse und Wirkungen zu stellen. Noch mehr als der Begriff der Generation greift jener der Rückwirkung die Frage nach dem objektiven Ansatz der Biographie und ihrer Gegenwärtigkeit auf. In Bezug auf den ersten Punkt wird die Biographie durch genau diese Idee der Rückwirkung historisch, weil die Rückwirkung die Historizität des Lebens ans Licht bringt. Nur in den Leben, die eine Rückwirkung auf die Kultur haben, ist es möglich, echte Geschichtlichkeit zu finden. Das ist eine wichtige Neuerung für die Konzeption der Biographie: Dilthey drückt in den historischen Elementen eine in der biologischen Zeit des menschlichen Lebens wurzelnde Struktur aus. Diese Struktur, als Grundlage der existenziellen und kulturellen Zeitlichkeit, nimmt eine geschichtliche Bedeutung an, sobald sie sich in eine historisch schöpferische Bewegung von Entwicklung und Rückwirkung verwandelt. Der biologische Mechanismus wird zum historischen, weil das Individuum seinerseits eine Wirkung auf den kulturellen Kontext ausübt. Nur in diesem Fall gewinnt die individuelle Zeitlichkeit einen wirklichen historischen Wert, was die Bedeutsamkeit der Biographie für die Weltgeschichte erklärt. Aufgrund der Rückwirkung wird die Biographie eine nur für die Nachkommenschaft mögliche Art der Geschichtsschreibung. Die Individualität übt einen für die Gegenwärtigen unverständlichen Einfluss aus,

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weil das historisch-schöpferische Potenzial des Individuums sich immer in Opposition gegenüber seiner Epoche zeigt. Zugleich stützt das Konzept der Rückwirkung die Idee der Wissenschaftlichkeit der Biographie: An die Rückwirkung geknüpft ist die Messbarkeit der individuellen Tätigkeit und von derer Beziehung zur Kultur. Dass es möglich ist, die Bedingungen, Grenzen und Einflüsse des individuellen Tuns auf die Geistesgeschichte zu bestimmen, ist die Grundlage des Zusammenhanges der verschiedenen historischen Ereignisse und der Wissenschaftlichkeit der Biographie. Die wissenschaftliche Begründung der Biographie geht einher mit der wissenschaftlichen Erklärung der Rückwirkung: Die Kontinuität der geistigen Entwicklung ist einfach das Ergebnis dieser Wirkung des Individuums auf die Kultur. In der Rückwirkung wurzelt auch das Problem der Gegenwärtigkeit der Biographie. Die Kreativität des Individuums, die durch die Rückwirkung ausgedrückt wird, ist das Prinzip der historischen Entwicklung: Die Einwirkung der Individualität auf die Kultur der Gegenwart und der Vergangenheit lässt eine neue Welt entstehen, die gegenüber der alten Welt in Opposition steht. Das Individuum distanziert sich von der vergangenen und der gegenwärtigen Generation, was ihn den Zeitgenossen unverständlich macht und ihn aussondert. In diesem Sinn ist es sozusagen immer verwundert: Es kommt aus der vergangenen Zeit, aber ist Schöpfer einer neuen Epoche. An dieser Grenze zwischen dem Alten und dem Neuen entfaltet es seine Kreativität, die im Schaffen neuer Bedingungen für die zukünftige Generation besteht. Die Rückwirkung erklärt also das enorme Potenzial des Individuums, aber sie ist zugleich der Grund dafür, dass es dem Individuum unmöglich ist, sich in seiner Epoche zu Hause zu fühlen. Diese Fremdheit des Individuums – das gegenüber der Vergangenheit in Opposition steht und zugleich die Gegenwart aufnimmt und etwas Neues schafft – ist auch der Grund, warum es für die Zeitgenossen einer Persönlichkeit unmöglich ist, deren Biographie zu schreiben. Es ist quasi ein biologisches Gesetz, welches das Schreiben der Biographie in der Gegenwart verunmöglicht: Erst die Nachwelt kann die Lebensgeschichte verstehen, nicht nur, weil sie diese a posteriori anschaut, sondern auch, weil sie in einer geistigen Kontinuität mit der Welt lebt, die von dem kreativen Individuum geschöpft wurde. Sie lebt also in der objektiven Dimension der individuellen Kreativität, in einem Danach: dem Ergebnis der Arbeit der beschriebenen Persönlichkeit. Da die Biographie nie eine Geschichte der Gegenwart ist, ist sie immer das Ergebnis eines Prozesses der Vergegenwärtigung, weil sie auf der historischen Kontinuität durch die Rückwirkung basiert. Die Nachwelt, deren Realität durch die geistige Wirkung einer kreativen Persönlichkeit geprägt ist, kann eine solche Persönlichkeit immer als gegenwärtig ansehen und empfinden. Das erklärt, warum das Leben Schleiermachers sich auf die Jugendjahre des

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»Individuum est ineffabile«: Leben Schleiermachers

Protagonisten beschränkt, wie es auch in der Biographie von Hegel der Fall ist. Die Schwierigkeiten, das Werk zu einem Ende zu bringen, sind damit verbunden, dass Dilthey die biographische Beschreibung von Schleiermachers reifen Jahren als nicht bedeutsam erachtet. Ist bei Haym das Erwachsenenalter die Spitze der Entwicklung der Kräfte, die in der Jugend erst in nuce wirken, ist in dem diltheyschen Modell der Biographie der reife Protagonist nicht so zentral. Die individuelle Kreativität, welche eine Persönlichkeit zur historischen macht, hat ihr zentrales Moment in dem kurzen Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenalter. Nach diesem Übergang ist die Beschreibung der späteren Entwicklung des Individuums nicht mehr so relevant: Dessen Reife ist schon innerhalb der alten Generation objektiviert und seine Aufgabe für die Zukunft ausgeschöpft. In diesem Sinn ist die wissenschaftliche Biographie von Dilthey paradoxerweise dem Bildungsroman näher als die künstlerische haymsche Biographie. Das Leben Schleiermachers hinterlässt der biographischen Forschung Diltheys und für dessen historische Reflexion weitere Probleme: Die positivistischen Merkmale des Werkes, die Objektivität der historiographischen Arbeit und die Fremdheit der dargestellten Persönlichkeit eröffnen ein für die Forschung ungewöhnliches Panorama. Die Biographie entsteht als Ort, an dem objektive Tatsachen und ihr notwendiger Zusammenhang erklärt werden: Sie beinhaltet noch nicht die Reflexion des Verstehens, die üblicherweise das Bild von Diltheys Philosophie charakterisiert. Die diltheysche Polemik gegen die verstehende Methode Hayms betont den Abstand, den Dilthey zur Frage des Verstehens in der Geschichte einnimmt. Die Position Diltheys in Leben Schleiermachers kann weder auf die romantische Hermeneutik noch auf die Erlebnistheorie zurückgeführt werden, obwohl er sich der methodologisch-objektiven Tendenz anschließt. Gadamer räumt – indem er die entscheidende Rolle Diltheys für die Definition des Erlebnisbegriffes betont – ein, dass diese begriffliche Dimension bei dem jungen Dilthey noch nicht klar umrissen war, sodass die Verwendung des Wortes Erlebnis in der Biographie Schleiermachers als Transkriptionsfehler von Hermann Mulert anzusehen sei255. Das Leben Schleiermachers ist ein komplexes Werk, in dem verschiedene Möglichkeiten des biographischen Schreibens ans Licht kommen. Man findet hier ein Schwanken zwischen einem künstlerischen und einem historischen Modell. Zugleich merkt man einen ständigen Wechsel zwischen einer (durch den Generationsbegriff) gänzlich historisch-objektiven Begründung und einer psychologischen Begründung, in der die individuelle Struktur den Zusammenhang zwischen Individuum und Welt bildet. In dem Jugendwerk Diltheys 255 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Mohr, Tübingen 1960.

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treten eine Reihe von Fragen und Begriffen zutage, die er im Laufe seiner intellektuellen Entwicklung klärt. Dilthey überlässt dieser Biographie die Aufgabe, ein allgemeines historiographisches Modell zu begründen. Dieses Modell, so fordert er, solle bis zu den Wurzeln der Lebensstruktur gehen, um den Mittelpunkt des historischen Zusammenhanges zu finden. Die Komplexität eines solchen Vorhabens erklärt zum Teil, dass Dilthey die Arbeit an seinem Jugendwerk immer wieder unterbrach, um in zentralen Punkten eine notwendige, tiefere theoretische Klarheit zu finden.

Kapitel 3: Biographie und Geisteswissenschaften

1.

Über die Einbildungskraft der Dichter: Der Fall Goethe

In den zentralen Jahren seiner intellektuellen Tätigkeit verfasst Dilthey keine wichtige Biographie, da er vor allem mit der Erarbeitung seiner Theorie der Geisteswissenschaften beschäftigt ist. Jedoch versucht er in vielen theoretischen Beiträgen dieser Zeit, den Sinn des biographischen Schreibens zu erhellen, mit dem Ziel dessen Stellung innerhalb der Geisteswissenschaften zu bestimmen. Nicht zufällig ist Diltheys Hauptwerk Einleitung in die Geisteswissenschaften aus der Abhandlung Über die Einbildungskraft der Dichter (1878) hervorgegangen, die sich mit der Frage der Biographie beschäftigt256. Als wichtige Etappe der philosophischen Entwicklung Diltheys ist dieser Aufsatz reich an neuen Ideen, die sich in den folgenden Jahren festigen. Er entsteht in Auseinandersetzung mit Herman Grimms biographischem Werk Goethe, das im Jahre 1877 erschien257. 256 Vgl. W. Dilthey, Über die Einbildungskraft der Dichter, »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft«, 10 (1878), S. 42ff., heute in GS XXV, S. 126ff. Wie bekannt ist die Auseinandersetzung mit Goethe ein entscheidender Aspekt der diltheyschen Entwicklung. Neben den vielen Rezensionen der Werke des Dichters (z. B. Goethe als Naturforscher, besonders als Anatom; Goethes Vorträge; Goethe Ausstellung, publiziert 1861 und heute in GS XVI, S. 201ff.), interessiert sich Dilthey auch vor dem Hintergrund seiner allgemeinem Auseinandersetzung mit dem deutschen Geistesleben zunehmend intensiv für Goethe. Er bearbeitet mehrere Schriften über den Dichter (nicht nur Über die Einbildungskraft der Dichter, sondern auch z. B. Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig, in »Westermanns Monatshefte« 20 (1866), S. 258ff., heute in GS XV, S. 93ff.). Die definitive Form dieser Arbeit ist das berühmte Werk Das Erlebnis und die Dichtung, heute in GS XXVI. Für dieses Thema grundlegend bleibt die Arbeit von F. Rodi, Morphologie und Hermeneutik. Vgl. auch Rodi, Bezugspunkt Goethe: Bild-Metamorphose und »Bedeutsamkeit«, in ders., Das strukturierte Ganze. Studie zum Werk von Wilhelm Dilthey, Velbrück Wissenschaft, Weilerwist 2003, S. 65ff. 257 H. Grimm, Goethe. Vorlesungen gehalten an der Kgl. Universität zu Berlin, Verlag von Wilhelm Herz, Berlin 1877. Neben dieser Biographie schrieb Grimm andere biographische Werke: Leben Michelangelos (1860–1863) und Das Leben Raphaels (1872). Auch für Grimm spielte das biographische Modell eine entscheidende Rolle für das Verständnis und die Rekonstruktion der Geistesgeschichte. Unter dem Einfluss von Thomas Carlyle und Ralph

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Biographie und Geisteswissenschaften

Dilthey schätzt das historische Verständnis in Grimms Werk258 ; zugleich ist seine kritische Rezension von Grimms Goethe für ihn eine Gelegenheit, das biographische Arbeiten neu zu durchdenken. Dilthey teilt mit Grimm die Idee, dass neben dem kreativen Prozess der poetischen Einbildungskraft die »Erkenntnis großer Individuen einer der wichtigsten Teile aller philosophischen Geschichtsforschung« ist259. Die Interpretation der von Goethe erschaffenen literarischen Figuren gestaltet sich aber bei den beiden Autoren ganz anders260. Grimm sieht einen Bruch zwischen Leben und Werk Goethes, der sich in dem unrealistischen Charakter der von Goethe erschaffenen männlichen Figuren ausdrücken würde: Er hebt die Kluft zwischen Goethe selbst – einer gesunden, starken und harmonischen Persönlichkeit – und der melancholischen Natur seiner fiktiven Figuren hervor. Erst in der Figur von Faust fände eine vollständige dichterische Verwirklichung Goethes statt. Die anderen männlichen Figuren seien einfach »Fragmente«, während Goethe im Faust seine eigene Lebenserfahrung vollständig umsetze261. Die Perspektive Grimms stellt die Authentizität vieler Figurenschöpfungen Goethes in Frage. Dilthey teilt diese Interpretation nicht und nimmt die Diskrepanz zum Anlass, die Beziehung zwischen Leben und Werk Goethes noch mal ausführlich prüfen. Grimms Goethe erschien in zwei Bänden. Der erste Band beschäftigt sich mit der Frankfurter Epoche des Dichters (1749–1776), der zweite Band schildert die Weimarer Zeit, die in zwei Phasen eingeteilt ist: Die Jahre 1776–1786 und die Jahre 1787–1832. Diese Struktur des Werkes, betont Grimm, beruhe nicht »auf einer besonderen, mir eigenthümlichen Eintheilung des Stoffes, sondern schließt sich den natürlichen Abschnitten des Lebens und der fortschreitenden Thätigkeit Goethe’s an«262. Die Biographie knüpfe den »Aufbau des Lebens Goethe’s immer an die Werke, welche im Laufe der drei Epochen zur Erschei-

258 259 260 261 262

Waldo Emerson, dessen Werke er übersetzte, konzentriert er sich auf »repräsentative Persönlichkeiten« und postuliert, dass nur die Individualität kreativ sei. Grimm lehnt die Idee ab, Nationen und Völker als Individualitäten anzusehen. Seine diesbezügliche Stellungnahme wird in dem Werk Homer (1890–1895) deutlich. Entgegen der Idee, dass die Ilias ein Produkt der griechischen Volkes sei, ordnet er diese als Produkt eines einzelnen Autors ein. Dilthey rezensierte auch seine Biographie von Raphael (heute in GS XVI, S. 268ff.). Grimm wird ebenfalls in dem Briefwechsel mit dem Grafen York von Wartenburg oft erwähnt: vgl. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul York von Wartenburg 1877–1897, hg. von S. von Schulenburg, Halle 1923. Seinerseits hatte auch Grimm das Leben Schleiermachers von Dilthey positiv rezensiert: vgl. Grimm, Schleiermacher, in ders., Fünfzehn Essays, Ferd. Dümllers Verlagsbuchhandlung, Berlin 1874, S. 350ff. GS XXV, S. 126. Vgl. ebd., S. 163ff. Grimm, Goethe, S. 268ff. Ebd., S. 18.

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nung oder Vollendung kamen«263. Sie behandelt kurz die Jugendjahre des Dichters, denn erst nach 1770, schreibt Grimm, »beginnen die Zeiten, wo jedes Wort aus Goethe’s Feder ein Denkmal von historischer Wichtigkeit für uns wird«264. Vom Treffen Goethes mit Herder im Jahre 1771 in Strasbourg über die verschiedenen Liebesgeschichten und bis zu dem Treffen mit Merck in Darmstadt sammelt Grimm eine Reihe von biographischen Porträts der wichtigsten Persönlichkeiten zu Goethes Lebzeiten, u. a. von Herder, Schiller, Lavater und Jacobi. Trotz seiner reichen Lebensgeschichte, betont Grimm, sei das Leben Goethes »eine ruhige Weiterentwicklung bis zur letzten geistigen Höhe und Klarheit […], unabhängig von äußeren Verbindungen«265. Seine Rekonstruktion des historisch-kulturellen Kontextes der Zeit zielt nicht darauf, »Goethe in seine Zeit zu stellen«, sondern Grimm will »die Epoche Goethes« zeichnen. Im Laufe der Erzählung werden »Stück für Stück […] seine irdischen Schicksale für unsre Blicke sich zusammenziehen […], immer einsamer wird er dazustehen scheinen und endlich nichts übrig bleiben, als Goethe, der Schöpfer von Gestalten von ewiger Jugendkraft«266. Abgesehen von der Darstellung des umfangreichen historisch-kulturellen Gewebes dieser Epoche, sei für Grimm am bedeutsamsten, in seiner biographischen Erzählung Goethe als Repräsentant seiner Epoche zu zeigen. Dementsprechend lösten sich die Biographien anderer Figuren auf, ohne das Bild des Protagonisten irgendwie zu bereichern: Goethe allein herrscht in seiner Epoche. Die weiteren biographischen Porträts sind dementsprechend Nebenbilder. Dilthey erkennt hierin einen wesentlichen Charakter von Grimms biographischem Ansatz: »[E]s ist der zusammenhängende und consequente Versuch, aus dem Leben des Dichters seine Dichtungen zu erklären, das Zusammenklingen von inneren Erfahrungen in seiner Phantasie mit feinem Gehör zu vernehmen, in welchem Motive und Charaktere sich bildeten«267. Dieser Ansatz ist für Dilthey diskutierbar. Die methodologischen und historiographischen Entscheidungen Grimms werfen eine Reihe von Fragen in Bezug auf die Biographie auf. Die Möglichkeit des Ansatzes von Grimm beruht nämlich auf der speziellen Natur von Goethes 263 264 265 266 267

Ebd. Ebd., S. 36. Ebd., S. 18. Ebd., S. 15. Dilthey, GS XXV, S. 129. Diltheys Meinung nach gehört das Werk Grimms der literarischen Tendenz an, die »den Vorgang der Phantasie, in welchem aus Lebenserfahrungen und der vorhandenen poetischen Welt sich einzelne Dichtungen Goethe’s entfalteten« untersuchen will (ebd., S. 126f.). Hauptvertreter dieser Tendenz seien Wilhelm Scherer und Erich Schmidt.

90

Biographie und Geisteswissenschaften

Werk. In dessen Fall ist die Beziehung zwischen Leben und Werk besonders, da Goethe es gewohnt war, »unablässig über sein Thun und seine Gedanken sich selbst und Andern Rechenschaft abzulegen«268. Die stark autobiographische Natur dieser Schreibweise spielt eine entscheidende Rolle in der Kritik Diltheys an Grimm: Dieser verwendet Dilthey zufolge keine Zeugnisse über Goethe, sondern nur die Zeugnisse von Goethes selbst, und zwar Briefe, Tagebücher, Werke und vor allem die Autobiographie des Dichters. Der autobiographische Charakter von Goethes Schreiben macht seine Werke zu einem »so wichtigen Bestandtheil des Materials für die Geschichte seines Lebens«269. Die Tatsache, dass jede seiner Schriften »innere Erlebnisse Goethes […], von den Händen seiner Phantasie umgeformt«, enthält, beweist laut Grimm der Inhalt von Dichtung und Wahrheit, der Autobiographie Goethes270. Mithilfe autobiographischer Rekonstruktion könnten entsprechend Goethes Werke interpretiert werden. Grimm verbindet also in seiner Biographie die Werke Goethes mit den von Goethe selbst erzählten Lebensereignissen. Dichtung und Wahrheit wird unter diesem Gesichtspunkt zur privilegierten Quelle der Biographie Goethes bis zum Jahre 1776. Das enge Verhältnis von Leben und Schriften zeige sich darin, wie Goethe Personen und Situationen seines Lebens in seinen Werken bearbeite. Das Ziel Grimms ist nicht, durch den Vergleich zwischen Leben und Schriften die realen Figuren und ihre Vorbilder zu trennen, sondern die poetischen Mittel Goethes zu analysieren. In diesem Zusammenhang ist der Fall von Friederike Brion von Sesenheim bedeutsam. Ihre Figur, schreibt Grimm, »ist nicht […] von der Natur abgeschrieben, sondern Goethe hat ein Wesen, welches in Erinnerung an Friederike in seiner Phantasie aufstieg, soweit wieder mit allerlei kleinen Zügen seiner Freundin ausgestattet«271. Grimms Ansicht nach sollte die Biographie nicht darauf zielen, die Realität des poetischen Objektes zu verifizieren: Sie zielt, wie auch Goethe dachte, darauf, die Tatsachen zu erzählen, wie sie hätten passieren können, nicht, wie sie wirklich passiert sind.

1.1

Dichtung und Wahrheit: Die Quelle und das Werk

Das Vorhaben, das Leben mithilfe der Werke zu rekonstruieren, kann sich also auf viel Material (Briefe und Tagebücher) stützen, hat aber seine solide Grundlage in der Autobiographie des Dichters. Grimm verwendet diese als 268 269 270 271

Grimm, Goethe, S. 19. Ebd., S. 20. Ebd. Ebd., S. 55.

Über die Einbildungskraft der Dichter: Der Fall Goethe

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Wegweiser, um die Werke Goethes in seine Betrachtung aufzunehmen und die Zusammenhänge zwischen Schriften und realem Leben zu überprüfen. Die historische Wahrhaftigkeit von Dichtung und Wahrheit ist also die Bedingung, auf der die ganze Interpretation Grimms fußt, obwohl Grimm über die augenfällige Umwandlung von Goethes Erlebnissen durch dessen Einbildungskraft nachdenkt. In diesem Sinn liest er die Autobiographie Goethes als den Mythos seines Lebens272. Die poetische Wahrheit von Goethes Biographie ist keine historische Wahrheit. Aber durch die enge Beziehung zwischen Literatur und Erlebtem kann Grimm Dichtung und Wahrheit verwenden, um die Zusammenhänge zwischen Werken und Erlebnissen festzustellen. Es entsteht eine Reziprozität zwischen dem Werk als Quelle, aus der das wirkliche Leben erschlossen wird, und der Autobiographie als Quelle, mithilfe derer nachgeprüft wird, welche Elemente des Lebens in das Werk aufgenommen und dort ausgearbeitet wurden. Diese Zirkularität führt dazu, die biographische Aufgabe zu verunmöglichen, die über das Werk hinausdenken will. Indem Grimm die Autobiographie als verlässliche Quelle betrachtet, wird sein historiographisches Projekt verhindert. Dilthey sieht dieses Paradox, das im Fall von Goethe besonders stark ist, und beschäftigt sich damit in seiner Auseinandersetzung mit dem Problem der Quelle in der biographischen Forschung. Dabei sieht er die Schwierigkeiten Grimms genau in der Verwendung von Dichtung und Wahrheit liegen273 und schreibt: Die echte biographische Arbeit »beginnt erst, wo Goethe die Feder weglegt, wo nur sein jüngst publicirtes Tagebuch und seine Tages- und Jahreshefte, sowie Correspondenzen und Memoiren uns begleiten«274. Die Autobiographie wird also von Dilthey nicht mehr als historische Quelle, sondern als literarisches Werk betrachtet. Die unterschiedliche Interpretation von Dichtung und Wahrheit ist der Anfang einer intensiven Auseinandersetzung zwischen Dilthey und Grimm in Bezug auf die Frage der literarischen Figuren Goethes. Grimm erkennt, dass Goethe »die uns unbegreifliche Fähigkeit [hatte], in zwei Welten zugleich zu leben, die er völlig verbindet und dennoch zugleich völlig voneinander getrennt hält«275. Durch die Autobiographie würden reale und poetische Welt vermittelt, sodass für Grimm die Protagonistinnen in Goethes Werken der Realität entnommen sind. Da sie von dem Leben getragen seien, zeigten die weiblichen Figuren Individualität. Ganz anders sehe es bei den männlichen Protagonisten Goethes aus: Sie 272 273 274 275

Ebd., S. 27. GS XXV, S. 128. Ebd., S. 129. Grimm, Goethe, S. 18.

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würden fragmentarisch und unrealistisch wirken, denselben Charakter in verschiedenen »Kleidungen« darstellen. Auch zeigten sie keinen glaubwürdigen Bezug zu Goethes wirklicher Existenz. Sie kommen für Grimm aus einer Fragmentierung des goetheschen Wesens, aber sie tragen nicht den realen Charakter Goethes in sich276. Goethes habe zwei Menschen in sich getragen277. Diese Spaltung finde erst im Faust eine Schlichtung: In Grimms Interpretation ist die Figur des Faust ein Goethe »unseres Jahrhunderts«278. Dilthey interpretiert die Beziehung zwischen Leben und Werk anders: Er schließt sowohl die Spaltung von Autor und »realer« Person aus als auch die von Werk und Leben. Aus Diltheys Perspektive solle die Biographie keine Beziehung zwischen Werk und Leben suchen, um die Korrespondenz zwischen diesen beiden Dimensionen zu beweisen. Vielmehr solle sie eine Analyse des schöpferischen Prozesses der Phantasie sein. Ein solcher Prozess ist kein unmittelbarer Ausdruck der Realität. In diesem Sinne betrachtet er die Autobiographie Goethes als theoretische Arbeit, in welcher sich der Dichter mit der Entstehung seiner Werke beschäftigt. Sie gilt also nicht als historische Quelle, sondern als Reflexion Goethes über seinen eigenen kreativen Prozess. Ein weiteres Argument führt Dilthey zu einer Beurteilung der Autobiographie Goethes, die sich von der Grimms unterscheidet. Dilthey stellt fest, dass sich die Dokumente über Goethe ständig vermehren: Einerseits generiert die Autobiographie des Dichters neue historiographische Probleme, andererseits treiben die neuen Dokumente zu »einer großen abschließenden Biographie Goethe’s«279. Das Übermaß an Materialien, das diese endgültige Biographie Goethes vorantreibe, zeigt aber problematische Seiten. Erstens sei »alles Verstehen begrenzt«, sodass »jedes Zeitalter Goethe vorläufig noch anders sehen« wird280. Zweitens könne auf Grundlage von Dokumenten allein, die biographische Frage der Beziehung zwischen Leben und Werk nicht gelöst werden: Die poetischen Figuren »können Goethe in flüchtigen Lebensbegegnungen aufgegangen sein, welche für den Aufbau seines eigenen Lebens so gut als nichts bedeuteten, welche aber eben diejenige Beschaffenheit hatten, durch die seine Phantasie in leise bildende Tätigkeit des Gestaltens geriet«281. Dokumente reichen nicht aus, um eine Biographie zu schreiben, weil die Kenntnis der Tatsachen und Umstände eines Lebens nicht genug ist, um die Beziehung zwischen Leben und Werk zu verstehen. Das bedeute bei Goethe, dass alle seine literarischen Figuren dieselbe

276 277 278 279 280 281

Ebd., S. 268. Ebd., S. 289. Ebd., S. 296. Dilthey, GS XXV, S. 126. Ebd. Ebd., S. 130.

Über die Einbildungskraft der Dichter: Der Fall Goethe

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Form hätten, die der Einbildungskraft Goethes entspringt, und Faust keine Ausnahme bilde. Der Kern der biographischen Frage ist bei Dilthey also anders als bei Grimm: Bei Dilthey besteht er nicht mehr in der Korrespondenz von Leben und Werk, sondern in der Modalität des schöpferischen Prozesses. Das erhellt den Grund, warum Dilthey die psychologische Analyse der Phantasie als unentbehrlich ansieht. Beeinflusst von den Studien von Theodor Fechner und Johannes Müller282 erarbeitet Dilthey eine Theorie der poetischen Einbildungskraft, die ihre Basis hat in einer »mächtigere[n] Organisation gewisser Menschen, welche in der ausnahmsweisen Stärke bestimmter elementarer Vorgänge gegründet ist«283. Durch die Analyse der Beziehung zwischen Gedächtnis und Phantasie in der menschlichen Einbildungskraft kommt Dilthey dazu, einen bestimmten Bereich psychologischer Erfahrungen einzugrenzen, die er als Ausgangspunkt der poetischen Werke ansieht. Im Schreiben der Biographie sollte man sich also nicht auf die historische Existenz des Individuums konzentrieren, sondern auf die »dämonische Natur«, auf den »gewaltigen ganz unwillkürlichen Bautrieb« des Dichters284. Die Biographie wird von Dilthey im Licht der Psychologie gelesen und nicht auf das Thema der Korrespondenz von Leben und Werk reduziert. In der Theorie der Einbildungskraft verhalten sich die kreative Phantasie und der ästhetische Eindruck genau so, »wie auf dem Gebiet der Erkenntnis die Vorgänge der Entdeckung und die Regeln der Evidenz« und »wie auf dem der Sittlichkeit die sittliche Kraft und das moralische Urteil«285. Dilthey betont die Einseitigkeit, die diese verschiedenen Bereiche immer charakterisiert: Von diesen Paaren von Tatsachen wurde »irrtümlich immer bald der eine bald der andere Teil zum ausschließlichen Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse gemacht. Daher machen wir aus dem ästhetischen Eindruck unwillkürlich Schlüsse auf den Zustand, in welchem das Kunstwerk sich bildete«286. Auf Grundlage dieser 282 Dilthey interessiert sich genau in diesen Jahren für die Psychophysik. Die Studien von Fechner sind zentral für die diltheysche Ästhetik, vgl. Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, in GS VI, S. 103ff. In Bezug auf den Einfluss Müllers auf Dilthey vgl. F. Rodi, Morphologie und Hermeneutik; A. Orsucci, Tra Helmoltz e Dilthey. Filosofia e metodo combinatorio, Morano, Napoli 1992; H.-U. Lessing, Dilthey und Johannes Müller, in M. Hagner / B. Wahring-Schmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, Akademie Verlag 1992, S. 239ff. Schon als Student besucht er auch die Physiologie-Vorlesungen von Wilhelm His: vgl. A. Orsucci, Dalla biologia cellulare alle scienze dello spirito. Aspetti del dibattito sull’individualit— nell’Ottocento tedesco, Il Mulino, Bologna 1992. 283 Dilthey, GS XXV, S. 136. Für die Frage der Beziehung zwischen der psychophysischen Organisation des Individuums und dessen poetischer Genialität vgl. auch Dilthey, Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn, in GS VI, S. 90ff. 284 Dilthey, GS XXV, S. 147. 285 Ebd., S. 141. 286 Ebd.

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Biographie und Geisteswissenschaften

Erklärung zeichnet sich die Rolle des Biographen deutlicher ab: Die Wissenschaft kann die Einseitigkeit eines solchen deduktiven Verfahrens vermeiden »vermöge der […] Hermeneutik oder Theorie des Verstehens« und »durch die directe biographische Untersuchung«287. Die Kritik an Grimm eröffnet eine neue Perspektive, in der die Biographie eine entscheidende Rolle für die Theorie der Einbildungskraft spielt. So stellt Dilthey fest, dass die Untersuchung der dichterischen Phantasie »nun aber in Verbindung mit der Analyse der Verkettung dichterischer Gebilde in der Abfolge der Zeiten [tritt], wie die Geschichte der schönen Litteratur sie versucht. Das Material ist für beide dasselbe, und kein Fehler der Methode greift tiefer als der Verzicht auf die Breite der historischen, unter ihnen der biographischen Tatsachen für den Aufbau der generellen Wissenschaft menschlicher Natur und ihrer Leistungen«288.

1.2

Biographischer Vergleich und Erkenntnistheorie

Die Biographie bildet also die Grundlage einer neuen Konzeption der Erkenntnistheorie, in der sowohl die normative als auch die empirische Seite bewahrt wird. Mit dem Aufsatz Über die Einbildungskraft der Dichter zielt Dilthey auf eine neue Sichtweise, die über die kantische ebenso wie über die schillersche ästhetische Theorie hinausgeht289. Indem sie die antideduktive Seite der Forschung sicherstellt, ermöglicht die Lebensgeschichte Diltheys Ansicht nach, verschiedene mögliche Beziehungen der Dichter zur Realität zu bestimmen. Durch den Vergleich der poetischen Phantasie von Dickens, Shakespeare und Rousseau kommen verschiedene Methoden ans Licht, das Material der Wirklichkeit zu bearbeiten, ein Material, das sich seinerseits aus den verschiedensten Einflüssen speist290. Die Biographie ist das bedeutendste Element eines solchen Ansatzes, die poetische Phantasie zu begreifen: Die ästhetische Tatsache wird auf die empirische Einzelheit und nicht auf eine allgemeine Norm zurückgeführt. Als wichtiger Bestandteil der Literaturwissenschaft ist die Biographie die notwendige Voraussetzung einer historischen Ästhetik, da in ihr der schöpferische geistige Prozess als aus dem Leben stammend sich zeigt. Die diltheyschen Überlegungen hinsichtlich Grimms Goethe-Biographie betreffen also wichtige Aspekte des biographischen Themas. Die Eigenheit von Goethes Werk, das zwischen Selbstbiographie und Biographie steht, stellt das 287 Ebd. 288 Ebd., S. 147. 289 Vgl. zu Diltheys Perspektive auf die schillersche Ästhetik: Dilthey, Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, GS VI, S. 117ff. 290 Vgl. GS XXV.

Über die Einbildungskraft der Dichter: Der Fall Goethe

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Problem der Quelle ins Zentrum der biographischen Forschung. Die poetische Phantasie ermöglicht ein tieferes Verständnis der geistigen Produktion; der biographische Vergleich spielt eine antideduktive Rolle, welche die ästhetischen Theorien mit intellektualistischem Hintergrund auflöst. Im Vergleich mit Leben Schleiermachers findet sich in dem Aufsatz aus dem Jahre 1878 eine wichtige Neuerung: Dilthey stellt hier die Notwendigkeit fest, die Beziehung zwischen dem Individuum und der Lebenserfahrung zu beleuchten. Befand sich in Leben Schleiermachers das Individuum innerhalb eines Zusammenhanges und dessen durch unendliche Wechselwirkungen gebildeten vielfältigen Umständen, finden wir hier postuliert, dass im Mittelpunkt der Biographie das Individuum selbst steht. Die historischen Umstände, in denen das Individuum lebt, sind nicht mehr die es bestimmende Dimension: Vielmehr findet man in diesem Biographieverständnis ein neues Interesse für das Verhältnis des Individuums zur Wirklichkeit. Der schöpferische Prozess, dem das Werk entspringt, fußt nicht auf allgemeinen geschichtlichen Gesetzen, vielmehr entwickelt er sich in jedem einzelnen Fall anders. Findet man in Leben Schleiermachers die historische Rekonstruktion der vielen Beziehungen, in die der Protagonist wie jedes Individuum verwickelt ist, gibt es hier einen anderen Ansatz: einen Vergleich der schöpferischen Prozesse von Dickens, Shakespeare und Rousseau. Die Lebenserfahrung bekommt dabei eine prioritäre Rolle. Was in Leben Schleiermachers durch die Theorie der Generationen ausgedrückt war, wird hier nicht als Gewebe immer neuer Biographien, als Schichtung verschiedener Einflüsse verstanden: Was die Generationen anbieten und hinterlassen, wird zum neuen Material für die Bearbeitung durch den schöpferischen Prozess. Das Verhältnis zur Lebenserfahrung beschränkt also die unendliche Vielzahl der historischen Beziehungen und ermöglicht einen Blick in die spezifischen Bereiche der Schöpfung. Die poetische Tradition hört auf, den Hintergrund der Lebensgeschichte zu bilden: Sie gewinnt an Bedeutung, indem sie als Bestandteil des schöpferischen Prozesses verstanden wird. Aus dieser Perspektive erweist sich zum Beispiel die Rekonstruktion des Lebens und des Einflusses von Herder auf Goethe, anders als bei Grimm, als überflüssig. Es ist für Dilthey bedeutsamer, das literarische Verfahren Shakespeares mit dem Goethes zu vergleichen: Dieser Vergleich zeigt, wie unterschiedlich die beiden Dichter die Tradition ausarbeitet haben. Mithilfe dieses neuen Ansatzes ist es möglich, viele Aspekte zu klären, die in Leben Schleiermachers nicht immer deutlich wurden: Dabei lässt Dilthey die Idee der Entwicklung und Rückwirkung hinter sich. Im Übrigen führt das Verständnis der Bedeutung der Dokumente, in Bezug auf den paradoxen Fall von Goethe diskutiert, zu einem zentralen Problem der biographischen Rekonstruktion. Entgegen dem noch positivistischen Charakter in Leben Schleiermachers, mit seiner Idee einer auf der Vollständigkeit der Dokumente fußenden,

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Biographie und Geisteswissenschaften

»wahren« Biographie, sieht Dilthey nun, durch das Wechselspiel zwischen Selbstbiographie und Biographie eine endgültige Lebensbeschreibung unmöglich werden. Zugleich erkennt er die Nutzlosigkeit der Dokumente für das Schreiben der Biographie: Dilthey deutet schon hier die Idee eines unendlichen und provisorischen Verständnisses der Geschichte an. Alles in allem kann man den Übergang von Leben Schleiermachers zu Einleitung in die Geisteswissenschaften wie folgt zusammenfassen: In der Biographie Schleiermachers überlagerten sich verschiedene Rekonstruktionsarten, in der Einleitung in die Geisteswissenschaften herrscht die historische Dimension über die individuelle. Der schöpferische Prozess des Einzelnen wird auf das Individuum selbst zurückgeführt und der historische Kontext zeigt sich deutlicher als Bedingung der Entfaltung einer individuellen schöpferischen Kraft. Diese schöpferische Kraft basiert auf der machtvollen Organisation Einzelner, sodass die psychologische Analyse wesentlich und gegenüber der Geschichte vorrangig wird. Der Versuch in Leben Schleiermachers, die Biographie als historisches und philosophisches Werk zu entwickeln, in dem das Leben selbst sich entfaltet, kann nicht realisiert werden, da das Individuum selbst der Grundlagen entbehrt. Die biographische Dimension, wird sie als Basis der Geschichte verstanden, verliert sich wegen der unendlichen Weiterentwicklung der Epochengeschichte. In dem neuen Horizont, den Dilthey eröffnet, wird sie hingegen zum Fundament der historischen Wissenschaft selbst. Dank dieses neuen Ansatzes zur Erklärung des schöpferischen Prozesses der Individualität findet die Biographie eine eindeutige Rolle innerhalb der Erkenntnistheorie und wird zur Grundlage jeder allgemeinen Geschichte.

2.

Die vielfältige Rolle der Biographie in den Geisteswissenschaften

Die Ergebnisse, zu denen Dilthey in Einbildungskraft der Dichter kommt, und die dort entwickelte Konzeption der Biographie – als wesentlichem Bestandteil der Geisteswissenschaften und als Fundament der Literaturgeschichte –, erhellen auch die Rolle der Lebensbeschreibung, wie sie in der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) präsentiert wird. Dass dieses Werk im Licht der in Leben Schleiermachers aufgeworfenen Fragen und diese Biographie betreffenden Probleme zu sehen ist, wird von Dilthey selbst eingeräumt. Er erklärt, dass er gegenüber Schleiermacher und dessen Lebensschilderung noch »eine Schuld auszugleichen« habe291. Er kann dieses monumentale Werk erst vervollständi291 GS I, S. XX.

Die vielfältige Rolle der Biographie in den Geisteswissenschaften

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gen, nachdem er die letzten, während der Komposition von Leben Schleiermachers entstandenen philosophischen Fragen in der Einleitung in die Geisteswissenschaften diskutiert hat292. Die biographische Arbeit ist also einfach unterbrochen: Er kann erst ein Ende finden, wenn er für die Theorie der Biographie ein stärkeres Fundament gefunden hat. Wie bekannt, kam auch die Arbeit an der Einleitung in die Geisteswissenschaften zu keinem Abschluss: In der Entwicklung des imposanten Systems der Geisteswissenschaften erschienen immer neue Schwierigkeiten und immer neue mögliche Lösungen293. Diesselbe Unvollständigkeit findet sich in Leben Schleiermachers, das ein Fragment blieb. Anders als in Schleiermachers Biographie, bei der der Generationsbegriff dominant war, stehen nun Erkenntnistheorie und Literaturgeschichte im Zentrum, sodass sie zu einem strukturellen Moment der Geisteswissenschaften werden. Wie bekannt, war der theoretische Plan der Einleitung, den »ganzen Menschen« in den Mittelpunkt der Geisteswissenschaften zu stellen. Das war die historische und psychologische Aufgabe Diltheys, und gegen die rein intellektuelle Betrachtung des Menschen gerichtet, die die transzendentale Philosophie charakterisiert. In dem bekannten Postulat, »in den Adern des erkennenden Subjektes, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit«294, ist der ganze philosophische Plan Diltheys zusammengefasst. Mit der Bestrebung, die transzendentale Konzeption zu überwinden, wird das Individuum von Dilthey als »psychophysische Lebenseinheit« definiert, das heißt, es wird in der Ganzheit seines Vermögens und seiner Existenz betrachtet. Da die Analyse »in den Lebenseinheiten, den psychophysischen Individuis die Elemente [findet], aus welchem Gesellschaft und Geschichte sich aufbauen«, bilden Psychologie und Anthropologie die »fundamentale Gruppe von Wissenschaften des Geistes«295. Nur durch diese Disziplinen sei die Erforschung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Welt möglich, denn »die Einheiten, welche in dem wunderbar verschlungenen Ganzen der Geschichte und der Gesellschaft aufeinanderwirken, sind Individua, psycho-physische Ganze, derer jedes von jedem anderen unterschieden, deren jedes eine Welt ist«296. Findet man in der Psychologie den »einfachste[n] Befund, welchen die 292 Vgl. ebd. 293 Die Vorarbeiten an der Einleitung finden sich heute in GS XVIII, Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865–1880), hg. von H. Johach / F. Rodi, Göttingen 1977 und im Band XIX, Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1870–1895), hg. von H. Johach / F. Rodi, Göttingen 1982. 294 Dilthey, GS I, S. XVIII. 295 Ebd., S. 28. 296 Ebd., S. 29.

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Biographie und Geisteswissenschaften

Analysis der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag«, sodass sie die »erste und elementarste unter den Einzelwissenschaften des Geistes« ist und ihre Wahrheiten »die Grundlage des weiteren Aufbaues« bilden, beschäftigt sich diese Disziplin doch nur mit einem »aus dieser Wirklichkeit ausgelösten Teilinhalt«297. Obwohl sie »die Grundlage aller Erkenntnis des geschichtlichen Lebens, wie aller Regeln der Leitung und Fortbildung der Gesellschaft« ist, bleibe sie wesentlich abstrakt und die geschichtlich-gesellschaftliche Welt aus ihrer Perspektive »atomisiert«. Da die Psychologie »das Individuum, welches aus dem lebendigen Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesondert ist«, zum Gegenstand hat, muss sie den Mangel der eigenen Abstraktheit ausgleichen, indem sie die gesamten Geisteswissenschaften ständig in die Reflexion einbezieht, um den Menschen in seiner Totalität zu begreifen298. Weil sie sich ihres abstrakten Charakters bewusst ist, kann sie nur die Ereignisse und Tatsachen des Lebens eines Individuums in seiner konkreten Existenz beschreiben. Dadurch spielt die Biographie wiederum eine entscheidende Rolle als notwendige Beschreibung für eine Psychologie, die keine hypothetische Wissenschaft sein will. Die Biographieforschung ist also kein Nebenelement der Geisteswissenschaften, sondern erweist sich als wesentlicher Bestandteil der Psychologie, als Basiswissenschaft der ganzen geisteswissenschaftlichen Welt. Sie ist Diltheys Ansicht nach ein Instrument der Entwicklung einer Realpsychologie. Die echte biographische Methode gilt ihm als Anwendung der anthropologischen und psychologischen Wissenschaft auf das schwer zu verwirklichende Vorhaben, »die Einheit des Lebens, seine Entwicklung und sein Schicksal« verständlich zu machen299. Die Lebensbeschreibung wird zum Bestandteil des psychologischen Verfahrens, was wiederum das Fundament der diltheyschen Geisteswissenschaften darstellt, wie Dilthey es in Ausarbeitung der deskriptiven Psychologie (1880) angekündigt hatte300. Da das »Material [der Psychologie] die ganze Geschichte und Lebenserfahrung« ist, und da es »außerhalb der psychischen Einheiten, welche den Gegenstand der Psychologie bilden, überhaupt keine geistige Tatsache für unsere Erfahrung [gibt]«, wird die Biographie zum Zentrum der Geisteswissenschaften301. Die psychologische und die historische Dimension kommen in der Biographie zusammen, denn »der Fortschritt der Anthropologie und die wachsende Erkenntnis ihrer grundlegenden Stellung [vermitteln] auch die Einsicht […], 297 298 299 300 301

Ebd., S. 32. Ebd., S. 30. Ebd., S. 33f. Vgl. GS XVIII, S. 170ff. GS I, S. 29.

Die vielfältige Rolle der Biographie in den Geisteswissenschaften

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daß die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in seinem geschichtlichen Milieu, ein Höchstes von Geschichtsschreibung ist, gleichwertig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geschichtlichen Darstellung, die aus breiterem Stoff gestaltet«302. In der Klassifikation der Geisteswissenschaften verbindet die Biographie die psychologische Dimension mit der historischen, weil sie, als »Darstellung der einzelnen psycho-physischen Lebenseinheit«303, »die fundamentale geschichtliche Tatsache rein, ganz, in ihrer Wirklichkeit« zeigt304. Eine solche Lösung kann als weitere Etappe des von Dilthey lange geplanten Projektes einer Historiographie mit psychologischem Fundament angesehen werden305. In diesem Sinn könnten die zwei Forschungsbereiche – der psychologische und der historiographische – problemlos zusammengebracht werden, wobei der historische Bereich darüber hinaus auf den psychologischen zurückgeführt werden könnte. Dadurch würden die Ergebnisse des Werkes Die historische Schule endlich eine kohärente Verwirklichung finden, das heißt, »den Zusammenhang [der geschichtlichen Erscheinungen] mit der Analysis der Tatsachen des Bewusstseins« spiegeln. Dadurch würde sich endlich ein von Dilthey gewünschtes »gesundes Verhältnis zu Erkenntnistheorie und Psychologie« realisieren306. Diese zwei Dimensionen sind jedoch nicht gleichwertig: Sie zeigen vielmehr verschiedene und spezifische Perspektiven. Die Biographie entsteht nicht aus einem Aufeinandertreffen der auf das Individuum bezogenen theoretischen Disziplinen, sondern aus dem ursprünglichen Ziel, das individuelle Leben zum Ausgangspunkt der Auslegung der ganzen historischen Welt zu machen. Die Beharrlichkeit, mit der Dilthey die Biographie innerhalb der Geisteswissenschaften verortet, betrifft nicht nur das Problem der Klassifikation der Wissenschaften und der verschiedenen Disziplinen, sondern bringt dieses ursprünglich theoretische Bestreben zum Ausdruck. Alle genannten Elemente sind bedeutsam, um die diltheysche Auslegung der abendländischen Geistesgeschichte zu verstehen.

302 303 304 305

Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 34. Vgl. Dilthey, Frühe Aphorismen aus der Berliner Zeit, in GS XVIII, S. 203ff. und Der junge Dilthey, S. 80ff. 306 GS I, S. XVI.

100

3.

Biographie und Geisteswissenschaften

Kunst und Wissenschaft: Die Individualisierung

Nicht zufällig stellt Dilthey in Beiträge zum Studium der Individualität die Geschichte der Individualität in den Kontext der abendländischen Poesie und Wissenschaft. Diese Rekonstruktion nutzt viele historische Materialien, sie wird auch in den späteren Texten zur Anthropologie wieder verwendet307. Die diltheysche Psychologie, im Aufsatz Idee über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie entfaltet, strebt danach, die geistige Kreativität, welche über die historische Entwicklung herrscht, im psychischen Leben des Individuums wurzelnd zu bestimmen. Dadurch schützt sie die Ergebnisse des transzendentalen Idealismus gegen die Assoziationstheorie und eine atomistische Perspektive auf das psychische Leben. Sie versucht zugleich, die Bedeutung des Seelenlebens über die rein intellektuelle und rationelle Dimension hinaus zu erweitern. Eine solche Psychologie gliedert sich in zwei Teile: eine allgemeine oder analytische Psychologie, und, als ihr Seitenstrang, eine vergleichende Psychologie. Die Erste hat »die Gleichförmigkeiten des Seelenlebens zu ihrem Gegenstande« und wendet sich »auf die in allen Individuen gleichartigen Bestandteile und die in allen gleichförmigen Prozesse des Seelenlebens«308 ; die Zweite erforscht nur »Individualität, Abstufungen der Unterschiede zwischen den Individualitäten, Verwandtschaft, Typus«309. Der psycho-anthropologische Ansatz, der die ganze Seele des Menschen betrachtet, bedient sich der Biographie, weil sie die Totalität des individuellen Lebens und die konkrete Existenz berücksichtigt. Sie entsteht aus der Erklärung des allgemeinen Bildes des Menschen. Der Zusammenhang von Biographie und Psychologie, nach dem die Biographieforschung eine Methode der Psychologie ist und die Psychologie wiederum notwendig für die Biographie ist, steht in dem umfassenderen Kontext der Beziehung zwischen der allgemeinen menschlichen Natur und der fortschreitenden Entwicklung der Individualität. Durch die Prämisse, dass das letzte notwendige Element für die Lösung des Individualitätsproblems »die Konstituierung einer vergleichenden Psychologie«310 ist, will Dilthey nicht nur ein theoretisches Problem lösen, sondern auch eine eigene Psychologie innerhalb eines spezifischen kulturellen Kontextes konstituieren. Aus einer solchen Perspektive ist die vergleichende Psychologie nicht nur ein Zweig der analytischen Psychologie, sondern auch die Evolution eines spezifischen und ursprünglichen Charakters des abendländischen Denkens. Das 307 308 309 310

Vgl. GS II. GS V, S. 241. Ebd. Ebd., S. 310.

Kunst und Wissenschaft: Die Individualisierung

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Problem der vergleichenden Psychologie zu lösen, bedeutet für Dilthey, die allgemeine Denkentwicklung des Abendlandes zur Darstellung zu bringen. Dilthey rekonstruiert die Geschichte der westlichen Literatur und betrachtet sie als Darstellung der menschlichen Welt durch die Individuen; parallel erfolgt die Entwicklung der vergleichenden Wissenschaften zusammen mit den Naturund Geisteswissenschaften. Die europäische Literaturgeschichte gilt als Rekonstruktion »der dichterischen Auffassung von der Individuation der allgemeinen Menschennatur«, da die Kunst das Instrument sei, mit dessen Hilfe das Leben verstanden werden könne311. Die Biographie findet ihren Platz in der dritten und letzten Etappe des Individualisierungsprozesses. Dessen Entwicklung begann mit Homer und entwickelte sich während der ganzen Antike; die zweite Etappe fällt ins 15. und 16. Jahrhundert. Die dritte Etappe, deren Bedingungen im 17. Jahrhundert geschaffen wurden, erstreckt sich bis zu Diltheys Lebzeiten. Sie ist von der Naturwissenschaft, der politischen Ökonomie und der Geschichte beherrscht312. Ihre Voraussetzung ist, dass »das Individuum unter Bedingtheiten komplizierter Art« lebt: Es wird nämlich durch das Milieu bestimmt und wirkt innerhalb einer spezifischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung313. Die Hauptlinien dieser Etappe der menschlichen Individualisierung seien, »[die] allseitige Bedingtheit des Menschen, seine Abhängigkeit von der ihn umgebenden Gesellschaft, seine Geschichtlichkeit, und wie er nun doch unter diesen Umständen nach einer ihm eignen schöpferischen Kraft sich entfaltet und zu einer wenn auch immer bedingten Wirksamkeit gelangt«. In dieser Epoche ist für Dilthey, »die Individuation zum Gegenstande der Wissenschaft geworden«. Von hier ausgehend bildeten sich »Gesichtspunkte, Begriffe und Methoden«, welche von Goethe »auch für die Erkenntnis der Individuation in der Menschenwelt benutzt« wurden314. Diese neuartige Betrachtung der menschlichen Existenz als Phänomen der Naturgeschichte drückt sich in drei neuen literarischen Formen aus. Die erste, der Bildungsroman, versucht, »die ganze Entwicklungsgeschichte eines Menschen inmitten seines Milieus hinzustellen«315. Ihre Parallelform in der Wissenschaft ist die »biographische Darstellung, wie in einem Milieu ein bedeutender Mensch sich entwickelt«316. Eine weitere Kunstform dieser Zeit ist der gesellschaftliche Roman, das heißt, »die Darstellung der Gesellschaft, welche den Dichter umgibt, nach ihren typischen Charakteren und Bezügen«: Sein wis311 312 313 314 315 316

GS V, S. 283. Vgl. ebd., S. 302. Ebd., S. 295. Ebd., S. 302ff. Ebd., S. 295. Ebd.

102

Biographie und Geisteswissenschaften

senschaftliches Äquivalent findet man in der gleichzeitig entstehenden Theorie der Gesellschaft317. Der Inhalt der dritten Kunstform ist »die Darstellung des Zusammenhanges geschichtlicher Bedingungen mit geschichtlichen Charakteren und Schicksalen«318 : Historische Dramen und Romane sind ihre Hauptformen319. Biographie, Gesellschaftslehre und moderne historische Wissenschaft korrespondieren – auf der wissenschaftlichen Seite – mit dieser neuen Theorie der Literatur, die sich für die Individualität interessiert320. Besonders die moderne historische Wissenschaft, die auf Voltaire, Hume und Gibbon zurückgeht, habe »in Deutschland und im Zeitalter unserer klassischen Poesie des geistigen Zusammenhanges geschichtlicher Zeiten sich bemächtigt«321. Die ersten beiden Formen, Biographie und Gesellschaftslehre, haben ihre Wurzeln im Roman, in dem »das bedingte und komplizierte Leben am vollsten, weitesten und feinsten und doch zugleich nach seinen gleichsam physiologischen Zusammenhängen zur Darstellung kommt«322. Die psychophysischen Einflüsse auf die Bildung der menschlichen Typen werden beispielsweise in Goethes Wahlverwandtschaften dargestellt. Zugleich ermöglicht der Roman, die Bedingungen, Zusammenhänge und Stufen einer Bildungsgeschichte darzustellen. In Wilhelm Meister »wird nach Rousseaus Vorgang der Bildungsroman begründet«323. Der soziale Roman vertieft solche Themen; Balzac, Zola und Keller erhellen am besten die neue Macht der Naturwissenschaften. Die Entwicklung einer Literatur, welche die Individualität erhellen möchte, geschieht Dilthey zufolge zusammen mit der Wissenschaft: Mit Goethe beginne die wissenschaftliche Betrachtung des individuellen Lebens, die sich wesentlich aus den profunden Studien der Literatur speise. Ihrerseits bieten die Forschungen über die organische Welt fundamentale Erkenntnisse über die Prozesse der Individualisierung in der menschlichen Welt und zeigen die Notwendigkeit einer vergleichenden Betrachtung der verschiedenen Menschentypen324. Dilthey zufolge ist seine eigene Epoche dadurch charakterisiert, dass die vergleichende Methode in der wissenschaftlichen Forschung angewendet wird. Die Biographie entsteht also innerhalb des neuesten wissenschaftlichen Ansatzes und stellt den wichtigsten Berührungspunkt zwischen Kunst und Wissen-

317 318 319 320 321 322 323 324

Ebd., S. 296. Ebd. Ebd., S. 300. Ebd., S. 296. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 273f.

Kunst und Wissenschaft: Die Individualisierung

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schaft dar, da sie die im 18. Jahrhundert entstandenen, vielfältigen anthropologischen Erforschungen der Naturgeschichte des Menschen zusammenfasst. Eine solche Auslegung der Beziehungen zwischen Wissenschaft und Literatur, die sich in der Idee eines Naturmenschen realisiert, bestätigt den wissenschaftlichen Charakter der Biographie; das war auch das Ziel Diltheys325. Am Ende der literarischen und wissenschaftlichen Entwicklungen in Europa sind Psychologie und Biographie verbunden, um den Horizont der zukünftigen Geschichte der abendländischen Kultur zu bestimmen. Ist »die detaillierte Beschreibung und Analyse des Gleichförmigen im menschlichen Lebenslauf hinlänglich vorbereitet«, fehlt für Dilthey noch eine wissenschaftliche Betrachtung der menschlichen Entwicklungsgeschichte326. Ähnlich hat die moderne Biographie bedeutende Erkenntnisse gewinnen können, um das Individuum und das Verhältnis zwischen Individuellem und Allgemeinem besser zu verstehen. Um die Kenntnis vom Menschen, die auch die individuellen Unterschiede trotz der Gleichartigkeit seiner Natur sehen kann, zu vertiefen, gilt es, so Dilthey, das uns von der Geschichte zur Verfügung gestellte entwicklungsgeschichtliche Material zu sammeln. Besonders im 18. Jahrhundert trete »eine natürliche Auffassung des Lebens, gleichsam eine Naturgeschichte des Seelenlebens im 18. Jahrhundert in den Gesichtskreis der Gebildeten«327 ein. So wurden von Rousseau, Goethe, Novalis, Dickens und Keller »einzelne Typen von solchen Entwicklungsgeschichten geschaffen«328. Diese mit der Biographie verwandten Formen liefern Material für die Vertiefung der wissenschaftlichen Kenntnis des Menschen. Das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft passt also zu den wahren Bedürfnissen von Diltheys Epoche: Die »Epoche des Realismus« nennt Dilthey seine Zeit. Sie entsteht aus den modernen Bewegungen der Humanisierung und der Säkularisierung, die die Realität ohne Bezug auf jenseitige Dimensionen begreifen wollen. Besonders in einem Aufsatz aus dem Jahre 1892, Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe329, vertieft Dilthey diesen Gedanken mit Rückgriff auf die moderne Kunst, deren Anfänge in der Julirevolution von 1830 in Frankreich liegen (nicht zufällig setzt er 1830 den Anfang der biologischen Bestimmung der Individualität an). Von dort ausgehend transformierte sich die europäische Gesellschaft immer stärker gemäß den Prinzipien einer vollständigen Säkularisierung des geistigen Lebens. Das Ende des alten Europas spiegelt sich in einer Literatur wider, die »dem lastenden Gefühl Ausdruck geben [will], die Lebensordnungen der Gesellschaft seien alt, 325 326 327 328 329

Vgl. GS V, S. 273f. Vgl. ebd., S. 224. Ebd. Ebd. GS VI, S. 242ff.

104

Biographie und Geisteswissenschaften

greisenhaft, brüchig, unhaltbar geworden«330. Schriftsteller beschreiben die Tatsachen und »sezieren« die Realität: Sie möchten »die Anatomie und die Physiologie eines gegebenen Teils der Wirklichkeit« offenlegen331. Dieser Naturalismus analysiert psychologisch und zwar »von Tiefen zu Höhen«, das heißt, er sieht in den Instinkten und Gefühlen die wichtigsten erklärenden Elemente der Wirklichkeit. Die Epoche des Realismus »kennt die zeit- und raumlosen Ideale« nicht mehr und »überall wird die natürliche Erhebung des Idealschönen über die gemeine Wirklichkeit […] dem Bedürfnis nach der unverstümmelten Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit der Sachen geopfert«332. Die typische Sprache der Krise, die jedes Mal auftritt, »wenn eine Epoche der Kunst abgelaufen ist«333, sei der Naturalismus, »der Protest der Wahrhaftigkeit gegen die ganze überlieferte Formensprache«, die sich im 15. und 16. Jahrhundert für ein anderes Publikum herausgebildet hatte334. Der Naturalismus will »eine neue innere Form des Kunstwerkes, einen neuen Stil, eine neue Technik in den einzelnen Künsten« schaffen335. Nachdem die Wissenschaft gelehrt hat, die naturgesetzlichen Zusammenhänge des Realen zu begreifen, sei es notwendig, auch den Menschen in seiner gesellschaftlichen, geschichtlichen und natürlichen Bestimmung zu verstehen. Der Künstler versucht, die reale Struktur des natürlichen Gesetzes auszudrücken, in dem der Mensch mit seinem Charakter mit absoluter Wahrhaftigkeit interpretierbar wird. »Das Verhältnis des Arbeiters zur Maschine, des Bauern zu seinem Boden, die Verbindung von Personen in einem Werk und einer Arbeitsleistung, genealogische Abfolge und Vererbung, reales Verhältnis der Geschlechter, die Beziehung der Leidenschaft zu ihrer sozialen und pathologischen Grundlage, des Helden zu einem bunten Gemenge von ungenannten Menschen, die ihn tragen; solche reale Bezüge sucht die Kunst überall«336. In diesem Sinn ist die Biographie für Dilthey eine äußerst realistische Form, in der Kunst und Geschichte sich durch einen objektiven Blick auf die Wirklichkeit entfalten. Wie schon oben angedeutet, gilt die Biographie als Abschluss des besonderen Weges des Abendlandes, der in der wissenschaftlichen Forschung zur Zeit Diltheys eine entscheidende Phase erlebt. Unter verschiedenen Gesichtspunkten erscheint die Biographie für Dilthey wichtig: Im Licht der menschlichen Geschichte postuliert sie die Entwicklung als zentrale Kategorie des Lebens. Dadurch übersetzt sie in ihrem konkreten Schreiben einen Hauptbegriff der 330 331 332 333 334 335 336

Ebd., S. 243. Ebd. Ebd., S. 245. Ebd., S. 284. Ebd. Ebd. Ebd., S. 285.

Die Beschreibung der Individualität: Struktur und Entwicklung

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deutschen Kultur ; indem sie den Menschen als Naturwesen konzipiert, sieht sie das Individuum als »Produkt« der Umstände und überträgt die neuen Entdeckungen der Naturwissenschaften in die historische Welt. In der Biographie durchdringen sich alle Facetten der abendländischen Kultur gegenseitig. Sie ist ein Bestandteil der aus der vergleichenden Methode entstandenen Morphologie: Indem sie Einblicke in die verschiedenen Menschentypen bietet, zeigt sie deren Entstehung in engem Zusammenhang mit ihren jeweiligen Umständen. Damit schlägt sie eine Brücke zu den Naturwissenschaften; sie überträgt deren Idee der Wechselwirkung in die soziale Welt. Danach wirken die Einflüsse der Natur über das Nervensystem ständig auf die psycho-physische Einheit und diese wirkt ihrerseits auf die Natur zurück. Zusammenfassend beschreibt Dilthey die moderne Biographie als »die am meisten philosophische Form der Historie«, weil »der Mensch als die Ursache aller Geschichte ihren Gegenstand« bilde337. Auch in späteren Phasen bleibt die Biographie in Diltheys Reflexion zentral: Sie wird zum Bezugspunkt für die Konzeption der Geisteswissenschaften und gilt als wichtiger Hintergrund der Psychologie, die zum innovativsten Element der diltheyschen Philosophie wird. Die Lebensbeschreibung spielt eine zunehmend wichtige Rolle und betrifft immer neue Forschungsbereiche. Die Aufsätze Idee über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) und Beiträge zum Studium der Individualität (1895–1896) stellen die diltheysche Psychologie in Abgrenzung zur zeitgenössischen naturalistischen Psychologie dar. Die Aufsätze betrachten die Verbindungen zwischen Psychologie und Biographie.

4.

Die Beschreibung der Individualität: Struktur und Entwicklung

Die in dem Werk Leben Schleiermachers und dem Aufsatz Über die Einbildungskraft der Dichter festgestellte Notwendigkeit, die Individualität und Kreativität als Quelle der Geisteswissenschaften zu erhellen, erweist sich als komplexe Anforderung. Sie findet in den Aufsätzen über die Psychologie eine neue Klärung. Um die Probleme, die sich beim Verfassen von Leben Schleiermachers herauskristallisierten, zu lösen, führt Dilthey den Begriff der psychischen Struktur ein. Die diltheysche Psychologie wendet sich bekanntermaßen gegen die Idee einer einfachen Kausalität zwischen einzelnen Elementen, wie sie die hypothetisch-naturalistisch basierte Konstruktion des Seelenlebens konzipiert. Dilthey strebt danach, mittels der analytischen und beschreibenden Dis337 GS V, S. 225. Hervorhebung durch die Verfasserin.

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Biographie und Geisteswissenschaften

ziplin den allgemeinen Zusammenhang der Psyche darzustellen. Drei Momente bilden diesen Zusammenhang: Struktur, Entwicklung und erworbener Zusammenhang des Seelenlebens. In der psychischen Struktur, deren Definition die Lösung des erkenntnistheoretischen Problems der Beziehung des Individuums mit der äußeren Welt voraussetzt338, findet Dilthey ein Modell, um die Beziehung zwischen Individuum und Welt darzustellen. Diese Struktur drückt die Artikulation der inneren Zustände der Lebenseinheit, also des Individuums, aus, die von der Umwelt beeinflusst wird und ihrerseits auf diese zurückwirkt. Was über alle Veränderungen der psychischen Zustände hinweg fortdauert, ist »das Korrelatverhältnis des Selbst und der gegenständlichen Welt«339. Die in Leben Schleiermachers vorkommenden Elemente – die Zentralität des Gefühls im Seelenleben, die allmähliche Bildung einer festen Individualität, die Ursprünglichkeit und das Primat der Triebe – werden in der Strukturtheorie in einer neuen Terminologie gefasst und zum Teil besser erklärt. Um eine beschreibende Psychologie zu begründen, die den Menschen in seiner Ganzheit begreifen kann, muss die Struktur mit der psychischen Entwicklung verbunden werden. Die Biographie ist genau diese Verbindung zwischen Entwicklung und Struktur ; sie bildet die erste Voraussetzung der beschreibenden Psychologie, das Hauptmittel gegen jede Assoziationstheorie, die das Leben auf einfache Elemente zurückführt. Der gegenseitige Einfluss von Struktur und Entwicklung aufeinander ist zweckorientiert und wurzelt in Trieben und Gefühlen. Entwicklung definiert Dilthey als selbsttätige Änderung in einem Lebewesen. Eine solche Änderung wird von den Trieben motiviert, die das Individuum vorwärts treiben340. Von diesen treibenden Elementen her werden die intellektuellen Prozesse und die Handlungen so geregelt, dass sie die Anpassung des Individuums an die Weltumstände ermöglichen. Die Befriedigung der Instinkte, die immer die Bewegung in Richtung eines Glückszustandes impliziert, bringt eine Artikulation des Seelenlebens hervor, das die Glückseligkeit vermehrt. In der Strukturtheorie sind Triebe und Gefühle, die in Leben Schleiermachers die Jugendjahre und die Erziehung des Protagonisten beherrschen, prioritär. Der Lebenswert ist nämlich damit verbunden, sich selbst zu erhalten, und wird selbstverständlich über das Verhältnis mit der äußeren Welt bemessen. Im Gefühlsbereich erwirken die äußeren Lagen Einengung oder Entfaltung (Zunahme) und »aus dieser Gefühlslage entsteht erst ein Streben, den gegebenen Zu338 Die Definition legt Dilthey vor in Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht. GS V, S. 90ff. 339 Ebd., S. 200. 340 Ebd., S. 218.

Die Beschreibung der Individualität: Struktur und Entwicklung

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stand zu erhalten oder abzuändern«341. Aus einer solchen Wertbestimmung, die sich wesentlich in der Selbsterhaltung ausdrückt, resultiert die Idee der Zweckmäßigkeit. Sie ist das Wesen des Seelenlebens: Dieses strebt danach, »in Befriedigung und Freude Lebenswerte hervorzubringen«342. Weil die Existenz durch die Zweckmäßigkeit charakterisiert ist, ist sie vom Gefühl abhängig und mit der äußeren Welt verbunden, sodass »die biologische Lebenseinheit die Bedingungen ihres Milieus zu benutzen [sucht], um Lustgefühl und Triebbefriedigung herbeizuführen«343. Von außen gesehen ist sie »mit ihren Trieben und Gefühlen auf die Erhaltung ihrer selbst und ihrer Gattung angelegt«344. Das Verhältnis zwischen Lebenseinheit und äußerer Welt, das heißt deren Wechselwirkung345, übersetzt das Begriffspaar Entwicklung und Rückwirkung, das die Basis von Leben Schleiermachers war. Auf Grundlage der Strukturtheorie beleuchtet Dilthey die Ideen von Zweckmäßigkeit und äußerem Einfluss, durch die er die Entwicklung als Anpassung mit dem Ziel der Trieb- und Gefühlsbefriedigung einführt. In dem Modell der Entwicklung zeichnet sich der Sinn der Kontinuität im individuellen Seelenleben ab, die in Leben Schleiermachers noch widersprüchlich erschien: Dort bestand noch ein ungelöster Widerspruch zwischen einer inneren Dialektik des Individuums und der bereits vor ihm existierenden Bestimmung seines Schicksals. Das Seelenleben wird von Dilthey als eng zusammenhängend konzipiert: Die einzelnen Momente des psychischen Lebens bilden bei ihm ein Ganzes, das nicht hypothetisch ist346. Indem er die Idee der Kontinuität des Seelenlebens zugrunde legt, bezieht Dilthey Position gegen jede Annahme einfacher und zwangsläufiger Kausalitätenketten, die die Momente des Lebenszusammenhanges verbinden. Lehnt er die Möglichkeit ab, aus einer organischen oder psychischen Funktion deren zwangsläufigen Einfluss auf andere Funktionen abzuleiten, so denkt er auch, dass keine notwendige Kontinuität im allgemeineren Kontext des psychischen Zusammenhanges besteht. Die ganze Lebensgeschichte, die sich in der Zeit entfaltet, ist vielmehr von Kontinuität charakterisiert347. Mit dieser Idee einer nicht notwendigen Kontinuität verbindet sich ein weiteres Thema, das zentral für die Biographie von Schleiermacher war : die Bestimmung des Individuums auf Grundlage seiner Lebensumstände. Diese Her341 342 343 344 345

Ebd., S. 205. GS V, S. 210. Ebd. Ebd. Dilthey charakterisiert die Wechselwirkung als Gesetz der organischen Natur, als »Anpassung zwischen der psychophysischen Lebenseinheit und den Umständen, unter welchen sie lebt«. GS V, S. 212. 346 Ebd., S. 144. 347 Ebd., S. 220.

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Biographie und Geisteswissenschaften

angehensweise wird in Leben Schleiermachers durch die Theorie des erworbenen Zusammenhanges begründet. Die zweckmäßige Struktur führt zu einer Artikulation des Seelenlebens, die erlaubt, mit der Struktur Verbundenes dauerhaft zu erwerben und dabei konsequenterweise auch »die Herrschaft über die einzelnen bewussten Vorgänge«348. Diese Artikulation erschafft den erworbenen Zusammenhang, der die Antwortfähigkeit des Individuums ermöglicht und sich bis »in das höchste Greisenalter« entwickelt349. Ab einem bestimmten Punkt des Alterungsprozesses aber kann sich der psychische Zusammenhang keine weiteren Elemente mehr aneignen350. Auf der Grundlage der Zweckmäßigkeit ergibt sich also eine Art unbewusste Antwort auf die äußeren Einflüsse und Beanspruchungen, die eine von dem schon Erlebten induzierte Anpassung produziert. Diese Dimension bildet die von der Erfahrung geschaffene Basis der Kontinuität für das Seelenleben. Die Biographie erweist sich als ein Bestandteil der allgemeinen Strukturtheorie. Dilthey zufolge ist diese Theoriebildung nicht nur zentral, um eine allen Menschen gemeinsame Struktur zu ermitteln, sondern auch, um die Analyse der Struktur zu vertiefen, die die einzelnen Zusammenhänge berücksichtigt. Die Aufgabe der Psychologie sei es, die Grundbestandteile und die Beziehungen innerhalb dieses allgemeinen Strukturzusammenhanges, der sich in jedem entwickelten Seelenleben gleichermaßen findet, darzustellen351. Aus der beschreibenden Perspektive ist der ursprüngliche Gegenstand der Psychologie kein einzelner psychischer Prozess (z. B. die Wahrnehmung), sondern »der entwickelte Mensch und das fertige vollständige Seelenleben«352 : Die Biographie gewinnt eine zentrale Rolle, genau weil sie »die ganze Totalität des Seelenlebens, die in ihr bestehenden Zusammenhänge, und zwar neben ihren Formen auch ihre Inhaltlichkeit« verständlich macht353. Dieser Bedarf ist zentral für die Kritik der experimentellen und hypothetischen Psychologie: Das ganze Seelenleben in seiner unterschiedlichen und weitesten Entfaltung sollte ohne Reduktion auf einfache psychische Elemente analysiert und beschrieben werden. Die Biographie ist demzufolge unentbehrlich, weil wir »ein gewisses Verständnis des Höhepunktes einer individuellen Entwicklung erlangt haben [müssen], bevor wir deren Stufen zu bestimmen vermögen, wie denn andererseits von der Kenntnis dieser früheren Stufen her das ausgestaltete individuelle Seelenleben eine hellere Beleuchtung empfängt«354. Die Geschichte ist 348 349 350 351 352 353 354

GS V, S. 217. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 152. Ebd., S. 169. Ebd., S. 156. Ebd., S. 214.

Die Beschreibung der Individualität: Struktur und Entwicklung

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weder als eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zu denken, noch ist sie durch irgendeine Zweckmäßigkeit vorhersehbar, denn die einzelnen »Akte, in denen diese Entwicklung sich vollzieht, schaffen ein in den früheren Zuständen noch nicht Aufzeigbares«355. In dieser Theorie ist die Struktur gleichförmig und der Ausdruck des Allgemein-Menschlichen; die Entwicklung ist dagegen das Spezifische und an die Umstände gebunden. Allgemeine Menschennatur und Individualisierung finden auch Eingang in die Biographie und erhellen sich gegenseitig. Da deren Kenntnis »nur analytisch vom erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens auf die Bedingungen und die Faktoren seiner Entwicklung [zurückgehen kann]«356, ist die Biographie notwendig: Wir verstehen »ein Individuum, so nahe es uns stehen mag«, erst dann, »wenn wir erfahren, wie es geworden ist«357. Die Psychologie Diltheys nimmt also die Kritik an der romantischen Konzeption auf, die schon in Leben Schleiermachers präsent war. Mithilfe des Konzepts des erworbenen Zusammenhanges des Seelenlebens, das zeigt, dass die psychischen Zustände nicht voneinander ableitbar sind, verstärkt Dilthey die Idee einer Entwicklung der Individualität, die aber nicht zwangsläufig ist. In diesem Sinne ist die Individualität weder klar umrissen noch entwickelt sie sich notwendigerweise von einem Kern ausgehend: Sie formt sich vielmehr frei. Gegen die Idee eines sich selbstentwickelnden Kernes, die in Leben Schleiermachers noch in Ansätzen existierte, zeichnet Dilthey hier nun eine Konzeption von Individualität, die der Welt gegenüber offen ist. Damit zeigen sich deutliche Unterschiede im Vergleich mit der noch unsicheren Stellungnahme seines Jugendwerkes. Er lehnt jede Metaphysik ab, die die Entwicklung als Entfaltung – oder mit den Worten Diltheys als »Auswicklung« – eines Zusammenhanges sieht, oder eines Kernes, der sich in einer Reihe von Übergängen entfaltet und innerhalb dessen »der Vollendungspunkt und das Ende in dem Anfang angelegt [war] und auf dem Vollendungspunkt erst zum Vorschein kommt, was im Anfang enthalten war«358. Auch die Vorstellung der Naturwissenschaften, dass die psychische Entwicklung der physischen folge, ist für Dilthey unhaltbar. »Wir können das, was im seelischen Verlauf einem erreichten Zustande demnächst folgen wird, nicht voraussagen«, sondern im Gegenteil: »Nur nachträglich können wir die Gründe dessen, was geschehen ist, aufzeigen«359. In dieser Ablehnung jeder Teleologie bekräftigt Dilthey die Idee der Kreativität als nicht ableitbares Element. In diesem Sinne erhellt die psychologische Theorie vor allem die genialen und un355 356 357 358 359

Ebd., S. 218. Ebd., S. 214. Ebd., S. 213. Ebd., S. 222. Ebd., S. 224.

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Biographie und Geisteswissenschaften

bestimmbaren Aspekte des individuellen Lebens, wie sie schon in dem Aufsatz aus dem Jahre 1878 vorkamen. Die Unableitbarkeit der Entwicklung charakterisiert nämlich auch die Geschichte selbst, sodass »in den großen schöpferischen Epochen eine Steigerung [eintritt], welche aus den früheren Stufen nicht abgeleitet werden kann«360. In der psychologischen Konzeption Diltheys verliert die Teleologie ihre Merkmale und wird zum zentralen Begriff für das Verständnis der Entwicklung: Das Individuum als Lebenseinheit strebt nach einem Ziel, das nicht unbedingt erreicht wird. Das Ziel geht völlig in den Umständen auf, in denen sich das Individuum befindet, und dieses Ziel kann nicht von der Wechselwirkung absehen. Daraus folgt für Dilthey die Unmöglichkeit, eine Lebensgeschichte im Sinne der teleologischen Vorstellung zu konzipieren, derzufolge das Leben als Verwirklichung eines gegebenen Zwecks oder als Entfaltung eines Wesens interpretierbar ist. Dagegen hat für Dilthey »[j]ede Epoche des Lebens in sich einen selbständigen Wert«361, weil sie mit der psychischen Struktur verbunden ist, die organisiert ist, um Glückseligkeit und Befriedigung der Lebenseinheit in den gegebenen Umständen zu gewährleisten. In der Entwicklung strebe jeder Lebenszustand danach, seinen eigenen Lebenswert zu erreichen und zu bewahren362. Deswegen muss die Biographie all jene Elemente, die diese Zweckmäßigkeit beeinflussen, einbeziehen. Das betrifft die Einflüsse des Leibes sowie des physischen und geistigen Milieus, in dem das Selbst sich entwickelt – das alles sind Elemente, die in eine Biographie einzubeziehen sind. Diese sollte »die Beziehungen der seelischen Struktur nach den Relationen von Zweckmäßigkeit und Lebenswert zu den anderen Momenten der Entwicklung« erfassen und »die Bilder der Lebensalter, in deren Zusammenhang diese Entwicklung gelegen ist«, nach den bedingenden Faktoren zeichnen363. Dilthey beleuchtet auch den Charakter der verschiedenen Epochen des Lebens. In der Kindheit, der »Morgendämmerung, in der Höhen und Weiten noch verschleiert daliegen«, in dieser »ersten Unabhängigkeit und der frischen Beweglichkeit aller Regungen der Seele […] bilden sich die Ideale des Lebens«364. Im Alter dagegen beherrscht die Form die Seele, während »die Organe des Körpers unkräftig werden; eine gemischte und gedämpfte Stimmung über dem Leben, welche aus der Herrschaft einer Seele, die vieles in sich verarbeitet hat, über die einzelnen Gemütszustände entspringt: das ist auch, was den künstlerischen Produktionen des Alters ihre eigentümliche Erhabenheit gibt«365. In 360 361 362 363 364 365

Ebd. Ebd., S. 218. Ebd. Ebd., S. 225. Ebd. Ebd.

Die Beschreibung der Individualität: Struktur und Entwicklung

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dieser Perspektive hat auch das Alter offene Entwicklungsmöglichkeiten: Es wird nicht einfach als Kristallisierung der bestehenden Form angesehen, als Realisierung dessen, was im Kern schon in der Jugendzeit präsent war. Vielmehr wird mithilfe der Theorie des erworbenen Zusammenhanges des Seelenlebens ein Vervollkommnungsprozess gezeigt, der sich bis zum Ende des Lebens erstreckt. Wird der äußere Einfluss auch allmählich schwächer, kann doch der Bildungsprozess »einer herrschenden Ideenmasse, einer artikulierten geistigen Organisation, einer Festigung der Gestalt des seelischen Lebens« noch bis zum Ende des Lebens zunehmen366. Das Alter verliert seinen statischen Charakter, weil das Seelenleben mitsamt seiner Artikulationen noch aktiv ist. Dilthey bewahrt die Grundmomente der Ausbildung der Individualität, die er in Leben Schleiermachers bestimmt hatte (unbewusste Dimension, Anschauung, Lebensideal367), aber er findet eine neue Formulierung für die Frage der Denkentstehung. In Leben Schleiermachers spielte sich die Dialektik Leben-Denken ab zwischen der Unmöglichkeit einer ausführlicheren historischen Bestimmung und der Anerkennung der genialen Kreativität. In der Psychologie charakterisiert Dilthey das Denken als von Gefühl und Willen abhängige Dimension. An die Stelle einer Dialektik der Aufhebung tritt nun die Idee einer lebendigen Wurzel als Voraussetzung für jedes Denken. Aus dieser Perspektive ist die biographische Beschreibung der aus Trieben und Gefühlen entstandenen Entwicklungsgeschichte eines Menschen für das Verständnis des Denkens notwendig. Die persönliche Kreativität als Tätigkeit des psychischen Ganzen bedarf der Biographie, da die intellektuelle Dimension auf Trieben und Gefühlen gründet und von diesen abhängt: Das Denken ist nur im Licht des Lebens verständlich. In der Theorie des erworbenen Zusammenhanges des Seelenlebens findet sich auch eine Lösung für das Problem des Zusammenhanges zwischen Leben und Werk: Demnach ist das Werk als psychisches Produkt nur im Licht des Lebens verständlich, das es produziert hat. Alle weiteren psychischen Produkte, die aus den seelischen Beziehungen von Menschen entstanden sind, sind auf Grundlage des Erlebten zu verstehen368. Diese Erweiterung des psychischen Lebens um die gesamte menschliche Welt, das heißt, um alle Bereiche, in denen der menschliche Geist aktiv ist, fand seine Begründung schon in der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Hier ist besonders die Idee des Individuums als Fundament der ganzen geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zu erwähnen. Mit dem Willen, das Verhältnis zwischen schöpferischer Persönlichkeit und Umwelt zu erhellen, hatte Dilthey dieses Verhältnis – als Kern des Problems des 366 Ebd., S. 220. 367 Vgl. dazu die Analyse von Leben Schleiermachers im zweiten Kapitel. 368 Vgl. GS V, S. 157.

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Biographie und Geisteswissenschaften

Lebens selbst – durch erzählerische Kunstgriffe und neue Schlüsselbegriffe (wie in Kapitel 2 dargestellt) ausgedrückt. Diese finden erst in den späteren Jahren seiner intellektuellen Tätigkeit ein stabiles Fundament. Die Entstehung der Individualität, die sich aus der unbewussten Dimension der Triebe und aus der Phantasie in die begriffliche Sphäre entwickelt, wird jetzt in eine Theorie des psychischen Lebens übersetzt. Letztere umfasst Strukturzusammenhang, Entwicklung und erworbenen Zusammenhang, das heißt, die statische Dimension der Seele, ihre Veränderung und ihre Beziehung mit den Elementen, die in der Seele schon gegenwärtig sind. Auf die immer bestehende Versuchung, eine unerklärliche Genialität des Individuums zu behaupten, antwortet Dilthey jetzt mit der Theorie der Vollkommenheit des Seelenlebens. Demzufolge fußt die Energie des Seelenlebens auf der allen Menschen gemeinsamen Struktur : Ist das Seelenleben auch nicht völlig erklärbar, lässt es sich dennoch auf allgemeine Gesetze zurückführen. In der Theorie des erworbenen Zusammenhanges wurzelt die Konsolidierung des Denkens, auf dessen Grundlage Dilthey ausschließlich die Jugend Schleiermachers betrachtet hatte. Durch die Theorie der Entwicklung als dem von dem Wert bestimmten Zweck vermeidet er jede romantische Illusion, die die Individualität als selbstentwickelnden Kern ansieht. In der Psychologie findet Dilthey endlich eine Lösung für das Schwanken zwischen der dialektischen Konzeption der Lebensgeschichte und ihrer wesentlichen Unerklärbarkeit. Dilthey postuliert, dass die psychische Struktur das Fundament jedes Verständnisses des Individuums ist: Darum zeige sich die Biographie als Mittel, das Individuelle zu verstehen (und damit als Basis für jeden Fortschritt in der Kenntnis der historischen Welt als Welt der Individuen). Die Biographie selbst basiert auf der Idee des Individuums und zeigt sich als Produkt eines langen historischen Prozesses.

5.

Gleichförmigkeit, Individuation, Typus

In den psychologischen Schriften unterscheidet Dilthey die allen Menschen gemeinsame psychische Struktur, die eine gemeinsame Kulturwelt ermöglicht, und das Individuelle sowie Spezifische jedes Einzelnen. So produziert er eine Spaltung – und einen Unterschied zum Generationsmodell von Leben Schleiermachers, in dem die beiden Horizonte zu einer einheitlichen Konzeption verschmolzen werden sollten. Diese Spaltung zwischen »Allgemeinen« und »Individuellen« – das erste als Objekt der allgemeinen Psychologie, das zweite als Objekt der vergleichenden Psychologie – eröffnet eine neue Perspektive in Bezug auf die nicht gelöste Verbindung zwischen dem Gesetz der individuellen Entwicklung und der Unerklärbarkeit des Einzelnen. Die Gleichförmigkeit der menschlichen Seele ermöglicht Dilthey, die gemeinsamen geistigen Produkte

Gleichförmigkeit, Individuation, Typus

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und die Individualität zu begreifen. Dadurch können die verschiedenen Phasen der Entwicklung und die Funktionen des psychischen Lebens hinsichtlich der verschiedenen inneren Zuständen bestimmt werden. Zugleich ist diese Gleichförmigkeit für die Biographie entscheidend, weil sie die Unerklärbarkeit des Individuums, die in Leben Schleiermachers noch zugrunde gelegt war, auflöst. Auf Grundlage der psychischen Übereinstimmungen sind die verschiedenen Elemente, die bei der Individuation mitspielen, bestimmbar : Dilthey strukturiert damit die Genese des Individuums, verglichen mit der individuellen Dialektik in Leben Schleiermachers, neu. Trotz dieses Fortschrittes ist die Trennung von Individuellen und Allgemeinen nicht völlig eindeutig: Man kann die individuellen Differenzen nicht negieren und menschliche Uniformität postulieren. Denn einerseits »[erhebt sich] auf der Grundlage aller dieser Gleichförmigkeiten das Singulare«, andererseits ist »der Individuation des Wirklichen wesentlich, daß gewisse Grundformen, welche wir hier zunächst als Type bezeichnen wollen, in dem Spiel der Variationen immer wiederkehren«369. Neben der für die Geisteswissenschaften typischen Bewertung des persönlichen Elements, solle man laut Dilthey »die Aufgabe, Unterschiede, Abstufungen, Verwandtschaften, kurz die Individuation dieser menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit nach ihren Zusammenhängen« erfassen370. Die Analyse und die Klassifizierung solcher Typen ist die Aufgabe der vergleichenden Psychologie, die Differenzen und Gemeinsamkeiten der Charaktere erhellt. In der Biographie besteht also zwischen der Gleichförmigkeit des Seelenlebens und der Individuation kein direktes Verhältnis, anders als noch in Leben Schleiermachers, wo ein solches Verhältnis dank der Universalität des Lebensmodels zugrunde gelegt war. Man findet nun vielmehr eine Vermittlung unter Typen, eine Klassifizierung der Formen nach den verschiedenen Umständen, in denen sie entstehen. Der Kontext, in dem sich das Individuum entwickelt, wird damit in die Betrachtung einbezogen, da bestimmte Unterschiede »in dem physischen und geistigen Milieu […] bestimmten Unterschieden in der Individuation [entsprechen]« und »der einfachste und primäre Fall die Einzelperson, umgeben von ihrem Milieu, oder anders ausgedrückt, unter physischen und geistigen Umständen [ist]. Darstellung dieses Verhältnisses ist jede Lebensgeschichte«371. Auf den Spuren der biologischen Forschung und auf der Basis der Idee der 369 Ebd., S. 270. In Bezug auf die verschiedenen Bedeutungen des Typusbegriffes bei Dilthey vgl. H.-U. Lessing, Der Typus zwischen Ordnungs- und Aufschließungsfunktion. Anmerkungen zum heuristischen Status des Typus-Begriffs bei Wilhelm Dilthey und Max Weber, in F. Rodi (Hg.), Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Zur Entstehung des Neuen, Velbrück Verlag, Weilerswist 2003. 370 GS V, S. 266f. 371 Ebd., S. 270f.

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Biographie und Geisteswissenschaften

Naturhaftigkeit des Menschen bezieht sich Dilthey auf ein allgemeines Modell vom Menschen, in dem dieser eine typische Entwicklung zeigt. Auf Grundlage dieses Menschentypus habe die Neuzeit angefangen, verschiedene menschliche Typen als Variationen des allgemeinen Typus zu klassifizieren. Die Biographie würde dabei einerseits aus dieser modernen Idee eines Menschentypus entstehen, andererseits bietet sie selbst den Stoff für die Klassifikation von »möglichen Typen« auf Grundlage der Gleichförmigkeit. Die Psychologie strebe danach, »die Beschreibung und Analysis des reifen und fertigen Typus Mensch gleichsam durch eine allgemeine Biografie dieses Typus zu ergänzen«372. Als allgemeines Entwicklungsmodell drückt die Biographie deshalb den anthropologischen Sinn der diltheyschen Psychologie aus: In seinen historiographischen Forschungen rekonstruiert Dilthey den Weg vom Menschen als allgemeingültigem Paradigma, wie er in der mittelalterlichen Theologie und Metaphysik konzipiert war, zu dem Menschen als Typus, mit seinen Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Charaktere. Neben der Biographie als individueller Lebensbeschreibung findet man also eine Biographie des menschlichen Typus mit einer typischen Entwicklung und einer gemeinsamen Struktur. Psychologie und Anthropologie verbinden sich mit der Biographie der einzelnen Individuen und mit der Auslegungsfrage der »großen« Persönlichkeiten373. Nicht zufällig spielt in der Anthropologie, die den »allgemeinen Menschentypus« erkunden will, die biographische Methode eine zentrale Rolle: Wie bei der Entwicklungsgeschichte eines konkreten Individuums muss man den schon entwickelten Menschen betrachten. Ebenso geht man in der Anthropologie »von dem entwickelten Kulturmensch« aus374. Kulturmenschen und Erwachsene sind also Subjekte der vergleichenden Psychologie, denn eine gewisse Abgeschlossenheit der Entwicklung ist notwendig: Dadurch wird der Typus Mensch mitsamt der ersten Stufen eines sich noch entwickelnden Lebens verständlich375. Im Licht von Diltheys Psychologie wird die Rolle der Biographie im Vergleich mit dem Werk Leben Schleiermachers komplexer. Die Biographie findet sich nun 372 Ebd., S. 213. 373 Die Anthropologie Diltheys und besonders die Beziehung zwischen allgemeiner Menschennatur und Individualität wurde von Bernard Groethuysen weiterentwickelt. Dieser hebt gegen die Anthropologie von Scheler und Plessner, und zum Teil gegen Heidegger, die Dialektik in der abendländischen Tradition zwischen der Frage nach dem Menschen und der Frage nach uns selbst hervor. Die Selbstbiographie spielt in seiner Perspektive eine wesentliche Rolle für die Anthropologie. Vgl. B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie, in A. Beumler / M. Schroeter (Hg.), Handbuch der Philosophie. Abteilung III. Beitrag A, Oldenbourg, Berlin-München 1931. Hinsichtlich der Autobiographie vgl. selbstverständlich G. Misch, Geschichte der Autobiographie. Erster Band. Das Altertum. Erste Hälfte, Schulte-Bulmke, Frankfurt am Main 1949 (3 Auf.). 374 GS V, S. 157. 375 Vgl. ebd., S. 214.

Das fragile Gleichgewicht der Biographie zwischen Kunst und Geschichte

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an der Grenze zwischen Anthropologie, weil sie für deren Forschungen verschiedene Menschentypen anbietet, Psychologie, weil sie selbst Mittel und Ergebnis der Psychologie ist, und Naturwissenschaften, da sie sich mit den wissenschaftlichen Forschungen über die Individuation verbindet. Die psychologischen Aufsätze Diltheys, die mit der Jugendarbeit am Leben Schleiermachers verbunden sind, beweisen, dass die in der Einleitung in die Geisteswissenschaften postulierte enge Verbindung zwischen Biographie und Psychologie kein einfaches Desideratum ist, sondern die Entwicklung in Diltheys Denken widerspiegelt. Diese Verknüpfung ist das Ergebnis der Reflexion über seine eigene intellektuelle Erfahrung, in der die Biographie Quelle des historischen Wissens ist.

6.

Das fragile Gleichgewicht der Biographie zwischen Kunst und Geschichte

Durch den Begriff »Typus« wirkt das Verhältnis zwischen Gleichförmigkeit und Individualisierung auf die historische Auffassung der Biographie. In der Einleitung in die Geisteswissenschaften erläutert Dilthey, dass sich der Übergang von der Individualität zu der breiteren geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht unmittelbar ergibt, sondern durch drei Klassen von Objekten: die äußere Organisation der Gesellschaft, die Systeme der Kultur und die Völker376. Die Möglichkeit eines solchen Übergangs fußt auf der Uniformität der menschlichen Struktur, dank der jede menschliche Produktion eine Übereinstimmung zeigt. Eine solche Übereinstimmung macht, wie gezeigt, die geistigen Produkte erklärbar : Sie werden Objekte einer allgemeinen Theorie. Falls die diltheysche Theorie die Biographie als Basis einer immer komplexeren Konstruktion ansehen würde, in der die Individuen die Hauptelemente der Geschichte und Gesellschaft wären, wäre die Geschichte ein Produkt der Übereinstimmungen des Seelenlebens. Aus diesem Modell könnten allgemeine Wahrheiten über Geschichte und Gesellschaft abgeleitet werden. Wir hätten eine Art aus individuellen Welten bestehenden Makrokosmos, was als abstrakter historiographischer Atomismus interpretiert werden könnte. Dilthey versteht jedoch die Individuen nicht als die Hauptelemente der Geschichte und Gesellschaft. Vielmehr verwendet er den Begriff Typus und die Idee der Repräsentation in der Historiographie, um Kunst und Geschichte in eines neues Verhältnis zu setzen und sie zu verbinden. Zwischen dem Geschichtsschreiber und seinen Quellen steht immer ein Vorbild, ein Typus der menschlichen Natur, ohne den es 376 GS I, S. 42.

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Biographie und Geisteswissenschaften

unmöglich wäre, sich in der Vielfalt der Erscheinungen zu orientieren. »[N]ur der Historiker, der sozusagen von diesen Lebenseinheiten aus die Geschichte aufbaut, der durch den Begriff von Typus und Repräsentation sich der Auffassung von Ständen, von gesellschaftlichen Verbänden überhaupt, von Zeitaltern zu nähern sucht, der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinanderkettet, wird die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen, im Gegensatz zu den toten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden«377. Die Fruchtbarkeit des Typusbegriffes drückt sich auch im historiographischen Bereich aus, da er dabei hilft, die auf der Basis der Uniformitäten entstandenen Differenzen zu finden. Typus und Repräsentation werden als Mittel angesehen: »[D]ie Höhepunkte der Geschichtsschreibung [sind] immer eigentlich durch solche der Poesie bedingt«378 und die künstlerische Darstellung ist immer eine Aufgabe der Historiographie379. Typus und Repräsentation stehen in enger Beziehung, da eine typische Lebensäußerung einen ganzen Menschentypus repräsentiert. Die Schwierigkeit des Übergangs vom Individuellen zum Historischen, der in Leben Schleiermachers durch den Generationsbegriff ermöglicht wurde, findet hier eine Vermittlung in den Begriffen Typus und Repräsentation: Sie bringen das der Kunst und der Geschichte gemeinsame Element zum Ausdruck. Die Geschichtsschreibung ist eine Kunst, »weil in ihr, wie in der Phantasie des Künstlers selber, das Allgemeine in dem Besonderen angeschaut, noch nicht durch Abstraktion von ihm gesondert und für sich dargestellt ist, was erst in der Theorie geschieht«380. Zugleich, konstatiert Dilthey, bringe das künstlerische Schaffen »Typen hervor«: Er versteht das »aus dem Wirklichen herausgehobene Wesenhafte als das Typische«381, »das Wesenhafte im Singularen«382. Innerhalb der Geisteswissenschaften, in denen »die Auffassung des Singularen, Individualen […] so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten [bildet]«383, spielt die Biographie eine besondere Rolle. Als eine mit der Psychologie verbundene Methode entsteht sie aus der im Laufe der abendländischen Geschichte entdeckten Gleichförmigkeit. Als Zweig der Historiographie ist sie der Fortschritt gegenüber dem Verständnis von Individualität und von genau dieser Gleichförmigkeit unabhängig. Sie löst sich von den Merkmalen des einzelnen Menschen und der Geschichte, die typisch für die darzustellende Epoche sind. Sie konzentriert sich vielmehr auf das Unter377 378 379 380 381 382 383

Ebd., S. 34. GS V, S. 274. Vgl. GS I, S. 90f. Ebd., S. 40. GS VI, S. 186. Ebd., S. 188. GS I, S. 26.

Das fragile Gleichgewicht der Biographie zwischen Kunst und Geschichte

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schiedliche und das Individuelle384. Die Biographie als Kunst typisiert, zeigt das Wesentliche im Einzelnen, aber zugleich bewegt sie sich zum Individuellen und befreit sich von der Gleichförmigkeit. Um vom Individuellen zum Historischen überzugehen, muss man, so Dilthey, über die Grenze des historiographischen Bereichs hinauszugehen. Wollte die Biographie in Leben Schleiermachers ein wissenschaftliches Ideal befriedigen, das noch objektiv und kausal war und das deutliche Ziel hatte, alles Künstlerische in der Lebensbeschreibung zu vermeiden, wird in der späteren Psychologie das Fundament der Biographie problematisiert. In seinem Jugendwerk wollte Dilthey einen kausalen Zusammenhang finden: Mit der Ausarbeitung der Psychologie relativiert er diese Konzeption der Biographie. Die Analogie zwischen dem Historiker und dem Künstler ist nicht nur ein Topos, sondern führt den Begriff vom Typischen als privilegiertes Mittel, das Einzelne zu sehen und dadurch die historiographische Anschauung zu begründen, in die Geschichte ein. Indem Dilthey die Begriffe Typus und Repräsentation aus dem künstlerischen Bereich in den historischen überträgt, führt er eine Analogie ein, die in späteren Jahren neue und wichtige Ergebnisse bewirkt. Das auf dem Begriff Typus begründete Verhältnis zwischen Kunst und Geschichte ist für Dilthey Gelegenheit, eine neue Form der Historiographie zu konzipieren: Sie soll nicht mehr objektive Rekonstruktion sein, sondern auf Gemüt, Mitempfindung, Enthusiasmus beruhen. Kurz gefasst, die »Hingebung macht das Innere des wahren kongenialen Historikers zu einem Universum, welches die ganze geschichtliche Welt abspiegelt«385. Durch den Begriff Typus übernimmt also die Biographie die Aufgabe, das Ganze durch die Repräsentation eines historischen Objektes wiederzugeben. Durch die Nähe zur Kunst setzt Dilthey die Geschichte und das auf der inneren Erfahrung begründete Wissen gleich. Die Naturwissenschaften haben »zu ihrem Gegenstande Tatsachen, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten«; in den Geisteswissenschaften dagegen treten sie »von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auf«386. Dilthey verdeutlicht dadurch die Notwendigkeit, die Geisteswissenschaften psychologisch zu begründen, weil »in der Psychologie gerade der Zusammenhang ursprünglich und beständig im Erleben gegeben [ist]«387. Man findet so die Möglichkeit eines Verständnisses, das auf der Fähigkeit des Biographen beruht, das Leben eines Anderen wiederzuleben, also in letzter Instanz auf der Verbindung zwischen »Biographierten« und Biographen. 384 385 386 387

Ebd., S. 128. Ebd., S. 91. GS V, S. 143. Ebd., S. 144.

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Biographie und Geisteswissenschaften

Verschiedene Stufen der Typenbildung verbinden die Historiographie mit der Kunst, sodass die Biographie sich innerhalb eines weiteren komplexen Bedeutungskontextes befindet. Indem ihr kein Kausalitätsgesetz mehr zugrunde gelegt wird und sie den historischen Zusammenhang nicht mehr durch den Generationsbegriff konstruiert, erhält die Historiographie eine neue Form als abstrakte Repräsentation, in der das Wesentliche auftaucht. Das Individuum kann also Vertreter einer Epoche sein, wobei es riskiert, eine historiographische Abstraktion zu werden. In der künstlerischen Wahrnehmung von Typen liegt die Subjektivität des Dichters, dessen Werke stets die gleiche Atmosphäre zeigen: Sie spiegeln nämlich die Individualität des Schöpfers wider. Dilthey muss also in der Biographie den Wert dieser schöpferischen Subjektivität erklären.

7.

Auf dem Weg zur Jugendgeschichte Hegels

Die in diesem Kapitel analysierte Epoche kann auf keinen Fall auf eine einheitliche Perspektive zurückgeführt werden. Vom Jahre 1878, als die Konzeption der Biographie streckenweise noch positivistisch war, bis zu den Schriften der 1890er Jahre, in denen das Zentrum von Diltheys Entwicklung seiner Systematik liegt388, kann man keine lineare Entwicklung veranschlagen. Deswegen soll hier nicht die These einer kohärenten Entwicklung Diltheys von den frühen Jahren seines Schaffens bis zu den psychologischen Schriften aufgestellt werden. Der Zweck dieser Analyse ist vielmehr zu zeigen, dass die biographische Frage in der diltheyschen Reflexion präsent bleibt und dass sich in dieser Frage bereits viele Themen von Diltheys späterer Philosophie abzeichnen. Obwohl während der gerade untersuchten Phase seines Denkens keine eindeutige biographische Theorie zu finden ist, werden in dieser Zeit wichtige Punkte der Reflexion der frühen Jahre vertieft und diskutiert. Die Theorie Diltheys in den späteren Jahren ist durch die Ergebnisse des Aufsatzes Über die Einbildungskraft der Dichter bestimmt. Von der dort entwickelten These ausgehend verliert die Biographie den Bezug auf die konkrete Existenz: Sie ist nicht mehr reine Rekonstruktion der Lebenswirklichkeit und betrachtet die schöpferische Individualität. Innerhalb dieser neuen Konzeption wird die Beziehung zwischen geistiger Produktivität und Leben verändert. Die Lebensgeschichte fußt auf einem psychologischen Element, das in dem Werk Leben Schleiermachers noch unbestimmt war. 388 Ob Dilthey ein System schaffen wollte oder nicht, wird noch heute diskutiert. Neben der Einleitung in die Geisteswissenschaften, die als Einführung in ein neues System interpretierbar ist, hat Dilthey auch Vorlesungen zur Systematik verfasst, die in Hinblick auf diese Frage relevant sind, vgl. GS XX, S. 235ff.

Auf dem Weg zur Jugendgeschichte Hegels

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Zu dieser Hauptveränderung treibt nicht nur das theoretische Problem der Beziehung zwischen der Realität der Existenz und ihrer Transposition in das Werk, sondern auch eine konkrete historiographische Schwierigkeit. Letztere ist die potenzielle Unendlichkeit des biographischen Schreibens, welches das ganze Leben des Protagonisten rekonstruieren möchte. Die Bedeutung der Quellen ist der Prüfstein der neuen Ziele Diltheys: Im Vergleich mit der historiographischen Utopie der Quellenvollständigkeit, auf die das Leben Schleiermachers zielte, beginnt Dilthey nun, die Dokumente in den Hintergrund zu stellen und sich auf die Frage der poetischen Einbildungskraft zu konzentrieren. In der poetischen Einbildungskraft sieht er das allgemeine Verhältnis zwischen Leben und Werk ausgedrückt. Im Aufsatz von 1878 ist Dilthey noch mit der Begründung einer wissenschaftlichen Biographie beschäftigt, deswegen hebt er die erkenntnistheoretische Bedeutung der Biographie in den Geisteswissenschaften hervor. Überdies erkläre die Biographie – als Voraussetzung der literarischen Wissenschaft – die geistige Kontinuität als kreative Beziehung des Individuums mit der Tradition. Sie bringe den Sinn der Persönlichkeitsanalyse deutlich zum Ausdruck als Bedingung der Forschung in jedem geistigen Bereich, als antideduktives Element gegen den theoretischen Überbau. Die Bedeutung der Biographie wird in Einleitung in die Geisteswissenschaften bestätigt, wo sie eine enge Verbindung mit der Psychologie eingeht. Auch wird hier der Versuch wiederholt, die Biographie als Basis des Verständnisses des Ganzen der historischen Welt zugrunde zu legen, obwohl sich die einzelnen Elemente dieses Projektes allmählich ändern. In den Jugendjahren wurde die Biographie als ganzes Werk begriffen, in dem die Existenz als allumfassende Struktur konzipiert war. Sie konnte die Schwierigkeiten der historischen Wissenschaften erklären und um die Rolle des Individuums, das in ihnen begrenzt war, ergänzen. Die Struktur des Lebens erfasste dem jungen Dilthey zufolge alle möglichen historischen Beziehungen, da das Gesetz des Lebens als ein allgemeines konzipiert war. Mit der Einleitung in die Geisteswissenschaften begann Dilthey die Mittel zu suchen, um den Bereich des individuellen Lebens zu verlassen und die historische Welt zu betreten: Er geht endlich über die Unversöhnbarkeit der zwei Dimensionen hinaus. Die Frage der Individualität wird dann bei dem alten Dilthey vertieft. Er erreicht eine im Vergleich mit der Konzeption der früheren Jahre kohärentere Fassung und verbindet die lebensgeschichtliche mit der historisch-allgemeinen Dimension. In der psychologischen Theorie bilden sich vor allem die Ideen heraus, dass die Entwicklung des Individuums nicht zwangsläufig ist und seine persönliche Entwicklungsgeschichte nicht ableitbar. Eine solche Unableitbarkeit des Individuellen spiegelt sich wider in der Unableitbarkeit der Geschichte aus der vorigen historischen Situation. Mithilfe der psychologischen Theorie erklärt sich nicht nur die Struktur der Individualität, sondern diese Theorie bildet auch

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Biographie und Geisteswissenschaften

die Beziehung zwischen Allgemeinen und Individuellen ab. Das Allgemeine ist an ein heuristisches psycho-anthropologisches Vorbild gebunden. Das Individuelle entfaltet sich in der konkreten Existenz und findet in den Biographien seinen Ausdruck. Das Allgemeine und das Individuelle finden also ihr Fundament in der Typenbildung: Der menschliche Typus zeigt die wissenschaftliche Kraft der Biographie und ermöglicht Dilthey, eine eindeutige Fassung der Individualität zu finden, was in Leben Schleiermachers noch unmöglich war. Ein solcher Ansatz wirft erneut die ungelöste Frage nach »Kunst oder Geschichte« auf und ebenso das Problem der Rolle des Biographen, das in der psychologischen Theorie zum Teil noch nicht deutlich wurde. Eine menschliche Existenz als Objekt einer Biographie wird immer typisiert: Sie legt sich zwangsläufig auf ein Wesen des Dargestellten fest, ohne das wäre die Biographie immer ein unendliches Erzählen. Nachdem Dilthey die Idee der Biographie als Charakteristik ausgeschlossen hat, beschäftigt er sich mit der Dimension des »Lebensschreibens«, wobei Typus und Repräsentation Schlüsselbegriffe sind. Die Möglichkeit der wissenschaftlichen Rekonstruktion der Individualität, der Begründung des spezifischen Zusammenhanges zwischen Ursache und Wirkung in der Geschichte wird wieder in Frage gestellt. Verstehen und Mitgefühl weisen in die entgegengesetzte Richtung des anfänglichen Vorhabens Diltheys: einer objektiven Historiographie. Das meint eine Historiographie, die von der Subjektivität des Geschichtsschreibers unabhängig ist und auf der Distanz zwischen dem Geschichtsschreiber und seinem Objekt begründet ist. Die Artikulation der diltheyschen Theorie in der allgemeinen und in der vergleichenden Psychologie ist bedeutsam für die Begründung der Geisteswissenschaften als selbstständige Disziplinen gegenüber den Naturwissenschaften. Damit wendet sich Dilthey wie bekannt gegen den von Wilhelm Windelband postulierten Unterschied zwischen nomothetischen und idiographischen Wissenschaften und nimmt den Zusammenhang zwischen Allgemeinen und Individuellen in den Blick389. Ein Beispiel dafür ist das Prinzip des Typus, in dem »mehrere Merkmale, Teile oder Funktionen regelmäßig miteinander verbunden [sind]«: Sie stehen »in einer solchen gegenseitigen Relation zueinander, daß die Anwesenheit des einen Zugs auf die des anderen schließen läßt, die Variation im einen auf die im anderen«390. Die epochemachende Debatte über die Beziehung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften betrifft also auch die Biographie. In dieser ist die Kenntnis des Allgemeinen und des Individuellen zusammengefasst, welche die Geisteswissenschaften charakterisiert. Die Biographie ist besonders wichtig, da die Geschichte der Geisteswissenschaften »diesen erlebten Zusam389 Vgl. W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, Heitz & Mündel, Straßburg 1894. 390 GS V, S. 270.

Auf dem Weg zur Jugendgeschichte Hegels

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menhang zu ihrer Grundlage [hat] und sie ihn schrittweise zu klarerem Bewußtsein [erhebt]«391. Die Geschichte der Geisteswissenschaften ist darum die Erklärung ihrer eigenen Basis; an ihrem Anfang steht die Darstellung des psychischen Zusammenhanges, die ihr Fundament ist. Die oben zusammengefasste Geschichte der Individuation, wie sie Dilthey in Beiträge zum Studium der Individualität dargestellt hat, ist in diesem Sinn die Geschichte des Geistes selbst: Sie zeichnet nämlich die wesentlichen Übergänge dieser Selbstbewusstseinsbewegung. Aus dieser Perspektive ist die Biographie der Anfang und das Ende der Geisteswissenschaften: Sie ist das Fundament, weil sie die zentralen Tatsachen der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit begreift. Sie ist zugleich ihr Endpunkt, die Verwirklichung dieser Bewegung: Als wissenschaftliche Behandlung der Individualität ist die Biographie das Ergebnis der Geisteswissenschaften. Sie erwächst aus dem Verstehen der Individualität und ihre Entwicklung setzt die Ergebnisse der vorigen Biographien voraus. Sie benötigt ein tiefes Verständnis des psychischen Zusammenhanges und bietet zugleich neue Materialien für den Fortschritt eben dieses Verständnisses, sodass sie für die Erkenntnistheorie bedeutsam ist. Das von Dilthey in der Einleitung in die Geisteswissenschaften vorgeschlagene Modell einer abstrakten »Pyramide« der historisch-gesellschaftlichen Wissenschaften, wo der einzelne Mensch (als Lebenseinheit) Stufe einer aufsteigenden Konstruktion ist, stellt sich als theoretische Fiktion heraus, die verglichen mit dem komplexen Generationsbegriff wenig befriedigend ist. Im Gegenteil geht in dem Riss zwischen den psycho-physischen Lebenseinheiten und der historisch-gesellschaftlichen Welt auch der Generationsbegriff als Verbindungselement verloren. Die Abstraktion, auf der die Sozialwissenschaft sich begründet, trennt das, was das Individuum für sich selbst ist, und das, was es mit den anderen Individuen teilt. Die Unmessbarkeit des Unterschiedes zwischen der individuellen und der sozial-historischen Dimension wird immer deutlicher. Mit dem Ziel, die Beziehung zwischen den verschiedenen Bereichen der Geisteswissenschaften zu klären, bearbeitet Dilthey den Zusammenhang zwischen diesen und der Geschichte. Damit bringt sich Dilthey in eine komplizierte Lage: Nachdem er jede hypothetisch-abstrakte Konstruktion der Geisteswissenschaften abgelehnt hat, verbindet er die verschiedenen Wissensbereiche, was zu einer neuen Problematik führt. Die historische Dimension erweist sich eigentlich als eine Selbstbesinnung: Die Biographie ist der letzte Schritt der Beobachtung und der Erklärung des Menschen sich selbst gegenüber. Sie ist das Objekt der geistigen Selbstbiographie der Menschheit und deswegen ist sie nie einfach nur biographisch, sondern setzt immer einen Typus und die Individualität des Geschichtsschreibers voraus. Während der Vorbereitung von Jugendgeschichte Hegels kommt Dilthey zu 391 Ebd., S. 151.

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Biographie und Geisteswissenschaften

wichtigen Ergebnissen. In erster Linie realisiert er eine Umstellung des biographischen Modells: Von einer erzählerischen Entwicklungsgeschichte wird es zu einem erkenntnistheoretischen Element mit Fokus auf die Individualität. Dieser Ansatz setzt psychologische Studien voraus und ist damit keine naive Rekonstruktion des Lebens: Verwendet wird hier ein allgemeines Bild des Menschen, wie es in Leben Schleiermachers noch nicht expliziert ist. Im Vergleich mit der frühen Erzählung, mit der er eine ganze Lebensgeschichte darstellen wollte, als ob alle Fäden der Geistesgeschichte hier miteinander konvergieren würden, kommt Dilthey in späteren Jahren zu der Vorstellung einer Vermittlung zwischen Allgemeinen und Individuellen, zwischen Gleichförmigkeit und Individualität. Die Schwierigkeit, die darin bestand, in der Narration den Kern der Beziehung zwischen den verschiedenen historiographischen Dimensionen zu benennen, wird durch Typus und Repräsentation gelöst. Diese werden als Mittel angesehen, um über die Unbeschreibbarkeit der Individualität hinauszugehen. Die Geistesgeschichte wird nicht mehr durch den Generationszusammenhang ermöglicht, sondern durch die Repräsentativität der Lebensgeschichte. Die Wissenschaftlichkeit der Biographie bleibt dabei bestehen: Sie erreicht eine erkenntnistheoretische Stufe, die sich deutlich vom empirisch-objektiven Ansatz in Leben Schleiermachers unterscheidet. Bearbeitet Dilthey durch die psychologische Theorie auch die Frage der Individualität, die Leben Schleiermachers aufgeworfen hatte, so tauchen in der Änderung der biographischen Theorie in dem Aufsatz Über die Einbildungskraft der Dichter neue Probleme auf. Der Biograph konzentriert sich nun auf die kreative Fähigkeit des Dichters, also auf eine nicht unmittelbar existenzielle Dimension: Das ermöglicht, die Grenzen der Möglichkeiten des Einzelnen zu bestimmen, die in dem frühen Werk oft undeutlich blieben. Die Biographie verliert den Bezug zum historischen Zusammenhang und wendet sich dem individuellen Ursprung zu. Das Werk wird dekontextualisiert hinsichtlich der allgemeinen historischen Situation: Das entfernt die Biographie von dem historiographischen Hintergrund. Die Wissenschaftlichkeit der Biographie stützt sich nun allein auf die Beziehung zwischen Individuum und Werk. Es wird keine geschichtliche Dimension in Betracht gezogen. Das Problem Leben-Werk löst sich, indem Dilthey eine geschlossene und selbstständige psychologische Dimension erarbeitet. Das Verhältnis zur Psychologie schafft das wissenschaftliche Fundament der Biographie, aber ihre historiographischen Spezifizität geht verloren. Um jedoch mit der Jugendgeschichte Hegels anzufangen, war noch notwendig, dass Dilthey das offene Problem der Versöhnung von individueller Kreativität und historischer Kontinuität löste.

Kapitel 4: Die Jugendgeschichte Hegels

1.

Dilthey und Hegels andere Biographen

Die letzte umfassende Biographie, die Dilthey verfasste, war die Jugendgeschichte Hegels. Bekanntermaßen spielt dieses Werk eine wichtige Rolle in der Rezeption von Hegels Philosophie392. Diltheys Biographie war der Anfang der Entwicklung eines neuen Hegelbildes, das nicht nur an die systematischen Schriften anschließt. Genau wie bei Leben Schleiermachers war der Anlass der Arbeit die Publikation eines Briefwechsels – in diesem Fall des hegelschen – im Jahre 1887393. Eine neue Biographie Hegels schien Dilthey nicht nur notwendig, weil neue Dokumente und Quellen zugänglich waren, sondern auch im Licht seiner erneuten Reflexion des biographischen Modells. Schon Rosenkranz hatte in seinem von Dilthey geschätzten Werk über Hegel die neu zugänglichen Materialien und Quellen genutzt394. Es gelang ihm jedoch nicht, die entwicklungsgeschichtliche Methode auf befriedigende Weise zu nutzen395. War Dilthey zufolge das Werk von Rudolf Haym von den Auseinandersetzungen mit dessen Epoche zu stark beeinflusst, wird jetzt die Frage zum zentralen Gegenstand der Biographie, wie der Briefwechsel Hegels die Entstehung seines Systems erhellen 392 Das Werk, ursprünglich am 23. November 1905 bei der Berliner Akademie der Wissenschaften vorgelegt und dann in den Abhandlungen der Akademie selbst 1906 publiziert, findet sich heute, zusammen mit den Fragmenten aus dem Nachlass (hg. von H. Nohl), in GS IV. Wie Karl Löwith betonte, haben die Interpretationen von Hegels Werk – wie die von Haym und Ruge – Dilthey den Weg bereitet; dieser ist aber als der eigentliche Erneuerer von Hegels Philosophie anzusehen. Vgl. K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Meiner, Hamburg 1995. Diltheys Biographie war der Anfang der Entwicklung eines neuen Hegel-Bildes, das nicht nur an die systematischen Schriften anschließt. 393 Vgl. K. Hegel, Briefe von und an Hegel. Zwei Teile, Leipzig 1887. Die diltheysche Rezension dieser Briefsammlung erschien in »Archiv für Geschichte der Philosophie«, 1 (1888), S. 289ff. (heute in GS XV, S. 310ff.). 394 Vgl. K. Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Supplement zu Hegel’s Werken, Verlag von Duncker und Humblot, Berlin 1844. 395 GS XV, S. 310.

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Die Jugendgeschichte Hegels

kann. Erst jetzt, so Dilthey, ist es endlich möglich, eine historische Kenntnis des Philosophen zu erreichen, da die Epoche des Kampfes gegen Hegel vorbei ist396. Aus dieser Zeit kommt auch eine weitere Biographie Hegels: Hegels Leben, Werke und Lehre von Kuno Fischer. Obwohl Dilthey sie in der Vorrede der Jugendgeschichte Hegels nicht explizit benennt, hatte er sie durchaus zur Kenntnis genommen und im Jahre 1900 eine Rezension geschrieben397. So vermerkt Dilthey auch am Anfang seines Werkes, er wollte auf den Spuren von schon durchgeführten Forschungen, und zum Teil im Gegensatz zu diesen, eine neue Analyse der hegelschen Manuskripte und Fragmente aus dessen Jugend durchführen. Die Biographie Hegels ist der letzte Band der von Kuno Fischer 1852 initiierten Geschichte der neuern Philosophie. Sie umfasst zwei Teile: Hegels Leben und Werke und Hegels Lehre. Laut Dilthey ist diese Aufteilung sehr günstig, denn sie ermöglicht, die nicht publizierten Jugendschriften von den späteren Werken, die die Entwicklung der hegelschen Theorie erklären, zu trennen. Werke und System verbinden sich in dieser Entwicklungsgeschichte, die allen Schriften ihren Ort in Hegels Denken zuweist398. In dem ersten Buch dieser Hegel-Biographie, in dem das Leben des Philosophen durch Briefe und Tagebücher rekonstruiert wird, bezieht sich Fischer ständig auf die Schriften von Hegel aus den verschiedenen Epochen seiner intellektuellen Entwicklung. Erst in dem zweiten Buch, Hegels Lehre, beschäftigt er sich mit der Rekonstruktion seines Denkens; zu diesem Zweck verwendet er ausschließlich die publizierten Werke und nicht jene, die in den biographischen Teil des Werkes einflossen399. Obwohl Fischer die Verbindung zwischen Leben und Werk anerkennt, impliziert seine historiographische Lösung, diese zwei Dimensionen zu trennen. Schon in dem ersten Buch von Geschichte der neuern Philosophie, also in Descartes Leben, Werke und Lehre, betont Fischer, wie bedeutsam das Verständnis der Persönlichkeit des Philosophen ist, um dessen Denken zu verstehen. Er führt die Persönlichkeit auf einen geistigen Typus zurück, auf eine Hauptform, in der die historiographische Dimension nicht mehr zentral ist. Aber das Interesse Fischers für das persönliche Leben variiert, ohne auf der Ebene der Lebensgeschichte lediglich den Lebensverlauf zu rekonstruieren. Indem er eine Analogie zwischen dem Leben des Individuums und dem Leben der Menschheit zieht, sieht er im Selbstbewusstsein das entscheidende Element des Individuums: »So entscheidet die Selbsterkenntnis in unserem Dasein den Moment, der eine Lebensperiode abschließt und eine neue 396 Ebd., S. 316. 397 Dilthey, Das Hegel-Buch Kuno Fischers, in »Deutsche Literaturanzeige«, 21 (1900), Nr. 1, Spp. 20–25, Beilage 1–8; heute in GS XV, S. 343ff. 398 GS XV, S. 343. 399 K. Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre, S. 150.

Dilthey und Hegels andere Biographen

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eröffnet, sie bildet eine Krisis in der Entwicklung, sie macht einen Wendepunkt oder eine Epoche des Lebens«400. Im ersten Teil der Biographie werden die Grundmerkmale des hegelschen Systems hervorgehoben, das heißt vor allem dessen historisch-philosophischer Charakter und die zentrale Rolle der Religion. In der Rekonstruktion der Lehre im zweiten Teil setzt sich Fischer mit der Aufgabe der hegelschen Philosophie auseinander, die er darin sieht, die Weltentwicklung zu systematisieren. Demgemäß habe sich die Hauptidee seines Systems aus der Notwendigkeit entwickelt, die drei Aufgaben zu lösen, die Schelling hinterlassen hatte. Als diese Aufgaben sind zu nennen: 1) das Fundament der absoluten Identität bestimmen (metaphysische Aufgabe); 2) der Weltentwicklung eine logische Form geben (logische Aufgabe); 3) den Weg zur Wahrheit finden (phänomenologische Aufgabe). Aus diesen Aufgaben würde sich die Entstehung des hegelschen Systems vollständig erklären. Dieses System habe nicht in dem Leben des Philosophen seine Wurzeln, da Hegel die Erfüllung der genannten Aufgaben im Sinn gehabt habe401. Das Hauptthema Hegels, das heißt die Weltentwicklung, vertieft die drei von Descartes, Spinoza und Leibniz entdeckten Wahrheiten, und zwar Weltdualismus, Welteinheit, Weltevolution. Fischers These der Einheit der hegelschen Lehre widerspricht also Hayms Ansatz: Anders als Haym sieht Fischer in der hegelschen Lehre weder Einflüsse von anderen Autoren auf Hegels Philosophie, noch akzeptiert er die These einer allmählichen Entwicklung des hegelschen Systems. Im Gegenteil ist für Fischer das hegelsche System die letzte Stufe der Entwicklung der Antworten auf Schellings Fragen402. Diltheys Kritik an Fischers Thesen ist ein entscheidender Anstoß für ihn, selbst eine Biographie Hegels zu verfassen. Gegen Fischers Konzeption eines dialektischen Prozesses, in dem jedes Werk Hegels die Lösung eines spezifischen

400 K. Fischer, Einleitung in die Geschichte der neuern Philosophie, Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1924, S. 13. 401 Vgl. K. Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre, S. 233. 402 Nicht zufällig spricht Fischer in der Einleitung in die Geschichte der neuern Philosophie ein negatives Urteil über die Geschichte der Philosophen aus: »[E]ntweder man hält sich an die geschichtlich gegebene Tatsache der vielen sogenannten Systeme, ohne sich um deren Wahrheitsgehalt zu kümmern, und läßt demgemäß von der Geschichte der Philosophie nichts übrig als eine Geschichte der Philosophen […]; oder man fordert die Einheit der wahren Erkenntnis und sieht in jenen verschiedenen Systemen so viele Versuche, die ihr Ziel verfehlt haben […]. So trennt sich in der Betrachtung der Geschichte der Philosophie das geschichtliche Interesse ganz von dem philosophischen« (ebd., S. 4f.). Zur Konzeption der Geschichte der Philosophie bei Kuno Fischer vgl. M. Longo, Geschichte der neuern Philosophie, in Storia delle storie generali della filosofia, V, II, Antenore, Padova 2004 (hg. von G. Piaia), S. 174ff.

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Die Jugendgeschichte Hegels

Problems ist, entziffert Dilthey in den Manuskripten Hegels die allmähliche Ausgestaltung von dessen historischer Methode403.

2.

Die Mehrdeutigkeit der Fragmente

Dilthey sieht seine eigene Hegelbiographie als eine neue Interpretation der Manuskripte des Philosophen, die in Kontinuität der Untersuchungen von Haym und Rosenkranz steht, also als eine Vertiefung von deren Vorarbeit auf Grundlage des neu verfügbaren Materials. In diesem Werk erweist sich die Frage der Dokumente und Manuskripte als besonders bedeutsam. Obwohl Dilthey der historiographischen Tradition verbunden ist, gestaltet sich seine Arbeit an den hegelschen Fragmenten von Anfang an ganz anders. Die Interpretation der Fragmente braucht seiner Meinung nach eine umfangreiche Ausarbeitung, die er auf drei Wegen vornimmt. In erster Linie werden die Fragmente in Bezug auf das späte hegelsche System gelesen. Die Fragmente besitzen aber auch einen eigenständigen Wert, weil sie durch keine dialektische Methode »gezwungen« sind; sie sollen darum ebenfalls an sich betrachtet werden. Weiterhin und drittens sind sie ein wichtiger Beitrag für eine »Phänomenologie der Metaphysik«. Die Mehrdeutigkeit der Manuskripte, die den Biographen auf verschiedene Arten beschäftigt, und die Unbestimmtheit der ganzen Entwicklungsgeschichte erschweren die Arbeit am Manuskript. Dilthey trennt darum »deutlich unterscheidbare Stufen in der geistigen Geschichte Hegels voneinander«, um »innerhalb einer jeden derselben den Zusammenhang seiner Ideen zur Erkenntnis zu bringen«404. Es gelte, zwischen der »vielfältigen« Interpretation der Manuskripte und der Unbestimmtheit des Lebens eine Balance zu finden, wobei Dilthey danach strebt, »eine sichere Grundlage herzustellen, auf der nun andere weiterbauen mögen«. In diesem Sinn liefert er keine strikten chronologischen Angaben, sondern zeichnet »einige Linien […], die zu den weiteren Stufen hinüberführen«405. Der Verzicht auf ein eindeutiges und klar umrissenes Modell der biographischen Arbeit, in dem Aufsatz Über die Einbildungskraft der Dichter schon angekündigt, setzt sich hier in der Akzeptanz verschiedener historiographischer Wege um: Jeder von diesen gilt als legitim, aber nicht ausreichend. Hat Dilthey auf eine strikte Definition der Biographie verzichtet, eröffnet dieser Verzicht neue Möglichkeiten, die Jugendgeschichte Hegels zu schreiben. 403 Vgl. GS XV, S. 353. 404 GS IV, S. 3. 405 Ebd., S. 4.

Die Mehrdeutigkeit der Fragmente

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Die erste Konsequenz daraus, dass eine kohärente Verbindung zwischen innerer Geschichte und äußeren Ereignissen als unmöglich angesehen wird, ist die Erleichterung der erzählerischen Dimension. In dem ersten Teil des Werkes, Erste Entwicklung und theologische Studien, analysiert Dilthey nur die Hauptereignisse des hegelschen Lebens; von dem Kapitel Leben Jesu ausgehend, beginnt er die Prüfung der Manuskripte406. Die Fragmente werden zunächst mit dem Ziel untersucht, ihre chronologische Ordnung zu ermitteln407. Das hauptsächliche Ziel dieser Rekonstruktion ist für Dilthey, jene Momente des hegelschen Denkens zu finden, die sich von Schelling differenzieren und ebenso jene, bei denen seine Kant-Interpretation unter Schellings Einfluss steht. In dem Briefwechsel zwischen Hegel und Schelling, dem Schelling seine Schrift Ich als Prinzip der Philosophie beifügte, beginnt laut Dilthey der Einfluss des Pantheismus auf Hegel und dessen Bearbeitung durch diesen408. Ein weiterer Punkt dieser Analyse betrifft die Rolle der Theologie und der theologischen Bildung Hegels in Tübingen unter Storrs Leitung, deren Bedeutung Fischer irrtümlicherweise als gering ansetzt409. Dilthey rekonstruiert die Geschichte der Bildung des religiösen und moralischen Bewusstseins Hegels, das starken Einfluss auf die Gestaltung seines Systems nimmt. Diese Auslegung hat auch das Ziel, die Unabhängigkeit von Hegels Denken hervorzuheben: Dessen System realisiert sich nämlich »auf den Grundlagen der Frankfurter Zeit nun aber nicht in einer ruhigen allmählichen Entfaltung des bis dahin errungenen«410. Hegel habe zwar sicher den Einfluss Schellings gefühlt, jedoch »ist seine ganze Auffassung der geistigen Welt nicht eine Applikation Schellingscher Prinzipien, sondern sie ist hervorgewachsen aus dem Tiefsten seiner Persönlichkeit, genährt durch die gründlichsten Studien; in ihr lag seine Bedeutung in erster Linie, und an ihr hat sich doch auch seine dialektische Methode entwickelt«411. Dilthey bezieht sich nicht ausdrücklich auf Fischers Arbeit, entfaltet jedoch seine Thesen in direkter Opposition gegen diese. Er verwendet die Manuskripte, um die Verwobenheit und Komplexität der verschiedenen Einflüsse auf Hegels Philosophie darzustellen. Zu diesem Zweck bezieht er auch die unvollständigen Jugendschriften Hegels sowie dessen theologische Bildung ein, und damit zwei von Fischer völlig vernachlässigte Aspekte. 406 Ebd., S. 18ff. 407 Dilthey betrachtet in den Fragmenten die literarischen Versuche, die Tagebücher, die Briefe wie auch die Jugendschriften, die von H. Nohl in Hegel, Theologische Jugendschriften, Mohr, Tübingen 1907 publiziert wurden. 408 Vgl. GS IV, S. 36ff. 409 Ebd., S. 11. 410 Ebd., S. 197. 411 Ebd., S. 199.

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Die Jugendgeschichte Hegels

Zugleich führt die philologisch-kritische Demonstration der partiellen Unabhängigkeit Hegels von Schelling sowie seines komplexen Verhältnisses zu Kant, das nicht auf eine einfache Aufhebung der Reflexionsphilosophie reduzierbar ist, eine weitere historiographische Perspektive ein. Bei dieser, in der Jugendgeschichte Hegels bereits angekündigt, handelt es sich um die Phänomenologie der Metaphysik. Die hegelsche Philosophie wird von Dilthey auf eine Gruppe von Systemen zurückgeführt, denen der pantheistische Ansatz gemeinsam ist. Dank der Arbeit mit den Fragmenten, die beweist, dass das hegelsche Denken nicht auf dialektische Entwicklung der transzendentalen Philosophie reduzierbar ist, kann Dilthey eine neue Fassung der Geschichte der Philosophie erarbeiten. Der Einfluss von Fichte und Schelling erklärt nicht, warum sich Hegel von Kant entfernt, das heißt den Anfang der neuen geistigen Epoche Hegels. Die Distanzierung ergibt sich aus der Form des hegelschen Denkens: Dieses verbindet sich mit einer Metaphysik, die in der Geschichte der Philosophie immer gegenwärtig war und auch allen Formen des Pantheismus gemeinsam ist. Diese Metaphysik, die sich zuerst in der kantischen Idee der geistigen Einheit der Menschheit findet, ist der objektive Idealismus412. Die Rekonstruktion der hegelschen Metaphysik im Kontext anderer metaphysischer Formen realisiert sich zusammen mit der »De-Systematisierung« der hegelschen Philosophie: Die historisch-philologische Untersuchung Diltheys zeigt die komplexen Wurzeln des reifen hegelschen Systems und interpretiert es vor einem umfassenden historisch-philosophischen Horizont. Die biographische Arbeit besitzt eine spezifische Bedeutung für die historisch-philosophische Rekonstruktion: Sie befreit sie von der reinen Dialektik des Denkens und öffnet sie dem breiteren Kontext des historischen Lebens. Indem Dilthey verneint, dass die historische Entwicklung und die logische Entwicklung miteinander korrespondieren, begreift er die Arbeit des Geschichtsschreibers als Recherche innerhalb der vielen, das historische Leben bildenden Einflüsse auf Hegel, und damit der Rekonstruktion der »innere[n] Entwicklung, in welcher er von dem Kritizismus Kants zu einem neuen metaphysischen System und von seinen theologischen Arbeiten zu umfassenden historischen Konzeptionen fortgegangen ist«413. Die Kritik an der Ableitung des hegelschen Denkens aus der transzendentalen Philosophie zeigt, dass »auch für 412 Eine explizite Betrachtung der Formen der Metaphysik findet man in Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, GS VIII. Vgl. zu diesem Thema den klassischen Text von J. Wach, Die Typenlehre Trendelenburgs und ihr Einfluss auf Dilthey. Eine Philosophie und geistesgeschichtliche Studie, Mohr Verlag, Tübingen 1926. Vgl. U. Hermann, Bibliographie Wilhelm Dilthey. Quellen und Literatur, Beltz, Weinheim-Berlin-Basel 1969, S. 159ff. 413 GS IV, S. 43.

Das Fragment für sich: Der Teil ohne das Ganze

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die Geschichte seiner eigenen Gedankenbildung der historische Verlauf die Methode der gradlinigen, logischen Konstruktion, wie Hegel sie auf diese Periode und die Historiker der Philosophie aus seiner Schule dann auf ihn selbst angewandt haben, [widerlegt]«414. Nachdem er die idealistische Historiographie kritisiert hat, bearbeitet Dilthey eine neue historiographische Perspektive: Diese hat zum Gegenstand »den ganzen Zusammenhang der Arbeiten Hegels […], sofern an ihm der geheimnisvolle Prozess des Werdens seiner Weltanschauung abgelesen werden kann«, mit dem Zweck, »die Momente, welche in die weitere Entwicklung Hegels hinüberführen« zu bestimmen415. Die Ideen von Entwicklung und Einheit hängen eng zusammen, wie ihre Anwendung auf die Geschichte der Religion beweist, die aus den theologischen Studien Hegels entstanden ist. Die lebensgeschichtliche Forschung löst die systematische Konzeption auf und führt sie auf ihre Wurzeln zurück, die im Leben selbst liegen: Dadurch zeigt sich ein neues Bild Hegels, in dem die theologischen Studien eine entscheidende Rolle auch für die spätere gedankliche Entwicklung spielen. Die folgende biographische Arbeit Diltheys, von den systematischen Zwängen befreit, beschäftigt sich mit der Analyse dieser Lebenswurzeln.

3.

Das Fragment für sich: Der Teil ohne das Ganze

Die theoretische Bedeutsamkeit der philologischen Methoden zeigt sich deutlich in dem weiteren Weg der Manuskriptinterpretation, das heißt, in der Analyse der hegelschen Fragmente »an sich«, ohne sie auf sein System zu beziehen. Den Fragmenten kommt hier eine weitere Bedeutung zu: »In der Form, in der sie uns vorliegen, unfertig, in einer ganzen Reihe von Stufen der Entwicklung, die wie Schichten übereinanderlagern, Ansätze, Erweiterungen, Umarbeitungen, die Sätze, Worte oft zwei- und dreimal durchgestrichen und neugeschrieben, sind sie ein einziges Dokument philosophischer Gedankenbildung«416. Nachdem Dilthey das hegelsche System von der Dialektik abgelöst hat, die Fischers Auslegung bestimmte, findet er eine Methode, die Manuskripte neu zu bewerten. Im Lesen dieser Manuskripte als selbstständigem Teil des ganzen Systems, verwirklicht sich die Biographie als nachphilosophieren. Unter Nachphilosophieren versteht Dilthey die Rezeption der Ideen des jungen Philosophen in einer Epo-

414 Ebd. 415 Ebd., S. 154. 416 Ebd., S. 68.

130

Die Jugendgeschichte Hegels

che, in der sich »die ganze historische Genialität Hegels in ihrer ersten Frische und noch frei von den Fesseln des Systems« zeigte417. Die aus dem System herausgelösten Fragmente werden von Dilthey als Ausdruck einer noch unbewussten, unreflektierten Phase der hegelschen Systembildung interpretiert. Der Biograph ist dadurch in der Lage, die verschiedenen Einflüsse auf die Entstehung der späteren Weltanschauung zu bestimmen, während »die Umgestaltung seiner philosophischen Weltauffassung im Hintergrund [blieb]: ihm selber noch unbestimmt in ihren Umrissen und in ihrer Tragweite«418. Mit der Annahme der unbewussten Aspekte der geistigen Bildung, schon in Leben Schleiermachers gegenwärtig, blieb Dilthey der Idee der unbewussten Kreativität verbunden. Dank dieses romantischen Elements konnte Dilthey die philosophische Seite der Biographie kohärent begründen. Sie stellt den vielen Möglichkeiten, die das Leben eröffnet, die Grenze des Systems gegenüber und entdeckt die Ideen, bevor diese sich zu dem hegelschen System verhärten. Durch die Rückführung der Fragmente auf den Lebenskontext, in dem sie entstanden sind, und indem sie von den später erfolgenden Systematisierungen befreit werden, erhellt Dilthey das Leben Hegels und hebt zugleich die Wurzel seines systematischen Denkens im Leben hervor. In letzter Instanz werden die immer neuen Aufgaben der Wissenschaftsgeschichte »in den Tiefen der Einzelperson« bewältigt: In der wissenschaftlichen Arbeit muss man »dem nachgehen, wie ein solcher Geist sich bildet, wie er tastet, probiert, in seinem Stoff unter immer neuen Gesichtspunkte arbeitet«419. Auch wenn die Antworten des einzelnen Denkers nicht ausreichend sind und »das Problem wohl vorwärts geschoben, aber nicht wirklich gelöst wird«: Die Lösungsversuche deuten »über das unbefriedigende Endergebnis hinaus und gewinnen so eine über bloße Vorbereitung zu einem Lebenswerk hinausreichende Bedeutung«420. Zum jungen Hegel zurückzugehen ist notwendig, denn die »Beziehung von Begriffen, in welche die dialektische Methode Hegels schließlich den Entwicklungszusammenhang des Geistes zusammenzog, ist der Fülle der Ideen nicht gerecht geworden, die er in dieser Epoche umfaßt hat«421. Indem die Lebensgeschichte die noch nicht in das System eingeschlossenen Ideen ans Licht bringt, ermöglicht sie ihrem Verfasser, einen neuen Weg zu gehen, durch den die Biographie zu einem philosophischen Werk wird. Das Fragment als einzelner Teil des systematischen Ganzen hat also einen spezifischen Sinn in der Geschichte der Philosophie: Herrscht in der Biographie der hermeneutische Zirkel zwischen Ganzen und Teilen, führt die Betrachtung des 417 418 419 420 421

Ebd. Ebd., S. 18. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178. Ebd.

Eine Form der Metabiographie

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Fragments »an sich« zu einer anderen Dimension, in der nicht das Problem der Richtigkeit der Auslegung bestimmend ist, sondern die Aufgabe, die geistige Kontinuität zu ermitteln. Insofern schwächt der Verzicht auf eine »holistische« Bestimmung der Biographie, wie es in Jugendgeschichte Hegels passiert, die philosophische Bedeutung im Vergleich mit dem Jugendwerk nicht. Früher galt die Biographie als Konstruktion eines allgemeinen historiographischen Bildes. Nun gilt sie als Dekonstruktion des Systems: Darin findet die Biographie eine neue Rolle. Sie ist nicht mehr historiographisches Werk, das eine objektive geistige Kontinuität rekonstruiert, sondern wird zum philosophischen Werk, das eine mögliche geistige Kontinuität erschafft. Daraus folgt die Veränderung der ganzen historisch-philosophischen Konstruktion, die eine Beziehung zwischen persönlichem Leben und Geschichte herstellt, wodurch sich auch die Form der biographischen Arbeit verändert.

4.

Eine Form der Metabiographie

Diese Betrachtung der Fragmente an sich, Kern der Jugendgeschichte Hegels, bringt eine neue Konzeption der Biographie hervor: »[U]m nicht einer äußerlichen literarischen Methode zu verfallen«, gelte es, »von Hegel selbst [auszugehen]«422. Die historisch-philologische Rekonstruktion und die entwicklungsgeschichtliche Erzählung haben das dialektische Schema, das die Abhängigkeit Hegels von Schelling postuliert, verworfen und die Persistenz des theologischen Interesses in Hegels Denken bewiesen. Diese sind jedoch nicht die Hauptdimensionen des neuen biographischen Modells. Die Linien dieser Biographie konzentrieren sich auf die Art, wie Hegel die Realität erfasst. Die Dekonstruktion von Fischers Dialektik bildet den Kern von Diltheys Auslegung dieser Lebensgeschichte. Die Neuerung und das Besondere der hegelschen Philosophie bestehen in seiner Methode, die durch die Suche nach einem allgemeinen historischen Zusammenhang charakterisiert ist. Auf Grundlage dieses Ergebnisses entsteht eine weitere Stufe des biographischen Schreibens: Es handelt sich um eine parallel erzählte zweite Entwicklungsgeschichte. Sie ist mit der »reellen« verflochten, aber ihr Ziel ist es, die Entstehung der hegelschen Methode aus der Genialität dieses Philosophen zu zeigen. Damit sind wir mit einer Art Metabiographie konfrontiert: Das heißt einer Biographie, in der der Ursprung des geistigen Schaffens und die Möglichkeit von dessen historischer Rekonstruktion im Zentrum der Lebensbeschreibung stehen. Sie fußt auf dem Postulat, dass die individuelle Genialität dieser Ursprung ist. 422 Ebd., S. 55.

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Die Jugendgeschichte Hegels

Trotz der individuellen Wurzel jeder geistigen Schöpfung kann die Lebensgeschichte rekonstruiert werden: »Biographisch angesehen besteht dieses [das metaphysische Erlebnis, FDA] in einer Reihe von Erlebnisvorgängen, sie werden aber zum philosophischen Erlebnis, indem in ihnen ein allgemeiner Sachverhalt aufgefasst wird«423. Die Grundlage der Persönlichkeit als ursprünglichem Ort des Denkens ist kein unerforschlicher Aspekt des Individuums, sondern liegt in der Beziehung zwischen Erlebnissen und Genialität. Die Anordnung dieser zwei Dimensionen hat Folgen: Einerseits werden die Geschichtlichkeit des Denkens, sein Ursprung in einem bestimmten Kontext und unter bestimmten Einflüssen konserviert; andererseits bleibt eine individuelle Dimension bedeutsam, die in der historischen Bestimmung nicht aufgelöst werden kann. Eine solche Metabiographie ist Diltheys Lösung, die ursprüngliche, unabdingbar persönliche Wurzel der geistigen Schöpfung und die Möglichkeit ihrer historischen Erzählung miteinander zu verbinden. Die Jugendgeschichte Hegels versucht die Spaltung zwischen den beiden Aspekten zu lösen: Zu diesem Zweck verwendet Dilthey den Begriff »Erlebnis«, den er genau in diesem Jahr ins Zentrum seiner Theorie stellt424. Er beschreibt das Erlebnis als »strukturelle Einheit von Verhaltungsweisen und Inhalten«425 : So bilden zum Beispiel in der Wahrnehmung das wahrnehmende Verhalten und seine Beziehung zum Gegenstand eine Einheit, erläutert Dilthey426. Der Begriff des Erlebnisses wird zum Mittel, um in der Existenz des Individuums die verschiedenen Momente seines Verhältnisses zum Leben aufzuspüren. Die von Dilthey klassifizierten verschiedenen Typen von Erlebnissen – das sind die Auffassungserlebnisse, die Gefühlserlebnisse, das Wollen – bestimmen in dem komplexen Seelenleben dessen Hauptmomente in ihrer Struktur und ihrem Zusammenhang. Nachdem man den Typus eines Erlebnisses identifiziert hat, auf den die Tatsachen des individuellen Lebens zurückgeführt werden können, ist es möglich, zwischen ihnen ein Verhältnis herstellen, das sich auf ihre psychischen Inhalte konzentriert. Dementsprechend sind »alle die Erlebnisse, in denen dasselbe Verhalten gegenüber Inhaltlichkeiten stattfindet, nicht nur hierin einander verwandt, sondern es treten auch zwischen ihnen solche Beziehungen auf, wie sie in der

423 Ebd. 424 Über den Begriff Erlebnis gibt es eine umfangreiche Bibliographie: Neben der bekannten Fassung Gadamers (Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Mohr, Tübingen 1960, S. 61ff.), vgl. auch G. Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, Alber, Freiburg-München 1994. Über die Entwicklung des Erlebnisbegriffes bei Dilthey vgl. K. Sauerland, Diltheys Erlebnisbegriff. Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturhistorischen Begriffs, Walter de Gruyter, Berlin-New York 1972. 425 Vgl. GS VII, S. 25. 426 Vgl. ebd.

Eine Form der Metabiographie

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Natur der Verhaltungsweise gegründet sind«427. Die Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Erlebnissen erschafft ihre Verbindung: An die Stelle der Atomisierung des Seelenlebens tritt aus dieser Perspektive ein psychischer Zusammenhang. Das anschaulichste Beispiel dieses biographischen Modells ist die Auslegung der Beziehungen zwischen Hegel und der Aufklärung. Dieses Verhältnis wird von Dilthey nicht als ein spekulatives oder kulturelles Phänomen angesehen, sondern als eine Erfahrung, die in einer Reihe von »Tatsachen« zum Ausdruck kommt. Als erlebtes Element drückt sich die Aufklärung bei Hegel durch verschiedene Haltungen aus: »Er schüttelt […] jede Untertänigkeit unter die dem Geiste fremde Autorität ab; er verneint dann auch jedes zwischen den Kräften der Seele wirksame Verhältnis von Gebot und Gehorsam«; »er verwirft ebenso in der Beziehung der Person zu den göttlichen Kräften jede Form von Herrschaft und Unterordnung«. Also hofft er »auf eine Gesellschaft, in welcher die bestehenden Verhältnisse der Untertänigkeit ersetzt werden durch eine von innen bedingte Verwandtschaft«428. Mehr als eine Kategorie des Denkens und als eine Phase der Kultur ist die Aufklärung eine Haltung gegenüber der Realität, eine Art zu leben: In der individuellen Geschichte Hegels kann man die einzelnen Momente dieser Haltung erkennen. Die weiteren Etappen der Biographie verlaufen analog: Die Aneignung der pragmatischen Geschichte429 und der Prinzipien der Französischen Revolution sowie der Theologie sind nicht spekulativer Art. Hegel nimmt die Gegenstände auf und bearbeitet sie in seiner persönlichen Erfahrung. In dieser Metabiographie vervollständigt sich jene Methode Diltheys, die sich bereits in Über die Einbildungskraft der Dichter andeutete. Da die Biographie nicht mehr einfach Entwicklungsgeschichte ist, sondern sich auf die Haltung des Philosophen gegenüber der Realität konzentriert, wird die historische Bestimmung der individuellen Kreativität überwunden, die in Leben Schleiermachers beherrschend war. Im Gegensatz dazu analysiert Dilthey die Kreativität des Einzelnen, die in dem frühen Werk noch nicht im Vordergrund stand. Es handelt sich um eine entscheidende Änderung: »In einem originalen metaphysischen Kopf ist eine gewisse Art zu gewahren das erste, sie gibt allem, was von ihm ausgeht, Farbe und Ton, und im Verlauf seiner Entwicklung entsteht logisches Bewußtsein, Begründung und systematische Durchbildung dessen, was in seiner Art Wirklichkeit zu sehen enthalten ist«430. Die Analyse der Manuskripte konzentriert sich nun auf diese Art, die Wirklichkeit zu sehen, und 427 428 429 430

Ebd., S. 22. GS IV, S. 56. Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 3. Ebd., S. 138f.

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Die Jugendgeschichte Hegels

erklärt die Hauptetappen der Entstehung dieser in der Erlebnisstruktur wurzelnden Haltung. In dieser Rekonstruktion, die sich von den Jugendstudien bis zu den ersten Entwürfen des Systems erstreckt, findet Dilthey die Momente, in denen sich die hegelsche Art, die Realität wahrzunehmen, konsolidiert. Die Vervollkommnung dieses Vorgehens ist die historische Methode. Sie strebt danach, die »Vergangenheit tiefer zu verstehen aus dem, was ihn als noch gegenwärtiges geschichtliches Leben umgibt«431. Dilthey analysiert die Entwicklung dieser Methode durch die Erforschung ihrer unbewussten Verwendung. Die Methode sei die bewusste Übersetzung dieser Haltung, deren Wurzel in dem Erlebnis liegt. Hier kommt der geistige Charakter Hegels ans Licht, der sich auf die Objektivität richtete; der, »von den Schülerjahren ab das Griechentum und nun von den Tübinger Lehrjahren ab das Christentum als die beiden größten geschichtlichen Kräfte der Vergangenheit nacherlebte und zergliederte: dies ward für ihn der Eingang in seine historische Weltansicht«432. Die erste Andeutung der hegelschen Methode beschreibt Dilthey in dem Abschnitt Leben Jesu: Bis zum Ende seines Aufenthaltes in Bern (1795) denkt Hegel über die populäre Religion nach und in dieser Reflexion äußert sich »das geschichtliche auf Kontinuität gerichtete Denken des jungen Philosophen«433. Der zweite Teil von Jugendgeschichte Hegels beschäftigt sich mit der Entwicklung von dessen Weltanschauung (vergleichbar mit dem Vorgehen in Leben Schleiermachers). In der Frankfurter Epoche finde »die völlige Umwandlung« des Geistes von Hegel statt; hier beginne eine neue Zeit, in der er sich aus der Abhängigkeit von Kant und Schelling löse434. Im dritten Teil – über die Jahre in Jena – verfolgt Dilthey die Entstehung des Systems in den Vorlesungen und in den waste books. Hier wird beobachtet, wie sich das System schrittweise strukturiert: Aus dem Unbewussten kommend, beginnt sein Denken mit der allmählichen Bildung der Weltanschauung. Unter den Einflüssen der Epoche kommt Hegel zu seinem Bewusstsein und seiner systematischen Begrifflichkeit. Die Tatsache, dass sich diese Biographie auf die Erlebnisse beschränkt, erklärt die Vereinfachung der erzählerischen Dimension: Unter den vielen Einflüssen und historischen Beziehungen erhalten nur einige Ereignisse einen Platz in der biographischen Schilderung der Entwicklung des hegelschen Denkens. Das passiert nur dann, falls sie ein einheitliches und kohärentes Erlebnis bilden. So verstanden betrachtet die Biographie primär den Zusammenhang der Erlebnisse, in welchen die historische Dimension auf die persönliche reduziert ist. Wegen des Mangels an historischer Stärke des individuellen Lebens, das sich 431 432 433 434

Ebd., S. 22. Ebd., S. 10. Ebd., S. 15. Ebd., S. 42.

Eine Form der Metabiographie

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in einer Reihe von psychischen Episoden auflösen würde, erarbeitet Dilthey einen präzisen Sinn der Erlebnisse. Dadurch zeigt er die Beziehung zwischen Erleben, historischer Wirklichkeit und Milieu. Nicht nur die Ähnlichkeit der Erlebnisse, sondern auch ihre jeweilige Besonderheit charakterisieren ihren Zusammenhang. Im Vergleich mit der früheren Konzeption Diltheys, in der die kreative Erfahrung »allgemein« war und keine spezifischen »geistigen Bereiche« identifiziert wurden, bestimmt er in der Jugendgeschichte Hegels ein metaphysisches Erlebnis, das die besondere Form der Philosophie des Autors erklärt. Das Fundament des metaphysischen Genies sei »die Energie des Erlebens, verbunden mit dieser eigenen Fähigkeit, in unpersönlichem Verhalten den allgemeinen Sachverhalt im Erlebnis zu gewahren«435. Das Genie sei durch eine besondere Kraft der psychischen Organisation ausgezeichnet. Darüber hinaus zeige es einen spezifischen Charakter : Im Fall des Philosophen sei das, seine eigenen Erlebnisse unpersönlich und objektiv zu betrachten. Die Möglichkeit, die in der persönlichen Erfahrung wurzelnde Dimension zu rekonstruieren, ist in der Tatsache begründet, dass »jedes metaphysische Genie eine Seite der Wirklichkeit, die so noch nicht erblickt worden war, in Begriffen [ausdrückt]«436. Indem man das Genie als spezifische Haltung gegenüber der Realität begreift, wird es möglich, das Persönliche im Denken eines Autors finden: Die biographisch bedeutsamen Erfahrungen lassen sich so zu einer Reihe verbinden. Das Fundament dieser Beziehung zwischen Genie und Erlebnis ist das Gefühl. Dilthey weist als zentrale Merkmale des hegelschen Denkens die Transposition und die bewusste Wahrnehmung seiner Gemütszustände nach: »Durch die so entstehende Vertiefung der Kategorien in die mitklingenden Gemütszustände unterscheidet Hegel sich von Schelling oder Schleiermacher und tritt in Verhältnis zu den Mystikern«437. Ein solcher Gemütszustand ist nicht nur die individuelle Basis des Denkens – als Stimmung, Atmosphäre interpretiert –, sondern auch das philosophiegeschichtlich Innovative. Sie gibt »dem Zusammenhang der Kategorien, den die Transzendentalphilosophie geschaffen hatte, durch die der Mystik eigene Verlegung des Gemüts in die Begriffe des Denkens eine neue Bedeutung«438. Die Kontinuität des Denkens fußt in letzter Instanz auf der persönlichen Gesinnung: Die Kategorien der transzendentalen Philosophie »erhalten nun durch Hegels Erlebnis und geschichtliches Nachverstehen eine eigene Tiefe. Sein metaphysisches Erlebnis machte ihm die Religionsgeschichte verständlich«439. Dadurch 435 436 437 438 439

Ebd., S. 55. Ebd. Ebd., S. 139. Ebd. Ebd.

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Die Jugendgeschichte Hegels

gelangte er zu historischen Erkenntnissen über bestimmte Aspekte des Christentums, die auch Schelling, Schleiermacher und Fichte geahnt hatten. Dieser Ansatz wird von Dilthey als Streben nach einer größtmöglichen Einheit verstanden, in der Opposition, Endlichkeit und Schmerzen präsent sind. Auf diesem »Grundgefühl […] beruht seine Weltformel von dem Weltgeist, in dem es keine ruhsame Einheit von der Entgegensetzung gibt […]. Das ist das Persönliche in seinem Philosophieren, Ausdruck der schweren leidvollen Arbeit, dem Ideal, das innen ist, Realität zu geben«440. Im Licht dieser Interpretation taucht die religiöse Erfahrung wieder auf. Die hegelsche Philosophie »will diese Seelenverfassung und Weltanschauung in den freien Äther des Denkens erheben. Das wesenhafte der christlichen Religiosität, das er in diese innere Verfassung verlegt hatte, sollt Metaphysik werden«441. Indem er die Biographie Hegels als Zusammenhang von Erlebnissen konzipiert, folgt Dilthey seiner Idee, dass, »neben all diesen Versuchen einer begrifflichen Auffassung des psychischen Zusammenhanges immer die religiöse Selbstbesinnung wirksam [ist]«442. Damit seien »die innere Erfahrung, der Umgang mit Gott, die Umkehr aus der Egoität die konstituierenden Erlebnisse für diese Auffassung des Lebensverlaufes und diese Vergegenständlichung der inneren Welt«443. Das ganze hegelsche Denken ist eine spekulative Darstellung der Gemütszustände Hegels, die auf die religiöse Erfahrung zurückgeführt werden können. Obwohl Dilthey in Jugendgeschichte Hegels die Genialität als besonderes Verhalten des Individuums gegenüber der Welt betrachtete, entsteht die Individualität ihm zufolge nicht aus rein individuellen Gründen. Er bestimmt verschiedene Typen des Verhaltens gegenüber der Welt. Die Identifizierung dieser verschiedenen Möglichkeiten, die Welt zu betrachten, stellt einen entscheidenden Schritt in der diltheyschen Konzeption der Biographie dar. Die individuellen Lebensgeschichten können verglichen werden, da es möglich ist, die Erlebnisse zu bestimmen, ihre gemeinsamen Elemente und spezifischen Charakteristiken zu erläutern. Die theoretische Konzeption, wie sie in Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften erarbeitet wurde, verwirklicht sich also in diesem biographischen Werk über Hegel. Die Einflüsse der äußeren Welt werden durch den Vergleich mit den Erlebnissen der Zeitgenossen Hegels bestimmt: Die Verwandtschaft mit Hölderlins Erlebnissen wird auf den gemeinsamen historischen Kontext zurückgeführt. Dieser Kontext ist in erster Linie durch den Willen charakterisiert, die Opposition zwischen Literatur und Philosophie, die 440 441 442 443

Ebd., S. 196. Ebd. GS VII, S. 31. Ebd., S. 32.

Hegels Methode: Erlebnis und Nacherleben

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sich während der Aufklärung durchgesetzt hatte, zu überwinden. Das Genie und seine Zeit bilden »eine geschichtliche Einheit, die nicht weiter auflösbar ist«. Diese Einheit bestimme, »was an der Verfahrungsweise seines Geistes ihm mit den Genossen gemeinsam war«444, auf diesem allgemeinen Charakter basiere wiederum die Besonderheit des Einzelnen. Anders als seine Zeitgenossen hatte Hegel »das philosophische Vermögen, seine persönlichsten Erlebnisse wie die Bewegungen der Zeit, an denen er teilnahm, zugleich abgelöst von sich selbst als einen allgemeinen Sachverhalt sich zum Bewußtsein zu bringen«445. Auch, »[w]enn seine Erlebnisse wie die des dichterischen Genossen eine eigene Tiefe in der Beziehung jeder Gegenwart auf die Erinnerung, im Zusammenhalten des Bewusstseins« besaßen, hatte er zudem »eine eigene Kraft zu metaphysischer Verallgemeinerung, zur Erhebung über das Persönliche des Moments«446. Anders als in Leben Schleiermachers, in dem trotz aller Schwierigkeiten die Verbindung zwischen dem Individuum und seinem Milieu im Zentrum der Biographie stand, wird dies in Hegels Biographie nicht versucht. Hier entwickelt sich die biographische Arbeit als eine unter verschiedenen Gesichtspunkten wiederholte Interpretation der Fragmente des jungen Hegels. Am Ende dieses dritten und letzten Moments der Untersuchung beginnt Dilthey, die der historischen Welt gewidmete Methode Hegels zu erforschen447. Dessen Methode besteht darin, die Wirklichkeit von dem eigenen Erlebnis ausgehend zu betrachten. Dabei besitzt Hegel die Fähigkeit, den persönlichen Gesichtspunkt, sein eigenes Erlebnis zu objektivieren. Hegels Methode ist nur verständlich, wenn man von dem Leben Hegels ausgeht, da die Erlebnisse der Schlüssel dieser Methode sind.

5.

Hegels Methode: Erlebnis und Nacherleben

Als gemeinsamer Ausgangspunkt der verschiedenen Interpretationen der hegelschen Manuskripte gilt nun die Methode: »In der Entstehung jedes Systems ist der Vorgang bedeutsam, in welchem das aus der Natur eines philosophischen Genius entspringende Verfahren desselben zum Bewusstsein erhoben wird«448.

444 445 446 447 448

GS IV, S. 57. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 175. Ebd., S. 195. Hegels Einfluss auf Dilthey wird in den späten Jahren von Diltheys Wirken allmählich stärker, wie die Forschung, vor allem Gadamers Interpretation in Wahrheit und Methode (ebd., S. 222ff.) bewiesen hat. Vgl. auch L. von Renthe-Fink, Geschichtlichkeit und H. Johach, Handelnder Mensch und objektiver Geist. Zur Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Verlag Anton Hain, Meisenheim am Glam 1974. Einer anderen Lesart folgt F. Rodi: Der diltheysche Begriff von Leben stelle einfach eine Ergänzung zum hegelschen

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Die Jugendgeschichte Hegels

Dieser Vorgang wird zum Kern der diltheyschen Rekonstruktion. Indem er die Linie Kant-Fichte-Schelling auflöst, kann Dilthey die Kategorien des transzendentalen Denkens (Einheit, Vielfältigkeit, Trennung, Ganzes und Teile) auf Hegels Erlebnis und auf sein historisches Nachverstehen zurückführen. Die Analyse der hegelschen Manuskripte erklärt also die methodologischen Ideen, die zum späteren System zusammenlaufen. Mit der Beschreibung von Hegels Methode endet die Biographie: Den Zusammenhang der Weltgeschichte drückt Hegel in den Hauptkategorien Ganzes-Teile und Entwicklung aus. Diese sind die entscheidenden Elemente seiner Methode. Dilthey liest diese Elemente im Licht seiner neuen Überlegungen, die er besonders in Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften erarbeitet hat. Die Tatsache, dass er Hegels Denken in seinen eigenen Begriffshorizont aufnimmt, legitimiert sich in Jugendgeschichte Hegels. Nicht nur das Nachphilosophieren führt zu diesem Aufnehmen von Hegels Denken. Mithilfe der Analyse der historisch-theologischen Fragmente gelingt es Dilthey, diese Methode zu erfassen als ein Nacherleben der religiösen Erfahrung in den historischen Prozessen. Dieses Nacherleben ist dadurch möglich, dass die in der Erfahrung aufgehobene Seelenverfassung zu Bewusstsein wird. Die Lebensgeschichte des Philosophen zeige, dass dessen Methode ein Ergebnis seiner Existenz und nicht einer spekulativen Dialektik sei. Diltheys Schaffen besteht in der Rekonstruktion aller Erfahrungen, die die historische Methode Hegels produziert haben. Aus Diltheys Perspektive wird das Werk Hegels zum historiographischen Modell, das Voltaire, Hume und Gibbon weit hinter sich lässt. Hier würde der in der Aufklärung noch nicht vollendete Prozess der Verinnerlichung der Geschichte vervollständigt, und zwar mit »einem unerbittlichen Bewußtsein der Relativität jeder geschichtlichen Erscheinung, das die andere Seite dieser neuen historischen Weltanschauung ausmacht«449. Dilthey kann also darlegen, dass Hegel der »Begründer der Geschichte der Innerlichkeit des menschlichen Geistes [ist]«450. In der Darstellung des Bewusstseins von Christus zeige Hegel, im Vergleich mit der Aufklärung, ein tieferes historisches Verständnis, frei von jedem praktischen und systematischen Bedürfnis. Er demonstriere die einmalige Bedeutung der historischen Figur Jesu. Hegel lasse »die farblose Allgemeinheit der Verkörperung der Humanität, das Phantom des geschichtslosen Menschen in der Mitte der Geschichte« hinter sich. Die Aufklärung »ist auch in diesem Punkt überwunden, das historische Bewußtsein hat gesiegt«451. Diese »objektivem Geist« dar. Vgl. Rodi, Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, S. 56ff. 449 GS IV, S. 31. 450 Ebd., S. 157. 451 Ebd., S. 110.

Hegels Methode: Erlebnis und Nacherleben

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Konzeption ist Diltheys Auffassung nach die Überwindung jedes früheren Begriffes der Geschichtsschreibung. Die historische Bedeutung Hegels liege in seiner Fähigkeit, die Erlebnisse der Anderen nachzuerleben. Im Gegensatz zur Aufklärung werde hierbei ein echtes Verständnis des Menschen erreicht: »In dem Dichter wirkt das Erlebnis schöpferisch für Verständnis und Darstellung der Welt, wo es einen Zug derselben aufschließt, der so vorher nicht gewahrt worden war. Es ist aber ebenso in der Interpretation der geschichtlichen Welt wirksam, da jedes Verstehen ein Nacherleben ist und jedes Nacherleben an den Erlebnissen selber sein erstes Material hat«452. Was Dilthey bei Hegel findet – das Nacherleben als Quelle des historischen Sehens –, ist genau der Kern der biographischen Methode. In Leben Schleiermachers hatte Dilthey den unbewussten Moment des philosophischen Denkens bereits analysiert. Hier verwendet er auch die Idee einer oppositionellen Kraft der Persönlichkeit gegenüber der Kultur der Epoche. Gegenüber einer »anschwellenden Macht des Gefühlslebens und der Gefühlsdichtung war sein Interesse nur den Sachen zugewandt, in der unbefangenen Kraft einer ganz ursprünglichen Richtung auf Wirklichkeit, ohne alle Reflexion auf sich selber«453. Die Konstruktion der Jugendgeschichte Hegels erinnert in ihren Hauptlinien an jene von Leben Schleiermachers, obwohl sie auf den strengen Zusammenhang zwischen Individualitätsbildung und historisch-kulturellem Milieu verzichtet. Aber auch insgesamt hat die Entwicklung, die in Jugendgeschichte Hegels beschrieben wird, ein ganz anderes Fundament. Um die zentralen Züge des Charakters des jungen Hegels zu rekonstruieren, analysiert Dilthey die Entstehung von dessen Methode und der mit ihm verbundenen Geschichtsauffassung. Die drei von Dilthey hervorgehobenen Etappen dieser Methodenentstehung umschreiben die Phasen des hegelschen Denkens, aber die ganze Entwicklungsgeschichte ist einfach Ausdruck der in dem Erlebnis erscheinenden Hauptrichtungen seines Denkens. Obwohl es unmöglich ist, das Erlebnis aus seinem Kontext zu lösen – denn durch den Einfluss des literarischen Milieus und anderer historischer Umstände erhielt »das Genie Hegels […] die ihm mit verwandten Denkern und Dichtern gemeinsame Form, sich allem gegenüber zu verhalten«454 –, betrachtet Dilthey es als Basis der philosophischen Produktion. Ein weiterer Aspekt kennzeichnet diese neue ditheysche Fassung der Biographie. Der Biograph gründet seine Interpretation nicht nur auf der individuellen Basis der Philosophie, sondern auch auf den gleichbleibenden Formen des Denkens. Dementsprechend setzt er den Gegenstand und Mittelpunkt seines 452 Ebd., S. 178. 453 Ebd., S. 6. 454 Ebd., S. 56f.

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Die Jugendgeschichte Hegels

Werkes, den »Biographierten«, in Bezug zu allgemeineren theoretischen Koordinaten. Der Biograph bezieht sich auf einen möglichst weiten Hintergrund. Innerhalb dieser beschriebenen gemeinsamen Welt wirkt das persönliche Erlebnis. Hegel »gab in alles Geschehen die Tiefe seines Erlebens hinein und verhielt sich dabei doch ganz gegenständlich«455. Diese individuelle Fähigkeit, seine Erlebnisse zu objektivieren, lässt ihn die historische Totalität sehen: »Während er die großen historischen Gestalten nachfühlte bis in die letzten Tiefen, vermochte er in dem Zusammenhang ihrer aller den Reichtum der geschichtlichen Welt in sich zusammenfassen.«456. In diesem Zusammenhang von verschiedenen Dimensionen, den Dilthey in dem Aufsatz Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in der Konzeption des »objektiven Geistes« umsetzt, bildet sich im biographischen Schreiben eine deutlich hermeneutische Perspektive heraus. In der Verbindung zwischen Biographen, in der Biographie Beschriebenem und objektiven Geist verabschiedet Dilthey sich von der Bestrebung, eine objektive Geschichte zu schreiben. Er trennt die verschiedenen Dimensionen der historiographischen Rekonstruktion.

6.

Jugend, Fragment, Manuskript

In der Trennung der innerlichen Dimension der persönlichen Entwicklung und der äußeren, historischen Dimension, wie sie in dem Werk Jugendgeschichte Hegels vorliegt, findet sich auch eine neue Konzeption der biographischen Arbeit. Zunächst rekonstruiert der Biograph mithilfe der Manuskripte und Fragmente die nachweisbaren Beziehungen zu anderen Philosophen. Diese Aufgabe kann durch eine äußerliche literarische Methode nicht befriedigend bewältigt werden. Die literarische Methode wird kombiniert mit dem Blick auf die Persönlichkeit: Sie arbeitet sich von der Rekonstruktion der äußeren Tatsachen zu den inneren Tatsachen vor. Bei diesem Vorgehen reichen die Dokumente nicht aus. Mithilfe der verschiedenen Fragmente muss der Geschichtsschreiber Zusammenhänge unter den Ideen finden und zur begrifflichen Erklärung dessen kommen, was der in der Biographie behandelte Autor selbst noch nicht zum Ausdruck gebracht hat. In der Biographie Hegels zeichnet sich die Aufgabe ab, das, was für den Philosoph noch unbewusst war, zu Bewusstsein zu bringen, das heißt, den vorbewussten kreativen Prozess zu betrachten. Die Fragmente werden also immer wieder und nach verschiedenen Gesichtspunkten studiert: Es ist 455 Ebd., S. 58. 456 Ebd.

Jugend, Fragment, Manuskript

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nämlich möglich, die chronologische Ordnung, das Auftauchen neuer Ideen und den noch nicht entwickelten begrifflichen Hintergrund in ihnen zu finden. Nachdem er den Inhalt dargestellt hat, nimmt Dilthey sich vor, »hinter den Fragmenten […] die Weltanschauung zu erblicken«457: Er will nicht die Stadien der Entwicklung der neuen Weltanschauung, sondern »einige wesentliche Züge des werdenden Systems« darstellen458. In dieser Phase übersetzt der Biograph das in Begriffe, was für den Philosoph noch nicht deutlich war : »Wenn man diese Begriffe Hegels [gemeint sind Ganzes, Teil, Einheit, Trennung, Entgegensetzung und Vereinigung, FDA] zu logischem Bewußtsein erhebt, was damals noch in keiner mir erinnerlichen Stelle geschehen ist, so darf gesagt werden, daß er die Wirklichkeit unter den Kategorien von Ganzem und Teil denkt«459. Wie oben gesehen, tritt der Biograph in die Phase des noch nicht systematisierten Denkens ein: Er rekonstruiert die Entwicklungsmöglichkeiten der Gedanken des »Biographierten« und transformiert sie aus einer neuen Perspektive. Dadurch wird die Biographie zur Voraussetzung des Nachphilosophierens. Sie setzt die Begriffe, die noch nicht in ein System eingefügt worden sind, in Bewegung und ermöglicht dadurch einen Fortschritt im philosophischen Denken. Auf das Erlebnis kann auch der letzte Bestandteil der philosophischen Bedeutung der Biographie zurückgeführt werden. Es ist die Grenze der persönlichen Erfahrung, die für den Philosophen ein Hindernis sein kann, und die der Grund ist für die Auslegung des Fragments an sich und für seine theoretisch unendliche Auslegbarkeit. Die Idee, dass das System im Leben wurzelt, geht mit der Idee der Bedeutung der Fragmente an sich einher. Das Basisprinzip der Hermeneutik – den Autor zu besser verstehen als er selbst sich verstanden hat – drückt sich in der Anerkennung der unbewussten Phase des hegelschen Denkens aus: »Die lange historische Arbeit Hegels, die wie in einem unterirdischen Bergwerk geschehen war, wurde jetzt an das Licht des philosophischen Bewußtseins erhoben«460. In dieser Rezeption von noch nicht systematisierten Ideen spielt der Biograph eine rein philosophische Rolle. Er unterscheidet in der Philosophie zwei Momente: ein lebendiges Moment, in welchem das Erleben zum Ausdruck kommt, und ein vergängliches Moment, in welchem das System enthalten ist. Die Biographie charakterisiert sich nach dem ersten Moment als Befreiung der Lebendigkeit von der Systematisierung: Die Biographie ist Voraussetzung jedes weiteren Philosophierens. Sie ist strukturell bedingt immer Jugendgeschichte; das ist der spezifische Charakter dieser Konzeption der Biographie. Indem sie auf jedes 457 458 459 460

Ebd., S. 137. Ebd. Ebd., S. 138. Ebd.

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Die Jugendgeschichte Hegels

geschlossene Modell der Individualität, auf jede notwendige Entwicklung verzichtet, begrenzt sich die Biographie eigentlich auf die Jugend und akzeptiert ihre eigene Unvollständigkeit. Zusammen mit der besonderen Bedeutung der Fragmente setzt sich in diesem Modell die Bedeutung des Manuskriptes für die Lebensbeschreibung durch. Als Fragment ist nicht nur der »unvollständige« Teil des Systems, wo die lebendige, noch freie Wurzel des Denkens sich zeigt, zu verstehen. Die ganze Jugend ist als Fragment zu verstehen: Sie ist der Teil eines Ganzen, das heißt Teil des Lebens. Sie ist noch nicht zu einer Totalität kristallisiert. Jugend, Manuskript und Fragment sind Aspekte, die in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen und den bei Dilthey allmählich wachsenden Vitalismus deutlich werden lassen. In Leben Schleiermachers dominierte der Wille, den ganzen Zusammenhang, die notwendige Beziehung unter den verschiedenen Momenten der persönlichen und allgemeinen Geschichte zu zeigen. Nun, in Jugendgeschichte Hegels, fehlen Notwendigkeit und Vollständigkeit: Die Biographie wird zum Fragment, das dafür offen und dazu geeignet ist, von anderen Biographen bearbeitet zu werden. Sie ist frei von ausschließlichen Systematisierungen. Dass Dilthey weder das Werk Leben Schleiermachers noch Jugendgeschichte Hegels zu Ende gebracht hat, ist kein Zeichen eines Versagens, sondern der Ausdruck seiner Konzeption der Biographie. In der Hegelbiographie verbindet sich die fragmentarische Konzeption der Biographie mit der historisch-philosophischen Absicht: In der Fragmentierung wird die diltheysche Annäherung an Hegels Denkens möglich. Die Entsprechung zwischen der hegelschen Methode und dem diltheyschen Modell des Verstehens erweist sich als zentrales Ziel dieses Werkes: Die aus dem System befreiten Kategorien Hegels werden in die diltheysche Perspektive aufgenommen. Der Biograph erkennt aus seinem Blickwinkel das, was bei Hegel noch nicht in Begriffen ausgedrückt wurde. Dilthey versetzt die Weltanschauung Hegels in seinen eigenen Denkhorizont. Er übersetzt Hegels noch nicht systematisierte Ideen in seine eigenen Kategorien. Dilthey »de-systematisiert«, was die Tradition verfestigte, indem er mit den im Leben liegenden Grundlagen des Denkens arbeitet. Dadurch kann Dilthey den Philosophen auf eine neue und originelle Weise erschließen. Die Gegenwärtigkeit der Geschichte, die in Leben Schleiermachers auf der Beziehung von Entwicklung und Rückwirkung als Dialektik des historischen Werdens fußt, findet hier im Erlebnis sein Fundament. Die Elemente der Jugendgeschichte Hegels unterscheiden sich ganz offensichtlich von jenen in Leben Schleiermachers, indem z. B. das individuelle Leben Hegels nicht ausführlich erzählt wird und der Kontext zwar wichtig, aber nicht entscheidend ist. Darüber hinaus führt der Vergleich zwischen den beiden Werken zu grundsätzlichen Fragen. Erstens ist, anders als in Leben Schleiermachers, die Periodisierung nicht mehr mit dem Generationsbegriff verbunden.

Jugend, Fragment, Manuskript

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Das hängt nicht nur von der Verwendung des Erlebnisbegriffes ab, sondern auch von der veränderten Funktion der Geschichte. Kern der Lebensbeschreibung ist hier das Genie. In Leben Schleiermachers dagegen kommt mit dem Begriff der Generation die Absicht zum Ausdruck, ein Konzept der Geschichte zu erarbeiten, in dem auch das Individuum erklärbar wird. Damit bildet die allgemeine Geschichte eine Einheit mit der Biographie: Im kulturellen Kontext entwickele sich das Individuum, als ob sich die Kultur in ihm kristallisiere. Bei Hegels Lebensbeschreibung hingegen verzichtet Dilthey auf eine solche weltgeschichtliche Perspektive: Die Arbeit an den Fragmenten führt nicht zu Vollständigkeit und kann keine »Lücke« in den historischen Kenntnissen füllen. Vielmehr gilt das Fragment an sich als Lebensausdruck. Ebenso versucht Dilthey nicht mehr, ein historisches Verfahren zu finden, das die Individualität erklärt. Das Verhältnis von Leben und Denken zeigt keine gemeinsame Entwicklung mehr : Die beiden Dimensionen werden jetzt getrennt. Die Ursprünglichkeit des persönlichen Elements zerfällt in den möglichen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Individualität einerseits und der parallelen Bewegung der Denkformation andererseits. Auch deswegen kann die Arbeit des Biographen nicht vollständig sein: Sie ist keine klar umrissene Aufgabe mehr und sucht nicht mehr in den Dokumenten nach einem beweisbaren Zusammenhang. Die biographische Arbeit ist jetzt offen und möchte keine endgültige Antwort geben. Sie soll vielmehr von anderen Biographen und Interpreten fortgesetzt werden. Dilthey will also durch sein Werk eine Brücke in die Zukunft schlagen und neue Wege für nachfolgende Geschichtsschreiber eröffnen. Anders als in Leben Schleiermachers hat er auf eine Rekonstruktion der historischen Situation verzichtet. Die Jugendgeschichte Hegels ist also eine Art »Probe« für den Aufsatz Aufbau der historischen Welt in den Geisteswissenschaften, an dem Dilthey in diesen Jahren arbeitet. In dem Werk über Hegel kann man drei Momente erkennen: Die Anwendung des Konzepts des Erlebnisses in der Biographie; die Idee einer Beziehung zwischen Systemen und Weltanschauungen; die historisch-philosophische Rekonstruktion als Form der Philosophie. In dieser Phase des diltheyschen Denkens spielt die Biographie immer noch eine zentrale Rolle für die Geschichte der Philosophie, ihre Konzeption zeigt aber im Vergleich mit dem Jugendwerk einschneidende Veränderungen. In Die Jugendgeschichte Hegels lehnt Dilthey die Zwangsläufigkeit der geschichtlich-kulturellen Entwicklung ab und betont die kreative Seite der historischen Arbeit. Die Geschichtsschreibung fußt hier nicht auf dem Vorhaben, die Vergangenheit aufgrund der geistigen Kontinuität gegenwärtig zu machen, sondern auf einem Willensakt des Geschichtsschreibers, eine in der Vergangenheit nicht realisierte Möglichkeit des Denkens zu entwickeln. Die Bedeutung der Biographie wird hier im Vergleich mit Leben Schleiermachers umgekehrt: Die

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Die Jugendgeschichte Hegels

Kultur bildet einen konstant bleibenden Gesamtzusammenhang nicht dank der schöpferischen Kraft der in der Biographie betrachteten vergangenen Persönlichkeit. Die Kontinuität basiert vielmehr auf den lebendigen Elementen, die die vergangene Persönlichkeit nicht völlig entwickelt hat. Insofern ist, was in der Biographie zentral ist, das, was noch lebendig ist, weil seine Möglichkeit noch nicht voll entfaltet ist. Die Biographie öffnet den historiographischen Horizont, weil sie den lebendigen Ursprung des Lebens zeigt, der in der Geschichte unwiederbringlich verloren gegangen ist. Hier zeigt sich die größte Distanz zur frühen Perspektive Diltheys: Die Möglichkeit der Biographie liegt nicht mehr in der geistigen Kontinuität und in der schöpferischen Wirkung der Persönlichkeit, sondern in der Tatsache, dass die Persönlichkeit entfernt, vergangen und damit »abgeschlossen« ist. Die Tatsache, dass die historische Realität und die Wirkungen der Persönlichkeit vergangen sind, ermöglicht, sie neu zu interpretieren. Nicht nur das Ziel der Biographie ändert sich, sondern auch ihre Methode. Sie beschränkt sich nicht mehr auf die Entwicklungsgeschichte, da sie darin kein historisches Gesetz findet. Im Gegenteil folgt die Biographie jetzt der Entwicklungsgeschichte, um die Wurzeln dieses Lebens, die sich in seinen Anfängen zeigen und später verschüttet werden, zu ergründen. Das psychologische Fundament dieses Modells, das Dilthey in den 1890erJahren erarbeitete, ist dementsprechend keine Lösung der in Leben Schleiermachers dargestellten Aufgabe, die Entwicklungsgeschichte zu erklären. In der Erhellung der individuellen Entwicklung kehrt dieses Modell den Sinn der Biographie um; sie folgt jetzt der Entwicklung, um zum Ursprung zurückzukommen, um zu sehen, was sich nicht verwirklichte und damit sozusagen »potenziell« geblieben ist. Dieses biographische Modell basiert nicht auf der Annahme geistiger Kontinuität, sondern auf der Erschaffung der Gegenwart. Eine solche Biographie passt zu den Neuerungen in Diltheys Epoche. Sie zeigt sich damit als eine Arbeit, die vom Alten befreit ist. Diese Befreiung geht in verschiedene Richtungen: Sie befreit von der Vergangenheit als geschlossener und toter Dimension und ebenfalls von der Bestimmung durch eine etablierte kulturelle Kontinuität, weil sie selbst neue Möglichkeiten und Bedeutungen produziert. War Leben Schleiermachers eine konstruktive Biographie, ist Jugendgeschichte Hegels die Dekonstruktion der Entwicklung mit dem Zweck, das (noch) nicht Entwickelte zu finden. In beiden Fällen herrscht das Prinzip des Unbewussten in der geistigen Produktion, das Dilthey stellenweise bereits in Leben Schleiermachers zugrunde gelegt hatte. Dieses Prinzip, das auf der Möglichkeit gründet, den Autor besser zu verstehen, als er selbst sich verstanden hat, wirkt in den beiden Biographien auf unterschiedliche Weise. In Leben Schleiermachers kommt durch die Dokumente das unbewusste Moment ans Licht und wird in den folgenden Phasen des Lebens des Protagonisten erklärt. In Hegels

Jugend, Fragment, Manuskript

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Biographie findet der Biograph für das unbewusste Moment neue Begriffe und interpretiert dieses Moment unabhängig von dem Gesamtzusammenhang des Systems. In Zusammenhang mit dieser Umkehrung der Biographie verändert sich auch die historisch-philosophische Arbeit. Dilthey lässt nicht nur eine mögliche Alternative zur Philosophie Hegels aufscheinen, sondern betrachtet das hegelsche System auch als das Ende der metaphysischen Epoche der Philosophie. In Bezug auf das reine Ich als Sicherstellung der objektiven Ordnung der Welt konstatiert Dilthey : »Es hätte nur weniger Berichtigungen der dargelegten Sätze bedurft, und es wäre möglich geworden, eine Grundwissenschaft aufzurichten, welche nur die in diesem gegenständlichen Denken der Welt enthaltenen Beziehungen analytisch entwickelte«461. Eine solche Wissenschaft hätte Hegel auf den Weg der Analyse des empirischen Bewusstseins geführt. Dieser Weg hätte ihm gezeigt, dass »die formalen Funktionen von Unterscheiden, Gleichsetzen, Verbinden, Trennen, Abstrahieren nur Wahrnehmungen zweiten Grades sind, welche Eindruck und Erlebnis nur konstruieren durch ein Gewahrwerden des in ihnen Enthaltenen«. Hegel aber habe diese Möglichkeit nicht realisiert, weil ihn »der Drang [beherrschte], das von Dichtern und Schriftstellern unseres Volkes Errungene in einer Weltanschauung zu verknüpfen und durch ein System zu organisieren«462. Der hegelsche Versuch der Systematisierung habe diesen gehemmt, einem anderen Weg zu folgen – eben jenem Weg, den Dilthey beschreitet. Hegels System ist die letzte metaphysische Formulierung der Philosophie: Nach ihm habe kein System auf das Leben der ganzen Nation gewirkt, weil in keinem anderen »das innere Leben einer großen Persönlichkeit [pulsierte]«463. Als Phänomenologie der Metaphysik konnte Die Jugendgeschichte Hegels, wie sie Dilthey geplant hatte, die Darstellung des hegelschen Systems fortsetzen: Ihr Auftrag war es, das Grundgefühl des Philosophen darzustellen, das heißt, das Wesen des Christentums als ständige dynamische Beziehung zwischen Endlichem und Unendlichem. In dieser Aufgabe fehlt aber das Lebendige, für das sich Dilthey interessierte. Die Möglichkeit einer Fortsetzung der Biographie findet sich in dem Verhältnis von Hegels Denken zu den Weltanschauungen und zu anderen Systemen. Aber der Erkundung dieser Möglichkeit stellt sich Dilthey nicht in dieser Biographie, sondern in der Klassifikation der Weltanschauungen, die er in diesen Jahren zusammenstellt464. Das Spezifische in Die Jugendgeschichte Hegels ist die Rekonstruktion des 461 462 463 464

Ebd., S. 202. Ebd. Ebd., S. 218. Vgl. GS VIII.

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Die Jugendgeschichte Hegels

Erlebnisses als historiographischem Modell. Das Erlebnis, in all seinen Bedeutungsvarianten, wird in der Hegel-Biographie in zwei Richtungen entwickelt: Einerseits ist es die Voraussetzung der biographischen Konstruktion, da Dilthey in den Fragmenten das Erlebte sucht, andererseits ist es das Ergebnis der biographischen Analyse, da Dilthey erkennt, dass die historische Methode Hegels auf der Fähigkeit basiert, die Erlebnisse der Vergangenheit und anderer Menschen nachzuerleben. Diese beiden Aspekte fließen in der Jugendgeschichte Hegels zusammen, indem Dilthey diese Biographie vom Erlebnisbegriff ausgehend aufbaut. Einige Jahre später erklärt er, dass das, »was so im Fluss der Zeit eine Einheit in der Präsenz bildet, weil es eine einheitliche Bedeutung hat, […] die kleinste Einheit [ist], die wir als Erlebnis bezeichnen können«465. Also definiert Dilthey als Erlebnis »jede umfassendere Einheit von Lebensteilen, die durch eine gemeinsame Bedeutung für den Lebensverlauf verbunden sind […], selbst wo die Teile durch unterbrechende Vorgänge voneinander getrennt sind«466. Dilthey erklärte schon 1878 den Zusammenhang zwischen den biographischen Ereignissen und der poetischen Einbildungskraft zur Basis seiner literarischen Theorie. In Jugendgeschichte Hegels versucht er eine kohärente Anwendung der Idee des Erlebnisses, um die These dieses Zusammenhanges zu beweisen. Auch wenn das Erlebnis immer in der diltheyschen Reflexion präsent ist, wird es erst in den Schriften über den Aufbau der geschichtlichen Welt theoretisiert und in Die Jugendgeschichte Hegels schlussendlich konkret angewendet. Die Anwendung des Erlebnis-Begriffes in der Biographie führt zu weiteren Fragen. Dilthey gründet seine biographische Rekonstruktion auf der Möglichkeit, die Erlebnisse innerhalb einer Entwicklungsgeschichte zu bestimmen. Er bringt ans Licht, was in der hegelschen Existenz in dessen Weltanschauung zusammenfließt und später zum System wird. Zu diesem Zweck findet er in den Manuskripten die Beschreibungen von persönlichen Gemütszuständen, die Hegel später intellektuell bearbeitet. Die Möglichkeit, die Erlebnisse zu bestimmen, entsteht durch die Klassifikation der verschiedenen Typen von Verhältnissen. Diese Klassifikation führt er erst zu diesem Zeitpunkt ein, um sie auf die Biographie anzuwenden. Wurde Hegel früher von Dilthey als Dichter und Denker angesehen, beleuchtet Dilthey in Jugendgeschichte Hegels noch andere Aspekte von Hegels Persönlichkeit und Erlebnissen. Hier ist also schon die auf den unterschiedlichen Verhältnissen zur Realität basierende psychologische Erlebnisanalyse aktiv. Der hegelschen Biographie ist die Psychologie zugrunde gelegt, obwohl sie noch eng an das historisch-kulturelle Vorgehen von Leben Schleiermachers ge465 GS VII, S. 194. 466 Ebd.

Bilanz des biographischen Schreibens

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bunden ist. In ihr fließt die Vorstellung eines historischen Zusammenhanges von Vergangenheit, Gegenwart und zum Teil auch Zukunft mit einem psychologischen Blick auf das Seelenleben zusammen.

7.

Bilanz des biographischen Schreibens

Mit Die Jugendgeschichte Hegels verabschiedet sich Dilthey vom biographischen Modell. In den letzten Jahren seines Lebens vertieft und systematisiert er seine bisherigen Überlegungen zur Geschichte. Diese Reflexionen, von der Forschung vielfach rezipiert, haben die langjährige Verwendung des biographischen Modells zur Voraussetzung, was auch als Vorarbeit betrachtet werden kann. Die Ergebnisse der analysierten Biographien helfen dabei, Diltheys Sichtweise der Rolle des individuellen Lebens in der Geschichte und in der Historiographie zu verstehen. Das Werk Leben Schleiermachers mit seinen unterschiedlichen Perspektiven ist die Matrize des späteren Denkens von Dilthey. Dieses Werk, das von keiner anderen theoretischen Schrift vorbereitet wurde, erweist sich als der Ort, an dem alle Hauptthemen und Fragen Diltheys behandelt werden. Das anspruchsvolle Projekt konfrontierte Dilthey mit der Schwierigkeit, die vielfältigen Themen und Perspektiven, die in dem Werk zusammenlaufen, zu steuern. Sein Schwanken zwischen Positivismus und Romantik ist als Ergebnis einer strukturellen Schwierigkeit anzusehen, eine so umfangreiche historiographische Dimension zu behandeln. Das Jugendprojekt Diltheys – die deutsche philosophische und literarische Bewegung durch den Generationsbegriff und durch dessen Verhältnis zu den einzelnen Persönlichkeiten zu erklären, um die historische Kontinuität der Kultur hervorzuheben – bleibt wegen der Unversöhnbarkeit der verschiedenen historischen Dimensionen, besonders zwischen individuellem und allgemein-historischem Leben, auf der Strecke. Angeregt durch seine kritische Rezension von Grimms Goethebiographie beginnt Dilthey die biographische Frage neu zu bearbeiten. Er stellt das Modell in Frage, das er in Leben Schleiermachers zugrunde legte und das nach einer umfassenden historischen Darstellung strebt. Die neuen Reflexionen führen zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen individueller Kreativität und Welterfahrung. Durch diese Änderung in der Konzeption entwickelt sich eine enge Verbindung zwischen Psychologie und Biographie, beide Wissenschaften werden als Fundamente der Erkenntnistheorie und der Geisteswissenschaften betrachtet. Als historiographisches Modell wird die Biographie auf die Kunst zurückgeführt: Dilthey verzichtet also auf eine nähere historisch-wissenschaftliche Erklärung. Mithilfe dieser Psychologisierung der Biographie werden einige in Leben Schleiermachers aufgeworfene Fragen beantwortet. Dilthey erhellt die

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Die Jugendgeschichte Hegels

Struktur des Seelenlebens und die Beziehung zwischen Denken und Gefühl, wodurch er die zentrale Rolle des Gefühls hervorhebt. Darüber hinaus schafft er ein Fundament für eine neue Betrachtung der Entwicklung als einer mit einem bestimmten Ziel verbundenen Bewegung. Anders als bei der problematischen Konzeption der Individualität in Leben Schleiermachers gelingt es Dilthey nun, mithilfe der psychologischen Theorie den allgemeinen Charakter des Seelenlebens darzustellen. Indem zwischen Übereinstimmung und Singularität unterschieden wird, wird außerdem die allmähliche Annäherung an das Individuelle auf Basis des Allgemeinen möglich. Dabei verstärkt diese psychologische Theorie jedoch das in dem Werk bereits seit 1870 deutlich werdende Risiko einer Vereinheitlichung der Individuen: Der Einzelne wird nämlich erst mit Blick auf das Allgemeine verständlich. Die Individualität bildet sich auf der Grundlage der allgemeinen Menschennatur. Die von Dilthey verwendeten Mittel, um aus der Sackgasse zu kommen, in die er mit Leben Schleiermachers geraten war, lösen die Individualität selbst auf: Sie wird zum Objekt der psychologischen Betrachtung, in der die historische Wurzel verloren geht. Die Jugendgeschichte Hegels beschließt für Dilthey eine ganze Epoche: Sie greift die ungelösten Themen aus Leben Schleiermachers auf und versucht, diese zu klären und die verlorene Bedeutung der individuellen Lebensgeschichte dingfest zu machen. Dilthey bemüht sich in der biographischen Arbeit nicht mehr um eine Versöhnung der individuellen mit der allgemeinhistorischen Dimension. Auf den Spuren seines Aufsatzes Die Einbildungskraft der Dichter konzentriert er sich auf das Verhalten zur Realität als zentralem Gegenstand der biographischen Arbeit. Auf dieser Grundlage rekonstruiert er die Verbindung zwischen Leben und Werk. Somit fließt die Konzeption verschiedener Typen nicht weiterhin in die Untersuchung ein; die Biographie wird unter unterschiedlichen Gesichtspunkten »ent-psychologisiert« und zeigt sich, in Kontinuität mit dem Jugendansatz, deutlich als historiographisches Werk. In dieser zentralen Periode von Diltheys Reflexion wird das Risiko deutlich, dass eine wissenschaftliche Biographie, die in der Analyse der Individualität mit den Naturwissenschaften wetteifert, ihre spezifische Aufgabe (ein menschliches Leben zu beschreiben) verliert. Die Geschichtlichkeit des Lebens, Voraussetzung des diltheyschen Interesses für die Biographie, wird langsam zu einer psychoanthropologischen Betrachtung mit einer empirischen Basis. In Die Jugendgeschichte Hegels verbindet sich das biographische Modell mit dem des Verstehens und entfernt sich von dem positivistischen Vorgehen des jungen Diltheys467. Der begriffliche Horizont von Verstehen, Erlebnis, Nacher467 Das Problem des Verstehens ist ein Kernpunkt der Dilthey-Forschung. Die Bibliographie ist unüberschaubar. Hier seien nur einige besonders wichtige Beiträge zitiert: J. Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorien im 19. Jahrhundert,

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leben und Ausdruck, der seit 1905 immer wichtiger für die Kritik der historischen Vernunft wird, kommt in Hegels Biographie zur konkreten Anwendung. Ideell verbindet sich dieses letzte Werk unter zwei Gesichtspunkten mit Leben Schleiermachers: Einerseits ist die Hegelbiographie ein weiteres Stück der deutschen Geistesgeschichte, andererseits entwickelt sie eine neue Idee der geschichtlichen Entwicklung, die das Generationsmodell auflöst. Die Biographie Hegels ist eigentlich die Assimilierung Diltheys an Hegels Denken. Die Biographie folgt also nicht einer allgemeinen historiographischen Methode, sondern Diltheys »eigener« Methode, mit der er der kulturellen Entwicklung eine historische Form gibt. Die Änderungen in der biographischen Konzeption sind dabei immer Bestandteil des Projektes einer historischen Wissenschaft. Dilthey verwirft im Jahre 1910 endgültig die wissenschaftliche Form der Biographie, nachdem er über die großen Schwierigkeiten, dieses Projekt zu realisieren, sein Leben lang nachgedacht hatte. In Die Jugendgeschichte Hegels finden die Fragen, die in Leben Schleiermachers aufgeworfen wurden, auf eine Weise Eingang, die sich auf die ganze Konzeption der Biographie auswirkt. Nach der Klärung der frühen Fragen durch die psychologische Begründung, durch die Dilthey das Verhältnis zwischen Allgemeinen und Individuellen kohärent theoretisiert, findet er hier eine neue Lösung. In den Jugendjahren und in den 1890er-Jahren war die Voraussetzung der Biographie die Übereinstimmung zwischen dem Individuum und seinem Werk. Ob als Ausdruck des schöpferischen Individuums oder als Ergebnis der Bestimmung des Einzelnen durch die Umstände, ließ eine solche Übereinstimmung in der Biographie ein allgemeines historisches Modell erkennen. Aus dieser Perspektive löste die Biographie die ganze historische Frage auf, ohne nach dem Spezifischen des Verhältnisses von Leben und Werk zu fragen. Die Betonung des geistigen produktiv-schöpferischen Elements führte zu der Auseinandersetzung der Biographie mit dem Problem der historischen Produktivität des Individuums, ohne sich jedoch unmittelbar mit dem Problem der Beziehung zwischen Leben und Werk zu befassen. Als Dilthey 1878 die Antwort auf die Frage der poetischen Einbildungskraft findet, führt er eine Unterscheidung ein, die auf die Biographie zurückwirkt: Diese Unterscheidung betrifft die Differenzierung und Bestimmung verschiedener Kultursphären innerhalb der geistigen Welt. Anders als Leben Schleiermachers betont Jugendgeschichte Hegels Mohr, Tübingen 1926–1933; A. Stein, Der Begriff des Verstehens bei Dilthey, Mohr, Tübingen 1922; K.-O. Apel, Das Verstehen. Eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte, Archiv für Begriffsgeschichte, 1 (1955), S. 142ff.; J. C. Maraldo, Der hermeneutische Zirkel. Untersuchungen zu Schleiermacher, Dilthey und Heidegger, Verlag Karl Alber, FreiburgMünchen 1970; C. Zöckler, Dilthey und die Hermeneutik. Diltheys Begründung der Hermeneutik und die Geschichte ihrer Rezeption, Kohlhammer, Stuttgart 1975; M. Riedel, Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaft, Klett-Cotta, Stuttgart 1978.

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Die Jugendgeschichte Hegels

die Besonderheit des Verhältnisses zwischen Philosophie und Leben und die Notwendigkeit, die auf verschiedenen Erlebnissen gründenden geistigen Bereiche zu differenzieren. Indem er die enge Verbundenheit zwischen Philosophie und Leben anerkennt, gibt Dilthey das Vorhaben eines harmonischen und vollständigen Bildes des geistigen Lebens auf. Die Philosophie als ein System der Kultur mit spezifischem Charakter wird vom individuellen Leben unabhängig und konstituiert sich als objektiver Geist. Auch nachdem die Biographie ihre zentrale Stellung in der Geschichte der Philosophie verloren hat, bleibt sie Bezugspunkt jeder Rekonstruktion der geistigen Welt, weil man in ihr die lebendige Wurzel der Geistesgeschichte findet.

Kapitel 5: Der Abschied von der Lebensgeschichte

1.

Die autobiographische Begründung der Biographie

In dem berühmten nachgelassenen Fragment Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (um 1910) stellt Dilthey den wissenschaftlichen Wert der Biographie in Frage und unterstreicht die Notwendigkeit, diese als Epochengeschichte zu konzipieren. Damit legt er das zentrale Ergebnis seiner langen Beschäftigung mit dem biographischen Schreiben vor468. Doch der Entwurf für den Aufbau der geschichtlichen Welt resultiert nicht ausschließlich aus den Reflexionen über dieses Thema oder aus dem Einfluss Hegels auf den alten Dilthey. Die in dem nachgelassenen Fragment dargestellten Thesen basieren vielmehr darauf, dass Dilthey die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, eine Biographie zu schreiben, äußerst bewusst sind469. Die Jugendgeschichte Hegels, als letzter Schritt dieser geschichtlichen Praktik, hat eine Reihe von Fragen und Problemen aufgeworfen, die sich unter verschiedenen Gesichtspunkten ganz anders darstellen als jene in Leben Schleiermachers. In diesem späteren Werk wird nämlich ein neues historiographisches Modell angeboten. Die im vierten Kapitel durchgeführte Analyse von Jugendgeschichte Hegels ermöglicht, die Entwicklung der diltheyschen Reflexion über die Biographie in den folgenden Jahren zu verstehen. Die in dem Werk über Hegel angedeutete Idee eines auf dem historischen Erlebnis begründeten Verstehens ist der Kern einer neuen Betrachtung der Biographiefrage. Sie entwickelt sich in einem Geflecht von Verknüpfungen zwischen Biographen und »Biographierten«. Damit wird auch die positivistische Wissenschaftsauffassung des jungen Diltheys in Frage stellt. Indem der Rolle des Biographen und der Analyse seiner historischen Einstellung verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt wird, rücken auch die Erfahrun468 GS VII, S. 250. 469 Diese Erkenntnis hat Dilthey in dem bereits zitierten Brief an den Grafen Yorck von Wartenburg im Jahre 1897 zum Ausdruck gebracht, vgl. Kapitel 1, Abschnitt 1.

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Der Abschied von der Lebensgeschichte

gen des Biografen in den Vordergrund. Stand in Leben Schleiermachers das Problem der Versöhnung zwischen Individuellem und Allgemeinem, zwischen Subjektivem und Objektivem im Zentrum der Biographie, verlagert sich in Jugendgeschichte Hegels das Interesse auf die persönliche Erfahrung. Die Geschichte des jungen Hegels, die das Entstehen des »historischen Auges« des Protagonisten schildert, führt mithilfe der allmählichen Erhellung seiner Erlebnisse zu einer Vertiefung der Betrachtung seines Lebens als Quelle des geschichtlichen Sehens, also des Geschichtsverständnisses. Hegel begreift die historische Welt nur dank seiner eigenen Erfahrungen und so wird ihm der Blick auf die Vergangenheit eröffnet. Das beweist für Dilthey die Wichtigkeit der Selbstbesinnung als ursprüngliches Fundament der historischen Erkenntnis. Die Idee des eigenen Lebens als Ursprung des geschichtlichen Sehens entsteht durch die Selbstbesinnung. Dadurch verschiebt sich die Bedeutung der geschichtlichen Arbeit: Sie ist weniger eine Methode als eine Dimension des Lebens. Mithilfe des Begriffes des geschichtlichen Sehens stellt Dilthey die persönliche Erfahrung des Geschichtsschreibers der Welt gegenüber : Deswegen ist er gezwungen, sich mit dem bis jetzt eher vernachlässigten Thema der Autobiographie auseinanderzusetzen. Zwischen dem in der Jugendgeschichte Hegels realisierten Modell und der Selbstbiographie zieht Dilthey letztendlich eine Parallele. Nachdem er durch Die Jugendgeschichte Hegels definitiv festgestellt hat, dass »die Macht und Breite des eigenen Lebens, die Energie der Besinnung über dasselbe die Grundlage des geschichtlichen Sehens [ist]«470, erkennt er in der Autobiographie den Ausgangspunkt zum Verständnis der historischen Welt. Die Selbstbiographien seien »der direkteste Ausdruck der Besinnung über das Leben«471. Die Aufmerksamkeit, die er der Besinnung schenkt, wirkt sich auf den biographischen Ansatz aus. Dilthey beschreibt nun als Aufgabe des Biographen, »aus solchen Dokumenten den Wirkungszusammenhang zu verstehen, in welchem ein Individuum von seinem Milieu bestimmt wird und auf dieses reagiert«472. Er findet den Lebenszusammenhang des Individuums in dessen Erinnerung, in der sich die Beziehung zwischen dem Lebensverlauf, seinen Bedingungen und seinen Wirkungen darstellt. Die ursprüngliche Dimension der Geschichte bleibt damit noch an das Einzelleben gebunden und liegt unmittelbar im eigenen Selbst: In der Erinnerung werde die Beziehung zwischen Lebensbedingungen und Lebensverlauf hergestellt – eine Beziehung, die auf ein Ich verweise. Die Erinnerung bilde auch »die Urzelle der Geschichte«, denn »die

470 GS VII, S. 201. 471 Ebd., S. 198. 472 Ebd., S. 246.

Die autobiographische Begründung der Biographie

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spezifischen historischen Kategorien entspringen hier«.473 Noch bevor wir diese Lebensstruktur und die Erinnerung als deren Kern in Anderen erkennen, können wir sie in uns selbst finden. Anders als bei der auf Beobachtung der Anderen begründeten psychologischen Erkenntnis, die unter positivistischem Einfluss die Möglichkeit zur Selbstbeobachtung verneinte, spielt in dieser Phase die Selbstbesinnung die zentrale Rolle. Konsequenterweise rückt damit die Autobiographie an die Stelle der Biographie, die noch in den 1890er-Jahren als wichtigste Basis und Methode der psycho-anthropologischen Erkenntnis betrachtet wurde. In Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt gewinnen die Selbstbiographien neben der dokumentarischen auch eine theoretische Bedeutung, die zu einer Umkehrung der Bedeutung von Biographie und Selbstbiographie führt. Da das Verstehen seiner selbst ursprünglicher ist als das Verstehen der Anderen, sieht Dilthey in der Autobiographie die Quelle der Geschichtlichkeit. Deswegen verzichtet er auf die Idee der objektiven biographischen Erkenntnis: Indem die Konzeption des Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges aufgegeben wird, ist auch die objektive und vollständige Rekonstruktion der Individualität des Anderen unmöglich. Der Übergang der Aufmerksamkeit vom Anderen zum Selbst resultiert aus der Prämisse, dass die historischen Kategorien, durch die der Mensch die Welt interpretiert, schon der individuellen Dimension, nämlich der Reflexion des Menschen über sich selbst, immanent sind. Die Analyse der Kategorien, die in der Selbstbesinnung erscheinen, wird in der Theorie des reifen Diltheys zum Fundament der historischen Welt. Die Reduktion der Geschichte mitsamt ihrer komplexen Dimension der Transzendentalität der eigenen Zeitlichkeit, die in jedem Akt der Selbstbesinnung vorkommt, verursacht zugleich einen weiteren Bruch im diltheyschen Modell. Die ganze historische Welt entstehe durch den individuellen Akt der Selbstreflexion. Dennoch stellt Dilthey fest: »Das Individuum ist nur der Kreuzungspunkt für Kultursysteme, Organisationen, in die sein Dasein verwoben ist«474. Wie schon in seinen frühen Jahren befindet sich Dilthey auch jetzt vor der Unterscheidung zwischen einer ursprünglichen und individuellen Dimension und einer historischen Bestimmung, die über das Individuelle hinausgeht. Im Plan der Fortsetzung findet sich ein Versuch, diese Spaltung zu überwinden. Dieser Versuch realisiert sich durch eine auf der Universalität der Selbstbesinnung basierende »Demokratisierung« des geschichtlichen Wissens. Die Selbstbesinnung »erneuert sich in irgendeinem Grade in jedem Individuum. Sie ist immer da, sie äußert sich in immer neuen Formen« und »macht geschichtliches 473 Ebd., S. 246f. 474 Ebd., S. 251.

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Der Abschied von der Lebensgeschichte

Sehen möglich«475. Das auf der Selbstbesinnung begründete historische Modell beansprucht damit Allgemeingültigkeit. Die Selbstbesinnung, durch die das Dasein erst historisch entsteht, ist die Voraussetzung, allgemeingültige Kategorien abzuleiten. Hatte Dilthey diese Kategorien in den psychologischen Studien in Bezug auf die Struktur des Individuums schon eingeführt, zeigt er hier ihren Ursprung: Die sich auf Grundlage der Selbstbesinnung entwickelnden Kategorien zeigen »die strukturellen Formen des Lebens selbst in seinem zeitlichen Verlauf«, das Fundament dieser Formen ist die Zeitlichkeit des Lebens476. Das Leben ist von Anfang an Lebensverlauf, also Geschichtlichkeit. Diese historische Natur findet man in jedem Individuum, das in irgendeiner Weise über sich selbst nachdenkt. Die so entstehenden Kategorien haben einen universalen Charakter. Aus der transzendentalen Begründung der historischen Welt folgt eine zeitliche Struktur, in der die Gegenwart die Hauptdimension darstellt. Da in dem Erlebnis die Zeit erfahren wird als »das rastlose Vorrücken der Gegenwart, in welchem das Gegenwärtige immerfort Vergangenheit wird und das Zukünftige Gegenwart«, ist »die Gegenwart immer da«477. Zugleich stellt Dilthey aber fest: »Gegenwart ist niemals«: Sie sei der Natur des Erlebnisses nach immer von der Vergangenheit bestimmt. Diese Gegenwart trage also schon einen Zeitverlauf in sich: Was wir als Gegenwart erleben, enthalte die Erinnerung an das, was einmal Zukunft war. Diese Zeitstruktur verhindere, das Wesen des Lebens zu begreifen, weil »der Zeitverlauf in strengem Sinn [nicht] erlebbar ist«478. Die strukturelle Beziehung zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ist konstant und jedem Erlebnis gemein, während das Erlebnis selbst unbegreiflich ist: Es ist nämlich unmöglich, seinen Verlauf anzuhalten, da der Verlauf selbst seine Struktur ist. Einer solchen Struktur des Zeiterlebnisses, in dem die Gegenwart dominiert, entspricht zwangsläufig das autobiographische Modell. Die Selbstbesinnung muss sich gleichsam als Autobiographie verwirklichen. Für Dilthey gibt es verschiedene Formen und Stufen der Selbstbesinnung: Da die Gegenwart jedoch nicht beobachtbar ist, da sie immer schon vergangen ist, ist eine historische Dimension nötig, um sich selbst zu betrachten. Die Unmöglichkeit einer Selbstbesinnung als reine Introspektion479, als »punktuelle« und anschauliche Betrachtung seiner selbst, führt zur Selbstbiographie.

475 476 477 478 479

Ebd., S. 200f. Ebd., S. 203. Ebd., S. 193. Ebd., S. 195. Vgl. ebd., S. 250: »Nicht durch Introspektion erfassen wir die menschliche Natur«.

Die geschichtlichen Formen der Autobiographie und die Kategorien des Lebens

2.

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Die geschichtlichen Formen der Autobiographie und die Kategorien des Lebens

Als expliziteste literarische Form, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen, ist die Autobiographie auch »die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf«480. Da der Lebensverlauf wegen der oben beschriebenen Natur des Erlebnisses in seinen einzelnen Momenten nicht erlebbar ist, ist die literarische Dimension die einzige Möglichkeit, ihn zu vergegenwärtigen. Darin unterscheidet sich die Autobiographie von allen anderen Formen der Selbstbesinnung wie den moralischen Meditationen oder der Lebensphilosophie: Nur in ihr wird die zeitliche Dimension des Lebens begreifbar. In diesem Sinn ist die Autobiographie nicht nur die am höchsten zu bewertende Form, das Leben zu verstehen, sondern auch die einzige Form, in der das Dasein sich im zeitlichen Verlauf darstellt. Sie gibt das nicht unmittelbar wahrnehmbare Erlebnis der Zeit in seiner charakteristischen Form wieder. Obwohl die Selbstbesinnung die universale Quelle für die Historizität des menschlichen Sehens ist, verwirklicht sie sich nur im Beschreiben des eigenen Lebens. Erst dadurch werden die notwendigen Kategorien für die Interpretation der menschlichen Welt gebildet. Die Autobiographie ist keine literarische Form, in der sich verschiedene Formen der Existenz zeigen. Ihre typische historische Form, das heißt die Bekenntnisse von Augustinus und Rousseau und Dichtung und Wahrheit von Goethe, ist für Dilthey dem Erfassen neuer Dimensionen des individuellen Daseins, die früher nicht existierten, geschuldet. Diese Werke stellen zudem dar, wie die Individuen die einzelnen Teile ihres Lebensverlaufes zu einem Ganzen zusammenbringen. Durch dieses Ganze gelangen sie zu einem Verständnis des Lebens. Die (Auto-)Biographien von Augustinus, Rousseau und Goethe sind keine überzeitlichen Typen: Sie sind vielmehr zeitlich orientiert, sie zeigen historische Kategorien in crescendo. In jedem dieser Werke werden neue Horizonte der Reflexion über das Leben eröffnet. Bei Augustinus vollzieht sich das Verständnis des Lebens »in der Beziehung der Teilen desselben zur Realisierung eines absoluten Wertes, eines unbedingt höchsten Gutes«: Der Autor, der rückwärts blicke, finde in seiner Bekehrung und ihrer Vorgeschichte »das Bewusstsein von der Bedeutung jedes früheren Lebensmoments«481. Bei Rousseau werden die Kategorien von Bedeutung, Wert, Sinn und Zweck in eine nicht metaphysische Perspektive eingefügt: »Rousseau will vor allem das Recht seiner individuellen Existenz zur Anerkennung bringen« und »hierin ist eine neue Anschauung von unendlichen Möglichkeiten der Realisierung von Lebenswer480 Ebd., S. 200. 481 Ebd., S. 198.

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Der Abschied von der Lebensgeschichte

ten enthalten«482. Nur Goethe, so Dilthey, »verhält sich universal-historisch zu seiner eigenen Existenz«. Der Dichter »sieht sich durchaus im Zusammenhang mit der literarischen Bewegung seiner Epoche«483. Im Alter erkenne er jeden Moment »seiner Existenz in doppeltem Sinn bedeutend: als genossene Lebensfülle und als in den Zusammenhang des Lebens hineinwirkende Kraft«. Aus dieser Perspektive, unter der er »jede Gegenwart […] als erfüllt und bestimmt von Vergangenem, als sich ausstreckend zur Gestaltung der Zukunft« fühlt, taucht die Kategorie der Entwicklung auf. Im Übrigen wird den Lebensverlauf zu erfassen zugleich als Gestaltung begriffen484. Die hier geschilderten Kategorien vertiefen die Ergebnisse der analytischen und beschreibenden Psychologie Diltheys, an denen er auch in diesen letzten Jahren festhält. Die Analyse der drei berühmten Autobiographien bestätigt das Bild der diltheyschen Psychologie, die »Zweck« und »Wert« bereits als zentrale Kategorien des Lebens erkannt hatte. Hier werden sie historisch eingeordnet und ihre schrittweise Entstehung in den literarischen Formen der Selbstbesinnung wird gezeigt. Die Priorität dieser Kategorien verglichen mit den allgemeinen Kategorien des Denkens bleibt bestehen485. Unter diesen Lebenskategorien (Wert, Zweck, Bedeutung, Gestaltung, Entwicklung) besteht keine Hierarchie: »Indem wir zurückblicken in der Erinnerung, erfassen wir den Zusammenhang der abgelaufenen Glieder des Lebensverlaufes unter der Kategorie ihrer Bedeutung […]. [Jedoch] wenn wir in der Gegenwart leben, die von Realitäten erfüllt ist, erfahren wir im Gefühl ihren positiven oder negativen Wert, und wenn wir uns der Zukunft entgegenstrecken, entsteht aus diesem Verhalten die Kategorie des Zweckes«486. Dilthey betont, dass »keine diese Kategorien der anderen untergeordnet werden [kann], da jede von einem anderen Gesichtspunkt aus das Ganze des Lebens dem Verstehen zugänglich macht«487. Unter diesen allen überwindet »nur die Kategorie der Bedeutung das bloße Nebeneinander«, weil sie »die eigenste Kategorie geschichtlichen Denkens« ist488. In der zeitlichen Struktur des menschlichen Daseins, die sich in jeder Selbstbesinnung zeige und in der Autobiographie konkretisiere, ist die Gegenwart ein »Nichtort«, an dem jede weitere zeitliche Dimension aufgehoben wird. 482 483 484 485

Ebd., S. 199. Ebd. Ebd. In Bezug auf die diltheysche Kategorienlehre vgl. Leben und Erkennen. Ein Entwurf zur erkenntnistheoretischen Logik und Kategorienlehre, GS XIX, S. 333ff. und vor allem die Texte in GS XX. 486 GS VII, S. 201. 487 Ebd. 488 Ebd., S. 202.

Der Lebensverlauf: Die Widersprüche des biographischen Konzepts

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Indem die Gegenwart Vergangenheit und Zukunft in sich aufnimmt, macht sie sich selbst zunichte. Eine solche zeitliche Struktur hat unzweifelhaft ihre Wirkung auf die Rolle des Geschichtsschreibers. Die Unmöglichkeit, der Gegenwart zu »entfliehen«, da erst in ihr die weiteren Dimensionen des Lebens entstehen, macht sie zum unabdingbaren Ausgangspunkt des Geschichtsschreibers. In diesem Sinn wird die Idee der Gegenwärtigkeit der Geschichte als das Vergegenwärtigen jeglicher Vergangenheit ausgelegt: Die Unmöglichkeit, aus sich selbst herauszukommen, lässt diese Form der Gegenwärtigkeit unvermeidbar werden. Dank der Kraft ihres Einflusses auf die Gegenwart ist die Vergangenheit in der Gegenwart selbst enthalten: Die Gegenwart selber ist also auch zum Teil Vergangenes. Der historische Akt, der die Vergangenheit vergegenwärtigt, ist ihre Bestätigung; seine Bedeutung ist die konstante Anwesenheit der Vergangenheit als bestimmende Macht. Aus dieser Perspektive bringt die Gegenwart die Vergangenheit als Tradition mit: Die Gegenwart ist nichts anderes als die noch mächtige und tätige Vergangenheit. In der transzendentalen Begründung findet also Dilthey die Lösung für die geistige Kontinuität, die in den Jugendschriften dem Generationsbegriff und dem Modell von Entwicklung und Rückwirkung überlassen war. In dieser neuen Begründung ist die Kraft der Vergangenheit schon in der Gegenwart tätig, sodass die Struktur des Lebens die geistige Kontinuität mitbringt489. Die Notwendigkeit des historischen Erfassens seiner selbst und der geistigen Kontinuität als Macht der Vergangenheit, sind die Resultate, die sich aus der transzendentalen Interpretation der durch die Selbstbesinnung entstandenen historischen Kategorien ableiten.

3.

Der Lebensverlauf: Die Widersprüche des biographischen Konzepts

Indem er das historische Sehen auf der Selbstbesinnung gründet und der Autobiographie eine zentrale Rolle im Aufbau der geschichtlichen Welt gibt, sucht Dilthey nach einer Verallgemeinerung und Universalisierung der historischen Kategorien. Dabei geht es darum, endlich jene kritische Untersuchung zu vervollständigen, die er in Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft begonnen hatte490. Nicht zufällig eröffnet Dilthey den Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften mit dem Problem der Autobiographie: In diesem Text will Dilthey klären, »wie der Aufbau der geistigen Welt im Subjekt ein Wissen der geistigen Wirklichkeit möglich« macht491. Dieses 489 Vgl. ebd., S. 194f. 490 Vgl. ebd., S. 191ff. 491 Ebd., S. 191.

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Der Abschied von der Lebensgeschichte

Vorhaben basiert auf dem Beweis der Realität »dessen, was im Erleben zur Auffassung kommt«, das heißt, dem »objektiven Wert der Kategorien der geistigen Welt«492. Die realen Kategorien haben, anders als die formalen, »in der Auffassung der geistigen Welt ihren Ursprung«493. Sie werden auf die ganze Realität angewandt. In dem aus der Autobiographie entstandenen Kategorienbild ist die Bedeutung der Schlüssel zur geschichtlichen Welt. Diese entsteht aus der Konstituierung des Lebens als Lebensverlauf, das den Zusammenhang seiner einzelnen Teile, der Erlebnisse, benötigt, da der Verlauf an sich nicht unmittelbar erlebt werden kann. Die Tatsache, dass der Lebensverlauf – verglichen mit dem Erleben – später konstituiert wird, findet durch die Kategorie der Bedeutung sowohl den notwendigen Zusammenhang zwischen den Erlebnissen als auch die Identität, auf die dieser Zusammenhang sich bezieht. Der so konzipierte Lebensverlauf wirft seinerseits viele Fragen auf, die Dilthey nicht beantworten kann. Die zeitliche Struktur des Lebens, dank der das Leben selbst durch den Zusammenhang seiner Momente geschichtlich rekonstruiert werden kann, findet darin ihren Ausdruck, dass sie sich im Lebensverlauf äußert. Aus diesem sinnlich Erscheinenden dringt das Verstehen zu dem durch, »was diesen Lebenslauf innerhalb eines bestimmten Milieu hervorgebracht hat«494. Es ist das Ergebnis von einem Inneren, das sich in einer Reihe von Lebensereignissen äußert: In diesem Sinn ist der Lebensverlauf dem Leben, das ihn schafft, fremd; er ist eine bloße Objektivierung. Aus dieser Idee des Lebensverlaufes resultieren drei Konsequenzen: 1) da der Lebensverlauf immer äußerlich ist, gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Biographie und Autobiographie; 2) der so verstandene Lebensverlauf gibt die Beziehung zwischen dem Autor und dem Werk wieder, als ob das Leben ein Produkt, etwas Erschaffenes wäre, das mithilfe derselben Hermeneutik zu untersuchen ist wie schriftliche Werke; 3) auf der Basis dieser Analogie zwischen Leben und Werk entsteht eine Verbindung zwischen Dokument und Erinnerung, die die Grenze zwischen Biographie und Autobiographie noch labiler und verschwommener werden lässt.

4.

Sich selbst und den Anderen verstehen

Die Idee des Lebensverlaufes als Äußerung stellt Dilthey vor neue Aufgaben. Die Autobiographie ist »die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt«, und in der auch das Verstehen des 492 Ebd., S. 192. 493 Ebd. 494 Ebd., S. 200.

Sich selbst und den Anderen verstehen

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Anderen wurzelt495. Mit einer für seine Theorie wichtigen Analogie stellt Dilthey fest: »Auf der Grundlage des Erlebens und des Verstehens seiner selbst, und in beständiger Wechselwirkung beider miteinander, bildet sich das Verstehen fremder Lebensäußerungen und Personen aus«496. Der Prozess des Verstehens ist für Dilthey bereits in der Selbstbesinnung gegeben: Die Parallele zwischen Biographie und Selbstbiographie besteht darin, dass es sich in beiden Fällen um das Verstehen von Lebensäußerungen handelt. Aus dieser Perspektive unterscheiden sich Biographie und Autobiographie nur durch den Abstand des verstehenden Subjektes von den zu verstehenden Lebensäußerungen. Die Konsequenz dieser Ähnlichkeit der beiden Konzeptionen ist für die Biographie ein kritischer Punkt; sie verliert ihre Eigenständigkeit. Dilthey benötigt diese Konzeption, in der das Leben im Lebensverlauf ankert, einerseits, um die Idee des Erlebnisses kohärent fortzuführen. Andererseits fügt er damit ein kritisches Element in seine Konzeption der Biographie ein. Indem er versucht, eine historische Welt zu konzipieren, die durch den gemeinsamen Ursprung des Menschen zur allgemeinen wird, schafft er ein zusammenhängendes Bild der historischen Welt. Es enthält sowohl das individuelle Leben als auch die allgemeinen Zusammenhänge, da überall, wo geistiges Leben ist, dieselben Kategorien wirken. Diese Gleichsetzung führt zu einer Parallelität zwischen Biographie und Autobiographie, obwohl Dokument und Erinnerung zwei verschiedene Rollen spielen. In der Biographie wird die Reflexion über den eigenen Lebensverlauf in die Reflexion der fremden Existenz übertragen. Wegen dieser Übertragung, aufgrund derer der Blick auf das eigene Leben sich nicht besonders von dem Blick auf das Leben der Anderen unterscheidet, verändert Dilthey die in Jugendgeschichte Hegels angelegte Konzeption. Indem man sich verstehe, fände eine Verallgemeinerung des geschichtlichen Sehens statt, die auch das Verstehen des Anderen ermöglichen würde. Da das Verständnis fremder Lebensäußerungen auf der Selbstbesinnung basiert, unterscheiden sich die beiden Formen der Selbstbesinnung nicht. Die Selbstbesinnung auf das eigene Leben zusammen mit dem »grenzenlosen Bedürfnis, sich fremdem Dasein hinzugeben, sein eigenes Selbst in diesem zu verlieren«, erschaffen den großen Geschichtsschreiber497. Dilthey erreicht damit endlich das von Ranke formulierte Ziel, sich in der Objektivität der Tatsachen aufzulösen. Indem man sich selbst in der Geschichte auflösen würde, kehrt man Dilthey zufolge in sich selbst zurück, um dort die Quelle jedes historischen Wissens zu finden. Aus diesen Überlegungen folgt, dass nur die Autobiographie ein geschichtliches Werk ist und die Biographie diese Bedeutung verliert. Dilthey kommt 495 Ebd., S. 199. 496 Ebd., S. 205. 497 Ebd., S. 201.

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Der Abschied von der Lebensgeschichte

damit zu einem Schluss, der seine ursprüngliche Annahme vollständig umkehrt. Dieses Paradox, das aus der Interpretation des Verstehens als Nacherleben resultiert, wird mit Blick auf die Frage der Dokumente bestätigt. Schon in den frühen Jahren seines Schaffens waren für Dilthey die Werke sekundär im Vergleich mit den unveröffentlichten Dokumenten, den Briefen und Tagebüchern. Nun, mit der Betonung des Verstehens als zentrale Dimension des Lebens, verliert das fertige Werk völlig an Bedeutung. Das Werk zu verstehen wird zum elementaren Verstehen, das auf die Beziehung zwischen Ausdruck und Ausgedrückten beschränkt bleibt. Diese Beziehung entfaltet sich innerhalb der menschlichen Welt, die die Lebensäußerungen der Individuen verständlich macht. Das Werk führt zum Gemeinsamen, zu den »mannigfachen Formen, in denen die zwischen den Individuen bestehende Gemeinsamkeit sich in der Sinnenwelt objektiviert hat«, das heißt zum objektiven Geist. Das Werk vergisst somit gleichsam seinen individuellen Ursprung498. Die These des Lebensverlaufes als äußeres Element, das aus dem Inneren entsteht, ist nicht problemlos. Dilthey stellt fest: »[D]ie einzelnen Ereignisse, welche [den Lebensverlauf] bilden, wie sie in der Sinnenwelt auftreten, haben wie die Worte eines Satzes ein Verhältnis zu etwas, das sie bedeuten«. Durch dieses Verhältnis sei »jedes einzelne Erlebnis von einem Ganzen aus bedeutungsvoll«499. Diese These, die sich auf die Kategorie der Bedeutung stützt, liest das Lebensverstehen als spezifischen Fall der Auslegung. Dieses von Dilthey aus der schleiermacherschen Hermeneutik übernommene Thema hat jedoch in Bezug auf die Biographie eine gefährliche Seite500. Dilthey selbst betont, dass die auf die Kategorie der Bedeutung gestützte Beziehung zwischen den Erlebnissen »von der grammatikalischen wesentlich verschieden« ist, denn »der Ausdruck des Inneren in den Teilen des Lebens [ist] etwas anderes als das Wortzeichen«501. Da die Beziehung zwischen dem Ganzen und den Teilen im Lebensverlauf be-

498 Ebd., S. 208. 499 Ebd., S. 235. 500 Die Rezeption von Schleiermachers Hermeneutik bei Dilthey ist ein strittiges Thema der Diltheyforschung. Wie bekannt, hat Gadamer in Wahrheit und Methode eine intensive Rezeption festgestellt, wobei die folgende Forschung viele Lücken in dieser Interpretation entdeckt hat. Vgl. z. B. G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995; C. Berner, La philosophie de Schleiermacher, Les Êditions du Cerf, Paris 1995. Eine Hermeneutik Diltheys existiert in der Tat nicht: Der Aufsatz Entstehung der Hermeneutik, 1900 (GS V, S. 317ff.) fasst vor allem Themen der Jugendpreisschrift Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik, 1860 (heute in GS XIV, S. 597ff.) zusammen. Über die Rezeption von Schleiermachers Hermeneutik bei Dilthey vgl. auch F. D’Alberto, Ermeneutica e sistema. Dilthey lettore dell’etica di Schleiermacher, Cleup, Padova 2011. 501 GS VII, S. 235.

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sonders ist, ist es notwendig, ein eigenständiges Fundament für Letztere zu finden. Als Ergebnis eines inneren Prozesses ist der Lebensverlauf eine Lebensäußerung: Er ist der sinnesweltliche Ausdruck von etwas Geistigem. Dilthey unterteilt die Lebensäußerungen in Denkgebilde (Begriffe, Urteile), Handlungen und Erlebnisausdrücke. Bei den Denkgebilden bezieht sich das Verstehen auf den »bloßen Denkinhalt« eines Ausdrucks: Diesen zu verstehen ist die einfachste und zugleich vollendetste Form des Verstehens, weil der Denkinhalt nichts über seine Beziehungen zu dem nicht sichtbaren Hintergrund und der Fülle des Seelenlebens aussagt502. Aus Diltheys Perspektive ist es bei den Handlungen ähnlich; sie drücken nur einen Teil des menschlichen Wesens aus, da sie Ausdruck psychischer Aspekte sind, wobei dieser Kontext der Handlung sich nicht zeigt. Nur über die Lebensäußerungen komme man zu einem vertieften Lebensverstehen. Dilthey erläutert: »Eine besondere Beziehung besteht zwischen ihm [dem Erlebnisausdruck], dem Leben, aus dem er hervorgeht, und dem Verstehen, das er erwirkt«, weil diese »vom seelischen Zusammenhang mehr enthalten, als jede Introspektion gewahren kann«503. Die Erinnerungen sind dementsprechend das wirklich historische Material, da die Geschichte Erinnerung ist und die Erinnerung mit der Kategorie der Bedeutung verbunden ist. Der Lebensverlauf als Lebensäußerung und die Analogie mit dem Verstehen des Werkes bringen Dilthey auf die Idee, dass »das Verstehen [sich] an allen äußeren Begebenheiten [vollzieht]«, die sich bis zum Tode vervollständigen504. Unter diesen Begebenheiten verwendet die Autobiographie jene »Äußerungen, in denen Plan, Bewusstsein über Bedeutung enthalten ist«505. Damit meint Dilthey vor allem die Briefe, in denen beschrieben ist, was für einen Menschen in einer bestimmten Zeit seines Lebens bedeutsam ist. Die Briefe »zeigen die momentane Lebensverfassung«: Sie zeigen die Lebensverhältnisse, »aber jedes Lebensverhältnis ist nur von Einer Seite gesehen«. Nur das vollendete Leben kann »nach seiner Bedeutung gewürdigt werden«: »[D]er Zusammenhang mit dem Vergangenen, Wirkenden in der Umgebung, dem Erwirkten in der Zukunft [kann] durch die Auslegung der vorhandenen Dokumente festgelegt werden«506. Im Licht dieser Interpretation basiert die Selbstbiographie, genau wie die Biographie, auf den Dokumenten und nicht auf den Erinnerungen. Durch diese Vereinfachung der biographischen Theorie, die auch dazu führt, 502 503 504 505 506

Vgl. ebd., S. 206. Ebd. Ebd., S. 249. Ebd. Ebd.

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Der Abschied von der Lebensgeschichte

dass Dilthey ihr den wissenschaftlichen Wert abspricht, kommt er zu einem weiteren Ergebnis. Da nur ein vollendetes Leben Objekt der biographischen und autobiographischen Rekonstruktion sein kann, nähert sich die Selbstbiographie der Biographie an. Das hermeneutische Prinzip, nach dem das Ganze für uns nur da verständlich ist, wo es aus seinen Teilen verstanden werden kann, führt zu einem Paradox: »Man müsste das Ende des Lebenslaufes abwarten und könnte in der Todesstunde erst das Ganze überschauen, von dem aus die Beziehung seiner Teile feststellbar wäre«507. Die Konsequenzen dieser Vorstellung von der Konzeption der Geschichte sind gravierend: »Man müsste das Ende der Geschichte erst abwarten, um für die Bestimmung ihrer Bedeutung das vollständige Material zu besitzen«508. Die Idee des Lebensverlaufes als äußere Darstellung, als einer im Rückblick als Zusammenhang konstruierten Erlebnisreihe, hat eine weitere kritische Konsequenz für die diltheysche Theorie. Das Leben selbst arbeitet schon historisch: Der Mensch, der den Zusammenhang in der Geschichte seines eigenen Lebens sucht, »hat in der Erinnerung die Momente seines Lebens, die er als bedeutsam erfuhr, herausgehoben und akzentuiert und die anderen in Vergessenheit versinken lassen«509. Das Gedächtnis wählt die für den Lebenszusammenhang bedeutenden Erlebnisse aus. Der Lebensverlauf eines Individuums wird als Zusammenhang der in den Erinnerungen dokumentierten Erlebnisse begriffen. Die Idee des Lebensverlaufes als Objektivierung hat Konsequenzen auch für die Interpretation der Dokumente: Diese bestehen »in den Resten, welche als Ausdruck und Wirkung einer Persönlichkeit zurückgeblieben sind«510. Damit verweist Dilthey auf die beiden Dimensionen des Verstehens: Als Ausdruck ist das Dokument dem elementaren Verstehen zuzuordnen; als Wirkung fällt es unter das höhere Verstehen, also unter die Auslegung. Das impliziert für die Biographie einen weiteren Verlust an Bedeutung als historisches Werk. Die Rekonstruktion des vollendeten Lebens ist kein Spezifikum der Biographie, sondern ein schwieriger Fall im Bereich des Verstehens und der Auslegungstheorie zuzurechnen. Der historische Abstand ist kein spezifisches Merkmal des Lebensschreibens, sondern eine zu überwindende Schwierigkeit des Verstehensprozesses. Die Biographie ist also kein historisches Werk mehr : Das ist die Konsequenz der Interpretation des Verstehens als Nacherleben.

507 508 509 510

Ebd., S. 233. Ebd. Ebd., S. 200. Ebd., S. 246.

Der schwache Grundsatz der Biographie

5.

163

Der schwache Grundsatz der Biographie

Die Biographie verliert also ihre zentrale Rolle, da die Autobiographie den ursprünglicheren Charakter besitzt. Letztere ist Quelle der historischen Kategorien und zu einer besonderen Tiefe und Vertrautheit – Dilthey spricht von Intimität – des Verstehens befähigt: Bei der Selbstbiographie nämlich ist »der, welcher diesen Lebenslauf versteht, identisch mit dem, der ihn hervorgebracht hat«511. Am Ende seiner langen Beschäftigung mit der Biographie kommt Dilthey zu dem Schluss, dass ihre Bedeutung geringer ist als er ursprünglich annahm. Als literarische Form sei sie mit der Autobiographie vergleichbar, es beständen keine wesentlichen Unterschiede zwischen beiden. Die Autobiographie ist laut Dilthey jedoch darüber hinausgehend der literarische Ausdruck der Selbstbesinnung. Die Biographie »als die literarische Form des Verstehens von fremden Leben« entstehe einfach, wenn »diese Besinnung über den eigenen Lebensverlauf auf das Verständnis fremden Daseins übertragen wird«512. Die zwei Formen ähneln sich in ihren wesentlichen Zügen und das impliziert, dass die Bedeutung der Biographie relativiert wird: Denn im Gegensatz zu der besonderen Tiefe und Intimität des Verstehens in der Selbstbiographie, besitze die Biographie diese Kraft nicht. Denn »je weiter die innere Distanz zwischen einer gegebenen Lebensäußerung und dem Verstehenden wird, desto öfter entstehen Unsicherheiten«513. Der historische Abstand erschwert das Verstehen zunehmend: Da dieses auf Intimität basiert, wird das historische Verstehen notwendigerweise eine Form des Nacherlebens. Ist das Modell des Verstehens die Autobiographie, wird deutlich, dass lediglich, wenn der historische Abstand vollständig aufgelöst wird, tatsächliches Verstehen möglich wird. Wenn die Autobiographie zum Maßstab des Verstehens wird, kann man dementsprechende Stufen des vollständigen intimen Verstehens bestimmen. Dadurch verschwindet eine wesentliche Bedingung der Biographie, die für den jungen Dilthey entscheidend war : die Distanz zum historischen Objekt. In Jugendgeschichte Hegels, wo das Erlebnis des Biographen als Ursprung der Geschichte interpretiert wird, wird diese Auffassung verworfen. Zur zentralen Bedingung des Verstehens wird hier nun, ganz anders als im Leben Schleiermachers, die Auflösung der historischen Distanz. Damit wird die Gegenwärtigkeit der Geschichte neu interpretiert: Sie impliziert jetzt, dass die Geschichte nicht mehr mit der geistigen Kontinuität zwischen Biographen und »Biographierten« zu tun hat, sondern sich auf das Nacherleben der Biographen stützt. Sie wurzelt also in der historischen Gegenwart des Bio511 Ebd., S. 200. 512 Ebd., S. 247. 513 Ebd., S. 210.

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Der Abschied von der Lebensgeschichte

graphen. Um den historischen Zusammenhang als kulturelle Dimension zu rekonstruieren, gilt es neue Mittel zu suchen. Die Biographie erweist sich als nicht geeignetes Instrument, um die individuelle Dimension mit dem allgemeinen historischen Zusammenhang zu verbinden. Diese Begrenzung führt Dilthey endgültig dazu, die Biographie abzulehnen.

6.

Biographie und geschichtlicher Zusammenhang

Obwohl Dilthey auch in dieser späten Phase die Biographie als wichtig für das Verstehen der historischen Welt beurteilt, stellt er ihre wissenschaftliche Legitimierung in Frage. Da die Bedeutung der Biographie darin liegt, dass sie den ursprünglichen Zusammenhang zwischen Leben und Geschichte beschreibt, impliziert die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Biographie auch die Frage nach der Legitimität dieses Zusammenhanges. In der autobiographischen Begründung der Biographie erläutert Dilthey jene Begriffe, die er in Die Jugendgeschichte Hegels verwendet hat, nämlich die Umkehrung des Ansatzes, wie er ihn in Leben Schleiermachers verwendete. Diese Umkehrung betrifft die Geschichte selbst. Die Stärke der Biographie als wissenschaftliches Werk wird durch die Tatsache legitimiert, dass, »das Individuum nicht einem grenzenlosen Spiel der Kräfte in der geschichtlichen Welt gegenübersteht: die Sphäre, in der er lebt, ist Staat, Religion, Wissenschaft – kurz ein eigenes System des Lebens oder ein Zusammenhang von solchen. Die innere Struktur dieses Zusammenhanges ist es, welche das Individuum an sich zieht, es formiert und die Richtung seines Wirkens bestimmt: von den Möglichkeiten, die in dieser inneren Struktur in einem historischen ›Menschen‹ enthalten sind, gehen die historischen Leistungen aus«514. Die Möglichkeit der Biographie liegt also darin, dass sie den Zusammenhang der verschiedenen Sphären bestimmt, in denen das Individuum lebt. Die Beziehung zwischen Biographie und Geschichte wird dadurch im Vergleich mit früheren Phasen von Diltheys Denken umgekehrt: Zuvor war die Biographie das erste Element der Geschichte, jetzt sind es die objektiven Systeme der Geschichte, die die Biographie ermöglichen. Dergestalt ergibt sich eine weitere Fortentwicklung vom biographischen Ansatz des frühen Diltheys. Auch in diesem Fall finden wir die ersten Spuren dieser Entwicklung in Jugendgeschichte Hegels, da Dilthey die biographische und auf dem Erlebnis gegründete Forschung von der historischen Forschung unterscheidet. Diese Unterscheidung wird dann in der Geschichte der Systeme und der Weltanschauungen entfaltet. Die neue Konzeption findet einen Ausdruck in 514 Ebd., S. 248.

Von der biographischen Ganzheit…

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der Trennung zwischen dem »Fluss des Lebensverlaufes« und dem »unendlichen Meer«515 der Geschichte. Der reife Dilthey lässt sein jugendliches Projekt, die Biographie als umfassendes Werk zu begründen, hinter sich. In Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft löst sich damit auch die Kluft zwischen der Biographie als Kunstwerk und als wissenschaftlichem Werk auf. Die Schwäche der Biographie zeigt sich dabei hinsichtlich des universalhistorischen Zusammenhanges516. Während nach der alten Konzeption die individuelle Geschichte einen Zugang zur universalhistorischen Welt schuf, stellt Dilthey in den letzten Jahren die These auf, dass »allgemeine Bewegungen durch das Individuum als ihren Durchgangspunkt [hindurchgehen]«517. Dadurch wird die Beziehung zwischen Allgemeinen und Individuellen dahingehend aufgelöst, dass das Individuum unbegreiflich wird. Vor diesem Hintergrund werden neue Fundamente für das Verstehen der oben genannten allgemeinen Bewegungen benötigt. Die Biographie »enthält für sich nicht die Möglichkeit, sich als wissenschaftliches Kunstwerk zu gestalten. Es sind neue Kategorien, Gestalten und Formen des Lebens, an die wir uns wenden müssen und die am Einzelleben nicht aufgehen«518. Dilthey befindet sich in einer Sackgasse: Einerseits gibt es eine transzendentale Begründung der Individualität als aus dem Zeiterlebnis resultierende, beständige und ursprüngliche Dimension; andererseits hat diese zeitliche Komponente keine konkrete Wirkung, da die Bewegungen innerhalb des historischen Zusammenhanges über die individuelle Existenz hinausgehen.

7.

Von der biographischen Ganzheit…

Die Biographie kann also den wirklichen historischen Zusammenhang in all seinen Dimensionen nicht erfassen. Dieses Ergebnis untergräbt den ganzen Aufbau der philosophischen Historiographie Diltheys. Die Biographie galt beim jungen Dilthey als universaler Schlüssel der Geistesgeschichte, da sie sich der zentralen historischen Tatsache widmet: der in allen geistigen Bereichen tätigen individuellen Kreativität. In der literarischen Geschichte zeigt sie ebenso wie im historisch-philosophischen Bereich die individuelle Wurzel jedes philosophischen Systems und die enge und kreative Verbindung zwischen Leben und Denken in den philosophischen Werken. Mit dem Ziel, ein allgemeingültiges Modell für jegliches geistige Schaffen zu entwickeln, konzipiert Dilthey die 515 516 517 518

Ebd., S. 252. Ebd., S. 253. Ebd., S. 251. Ebd.

166

Der Abschied von der Lebensgeschichte

Biographie zunächst als theoretisches Werk. Dilthey verfasste keine spezifische Schrift über die philosophische Historiographie (bis auf Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie, 1889), eben weil die Biographie der eigentliche Horizont des historiographischen Diskurses war519. Wie in allen anderen Bereichen der geistigen Welt war die Biographie die Form, die den historischen Zusammenhang am besten zum Ausdruck bringen konnte. In dem oben zitierten Aufsatz aus dem Jahre 1889 stellt Dilthey die Biographie noch ins Zentrum der Geschichte der Philosophie. Nach dem Verfassen von Die Jugendgeschichte Hegels und auf Grundlage seiner theoretischen Auseinandersetzungen und Reflexionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreitet dieser historisch-philosophische Ansatz einen neuen Weg. Solange die Biographie die zentrale historische Form war, stellte sie auch die Geschichte der Philosophie als Geschichte der Philosophen dar. Vor dem Hintergrund der bereits analysierten Veränderungen benötigte die Geschichte der Philosophie und die philosophische Historiographie eine neue Perspektive. In der Abhandlung Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie werden die wichtigsten Ideen Diltheys über die philosophische Historiographie dargestellt, bevor die einschneidende Wende durch Die Jugendgeschichte Hegels erfolgt. In der anfänglichen Zusammenfassung über die philosophische Historiographie erhellt Dilthey die Etappen der Entwicklung der Geschichte der Philosophie als Wissenschaft: Als Hauptmomente benennt er, mit Blick auf die deutsche Philosophie, die mit ihr verbundene literarische Methode und die Entwicklungstheorie520. Dank der literarischen Methode lerne man, »eine Schrift nach Entstehung, Absicht und Komposition [zu] zergliedern«, »ein verlorenes Werk aus Fragmenten und Nachrichten [zu] rekonstruieren« und »den Zusammenhang von Schriften in dem Kopf eines Autors, die Beziehung zwischen Schriften oder Autoren in einer literarischen Bewegung« zu erfassen521. Die Entwicklungslehre bilde einen inneren Zusammenhang unter den Systemen und bestimme »die relative Leistung eines jeden von ihnen für die Entwicklung der Menschheit« und zeige »mitten im Wechsel der Philosophien ein siegreiches Fortschreiten zur Wahrheit«522. Die Zentralität der Annahme einer geistigen Einheit in der deutschen Philosophie, die sich nach Diltheys Ansicht mit Leibniz anbahnte, führt zu der Versöhnung dieser beiden Momente: »Die philologischkritisch erforschte Entwicklungsgeschichte der einzelnen großen Denker ist 519 520 521 522

Vgl. GS IV, S. 555ff. Vgl. ebd., S. 557. Ebd. Ebd.

Von der biographischen Ganzheit…

167

überall Unterlage für die Erkenntnis des Zusammenhanges des philosophischen Denkens selber geworden«523. In diesem Zusammenhang wird also die Grenze zwischen der Geschichte der Philosophie als Geschichte der großen Philosophen und ihrer Meinungen und Theorien (Doxographie) überwunden. Obwohl Hegels Philosophie Dilthey zufolge mit der dialektischen Methode den Endpunkt der Entwicklungstheorie erreichte, habe dieser die Bedeutsamkeit der literarischen Methode leider nicht anerkannt. Erst die folgende Generation habe angefangen, »die beiden Momente, auf denen wissenschaftliche Behandlung der Geschichte der Philosophie beruht, nun miteinander zu verknüpfen«524. Die kritisch analysierte Entwicklungsgeschichte des einzelnen großen Denkers wird damit zur Grundlage der philosophischen Erkenntnis selbst, sodass für die philosophische Historiographie der biographische Ansatz entscheidend ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Biographie für die Wissenschaftlichkeit der Geschichte der Philosophie notwendig: Sie vermeide nämlich sowohl den »Kultus der philosophischen Heroen, in einer Geschichtsschreibung, welche zwischen diesen Einzelpersonen abstrakte Fäden spinnt«, als auch die »demokratische Erklärung aus Massenbewegungen«, in der die Individualität verschwinde525. Der Fokus auf das Leben des einzelnen Denkers bleibt, wie in Leben Schleiermachers, mit dem Milieu verbunden. Auch in dieser Phase unterstreicht Dilthey die Notwendigkeit, die »philosophischen Denker in den lebendigen Zusammenhang [zu stellen], dem sie angehörten«, und diesen ebenso zu erforschen wie »die Mitarbeiter, die Gegner und die beeinflussten Personen«526. Auf diese Weise war Dilthey damit beschäftigt, die Struktur des Seelenlebens auf den gesamten kulturellen Bereich anzuwenden: »Es sei erlaubt, diesen Zusammenhang der Geschichte der Philosophie mit der Kulturgeschichte von einem psychologischen Ausgangspunkte aus zu verdeutlichen«527. Aus dieser Perspektive ist die Geschichte der Philosophie wichtig, da in ihr »die Aufeinanderfolge der Positionen des menschlichen Seelenlebens sichtbar« wird: Sie bietet also »die Möglichkeit, den geschichtlichen Ort für die einzelnen Erscheinungen der Literatur, der Theologie und der Wissenschaften zu erkennen«528. Die Biographie ermöglicht, die Entwicklungsgeschichte der Philosophen zu begreifen, deren Systeme die Spitze der gesamten Kultur einer Epoche sind. Schon Hegel erkannte, dass »[die] philosophischen Systeme aus dem Ganzen der Kultur entstanden [sind] und auf dasselbe zurückgewirkt

523 524 525 526 527 528

Ebd., S. 558. Ebd. Ebd., S. 559. Ebd., S. 558. Ebd., S. 559. Ebd., S. 561.

168

Der Abschied von der Lebensgeschichte

[haben]«529. Jedoch wollte Dilthey für sein Vorhaben »den Kausalzusammenhang nach seinen Gliedern […], in welchem sich dieser Vorgang vollzog« erkennen530. Die Spezifizität der Philosophie liege in der Tatsache, dass nur die Systeme »das Leben selber zum vollständigen bewussten Zusammenhang im Denken erheben«531. Die lebendige Beziehung zwischen Philosophie und Kultur zeige sich bei jedem einzelnen Philosophen, weil die intellektuelle Produktion aus der psychischen Struktur kommt und nur durch diese verständlich ist. Da in der menschlichen Welt immer dieselben Kräfte wirken, die in der Struktur der Seele liegen, ist die Kulturgeschichte rekonstruierbar. Es zeige sich, dass »die großen Veränderungen im Lebensgefühl der Menschen in den Veränderungen der Philosophie [sich darstellen]«532. Mit dieser Aussage wird auch im Bereich der Geschichte der Philosophie eine Parallele deutlich zwischen der Entwicklungsgeschichte des einzelnen Individuums und der des Typus Mensch. In der Geschichte der Philosophie könne man beide Formen der Biographie beobachten: In der Biographie der einzelnen Philosophen zeige sich der Zusammenhang zwischen Denken und Leben und ebenso die in der Kulturgeschichte bestehende Wechselwirkung zwischen Individuum und Welt. Die allgemeine Geschichte der Philosophie wiederum widme sich der Biographie eines Menschentypus, weil sie als Rekonstruktion des Selbstbewusstseins in dessen Epoche angesehen wird. In Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie wird die Idee entwickelt, dass die Philosophie der Blick des Menschen auf sich selbst ist. Dieses Thema, das Dilthey in den folgenden Jahren vertieft, führt eine neue Perspektive ein: Dass die Biographie im historischphilosophischen Bereich eine Geschichte des menschlichen Bewusstseins sein kann. Im Licht dieser Interpretation ist das Objekt der historiographischen Arbeit nicht das System, sondern die Lebenskraft des Individuums, die sich ihrerseits auf die Lebensstruktur stützt: »Geht man aber von den Büchern zu dem Menschen zurück, will man seine Lebensmacht verstehen und seine Entwicklung erkennen«533. Das betont die Besonderheit der Philosophie, verglichen mit anderen Kultursystemen. Diese lebe von der gesamten Atmosphäre der Zeit, zeige aber auch eigene Kraft, die auf das Leben der Individuen und der Gesellschaft wirkt. Sie besitze ein wissenschaftliches Fundament, das Religion und Poesie fehlen würde, und die Kraft, Individuen und Gesellschaft zu leiten, woran es der Wissenschaft ermangele. Ihre Lebensmacht ist – im Vergleich mit anderen Kultursystemen – ihr zentrales Charakteristikum. 529 530 531 532 533

Ebd., S. 558. Ebd. Ebd., S. 560. Ebd., S. 561. Ebd., S. 562.

Von der biographischen Ganzheit…

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Als Lebensmacht ist die Philosophie mit der ganzen Existenz des Individuums eng verbunden. Die Lebensstruktur der Wechselwirkung wird von Dilthey auf die philosophischen Systeme angewandt, weil sie als Lebenseinheiten dieselbe Struktur aufweisen wie das individuelle Leben. Die Tatsache, dass die Systeme im Leben wurzeln, wird von Dilthey unterstrichen: Die Konsequenz daraus ist, dass in der Geschichte der Philosophie Dokumente wie Briefe und Tagebücher als »Lebensmachtprodukte« wichtiger sind als die Werke selber. Die Biographie interpretiert die Individuen und nicht ihre Werke, deswegen ist die Geschichte der Philosophie letztendlich die Geschichte der individuellen Lebendigkeit. Indem die Philosophie allgemein das Verstehen des Lebens ermöglicht und sich andere geistige Dimensionen einverleibt, wird sie für die Gesellschaft zum Orientierungspunkt. Die Vitalität der großen Philosophen ist der Motor der Lebensmacht und die Philosophie die schöpferischste Form in der Geschichte. Diese Interpretation der Philosophie als Ausdruck der Lebenskraft entfaltet sich in einer Dialektik, die zwischen verschiedenen philosophischen Systemen besteht, und durch die sich die Geschichte des Denkens als Kampf unter Systemen gestaltet. Diese Idee – die allmählich an Bedeutung im Denken Diltheys gewinnt, der sie zusammen mit der Weltanschauungslehre bearbeitet – sieht in den Konflikten zwischen verschiedenen Systemen den Aufbruch und das Wesen des Denkens selber. Dilthey führt jedoch solche philosophischen Konflikte konsequent auf »ein Letztpersönliches« zurück534. Die Aufgabe der philosophischen Historiographie ist also nicht, »die Standpunkte, in welchen die Hauptprobleme der Philosophie eine gegensätzliche Lösung finden, einzuteilen, sondern die Systeme selber, als getragen von der Persönlichkeit eines Denkers und daher mit dieser verbunden«535. Die allgemeine Tendenz des philosophischen Denkens, aus der ihr metaphysischer Charakter entsteht, hat ihr Fundament in der schöpferischen Kraft der Persönlichkeit. Es kommt also auch in der philosophischen Historiographie das Ziel des biographischen Schreibens Diltheys zum Ausdruck, den Menschen selber zu beobachten: »Dem Wirklichkeitssinn unserer Tage erscheint der Mensch als der eigentliche Grundkörper für diesen Zweig von Geschichte, wie für jeden anderen«536.

534 GS VIII, S. 136. 535 Ebd., S. 149. Die Anwendung der Biographie in der philosophischen Historiographie findet man in diesen Jahren auch bei L. Stein, Zur Methodenlehre der Biographik, in ders., An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie, Mohr, Leipzig-Tübingen 1899, und ebenso bei dem berühmten Psychologen H. Høffding, Geschichte der neueren Philosophie. Eine Darstellung der Geschichte der Philosophie von dem Ende der Renaissance bis zu unseren Tagen. 2 Bde., Reisland, Leipzig 1895–1896. 536 GS VIII, S. 562.

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8.

Der Abschied von der Lebensgeschichte

… zur Teilung des biographischen Modells

Indem er das Konzept des Nacherlebens und die Theorie des Verstehens auf dem biographischen Feld erprobt, ändert sich auch die historisch-philosophische Konzeption Diltheys. Diese Konsequenzen waren zum Teil schon in Jugendgeschichte Hegels deutlich geworden, aber in dem Aufsatz Das Wesen der Philosophie (1907) werden sie explizit. Hier beschäftigt sich Dilthey näher mit der Frage nach der Form der Geschichte der Philosophie. Die zentrale Idee in dieser neuen Phase von Diltheys Denken ist die Separierung der Geschichte der Philosophie als Geschichte der Systeme von jener der Philosophie als Lebensmacht, die in der Geschichte tätig ist. Diese Lebensmacht realisiert sich nur in dem einzelnen Individuum. Dieser Ansatz wird von Dilthey in der Typologie der Weltanschauungen entwickelt. Dabei charakterisiert Dilthey, wie in Kapitel 4, Abschnitt 4 bereits dargestellt, ab der Biographie Hegels die Philosophie als spezifische geistige Form, die sich durch ein präzises Verhältnis zur Wirklichkeit auszeichnet. Die Merkmale dieser geistigen Form werden von Dilthey deutlich von anderen geistigen Formen abgegrenzt. Durch diese Differenzierung wird die Philosophie in den folgenden Jahren als die einfachste Lebensäußerung betrachtet. Ihrem Inhalt nach stehe sie unter dem elementaren Verstehen und sogar unter seinen »niedrigsten« Formen, da sie nichts über das Leben aussage. Daraus folgt, dass Dilthey die gesamte Tradition der philosophischen Werke als einen geistig unfruchtbaren Bereich betrachtet. Einerseits finde sich nämlich in den philosophischen Werken, wie in allen vollständigen Werken, wenig Persönliches des Verfassers: In diesem von Dilthey definierten »elementaren Verstehen«, das nur auf den Dokumenten basiert, »findet sonach ein Rückgang auf den ganzen Lebenszusammenhang […] nicht statt«537. Andererseits gehören die philosophischen Werke zur ersten Gruppe der Lebensäußerungen: zu den Denkinhalten. Diese Denkinhalte bilden einen Großteil des objektiven Geistes. Im objektiven Geist sammeln sich die geistigen Formen, die nur innerhalb der Gesellschaft verständlich sind: Sie sind mit hermeneutischen Mitteln einfach zu erschließen, da sie aus demselben Kontext stammen. Dilthey konzipiert also eine Tradition als Sammlung von erstarrten Formen, die dem geistig-produktiven Leben gegenüber veraltet sind. Neben dieser Konzeption benennt Dilthey eine weitere Möglichkeit, die Geschichte der Philosophie zu begreifen. Sie wird dabei als eine Form der anthropologischen Forschung verstanden. Da er die – als veraltet angesehene – Forschung über das Werk von der über das schöpferische Individuum getrennt hat, gewinnt der Blick auf den Menschen eine zentrale Stellung. Die philosophische Tradition erweist 537 GS VII, S. 207.

… zur Teilung des biographischen Modells

171

sich als Klassifizierung von toten Formen, als Sammlung geschlossener Systeme; Dilthey betrachtet sie deswegen als geistig geschwächt. Was er noch als fruchtbar ansieht, ist die Erforschung des Menschen, die sich auf das Leben konzentriere, da das Leben vor dem Denken komme. Um die Geschichte der Philosophie zu vitalisieren, transformiert Dilthey sie in eine Art Anthropologie, die sich damit befasst, wie sich in der abendländischen Geschichte allmählich die Individualität herausbildet538. Im Laufe der intellektuellen Entwicklung Diltheys lässt sich beispielhaft beobachten, wie das moderne Denken sich sukzessive aus dem systematischen Gerüst befreit, um den anthropologischen und psychologischen Kern der geistigen Produkte zu erfassen. Er findet in der Geschichte der modernen Philosophie einen psychologisch-anthropologischen Faden, an den anschließend der reale Mensch begreiflich wird. Letztendlich bleibt also die Biographie bei Dilthey ohne starkes Fundament, da sie keine wissenschaftliche Eigenständigkeit besitzt und keine zusammenhängende Geistesgeschichte begründen kann. Dennoch ist ihre Rolle entscheidend, weil sie in der philosophischen Tradition das Tote von dem Lebendigen trennt: Sie arbeitet an der Befreiung des Geistes von den fruchtlosen Residuen der Vergangenheit.

538 In Bezug auf diese Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Individualität im Abendland vgl. besonders die Aufsätze in GS II.

Schluss

Um die Wissenschaftlichkeit der Biographie zu begründen, vertieft Dilthey im Laufe seines Lebens einige der Themen, die erstmals in dem Werk Leben Schleiermachers auftauchen. Eines davon ist die Frage nach der Möglichkeit, eine Biographie zu vervollständigen. Dabei befindet sich Dilthey in einer widersprüchlichen Situation: Die Frage nach den Bedingungen der Biographie wird nämlich ständig von der Praxis seines biographischen Schreibens überholt. Dieses Paradox hat starken Einfluss auf die Diltheyforschung gehabt. Es finden sich wenige theoretische Reflexionen Diltheys über die Biographie. Als theoretische Frage wird sie erst 1910 mit der Verneinung ihrer wissenschaftlichen Bedeutung und ihrer Wichtigkeit überhaupt explizit theoretisiert. Das hat dazu geführt, dass dieses Thema kaum in der Forschung rezipiert wurde. Obwohl Dilthey die deutsche Geistesgeschichte fast ausschließlich durch Biographien rekonstruiert hat, hat man die Wichtigkeit dieses historischen Modells nicht erkannt oder lediglich als einen Aspekt der hermeneutischen Theorie betrachtet. Jedoch wurde die Biographie im Gegenteil immer zentraler im diltheyschen Schreiben. Ihre theoretische Stärke erschwert es Dilthey, sich trotz der vielen Schwierigkeiten von ihr zu lösen. Seine Stellungnahme in Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften ist also im Grunde eine Selbstkritik, die aus seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Biographie als Hauptmodell der Geschichtsschreibung entsteht. Vor diesem Hintergrund spielt Leben Schleiermachers eine wichtige Rolle: Das Werk gilt als Ausgangspunkt der später folgenden theoretischen Überlegungen. Hat die Diltheyforschung dieses imposante Werk auch als »bloße« Biographie vernachlässigt, stellt es im Gegenteil, wenn auch manchmal nur in nuce, alle für Dilthey zentralen Probleme seiner Philosophie dar. Es ist nicht nur eine beiläufige philologische Beschäftigung mit dem Theologen und Philosophen Schleiermacher : Es zeigt vielmehr ein geschichtliches Verfahren mit großen theoretischen Ambitionen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten diskutiert Dilthey in den folgenden Jahren immer wieder.

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Schluss

Als geistesgeschichtliches Modell ist die Biographie ein wichtiger Bestandteil der diltheyschen Rekonstruktion der dichterischen und philosophischen Bewegung des 18. Jahrhunderts in Deutschland: In ihr bildet sich die enge Verbindung zwischen Individuum und Kultur ab. Sie ist ein Transformationselement der diltheyschen Philosophie. Durch sie werden insbesondere die Spannungen deutlich, die in dem Versuch liegen, die Individualität mit den allgemeinen historisch-kulturellen Bedingungen zusammenzubringen; denn es zeigt sich dabei die Überlagerung von verschiedenen und oft widersprüchlichen Ansätzen. In den diltheyschen Biographien wird immer wieder versucht, Individuum und Kultur zu verbinden. Von dem Generationsmodell in Leben Schleiermachers über die mit Über die Einbildungskraft der Dichter entwickelte psychologische Reduktion bis zum Modell des Verstehens finden wir jedoch kein eindeutiges und endgültiges Muster. Die Arbeit an Leben Schleiermachers hat sich also als wechselvolles Unterfangen erwiesen. Bereits in diesem Werk ist die geistige Kontinuität, die die deutsche Kultur als zusammenhängendes Ganzes begreift, keine ästhetische Utopie, keine schriftliche Transposition einer kontemplativen Vollkommenheit. Gegen diese Interpretation wendet sich besonders Helmut Scheuer : Er sieht in Leben Schleiermachers eine biographische Form, in der sich ein Vorhaben verwirklicht, das auf eine vollkommene Welt verweist. Es steht laut Scheuer auf derselben Stufe wie andere Lebensbeschreibungen – bspw. Winckelmanns, die Carl Justi verfasste, und Lessings, die Erich Schmidt vorlegte –, die einem ästhetischen Zweck dienten. Wie bereits gesehen ist die ästhetisch-kontemplative Dimension in der diltheyschen Produktion nicht besonders wichtig. Das Werk Leben Schleiermachers, obwohl es viel aus dem ästhetischen Modell übergenommen hat und auch unter dem Einfluss der Romantik stand, kann nicht im Licht der politischen Unbeweglichkeit einer rein kontemplativen Auffassung der Welt ausgelegt werden. Die Überlegungen Diltheys nach 1870 münden in die gesteigerte Bedeutung des schöpferischen Charakters des Individuums als Motor der geistigen Produktion. Die aktive, unter vielen Gesichtspunkten vitalistische Dimension der Biographie führt Dilthey über diese kontemplative Grenze hinaus. Es ist also unmöglich, die diltheyschen Biographien diesem ästhetischen Typus zuzuordnen. Diltheys Philosophie ist geprägt durch die Idee einer objektiven geistigen Kontinuität, die auf der lebendigen Struktur von Entwicklung und Rückwirkung fußt. Eine solche Struktur will Ich und Welt verbinden. Wenn später Dilthey von der Lebensmacht als realem Motor der Geschichte, als aktivem und lebendigem Element gegenüber der toten Welt der Tradition spricht, kann man daraus keine kontemplative und ästhetisierende Interpretation ableiten. Diltheys Konzeption der Biographie weist auf eine Kontinuität hin, die auf dem Individuum basiert, sich aber zur Welt öffnen kann. Das Schreiben von Biographien ist also die

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Begründung eines historiographischen Modells, in dem alle unterschiedlichen Dimensionen der Geschichte zusammengefasst werden, indem es die individuelle und die allgemeine Dimension zusammenfasst. Die diltheysche Biographie kann demgemäß nicht auf ein einziges Modell und nicht auf ein alleiniges Ziel zurückgeführt werden: Der Vergleich mit den zeitgenössischen Biographen (unter ihnen vor allem Haym, Fischer und Grimm) verdeutlicht auch, dass Dilthey sich seiner eigenen Originalität bewusst war. Diltheys biographische Produktion ist kein einfacher Tribut an die historiographische Mode seiner Epoche. Das Bewusstsein, ein neues historiographisches Modell zu entwickeln, besaß er von den Jugendjahren an und er wurde diesbezüglich immer klarer. Das erklärt seinen Willen, der Biographie eine Schlüsselrolle für die Geisteswissenschaften zu sichern. Aus demselben Grund finden die Überlegungen über die Naturwissenschaften in der Biographie einen Konvergenzpunkt: Aus dem allmählichen Zuwachs der Bedeutung der Individualität in der abendländischen Welt sollten laut Dilthey auch die Kenntnisse über die menschliche Natur durch die Analyse all ihrer möglichen Formen erweitert werden. Die naturwissenschaftliche Perspektive, welche die diltheysche Biographie einnimmt, bestätigt dessen Bemühung um eine Begründung der wissenschaftlichen Biographie. Die Wissenschaftlichkeit der Biographie liegt für den jungen Dilthey in der Möglichkeit objektiver historischer Forschung, die fähig ist, den Kausalzusammenhang der geschichtlichen Tatsachen auf Grundlage der verfügbaren Dokumente zu zeigen. In Leben Schleiermachers ist die Idee der Geschichte als positivistischer Wissenschaft besonders augenfällig. Nicht zufällig polemisiert Dilthey gegen Haym, der die Biographie der Methode der Charakteristik zuordnet. Die Polemik zwischen Haym und Dilthey erhellt eine Reihe von Fragen, vor die sich Dilthey zu diesem Zeitpunkt gestellt sieht. Sie zeigen ein vielschichtiges Verhältnis zur romantischen Tradition. Die Kritik an Hayms Modell betrifft die Idee einer in sich geschlossenen Individualität, deren Geschichte als eigenständige Entwicklung angesehen wird. Indem er die Geschlossenheit der Charakteristik vermeidet und damit die romantische Idee der Individualität verwirft, schafft Dilthey ein alternatives Modell, das der Bedeutung der Einflüsse der Kultur gerecht wird. Das Werk Leben Schleiermachers entsteht auf Grundlage der Feststellung des kulturellen »Autismus« der deutschen Intellektuellen, das heißt ihres Desinteresses für die politische Geschichte der Nation. Gegen die Geschlossenheit des romantischen Individuums schreibt Dilthey mit Leben Schleiermachers eine Biographie, in der das Leben in Hinblick auf die Beziehung von Ich und Welt, aber nicht das Individuum Protagonist ist. Die Polemik gegen Haym ist also die Voraussetzung zur Überwindung der ästhetisch-kontemplativen Konzeption, die die deutschen Intellektuellen zur politischen Untätigkeit geführt hat. Zugleich ist diese Kritik

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der erste Schritt zur Idee des Lebens als der ursprünglichen Dimension der Geschichte. Leben Schleiermachers konzentriert sich auf die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Welt, in der er wirkt: Das ist laut Dilthey die erste Bedingung der Geschichte eines Individuums, die sich gleichermaßen mit der Welt auseinandersetzt. Ganz anders als die ästhetisch-anschauliche Lebensbeschreibung, die das Individuum von der Welt, das Genie von der Geschichte trennt, ist die diltheysche Biographie eine Neuerung gegenüber dem idealisierenden Blick der Biographien seiner Epoche. Das erklärt auch das Desinteresse Diltheys an den Biographien der Antike: Laut Dilthey ist die Biographie ein modernes Unterfangen – in der Renaissance entstanden, als die menschliche Auseinandersetzung mit der Welt eine neue Dimension gewann. Die Kritik an dem Porträt-Modell impliziert das Ablehnen der gesamten kontemplativen Kultur: Als alternatives Modell strebt das Leben Schleiermachers danach, eine Geschichte zu erzählen, die die Nation konkret verbindet. Im Licht dieser Begründung der objektiven geistigen Kontinuität, welche aufgrund der vorliegenden Dokumente frei zugänglich ist, versteht man die Schwierigkeiten Diltheys, die Biographie Schleiermachers zu beenden. Das in jungen Jahren begonnene Werk zeigt von Anfang an einen besonderen Charakter : Es ist eine Biographie, in der sich die Individualität in den Gegebenheiten auflöst. In der Dialektik zwischen den Generationen verschwindet das Individuum beinahe. Die zahlreichen Dimensionen von Leben Schleiermachers und die Schwierigkeit Diltheys, eine eindeutige Antwort auf die Frage des Verhältnisses zwischen Individuum und historischem Kontext zu geben, lähmen das Schreiben. Sie zwingen den Verfasser, die Konzeption der Biographie erneut zu durchdenken. Darum arbeitet Dilthey in der reifen Phase seines Denkens an der Vertiefung des Verständnisses der Individualität. Die Psychologie der 1890erJahre bildet die Grundlage der in Leben Schleiermachers schon dargestellten Hypothese, dass das individuelle Leben sich im Wesentlichen aus den Gefühlen und Trieben entwickelt. Die Ausformung der Individualität zusammen mit der Ausformung des Denkens (in den Stufen Gefühl, Anschauung, Begriff) eröffnet den Horizont der späteren diltheyschen Thesen. Letztendlich verwirft Dilthey die Idee der Biographie als geschichtliches Werk und betrachtet sie vor allem vor einem künstlerischen Hintergrund. Das vollständige Werk, in dem das schöpferische Individuum vor einem breiten kulturellen Hintergrund porträtiert wird, gilt ihm nun nicht mehr als realisierbar. Mit dem Ziel, die Gründe dieser Unrealisierbarkeit zu erhellen, setzt Dilthey sich mit Grimms biographischem Schreiben auseinander. Indem er über die Unmöglichkeit einer endgültigen Biographie Goethes nachdenkt, verändert sich allmählich seine Perspektive. Er versucht, eine Form des Schreibens zu realisieren, die die Biographie nicht auf eine unendliche und zusammenhanglose Erzählung reduziert. Zu diesem Zweck interpretiert er die Quellen anders: Nachdem er in

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Leben Schleiermachers die vollständige Verfügbarkeit der Dokumente als Schlüssel der objektiven Geschichte betrachtet hatte, wendet er sich nun der Beziehung zwischen Leben, Werken und Einbildungskraft zu. Diese Momente werden zum Kern der Biographie. Er trennt also Geschichte und Psychologie und konzentriert sich auf den Kausalzusammenhang, der letztendlich eine psychologische Wurzel hat. Trotz dieser Veränderung in der Konzeption der Beziehung zwischen Leben und geistiger Kreation, vergisst Dilthey die universale Dimension der Biographie nicht. Um das Projekt einer kulturellen Kontinuität zu retten, wird die Biographie zur Basis der Erkenntnistheorie. Sie wird zum Kern der Psychologie der folgenden Jahre: Die Biographie bietet der Psychologie das Material für ihre Forschung und andersherum wird die Biographie die Methode der beschreibenden Psychologie. So wird die verlorene Universalität der Biographie als wissenschaftliches Werk in der psychologischen Betrachtung wiedergewonnen. In der Biographie des Einzelnen und der Biographie der Menschheit verbinden sich Individualitäts- und Weltgeschichte: Diese Verbindung realisiert sich durch den Begriff Typus. Dilthey sucht ein neues Fundament für seine Konzeption des vollständigen Werkes und dadurch gewinnt die Biographie als Schlüssel aller Geisteswissenschaften an Bedeutung. Jedoch bahnt sich in dieser psychologischen Analyse eine Differenzierung der geistigen Bereiche an, die sich auf die Biographie auswirkt. In Leben Schleiermachers war der Zusammenhang Ich und Welt allgemein in jedem geistigen Bereich der gegenwärtigen Lebensstruktur präsent. Durch den psychologischen Ansatz ändert sich seine Sichtweise der Verbindung zwischen Seele und Werk. Diese Verbindung ist in jedem Bereich anders, sodass es nötig wird, die verschiedenen Bereiche zu trennen und sie einzeln zu beschreiben. Das passiert schlussendlich, wie gesehen, in der letzten Phase von Diltheys Denken, aber er beginnt damit schon in den zentralen Jahren seiner intellektuellen Tätigkeit. Im Licht dieser Modifikation betrachtet der Biograph nicht mehr die Lebensstruktur als Beziehung zwischen Ich und Welt, sondern die individuelle Schöpfung als Beziehung zwischen Leben und Werk. Erst jetzt gewinnt die biographische Frage einen deutlichen Umriss innerhalb des hermeneutischen Kontextes: Sie konzentriert sich auf die individuelle Schöpfung und auf die psychische Organisation, die in verschiedenen geistigen Bereichen tätig ist. Jedoch wird die Spannung zwischen dem Ansatz des jungen Diltheys und seiner späteren Antwort nicht gelöst. Die Unmöglichkeit einer vollständigen Biographie und die Verlegung der Reflexion von Leben und Werk auf die psychologische Organisation des Individuums führen zur Entwicklung eines neuen Musters. In diesem Muster verändert sich die Bedeutung der historischen Forschung und der geistigen Kontinuität. In Die Jugendgeschichte Hegels verwirk-

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licht Dilthey diese Verlagerung, indem er von der Leben-Welt-Beziehung zu der von Leben und Werk übergeht. Die Umwandlung der Biographie in eine Metabiographie zeigt, wie bewusst Dilthey die Unmöglichkeit war, die Biographie zu Ende zu bringen. Sobald sich der Biograph mit der Beziehung von Leben und Werk beschäftigt, entsteht eine fragmentierte Biographie: Das Ziel der historiographischen Arbeit ist nun einfach, einige Hauptlinien darzustellen, die andere Interpreten für ihre zukünftige Auslegungsarbeit nutzen können. Die anspruchsvolle Idee, ein objektives und allgemeingültiges Muster zu identifizieren, wird verworfen. In Die Jugendgeschichte Hegels sammelt Dilthey jene Fragmente aus dem Leben des Denkers, die noch keinen Eingang in die Geschichte gefunden haben. Verglichen mit dem von der Hegelforschung etablierten Bild entsteht durch diese Fragmente ein neues und innovatives Bild. Mit der Darstellung des seelischen Zusammenhanges und der Struktur der Persönlichkeit – oder in Diltheys Worten: ihrer Organisation – greift dieser zum Teil auf das Modell Hayms zurück. Bei Haym bildeten das Verstehen und das Mitfühlen die zentralen Elemente der biographischen Arbeit. Dilthey nimmt dieses Verstehen auf und begründet es in seinen letzten Schriften theoretisch. Nur Die Jugendgeschichte Hegels (und zum Teil die Aufsätze über die deutschen Dichter in ihrer letzten Fassung) sind von diesem Modell des Verstehens inspiriert. Besonders die Anwendung der Begriffe Erlebnis und Genie verweisen auf die Notwendigkeit, die Konzeption der Individualität neu zu fassen. Seine lebenslange Reflexion des Gegenstandes führte Dilthey zu folgendem Ergebnis: Die Individualität kann nicht allein mithilfe des historischen Kontextes erklärt werden. Zugleich will er die Individualität nicht zu einer unhistorischen und unbestimmbaren Dimension verklären: In diesem zweiten Fall verlöre die historische Forschung ihre Bedeutung. Dilthey sucht also im Individuum nach der historischen und geistigen Kontinuität. Nicht geschlossene Systeme, sondern die Lebensfragmente können diese Kontinuität zeigen. Deswegen ist eine Geistesgeschichte durch die biographische Form unmöglich: Man kann nämlich die Lücke zwischen den Teilen und dem Ganzen, also zwischen Geschichte und Individuen, nicht schließen (und Dilthey dementsprechend das Leben Schleiermachers nicht beenden). Die Jugendgeschichte Hegels kann als Negation, als Kehrseite von Leben Schleiermachers angesehen werden: In der Biographie Hegels ist die Geschichte fragmentarisch aufgebaut und richtet sich gezielt nicht auf ein Ende aus. Diese Umwandlung führt zu einem weiteren wichtigen Ergebnis: Biographie und Geschichtsforschung trennen sich. Die Biographie beschäftigt sich weiterhin mit dem Leben und bildet den lebendigen Horizont der historischen Forschung; die Geschichte der Systeme wird zu einer Klassifizierung der vergangenen geistesgeschichtlichen Formen. Diese Spaltung ist in der Biographie

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Hegels sehr deutlich: Das unvollständige Philosophieren kennzeichnet die Jugendjahre Hegels, während das System in der Geschichte der Weltanschauungen eingeordnet wird. Das die Biographie Hegels charakterisierende Modell des Verstehens basiert auf der Verbindung zwischen Biographen und »Biographierten«: Hier bleibt die geistige Kontinuität für immer neue Interpretationen offen. Dementsprechend rückt die Tradition in den Hintergrund, da der lebendige Zusammenhang des individuellen Geistes zentral wird. In Leben Schleiermachers bildete die Tradition durch den Generationsbegriff ein feststehendes und vollständiges Bild der Geschichte. In Die Jugendgeschichte Hegels wird die Tradition als Sammlung von toten Formen angesehen. Das Leben ist das, was im objektiven Geist noch nicht realisiert ist. Dass dieses Ergebnis paradoxerweise gegen das ursprüngliche Projekt Diltheys wirkt, wird von der Entwicklung in Deutschland nach Diltheys Tod durch eine Reihe »mythischer« Biographien bestätigt. So verwerfen beispielsweise die biographischen Werke des George-Kreises am Anfang des 20. Jahrhunderts die Suche nach der allgemeinen geistigen Kontinuität. Der Verzicht auf die wissenschaftliche Biographie bringt zu Bewusstsein, dass andere historiographische Formen und Modelle die geistige Kontinuität besser ausdrücken können. Die »Demokratisierung« der Biographie, die sich auch bei Dilthey stellenweise als Möglichkeit andeutet, wird von ihm jedoch weiterhin vermieden. Für Dilthey ist die Biographie den großen Persönlichkeiten vorbehalten und nicht für jeden Menschen geeignet. Trotz der anerkannten Universalität der Selbstbesinnung würden nur jene Menschen, die historisch kreativ wirken, Objekt einer Biographie sein können. Erst später in den Sozialwissenschaften wird prinzipiell jedes Leben für die biographische Forschung interessant. Diltheys Reflexionen sind davon noch weit entfernt. Seine Analyse des biographischen Modells zeigt auch, wie schwierig es ist, den Stellenwert der Philosophie in Diltheys Denken präzise zu erfassen. Das wird anhand seiner Interpretation der Geschichte der Philosophie deutlich: Diese wird zur »Archäologie«, zur Klassifikation der vergangenen philosophischen Systeme. Hingegen betrachtet ihm zufolge die wirkliche Philosophie den philosophischen Geist, das heißt die philosophische Persönlichkeit. Entgegen dem Verständnis eines großen Teils der Diltheyforschung ändert sich das biographische Modell Diltheys sehr stark. Wollte er anfangs eine wissenschaftliche Biographie begründen, führen die großen Schwierigkeiten dieses Projektes zu einer massiven Modifikation seines Vorhabens. Die verschiedenen und manchmal widersprüchlichen Fäden der letzten Überlegungen Diltheys – deren Gegenstände waren die Typologie der Weltanschauungen, die Anthropologie, die Philosophie der Philosophie – haben ihren Ursprung auch in der Auflösung der Biographie als Mittel, die Geschichte und Kultur des Menschen als Ganzes zu begreifen.

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Personenregister

Acham, K. 182 Augustinus 155 Alheit, P. 183 Angehrn, E. 183 Antoni, C. 183 Apel, K.-O. 149, 183 Aristoteles 72, 74 Aron, R. 9, 183 Balzac, H. de 102 Baumgartner, H. M. 183 Bianco, F. 183 Bollnow, O. F. 183 Bonito Oliva, R. 183 Brion, F. 90 Brockerhoff, F. 16 Bulhof, I. N. 183 Cacciatore, G. 183 Canfora, L. 183 Cantillo, G. 183 Carlyle, T. 19, 87, 183 Cavallo, G. 184 Cristin, R. 184 D’Alberto, F. 160 D’Antuono, E. 184 Descartes, R. 74, 125 De Mul, J. 184 Dickens, C. 94f., 103 Diogenes Laertios 11 Droysen, J. G. 10, 47f., 184

Emerson, R. W. 88 Ermarth, M. 184 Failla, M. 184 Fechner, G. T. 93 Fichte, J. G. 54, 72, 128, 136, 138 Fischer, K. 15, 124f., 127, 129, 131, 175, 184 Flach, W. 8, 184 Fries, J. 55 Fütterer, G. 184 Gadamer, H.-G. 11f., 84, 132, 137, 160, 184 Gander, H.-H. 184 Gerhardt, U. 184 Gibbon, E. 102, 138 Goethe, J. W. von 32, 54, 66, 87–95, 101– 103, 155f., 176 Graevenitz, G. 11, 185 Grimm, H. 87–95, 147, 175f., 185 Groethuysen, B. 114, 185 Groothoff, H.-H. 9, 185 Gueroult, M. 185 Gurevic, A. J. 185 Habermas, J. 185 Hahn, M. 24, 185 Hart, D. 48, 185 Haym, R. 11, 17–29, 36–51, 62, 64f., 67– 69, 80, 84, 123, 125f., 175, 178, 185 Hegel, G. W. F. 25, 32, 41, 44, 46, 55, 74– 76, 81, 84, 123–152, 167, 170, 178f., 185

194

Personenregister

Hegel, K. 123 Heidegger, M. 115, 185 Heinen, M. 185 Herbart, J. F. 74 Herder, J. G. 89, 95 Herricht, H. 185 Høffding, H. 169 Hohendahl, P. U. 186 Hölderlin, F. 55, 136 Homer 101 Humboldt, A. von 55 Humboldt, W. von 18–22, 26, 46, 50,186 Hume, D. 97, 102, 138 Ineichen, H.

186

Jacobi, F. H. 72, 89 Jaeger, M. 8, 186 Jatzkowski, T. 23, 186 Johach, H. 137, 186 Jonas, L. 13 Justi, C. 174, 186 Kant, I. 29, 32, 42, 54, 63f., 69, 71f., 74, 97, 127f., 134, 138 Kaulbach, F. 186 Kaulen, H. 51, 186 Keller, G. 102f. Kornbichler, T. 186 Krausser, P. 186 Kremer-Marietti, A. 186 Kühne-Bertram, G. 24, 187 Lambeck, G. 187 Landgrebe, L. 187 Lavater, J. C. 89 Leibniz, G. W. 58, 72, 74, 125, 166 Leisegang, H. 187 Lejeune, P. 187 Lembeck, K.-H. 187 Lessing, G. E. 62, 187 Lessing, H.-U. 93, 113, 187 Locke, J. 97 Longo, M. 125 Lorenz, O. 187 Losurdo, D. 187

Löwith, K. 123, 187 Luk‚cs, G. 187 Macaulay, T. B. 18f. Magnano San Lio, G. 187 Makkreel, R. 188 Maraldo, J. 149, 188 Marcuse, H. 188 Marini, A. 188 Marini, G. 188 Meinecke, F. 37, 188 Merck, J. H. 89 Misch, G. 7, 12, 18, 114, 132, 188 Momigliano, A. 188 Moretto, G. 188 Mulert, H. 14, 84 Müller, J. 93, 188 Muschg, W. 188 Negri, A. 188 Nerling-Pietsch, I. 18, 188 Niggl, G. 188 Nohl, H. 127 Novalis 54f., 103 Oppel, H. 188 Orsucci, A. 93, 188 Ostwald, W. 189 Otto, S. 189 Owensby, J. 189 Paczkowska Llagowska, E. Peschken, B. 189 Plantiga, T. 189 Platon 40, 64, 72 Plessner, H. 114 Plutarch 10 Pranteda, M. A. 8, 189

189

Raphael 88 Ranke, L. von 10, 19, 47f., 159, 189 Renthe-Fink, L. 15, 137, 189 Riedel, M. 149, 189 Rodi, F. 12, 26, 61, 87, 93, 137f., 189 Romein, J. 189 Rosenkranz, K. 123, 126, 189

195

Personenregister

Rossi, P. 190 Rousseau, J.-J. 16, 94f., 102f., 155 Ruge, A. 123 Rümelin, G. 190 Rütsche, J. 190 Sauerland, K. 132, 190 Scheler, M. 114 Schelling, F. W. J. 55, 72, 125, 127f., 131, 134, 136, 138 Scherer, W. 36, 89 Scheuer, H. 174, 190 Schiller, F. 89 Schlegel, A. W. 55 Schlegel, F. 18, 20, 55f., 64, 72, 78, 181, 190 Schleiermacher, F. 12–15, 29–46, 53–78, 84, 96f., 107, 112, 135f., 160, 173, 176, 190 Schmidt, E. 89, 174, 190 Schmidt, J. 36, 190 Schnädelbach, H. 190 Scholtz, G. 160, 190 Schulten, M. 8f., 190 Scott, W. 18 Secretan, P. 191 Sengle, F. 10, 191 Shaftesbury, A. A. C. 70 Shakespeare, W. 94f. Sigwart, C. 191 Simmel, G. 23, 191 Son, S.-N. 9, 191

Spinoza, B. 58, 70–74, 125 Stange, C. 14 Starobinski, J. 191 Steffens, H. 35 Stein, A. 149, 191 Stein, E. 191 Stein, L. 169, 191 Stenzel, J. 191 Storr, G. C. 127 Stuart, H. 191 Suter, J.-F. 191 Tengelyi, L. 191 Thielen, J. 191 Tieck, L. 55 Tuttle, H. 191 Unger, R.

191

Varnhagen von Ense, K. A.

35

Wach, J. 128, 148, 192 Weintraub, K. J. 192 Winckelmann, J. J. 174 Windelband, W. 120, 192 Yorck von Wartenburg, P. Zeller, E. 37, 192 Zöckler, C. 149, 192 Zola, Ê. 102

15, 88, 152